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GEORG LUKÄCS

EXISTENTIALISMUS
ODER
MARXISMUS?

A U F B A U -V E R L A G B E R L IN
1951
VORWORT

Dieses Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, die im Winter IQ46I4J
geschrieben wurden; nur die als Anhang veröffentlichte Studie Über Heidegger
ist etwas später entstanden. Diese Daten mußten wir aus zwei Gründen her-
vorheben. Erstens, weil die Entstehung der einzelnen Teile als selbständiger
Essays eine Erklärung für bestimmte unvermeidliche Wiederholungen bietet.
Zweitens—und dies ist die Hauptfrage—,weil der Existentialismus heute etwas
wesentlich anderes vorstellt als damals und deshalb auch unsere Stellung zu ihm
eine wesentlich andere sein muß. Die weltanschaulichen Tendenzen, als deren
Folge der Existentialismus seine heutige Form erlangte, sind in diesen Auf­
sätzen bereits ausführlich auf ihre gefährlichen reaktionären Möglichkeiten
hin analysiert. Nur daß es sich damals noch um Möglichkeiten handelte,
noch um die beginnende Krise einer Ideologie des „dritten Weges“, noch
um den Scheideweg der Existentialisten zwischen Fortschritt und Reaktion.
(Auch unsere damaligen Betrachtungen haben betont, daß die Wahl des
Fortschritts einen Bruch mit Methodologie und Weltanschauung des Exi­
stentialismus bedeuten müßte.) Heute hat sich der Existentialismus ent­
schieden: er ist eine der wichtigen Ideologien der Konterrevolution ge­
worden: die Verleumdung der Sowjetunion, die Verherrlichung der Tito-
banditen usw. sind heute entscheidende Momente seiner Publizistik. Freilich,
auch heute noch unter der Maske einer „erhabenen Überparteilichkeit“,
eines „ehrlichen“ Suchens nach einem „dritten Weg“ zwischen USA und
Sowjetunion. Heute handelt es sich aber um reine Heuchelei und Demagogie.
Sartre und seine Schule sind zu literarischen Agenten des Imperialismus
geworden. Der Existentialismus hat aber nicht nur politisch seine damals
verborgene wahre Physiognomie gezeigt. Er hat auch philosophisch nicht
jene Bedeutung erlangt, die man vor fünf Jahren erwarten konnte: er ist
nicht zu einer allgemein führenden Ideologie — auch nicht im konterrevo­
lutionären Sinn - geworden. Die große Mode des Existentialismus ist vor­
bei; daß er noch immer eine nicht unwichtige Rolle spielt, entspring$ allein der
beispiellosen Unfruchtbarkeit des heutigen bürgerlichen Denkens; er nimmt nur
darum noch immer einen gewichtigen Platz ein, weil nach ihm nichts oder
so gut wie nichts entstand. Sogar die vorfaschistische Periode —wahrhaft
ein erschreckender Tiefpunkt des bürgerlichen Denkens —zeigt ein weniger
gesunkenes Niveau im Vergleich zu den philosophischen Manifestationen
der „amerikanischen Lebensform“.
Vorwort

Hat es unter solchen Umständen einen Sinn, diese Aufsätze deutsch


herauszugeben, nachdem sie seinerzeit in verschiedenen Sprachen erschienen
sind? Wir glauben: doch. Denn der ideologische Einfluß des Existentialis­
mus, schon weil die imperialistische Bourgeoisie unfähig ist, neue, wirk­
same Philosophien hervorzubringen, ist noch immer nicht unbeträchtlich.
Und so sehr alle Gegensätze sich seitdem vertieft haben, gibt es noch immer
breite Schichten der Intelligenz, die krampfhaft einen „dritten Weg‘*suchen.
Für den Nachweis seiner Unmöglichkeit können diese Aufsätze nützlich
wirken. Und es ist dabei gleichgültig, daß Frau Beauvoir und Herr Merleau
Ponty schon längst für die Reaktion optiert haben. Auch die damalige Polemik
gegen sie bezweckte weniger, sie Selbst zu überzeugen, als jene, die ehrlich ihren
Weg suchten, die die schillernden Halbwahrheiten und Unwahrheiten des Exi­
stentialismus leicht irreführen konnten, irregeführt haben und auch heute noch
irreführen können. Darum begnügten sich diese Aufsätze einerseits nicht da­
mit, die politischen Folgen des „dritten Weges“ aufzuzeigen, sondern waren
gleichzeitig bestrebt, die philosophische Morschheit des Existentialismus auf
verschiedenen Feldern mit einer philosophischen Argumentation zu entlarven.
Darum beschränkten sie sich andrerseits nicht auf bloße Polemik, sondern
stellten den philosophischen Sackgassen des Existentialismus die echten
Lösungen des Marxismus-Leninismus gegenüber; so dem Relativismus und
Nihilismus der existentialistischen Erkenntnistheorie die Lehre von der
dialektischen Annäherung unserer Erkenntnis an die objektive Wirklichkeit,
die Dialektik des Absoluten und Relativen usw. Daß viele der existentialisti­
schen Kategorien infolge der Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit
neue, gefährlichere Bedeutung erlangten, daß z. B. die Sartresche abstrakte
Freiheit — ursprünglich entstanden als Mythos des Widerstandes — heute
ein wichtiges Element der Propaganda der „amerikanischen Lebensform“
geworden ist, ändert nichts Wesentliches an jenem Nachweis ihrer philo­
sophischen Unhaltbarkeit, den unsere Aufsätze zu geben versuchten.
Natürlich würde der Verfasser, auf Grund des heutigen Materials, seine
Darlegungen oft mit anderen Beispielen, mit anderen Zitaten belegen. Er
hofft aber, daß er die wesentlichen philosophischen Gebrechen des Existen­
tialismus auch damals bloßgelegt und widerlegt hat. Deshalb glaubt er sich
berechtigt, dieses fünf Jahre alte Buch in unveränderter Form den deutschen
Lesern vorzulegen.
Budapest, September 1951.
D IE K R IS E D E R B Ü R G ER LIC H EN PH IL O SO PH IE

Die Tatsache der Krise haben nicht nur wir Marxisten festgestellt.
„Die Krise'* ist schon seit langem ein gewohnter Begriff in der bürger­
lichen Philosophie. Als z. B. Siegfried Marek, der bekannte Neuhegelia­
ner, Rickerts Platz in der Entwicklung der Philosophie bestimmen wollte,
bezeichnete er ihn als einen Denker „aus der Zeit vor der Krise". Und in der
Tat : wenn wir die Entwicklung der bürgerlichen Philosophie in den letzten
Jahrzehnten aufmerksam verfolgen, dann sehen wir, daß geradezu alle
paar Jahre die Grundlagen der Philosophie immer wieder von neuem in
Frage gestellt werden. Es ist kein Zufall, daß am Anfang dieser Entwick­
lung das Programm Nietzsches: die Umwertung aller Werte, stehL Und
so geht es ohne Unterlaß in der modernen Philosophie weiter; ein Jahr,
in dem nicht auf irgendeinem Gebiet der Philosophie eine Krise ausbricht,
ist ein ereignisloses Jahr.
Aber das ernsteste Symptom der Krise ist die Tatsache, daß am Ende
dieser Entwicklung die sogenannte „Weltanschauung" des Faschismus
steht. Und es kann festgestellt werden, daß der gegen sie entfaltete
Widerstand seitens der bürgerlichen Philosophie gleich Null ist. Ja, die
Beliebtheit eines beträchtlichen Teiles jener philosophischen Richtungen,
die der Faschismus vollkommen, von ihm unabtrennbar, in sich auf­
genommen hatte (denken wir nur an die Nietzsches), blieb nach wie vor
in weiten Kreisen der bürgerlichen Nazigegner unberührt bestehen.
Die Tatsache der Krise kann also kaum bestritten werden. Kompli­
zierter ist ihre Kennzeichnung und ihre Kritik von der historischen und
von der im engeren Sinne philosophischen Seite her. Hier taucht sofort die
Frage auf: was ist das spezifisch Neue in der Philosophie der imperia­
listischen Periode, ist sie tatsächlich radikal neu, und wenn ja, inwiefern?
In solchen Fragen ist Vorsicht geboten. Bei der Programmdebatte der
Kommunistischen Partei Rußlands verwahrte sich Lenin gegen die von
einigen vertretene Auffassung, bei der Analyse der wirtschaftlichen
Struktur und der Gesetzmäßigkeiten des Imperialismus könne von dei all­
gemeinen Entwicklung des Kapitalismus abstrahiert werden. Ich glaube,
daß diese methodologische Feststellung auch für das ideologische, das
8 Die Krise der bürgerlichen Philosophie

philosophische Gebiet Gültigkeit hat. Die Philosophie des Imperialismus


kann auch nur im Rahmen der allgemeinen Zusammenhänge der kapita­
listischen Gesellschaft verstanden und kritisiert werden. Denn es unter­
liegt keinem Zweifel, daß, allen Veränderungen zum Trotz, die Wirkung
der gemeinsamen ökonomischen Grundlage auch in der Philosophie zum
Ausdruck kommt.
Diesen Zusammenhang können wir bereits an ganz oberflächlichen
Erscheinungen beobachten; etwa an dem ständigen Zurückgreifen der
modernen Philosophie auf die Systeme der Vergangenheit. So ist Kants
Wirkung z. B. bis zu Chamberlain und durch ihn hindurch bis zu
Rosenberg offensichtlich; Sartre greift auf Descartes zurück, während
der deutsche Irrationalismus feststellt, daß die moderne Philosophie
durch Descartes auf einen Irrweg geraten sei, usw. In diesem ewigen,
unsteten Suchen nach immer anderen alten Quellen zeigen sich eben­
falls - in historischem Maßstab gesehen - die Anzeichen der Krise.
Denn dieses Herumtappen, diese Unsicherheit verrät das sich ständig
erneuernde Gefühl, daß die Philosophie ihren Weg verfehlt hat.
Wo und wann hat sie sich verirrt? Wohin muß zurückgegangen werden,
damit man den richtigen Weg finde?

FETISCHISIERTES D E N K E N UND W IRKLICH K EIT

Was ist das Neue in der Philosophie der imperialistischen Periode? Im


allgemeinen ist es die gedankliche Widerspiegelung des Imperialismus
selbst, als der höchsten und deshalb widerspruchsvollsten Stufe des
Kapitalismus. Die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, die
auch bisher den Weg, die Form, den Inhalt der bürgerlichen Philosophie
bestimmt haben, erscheinen jetzt auf dem Gipfelpunkt ihrer objektiven
Widersprüchlichkeit. Dies bedeutet nicht nur deshalb eine Verschärfung,
weil es für die bürgerliche Klasse eine Existenzfrage ist, diese grund-
legende Widersprüchlichkeit nicht anzuerkennen.
Je tiefer, unüberbrückbarer die Widersprüche objektiv sind, um so
überstürzter wird der Prozeß, der die philosophische Krise hervorruft:
die Trennung der Wege von philosophischem Denken und gesellschaft­
licher Wirklichkeit. Doch hier handelt es sich um mehr. Das Problem
ist nicht einfach der Gegensatz von bürgerlicher Gedankenwelt und im­
perialistischer gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern der des wirk­
lichen, wesentlichen Verlaufs dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit und
der sie verbergenden, unmittelbar sichtbaren Oberfläche. Infolgedessen
Fetischisiertes Denken und Wirklichkeit 9

ist es möglich, daß eventuell subjektiv ehrliche Denker die gesellschaft­


liche Wirklichkeit in ihren Werken vollkommen auf den Kopf stellen, weil
sie sich sklavisch an diese trügerische, unmittelbare Oberfläche halten.
Dieser Gegensatz ist ein ständiges Problem des bürgerlichen Denkens.
Die grundlegende ideologische Erscheinungsform der kapitalistischen
Gesellschaft ist die Fetischisierung. Dies bedeutet, kurz gesagt, daß für
die in dem Zauberkreis der Oberflächenerscheinungen der kapitalisti­
schen Gesellschaft lebenden Individuen die, freilich oft durch Dinge ver­
mittelten , Beziehungen zwischen den Menschen als Dinge erscheinen ; die
menschlichen Beziehungen verdinglichen, fetischisieren sich. Die klarste,
elementarste Form dieser Fetischisierung ist eine der Grunderscheinun­
gen der kapitalistischen Produktion, die Ware. Die Ware ist sowohl in
ihrem Entstehen als auch in ihrer weiteren Funktion als Ware der Ver­
mittler konkreter menschlicher Beziehungen (Kapitalist und Arbeiter,
Käufer und Verkäufer). Es müssen ganz konkrete gesellschaftliche, wirt­
schaftliche Verhältnisse, also ganz konkrete menschliche Beziehungen
vorhanden sein, damit das Arbeitsresultat des Menschen, das durch
seiner Hände Arbeit geschaffene Produkt zur Ware werde. Sobald die
kapitalistische Gesellschaftsordnung diese Zusammenhänge verbirgt, un­
durchdringlich macht und immer mehr die Tatsache in Nebel hüllt, daß
die Warenform des Produkts nur die Widerspiegelung einer konkreten
Beziehung zwischen Menschen ist, kristallisieren und verselbständigen
sich diese Beziehungen zu Eigenschaften der Ware (z. B. zum Preis), sie
erscheinen als Eigenschaften von Dingen, quasi als Natureigenschaften, sie
scheinen der Ware eigen wie die Süßigkeit dem Zucker, die Farbe der Rose.
Und je weiter eine Erscheinung von der wirklichen Produktion steht,
um so leerer, seelenloser wird der Fetisch und um so mehr verdinglicht
er sich und beherrscht gleichzeitig um so wirksamer das Denken. Die
imperialistische Entwicklung der kapitalistischen Welt, besonders der
Aufstieg des Finanzkapitals zur herrschenden Macht, steigert die all­
gemeine Fetischisierung immer mehr, und immer schwerer und aussichts­
loser wird es, die Verdinglichung zu entlarven, weil die Zusammenhänge,
die als das Wesentliche hinter dieser Fetischisierung stehen, immer mehr
in Nebel gehüllt sind.
Für die Philosophie ist es hier wichtig, daß das Steckenbleiben in der
Fetischisierung in antidialektischer Richtung wirkt. Je mehr die Gesell­
schaft im bürgerlichen Denken als eine chaotische Anhäufung von toten
Dingen und dinglichen Zusammenhängen erscheint, nicht aber - der
Wirklichkeit entsprechend - als die ununterbrochene und ununter­
brochen sich verändernde Reproduktion von Beziehungen zwischen
Menschen (Klassen), um so ungünstiger muß für das dialektische Denken
ÏO Die Krise der bürgerlichen Philosophie

eine solche Einstellung werden. Der so entstehende Prozeß wird durch


den Parasitismus der imperialistischen Periode noch gesteigert. Ein
Großteil der Intelligenz ist so weit von dem die wirkliche Struktur und
die Bewegungsgesetze der Gesellschaft bestimmenden Arbeitsprozeß ent­
fernt, ist so tief in die Welt sekundärer oder tertiärer Erscheinungen der
gesellschaftlichen Gesamtproduktion, die sie als die primären empfindet,
eingebettet, daß die gedankliche Entlarvung der Fetischisierung geradezu
unmöglich wird.
So ist die Entfernung zwischen der Wirklichkeit und den die Ober­
flächenerscheinungen widerspiegelnden Gedanken so groß, daß jede Ver­
änderung der gesellschaftlichen Entwicklung sich vor dem Denken als
unerwarteter, klaffender Abgrund auftut, sich als Krise, als eine unauf­
hörliche Kette von Krisen manifestiert.
Stellen wir aber auch innerhalb des Imperialismus eine ständige philo­
sophische Krise fest, so müssen wir freilich andererseits zwischen den
einzelnen Etappen differenzieren: bis 1914 ist die philosophische Krise
verhältnismäßig latent ; erst nach 1918 wird sie für jeden offenkundig.

D IE HAUPTEPOCHEN DES BÜRG ERLIC H EN D E N K E N S

All dies ist erst eine allgemeine ideologische Charakterisierung der


imperialistischen Periode. Die Philosophie jedoch ist eine besondere ideo­
logische Form, deren Entwicklung nicht immer mit der Entwicklung
anderer ideologischer Formen, z. B. mit der der exakten Wissenschaften
oder der Literatur parallel läuft. Die Besonderheit der Philosophie be­
steht, kurz zusammengefaßt, in der Besonderheit des Gegenstandes
selbst, der die Existenz und die letzten Fragen der Erkenntnis, d. h. die
auf das abstrakte und verallgemeinerte Niveau erhobene Weltanschauung
umfaßt. Während dort, wo der unmittelbare Gegenstand die unmittelbar
gegebene gesellschaftliche (oder natürliche) Wirklichkeit selbst ist (und
nicht nur ihr abstrakter Inbegriff, ihre verallgemeinerten letzten Prin­
zipien), kann die kühne und unbefangene Betrachtung der Wirklichkeit
oft die Verzerrungen der Weltanschauung zurechtrücken. So können wir
in der Literatur häufig sehen, daß einzelne Schriftsteller, die mit ihren
persönlichen Meinungen in einer fetischisierten Weltanschauung befangen
sind, in ihrem Werk, in ihren Darstellungen des Lebens eine Defetischi-
sierung vornehmen, daß sie das, was für ihr Denken als Ding erscheint,
in ihren Wirklichkeitsdarstellungen als menschliche Beziehungen fühlbar
machen. In der Philosophie ist dagegen von den letzten Prinzipien die
Die Hauptepochen, des bürgerlichen Denkens II

Rede; hier produziert das Material keine derartige Gegenwirkung, Ihr


Gegenstand läßt nicht die Möglichkeit einer solchen Korrektur, die sich
gegen die persönliche befangene Meinung des Denkers durchsetzt, offen.
Von diesen Betrachtungen ausgehend, können wir nun versuchen, die
Hauptperioden der Entwicklung der bürgerlichen Philosophie zu skiz­
zieren, um mit Hilfe dieser historischen Übersicht die besonderen Merk­
male der imperialistischen Periode klarer herauszuarbeiten.
Die erste Periode ist die klassische bürgerliche Philosophie, sie reicht
etwa bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, höchstens bis 1848.
Diese Periode bringt den höchsten gedanklichen Ausdruck der bürger­
lichen Weltanschauung, der gedanklichen Verneinung der feudalen Ge­
sellschaftsordnung und ihrer Kultur hervor. Die Philosophie formuliert
die letzten Prinzipien, die allgemeine Weltanschauung dieser großen fort­
schrittlichen, die Gesellschaft umformenden Befreiungsbewegung. Hier
geht der revolutionäre Umbruch der Logik, der Natur- und Gesellschafts­
anschauung vor sich. Der universelle Charakter der Philosophie kommt
darin zum Ausdruck, daß sie befruchtend in die großen konkreten Fragen
der Natur- und Gesellschaftsanschauung eingreift und sich von hier aus
zu den allerhöchsten Verallgemeinerungen erhebt. Dies gibt ihr ihren all­
umfassenden und die Wissenschaften befruchtenden, große Perspektiven
eröffnenden Charakter.
Was repräsentiert nun diese Philosophie vom Klassenstandpunkt aus?
Die Antwort ist scheinbar einfach, aber in der konkreten Wirklichkeit
außerordentlich verwickelt: es sind die allgemeinen großen welthisto­
rischen Interessen einer Klasse, die objektiv dazu berufen ist, die ganze
gesellschaftliche Welt bis zu ihren Grundfesten in fortschrittlichem Sinne
umzuformen. Diese Interessen kommen in den Werken der klassischen
Philosophie zu Worte. Deshalb ist diese Philosophie tief mit den großen,
welthistorisch bedeutsamen Zwecken, mit den Kämpfen, die für deren
Verwirklichung geführt werden, verbunden. Daher rührt der starke und
feine Wirklichkeitssinn der großen Denker dieser Periode. Selbst die Irr-
tümer dieser Denker haben einen welthistorischen Charakter, weil sie
welthistorisch notwendigen heroischen Illusionen entstammen.
Aus diesem festen und tiefen Verwachsensein der Philosophen mit den
welthistorischen Interessen der aufsteigenden bürgerlichen Klasse folgt
ihre relative Unabhängigkeit von der augenblicklichen Taktik der Klasse
und besonders der einzelnen Schichten dieser Klasse. Dies ergibt ernste
Möglichkeiten der Kritik. Die Kritik kommt von innen heraus, weil ihre
Grundlage die große historische Berufung der eigenen Klasse ist, und
eben dies verleiht den Denkern die Kühnheit zu einer scharfen und ent­
schiedenen Stellungnahme. Da diese Kühnheit aber nicht eine bloß indi-
12 Die Krise der bürgerlichen Philosophie

viduelie ist, sondern da ihre ernste Grundlage gerade auf der Verbunden­
heit der Denker mit der Klasse beruht, die sie vertreten: sind sie im
Namen dieser welthistorischen Berufung erfüllt von dem Pathos der Be­
rechtigung, die Abweichungen vom welthistorisch notwendigen Weg aufs
schärfste zu kritisieren.
Die Revolution von 1830 und noch mehr die von 1848 zeigen, daß die
bürgerliche Klasse aufgehört hat, die führende Klasse des Fortschritts zu
sein. Damit setzt 1830 der Zersetzungsprozeß der klassischen bürgerlichen
Philosophie ein, der mit der 48er Revolution vollkommen beendet ist.
Damit tritt die Philosophie in eine neue Entwicklungsphase, die etwa bis
zum Anfang der imperialistischen Periode reicht. Der Angriff der bürger­
lichen Klasse gegen die feudalen Überreste hat sein Ende erreicht ; gegen
das aufstrebende Proletariat werden Verteidigungsstellungen bezogen.
Der andere große Prozeß der bürgerlich-revolutionären Periode, die Her­
ausbildung der Nationalstaaten, ist ebenfalls abgeschlossen, und zwar
mit der Schaffung der deutschen und italienischen nationalen Einheit
in reaktionärer Form. Diese Zeit ist die Periode der drückenden Klassen­
kompromisse, die Periode Napoleons III. und Bismarcks. Die alte bürger­
liche Demokratie ist seit 1848 in ständigem Rückgang, ja in Auflösung be­
griffen.'Liberalismus und Demokratie scheiden sich scharf voneinander,
stellen sich feindlich einander gegenüber; der Liberalismus wird zum
konservativen „Nationalliberalismus“ . Der wirtschaftliche Hintergrund
dieses Zersetzungsprozesses der Demokratie ist der stürmische Vorstoß
der kapitalistischen Produktion in West- und Mitteleuropa. Es scheint,
als würde sich der Kapitalismus grenzenlos und nunmehr unproblema­
tisch aufwärtsbewegen. (Diese Feststellungen beziehen sich nicht auf
Rußland. In der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung und
infolgedessen auch im ideologischen Kampf Rußlands entspricht im
großen und ganzen das Jahr 1905 dem Jahr 1848 in West- und
Mitteleuropa. Darum konnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­
derts in Rußland noch solche Denker leben wie Tschemyschewskij und
Dobroljubow.)
Die Philosophie dieser Periode ist die gedankliche Widerspiegelung des
Klassenkompromisses. Die Philosophie weicht vor der Beantwortung der
letzten weltanschaulichen Fragen zurück. Der gedankliche, erkenntnis­
theoretische Ausdruck dieser Tendenz ist der Agnostizismus: von dem
wirklichen Wesen der Welt, der Wirklichkeit, können wir nichts wissen,
und es ist auch gar nicht wichtig, darüber etwas zu wissen. Wichtig sind
jene einzelnen Kenntnisse, die die voneinander isolierten Spezialwissen­
schaften ausarbeiten und anhäufen, und die dazu dienen, um für die vom
täglichen praktischen Leben aufgeworfenen Fragen die unumgänglich
Die Hauptepochen des bürgerlichen Denkens 13

notwendigen befriedigenden Lösungen zu finden. Die Rolle der Philo­


sophie beschränkt sich darauf, darüber zu wachen, daß niemand jene
Grenze überschreitet, die der Erkenntnis des Wesens gezogen wurden,
daß niemand aus den Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften
Konsequenzen ziehe, die den Kapitalismus als allein seligmachende Ge­
sellschaftsordnung in Zweifel setzen oder mit den Satzungen der Reli­
gion in Widerspruch geraten könnten. Diese Philosophie lehnt prinzipiell
die Frage der Weltanschauung ab, als eine Frage, zu der die Wissenschaft
keinen Zugang habe, die in wissenschafthchem Sinne unlösbar sei.
Natürlich ist diese Philosophie, die hauptsächlich als Neukantianismus
oder als Positivismus auftritt, nicht die einzige, sondern nur die herr­
schende Philosophie dieser Periode. Neben ihr wird noch eine Zeitlang
mit der letzten, philosophisch minderwertigen Erneuerung des alten
mechanischen Materialismus experimentiert (Moleschott, Büchner usw.) ;
neben ihr ist, besonders in den Kreisen der Intelligenz, Schopenhauer als
der philosophische Ausdruck der pessimistischen Perspektivenlosigkeit,
als Verkünder der Abkehr von dem vollständig sinnlos gewordenen Leben
von großer Wirksamkeit.
Die herrschende Philosophie ist die Philosophie der Professoren. Neben
der sich damals entwickelnden Psychologie ist ihr fast ausschließlicher
Inhalt die Erkenntnistheorie. Die Philosophie selbst wird zur Spezial­
wissenschaft, und das ist lediglich die andere Seite der entschiedenen,
prinzipiellen Abkehr von jeder Weltanschauungsfrage. Damit sagt sie
sich von ihrer alten gesellschaftlichen Rolle, die gedankliche Ausdrucks­
form der großen welthistorischen Interessen einer aufstrebenden Klasse
zu sein, los. Dadurch, daß sie bereit ist, einen für die damalige Bour­
geoisie notwendigen, vom Gesichtspunkt des mit der Reaktion ein­
gegangenen festen Klassenkompromisses unentbehrlichen weltanschau­
lichen Grenzposten einzunehmen, werden die einzelnen Schritte und
Resultate, die Methoden und Inhalte der philosophischen,, SpezialWissen­
schaft“ immer gleichgültiger für die bürgerliche Klasse. Die Ausarbeitung
dieser Einzelheiten überläßt die Bourgeoisie in vollem Umfang der In­
telligenz, und zwar in erster Linie der im Staatsapparat stehenden büro­
kratischen Intelligenz. So wird diese entsprechend der entwickelten
kapitalistischen Arbeitsteilung relativ verselbständigte Schicht zum ge­
sellschaftlichen Träger dieser neuen Philosophie.
Freilich ist diese Selbständigkeit sehr relativ; ihre Vorbedingung ist
die getreuliche Ausübung des obenerwähnten weltanschaulichen „Grenz­
posten-Dienstes“. Damit wird in diesem neuen Abschnitt der bürgerlichen
Philosophie die relativ selbständig gewordene Intelligenz zum gesell­
schaftlichen Träger der Philosophie, und es sind die besonderen Lebens-
14 Die Krise der bürgerlichen Philosophie

problème dieser Schicht, die die Form und den Inhalt der Philosophie
bestimmen. In dieser Periode hat sich jedoch nicht nur der Geist der
Philosophie grundlegend geändert, sondern auch —und das bestimmt
gerade die Veränderung ihres Geistes - die gesellschaftliche Funktion der
die Philosophie unmittelbar produzierenden Intelligenz ist nicht dieselbe
geblieben. Früher sprach sie im Namen der großen welthistorischen Per­
spektiven des fortschrittlichen, des aufsteigenden Bürgertums. Diese Per­
spektiven wurden in dem Klassenkompromiß nach 1848, in den gegen das
Proletariat geführten Verteidigungsgefechten vernichtet. Die philosophi­
schen Ansprüche der bürgerlichen Klasse verengten sich, wurden negativ,
zu rein grenzbestimmenden Prinzipien. Innerhalb dieser Grenzen war es
der Intelligenz und den ihr angehörenden Individuen möglich, sich schein­
bar verhältnismäßig frei, ungebunden zu bewegen. Die Philosophie wurde
in steigendem Maße zur internen Angelegenheit der Intelligenz. Wel­
che Lehren die einzelnen Professoren verkünden, ist der Bourgeoisie
vollkommen gleichgültig, vorausgesetzt, daß sie die der Philosophie
gezogenen Grenzen in Ehren halten. Immer mehr versinken die
Katheder der Philosophie im luftleeren Raum der gesellschaftlichen
Gleichgültigkeit.
Wie verhält sich nun die Philosophie der imperialistischen Epoche zu
ihren Vorgängern? Scheinbar tritt ein Aufschwung ein. Die Philosophie
wird wieder „interessant“, freilich nur für breitere Kreise der Intelligenz.
Der bürgerlichen Klasse selbst bleibt sie auch weiter im höchsten Maße
gleichgültig. Äußerlich tritt die neue Philosophie häufig als Gegner der
Kathederphilosophie auf, die auch jetzt noch weiterlebt, und zwar weit­
gehend im alten Geiste. Zahlreiche führende Philosophen dieser Zeit
stehen außerhalb der Universitäten (Nietzsche, Spengler, Keyserling,
Klages). Simmel und Scheler sind auch lange Zeit Outsider. Allmählich
breitet sich die neue Richtung auch auf einen Teil der Universitäten aus,
und auch dort wird die „Interessantheit“ zum Prinzip der Auswahl
(Croce, Bergson, Huizinga usw.). Ist hier eine radikale Veränderung ein­
getreten? Wir glauben : nein. Dem Wesen der Sache nach ist sogar eine
noch größere Verschiebung in der nach 1848 entstandenen Richtung vor
sich gegangen : die Intelligenz schafft eine Philosophie für die Intelligenz.
Freilich besteht auch hier, wie wir später bei der eingehenden Analyse
sehen werden, eine strenge bürgerliche Klassendeterminiertheit, aber sie
tritt jetzt nicht als unmittelbar bestimmender Faktor der Formen und
Inhalte, sondern als Bildner eines den Interessen der Klasse entsprechen­
den und infolge dieser Interessen beschränkten Bewegungsspielraums auf,
in dem die Intelligenz scheinbar frei produzieren kann. Diese Klassen­
bestimmtheit nimmt im Faschismus eine konkrete Form an. Der Faschis-
Altes und Neues in der imperialistischen Philosophie 15

mus übersetzt alle „Errungenschaften" der imperialistischen Philosophie


in die reaktionärste Sprache der nationalen und sozialen Demagogie des
allerreaktionärsten Monopolkapitalismus, er trägt sie von den Kathedern,
aus den Salons, aus den Kaffeehäusern auf die Straße.

3
ALTES UND NEUES IN D E R IMPERIALISTISCHEN PHILOSOPHIE

Was bedeutet nun die so entstehende „Interessant heit", die relative


Selbständigkeit der Philosophie? Sie bedeutet, daß die bürgerliche In­
telligenz von ihrer besonderen Lage ausgeht, ihre besonderen Schicht­
probleme aufwirft, und zwar entschiedener, bewußter als in den vor­
imperialistischen Zeiten. (Hierin kommt auch die Tatsache zum Ausdruck,
daß die Rolle der freien Intelligenz im Vergleich zu der Rolle der bürokra-
tisierten Intelligenz der vorhergehenden Periode jetzt größer ist.) Von hier
aus stellt die Philosophie ihre einzelnen konkreten Fragen, zuweilen in
scheinbarer Opposition zur bürgerlichen Klasse, wobei freilich das Gehege
der bürgerlichen Klasseninteressen weiter in vollstem Maße geschont wird.
Was folgt aus alledem für den Inhalt und die Form der neuen Philo­
sophie? Vor allem können wir sehen, daß die bürgerliche Existenzgrund­
lage nie einer wirklichen Kritik unterworfen wird. Ja, die Kenntnis der
wirtschaftlichen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft nimmt bei den
Vertretern der neuen Philosophie immer mehr ab, selbst die bloße Nei­
gung, sich mit ihnen ernstlich bekannt zu machen und sich mit ihnen als
philosophischen Problemen auseinanderzusetzen, wird immer seltener.
Gleichzeitig wird scheinbar die Stimme der Kritik lauter, aber diese Kritik
betrifft fast ausschließlich die private Moral und die Kultur im engeren
Sinne, also jene Fragen, die die Intelligenz am unmittelbarsten berühren.
Dieses konsequente Ausweichen, Sich-Drücken vor allen Fragen der
Wirtschaft, der Gesellschaft, der Öffentlichkeit ist eben das strenge Ein­
halten jener Grenzen, die die imperialistische Bourgeoisie für den Bereich
der Philosophie festlegte und ihr damit innerhalb dieser Grenzen einen
Tummelplatz, einen freien Spielraum für ihre speziellen Probleme zu­
gestand, in dem sie wieder „interessant" sein, ja sogar mit der Geste der
Revolte auftreten kann. (Dieses Zurückweichen vor den Fragen der Ge­
sellschaft, der Wirtschaft, der Öffentlichkeit fällt zwar objektiv mit den
Klassenforderungen der imperialistischen Bourgeoisie zusammen, gleich­
zeitig aber wächst es auch spontan aus der gesellschaftlichen Existenz der
Intelligenz im imperialistischen Zeitalter hervor. Deshalb ist es möglich,
daß sich einzelne Philosophen trotz getreulichem Einhalten der klassen-
16 Die Krise der bürgerlichenPhilosophie

bestimmten Grenzen den Wünschen der imperialistischen Bourgeoisie


nicht bewußt unterworfen haben ; objektiv freilich ist dies der Fall, mag
es bei dem Einzelnen subjektiv auch ganz imbewußt und im besten Glau­
ben geschehen.)
Aber eben deshalb wird die grundlegende Unabhängigkeit, das grund­
legende kritische Verhalten immer schwächer. (Denken wir als Gegen­
beispiel an Hobbes, Rousseau oder Fichte in der klassischen Zeit.) Es
tauchen eine Menge Utopien zur Umgestaltung der Kultur auf, eventuell
auch in „revolutionärer* * Form wie bei Nietzsche, aber die kapitalisti­
schen wirtschaftlichen und poütischen Grundlagen bleiben unberührt.
Nietzsche kritisiert aufs schärfste die kulturellen Symptome der kapita­
listischen Arbeitsteilung, am kapitalistischen Arbeitssystem selbst will
er jedoch nicht rütteln.
Im Mittelpunkt der philosophischen Kritik steht, oft mit nahezu „revo­
lutionärem* *Schwung auf die Spitze getrieben, die Kritik des Fortschritts­
gedankens. Freilich spricht niemand davon (ja, in vielen Fällen weiß
weder der Denker noch sein der Intelligenz angehörendes Publikum
etwas davon), daß diese „kühne“ Fragestellung nur eine ideologische
Spiegelung der fortschrittsfeindlichen Entwicklung der Bourgeoisie, ihres
Kompromisses mit den reaktionären Überresten der Gesellschaft ist, daß
diese Frage in der imperialistischen Periode deshalb so scharfe Formen
annimmt, weil sich im imperialistischen Monopolkapitalismus die Ver­
flechtung der führenden Schicht der kapitalistischen Produktion mit
allen reaktionären gesellschaftlichen Mächten in steigendem Maße festigt.
Es wird die eigentümliche und interessante Ehe von reaktionärem Inhalt
und revolutionärer Geste geschlossen. Denken wir an Lagarde, Nietzsche,
Sorel, Ortega y Gasset. Am Vorabend der Machtergreifung des Faschismus
gibt Freyer die zusammenfassende Losung heraus : Revolution von rechts.
Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung, parallel damit, daß die
weltanschaulichen Fragen in den Vordergrund treten, verändert sich
auch das Verhältnis der Philosophie zur Religion. In der vorhergegange­
nen Periode dienten die agnostizistisch gezogenen Grenzen nur dazu, den
materialistischen Atheismus philosophisch unmöglich zu machen, ihn zu
diskreditieren. Die Wendung zur positiven Weltanschauung führt teils
zur neuen Rechtfertigung der Religion, teils zur Schaffung eines neuen
religiösen Atheismus, dessen weltanschaulicher und moralischer Inhalt
aber einen direkten Gegensatz zu dem materialistischen Atheismus bildet.
Diese Entwicklung können wir von Nietzsche bis zum Existentialismus
von Heidegger und Sartre verfolgen.
Gleichzeitig werden in der imperialistischen Periode die Naturwissen­
schaften in der Hauptrichtung ihrer Popularisierung zu Waffen der
Die Pseudo-Objektivität 17
Μ, Mà a Μ.

reaktionären Weltanschauung gemacht. In der vorhergehenden Periode


hatte die reaktionäre Philosophie hier erst einen Verteidigungsposten be­
zogen. Der Agnostizismus, das „ignorabimus“ von Emil du Bois-Rey-
mond, war nur noch ein Gegengewicht gegen die weltanschaulichen
Folgen eines Haeckelschen Materialismus. In der Schule von Mach-
Avenarius-Poincaré jedoch machte sich bereits eine offene Verteidi­
gung der reaktionären Anschauungen breit. Diese Tendenz nimmt in
der imperialistischen Periode ständig zu, die Philosophie interpretiert
jede neue Errungenschaft der Naturwissenschaften als eine angeb­
lich auf Tatsachen begründete Bestätigung der reaktionären Welt­
anschauung.
Als erkenntnistheoretische Basis all dieser Erscheinungen ist festzu­
stellen : der subjektive Idealismus der vorhergehenden Periode bleibt als
grundlegende Erkenntnistheorie nach wie vor bestehen. Dies ist kein Zu­
fall, denn der Idealismus ist die „natürlich", spontan aufsprießende Welt­
anschauung der Intelligenz, besonders der freien Intelligenz. Die Arbeit,
die letzten Endes das Verhältnis des Menschen zur Welt bestimmt, ist
ihrem Wesen nach doppelbödig: die Arbeit selbst demonstriert den Tat­
bestand, daß die Existenz der materiellen Welt vom Bewußtsein unab­
hängig ist ; gleichzeitig aber hat jeder Arbeitsprozeß teleologischen Cha­
rakter, d. h. die vorgestellte Zielsetzung ist dem Menschen bereits be­
wußt, bevor der materielle Arbeitsprozeß beginnt. Da die Intelligenz sich
vom materiellen Arbeitsprozeß immer weiter entfernt, wird in ihrem Be­
wußtsein dies letztere Moment in steigendem Maße fast ausschließlich
wirksam. Je weiter eine Schicht der Intelligenz von der wirklichen Arbeit,
von der praktischen Berührung mit den materiellen Kategorien der Wirk­
lichkeit entfernt ist, um so stärker wirkt dieses Motiv. Deshalb kann es
geschehen, daß sich Naturwissenschaftler in ihrer Facharbeit —oft im
Gegensatz zu ihrer eigenen philosophischen Einstellung - als spontane
Materialisten erweisen. Rickert bedauert zum Beispiel, daß sich große
Naturwissenschaftler auf ihrem Arbeitsfeld zum „naiven Realismus" be­
kennen. Je stärker die selbständige, spezielle Rolle der Intelligenz in der
Philosophie wird, um so mehr herrscht in der Erkenntnistheorie der sub­
jektive Idealismus.

4
DIE PSEUDO-OBJEKTIVITÄT

Wenn wir aber auch feststellen, daß diese erkenntnistheoretische Grund­


lage unberührt geblieben ist, müssen wir doch gleichzeitig beachten, daß
- verglichen mit der vorangegangenen Periode - in der Philosophie der
18 t)ie Krise der bürgerlichen Philosophie

imperialistischen Periode eine wesentliche Wendung eingetreten ist. Die


wichtigsten Momente dieser Wendung sind: ein vorgetäuschtes Streben
nach Objektivität, ferner der Kampf gegen den erkenntnistheoretischen
Formalismus, seine scheinbare Überwindung und der damit zusammen­
hängende Triumph mystischer Intuition, die als das neue Organ der
Philosophie in den Mittelpunkt rückt, und schließlich das neue Aufwerfen
der weltanschaulichen Frage an Stelle des konsequenten Agnostizismus
der vorhergehenden Periode.
Alle diese Momente erwachsen aus den Bedürfnissen der imperialisti­
schen Periode. Alle sind sie Symptome der philosophischen Krise. Zu­
friedenheit, eine ewig, unerschütterlich scheinende gesellschaftliche Lage,
der Schein einer ungestörten gesellschaftlichen und politischen Aufwärts­
bewegung (die sogenannte Sekurität) schufen eine Seelenverfassung und
ein philosophisches Verhalten, die es möglich machten, alle inhaltlichen
Probleme (die ganze Wirklichkeit) den Fachwissenschaften, der indu­
striellen Entwicklung und nicht zuletzt dem „weisen Walten" der Obrig­
keit zu überlassen, selbstverständlich mit der getreulichen Respektierung
der erkenntnistheoretischen Grenzen.
Daß das weltanschauliche Bedürfnis in den Vordergrund dringt, ist
bereits ein Zeichen der Krise oder zumindest ihr Vorbote. Man fühlt, daß
trotz der scheinbaren Stabilisierung, ja selbst Erstarkung der Oberfläche
die Grundfesten schwanken. Die führende, zu philosophischen Ver­
allgemeinerungen geneigte Schicht der Intelligenz reagiert empfindlich
auf die heranreifende Krise; schon lange vor 1914 wird diese Proble­
matik in einem bedeutenden Teil der Philosophie des Imperialismus spür­
bar. Allerdings sind zu dieser Zeit die Zeichen der Krise noch überaus
allgemein; sie verkörpern sich hauptsächlich in der Sorge um die Wah­
rung der Integrität des isolierten Individuums gegenüber der Zerstücke­
lung durch die kapitalistische Arbeitsteilung, in dem Auffinden der un­
lösbaren Widersprüche, die aus der kapitalistischen, der imperialistischen
Kultur emporwachsen (freiüch wird hier wie überall nicht von den Wider­
sprüchen der kapitalistischen Kultur gesprochen, sondern von denen der
Kultur überhaupt). Simmel ist der hervorragendste Repräsentant der
Philosophie dieser latenten Krise.
Vielleicht klingt es paradox, wenn wir sagen,, daß das Bedürfnis nach
Weltanschauung ein Zeichen der Krise ist. Aber die Wahrheit ist, wie
immer, konkret. Werfen wir daher einen Blick auf die gesellschaftliche
Funktion der Weltanschauungsfrage in den drei oben skizzierten Epochen
des bürgerlichen Denkens. In der klassischen bürgerlichen Philosophie
entwickelte sich eine mächtige, allumfassende progressive Weltanschau­
ung ; die Philosophie war in dieser Zeit die höchste, die grundlegende und
Die" Pseudo-Objektivität 19

zusammenfassende Wissenschaft, und dementsprechend war die Welt­


anschauung der letzte Inhalt der wissenschaftlichen Philosophie, die
organisch aus dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft hervorsproß,
und die die wissenschaftliche Wirksamkeit einzelner Etappen der Ent­
wicklung zu ihrem Gipfelpunkt führte und krönte. Die wirtschaftlich
gutgenährte Periode des Klassenkompromisses wandte sich trag und feige
von jeder weltanschaulichen Frage ab, hielt die Beschäftigung mit diesen
Fragen für überflüssig, bezeichnete achselzuckend die weltanschaulichen
Bestrebungen der vorhergehenden großen Etappe als unwissenschaftlich.
Demgegenüber hoffte die Intelligenz einer Gesellschaft, die sich der Krise
unaufhaltsam näherte und endlich von dem Strudel der einander über­
stürzenden Krisen erfaßt wurde, in einer Ideologie, die sie zur Weltan­
schauung aufblähte, Beruhigung, Trost, eine Versöhnung mit dem Schick­
sal zu finden.
Aber damit stecken wir noch immer in der Paradoxie : wie kann der
finstere Pessimismus eines Nietzsche oder Spengler, Klages oder Hei­
degger Trost bieten? Diese Paradoxie liegt schon von vornherein in der
Wirkung des philosophischen Idealismus ; dadurch, daß er - in antihisto­
rischem, abstraktem Geist - das spezifische Schicksal des Menschen der
imperialistischen Periode als ein ewiges Fatum hinstellt, schafft er die
philosophische Methode einer derartigen Wirksamkeit. Denn —so para­
dox es auch klingen mag - gerade in dieser Schicksalhaftigkeit liegt der
Trost ; denken wir an den amor fati (die Schicksalsliebe) bei Nietzsche, an
das dem Tod Entgegenleben bei Heidegger, den „heroisch“ aufgeputzten
Pessimismus und Fatalismus im Präfaschismus (Spengler) und bei den
Faschisten usw. (Schopenhauer und Kierkegaard sind die Vorläufer dieser
Richtung.) Es wird von den Menschen nicht Zufriedenheit erwartet, dort
wo dafür gar kein Grund vorhanden ist und wo bei einem denkenden
Menschen das Erlebnis der Zufriedenheit auch ganz unmöglich ist. Ob­
wohl nicht vergessen werden darf, daß moderne Denker, wie Keyserling
oder Jaspers, Anweisungen für ein solches abgekapseltes, jede Gemein­
schaftlichkeit ausschließendes, selbstzufriedenes privates Leben gegeben
haben, dessen weltanschauliche Grundlage gerade der tiefe Pessimismus
im Verhalten zum allgemeinen Weltenlauf bildet.
Dabei wendet sich die durch die Krise hervorgerufene Unzufriedenheit
aber niemals gegen die Grundlagen des Kapitalismus. Die bürgerliche
Intelligenz bäumt sich nicht unter dem Eindruck der Krise gegen die
ökonomisch-gesellschaftliche Ordnung des Kapitalismus auf. Dies zeigt
wieder die Basis der neuesten Philosophie in der Intelligenz selbst. Hier
steht nicht mehr die direkte und grobe Apologie der kapitalistischen Ord­
nung im Vordergrund, wie es bei ihren bezahlten und freiwilligen Agenten
20 Die Krise der bürgerlichen Philosophie

der Fall war. Im Gegenteil, eines der zentralen philosophischen Themen


ist, und zwar in steigendem Maße, die scheinbare, sich immer nur an
sekundäre Symptome haltende Kritik der kapitalistischen Kultur. Im
Laufe der Krise rückt auch auf gesellschaftlicher Linie die Ideologie des
„dritten Weges" immer mehr in den Vordergrund, jene Weltanschauung,
die verkündet, der richtige Entwicklungsweg der Menschheit sei weder
der Kapitalismus noch der Sozialismus. (Die stillschweigende Vorbedin­
gung dieser Konzeption ist das Zugeständnis, daß es unmöglich geworden
ist, die kapitalistische Ordnung, so wie sie ist, theoretisch zu verteidigen.)
Während aber der erkenntnistheoretische „dritte Weg" die Aufgabe
hatte, den philosophischen Idealismus, der unmittelbar nicht mehr ver­
teidigt werden konnte, auf Umwegen wieder auf den Thron zu heben, so
hat der geschichtsphilosophische „dritte Weg" die Funktion, die in
die Krise geratene Intelligenz davon zurückzuhalten, zu sozialistischen
Folgerungen zu gelangen. Auf diese Weise wird dieser „dritte Weg"
ebenfalls ein Verteidigungsposten des Kapitalismus, seine Apologie, nur
handelt es sich nun nicht um eine direkte, sondern um eine indirekte
Apologetik.
In der Weltanschauung der imperialistischen Periode wird also der
Kampf gegen den Sozialismus in steigendem Maße zur Grundfrage der
Zeit ; es ist der philosophische Kampf gegen den dialektischen Materialis­
mus, und zwar sowohl gegen den Materialismus als auch gegen die Dia­
lektik. Das bedeutet weltanschaulich in erster Linie die Ausschaltung der
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesichtspunkte aus der Philo­
sophie. Da die Philosophie nicht imstande ist, ernste Argumente gegen
die Gesellschaftsanschauung des Sozialismus vorzubringen, stellt sie die
Frage so, als wäre die marxistische Ökonomie durch die bürgerliche wirt­
schaftliche Fachwissenschaft „längst widerlegt" worden, und so be­
schränkt sich die Aufgabe der Philosophie darauf, die weltanschauliche
Bedeutung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesichtspunkte
herabzusetzen, sie zu diffamieren. Und da sich die bürgerliche Soziologie
ebenfalls „fachwissenschaftlich" von der Ökonomie absondert, da sie zu
einer ganz besonderen Fachwissenschaft wird, verändert sich die Be­
ziehung der Philosophie zur Soziologie - verglichen mit früheren Peri­
oden - grundlegend. Die damalige Philosophie bestritt die wissenschaft­
liche Berechtigung der Soziologie, die jetzige rezipiert sie. Ja, in der akuten
Krise wird die Soziologie sogar (hauptsächlich als „Soziologie des Wis­
sens", Scheler-Mannheim) immer mehr zur Waffe des weltanschaulichen
Relativismus. Später mündet die hieraus entstehende, offen reaktionäre
Soziologie (Freyer, C. Schmitt) bereits geradlinig in die faschistische Welt­
anschauung ein.
Die Pseudo-Objektivität 2 1

Der zweite weltanschauliche Tummelplatz, auf dem der Kampf gegen


den Sozialismus ausgefochten wird, ist die Entfaltung der fortschritts­
feindlichen philosophischen Theorien. Hier handelt es sich ebenfalls dar­
um, daß die bürgerliche Philosophie, da sie gegen die Fortschrittsperspek­
tive des Sozialismus keine ernsten und überzeugenden Gegenargumente
Vorbringen kann, bestrebt ist, teils den Fortschrittsgedanken selbst zu
zerstören, und zwar sowohl in der Naturwissenschaft, als auch in der Ge­
sellschaftswissenschaft, teils die Entwicklung zu mystifizieren, wobei sie
sich in Perspektiven ergeht, welche der von der Krise erfaßten Intelligenz
mundgerecht gemacht werden und, wenn auch nicht der wirklichen Ge­
schichte, so doch ihren Träumen entsprechen. Aus der Vereinigung beider
Richtungen entsteht in der Ideologie des Faschismus und ihrer Vorläufer
die Rassentheorie als mythische Enträtselung der „Geheimnisse“ der
Gesellschaft und der Geschichte.
Es ist erstens klar, daß all dies eine Kampfansage an den historischen
Materialismus bedeutet, auch dann, wenn wir bei den einzelnen Philo­
sophen keine ausgesprochene Polemik gegen ihn finden. Zweitens ist es
eine Tatsache, daß die sozialistische Weltanschauung in West- und
Mitteleuropa weitaus nicht so tief und stark auf die Intelligenz einwirkte,
wie es dem allgemeinen Einfluß der Arbeiterbewegung entspräche. Zu
dieser erfolgreichen Auswirkung der bürgerlichen Philosophie hat der
Reformismus ein gut Teil beigetragen. Vor allem bestreitet der Reformis­
mus den weltanschaulichen Charakter des Marxismus; er sieht in Marx
einen „Fachgelehrten“ der Ökonomie und Soziologie, und zwar einen
Fachgelehrten, dessen Methode und Forschungsergebnisse durch die
wissenschaftliche Entwicklung bereits —zum Teil oder ganz - überholt
wurden. Deshalb ist es nur konsequent, wenn die Ideologen des Reformis­
mus den Marxismus durch Kant (Max Adler) oder durch Mach (Friedrich
Adler) zu „ergänzen“ suchen; der konsequenteste Vertreter des Refor­
mismus (Bernstein) nimmt am entschiedensten Stellung gegen die Dia­
lektik als eine Methode, die veraltet und irreführend sei. Gegen den
Reformismus als politische Anschauung gab es in Mittel- und Westeuropa
eine starke Opposition, aber auf weltanschaulichem Gebiet waren die
Verteidiger des dialektischen Materialismus nicht imstande, diesem
ernstlich Gehör zu verschaffen. Diese weltanschauliche Schwäche der
Arbeiterbewegung in West- und Mitteleuropa wirkt sich auf die Welt­
anschauung der auch sonst schwach vertretenen bürgerlich-demo­
kratischen, antiimperialistischen Opposition aus. Auch hier entsteht
keine ernstliche Abwehr der allgemeinen reaktionären Philosophie des
Imperialismus.
22 Die Krise der bürgerlichen Philosophie

„DER DRITTE WEG“ UND DER MYTHOS

In diesem Zusammenhang können wir auf die Hauptfragen der imperia­


listischen Periode übergehen. Vor allem untersuchen wir die auf der
Grundlage der Erkenntnistheorie des subjektiven Idealismus entstehen­
den Probleme der Objektivität. Wir haben bereits den erkenntnistheore­
tischen „dritten Weg“ erwähnt. Er beginnt einerseits bei Nietzsche,
andererseits bei Mach-Avenarius, von hier führt er über Husserl zur
existentialistischen Ontologie, die zwar eine vom Bewußtsein unab­
hängige Existenz anerkennt, aber in ihrer Bestimmung, ihrem Erkennen,
ihrer Interpretation die alten idealistischen Wege beibehält. Die Er­
kenntnistheorie der vorhergehenden Periode hatte die Erkennbarkeit der
objektiven Wirklichkeit entschieden verneint. Der „dritte Weg“, der alle
Prinzipien der Erkenntnistheorie des subjektiven Idealismus aufrecht­
erhält, verwischt die Grenzen, stellt die Fragen so, als wären die rein
im Bewußtsein existierenden Vorstellungen und Begriffe bereits selbst
objektive Wirklichkeit.
Was bedeutet nun jene Wirklichkeit, jene Realität, von der diese
Philosophie spricht? (Die bürgerliche Philosophie hebt immer nur den
Gegensatz von Idealismus und „Realismus“ hervor, das Wort Materialis­
mus ist verpönt und wird nie ausgesprochen.) Machund der Neukantianis­
mus, als Übergang zur imperialistischen Periode, schaffen vorderhand
nur eine Erkenntnistheorie, die der Praxis der Naturwissenschaftler ter­
minologische Konzessionen macht und zugleich ihrem „naiven Realis­
mus“ die philosophische Spitze abbricht. Wenn man, den Fußtapfen
Berkeleys folgend, die Wirklichkeit mit der Vorstellung identifiziert,
dann existiert allerdings —zumindest in den Aussagen der Philosophen —
nur éine einheitliche Wirklichkeit ; diese ist aber ihrem Wesen nach iden­
tisch mit der des subjektiven Idealismus. Der so entstehende Agnostizis­
mus unterscheidet sich indessen radikal von dem der vergangenen Periode ;
diesen konnte Engels noch mit Recht als „verschämten Materialismus“
bezeichnen, denn die Lehre von der Unerkennbarkeit der Wirklichkeit
bedeutete hier nur, daß die Philosophie nicht gewillt war, die weltanschau­
lichen Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Resultate zu ziehen.
Die Mach-Schule geht über diese nur negative Zielsetzung hinaus; ihr
Agnostizismus bedeutet bereits, daß die Resultate der Naturwissenschaft
mit jeder beliebigen reaktionären Weltanschauung in vollem Einklang
stehen.
Doch die Entwicklung blieb auch hier nicht stehen. Die moderne Form
des Agnostizismus schlägt in Mystizismus, in Mythenschaffung um. In
„Der dritte Weg“ und der Mythos *3

dieser Hinsicht ist die Bedeutung Nietzsches entscheidend für die ganze
imperialistische Entwicklung. Man könnte sagen, Nietzsche habe für die
ganze imperialistische Periode das Modell der Mythenbildung geschaffen.
Hier können wir den Leser nur auf einige Leitmotive aufmerksam machen.
Vor allem ist die Rolle des „Leibes“, der „Leiblichkeit“ hervorzuheben.
Nietzsche bricht mit der abstrakten „Geistigkeit“ der Kathederphilo­
sophie und mit ihrer philiströsen Moral. Er schafft eine Erkenntnistheorie
und eine Moral, die die Rechte des körperlichen Lebens in Schutz nimmt
und der Philosophie des Materialismus doch keine Konzession macht.
Die Form der Philosophie eines derartigen immateriellen Körpers kann
selbstverständlich nur mythisch sein.
Das ist aber nur ein Teil des Nietzsch eschen Biologismus und der aus ihm
(angeblich) hervorgehenden Psychologie, die bei Nietzsche an die Stelle
der Gesellschaftswissenschaft tritt. Diese Fundierung wird ergänzt und
gekrönt durch die mythische Perspektive der Menschheitsentwicklung,
des Weltenlaufs, durch die Bejahung des Imperialismus, die Schaffung
einer neuen Aristokratie, die Widerlegung des Sozialismus auf der Grund­
lage des biologischen Mythos. (Damit sind die philosophischen Grund­
steine für die Rassentheorie gelegt.)
Hier ist nicht der Ort für die Analyse anderer Mythen (Bergson, Speng­
ler, Klages usw.), wir wollen nur einige prinzipielle Bemerkungen hinzu­
fügen. Die so entstehenden Mythen dürfen nicht mit den - oberflächlich
betrachtet —ebenfalls mythenhaft wirkenden Elementen einzelner alter
Philosophien verwechselt werden. Jeder Idealismus, der sich nicht mit
äußerster Strenge agnostizistisch verhält, wird in den Mythos verfallen,
sobald er wirkliche Erscheinungen zu erklären versucht, denn er ist ge­
zwungen, gedanklichen Konstruktionen eine wirkliche Rolle in der Wirk­
lichkeit zuzuschreiben.
Je mehr sich die Philosophie dem objektiven Idealismus nähert, um so
stärker tritt die in den Mythos übergehende Konstruktion hervor. In
Fichtes „absolutem Ich“ äußert sie sich stärker als im Kantschen „Be­
wußtsein überhaupt“ und im Hegelschen „Weltgeist“ noch stärker als
bei Fichte. Doch diese für Wirklichkeit genommenen gedanklichen Kon­
struktionen enthalten noch Elemente der ernsten Wirklichkeitsforschung.
Überall kann man hier noch jene Wirklichkeitselemente erkennen, für die
diese Konstruktionen ihre erste Aufdeckung und zugleich ihre gedank­
liche Verzerrung sind. Diese als Mythen wirkenden Gedankenkonstruk­
tionen bilden einen philosophischen Nebel, der dem Sonnenaufgang der
wirklichen Erkenntnis vorangeht.
Eine völlig entgegengesetzte Lage ergibt sich in der Philosophie der
imperialistischen Periode. Die gedankliche Konstruktion, der Mythos,
24 Die Krise der bürgerlichen Philosophie
---- - - - ------ - - ------ ---------------- --*■-------------------------- ----- ---------------- -------------

wendet sich hier gegen die bereits errungene wissenschaftliche Erkennt­


nis; die erste Aufgabe des Mythos ist, die gesellschaftlichen Folgen der
wissenschaftlichen Erkenntnis zu verschleiern. Schon im Uranfang dieser
Entwicklung geschieht dies mit den Resultaten des Darwinismus in der
Nietzscheschen Mythisierung. Der Mythos tritt - mit gewisser Naivität -
nicht als ein Teil der wissenschaftlichen Erkenntnis auf, wie in der klassi­
schen Periode, sondern als ein quasi qualitativ höheres, wenn nötig, die
Wissenschaft desavouierendes Verhalten zur Welt.
Es ist die gesellschaftliche Funktion dieser „Weltanschauung”, also
des Mythos, dort, wo die Wissenschaft nicht imstande ist, eine Perspek­
tive zu geben, oder wo die Perspektive der Wissenschaft dem zuwider­
läuft, was die imperialistische Philosophie verteidigt, ein sozial akzeptier­
bares Weltbild zu suggerieren, und zwar an Stelle der bzw. gegen die
Wissenschaft.
So entsteht das paradoxe Wesen der imperialistischen Philosophie:
einerseits bleibt die agnostizistische Erkenntnistheorie des subjektiven
Idealismus unberührt bestehen, andererseits erhält der Agnostizismus
eine vollkommen neue Funktion ; durch sein Umschlagen, sein Übergehen
in den Mythos schafft er eine neue Scheinobjektivität.

6
INTUITION UND IRRATIONALISMUS

Die neue Objektivität setzt ein neues Organ der Erkenntnis voraus.
Es ist eine zentrale Frage der imperialistischen Philosophie, daß dieses
neue Verhalten der Erkenntnis, dieses neue Erkenntnisorgan : die Intui­
tion, dem begrifflichen, rationalen Denken entgegen gestellt wird. In der
Wirklichkeit sieht die Sache so aus, daß die Intuition ein psychologisches
Element einer jeden wissenschaftlichen Arbeitsmethode bildet. Und
psychologisch entsteht in bezug auf die Intuition der unmittelbare
Schein, als wäre sie konkreter, synthetischer als das abstrakte, mit Be­
griffen arbeitende diskursive Denken. Dies ist freilich nur ein Schein,
denn die Intuition bedeutet psychologisch nichts anderes als das plötz­
liche Bewußtwerden eines unbewußt sich fortsetzenden Gedankenpro­
zesses. Und für das gewissenhafte wissenschaftliche Denken ist es eine
ernste Aufgabe, diese „intuitiv” errungenen Resultate erstens daraufhin
zu kontrollieren, ob sie wissenschaftlich standhalten, und zweitens, sie
in das System der rationalen Begriffe organisch derart einzufügen, daß
nachträglich überhaupt nicht zu unterscheiden ist, was von dem mensch­
lichen Folgerungsvermögen (bewußt), was mit Hilfe der Intuition (unter
Intuition und Irrationalismus 25

der Schwelle des Bewußtseins und erst später bewußt geworden) auf­
gedeckt wurde. Die Intuition ist also hier einerseits die Ergänzung des
begrifflichen Denkens und nicht sein Gegensatz, andererseits wird das in­
tuitive A uf finden eines Zusammenhanges nie zum Kriterium der Wahr­
heit. Bei einer oberflächlichen psychologischen Beobachtung des wissen­
schaftlichen Arbeitsprozesses entsteht die Illusion, als wäre die Intuition
ein von dem abstrakten Denken unabhängiges Organ zur Erfassung
höherer oder auch tieferer Zusammenhänge.
Diese Illusion, die Verwechslung der subjektiven Arbeitsmethode mit
der objektiven Methodik, die der allgemeine Subjektivismus der imperia­
listischen Philosophie unterstützt, wird zur Grundlage der modernen In­
tuitions-Theorie. Diese Illusion wird durch die Beziehung des hier ent­
stehenden Prozesses zur dialektischen Erkenntnis noch erhöht. Aus einer
subjektivistischen Perspektive scheint es naheliegend anzunehmen, der
dialektische Widerspruch komme auf begrifflichem Wege zustande, wäh­
rend seine synthetische Lösung, seine Auflösung in eine höhere Einheit,
der Intuition zu verdanken ist. Das ist natürlich eine Illusion, denn die
wirkliche Dialektik drückt jede Synthese wieder auf begrifflichem Wege
aus, und keine Synthese wird von ihr als endgültige Gegebenheit an­
erkannt. Das echte wissenschaftliche dialektische Denken enthält immer,
gerade weil es die richtige Spiegelung der Gegenstände der wirklichen
Welt ist, die begriffliche Verbindung, die begriffliche Analyse von Ge­
danken. Deshalb ist die Intuition kein Organ der Erkenntnis, kein Ele­
ment der wissenschaftlichen Methode. All dies hat Hegel gegen Schelling
in der Einleitung zur „Phänomenologie“ klar ausgeführt.
In der Philosophie der imperialistischen Periode hingegen erhält die
Intuition in der objektiven Methodik eine zentrale Stelle. Dieses Bedürf­
nis taucht vor allem deshalb auf, weil sich die Denker von dem erkennt­
nistheoretischen Formalismus der vorhergehenden Periode abwenden.
Sie müssen sich von ihm abwenden, denn das Suchen nach einer „Welt­
anschauung'‘ bedeutet schon an sich eine inhaltliche Fragestellung. Die
Erkenntnislehre des subjektiven Idealismus ist jedoch notwendigerweise
eine rein formale Analyse der Begriffe, nicht ihre dialektische, gedank­
liche Formulierung. Wenn das Denken über diese Grenzen hinausstrebt,
wenn es reale Inhalte philosophisch erkennen will, dann muß es sich
einerseits auf die Widerspiegelungstheorie des Materialismus stützen,
andererseits auf den dialektischen begrifflichen Weltzusammenhang, und
zwar auf einen Weltzusammenhang, der nicht nur als statischer Zu­
sammenhang von Objektivitäten und Strukturen zu fassen ist, sondern
als der dynamische Zusammenhang der Entwicklung (der Aufwärts­
bewegung) und damit der vernünftigen Geschichte. Für die moderne
2 Ô Die Krise der bürgerlichen Philosophie

Philosophie ist jedoch die Intuition ein Behelf, um sich vom Formalismus
der Erkenntnistheorie und mit ihm vom subjektiven Idealismus und
Agnostizismus (scheinbar) abzuwenden, ohne ihre Grundlagen im minde­
sten zu erschüttern.
Diese Philosophie wird also stets mit dem Anspruch auftreten, daß
jene Inhalte, denen sie zustrebt, jene weltanschauliche Wirklichkeit, die
sie zu erreichen sucht, nicht als die begrifflich erfaßbare, sondern als eine
qualitativ andere, höhere Wirklichkeit zu werten seien. Und in diesem
Zusammenhang erweckt die einfache Tatsache der Intuition den Schein,
als wäre sie das Zeichen einer Erleuchtung zur Erfassung dieser höheren
Welt. Hier wird es für die neue Philosophie zur Lebensfrage, die von der
Seite der begrifflichen Analyse ausgehende Kritik zurückzu weisen. Dieser
Selbstschutz der Intuition entstand bereits auf der Linie der aristokrati­
schen Erkenntnistheorie in alten ähnlichen Philosophien (ja sogar in
einem Teil des alten religiösen Mystizismus). Sie stellt sich auf den Stand­
punkt, daß nicht jedem das intuitive Erfassen der höheren Wirklichkeit
gegeben sei. Wer also für die intuitive Anschauung begriffliche Kriterien
sucht, der beweist nur, daß ihm für die intuitive Erfassung der höheren
Wirklichkeit jede Fähigkeit versagt ist. Seine Kritik ist also lediglich
eine Entlarvung seiner eigenen Minderwertigkeit, genau so wie auch
jener Mensch im Andersen-Märchen nicht rein war, der auf dem nackten
Kaiser die schönen neuen Kleider nicht sah. Eine derartige „Erkenntnis­
theorie“ der Intuition ist auch schon deshalb notwendig, weil der Natur
der Sache nach jede so erfaßte „Wirklichkeit“ willkürlich, unkontrollier­
bar ist. Die Intuition ist als Organ der höheren Erkenntnis zugleich eine
Rechtfertigung dieser Willkürlichkeit.
Damit sind wir dem Kern der Weltanschauung der imperialistischen
Periode nähergerückt. Wir erinnern nochmals daran, daß für die klas­
sische Philosophie die Weltanschauung eine Frage der wissenschaftlichen
Erkenntnis war, ein Weltbild der Wissenschaft; die Übergangsperiode
leugnete die wissenschaftliche Weltanschauung, sie sah unübersteigbare
Schranken dort, wo die spezialwissenschaftlichen Kenntnisse der Er­
fassung von Phänomenen endeten. Dieses Auftürmen von erkenntnis­
theoretischen Barrieren setzt auch die imperialistische Philosophie fort,
aber sie ergänzt das dadurch, daß sie mit Hilfe des neuen Organs der Er­
kenntnis, mit Hilfe der Intuition, eine überwissenschaftliche, eine wissen­
schaftsfeindliche Weltanschauung schafft.
Die Grundlinie dieser neuen Weltanschauung ist das Brechen der Herr­
schaft der Vernunft, die Entthronung der Vernunft. Die Romantik,
Schopenhauer und Kierkegaard sind die Vorläufer dieser Richtung, Dil-
they bezeichnet den Übergang in die neue Periode; Nietzsche, Bergson,
Intuition und Irrationalismus 27

Spengler, Klages und schließlich der Existentialismus sind die wichtig­


sten Etappen ihrer Entwicklung. Wir wiederholen : die erkenntnistheore­
tische Grundlage bleibt unverändert der Agnostizismus und der ihn be­
gleitende Relativismus. Während man sich aber in der vorangegangenen
Periode mit dieser Feststellung der prinzipiellen Unerkennbarkeit der
Wirklichkeit begnügte, geht die neue Philosophie weiter; sie nimmt den
Kampf gegen das rationelle Denken, gegen die Vernunft auf. Simmel be­
trachtet in einem seiner Werke die letzten Resultate der heutigen Wissen­
schaft vom Gesichtspunkt einer relativistischen Kritik und vergleicht sie
mit jener Kritik, mit der einst die Aufklärung an den Aberglauben, den
Hexenglauben usw. herantrat. Davon ausgehend, meint er folgern zu
können, daß wir allen Grund haben anzunehmen, die kommenden Jahr­
hunderte würden die wesentlichen Resultate der heutigen Wissenschaft
nicht anders betrachten wie wir den Hexenglauben. Dieser konsequent
zu Ende geführte relativistische Agnostizismus, dieses Zweifeln an allem
ist der Weg, der zu dem Mythos der neuen Welt führt, zu einer Welt,
deren Wesen die Vemunftfeindlichkeit oder zumindest die Unvernunft,
allenfalls die Übervemünftigkeit ist. Vor dem ersten Weltkrieg formu­
lierte Bergson diese Philosophie am entschiedensten. In der allgemeinen
Krise nach 1918 wird die Vernunftfeindlichkeit zur konkreten Geschichts­
philosophie, die über Spengler, Klages, Heidegger zur höllischen Welt­
vision des Faschismus führt.
Wenn wir nun den konkreten Inhalt dieser Ubervernünftigkeit unter­
suchen, dann sehen wir ihren engen Zusammenhang mit älteren Philo­
sophien, sehen, daß sie die allgemeinen schwachen Seiten der bürgerlichen
Philosophie nur mit zeitgemäßen Nuancen bereichert hat. Jede nicht
dialektische und deshalb nicht wirklich von historischem Sinn beseelte
Philosophie verallgemeinert das Wesen der Wirklichkeit, indem sie die
Gegenwart zum „ewigen Gesetz“, zu „ewiger Existenz“ aufbläht. Zur
Zeit des Glaubens an die Ewigkeit des Kapitalismus spielte sich in den
Augen selbst der zum Empirismus neigenden Historiker die ganze Ge­
schichte unter kapitalistischen Lebensformen ab (Mommsen, Pöhlmann) ;
die abstrakte Ethik des Kantianismus unterstützte diese Richtung. Zur
Zeit der Krise des Imperialismus, wo alles schwankt, alles im Zusammen­
brechen ist, wo die bürgerliche Intelligenz gezwungen ist zu sehen, daß
schon der nächste Tag das heute unumstößlich Scheinende widerlegt,
wird sie vor einen philosophischen Scheideweg gestellt. Sie muß entweder
den eigenen Bankrott oder den der Vernunft zugeben. Der eine Weg
bedeutet das Eingeständnis, nicht imstande zu sein, die Wirklichkeit ge­
danklich zu erfassen. Hier käme also die Vernunft zum Wort, aber das
bürgerliche Denken muß gerade vor dieser Vernünftigkeit versagen. Diesen
28 Die Krise der bürgerlichen Philosophie

Bankrott einzugestehen, ist auf bürgerlicher Grundlage unmöglich, denn


das würde den Übergang in das Lager des Sozialismus bedeuten. Am
Scheideweg muß deshalb die bürgerliche Intelligenz die andere Straße
wählen; sie muß den Bankrott der Vernunft verkünden. Das ist natür­
lich auch in der Form möglich, daß die Philosophie die Vernunft als ein
mögliches Verhalten gelten läßt, als die subjektive Seite des Verhaltens
zur wirklichen Welt, aber als die subjektive Seite einer Beziehung, in der
die Wirklichkeit jeden Augenblick die subjektive Vernunft widerlegt
(Scheler: Die Ohnmacht der Vernunft; Benda, Valery). Das ist jedoch
nicht der allgemeine Weg, nicht die herrschende Richtung der Krisen­
philosophie. Bei den entschiedenen bürgerlichen Denkern existiert die
Vernunft in der Wirklichkeit überhaupt nicht; die echte Wirklichkeit,
die höhere Wirklichkeit ist unvernünftig, vernunftfeindlich. Die Philo­
sophie muß diese Grundtatsache des menschlichen Lebens anerkennen, und
so entsteht das neue Weltbild der Krisenphilosophie : der Irrationalismus.
Diese Entwicklung wird dadurch gefördert und beschleunigt, daß der
Kapitalismus, besonders in seinem imperialistischen Stadium, den kon­
kreten Spielraum für die Entfaltung des Individuums im Leben außer­
ordentlich einengt. Hier sind, wenn wir die Frage abstrakt behandeln,
zweierlei Reaktionen möglich. Es ist möglich, den Zusammenhang der
Lage mit der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft zu erkennen
und die Konsequenzen aus dieser Lage zu ziehen. Die leisen Ansätze
eines derartigen Verhaltens sind im Anfang der imperialistischen Periode
vorhanden, stellenweise etwa in der romantischen Kritik der kapitalisti­
schen Kultur bei Nietzsche, in Simmels allgemeiner Kulturkritik, in
seiner Theorie über die „Tragik der Kultur**. Aber hier kommt überall
ein mythisierender, indirekt apologetischer „dritter Weg** zustande. Bei
Nietzsche als mythische Vision einer „neuen Gesellschaft**. Bei Simmel
als ein vollkommenes Sich-nach-innen-Wenden, ein ausschließliches Sich-
selbst-zugewendet-Sein des Individuums, wobei die Außenwelt, die seelen­
lose Fetischisierung der kapitalistischen Gesellschaft den Problemen des
rein innerlichen Individualismus direkt Vorschub leistet. Die seelenlose
„Rationalität** der fetischisierten kapitalistischen Welt wird so bei Sim­
mel zum Sprungbrett für das Individuum in die höhere Irrationalität, in
die höhere Wirklichkeit des rein innerlichen individuellen Seins.
Hier taucht bereits das wichtigste Motiv der irrationalistischen Welt­
anschauung auf: das Bestreben, die Lage des Menschen im imperialisti­
schen Kapitalismus zum „allgemein-menschlichen Schicksal** zu mythi-
sieren. Damit geht eine methodologische Zweiteilung parallel. Alles, was
gesellschaftlich gesetzmäßig ist, was der Vernunft entspricht, ist jetzt
bereits der Philosophie zufolge dem Individuum feindlich, unmenschlich.
Die Symptome der Krise 2 9

r.V .

Das Individuum ist seinem Wesen nach Vernunft feindlich, irrationell


(dieser Gedanke taucht schon im imperialistischen Neukantianismus bei
Windelband und Rickert auf). Diese Auffassung in bunteste Mythen zu
kleiden und auszumalen entspricht vollkommen dem allgemeinen Zeit­
bedürfnis, vor allem dem gesellschaftlichen „dritten Weg“. Aus der Per­
spektive der Gegenüberstellung von niedriger unmenschlicher ratio und
der höheren, menschlichen irrationellen Wirklichkeit sind Kapitalismus
und Sozialismus vollkommen gleichartig, ja, sie fallen zusammen; beide
sind Systeme der seelenlosen Vernunft. Im Namen der irrationellen indi­
viduellen Erlebnisse muß mit beiden der ideologische Kampf aufgenom­
men werden (George-Schule, Klages). Diese Methode übernimmt der
Faschismus mit Haut und Haaren, freilich mit einigen demagogischen,
vergröbernden Ergänzungen (romantisch-reaktionäre Kritik am Libera­
lismus, kombiniert mit antisemitischer Sozialdemagogie!).

7
DIE SYMPTOME DER KRISE

Werfen wir nun einen Blick auf die Methodologie des Irrationalismus.
Schon Hegel hat gezeigt: wenn im formalen Denken die notwendigen
Widersprüche des Verstandes zum Vorschein kommen (einerlei, ob auf
logischem Wege oder im Zusammenstoß mit der Wirklichkeit), dann ist
der Schein der Irrationalität die unmittelbare Erscheinungsform des
Problems. Es ist Aufgabe der Dialektik, hier die höhere Einheit der
Widersprüche aufzuzeigen; und wenn ihr dies gelingt, dann kommt es
zutage, daß gerade in den Widersprüchen des Verstandes, in ihrem an
Schranken-Stoßen, im Schein der Irrationalität die Hinweise auf eine
höhere Vernünftigkeit liegen, daß in ihnen der Anstoß zum Erreichen
einer höheren Stufe, einer höheren Form der Vernunft liegt. Aus der
Philosophie des Imperialismus ist aber, wie wir gesehen haben, schon von
vornherein die dialektische Methode verbannt. Dieses Denken bleibt bei
der sich in den Widersprüchen des Verstandes offenbarenden Irrationali­
tät stehen, es verzerrt die aufgeworfene Frage zur Antwort und kon­
struiert in seinem Mythos zwei Welten aus den Widersprüchen, die in der
Übergangsform des Problems enthalten sind: die ohnmächtige und un­
menschliche Vernunft und die unerkennbare, nur durch die Intuition er­
faßbare höhere irrationelle „Wirklichkeit“ des „Lebens“.
Einem ähnlichen Problem begegnen wir in der durch die kapitalistische
Arbeitsteilung hervorgebrachten Wissenschaftslehre in bezug auf das Ver­
hältnis der einzelnen Fachwissenschaften. Sie stehen hier streng und starr
30 Die Krise der bürgerlichen Philosophie

voneinander abgesondert vor uns. Für jede von ihnen schafft der Ver­
stand auf der Grundlage seiner undialektischen Kategorien eine besondere
formale Methode. Deshalb werden Zusammenhänge - welche in einer be­
stimmten Fachwissenschaft verstandesgemäß behandelt werden können—,
sobald sie in einer anderen auftreten, als irrationelle Inhalte, als auf den
Irrationalismus hinweisende, letzte, unumstößliche Gegebenheit hin­
gestellt. Um ein charakteristisches Beispiel zu nennen, weise ich auf die
Rechtsphilosophie des berühmten Neukantianers Kelsen hin. Bei seinem
Ringen mit dem Problem der Gesetzgebung, d. h. der Entstehung des
Rechtsinhalts, ein Problem, das die zeitgenössische Soziologie - schlecht
und recht - als eigenes Fachproblem behandelte, kommt er zu der Folge­
rung, daß die Entstehung des Rechtsinhaltes für die Rechtswissenschaft
das „große Mysterium" sei. Andererseits wird die formale Gültigkeit des
Rechts zu einem ebensolchen Mysterium für die bürgerliche Ökonomie usw.
Sobald das gesellschaftliche Bedürfnis nach einem einheitlichen Welt­
bild, einer Weltordnung auftritt, entsteht zur Überwindung derartiger
wissenschaftstheoretischen Schwierigkeiten die „Geisteswissenschaft"
und die „Geistesgeschichte". Im Gegensatz zu der vorangegangenen
Periode und ihren Epigonen wird ein Zusammenhang, eine Totalität ge­
sucht, allerdings, wie aus dem Vorstehenden klar hervorgeht : auf falscher
Grundlage. Denn die gemeinsame Basis der Einzelwissenschaften kann
nur dort gefunden werden, wo sie nicht gesucht wird : in der einheitlichen,
ökonomisch bestimmten, historisch-gesellschaftlichen Entwicklung. Es
ist klar, daß dieser Weg für das bürgerliche Denken ungangbar ist, denn
er würde für jede einzelne Wissenschaft eine Umarbeitung auf der Grund­
lage der materialistisch-dialektischen Methode erfordern. An jene grund­
legenden Widersprüche, mit denen die auf der Basis der kapitalistischen
Arbeitsteilung entstandenen Fachwissenschaften infolge ihrer nicht­
dialektischen Methode Zusammenstößen, konnte und wollte die neue
Zeitperiode nicht rühren, denn sie hat, wie wir gesehen haben, die Er­
kenntnistheorie des subjektiven Idealismus, die die philosophische Grund­
lage ihrer Methoden bildet, voll und ganz übernommen.
Die geisteswissenschaftliche Synthese kann daher nur etwas Neues
bieten, wenn sie die irrationellen Bindungen zum Mythos erhebt. Seit
Diltheys „genialer Anschauung" wird überall die Intuition zur herrschen­
den Methode der geisteswissenschaftlichen Synthese. Das Resultat be­
steht darin, daß auf intuitivem Wege neue fetischistische Symbole ent­
stehen, die eine neuerliche Fetischisierung, eine neue Mythisierung zu
(allerdings rein „individuellen'', irrationellen) Gestalten der Wirklichkeit
auf bläht. Freilich kann auch die Geistesgeschichte einzehie konkrete
historische Resultate erzielen, aber immer nur dann, wenn sie von der
Die Symptome der Krise 31

Richtung ihrer eigenen Methode ab weicht, wenn sie sich einer realen Ge­
sellschaft sauffassung zuwendet. (Einzelne derartige Analysen finden wir
bereits bei Dilthey.)
Das Resultat ist eine farbige, stellenweise geistreiche Scheinlösung aller
philosophischen Probleme. Die „geniale“ Willkür der Intuition wird zur
allgemeinen Methode der Philosophie. Nietzsche sprach über diese Will­
kür noch ganz offen, später war man bemüht, sie immer mehr zu mas­
kieren, sie in Hüllen der Objektivität zu kleiden; am raffiniertesten ge­
schieht das dort, wo die rein gedankliche Phänomenologie zur Unter­
suchung der Wirklichkeit, zur Wirklichkeitswissenschaft, zur Ontologie
(Existentialismus) wird. Daß es sich hier um eine Scheinlösung handelt,
wird daraus ersichtlich, daß trotz der neuen Methoden, trotz der im
Glanz der Phantasie erstrahlenden oder dunklen, „tiefen“ logischen und
zugleich antilogischen, geschichtsphilosophischen Mythen alle Fragen
der Philosophie ungelöst bleiben, ja, daß die Philosophie im Vergleich zu
jenen Resultaten, die das klassische Zeitalter bereits erreicht hatte, weit
zurückbleibt.
Eine derartige Frage ist vor allem das Verhältnis von Denken und
Wirklichkeit und im engsten Zusammenhang damit das Problem des
inneren Aufbaus der Logik selbst. Der Irrationalismus bedeutet einen
Rückfall; er fixiert den Gegensatz von Wirklichkeit und Verstandes­
kategorien, d. h. dem noch nicht dialektischen, der formalen Logik ent­
springenden Denken als letzten, unüberbrückbaren Gegensatz. Der Ir­
rationalismus bedeutet, wie wir gesehen haben, teils die philosophische
„Rechtfertigung“ der willkürlichen Mythen, teils das erneute Stecken­
bleiben der theoretischen Philosophie in der formalen Logik. Gerade der
Anspruch der Intuition auf eine besondere aristokratische Weihe, auf den
Sinn für „das Höhere“, das dem gewöhnlichen Menschen abgeht, sperrt
die theoretische Philosophie in den Kerker der Formallogik, den die
Philosophen der Klassik bereits durchbrochen hatten.
Hierher gehört die Frage von Freiheit und Notwendigkeit. Während
die klassische Philosophie ihr wirkliches Verhältnis weitgehend geklärt,
weil konkretisiert hatte (Hegel), steht jetzt wieder ein abstrakter, abso­
luter und in dieser seiner Absolutheit sinnlos gewordener Freiheitsbegriff
einem starren und mechanischen Fatalismus gegenüber. Das sehen wir
am deutlichsten bei Nietzsche, Spengler, neuerdings bei Sartre. Die Kari­
katur dieser abstrakten, starren und in ihrer starren Abstraktheit un­
sinnig gewordenen Dualität ist die sogenannte „Weltanschauung“ des
Faschismus.
Der Faschismus ist tatsächlich die Karikatur der Krise der modernen
Philosophie. Aber zugleich war diese Karikatur* auch eine lang anhal-
32 Die Krise der bürgerlichen Philosophie

tende, blutige Wirklichkeit. Und es ist kein unbedeutendes Symptom der


Krise der bürgerlichen Philosophie, daß die sogenannte Weltanschauung
des Faschismus von ihr ausgeht, daß sie nichts anderes gebracht hat als
die demagogische Vergröberung und Vereinfachung der mit Nietzsche
einsetzenden Entwicklung der imperialistischen bürgerlichen Philosophie.
Aber eben deshalb hat in den Weltanschauungskämpfen mit dem Fa­
schismus einzig der dialektische Materialismus einen ernsten kämpfe­
rischen Widerstand geleistet. Der antifaschistische Humanismus bürger­
licher Ideologen hat zwar gegen einzelne Tatsachen des Faschismus, ja
sogar gegen die barbarische Tatsache des Faschismus selbst Protest er­
hoben, aber er war nie imstande, der angeblichen Weltanschauung des
Faschismus, dem zur Weltanschauung aufgeblähten irrationalistischen
Mythos eine neue, echte progressive Weltanschauung entgegenzustellen.
Der französische Existentialismus unterscheidet sich gesellschaftlich von
dem präfaschistischen Heidegger darin, daß der erstere sein abstraktes
„Nein“ nicht zur ganzen Wirklichkeit der Krise ausspricht, sondern zum
Faschismus. Aber das „Nein“ bleibt gerade so abstrakt.
Das ist kein Zufall. Denn der überwiegende Teil der antifaschistischen
Denker ging in seiner Weltanschauung, seiner Methode von der gleichen
Position aus, von der der Gegner ausgegangen war. Wenn sie sich aber
das Ziel setzten, Schopenhauer, Nietzsche humanistisch zu retten, sie zu
Humanisten umzudeuten, dann mußte notwendigerweise diese neue
Interpretation ohnmächtig gegen den Faschismus sein, der die wirklichen
Grundtendenzen von Schopenhauer und Nietzsche, wenn auch vulgär,
weiterentwickelte.
Die Krise der bürgerlichen Philosophie dauert weiter an. Ein deutliches
Symptom dieser Krise ist die Tatsache, daß die Befreiung vom geistigen
Terror des Faschismus in der bürgerlichen Philosophie keine Wendung
hervorgebracht hat. Die bürgerliche Philosophie setzt ihren Weg (im
Gegensatz zum fortschrittlichsten Teil der Literatur) dort fort, wo sie vor
dem Faschismus stehengeblieben war. Von diesem Gesichtspunkt aus ist
auch der Existentialismus ein Ausdruck dieser Krise. Auch heute sind
allein im dialektischen Materialismus die Probleme der neuen Welt
lebendig, nur in ihm erhalten sie deutliche, weltanschauliche Konturen.
Das ist ebenfalls kein Zufall. Wie lange sich noch der Kapitalismus
aufrechterhalten kann, wann ihn der Sozialismus im Weltmaßstab ab-
lösen wird, kann heute niemand wissen. Aber nichts weist darauf hin,
daß das heutige Bürgertum noch imstande wäre, eine selbständige, um­
fassende, fortschrittliche Weltanschauung aufzubauen.
D E R E X IS T E N T IA L IS M U S

Tout se passe comme si le monde, l'homme


et l'homme-dans-le-monde n ’arrivaient à
rtaliser qu'un Dieu manqué.
Sartre: ^L'être et le néant»

Alle Zeichen sprechen dafür, der Existentialismus wird in der näch­


sten Zeit zur herrschenden geistigen Strömung der heutigen bürgerlichen
Intelligenz werden. Dies bereitet sich schon lange vor. Seit dem Er­
scheinen von Heideggers „Sein und Zeit“ sahen die geistigen Avant­
gardisten hier den Weg zu einer neuen Blüte, zur adäquaten Weltanschau­
ung der Epoche. In Deutschland sorgte Jaspers dafür, die Prinzipien der
neuen Philosophie auch breiteren Schichten der Intelligenz zu vermitteln.
Während des zweiten Weltkrieges und nach seiner Beendigung über­
schwemmte der Existentialismus das ganze westliche Kulturgebiet. Zur
selben Zeit, als der Krieg auf Leben und Tod mit Deutschland tobte,
machten die führenden deutschen Denker des Existentialismus und sein
methodischer Vorläufer (Husserl) große Eroberungen in Frankreich und
Amerika, und zwar nicht nur in den USA, sondern auch in Südamerika.
Im Jahre 1943 erschien das grundlegende Buch Sartres. Seither dringt
der Existentialismus über philosophische Debatten, besonders Zeitschrif-
ten (Les Temps Modernes), Romane und Dramen rasch vorwärts.

D IE METHODE ALS VERHALTEN


4

Handelt es sich hier um eine vorübergehende Mode - wenn auch viel­


leicht nur um eine Mode für einige J ahre - oder aber tatsächlich um eine
epochemachende Philosophie? Letzten Endes wird diese Frage durch die
v_

Seinsgrundlage der neuen Philosophie entschieden, d. h. dadurch, wie


tief und breit die Welt sich in der Seele des Denkers widerspiegelt und
wie breit, tief und adäquat diese Widerspiegelung, von der die neue Welt­
anschauung ausgeht, jene entscheidenden Fragen der Menschheit erfaßt.
34 Der Existentialismus

mit denen die Epoche ringt. Es muß uns also hier der Inhalt der Philo­
sophie als Lebensinhalt, ihre Methode als das Verhalten zum Leben inter­
essieren. Was ist der Ausgangspunkt der neuen Philosophie, wohin geht
sie und was erfaßt sie? Ist ihr Inhalt die Totalität des menschlichen Seins
(wie bei den alten großen Philosophen, freilich innerhalb der Möglich­
keiten ihrer Zeit) oder nur ein teilweiser, verzerrter Aufriß der Welt, so
wie er sich einer schmalen Schicht von einem partiellen Blickpunkt aus
darbietet? Diese Frage entscheidet die bleibende Wirkung einer Philo­
sophie. Die rein fachliche Kritik, die nicht von hier ausgeht und nicht
von hier aus die Resultate mißt, entartet zur Haarspalterei. (Siehe die
Kritik der angeblichen logischen Fehler der Hegelschen Dialektik.)
Noch nie kam eine epochemachende Philosophie ohne eine wirklich
originelle Methode zustande. Dies bestätigt sich bei allen großen Philo­
sophen, einerlei ob wir Plato oder Aristoteles, Descartes oder Spinoza,
Kant oder Hegel nehmen. Wie steht es nun um die Originalität der Me­
thode des Existentialismus? Hier handelt es sich keineswegs um philo­
sophische Quellenforschung. Daß der Existentialismus eine Abzweigung
der Husserlschen Phänomenologie ist, würde die Frage nicht entscheiden.
(Wieviel hat Spinoza von Descartes übernommen, und doch blieb er ori­
ginell!) Obwohl Husserl noch nicht Existentialist war, können wir die
phänomenologische Methode ruhig als eine Errungenschaft des Existen­
tialismus ansehen.
Aber was brachte diese Methode Neues? Auch diese Frage bezieht sich
nicht auf die inneren Angelegenheiten der Fachphilosophie, sondern dar­
auf, in welcher Beziehung die Philosophie —als das abstrakteste mensch­
liche Verhalten - zu ihrer Zeit, zur Menschheit, zu den großen Problemen
der Welt steht. Betrachten wir die Frage von hier aus, so kommen wir
zu dem Ergebnis, daß die moderne Phänomenologie eine der zahlreichen
philosophischen Methoden ist, welche sich einerseits durch die Ent­
deckung eines philosophischen „dritten Weges“ sowohl über den Idealis­
mus als auch über den Materialismus erheben möchten, andererseits -
und im engsten Zusammenhang damit - die Intuition zur echten, wesent­
lichen Quelle der Erkenntnis machen will. Von Nietzsche über Mach-
Avenarius bis zu Bergson und darüber hinaus bewegt sich die große
Masse der bürgerlichen Philosophie auf diesem Weg. Die Husserlsche
„Wesensschau“ ist nur ein Abschnitt dieser Entwicklung.
Dies wäre an sich noch kein entscheidendes Argument gegen die phäno­
menologische Methode. Um hier zu einem richtigen Urteil zu kommen,
müssen wir zunächst die philosophische und zeitgeschichtliche Bedeutung
des „dritten Weges“ und auch den Platz und die Rolle der Intuition im
Prozeß der Erkenntnis klären.
Die Methode als Verhalten 35
■X*· Λ

Ist neben dem Idealismus und dem Materialismus nocli Platz für einen
„dritten Weg“ ? Wenn wir diese Frage nicht nach modernen Phrasen be­
urteilen, sondern sie ernst, ihrem Wesen nach stellen, so wie es die alten
großen Philosophen taten, dann kann es nur eine Antwort geben : Nein.
Denn es ist Idar, wenn wir die Beziehung von Sein und Bewußtsein auf
das Wesen konzentriert betrachten, dann sind nur zwei Positionen mög­
lich: entweder ist das Sein primär gegenüber dem Bewußtsein und be­
stimmt es (Materialismus), oder es ist das Bewußtsein primär dem Sein
gegenüber (Idealismus). Oder gleichbedeutend hiermit: das Grund­
prinzip des Materialismus ist die Unabhängigkeit des Seins vom Bewußt­
sein, das des Idealismus seine Abhängigkeit von ihm. Die heutigen Mode­
philosophen setzen zur Fundierung des „dritten Weges“ eine Korrelation
zwischen Sein und Bewußtsein fest : es gibt kein Sein ohne Bewußtsein
und kein Bewußtsein ohne Sein. Aber mit der ersten Behauptung produ­
ziert man nur eine Abart des Idealismus, die Anerkennung der Abhängig­
keit des Seins vom Bewußtsein.
Den philosophischen „dritten Weg“ hat die unerbittliche Wirklichkeit
der imperialistischen Periode dem bürgerlichen Denken aufgezwungen. Nur
in ganz ruhigen, windstillen Zeiten kann man einen konsequenten Idea­
lismus glaubhaft machen. Goethes witzige Bemerkung über den Fichte-
schen subjektiven Idealismus ist bekannt. Als bei Gelegenheit irgendeines
Universitätskonfliktes die Studenten die Fenster im Hause des großen
Philosophen einschlugen, sagte Goethe lächelnd: „Dies ist eine überaus
unangenehme Art, von der Realität der Außenwelt Kenntnis zu nehmen.“
Dieses Fenstereinschlagen lieferte die imperialistische Epoche massenhaft
im Weltmaßstabe. Und der aufrichtige philosophische Idealismus ver­
schied sanft unter diesem Steinregen. Wer sich dennoch - abgesehen von
einigen imwesentlichen Kathederbesitzem - als Idealist bekannte, war
von hoffnungsloser Resignation in bezug auf die Gültigkeit des Idealis­
mus für die Wirklichkeit erfüllt (Valéry, Benda usw.).
Die Abkehr von dem alten aufrichtigen Idealismus wurde bereits in
der Mitte des vorigen Jahrhunderts durch den kleinbürgerlichen Asketis­
mus der idealistischen Philosophen vorbereitet. Seit Nietzsche spielt der
Leib eine führende Rolle in der bürgerlichen Philosophie. Die neue Philo­
sophie braucht solche Formulierungen, welche die primäre Wirklichkeit
des Leibes, der Freuden und Gefahren des körperlichen Lebens recht-
fertigen, ohne dem Materialismus Konzessionen zu machen. Denn
zur selben Zeit wurde der Materialismus zur Weltanschauung des revo­
lutionären Proletariats. Damit war die Stellungnahme Gassendis und
Hobbes' für die bürgerlichen Denker unmöglich geworden. Die Epoche
hatte die Methode des Idealismus kompromittiert, man hielt es aber
36 Der Existentialismus

für unumgänglich notwendig, sein Fundament, seine Resultate unbe­


rührt aufrechtzuerhalten; dies gibt den Schlüssel zur Notwendigkeit
des „dritten Weges“ in der bürgerlichen Existenz der imperialistischen
Epoche.
Die phänomenologische Methode meint, besonders in ihrer nach-Hus-
serlschen Entwicklung, einen Erkenntnis weg entdeckt zu haben, der -
ohne über das menschliche, ja über das individuelle Bewußtsein hinaus­
zugehen - das Wesen der objektiven Wirklichkeit aufzeigt. Die Wesens­
schau ist eine Art von intuitiver Introspektion, die aber innerhalb des
Denkprozesses ihre Aufmerksamkeit nicht auf diesen (also auf den
psychologischen Prozeß) lenkt, sondern untersucht, einerseits, welcher
Art jene Gegenstände sind, die der Prozeß setzt, und andererseits, in
welchen abstrakten Akten er dieses Setzen tätigt. So entsteht der phäno­
menologische Begriff des „Akts“ und des „intentionalen Gegenstandes“.
Husserl hatte es noch verhältnismäßig leicht, mit diesen Begriffen zu
operieren, denn er beschäftigte sich ausschließlich mit den Fragen der
reinen Logik, also den rein gedanklichen Akten und Gegenständen.
Komplizierter wurde die Frage, als sich Scheler und Nicolai Hart mann
den Problemen der Ethik und Soziologie, Heidegger, Jaspers und Sartre
den letzten philosophischen Fragen züWandten. Das Zeitbedürfnis, das
sie in diese Richtung trieb, war so elementar, daß es alle erkenntnis­
theoretischen Zweifel, ob diese Methode auf die an sich seiende objektive
Wirklichkeit, auf das Wesen der Dinge zutreffe - und besonders, ob sie
nicht subjektiv, dem Wesen nach willkürlich sei - , zum Schweigen
brachte.
Auch als es sich bereits um die entscheidenden Fragen der gesellschaft­
lichen Wirklichkeit handelte, glitten die Phänomenologen über die ent­
scheidenden erkenntnistheoretischen Fragen leichten Schrittes hinweg.
Sie pflegten ihr erkenntnistheoretisches Gewissen damit zu beruhigen,
daß die phänomenologische Methode die Frage, ob die intentionalen
Gegenstände wirklich seien, ohnehin „in Klammer setze“. Auf diese Art
jedoch wäre jede Wirklichkeitserkenntnis vor der phänomenologischen
Methode versperrt. (Als mich zur Zeit des ersten Weltkrieges Scheler in
Heidelberg besuchte, hatten wir hierüber ein interessantes und charakte­
ristisches Gespräch. Scheler vertrat den Standpunkt, die Phänomeno­
logie sei eine universale Methode, die alles zum intentionalen Gegenstand
haben könne. „Man kann zum Beispiel“, führte Scheler aus, „über den
Teufel phänomenologische Untersuchungen machen, man muß nur zu­
nächst die Frage der Existenz des Teufels ,in Klammer setzen'.“-„F rei­
lich“, antwortete ich, „und wenn Sie dann mit dem phänomenologischen
Bild über den Teufel fertig geworden sind, dann öffnen Sie die Klammer -
Die Methode als Verhalten 37

und der Teufel steht leibhaftig vor uns/' Scheler lachte, zuckte mit den
Achseln und antwortete nichts.)
Die Willkür der Methode offenbart sich vor allem, wenn die Frage ge­
stellt wird: ist das, was die phänomenologische Intuition auffindet, ta t­
sächlich Wirklichkeit, und mit welchem Recht spricht sie über den Wirk­
lichkeitscharakter ihres Gegenstandes? Es ist interessant, daß sich nie­
mand darüber Gedanken machte, weshalb die größten Vertreter der im­
perialistischen Intuitions-Philosophie auf die konträrsten „Wirklich­
keiten" verschiedenster Struktur und Art stoßen konnten; so ist für
Diltheys Intuition die Farbigkeit, die Buntheit des einmaligen histo­
rischen Prozesses die Wirklichkeit, für die Bergsons das Fließen selbst,
die Dauer (durée), die die erstarrten Formen des gewöhnlichen Lebens
löst, für die Husserls ist das logische Gesetztsein des Dinges an sich, das
raumartige, geradezu statuenhafte, starre Nebeneinander die Wirklich­
keit. Sie gaben sich alle damit zufrieden, daß zumindest innerhalb einer
Schule in bezug auf den Charakter dieser „Wirklichkeit" eine relative
Übereinstimmung herrschte. Die einander ausschließenden Intuitionen
konnten sogar relativ friedlich nebeneinander hausen.
Diese eigentümliche Lage hat außer dem gesellschaftlichen Bedürfnis
des „dritten Weges" noch konkretere Gründe. Eine allgemeine Tendenz
der imperialistischen Periode ist das Überspringen der gesellschaftlichen
Verhältnisse ; sie werden als sekundäre, das Wesen des Menschen über­
haupt nicht oder höchstens oberflächlich berührende Gegebenheiten be­
trachtet. Die Intuition der Wesensschau, die die unmittelbare Gegeben­
heit des Erlebnisses zum Ausgangspunkt nimmt, die von diesem, unbe­
dingt als primär betrachteten Ausgangspunkt, ohne dessen Charakter
und Vorbedingungen auch nur zu untersuchen, zu ihrer letzten, abstrak­
ten wirklichkeitsfremden „Schau" gelangt, konnte unter den gegebenen
Zeitverhältnissen sehr leicht bei Aufrechterhaltung des Scheins vollkom­
mener Objektivität und Wissenschaftlichkeit von allen gesellschaftlichen
Gegebenheiten absehen. So entstand der dem Verhalten der bürgerlichen
Intelligenz glänzend entsprechende logische Mythos, eine für objektiv er­
klärte Welt, deren vom Bewußtsein unabhängige Existenz der Denker
anerkennt, die das Bewußtsein nur aufnimmt (und nicht „schafft",
wie dies der Idealismus alten Typs beanspruchte), deren Struktur und
Beschaffenheit aber dennoch vom individuellen Bewußtsein bestimmt
wird.
Es ist unmöglich, hier eine ausführliche Kritik der phänomenologischen
Methode zu geben. Deshalb wollen wir nur ein Beispiel ihrer Anwendung
flüchtig analysieren. Unsere Wahl fiel auf das Buch des bekannten Hus-
serl-Heidegger-Schülers Szilasi („Wissenschaft als Philosophie", Europa-
38 Der Existentialismus

Verlag, Züricli-New York, S. 15/16), teils weil Szilasi ein ernster, auf
wissenschaftliche Objektivität gerichteter Forscher ist, kein zynischer
Mythenproduzent wie Scheler, teils weil die elementare Form des Bei­
spiels für eine kurze Behandlung besonders geeignet ist.
Szilasi untersucht vor einem seiner Vorträge sein und der Hörer Mit­
einandersein. In der Wesensschau liegt der Saal vor ihm, die Bänke, also
die Außenwelt, welche das phänomenologische System angeblich objektiv
erfaßt: „Dieser Raum mit seinen verschieden bearbeiteten Brettern ist
nur dadurch ein Hörsaal, weil wir diese Anhäufung von Holz so ver­
stehen, und wir verstehen sie so, weil sie im vorhinein in einem engen
Zusammenhänge mit der gemeinsamen Aufgabe steht.** Daraus folgt die
Feststellung: „Die aktuelle Situation des Miteinanderseins bestimmt je­
weils a priori das Was-Sein des Seienden/*
Betrachten wir nun ein wenig die Resultate dieser Wesensschau vom
methodologischen Standpunkt. Vor allem ist es eine primitive Abstrak­
tion, daß Szilasi hier „auf verschiedene Weise bearbeitete Bretter** sieht
und nicht Tische, Bänke usw. Aber methodologisch ist dies unumgäng­
lich notwendig, denn wenn er darauf einginge, daß der Hörsaal in seiner
ganzen zweckmäßigen Einrichtung nicht weniger zur Abhaltung von
juristischen, philologischen und anderen Vorträgen geeignet wäre, wo
bliebe dann die magische Wirkung des intentionalen Erlebnisses, die
apriorische Schaffung des „Was-Seins**?
Aber gerade methodologisch ist das, was die Analyse nicht enthält,
noch wichtiger. Der Hörsaal befindet sich in Zürich, es sind die 40er Jahre.
Daß Szilasi gerade in Zürich einen Vortrag halten konnte, hat auch ver­
schiedenste gesellschaftliche Vorbedingungen. Szilasi hielt z. B. vor der
Machtergreifung Hitlers seine Vorträge in Freiburg, nach 1933 wurden
sie nicht mehr gestattet, ja der Vortragende war gezwungen, Deutsch­
land zu verlassen, da seine persönliche Sicherheit in Gefahr war. Warum
fehlt dies alles in der Wesensschau des „Miteinanderseins**, obwohl ihm
das objektiv zumindest in dem Grade angehört, wie die „bearbeiteten
Bretter* *?
Aber kehren wir auch zu diesen zurück. Daß Bretter auf eine gewisse
Art und Weise zur Herstellung von Bänken, Tischen benutzt werden,
setzt eine gewisse Entwicklungsstufe der Industrie, der Gesellschaft vor­
aus. Daß diese und der Saal im allgemeinen sich in diesem oder jenem
Zustand befinden (ob es Kohle gibt zu seiner Beheizung, ob die Fenster­
scheiben ganz sind), steht wieder mit anderen gesellschaftlichen Ereig­
nissen und Strukturen in untrennbarem Zusammenhang usw., usw.
Auch wenn wir auf die philosophische Kritik der phänomenologischen
Methode nicht eingehen, sehen wir, daß selbst ihre ernstesten, Vorurteils-
Die Methode als Verhalten 39
4

losesten Vertreter, indem sie unbewußt alle gesellschaftlichen Elemente


aus der gegenständlichen Analyse ausschalten, das isolierte individuelle
Bewußtsein dem angeblichen Chaos der Dinge (und Menschen) gegen­
überstellen. In diesem Chaos kann nur das setzende Subjekt eine Ord­
nung, Gegenständlichkeit, Objektivität schaffen. Da hätten wir sie nun,
die berühmte phänomenologische Objektivität, den vielgepriesenen
,,dritten Weg“ , der sich gefahrlos zwischen Idealismus und Materialismus
hindurchschlängelt. Sie stehen klar vor uns. Was haben nun die kreißen­
den Berge geboren? Ihrer alten Gewohnheit nach eine Maus, diesmal...
den Neukantianismus.
Die Phänomenologie und die aus ihr erwachsende Ontologie gehen nur
scheinbar über den erkenntnistheoretischen Solipsismus des subjektiven
Idealismus hinaus. Eine formell neugefaßte Fragestellung setzt den onto­
logischen Solipsismus an seine Stelle. Es ist kein Zufall, daß - geradezu
wie sich vor 40 Jahren die Machisten gegenseitig den Idealismus vor­
warfen und jeder nur bei sich selbst die Verwirklichung des philosophi­
schen „dritten Weges“ anerkannte —jetzt die Existentialisten mit ähn­
lichen gegenseitigen Beschuldigungen auftreten wie z. B. Sartre gegen
die von ihm sonst so hochgeschätzten Husserl und Heidegger. Husserl
ist seiner Meinung nach nicht über Kant hinausgegangen, und Heidegger
kritisiert er folgendermaßen: „Das ,Mitsein', als Struktur meines Seins,
isoliert mich geradeso wie die Argumentierung des Solipsismus... Des­
halb wird unsere Suche nach der gleichzeitigen Überwindung von Idealis­
mus und Realismus (gemeint ist Materialismus. G. L.) in fSein und Zeit*
vergeblich sein·“
Die Analyse der Philosophie Sartres wird uns zeigen, daß man ihn des­
selben Delikts beschuldigen kann, dessen er Husserl und Heidegger be­
schuldigt. Schon bei Heidegger ist das „Dasein“ nicht eine objektive Art
des Seins, sondern wird zu einer Erscheinungsform der menschlichen
Existenz (des menschlichen Bewußtseins) gemacht. Sartre, den das er­
lebnishafte und praktische Verhältnis des Menschen zur Natur noch mehr
interessiert als seinen Vorgänger, führt an einigen Stellen klar ihre volle
Abhängigkeit vom menschlichen Bewußtsein aus. An einer Stelle spricht
er z. B. von der Verwüstung. Er bestreitet, daß sie in der Natur selbst
existiert, dort gibt es nur Veränderungen. „Und auch dieser Ausdruck
ist nicht adäquat, denn damit dieses Sich-zu-etwas-anderem-Verändem
gesetzt werden kann, ist ein Zeuge notwendig, der irgendwie die Ver­
gangenheit in sich bewahrt und imstande ist, sie mit der Gegenwart in
seiner ,nicht-mehr'-Form zu vergleichen.“ Und an anderer Stelle: „Der
Vollmond bedeutet keine Zukunft; nur dann, wenn wir den wachsenden
Mond in jener ,Welt‘ betrachten, die sich in der menschlichen Wirklich-
40 Der Existentialismus

keit offenbart; die Zukunft gelangt durch die menschliche Wirklichkeit


in die Welt/* Wieder haben die kreißenden Berge eine Maus geboren,
diesm al... eine Berkeleyanische.
Diese rein idealistische Tendenz wird bei Sartre noch dadurch ge­
steigert, daß seine Art, die Probleme zu behandeln, ihn häufiger als
Heidegger dazu zwingt, die konkreten Fragen des „Mitseins** zu unter­
suchen. Diese Schwierigkeit löst er teils dadurch, daß er solche lose zu­
sammenhängenden Erscheinungen des Miteinanderseins auswählt, die
man mit scheinbarer Plausibilität auf die Erlebnisse des Ich zurückführen
kann (ein Zusammentreffen im Kaffeehaus, eine Fahrt in der Unter­
grundbahn). Wo andererseits von faktischer gesellschaftlicher Tätigkeit
die Rede ist (Arbeit, Klassenbewußtsein), macht er einen methodologi­
schen Salto mortale und erklärt, daß die Erfahrungen der diesbezüglichen
Intuition oder Wesensschau psychologischer und nicht ontologischer
Natur sind. Scheler also war im Falle des Teufels geneigt, „die Klammer
zu öffnen**, Sartre ist in der Frage der Arbeit und des Klassenbewußt­
seins dazu nicht geneigt. Weshalb, das ist das Geheimnis derer, denen die
Wesensschau gegeben ist, der Eingeweihten. Es ist deshalb kein Zufall,
daß Sartre, wenn er das Verhältnis des Menschen zu seinen Neben­
menschen prüft, nur die folgenden Beziehungen - ontologisch - für
wesentlich, d. h. für Elemente der Wirklichkeit an sich, anerkennt :
Liebe, Sprache, Masochismus, Gleichgültigkeit, Sehnsucht, Haß, Sa­
dismus. Punkt. (Auch die Reihenfolge der Kategorien stammt von
Sartre.) Alles, was im „Mitsein** hierüber hinausgeht, die Kategorien
des kollektiven Zusammenlebens, des Miteinanderarbeitens, des Mit­
einanderkämpfens, sind für Sartre, wie νήτ gesehen haben, Bewußt­
seins- (psychologische) und nicht wirklich existierende (ontologische)
Kategorien.
Aus all dem ergeben sich, auf das Leben konkretisiert, eigentümlich
banale, philiströse Gemeinplätze. In seinem populären Buch behandelt
Sartre die Frage, wie weit er zu seinen frei handelnden Genossen Ver­
trauen haben kann, und antwortet: „So weit, wie ich sie unmittelbar
persönlich kenne ; auf die Einheit und den Willen der Partei zu zählen,
ist dasselbe, wie darauf zu zählen, daß die Elektrische rechtzeitig an­
kommen und der Zug nicht entgleisen wird. Aber ich kann nicht auf
Menschen zählen, die ich nicht kenne, indem ich auf die menschliche
Güte oder‘auf das Interesse des Menschen für die Gemeinschaft baue;
denn es ist eine Gegebenheit, daß der Mensch frei ist, und eine mensch­
liche Natur, auf die ich rechnen könnte, existiert nicht.** Abgesehen von
der verwickelten Terminologie, könnte das jeder vom öffentlichen Leben
sich zurückziehende Kleinbürger sagen und sagt es auch.
Der Mythos des Nichts 41

2
DER MYTHOS DES NICHTS

Il est absurde, que nous soyions nés,


U est absurde, que nous mourions.
Sartre: «L'être et le néant»

Es wäre ein Fehler anzunehmen, daß eine derartig abstrakte Einengung


der Wirklichkeit, eine derartige idealistische Verzerrung des Wirklichkeits­
problems bei klugen und begabten Menschen immer einem beabsichtigten
Mystifizierungsversuch zuzuschreiben wäre. Im Gegenteil. Jene Erleb­
nisse, die das in der Intuition der Wesensschau sich offenbarende Verhalten
und seinen Inhalt bilden, sind die spontansten und-soweit überhaupt mög­
lich - subjektiv aufrichtigsten. Freilich sind sie deshalb noch nicht ob­
jektiv richtig. Ja, gerade diese Spontaneität verrät ihr unmittelbares,
kritikloses Verhalten zu der grundlegenden, das falsche Bewußtsein
schaffenden Erscheinung, dem Fetischismus. Der Fetischismus bedeutet,
kurz gesagt, daß die Beziehungen der Menschen, die durch Gegen­
stände, Dinge vermittelt werden, sich infolge der Struktur der kapita­
listischen Wirtschaft im menschlichen Bewußtsein unmittelbar als Dinge
spiegeln. Die menschlichen Beziehungen vergegenständlichen, verding­
lichen sich, werden zu Fetischen, in denen die Menschen ihre gesellschaft­
lichen Beziehungen kristallisieren wie die Wilden ihre Beziehungen zur
Natur, deren Gesetzmäßigkeit für sie geradeso undurchdringlich ist wie für
die bürgerlichen Menschen der kapitalistischen Welt die Gesetzmäßigkeit
ihrer eigenen Wirtschaftsordnung. Darum beten sie wie die Wilden
ihre selbstgemachten Fetische an, sind ihneô untertan und opfern ihnen
(siehe z. B. den Fetisch des Geldes). Die menschlichen Beziehungen er­
langen, wie Marx sagt, eine „gespenstische Gegenständlichkeit". Das ge­
sellschaftliche Sein des Menschen wird - obwohl er trotz allen unmittel­
baren Scheins ein objektives, in erster Linie ein gesellschaftliches Wesen
ist - im unmittelbaren Erlebnis ein Rätsel für ihn.
Es kann weder unsere Absicht noch unsere Aufgabe sein, das Problem
der Fetischisierung zu behandeln; dies würde die systematische Entwick­
lung der ganzen Struktur und der durch sie entstehenden falschen Be-
wußtseinsformon der kapitalistischen Gesellschaft erfordern. Ich will nur
kurz auf die wichtigsten Fragen hinweisen, die auf die Entwicklung des
Existentialismus entscheidend eingewirkt haben.
Die erste ist das Unwesentlichwerden des Lebens. Der Mensch verliert
das Zentrum, das Gewicht, den Zusammenhalt seines eigenen Lebens,
und das Leben selbst zwingt ihn dazu, sich dies bewußt zu machen. Das
Phänomen selbst ist längst altbekannt. Ibsen faßt es in seinem „Peer
42 Der Existentialismus

Gynt“ in einer kleinen, anschaulichen Szene zusammen. Der alternde


Peer Gynt zerpflückt eine Zwiebel und vergleicht dabei spielerisch die
einzelnen Häutchen mit je einer Periode seines Lebens; er hofft, endlich
zum Kern der Zwiebel, zum Kern seiner eigenen Persönlichkeit zu ge­
langen. Doch es folgt Häutchen auf Häutchen, Lebensabschnitt auf
Lebensabschnitt, und er findet keinen Kern des Lebens.
Es taucht nun für jeden Betroffenen die Frage auf : wie kann mein
Leben sinnvoll werden? Der in der fetischisierten Welt lebende Mensch
sieht nicht, daß jedes Leben um so reicher, um so inhaltvoller und wesent­
licher ist, je vielverzweigtere, tiefgreifendere menschliche Beziehungen
ihn —bewußt - mit dem Leben seiner Mitmenschen, mit der Gesellschaft
verknüpfen. Der isolierte, der egoistische, der nur für sich lebende Mensch
steht in einer verarmten Welt, seine Erlebnisse nähern sich um so gefahr­
drohender der Wesenlosigkeit, dem In-nichts-Zerfließen, je ausschließ­
licher sie nur die seinen, je ausschließlicher sie lediglich nach innen ge­
wendet sind.
Der Mensch der fetischisierten Welt, der seinen Lebensüberdruß nur
im Rausch zu überwinden vermag, versucht, wie der Morphinist, in der
Steigerung des Rauschmittels und nicht in einer Lebensführung, die
keines Rausches bedarf, den Ausweg zu finden. Er merkt deshalb nicht,
daß der Verlust des öffentlichen Lebens, die Verdinglichung, die Ent­
menschlichung der Zusammenarbeit infolge der kapitalistischen Arbeits­
teilung, das Losreißen der menschlichen Beziehungen von der gesell­
schaftlichen Tätigkeit sein verarmtes, isoliertes inneres Leben wehrlos
dem Rausch ausliefert; er sieht es nicht und schreitet auf diesem ver­
hängnisvollen Weg immer weiter. Und solange das so ist, solange ist auch
dieser W eg-subjektiv—notwendig. Denn das öffentliche Leben, die Arbeit,
das System der menschlichen Beziehungen der kapitalistischen Gesell­
schaft sind unlösbar dem Zauber der Fetischisierung, der Verdinglichung,
der Entmenschlichung verfallen. Nur die Auflehnung gegen die wirk­
lichen Grundlagen dieser Fetischisierung führt - wie wir es bei mehr als
einem Schriftsteller der Zeit sehen können —zu dem mehr oder minder
klaren Erkennen dieser Grundlagen, von denen aus die neuen, gesell­
schaftlichen und menschlichen Perspektiven erblickt werden können. Die
Flucht in die „Innerlichkeit“ ist eine tragikomische Sackgasse.
Solange die Pfeiler der kapitalistischen Gesellschaft unerschütterlich
schienen, also etwa bis zum ersten Weltkrieg, durchlebte die sogenannte
Avantgarde der bürgerlichen Intelligenz den Fasching der fetischisierten
Innerlichkeit. Es ändert nicht viel an der Sache, daß es bereits damals
Schriftsteller gab, die das notwendige Herannahen der Katastrophe klar
sahen. (Es genügt, sich neben Ibsen auf Tolstoi und Thomas Mann zu
Der Mythos des Nichts 43

berufen.) Das bunte Faschingsfest, freilich nicht selten von einer tra­
gischen Begleitmusik gespenstisch gemacht, entfaltete sich unaufhalt­
sam. Die Philosophie von Simmel und Bergson, ein großer Teil der Zeit­
dichtung zeigen uns genau, worum es geht. Der paradoxe Ausspruch
Oskar Wildes, „den Londoner Nebel haben die Bilder Turners geschaffen“,
spricht vielleicht am deutlichsten.
Daß sich hier trotz des Faschingsrausches das Wesenloswerden des
fetischisierten Ichs offenbart, sah mehr als ein guter Schriftsteller oder
scharfsinniger Denker. Aber sie gingen nicht weiter, als hinter die bunten
Geschehnisse tragische oder tragikomische Perspektiven zu projizieren.
Die fetischisierte Lebensgrundlage schien so unumstößlich selbstver­
ständlich, daß sie selbst nie einer Kritik, ja sogar nicht einmal einer
Untersuchung unterworfen wurde. Wenn sich Zweifel regten, dann nur
wie bei jenem Inder, der gegen den allgemeinen Glauben, die Welt werde
von einem Elefanten getragen, die bescheidene Frage stellt, worauf der
Elefant stehe. Die Antwort: „Auf einer Schildkröte“ beruhigte ihn voll­
auf. Und die Kraft der das Bewußtsein formenden Fetischisierung war
so groß, daß, als der erste Weltkrieg und die auf ihn folgende Krisenreihe
geradezu alle Möglichkeiten der menschlichen Existenz in Frage stellte,
als dieses Erdbeben alle konkreten Inhalte des Denkens auf den Kopf
stellte und jeder Idee eine neue Färbung gab, als auf den Fasching des
isolierten Individualismus ein Aschermittwoch folgte, die grundlegende
Struktur der philosophischen Fragestellung dennoch fast unberührt be­
stehen blieb.
Aber das Ziel und die Richtung des Suchens nach dem Wesen machten
dennoch wichtige Veränderungen durch, und diese Umformung brachte
den im engeren Sinne verstandenen Existentialismus, die Philosophie
Heideggers und Jaspers* hervor. Das grundlegende Erlebnis dieser Philo­
sophie ist leicht zu beschreiben. Es handelt sich darum, daß der Mensch
—wie der Existentialismus meint - infolge des Wesens der menschlichen
Existenz selbst, in der Wirklichkeit aber infolge der Spiegelung der im­
perialistischen Krise im fetischisierten Bewußtsein der Menschen: dem
Nichts, dem Nichtsein gegen übersteht ; daß die grundlegende menschliche
Beziehung zur Welt die Situation des vis-à-vis de rien ist.
In diesem Erlebnis selbst läge noch wenig Originalität. Seit Poe, der
vielleicht als erster diese Lage und das ihr entsprechende Verhalten be­
schrieben hat, stehen das tragische Schicksal, das den Menschen an den
Rand des Abgrundes treibt, ihn von reißenden Strudeln ergreifen läßt,
und die Ausweglosigkeit der Schicksalsgestaltung, deren subjektiver, er-
lebnishafter Reflex die vis-à-vis de rien-Situation ist, in der modernen
Literatur als intime Bekannte vor uns.
44 Der Existentialismus

Bei großen Schriftstellern wird dies als subjektiver Reflex einer objek­
tiven Lage gestaltet, d. h. genauer gesagt, als die Beziehung eines durch
die Umstände und die Charakterentwicklung entstandenen Verhaltens zu
einer sehr konkreten, wirklichen, ganz bestimmten Lage. Denken wir an
die Lage Raskolnikows nach dem Mord, an das mit Selbstmord endende
Leben von Swidrigailow oder Stawrogin. Worum handelt es sich hier
überall? Um eine eigentümliche, aus dem heutigen Leben entspringende
Form der tragischen Entwicklung, aus der ein wirklich großer Schrift­
steller auf Grund eigentümlicher Charakterbildungen echte tragische
Schicksale formt, die in ihrer Art gerade so plastisch sind, wie es seiner­
zeit die Tragödie von Ödipus oder die von Hamlet war.
Solche Situationen (eben als typische Situationen) nimmt auch Hei­
degger zum Ausgangspunkt. Die individuelle Note seiner Philosophie liegt
darin, daß er das ganze Problem mit Hilfe der komplizierten Methode der
Phänomenologie in die fetischisierte Struktur der bürgerlichen Seele ein­
bettet, in den perspektivelosen Nihilismus und Pessimismus der Intelli­
genz aus der Zeitspanne zwischen den beiden Weltkriegen.
Sehen wir uns nun diese Untersuchung an, wo Heidegger dieses Grund­
erlebnis der (fetischisierenden) Methode der Phänomenologie und Onto­
logie unterwirft, um den Existentialismus als selbständige, neue Philo­
sophie zu schaffen. Die erste Fetischisierung ist der Begriff des Nichts.
Sowohl bei Heidegger als auch bei Sartre ist dies die zentrale Frage der
Wirklichkeitsforschung, der Ontologie. Das Nichts ist bei Heidegger eine
mit dem Sein gleichrangige ontologische Gegebenheit; bei Sartre ist es
nur ein Moment des Seins, aber ein Moment, das sich bei jeder Offen­
barung des Seins als unumgänglich notwendig, als vom Allerwesentlich­
sten des Seins unabtrennbar erweist.
Denken wir an unsere methodologische Analyse zurück. Wenn wir mit
der Methode der Phänomenologie, sagen wir, die Gestalt Stawrogins
und das Verhalten, mit dem er auf die Lage des vis-à-vis de rien re­
agiert, die ihm am Schluß entgegenstarrt, untersuchen, wenn wir bei dieser
Untersuchung jede objektive Wirklichkeit „in Klammer setzen“, wie es
die phänomenologische Methode vorschreibt, und ausschließlich Stawro­
gins Seelenakte und deren intentionale Gegenstände betrachten, dann
sehen wir, daß der intentionale Gegenstand der Erlebnisse Stawrogins
die ausweglose Leere ist. Wenn wir nun - unter Zuhilfenahme des oben
zitierten Teufelrezeptes von Scheler —die „Klammer öffnen“ , dann steht
das Nichts als neue ontologische zentrale Wirklichkeit leibhaftig vor uns.
Wir sahen, welchen Trick die phänomenologische Methode auch hier be­
nutzte : sie sah konsequent ab von jener konkreten objektiven Wirklich­
keit, deren seelischer und moralischer Ausdruck die Seelenerlebnisse
Der Mythos des Nichts 45

waren ; d. h. sie macht Stawrogins subjektives Erlebnis einer konkreten


und objektiven Lage gegenüber - von deren konkreter, positiver Wirk­
lichkeit er absieht - zu einem verdinglichten, vergegenständlichten, selb­
ständigen, besonderen Objekt. So entsteht das Nichts als die ontologische
Lösung des Seins, als wirklich Existierendes.
Der Weg der systematischen Ableitung ist freilich im Existentialismus
selbst ein ganz anderer. Aber es wäre eine detailliertere fachphilosophi­
sche Abhandlung notwendig, um jene zuweilen einfach absurd falschen,
zuweilen offensichtlich sophistischen Gedankengänge aufzeigen zu kön­
nen, mit deren Hilfe z. B. Sartre die Frage, nämlich die phänomeno­
logische Theorie des negativen Urteils, mit einem scheinbaren Wirklich-
keitsfundament versieht, um so der ontologischen Konstruktion des
Nichts einen scheinbaren Halt zu geben. Uns genügt die Einsicht, daß
hinter jedem „Nein“, das ein Einzelurteil ausspricht, ein ebenso kon­
kretes Sein verborgen ist wie bei einem beliebigen „ Ja “. Daß nur die
Fetischisierung eines subjektiven Verhaltens hier imstande ist, für das
Negative eine selbständige, echte Gegenständlichkeit zu schaffen. Wenn
ich z. B. frage : „Was ist die innere Struktur und Gesetzmäßigkeit des
Sonnensystems?“, so habe ich keinerlei negatives Sein gesetzt, keinerlei
leeren Raum oder Abgrund, keinerlei Loch in der objektiven Wirklichkeit,
wie Sartre sich das vorstellt ; der Sinn meiner Frage deutet nur auf einen
Mangel meiner (subjektiven) Kenntnisse, die eine Ergänzung suchen. Die
Antwort kann trotzdem grammatikalisch, sogar logisch, gleichermaßen
sowohl ein positives als auch ein negatives Urteil sein. Ob ich sage: „Die
Erde dreht sich um die Sonne“ oder: „Die Sonne dreht sich nicht um die
Erde“ - beide Urteile weisen auf dieselbe konkrete und positive Wirk­
lichkeit hin ; das negative Urteil ist in diesem Fall lediglich weniger genau
und umfassend. Jedenfalls ist es unmöglich, von hier ausgehend die onto­
logische „Existenz“ des Nichts ohne Sophismen abzuleiten. Die Sophis­
men sind notwendig, weil bei Sartre zuerst das fetischisierte Erlebnis des
Nichts da war und erst nachträglich seine logische, methodologische Be­
gründung, die neue Theorie der Frage und des negativen Urteils hinzu­
kam.
Das Nichts ist ein Mythos der niedergehenden, von der Weltgeschichte
zum Tode verurteilten kapitalistischen Gesellschaft. Wenn einstens
Stawrogin oder Swidrigailow als Individuen, freilich auch damals schon
als typische Individuen, vor die Situation des vis-à-vis de rien gestellt
wurden, so ist jetzt - in einer welthistorischen Perspektive —ein ganzes
gesellschaftliches System, die an ihrem Bestehen interessierten Klassen
und sich an ihm interessiert glaubenden Schichten, vor allem ein Teil der
Intelligenz hier angelangt.
46 Der^Existentialismus

Die Lebensumstände, die Lebensführung der Intelligenz fordern dikta­


torisch eine weltanschauliche Orientierung, eine geschichtliche Perspek­
tive von ihr. Sie kann ohne sie nicht existieren ; der Kapitalist selbst kann
sie leicht entbehren. Wenn sich nun aus der konkreten geschichtlichen
Lage, in der wir uns befinden, vereint mit jenem geistigen Verhalten, das
ebenfalls das Produkt dieser gesellschaftlich-geschichtlichen Situation
ist, nichts anderes ergibt, als ein von dichtem Nebel versperrter Hori­
zont, als die Perspektive von Abgründen und reißenden Wirbeln, wohin
der Weg der Gesellschaft für die so Denkenden zu führen scheint, so ist
nichts natürlicher, als daß sich in den Seelen eine Mystifikation, eine
Fetischisierung breitmacht und sie beherrscht. Der Umstand, daß ihr
Leben keine subjektive Perspektive hat, schaut im Mythos folgender­
maßen aus: das Nichts ist die objektive Perspektive jedes Lebens. Dieser
Mythos ist auch für jene verständlich, die keine Lust und keine Fähig­
keit haben, Heideggers oder Sartres umfangreiche Bücher zu lesen ; es ist
ihnen verständlich, weil es ihr persönliches Erlebnis ausdrückt.
Die Fetischisierung ist aber hiermit nicht abgeschlossen, denn wenn
das Nichts nur der Abgrund wäre, in den der Mensch eventuell (vielleicht
wahrscheinlich, vielleicht unbedingt) hineinstürzen wird, dann wäre der
Existentialismus keine umfassende, auf alle Fragen des Lebens ant­
wortende Philosophie. Heidegger, Jaspers und Sartre breiten tatsächlich
den Mythos des Nichts auf das ganze Leben aus. Für Heidegger und
Sartre ist das Leben selbst die „ Geworfenheit in das Nichts“ ; jedes ein­
zelne Moment des Lebens ist nichts anderes als die pseudo-dialektische
Wechselwirkung dieser Anfangs- und Endperspektive.
Der Existentialismus verkündet also konsequenterweise, daß man über
den Menschen nichts wissen kann. Er bestreitet nicht die Wissenschaft
im allgemeinen. In bezug auf den praktischen, technischen Nutzen der
wissenschaftlichen Erkenntnis erhebt der Existentialismus keine zwei­
felnden Fragen. Er verwahrt sich nur dagegen, daß es eine Wissenschaft
gäbe, die den Anspruch erheben dürfte, über das einzig wesentliche Pro­
blem, das wirkliche Verhältnis des einzelnen Menschen zum Leben —oder
in der Sprache des Existentialismus ausgedrückt : zum eigenen Leben —
etwas Wesentliches aussagen zu können. Die Überlegenheit über die alte
Philosophie, die der Existentialismus beansprucht, besteht gerade darin,
daß er auf den Anspruch, etwas über dieses Verhältnis erfahren zu kön­
nen, entschieden verzichtet hat. „Die Existenzphilosophie“, sagt Jaspers,
„würde sogleich verloren sein, wenn sie wieder zu wissen glaubt, was der
Mensch ist.“ Dieses radikale, auf prinzipieller Grundlage ruhende Nicht­
wissen betonen auch Heidegger und Sartre. Und dieser radikale Nihilis­
mus, dieser konsequente Verzicht auf die Erkennbarkeit des Wesentlich-
Der Mythos des Nichts 47

sten ist - dies klingt nur auf der Oberfläche als Paradoxie —einer
der Hauptgründe für die intensive Wirkung des Existentialismus.
Menschen, die keine Lebensperspektive vor sich sehen, werden die Lehre,
daß es überhaupt keine Lebensperspektive gibt, daß die Perspektive des
Lebens prinzipiell (also nicht nur für sie) unerkennbar ist, als Trost be­
grüßen.
Hier mündet der Existentialismus in den modernen Irrationalismus, in
die allgemeine geistige Strömung, die die Herrschaft der Vernunft stürzen
will. Die phänomenologische und ontologische Methode steht scheinbar im
schroffen Gegensatz zu den gemeingültigen irrationellen Strömungen ; wol­
len doch die ersteren streng wissenschaftlich sein, und Husserl ist Anhän­
ger der fanatischsten Logizisten (Bolzano und Brentano). Aber selbst eine
nur oberflächliche Untersuchung der Methode deckt sofort ihre nahe Ver­
bindung mit den Meistern des Irrationalismus, mit Dilthey und Bergson,
auf. Als der Husserl-Schüler Heidegger die Bestrebungen Kierkegaards
erneuerte und gleichzeitig an Dilthey anknüpfte, wurde diese Verbin­
dung nur noch enger.
Dieser Zusammenhang ist mehr als eine bloße methodologische Be­
gegnung. Je bewußter die Phänomenologie zur Methode des Existentialis­
mus wird, um so mehr wird die grundlegende Irrationalität des einzelnen
Menschen und mit ihm des ganzen Seins zum zentralen Gegenstand, und
um so tiefer wird ihre Parallelität zu den übrigen Strömungen der Zeit,
deren gemeinsames Ziel der Sturz der Vernunft ist. Das Sein ist ohne
Sinn, ohne Ursache, ohne Notwendigkeit; der Definition nach ist das
Sein „das ursprünglich Zufällige“, schreibt Sartre.
Bis jetzt haben wir ständig vom Nichts gesprochen und kaum vom
Sein, von der Existenz selbst, und auch da nur von ihrer Unerkennbar­
keit —wo bleibt nun die Existenz im Existentialismus? Auch hier ist die
Antwort in der Richtung der Verneinung zu suchen. Existenz ist das,
was dem Menschen fehlt. „Das menschliche Wesen“ , sagt Heidegger, „er­
kennt sich nur aus seiner Existenz, aus der Möglichkeit, ob er das wird,
was er ist, oder nicht.“ Hier taucht wieder, wie wir sehen, die schon be­
kannte Frage von dem Wesenlos- oder Wesentlich werden des Menschen
auf. Wir haben gesehen, daß diese Fragestellung in den führenden Ten­
denzen der modernen Philosophie einen antigesellschaftlichen, sich von
der Gesellschaftlichkeit ab wendenden Charakter hat. Auch in dieser
Frage krönt Heidegger die Entwicklung. Er unterwirft, auf der Grundlage
seiner bekannten Methode, das Alltagsleben des Menschen einer phäno­
menologischen Analyse. Das Leben des Menschen ist ein Mitsein und
gleichzeitig ein In-der-Welt-Sein. Dieses Sein hat ebenfalls seine eigen­
tümliche zentrale fetischisierte, mythyfizierte Gestalt : „das Man“. Dieser
48 Der Existentialismus

Ausdruck ist in keine andere Sprache übersetzbar. Wer die deutsche


Sprache kennt, weiß, daß die subjektlose Behauptung mit dem Wörtchen
„man“ ausgedrückt werden kann, z. B. es wird gesagt = man sagt usw.
Heidegger mythisiert nun dieses Wörtchen zu einem ontologischen Sein,
um in ihm all das philosophisch zu verkörpern, was seiner Meinung nach
die Funktion der Gesellschaft, des gesellschaftlichen Zusammenlebens
ist: den Menschen von sich selbst abzuwenden, ihn unwesentlich zu
machen, ihn von seiner eigenen Existenz zu entfernen. Die Erscheinungs­
form, „das Man“ in dem alltäglichen Leben, ist das Gerede, die Neugier,
die Zweideutigkeit, das Verfallen. Wer in der Richtung seiner eigenen
Existenz zu leben wünscht, der muß - nach Heidegger - den Kurs auf
den Tod, auf den eigenen Tod nehmen, der muß so leben, daß sein Tod
ihn nicht als eine von außen einbrechende brutale Tatsache treffe, son­
dern als der eigene Tod zu ihm komme. Die wirkliche Existenz kann bei
Heidegger nur in diesem eigenen Tod ihre Krönung finden. Hier wird die
vollkommene Willkür, der hinter einer Scheinobjektivität verborgene
grenzenlose Subjektivismus der Fundamental-Ontologie von neuem klar
vor uns hingestellt. Heideggers Denkweise als Bekenntnis eines Bürgers
der zwanziger Jahre ist nicht uninteressant. „Sein und Zeit“ ist eine zu­
mindest ebenso interessante Lektüre wie der Roman „ Voyage au bout de
la nuit“ von Céline. Aber Heideggers Buch ist zugleich, wie auch das von
Céline, nur ein Zeitdokument über die Art des Denkens und Fühlens einer
Klasse und nicht eine „ontologische“ Aufdeckung irgendeiner objekti­
ven Wahrheit. Nur weil dieses Buch der Gefühlswelt der heutigen Intelli­
genz so angemessen ist, wird die Willkür der ableitenden Scheinargumen­
tation nicht entlarvt. Die Sinnlosigkeit des Lebens, das evidente Erlebnis
der Gegenüberstellung des abstrakten Todes mit dem sinnlosen Leben ist
für viele Menschen von heute ein - man könnte sagen - implizites Axiom
ihrer Lebensauffassung. Aber es genügt, einen Blick auf die Denkweise
alter, noch nicht zerrütteter ZeitenI
zu werfen, um zu sehen : dieses Ver-
halten zum Tod ist nicht der ontologische Charakter „des Seins“, son­
dern nur ein Zeitphänomen. (Spinoza konnte noch sagen: „Der freie
Mensch denkt an alles andere eher als an den Tod; seine Weisheit ist
nicht der Tod, sondern sein Grübeln über das Leben.“)
Jaspers und Sartre'sind in dieser Frage weniger radikal als Heidegger;
freilich ohne daß dies an der Zeit- und Klassenbedingtheit ihres Denkens et­
was ändern würde. Sartre verwirft direkt die Konzeption des eigenen Todes
als Kategorie des Existentialismus. Und Jaspers, bei dem das Phantom des
„das Man“ formell nicht in einer derart radikal mythifizierten Form
erscheint, sondern nur als die Gesamtheit der über dem Leben herrschen­
den namenlosen Mächte (also dem Wesen nach ebenfalls als das sich in
Die Freiheit in einer ietischisierten Welt und der Fetisch der Freiheit 49

Fetischen objektivierende gesellschaftliche Leben), begnügt sich damit,


den wesentlich gewordenen, in der Richtung der eigenen Existenz leben­
den Menschen streng auf die Wege des bloßen Privatlebens zu verweisen.
„Aus der politischen oder gesellschaftlichen Tätigkeit kann nie etwas
Gutes, etwas Wesenhaftes entstammen", entwickelte Jaspers zuletzt in
Genf. „Die Rettung der Menschheit ist nur möglich, wenn jeder sich aus­
schließlich mit seiner eigenen Existenz leidenschaftlich beschäftigt und
sich höchstens zu einzelnen gleichgerichteten Menschen existentiell ver­
hält."
Das Kreißen der philosophischen Berge gebar hier auch nur graues
Philistertum.
Em st Bloch, der bekannte deutsche antifaschistische Schriftsteller,
stellte zur Heideggerschen Theorie des Todes, aus der die Jaspersche
Privatmoral durch den einfachen Prozeß der Verwässerung hervorgeht,
folgendes fest: „Der ewige Tod als Ende macht die jeweilige gesellschaft­
liche Lage des Menschen so gleichgültig, daß sie auch kapitalistisch blei­
ben mag. Die Bejahung des Todes als des absoluten Schicksals, als des
einzigen Wohin ist für die heutige Gegenrevolution dasselbe, was für die
alte der Trost des Jenseits war." (Blochs Buch ist 1935 erschienen.) Diese
treffenden Bemerkungen beleuchten auch die Tatsache, weshalb die
Popularität des Existentialismus nicht nur bei Snobs, sondern auch bei
Schriftstellern der Reaktion wächst.

3
DIE FREIHEIT IN EINER FETISCHISIERTEN WELT
UND DER FETISCH DER FREIHEIT

Je construis Vuniversel en me choisissant.


Sartre: mL 'Existentialisme est un Huma-
nismei>

Der Existentialismus ist nicht allein die Philosophie des Todes, sondern
zugleich auch die der,abstrakten Freiheit. Dies ist einer der wichtigsten
Gründe für die Popularität vor allem des Sartreschen Existentialismus,
und hier ist - obwohl dies im ersten Moment paradox klingt - die reaktio­
näre Seite der heutigen Wirkung des Existentialismus verborgen. Hei­
degger sah, wie wir wissen, nur in dem auf den Tod gerichteten Leben einen
Weg zum Wesentlichwerden, zur Verwirklichung der Existenz. Sartre zer­
stört in spitzfindigen Erörterungen die angeblich überzeugende Kraft der
Heideggerschen Theorien. In diesem Gegensatz zwischen Sartre und Hei­
degger kommt nicht nur das verschiedene Verhalten der französischen und
50 Der Existentialismus

deutschen Intelligenz zu den wichtigsten Fragen des Lebens zum Ausdruck,


sondern auch die Veränderung der Zeiten. Heideggers grundlegendes Buch
ist 1927 erschienen, am Vorabend der neuen Weltkrise, in der gedrückten,
schwülen Atmosphäre vor dem faschistischen Gewitter. Die von Bloch
charakterisierte Wirkung war die allgemeine Stimmung der damaligen In­
telligenz. Wann das Sartre-Buch geschrieben wurde, wissen wir nicht ; es ist
darin das Jahr 1943 angegeben, d. h. ein Zeitpunkt, wo die Perspektiven der
Befreiung vom Faschismus bereits sichtbar wurden, wo also - gerade unter
der Wirkung der langen Herrschaft des Faschismus - die Sehnsucht nach
der Freiheit das grundlegende Erlebnis der Intelligenz ganz Europas war,
in erster Linie in jenen Ländern, deren Völker in demokratischen Tradi­
tionen aufgewachsen waren. Und zwar war das Erlebnis - dies ist besonders
für die westlichen Länder gültig-: die Freiheit im allgemeinen, abstrakt,
ohne jedwede Analyse, ohne Differenzierung; kurz gesagt, die Freiheit als
Mythos, der gerade in seiner konturlosen Beschaffenheit alle unter seiner
Fahne vereinigen konnte, die Feinde des Faschismus waren, die - gleich­
gültig von welcher Perspektive aus - den Faschismus haßten; gleich­
gültig woher sie kamen, und wohin sie zu gehen gedachten. Für diese
Menschen war nur eines wichtig: dem Faschismus ein Nein zuzurufen!
Je inhaltsloser dieses Nein war, um so besser drückte es dieses Lebensgefühl
aus. Das abstrakte Nein und sein gedankliches Pendant, die abstrakte
Freiheit, waren für viele Menschen der genaue Ausdruck für den „Mythos“
des Widerstandes. Wie wir sehen werden, ist der Sartresche Freiheits­
begriff so abstrakt wie nur irgend möglich. Dies macht es verständlich,
warum die Zeitstimmung den Existentialismus auf ihren Schild erhob,
und weshalb sie in ihm die adäquate Philosophie einer Zeitströmung
erblickt.
Doch jetzt ist der Faschismus zusammengebrochen, der Aufbau und
die Festigung der Demokratie des freien Lebens beschäftigen die öffent­
liche Meinung jedes Landes als zentrale Frage. Jede ernste Debatte - von
der Politik bis zur Weltanschauung - dreht sich darum: wie soll die
Demokratie, die Freiheit beschaffen sein, die die Menschheit auf den
Ruinen der faschistischen Weltzerstörung aufbaut, deren innerster In­
halt - zumindest in der Sehnsucht des werktätigen Volkes - darin be­
steht, für immer sowohl die faschistische Barbarei als auch die Wieder­
holung eines Weltkrieges unmöglich zu machen?
Der Existentialismus behielt seine Popularität auch unter den ver­
änderten Umständen, ja der Schein spricht dafür, als begäbe er sich erst
jetzt - freilich in der Sartreschen und nicht in der Heideggerschen Fas­
sung - auf den Weg der wirklichen Welteroberung. Hierbei spielt wieder
der Umstand eine entscheidende Rolle, daß der Existentialismus in seiner
Die Freiheit in einer fetischisierten Welt und der Fetisch der Freiheit 51

Philosophie dem Freiheitsbegriff eine Zentralstellung einräumt. Aber die


Freiheit ist heute kein bloßer Mythos mehr; die Freiheitsbestrebungen
haben sich konkretisiert, konkretisieren sich von Tag zu Tag mehr und
mehr, die heftigsten Kämpfe um die Auslegung der Freiheit, der Demo­
kratie haben die Anhänger der verschiedenen Interpretationen in ein­
ander gegenüberstehende Lager gerissen. Wie konnte es geschehen, daß
unter solchen Umständen der Existentialismus mit seinem starr abstrak­
ten Freiheitsbegriff zu einer Weltströmung wurde? Oder genauer gesagt:
auf wen und wie wirkt der Existentialismus als Philosophie der Freiheit
überzeugend? Um auf diese zentrale Frage antworten zu können, ist es
unumgänglich notwendig, sich mit dem Sartreschen Freiheitsbegriff
näher bekannt zu machen.
Nach Sartre ist die Freiheit eine Grundtatsache der menschlichen Exi­
stenz. „Wir sind“ , sagt Sartre, „Freiheit, die wählt, aber wir können
nicht wählen, frei zu sein. Wir sind dazu verurteilt, frei zu sein.“ - „Wir
sind in die Freiheit geworfen“ (hier wendet Sartre den von Heidegger in
bezug auf die Existenz gebildeten Ausdruck der „Geworfenheit“ auf den
Begriff der Freiheit an). Die Freiheit, könnte man mit einem etwas para­
doxen Ausdruck sagen, ist das Fatum der menschlichen Existenz.
Diese Fatalität der Freiheit begleitet bei Sartre das ganze Leben. Der
Mensch kann der freien Wahl nicht entgehen; nach Sartre ist in jedem
gegebenen Fall das Nicht-Wählen auch eine Wahl, die Enthaltung von
der Tat auch eine freie Tat. Sartre unterstreicht überall diese seiner Mei­
nung nach grundlegende Rolle der Freiheit, angefangen bei den primitiv­
sten Tatsachen des Alltagslebens bis zu den letzten Fragen der Meta­
physik. Wenn ich an einem gemeinsamen Ausflug teilnehme, ermüde,
mich der Rucksack drückt usw., so stehe ich vor der Tatsache der freien
Wahl, wo ich entscheiden muß, ob ich mit meinen Kameraden weiter­
gehen will, oder ob ich meine Last abwerfe und mich an den Rand des
Weges setze. Und von diesem Problem aus geht der Weg aufwärts bis zu
den letzten, abstraktesten Problemen der menschlichen Existenz; in
jenen Plänen, in denen der Mensch seinen freien Entschluß, seine freie
Wahl konkretisiert, „entwirft“ (projet, projeter ist einer der wichtigsten
Begriffe der Sartreschen Freiheitstheorie), liegt der Inhalt des letzten
Ideals, des letzten „Planes“ : Gott. Mit den Worten Sartres ausgedrückt:
„Der grundlegende Flan der menschlichen Wirklichkeit wird dadurch am
besten beleuchtet, daß der Mensch jenes Wesen ist, dessen Plan es ist,
Gott zu werden ... Menschsein bedeutet so viel, wie bestrebt sein, Gott
zu werden.“ Und der philosophische Inhalt dieses Gottideals: das Er­
reichen jener Stufe der Existenz, welche die alte Philosophie mit der
Kategorie der causa sui (Grund seiner selbst) bezeichnete, die vollkom-
52 Der Existentialismus

men souveräne, aus dem innersten Wesen sprießende Selbstbestimmung


der Existenz.
Wir sehen : Sartres Freiheitsbegriff ist außerordentlich umfassend und
erstreckt sich auf alles. Aber gerade von hier kommt sein philosophisch
verwischter, unbestimmter Charakter als gedankliche Gefahr für die ge­
naue Bestimmung des Freiheitsbegriffes. Sartre steigert diese Gefahr
noch dadurch, daß er prinzipiell jedes objektive, jedes formale und sach-
liehe Kriterium für die Bestimmung der Freiheit verwirft. Die Wahl, das
Wesen der Freiheit, besteht für ihn darin, daß der Mensch sich selbst - als
noch nicht existierend, prinzipiell nicht erkennbar —wählt ; hierin liegt
die ständige Gefahr, daß wir etwas anderes werden können, als wir sind.
Und hier gibt es weder einen moralischen Inhalt noch eine moralische
Form, die als Magnetnadel, als Richtschnur dienen könnte. Die Feigheit
z. B. stammt geradeso aus der freien Wahl wie der Mut. „Meine Furcht
ist frei und bezeugt meine Freiheit, ich habe meine ganze Freiheit in die
Furcht geworfen und habe mich unter solchen und solchen Umständen
als feig gewählt. Unter anderen Umständen würde ich als mutig existieren
und würde meine Freiheit in den Mut verlegen. Im Vergleich zur Freiheit
besitzt keine seelische Erscheinung ein Vorrecht/' (Nebenbei, hier hat
auch Sartre höchst willkürlich „eine Klammer geöffnet". Denn der Mut
und die Feigheit sind nicht nur seelische Erscheinungen, sondern auch
wichtige moralische Kategorien. Denken wir an unsere früheren Aus­
führungen zurück : der Sadismus und der Masochismus sind nach Sartre
ontologische Tatsachen, der Mut und die Feigheit hingegen nur subjek­
tive seelische Erscheinungen. Oder aber gilt für die Frage, ob etwas sub­
jektiv oder aber objektiv ist, am Ende das, was man ungarisch so aus­
zudrücken pflegt: Das Pferd ist „trächtig, wenn ich will, und nicht
trächtig, wenn ich nicht will"?)
Damit wird die Sartresche Freiheit vollkommen irrationell und un­
kontrollierbar, willkürlich. Sartre selbst ist bestrebt, alle formalen und
inhaltlichen Schranken niederzureißen. Bei Heidegger machte das Zum-
Tode-hin-Leben irgendeine Klassifizierung möglich : den Unterschied des
authentischen und nichtauthentischen Verhaltens, aus dem ersichtlich
wurde, freilich nur durch das Problem des eigenen Todes, wer die wesen­
beraubende Sphäre des „Man" verläßt, sich der eigenen Existenz, dem
Wesentlichwerden nähert. Dieses Kriterium verwirft Satre, wie wir ge­
sehen haben. Er verwirft, wie wir ebenfalls sahen, auch die inhaltliche
Bestimmung, die Hierarchie der moralischen Werte, die Scheler seiner­
zeit, mit phänomenologischen Mitteln, also ebenfalls willkürlich, zu be­
stimmen versuchte. Er verwirft den Zusammenhang der freien Wahl mit
der Vergangenheit des Menschen, also das Prinzip der Kontinuität, der
Die Freiheit in einer fetischisierten Welt und der Fetisch der Freiheit 53

Konsequenz der Persönlichkeit. Aber er verwirft auch das Kant sehe for­
male Kriterium, die aus dem kategorischen Imperativ resultierende
Allgemeinheit des freien Entschlusses und der freien Handlung.
Es scheint freilich, als wäre er vor den Konsequenzen dieses letzten
Ergebnisses etwas zurückgeschreckt. In seiner populären Flugschrift sagt
er: „Nichts kann für uns gut sein, was nicht für alle gut ist“ , und an
anderer Stelle: „Zur selben Zeit, wo ich meine eigene Freiheit will, ist es
meine Pflicht, auch die anderer zu wollen; ich kann nicht meine eigene
Freiheit als Ziel setzen, wenn ich nicht auch die der anderen als Ziel
setze.“ Das klingt sehr schön. Aber dies ist bei Sartre nur eine eklektische,
/

irreführende, demagogische Konzession an die moralischen Prinzipien


der Aufklärung und der Kantschen Philosophie. Es kann nicht unsere
Aufgabe sein, hier darzulegen, weshalb es Kant nicht gelingen konnte,
die formale Verallgemeinerung der Moral des subjektiven Idealismus auf­
zuzeigen ; darauf haben bereits seine Zeitgenossen, in erster Linie der junge
Hegel, in scharfer Kritik hingewiesen. Wenn aber die inhaltliche Ver­
allgemeinerung des kategorischen Imperativs bei Kant auch logisch un­
haltbar ist, so steht sie doch im engsten Zusammenhang mit den letzten
Grundlagen seiner Philosophie und besonders seiner Gesellschafts- und
Geschichtsphilosophie. Bei Sartre hingegen ist diese Verallgemeinerung
bestenfalls ein eklektischer Kompromiß mit der am Alten hängenden
philosophischen allgemeinen Meinung, weil eine derartige Objektivierung
des Freiheitsbegriffes in völligem Gegensatz zu all seinen ontologischen
Feststellungen steht.
In seinen1! Hauptwerk macht er diese Konzessionen noch nicht. Treu
seinem Grundgedanken, dem ontologischen Solipsismus, ist für ihn der
Inhalt und das Ziel der freien Tat nur vom Gesichtspunkt des Subjekts
sinnvoll und interpretierbar. Sartre vertritt hier, im Gegensatz zu seiner
populären Broschüre, noch sehr entschieden den entgegengesetzten Stand­
punkt : „Die Achtung vor der Freiheit des Mitmenschen ist ein leeres Ge­
rede ; wenn wir sogar auch so planen könnten, daß wir diese Freiheit in
Ehren halten, so wäre jedes Verhalten ihr gegenüber eine Vergewaltigung
jener Freiheit, die wir zu achten beflissen waren.“ Und zugleich erhellt
er mit einem überaus konkreten Beispiel diese Konzeption: „Wenn ich
unter meinen Mitmenschen die Toleranz verwirkliche, dann habe ich sie
mit Gewalt in eine tolerante Welt geworfen. Damit habe ich ihnen prin­
zipiell ihre freie Möglichkeit zum mutigen Widerstand, zur Ausdauer, zur
eigenen Erprobung genommen, die sie in irgendeiner Welt der Intoleranz
Gelegenheit gehabt hätten zu entfalten.“
Der Widerspruch ist offensichtlich. Würde dies nur so viel bedeuten,
daß Sartre der Popularität, der Verbreitung der Lehre zu Liebe etwas
54 Der Existentialismus

Wasser, vielleicht viel Wasser, in den Wein des Existentialismus gießt,


dann lohnte es sich nicht, über dieses Faktum viele Worte zu verlieren;
es ist nicht unsere Aufgabe, über die Orthodoxie des Existentialismus zu
wachen. Doch hier kommt ein Widerspruch ans Tageslicht, der im eng­
sten Zusammenhang mit dem innersten Wesen der Existentialismus-
Konzeption steht. Ich denke an den ontologischen Solipsismus und den
Irrationalismus. Wenn wir den ersteren konsequent durchführen, kom­
men wir dahin, daß nur das individuelle Bewußtsein, die in der indivi­
duellen Wahl sich offenbarende individuelle Freiheit wirklich existiert,
alles übrige ist nur der tote Gegenstand dieses allein realen Aktes. Wenn
ich das andere Prinzip geradeso konsequent zu Ende denke, dann kann
ich über diese allein wirkliche Realität nichts aussagen, sie hat keine Ver­
gangenheit (die zählt nicht), keine Zukunft (die existiert noch nicht), und
wenn sie sich verwirklicht, degradiert sie sich sofort zur nicht zählenden
Vergangenheit, im Vergleich zu der wieder eine radikal neue Situation,
eine neue Entscheidung, ein neuer Freiheitsakt notwendig ist.
Will Sartre nicht zu einem derartigen, die Grenzen des Wahnsinns
streifenden Nihilismus gelangen, muß er einen Salto mortale machen, um
mit seiner Hilfe bei etwas Allgemeinerem, bei irgendeiner „Welt“, rich­
tiger gesagt, bei der tatsächlich existierenden Welt, die er philosophisch
erklären wollte, anlegen zu können. Es ist kein Zufall, sondern ein gemein­
samer Zug, daß das Sprungbrett, von dem der Salto mortale gemacht
wird, die formale Logik ist, die starrste Verallgemeinerung eines belie­
bigen Gedankens. Mit ihrer Hilfe gelangte Sartre zu der fatalistischen
Konzeption der Freiheit.
Nehmen wir jedoch dies, wenn auch nur für einen Augenblick und auch
nur experimentell, an, so kommen wir zu einem neuen Widerspruch:
wenn alles der Akt der Freiheit ist (z. B. ob ich auf die Elektrische steige,
ob ich mir, auf sie wartend, eine Zigarette anzünde usw.), dann hat das so
erhaltene Weltbild eine fatale Ähnlichkeit mit dem extremsten Determi­
nismus. Selbst Heidegger wußte noch, daß wir nur dann von einem freien
Akt sprechen können, wenn der Mensch auch nicht freier Akte fähig ist.
Eine vollkommene Gleichrangigkeit aller menschlichen Äußerungen ist
das Weltbild des Determinismus, nur daß bei ihm die einzelnen Äuße­
rungen in einen sinnvollen Zusammenhang eingebettet sind, während sie
bei Sartre - prinzipiell —sinnlos sind. Die Sartresche formallogische Über­
spannung des Freiheitsbegriffes führt zu seiner Vernichtung.
Hier handelt es sich ebenfalls nicht um einen zufälligen Fehler oder
um einen nur individuellen Schnitzer Sartres. Hier taucht eine entschei­
dende methodologische Frage der modernen Philosophie auf : die heutigen
Irrationalisten sind im Leben auf Tatsachen dialektischen Charakters ge-
Die Freiheit in einer fetischisierten Welt und der Fetisch der Freiheit 55

stoßen. Da sie aber nicht dialektisch an sie herangehen, sondern auf der
Grundlage eines in den Schnürleib der Formallogik gepreßten, in sich
selbst zerfallenden Irrationalismus, wird all das zum Unsinn, was als
Moment der dialektischen Zusammenhänge sinnvoll und berechtigt wäre.
Die Meister der Dialektik haben uns häufig gemahnt, nicht zu vergessen,
daß jede Wahrheit, sobald sie überspannt wird, zur Absurdität führt.
Wo ist nun bei Sartre dieses relativ berechtigte Moment? Unzweifelhaft
in der Betonung der Entscheidung des Individuums, des individuellen Ent­
schlusses, dessen Wichtigkeit der bürgerliche Determinismus und der
vulgäre Marxismus gleichermaßen zu unterschätzen pflegten. Jede gesell­
schaftliche Tätigkeit setzt sich aus Handlungen von Individuen zusam­
men, und so entscheidend in diesen ihren Entschlüssen auch die wirt­
schaftliche Grundlage sein mag, so kommt dies, wie Engels oft hervor­
hebt, nur „letzten Endes“ zur Geltung. Das bedeutet, daß für die Ent­
schließungsmöglichkeit der einzelnen Menschen immer ein gewisser kon­
kreter Spielraum existiert, in dem dann die Notwendigkeit der Entwick­
lung in der Mehrzahl der individuellen Entschließungen früher oder später
auch zur Geltung kommen wird. Die bloße Existenz der politischen Par­
teien beweist die Realität dieses Spielraums. Die Hauptrichtungen der
Entwicklung sind auch hier vorauszusehen, aber es wäre Pedanterie —wie
dies ebenfalls Engels gelegentlich viel höherer geschichtlicher Zusammen­
hänge betonte —, wenn wir wissenschaftlich festsetzen oder aus den E nt­
wicklungsgesetzen ableiten wollten, ob in einem gegebenen Fall Peter
oder Paul individuell genau so oder so entscheiden, für diese oder
jene Partei stimmen wird usw. Die Notwendigkeit der Entwicklung setzt
sich immer über innere und äußere Zufälligkeiten durch. Ihre Bedeutung
hervorzuheben, ihren Platz und ihre Rolle zu untersuchen, wäre ein
wissenschaftlichesVerdienst, freilich nur, wenn damit ihre methodologische
Bedeutung im gesamtdialektischen Prozeß genauer bestimmt werden
würde als bisher. In diesem Sinne kommt den moralischen Problemen,
den Fragen der Freiheit, des individuellen Entschlusses in der dialekti­
schen Gesamtkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklung eine nicht zu
unterschätzende Rolle zu.
Sartre macht freilich gerade das Entgegengesetzte. Wir sahen, daß er,
wie es schon seit Jahrzehnten Mode ist, die Notwendigkeit der Entwick­
lung, ja die Entwicklung selbst leugnet. (Sogar bei den Individuen;
trennt er doch die Situation der Entscheidung von der Vergangenheit
ab!) Er leugnet den wahren Zusammenhang des Individuums mit der
Gesellschaft; er macht aus den den Menschen umgebenden dinglichen
Zusammenhängen eine „Welt“ für sich, deren Wechselwirkung mit dem
Individuum ganz anders geartet ist als bei seinen Mitmenschen. Die
56 Der Existentialismus

Wechselwirkung mit ihnen reduziert er auf das Verhältnis von Indivi­


duum zu Individuum usw. Der auf dieser Grundlage entstehende —fata­
listische, mechanisch überspannte - Freiheitsbegriff vernichtet sich selbst.
Betrachten wir ihn näher, so hat er kaum noch etwas mit dem wirklichen
moralischen Begriff der Freiheit zu tun ; er besagt nicht mehr, als was
Engels gelegentlich festgestellt hat : daß es keine menschliche Tätigkeit
gibt, in der dem individuellen Bewußtsein keine vermittelnde Rolle zu­
fiele.
Offenbar sieht Sartre selbst die Problematik seines Freiheitsbegriffs.
Aber er bleibt seiner Methode treu, er befleißigt sich, die eine überspannte
und in ihrer Überspannung sinnlos gewordene Konzeption mit einer an­
deren von ähnlicher Struktur im Gleichgewicht zu halten: die Freiheit
mit der Verantwortung. Die Verantwortung ist jedoch bei Sartre von
ebenso schrankenloser und unbedingter Gültigkeit wie der Freiheits­
begriff: ,,Wenn ich das Einrücken wähle statt den Tod oder die Ehrlosig­
keit, so ist das soviel wie die volle Verantwortung für diesen Krieg zu
tragen/'
Hier führt ebenfalls die formal-logische Überspannung einer relativen
Moment-Wahrheit zur theoretischen und praktischen Vernichtung des
behandelten Begriffs. Denn eine so starre Formulierung der Verantwor­
tung ist identisch mit der vollen Verantwortungslosigkeit. Um dies klar
zu sehen, müssen wir nicht Politiker oder Marxisten sein. Ein Meister der
„Tiefenpsychologie", Dostojewskij, sagte oft, daß die starre Überspan­
nung von moralischen Prinzipien, moralischen Entschlüssen überhaupt
keinen Einfluß auf die Taten der Menschen habe (und bei Sartre handelt
es sich gerade um diese) ; sie schweben über ihnen, und die Menschen, die
auf ihrer Grundlage handeln, haben eine schwächere moralische Rieht-
linie, einen schwankenderen moralischen Boden unter den Füßen, als sie
ohne diese überspannten Prinzipien hätten. Im Schatten des prinzipiell
beschlossenen, erbarmungslosen, bis zum Selbstmord gehenden Verant­
wortungsgefühls ist es am leichtesten, mit frivolem Zynismus die eine
Schandtat nach der anderen zu begehen.
Sartre sieht wohl hiervon etwas, freilich ohne auch nur irgendwelche
Konsequenzen daraus zu ziehen. Das ihm nebelhaft vorschwebende Pro­
blem fetischisiert und mythisiert er so zu der moralisch nichtssagenden
Phrase: „Wer in der Angst erkennt (Angst, angoisse, ist seit der Kierke­
gaard-Rezeption eine entscheidende Kategorie des Existentialismus),
sein Lebensumstand ist das Geworfensein in eine Verantwortung, die bis
zur vollen Einsamkeit führt, der weiß nichts mehr von Gewissensbissen,
von Reue, von Sich-Rechtfertigen." Wie das Erhabene nur einen Schritt
vom Lächerlichen entfernt ist, so ist es auch nur ein Schritt von einer
Die Freiheit in einer fetischisierten Welt und der Fetisch der Freiheit 57

solchen Art von moralischer Erhabenheit bis zur Frivolität, zum Zynis­
mus.
Den gedanklichen Bankrott des Sartreschen Freiheitsbegriffs mußten
wir deshalb so scharf herausarbeiten, weil gerade hier der Schlüssel zu
der stürmischen Wirkung dieser Lehre auf gewisse Kreise liegt.
Eine solche abstrakte und überspannte, vollkommen entleerte und
irrationell gewordene Konzeption der Freiheit und der Verantwortung,
die vornehme Verachtung der gesellschaftlichen Gesichtspunkte, des
öffentlichen Lebens bei der Verteidigung der ontologischen Integrität des
Individuums ergänzt in hinreichender Weise - besonders für die Bedürf­
nisse von Snobs —den Mythos des Nichts ; denn ihnen muß die Mischung
der grausam strengen Prinzipien mit zynischen Handlungsmöglichkeiten
und moralischem Nihilismus besonders Zusagen. Aber darüber hinaus
bietet diese Freiheits-Konzeption einem gewissen Teil der zum extremen
. Individualismus stets geneigten Intelligenz eine ideologische Stütze, eine
Selbstberuhigung dafür, die Entfaltung des Aufbaus der Demokratie ab­
lehnen zu können. Es haben sich auch Publizisten gefunden, die sich
Demokraten nennen und im Namen der individuellen Freiheit die Rechte
des schwarzen Marktes, der sabotierenden und schiebenden Kapitalisten
in Schutz nehmen, ja sogar dieses Prinzip so erweitern, daß auch die
Freiheit der Reaktion, des Faschismus, der Kriegstreiberei darin Platz
findet ; auch bisher war die Verantwortung jene Losung, in deren Namen
zuerst versucht wurde, die Intabulierung des Bodens der neuen Grund­
besitzer, die Reinigung des Staats- und Verwaltungsapparates zu ver­
hindern und später ihre Zurücknahme zu fordern. Diesen Bestrebungen
kam die abstrakte und überspannte Freiheits- und Verantwortungskon­
zeption Sartres großartig in den Wurf.
So macht sich nicht nur der Snobismus, sondern auch die Reaktion
daran, ihre Suppe auf dem Feuer des Existentialismus zu kochen. Und
die Gefahr einer Verwirrung und Irreführung bestimmter Schichten der
Intelligenz durch den Existentialismus wächst noch dadurch, daß Sartre,
wie wir gesehen haben, mit zwei Freiheitsbegriffen arbeitet. Der eine,
der grundlegende, der esoterische, zeigt jene Züge, die wir eben nach­
gewiesen haben. Der zweite, der exoterische, in populären Schriften ver­
kündete, gebärdet sich, als ob er auch die Probleme des gesellschaftlichen
Fortschritts, ja des revolutionären Verhaltens gedanklich erfassen würde.
Sachlich liegt hier ohne Frage ein eklektisches Nebeneinander unverein­
barer Anschauungen vor. Aber die Hartnäckigkeit, mit welcher Sartre
an dieser doppelten Buchführung festhält, zeigt klar die bedenkliche
Nähe seines Philosophierens zu einer irreführenden Demagogie, zu einer
mala fides.
D IE RO BIN SO N A D E D E R D EK A D EN Z

DIE HISTORISCHE SITUATION DES EXISTENTIALISM US

Es ist kein Zufall, daß sich im Existentialismus gewisse Symptome einer


Krise zeigen. Die Geschichte der Philosophie lehrt uns, daß jede Welt­
anschauung in ihrer Methodologie, ihrer Struktur, in den Voraussetzun­
gen ihrer Zeit tief verwurzelt ist. Darum können plötzliche Wendungen
der Geschichte philosophische Krisen hervorbringen. Auffassungen, die
oft lange Zeit hindurch ohne weiteres evident schienen, erweisen sich „auf
einmal·*als problematisch. Fieberhaft wird nun nach neuen Begründun­
gen, nach Weiterführung gesucht, ein Umbau angestrebt. Denn solange
andererseits nicht eine Gesellschaft mit wesentlich neuer ökonomischer
und sozialer Struktur entsteht, solange die alten Klassen und Schichten
noch ihre Wirksamkeit und ihren Einfluß bewahren, wenn auch ihre
Position in der Gesamtgesellschaft wankend geworden ist, so bleiben
doch bestimmte letzte Voraussetzungen, gewisse implizite Axiome der
Philosophie weiter in Geltung. Deshalb äußern sich philosophische Krisen
zumeist als Versuche, die alten Prinzipien mit den neuen Tatsachen und
Problemen des veränderten gesellschaftlichen Lebens, mit den neuen
Verhaltungsarten der Menschen in Einklang zu bringen. So erging es der
Hegelschen Philosophie nach der Julirevolution und dem Neukantianis­
mus und Positivismus nach dem ersten Weltkrieg.
Es wäre äußerst überraschend, wenn der Zusammenbruch des Faschis­
mus, der Kampf um die Demokratie, insbesondere um die Demokratie
neuen Typus keine krisenhafte Veränderung in jener bürgerlichen Philo­
sophie hervorgebracht hätte, die sich aus der Vorbereitungszeit des Fa­
schismus über Hitlerherrschaft, Weltkrieg und Weltbefreiung nicht nur
hinübergerettet hat, sondern sich auch anschickt, im Existentialismus
die herrschende Philosophie dieser unmittelbaren Nachkriegszeit zu wer­
den, genau so, wie es die Spenglersche Philosophie in der Zeit unmittel­
bar nach 1918 war.
Die sozialenTatsachen, die dieser Krise zugrundeliegen, die philosophisch
strukturellen Veränderungen, die sie her vorrufen, sind zugleich äußerst
einfach und außerordentlich kompliziert. Es ist von simpelster Evidenz,
daß die linke Intelligenz in der Zeit nach der Befreiung unmöglich
Die historische Situation des Existentialismus 59

mit der Todesstimmung von Heideggers „Sein und Zeit“, mit dem Auf­
ruf zur absoluten Passivität des alten Existentialismus, mit seinem ab­
strakt-privaten Freiheitsbegriff auskommen kann. Natürlich sind die
sozialen und historischen Bedingungen des Nachkriegs keineswegs ein­
heitlich. Der Faschismus ist geschlagen. Nicht nur militärisch und poli­
tisch, auch moralisch. Dies aber eher in objektiver Hinsicht als subjektiv.
Vor allem: die Faschisten sind geblieben. Und nicht ohne Unterstützung
seitens jener „demokratischen“ Strömungen, die in ihnen eine brauch­
bare Reserve gegen links erblicken. Dies bedeutet auch eine Abdämpfung
des ideologischen Kampfes gegen den Faschismus. Vor allem aber eine
volle Toleranz jenen Weltanschauungen gegenüber, die den Faschismus
geistig und moralisch vorbereitet haben (Nietzsche, Spengler, Ortega y
Gasset, Heidegger). Der Einfluß dieser Strömungen ist auch in der poli­
tisch linken Intelligenz beträchtlich. Die neue soziale und politische Lage
drückt sich also weltanschaulich sehr kompliziert und widerspruchsvoll
aus, ist aber weit entfernt von jener radikalen Abrechnung mit dem prä­
faschistischen und faschistischen Erbe, die Optimisten von der Nieder­
lage Hitlers erwarteten.
Diese Tendenzen werden von der politischen Lage in den meisten Län­
dern und durch bestimmte internationale Beziehungen verschärft. Das
labile Gleichgewicht dieser Jahre zwischen Verhinderungs- und Vorberei­
tungsversuchen eines neuen Weltkrieges, zwischen dem Vormarsch zu
einer neuen Demokratie und der Restauration eines Viertel- bis Drei­
viertel-Faschismus muß selbstredend auch weltanschauliche Folgen haben.
Vor allem in der völligen Ratlosigkeit des Humanismus alten Typs, der
sich vor der Aufrichtung einer zuendegeführten Demokratie mindestens
ebenso fürchtet wie vor der Restauration des Faschismus, der sich darum
immer stärker in die Welt der abstrakten Postulate, in einen „erhabenen“
Pessimismus zurückzieht. Das hat aber zur Folge, daß die präfaschisti­
schen Weltanschauungen - freilich nicht ohne innere Umgruppierung -
weiterwirken und versuchen, ihre Anpassung an die neue Wirklichkeit
ohne Veränderung der Grundlagen zu vollziehen. Einiges spricht zum
Beispiel dafür, daß gerade der Heideggerschen Philosophie eine verstärkte
Wirkung jenseits des Ozeans bevorsteht, und zwar ebenso als Philoso­
phie von dezidiert reaktionärer Richtung wie seinerzeit in Deutschland, so
daß es dort Phänomenologen gibt, die diese Überhandnahme der Reaktion
seitens Heidegger und Scheler im Namen einer Husserlschen Orthodoxie
bekämpfen möchten. Auch die Intelligenz der Alten Welt ist keines­
wegs weltanschaulich einheitlich. Jaspers, der von Anfang an den Exi­
stentialismus sehr gewandt an eine gemäßigt bürgerliche Mentalität an­
paßte, wird in weiten Kreisen der Intelligenz - besonders in jenen, die der
6o Die Robinsonade der Dekadenz

Nachkriegsumwandlung mißtrauisch gegenüberstehen und für den Atten-


tionalismus eine philosophisch und moralisch erhaben aussehende Ideo­
logie suchen - unverändert als führender Denker betrachtet.
Die spezifisch französische Nuance des Existentialismus, d. h. der von
Sartre und seiner Schule, befindet sich in einer besonderen Lage. Er hat
sich in den Zeiten des Widerstandes seine Anhängerschaft erworben. Dies
war noch mit relativ geringfügigen —die Grundstruktur der Fundamental-
Ontologie Heideggers nicht wesentlich antastenden - Änderungen mög­
lich. Für viele Teilnehmer des Widerstandes war sowohl ihre Bewegung
selbst und ihr Ziel, die Befreiung, als auch ihr Gegner, das soziale und
moralische Nihil des Hitlerismus - ein Mythos. Die Geworfenheit ins
Nichts, die Abstraktheit des Mit-Seins, die abstrakt individuelle Freiheit
und Verantwortung konnten ohne weiteres Bestandteile dieses Mythos
werden. Als jedoch aus dem Widerstand die Befreiung wurde, als der Exi­
stentialismus infolge der Rolle, die er in ihr gespielt, mit dem Anspruch
auftrat, gerade die linke Intelligenz und besonders ihre jüngere Generation
zu erobern, mußten zwangsläufig die Probleme des Inhalts der Freiheit,
die Richtung der Befreiung, also die Probleme der Ethik und der Ge­
schieht sphilosophie in den Vordergrund treten: der Existentialismus
mußte weltanschaulich den Kampf mit dem Marxismus um die Seele der
erworbenen und der zu erwerbenden Anhängerschaft aufnehmen.
Wir haben bereits auf einige historische Analogien hingewiesen. Frei­
lich wissen wir, daß Analogien dieser Art, da sie abstrakte strukturelle
Ähnlichkeiten bei viel gewichtigeren und konkreteren historisch-sozialen
Unterschieden aufweisen, nur mit größter Vorsicht gebraucht werden
dürfen. Sie können nur die allgemeine philosophische Lage beleuchten,
nicht jedoch ihre konkrete Problematik. Mit allen diesen Vorbehalten
müssen wir aber doch auf eine, der gegenwärtigen Lage des Existentialis­
mus näher liegende Analogie hinweisen: auf die Philosophie Nietzsches
als Krisenprodukt der Philosophie Schopenhauers am Vorabend der im­
perialistischen Periode. Worin besteht die Analogie? Und warum darf
man sie überhaupt heranziehen? Weil Nietzsche - unter wesentlich ver­
änderten Umständen und darum in philosophisch völlig anderer Weise -
ebenso wie jetzt Sartre bestrebt war, aus einer Philosophie der in sich
zurückgezogenen Passivität, des objektiven Ahistorismus oder Antihisto­
rismus, des sozialen Akosmismus, ohne ihre erkenntnistheoretische Grund­
lage zu verändern, eine Philosophie des Aktivismus, eine Geschichts­
philosophie, eine Gesellschaftsphilosophie aufzubauen. So steht - wieder
mit allen Vorbehalten, die jeder Analogie gegenüber geboten sind - Sartre
zu Heidegger wie Nietzsche zu Schopenhauer. Nietzsche löste die Frage,
indem er den passiven, abstentionalistisch-reaktionären Nihilismus
Die historische Situation des Existentialismus 6ι

Schopenhauers in einen zynisch aktiven Nihilismus verwandelte und aus


dem Mythos der Ungeschichtlichkeit einen Mythos der barbarisierten
Geschichte machte, der bei ihm ebenso ein Produkt der souveränen Sub­
jektivität bleibt wie das Zerflattem des Historischen in Wesenlosigkeit
bei Schopenhauer. Diese gesellschaftlich-politische, weltanschaulich­
moralische Verwandlung unter Beibehaltung der erkenntnistheoretischen
Grundlagen vollzieht Nietzsche in der - subjektiv aufrichtig gemeinten -
Form einer Radikalisierung der Philosophie Schopenhauers, objektiv in
der sozialen Wirklichkeit, getragen von der ökonomischen Entwicklung,
die in die Richtung des Imperialismus, in die der Weltkriege und Revo­
lutionen drängte. Und die Philosophie Nietzsches erfüllte in dieser Periode
die ihr von der Reaktion gestellte Aufgabe : sie neutralisierte gerade in der
revoltierenden Intelligenz viele wirklich revolutionäre Bestrebungen, sie
war ein Gegengift gegen den Marxismus, sie bereitete in der unzufriede­
nen Intelligenz teils die Kapitulation vor den reaktionären Mächten, teils
die Wehrlosigkeit ihnen gegenüber wirksam vor.
Faßt man die Philosophie Nietzsches, ihren Zusammenhang mit Scho­
penhauer, ihren Überwindungsversuch von Pessimismus und Nihilismus,
die Verwandlung beider in jene Form des „heroischen Pessimismus", des
„heroischen Realismus", den der Faschismus später kanonisierte, als Ab­
wehrversuch gegen den Marxismus auf, so wird man unter den bürger­
lichen Historikern der Philosophie auf Widerstand stoßen. In diesen
Kreisen wird man darin sicher eine Überschätzung des Marxismus und
seines Einflusses sehen. Wenn man indessen nur die deutsche Geistes­
entwicklung in der Zeit des Vordringens von Nietzsche unbefangen be­
trachtet, so muß man sehen, wie diese Abwehr teils in Form des offenen
Kampfes, teils in der der Aneignung, Verdrehung und Vulgarisierung
(und dadurch der „Immunisierung") einzelner Bestandteile des Marxis­
mus das soziologische und das sozialphilosophische Denken von Tönnies
über Simmel, Sombart, Max Weber bis zu Mannheim, ja Carl Schmitt
und Freyer beherrscht. Und von diesem Hintergrund aus gesehen, mit
den durch diese Erkenntnisse geschärften Augen betrachtet, kann man
erst begreifen, daß die Moral, die Sozialphilosophie, die Geschichtsphilo­
sophie Nietzsches eine einzige große Polemik gegen die sozialistische
Weltanschauung ist. Freilich eine recht oberflächliche. Nietzsche glaubte
noch mit Argumentationen auf Treitschkes Niveau auskommen zu kön­
nen. Seine Nachfolger im Denken der imperialistischen Periode mußten
ihre Problemstellungen schon weitgehend sublimieren. Dies kann man
bei Simmel und Weber, bei Spengler und Scheler klar sehen ; und es wird
objektiv gewiß richtig sein - mag die subjektive, die philologische Seite
wie immer stehen - , daß „Sein und Zeit“ eine einzige große Polemik
62 Die Robinsonade der Dekadenz

gegen die Warenfetisch-Konzeption von Marx und gegen ihre philo­


sophisch-sozialen Konsequenzen ist. Die ungeheure Verschärfung der
Klassengegensätze in der Periode nach dem ersten imperialistischen Welt­
krieg bedeutet ein ununterbrochenes Vordrängen des marxistischen Ein­
flusses. Heute muß jede Weltanschauung, die auf allgemeine Geltung,
auf breite soziale Wirkung Anspruch erhebt und sich nicht damit be­
gnügt, nur Universitätsphilosophie zu sein, offen mit dem Marxismus die
Waffen kreuzen.
Das ist, um einen Lieblingsausdruck des Existentialismus zu gebrau­
chen, die heutige „Situation“ Sartres und seiner Schule. Und damit ge­
winnt die oben angeführte Entwicklungsanalogie Schopenhauer-Nietz­
sche und Heidegger-Sartre - bei allen Vorbehalten —eine gewisse kon­
krete Bedeutung. Die Analogie bezieht sich vorerst auf die vorläufig ab­
sichtlich sehr abstrakt genommene, gesellschaftliche Funktion der Philo­
sophie. Von diesem Standpunkt aus gesehen sind zweifellos die Philo­
sophien von Schopenhauer und Heidegger, trotz aller sonstigen wichtigen
Differenzen ihrer sozialen Genesis, trotz der mitunter völligen Gegensätz­
lichkeit ihrer philosophischen Methoden, Weltanschauungen der nihi­
listischen Passivität, der prinzipiellen Verurteilung der gesellschaftlichen
Aktivität der Menschen, der Verherrlichung des sich in. sich zurück­
ziehenden privaten solipsistischen Individuums. Die Analogie besteht
weiter darin, daß, wenn jene Erkenntnistheorie oder Ontologie - die bei
beiden konsequent mit dieser nihilistischen Passivität verbunden, auf sie
orientiert, ja auf sie fundiert war - zum Vehikel eines Aktivismus ge­
macht wird, zwangsläufig Diskrepanzen, Eklektizismen usw. entstehen
müssen. Das ist ohne Frage bei Nietzsche eingetreten. Die Morschheit der
Fundamentierung seiner Philosophie - selbst von seinen eigenen Voraus­
setzungen aus gesehen - hat seine Weltwirkung schon darum nicht stören
können, weil diese Morschheit die genaue gedankliche Widerspiegelung
der Morschheit und Widersprüchlichkeit jener gesellschaftlichen Ent­
wicklung war, von der seine Philosophie getragen und emporgetragen
wurde. Solche Widersprüche und ihre eklektische Versöhnung machten
unter diesen Umständen Nietzsches Philosophie nur noch interessanter.
Die Aktivierung des deutschen Existentialismus war ebenfalls kein
kompliziertes Problem unter der Hitlerherrschaft : Heidegger, der Rektor
der Freiburger Universität, führte die Studenten in Reih und Glied zur
Urne, um für den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund zu stim­
men. Die von Löwith aus einem früheren Stadium berichtete Studenten­
reaktion auf Heideggers Moral: „Ich bin entschlossen, ich weiß nur nicht
wozu“ , ist an sich schon eine hinreichende sozialpsychologische Erklä­
rung, besonders wenn sie durch die Maxime des faschistischen Nihilismus :
Die Antinomie von Gesinnungsethik und Folgeethik 63

„gefährlich leben* * ergänzt wird, worin die Heideggersche theoretische


Angst in praktische Aktivität übergeht. Der Aktivismus hatte bei Hei­
degger keinerlei philosophische Konsequenzen.
Ganz anders ist die Lage des französischen Existentialismus. Dieser
will die Philosophie der linken, progressiven, demokratischen und sozia­
listischen Intelligenz werden. Er kann also nicht - à la Nietzsche - mit
ein paar Invektiven den Sozialismus erledigen, er kann auch nicht - à la
Heidegger - unter dem Schutz der Konzentrationslager von ihm öffent­
lich überhaupt keine Kenntnis nehmen. Er muß sich mit ihm vielmehr
im offenen geistigen Kampf messen und dabei zeigen, daß er ihm auf dem
Gebiet der Geschichtsphilosophie und Moral überlegen ist, daß er auf alle
Fragen, die für das menschliche Verhalten aus der Geschichte entstehen,
von den existentialistischen Prinzipien aus bessere, klarere, sicherere und
konkreter wegweisende Antworten geben kann als der Marxismus.

DIE ANTINOMIE VON GESINNUNGSETHIK UND FOLGEETHIK

Es handelt sich um die Frage einer existentialistischen Moral unter den


konkreten Bedingungen der geschichtlich aufgefaßten Gegenwart. Gleich
bei dieser Problemstellung zeigt es sich, daß der Existentialismus - von
seinen eigenen philosophischen Voraussetzungen aus betrachtet - von
allem Anfang an in die Defensive gedrängt ist, daß die Existentialisten
gezwungen sind, den Kampf auf einem fremden Terrain aufzunehmen.
Darin drückt sich bereits das Vordringen des Marxismus aus. Vor eini­
gen Jahrzehnten konnte man einfach hochmütig erklären, der Marxismus
habe keine Ethik. Und im Sinne der damaligen Schulweisheit, die unter
Ethik nur zeitlos abstrakte formelle Postulate verstand, war dies auch
verständlich. Nur trifft dieser Vorwurf nicht nur Marx, sondern alle wirk­
lich großen konkreten Ethiker in der Geschichte der Philosophie, vor
allem Aristoteles und Hegel. Der originäre Existentialismus stellt sich
aber hier auf die Seite der Schulweisheit ; sein Ahnherr, Kierkegaard, hat
Hegel in derselben Richtung und mit derselben Verständnislosigkeit^ für
die eigentlichen moralischen Probleme angegriffen, wie die spätere Uni­
versitätsphilosophie Marx. Kierkegaard ist - um die Terminologie Max
Webers zu gebrauchen —ebenso ausschließlich Gesinnungsethiker wie
Kant, Fichte und - besonders in „L'être et le néant“ - auch Sartre, wäh­
rend Marx, ebenso wie Aristoteles und Hegel, jenseits der modernen
Antinomie von Gesinnungsethik und Folgeethik steht. (Wir gebrauchen
hier die von Max Weber in wissenschaftlicher Form populär gemachte
64 Die Robinsonade der Dekadenz

Terminologie für dieses Hauptdilemma der heutigen Ethik, das bekannt­


lich Hegel bereits als Scheindilemma abgelehnt hat. Köstlers journa­
listische Kolportage hat diesem Dilemma einen hochtrabend-mystischen
Ausdruck gegeben, als Gegensatz von Yogi und Kommissar. Wir werden
sehen, daß diese Formulierung, die die Existentialisten sehr beschäftigt
hat, zum Wesen des Problems nichts beiträgt.)
Eine Ethik, die vom individuellen Akt des ethisch handelnden Sub­
jekts ausgeht, die in der Intention dieses Akts das entscheidende Krite­
rium des Ethischen erblickt, kann nur Gesinnungsethik sein. Die Ver­
knüpfung der Tat mit ihren Folgen muß sich hier in einer ganz anderen
Sphäre, unter der Herrschaft prinzipiell anders gearteter Gesetze ab­
spielen. Dadurch entsteht eine Abschnürung der ethischen Welt von der
übrigen, der „äußeren" menschlichen Wirklichkeit, die sich von den Vor­
aussetzungen der Gesinnungsethik und mit der aus ihr folgenden Me­
thode, mit ihren Kategorien unmöglich beheben läßt, da diese alle ja
gerade diese Abschnürung gedanklich vollführt haben.
Extreme Gesinnungsethiker —und diese allein sind in ihrer Art konse­
quent - lehnen deshalb jedwede Berücksichtigung der Folgen ab, wie
z. B. die Ethik der Bergpredigt ; so verhalten sich im wesentlichen auch
Kierkegaard und Heidegger. Wird ein Versuch in dieser Richtung unter­
nommen, was freilich keine Ethik unterlassen kann, deren Inhalt und
Intention nicht eine völlige Ablehnung der „Welt", ein Verzicht auf das
Durchdringen der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, dann muß die Ethik
in irgendeiner Weise mit der Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie
verknüpft werden. Es fragt sich nur, wie diese Verbindung gedanklich
wieder hergestellt werden kann, nachdem die Gesinnungsethik - um die
entscheidende Priorität des subjektiven Akts, der subjektiven Intention
reinzuhalten - aus dem originären ethischen Verhalten einen jeden gesell­
schaftlich-geschichtlichen, die Entscheidung auch nur akzessorisch beein­
flussenden Inhalt eliminiert hatte ?
Das Schicksal der Kant sehen Ethik ist bekannt. Kant versuchte aus
dem reinen Formalismus der Gesinnungsethik des kategorischen Impera­
tivs so herauszukommen, daß er bei jedem konkreten ethischen Akt die
inhaltliche Widerspruchslosigkeit als Kriterium aufgestellt hat. Also - um
sein Beispiel zu gebrauchen - ein Deposit darf nicht unterschlagen wer­
den, weil das Unterschlagen dem Begriff des Deposits widerspräche, „in­
dem ein solches Prinzip als Gesetz sich selbst vernichten würde, weil es
machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe". Hegel antwortet darauf
in seiner Kritik: „Daß es gar kein Depositum gäbe, welcher Widerspruch
läge darin? Daß kein Depositum sei, wird anderen notwendigen Be­
stimmtheiten widersprechen ; so wie, daß ein Depositum möglich sei, mit
Die Antinomie von Gesinnungsethik und Folgeethik 65

anderen notwendigen Bestimmtheiten Zusammenhängen und dadurch


selbst notwendig sein wird. Aber nicht andere Zwecke und materielle
Gründe sollen herbeigerufen werden, sondern die unmittelbare Form des
Begriffs soll die Richtigkeit der ersten oder der zweiten Annahme ent­
scheiden. Aber für die Form ist die eine der entgegengesetzten Bestimmt­
heiten so gleichgültig als die andere ..."
Hegel weist hier nach, daß Kant die philosophischen Grundlagen seiner
eigenen Ethik verläßt, wenn er die Existenz oder die Berechtigung einer
ökonomisch-sozialen Kategorie und das ethische Verhalten zu ihr aus
dem kategorischen Imperativ ableiten will. Die Kantsche Ethik als for­
malistische Gesinnungsethik hat keine Möglichkeit, auf eigenem Boden
diese Frage überhaupt auch nur zu diskutieren. Um so weniger als Kant
- worauf Hegel hier nicht eingeht - die Erkenntnis der ganzen objektiven
Außenwelt und darin selbstverständlich die der gesellschaftlich-ge-
geschichtlichen Welt als bloße Erkenntnis von Erscheinungen auffaßt
und im Gegensatz zu deren bloßer Phänomenalität im Akt des ethischen
Handelns ein Ergreifen der an sich seienden, der noumenalen Welt er­
blickt. Das konsequente Zuendedenken der obigen Bestrebung Kants
würde also - durch Vermittlung des ethischen Akts und seiner hier ge­
forderten Widerspruchslosigkeit - die Erkenntnis der gesellschaftlich­
geschichtlichen Welt in eine Erkenntnis des An-Sich verwandeln und da­
mit seine ganze eigene Erkenntnistheorie aufheben.
Es ist interessant und charakteristisch, daß gegen diese Tendenz Kants,
eine gesellschaftliche Inhaltlichkeit seiner Ethik auf formallogischen
Wegen zu erreichen, nicht nur der junge Hegel im Namen des objektiven
Idealismus protestiert hat, sondern in der neueren Entwicklung im
Namen des lebensphilosophiscb ausgelegten Kantschen subjektiven Idea­
lismus auch Georg Simmel. Dieser geht, ebenso wie Hegel, von dem an­
geblichen Kriterium der logischen Widerspruchslosigkeit des kategori­
schen Imperativs aus. Dieses Kriterium sei aber nach Simmel nur in
einem innerlich ethischen Sinne, also im Sinne der subjektivistischen Ge­
sinnungsethik haltbar, denn „die innerlich logische Einheitlichkeit un­
seres Handelns bilde das Kriterium auch ihres sittlichen Wertes“ . Also,
um auf das Kantsche Beispiel zurückzukommen, könne das Unterschla­
gen des Deposits ebenso ethisch sein wie sein Bewahren, wenn die „inner­
lich logische Einheitlichkeit“ des ethischen Aktes gewahrt bleibt.
Wir sind auf diese Diskussion über die Ausdehnbarkeit der formalisti­
schen Gesinnungsethik auf gesellschaftliche Inhalte nicht nur darum so
ausführlich eingegangen, weil hier alle wichtigen philosophischen Fragen
dieses Problemkomplexes in prinzipieller Weise zur Sprache gekommen
sind, sondern auch deshalb, weil Sartre selbst in seiner populären Bro-
66 Die Robinsonade der Dekadenz

schüre seine ethische Stellungnahme sehr wesentlich der Kantschen an­


genähert hat. Soweit aus „U être et le néant'*eine Moral ableitbar ist, hat
in dieser der subjektive Akt den ausschließlichen Primat. Ich habe die
Konsequenz dieses radikalen Subjektivismus für die Beziehung des han­
delnden Subjekts zu seinen Mitmenschen in einem anderen Zusammen­
hang bereits dargestellt. Ich kann mich also hier, um den Standpunkt
des philosophischen Hauptwerkes von Sartre zu charakterisieren, auf ein
Zitat beschränken. Sartre sagt: „Die gräßlichsten Situationen des Krie­
ges, die ärgsten Torturen schaffen keinen immenschlichen Stand der
Dinge; es gibt keine unmenschliche Situation. (Von mir hervorgehoben.
G. L.) Nur durch die Furcht, die Flucht, die Zuflucht zu magischen Ver­
haltungsweisen entscheide ich über das Unmenschliche; aber diese Ent­
scheidung ist menschlich, und ich trage für sie die volle Verantwortung/'
Die populäre Broschüre Sartres berücksichtigt dagegen bereits die von
uns charakterisierte allgemeine Lage nach der Befreiung und die philo­
sophischen Verpflichtungen, die aus ihr für den Existentialismus ent­
stehen. Dementsprechend erklärt hier Sartre: „Ich bin verpflichtet, die
Freiheit der anderen gleichzeitig mit meiner eigenen Freiheit zu wollen,
ich kann nicht mir meine eigene Freiheit zum Ziel setzen, wenn ich nicht
zugleich die Freiheit der anderen als Ziel setze." Oder noch radikaler und
noch verschwommener an einer anderen Stelle: „Was wir wählen, ist
immer das Gute, und nichts kann für uns gut sein, ohne für alle gut zu
sein." Für jeden Kenner der Kantschen Philosophie ist es sofort einleuch­
tend, daß Sartre hier der Kantschen Ethik außerordentlich nahekommt ;
seine hier angeführte Forderung steht der Konsequenz des kategorischen 9

Imperativs nahe, daß alles in der Welt auch als bloßes Mittel behandelt
werden könne, und „nur der Mensch Zweck an sich selbst" ist. Wir wer­
den sehen, daß dieser Gedanke im Aufbau der existentialistischen Ethik
eine entscheidende Rolle zu spielen berufen ist.
Es fragt sich nur, mit welchem Recht Sartre hier seinen ursprünglichen
Freiheitsbegriff in dieser Weise ausdehnt? Ist diese Kantsche Fassung der
Moral noch immer ein organischer Bestandteil des Existentialismus? Wir
wollen hier kein Mißverständnis aufkommen lassen. Wir fühlen uns
keineswegs verpflichtet, über die Orthodoxie des Existentialismus zu
wachen. Aber wenn Sartre und seine Anhänger mit dem Anspruch auf-
treten, daß diese Philosophie, deren Grundlage wir bei Heidegger als nihi­
listisch und reaktionär erkannten, die Weltanschauung des demokrati­
schen Fortschritts repräsentiere, so muß dagegen protestiert werden. Das
Aufzeigen der Diskrepanz zwischen philosophischer Fundamentierung
und ethischen Forderungen enthält also für jeden, der das Denken und
die Moral ehrlich nimmt, die Forderung, entweder auf die Heideggersche
Die Antinomie von Gesinnungsethik und Folgeethik 67

Fundamentierung oder auf die fortschrittlich-freiheitlichen Konsequenzen


zu verzichten.
Die Inkonsequenz Sartres, der eklektische Charakter seiner neuen An­
schauungen zeigen sich vor allem darin, daß der neue Begriff der Freiheit
keineswegs mit dem in seinem philosophischen Hauptwerk enthaltenen
identisch ist. Hier hat Sartre die Kierkegaard-Heideggerschen Grund­
lagen trotz einiger Abweichungen im Detail im wesentlichen ernst ge­
nommen. So bedeutet Freiheit hier den subjektiven Akt des individuellen
Entschlusses und Handelns, in völliger Unabhängigkeit von jedwedem
Inhalt, von jedweder Richtung des Handelns. Ob der der Tortur Unter­
worfene gesteht oder schweigt, ob der zur Armee Einberufene sich fügt
oder sich widersetzt usw., immer kommt es auf die im individuellen Akt
entstehende Freiheit an, und zwar ausschließlich auf diese.
Kann man nun überhaupt diese Freiheit des anderen wollen oder nicht
wollen? Konsequent gedacht, sicher nicht. Denn wenn ich die Freiheit des
anderen (Freiheit im alltäglichen Sinne des Wortes genommen) in der
unmittelbarsten Weise unterdrücke, vergewaltige, so kann existentia-
listisch erstens diese meine Tat ein Akt meiner Freiheit sein, und zweitens
hat der andere darauf - im Sinne der Heidegger-Sartreschen Freiheits­
lehre —die unbeschränkteste Freiheit des Reagierens. Freilich schaffe ich
für ihn eine „Situation", aber in dieser hat er die vollste Freiheit der
Wahl zwischen Gehorsam oder Selbstverteidigung. Welchen Weg er auch
wählen mag, er kann diesen - im Sinne Sartres —in Freiheit wählen und
seine Freiheit im selbstgewählten Akt der Unterwerfung oder der Selbst­
wehr verwirklichen. Meine maximale Einwirkung auf den anderen ist also
hier nur, für ihn eine „Situation" zu schaffen; dadurch kann ich aber in
seine Freiheit nicht eingreifen.
Die moralische Forderung der populären Broschüre Sartres ist darum
selbstverständlich nicht an und für sich sinnlos geworden. Sie hat sogar
einen außerordentlich klaren Sinn, nur ist dieser mit den philosophischen
Voraussetzungen seines Hauptwerkes unvereinbar. Nicht nur aus formal­
logischen Gründen, sondern darum, weil die nunmehr geforderte Freiheit
nicht mehr lediglich die des individuellen Aktes ist, vielmehr im Gegen­
satz dazu eine Freiheit im gesellschaftlichen Sinne. Wenn ich in diesem
Sinne, wie dies die griechische Ethik zu tun pflegt, Freiheit für mich an­
strebe, so ist dieses mein Wollen sinnlos, ohne die Freiheit der anderen
auch zu wollen. Denn Freiheit bedeutet in diesem Falle, freier Bürger
eines freien Staates zu sein ; die Freiheit meiner Mitbürger ist in diesem
Fall die unerläßliche Voraussetzung meiner Freiheit. Dieser Zusammen­
hang ist klar, es geht aus ihm jedoch ebenso deutlich hervor, daß diese
Freiheit - sachlich und nicht nur formal —nichts mit dem ursprünglichen
68 Die Robinsonade der Dekadenz

Sartreschen Begriff der Freiheit, der sich ausschließlich im individuellen


Akt des Entschlusses konstituiert, zu tun hat.
Ja, wenn wir die beiden simultan gebrauchten, einander radikal wider­
sprechenden Freiheitsbegriffe Sartres etwas näher betrachten, rückt
seine hier vollzogene methodologische Anleihe bei Kant ebenfalls in ein
neues Licht. Man vergesse nämlich nicht, daß Kant, trotz aller aufgezeig­
ter Inkonsequenzen zu der Verallgemeinerung seiner Gesinnungsethik
von seinen eigenen Voraussetzungen aus insofern mit einer gewissen Be­
rechtigung gelangen kann, als das Ich seines ethischen Aktes dem un­
mittelbaren sinnlichen Dasein des Menschen entgegengestellt ist und
schon an sich eine Orientierung des Menschen auf sich als Vernunft wesen,
als Bestandteil der Menschheit enthält. Das Verbot, den Menschen als
Mittel zu gebrauchen, widerspricht also an sich keineswegs dieser Kon­
zeption, verrät vielmehr, daß das formalistische Gewand der Kantschen
Ethik mehr gesellschaftlich-geschichtliche Elemente verbirgt, als dies
ihrem Urheber bewußt war.
Auch der Sartresche Formalismus enthält, wie wir sehen werden, un­
bewußte, implizite gesellschaftlich-geschichtliche Elemente ; diese haben
aber einen anderen, völlig entgegengesetzten Charakter. Schon Simmel
wollte das zeitbedingte Element in Kants Ethik dahin modernisieren, daß
er der Kantschen „Freiheit wesentlich gleichgearteter Individuen" einen
neuen Individualismus, den der Einzigartigkeit der Persönlichkeit gegen­
übergestellt hat. (Dieses von Simmel als veraltet betrachtete Gleichheits­
ideal der Periode der französischen Revolution hat für die Kantsche
Ethik die oben analysierte Verallgemeinerung methodologisch möglich
gemacht.) Die Simmelsche Ethik der Einzigartigkeit wurde nun die herr­
schende Tendenz der imperialistischen Periode und verwandelte die
Ethik immer stärker in einen irrationalistischen Solipsismus der allein
wesentlichen subjektiven Akte einzigartiger Persönlichkeiten. Heideggers
„Sein und Zeit“ und Sartres „L’être et le néant“ stellen Gipfelpunkte
dieser Entwicklung dar. Sartre müßte also zu einer Verallgemeinerung
des Freiheitsbegriffes einen viel weiteren Anlauf nehmen als ihn seiner­
zeit Kant nahm. Sartre will aber zugleich weiter ins Allgemeine gelangen
als Kant. Denn die Forderung der Freiheit für alle geht entschieden
weiter als das bloße Verbot Kants, keinen Menschen als Mittel zu be­
handeln. Hier war ein Sprung vonnöten. Der philosophische Enkel
Kierkegaards sprang auch beherzt. Er sprang aus einem deutlich be­
stimmten Freiheitsbegriff in einen völlig entgegengesetzten.
Wir sehen, Sartre arbeitet in seiner populären Broschüre mit zwei
Freiheitsbegriffen, die nichts miteinander gemeinsam haben, die einander
geradezu ausschließen. Er führt in diesem Büchlein ein lebhaft beschrie-
Wieder einmal wird Marx getötet 69

benes charakteristisches Beispiel an, aus welchem klar hervorgeht, daß


der neue Freiheitsbegriff für ihn nur eine Konzession an die Zeitforde­
rungen ist, daß er aber im wesentlichen noch immer unverändert auf dem
Boden der Kierkegaard-Heideggerschen Moral stehengeblieben ist. Er
schildert sehr ausführlich den Konflikt eines jungen Mannes, den die Be­
freiungsbewegung vor die Wahl stellt, entweder seine Mutter ihrem
Schicksal zu überlassen oder dem Befreiungskampf untreu zu werden.
Würde Sartre seinen neuen Freiheitsbegriff wirklich ernst nehmen, so
müßte er versuchen, aus dessen allgemeiner Fassung (Verknüpfung mei­
ner Freiheit mit der aller) eine Richtschnur für den moralischen Ent­
schluß seines Schülers zu gewinnen. Er denkt nicht daran, dies zu tun.
Er zeigt vielmehr, daß die seiner Formel nahe verwandte Kant sehe Fas­
sung, kein Mensch dürfe als Mittel behandelt werden, den jungen Men­
schen vor ein unlösbares Dilemma stellt. Er muß entweder seine Mutter
oder seine Mitkämpfer als Mittel behandeln. Sartre lehnt, von der Ethik
seines Hauptwerkes aus gesehen, konsequent einen jeden Ratschlag ab.
Er sagt seinem Schüler: „Sie sind frei, wählen Sie ... Keine allgemeine
Moral kann Ihnen anzeigen, was zu tun sei/1Sehr schön und folgerichtig.
Ist aber nicht auch die Sartresche neue Moral, die Moral der Verknüpfung
meiner Freiheit mit der Freiheit aller, ebenfalls eine „allgemeine Moral“,
also nach Sartre eine, die dem Handelnden keine Richtschnur geben kann
und - im Sinne des alten Freiheitsbegriffes von Sartre - auch nicht geben
soll? Aber wenn dem so ist, welches ist ihr Wert für den Aufbau einer
Ethik? Bleibt der Akt der Entscheidung das einzig Entscheidende, ist die
innere Übereinstimmung des Entschlusses mit der sich in diesem Akt neu
konstituierenden Persönlichkeit das alleinige Kriterium, die einzig mög­
liche Verwirklichung der Freiheit, so gibt es im Existentialismus keinen
Raum für irgendeine Art moralischer oder gar historisch-sozialer Ver­
allgemeinerung. Dann ist die neue Ethik der Broschüre etwas, das völlig
eklektisch, widerspruchsvoll, ja demagogisch an den eigentlichen Existen­
tialismus an geklebt wurde.

3
WIEDER EINMAL WIRD MARX GETÖTET

Schon diese kurze Analyse kann eine nicht unwichtige methodologische


Lehre bringen. Jede Konzeption, ja jede Kategorie der Ethik enthält —
einerlei, wie weit dies dem Philosophen bewußt geworden ist - eine be­
bestimmte Konzeption der Gesellschaft und ihrer Entwicklung (diese
Konzeption kann natürlich auch das Leugnen der Entwicklung ent­
halten). Folgerichtigkeit im Aufbau der Ethik setzt also - um auch nur im
70 Die Robinsonade der Dekadenz

formellen Sinne richtig zu bleiben - eine einheitliche Konzeption der Struk­


tur und der Dynamik der Geschichte und in ihr des Individuums voraus.
Die von uns aufgezeigte Inkonsequenz Sartres in seiner populären Bro­
schüre gewinnt durch solche Erwägungen eine gewisse prinzipielle Be­
deutung; sie zeigt eine — vielleicht unbewußt gebliebene - Ver­
schiebung in Sartres Auffassung von Gesellschaft, Geschichte, von histo­
rischer Situation usw., die sich, da er seine philosophischen Grund­
anschauungen keiner Revision unterwarf, in der aufgezeigt en Weise, als
Operieren mit zwei verschiedenen Freiheitsbegriffen, von denen die zweite
Fassung mit der Methodologie des Existentialismus unvereinbar ist,
äußern mußte.
In dieser immer wachsenden und sich vertiefenden Diskrepanz zwi­
schen den alten Voraussetzungen des Existentialismus, die sozial aus der
Lage einer bestimmten intellektuellen Schicht der imperialistischen,
literaturhistorisch von Kierkegaard, Husserl und Heidegger stammenden
Periode entspringen und zwischen seinen neuen Problemen und Einsich­
ten, die ihm die Zeit nach der Befreiung aufdrängte, erblicken wir die
Krise, in die diese Philosophie hineingeraten ist. Daß diese Krise den
führenden Existentialisten, vor allem Sartre, nicht bewußt geworden ist,
ist nicht überraschend. Wir wollen hier gar nicht an historische Analogien
erinnern ; es genügt, wenn wir daran denken, daß die immer vorhandene
methodologische Verschwommenheit in der Phänomenologie, besonders
seitdem sie sich zu einer - methodologisch sehr wenig zu Ende gedachten,
mehr deklarierten als begründeten —Fundamental-Ontologie weiterent­
wickelt hat, ein derart willkürliches öffnen und Schließen der „Klam­
mer“, das heißt ein derart willkürlich schwankendes Verhältnis zwischen
Vorstellung und Wirklichkeit gestattet, daß hier ein genaues Erfassen des
Unterschiedes zwischen Subjektivem und Objektivem nur bei ganz außer­
gewöhnlicher kritischer Besinnung möglich wäre. Das heiße Bestreben
jedoch, gerade aus dem Existentialismus die Philosophie der Epoche zu
machen, der Wunsch, den Wettstreit mit dem dialektischen Materialis­
mus siegreich zu bestehen, wirkt einer kritischen Besinnung stark ent­
gegen.
Dies ist am deutlichsten bei Sartre selbst zu beobachten. Während
Simone de Beauvoir und besonders Merleau Ponty ein bestimmtes Be­
streben zeigen, die Probleme, die ihnen die Zeit gerade in der Spiegelung
des Marxismus entgegenbringt, zu verstehen, in der Hoffnung, daß sich
dabei trotz alledem die schließliche Überlegenheit des Existentialismus
erweisen ließe, dessen Korrekturbedürftigkeit ihnen zuweilen aufdäm­
mert, versucht Sartre selbst, die unbequeme philosophische Konkurrenz
mit billigen, demagogischen, eines ernsten Denkers oft unwürdigen Mit-
Wieder einmal wird Marx getötet 71

teln gedanklich zu beseitigen, um die ideologische Überlegenheit des


Existentialismus ihr gegenüber zur Geltung zu bringen.
Sartre widmet der Auseinandersetzung mit dem Marxismus zwei aus­
führliche Aufsätze in seiner Zeitschrift. Sein Ausgangspunkt ist natur­
gemäß existentialistisch, aber dieser Ausgangspunkt zwingt ihm völlig
schiefe Ergebnisse auf. Statt nämlich von der objektiven Lage Frank­
reichs, eventuell Europas usw. auszugehen, die hier wirksamen revolutio­
nären Tendenzen zu untersuchen und dann zu fragen, welche der beiden
Weltanschauungen dem objektiven Gang der Geschichte gerechter wird,
geht er von den Stimmungen der heutigen Jugend aus, die im Idealismus
eine durch die herrschende Klasse kompromittierte Philosophie sieht,
dem Materialismus gegenüber aber ebenfalls philosophische Bedenken
hat, und die man damit „einschüchtert“, daß, wer nicht den Materialis­
mus wählt, gewollt oder ungewollt ins Lager des verachteten Idealismus
gedrängt wird. Diese Stimmung will Sartre durch Propaganda für den
Existentialismus - mit reichlich demagogischen Mitteln - ausnützen, er
will damit den Materialismus endgültig diffamieren und die Bahn für den
Sieg des Existentialismus, als des philosophischen „dritten Weges“, einer
Philosophie, die angeblich weder idealistisch noch materialistisch ist,
freimachen.
Wir haben den Ausdruck „Demagogie“ gebraucht und wissen, daß er
in einer wissenschaftlichen Diskussion sehr hart klingt; wir haben ihn
aber im vollen Bewußtsein dieser Härte gebraucht. Denn wenn man die
Polemik Sartres gegen den Materialismus liest, weiß man nicht, was man
denken soll. Es ist schwer vorauszusetzen, daß er in Sachen des Materia­
lismus derartig unwissend ist und ihm Dinge nicht bekannt sind, die in
allen populären Broschüren breit behandelt werden. Andererseits, wenn
man den Vorwurf dieser Unwissenheit von sich weist und unterstellt, Sartre
kenne den Marxismus - gegen den er polemisiert - , wie kann man ihm
dann guten Glauben zubilligen?
Ich beginne mit einer terminologischen Frage. Sartre nennt den Mate­
rialismus eine „metaphysische Doktrin“ . Dabei erwähnt er in seinem
ganzen ausführlichen Aufsatz mit keinem Wort, daß es einen mecha­
nischen und einen dialektischen Materialismus gibt, daß die Marxisten
als Vertreter der letztgenannten Lehre stets mit großer Schärfe gegen die
'erstere polemisiert haben und polemisieren. Es ist dies die Methode der
ordinären Agenten der Bourgeoisie, alles, was gegen den mechanischen
Materialismus philosophisch angeführt werden kann, ohne weiteres gegen
den dialektischen Materialismus vorzubringen. Sie erfüllen damit einfach
den Auftrag ihrer Klasse. Zweitens hat der Ausdruck Metaphysik im
dialektischen Materialismus eine spezielle Bedeutung als Gegensatzbegriff
72 Die Robinsonade der Dekadenz

des Dialektischen. In einer loyalen Polemik müßte auf den - vom land­
läufigen völlig verschiedenen - Sinn dieses Ausdrucks bei den Marxisten
wenigstens hingewiesen werden. Es ist verständlich, daß Sartre, für den
die Dialektik nur in der von Kierkegaard und Heidegger entstellten, in
ihr Gegenteil verkehrten Form existiert, in der Wissenschaftlichkeit
einen Gegensatz zur Dialektik erblickt. Er wirft jedoch den französischen
Marxisten derartige Verwechslungen vor, während er es selbst ist, der
mit einem geschickten Jonglieren mit dem Doppelsinn der Metaphysik,
mit der Erklärung, daß die Wissenschaft als „Realisation der Quantität'*
der Dialektik widerspricht, klare Tatbestände verdunkelt. (Weiß Sartre
nicht, daß bei Hegel und Marx auch die Quantität in ihre wissenschaft­
liche Entwicklung der Dialektik gehört?) Er verdunkelt weiter die Tat­
bestände, wenn er die Marxisten über die Materie sagen läßt, „sie sei die­
selbe, von der die Gelehrten sprechen". Wenn es sich um die konkreten
Fragen der Struktur usw. der Materie handelt, so ist eine solche Antwort
richtig. Sartre stellt aber den philosophischen, den erkenntnistheoreti­
schen Begriff der Materie zur Diskussion und müßte wissen, daß Lenin
in seinem philosophischen Hauptwerk den allgemein philosophischen Be­
griff der Materie (das, was unabhängig von unserem Bewußtsein existiert)
von der sich immer wandelnden, sich stets vervollkommnenden kon­
kreten Erkenntnis der konkreten Wesensart der Materie scharf trennt.
(Da ich diese Frage im folgenden Aufsatz ausführlich behandle, möge hier
dieser Hinweis genügen.)
Mit solchen Mitteln also will Sartre den Materialismus diffamieren ; er
erscheint bei ihm als „ein Monstrum, ein unfaßbarer Proteus, ein vager
und widerspruchsvoller Schein".
Aber weiter zu den sachlichen Fragen. Der Hauptvorwurf Sartres
gegen den Materialismus ist der, daß er „die Subjektivität eliminiert",
daß er dem Menschen „die Freiheit raubt", Vorwürfe, die uns Marxisten
aus den Traktaten strebsamer Privatdozenten seit Jahrzehnten bekann'
sind. Jeder Marxist weiß, und wir werden es im folgenden kurz zeigen,
daß Sartre auch hier den Marxismus entstellt. Er ist dazu in seinem Ver­
teidigungskampf, den er geschickt als Offensive maskiert, gezwungen,
weil gerade die Betonung der Subjektivität der Punkt ist, wo das relativ
berechtigte Moment am Existentialismus zum Ausdruck kommt ; freilich
ein nur relativ berechtigtes Moment, das infolge seiner Überspannung
und Verabsolutierung durch den Existentialismus ins Absurde umschlägt.
Was aber an diesem Moment berechtigt ist, ist dem Marxismus von allem
Anfang an bekannt. Nämlich, daß die Menschen selbst ihre Geschichte
machen, und zwar im persönlichen Leben ebenso wie im öffentlichen.
Daraus folgt, daß alles, was in der Geschichte der Menschheit geschah,
Wieder einmal wird Marx getötet 73

geschieht und geschehen wird, aus Handlungen von Menschen entsteht.


Diese Handlungen entspringen, dies versteht sich von selbst, unmittelbar
aus Entschlüssen dieser Menschen, aus Entschlüssen, die stets in einer
konkreten Lage gefaßt werden („Situation“ nennt sie der Existentialis­
mus) ; die Entschlüsse können —individuell betrachtet - stets so oder
anders ausfallen. Nie konnte ein wirklicher Marxist daran zweifeln, daß
z. B. beim Aufruf zu einer Demonstration jeder einzelne Arbeiter den
Entschluß fassen muß, sich an ihr zu beteiligen oder nicht, daß die Ge­
samtheit dieser Entschlüsse nur der Hauptrichtung nach, nur im Durch­
schnitt als eine durch individuelle Handlungen vermittelte herrschende
Tendenz vorauszusehen ist, und daß auch Voraussagen darüber mitunter
trügerisch sein können.
Wenn der Existentialismus nur jenen Vulgärmarxisten gegenüber, die
in der ökonomischen Bestimmtheit des gesellschaftlichen Bewußtseins
der Menschen einen mechanischen Fatalismus erblicken, dieses Moment
des dialektischen Zusammenhangs energisch betonen würde, so wäre seine
Stellungnahme berechtigt und verdienstvoll. Dies würde aber keineswegs
dazu ausreichen - besonders dem Marxismus gegenüber - , als eigene
Philosophie aufzutreten. Indem der Existentialismus dieses notwendige
Vermittlungsmoment der Geschichte isoliert, verabsolutiert und so in das
Zentrum der Philosophie rückt, ist er gezwungen, die Objektivität von
Natur und Geschichte aufzulösen; denn in seinen Augen ist nur eine rein
von innen bestimmte Subjektivität dieses Namens wert. Um diese zu
„retten“ , ist er gezwungen, die Objektivität von Natur und Geschichte
aufzulösen. Dies war bei einem Schein von Konsequenz möglich, solange
es sich um die rein inneren Seelenprobleme der bürgerlichen Intelligenz
handelte wie bei Heidegger; die Subjektivierung der Geschichte ent­
sprach ziemlich genau den Illusionen, die diese über ihre Beziehung zur
historisch-sozialen Wirklichkeit zu kultivieren pflegten. Unbequem wird
diese Position erst, will man sie dem Marxismus gegenüber als richtung­
gebende Philosophie der Geschichte vertreten. Dann gibt es für den Exi­
stentialismus nur zwei Möglichkeiten: entweder eine Karikatur des
Marxismus zu entwerfen und gegen dieses Phantom einen wohlfeilen
„Sieg“ zu erfechten (dies tut hier Sartre) oder den Versuch zu unter­
nehmen, einige Ergebnisse des Marxismus - philosophisch gesehen: per
nefas - in den Existentialismus einzubauen und auf dem Gebiet der
Praxis den Gegensatz zwischen beiden Weltanschauungen zu verwischen,
um auf diese Weise die philosophische Grundposition des Existentialis­
mus zu retten. (Dies tun Beauvoir und insbesondere Merleau Ponty.)
Sartre behauptet, daß der Marxismus die Subjektivität eliminiert.
Hören wir Engels: „Wir machen unsere Geschichte selbst, aber erstens
74 Die Robinsonade der Dekadenz

unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter


sind die ökonomischen die schließlich entscheidenden... Zweitens aber
macht sich die Geschichte so, daß das Endresultat stets aus den Kon­
flikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine
Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist ;
es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine Gruppe von
Kräfteparallelogrammen, aus denen eine Resultante - das geschichtliche
Ergebnis —hervorgeht, die selbst als das Produkt einer als Ganzes bewußt­
los und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was
jeder einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was heraus­
kommt, ist etwas, das keiner gewollt h a t ... Aber daraus, daß die einzel­
nen Willen ... nicht das erreichen, was sie wollen, sondern zu einem Ge­
samtdurchschnitt einer gemeinsamen Resultante verschmelzen, daraus
darf nicht geschlossen werden, daß sie gleich Null zu setzen sind. Im
Gegenteil, jeder trägt zu der Resultante bei und ist insofern in ihr ein­
begriffen.“
Freilich, wenn der Marxismus in seiner wahren Gestalt, nicht in der
von Sartre gezeichneten Karikatur erscheint, tritt sein Gegensatz zum
Existentialismus erst recht deutlich hervor. Denn während dieser sich —
wenigstens in seiner ursprünglichen Form - mit der psychologischen und
phänomenologischen Analyse der vereinzelten individuellen Entschlüsse
und Handlungen begnügte, sie eventuell mit ethischen Kommentaren
versah oder sie zu einer „Onthologie" aufbauschte, fängt das marxisti­
sche Problem der Geschichte genau dort an, wo der Existentialismus auf­
hört, nämlich bei der Frage : wie entsteht aus diesem Gewirr von indivi­
duellen Handlungen ein objektiver Prozeß mit deutlicher Richtung, mit
erkennbarer Gesetzmäßigkeit, mit einem Wort : wie entsteht daraus die
Geschichte ?
Um dies zu begreifen, geht der Marxismus zu den materiellen Funda­
menten des menschlichen Handelns, zur materiellen Produktion und Re­
produktion des menschlichen Seins zurück. Indem er hier die objek­
tiven historischen Gesetzmäßigkeiten aufdeckt, leugnet er keineswegs die
Rolle der Subjektivität in der Geschichte; er bestimmt nur ihren rich­
tigen Platz im objektiven Gesamtzusammenhang des Entwicklungspro­
zesses von Natur und Gesellschaft.
Gegen diese Objektivität richtet sich die Polemik Sartres. Vor allem
leugnet er - zusammen mit einem großen Teil der bürgerlichen Wissen­
schaft und im Einklang mit der ganzen reaktionären bürgerlichen Philo­
sophie unserer Zeit - jede Geschichtlichkeit der Natur ; es gibt für ihn
nur eine Geschichte der Menschheit. Wie ist aber eine solche ohne ob­
jektive Basis, ohne objektive Gesetze, ohne objektiv vorhandene Rieh-
Wieder einmal wird Marx getötet 75

tungstendenzen möglich? Darauf findet sich bei Sartre keine Antwort,


kann sich keine finden.
Denn, wenn er auch - unter Ausnützung und Vereinfachung der E r­
gebnisse des Marxismus - auf konkrete Fragen zu sprechen kommt, gibt
er ihnen sogleich eine Wendung ins Subjektivistische, Irrationalistische,
wie z. B. in der Frage der Arbeit. Sartre übernimmt von Marx die enge
Verbindung Ursache-Wirkung einerseits und Zweck-Mittel andererseits
in der Arbeit. Gleich fängt aber die existentialistische Mystifikation an ;
das Ziel ist etwas, „was früher im Universum nicht existierte“, womit die
richtige dialektische Erkenntnis der Arbeit, die Priorität des Zieles in
jedem einzelnen Arbeitsprozeß isoliert, verzerrt und auf den Kopf gestellt
wird. Denn —dies hat bereits Hegel erkannt —die Möglichkeit der Ziel­
setzung, nämlich die Möglichkeit, das subjektiv gestellte Ziel in der objek­
tiven Wirklichkeit durchzusetzen, setzt eine bestimmte Erkenntnis der ob­
jektiven Wirklichkeit voraus ; nicht umsonst ist bei Hegel die Teleologie als
„die Wahrheit* *von Mechanismus und Chemismus. Aber darüber hinaus er­
kennt der Marxismus, daß die Zielsetzung selbst aus der gesellschaftlichen
Wirklichkeit entspringt ; sie ist in ihrer Intention ebenso von ihr bestimmt
wie —eng verbunden damit —in ihren Verwirklichungsmöglichkeiten.
Sartre mystifiziert nun diesen klaren Zusammenhang, indem er erklärt :
„In diesem Sinne kann man sagen, daß das Atom von der Atombombe
geschaffen ist (?! - G. L.), welche nur begriffen werden kann aus dem
anglo-amerikanischen Projekt, einen Krieg zu gewinnen.“ Der Ausdruck
„Projekt** ist eines der magischen Zauberworte des Existentialismus.
Wird diese Zauberformel ausgesprochen, so glauben die Existentialist en
jedes Problem bereits gelöst zu haben. Daß das „Projekt** der Atom­
bombe nur auf einer bestimmten Entwicklungshöhe des imperialistischen
Kapitalismus auftauchen kann, daß dieses „Projekt** eine bestimmte
Entwicklungshöhe der —unabhängig vom menschlichen Bewußtsein exi­
stierenden —Natur, konkret ausgedrückt, der Erkenntnis vom —eben­
falls unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierenden —Atom
voraussetzt, soll durch das Zauberwort „Projekt** verdunkelt werden.
Erst in diesem Dunkel kann das Atom vom „Projekt** der Atombombe
„geschaffen werden**; das „Projekt** entsteht nicht aus der Ausnützung
der Wissenschaft für imperialistische Ziele.
Natürlich fügt sich der wirklich arbeitende Mensch nicht dieser idea­
listischen „Projekt**-Konzeption. Darum vollzieht Sartre seine Analyse
der Arbeit mit einer gewissen Geringschätzung: „Der Arbeiter**, meint
Sartre, „entdeckt seine Freiheit in der Arbeit.** Diese entspricht jedoch
nicht dem Ideal des Existentialismus: „Es ist der Determinismus der
Materie, die ihm das erste Bild seiner Freiheit darbietet.**
76 Die Robinsonade der Dekadenz

Es ist kein Zufall, daß Sartre hier unzufrieden ist. Denn die Freiheit,
die der Arbeiter in der Arbeit - natürlich nur in der Arbeit als solcher,
als gesellschaftlichem Stoffwechsel mit der Natur, nicht in der Arbeit als
zwischenmenschlicher, als sozialer Beziehung - entdeckt, ist tatsächlich
die echte, reale Freiheit, nämlich die Freiheit als erkannte Notwendig­
keit. Ihre Grundlage ist eine - wenn auch nicht wissenschaftlich, even­
tuell nicht einmal bewußt-begrifflich formulierte - annähernd adäquate
Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit. Diese notwendige Material­
gebundenheit der Arbeit, ihr Zusammenhang mit Stoff, Werkzeug usw.
ist natürlich an „freiheitlicher“ Vollkommenheit von jenen Gedanken­
experimenten im luftleeren Raum der Intellektuellen-Existenz weit ent­
fernt, an denen Sartres Hauptwerk seinen Freiheitsbegriff demonstriert
hat. Diese ins Ontologische gewendete Minderwertigkeit der Arbeit äußert
sich bei Sartre darin, daß erstens für den Arbeiter „die Idee der Be­
freiung mit der des Determinismus verbunden ist“ ; zweitens darin, daß
er —angeblich - in der Beziehung von Mensch zu Mensch die Beziehung
einer „tyrannischen Freiheit zu einem gedemütigten Gehorsam“ sieht,
die er darum mit der Beziehung des Menschen zur Sache, die er be­
herrscht, ersetzt, und drittens endlich, da der Mensch, der die Sachen
beherrscht, seinerseits auch eine Sache ist, mit der Beziehung von Sache
zu Sache. „Wenn alle Menschen Sachen sind, gibt es keine Sklaven.“
Sartre identifiziert also in völlig imzulässiger Weise den Arbeitsprozeß
an sich (den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur) und die Arbeit
als Grundlage der sozialen Beziehungen der Klassen in der Gesellschaft.
Wie verschieden die beiden in ihrem objektiven Wesen sind (obwohl sie
sich in dialektischer Wechselwirkung zueinander entwickeln), und wie
verschieden sie deshalb auf das Bewußtsein der Arbeitenden einwirken,
zeigt, daß der Arbeitsprozeß selbst notwendig und spontan einen prak­
tischen Materialismus erzeugt, denn ohne annähernde Erkenntnis der
objektiven Wirklichkeit kann der primitivste Handgriff nicht erfolgreich
vollzogen werden, während die materialistische Erfassung der Gesell­
schaftlichkeit der Arbeit nur als Ergebnis jahrhundertelanger Klassen­
kämpfe langsam, krisenhaft zustande kommen konnte. Die englischen
Arbeiter vom Anfang des 19. Jahrhunderts waren als Arbeitende ebenso
spontane Materialisten wie die alt ägyptischen Sklaven (wenn auch auf
höherer Erkenntnisstufe) ; als Maschinenstürmer handelten sie rein idea­
listisch, d. h. von subjektiven, falschen sozialen Vorstellungen geführt,
ohne Erkenntnis der objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Man sieht, was bei dieser fundamental-ontologischen „Vertiefung“ aus
der Verdinglichungslehre von Marx geworden ist. Marx stellt objektive
soziale Tatbestände fest; die Arbeitskraft eines jeden Arbeiters ist - um
Wieder einmal wird Marx getötet 77

bei Sartres Beispiel zu bleiben —die einzige Ware, durch deren Verkauf
er sein Leben erhalten kann. Kauf und Verkauf dieser Ware schaffen —
unabhängig von jedem Bewußtsein - gesellschaftliche Beziehungen zwi­
schen den Menschen, die Beziehungen von Sache zu Sache zu sein
scheinen. Die Marxsche Analyse der Verdinglichung besteht gerade darin,
hinter, oder besser gesagt, in diesen Beziehungen die Beziehungen von
Mensch zu Mensch (von Klasse zu Klasse) aufzudecken. Die Sartresche
Ontologie geht den entgegengesetzten Weg. Sie fixiert die im Kapitalis­
mus notwendig für alle Klassen entstehende Bewußtseinsstruktur als
wesentliche Struktur, als entscheidende „Situation" des Arbeiters und
deduziert von hier aus eine - in der Wirklichkeit nirgends vorhandene —
„Phänomenologie" des Arbeiters, in der alle Zusammenhänge in völliger
Umkehrung erscheinen. Denn während die Befreiung des Arbeiters in
Wirklichkeit auch die Aufhebung, die Vernichtung aller verdinglichten Be­
ziehungen zwischen den Menschen bedeutet, wird bei Sartre das Freiheits­
ideal des Arbeiters zu einem imbeschränkten Universalismus der Ver­
dinglichung. Und andererseits entsteht der Anschein, als ob die kapita­
listische Verdinglichung nicht in der objektiven gesellschaftlichen Wirk­
lichkeit und darum im Bewußtsein sowohl des Kapitalisten wie des
Arbeiters vorhanden, sondern ein Produkt des Arbeiterbewußtseins,
seines Verhaltens zur Wirklichkeit wäre. So kommt Sartre zu der aus der
präfaschistischen Literatur nicht unbekannten Schlußfolgerung, daß die
„materialistische Konzeption und die der Unterdrücker" eine gewisse
Einheit zeigen. So kann er als Pointe hervorheben, daß der „Mythos des
Materialismus" der einzige ist, „der den Anforderungen der Revolution
entspricht". Die pragmatistische Konzeption konnte - nach Sartre - den
Revolutionären nicht genügen, darum „hat man den materialistischen
Mythos erfunden".
Mit solchen und ähnlichen „Argumenten" will Sartre - zum wievielten
Male? - den Marxismus gedanklich vernichten. Was er an seiner Stelle
der Jugend anbietet, sind die „neuen Begriffe" der „Situation", des „In-
der-Welt-Seins“, deren Erklärungswert wir später werden ermessen kön-
nen. Und als entscheidend neue Perspektive, daß aus der Freiheit des
Menschen die Unsicherheit des Siegs des Sozialismus folgt. Der Sozialismus
ist - natürlich! - „ein menschliches Projekt". „Er wird das, was die Men­
schen aus ihm machen." Dabei wird wieder ein wichtiger und in seinem kon­
kreten gesellschaftlich-geschichtlichen Zusammenhang richtiger Neben­
satz aus dem „Kommunistischen Manifest" in dieser existentialistisch
isolierten Aufbauschung zu einem leeren und abstiakten Gemeinplatz.
Aber diese Gemeinplätze und Umkehrungen haben eine bestimmte
Richtung. Sartre versucht, seine Ideologie der heuchlerischen Bejahung
78 Die Robinsonade der Dekadenz

der Revolution, die ihn mit den Trotzkisten und anderen Gegenrevo­
lutionären verbindet, sowohl mit der „Situation“ der Unterdrückten zu
verbinden, als auch zu einer universellen, nicht mehr klassengebundenen
Philosophie zu machen. Er will zeigen, wie man auch aus anderen Klas­
sen, auch aus der Bourgeoisie, zur Revolution kommen kann, denn „ein
unterdrückender Bourgeois ist selbst durch seine Unterdrückung unter­
drückt“. Hier wird wieder ein marxistischer Gedanke durch seine funda­
mental-ontologische „Vertiefung“ abstrakt, leer und sinnlos gemacht.
Engels hat dargestellt, daß auch der Bourgeois, ja auch der nichtstuende
kapitalistische Rentner der kapitalistischen Arbeitsteilung unterworfen
ist, und Marx zeigt sehr deutlich die Einheit der gemeinsamen und ent­
gegengesetzten Momente im gesellschaftlichen Sein und Bewußtsein von
Bourgeois und Proletarier. „Die besitzende Klasse und die Klasse des
Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar, aber die
erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt,
weiß die Entfremdung als ihre eigene Macht und besitzt in ihr den Schein
einer menschlichen Existenz. Die zweite fühlt sich in der Entfremdung
vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer un­
menschlichen Existenz.“
Natürlich gibt es auch bei Marx eine Möglichkeit für den nicht Arbei­
tenden, revolutionär zu werden. Man denke an die bekannten Hinweise
im Kommunistischen Manifest“ (darüber ausführlich später). Dies ist
jedoch für Sartre nicht akzeptabel. Und hier offenbart sich, was wir
später detailliert zeigen werden, die größte - die irrationalistische -
Schwäche des Existentialismus: er will den Anschauungen, Ansichten
usw. der Menschen, genauer gesagt : den gedanklichen Widerspiegelungen
der objektiven Wirklichkeit im menschlichen Bewußtsein- keine entschei­
dende Rolle in ihren Entschlüssen zubilligen. Sartre stellt in charakte­
ristischer Weise Praxis und Kontemplation (Theorie : Erkenntnis der ob­
jektiven Wirklichkeit) einander ausschließend gegenüber. So sehr, daß er
in der objektiven Erkenntnis eine Konsequenz der „Situation“ der Kon­
servativen erblickt. „Der konservative Gedanke“, sagt Sartre, „erklärt,
daß er die Welt betrachtet, wie sie ist. Er betrachtet die Geschichte und
die Natur vom Standpunkt der reinen Erkenntnis, ohne sich zu gestehen,
daß seine Attitüde der reinen Erkenntnistheorie den gegenwärtigen Zu­
stand des Universums zu verewigen trachtet, indem er dazu überredet,
daß man sie eher erkennen als verändern kann, oder zumindest, daß man
sie erkennen muß, um sie verändern zu können.“ Was an diesen Sätzen
richtig ist, ist bereits in den von Marx schon vor über ioo Jahren ge­
schriebenen Feuerbach-Thesen enthalten, nämlich der Unwert einer von
der Praxis losgelösten Theorie, die Heuchelei einer angeblichen reinen
Die Ethik der Zweideutigkeit 79

Erkenntnis. Was Sartre aus dem seinigen hinzufügt, ist die Ablehnung der
Erkenntnis der Wirklichkeit als Voraussetzung ihrer Veränderung; ein
Standpunkt, den er mit einer merkwürdigen „phänomenologischen
Wesensschau" den Konservativen zuspricht, obwohl dieser Standpunkt
der konservativen Erkenntnistheorie vollständig fremd ist und in der
konservativen Literatur nicht vorkommt.
Die Folgen dieses ablehnenden Verhaltens gegenüber der sozialen und
ethischen Bedeutung der Erkenntnis werden wir bei Simone de Beauvoir
und Merleau Ponty noch ausführlich behandeln. Hier sei nur noch kurz
darauf hingewiesen, daß Sartres Vorwürfe dem Marxismus gegenüber oft
darauf hinauslaufen, daß er dieses Problem überhaupt nicht zu begreifen
imstande ist. Indem er die entscheidende Wirkung der Erkenntnis von
gesellschaftlichen Lagen und Tendenzen nicht sehen will, meint er, der
Marxismus könne das Klassenbewußtsein nicht erklären: „Ein Zustand
der Welt kann niemals ein Klassenbewußtsein produzieren." Er meint,
die Marxisten würden hierüber auch im klaren sein, schicken sie doch
ihre Funktionäre in die Massen, um sie zu radikalisieren und ihr Klassen­
bewußtsein zu erwecken. „Aber", fragt Sartre triumphierend, „diese
Funktionäre selbst, woher nehmen sie ihr Verständnis der Lage?" Frei­
lich, wenn die Erkenntnis nicht eine Widerspiegelung der objektiven
Wirklichkeit im menschlichen Bewußtsein ist, wenn das revolutionäre
Handeln zu einer „Selbständigkeit" fetischisiert wurde, in der es in gar
keiner Beziehung mehr zur Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit und
ihrer ebenfalls objektiven Bewegungsgesetze steht, so wird der an sich
höchst einfache Tatbestand, daß es eine höhere oder niedrigere, eine um­
fassendere oder beschränktere Einsicht auf diesem Gebiet gibt, und daß
die höhere Einsicht fördernd auf die eigene Praxis und auf die Praxis von
Menschen mit einer relativ unentwickelten Einsicht wirken kann, zu
einem Rätsel. An dieser Verfinsterung ist aber der Marxismus völlig un­
schuldig. Nachdem Sartre das Licht der objektiven Erkenntnis aus­
gelöscht hat, beschuldigt er die Marxisten, daß er selbst im Dunkeln sitzt.

4
„DIE ETHIK DER ZWEIDEUTIGKEIT“
UND DIE ZWEIDEUTIGKEIT DER EXISTENTIALIST! SCH EN ETHIK

Bei Simone de Beauvoir sind die Diskrepanzen des Existentialismus


noch viel deutlicher sichtbar als bei Sartre selbst. Sie ist bestrebt, die
ontologische Grundlegung der Lehre durch eine Ethik zu ergänzen. Aber
merkwürdigerweise - freilich nicht überraschend - sind ihre ethischen
8o Die Robinsonade der Dekadenz

Analysen ebenfalls fortlaufende Auseinandersetzungen mit dem Marxis­


mus, mit dem Faktum der Existenz der Sowjetunion, mit den Anforde­
rungen, die die kommunistische Partei an ihre Mitglieder und an die
Massen stellt. Es zeugt für ihren lebendigeren Wirklichkeitssinn, daß die
anderen ethischen Systeme nur ab und zu, mehr episodisch erwähnt wer­
den. Mit dem Marxismus, der angeblich keine Ethik hat, führt sie eine
ununterbrochene Diskussion. Sie fühlt nämlich ganz richtig, daß in der
Wirklichkeit der Gegenwart selbst jene Intellektuellenschicht-deren Welt­
gefühl der Existentialismus ausdrückt, und an die er dementsprechend vor
allem appellieren muß - die vom Marxismus aufgeworfenen Probleme als
Verführung, sich vom Existentialismus abzuwenden, lebendig empfindet.
Die Auseinandersetzung mit Kant oder Hegel, mit der Stoa oder Epikur
könnte dagegen sehr geruhsam akademisch durchgeführt werden. Das
Vorhandensein des Marxismus bedeutet aber für die Begründung der
existentialistischen Ethik eine „Situation“.
Im Gegensatz zu Sartre verläuft diese Auseinandersetzung bei Simone de
Beauvoir nicht auf der Linie einer rein demagogischen Attacke. Im Gegen­
teil, sie versucht oft, den Marxismus so zu interpretieren, als ob ihre
Differenzen mit ihm nicht entscheidend wären, als ob sie nicht einen aus­
schließenden Gegensatz begründen müßten, als ob eine Versöhnung der
beiden Lehren auf der Grundlage einer „Ergänzung“ , einer „Verbesse­
rung“ des Marxismus durch existentialistische Prinzipien im Bereich der
Möglichkeiten läge. So unternimmt sie z. B. den Versuch, den Marxismus
stark zu subjektivieren : „Marx meint nicht, daß einzelne menschliche
Situationen an sich und absolut den anderen vorzuziehen wären : es sind
die Bedürfnisse eines Volkes, die Revolten einer Klasse, die die Zwecke
und Ziele bestimmen; aus der Ablehnung einer Lage, im Lichte dieser
Ablehnung erscheint ein neuer Zustand als begehrenswert : ausschließlich
der Wille der Menschen entscheidet.“ Simone de Beauvoir fügt zwar -
von ihrem Standpunkt aus äußerst inkonsequent-hinzu, daß dieser Wille
im Verhältnis einer seltsamen Verwurzelung zu der historischen und öko­
nomischen Welt steht; diese Verwurzelung bleibt aber in dieser ihrer
Interpretation von Marx episodisch. Man hat fast den Eindruck, als ob
Marx eine Phänomenologie oder Fundamental-Ontologie der Massen­
bewegungen geschrieben hätte, und nicht eine Ökonomie, eine ökono­
mische Aufklärung des Geschichtsverlaufs. Ebenso in der Frage der Re­
volution: „Die Revolution integriert nicht der harmonischen Entwick­
lung der Welt, sie will sich nicht darin integrieren, wohl aber im Herzen
dieser Welt explodieren und die Kontinuität brechen.“
In beiden Fällen bleibt bei ihr die marxistische Konkretisierung der histo­
risch-sozialen, der menschlichen Beziehungen durch die Ökonomie, durch
Die Ethik der Zweideutigkeit 81

die geschichtliche Wandlung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft


von diesem Zusammenhang ganz weg. Das ist kein zufälliges Mißverständ­
nis. Wenn die Phänomenologie, um einen Gegenstand zu erforschen, seine
Wirklichkeit „in Klammern setzt“, wenn aus den phänomenologisch fest­
gestellten Zusammenhängen ontologische Folgerungen gezogen werden,
verschwindet zumeist nicht nur methodologisch und erkenntnistheore­
tisch die konkrete Realität des Gegenstandes, sondern seiner phänomeno­
logisch oder ontologisch bestimmten Struktur fehlen gerade die wesentlich­
sten realen Eigenschaften. Die hier vollzogene Reduktion ist, im Sinne von
Marx, keine „vernünftige Abstraktion“ mehr, denn sie entstellt die wesent­
lichen Zusammenhänge, sie führt von diesen Zusammenhängen weg.
Die allgemeine Schwierigkeit der bürgerlichen Philosophie unserer Zeit,
ihr Schwanken zwischen a theoretischem Empirismus und wirklichkeits­
fremder Abstraktion hat ihren methodologischen Grund (der natürlich
seinerseits aus der gesellschaftlichen Realität stammt) darin, daß ihre
fundamentalen Begriffe sich auf einen abstrakten, „überhistorischen“
Menschen beziehen, von welchem es dann keinen echten theoretischen
Weg mehr zu den Problemen der historischen Wirklichkeit, der Gegen­
wart, geben kann. Die Stärke der griechischen Philosophie lag darin, daß
ihre großen Vertreter spontan mit Abstraktionen aus der historischen
Wirklichkeit des Polislebens arbeiteten : die relative Homogeinität der
von ihnen betrachteten sozialen Welt (da sie nur mit den Freien, nicht
mit den Sklaven rechneten) gestattete ihnen eine gewisse urwüchsige
Einheit des Allgemeinen und des Konkret-Historischen. Die großen
Denker der Entstehungszeit der bürgerlichen Gesellschaft - ihre Reihe
schließt mit Kant ab - orientierten sich so ausschließlich auf diese da­
mals entstehende neue Welt, lehnten die feudale Vergangenheit so radikal
als unvernünftiges, gedankliches Nichtsein ab, daß sie dadurch zu einer
großartigen Geschlossenheit und Folgerichtigkeit gelangten ; diese mußte
aber - sobald die Krise und damit der historisch transitorische Charakter
dieses Gesellschaftssystems mit der französischen Revolution offenkundig
wurde - problematisch werden. Die epigonenhafte Anwendung dieser
Methode und ihrer Kategorien auf die immer widerspruchsvoller wer -
dende, ihren historisch-transitorischen Charakter immer offener auf­
deckende gesellschaftliche Wirklichkeit führt zu jenem Dilemma von
Empirismus und Abstraktion, auf das wir gerade hingewiesen haben.
Die Phänomenologie und die Fundamental-Ontologie gehen in dieser
entscheidenden Frage nicht über den Horizont der bürgerlichen Philo­
sophie unserer Zeit hinaus. Wohl sieht - den Worten nach - Heidegger
in der Geschichtlichkeit des Daseins eine ontologische Urgegebenheit ;
indem er aber die wirkliche, konkrete, die ökonomisch-soziale Geschichte
82 Die Robinsonade der Dekadenz

als „vulgäre" Zeitlichkeit verwirft, indem auch für ihn, wie für alle
bürgerlichen Denker, das isolierte Individuum und seine Erlebnisse (und
nicht sein reales Sein) den Ausgangspunkt bilden, müssen alle Katego­
rien, die er auf solcher Grundlage findet, mit denselben Gebrechen be­
haftet bleiben, wie die der übrigen bürgerlichen Philosophen. Vor allem
bleibt bei ihm und auch bei seinen französischen Schülern das Wesen des
„Daseins" (d. h. des Menschen), das ontologische Wesen seiner sich wan­
delnden „Situation" etwas Abstrakt-Überhistorisches. Simone de Beau­
voir drückt dies ganz klar aus: „Keine soziale Umwälzung, keine mora­
lische Konversion kann jenen Mangel, der in seinem (des Menschen —
G. L.) Herzen liegt, unterdrücken." Sind aber aus dem Wesen fides“ Men­
schen alle historisch sozialen Momente, alle Bestimmungen seiner
Existenz durch die Ökonomie, durch die „Produktion und Reproduktion
des wirklichen Lebens" (Engels), durch seinen gesellschaftlichen Stoff­
wechsel mit der Natur —vermittelt durch die jeweilige konkrete ökono­
mische Struktur der Menschen miteinander - prinzipiell, mit methodo­
logischer Notwendigkeit eliminiert, so können sie nachträglich nur noch
als rein empiristische, unorganische „Zutaten" beigefügt werden. Die
künstliche gedankliche Isolierung des Einzelmenschen kann, auch wenn
diese mit ebenso abstrakten Kategorien wie Mit-Sein, In-der-Welt-Sein
usw. verziert wird, nicht nachträglich aufgehoben werden. Denn die
phänomenologisch oder ontologisch vollzogene Isolierung verzerrt derart
die Grundstruktur der Erkenntnis vom Menschen, daß auch richtige
empirische Beobachtungen und Feststellungen ökonomischer Tatsachen
aus dieser Verbogenheit nie wieder etwas Gerades machen können. Um
zu den wirklichen, historischen Menschen, zu dem Ensemble ihrer sozialen
Verhältnisse zu gelangen, muß begriffen werden, daß die ökonomischen
Kategorien „Daseinsformen", „Existerizbestimmungen" (Marx) des ge­
sellschaftlichen Lebens sind.
Kehren wir nun zu den beiden Zitaten der Beauvoir zurück. Im ersten
verschwindet die Entwicklung der Produktivkräfte, der dadurch ent­
stehende Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsver­
hältnissen und mit ihnen alles Konkrete an den historischen Situationen,
in denen die von der Beauvoir geschilderten Bestrebungen entstehen.
Sartre hat, wie wir gesehen haben, Marx dahin verzerrt, daß bei ihm an­
geblich jede Subjektivität verschwindet. Wir haben das Unrichtige daran
nachgewiesen; der subjektive Faktor der menschlichen Geschichte ist,
wie wir gesehen haben, für den Marxismus entscheidend wichtig. Aber
nur im engsten Konnex mit dem objektiven Faktor, auf der Grundlage
des objektiven Faktors. Selbst wenn es der Marxismus mit Tatbeständen
zu tun hat, bei denen die oberflächliche Betrachtung zu bezeugen scheint
Die Ethik der Zweideutigkeit 83

daß es sich um Bestrebungen subjektiver Beschaffenheit handelt, deckt


er stets den unmittelbar, oft nicht wahrnehmbaren objektiven Faktor als
Basis auf. Engels analysiert z. B. die ökonomisch formell falschen Schluß­
folgerungen der radikalen Schüler Ricardos, die aus dessen Mehrwerts­
theorie unmittelbar sozialistische, revolutionäre Konsequenzen ziehen.
Er sagt: „Was aber ökonomisch formell falsch, kann darum doch welt­
geschichtlich richtig sein. Erklärt das sittliche Bewußtsein der Masse eine
ökonomische Tatsache, wie seinerzeit die Sklaverei oder die Fronarbeit,
für Unrecht, so ist das ein Beweis, daß die Tatsache selbst sich schon
überlebt hat, daß andere ökonomische Tatsachen eingetreten sind, kraft
deren jene unerträglich und unhaltbar geworden ist. Hinter der formellen
ökonomischen Unrichtigkeit kann also ein sehr wahrer ökonomischer In­
halt verborgen sein/' Beauvoirs Auslegung von Marx ist also ein auf die
„Massenpsyche" angewandter Existentialismus, hat aber weder mit
dem Marxismus noch mit der historischen Wirklichkeit etwas zu tun.
Die phänomenologische und ontologische Entstellung in der zweiten
Behauptung Beauvoirs besteht in der falsch-ausschließenden Gegenüber­
stellung von Revolution und historischer Kontinuität. Dies ist in der
bürgerlichen Literatur gang und gäbe. Burke begann damit, in der fran­
zösischen Revolution etwas „Unhistorisches" zu sehen, das die histo­
rische Kontinuität unterbricht. Durch Vermittlung der deutschen Ro­
mantik, speziell der deutschen „historischen Rechtsschule" (Savigny,
Eichhorn) gelangt diese starre Polarisation in die modernen „Geistes­
wissenschaften". Wenn nun Beauvoir diese mehr als ein Jahrhundert
alte, aus dem Arsenal der romantischen Konterrevolution stammende
Polaritätsstruktur mit einer deutlich wahrnehmbaren Sympathie für die
Revolution gebraucht, so ist sie philosophisch —trotz des verkehrten Vor­
zeichens in der Wertung - nicht über die Positionen der philosophischen
und soziologischen Romantik hinausgekommen. Es war Hegels Verdienst,
die Revolutionen als dialektische Momente der historischen Kontinuität
begriffen zu haben ; freilich gibt Marx erst der Hegelschen historischen
„Knotenlinie der MaßVerhältnisse" eine wissenschaftlich-materialistische
ökonomische Fundierung und damit eine gesellschaftlich-geschichtliche
Konkretheit. Er zeigt, besonders in der Analyse der ursprünglichen Akku­
mulation, daß es ein ökonomisch-historisch notwendiges wechselseitiges
Sich-Ablösen von revolutionären und „normal" funktionierenden Etap­
pen, Perioden oder Epochen gibt und die Kontinuität der Geschichte —
um mich hegelianisch auszudrücken - eine dialektische Einheit der Kon­
tinuität und Diskontinuität darstellt, die beide Momente in sich faßt.
Die abstrahierende, verzerrende Tendenz, die mit methodologischer
Notwendigkeit aus der phänomenologischen und ontologischen Philo-
84 Die Robinsonade der Dekadenz

Sophie folgt, bestimmt den Charakter der moralischen Zentralfrage, die


Simone de Beauvoir beschäftigt : die Frage der Gewalt und der Stellung
der Ethik zu ihr. Die Beauvoir formuliert die Frage sehr klar. Sie sieht in
jeder Gewalt ein Ärgernis, einen Skandal, sieht aber andererseits, daß ein
politisches Handeln der Menschen ohne Gewalt ein Ding der Unmöglich­
keit ist. Sie sagt „gut Kantisch**: „Man kann alle Vergehen, ja selbst
alle Verbrechen, durch welche sich die Individuen der Gesellschaft
gegenüber behaupten, entschuldigen; wenn aber ein Mensch sich be­
wußt dazu hergibt, den Menschen zur Sache zu erniedrigen, so läßt
er ein Ärgernis in die Welt entspringen, das durch nichts wiedergut­
gemacht werden kann/* Sie erkennt aber selbst in einem anderen Zu­
sammenhang, daß dies zu einem unlösbaren Widerspruch führt : , ,Es ist
unmöglich, für den Menschen zu handeln, ohne bestimmte Menschen
unter bestimmten Umständen als Mittel (d. h. als Sachen - G. L.) zu be­
handeln/* - „Enden wir nicht**, fragt sie an anderer Stelle, konsequent
zusammenfassend, „damit, daß wir das Handeln als verbrecherisch und
absurd verurteilen und den Menschen trotzdem zum Handeln verdam­
men?**
Freilich will die Beauvoir nicht bei der bloßen Aufstellung dieser Anti­
nomie stehenbleiben. Bevor wir jedoch ihre Antwort analysieren können,
müssen wir eine Bemerkung über die Fragestellung selbst machen. Daß
diese Fragestellung nicht neu ist, wäre kein entscheidendes Gegenargu­
ment ; es kommt weniger darauf an, wie weit der Existentialismus origi­
nell ist (und er ist es keineswegs), als darauf, ob er die Probleme unserer
Zeit richtig stellen und beantworten kann. Wenn wir also einige Be­
merkungen über die Vorgeschichte dieses Problems machen, kommt es
uns nicht auf die Frage der literarischen Priorität, sondern auf die soziale
Genesis des Problems an. Es taucht vor allem als Folge niedergeworfener
Revolutionen bereits im 17. Jahrhundert in den verschiedenen protestan­
tischen Sekten in England und Schottland auf, später nach der Niederlage
der Revolution von 1905 in Rußland als Ausbreitung der Tolstoischen
Lehre „Widerstehe nicht dem Bösen**, dann nach dem Abebben der revo­
lutionären Sturmflut nach 1918 im Expressionismus, Gandhismus usw.
Es ist aber zugleich der Ausdruck einer Unsicherheit, eines Zurück­
schreckens vor dem, was bevorsteht, in Vorbereitungszeiten von Revolu­
tionen, besonders in solchen Etappen, in denen die Problematik, die Auf­
lösung der alten Gesellschaft, ja auch die allgemeinen, abstrakten gesell­
schaftlichen Ziele der Umwälzung bereits hervorzutreten beginnen, in
denen jedoch die objektiven und subjektiven Bedingungen der Revolu­
tion noch nicht herangereift sind. Wir können solche Anti-Gewaltrich­
tungen von den Wiedertäufern über den utopischen Sozialismus, über
Die Ethik der Zweideutigkeit 85

Tolstoi selbst bis in unsere Tage beobachten. (Nebenbei bemerkt : man


soll die hier wegen der Kürze der Andeutung gemachte Einteilung in
vor- und nachrevolutionär nicht mechanisch ausschließend nehmen. Die
Antigewalt-Ideologie der utopischen Sozialisten ist zwar einerseits der
Ausdruck für die ungenügende Entwicklung des Kapitalismus und mit
ihm des Proletariats, andererseits ist sie jedoch gleichzeitig eine Nach­
wirkung der Niederlage des plebejischen Jakobinismus in der französi­
schen Revolution.)
Aus alledem geht auf alle Fälle klar hervor, daß die radikale Verurtei­
lung der Gewalt als Mittel der Befreiung in der bisherigen Geschichte
ein Symptom sozialer Schwäche war, in welcher das Zurückschrecken
vor den Mitteln der Verwirklichung untrennbar mit einer utopischen
Idealisierung des erstrebten Gesellschaftszustandes verknüpft wurde. Da
nun die Gewalt in der Unterdrückung das unmittelbar Sichtbarste und
Fühlbarste am objektiv immer unhaltbarer werdenden alten Gesell­
schaftszustande ist, da weiter die Vorbereitungszeit von Revolutionen
und besonders die Zeit nach niedergeworfenen Revolutionen die herr­
schende Klasse dazu veranlaßt, über die Schranken ihres eigenen legalen
Systems hinauszugehen und brutale Gewaltmittel in Anspruch zu neh­
men, ist diese abstrakte Gegenüberstellung, diese utopische Idealisierung
einer völligen Gewaltlosigkeit bei allen, die vor dem revolutionären Han­
deln zurückschrecken, sozial durchaus verständlich ; sie ist aber dadurch
zugleich sozial sehr deutlich charakterisiert.
Dazu kommt, daß, sobald die unterdrückte Klasse zu revolutionären
Aktionen erwacht, ja in einzelnen Teilen der Welt eine siegreiche Revolu­
tion durchführt, seitens der gekauften und freiwilligen Publizistik der
herrschenden Klasse sofort eine starke Antigewalt-Propaganda einsetzt,
die, alle Gewalttaten der Unterdrücker verschweigend oder wegerklärend,
die Gewaltmaßnahmen der Revolutionäre moralisch zu diffamieren ver­
sucht. Heute ist der trotzkistische Journalist Köstler der lauteste
„Trommler'1 dieser imperialistisch-reaktionären Tendenz. Er läßt z. B.
in seinem Sensationsroman gegen die Sowjetunion den trotzkistischen
Helden, der im Roman natürlich als „alter Bolschewik", als „orthodoxer
Marxist" dargestellt wird, in sein Tagebuch schreiben: „Wir waren die
ersten, die die liberale Ethik des 19. Jahrhunderts, begründet auf das
fair play, durch die revolutionäre Ethik des 20. Jahrhunderts ersetzt
haben", das heißt - wie der ganze Roman zeigt - durch die Ethik der Ge­
walt. Für Köstler sind also alle Taten der Bourgeoisie des 19. Jahr­
hunderts von den Peterloo-Massakem bis zur Unterdrückung der Pariser
Kommune durch Thiers und Bismarck und der Revolution von 1905
durch Stolypin und seine Helfershelfer: eine einzige „Ethik des fair play".
86 Die Robin sonade der Dekadenz

Man soll sich nicht wundem, daß die Bourgeoisie durch ihre Agenten der­
art brutal offenkundige Geschichtslügen verbreiten läßt. Es ist aber
bezeichnend, daß Sartre die Beauvoir und Merleau Ponty, bei aller Kritik
im einzelnen, sich mit dem gekauften Renegaten Köstler wie mit einem
ernstzunehmenden Denker beschäftigen.
Dies führt aber zu einer weiteren Vorfrage der Antigewalt-Ideologie.
Wir erinnern daran, wie ausschließend mechanisch die Beauvoir Revolte
und kontinuierliche Entwicklung einander gegenübergestellt hat. Darin
drückt sich, wie wir gezeigt haben, der unhistorische Charakter ihrer Be­
trachtung der Welt aus ; das ist ein allgemeines Kennzeichen des heutigen
bürgerlichen Denkens. Diese unhistorische Einstellung hat nun für unser
Problem zur Folge, daß bei den meisten der bürgerlichen Ideologen die
Gewalt den spezifischen Akzent des Außergesetzlichen, des Illegitimen
und Illegalen erhält. Dagegen betrachten viele von ihnen alle gesetz­
mäßig fixierten und vorgeschriebenen Gewaltmaßnahmen nicht als Ge­
walt. Daß eine solche Scheidung - die selbstverständlich wieder den
sozialen und ideologischen Bedürfnissen der Bourgeoisie dient - theore­
tisch unhaltbar ist, weiß jede wissenschaftlich ernst zu nehmende Rechts­
philosophie und Rechtssoziologie von Macchiavelli bis Max Weber.
Weber drückte das Wesen des Rechts in dieser Hinsicht klar und pitto­
resk aus: Recht sei, wenn beim Überschreiten seiner Schranken „Männer
mit der Pickelhaube kommen'* und die Menschen zum Einhalten der
Vorschrift zwingen.
Bei Simone de Beauvoir ist es nicht ganz klar, ob sie die Gewalt in
diesem breitesten, aber wissenschaftlich allein richtigen Sinne nimmt.
Jedoch, wenn die Frage der moralischen Zulässigkeit oder Verwerflich­
keit der Gewalt wissenschaftlich behandelt werden soll, muß man von
4 *

diesem weitesten Begriff ausgehen. Denn es ist nicht einzusehen, worin-


besonders für die individualistische Moral des Existentialismus - der
moralische Unterschied zwischen der Hinrichtung eines Verräters etwa in
der Befreiungsbewegung und der Abstimmung über ein Gesetz, das für
Vaterlandsverrät er die Todesstrafe bestimmt, liegen könnte.
Damit rückt aber die Antinomie der Beauvoir in eine neue, eine histo­
rische Beleuchtung. Es ist bekannt, daß das Recht, die legitime Gewalt­
anwendung (und ebenso der Aufstand der unterdrückten Schichten gegen
sie) ein Produkt der Klassenscheidung in der Gesellschaft ist. Dieselbe
Klassenscheidung führt auch zwangsläufig dazu, daß in jeder Gesellschaft
stets nur ein Teil der Menschen mit Inhalt, Richtung usw. des in der Ge­
waltanwendung zum Ausdruck kommenden Rechts einverstanden sein
kann, und ein anderer Teil stets eine Änderung dieser Inhalte usw. er­
streben wird, je nach der Klassenlage und Entwicklungshöhe und je nach
Die Ethik der Zweideutigkeit 87

der Bedeutung der jeweiligen Inhalte usw. mit oder ohne aktiv an­
gewandte Gegengewalt.
Kann aber unter solchen Umständen die Gewaltanwendung überhaupt
zum moralischen Problem oder gar —nach den Worten der Beauvoir —
zum „Ärgernis“ werden? Die Bejahung dieser Frage enthält keinen inne­
ren Widerspruch für religiöse Weltanschauungen, in denen das jenseitige
Weiterleben der menschlichen Seele, ihr ewiges Heil eine entscheidende
Rolle spielen. Ob dann die Ablehnung der Gewalt die inhaltlich um-
stürzlerischen Hoffnungen der Unterdrückten ausdrückt, die für das Er­
dulden der Gewalt beim bald erwarteten Weitende auf ihre jenseitige
Belohnung hoffen, oder ob diese Erwartung von den herrschenden Klas­
sen zum ideologischen Niederhalten der Ausgebeuteten utilisiert wird,
spielt in diesem Zusammenhang für uns keine ausschlaggebende Rolle.
Denn in beiden Fällen wird dadurch das irdische Leben der Menschen zu
einem unwesentlichen Vorspiel ihres jenseitigen Lebens herabgesetzt.
Das moralische Gebot der Ablehnung einer jeden Gewaltanwendung
durch das Individuum ist geiade die Akzentuierung der Tatsache, daß
der soziale Aufbau dieser Welt, da sie eben als Ganzes ohne letzte Be­
deutung ist, moralisch nicht oder nur sehr sekundär in Frage kommt.
„Gebet dem Kaiser, was des Kaisers is t..." läßt sehr folgerichtig das
Neue Testament Jesus sagen.
Ganz anders ist die Lage jener Weltanschauungen, die eine jenseitige
Fortsetzung und Erfüllung des menschlichen Lebens ablehnen ; für diese
ist das irdische Leben des Menschen, d. h. ihr konkretes, wirkliches Leben
in jener konkreten Gesellschaft, in welcher sie geboren, mit ihren Klassen­
verhältnissen, den aus ihnen entspringenden legalen und illegalen Ge­
waltfragen das einzig mögliche Betätigungsfeld; ihre Moral muß also
gerade auf dieses Leben zugeschnitten werden. Das gilt für den Existen­
tialismus, der bei Heidegger atheistisch geworden ist. (Für Kierkegaard
ist noch das jenseitige Heil der Seele das religiöse Erfüllungsgebiet der
Moral.) Hier entsteht notwendig die Frage : kann eine Ethik, für welche
eine der Grundtatsachen des gesellschaftlichen Lebens ein Ärgernis ist,
überhaupt vernünftig und folgerichtig aufgebaut werden, ohne daß die
Ethik nun die Aufhebung dieses Ärgernisses zu ihrem Hauptgebot
machen würde? Wenn wir die Frage so stellen, unterstreichen wir das
Wort gesellschaftlich, denn selbstredend kann keine Ethik sich die Auf­
hebung von Naturgegebenheiten zur Aufgabe stellen. (Mit der Ausnahme
freilich, wo diese auf dem Umweg der Aufhebung ihrer gesellschaftlichen
Vermittlungen ebenfalls aufgehoben werden können.)
In der Stellungnahme der Beauvoir und anderer Existentialisten ver­
rät sich hier deutlich der unorganische Ursprung ihrer Philosophie.
88 Die Robinsonade der Dekadenz

Heidegger hat den Kierkegaardschen Gott einfach gestrichen, die theo­


logische Struktur seiner Kategorienlehre jedoch - die natürlich nur in
bezug auf Gott einen immanenten Sinn haben kann —ohne wesentliche
Änderungen in seine Philosophie übernommen ; Sartre folgt hierbei dem
Beispiel Heideggers. Es ist kein Zufall, sondern hängt mit dieser unauf­
gehobenen theologischen Kategorienlehre des Existentialismus eng zu­
sammen, daß - parallel mit Heidegger - Jaspers auf sehr verwandter
philosophischer Grundlage einen protestantisch gefärbten Existentialis­
mus aufbauen konnte und in Frankreich neben der Sartre-Schule ein
katholischer Existentialismus entstanden ist. Die Antinomien und Di­
lemmata, in deren Dickicht sich die Beauvoir herumschlägt, sind in nicht
unwesentlichem Maße Folgen dieser existentialistischen Theologie ohne
Gott. Denn das einfache Eliminieren Gottes aus einem ansonst theologi­
schen System, was in einem solchen dem Streichen von Objektivität und
Maßstab, von Ziel und Perspektive gleichkommt, muß, konsequent zu
Ende gedacht, zu einem Nihilismus führen.
Die Beauvoir will - dies sei zu ihrer Ehre gesagt - unter keinen Um­
ständen bei einem moralischen Nihilismus landen. Wie entgeht sie aber
diesen Konsequenzen? Sie unternimmt in dieser Richtung vielerlei Ver­
suche, die aber, wie wir zeigen werden, ausnahmslos an dem inhaltsleeren
Formalismus ihrer Philosophie scheitern. Auch dieser Formalismus steht
im Zusammenhang mit der Theologie ohne Gott. So will sie die Stellung­
nahme der Menschen zur Gewalt, je nachdem im Dienste welcher Ziele
diese Gewalt steht: moralisch werten. „Wir verwerfen alle Idealismen,
Mystizismen usw., die eine Form dem Menschen selbst vorziehen. Aber
die Frage wird in unabweisbarer Art beängstigend, wenn es sich um eine
Sache handelt, die authentisch dem Menschen dient.“ (Beauvoir sieht
hier das Problem der heutigen Sowjetunion.) Wir wollen nicht auf bereits
erledigte Probleme zurückkommen und die Beauvoir nicht mit der Frage
schikanieren, woher sie als Existentialist weiß, welche Gesellschaftsord­
nung dem Menschen dient. Wir wissen, daß die neue Sartresche Wendung
vom „Wollen der Freiheit aller“ unter den existentialistischen Voraus­
setzungen widerspruchsvoll ist, und Beauvoir verbaut sich selbst den Weg
zu einer Lösung, wenn sie —vom existentialistischen Standpunkt aus
folgerichtig - jede historische Perspektive, jeden „Zukunfts-Mythos“ ab­
lehnt und nur jene „lebendige Zukunft“ als real anerkennt, die im je­
weiligen „Projekt“ der Menschen konkret auftaucht.
Sie beantwortet deshalb diese Frage als offenbar freiheitsliebender
Mensch, ohne Rücksicht auf ihre Philosophie, sie erkennt, daß die Ge­
walt, etwa im Lynchen, „ein absolutes Übel ist, es repräsentiert das über­
leben einer verfallenen Zivilisation, das Verewigen eines Rassenkampfes,
Die Ethik der Zweideutigkeit 89

der verschwinden soll”. Die Gewalt in der Sowjetunion, die sie freilich
durch eine trotzkistisch-köstlerische Brille sieht, „hat einen Sinn, es
steckt Vernunft in ihr; es handelt sich darum, ein Regime aufrechtzu­
erhalten, das das Schicksal einer ungeheuren Masse von Menschen ver­
bessert”. Schön und gut. Wenn aber nun die Beauvoir daraus Konse­
quenzen zu ziehen hat, besitzt sie in ihrer eigenen Methode nicht die ge­
ringste Handhabe, nicht den Schatten eines Kriteriums. Sie springt des­
halb aus der abstrakten existentialistischen Gesinnungsethik in eine
ebenso abstrakte Folgeethik und fragt: „Dem Tode Bucharins stellt man
Stalingrad gegenüber; aber man müßte wissen, wie weit die Moskauer
Prozesse effektiv die Chancen des russischen Sieges vermehrt haben!” -
Abgesehen davon, daß dies viele wissen, nicht nur Kommunisten, sondern
auch die weder trotzkistisch noch imperialistisch befangenen bürgerlichen
Beobachter der Ereignisse, taucht die Frage auf, wie die Bejahung dieses
Zusammenhanges im existentialistischen Sinne eine befriedigende Ant­
wort geben könnte. Denn hier steht ja die Ethik und die Geschichts­
philosophie des Existentialismus zur Diskussion; Bucharin und Stalin­
grad sind nur Probiersteine für sie. Aus Beauvoirs Frage geht hervor, daß
sie bei bejahendem Nachweis dieses Zusammenhanges über Bucharins
Hinrichtung beruhigt wäre. Schön und gut. Sie setzt aber damit die
Nützlichkeit einer Maßnahme (freilich im Dienste eines bejahungswürdi­
gen Zieles) zum Kriterium ihrer ethischen Zulässigkeit oder Verwerflich­
keit. Wie kann sie dies aber tun, wenn sie im selben Aufsatz - vom Stand­
punkt der existentialistischen Gesinnungsethik aus folgerichtig - die
Nützlichkeit als Maßstab der Ethik ablehnt? Wenn sie dort nachweisen
will, daß ein solches Kriterium für die Ethik eine unauflösbare Antinomie
mit sich führt? Sie formuliert diese Antinomie so: „Die einzige Recht­
fertigung des Opfers ist seine Nützlichkeit; aber nützlich ist, was dem
Menschen dient.”
Dieses Hin- und Hergeworfensein zwischen den beiden gleich abstrak­
ten und gleich falschen Extremen von Gesinnungsethik und Folgeethik
zeigt deutlich, wie wenig die Beauvoir imstande ist, von ihren existentia­
listischen Voraussetzungen aus zu den konkreten moralischen Fragen der
Gegenwart Stellung zu nehmen. Wir haben auf die Kant-Verwandtschaft
der neuen existentialistischen Zauberformel, daß man die eigene Freiheit
nur wollen kann, wenn man die Freiheit aller will, bereits hingewiesen.
Die Kant-Verwandt Schaft zeigt sich auch in diesem Schicksal der Lehre.
Wie die zwiespältige erkenntnistheoretische Position Kants, sein Schwan­
ken zwischen Idealismus und Materialismus, das Lenin aufgezeigt hat,
dahin führte, daß seine ganze theoretische Philosophie in ein System
von Antinomien mündet, so stößt die Beauvoir, in dem Bestreben, die
90 Die Robinsonade der Dekadenz

ethischen Fragen existentialistisch zu Ende zu denken, immer wieder


auf die Antinomie von Gesinnungsethik und Folgeethik.
Das ist kein Zufall. Diese Antinomie entspringt notwendig daraus, daß
das isolierte Individuum als das Absolute gefaßt wird und sowohl am
Anfang wie am Ende der Ethik steht. Von diesem Standpunkt aus ergibt
sich einerseits jene Verzerrung der Wirklichkeit, als könne die Gesinnung
- unabhängig von ihrem Inhalt, ihrer Richtung usw. - das alleinige
Fundament der Freiheit sein, und andererseits, als sei die soziale Welt
der Menschen, die imabhängig von ihrem Bewußtsein existiert, eine in
toter Objektivität erstarrte Welt, in welcher eine unmenschliche, höch­
stens „technisch“ beherrschbare Notwendigkeit regiert. Nun muß jede
Ethik, wenn sie wirklich eine solche sein will, die Versöhnung von Frei­
heit und Notwendigkeit erstreben. Beauvoir fühlt auch sehr lebhaft diese
Verpflichtung. Sie hat genügend Wirklichkeitssinn, um zu sehen, daß
diese Versöhnung innerhalb einer rein individuellen Ethik, also bei Aus­
schaltung der objektiven Notwendigkeit von Gesellschaft und Geschichte
unmöglich ist. Die heutige Weltlage, die Rolle des Marxismus in ihr
zwingt sie, über die eng-individuellen Schranken des ursprünglichen Exi­
stentialismus hinauszustreben: „Die Versöhnung von Moral und Poli­
tik“ , sagt sie, „ist die Versöhnung des Menschen mit sich selbst.“ Wie
kann aber eine Lehre, die in ihren grundlegenden Begriffsbestimmungen
- ontologisch - Freiheit und Notwendigkeit einander gegenübergestellt
hat, diese Versöhnung vollziehen? Die Kantsche Ethik kann auch nicht
weiter gelangen als zu einem rätselhaften Nebeneinanderbestehen, zu
einem eklektischen Dualismus von Freiheit und Notwendigkeit.
Auch die Beauvoir gelangt, wie wir gesehen haben, nicht weiter als bis
zu solchen für sie unauflösbaren Antinomien, und ihre Lösungsversuche
sind nichts anderes als ein eklektisches, undurchdachtes Nebeneinander
von Gesinnungsethik und Folgeethik.
Schon Hegel hat es klar gesehen, daß hier einseitige Abstraktionen in­
folge des abstrakten Ausgangspunkts vorliegen. Er führt in seiner
„Rechtsphilosophie” aus: „Der Grundsatz, bei den Handlungen die Kon­
sequenzen zu verachten, und der andere, die Handlungen aus den Folgen
zu beurteilen und sie zum Maßstabe dessen, was recht und gut sei, zu
machen —ist beides gleich abstrakter Verstand.“ Merleau Ponty zitiert
gelegentlich diese Sätze, ohne jedoch aus ihnen fruchtbare Folgerungen
ziehen zu können. Auch bei ihm ist dies, wie wir ausführlich zeigen wer­
den, nicht zufällig. Die Überwindung der abstrakt ausschließenden
Dualität von Gesinnung und Folge, von Subjektivität und Objektivität,
von Freiheit und Notwendigkeit setzt den philosophischen Bruch mit der
Verabsolutierung des Individuums voraus. Dieser Bruch bedeutet keines-
Die Ethik der Zweideutigkeit 91

wegs, wie Sartre meint, eine Vernichtung von Individualität oder Sub­
jektivität. Er bedeutet nur die richtige Anwendung der dialektischen Be­
ziehung von absolut und relativ auch auf diese Frage. Über die Prinzipien
dieser Dialektik des Absoluten und Relativen spreche ich im folgenden
Aufsatz ausführlich. Hier sei nur so viel bemerkt, daß dazu einerseits die
Auffassung des Menschen als eines von vornherein durch und durch ge­
sellschaftlichen Wesens notwendig ist und die Einsicht, daß auch die per­
sönlichsten Probleme des ,, einsamst en'4Individuums ihre unabtrennbare
gesellschaftliche Seite haben ; andererseits, daß die Freiheit der Menschen
zugleich ein gesellschaftliches und historisches Problem ist, und die Frei­
heit nur dann einen konkreten Inhalt und eine konkrete dialektische Be­
ziehung zur Notwendigkeit haben kann, wenn sie in ihrer historisch­
sozialen Genesis als Kampf der Menschen mit der Natur durch Vermitt­
lung der verschiedenen gesellschaftlichen Formationen aufgefaßt und die
historisch-soziale Genesis der Freiheit aus dem ursprünglichen Unter­
worfensein der Menschen unter die Naturmächte, aus den zur „zweiten
Natur" gewordenen, in diesem Kampf entstandenen Gesellschaftsformen
begriffen wird.
Es ist interessant und für die starke Einwirkung des Marxismus auf
die heutigen Problemstellungen der Existentialisten, auf ihre „Situation"
bezeichnend, daß ihre Fragestellungen nicht aus der eigenen Methode
entspringen, sondern ihnen vom Marxismus aufgezwungen werden, und
daß beide Fragen in der Beauvoirschen Analyse der Moral auftauchen,
wenn sie auch nicht imstande ist, mit ihnen gedanklich fertig zu werden.
Sie fühlt deutlich und spricht es auch aus, daß Sartres philosophisches
Hauptwerk unfähig ist, für die Lösung jener Fragen, die sie beschäftigen,
eine befriedigende methodologische Basis zu geben. Sie beschuldigt und
entschuldigt gleichzeitig das Buch Sartres damit, daß es die Probleme
auf einem anderen, abstrakteren Niveau behandelt. „Auf dem Niveau
der Beschreibung, auf das sich ,L’être et le néant‘ stellt, hat das Wort
nützlich noch keinen Sinn erhalten: es läßt sich nur definieren in der
menschlichen Welt, konstituiert durch die Projekte der Menschen und
durch die von ihm gesetzten Ziele. In der ursprünglichen Hilflosigkeit des
Menschen, aus der der Mensch entsteht, ist nichts nützlich, nichts un­
nützlich." Sowohl Beschuldigung wie Entschuldigung sind mehr gefühls­
mäßig als theoretisch. Denn es stimmt einerseits nicht, daß in Sartres
philosophischem Hauptwerk noch keine Projekte und Zielsetzungen Vor­
kommen, und andererseits ist die letzte Annahme der Beauvoir ebenfalls
falsch; wenn für den Menschen „in seiner ursprünglichen Hilflosigkeit"
das Nützliche noch nicht existiert - wie entsteht es überhaupt? Es kommt
aber hier mehr auf das dumpfe Gefühl der Unzufriedenheit der Beauvoir
92 Die Robinsonade der Dekadenz

als auf ihre philosophischen Argumente an. Denn ihre Aufsätze verraten
wirklich das Bestreben, diesen abstrakten Ausgangspunkt, ohne ihn frei­
lich radikal aufzugeben, auf ein konkreteres Niveau zu überführen. Dieses
Bestreben ist jedoch duich und durch illusorisch.
In solchen Illusionen kommt aber die latente, unbewußt gebliebene
Krise des Existentialismus klar zum Ausdruck. Denn die hier schüchtern
kritisierte fundamental-ontologische Genesis des Menschen bei Sartre ist
nichts weiter als eine geistige Robinsonade der dekadent nihilistischen
Mentalität. Wie am Anfang der Herausbildung der bürgerlichen Ideologie
der bürgerliche Roman in Defoes „Robinson” seine erste klassische Ge­
stalt erhielt, wie die gedankliche Erfassung der kapitalistischen Produk­
tionsweise, der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft bei Smith und
Ricardo aus den Austauschoperationen der einzelnen und vereinzelten
Urjäger und Urfischer abgeleitet wurde, so will jetzt der Existentialismus
den heutigen Menschen, seine Welt und seine Problematik, wie wir ge­
sehen haben, aus der „ursprünglichen Hilflosigkeit“ des einsamen und
vereinsamten Menschen begreiflich machen. Marx zeigt nun für die Öko­
nomie von Smith und Ricardo, daß dieses vereinzelte und einsame Indi­
viduum ein Produkt der entstehenden kapitalistischen Gesellschaft ist:
„In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der einzelne los­
gelöst von Naturbanden usw., die ihn in früheren Gesellschaftsepochen
zum Zubehör eines bestimmten begrenzten menschlichen Konglomerats
machten.“ Dieser Mensch, „das Produkt einerseits der Auflösung der
feudalen Gesellschaftsformen, andererseits der seit dem 16. Jahrhundert
neu entwickelten Produktivkräfte“, schwebe Smith und Ricardo vor.
Jedoch: „Nicht als ein historisches Resultat, sondern als Ausgangspunkt
der Geschichte.** Es wäre nicht schwer, zu zeigen, daß das „Vernunfts­
wesen** der Ethik Kants auf philosophischer Ebene gleichfalls das Pro­
dukt eines derartigen unhistorischen Abstrahierens, eines Projizierens des
gegenwärtigen Resultats an den Anfang, in den „Ursprung** ist.
Nach der Niederlage der 48er Revolution, nach der Auflösung der
Hegelschen Philosophie, die auf bürgerlichem Boden den Versuch unter­
nahm, über diese antihistorische Schranke des bürgerlichen Denkens
hinauszukommen, setzt die Periode der Robinsonaden wieder ein. Aller­
dings in einer subjekti vier ten und darum noch abstrakteren Form, öko­
nomisch in der Grenznutzentheorie, philosophisch im Neukantianismus.
Für beide ist es kennzeichnend, daß sie alle objektiven Bestimmungen
der Klassiker verwerfen und aus der Analyse des Bewußtseins der robin­
sonhaften Käufer und Verkäufer, beziehungsweise der ethischen Subjekte
alles abzuleiten versuchen. Während aber die klassischen Urfischer und
Urjäger wenigstens selbst ihre Fische gefangen, ihr Wild erjagt haben, tau-
Die Ethik der Zweideutigk eï, 93

sehen die psychologischen Subjekte der Grenznutzentheorie fertige Pro­


dukte (unerklärten Ursprungs) aus, und die neue Ökonomie will aus ihrer
Seele ablesen und ableiten, was eine Flasche Wasser in der Sahara wert
ist, und dies zur Grundlage der Wertbestimmung machen. Der Existen­
tialismus ist der bisher erreichte Gipfelpunkt dieser Entwicklung. Denn
auch die Sahara und das Wasser in ihr, gesehen „à travers d'un tempéra­
ment“, nämlich des abstrakten Käufers und Verkäufers, ist noch ein Bild
der blühenden gesellschaftlichen Konkretheit, verglichen mit der Gesell­
schaftsfeme der Heidegger-Sartreschen Ontologie. Freilich widerspiegelt
diese Abstraktheit sehr genau das Seelenleben der dekadenten kleinbürger­
lichen Intelligenz der imperialistischen Periode. Und weil besonders
Heidegger dies genau kennt, scharf analysiert, zuweilen plastisch und
pittoresk darstellt, ist „Sein und Zeit“ ebenso symptomatisch und daher
eine ebenso interessante und lehrreiche Lektüre wie etwa Célines „ Voyage
au bout de la nuit“.
Wir können hier unmöglich eine Analyse jener Struktur verzerrun gen
geben, die aus dieser Methode notwendig entstehen. Auf ihre Richtung
haben wir bereits früher hingewiesen. Wir müssen hier nur noch auf ein
Moment dieser Verzerrungen aufmerksam machen : auf das der Willkür.
Diese liegt im Wesen der Robinsonade. Bei den Klassikern half ihr stark
entwickeltes bürgerliches Klassenbewußtsein, ihre wirkliche Vertiefung
in die sachlichen Probleme der kapitalistischen Ökonomie, diese Willkür
- trotz der Robinsonade - wenigstens partiell zu überwinden. Je sub-
jektivistischer jedoch die Robinsonade wird, desto stärker entgleitet der
Methode jede Kontrolle über die Willkürlichkeit. Es ist ein künstlerisch
berechtigter Zufall, daß Freitag auf die verlassene Insel Robinsons ge­
langt, und Defoe entwickelt mit wirklicher Kenntnis des objektiven öko­
nomischen Prozesses und seiner wichtigsten Bestimmungen das Verhält­
nis vom Herrn und Sklaven zwischen den beiden. Sobald jedoch bei den
Epigonen dieser Sinn für Objektivität, diese sachliche Kenntnis der ob­
jektiven Wirklichkeit verschwindet, entsteht eine vollendete Willkür.
Engels gibt eine gute ironische Beschreibung dieser gesteigerten Willkür
der Robinsonade bei Dühring: „Robinson knechtet den Freitag ,mit dem
Degen in der Hand'. Woher hat er den Degen? Auch auf den Phantasie-
Inseln der Robinsonaden wachsen bis jetzt die Degen nicht auf den Bäu­
men, und Herr Dühring bleibt jede Antwort auf diese Frage schuldig.
Ebensogut wie Robinson sich einen Degen verschaffen konnte, ebensogut
dürfen wir annehmen, daß Freitag eines schönen Morgens mit einem ge­
ladenen Revolver in der Hand erscheint, und dann kehrt sich das ganze
, Gewalt'-Verhältnis um: Freitag kommandiert und Robinson muß
schanzen.“ - Dies ist nun im Existentialismus stets der Fall, wenn aus
94 Die Robinsonade der Dekadenz

dem „Mit-Sein“, aus dem „In-der-Welt-Sein“ konkrete Folgerungen über


gesellschaftliche Tatbestände gezogen werden. Denn beide Begriffe sind
so abstrakt, so entleert von jedem gesellschaftlichen Inhalt (höchstens,
daß dem „Man“ bei Heidegger der Haß der dekadenten Intellektuellen
auf die Massen, ihre Furcht vor ihnen, ihre Panik, daß die Berührung mit
der Gesellschaft der Einzigartigkeit ihrer Individualität Abbruch tun
könnte, überzeugend zum Ausdruck kommt), daß aus ihnen stets irgend­
etwas, aber auch dessen Gegenteil fundamental-ontologisch herausanaly­
siert werden kann.
Werfen wir nun einen Blick auf die historische Genesis der Freiheit bei
Simone de Beauvoir. Daß sie dieses Problem überhaupt aufwirft, ist ein
Zeichen der auch von ihr empfundenen, wenn auch für sie sicherlich
nicht bewußt gewordenen Krise des Existentialismus. Denn vom Stand­
punkt der existentialistischen Fundamental-Ontologie ist jede reale Ge­
nesis der Freiheit ein Widerspruch. Die Freiheit ist eine absolute Wesens­
bestimmung des Menschen; sie ist schlechthin, sie kann nie entstehen
oder vergehen.
Sartre sagt freilich in seinem Hauptwerk: „Wir haben in der Tat seit
unserem ersten Kapitel gezeigt, daß, wenn die Verneinung durch die
menschliche Wirklichkeit in die Welt kommt, diese ein Wesen sein muß,
das imstande ist, mit der Welt und mit sich selbst einen wirklichen Bruch
zu vollziehen; und wir haben festgestellt, daß die permanente Möglich­
keit dieses Bruches mit der Freiheit identisch ist.“ Die Freiheit ist also
eine Urtatsache des menschlichen Daseins. Sie ist von der anderen —
fundamental-ontologischen - Bestimmung seiner Existenz nicht abtrenn­
bar. Sie ist ein Komplementärbegriff der Heideggerschen „Geworfenheit“
als ontologischer Fundierung des menschlichen „Daseins“.
Damit sind wir aber wieder bei der Robinsonade angelangt. Defoes
Beschreibung ist hier in doppelter Hinsicht genial. Erstens wird er zum
wirklichen Begründer der „Geworfenheit“ als entscheidender Kategorie,
nicht des objektiven menschlichen Daseins, sondern einer jeden robinson­
haften Analyse seiner Wesen ; denn Robinson wird durch den Schiffbruch
- einsam - auf seine verlassene Insel „geworfen“ . Zweitens entsteht in
dieser „Geworfenheit“ durch Robinsons „freie“ Tätigkeit seine „Welt“
auf der Insel, die Welt der kapitalistischen Ökonomie, aus welcher er in
diese Einsamkeit, in diese völlig freie Tätigkeit „geworfen“ wurde. Was
hier in sinnlicher Konkretheit, in ökonomischer Konkretion der kapita­
listischen Lebensbedingungen entsteht, beschreiben - als Klassiker der
Robinsonade der Dekadenz - Heidegger und Sartre. Das „Geworfensein“
ist hier natürlich nur innerlich, mythisch, metaphorisch. Aber die in der
,,Geworfenheit“ und die aus ihr entstehende „Freiheit des Nichtens“ ist
Die Ethik der Zweideutigkeit 95

ebenso das Abbild des Seelenlebens der dekadenten Intelligenz, wie Ro­
binsons Tätigkeit ein Abbild der kapitalistischen Produktion war. Und
ebenso wie die ursprüngliche Robinsonade als Beweis für die Unableit­
bar keit der kapitalistischen Produktionstätigkeit dienen soll, will die
Heidegger-Sartresche Ontologie dieses Seelenleben, diese Freiheit als
letztes, unableitbares Fundament des menschlichen Daseins konstitu­
ieren.
Freilich versucht die Beauvoir diese Annäherung an die Wirklichkeit
auf existentialistische Weise. Es ist nicht die konkrete Freiheit, deren
Entstehungsgeschichte im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung der
Menschheit vor uns treten würde. Es handelt sich bei ihr nur um die
Genesis der Freiheit bei jedem einzelnen Individuum, vielleicht in einem
solchen Sinne, wie Sartre in seinem Hauptwerk vom Ausbau einer „exi­
stentiellen Psychoanalyse“ spricht. Dazu kommt, daß diese Genesis nur
scheinbar eine wirkliche Genesis ist.
Die Beauvoir gibt eher den Kontrast der phänomenologischen Be­
schreibung zweier Zustände : der freiheitslosen Kindheit und des Lebens
in Freiheit der Erwachsenen, als den wirklichen Übergang aus dem ersten
Zustand in den zweiten. Interessanter wird die Sache, wo sie diese phäno­
menologische Beschreibung zu einem Analogisieren mit bestimmten Ge­
sellschaftsproblemen benützt : „Das ist z. B. der Fall bei Sklaven, die
sich noch nicht zum Bewußtsein ihres Sklaventums erhoben haben. Das­
selbe gilt für die Lage der Frauen in vielen orientalischen Ländern/'
Diese leben, nach Meinung der Beauvoir, in einem der Kindheit analogen
freiheitslosen Zustand.
Hier würde nun für die Beauvoir die Verpflichtung entstehen, die Über­
gänge wenigstens zwischen unfreiem und freiem Bewußtsein aufzuzeigen,
um die Rolle des Freiheitsbegriffs des Existentialismus in der Mensch­
heit sent wicklung klarzulegen. Sie unternimmt diesen Versuch aber nicht.
Verständlicher weise. Denn selbst wenn sie sich rein auf die Genesis des
Freiheitsbewußtseins beschränken würde, müßte es sich auch hier zeigen,
daß das gesellschaftliche Bewußtsein der Freiheit etwas ganz anderes ist
als das, was die existentialistische Philosophie unter Freiheit versteht.
Bei der leisesten Berührung mit der konkreten Wirklichkeit löst sich
dieser Freiheitsbegriff in bloßen Schein auf. Dagegen benutzt die Beau­
voir das neugewonnene Bild von der Kindheitswelt, um bestimmte Ge­
stalten der Typologie, die sie in ihren Aufsätzen gibt (auf die wie hier
nicht näher eingehen können), zu diffamieren, indem sie von ihnen be­
hauptet, daß sie sich in die freiheitslose Kindheitswelt flüchten. Das wäre
an und für sich ein unschuldiges Vergnügen und bei der Beschreibung be­
stimmter Philistertypen gewiß von einer bestimmten, wenn auch nicht
96 Die Robinsonade der Dekadenz

allzu originellen oder tiefen Wahrheit. Freilich auch hier nicht ohne
Schiefheit, wie stets, wo mit Hilfe von Bildern analogisiert wird. Publi­
zistisch mag es wirksam sein, die Faschisten als Kannibalen, als Ver­
treter des dunkelsten Mittelalters, zu bezeichnen; gesellschaftlich ver­
schleiern diese Ausdrücke den monopolkapitalistischen Charakter der
faschistischen Barbarei. Ebenso steht es mit der Verwendung des Bildes
„Infantilismus“ für soziale Typen.
Was sind nun die Ergebnisse dieser - in Einzelausführungen oft scharf­
sinnig geschriebenen - Aufsätze? Sie sind, wie vorauszusehen war, äußerst
mager und zwiespältig. Wer von diesen Aufsätzen auch nur eine metho­
dologische Anleitung zur Lösung ethischer Fragen erwartet, muß schwer
enttäuscht werden. Denn wenn die Beauvoir verlangt, „daß solche Ent­
schlüsse nicht übereilt und leichtsinnig gefaßt werden sollen“, wenn sie
mahnt, daß eine „ausführliche politische Analyse“ vorangehen muß,
„bevor wir das Moment der ethischen Wahl setzen können“, so sind das
im besten Fall gutgemeinte Banalitäten. Auch bringt es uns nicht weiter,
wenn die Beauvoir verlangt, „daß die Handlung in ihrer Wahrheit erlebt
werde, das heißt mit dem Bewußtsein über die Antinomien, die in ihr
enthalten sind“. Sie fügt zur letzten Bemerkung hinzu: „Das bedeutet
nicht, daß man auf sie verzichten soll.“ Aber bald darauf kommt sie doch
auf den Verzicht zu sprechen und drückt darin das Wesentlichste ihrer
Ausführungen aus: „Die Handlung kann sich nicht erfüllen durch Mittel,
die ihren Sinn selbst zerstören würden. So sehr, daß es in bestimmten
Situationen für die Menschen keinen anderen Weg gibt als das Sich-
Weigern. In dem, was man Realpolitik nennt, gibt es keinen Platz für
das Sich-Weigern, denn die Gegenwart wird hier als vorübergehend be­
trachtet; es gibt das Sich-Weigern, wenn der Mensch von der Gegenwart
seine Existenz als absoluten Wert zurückfordert ; dann muß er alles ab­
solut zurückstoßen, was diesen Wert leugnet.“
Hier ist endlich ein klarer Standpunkt dargelegt. Konsequent durch­
geführt, würde diese Haltung nach allem, was die Beauvoir über das
„Ärgernis der Gewalt“ geäußert hat, etwa beim Tolstojismus, bei der
Antigewalt-Ideologie einiger deutscher Expressionisten usw. enden.
Allerdings will die Beauvoir in dieser Frage nicht alle Konsequenzen
ziehen und sich lieber im Fangnetz der Widersprüche ihrer Gewalt-Anti­
nomien verwickelt sehen, als ein solches falsch erhabenes, in Wirklichkeit
feiges Beiseitestehen dezidiert zu wählen. Leider gibt sie ihren aus sub­
jektiv ehrlichen Gründen entsprungenen Inkonsequenzen eine auf illu­
sionärem Boden erwachsene Begründung. Sie beruft sich auf die franzö­
sische Widerstandsbewegung: „Der Widerstand erstrebte nicht, wirksam
zu sein. Er war Negation, Revolte, Märtyrertum; und in dieser negativen
Die Ethik der Zweideutigkeit 97

Bewegung war die Freiheit positiv und absolut bewahrt.“ Das ist ein
Mythos. Wenn die Widerstandsbewegung Züge in die Luft gesprengt,
Gestapo-Agenten getötet, Gefangene befreit hat oder gar Partisanen-
kämpfe organisierte, so hat sie Aktionen mit sehr konkreten politischen
Zielen geführt und erstrebte selbstverständlich ihre maximale Wirksam­
keit, sowohl in bezug auf die einzelnen Handlungen als auch auf ihren
Zusammenhang mit der Befreiung Frankreichs.
Natürlich waren damals die politischen Fronten einfacher gelagert als
nach der Befreiung, obwohl ihre völlige Einfachheit ebenfalls ein Mythos
ist. Es ist menschlich verständlich, daß sich manche Leute - nicht nur
Simone de Beauvoir - aus der verwickelteren und prosaischeren Proble­
matik der Gegenwart, besonders wenn sie diese Problematik weder ge­
danklich noch politisch meistern können, in diese - romantisch idealisierte-
Einfachheit und Poésie der Widerstandszeit zurücksehnen. Wird aber
diese Sehnsucht, wie hier, gedanklich verallgemeinert, so entstehen
Mythen, und wird die Sehnsucht gar ins Absolute erhoben, so entspringt
daraus geradezu Falsches, wie in dem bald auf diese Ausführungen folgen­
den Ausspruch : „Nur die Revolte ist rein.“ Es steckt darin, was Beauvoir
im folgenden klar ausspricht, die Angst vor dem Sieg der Revolution, die
Angst, daß dieser Sieg eine „Entartung“ der ursprünglichen Prinzipien­
reinheit des ursprünglichen romantischen Enthusiasmus nach sich ziehen
könnte. Der revolutionäre Humanismus, führt die Beauvoir weiter aus,
„hat eine Kirche geschaffen, wo das Heil durch den Eintritt in die Partei
erkauft wird, wie man es früher durch die Taufe und den Ablaß erkauft
hatte“. Hier zeigt sich der Existentialismus wieder in seiner originären
Gestalt als nihilistischer Anarchismus von Intellektuellen, die zwar den
imperialistischen Monopolkapitalismus verachten, vor der wirklichen
Revolution aber eine panische Angst empfinden ; nicht notwendigerweise
aus Feigheit, wohl aber aus Angst vor einer Gefährdung ihrer isoliert­
erhabenen „Existenz“. Und diese Angst schlägt sofort in ärgste Phi­
listerei und - in der politischen Konsequenz - in ordinären Antibolsche­
wismus um.
Die Betrachtungen der Beauvoir sind insofern interessant, als sie einen
nicht un wesen tüchen Charakterzug dieses Typus enthüllen: die Angst
vor der Reife im persönlichen Leben und die Angst vor der Erfüllung in
der historisch-sozialen Welt. Beides hängt aufs engste zusammen, denn
in beiden Fällen löst ja die „Prosa“ der Objektivität die „Poesie“ des
jugendlichen Subjektivismus ab; die Prosa der echten Verwirklichung
im harten, zähen und doch stets weichenden Material der Wirklichkeit
löst die „Poesie“ der verworren imgeschiedenen Bestimmungen, die
„Poesie“ der noch ungeklärten nebelhaften Problematik ab. Hegel gibt
98 Die Robinsonade der Dekadenz

in seiner Typologie der Lebensalter, die offenkundig von Hölderlin-Er­


innerungen gefühlsmäßig gefärbt ist, folgende gute Beschreibung der
Geistesstruktur eines solchen Jünglingtums: „Der Jüngling löst die in
der Welt verwirklichte Idee auf die Weise auf, daß er sich selber die zur
Natur der Idee gehörende Bestimmung des Substantiellen —das Wahre
und Gute - , der Welt dagegen die Bestimmung des Zufälligen, Akziden­
tellen zuschreibt/*
Es ist die Tragikomödie im Leben der meisten Romantiker, daß sie
diese geistige Einstellung der Jugendlichkeit perennieren möchten. Be­
sonders jene, denen es gegeben war, in ihrer Jugend, auch in der Ge­
schichte, eine „mythische", eine heroische Periode zu erleben (1917,
Widerstandsbewegung). Wie die Romantiker nicht altern und reifen
wollen, so will diese politische Romantik nicht, daß die „Poesie" der
Umwälzung oder der heldenhaften Illegalität von der „Prosa" der Ver­
wirklichung - vom Aufbau der neuen Gesellschaft - abgelöst werde.
Hegel weist in seinen Betrachtungen auf die Abneigung vieler zum
Manne reifender Jünglinge hin, sich mit den Einzelheiten der Wirklichkeit
zu befassen. Bei Simone de Beauvoir kommt diese Tendenz klar zum Aus­
druck, indem sie die revoltierende Jugend Goethes für „authentischer"
ansieht als den späteren Goethe, der „Diener des Staates" wurde. Ohne
hier mit ihr über die „Authentizität" von „Faust I I “ oder der „Trilogie
der Leidenschaft“ streiten zu wollen, möchten wir nur bemerken, daß es
eine ziemlich „jünglinghafte" Abstraktion ist, den ganzen reifen Goethe
unter die Kategorie „Staatsdiener" zu subsumieren. Ebenso ist die
Gleichsetzung der Entwicklungen von Goethe, Barrés und Aragon reich­
lich „jünglinghaft" abstrakt. All dies ist völlig unrichtig, aber psycho­
logisch verständlich, denn in der Nacht der jünglinghaften Angst vor
jedem „Konformismus" sind tatsächlich, nach Hegels Worten, alle Kühe
schwarz, sind alle Erfüllungen - seien sie persönlicher oder gesellschaft­
licher Art - „Entartungen“ und können deshalb von wirklichen Entar­
tungen (Barrés) nicht mehr unterschieden werden.
Es ist darum nur konsequent, wenn die Beauvoir ihren Artikel mit dem
Zitieren des alten Spruchs „Tu, was du sollst, es geschehe, was geschehen
muß" abschließt. Sie wischt damit alle interessanten Bedenken und Er­
wägungen ihrer Aufsätze von der Tafel und restituiert die abstrakte Ge­
sinnungsethik von „L'être et le néant“ in ihrer ganzen, völlig abstrakten,
unfruchtbaren Reinheit. Die Zwischenbetrachtungen jedoch - obwohl
dieses Resultat sicherlich auch ohne sie hätte erzielt werden können -
behalten ihren Wert als Symptome der Krise des Existentialismus.
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 99

EXISTENTIALISTISCHE ETHIK
UND HISTORISCHE VERANTWORTUNG

Merleau Pontys Darlegungen zeigen alle diese Probleme auf einer ent­
wickelteren Stufe. Vor allem: auf Merleau Ponty hat der Marxismus am
stärksten eingewirkt, er kennt ihn von allen Existentialisten am besten,
versucht am meisten, ihn auszunutzen. Das hat einerseits zur Folge, daß
er die Fragen zumeist auf einem höheren Niveau zu stellen vermag,
andererseits, daß der Abstand zwischen seinen, sich zur Objektivität und
Wirklichkeit bewegenden Gedankentendenzen, und zwischen seinen exi-
stentialistischen Voraussetzungen noch größer ist als der, den wir bei
Simone de Beauvoir beobachtet haben. Freilich bildet der Existentialis­
mus unverändert die Grundlage seines Denkens. Aber gewisse kritische
Bedenken, die bei der Beauvoir schüchtern hervortraten, äußern sich bei
ihm weit deutlicher. Daß diese Diskrepanz zwischen neuem Inhalt und
alter Methode .bei ihm nicht wirklich offen zutage tritt, daß sie ihm selbst
nie völlig bewußt wird, hat seine Ursache im Trotzkismus, der in ihm
ständig lebendig ist. Wir werden sehen, wie diese Sympathie Merleau
Ponty jedesmal, wenn er sich dem wirklichen Verständnis des Marxismus
und den aus diesem Verständnis sich ergebenden Problemen und Folge­
rungen nähert, wieder von diesen ablenkt. Der Trotzkismus vermittelt
objektiv zwischen den pseudomarxistischen Ketzereien Merleau Pontys
(Ketzereien vom Standpunkt des Existentialismus) und seiner trotz alle­
dem bewahrten existentialistischen Orthodoxie und macht es möglich,
daß er diese Fragen eklektisch als gegenseitige „Ergänzung“ von Exi­
stentialismus und Marxismus stellt. Sartre selbst springt, wie wir gesehen
haben, resolut, von Bedenken unbelastet, hin und her und ist sich der
Widersprüchlichkeit seiner denkerischen Positionen von allen führenden
Existentialisten am wenigsten bewußt.
Werfen wir vorerst einen Blick auf Merleau Pontys beginnende kri­
tische Stellungnahme zum theoretischen Hauptwerk der Richtung, zu
„L*être et le néant“, wobei wir freilich im klaren darüber sind, daß er —
bewußt - den Existentialismus nur verbessern, ergänzen, solider fundieren,
nicht aber überwinden will. Er geht einmal von dem alten Dilemma
Determinismus und Freiheit aus und versucht, es existentialistisch zu
lösen. Er fügt hinzu : „Wir sagen nicht, daß diese Paradoxie des Bewußt­
seins und der Handlung in tL*être et le néant' vollständig gelöst wäre.
Unseres Erachtens bleibt das Buch zu exklusiv antithetisch: die Anti­
these meines Blickes auf mich selbst und des Blicks des anderen auf
mich, die Antithese von Für-sich und An-sich ergeben oft alternative
ΙΟΟ Die Robinsonade der Dekadenz

Figuren, anstatt als lebendige Verbindung und Zusammenhang des einen


Terminus zum anderen beschrieben zu sein... Wir müssen also nach
,L*être et le néant* noch auf verschiedene Erhellungen und Ergänzungen
warten/* Und an einer anderen Stelle, wo er in der Auseinandersetzung
mit dem Marxismus die Gesellschaftlichkeit der Menschen zu begreifen
sucht, sagt er: „Diese Theorie des Sozialen gibt uns tL*être et le néant*
noch nicht/* Andererseits bedarf auch der Marxismus, obwohl er nach
Merleau Pont y viel Richtiges enthält, noch einiger Ergänzungen und Be­
richtigungen, vor allem „einer Konzeption des Bewußtseins, die gleich­
zeitig Autonomie und Abhängigkeit fundiert**. „Ein lebendiger Marxis­
mus**, fügt er abschüeßend hinzu, „müßte die existentialistische For­
schung ,retten* und integrieren, statt sie zu ersticken.**
Dieses Bestreben, dem Marxismus näherzukommen, drückt sich auch
darin aus, daß Merleau Ponty im schroffen Gegensatz zu den Traditionen
der phänomenologischen Schule, die seit Husserl in ihrer Lehre die end­
lich gefundene Methode einer zeitlosen Philosophie überhaupt erblickt
hat, den Existentialismus als gedanklichen Ausdruck unserer Zeit zu
rechtfertigen versucht. In dieser Auffassung der Philosophie als Selbst­
bewußtsein der Zeit steckt eine große Konzession zumindest an Hegel,
aber auch an Marx, ein unbewußter Gegensatz zu Husserl, Heidegger und
Sartre. Dabei bleibt die innere Widersprüchlichkeit bestehen, daß für
Merleau Ponty, nach den alten Dogmen des Existentialismus, die Zeit
eine subjektive Kategorie ist, weshalb auch die Geschichte unter diesen
Voraussetzungen keine wirkliche Objektivität haben kann. Sagt doch
Merleau Ponty in seiner „ Phänomenologie der Perzeption“ : „Die Zeit ist
also kein realer Prozeß, keine tatsächliche Aufeinanderfolge, die ich ein­
fach zu registrieren hätte. Sie wird aus meiner Beziehung zu den Dingen
geboren.** Von diesen Voraussetzungen ausgehend, ist natürlich eine
Objektivität der Geschichte unmöglich. Deshalb steht Merleau Pontys
Versuch, den Existentialismus als Selbstbewußtsein unserer Periode zu
rechtfertigen, im Widerspruch zu seinen eigenen Voraussetzungen.
Dies mindert natürlich das Interessante dieser Aussprüche keineswegs,
vermehrt es unseres Erachtens vielmehr. Merleau Ponty unternimmt in
einer seiner Betrachtungen den Versuch, die marxistische Philosophie
existentialistisch zu interpretieren, indem er nachzuweisen bestrebt ist,
daß das stärkste Argument des Marxismus gegen eine Philosophie des
Subjekts gerade einen existentialistischen Charakter hätte ; er beruft sich
dabei auf die philosophischen Ausführungen des jungen Marx. In diesem
Zusammenhang faßt er das gemeinsame - marxistisch-existentialistische
oder existentialistisch-marxistische - philosophische Ideal wie folgt zu­
sammen: „Der Philosoph, der seiner selbst als Nichts und als Freiheit
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung ΙΟΙ

bewußt ist, gibt die ideologische Formel seiner Zeit; er übersetzt in Be­
griffe diese Phase der Geschichte, in welcher Wesen und Existenz des
Menschen noch getrennt sind und der Mensch nicht er selbst ist, da er
in die Widersprüche des Kapitalismus versunken ist.“ (Von mir hervor­
gehoben - G. L.)
Merleau Ponty ist sich sicher dessen nicht bewußt, daß er hier durch
seinen Versöhnungsversuch einen Bruch mit der ganzen Ontologie des
Existentialismus proklamiert. Denn diese muß notwendig - wenn sie als
Ontologie bestehen bleiben will —das Wesen des Menschen und die onto­
logischen Wesenszeichen seines Daseins (Freiheit, Situation, Mit-Sein,
In-der-Welt-Sein, das Man usw.) überhistorisch, jenseits jeder konkreten
Gesellschaftlichkeit (Kapitalismus) fassen. Die besonderen ökonomischen
Kategorien einer Epoche können für diese Methode nur Akzidenzen sein,
die innerhalb dieses überzeitlichen ontologischen Zusammenhanges als
soziale, historische, individuelle usw. Variationen, Modifikationen des
gleichbleibenden zeitlosen Wesens auftauchen. Ich will dabei gar nicht
auf Husserl, Heidegger oder Sartre zurückgehen; erinnern wir uns nur
daran, daß Simone de Beauvoir das Wesen „des“ Menschen als überzeit­
lich, als in dieser seiner Beschaffenheit von keiner Revolution veränder­
bar aufgefaßt hat.
Die Philosophie des Marxismus, die in den ökonomischen Kategorien
„Daseinsformen, Existenzbestimmungen“ erblickt, sieht dagegen in dem
Menschen - freilich in einer historischen Kontinuität —ein sich ununter­
brochen wandelndes Wesen. Der Mensch hat sich durch seine Arbeit
selbst geschaffen, das heißt, er ist durch die Arbeit aus einem Tier zum
Menschen geworden. Gelingt es einmal der Menschheit, ihre „Vor­
geschichte“ abzuschließen, den Sozialismus und Kommunismus endgültig
und vollständig aufzubauen, so entsteht, um Lenins Ausdruck zu ge­
brauchen, durch eine lange „Gewöhnung“ der Menschen an menschliche
Verhältnisse, an menschliche Beziehungen zueinander, durch ein prak­
tisches in Vergessen-Geraten der unmenschlichen Beziehungen eine
durchgreifende Änderung des „Wesens“ des Menschen. Daß der sich
historisch schaffende und sich historisch wandelnde Mensch auch be­
stimmte dauernde Beziehungen zur Welt und zu seinen Mitmenschen hat
(z. B. Arbeit, Sprache) und dadurch vermittelt bestimmte dauernde
Eigenschaften, bringt diese historisch-dialektische Objektivität des
Marxismus um keinen Schritt einer zeitlosen Ontologie der Subjektivität
näher.
Diese beiden Auffassungen können nicht miteinander versöhnt werden;
man muß zwischen ihnen wählen.Ebenso wie man zwischen dem existen-
tialistischen Begriff der Freiheit und der marxistischen historischen Dia-
102 Die Robinsonade der Dekadenz

lektik von Freiheit und Notwendigkeit zu wählen hat; man kann auch
hier nicht, wie Merleau Ponty es in einem früher angeführten Ausspruch
tat, zwischen ihnen eine Versöhnung statuieren.
Man kann diesen Betrachtungen vielleicht entgegenhalten, daß Mer­
leau Ponty in den zitierten Ausführungen nicht den Existentialismus,
sondern den Marxismus, den er freilich entsprechend existentialistisch
subjektiviert hat, charakterisieren wollte. Er kommt aber in anderen
Zusammenhängen wieder auf dieses Problem zurück und äußert sich dar­
über wie folgt: „Diese Philosophie (Merleau Ponty spricht hier von dem
Existentialismus - G. L.) ist der Ausdruck einer aus den Fugen geratenen
Welt, sagt man. Sicherlich, und das ist in der Tat die Wahrheit. Die ganze
Frage ist nur, zu wissen, ob sie uns zu Boden drückt oder heilt, indem
sie unsere Konflikte und Zerspaltungen ernst nimmt. Hegel spricht oft
von einer schlechten Identität, worunter er die abstrakte Identität ver­
steht, die die Differenzen nicht integriert und deren Manifestationen
nicht überleben wird. Man könnte in analoger Weise von einem schlechten
Existentialismus sprechen, der sich auf die Beschreibung des Schocks der
Vernunft gegenüber den Widersprüchen der Erfahrung beschränkt und
sich in dem Bewußtsein eines Mißerfolgs erschöpft/* Merleau Ponty kon­
kretisiert seinen Gedanken nicht weiter, charakterisiert vor allem den
„schlechten Existentialismus** nicht näher. Er deutet nur an, daß der
„schlechte Existentialismus** mit den nihilistischen Konsequenzen dieser
Lehre aufs engste zusammenhängt. Uns scheint, daß diese seine Be­
schreibung vollinhaltlich auf >}L*être et le néant“ paßt, und Merleau Pontys
früher zitierte kritische Bedenken deuten an, daß auch ihm zuweilen
solche Gedanken aufdämmern. Ja, wir meinen, daß - wenn man die Me­
thoden des Existentialismus konsequent zu Ende denkt —es gar keinen
„guten**, d. h. nicht nihilistischen Existentialismus geben kann.
Wie immer es auch um diese Stellung Merleau Pontys zum orthodoxen
Existentialismus stehen mag, sicher ist, daß er in der Behandlung der
von der Zeit zur Diskussion gestellten Probleme viel weiter kommt als
Simone de Beauvoir, von Sartre gar nicht zu reden. Er sagt sehr scharf
über Köstler, der die angelsächsischen Demokratien verteidigt, daß es
sich bei ihm „nicht um die Diskussion des Yogi mit dem Kommissar,
sondern um die Diskussion eines Kommissars mit dem anderen**, das
heißt um die Auseinandersetzung von Gewalt mit Gewalt handelt. Und an
einer anderen Stelle noch klarer, die meisten Argumentationen der Beau­
voir einfach beiseiteschiebend : „Wir haben nicht die Wahl zwischen Rein­
heit und Gewalt, sondern zwischen verschiedenen Arten der Gewalt.. .Wor­
über es zu diskutieren gilt, ist nicht die Gewalt, sondern ihr Sinn und ihre
Zukunft.** Und ebenfalls —bewußt oder unbewußt gegen Beauvoir - sieht
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 103

er in der „Weigerung, in dem Entschluß, nicht nur den Tod zu riskieren,


sondern lieber zu sterben, als unter der Herrschaft der Fremden oder der
Faschisten zu leben, etwas wie einen Selbstmord... Das ist ein indivi­
duelles Verhalten, das ist keine politische Position“.
Da Merleau Ponty damit die Probleme viel weiter konkretisiert, ist es
sehr zu bedauern, daß er seine Betrachtungen an eine so subalterne
journalistische Kolportage anknüpft, wie die Werke Köstlers. Wir haben
gesehen, daß er Köstlers Zentralfrage ablehnt. Über die geistige und mo­
ralische Entwicklung des Helden in dessen bekanntestem Roman sagt
Merleau Ponty: „Er geht vom Scientifizismus zu den Exzessen des Innen­
lebens über, das heißt von einer Dummheit zur anderen.“ Er entlarvt die
Heuchelei Köstlers, der über die britische Demokratie des langen und
breiten spricht, ohne die Ausbeutung eines Teiles der Welt durch sie auch
nur zu erwähnen. Er zeigt, daß bei Köstler der Antikommunismus und
der „Humanismus“ zweierlei Moral haben: die Moral, „die sie bekennen,
ist himmlisch und intransingent ; die, die sie publizieren, ist irdisch, ja
niedriger als irdisch“. Und sein Widerwille gegen die minderwertige Res­
sentiment-Atmosphäre dieser Werke dem Kommunismus gegenüber
bricht gelegentlich in einer radikalen Abweisung durch : „Am Ende sind
wir nicht dazu da, um die Jugendsünden Köstlers abzubüßen ... Man
liebt einen Menschen, der sich wandelt, weil er reift und heute mehr ver­
steht, als er gestern verstanden hat. Aber ein Mensch, der seine Position
einfach umkehrt, wandelt sich nicht, überwindet nicht seine Irrtümer.“
Obwohl er aber Köstler so energisch abschüttelt und damit einen ge­
sunden ästhetischen und moralischen Instinkt verrät, führt die Tatsache,
daß Merleau Ponty sich überhaupt auf eine eingehende Auseinander­
setzung mit solchem subalternen Renegaten einläßt, seine Ausführungen
oft auf Nebengeleise, überlastet sie mit Nebensächlichkeiten, die vom
Hauptproblem ablenken. Dieses Hauptproblem ist der Zusammenhang
von moralischer und historischer Verantwortung ; an sich eine durchaus
ernst zu nehmende Frage, die in jeder an politischen, an historischen
Wendungen reichen Periode sich notwendig in den Vordergrund drängt
und in allen Ländern, in denen es eine ernsthafte Widerstandsbewegung
gab, in denen es zu einer Bestrafung der Kollaborateure kam, die öffent­
liche Meinung stark beschäftigt.
Wir haben gesehen, daß Simone de Beauvoir diese Fragen überwiegend
von der psychologischen und subjektiv-moralischen Seite aufgeworfen
hat, und nur - gewissermaßen gegen ihren Willen, gegen ihre existentia-
listischen Überzeugungen —durch die objektive Wucht der Tatsachen
gezwungen war, die politischen und historischen Momente ebenfalls zu
berücksichtigen.
104 Die Robinsonade der Dekadenz

Bei Merleau Ponty stehen diese Momente im Vordergrund. Ihn inter­


essiert das „Drama" der subjektiven Ehrlichkeit und des objektiven Ver­
rats, wie er es in Erinnerung an den Moskauer Bucharin-Prozeß von 1938
formuliert. Wenn er über Pétain und Laval spricht, schaltet er die Be­
stechung durch die Deutschen usw. aus. „Und dennoch", sagt er, „selbst
wenn auch kein Vergehen dieser Art vorliegt, lehnen wir es ab, sie frei­
zusprechen als Menschen, die sich einfach geirrt haben." Indem Merleau
Ponty nun diesen Gedanken weiter verfolgt, entsteht bei ihm ein merk­
würdiges Gewirr von treffenden und einseitig-irrigen Anschauungen.
Erstens meint er, daß sich das Richtige und Falsche nur nachträglich,
infolge der historischen Entscheidung erhelle. Die verbrecherische Falsch­
heit der Politik der Kollaborateure des Faschismus liegt klar vor uns:
„Aber, was die Ereignisse von 1940 betrifft, woher wissen wir dies alles?
Durch die Tatsache des Sieges der Alliierten." Dann aber wäre das Ganze
eine reine Faktizität, etwas letzten Endes Zufälliges. Jedoch dabei - ob­
wohl dies nach den Lehren von „Sein und Zeit" und „L'être et le néant“
nur folgerichtig wäre - kann sich Merleau Ponty mit Recht nicht beruhi­
gen. Auch dabei nicht, daß die einen (die Helden der Resistance) die Ge­
schichte richtig, die anderen (die Kollaborateure) sie unrichtig entziffert
hätten. Denn, meint er, es ist nicht der Irrtum, den wir bei diesen ver­
achten, und es ist nicht „die Kälte der Urteilskraft und die einfache Klar­
sicht", die wir bei jenen bewundern. „Der Ruhm der Widerständler und
die Unwürdigkeit der Kollaborateure setzt gleichzeitig die Zufälligkeit
der Geschichte, ohne welche es keine politischen Schuldigen gäbe, und
die Rationalität der Geschichte, ohne welche es nur Narren gäbe, vor­
aus." „Denn", führt Merleau Ponty etwas früher, sich an Hegels „List
der Vernunft" anlehnend, aus, „in der Geschichte gibt es eine Art von
Bosheit: sie stachelt die Menschen auf, sie verführt sie, sie glauben in der
Richtung zu marschieren, in welche sie geht, und plötzlich verdeckt sie
sich, das Ereignis wandelt sich, und weist an den Tatsachen nach, daß
etwas anderes möglich ist. Die Menschen, die sie im Stiche läßt, und die
sich ein bildeten, ihre Komplizen zu sein, stehen plötzlich als Aufhetzer
zu jenem Verbrechen da, das sie inspiriert hatte."
Denkt man diese Betrachtungen zu Ende, bei denen es ohne weiteres
klar ist, daß sie im Versuch, das Verantwortungsproblem konkret histo­
risch zu fassen, viel weiter gehen als die Betrachtungen Simone de Beau­
voirs, die sich deshalb von der existentialistischen Orthodoxie auch ent­
sprechend weiter entfernen, so sieht man bei ihnen tiefgehende Mängel,
die das ganze heutige Denken Merleau Pontys durchziehen. Einerseits
wird die objektive Geschichte geradezu mystisch aufgefaßt: die Ge­
schichte wird gewissermaßen zu einer mythischen Persönlichkeit, mit
Existentialistische Ethik und historische Verantwortun

rätselhaften Absichten und Wendungen. Das alles geht stark über die
Hegelschen Mystifikationen hinaus. Verständlicherweise. Denn die Hegel-
sehe Geschichte hatte einen objektiven Inhalt und eine objektive Rich­
tung. Die „List der Vernunft“ war fast nur ein plastisches Bild, um die
richtige Erkenntnis, daß nicht die Zielsetzungen der einzelnen die Ge­
schichte regieren, klarzulegen. Bei Merleau Ponty muß aber dieser Inhalt
und diese Richtung fehlen; denn selbst, wenn er als Privatmensch oder
als Politiker etwa den Sozialismus als einen solchen Inhalt oder als eine
solche Richtung betrachtet, kann dies von seinen existentialistischen Vor­
aussetzungen aus nur seine private, subjektive Meinung sein und nicht
Inhalt und Richtung der Geschichte selbst. Darum muß bei ihm die Ge­
schichte als kokette und betrügerische Frauensperson vor uns stehen, die
nur im letzten Moment, stets nur post festum, nachträglich ihre Absichten
enthüllt. Ist aber die bloße Tatsache des Erfolgs (hier der Sieg der
Alliierten) wirklich ein alles entscheidendes Kriterium? Waren die Wider­
ständler weniger glorreich, die Kollaborateure weniger unwürdig, so­
lange der Hitlerfaschismus vorübergehend gesiegt hatte?
Die ausschließliche Beurteilung nach dem Erfolg ist die Weltanschau­
ung der reaktionären „Realpolitik“ , die ihren Höhepunkt im Faschismus
erreicht hat, und des kleinbürgerlichen Opportunismus, der sich ihr an­
paßt. Goebbels spricht diese ausschließliche Orientiertheit auf Erfolg,
deren Konsequenz es ist, daß eine erkenntnismäßige Beurteilung erst
nachträglich, nach dem Erfolg ein treten kann, in seiner bekannten zyni­
schen Weise offen aus: „Wir haben nicht die Absicht, unsere Welt­
anschauung wissenschaftlich zu begründen, sondern ihre Lehren zu ver­
wirklichen, und es sollte späteren Zeiten Vorbehalten bleiben, die Praxis
als Erkenntnisobjekt der Idee gelten zu lassen.“ Und er zieht daraus auch
die für den Faschismus notwendigen Konsequenzen: „Es ist nicht Sache
des Zeitgenossen, wissenschaftlich objektiv und nüchtern zu den Vor­
gängen in der Politik Stellung zu nehmen ... seine Aufgabe besteht darin,
historische Realitäten mitzuschaffen ...“
Natürlich sympathisiert Merleau Ponty nicht mit Goebbels, im Gegen­
teil, er will alles Faschistische leidenschaftlich ablehnen. Aber der histo­
rische Agnostizismus, der aus den philosophischen Positionen des Exi­
stentialismus notwendig folgt, muß ihn, sobald er die Beurteilung rein
nach dem ethischen Akt des vereinzelten Individuums verläßt, in die
geistige Nähe dieser zynischen Realpolitik treiben. Das von uns bereits
behandelte falsche Dilemma von Gesinnungsethik und Folgeethik (Real­
politik) entstammt eben dem agnostizistischen Verhalten der Geschichte
gegenüber. Und wenn der Existentialismus die seiner orthodoxen Form
gemäße reine Gesinnungsethik verläßt, ohne an seinen wirklichen philo-
ιο6 Die Robinsonade der Dekadenz

sophischen Grundlagen eine wirkliche Kritik zu üben, wird er notwendig


zwischen diesen falschen Extremen haltlos hin- und hergeworfen.
Natürlich gab es stets Proteste gegen diese Geschichtsauffassung der
reinen Realpolitik: „Victrix causa diis placuit,sed victa Catoni“, hat
schon Lucanus gesagt, und der Marxismus, in dem empfindsame Seelen
eine rohe, unmoralische Realpolitik wittern, sieht Thiers, den Besieger
der Kommune, als unwürdig und die besiegten Kommunarden als ruhm­
reiche Helden an. Ja, selbst dann, wenn die geschichtlichen Umstände
solcher Art waren, daß der Sieg der Freiheitsbewegung sozusagen von
vornherein ausgeschlossen, daß er objektiv unmöglich war, urteilt der
Marxismus ebenso (man denke an Spartakus, an Thomas Münzer).
Andererseits scheint es uns falsch, wenn Merleau Ponty es mit so großem
Nachdruck ablehnt, daß man bei den Widerständlern auch die richtige
historische Einsicht bewundern soll. Die bloße Gesinnung macht noch
keinen Helden. Einen Helden von reinerer Gesinnung als Don Quixote
gab es selten. Warum ist er dennoch - unbeschadet seines reinen Helden­
tums - unwiderstehlich komisch? Und warum sind die Helden einer ver­
frühten, zur Hoffnungslosigkeit verurteilten Revolution nie komisch? Ich
spreche gar nicht von Spartakus und Münzer, aber selbst einem Shake­
speare gelang es nicht, aus John Cade eine wirklich komische Figur zu
machen. Das bedeutet, daß die Richtigkeit der Einsicht in die Geschichte
und die Folgen dieser Einsicht für die moralische Persönlichkeit eine sehr
komplizierte Dialektik hat. Es handelt sich nicht nur um die konkrete
Erkenntnis der unmittelbaren historischen Situation (hier: wird Hitler
siegen?), sondern auch um den Charakter des allgemein historischen Zu­
sammenhangs, in den diese Einzelereignisse eingefügt sind.
Heroismus oder Un Würdigkeit, Tragik oder Komik der historisch han­
delnden Persönlichkeiten ist also etwas, das weitgehend durch den ob­
jektiven Inhalt, durch die reale Richtung des Geschichtsablaufs bestimmt
wird. Ob jemand siegt oder unterliegt, ist natürlich immer das Resultat
eines* wirklichen Kampfes, dessen einzelne Momente von Zufällen, von
Klugheit, Energie, Mut, Ausdauer usw. der beteiligten Menschen ab-
hängen. Aber was den realen Spielraum des Kampfes und die in ihm ent­
faltbaren moralischen Eigenschaften, ihre Art und ihren Wert bestimmt,
ist - freilich nur letzten Endes, nicht unmittelbar fatalistisch —der ob­
jektive Gang der Geschichte selbst. Es ist eine „Errungenschaft“ des
modernen Nihilismus, das Tragische und das Komische psychologistisch
zu relativieren ; ihre historische Relativität ist jedoch eine außerordent­
lich wichtige strukturell-inhaltliche Eigenschaft der objektiven gesell­
schaftlich-geschichtlichen Entwicklung selbst. Die bedeutenden Schrift­
steller haben dies stets klar gesehen. Ich erinnere nur daran, wie Balzac
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 107

die ganz entgegengesetzte moralische Haltung der republikanischen Sol­


daten und Offiziere der revolutionären Armee einerseits und der Aristo­
kraten und Bauern der Chouanbewegung andererseits schildert, wobei er
sehr richtig und nachdrücklich hervorhebt, daß individuell-moralisch, in
bezug auf Tapferkeit, Hingebung, beide auf hoher Stufe stehen, jedoch
der soziale Inhalt der Sache, der sie dienen, ihr allgemein-moralisches
Wesen verschieden, ja entgegengesetzt bestimmt. Der junge Marx hat
dieses Problem der historisch bedingten Tragik und Komik prägnant zu­
sammengefaßt : „Es ist lehrreich für sie (für die fortgeschrittenen west­
lichen Völker - G. L.), das ancien régime, das bei ihnen seine Tragödie er­
lebte, als deutschen Revenant seine Komödie spielen zu sehen. Tragisch
war seine Geschichte, solange es die präexistierende Gewalt der Welt, die
Freiheit dagegen ein persönlicher Einfall war, mit einem Wort, solange
es selbst an seine Berechtigung glaubte und glauben mußte. Solange das
ancien régime als vorhandene Weltordnung mit einer erst werdenden Welt
kämpfte, stand auf seiner Seite ein weltgeschichtlicher, aber kein persön­
licher Irrtum. Sein Untergang war daher tragisch ... Das moderne ancien
régime ist nunmehr der Komödiant einer Weltordnung, deren wirkliche
Helden gestorben sind. Die Geschichte ist gründlich und macht viele
Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase
einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie“ Natürlich sind Tra­
gik und Komik äußerste Pole. Was aber für diese Extreme gilt, gilt
auch für das Dazwischenliegende.
Damit sind wir bei der Hauptfrage angelangt : hat die Geschichte ob­
jektiv eine bestimmte Richtung? Mag diese sich auf noch so kompli­
zierten Umwegen, durch kaum vorherzusehende Zufälligkeiten hindurch
zur Geltung bringen. So sehr sich auch Merleau Ponty bemüht, sich dem
Marxismus anzunähem, so weit er sich stellenweise vom historischen Nihi­
lismus der eigentlichen existentialistischen Schule zu entfernen versucht,
hier kommt er nur zu einer eklektischen Antwort. Die Geschichte, so lasen
#

wir eben bei ihm, ist zugleich zufällig und rationell. Einerseits-anderer-
seits, wie das stets bei einer eklektischen Methode der Fall ist. Für den
Marxismus handelt es sich hier um die objektive Dialektik von Zufall und
Notwendigkeit. Um aber zum Verständnis dieser - in der Geschichte real
waltenden - Dialektik zu gelangen, deren gedanklich ungeklärtes Erleb­
nis bei Merleau Ponty zum Verlassen des orthodox existentialistischen
Standpunktes positiv aber nur zum Eklektizismus führt, ist die Einsicht
in seine Zusammenhänge notwendig. Erstens muß die schroff ausschlie-
/

ßende Gegenüberstellung von Freiheit und Notwendigkeit aufgegeben


werden; Freiheit ist erkannte Notwendigkeit, sagt die Dialektik. Also
muß die Notwendigkeit ihren starren „verdinglichten“ Charakter ver-
ïo 8 Die Robinsonade der Dekadenz

lieren, ohne ihre Objektivität, ihre Unabhängigkeit vom menschlichen


Bewußtsein einzubüßen. Zweitens muß die Objektivität des Zufalls, seine
konkrete, dialektische Wechselwirkung mit der Notwendigkeit verstan­
den werden. Die Struktur der Geschichte, daß die Notwendigkeit sich
immer nur durch Zufälle, aber letzthin im Sieg objektiver historischer
Tendenzen durchzusetzen vermag, aber sich auch stets durchsetzt.
Dieser Eklektizismus ist kein Zufall. Er hängt vielmehr mit Merleau
Pontys Auffassung der Dialektik aufs engste zusammen. In einer Pole­
mik gegen den Marxismus betont er, daß die ,,meisten Marxisten** die
Leninsche Widerspiegelungstheorie „zumindest für unzureichend halten*'.
Sie sehen in ihr, nach Merleau Ponty, „den Ausdruck einer metaphysi­
schen Philosophie, die alle Phänomene an eine einzige Substanz, an die
Materie kettet, und nicht eine dialektische Philosophie, die notwendig
wechselseitige Beziehungen zwischen den verschiedenen Arten der Phäno­
mene zuläßt..." Erstens hat Merleau Ponty sehr unrecht, wenn er in der
bloßen Wechselwirkung das echte dialektische Prinzip zu erblicken meint.
Schon Hegel wußte, daß die bloße Wechselwirkung nur „an der Schwelle
des Begriffes steht" und fügt hinzu, daß einen „gegebenen Inhalt nur
unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung zu betrachten ... in der
Tat ein durchaus begriffsloses Verhalten" ist.
Ohne „übergreifendes Moment" im einzelnen, welches ohne klar be­
tonte erkenntnistheoretische Priorität von Materie oder Geist unmöglich
ist, kann die Wechselwirkung nie wirklich dialektisch aufgefaßt werden.
Da nun Merleau Ponty erkenntnistheoretisch den „dritten Weg" aller
Existentialisten, eine Erhebung sowohl über Idealismus wie über Mate­
rialismus sucht, kann es bei ihm kein „übergreifendes Moment" (hier:
den objektiven Gehalt der Geschichte) geben, weder ein materialistisches
wie bei Marx noch ein idealistisches wie bei Hegel ; darum müssen seine
Versuche, dialektische Zusammenhänge gedanklich zu fassen, eklektisch
bleiben. Gerade das, was er dem Materialismus vorwirft, macht - freilich
erst, wenn der Materialismus ein dialektischer geworden ist - die echte
Dialektik möglich.
Dieser Eklektizismus kommt jedoch nicht nur in den Fragen der Auf­
fassung des objektiven Geschichtsablaufs zur Geltung, sondern vielleicht
noch stärker in der Reaktion der Subjekte auf diese. Gerade die von
Merleau Ponty so verachtete Widerspiegelungslehre gibt uns erst die
Möglichkeit, dem von ihm aufgeworfenen Problem wirklich näherzu­
kommen. Die Ansichten der historisch Agierenden sind für Merleau Ponty
letzte ontologische Tatsachen. Ihre Genesis und ihre dialektische Wechsel­
wirkung mit dem objektiven Gang der Geschichte läßt sich aber nicht
ontologisch analysieren, wenigstens nicht so, daß man bis zum Besonde-
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 109
1 ~ ■ ............. ■■■■■

ren gelangen könnte. Es ist vielleicht auch hier lehrreich - wenigstens die
abstrakten Ausführungen abkürzend -, auf dichterische Beispiele hinzu­
weisen. Man denke an die oben angeführte Darstellung des Kampfes
zwischen Revolution und Konterrevolution bei Balzac, und man ver­
gleiche sie mit allermodernsten dekadenten Erzeugnissen, sagen wir mit
der „Antigone“ von Anouilh. Im ersten Falle sehen wir die konkreten
historischen Umstände mit ihren konkreten, sozial und individuell ver­
schiedenen und doch gesetzmäßigen Spiegelungen in den Anschauungen
der gestalteten Menschen, die lebendige dialektische Wechselwirkung zwi­
schen Anschauung und Gesamtpersönlichkeit und Tat. Im zweiten Falle
eine fundamental-ontologische Analyse in dramatischer Form. Indem
dabei notwendigerweise alle inhaltlich historischen Bestimmungen der
menschlichen Seele entfallen (durch „phänomenologische Reduktion“
bewußt entfernt werden), müssen die Gestalten dichterisch zu Marionet­
ten, psychologisch-moralisch zu Narren und Monomanen werden. Denn,
wie Merleau Ponty richtig bemerkt hat, ohne eine Rationalität der Ge­
schichte können die in ihr handelnden Menschen nur Narren sein. Diese
Rationalität darf aber nicht nur als ein abstraktes (und eventuell un­
erreichbares) An-sich der Geschichte existieren, sondern es muß auch
aufzeigbar sein, wie dieses An-sich in den handelnden Menschen zu einem
(mehr oder weniger, wahr oder falsch) begriffenen Für-uns wird, wie das
Verwachsen mit dem objektiven Ablauf der Geschichte in den Menschen
der zur Durchsetzung des historischen An-sich berufenen Klasse aus
diesem An-sich ein Für-sich macht.
Erst die dialektische Wechselwirkung zwischen dem konkreten gesell­
schaftlichen Sein, das das Bewußtsein der Menschen bestimmt, und zwi­
schen der Widerspiegelung dieser objektiven Wirklichkeit in ihrem Be­
wußtsein ergibt hier eine wirkliche Erklärung. Erst wenn wir im klaren
darüber sind, daß alle Anschauungen der historisch Handelnden Wider­
spiegelungen derselben objektiven Wirklichkeit sind, erst wenn wir weiter
einsehen, daß Art, Quantität, Umfang usw. der Widerspiegelung selbst,
weiter ihre gedankliche, gefühlsmäßige, willensmäßige usw. Bearbeitung
in den Subjekten durch dieselbe Wechselwirkung mit dem gesellschaft­
lichen Sein bestimmt sind, haben wir einen methodologischen Zugang zu
diesen Zusammenhängen.
Merleau Ponty stellt mit Recht die Forderung, daß das Aufdecken
dieser Zusammenhänge bis zum Individuum hinunterreiche. Gerade dies
aber leistet der Marxismus, und nur der Marxismus. Die allgemeine
Theorie des gesellschaftlichen Bewußtseins kann sich natürlich nur auf
den typischen Durchschnitt richten. Jedoch der Marxismus ist keine
„Soziologie“, die diese Bestimmung als eine fatalistische Determination
ÏIO Die Robinsonade der Dekadenz

oder - wie dies bei den Modernen zu sein pflegt - als eine abstrakte, nur
registrierende Typologie auffassen würde. Er gibt im Gegenteil die be­
wegliche Struktur dieser Zusammenhänge, den realen gesellschaftlich­
geschichtlichen Spielraum, in dessen Grenzen die individuelle Bewußt­
seinsentwicklung individuell vor sich gehen und sich gleichzeitig dieser
Typik einordnen kann. Ich führe die bekannte Stelle aus der „Deutschen
Ideologie“ an, wo Marx die Lage des Individuums in der kapitalistischen
Gesellschaft ökonomisch-historisch beschreibt und damit die Gesetz­
mäßigkeiten dieses realen sozialen Spielraums für das Individuum auf­
zeigt: „Die Individuen gingen immer von sich aus, natürlich aber von
sich innerhalb ihrer gegebenen historischen Bedingungen und Verhält­
nisse, nicht vom ,reinen‘ Individuum im Sinne der Ideologen. Aber im
Lauf der historischen Entwicklung, und gerade durch die innerhalb der
Teilung der Arbeit unvermeidliche Verselbständigung der gesellschaft­
lichen Verhältnisse, tritt ein Unterschied zutage zwischen dem Leben
jedes Individuums, soweit es persönlich ist, und insofern es unter irgend­
einen Zweig der Arbeit und die dazu gehörigen Bedingungen subsumiert
ist. (Dies ist nicht so zu verstehen, als ob z. B. der Rentier, der Kapita­
list usw. aufhörten, Personen zu sein; sondern ihre Persönlichkeit ist
durch ganz bestimmte Klassenverhältnisse bedingt und bestimmt, und
der Unterschied tritt erst im Gegensatz zu einer anderen Klasse und für
sie selbst erst dann hervor, wenn sie bankrott macht.) Im Stand (mehr
noch im Stamm) ist dies noch verdeckt, so bleibt z. B. ein Adeliger stets
ein Adeliger, ein Roturier stets ein Roturier, abgesehen von seinen sonsti­
gen Verhältnissen eine von seiner Individualität unzertrennliche Quali­
tät. Der Unterschied zwischen persönlichem Individuum und Klassen­
individuum, die Zufälligkeit der Le bensbedingungen für das Individuum
tritt erst mit dem Auftreten der Klasse ein, die selbst ein Produkt der
Bourgeoisie ist. Die Konkurrenz und der Kampf der Individuen unter­
einander erzeugt und entwickelt erst diese Zufälligkeit als solche, ln der
Vorstellung sind daher die Individuen unter der Bourgeoisieherrschaft
freier als früher, weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufällig sind. In der
Wirklichkeit sind sie natürlich unfreier, weil mehr unter sachliche Ge­
walt subsum iert/4
Es ist für die bürgerliche, agnostizistische philosophische Einstellung
schwer zu begreifen, daß gerade die Widerspiegelung der objektiven
Wirklichkeit im menschlichen Bewußtsein die nicht fatalistische Ent­
wicklung der Individuen zu ihrer Klassenlage vermittelt. Schon in den
primitivsten Fällen wirkt gerade - freilich nur bei bestimmt veranlagten
Individuen - die Kenntnisnahme der Tatsachen der objektiven Wirklich­
keit jenen Bestimmungen entgegen, die vom gesellschaftlichen Sein aus
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung III

spontan und unmittelbar auf das individuelle Bewußtsein einwirken ; mit


welchem Erfolg, das ist individuell, je nach der sozialen und historischen
Lage verschieden, im Durchschnitt wird sich natürlich das gesellschaft­
liche Sein des Individuums als die ausschlaggebende Determinante er­
weisen. Aber schon das „Kommunistische Manifest“ stellt das übergehen
entwickelter Individuen zu der Klasse, „welche die Zukunft in ihren
Händen trägt“, fest. Und es ist gerade für unser Problem wichtig,
wie diese Übergänger von Marx und Engels näher charakterisiert
werden: „Ein Teil der Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen
Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet
haben.“
Es wäre aber ein Vulgarisieren des Marxismus, wenn man verkennen
würde, daß diese dialektische Genesis des Klassenbewußtseins sich auch
auf das Proletariat bezieht. Lenin, der diese Frage in seinem „Was tun!“
eingehend untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, daß aus der objek­
tiven Klassenlage selbst spontan nur das entsteht, was er „tradeunio-
nistisches Bewußtsein“ nennt. Zur Entwicklung des wirklichen revolutio­
nären, politischen Bewußtseins des Arbeiters gehört eine adäquatere,
über die spontane Unmittelbarkeit hinausgehende Erkenntnis (dialek­
tische Widerspiegelung) der gesellschaftlichen Gesamtheit. „Das poli­
tische Klassenbewußtsein“, sagt Lenin, „kann dem Arbeiter nur von
außen beigebracht werden, das heißt außerhalb des ökonomischen Kamp­
fes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unter­
nehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden
kann, ist das Gebiet der Beziehungen aller Klassen und Schichten zu
dem Staate und der Regierung, das Gebiet der Wechselbeziehungen zwi­
schen sämtlichen Klassen.“ Und Lenin hebt in seinen weiteren Ausfüh­
rungen noch besonders hervor, daß, wenn es der Arbeiterklasse gelingt,
eine Organisation der Berufsrevolutionäre zu schaffen, so muß in dieser
jeder Unterschied zwischen Arbeitern und Intellektuellen vollkommen ver­
schwinden, ganz zu schweigen vom Unterschied der Berufe der einen und
der anderen.
Die Anschauungen der Menschen als Widerspiegelungen der objektiven
Wirklichkeit, in unserem Falle des Geschichtsprozesses, sind also von viel
größerer Wichtigkeit für die Beurteilung der von Merleau Ponty auf­
geworfenen Frage, ob nämlich ihre geschichtliche Rolle Bewunderung
oder Abscheu verdient, als dieser meint. Und zwar müssen diese An­
schauungen sowohl daraufhin unt er sucht werden, von wo aus sie den
Geschichtsprozeß widerspiegeln, als auch daraufhin, bis zu welchem
Grade in diesen Widerspiegelungen ein mehr oder weniger adäquates Ab­
bild der objektiven Wirklichkeit entstanden ist.
XÎ2 Die Robinsonade der Dekadenz

Diesen ganzen Komplex der adäquaten oder inadäquaten Widerspiege­


lung berücksichtigt Merleau Ponty in seinen Analysen nicht ; darum muß
er zu eklektischen Resultaten gelangen, nämlich einerseits dazu, daß
Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer politischen Anschauung nur nach-
träglich, durch die späteren Ereignisse (hier durch den Sieg der Alliierten)
erhärtet werden kann; andererseits dazu, daß die mystifizierte Ge­
schichte die Menschen in der von ihm pittoresk geschilderten Weise narrt.
Würde es sich tatsächlich nur darum handeln, wer 1940 den voraussicht­
lichen Sieg Hitlers richtig beurteilt hat, so wäre die Fragestellung Mer­
leau Pontys, wenn auch nicht richtig, so doch verständlich. Aber 1940
hatte in der objektiven Wirklichkeit und dementsprechend in den An­
schauungen der Beteiligten eine lange Vorgeschichte, in welcher dieselben
beiden Anschauungen, die nach 1940 als Kollaborationismus und Wider­
standsbewegung bürgerkriegartig einander gegenübergestellt wurden, sich
bereits politisch maßen. Und in diesem Zusammenstoß handelte es sich
keineswegs nur darum, welche Erfolgchancen Hitler hatte, sondern vor
allem darum, welche Politik die objektiven Interessen des französischen
Volkes erforderten? Konkreter gesagt: was unter französischem Volk zu
verstehen war? Die Herrschaft der „200 Familien“ und die der mit ihnen
verbündeten Zivil- und Militärbürokratie usw. oder die wirklichen Werk­
tätigen Frankreichs? Rückt die Frage in diese Beleuchtung, so ist es klar,
daß es sich nicht - oder wenigstens nicht primär - um die Einschätzung
der Siegeschancen Hitlers gehandelt hat. Nach den Anschauungen der
Gegner der Volksfront, der Anhänger der Münchener Politik, der Kol­
laborateure (und das sind nur Etappen ein- und derselben Tendenz),
mußte jedes Opfer gebracht werden (zuerst die Preisgabe aller Verbünde­
ten Frankreichs, dann der Verzicht auf die französische Großmachtstel­
lung, schließlich der Verzicht auf seine selbständige nationale Existenz),
damit die Gefährdung dieser Herrschaft der „200 Familien“ vor An­
griffen von unten, vor den werktätigen Massen gesichert sei. Wie wenig
es sich hier um Siegeschancen gehandelt hat, ist schon daraus zu ersehen,
daß die Vertreter dieser Anschauung selbst die Aussichten Frankreichs
ununterbrochen geschwächt haben (Armeeorganisation, Lockerung des
Bündnisses mit der Sowjetunion, Verhalten während der polnischen Offen­
sive Hitlers usw.). Auf der anderen Seite standen jene, die in der Aus­
breitung des Faschismus das größte Unglück für das französische Volk
erblickt haben, die darum die Abwehr des Faschismus und im engen Zu­
sammenhang damit das Brechen der Herrschaft jener Schichten, die ob­
jektiv lange vor 1940 mit Hitler zusammengearbeitet haben, als Zentral­
aufgabe der Politik betrachteten. Daß erst von 1940 an breite Schichten,
die sich bis dahin einbildeten, in diesen Fragen abseits stehen zu können.
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung Ü3

von den Ereignissen zur Stellungnahme gezwungen wurden, ändert an


dieser Grundlinie des Bildes nichts.
Merleau Ponty unterschätzt, gut existentialistisch, die entscheidende
Bedeutung der Klassenpositionen und die von ihnen bestimmten An­
schauungen und politischen Linien. Der existentialistischen Ontologie
entsprechend, untersucht er nur die „Situation“ von 1940. Aber auch
hier ist das Schwanken der originären Grundlagen des Existentialismus
klar ersichtlich. Orthodox existentialistisch entsteht in jeder „Situation“
eine völlig neue Entscheidung, gewissermaßen aus dem Nichts. Diese
extreme Position erwies sich alsbald als unhaltbar, sogar für individuelle
Entscheidungen, geschweige denn für Politik und Geschichte. Man hat
deshalb, mit sichtbarem Widerwillen, etwas Wasser in den reinen Wein
der Kierkegaard-Heideggerschen Lehre gegossen und versuchte, die aus­
schlaggebende Priorität der „Situation“ und des in ihr gefaßten Ent­
schlusses doch aufrechtzuerhalten. So sind eklektische Kompromisse ent­
standen, wie in unserem Fall, in welchem Merleau Ponty das Jahr 1940
einerseits historisch zu begreifen sucht, andererseits als „Situation“ stili­
siert und isoliert.
Psychologisch ist diese Anhänglichkeit an die „Situation“ und an die
ganze Methodologie, die damit zusammenhängt, verständlich. Denn es
handelt sich nicht nur um eine zentrale Frage der existentialistischen
Ontologie, sondern um eine jener Fragen, in denen die relative Berechti­
gung des Existentialismus zum Ausdruck gelangt. Es ist nämlich richtig,
daß die Kontinuität des individuellen Lebens, wie die des aus Individuen
zusammengesetzten gesellschaftlichen Lebens, den eigenartigen Charakter
zeigt, daß die Kontinuität - der abstrakten Möglichkeit näch betrachtet -
in jedem einzelnen Moment unterbrochen werden kann. Wenn ich etwa,
um ein Beispiel in Sartres Stil anzuführen, spazierengehe, besteht in
jedem Augenblick die Möglichkeit, daß ich mich umdrehen, nach Hause,
in ein Restaurant oder Theater gehen kann, und dort kann sich dasselbe
Spiel wiederholen und wiederholt sich auch oft im Alltagsleben. Im ge­
sellschaftlichen Leben schon viel seltener, und dies hat eine nicht un­
wesentliche theoretische Bedeutung. Denn wenn ich nicht vom Spazier­
gang spreche, sondern sagen wir davon, ob ich meine amtlich vor­
geschriebene Vorlesung halten werde, so gehört - der abstrakten Möglich­
keit nach —auch hier ein Entschluß dazu, und ich könnte mich jedesmal
entschließen, statt meine Vorlesungen zu halten, sagen wir, in ein Café
zu gehen. Daß dies nicht geschieht, nur in einem besonders motivierten
Fall geschehen könnte, ja, daß die Frage nicht einer gewissen Komik ent­
behrt, ist nicht nur eine soziale Tatsache, sondern hat auch eine theore­
tische Bedeutung, daß nämlich die Analyse des Existentialismus über
ïi4 Die Robinsonade der Dekadenz

solche „Situation“, ihre betonte Ablehnung der Verursachung, ja der


Motivation prinzipiell falsch ist. Und damit wird das relativ Berechtigte
in etwas Einseitiges und Starres, Schiefes und Falsches verwandelt. Als
Moment der Kontinuität des Lebens, als abstrakte Möglichkeit, die sich
unter bestimmten Umständen als eine konkrete Möglichkeit (die ernst­
hafte Erwägung des Entschlusses infolge gewichtiger Motive) und eben­
falls unter bestimmten Umständen in eine Wirklichkeit (der Entschluß,
mit der bisherigen Kontinuität meines Lebens zu brechen) verwandeln
kann, ist diese Feststellung richtig. Sie kann, wenn sie innerhalb der
richtigen Proportionen ihrer Geltung, also unter Berücksichtigung der
inneren und äußeren Verursachungen und Motivationen sowie ihrer dia­
lektischen Verflechtung gebraucht wird, nützlich und lehrreich sein. Als
selbständig gewordenes, isoliertes, zentrales Prinzip des menschlichen
Handelns, als ontologische Analyse der „Situation“, wobei die wichtigen
Unterschiede von abstrakter und konkreter Möglichkeit usw. ausgelöscht
werden, verzerrt diese Auffassung die ganze Struktur, alle Proportionen
des menschlichen Handelns und hebt die eigene relative Richtigkeit auf.
Dies ist, glaube ich, sehr deutlich zu sehen in Merleau Pontys Analyse
des Jahres 1940 als einer „Situation“.
Unsere ganze Frage kompliziert und konkretisiert sich aber noch da­
durch, daß weder die objektive geschichtliche Wirklichkeit noch unsere
Anschauungen, die sie widerspiegeln, unser gesellschaftliches Sein, das
Art, Umfang usw. unserer Widerspiegelung bestimmt, Stillstehen. Sie be­
finden sich im Gegenteil in einem ununterbrochenen Wandel. Konkret
haben wir diesen Wandel ununterbrochen berücksichtigt, es kommt jetzt
nur darauf an, aus seiner Wirksamkeit die notwendigen theoretischen
Folgerungen zu ziehen. Vor allem sei festgestellt, daß die beiden Wand­
lungen, die objektive wie die subjektive, keineswegs eine mechanische,
eine fatalistische Parallelität zeigen. Um den hier wichtigen Tatbestand
möglichst vereinfacht darzustellen : entweder können die Anschauungen
der Individuen den Ereignissen in der objektiven Wirklichkeit voran­
eilen, das heißt Tendenzen, die in ihr nur latent sichtbar sind, in ihrer
wahren Bedeutung begreifen - oder sie können hinter ihnen Zurückblei­
ben, bei Anschauungen verharren, die scheinbar der objektiven Wirklich­
keit oder wenigstens gewissen Seiten von ihr entsprechën, die jedoch früher
oder später von der objektiven Entwicklung selbst widerlegt werden.
Auch in dieser künstlich vereinfachten Form wird es deutlich, daß das
Merleau-Pontysche Mysterium von der „Bosheit“ der Geschichte auf der
Grundlage einer solchen Methode in Vernunft aufgelöst werden kann.
Diese Frage hat aber eine größere Tragweite und berührt sich eng mit
einem zentralen Problem der Wirklichkeitsauffassung des Existentialis-
Existentialistisehe Ethik und historische Verantwortung 115

mus, mit der bloßen Wahrscheinlichkeit (probalibité) unserer Erkenntnis


der Außenwelt. Wenn der Existentialismus nur polemisch gegen jenen
mechanisch-fatalistischen Objektivismus auftreten würde, der meint, daß
bei Bekanntsein der „Elemente“ der Wirklichkeit und ihrer gesetzlichen
Zusammenhänge, zukünftige Ereignisse der Geschichte mit astronomi­
scher Genauigkeit vorausberechenbar wären, so wäre sein Standpunkt
relativ berechtigt. Allerdings gibt es heute nur wenige Vertreter solcher
Anschauungen. Wenn aber von diesem Gesichtspunkt aus gegen den
Marxismus polemisiert wird, wie dies Sartre tut, so zeigt dies eine grobe
Unkenntnis von dessen Wesen. Marx hat derartige Kindereien immer
scharf abgelehnt, und als einmal Bucharin mit solchen Ansichten auftrat,
wurde er von Lenin energisch kritisiert.
Die fehlerhafte Anwendung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs seitens des
Existentialismus geht aber noch weiter. Ausgehend von modisch reak­
tionären, philosophisch dilettantenhaften Popularisierungen der Rolle der
Wahrscheinlichkeitsrechnung in der modernen Physik, die in völlig un­
philosophischer Weise Wahrscheinlichkeit und Verursachung einander
gegenüberstellen (weil sie Kausalität und Voraussagbarkeit metaphysisch
identifizieren!), gebrauchen die Existentialisten die Kategorie der Wahr­
scheinlichkeit dazu, um ihren historischen Agnostizismus, der aus ihrer
Fundamental-Ontologie folgt, in ein modem-wissenschaftliches Gewand
zu hüllen, wo doch jeder Naturforscher (im Gegensatz zu den „natur­
philosophischen“ Modedenkem) genau weiß, daß die Wissenschaft durch
die richtig angewendete Wahrscheinlichkeitsrechnung an Sicherheit der
Aussage (auch der Voraussage) nichts verloren, sondern vieles gewonnen
hat. Der Marxismus hat von Anfang an nicht mit fatalistisch-mechanischen
Gesetzen gearbeitet. Solche Grundbegriffe wie „Tendenz“ , in jenem objek­
tiven Sinn genommen, wie ihn Marx im „Kapital“ verwendet, zeigen dies
sehr deutlich. (Daß es zum Wesen des dialektischen Materialismus gehört,
daß unsere Erkenntnisse immer nur Annäherungen an die objektive
Wirklichkeit sein können, wird im folgenden Aufsatz dargelegt.) Und
da der Marxismus die Geschichte als von den Menschen, als von uns selbst
gemachte Geschichte betrachtet, ist es klar, daß er diese ihre Wesens­
art in allen Kategorien der geschichtlichen Wirklichkeit nachweist (tat­
sächliche Höhe des Arbeitslohns innerhalb des objektiv-ökonomischen
Spielraums als Resultat des Kampfes zwischen Kapitalisten und Ar­
beitern) und die geschichtliche Wandlung, vor allem die Revolutionen
nicht als automatische Zusammenbrüche eines Systems, sondern als
Resultat eines Kampfes ansieht.
Merleau Ponty wird hier vielleicht fragen, worin dann die Meinungs­
verschiedenheit zwischen den Marxisten und ihm bestehe. Die Lage ist
ιι6 ie Robinsonade der Dekadenz

jener ähnlich, die wir soeben in bezug auf die „Situation** untersucht
haben. Es fragt sich, ob der Wahrscheinlichkeitscharakter unserer Er­
kenntnisse über die geschichtliche Wirklichkeit, über die Gegenwart und
die in ihr wirksamen, in die Zukunft weisenden Tendenzen die einzig
mögliche Art einer Annäherung an die Erkenntnis der objektiven Wirk­
lichkeit ist, die deshalb unbeschadet der Unaufhebbarkeit des Relativi­
tät smoments an ihr —so weit sie innerhalb dieser Grenzen die objektive
Wirklichkeit richtig widerspiegelt —zugleich auch eine absolute Erkennt­
nis ist? Oder folgt aus diesem Moment der Relativität ein Relativismus
in unserer ganzen Erkenntnis der Wirklichkeit, vor allem der historischen?
Es ist wieder klar, daß der orthodoxe Existentialismus unbedingt die
zweite Frage bejahen wird. Bei Sartre - ich zitiere absichtlich aus seiner
späteren Broschüre, weil er sich in ihr, wie wir gesehen haben, einige
Schritte vom Nihilismus seines Hauptwerks zu entfernen scheint —ge­
schieht der Entschluß rein ins Nichts hinaus, bei Ablehnung einer jeden
Perspektive im objektiven Sinne: „Morgen, nach meinem Tode, können
sich die Menschen entschließen, den Faschismus einzuführen... Von
diesem Augenblick an wird der Faschismus die menschliche Wahrheit
sein ; um so schlimmer für uns. In Wirklichkeit, die Dinge werden so, wie
der Mensch sich entscheiden wird, daß sie sein sollen/* Und an einer an­
deren Stelle desselben Buches lehnt er - wie auch Simone de Beauvoir -
den Fortschritt ab: „Der Fortschritt ist eine Verbesserung; der Mensch
ist immer derselbe, angesichts einer Situation, die wechselt, und die Wahl
bleibt immer eine Wahl in einer Situation.** Solche Zitate könnte man in
unbeschränkter Zahl anführen, aber der Gegensatz tritt hier, scheint uns,
bereits hinreichend klar zutage.
Freilich geht Merleau Ponty in letzter Zeit weiter als Sartre :, ,Die Ge­
schichte bietet uns Linien in den Tatsachen, die es in die Richtung der
Zukunft zu verlängern gilt, aber sie eröffnet uns nicht mit einer geo­
metrischen Evidenz die Linie der privilegisierten Tatsachen, die die Ge­
schichte der Gegenwart endgültig umreißen wird, wenn sie sich einmal
erfüllt haben wird. Vor allem, wenigstens in bestimmten Augenblicken,
ist in den Tatsachen nichts fixiert, und es ist gerade unser Abseitsstehen
und unser Eingreifen, das die Geschichte erwartet, um eine Form zu er­
halten. Das will nicht besagen, daß wir was immer tun können ; es gibt
Grade der Wahrscheinlichkeit, die nicht wertlos sind.** Die Entfernung
von Sartre ist offensichtlich. Die letzten Sätze zeigen eine deutliche Nei­
gung, sich der Objektivität der Geschichte zu nähern. Und wenn wir hier
wieder fragen: Woher weiß Merleau Ponty das? Woher nimmt er den
Maßstab zur Beurteilung des Grades der Wahrscheinlichkeit? (wir fragen
den existentialistischen Philosophen Merleau Ponty und nicht den Privat-
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 117

menschen von gesundem Menschenverstand), so tun wir dies nicht, um


ihn zu schikanieren, sondern um Methodologisches aufzuklären. Denn
erstens arbeitet er wieder mit der „geometrischen Evidenz“, die eben der
polare Ergänzungsbegriff zum historischen Agnostizismus ist. Zweitens
wird seine früher boshafte Dame Geschichte diesmal launisch: einmal
deutet sie wenigstens an, wohin sie gehen will, das andere Mal verbirgt
sie sich. Dies ist schon allgemein philosophisch falsch, denn, wenn Ten­
denzen objektiv überhaupt erkennbar sind, so sind sie es immer, nur sind
eben bestimmte Menschen unter bestimmten Umständen aus Klassen­
vorurteilen usw. nicht befähigt, sie wahrzunehmen.
Besonders falsch ist endlich die spezifische Form dieser Merleau-
Pontyschen Verborgenheit der Geschichte. Er möchte damit die Not­
wendigkeit der Aktivität, des Entschlusses philosophisch begründen, die
Atmosphäre der völligen Verlassenheit, die wahre „Situation“ in die Be­
griffsbestimmung der revolutionären Lage einführen. In Wirklichkeit
steht die Sache völlig umgekehrt : gerade in revolutionären Situationen
treten die gesellschaftlichen Tendenzen besonders plastisch, besonders
deutlich hervor; gerade weil der Kampf der Tendenzen aufs äußerste zu­
gespitzt ist, hat das aktive Eingreifen der Menschen eine ausschlag­
gebende Bedeutung. Es gibt also eine Wichtigkeit der Subjektivität in
der Geschichte, aber aus gerade entgegengesetzten Gründen, wie Merleau
Pont y meint: in engstem Zusammenhang mit der objektiven Entwick­
lung und nicht in Momenten, in denen die objektive Geschichte an­
geblich schweigt, sich verbirgt.
Wir sehen also, daß Merleau Ponty, obwohl seine Denktendenzen un­
unterbrochen um die Objektivität der Geschichte kreisen und diese im­
mer wieder streifen, doch unwiderstehlich von der „Situation“ mit ihrer
völligen Verlassenheit, von der unerkennbaren Zukunft, von der gleichen
Relativität und gleichen Subjektivität aller Aussagen über die Zukunft
angezogen wird.
Die entscheidende Anziehungskraft ist der Trotzkismus. Denn nur
wenn eine solche Relativierung stattfindet, kann man das kommunisti­
sche Urteil über Trotzki, Bucharin usw. ablehnen oder es - wie dies
Merleau Ponty tu t - abschwächen. Nur der historische Relativismus und
Agnostizismus kann hier die Atmosphäre einer echten Tragik schaffen.
„Stalin, Trotzki und selbst Bucharin, jeder von ihnen hat im Milieu der
historischen Zweideutigkeit seine Perspektive, und jeder setzt auf sie sein
Leben. Die Zukunft ist nur wahrscheinlich, aber sie ist keine leere Zone,
wohin wir unmotivierte Projekte konstruieren ; sie zeichnet sich vor uns
ab wie das Ende des angefangenen Tages, und diese Zeichnung sind wir
selbst. Auch die sinnlichen Dinge sind nur wahrscheinlich, denn wir sind
118 Die Robinsonade derDekadenz

noch weit entfernt von der Vollendung ihrer Analyse ... Dieses Wahr­
scheinliche ist für uns das Wirkliche, man kann es nicht entwerten, in­
dem man an eine Chimäre der Apodiktizität appelliert, die in der mensch­
lichen Erfahrung nirgends fundiert ist.“
Wir sehen also wieder das alte falsche Dilemma von starrer Apodikti­
zität und Relativismus. Merleau Ponty identifiziert hier das Annähernde
der Erkenntnis mit ihrer bloßen Wahrscheinlichkeit, das heißt bei ihm,
mit ihrer Relativität; hier aber mit der deutlichen Absicht, die „Linien
der Voraussicht“ von Stalin und Trotzki relativistisch auf einen Nenner
zu bringen. Wenn Merleau Ponty an anderen Stellen vom Versagen der
Perspektive usw. bei Trotzki spricht, wenn er es gelegentlich als Fak­
tizität anerkennt, daß die Linie Stalins sich als richtig erwiesen hat, so
ist dies hier noch viel mehr als im früheren Beispiel von der „Situation
1940“ eine Laune der boshaften Göttin Geschichte, nicht der Sieg der
richtigeren Annäherung an die objektive Wirklichkeit der Geschichte
über die unrichtige und falsche. Und diese Atmosphäre der tragischen
Verklärung wird noch gesteigert durch die Zukunftsperspektive, die Mer­
leau Ponty gibt: „Wie die Kirche wird einmal vielleicht die Partei jene
ehren, die sie verdammt hat, wenn eine neue Phase der Geschichte den
Sinn ihres Verhaltens ändern wird.“
Es soll natürlich nicht geleugnet werden, daß Merleau Ponty einige der
gröbsten Dummheiten Trotzkis ablehnt, daß z. B. der zweite Weltkrieg
der letzte Probierstein des Marxismus sei ; führt dieser nicht zum Sozialis­
mus, so erweist sich der Marxismus als Utopie ; daß er einsieht, „das poli­
tische Leben wäre für ihn unmöglich geworden“. Trotzdem bleibt sein
Denken in vielen entscheidenden Punkten vom Trotzkismus stark beein­
flußt. Schon daß er eine Reihe der blödesten Verleumdungen über die
Sowjetunion nachplappert, deren Sammlung und Verbreitung nur eines
Köstler würdig ist, zeigt dies. Wir beschränken uns hier, wo die theore­
tischen Fragen im Vordergrund stehen, nur auf ein Beispiel: er führt
Stalins Kampf gegen die Gleichmacherei in der Lohnfrage unter den Tat­
sachen an, die beweisen sollen, der Bolschewismus hätte sich von der
klassischen Theorie des Marxismus entfernt, er befinde sich theoretisch
im Niedergang, nähere sich dem Pragmatismus usw. usw. Dabei wäre
keine eingehende Quellenforschung nötig, um zu wissen, daß die Diffe­
renzierung der Löhne von Marx schon im Jahre 1875 in der „Kritik des
Gothaer Programms“ als eine der ökonomischen Grundtendenzen der
ersten Phase des Sozialismus theoretisch begründet wurde.
Es kommt hier nicht auf Details an, denn wichtig ist die theoretische
Einwirkung des Trotzkismus auf Merleau Ponty. Alle konkreten Aus­
lassungen Trotzkis faulen längst auf dem Misthaufen der Geschichte, eine
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 119

seiner Einwirkungen ist aber heute noch vorläufig lebendig : das Ablenken
von den konkreten Zentralfragen der Gegenwart und im Zusammenhang
damit ein Maskieren des theoretischen und praktischen Nihilismus mit
revolutionären Phrasen. Trotzkis Absicht war ursprünglich vielleicht
nicht, prinzipiell von diesen Fragen abzulenken; er hat sie „nur"
grundfalsch beantwortet, indem er zwischen Arbeiter- und Baueminter-
essen eine unüberbrückbare Gegensätzlichkeit statuierte. Da aber daraus
das Leugnen der Möglichkeit, den Sozialismus in einem Lande aufzu­
bauen, erwuchs, da dieses Leugnen zum Banner der Konterrevolution
wurde, zu ihrem Versuch, die Arbeiter und die rebellisch veranlagte In­
telligenz in einen Gegensatz zur Sowjetunion zu bringen, ist diese Ab­
lenkungstendenz in breiten linken Kreisen zu einer Zentralfrage ge­
worden. Je mehr die ökonomische, politische und kulturelle Entwicklung
den Sozialismus als Perspektive in den Mittelpunkt des Interesses rückt,
desto mehr wird die Stellungnahme zur Sowjetunion ein Probierstein
nicht nur für alle politischen, sondern auch für alle weltanschaulichen
Fragen. Denn nicht nur politisch muß eine Perspektivenfrage konkret ge­
stellt werden, sondern auch weltanschaulich. Nur eine konkrete Perspek­
tive der Zukunft ist imstande, den weltanschaulichen Nihilismus theo­
retisch zu überwinden. Und eine andere Perspektive als den Sozialismus
gibt es nicht.
Wenn wir nun sagen, daß Menschen von heute, die das Bedürfnis nach
theoretischer Reinlichkeit haben, zwischen der Perspektive des Sozialis­
mus und dem philosophischen Nihilismus zu wählen haben, so bedarf dies
einer wenigstens skizzenhaften Begründung. Solange die Philosophie ein
theoretisches Vorspiel zur Französischen Revolution, eine ideologische
Vorbereitung des erhofften „Reiches der Vernunft" war, mußte die Philo­
sophie, um eine Perspektive geben zu können und nicht nihilistisch zu
sein, keineswegs direkt an die Geschichte appellieren. Die Wirklichkeit,
die der Philosophie zugrunde lag, war der Kampf der entstehenden bür­
gerlichen Gesellschaft mit dem überlebten Feudalismus, philosophisch
ausgedrückt : der Vernunft mit Unvernunft und Chaos. Zweitens konnte
die Philosophie dabei - gleichviel, ob erkenntnistheoretisch, ontologisch
oder psychologisch - vom isolierten Individuum ausgehen, konnte be­
liebige philosophische Robinsonaden schaffen, sie verlor dabei doch nicht
ihre Gesellschaftlichkeit, ihre implizite Fortschrittlichkeit und damit ihre
Perspektive. Denn für die fortgeschrittensten Denker vor der Franzö­
sischen Revolution bestand die welthistorisch berechtigte Illusion, daß
aus dem individuellen Handeln der einzelnen, egoistischen Menschen der
bürgerlichen Gesellschaft spontan und gesetzmäßig eine vernünftige und
harmonische Gesellschaft entstehen könne, ja müsse. Ein wenig paradox
120 Die Robinsonade der Dekadenz

zugespitzt kann man sagen: die ökonomische Grundkonzeption von


Adam Smith ist die - freilich implizite - Fundamentierung aller großen
Philosophien vor der Französischen Revolution.
Diese Seinsgrundlage der Philosophie ändert sich infolge des Sieges
der Französischen Revolution und des Vollzugs der industriellen Revolu­
tion in England. Erstens zwingt sich dem Denken die Historizität der
Welt, vor allem die der Menschheit auf. Das bedeutet konkret, daß das
„Reich der Vernunft“, das sich in seiner Verwirklichung, wie Engels
geistreich sagte, als Reich der Bourgeoisie entpuppte, als transitorischer
Zustand der Menschheit gefaßt werden mußte. Willeine Philosophie diesen
welthistorischen Übergangscharakter des Kapitalismus verwischen, so
wird sie im steigenden Maße perspektivenlos. Nur bei völliger Resigna­
tion, nur bei einem Bekenntnis zur „Ohnmacht der Vernunft“, zum
reinen und bloßen Sollenscharakter aller Vernunftskategorien kann man
den Kapitalismus als Perspektive der Menschheitsentwicklung akzep­
tieren. Dieser resignierende Nihilismus steigert sich in der imperialisti­
schen Periode zu einem verzweifelten oder zynischen Nihilismus, eben­
falls auf der Grundlage dieser Perspektivenlosigkeit ; daß alle Geschichts­
mythen der Reaktion von Nietzsche über Spengler bis zum Faschismus als
verlogene Versuche, diesen Nihilismus mit Mythen zu übertünchen, zu fas­
sen sind, bedarf, glaube ich, heute keiner ausführlichen Begründung mehr.
Die ökonomisch-soziale Entwicklung des 19.-20. Jahrhunderts hat
aber für die Philosophie nicht nur die Unmöglichkeit einer überhisto­
rischen gedanklichen Fundierung der Menschheitsprobleme nachgewiesen,
sondern auch die Unmöglichkeit des Ausgehens vom isoliert gedachten
Individuum und seinem Bewußtsein. Seitdem die reale ökonomische
Entwicklung die Unrichtigkeit der Smith-Ricardoschen Konzeption hand­
greiflich gezeigt hat, daß nämlich aus der Gesamtheit der individuellen
Handlungen keine gesellschaftliche Harmonie entstehen kann, sondern
ein Chaos von Krisen und Kriegen zustande kommen muß, das immer
stärker in die Richtung einer allgemeinen Barbarisierung der Menschheit
drängt, hat das philosophische Ausgehen vom Individuum - wiederum
gleichviel, ob erkenntnistheoretisch, ontologisch oder psychologisch -
jene implizite Basis verloren, die sich wenigstens auf eine welthistorisch
berechtigte Illusion gestützt hatte.
Diese Lage ist bewußt - oder gar philosophisch - heute den wenigsten
klargeworden. Aber das sich im Leben immer stärker zur Geltung brin­
gende gesellschaftliche Sein wirkt im steigenden Maße auf das Denken
der Menschen und sogar der Philosophen, bei denen infolge von jahr­
hundertalten methodologischen Überlieferungen die Remanenz der Ideo­
logie am zähesten zu sein pflegt. Schon die Einführung etwa des „Mit-
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 121

Seins" in die Ontologie Heideggers ist ein Zeichen dieser nicht bewußt
gewordenen Einwirkung. Die von uns geschilderte Krise des französischen
Existentialismus spiegelt diese Spannung zwischen den vom gesellschaft­
lichen Leben aufgedrängten Problemen und der ideologischen Remanenz
ihrer philosophischen Methodik deutlich wider. Diese Remanenz haben
wir gerade bei Merleau Ponty studieren können, der unter den Existen-·
tialisten die feinste Empfindlichkeit für die neuen Probleme zeigt, bei
allen seinen Versuchen, die soziale Wirklichkeit der Gegenwart zu er­
fassen.
Es kommt hier noch darauf an, den Zusammenhang dieser existentia-
listischen Remanenz mit der Remanenz der trotzkistischen Anschauun­
gen und Stimmungen aufzuzeigen. Dazu ist aber ein weiterer kleiner
historischer Exkurs nötig : Merleau Ponty wäre nämlich vielleicht geneigt,
sich mit dem, was er „klassischen Marxismus" nennt, auszusöhnen; er
erhebt vor allem Einwände gegen die heutige Form des Marxismus, gegen
den Marxismus-Leninismus, der von den kommunistischen Parteien ver­
treten wird. Merleau Ponty hat dabei vom Trotzkismus (trotz seiner Ab­
lehnung vieler konkreter Anschauungen Trotzkis und seiner Anhänger)
zwei miteinander eng zusammenhängende Einstellungen übernommen
und aufbewahrt: erstens ein Mißtrauen gegen den Sozialismus in der
Sowjetunion, zweitens eine Ablehnung jener Politik der kommunistischen
Parteien, die diese seit dem VII.Weltkongreß der Kommunistischen
Internationale (1935) verfolgen. Über die erste Frage haben wir schon ge­
sprochen und als Beispiel Merleau Pontys Verständnislosigkeit für die
Abstufung der Löhne in der Sowjetunion angeführt. Wir ergänzen dies
hier nur mit einem Ausspruch Merleau Pontys: „Wenn morgen die So­
wjetunion Europa zu erobern und in allen Ländern ein Regime nach ihrer
Wahl einzuführen drohte ... Das ist nicht die Frage von heute." Merleau
Ponty lehnt also die Auffassung der Konterrevolution von Hitler und
Rosenberg bis Trotzki, daß die Sowjetunion ein imperialistisch-aggres­
siver Staat sei, nicht prinzipiell ab, sondern betrachtet die „sowjetistische
Aggression" nur als etwas, das heute nicht aktuell sei. Er grenzt sich also
nur taktisch und nicht prinzipiell von der antisowjetischen Konterrevo­
lution ab.
Für die zweite Tatsache ist bezeichnend, daß Merleau Ponty in allen
seinen Ausführungen nie - auch nicht mit der leisesten Andeutung - auf
den Kampf um die neue Demokratie in Frankreich und in der übrigen
Welt eingeht, auf jenen Kampf, der für unsere Gegenwart das Schicksal
der Entwicklung, auch das Schicksal der Perspektive des Sozialismus
entscheidet. Es scheint, daß er gerade hier die Grundlage der angeblich
theoriefeindlichen Entwicklung der letzten Phase des Marxismus, der
122 Die Robinsonade der Dekadenz

„pragmatistischen“ „Realpolitik0 der marxistischen Parteien erblickt, die


seiner Meinung nach eben die Entfernung vom „klassischen“ Marxismus
verursacht hat.
Merleau Pont y versteht offenbar, was er gelegentlich auch ausspricht,
unter „klassischem Marxismus“ jene trotzkistische Auffassung, die schon
im Rußland von 1905 den realen, wenn auch komplizierten Übergang von
der demokratischen Umwälzung zum Sozialismus abgelehnt und später
- z. B. zur Zeit von Brest-Litowsk - stets im Namen der „revolutionären
Phrase“ (Lenins Charakteristik über Trotzki) bestritten hat, und die
gegen jene wirklichen Maßnahmen kämpfte, die zur Rettung oder Weiter­
führung der Revolution nötig waren. Daß diese Herrschaft der „revo­
lutionären Phrase“ mit einem prinzipienlosen Opportunismus in nicht­
akut revolutionären Lagen durchaus verträglich war, überrascht keinen
Marxisten. (Trotzkis Rolle in der Schaffung des „Augustblocks“ aller
Opportunisten im Jahre 1910.) Lenin hat schon in „Was tun?“ den inne­
ren ideologischen Zusammenhang zwischen dem individuellen Terror der
Sozialrevolutionäre (revolutionäre Phrase) und dem politischen Opportu­
nismus nachgewiesen. Ein Sozialrevolutionär drückte diesen Zusammen­
hang witzig in einem Gespräch mit dem damals noch nicht entlarvten
Lockspitzel Asew, dem „Organisator der großen Attentate“, so aus: „Im
Grunde sind Sie, Asew, ein ordinärer Kadett (Liberaler) plus Bomben.“
Es ist durchaus keine Konstruktion, wenn man den Existentialismus
in einem solchen Zusammenhang behandelt ; Merleau Ponty tu t es selbst.
Er spricht von den Moskauer Prozessen - und was waren diese anderes
als die Enthüllung des Wesens des Trotzkismus als Revolutionsverrat
bis in das Banditen- und Spitzeltum hinein? Eine Enthüllung, in welcher
das „nichtende Nichts“ als das Wesen der Welt und Persönlichkeit der
Trotzkisten als ihr vollendeter geistig-moralischer Bankrott, ihre „Situa­
tion“ vis-à-vis de rien vollständig zum Ausdruck kam. Merleau Ponty
wollte vielleicht nicht so charakterisieren, aber er tut es doch oder wenig­
stens fast. Er schreibt: „Man ist nicht zu seinem Vergnügen ,Existentia­
list*, und es ist ebensoviel »Existentialismus* - im Sinne des Paradoxen,
der Spaltung, der Angst und des Entschlusses - im stenographischen
Prozeßbericht aus Moskau enthalten wie in allen Werken Heideggers.**
Merleau Ponty hat hier mehr recht, als er meint ; die Welt der bankrotten
Bucharin, Rykow, Rakowskij, Jagoda: das ist in der Tat die Welt von
„Sein und Zeit“, das Lefebvre geistreich „einen Grandguignol der Philo­
sophie** genannt hat.
Die Ablehnung der revolutionären Phrase ist aber die Voraussetzung
zum wirklichen Verständnis des Marxismus, zur wirklichen Überwindung
der nihilistischen Tendenzen der Gegenwart. Je weiter die Entwicklung
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 123

fortschreitet, desto mehr. Es konnte vor 100, ja vielleicht noch vor


50 Jahren bei einem Intellektuellen eine für die ganze Struktur seines
Denkens entscheidende Wendung bedeuten, wenn er sich zum Sozialis­
mus überhaupt bekannte. In einer Periode aber, in der der Sozialismus
30 Jahre konkreter Entfaltung hinter sich hat, in einer Periode, in der es
abstrakte „Bekenntnisse“ zum Sozialismus von Hitler bis Tito, von
Spengler bis Köstler gibt, besagt die abstrakte Proklamierung des Sozia­
lismus als „Endziel“ nichts oder so gut wie nichts. Die Wahl, vor die die
gesellschaftliche Wirklichkeit unserer Zeit die ehrlichen Denker stellt, die
„Situation“, in der sie sich befinden, ist die, zum Sozialismus, so wie er
wirklich existiert, so wie er sich in der Sowjetunion entwickelt hat und
weiterentwickelt, konkret Stellung zu nehmen. Ein Standpunkt : ich bin
für den Sozialismus, lehne aber den in der Sowjetunion ab, ich will den
Sozialismus haben, aber nur so, wie ich ihn mir vorgestellt habe; ein
solcher Standpunkt hat, so „heroisch“, so „erhaben“, so „poetisch“ dies
klingen mag, ungefähr den moralischen Wert, als wenn eine Frau sagen
würde: ich glühe vor Mutterliebe, ich bin eigentlich die verkörperte
Leidenschaft der Mutterliebe - aber mein eigenes Kind lehne ich ab zu
lieben, denn es hat krause Haare.
Hier steht die revolutionäre Phrase mit ihren moralischen Konse­
quenzen gewissermaßen als Goethesches „Urphänomen“ vor uns. Denn
was wir politisch revolutionäre Phrase genannt haben, ist eine generelle
Intellektuellenkrankheit der imperialistischen Periode. Eines ihrer Sym­
ptome habe ich bei Simone de Beauvoir analysiert : die unangemessene
Überschätzung der „poetischen“, der „rebellischen“ Jugend der Reife
gegenüber. Es wäre interessant und verlockend, eine phänomenologische
Beschreibung dieses ganzen Verhaltens zur Wirklichkeit zu geben, wir
müssen uns aber auch hier auf einige kurze Andeutungen beschränken.
Man denke an Dostojewskij, der diese nihilistische Krankheit frühzeitig
erkannt und genial beschrieben hat. Seinem Iwan Karamasow erscheint,
wie bekannt, in seinen Visionen der Teufel in der Gestalt eines para­
sitischen Gutsbesitzers. Und in ihrem langen Dialog sagt dieser zu Iwan,
das heißt Iwan zu sich selbst bzw. Dostojewskij über den Typus
Iwan: „In Wahrheit zürnst du nur deshalb, weil ich dir nicht irgendwie
in rotem Lichte erschien, ,donnernd und blitzend* mit versengten Flü­
geln, sondern vielmehr in so bescheidener Gestalt vor dich hintrat. Du
bist beleidigt, erstens in deinen ästhetischen Empfindungen, zweitens
aber in deinem Stolz. Wie konnte nur, so meinst du, einem so großen
Mann ein so gemeiner Teufel erscheinen?**
Die revolutionäre Phrase ist die Rettung der intellektuellen Seele vor
solchen „Beleidigungen**; sie ist der Engel mit den versengten Flügeln,
124 Die Robinsonade der Dekadenz

den die unklare Sehnsucht, aus dem Nihilismus herauszukommen, bei


vielen Intellektuellen als Trotz, als Stütze der Selbstachtung braucht.
Denn wenn man schon mit der bürgerlichen Gesellschaft gebrochen zu
haben meint, oder wenigstens in geistiger Opposition zu ihr steht, so muß
diese Wendung die „Poesie“ heroischer Zeiten nach sich ziehen; man hat
nicht deshalb diese Wendung vollzogen, um nun ein „Rädchen“ in einer
„Parteimaschine“ zu werden, um sich mit der Prosa von Wirtschafts­
zahlen usw. zu beschäftigen, um in irgendeiner Weise „Konformist“ zu
werden. Und daß man durch das Sich-Anklammem an die revolutionäre
Phrase des Trotzkismus vom Proletariat getrennt bleibt, das - wie Mer­
leau Ponty klar sieht - zur kommunistischen Partei, zur Sowjetunion
hält, das empfindet man in diesem Seelenzustand im Grunde als um so
besser; denn man kann ja darauf mit einer „erhabenen Trauer“ über die
Vereinsamung der Nichtkonformisten in einer schlechten Epoche
reagieren.
Es ist einerlei, ob dies genau die Psychologie Merleau Pontys sein
muß. Sicher aber ist es die Psychologie von vielen seiner Leser, und ganz
gewiß leisten alle Fehler und Unklarheiten des Existentialismus der wei­
teren Remanenz einer solchen Ideologie Vorschub. Denn auf Merleau
Pontys Wegen ist der Nihilismus nicht zu überwinden. Dazu ist eine kon­
krete, eine wirkliche Perspektive notwendig, und die erwächst nur aus
der konkreten, wissenschaftlichen Analyse der objektiven Wirklichkeit,
aus der konkreten Sicht eines Weges, der aus der wirklichen Gegenwart
in die wirkliche Zukunft führt. Mit den Abstraktionen der existentia-
listischen Ontologie, besonders wenn man sie mit den revolutionären
Phrasen des Trotzkismus verziert, bleibt man ebenso im Nihilismus
stecken, wie die anderen imperialistischen Philosophen mit ihren Mythen.
Marx selbst (und nicht ein heutiger „pragmatistischer Konformist“) sagt :
„Die Schwierigkeit besteht nur in der allgemeinen Fassung dieser Wider­
sprüche; sobald sie spezifiziert werden, sind sie schon erklärt.“
Wie ist nun Merleau Pontys Endposition zur Gegenwart, nachdem er
viele Fragen der Moral, der historischen Verantwortung gestreift hat? Er
sagt über seine Beziehung zum Kommunismus, daß sie „eine praktische
Attitüde der Sympathie ohne Zugehörigkeit und ein freies Prüfen ohne
Feindschaft“ sei. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn diese Attitüde für
Merleau Ponty nur in der Wirklichkeit praktisch durchführbar bleibt.
Diese Stellung konkretisiert nun Merleau Ponty weiter, schon etwas im
Sinne von Simone de Beauvoir, als eine „Weigerung, sich in die Kon­
fusion zu mengen“, im Sinne eines ,,au-dessus-de-la-melée“. Auch da­
gegen wäre nicht viel einzuwenden. Höchstens daß erstens Merleau Ponty
selbst - in bezug auf die Kollaborateure - also auch in bezug auf eine
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 125

Gegenwartsfrage, erklärt hat: „Hier ist das Stehen über den Parteien
niedrig, und die Parteilichkeit ist gerecht.“ Zweitens fällt diese Stellung­
nahme Merleau Pontys mit der verworrensten und rückständigsten For­
mulierung seiner Geschichtsauffassung - wohl nicht zufällig-zusammen:
„Wenn die Geschichte irrationell ist, enthält sie Phasen, in welchen die
Intellektuellen untragbar sind und die Klarheit verboten wird.“ Bei der
subjektivistischen Grundlage von Merleau Pontys Geschichtskonzeption
ändert eben die Geschichte ihre Struktur, je nachdem was für ein sub­
jektives Verhalten ihr gegenübersteht. Existentialistisch-ontologisch folgt
also nicht aus der Irrationalität der Geschichte die Gefährdung der Ge­
dankenfreiheit der Intellektuellen, sondern die Geschichte wird sogleich
irrationell (früher war sie nur ein eklektisches Nebeneinander von ratio­
nal und zufällig), wenn dies zur pathetischen Verteidigung des „au-des-
sus-de-la-melée“ notwendig scheint.
Aber von· welchen Intellektuellen ist die Rede und von welcher Klar­
heit? Romain Rolland ist vom ,,au-dessus-de-la-melée“ bis zur aktiven
Verteidigung des konkreten Fortschritts der Menschheit emporgestiegen.
Der Sozialrevolutionär Sawinkow-Ropschin ist aus nihilistischen Stim­
mungen der irrationellen Welt und der revolutionären Phrase zu einem
gegenrevolutionären Bandenführer geworden, Köstler aus einer ähnlichen
Haltung zum belletristischen Propagandisten des Churchillschen Im­
perialismus, Malraux wiederum wurde durch sein freilich unver­
gleichlich begabteres und echteres, aber ebenso nihilistisches, von re­
volutionären Phrasen erfülltes literarisches Schaffen zum Adjutanten
de Gaulles.
Ich habe das - relativ - berechtigte Moment am Existentialismus, daß
es für den Menschen eine Wahl gibt, daß man sich in einer Situation zu
entscheiden hat, nie bestritten. Der Existentialismus befindet sich -histo-
rich - in einer „Situation“. Die Entscheidung ist - bei solchen Ideologen
wie Merleau Ponty - nicht nur eine moralische und politische Frage,
sondern im engsten Zusammenhang mit ihnen eine philosophische. Aber
zur Entscheidung, vor allem zu der, die eigene Stellungnahme in allen
ihren Konsequenzen rücksichtslos und folgerichtig zu Ende zu denken,
gehört nicht wenig Mut. Simone de Beauvoir spricht —sicher unbewußt —
die Lage der ehrlichen Existentialisten richtig aus, wenn sie die „Situa­
tion“ der heutigen Menschen überhaupt charakterisieren will: „Sie haben
Angst vor ihrer Freiheit.“ Diese Angst ist in den Positionen, die heute
Simone de Beauvoir und Merleau Ponty bezogen haben, deutlich fühlbar.
Sie haben heute noch die Freiheit, aber auch die historische Verantwort­
lichkeit der Entscheidung; es hängt von ihnen ab, ob sie den Weg Ro­
main Rollands oder den von Malraux zu gehen sich entschließen.
126 Die Robinsonade der Dekadenz

Aber die Dinge haben ihre Logik, und eine Logik hat demzufolge auch
die Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit in unserem Bewußtsein.
Die existentialistische Position ist ihrem Wesen nach so tief mit dem
Nihilismus verbunden, daß ein Festhalten an ihr - ob man will oder
nicht - in die Richtung des Malrauxschen Weges treibt, während die
Romain Rollandsche Orientierung früher oder später zu einem Bruch mit
den existentialistischen Voraussetzungen führen muß. Wie immer sich
auch die subjektiv ehrlichen Existentialisten entscheiden mögen, wie aus­
schlaggebend dieser Entschluß auch für ihr Schicksal als Menschen und
Denker sein wird, das Schicksal des Existentialismus als Richtung hat
die Geschichte dem Wesen nach bereits entschieden.
D IE ERKENNTNISTHEORIE LENINS
UND D IE PROBLEME DER MODERNEN PHILOSOPHIE

In seinem philosophischen Hauptwerk, in „Materialismus und Empirio­


kritizismus“, kennzeichnete Lenin die geschichtlich bestimmte Differenz
zwischen seinem eigenen Zeitalter und dem von Marx-Engels. Für dieses
war der dialektische Materialismus, der historische Materialismus aus­
schlaggebend. Zur Zeit Lenins jedoch verschiebt sich der Akzent: jetzt
steht die Frage des dialektischen Materialismus, des historischen Materia­
lismus im Mittelpunkt der philosophischen Entwicklung.
Diese Stellung der grundlegenden Frage macht es bereits klar, daß
Lenin in jener Zeit nicht nur der einzige war, der den Marxismus in seiner
imverfälschten Form repräsentiert, seine prinzipielle Reinheit gegenüber
den offenen oder maskierten reformistischen Fälschungen wieder herstellt,
sondern ihn auch weiterentwickelt. Diese Weiterentwicklung bedeutet
natürlich nicht die Veränderung der Grundprinzipien. In der Leninschen
Periode des Marxismus blieben alle seine grundlegenden Prinzipien un­
berührt in Geltung. Aber Lenin erkannte als erster, daß die Entwicklung
der Gesellschaft mit dem Imperialismus in eine neue Phase trat, daß der
Imperialismus die höchste Stufe der kapitalistischen Produktion und
eben deshalb ihre letzte Phase vor dem Sozialismus, das Zeitalter der
Weltkriege und Weltrevolutionen ist. Die Konsequenzen dieser Erkennt­
nis zog Lenin für alle Gebiete der gesellschaftlichen Tätigkeit des Men­
schen; dementsprechend entwickelte er den Marxismus weiter, indem
er solche Zusammenhänge ans Tageslicht brachte, die Marx und Engels,
die das Zeitalter des Imperialismus nicht mehr erlebten, nicht sehen
konnten. Hier handelt es sich selbstverständlich nicht nur um die ein­
fache Anwendung des Marxismus auf neue Tatsachen. Die neuen Tat­
sachen erforderten oft ganz neue Formulierungen für grundsätzliche
theoretische Zusammenhänge; was in der Mitte des 19. Jahrhunderts
richtig war, verlor im 20. Jahrhundert seine Gültigkeit (die Möglich­
keit des Sozialismus in einem Lande). Hier wollen wir Lenins entspre­
chende Stellungnahme nur in bezug auf Fragen der Erkenntnistheorie
skizzieren.
128 Die Erkenntnistheorie Lenins

D IE WELTGESCHICHTLICHE AKTUALITÄT
DES PHILOSOPHISCHEN MATERIALISMUS

Warum erlangte der philosophische Materialismus im Denken des im­


perialistischen Zeitalters eine so ausschlaggebende Rolle? In einer etwas
paradoxen Formulierung könnten wir sagen: weil diese Epoche die tiefste
unüberwindbarste Krise des philosophischen Idealismus gezeitigt hat.
Doch diese Krise des Idealismus spielt sich in dem reaktionärsten Ab­
schnitt der kapitalistischen Entwicklung ab, und die allgemeinen gesell­
schaftlichen und politischen Charakterzüge dieses Abschnitts verleihen
der Krise des Idealismus eine ganz eigentümliche Färbung. Kurz zu­
sammengefaßt : die Entwicklung der Natur- und Gesellschaftswissen­
schaften im Laufe des 19. Jahrhunderts macht den philosophischen Idea­
lismus unmöglich, stellt ihn vor imüberwindbare Widersprüche. Da nun
aber die herrschenden gesellschaftlichen und politischen Strömungen den
Idealismus für ihre Weltanschauung nicht entbehren können, offenbart
sich die Krise darin, daß immer wieder Versuche gemacht werden, einen
philosophischen „dritten Weg“ ausfindig zu machen, mit dessen Hilfe es
—angeblich - möglich wäre, sowohl den Idealismus als auch den Materia­
lismus zu überwinden. In Wirklichkeit handelt es sich natürlich um die
Erneuerung des Idealismus in einer verzerrten Form, um neue Formen
des Kampfes gegen die materialistische Weltanschauung.
Wenn wir diesen komplizierten und vielverzweigten Prozeß in seinem
ganzen Zusammenhang übersehen wollen, dann dürfen wir uns nicht für
einen Moment bei den kleinlichen Haarspaltereien der bürgerlichen Er­
kenntnistheorie aufhalten, sondern müssen die grundlegende und einzig
ernst zu nehmende Unterscheidung von Idealismus und Materialismus in
den Vordergrund rücken. In Engels" Formulierung klingt das folgender­
maßen : die beiden Weltanschauungen scheiden sich in der Frage des Ver­
hältnisses von Sein und Bewußtsein. Ist das Sein primär dem Bewußt­
sein gegenüber, wie dies der Materialismus vertritt, oder ist das Bewußt­
sein primär dem Sein gegenüber, wie es der Idealismus annimmt?
Aus dieser grundlegenden Bestimmung ergeben sich nun für die idea­
listische Weltanschauung zwei Wege. Der erste ist der Weg des subjek­
tiven Idealismus, der das Bewußtsein mit dem individuellen Bewußtsein,
mit irgendeiner Form des menschlichen Bewußtseins identifiziert; in
diesem Fall kann das Sein nur als Produkt dieses Bewußtseins hingestellt
werden, als Empfindung, Vorstellung, Begriff usw. Die verschiedenen
Schattierungen des subjektiven Idealismus unterscheiden sich, entspre­
chend dem oben bezeichneten Gesichtspunkt, teils darin, ob sie außer der
Die weltgeschichtliche Aktualität des philosophischen Materialismus 129

Welt des Bewußtseins eine objektiv existierende, wenn auch prinzipiell


unerkennbare Existenz annehmen (das Kantsche Ding an sich), oder aber
alles, was über den Inhalt und die Form des Bewußtseins hinausgeht, als
nicht existierend deklarieren und als existierend nur das anerkennen, was
im Bewußtsein vor kommt. (Die einzig konsequente Form dieser Auf­
fassung ist der Solipsismus.)
Der objektive Idealismus hält auch etwas Bewußtseinsartiges für das
primär Existierende, dies fällt aber durchaus nicht mit dem menschlichen
Bewußtsein zusammen, das letztere ist sogar nur ein niedrigstehender
Abkömmling dieses objektiv existierenden Bewußtseins oder ist sein bloßes
Moment, wenn das höhere Bewußtsein als Prozeß gefaßt wird. Es ist klar,
daß in der Wirklichkeit der Natur oder der Gesellschaft ein derartiges
vom menschlichen Bewußtsein unabhängiges objektives Bewußtsein nir­
gends aufzufinden ist. Der objektive Idealismus ist daher immer ge­
zwungen, irgendeinen Mythos zu erdichten, in dessen Mittelpunkt das
Erweisen, das Aufzeigen und Erklären der weltenschaffenden Rolle dieses
objektiven Bewußtseins steht. Unter diesen Mythen stehen an erster Stelle
die verschiedenen Gottesauffassungen, aber es existieren natürlich auch
anders geartete Mythen der objektiv idealistischen Weltanschauung, wie
z. B. der platonische Mythos von der Welt der reinen Ideen, deren Ema­
nation die ganze Naturwelt und gesellschaftliche Welt ist, mitsamt dem
Menschen und seinem Bewußtsein, oder der Hegelsche Weltgeist, der in
einem großen Entwicklungsprozeß die ganze Natur und Gesellschaft, die
ganze materielle und geistige Welt des Menschen zusammenfaßt.
Wie groß die Möglichkeiten, die gedankliche Fruchtbarkeit, wie dauer­
haft die Wirkung des objektiv idealistischen Systems ist, wird dadurch
bestimmt, in welchem Verhältnis der durch sie notwendig geschaffene
Mythos zu dem Stand der Wissenschaft, dem allgemeinen geistigen Hori­
zont seiner Zeit steht. Sofern die Zeitverhältnisse dazu geeignet sind, kann
es dem objektiven Idealismus gelingen, gewisse wesentliche Elemente der
materialistischen Philosophie in ihr System einzufügen (die Widerspiege­
lungstheorie in der Erkenntnislehre bei Platon und den Neuplatonikern)
und in ihren Mythos, wenn auch freilich in verzerrter mystifizierter Form,
sogar neue Elemente, neue Methoden des wissenschaftlichen Fortschritts
einzubauen. (Der Entwicklungsgedanke bei Hegel.) Deshalb konnte zur
Zeit der Auflösung der antiken Gesellschaft das vielleicht konsequenteste
objektiv idealistische System entstehen, das von Plotinus ; deshalb konnte
im Mittelalter, Jahrhunderte hindurch, die Philosophie von Thomas von
Aquino die herrschende sein ; deshalb war es möglich, daß die fortschritt­
lichen methodologischen Prinzipien der während der Zeit der Franzö­
sischen Revolution entstandenen allgemeinen gesellschaftlichen und
130 Die Erkenntnistheorie Lenins

wissenschaftlichen Umwälzung vom Hegelschen objektiven Idealismus


formuliert wurden, und zwar in der höchsten Vollkommenheit, die zu
jener Zeit erreichbar war.
Diese Vorbedingungen des objektiven Idealismus hat die wissenschaft­
liche Entwicklung des 19. Jahrhunderts vernichtet. Wir können hier diese
Entwicklung nicht einmal skizzieren. Wir verweisen nur auf den wissen­
schaftlichen Triumphzug des Gedankens der historischen Entwicklung
sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Gesellschaftswissen­
schaften. Er machte es wissenschaftlich unmöglich, die Welt der Natur,
der Gesellschaft, des Menschen als das Produkt eines einmaligen Schaf­
fensaktes hinzustellen; durch ihn wurde klar, daß das menschliche Be­
wußtsein als das historische Produkt einer viele Millionen Jahre alten
NaturentWicklung und einer sehr langen gesellschaftlichen Entwicklung
anzusehen ist. Es ist kein Zufall, daß die Vertreter des objektiven Idea­
lismus den verzweifeltsten Kampf gegen diese neuen Resultate der Wis­
senschaft, angefangen von den kopernikanischen Entdeckungen bis zu Dar­
win, führten. Freilich mit der Zeit waren sie gezwungen, sie - mehr oder
minder modifiziert, gelindert, verfälscht - in ihr System einzubauen. Aber
dieser Einbau bedeutet, daß der vom objektiven Idealismus geschaffene
Mythos immer abstrakter, inhaltsloser, für die nur einigermaßen wahr­
scheinliche Erklärung der Lebenserscheinungen immer unbrauchbarer
wurde. Sofern auf dieser Grundlage objektiv idealistische Mythen ent­
stehen, enthalten sie nicht mehr die Keime der entstehenden neuen wissen­
schaftlichen Entwicklung, auch nicht in mystifizierter Form, sondern sie
sind gezwungen, sich offen oder in verschleierter Form der wissenschaft­
lichen Entwicklung, dem durch die Wissenschaft aufgedeckten Welt­
bild entgegenzustemmen. Unter den gesellschaftlichen Umständen des
imperialistischen Zeitalters mußte diese Lage dazu führen, daß der
objektive Idealismus immer mehr zur Ideologie der extremsten
Reaktion wurde. Diese Entwicklung erreichte im Faschismus ihren
Gipfelpunkt.
Die Hindernisse, die sich vor der Entfaltung des objektiven Idealismus
auftürmten, stellten ihn vor einen Scheideweg ; man konnte bedingungs­
los den Standpunkt des Solipsismus einnehmen, d. h. ausschließlich die
Vorstellungen des individuellen Bewußtseins als existierend anerkennen,
wodurch für einen konsequenten Denker selbst die Existenz seiner Mit­
menschen zweifelhaft wird. Diesen Standpunkt konsequent zu Ende zu
führen, ist eine Unmöglichkeit; Schopenhauer bemerkte einmal richtig,
daß die Durchführung dieser Anschauung einzig und allein im Irrenhaus
möglich sei. Infolgedessen wäre für konsequente und ehrliche Denker nur
die andere Straße am Scheideweg offen geblieben, das Eingeständnis des
Die weltgeschichtliche Aktualität des philosophischen Materialismus 131

philosophischen Bankrotts des Idealismus und die Verpflichtung zu seiner


Liquidierung.
Aber unter den Bedingungen des imperialistischen Zeitalters machte
man sich statt dessen, wie Mrir bereits sagten, an das Ausklügeln eines
philosophischen „dritten Weges**. Dies ist natürlich nur mit Hilfe eines
demagogischen Betruges oder —bei subjektiv ehrlichen Denkern —mit
Hilfe eines Selbstbetruges möglich. Die äußere Erscheinungsform des
hier vollzogenen Gedankenmanövers, eben des „dritten Weges**, ist eine
Philosophie, die angeblich weder idealistisch noch materialistisch ist,
sondern, „die Einseitigkeit** beider überwindend, zu einem höheren,
wissenschaftlicheren, zeitgemäßeren Standpunkt gelangt.
Diese Stellungnahme ist ein heimliches Eingeständnis des Bankrotts
des Idealismus. Im Gegensatz zur alten idealistischen Philosophie, die
sich sowohl auf ihrer subjektiv idealistischen (Berkeley) als auch in der
objektiven Linie (Hegel) stolz zum Idealismus bekannte und offen den
philosophischen Materialismus bekämpfte, scheuen die Anhänger des
„dritten Weges** davor zurück, sich zum Idealismus zu bekennen, sie tun
im Gegenteil so, als würden sie sich ihm entgegenstellen. Daraus folgt
auch im besten Fall, selbst wTenn wir es mit subjektiv, durchaus ehr­
lichen Denkern zu tun haben, die absichtliche Umgehung der grundlegen­
den Fragen der Philosophie, die eklektische Mischung der Gesichtspunkte
der verschiedenen Philosophien. Das Zusammenbrechen der wissenschaft­
lichen Grundlagen des objektiven Idealismus drängte die Vertreter des
„dritten Weges** unumgänglich in die Richtung des subjektiven Idealis­
mus. Aber sie gestanden sich, von seltenen Ausnahmen abgesehen, die
letzten Konsequenzen dieser Stellungnahme nicht ein, im Gegenteil, sie
behielten die erkenntnistheoretischen Positionen des subjektiven Idealis­
mus bei und befleißigten sich gleichzeitig eines Objektivismus, der in
scharfem Gegensatz zu ihrem eigenen erkenntnistheoretischen Ausgangs­
punkt stehen mußte. Deshalb muß sich natürlicherweise auch bei ihnen
die allgemeine Denkkonstruktion des objektiven Idealismus, der Zwang
zur Mythenschaffung durchsetzen. Der Unterschied ist einzig und allein
folgender : während in der großen Zeit des objektiven Idealismus hieraus
umfassende Weltbilder hervorgingen, geschieht in der Philosophie des
„dritten Weges** nichts anderes, als daß den Kategorien des subjektiven
Idealismus mit Hilfe der Mythosdichtung eine Art Scheinobjektivität
verliehen wird. So mystifiziert z. B. die Mach-Avenariussche Philosophie
Bewußtseinsinhalte zu „Elementen** der objektiven Welt und schmug­
gelt jene Eigenschaften und Inhalte in sie hinein, die das Bewußtsein aus
der von ihr unabhängigen Außenwelt geschöpft hat. Der Mythos besteht
nun darin, diese „Elemente** so hinzustellen, als wären sie weder reine Be-
132 Die Erkenntnistheorie Lenins

wußtseinsinhalte noch Eigenschaften von objektiv existierenden Gegen­


ständen, sondern „irgendetwas Drittes**.
Lenin trat gegen diese Bestrebungen noch am Anfang der imperialisti­
schen Periode auf, als sie im Machismus ihre bis dahin höchste Form er­
reicht hatten. Lenins erkenntnistheoretische Kritik bewegt sich jedoch
auf solchen prinzipiellen Höhen, daß sie auch für alle ähnlichen philo­
sophischen Strömungen der imperialistischen Periode gültig bleibt. Das
Wesen dieser Kritik besteht eben darin, daß sie auf die grundlegende
Fragestellung der Erkenntnistheorie, auf die Frage der Priorität von Sein
oder Bewußtsein, auf den schonungslosen Vergleich des modernen er­
kenntnistheoretischen Eklektizismus mit den wirklich erreichten Resul­
taten der Wissenschaft zurückgreift. Und diese Gegenüberstellung be­
weist überzeugend, daß die Anhänger des philosophischen „dritten
Weges**in ihrem wahren Wesen subjektive Idealisten sind, daß die Ideo­
logie des „dritten Weges** das angebliche Sich-Erheben über den Gegen­
satz von Idealismus und Materialismus eine leere Phrase oder eine inhalt­
lose Mythenfabrikation ist. Und Lenin versäumt es auch nicht, diese
unkonsequente und böswillige Erkenntnistheorie mit den aufrichtigen
und konsequenten Vertretern des alten Idealismus, z. B. mit Berkeley,
scharf zu konfrontieren. Der Vergleich kommt natürlich nicht den
Modernen zugute. Aber für die heutigen Denker bleibt auch der Aus­
weg nicht offen, sich z. B. Berkeleys Lehre ohne Vorbehalt anzu­
eignen. Denn Berkeley selbst kann sich auch nur so aus dieser Klemme
des Solipsismus herauswinden, daß er die Objektivität der Außenwelt,
die gemeinsame Welt der Menschen mit Hilfe des Gottesbegriffes sicher­
stellt. Dieser Weg jedoch ist für den größten Teil der heutigen Denker
versperrt. Von Nietzsche bis Sartre bekennen sich die kühnsten Mythen­
fabrikanten zum Atheismus.
Es wäre ein großer Irrtum, zu denken, daß sich die Kritik Lenins nur
auf den Machismus beziehe, und daß die spätere Philosophie den von
Lenin kritisierten Standpunkt bereits überwunden hätte. Nein, die leitende
Strömung der imperialistischen Philosophie bleibt auch weiter das Suchen
nach einem „dritten Weg**. Am klarsten ist dies in der heute herrschen­
den Strömung, in dem aus der Husserlschen Phänomenologie erwachse­
nen Existentialismus. Hier ist auch davon die Rede, daß die Philosophie
auf Grund des reinen Bewußtseins, mit Hilfe der Kategorien des reinen
Bewußtseins angeblich die objektive Wirklichkeit erfaßt. Die Husserlsche
Phänomenologie und die ihr entstammende sogenannte Ontologie unter-
• ____ ___

sucht den Inhalt, die Formen und Akte des Bewußtseins und verfällt der
Illusion, das Gebiet des Bewußtseins verlassen zu haben, wenn sie diese
Untersuchung nicht vom psychologischen Standpunkt aus durchführt.
Die weltgeschichtliche Aktualität des philosophischen Materialismus 133

Da auch diese Richtung den Inhalt und die Form des Bewußtseins nicht
als Widerspiegelung des objektiven Seins anerkennt, ist sie natürlicher­
weise unumgänglich gezwungen, nach dem Mythos zu greifen, nach dem
Mythos der angeblich selbständigen Existenz der Bewußtseinskategorien
ohne Bewußtsein.
Husserl steht am Anfang seiner Entwicklung noch dem Machismus
nahe. „Die Frage der Existenz und der Natur der »Außenwelt' ist eine
metaphysische Frage", sagt er und verwirft in diesem Sinne die Erkennt­
nistheorie als Theorie, als Wissenschaft schon von vornherein. Noch deut­
licher drückt sich diese Tendenz zu einem philosophischen „dritten Weg"
in der positiven Formulierung der Position Husserls aus. Wenn er das
Hauptgewicht darauf legt, daß Denken stets das Denken von etwas, das
Denken eines Gegenstandes ist, so will er damit auf dem Niveau der
reinen Denklehre ebenso ein neutrales Gebiet zwischen philosophischem
Idealismus und Materialismus schaffen, wie es vor ihm Mach und Ave-
narius auf dem Gebiet der Perzeption mit ihren „Elementen" getan haben.
Die Gegenständlichkeit erscheint auf diese Weise zugleich und unzer­
trennlich als Bestandteil des subjektiven Denkprozesses einerseits (wenn
man seinen Inhalt und Sinn und nicht nur seine rein subjektiven Seiten
betrachtet) und als abstrakter Wesenszusammenhang, als Wesensstruk­
tur der objektiven Welt andererseits. Dabei drückt sich die erkenntnis­
theoretische „Neutralität" zwischen philosophischem Idealismus und
Materialismus darin aus, daß die Wirklichkeit des Gegenstandes „in
Klammem gesetzt" wird, d. h. es bleibt bei der Untersuchung von Ge­
halt, Struktur usw. der Gegenständlichkeit dahingestellt, ob und wie der
untersuchte Gegenstand wirklich existiert. Damit ist aber die erkenntnis­
theoretische Fragestellung nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Sobald
die „Klammern" aufgelöst werden, müßte diese Frage ernsthaft auf­
geworfen werden. Das geschieht jedoch weder bei Husserl noch bei seinen
Schülern. Im Laufe der späteren Entwicklung wird die Sehnsucht nach
der Objektivität, etwa bei Husserl und vor allem bei seinen Anhängern,
immer heftiger, und zur Befriedigung dieser Sehnsucht wird die Wissen­
schaft der Ontologie geschaffen, in der die Methode des „dritten Weges"
in den modernsten Formen zum Ausdruck kommt. Dem Wesen nach unter­
sucht die Ontologie ebenso die Tatsachen, Formen und Akte des Bewußt­
seins wie seinerzeit die Husserlsche Phänomenologie, aber sie verkündet
dogmatisch, selbst ohne den leisesten Versuch eines ernstlichen erkenntnis­
theoretischen Beweises, daß die so gefundenen „Gegenstände" objektiv
existierten, ja, daß sie sogar die Grundkategorien des Wesens des objektiv
Existierenden seien. Die moderne Ontologie benützt so - im geheimen,
ohne es einzugestehen —die Widerspiegelungstheorie des Materialismus ;
I 34 Die Erkenntnistheorie Lenins

denn wenn sie von wirklichen Zusammenhängen spricht, können sie


nichts anderes sein als die Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit
im Bewußtsein. Zugleich deklariert sie aber auf der Grundlage von Be­
wußtseinsanalysen etwas als Wesen alles Seienden, ohne —auf der Grund­
lage ihres eigenen Ausgangspunktes —beweisen zu können, daß derartige
Gegenstände tatsächlich existieren. Die neue Ontologie dichtet also, im
besten Falle, allgemeine Denkformen in Wirklichkeit um. Gegenständ­
lichkeit und Objektivität werden so dogmatisch identifiziert. Die Onto­
logie unterscheidet sich von der Phänomenologie nur darin, daß sie den
phänomenologisch gefundenen und analysierten Gegenständlichkeiten
und ihren Strukturen - völlig dogmatisch - eine Objektivität, ja die Ob­
jektivität schlechthin zuspricht. In den meisten Fällen, wie z. B. bei
Heidegger, wo sie die Grundkategorien des gesellschaftlichen Seins sucht,
ist sie nicht nur nicht imstande, ihre erkenntnistheoretische Basis festzu­
stellen, sie ist darüber hinaus gezwungen, ihren Inhalt und ihre Form
entsprechend den Bedürfnissen des modernen Pessimismus fortwährend
zu verzerren und zu karikieren. Und es ist kein Zufall, daß wir innerhalb
des Lagers des Existentialismus —nur infolge der Entwicklung der Zeiten
noch weniger aufrichtig als bei den Machisten - dasselbe finden, was
Lenin bei den ersten Vertretern des „dritten Weges“ festgestellt hat:
jeder von ihnen meint den wirklichen „dritten Weg“ gefunden zu haben,
aber die Kollegen und Konkurrenten beweisen in jedem einzelnen Fall
daß auch hier nur von irgendeiner terminologischen Variante des alten
Solipsismus die Rede ist. Diese Kritik finden wir z. B. bei Sartre, und
zwar Husserl und Heidegger gegenüber. Lenin kritisierte die Theorie des
„dritten Weges“ am Anfang dieser Entwicklung. Er stellte den hier not­
wendig entstehenden Mythos und dessen erkenntnistheoretische Grund­
lagen fest, er wies auf den Solipsismus als auf die unumgängliche Konse­
quenz der heutigen Unmöglichkeit des objektiven Idealismus hin. Er hob
die entgegengesetzte Rolle hervor, die die alte und die neue Philosophie
in der Entfaltung und Popularisierung der Wissenschaft spielen: wäh­
rend die alte Philosophie eine Stütze der Entwicklung der Wissenschaft
gewesen ist, zieht diese die Wissenschaft bei jeder Schwankung oder bei
jeder neuen Schwierigkeit, auf die sie stößt, auf ein niedrigeres Niveau
herab, idealisiert alle reaktionären Tendenzen.
Im Zusammenhang damit stellt Lenin das Verhältnis der Wissen­
schaft und der Philosophie klar, in erster Linie in der Frage der natur­
wissenschaftlichen Erkenntnis. Die Klärung beruht auch hier auf der
klaren Ausarbeitung des erkenntnistheoretischen Standpunktes des
philosophischen Materialismus, nämlich auf der Bestimmung, daß der
Begriff der Materie der Philosophie, der Erkenntnis, genau und
Die weltgeschichtliche Aktualität des philosophischen Materialismus 135

streng zu scheiden ist von der jeweiligen „konkreten“ Bestimmung der


Materie in den jeweiligen einzelnen Entwicklungsetappen der Natur­
wissenschaft. „Denn die einzige ,Eigenschaft' der Materie, von deren
Anerkennung der philosophische Materialismus abhängt, besteht darin,
daß sie objektive Wirklichkeit ist, daß sie außer unserem Bewußtsein
existiert."
Diese scharfe Abgrenzung bedeutet natürlich nicht soviel, als wären die
Resultate der Naturwissenschaften für die Philosophie gleichgültig. Ganz
im Gegenteil. Lenin hat ebenso wie vor ihm Engels wiederholt darauf
hingewiesen, daß es die Pflicht der materialistischen Philosophie ist, von
jedem neuen Schritt der Naturwissenschaften zu lernen, jede neue Ent­
deckung zu benützen, um die konkrete Struktur der Materie konkreter
und genauer zu erkennen. Das Verhältnis der Philosophie zur Wissen­
schaft besteht also darin, daß die erstere —auch in konkreten philosophi­
schen Fragen —von der letzteren lernen muß, zur selben Zeit aber ihre
volle Unabhängigkeit dort bewahrt, wo sie allein maßgebend ist, in den
grundlegenden Fragen der Erkenntnistheorie, daß sie mit Hilfe ihrer Unab­
hängigkeit den Naturwissenschaften den Weg weisen kann, wo sich die Ge­
lehrten selbst (infolge Mangels einer philosophischen Kultur oder unter
der Wirkung ihrer bürgerlichen Umgebung) verirren. Diese Frage erhält
in unseren Tagen eine besondere Bedeutung, denn in der Gegenwart er­
gibt sich die merkwürdige Lage, daß die Naturwissenschaftler, die in ihrer
naturwissenschaftlichen Praxis ohne Ausnahme, oft ohne es zu wollen
oder zu wissen, auf materialistischer Grundlage stehen, zu Sklaven von
reaktionären Bestrebungen werden, sobald sie in erkenntnistheoretischer
oder methodologischer Richtung zu Verallgemeinerungen Vordringen
wollen. Lenin hat schon in bezug auf Mach selbst bewiesen, daß dieser,
nach eigenem Geständnis, in seiner wissenschaftlichen Praxis gezwungen
ist, auf materialistischer Grundlage zu stehen.
Hier greift Lenins Begriff des Materialismus, sein kämpferischer Mate­
rialismus in die philosophischen Richtungskämpfe ein, im Gegensatz zu
der Schein-Unbefangenheit der philosophischen Kathederbesitzer (hinter
welcher - bestenfalls - unbewußte philosophische und gesellschaftliche Vor­
urteile verborgen sind) sehen wir bei ihm eine entschiedene und bewußte
Parteinahme in allen Fragen der Weltanschauung. Das ist nach Lenin das
allgemeine Kennzeichen der materialistischen Philosophie. Dies konkreti­
siert sich bei ihm in seinem Kampf gegen den neuen Idealismus. Lenin
unterscheidet in seiner philosophischen Kritik scharf die rechte von der
linken Kritik. So wurde das Schwanken Kants zwischen Materialismus
und Idealismus, das am deutlichsten in dem Problem des Dinges an sich
zum Ausdruck kommt, von links kritisiert (Feuerbach und Tscherny-
1 3 6 Die Erkenntnistheorie Lenins

schewskij), indem ihm vorgeworfen wurde, daß er vom abstrakten Mate­


rialismus in den idealistischen Agnostizismus zurückfällt, aber auch von
rechts (Fichte bis zum Machismus), als ausgesetzt wurde, daß Kant mit
dem bloßen Setzen der Existenz des Dinges an sich aufgehört hat, ein
konsequenter Idealist zu sein. Im Kampf der Weltanschauungen bilden
sich auf diese Art in gewissen Fragen objektive Bündnisse, die aber nie
die sonst bestehenden Gegensätze verdunkeln dürfen. Lenin kritisiert
scharf den Idealismus Hegels, aber das hindert ihn nicht daran, in Hegels
dialektischer Kritik des Kantschen Dinges an sich einen Verbündeten zu
sehen. Geradeso kritisiert Lenin, wie wir später sehen werden, mit der
größten Schärfe die Schranken des alten Materialismus; trotzdem fand
er in Feuerbach, sogar in Haeckel, ja selbst in der wissenschaftlichen Praxis
der sich der Richtung des Kantianismus zuneigenden Naturwissenschaft­
ler Verbündete gegen den machistischen „dritten Weg“. Daß Lenin, wor­
auf wir schon oben hingewiesen haben, ein so großes Gewicht auf jene
Kritiken legt, mit denen die einzelnen idealistischen Denker sowohl in der
Gegenwart als auch in der Geschichte einander betrachten, gehört auch
in diesen Komplex ; dies ist seiner Meinung nach kein unwesentlicher Teil
der Selbstauflösung des Idealismus.
Damit wird in Lenins Darstellungsweise die ganze Geschichte der
Philosophie lebendig, bewegt dramatisch. Der kritische Stil Lenins ist
von beißender Schärfe, gleichzeitig aber ist er außerordentlich empfäng­
lich für alle fortschrittlichen Tendenzen, gleichgültig in welcher Philo­
sophie, in welcher Form und wie widerspruchsvoll sie auch immer zum
Ausdruck kommen mögen. Und er wirft eben deshalb seinen marxisti­
schen Zeitgenossen vor, daß ihre Kritik rein negativ und deshalb nicht
überzeugend, nicht erschöpfend ist. „Plechanow kritisiert den Kantianis­
mus (und den Agnostizismus überhaupt) mehr vom vulgär-materialisti­
schen als vom dialektisch-materialistischen Standpunkt aus, indem er
ihre Gedankengänge bloß à limine verwirft, statt sie dadurch zu korri­
gieren (wie Hegel Kant korrigierte), daß er sie vertieft, verallgemeinert,
so weit ausdehnt, daß dadurch der Zusammenhang und die Übergänge
aller Begriffe aufgedeckt werden.“ So wie bei den wirklichen Klassikern
der Philosophie wird auch bei Lenin die theoretische Philosophie nicht
durch eine chinesische Mauer von der Kritik und von der Geschichte der
Philosophie getrennt. Alle drei sind Spiegelbilder desselben Wirklichkeits­
prozesses. Deshalb verurteilt Lenin so scharf sowohl die tote akademische
Auffassung der Geschichte der Philosophie als auch die des „geistreichen“
Essayismus.
Materialismus und Dialektik 137

MATERIALISMUS UND DIALEKTIK

Alle diese Fragen haben uns bereits zur Dialektik geführt. Es wäre der
größte Fehler, anzunehmen, daß Lenin durch die Unterstreichung des
Materialismus die Dialektik vernachlässigt habe. Im Gegenteil, gerade
bei ihm finden wir - das erstemal seit Marx und Engels - die fruchtbare
Neuaufnahme und Weiterentwicklung der dialektischen Probleme. Die
Frage der erkenntnistheoretischen Priorität des Materialismus bekommt
hier einen neuen Akzent: der Materialismus ist die Zentralfrage der
heutigen philosophischen Lage, aber eben deshalb, weil heute die dialek­
tische Methode nur noch allein auf der Grundlage der materialistischen
Weltanschauung zur Geltung kommen kann. Die oben skizzierte Krise
des Idealismus macht es unmöglich, daß die heutige Zeit - wenn auch nur
in kleinerem Maßstab —einen Proklos oder Cusanus, einen Vico oder
Hegel hervorbringt.
Doch die für die Menschheit so schicksalsschwere Zuspitzung des Le-
bens, des Fortschritts der Wissenschaften, der gesellschaftlichen Pro­
bleme kümmert sich wenig darum, ob die Denker einer Periode dialek­
tisch denken oder nicht. Das Leben selbst, die Gesellschaft, die Natur
sind dialektisch und zeigen dies um so mehr, je tiefer unsere Erkenntnis
in sie eindringt, je höher die Stufe der Entwicklung ist, die sie erreichen.
Die Wissenschaft - und vor allem die Philosophie - gelangt auf diese
Weise in folgende Lage : die Fragen, die zu lösen sie gezwungen ist, denen
sie auf keine Weise ausweichen kann, sind immer ausgesprochener dialek­
tischer Natur. Aber die Wissenschaft - und hauptsächlichst die Philo­
sophie - ist nicht imstande, auf die dialektischen Fragen dialektische Ant­
worten zu geben ; die wirkliche, die nicht selten entscheidende Frage er­
hält eine falsche, verzerrte, in die Irre führende Antwort; die wirkliche
Frage, die die Möglichkeiten einer kolossalen, sprunghaften Entwicklung
in sich birgt, wird in ihrer Beantwortung zur Stütze des Konservativis­
mus, der Reaktion.
Diese Situation der modernen Philosophie, die von grundlegender Be­
deutung ist, hat Lenin auf geniale Weise erkannt. Und zwar nicht nur,
was für ihn auf der Hand lag, in dem Reaktionär-Werden der geschicht­
lichen und gesellschaftlichen Wissenschaften, nicht nur, wie wir oben
sahen, in dem In-die-Sackgasse-Geraten der idealistischen Philosophie,
sondern auch - die ganze spätere Entwicklung der modernen Wissen­
schaften gedanklich vorwegnehmend - in der Krise der modernen Physik.
Es ist bekannt, daß jene grundlegende Umgestaltung der Physik im
ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts seinen Anfang nahm und wir ihre
138 Die Erkenntnistheorie Lenins
■■■■

Resultate erst in der letzten Zeit zu übersehen beginnen. Lenin sah sofort
das philosophische Wesen der Frage, und damit gelang es ihm, auf die in­
folge der Entwicklung der Naturwissenschaften objektiv aufgeworfene
dialektische Frage die dialektische Antwort zu geben. Wie Stalin hervor­
hebt, hat Lenin auch hier jene Konsequenz aus dem dialektischen Mate­
rialismus gezogen, daß jeder große Schritt, den die Entwicklung der
Naturwissenschaft vorwärts macht, auf die Bestimmung der Dialektik
umformend wirkt. Und es ist ebenfalls bekannt, daß diese Krise sich in
erster Linie darin äußerte, daß Auffassungen über die Beschaffenheit, die
Struktur, die Gesetze der Materie, die durch Jahrzehnte, ja oft Jahr­
hunderte hindurch für unerschütterliche Wahrheiten gehalten wurden,
„plötzlich“ ins Schwanken kamen, in Zweifel gezogen wurden. Die klas­
sische Dualität von Materie und Energie, Materie und Bewegung wurde
„plötzlich“ unbestimmt; es wurden neue einheitlichere physikalische Be­
griffe notwendig, um den neu entdeckten Erscheinungen einen adäquaten
gedanklichen Ausdruck zu geben. Der überwiegende Teil der philosophie­
renden Physiker und der die Naturwissenschaften auslegenden Philo­
sophen schreckten jedoch vor den sich vor ihnen auftürmenden Fragen
—die ohne Dialektik nicht zu lösen waren —zurück. Sie bliesen Rückzug,
retteten sich in den reaktionären Idealismus, und das taten auch viele
Naturwissenschaftler, die in ihrer eigenen wissenschaftlichen Praxis bis
zu Ende Materialisten blieben.
Diese gedankliche Krise äußerte sich teils als die Krise der physikali­
schen Begriffsbildung, teils (besonders in der philosophischen Erklärung
von physikalischen Erscheinungen) als Krise des Materialismus. „Die
Materie ist verschwunden“, verkündete man als Folge der Umgestaltung
der Physik —und mit dem Verschwinden der Materie verlor natürlich
auch die materialistische Weltanschauung ihre Geltung. Es ist bekannt,
daß diese Krise der Philosophie auch tief in die Reihen der Marxisten
eingedrungen ist; im Rahmen der II. Internationale wurde allerorts der
Materialismus erschüttert, allerorts wucherte der philosophische Revisio­
nismus auf, die Nachfolge von Kant, Mach usw.
In dieser Krise bewies Lenin besonders eindringlich die Fruchtbarkeit
und Wirksamkeit des Begriffes des Materialismus. Lenin sah klar, daß
das, was in der Physik geschieht, nichts mit den philosophischen Grund­
lagen des Materialismus zu tun hat. Wenn freilich, wie wir sahen, die
Physik die Struktur der Materie auf neuer Grundlage formuliert, so muß
hieraus auch die materialistische Philosophie lernen. Aber was immer
auch der konkrete Inhalt der physikalischen Entdeckungen, der in ihrer
Spur entstandenen neuen Hypothesen, neuen Gesetze sein mag, es ändert
durchaus nichts an der erkenntnistheoretischen, philosophisch einzig ent-
Materialismus und Dialektik J39

scheidenden Frage. Lenin schreibt : „Um die Frage von dem einzig rich­
tigen, d. h. dialektisch materialistischen Gesichtspunkt aus zu stellen,
müssen wir fragen: existieren die Elektronen, der Äther und so weiter
unabhängig vom menschlichen Bewußtsein als objektive Wirklichkeit
oder nicht? Auf diese Frage müssen die Naturwissenschaftler ohne Zau­
dern antworten, und sie haben immer mit ja geantwortet, so wie sie die
Existenz der Natur vor der Entstehung des Menschen und der organi­
schen Materie anerkennen. Und damit ist die Frage zugunsten des
Materialismus entschieden, denn der Begriff der Materie bedeutet er­
kenntnistheoretisch, wie wir schon sagten, nichts anderes als die ob­
jektive, vom menschlichen Bewußtsein unabhängig existierende und
durch sie dargestellte Wirklichkeit.“
Aber diese entscheidend richtige Antwort ist für Lenin nur der Aus­
gangspunkt. Gleichzeitig damit, daß er im Zusammenhang mit der Krise
den aus ihr erwachsenden reaktionären Idealismus kritisiert, daß er
scharf darauf hinweist, wie die aus den neuen Erscheinungen zu ziehen­
den neuen Konsequenzen die Grundlagen der materialistischen Erkennt­
nistheorie nicht berühren, geschweige denn erschüttern, weist er auch
darauf hin, daß diese Krise zugleich die Krise des alten, des mechani­
schen Materialismus ist. Nicht die Materie ist verschwunden, nicht der
erkenntnisthe oretische Begriff der Materie ist problematisch geworden,
sondern das System der Begriffsbildung des alten Materialismus ist zu­
sammengebrochen, hat sich zur wissenschaftlich adäquaten Formulierung
der neuen Erscheinungen als unfähig erwiesen. Die Gründe sind vor allem
die Starrheit der Begriffe des alten Materialismus, die Überschätzung
des mechanistischen Standpunkts, das Verkennen des relativen Charak­
ters der wissenschaftlichen Theorien, der Mangel an Dialektik.
Lenin charakterisiert diese Lage so: „Die neue Physik hat sich haupt­
sächlichst deshalb in den Idealismus verwickelt, weil die Physiker die
Dialektik nicht gekannt haben. Sie haben gegen den metaphysischen
Materialismus gekämpft (im Engelsschen und nicht positivistischen,
Humeschen Sinne des Wortes), gegen seine ,mechanistische Einseitigkeit*
und haben mit dem Bad das Kind ausgeschüttet. Sie leugneten die
Unveränderlichkeit der bis dahin bekannten Elemente und Eigenschaften
der Materie und gelangten damit zur Leugnung der Materie selbst,
d.h. zur Leugnung der objektiven Wirklichkeit der physischen Welt. Sie
leugneten den absoluten Charakter der wichtigsten und grundlegendsten
Gesetze und kamen dahin, jede objektive Gesetzmäßigkeit in der Natur
zu leugnen, die Naturgesetze als bloße Konventionen hinzustellen, als
Beschränkungen unserer Erwartungen*, als ,logische Notwendigkeiten*.
Sie forderten den relativen, den Annäherungscharakter unserer Erkennt-
140 Die Erkenntnistheorie Lenins
»Λ

nisse und kamen dahin, den von unserer Erkenntnis unabhängigen Ge­
genstand; den unsere Erkenntnis annähernd treu, relativ richtig wider­
spiegelt, zu leugnen usw. bis in die Unendlichkeit."
So stellt, wie wir sehen, gerade die Verteidigung des Materialismus
Lenin dem alten Materialismus gegenüber und gleichzeitig stellt die Ver­
teidigung des Materialismus die Probleme der Dialektik in den Vorder­
grund. Lenin erfaßt diese bei einer zentralen Frage, bei der Frage der
absoluten und relativen Beschaffenheit unserer Kenntnisse. Der Weg der
dialektischen Lösung geht von der Frage aus, wie die Relativität der
einzelnen Kenntnisse (Sätze, Gesetze usw.) ein notwendiges, unentbehr­
liches Moment des Absoluten ist; wie ist es möglich, daß eine solche
Relativität der Kenntnisse ihre Objektivität, die Objektivität der Außen­
welt und ihrer Erkennbarkeit nicht erschüttert? Der Weg zur Lösung
steht ausschließlich der Dialektik offen. Für jedes mechanische, formal­
logische, metaphysische Denken (und das bezieht sich auch auf den
alten Materialismus) ist die Wahrheit entweder absolut oder relativ.
Einen Übergang gibt es nicht. Man muß wählen. Und da uns die modernen
Wissenschaften, die Entwicklung des modernen Lebens Tag für Tag, von
Stunde zu Stunde einbleuen, daß die Erscheinungen selbst und damit die
Kenntnisse, die wir uns von den Erscheinungen aneignen können, rela­
tiv sind, mußte notgedrungen in den der Dialektik fremden modernen
Philosophien der Relativismus und mit ihm der Agnostizismus siegen.
Wir sehen aus dieser Frage, die Lenin im Zusammenhang mit der Krise
in der modernen Physik, mit dem Bankrott der Methode des alten Mate­
rialismus aufwirft, daß hier etwas viel Allgemeineres verborgen liegt als
der - wenn auch an sich wichtige - auslösende Anlaß. Im Zusammen­
hang mit der Krise in der Physik kritisiert natürlich Lenin nicht nur den
alten Materialismus, sondern weist auch darauf hin, daß der heutige
Idealismus mit diesen neuen Erscheinungen ebensowenig gedanklich
fertig werden kann wie jener, nur die Form des Bankrotts ist ein an­
derer; hier kommt eine rein relativistische Weltanschauung zustande.
(Diese Auffassung begleitet die Entwicklung der ganzen modernen
bürgerlichen Philosophie ; denken wir nur an die Rolle der Wahrschein­
lichkeit - probabilité - im französischen Existentialismus.)
Die dialektische Lösung bestand bei Hegel darin, daß das Relative
ein Moment, aber nur ein Moment der Dialektik ist. Und das bedeutet,
daß, vom Standpunkt des Ganzen, das Resultat nicht das Leugnen der
objektiven Wahrheit ist, sondern die erkenntnistheoretische und ge­
schichtliche Bestimmung der Annäherung an die Wahrheit. Lenin führt
dieses Prinzip so aus: ,,Vom Standpunkt des modernen Materialismus,
d. h. des Marxismus, sind nur die Grenzen dessen geschichtlich bestimmt,
Materialismus und ÎMalektik
#

wie sich unsere Erkenntnis der objektiven, absoluten Wahrheit an­


nähern kann, aber die Existenz dieser Wahrheit selbst ist unbedingt,
und unbedingt ist auch, daß wir ihr näherkommen... Es ist geschicht­
lich bestimmt, in welcher Zeit und unter welchen Umständen unsere
Erkenntnis vom Wesen der Dinge ... zur Entdeckung der Elektronen
im Atom gelangt, aber es ist unbedingt, daß jede solche Entdeckung
ein Weiterschreiten der ,unbedingt objektiven Erkenntnis* ist. Kurz ge­
faßt, jede Ideologie ist geschichtlich bestimmt, aber es ist unbedingt,
daß jeder wissenschaftlichen Ideologie ... eine objektive Wahrheit, eine
absolute Natur entspricht. Ihr werdet sagen: diese Unterscheidung
zwischen relativer und absoluter Wahrheit ist unbestimmt. Darauf ant­
worte ich: dieser Unterschied ist gerade genug »unbestimmt*, um zu ver­
hindern, aus der Wissenschaft ein Dogma zu machen im schlechten Sinne
des Wortes, d. h. etwas Totes, Erstarrtes, Versteinertes ; zu gleicher Zeit
ist er gerade »bestimmt* genug, um eine Grenze zu ziehen, und zwar ent­
schieden und unwiderruflich, vor den Sophistereien des Fideismus und
Agnostizismus, des philosophischen Idealismus und der Anhänger Kants
und Humes.**
Nur der dialektische Materialismus ist fähig, den Moment-Charakter
der Relativität konsequent und zugleich biegsam zu Ende zu denken.
Der aufrichtige Glaube an den Weltgeist machte bei Hegel noch einen so
entschiedenen Objektivismus, eine so starke Überzeugtheit in der objek­
tiven Existenz und Erkennbarkeit der Außenwelt möglich, daß er im­
stande war, den Moment-Charakter der Relativität auszuarbeiten, ohne
in den Relativismus zurtickzufallen, daß bei ihm die Erkenntnis der
dialektischen Beschaffenheit der Wirklichkeit —hier und anderwärts -
nicht selten die Grenzen der materialistischen Dialektik streifte. Wenn
der heutige Idealismus den reinen Agnostizismus, den reinen Solipsis­
mus überwinden will, verfällt er entweder den vollkommen grundlosen
(oft unaufrichtigen, direkt demagogischen) Mythen, oder er ist gezwungen,
solche Gedanken, Vorstellungen, Erlebnisse auszuklügeln, die niemandes
Gedanken, Vorstellungen, Erlebnisse sind, die - angeblich - die „ge­
meinsamen** Elemente der subjektiven und objektiven Welt bilden usw.
Die moderne Philosophie kann deshalb nur zwischen den waghalsigen
und den verschämten Mythen wählen. Aber sie ist immer wissenschafts­
feindlich, entwicklungsfeindlich; ihre Methode ist immer starr, weil sie
immer den Zusammenhang aus einem Moment aufbaut. Ein solcher Aus­
gangspunkt des Denkens schließt die Dialektik aus, die bei Hegel, wenn
auch in idealistischer Form, noch teilweise möglich war, weil seinWeltgeist,
wenn auch mystifiziert, die ganze Natur, die ganze Gesellschaft und
ihre Geschichte in sich enthielt, und zwar nicht in toter Erstarrung,
142 ie Erkenntnistheorie Lenins

sondern in stetigem Absterben und stetiger Erneuerung begriffen, in


einer ohne Unterlaß Neues produzierenden, revolutionären Aufwärts­
bewegung. Der „dritte Weg“ des modernen Idealismus schließt das ge­
rade aus. Es ist kein Zufall, daß die 48er Revolution die Krise der
Hegelschen Philosophie endgültig abschloß, und daß der mechanische
Materialismus und sehr verschiedene, aber immer der Dialektik feind­
liche Variationen des subjektiven Idealismus ihren Platz einnahmen, daß
Schopenhauer auf den Thron erhoben wurde, in dessen Augen die Dia­
lektik Wahnsinn bedeutete. So ist es auch kein Zufall, daß der damalige
führende Theoretiker des philosophischen „dritten Weges“, Petzoldt,
das Ideal des Denkens in jenem Weg sah, der „zum endgültigen, kon­
stanten Zustand der Menschheit“ führt, d. h. in der philosophischen
Verewigung der eben existierenden kapitalistischen gesellschaftlichen
Ordnung. Noch weniger zufällig war es, daß das vor- und nachfaschisti­
sche Denken den unerbittlichsten, konsequentesten Feind der Hegel­
schen Dialektik Kierkegaard zum Modephilosophen machte.
So scharf ist der Gegensatz zwischen dem dialektischen Materialismus
und allen bürgerlichen philosophischen Strömungen der imperialisti­
schen Periode. Dieser unüberbrückbare Gegensatz erklärt die schnei­
dende Schärfe der Argumentierung in Lenins philosophischen Schriften.
Lenin sah von Anfang an klar, daß sich hier eine gedankliche Ver­
finsterung der Menschheit vorbereitet, daß aus den von ihm bekämpften,
scheinbar akademischen erkenntnistheoretischen Auffassungen, die in
einer für die breiten Massen vollkommen unzugänglichen Terminologie
geschrieben waren, ideologische und damit gesellschaftliche und poli­
tische Waffen der Weltreaktion geschmiedet werden.
Lenin sah jedoch, als echter, großer Dialektiker, in dem negativen
Erscheinungskomplex nicht nur das Negative, oder richtiger, er erfaßte
auch das Negative konkret dialektisch. Und die Verneinung ist eben,
wie es die Dialektik lehrt, die bewegende widerspruchsvolle Kraft des
Fortschritts, der Aufwärtsbewegung. Freilich, wenn wir hier von den
in der Richtung des Fortschritts wirkenden Elementen sprechen, den­
ken wir nicht an die reaktionären Erkenntnistheorien, nicht an die noch
reaktionäreren Mythen, sondern an jene Lebenstatsachen, Lebens­
erscheinungen, die diese Bewegung in der Wirklichkeit erregten. Wir
erinnern daran, was wir über die vom Leben gestellten echten, wirk­
lichen Fragen und ihren unrichtigen schiefen und in die Irre führenden
Antworten gesagt haben. Stets handelt es sich um die dialektische,
fruchtbare und befruchtende, durch Gegensätze aufwärtsstrebende Ver­
neinung. Negativität ist in solchen Fällen immer in den durch die Wirk­
lichkeit aufgegebenen Fragen verborgen und nicht in den unzulässigen
Die dialektische Bedeutung der Erkenntnis M3

Antworten. Und die Frage ist in unserem Fall die Krise der Physik, das
Zweifelhaft-Werden des alten Begriffes der Materie, ihrer Struktur und
ihrer Gesetze. So abweisend Lenin gegenüber den idealistischen, den
„dritten Weg“ vertretenden Kommentatoren dieser Erscheinung war,
so leidenschaftlich und verständnisvoll studierte er die Erscheinung
selbst, d. h. das, was in den modernen Naturwissenschaften vorging.
Und er sah klar, daß gerade der Zusammenbruch des alten mechani­
schen materialistischen Weltbildes zugleich der Ausgangspunkt für die
Entstehung eines neuen dialektischen materialistischen Weltbildes ist.
„Die moderne Physik liegt in Geburtswehen. Sie ist dabei, den dialek­
tischen Materialismus zu gebären.“ Wir haben Lenins Kritik über die
philosophiegeschichtlichen Methoden Plechanows mit Absicht zitiert.
Lenin begnügte sich nicht damit, nur Kritik zu üben ; er stellte in seiner
eigenen Praxis die echte marxistische Auffassung über die geistige Ent­
wicklung der Menschheit ihrer im Geiste des alten Materialismus voll­
zogenen Vergröberung, Vulgarisierung gegenüber.

3
DIE DIALEKTISCHE BEDEUTUNG
DES ANNÄHERUNGSCHARAKTERS DER ER K EN N TN IS

Lenin sieht den Hauptfehler des alten Materialismus darin, daß er


nicht imstande ist, die Dialektik auf die Widerspiegelungstheorie, auf
den Prozeß und die Entwicklung der Erkenntnis anzuwenden. Was be­
deutet das vom Gesichtspunkt der Philosophie? Jene Auffassung des
alten Materialismus, die unter Widerspiegelung nichts anderes versteht
als die unmittelbare Projektion einer stehenden, starren Welt, die Wider­
spiegelung im strengen, unmittelbaren Sinne dieses Wortes, so wie sie
sich in jedem Moment in unseren Sinnen abspielt. Freilich stehen wir
hier einer grundlegenden Erscheinung gegenüber, welche unbedingt als
Ausgangspunkt des Denkens dienen muß. Von der Außenwelt können
wir nur durch unsere Empfindungen Kenntnis nehmen ; wer das leugnet,
ist bereits mitten im Agnostizismus.
Doch die Außenwelt ist nicht nur das, was für uns unmittelbar ge­
geben ist. Sie ist zugleich Bewegung, Veränderung, Richtung, Gesetz
der Veränderung, sie besteht aus ständigen (eventuell nicht mehr wahr­
nehmbaren) Elementen der in der unmittelbaren Empfindung wahr­
genommenen Erscheinungen usw. Daraus entsteht für den alten Mate­
rialismus ein unlösbares Dilemma. Schon der junge Marx erkannte, daß
wir in Demokrits Denken auf dieses Dilemma stoßen: der Begriff des
144 Die Erkenntnistheorie Lenins

Atoms und die unmittelbare Wahrnehmung stehen hier unversöhnlich ein­


ander gegenüber. Dasselbe Problem taucht in immer neuen Variationen
auch in der modernen Philosophie auf. Lenin sieht einerseits klar den
notwendigen Zusammenhang der Wahrnehmung und der objektiven
Außenwelt (und hält deshalb den „Sensualismus“ für ein notwendiges
Moment des materialistischen philosophischen Verhaltens), andererseits
erkennt er ebenso klar, daß die Wahrnehmung nur ein Moment ist, das
lediglich im dialektischen Zusammenhang die Erkenntnis der objektiven
Außenwelt sichern kann. An sich, isoliert, kann es diese Garantie nicht
geben. Lenin weist darauf hin, daß sowohl der materialistische Diderot
als auch der solipsistische Berkeley aus dem Lockeschen Sensualismus
hervorgegangen sind. (Und es ist kein Zufall, daß Vertreter des alten
Materialismus wie Shaftesbury, sobald sie die Gesetze des Seins ge­
danklich fassen wollten, in die allernächste Nachbarschaft des Plato­
nismus gelangten.)
So wird der Zusammenhang von Erscheinung und Sein, Sein und Ge­
setzmäßigkeit, ihre Gleichartigkeit oder scharfe Absonderung, ihr dialek­
tisches In-einander-Übergehen oder aber ihre starre Gegenüberstellung
in der Entwicklung der Philosophie zur entscheidenden Frage. Hier
macht ebenfalls Hegel, der Gründer der modernen Dialektik, den ent­
scheidenden Schritt. In seinen Randbemerkungen zu Hegels Logik er­
kennt Lenin klar die ganze erkenntnistheoretische und methodologische
Bedeutung dieses Schrittes. Wenn das Denken das unmittelbar gegebene
Sein überschreitet, entsteht der Schein, als wäre hier ausschließlich die
Tätigkeit der Erkenntnis in Bewegung, als verhielte es sich rein äußer­
lich zum objektiven Sein selbst. Aber - dies erkennt Hegel, und Lenin
interpretiert es materialistisch - dieser Prozeß ist der Weg, die Be­
wegung des Seins selbst. Wenn aber die Erkenntnis von der Erschei­
nung weiterschreitet, sich dem Wesen nähernd, dann tut sie nichts
anderes, als daß sie die Bewegung des Seins selbst verfolgt - d. h. wenn
alles, was das Denken als Abstraktion, ja sogar als Naturgesetz usw.
bezeichnet, nichts anderes ist als eine neue, wenn auch nicht durch die
Wahrnehmung unmittelbar gegebene Form des Seins selbst ; wenn diese
Bewegung des Denkens nicht eine selbständige, aus ihm selbst kommende
Tätigkeit ist, sondern die komplizierte, nicht unmittelbare Widerspie­
gelung der Bewegung, der Formänderung des Seins im menschlichen
Bewußtsein, dann erhält die materialistische Erkenntnistheorie, die
Erkenntnis als die Widerspiegelung der vom Bewußtsein unabhängig
existierenden Außenwelt im menschlichen Bewußtsein eine neue Be­
leuchtung. Da das objektive Sein, seinem Wesen nach auch ein Prozeß
ist, die Bewegung von Widersprüchen, das Umschlagen von Erschei-
Die dialektische Bedeutung der Erkenntnis 145

nungen in ihr Gegenteil, so kann der diesen reproduzierende gedank­


liche Prozeß nur insofern ein adäquates Bild des Originals geben, so­
fern er selbst dialektisch ist.
Diese Auffassung löst mit einem Schlag die unlösbar scheinenden
Fragen der idealistischen Erkenntnistheorie. Es verschwindet der starre
Gegensatz von Erscheinung und Wesen, Erscheinung und Ding an sich.
Gerade die Einsicht in die Objektivität des Wesens und seiner erkennt­
nistheoretischen Gleichartigkeit mit den Erscheinungen heben den Irr­
glauben auf, als wären die Erscheinungen bloßer Schein. Was den all­
gemeinen, abstraktesten Begriff der Objektivität betrifft, existiert die
Erscheinung genau so, wie das tieferliegende, ständigere wesentlich
Seiende. Der Unterschied drückt sich — durch eine ununterbrochene
Reihe von Übergängen - in den verschiedenen Stufen des Seins aus.
Eine der wichtigsten Entdeckungen der Hegelschen Logik ist die Fest­
stellung einer solchen Stufenhaftigkeit der Existenz (Sein, Dasein, We­
sen, Existenz, Realität, Wirklichkeit). Doch handelt es sich hier nicht
um eine starre und tote Hierarchie, deren Abbild bereits bei den Neu-
platonikem zu finden ist, sondern um dialektische Verbindungen, um
den widersprüchlichen Zusammenhang der Relativität von Sein und
Nicht-Sein. Das Wesen ist existierender als die Erscheinung, indem diese
nur ein Moment jenes ist, während das Wesen die Zusammenfassung, die
Einheit dieser Momente ist. Und eben deshalb kann das eine nie vom
anderen abgelöst werden. Die Kenntnis des Zusammenhanges der Mo­
mente, der objektiv existierenden Erscheinungen zeigt den Weg zur Er­
kenntnis des Wesens, des Dinges an sich; diese Kantkritik Hegels an­
erkennt Lenin im vollen Maße, so wie es Marx und Engels seinerzeit
getan hatten.
Der dialektische Zusammenhang von absolut und relativ ist aber
durch diese eine Frage noch nicht erschöpft. Die Erkenntnis des Wesens
ist erst dann wirklich adäquat, wenn es dem Denken gelungen ist, die
im Wesen verborgenen Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Hier erreicht
die abstrakte, wissenschaftliche Forschung die höchste Stufe, die prin­
zipiell möglich ist. Und die Richtigkeit dieses Gesichtspunktes hebt
Lenin, ebenso wie Marx und Engels, immer scharf hervor, besonders
dem seelenlosen Empirismus gegenüber, der sich in Beschreibung, Auf­
zählung, mechanischer Anordnung von Erscheinungen verliert. Ihm
gegenüber betonte Engels richtig: „Das allgemeine Gesetz der Form­
veränderung der Bewegung ist viel konkreter als jedes dafür heran­
gezogene ,konkrete' Beispiel." Lenin bekämpft auch aufs Entschie­
denste die - z. B. durch Kant vertretene —Auffassung, daß das gedank­
lich erfaßte Wesen die objektive Wahrheit nicht erreiche, da ihm der
146 Die Erkenntnistheorie Lenins

sinnlich gegebene räumliche und zeitliche Stoff fehlt. „Der Wert“, sagt
Lenin, ,,ist eine Kategorie, der das Sinnenmaterial ,fehlt', er ist aber
trotzdem wahrer als das Gesetz von Nachfrage und Angebot." Ja, wie
sehr auch Lenin Hegels Polemik gegen Kant in der Frage der Scheidung
von Erscheinung und Ding an sich bejaht, wie sehr er auch die all­
gemeine Feststellung der Hegelschen Dialektik anerkennt, daß die Welt
des Dinges an sich identisch ist mit der Welt der Erscheinunge n und
gleichzeitig auch ihr Gegensatz, also anerkennt, daß sowohl die Welt der
Erscheinungen als auch die des Dinges an sich Momente für die Er­
kenntnis sind, ihre Stufen, ihre Vertiefung bedeuten, so stellt er doch
kritisch gegenüber Hegel fest, daß dieser nicht sieht, daß die Welt des
Dinges an sich immer mehr von den Erscheinungen abrückt.
Diese Behauptung erweckt im ersten Moment den Schein, als wolle
die Dialektik die bereits bei Demokrit aufgetauchte Antinomie des alten
Materialismus dadurch lösen, daß sie die Rolle der Erscheinungen im
Weltbild herabdrückt. Lenin jedoch hebt gleichzeitig die Feststellung
Hegels hervor, daß die Welt der Gesetze die Widerspiegelung eines
Ruhezustandes der existierenden, d. h. erscheinenden Welt ist, woraus
folgt, daß die Welt der Erscheinungen gegenüber der Gesetze das Ganze,
die Totalität bedeuten, denn sie enthält das Gesetz, außerdem aber noch
mehr, nämlich das Moment der sich selbst bewegenden Form. Das heißt,
die ganze Wirklichkeit hat immer einen reicheren Inhalt als das voll­
kommenste Gesetz ; hier können wir die positive Bedeutung des Moments
der Relativität in der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis
sehen. Und wenn es auch wahr ist, daß die immer vollkommenere Er­
kenntnis der Gesetze immer mehr von diesem Moment ergreift und es
immer besser und tiefer erfaßt, so bleibt doch wahr, daß der dialektische
Widerspruch von Erscheinung und Wesen ewig ist, das heißt, jedes ein­
zelne konkrete Gesetz immer nur eine Annäherung an die sich immer
verändernde, sich umgestaltende, in jeder Beziehung unendliche und des­
halb gedanklich nie mit voller Adäquatheit vollkommen zu erschöpfende
Totalität ist.
So ergibt sich aus der richtigen Fragestellung der dialektisch-mate­
rialistischen Erkenntnistheorie die richtige Erfassung der absoluten und
relativen Beschaffenheit der Erkenntnis. Alle unsere Erkenntnisse sind
nur Annäherungen an die Wirklichkeit in ihrer ganzen Vollkommenheit ;
insofern ist die Erkenntnis immer relativ. Da sie aber eine wirkliche
Annäherung an die objektive, vom Bewußtsein imabhängige Wirklich­
keit ist, ist sie (wenn sie die objektive Wirklichkeit richtig widerspiegelt)
immer absolut. Die absolute und relative Beschaffenheit der Erkenntnis
bilden eine untrennbare dialektische Einheit.
Die dialektische Bedeutung der Erkenntnis 1 4 7

Hier scheidet sich die dialektisch-materialistische Auffassung über die


unendliche Annäherung radikal von der Kants. Kant ist insofern dialek­
tisch, als er den Annäherungscharakter der Erkenntnis erfaßt und sie als
unendlichen Prozeß bestimmt hat ; da aber bei ihm das Ding an sich prin­
zipiell unerkennbar ist, da bei ihm dieser unendliche Prozeß nur auf die
Erkenntnis der Erscheinungen gerichtet sein kann, versinkt das Ganze
seiner Erkenntnis wieder in Relativismus. Natürlich gilt dies noch viel
mehr für den Neukantianismus sowie für die modernen Anhänger von
Hume und Berkeley, die die Existenz des Dinges an sich leugnen und
es als „überflüssigen“ Begriff aus der Philosophie verbannen wollen.
Hier handelt es sich überall darum —und dies bezieht sich auch auf
das Ganze der modernen Philosophie —, daß der heutige Idealismus das
Absolute starr vom Relativen trennt, die lebendigen und wirklichen
gedanklichen Zusammenhänge der objektiven Wirklichkeit, die einzelnen
Momente dieser Zusammenhänge zerreißt und die Relativität zum ein­
zigen Prinzip der wissenschaftlichen Erkenntnis macht. Daraus kann
nichts anderes entstehen als die Verzerrung und Verfälschung der wirk­
lichen Zusammenhänge. Es tritt das ein, was Lenin oft hervorhob, daß
jede Wahrheit zur Absurdität wird, wenn man sie über die Grenzen ihrer
wirklichen Gültigkeit hinaus überspannt.
Diese Zentralstelle des Annäherungsbegriffs in Lenins wissenschaft­
licher Auffassung hat eine kolossale praktische Bedeutung für die Me­
thode sowohl der Naturwissenschaften als auch der Gesellschaftswissen­
schaften. Aus der mechanischen Auffassung des alten Materialismus
mußten notwendigerweise fatalistische Weltanschauungen hervorgehen.
Es mußte die Überzeugung entstehen, daß, wenn wir die „letzten Ele­
mente“ der Welt und ihre gesetzmäßigen Zusammenhänge vollkommen
kennen, wir bei vollkommener Kenntnis irgendeiner gegebenen Situa­
tion jede in der Zukunft eintretende Lage genau vorausbestimmen kön­
nen (gewisse Resultate der Astronomie unterstützten scheinbar diese
Auffassung). Als die dialektische Entwicklung der modernen Physik die
Grundlagen dieser Auffassung erschütterte, sahen die Vertreter der ver­
schiedenen idealistischen Auffassungen hierin eine Erschütterung des Be­
griffes des Naturgesetzes selbst, und indem sie auf die von der Wirk­
lichkeit dialektisch gestellten Fragen relativistische, agnostizistische, ja
sogar mystische Antworten geben, stellen sie - hier bewußt, dort unbe­
wußt — die Verallgemeinerung und Popularisierung der naturwissen­
schaftlichen Resultate in den Dienst der reaktionären Weltanschauungen.
Diese Auffassung ist aber auch in den bürgerlichen und unter bürger­
lichem Einfluß stehenden Gesellschaftswissenschaften überaus verbrei­
tet. Denken wir an Nietzsches Theorie der ewigen Wiederkehr, denken
148 Die Erkenntnistheorie Lenins

wir daran, daß - nach Bucharin — die Gesellschaftswissenschaft nur


ihrer heutigen mangelhaften Entwicklung zufolge nicht imstande ist,
die zukünftigen Ereignisse so genau vorauszusagen wie die Astronomie.
Der so entstehende Fatalismus ist nicht nur theoretisch unbegründet,
unrichtig, er muß auch lähmend auf jede menschliche Aktivität wirken,
besonders auf jene, die auf eine Umgestaltung der Gesellschaft in fort­
schrittlichem Sinne gerichtet ist. Dadurch, daß sie aus der Gesellschafts­
theorie die Dialektik der absoluten und relativen Erkenntnis eliminiert,
daß sie ihr den Annäherungscharakter der Wahrheit nimmt, vernichtet
sie gedanklich den theoretischen „Spielraum*4der gesellschaftlichen Akti­
vität. Im bürgerlichen Denken drückt sich dieser auS eigener Schuld ent­
standene Schein als das unlösbare Dilemma des Voluntarismus und Fata­
lismus, des schrankenlos freien Willens und der mechanischen Not­
wendigkeit aus. (Der Existentialismus z. B. benützt die „Errungenschaf­
ten** der modernen bürgerlichen Erkenntnistheorie dazu, um jede sich
auf die objektive Außenwelt beziehende Kenntnis als bloße Wahrschein­
lichkeit hinzustellen, was dann dazu dient, in ergänzender Weise der
Außenwelt die absolut freie Entschließung als ein einziges Absolutum
entgegenstellen zu können.)
Lenin wendet hier auf außerordentlich fruchtbare Weise die Wirk-
lichkeits- und Erkenntnisauffassung des dialektischen Materialismus
auf die Gesellschaftswissenschaft und die gesellschaftliche Handlung an.
Hier ist es uns nicht möglich, diese Frage in ihrer Vielseitigkeit auch
nur zu skizzieren; wir wollen nur an einigen charakteristischen Bei­
spielen den unüberbrückbaren Gegensatz von Lenins Auffassung zu den
bürgerlichen und unter bürgerlichem Einfluß stehenden pseudosoziali­
stischen Theorien aufzeigen, wobei der Akzent darauf fällt, daß diese
und nur diese Auffassung das gewissenhafteste Studium und die klarste
Aufdeckung der Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung mit der
maximalen Aktivität der gesellschaftlichen Tätigkeit zu verbinden
vermag. Lenin hat am Anfang der zwanziger Jahre zur Zeit der Welt­
krise mit gleicher Schärfe sowohl die bürgerlichen Ökonomen bekämpft,
die in dieser Krise nur eine vorübergehende Störung sahen, als auch jene
Revolutionäre, nach deren Meinung die Bourgeoisie keinen Ausweg aus
dieser Krise mehr habe.
„Vollkommen auswegslose Lagen gibt es nicht**, sagte Lenin. Dies
bedeutet in die Sprache der Erkenntnistheorie übersetzt, daß die marxi­
stische Gesellschaftswissenschaft imstande ist festzustellen, daß für die
kapitalistische Produktionsordnung eine schwere, unter konkreten Um­
ständen eine verhängnisvolle Krise eingetreten ist. Aber die Frage, ob
es einen „Ausweg** daraus gibt, wird der Klassenkampf, die Praxis der
Die dialektische Bedeutung der Erkenntnis 149

einander gegenüberstehenden Klassen entscheiden. Die von vornherein


angenommene „Ausweglosigkeit'* der Krise ist nach Lenin eine Pedan­
terie, ein Spiel mit Worten oder Begriffen; die Praxis der revolutio­
nären Parteien muß „beweisen", daß es in der Wirklichkeit keinen „Aus­
weg" gibt. (Hier ist der philosophische Hintergrund für die Gegensätze
in vielen Fragen der Ökonomie und der Politik zwischen Lenin und
Rosa Luxemburg.)
Mit alledem umschreibt Lenin genau das Verhalten jener Menschen,
die den Standpunkt des dialektischen Materialismus zur objektiven,
vom Bewußtsein imabhängigen Außenwelt und zugleich zu ihrer eigenen
Praxis im gesellschaftlichen Leben einnehmen. Die philosophische Grund­
lage dieses Verhaltens ist das von Lenin bestimmte Verhältnis der mensch­
lichen Erkenntnis zur Außenwelt. Lenin formuliert dies —gerade im Zu­
sammenhang mit der revolutionären Entwicklung-so : „Die Geschichte, be­
sonders die der Revolutionen ist immer inhaltsvoller, reicher, vielseitiger,
lebendiger, ,schlauer', als die besten Parteien, die klassenbewußtesten
Avantgarden der fortgeschrittensten Klassen sich dies vorstellen."
Damit gelangt der Annäherungscharakter der Erkenntnis, die dialek­
tische Einheit der absoluten und relativen Erkenntnis in eine sehr in­
teressante Beleuchtung. Im Gegensatz zum bürgerlichen Denken, das
zwar erkenntnistheoretisch die Objektivität der Außenwelt leugnet, sich
weltanschaulich aber dennoch von ihr als einer finsteren, gefährlichen,
feindlichen und unberechenbaren Macht abwendet, verkündet der dialek­
tische Materialismus das Vertrauen zur objektiven Wirklichkeit, die Hin­
gebung an die Wirklichkeit. Selbst der Umstand, daß die Erkenntnis die
Wirklichkeit noch nicht vollkommen erreicht hat, ist eine Aufmunterung
zum Weiterschreiten, zur weiteren Annäherung; denn die wertvollsten
Inhalte unseres Denkens sind nur die Reflexe der objektiven Wirklich­
keit; unsere Weiterentwicklung muß also ebenfalls in der Steigerung
dieser Wechselwirkung bestehen. Und wo es sich um unsere eigene, un­
sere nächste Außenwelt handelt : um die Gesellschaft, dort zerstört der
dialektische Materialismus den Pessimismus der modernen bürgerlichen
Philosophie, ihr Zurückschrecken vor der Wirklichkeit, ihr furchtsames
Sich-Zurückziehen noch mehr; in der Bewegung der Gesellschaft sind,
nach Lenin, noch höhere Möglichkeiten der Entwicklung, des Fort­
schritts, der Umgestaltung enthalten als in unseren schönsten Phan­
tasien. Zugespitzt könnte man sagen: der Gang der Wirklichkeit ist
philosophisch tiefer und wirklicher als unsere tiefsten Gedanken. Diese
Einsicht gibt mm dem dialektischen Materialisten einen Ansporn, sich
nicht nur in das Studium der Wirklichkeit noch mehr zu vertiefen,
sondern auch-im engsten Zusammenhang damit, als dessen Konsequenz-
150 Die Erkenntnistheorie Lenins

entschiedener und mit größerem Selbstvertrauen zu handeln. Denn


die Bewegung der Gesellschaft ist die Resultante der menschlichen Hand­
lungen, unter denen - als eine nicht zu vernachlässigende Komponente -
auch unser eigenes Handeln, das des revolutionären Proletariats, figu­
riert. Die Erkenntnis, die imstande ist, dialektisch die „ Schlauheit**des
geschichtlichen Entwicklungsweges zu verfolgen, wird nur dann effekt­
voll und wertvoll sein, wenn jede Erkenntnis zur motorischen Kraft des
Handelns wird, wenn jede Erfahrung des Handelns, indem sie bewt ßt
wild, die Erkenntnis bereichert, sie noch entschiedener und elastischer
macht. Die Leninsche Erkenntnistheorie ist die große Schule des prak­
tischen Handelns.

4
TOTALITÄT UND KAUSALITÄT

Doch ein so fruchtbarer, ein so dialektischer Zusammenhang des Ab­


soluten und Relativen ist nur durch die gedankliche Erfassung, die all­
seitige Untersuchung des zu erkennenden Gegenstandes möglich. Indem
Lenin hier die Ideen von Marx und Engels (sowie von Hegel) weiter­
entwickelt, untersucht und löst er ein Problem, das in der modernen
Philosophie eine zentrale Stelle einnimmt und in dessen Entwicklung die
falschen Fragestellungen, die Pseudodilemmata, die sich um dieses Pro­
blem bildeten, eine große Rolle spielten. Und zwar wirft Lenin in in­
teressanter und charakteristischer Weise diese Frage auf und löst sie
richtig, bevor das bürgerliche Denken zu der heute erreichten Verzerrung
dieser Frage gelangt war. Wir sprechen über das Problem des Ganzen,
der Totalität.
Das Wort Totalität ist heute mit Recht unpopulär ; viele denken, daß
es dem faschistischen Wörterbuch entstammt, und das ist kein Zufall.
Die faschistische „Weltanschauung** hat hier tatsächlich die Entwicklung
der ihr vorangegangenen reaktionären Philosophie für sich ausgewertet.
Was sich in den Anfangsetappen des Imperialismus als ein Streben nach
einem „endgültig konstanten Zustand** (Petzoldt) ankündigte, bekam
nach dem ersten Weltkrieg eine viel entwickeltere, mehr und mehr sich
entfaltende reaktionäre Form, gerade mit Hilfe der Kategorie der Tota­
lität. Ein faschistischer, wenn auch nicht nationalsozialistischer Philo­
soph und Soziologe wie Othmar Spann entwickelte diesen Gedanken am
radikalsten. Die Gesellschaft als Totalität bedeutet nach ihm, daß alles
durch die „Stände**, die Kategorien der Uber- und Unterordnung be­
stimmt wird; die Gültigkeit der Totalität schließt die Gültigkeit der
Kausalität, noch mehr die der Entwicklung aus. Die auf „ständische**
Totalität und Kausalität 151

Weise hierarchisch eingerichtete Gesellschaft ist ein „organisches“ Gan­


zes, eine Totalität, die so und nur so (also unveränderlich) existieren
kann. Die faschistische gesellschaftliche Ordnung ist ewig.
Das ist freilich selbst für das bürgerliche, ja sogar das reaktionäre
Denken ein karikaturistisches Extrem des Prinzips der Totalität, das
aber - gerade infolge seiner extremen Fassung —lange Zeit auf breite
Kreise seinen Einfluß ausübte. Und diesen Einfluß können wir nur dann
wirklich verstehen, wenn wir seinen Zusammenhang mit seinen weniger
konsequenten Vorgängern, z. B. mit der oben angeführten machistischen
Gesellschaftsphilosophie, erkennen. Aber wie überall, wo in der imperia­
listischen Philosophie derartige absurd extreme Gedanken auftauchen,
lösen sie nicht eine nüchterne, dialektische Kritik aus, sondern ein ent­
gegengesetztes, ebenso falsches Extrem. Wenn Spann aus der Kategorie
der Totalität eine faschistische Karikatur macht, so war die Reaktion
darauf, daß bei der gedanklichen Erfassung der Geschichte, der Gesell­
schaft jede Vorstellung des Ganzen verbannt wurde, selbst dann, wenn
sie in vollem Einklang mit der objektiven Wirklichkeit stand. So leugnet
z. B. Jaspers, der in dieser Hinsicht einen starken Einfluß auf die fran­
zösischen Existentialisten ausübte, treu seinem Kant sehen Ausgangs­
punkt, eine wie auch immer geartete Rolle der Kategorie der Totalität
in der Erkenntnis der Gesellschaft. Aus der Totalität macht er ein Kant-
sches Ding an sich, ein Absolutum, dessen karikaturistische Konsequenz
wir bei Spann gesehen haben, und da er diese mit Recht leugnet, wirft
er die Kategorie der Totalität aus der Wissenschaftslehre ganz hinaus.
So entsteht bei ihm —und nicht nur bei ihm - objektiv ein Chaos aus der
Welt, das man nur mit einer zweckmäßigen, technischen, denkökono­
mischen Begriffsbildung für uns ordnen kann. (Ein Zurückgreifen auf
den Machismus.) Und diesem Chaos steht, wie bekannt, das isolierte,
anarchistische, „freie“ Subjekt des Existentialismus gegenüber. So ver­
liert sich die bürgerliche Philosophie in dem Pseudo-Dilemma der star­
ren Totalität und dem objektiven Chaos.
Der durch Lenin vertretene Marxismus schiebt —noch lange bevor
diese Extreme sich mit solcher Kraft entfaltet haben - das Schein­
dilemma mit dem eigenen selbständigen „tertium datur“ beiseite. Die
Kategorie der Totalität wider spiegelt, wie jede wirkliche Kategorie, wirk­
liche Zusammenhänge. Marx sagt z. B. in bezug auf die Gesellschaft:
„Die Produktionsverhältnisse jeder Gesellschaft bilden ein Ganzes.“ Die
Kategorie der Totalität ist also einerseits die Erscheinungsform dafür,
daß die objektive Wirklichkeit ein zusammenhängendes Ganzes bildet,
in der jeder Gegenstand mit einem anderen Gegenstand auf irgendeine
Art zusammenhängt, andererseits, daß diese Zusammenhänge auch in
152 Die Erkenntnistheorie Lenins

der objektiven Wirklichkeit konkrete Verbindungen, einzelne Systeme,


einzelne Ganze bilden, die auf sehr verschiedene, aber immer auch be­
stimmte Weise miteinander Zusammenhängen. Lenin zitiert zustimmend
einen Ausspruch Hegels, daß die Philosophie ein Kreis sei, dessen Peri­
pherie aus lauter Kreisen bestehe.
Lenin wendet aber auch hier das dialektische Prinzip des Absoluten
und Relativen an, mit der Betonung des Annäherungscharakters der Er­
kenntnis. „Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, müssen wir alle
seine Seiten, Zusammenhänge und Vermittlungen* erfassen und erfor­
schen. Dies werden wir nie vollkommen erreichen, aber die Forderung
der Allseitigkeit wird uns vor Fehlem und Erstarrung bewahren/* Das
Prinzip der Allseitigkeit ist das Grundprinzip der dialektischen Logik.
Ohne dieses Bestreben würde sie erstarren, einseitig werden. Gleichzeitig
ist sich die dialektische Logik darüber im klaren, daß sie diese Allseitig­
keit nie vollkommen erreichen kann. Die Erkenntnis gibt, soweit sie
richtig, also total ist, ein zusammenhängendes System von Ganzen, aber
nur im Sinne der Annäherung. Einerseits, weil jedes einzelne Ganze
(jeder Hegelsche Kreis), das ihr als Gegenstand dient (z. B. die W irt­
schaftsstruktur irgendeines Landes), gleichzeitig nur ein Teil eines grö­
ßeren Zusammenhanges ist, sowohl im theoretischen als auch im histo­
rischen Sinne, also objektiv nur relativ eine Totalität ist, und weil an­
dererseits unsere Erkenntnis vom Ganzen, von seiner Totalität notwen­
digerweise nur relativ, nur eine Annäherung ist. Nur wenn wir bestrebt
sind, die sich bewegenden, wechselnden, allseitigen Zusammenhänge der
Momente zu ergreifen, können wir uns entsprechend unseren historisch
gegebenen Möglichkeiten der objektiven Wirklichkeit auf die bestmög­
liche Weise nähern.
Dieser methodologische Gesichtspunkt wirkt sich dann entscheidend
auf die objektiven und subjektiven Seiten der Erkenntnis aus. Auf der
objektiven Seite versuche ich nur in bezug auf ein Kategorien-Problem
die Konsequenz des Leninschen Gesichtspunktes aufzuzeigen, in bezug
auf die Kausalität. Der mechanische Materialismus und nicht minder der
metaphysisch denkende, moderne positivistische Idealismus knüpfte die
Möglichkeit, die Außenwelt zu erkennen, methodologisch an das Schick­
sal der starr und isoliert gedachten Ursache-Wirkung-Reihe und des aus
ihr entwickelten kausalen Gesetzes. Die moderne Entwicklung der Natur­
wissenschaften, die komplizierten Erscheinungen des gesellschaftlichen
Lebens zeigten klar, daß dieser vulgär vereinfachte Denkapparat sich
gegenüber den viel verwickelteren Zusammenhängen der Wirklichkeit
bankrott erklären mußte. Es ist allbekannt, daß der bereits zu Lenins
Zeiten auftretende Machismus bestrebt war, die Kausalität durch den
Totalität und Kausalität 1 5 3

sogenannten „funktionalen Zusammenhang'' zu ersetzen; eine Haupt­


these des physikalischen Idealismus unserer heutigen Tage lautet, daß
in der Natur keine kausalen Zusammenhänge existieren. Den Platz der
Kausalität nimmt der angeblich ihr starr gegenüberstehende, ihre Gül­
tigkeit angeblich ausschließende Wahrscheinlichkeits-Zusammenhang
ein usw.
Dieser Krise der alten - mechanisch materialistischen und positivi­
stisch idealistischen - Kategoriensysteme ist innerhalb der ganzen im­
perialistischen Periode ein Zug gemeinsam. Die Einsicht in die Einseitig­
keit der alten Kategorien, die Einsicht ihrer Starrheit und ihrer daraus
resultierenden und erwiesenen Unfähigkeit zur wissenschaftlichen Er­
fassung der neu entdeckten Tatsachen hätte an sich eine —wenn auch
vorderhand negative, nur kritische - Annäherung an den dialektischen
Standpunkt bedeuten können. Das bürgerliche Denken stellt jedoch die
Frage ganz entgegengesetzt ; es identifiziert einfach die Isoliertheit, Starr­
heit der Kategorien mit der Frage der Objektivität und stellt ihr die For­
derung der Schmiegsamkeit, der Elastizität als Forderung eines neuen
Subjektivismus gegenüber. Das heißt, wenn die neue Physik es leugnet,
daß z. B. die Bewegung der einzelnen Korpuskeln, ihre jeweilige Lage usw.
kausal so bestimmt werden könnte, wie es die alte Physik in bezug auf die
Atome tun konnte, dann sieht das bürgerliche Denken hierin nicht ein
neues Problem der Objektivität, der von dem Bewußtsein unabhängigen
Außenwelt, sondern das Eindringen des subjektiven Gesichtspunktes in die
angeblich fraglich gewordene Objektivität. Aus der Wahrscheinlichkeits­
rechnung, mit der die neue Physik innerhalb der einzelnen Zusammen­
hangs-Systeme die Bewegung des Korpuskels bestimmt, ziehen einzelne die
Konsequenz, als wäre hierdurch aus der Natur der Kausalitätszusammen­
hang, das Prinzip der objektiven Notwendigkeit eliminiert worden, als
wäre an seine Stelle das der Subjektivität, der „Freiheit" getreten, als
gäbe die neue Physik der alten Theorie des freien Willens eine neue er­
fahrungsgemäße Stütze. Andere werfen im Zusammenhang mit gewissen
Phänomenen der neuen Physik den aktiven Einfluß des subjektiven „Be­
obachters auf den objektiven Gang der Erscheinungen" auf, als würden
sie in der subjektiven Anwesenheit des Beobachters anders verlaufen als
in seiner Abwesenheit usw., usw.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß hier nur bei Gelegenheit neuer Er­
scheinungen, nur in neuer Fassung dieselbe erkenntnistheoretische Frage
auftaucht, die Lenin in seiner Kritik des Machismus als auf den Kopf
gestellt und falsch entlarvte. Dabei ist für die ernste Gesellschafts­
wissenschaft diese hier durch die Physik aufgeworfene Frage, die er­
kenntnistheoretische Seite einer derartigen Einschränkung des Kausali-
I 54 Die Erkenntnistheorie Lenins

tätsbegriffes, überhaupt nichts Neues. Wenn die Statistik z. B. fest­


stellt, daß im Falle einer guten Ernte mehr Ehen geschlossen werden,
dann fällt es niemandem auch nur im Traume ein, daraus ableiten zu
wollen, daß Peter gerade Marie heiraten werde ; es ist nur die Wahrschein­
lichkeit größer, daß unter solchen Umständen aus dieser oder jener
Liebe, Verlobung usw. tatsächlich eine Ehe werde. Aber daraus, daß
aus dem allgemeinen Gesetz, aus dem allgemeinen Tatbestandszusammen­
hang die einzelne Ehe nicht kausal „ableitbar ist“, folgerte noch nie ein
ernst zu nehmender Gesellschaftsforscher, daß jene einzelne Ehe keinen
Grund habe. Man muß nur den objektiven Zusammenhang der einzelnen
Ursache-Wirkung-Reihen, ihre Unabhängigkeit voneinander bis zum
Augenblick des Zusammentreffens und ihre Verschmelzung zu einer
Resultante konkret erkenntnistheoretisch und methodologisch unter­
suchen und die Wahrscheinlichkeits-Verbindungen mit der objektiven
Kausalitätsreihe in eine objektive Verbindung bringen. Dasselbe gilt
für die wichtigsten Gesetze der marxistischen Ökonomie. Wenn der um
den Extraprofit geführte Konkurrenzkampf das Sinken der Profitrate
hervorruft, wenn die Krise notwendigerweise einen Teil des Kapitals ent­
wertet, so fällt es keinem Marxisten ein, daraus „ableiten“ zu wollen,
wie Textilfabrikant X oder Hüttenbesitzer Y sich an dem Prozeß betei­
ligen, wie er unter ihm leiden wird; aber ebensowenig konnte es jemanden
einfallen, den so entstandenen Verlust oder Gewinn, Kapitalrettung oder
Kapitalvemichtung usw. für „grundlose“ , „freie“ Erscheinungen zu de­
klarieren .
Die ganze moderne erkenntnisthe ore tische Krise berührt das dialek­
tische Denken überhaupt nicht. Nicht nur deshalb nicht, weil es nie dem
hier beschriebenen erkenntnistheoretischen Dilettantismus verfallen war,
nie eine seiner die Inkonsequenz des Denkens entlarvende „Wendung“
von Objektivität in Subjektivität mitgemacht hatte, sondern diesmal
hauptsächlich darum, weil es nie die objektiven, gesetzmäßig notwen­
digen Zusammenhänge der Wirklichkeit mit dem starr und einseitig ge­
faßten Kausalitätsprinzip identifiziert hat. Lenin erkennt und anerkennt
diese richtige Fragestellung schon bei Hegel und weist zugleich darauf
hin, daß die adäquate Anwendung dieser Auffassung den Hinweis zur
erkenntnistheoretischen Kritik des modernen physikalischen Idealismus
gibt. Er schreibt: „Wenn wir bei Hegel über die Kausalität lesen, dann
finden wir es im ersten Moment eigentümlich, weshalb er sich so verhält­
nismäßig wenig mit diesem bei den Kantianern so populären Thema auf­
hält. Weshalb? Nun deshalb, weil für ihn die Kausalität nur eine der
Bestimmungen des universalen Zusammenhanges ist, den er schon früher
in seiner ganzen Behandlung viel tiefer und vielseitiger erfaßt hat, wobei
Das Subjekt der Erkenntnis und die Praxis 155

er immer und von Anfang an diesen Zusammenhang, die wechselseitigen


Übergänge usw., usw. unterstrich. Es wäre sehr lehrreich, die »Geburts­
schmerzen* des neuen Empirismus (d. h. des »physikalischen Idealismus*)
mit den Lösungen Hegels, richtiger mit seiner dialektischen Methode
zu vergleichen.** Der Weg der dialektischen Lösung ist auch hier die
unvoreingenommene, unter Zuhilfenahme elastischer Denkmittel aus­
geführte Untersuchung der verwickelten Zusammenhänge; die Auf­
deckung, welchen Platz die einzelnen Erscheinungen, die einzelnen Er­
scheinungskomplexe in der Philosophie, die einzelnen Kategorien im
Rahmen jener Totalität einnehmen, zu der sie objektiv gehören.

5
DAS SUBJEKT D E R ERK ENNTNIS UND DIE PR A X IS

Die richtige dialektische Erkenntnis der konkreten und objektiven


Widerspiegelung des konkreten und objektiven Zusammenhanges spielt
indessen eine entscheidende Rolle auch in der erkenntnistheoretischen
Untersuchung des Subjekts der Erkenntnis. Lenin erkannte schon bei
Gelegenheit seiner gegen den Machismus geführten Polemik klar, daß
die hier entstehende Krise des bürgerlichen Denkens sich gegen die Er­
kenntnisfähigkeit der Vernunft wendet, eine irrationalistische Richtung
einschlägt. Diese Tendenz nimmt in der späteren bürgerlichen Philo­
sophie ständig zu. Wir können hier von den gesellschaftlichen Wurzeln
dieser Tendenzen, mit denen wir uns in anderen Zusammenhängen ein­
gehend beschäftigt haben, nicht sprechen ; unter philosophischem Gesichts­
punkt bedeutet die moderne falscheBeantwortung wirklicher Fragenwieder
die unrichtige Widerlegung der einseitigen Theorien des alten Materialis­
mus und des Idealismus. Die Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts
betrachtete im allgemeinen die Vernunft als das einzige und wahre
Organ der adäquaten Erkenntnis ; Wahrnehmung, Empfindung, Erlebnis,
Vorstellung, Phantasie usw. figurierten in der Hierarchie der Erkennt­
nis nur als untergeordnete, eventuell direkt irreführende Faktoren.
iGewisse Spuren dieser falschen Hierarchie sind auch noch bei Hegel zu
finden.)
Die immer vollkommener werdende Aufdeckung der objektiven Wirk­
lichkeit wirft ein immer klareres Licht auf die Unrichtigkeit solcher
Hierarchien, zeigt immer deutlicher, daß die in ihnen fixierten Vor­
urteile zum Hindernis der adäquaten Erfassung der Wirklichkeit wer­
den. Hinzu kommt noch, daß das Aussterben der dialektischen Methode
im bürgerlichen Denken die dialektische Unterscheidung und Verbin-
156 Die Erkenntnistheorie Lenins

dung von Vernunft und Verstand, die Kant begonnen und Hegel auf
die im Idealismus höchst mögliche Stufe erhoben hatte, immer mehr
verwischte, oft vollkommen auflöste. Wenn daher das moderne Denken
die führende Rolle der Vernunft kritisierte, so wendete sich seine Kritik
eigentlich immer gegen den Verstand. So wie es auf objektiver Linie die
mechanisch aufgefaßte Kausalität mit der vom Bewußtsein unabhän­
gigen Existenz der Wirklichkeit identifizierte und seine Kritik deshalb
zum zügellosen Subjektivismus führte, so mündet auch jetzt die Kritik
der einseitigen führenden Rolle der Vernunft (bzw. des Verstandes) in
einen bodenlosen Subjektivismus, in die kritiklose Lobpreisung des
Gefühls, des Erlebnisses, der Intuition. Die objektive Wirklichkeit
wurde in den meisten dieser Theorien mechanisch identifiziert mit den
durch die Vernunft bzw. durch den Verstand erfaßbaren Gegenständen
und infolgedessen als tiefstehend beiseite geschoben, verschwand sol-
ipsistisch oder versank im Nebel des zur Scheinobjektivität aufgeblasenen
Mythos.
Jene Folge der kapitalistischen Arbeitsteilung, die die Möglichkeit
des ganzen und einheitlichen Menschen zerstört, was schon seit langem
der bürgerlichen Psychologie, dem subjektiven Teil der Erkenntnis­
theorie ihren Stempel aufdrückt, erreicht hier ihren Gipfelpunkt. Und
infolge einer eigentümlichen Ironie der Entwicklung geschieht das am
prägnantesten bei jenen Denkern, deren ursprüngliches und erlebnishaft
am tiefsten betontes Bestreben gerade die romantische Opposition gegen
diese den Menschen zerstückelnde Tendenz des Kapitalismus gewesen
war (Bergson, Klages usw.). Sie wollten in ihrer Phüosophie den ganzen
Menschen retten, aber sie zerrissen ihn gedanklich noch mehr, als es die
kapitalistische Wirklichkeit getan hatte.
Die sich auf die Erfassung des Subjekts der Erkenntnis beziehenden
Analysen der Leninschen Erkenntnistheorie bekämpfen gleichermaßen die
alten, die Rolle des Verstandes einseitig überspannenden Bestrebungen
(Hegel einbegriffen) und den modernen Irrationalismus. Aus der All­
seitigkeit, Unerschöpflichkeit, unaufhörlichen Veränderlichkeit der zu
erkennenden Gegenstände, aus dem Annäherungscharakter ihrer Er­
kenntnis folgt von selbst die mögliche Vielseitigkeit der Annäherungs­
versuche, folgt, daß in jedem Fall jene Fähigkeit bzw. Eigenschaft des
erkennenden Subjekts in den Vordergrund treten muß, die der gegebenen
konkreten Lage am besten entspricht und sich den konkreten Umständen
der gegebenen Lage am besten anschmiegt. Die sich auf das Subjekt
beziehende Lehre der Leninschen Erkenntnistheorie hält deshalb immer
alle Eigenschaften des Menschen, ihre Zusammenhänge, ihr Ineinander-
Übergehen, ihr gegenseitiges Sich-Ergänzen im Auge und hütet sich
Das Subjekt der Erkenntnis und die Praxis 1 5 7

davor, abstrakte Rezepte zu geben. „Steht die Vorstellung der Wirk­


lichkeit näher als das Denken? Ja und auch nein/' Und an anderer
Stelle, wo er in dem Sinne, wie wir es oben ausgeführt haben, davon
spricht, daß die Widerspiegelung der Bewegung immer mit einer Ver­
gröberung verbunden ist, fügt er hinzu: „...n ich t nur im Denken, auch
in der Empfindung/' Oder in noch anderem Zusammenhang: die Wider­
spiegelung „ist nicht ein einfacher, unmittelbarer, spiegelhaft toter Akt,
sondern ein komplizierter, ungleichmäßiger, sich im Zickzack bewegender,
der die Möglichkeit in sich trägt, daß die Phantasie vom Leben weg­
schwebe; ja sogar noch mehr: die Möglichkeit, ...daß der abstrakte
Begriff, die Idee zur Phantasie werde... Denn in jeder einfachsten Ver­
allgemeinerung, in der abstraktesten allgemeinen Idee... liegt ein ge­
wisses Stückchen von Phantasie. (Und umgekehrt: Es wäre lächerlich,
die Rolle der Phantasie auch in der strengsten Wissenschaft zu leug­
nen...)"
Der besseren Übersicht zuliebe haben wir die objektiven und subjek­
tiven Faktoren der Erkenntnis gesondert behandelt. Es ist aber klar,
daß eine solche Scheidung leicht zu Mißverständnissen führen kann,
wenn wir sie als eine starre Scheidung von unüberbrückbar einander
gegenüberstehenden Faktoren ansehen würden. Lenin selbst hebt sehr
entschieden hervor, daß der Gegensatz von Materie und Bewußtsein nur
als Grundfrage der Erkenntnistheorie absolut ist ; nur als Frage, welche
von beiden primär ist. „Außerhalb dieser Grenzen steht die Relativität
dieses Gegensatzes über allem Zweifel." Und an anderer Stelle bezeichnet
Lenin das Übergehen des Idealen in die Wirklichkeit geradezu als tiefen
Gedanken, der außerordentlich wichtig für die Geschichte ist, und dessen
Wahrheit auch das individuelle Leben des einzelnen Menschen bezeugt.
Und damit unterstreicht er wieder den relativen, den nicht unbedingten
Charakter des Unterschiedes zwischen dem Idealen und Materiellen ; wir
wiederholen: abgesehen von der erkenntnistheoretischen Frage der
Priorität der Materie.
Diese Gedanken Lenins haben tiefgehende methodologische Konse­
quenzen. Die Relativität der objektiven und subjektiven, der realen und
idealen Faktoren, das Übergehen, das Überschlagen des einen in den
anderen erhält eine konkrete Form, wo eine der wichtigsten Fragen der.
Leninschen Erkenntnistheorie auftaucht, die Frage der menschlichen
Praxis, der Praxis als des entscheidenden Kriteriums der Erkenntnis.
Wie bekannt, haben Marx und Engels diese Frage ebenfalls in den Mittel­
punkt der Lehre des dialektischen Materialismus gestellt ; Lenin vertritt
auch in dieser Frage ihre Gedanken und entwickelt sie in seinem Kampfe
gegen die bürgerliche Philosophie weiter. Schon Engels hat darauf hin-
158 Die Erkenntnistheorie Lenins

gewiesen, daß die bereits bei Hume einsetzende Polemik gegen das Prin­
zip der Kausalität auf dem Feld der „reinen“, von der Praxis, der Hand­
lung isolierten Theorie nicht entschieden werden kann. Nur wenn wir
mit unserer Praxis, durch die konkrete Anwendung des Prinzips der
Kausalität in unserer Praxis, in der von unserem Bewußtsein unabhän­
gigen Außenwelt im voraus vorgestellte, im voraus berechnete Kausali­
tätszusammenhänge hervorrufen, haben wir über jeden Zweifel erhaben
bewiesen, daß das Verhältnis von Ursache und Wirkung nicht eine sub­
jektive „Gewöhnung“ ist, daß die α^/ein an der folgenden Ereignisse nicht
nur von uns als awseinanderfolgend betrachtet werden, wie dies Hume
behauptet, sondern daß es sich hier um den wirklich gegenständlichen,
objektiven Zusammenhang von wirklichen Gegenständen handelt. Daß die
materialistische Dialektik diesen Zusammenhang als einen überaus kompli­
zierten erkannt hat, darüber sprachen wir bereits ; hier mußten wir nur an
die grundlegende erkenntnistheoretische Frage erinnern.
Diese Erkenntnis, die Praxis als das wirkliche echte Kriterium der
Erkenntnis, rückt bei Lenin die wichtigsten Fragen der Teleologie, des
Zwecks und der Zweckmäßigkeit in ein neues Licht. Lenin weist darauf
hin, daß bereits Hegel diese Frage aufgeworfen hat, ja daß Hegel gerade
hier, gerade in dem die Idee behandelnden Teil seiner ,,Logik“ dem
historischen Materialismus am nächsten gekommen ist. Hegel sieht in
der Wechselwirkung der menschlichen Zielsetzung und der Außenwelt
(in der mechanischen und chemischen Struktur der Wirklichkeit) die
grundlegende Frage der menschlichen Entwicklung; er sieht, daß der
Mechanismus und Chemismus gerade in diesem Zusammenhang zu „seiner
Wahrheit** gelangt, ja Hegel sieht sogar, daß in diesem Zusammenhang
der vermittelnde Faktor, das Mittel, höher steht als jene endlichen Ziele,
jene äußerlichen Zielsetzungen, in deren Diensten es steht. „Der Pflug“,
sagt er, „ist ehrwürdiger als jene unmittelbaren Genußmittel, die mit
seiner Hilfe zustande kommen, und die das Ziel ausgemacht haben.“
Lenin bleibt nicht bei diesen, oft abstrakten Feststellungen Hegels
stehen, er benützt sie, aber stellt sie gleichzeitig materialistisch vom
Kopf auf die Füße, konkretisiert und entfaltet sie. So steht bei Hegel
die menschliche Zielsetzung noch in einem äußerlichen Verhältnis zu
jener Wirklichkeit, auf die sie angewandt wird; Lenin ist es klar, daß
die ganze Unabhängigkeit der menschlichen Zielsetzung von der Außen­
welt nur ein Schein ist; der historische Materialismus hat auf die hier
auftauchenden Fragen bereits ein ganzes System von konkreten Ant­
worten gegeben, und Lenin hat nur erkenntnistheoretisch alle Konse­
quenzen aus dieser wissenschaftlichen Praxis gezogen.
Auch in einer hiermit eng zusammenhängenden wichtigen Frage ist
Das Subjekt der Erkenntnis und die Praxis 159

Lenin weit über Hegel hinausgegangen. Hegel ist ständig bestrebt, die
hier behandelte grundlegendste reale menschliche Tätigkeit, die produk­
tive Arbeit, in logischen Zusammenhang mit den abstraktesten Formen
des Denkens, mit den Formen der Folgerung, des Syllogismus zu bringen.
Lenin sieht klar, daß es sich hier nicht um ein logisches Spiel handelt,
daß hier die Fragen der wichtigsten Zusammenhänge von Denken und
Praxis auftauchen. Ihre Lösung zu finden, ist einzig und allein die
Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus fähig. Nur sie
ist imstande zu erklären, wie die grundlegendste menschliche Tätigkeit,
die Arbeit, das allerspeziellste Kennzeichen der Menschlichkeit des
Menschen, die Verwendung des Werkzeugs in der zielbewußten Praxis,
die von Schritt zu Schritt vordringende Eroberung der Natur zu den
abstraktesten Formen des menschlichen Bewußtseins wird. Hier spiegelt
sich auch die Außenwelt (und die handelnde Wechselwirkung des Men­
schen auf die Außenwelt), natürlich bei weitem nicht unmittelbar, son­
dern in einer durch unzählige wirkliche Vermittlungsfaktoren hervor­
gerufenen, sich fortwährend steigernden Abstraktheit. Diese Abstrakt­
heit ist aber nicht ein gedankliches Hirngespinst, sondern einerseits die
allgemeinste und eben deshalb in allen konkreten Erscheinungen auf­
findbare Form der wirklichen Tätigkeit und Wechselwirkungen, anderer­
seits mußte, wie Lenin sagt, „die praktische Tätigkeit des Menschen
milliardenmal das menschliche Bewußtsein zu der Wiederholung der
verschiedenen logischen Formen führen, damit diese Formen die Bedeu­
tung von Axiomen erlangen konnten“.
Eine solche dialektische, von jeder dogmatischen Erstarrung freie Auf­
fassung der subjektiven Seiten der Erkenntnis folgt klar aus der Lenin­
schen Bestimmung des Objekts. In seinen zusammenfassenden polemi­
schen Bemerkungen gegen den Idealismus kehrt Lenin zu dem Bild
zurück, das die Erkenntnis zu einer aus einem System von Kreisen
gebildeten Kurve vergleicht. Aus jedem einzelnen Teilchen der Kurve
kann man eine selbständige, ganz gerade Linie machen; das macht der
Idealismus, das führt ihn in den Morast der Einseitigkeit und des Sub­
jektivismus.
Die annähernd adäquate Erkenntnis der unerschöpflichen Objektivi­
tät setzt den vielseitigen, ganzen Menschen voraus. Im Gegensatz zu der
ohnmächtigen Opposition der Romantik, die die Zerrissenheit des Men­
schen durch den Kapitalismus nur steigert, zeigt Lenins nüchterne, wohl­
erwogene und pathosfreie Erkenntnistheorie den Weg zur Wiederherstel­
lung der Totalität des Menschen auf dem Gebiet der Erkenntnis, in
erster Linie dadurch, daß die Erkenntnis in einen untrennbaren Zusam­
menhang mit der Praxis, der Arbeit gelangt ist. Diese Erkenntnistheorie
ι6 ο Die Erkenntnistheorie Lenins

ist —gerade in ihrer Nüchternheit, infolge ihrer Anerkennung der Objek­


tivität der Außenwelt - der prägnante Ausdruck jenes Humanismus, der
sich inmitten der die Menschen und die Menschlichkeit verzerrenden
Wirkungen des Imperialismus gegen das Verderben nicht etwa nur auf
einen Verteidigungsposten zurückzieht, sondern die Menschen zum
Kampf, zur Befreiung, zum Erkennen und Erobern der Welt erzieht,
der auf diese Weise —durch die Theorie auch in der Praxis —das Ent­
stehen des neuen, des ganzen, des vielseitigen Menschen real vorbereitet.
ANHANG: H E I D E G G E R REDIVIVUS*

Die erste umfassende Äußerung Heideggers nach dem Sturz des


Faschismus ist für die philosophische Öffentlichkeit sehr interessant.
Wie steht der wichtigste Vertreter des präfaschistischen Existentialismus
zu den Problemen der Philosophie der Gegenwart? Wie denkt er über
die Beziehung seiner eigenen präfaschistischen Philosophie zu diesen
Fragen? Findet er etwas Revisionsbedürftiges an seiner eigenen alten
Konzeption? Wenn ja: was?
Wir haben den Ausdruck präfaschistisch mit Bedacht gewählt. Er
bedeutet nicht ohne weiteres eine einfache Identifikation Heideggers mit
dem Faschismus - obwohl gerade bei einer philosophischen Persönlich­
keit wie Heidegger das persönliche Sicheinsetzen für das Hitlerregime
1933/34 sicher kein bloßer Zufall war und sicher nicht ohne Zusammen­
hang mit seiner Weltanschauung ist. Man würde seine Bedeutung herab­
setzen, ginge man an diesem Auftreten wie an einer unwesentlichen,
nichtssagenden Episode vorüber. Der Ausdruck präfaschistisch bedeutet
also hier nicht einen direkten Zusammenhang der Philosophie Heideggers
etwa mit Hitler oder Rosenberg; auch nicht VorläuferSchaft in jenem
unmittelbaren Sinne wie etwa bei Chamberlain. Wohl aber, daß Heideg­
ger - ebenso wie die von ihm sonst außerordentlich verschiedenen Klages
oder Jünger, und von den früheren Philosophen: Nietzsche - besonders
durch die Kernpunkte seiner Fragestellungen und Antworten sehr viel
dazu beigetragen hat, jene geistige Atmosphäre zu schaffen, in der ein
Teil der deutschen Intelligenz sich mit Begeisterung an Hitler anschloß
und ein anderer Teil in seinem geistigen Widerstand gegen den Hitleris­
mus fast völlig wehrlos wurde.
Betrachtet man den äußeren Anschein, so will Heidegger an seinen
alten Anschauungen nichts revidieren. Er sagt hier über „Sein und
Zeit“: „Man meint allenthalben, der Versuch in .Sein und Zeit* sei in
eine Sackgasse geraten. Lassen wir diese Meinung auf sich beruhen. Über
.Sein und Zeit* ist das Denken, das in der betitelten Abhandlung einige
Schritte versucht, auch heute nicht hinausgekommen. Vielleicht ist es
* Martin Heidegger: Platons Lehre von der Wahrheit, m it einem Brief über den Humanismus.
A. Francke, Bern 1947.
102 Heidegger redivivus

aber inzwischen um einiges eher in seine Sache hineingekommen“ (91).


In Wirklichkeit ist für solch hochmütige Abwehr objektiv sehr wenig
Grund vorhanden. Aber dieser Gesinnung entsprechend, ist auch die neue
Schrift Heideggers im Wesentlichen eine Selbstverteidigung gegen Fol­
gerungen, die man —angeblich zu Unrecht - aus seiner vorfaschistischen
Produktion gezogen hat. Die Zentralfrage und nicht nur der Anlaß des
Briefes an Beaufret ist der Humanismus. Heidegger bekennt sich dazu,
daß sein Hauptwerk gegen den Humanismus gerichtet ist. Aber, fügt er
hinzu, „dieser Gegensatz bedeutet nicht, daß sich solches Denken auf
die Gegenseite des Humanen schlägt und das Inhumane befürwortet, die
Unmenschlichkeit verteidigt und die Würde des Menschen herabsetzt.
Gegen den Humanismus wird gedacht, weil er die humanitas des Men­
schen nicht hoch genug ansetzt“ (75). Und an einer anderen Stelle ver­
teidigt er sich heftig gegen die Vorwürfe, mit dem Irrationalismus, dem
Atheismus, dem Nihilismus etwas zu tun zu haben (95/96).
Es wäre oberflächlich, in Heideggers jetziger Stellungnahme zum
Humanismus einen bloßen Wort streit zu erblicken. Die Verehrer des
wirklichen Hölderlin könnten zwar ihr humanistisches Gewissen leicht
beruhigen, wenn der Humanismus in seinem Namen abgelehnt wird (63),
wenn von diesem Standpunkt Hölderlin über Goethe gestellt wird (86).
Man könnte meinen : es sei einerlei, ob das, was das Hölderlinsche Lebens­
werk repräsentiert, Humanismus genannt wird oder nicht. Das, was der
wirkliche Hölderlin wollte und gestaltete, ist unter allen Umständen tief
erfüllt von den besten Traditionen des Humanismus, was immer von hier
aus entstehe, könne den Humanismus unmöglich gefährden.
Das wäre aber oberflächlich, denn der wirkliche Hölderlin ist keines­
wegs identisch mit dem Heideggerschen ; was also hier gemeint wird, kann
an sich sehr wohl ein dem Humanismus feindliches Prinzip sein, auch
wenn Heidegger recht hätte, daß er nicht unmittelbar das Inhumane
verteidigen will. Hier ist nicht der Ort, über die Hölderlin-Interpretation
Heideggers zu diskutieren. Sie ist für uns philosophisch nur wichtig in­
folge ihres prinzipiellen Ausgangspunktes: Hölderlin repräsentiert für
Heidegger eine tiefere Stellungnahme, eine über den Humanismus hinaus­
gehende weltanschauliche Attitüde, indem er —dies ist an beiden Stellen,
wo eine Berufung auf Hölderlin erfolgt, ausdrücklich betont —„anfäng­
licher“ denkt als Goethe oder der sonstige historische Humanismus.
Wenn man die heutige philosophische Position Heideggers kritisch wür­
digen, auf ihre Perspektiven untersuchen, mit „Sein und Zeit“ vergleichen
will, kommt es also darauf an, den Sinn dieses „Anfänglichen“ etwas
näher zu betrachten. Dazu ist ein gewisser Umweg unbedingt notwendig.
Bei der Erwähnung Hölderlins fällt bei Heidegger ein nicht unwesent-
Heidegger redivivus

licher Satz. Er sagt nach der Feststellung des ,,Überhumanismus“ Höl­


derlins: „Darum haben die jungen Deutschen, die von Hölderlin wußten,
angesichts des Todes Anderes gedacht und gelebt als das, was die Öffent­
lichkeit als deutsche Meinung ausgab“ (87). Wenn damit nur gesagt wer­
den sollte, daß viele der jungen Deutschen, die an Hitlers Feldzügen teil-
nahmen —aber, beiläufig gesagt, sich nicht nur in einer Situation „an­
gesichts des Todes“ befanden, sondern auch in der, daß sie, im besten
Fall, Zeugen, passive Teilnehmer der Raub- und Mordtaten, der Ver­
gewaltigungen von Frauen und Kindern usw. durch die Hitlerarmee
waren —nicht alle die Naziideologie teilten, so wäre dies ein Gemeinplatz.
Obwohl ebenfalls beiläufig gesagt werden muß, daß die Hitlerzeit nicht
nur bei Heidegger eine neue (unseres Erachtens ihn völlig verzerrende)
Begeisterung für Hölderlin entfachte, sondern auch bei den offiziellen
Naziideologen, bei Rosenberg, Bäumler u. a. Wenn also mit dieser Pointe
von einem Ubertreffen des Humanismus die Rede ist,von einem Hinaus­
gehen über das „bloße Weltbürgertum Goethes“, klingen diese Sätze
Heideggers, gelinde gesagt, etwas verdächtig. Etwa so: ihr Unverstän­
digen verurteilt die Barbarei des Hitlertums, der Hitlerjugend, was wißt
ihr, die ihr das „wesentlich Anfänglichere“ nicht kennt, die ihr über das
jeweils Seiende nie hinausblicken könnt, von dem inneren Leben jener
Jünglinge (der Anhänger Heideggers und mit ihnen auch von Heidegger
selbst), die das Sein des Seienden erlebnishaft und gedanklich zu erfas­
sen imstande sind?
Das „Anfänglichere“ ist hier ein moralisches und philosophisches In­
kognito-Heideggers neue Philosophie klingt an dieser Stelle ebenso an
Kierkegaard an wie die alte - , hinter dem sich was immer ver­
bergen kann, das zwischen die wahrnehmbaren Taten des Menschen und
seine allein wahrhaftige, allein eigentliche Existenz eine Barriere der
Unerkennbarkeit setzt. Eine solche Barriere ist prinzipiell unübersteig-
bar, denn schon Dostojewskij hat gesehen: daß, je erhaben allgemeiner
ein Prinzip der Moral (hier das Prinzip der „Existenz“) ist, desto weniger
kann es imstande sein, die konkreten Handlungen des Menschen, sein
reales Verhalten zum wirklichen Leben zu bestimmen. Je höher sich ein
solches Prinzip über die Sphäre des Seienden erhebt, desto mehr ent­
steht - freilich nur von diesem Prinzip aus gesehen —eine Atmosphäre
der generellen Indeterminiertheit, des Irrationalismus ; gleichviel, ob mit
dem Prinzip selbst etwas an sich Irrationalistisches gemeint ist oder
nicht. Heideggers Selbstverteidigung gegen den Irrationalismus steht also
auf tönernen Füßen. Mit Recht spricht Hegel in methodologisch ähnlich
gelagerten Stellen von einer „erhabenen Hohlheit“ und von einer „reinen
und eklen Höhe“ der Abstraktion.
164 Heidegger redivivus

Auf die detaillierten Folgen, die sich von hier aus ergeben, kommen
wir später zu sprechen. Kehren wir zur Frage des „Anfänglichen" zu­
rück. Wir glauben, daß der heutigen Philosophie Heideggers, ebenso wie
der früheren, ein Lebensgefühl - entstanden aus einem Erleben der
Gegenwart, aus einer Stellung des gegenwärtigen Menschen zum Leben
mit seinen Mitmenschen, zum eigenen Leben - zugrunde liegt, dessen
erlebnismäßiger Inhalt von jenen sozialen Tatsachen des Lebens der
Gegenwart bestimmt ist, die Marx in seinen Werken wissenschaftlich
analysiert hat.
Es klingt vielleicht im ersten Augenblick paradox, bei der Behandlung
der Heideggerschen Philosophie an die Gesellschaftslehre von Marx zu
erinnern. Vergessen wir aber nicht, daß erstens die Auseinandersetzung
mit Marx eine außerordentlich große Rolle in der Entwicklung des franzö­
sischen Existentialismus spielt; daß es zweitens schon früher Forscher
gab, die darauf aufmerksam gemacht haben, daß „Sein und Zeit“ in
bestimmtem Sinne eine große Auseinandersetzung mit dem von Marx
wissenschaftlich entdeckten und auf seine Gesetzmäßigkeit gebrachten
Phänomen des Fetischismus bildet, daß auch der gewesene Heidegger­
schüler Löwith zwischen Kierkegaard und Marx Parallelen sucht; daß
drittens Heidegger in seiner neuen Schrift zum erstenmal direkt auf
Marx Bezug nimmt und dabei zu äußerst interessanten Ergebnissen
kommt. Er schreibt: „Was Marx in einem wesentlichen und bedeuten­
den Sinne von Hegel her als die Entfremdung des Menschen erkannt
hat, reicht mit seinen Wurzeln in die Heimatlosigkeit des neuzeit­
lichen Menschen zurück... Weil Marx, indem er die Entfremdung er­
fährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht, des­
halb ist die marxistische Anschauung von der Geschichte aller übrigen
Historie überlegen. Weil aber weder Husserl, noch, soweit ich bisher
sehe, Sartre die Wesentlichkeit des Geschichtlichen im Sein erkennen,
deshalb kommt weder die Phänomenologie, noch der Existentialismus
in diejenige Dimension, innerhalb der erst ein produktives Gespräch mit
dem Marxismus möglich wird" (87).
Scheinbar nähert sich hier Heidegger mehr Marx als Sartre, der in
seinen Zeitschriftenartikeln alle alten und banalen Privatdozentenargu­
mente gegen den Marxismus erneuert (seine Schüler, besonders zuweilen
Merleau Ponty, beschäftigen sich etwas eingehender mit Marx). Dies
ist jedoch nur ein Schein. Denn, indem die französischen Existentiali-
sten bestrebt sind, sich der Sphäre der sozialen Existenz des Menschen
gedanklich zu nähern, indem sie auf die Frage, wie der Mensch sich in
der konkreten gesellschaftlichen Gegenwart zu verhalten hat, Ant­
worten suchen, kommen sie, gewollt oder ungewollt, in die Nähe jener
Heidegger redivivus 165

konkreten sozialen Welt, deren Struktur, Bewegungsrichtung, Gesetz­


mäßigkeit Marx wissenschaftlich aufgedeckt hat. Da sie jedoch gerade
in dieser Bewegung die alten Grundsätze des Existentialismus unver­
ändert aufrechterhalten wollen, muß ihr Kontakt mit dem Marxismus
mehr oder weniger feindlich sein. Heidegger dagegen schwächt gerade
hier die latent vorhandenen Beziehungen auf die gesellschaftliche Wirk­
lichkeit aus „Sein u n i Zeit“ energisch ab. E r betont, daß die Konzeption
des „das Man“ keine Beziehung zu irgendeiner Soziologie habe (59) ; er
streicht auch aus den Begriffen „Welt“ und „In-der-Welt-Sein“ alle
früher latent mitgedachten oder mitklingenden sozialen Bezüge (100).
Und mit Sartre polemisierend, lehnt er für das von ihm intentionierte
Sein ausdrücklich jede Verbindung mit der realen gesellschaftlich-ge­
schichtlichen Wirklichkeit ab. Er spricht dort vom Denken, das die
„Dimension der Wahrheit des Seins achtet. Doch auch dies könnte je-
weils nur dem Sein zur Würde und dem Da-Sein zugunsten geschehen,
das der Mensch eksistierend aussteht, nicht aber des Menschen wegen,
damit sich durch sein Schaffen Zivilisation und Kultur geltend ma­
chen“ (74).
Trotzdem bleibt —und zwar sehr bewußt, sehr betont - als Ausgangs­
punkt der gegenwärtige Weltzustand, der gegenwärtige Stand des Men­
schen im Leben, zum Leben bestehen. Heidegger spricht, wieder von
Hölderlin ausgehend, von der Heimatlosigkeit des Menschen in der Welt,
von dem Gebrauch des Wortes Heimat bei Hölderlin: „Dieses Wort wird
hier in einem wesentlichen Sinne gedacht, nicht patriotisch, nicht natio­
nalistisch, sondern seinsgeschichtlich. Das Wesen der Heimat ist aber zu­
gleich in der Absicht genannt, die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Men­
schen aus dem Wesen der Geschichte des Seins her zu denken. Zuletzt
hat Nietzsche diese Heimatlosigkeit erfahren“ (84/85). Wie er hier an
Nietzsche erinnert - beiläufig gesagt, bildet die Zusammenstellung Nietz­
sches und Hölderlins eine auffallende Parallele zu den Geschichtskon­
struktionen des Präfaschismus und des Faschismus —, so beginnt seine
früher zitierte Bemerkung über Marx mit den Worten : „Die Heimatlosig­
keit wird ein Weltschicksal. Deshalb ist es nötig, dieses Geschick seins­
geschichtlich zu denken“ (87).
Das Problem der „Anfänglichkeit“ ist also mit dem der Heimatlosig­
keit des Menschen aufs innigste verknüpft. Verständlicherweise. Denn
dies ist ein Grunderlebnis des (bürgerlichen) Menschen des Kapitalismus,
besonders des Monopolkapitalismus. Die großzügige, welthistorische Ob­
jektivität von Marx besteht gerade darin, daß er die objektiven gesell­
schaftlichen und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Seins der Men­
schen im Kapitalismus, die historischen Tendenzen, die dieses Sein her-
166 Heidegger redivivus

vorgebracht haben, die Struktur, die das reale Leben in dieser Gesell­
schaftsformation erhält, wissenschaftlich analysiert h at. Die ökonomischen
Kategorien sind für Marx: ,,Daseinsformen, Existenzbestimmungen1“ (es
ist vielleicht überflüssig zu sagen, daß diese Worte nicht existentialistisch
interpretiert werden dürfen). Alles, wohin solche „Grunderlebnisse44 der
Menschen der kapitalistischen Gesellschaft „intentionieren“, wird da­
durch in seiner wirklichen, objektiven Gegenständlichkeit aufgedeckt.
Selbstverständlich geht hier der Weg nicht von der Intention zum Gegen­
stand, sondern die objektive Erkenntnis des historisch charakterisierten
Gegenstandes bringt, wo es nötig ist, eine Erklärung der Intention. Und
naturgemäß kann nur diese methodologische Hierarchie und Reihenfolge
uns vor Willkür und Mystik in der Analyse schützen. Denn die,,intentio­
nalen44 Erlebnisse der Phänomenologen vollziehen sich, wie alle subjek­
tiven Erlebnisse, befangen im Horizont der Bürgerlichkeit im imperia­
listischen Zeitalter, notwendig mit einem falschen Bewußtsein. (Diese
Notwendigkeit des falschen Bewußtseins und ihre Gesetze hat ebenfalls
Marx aufgedeckt.)
Das heißt, sie gehen von erlebnismäßigen Symptomen aus und „inten­
dieren44 darum notwendig auf einen nur erlebnishaft bestimmten oder
auf erlebnishafter Grundlage denkerisch bewußt gemachten Gegenstand.
Was sich jedoch in der kapitalistischen Fetischisierung verbirgt, daß
nämlich alle „toten44 Gegenstände der gesellschaftlichen Umwelt eines
jeden Menschen in Wirklichkeit Beziehungen zwischen Menschen (Klas­
sen) sind, daß das daraus entspringende Auf-den-Kopf-Gestelltsein der
gesellschaftlichen Gegenständlichkeit eine notwendige Folge der spezi­
fischen Struktur der kapitalistischen Beziehungen zwischen den Menschen
ist, wird nur durch eine objektive ökonomische Analyse erhellt, niemals
aber mit Hilfe der umgekehrten, der vom Subjekt ausgehenden Methode.
Damit steht im engen Zusammenhang, daß Marx den Kapitalismus
wirklich geschichtlich faßt, als Fortschritt gegenüber dem Feudalismus,
als Vorstufe zum Sozialismus. Alle Widersprüche des kapitalistischen
Systems werden dabei ans Licht gebracht, aber mag das so Erhellte
noch so fürchterlich, noch so antihuman, noch so bekämpfenswert sein,
diese Eigenschaften des Kapitalismus sind doch immer nur als Momente
seiner objektiven Existenz in der Totalität der Weltgeschichte gefaßt,
und das Problem seiner einstigen Fortschrittlichkeit kann nur in diesem
Gesamtzusammenhang geklärt werden. (Die Analyse der gesellschaft­
lichen Praxis, die sich für den Marxismus ergibt, liegt naturgemäß außer­
halb des Rahmens dieser Betrachtungen.)
Aber jeder Idealismus —natürlich auch der Heideggersche —geht einen
entgegengesetzten Weg. Heidegger sagt: „Die so zu denkende Heimat-
Heidegger redivivus 167

losigkeit beruht in der Seinsverlassenheit des Seienden. Sie ist ein Zeichen
der SeinsVergessenheit. Dieser zufolge bleibt die Wahrheit des Seins un­
gedacht“ (86). Heidegger jongliert hier wie in „Sein und Zeit“ zwischen
einem extremen Subjektivismus und einer Pseudoobjektivität. Wir sagen
Pseudoobjektivität, denn objektiv ist eine Seinsverlassenheit des Seien­
den ein gedankliches Unding. Eine Erklärung dafür bietet nur der fol­
gende Satz mit dem Ausdruck der - rein subjektiven - Seinsvergessenheit.
Wenn diese Betrachtung einen Sinn hat, dann nur den, daß die Seins­
vergessenheit des Subjekts die Seinsverlassenheit des Seienden hervor­
bringt. Bei dieser Methode muß die so gefundene Gegenständlichkeit
notwendig im Bereich des subjektiv Erlebten befangen bleiben, muß die
Betrachtung an der objektiven Struktur des Zeitalters Vorbeigehen, und
soweit der Versuch gemacht wird, eine Objektivität zu statuieren, muß
diese eine irrationalistische, eine mystische, eine Pseudoobjektivität sein,
wie auch jede solche Kritik des kapitalistischen Zeitalters, mag sie sich,
wie bei einigen Denkern, noch so offen „soziologisch“ gebärden, mag sie,
wie bei Heidegger, mythologisiert ontologisch sein, stets die Kritik von
bloßen Symptomen bleibt und an die entscheidenden Probleme der Be­
wegungsrichtung der Weltgeschichte nie heranreicht. Die Komplimente
an die Adresse des Marxismus haben also philosophisch wenig zu be­
deuten. Sie sind höchstens als Symptome interessant: als Druck der
objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit sogar auf an und für sich
widerstrebende Intellekte. So war die Lage bereits in der präfaschisti­
schen Philosophie und Soziologie. Die Freyerschule neigte damals zu
einer ähnlichen „Anerkennung“ von Marx. Hugo Fischer z. B. gab alle
Verdienste von Marx zu mit dem Vorbehalt, daß Marx ein Neben­
phänomen, die ökonomische Entwicklung und die Gesetzmäßigkeit des
Kapitalismus zur Hauptsache machte, während der wirkliche Philosoph,
Nietzsche, klarer sah, daß das Grundphänomen, dem alles, was Marx
analysierte, philosophisch unterzuordnen und einzufügen wäre, die De­
kadenz sei. Bei aller methodologischen Divergenz zur Freyerschule ist
die Lage Heideggers zu diesem Problemkomplex gerade methodologisch
eine sehr ähnliche. In allen solchen Fällen geht die „Anerkennung“ an
allen entscheidenden Problemen vorbei, weder die Fischersche Dekadenz,
noch die Heideggersche „Dimension des Seins“ berühren die wesent­
lichen Probleme des Marxismus.
Wir wissen: Heidegger und seine Anhänger würden hier vor allem
gegen die Bezeichnung Idealismus heftig protestieren. Behauptet doch
Heidegger, jetzt wie früher, weder Idealist noch Materialist zu sein, son­
dern eben jene Beziehung zum Sein aufgefunden zu haben, die jenseits
dieses angeblichen falschen Dilemmas steht. Gemeint ist stets die Engels-
ι6 8 Heidegger redivivus

sehe klare, scharfe und richtige Gegenüberstellung: Materialist ist, wer


auf dem Standpunkt der Priorität des Seins dem Bewußtsein gegenüber
steht —Idealist, wer das Sein als vom Bewußtsein hervorgebracht denkt.
Das hier auftauchende Tertium dafür ist aber in der Philosophie des im­
perialistischen Zeitalters weitaus weniger originell, als Heidegger meint.
Seit Nietzsche und Mach tauchen solche philosophischen „dritten Wege“
überall auf, und die Phänomenologie, von welcher Heidegger ausging,
ist nur ein besonderer Fall dieses „dritten Weges“. Das Eigenartige bei
Heidegger und vor allem in seiner letzten Schrift besteht nur darin, daß
er einerseits den Zusammenbruch des bisherigen Idealismus klarer sieht
als die meisten seiner Zeitgenossen (vergleiche seine scharfe und richtige
Kritik der Wertphilosophie) (99). Andererseits empfindet er deutlicher
als die meisten seiner Vorgänger (aber nicht entschiedener als etwa
Spengler), daß das, was er als Schicksal des Menschen empfindet, nicht
von diesem selber geschaffen wird, sondern Ergebnis vom Menschen un­
abhängiger Mächte ist. Er führt z. B. aus: „Sein lichtet sich dem Men­
schen im ekstatischen Entwurf. Doch dieser Entwurf schafft nicht das
Sein. Überdies aber ist der Entwurf wesenhaft ein geworfener. Das Wer­
fende im Entwerfen ist nicht der Mensch, sondern das Sein selbst, das
den Menschen in die Eksistenz des Da-Seins als sein Wesen schickt“ (84).
Dementsprechend sagt er an anderer Stelle: „Der Mensch ist vielmehr
vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins ,geworfen*, daß er, dergestalt
ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins
das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob und wie es erscheint,
ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die
Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht
der Mensch** (75).
Jedoch eine solche Anerkennung der Objektivität des Schicksals, wie
schon das Beispiel Spenglers zeigt, besagt nichts in bezug auf eine wirk­
liche Anerkennung des vom Bewußtsein unabhängigen Seins, in bezug
auf eine wirkliche Überwindung des Idealismus. Im Gegenteil. Wo Heid­
egger auf den Materialismus zu sprechen kommt, gerät er in eine außer­
ordentliche Nähe zu den ersten Modellvorstellungen des philosophischen
„dritten Weges**. Anknüpfend an seine zitierten Bemerkungen über Marx
sagt Heidegger: „Das Wesen des Materialismus besteht nicht in der Be­
hauptung, alles sei nur Stoff, vielmehr in einer metaphysischen Bestim­
mung, der gemäß alles Seiende als das Material der Arbeit erscheint...
Das Wesen des Materialismus verbirgt sich im Wesen der Technik...
Die Technik ist in ihrem Wesen ein seinsgeschichtliches Geschick der in
der Vergessenheit ruhenden Wahrheit des Seins** (87/88). Dies ist unge­
fähr die Vorstellung jener Machisten vom Anfang des 20. Jahrhunderts,
Heidegger redivivus 169

die den Machismus mit dem Marxismus zu vereinigen strebten (Bogda-


now). Und noch deutlicher wird diese Verwandtschaft zum Machismus,
wenn wir Heideggers Ansichten über die Erkennbarkeit der Natur be­
trachten. „Daß die Physiologie und die physiologische Chemie den Men­
schen als Organismus naturwissenschaftlich untersuchen kann, ist kein
Beweis dafür, daß in diesem »Organischen', das heißt in dem wissen­
schaftlich erklärten Leib das Wesen des Menschen beruht. Dies gilt so
wenig wie die Meinung, in der Atomenergie sei das Wesen der Natur be­
schlossen. Es könnte doch sein, daß die Natur in der Seite, die sie der
technischen Bemächtigung durch den Menschen zukehrt, ihr Wesen
gerade verbirgt" (67/68). Mit Argumenten dieser Art hat vor mehr als
dreißig Jahren etwa Duhem den Standpunkt des Kardinals Bellarmin,
als den philosophisch Überlegenen, gegen Galilei und Kepler verteidigt ;
nämlich davon ausgehend, daß die wissenschaftliche Erkenntnis eines
Naturphänomens, mag sie noch so exakt sein, noch nicht die geringste
Garantie dafür bietet, daß das wahre Wesen der Natur auch wirklich
erkannt wurde. Und in der Tat ist ein solcher Standpunkt bei Bellarmin
historisch verständlich, da er die in der Bibel enthaltene Naturphilosophie
für das wahre Wesen der Natur hält —unabhängig davon, zu welchen
Ergebnissen die Wissenschaft, als Erkenntnis der bloßen Erscheinungs­
welt, auf ihrem engbegrenzten Terrain gelangt. Und für einen Machisten,
der die Erscheinungswelt als alleinige Wirklichkeit betrachtet, kann ein
solcher Gedankengang als sehr geistreich erscheinen. Wenn Heidegger
sich in diesem Zusammenhang einfügt, so zeigt er auch heute, daß er,
wie seinerzeit in „Sein und Zeit“, die theologische Grundstruktur im
Aufbau der Philosophie von Kierkegaard beibehält, auch wenn bei ihm
der geoffenbarte Gott keine Rolle spielt. Es ist eine Theologie ohne Gott.
Philosophisch handelt es sich aber darum, was Hegel in seiner Kant­
kritik deutlich sagt: ob es einen Übergang zwischen Erscheinung und
Wesen in der objektiven Wirklichkeit und darum auch in der Erkenntnis
gibt, d. h. wo und wie in der Erscheinungswelt die Objektivität erfaßbar
ist. Wenn dies geleugnet wird, so muß ein agnostizistischer subjektiver
Idealismus entstehen. Und wenn vom Subjekt aus dennoch ein direkter
Zugang zum Wesen forciert wird, so muß sich die Methode dieses Aus­
wegs in Mystik verlieren, so muß der so aufgefundene Gegenstand etwas
zugleich Abstraktes und Irrationales werden. (Hegel gegen Schellings
„intellektuelle Anschauung".) So stand es um die Philosophie Heideggers
in „Sein und Zeit“, so steht es um sie im neuen Brief über den Humanis­
mus. Was Heidegger von seinen Vorgängern unterscheidet, ist nur, daß
der Gegensatz bei ihm nicht Erscheinung und Wesen (Phänomenon und
Noumenon) heißt, sondern das Seiende und das Sein. Wie scharf diese
170 Heidegger redivivus

Trennung bei Heidegger ist, zeigt die folgende Stelle: „Doch das Sein -
was ist das Sein? Es ist Es selbst... Das ,Sein'—das ist nicht Gott und nicht
ein Weltgrund. Das Sein ist weiter denn alles Seiende und ist gleichwohl
dem Menschen näher als jedes Seiende, sei dies ein Fels, ein Tier, ein
Kunstwerk, eine Maschine, sei es ein Engel oder Gott. Das Sein ist das
Nächste. Doch die Nähe bleibt dem Menschen am weitesten. Der Mensch
hält sich zunächst immer schon und nur an das Seiende. Wenn aber das
Denken das Seiende als das Seiende vorstellt, bezieht es sich zwar auf
das Sein. Doch es denkt in Wahrheit stets nur das Seiende als solches
und gerade nicht und nie das Sein als solches. Die ,Seinsfrage' bleibt
immer die Frage nach dem Seienden. Die Seinsfrage ist noch gar nicht
das, was dieser verfängliche Titel bezeichnet: die Frage nach dem Sein“
(76). Über die Fragen, die sich hier eröffnen, nämlich über die Frage des
Weges vom Sein zum Seienden und über Heideggers Beziehung zu den
früheren Philosophen, die vom Seienden ausgingen, sprechen wir später.
Wenn man aber meint, daß durch die jetzt angeführte Bestimmung
wirklich ein objektives Sein gedanklich Umrissen sei - und mag dies in
noch so mythischer Form geschehen - , so täuscht man sich. Zwar ver­
sucht Heidegger, die äußerste Mystik seiner Bestimmung gleich etwas
abzuschwächen. In unserem letzten Zitat haben wir einen Satz ausge­
lassen, der lautet: „Dies (nämlich, was das Sein ist, G. L.) zu erfahren
und zu sagen, muß das künftige Denken lernen“ (76) ; also ist doch das
Denken jenes Organ, durch welches dieses Sein erfaßt wird, wenn auch
ein Denken sehr sui generis, wie wir ebenfalls später sehen werden.
Wenn wir uns nun an das Sein selbst, an seine genauere Bestimmung
halten wollen, entschlüpft, zerrinnt alles. Wir haben bereits vernommen,
daß Heidegger auf die Frage, was das Sein ist, die Antwort des großen
Krummen aus „Peer Gynt“ erteilt : Es selbst. Und der neue Heideggersche
Begriff „ekstatisch gedacht“ soll nämlich nichts mit Existenz zu tun
haben. Heidegger lehnt jede Gemeinschaft mit Sartre ab, weil dieser
„den Vorrang der existentia vor der essentia“ (73) behauptet, und be­
stimmt seinerseits seine Stellung wie folgt: „Der Satz: ,Der Mensch
ek-sistiert' antwortet nicht auf die Frage, ob der Mensch wirklich sei
oder nicht, sondern antwortet auf die Frage nach dem ,Wesen' des Men­
schen“ (70/71). Und im folgenden führt er aus, daß jede Frage nach dem
Wer und Was des Menschen etwas Personenhaftes enthält. „Allein das
Personenhafte verfehlt und verbaut zugleich das Wesende der seins­
geschichtlichen Existenz nicht weniger als das Gegenständliche“ (71).
Das Wort Wesen steht hier, wie in „Sein und Zeit“, mit Bedacht in An­
führungszeichen, um anzudeuten, daß es „aus dem Ek-statischen des
Daseins bestimmt“ ist (71).
Heidegger redivivus
* -- ----- ----------- - - — -

Nun ist „Dasein" gerade die zweideutigste Kategorie von „Sein und
Zeit“. Einerseits tritt sie mit der Prätention der Objektivität auf, an­
dererseits und zugleich ist ihr Sinn nichts weiter als die menschliche
Existenz in der äußersten Subjektivität genommen. Hier ist der Punkt,
wo die Heideggersche Ontologie sich als reine Anthropologie enthüllt.
Heidegger sagt : „Wahrheit,gibt es nur, sofern und solange Dasein ist...
Die Gesetze Newtons, der Satz vom Widerspruch, jede Wahrheit über­
haupt sind nur solange wahr, als Dasein ist. Vordem Dasein überhaupt
nicht war und nachdem Dasein überhaupt nicht mehr sein wird, war keine
Wahrheit und wird keine sein, weil sie als Erschlossenheit, Entdeckung
und Entdecktheit dann nicht sein kann“ („Sein und Zeit“ 226). Das ent­
spricht haargenau der Erkenntnistheorie des Machismus. Heidegger
zitiert in seiner neuen Schrift einen ähnlichen Satz seines älteren Werkes :
„Nur solange Dasein ist, gibt es Sein“ (83). Hier fügt er aber hinzu: „Der
Satz sagt nicht, das Sein sei ein Produkt des Menschen“ (ebd.). Das ist
jedoch eine bloße Versicherung, und ähnliche hat man auch von den
Machisten wiederholt vernommen. Daß Heidegger weiter das Sein als
transzendent bezeichnet, besagt nichts. Die Transzendenz des Dinges
an sich hebt auch bei Kant den subjektiven Idealismus seiner Erkenntnis­
theorie nicht auf.
Alles Objektive —und was hat das Sein für eine Bedeutung, wenn es
nicht das Objektive ist? - löst sich hier ebenso auf wie im Machismus.
Denn philosophisch ist es eine durchaus zweitrangige Frage, ob Wahr­
nehmender und Wahrnehmung oder Dasein und Wahrheit eine solche
untrennbare Koexistenz bilden, daß das eine ohne das andere unmöglich
wird. In beiden Fällen heißt es: kein Objekt ohne Subjekt, was die er­
kenntnistheoretische Hauptthese des subjektiven Idealismus ist; der
„dritte Weg“ erweist sich auch bei Heidegger als subjektiver Idealismus.
Und zwar als eine irrationalistisch-mystische Abart des subjektiven
Idealismus, denn alles Gegenständliche der Welt, alles Personenhafte am
Menschen, alles Konkrete in Natur oder Geschichte erweist sich als Hin­
dernis dieser Seinserkenntnis. Das Denken des Seins hat, wie Heidegger
ausdrücklich hervorhebt, nichts mit Wissenschaft zu tun. Vom gewöhn­
lichen Denken der Menschen, von ihren Erfahrungen über das Seiende
führt keine Brücke zum Denken des Seins. Nur Kierkegaard hat diese
Dualität so schroff formuliert, allerdings noch immer konkreter als Heid­
egger, denn sein verzweifelter Sprung sollte beim geoffenbarten Christus
zum Ziel kommen, während die Philosophie Heideggers buchstäblich ins
Nichts springt. Man sieht, alle Abschwächungsversuche in bezug auf den
Nihilismus von „Sein und Zeit“, die Heidegger hier unternimmt, sind
vergeblich ; der Nihilismus steckt tief in seiner grundlegenden Position
172 Heidegger redivivus

und Methode, wie auch in der Kierkegaards, nur dort von der Theologie
verdeckt, während Heidegger ihn nackt zum Vorschein bringt. Von hier
aus wird Heideggers Opposition gegen den Humanismus erst wirklich
verständlich, erscheint sie als notwendige Folge seiner ganzen Philosophie.
Er sagt über die älteren Humanisten : „ .. .sie kommen doch darin überein,
daß die humanitas des homo humanus aus dem Hinblick auf eine schon
feststehende Auslegung der Natur, der Geschichte, der Welt, des Welt­
grundes, das heißt des Seienden im Ganzen, bestimmt wird'* (63).
Damit sind wir dort angelangt, wo die systematischen philosophischen
Bestrebungen Heideggers im Zusammenhang mit seiner Einschätzung
der gegenwärtigen Lage der Menschheit und damit im Zusammenhang
mit seiner Konzeption der Menschheitsgeschichte überblickbar werden.
Heidegger lehnt, wie wir gesehen haben, am alten Humanismus von der
Antike bis Goethe die Vorstellung ab, man könnte aus dem Ganzen der
seienden Welt Folgerungen in bezug auf das Wesen des Menschen, auf
den Weg der Menschheit ziehen. Und in der Tat handelt es sich hier um
die Kernfrage einer jeden humanistischen Weltauffassung. Sie geht gerade
im entwickeltesten Humanismus, im „Faust* *und in d er,,Phänomenologie
des Geistes**, davon aus, wie der Mensch, ursprünglich ein Produkt der
Natur, im Laufe der Geschichte sich zu dem machte, was er geworden ist,
sich zu dem machen wird, was er seinen Möglichkeiten nach werden kann.
(Das Konkretisieren der zweiten Frage ist bereits das Werk des sozialisti­
schen Humanismus von Fourier bis zu unseren Tagen.)
Heidegger leugnet aber beides. Er sagt: ,,Der Leib des Menschen ist
etwas wesentlich Anderes als ein tierischer Organismus" (67). In bezug
auf Geschichte ist seine Stellung zwiespältiger, schillernder. Seine von
uns zitierte Anerkennung der Marxschen Konzeption, ihrer Überlegenheit
über Husserl und Sartre, deutet darauf hin, wie ja bereits in „Sein und
Zeit** eine geschichtliche Auffassung der Existenz des Menschen, mit ge­
legentlichen energischen Hinweisen auf die Verdienste Diltheys, an­
gegeben war. Auch hier tritt er für die Geschichtlichkeit des Seins ein.
Jedoch in einer äußerst zwiespältigen Weise. Einerseits wird auch hier
die Geschichtlichkeit des Seins ausdrücklich anerkannt. „Dieses ,es gibt*
(nämlich ,es gibt das Sein' von Parmenides, G. L.) waltet als das Ge­
schick des Seins. Dessen Geschichte kommt im Wort der wesentlichen
Denker zur Sprache. Darum ist das Denken, das in die Wahrheit des
Seins denkt, als Denken geschichtlich" (81). Freilich ist auch dies eine
bloße und leere Enunziation. Und andererseits wird dem sogleich hinzu­
gefügt: „Die Geschichte geschieht nicht zuerst als Geschehen. Und dieses
ist nicht Vergehen. Das Geschehen der Geschichte west als das Geschick
der Wahrheit des Seins aus diesem" (81). Darum gibt es keinen Fort-
Heidegger redivivus 1 7 3

schritt in der Philosophie. „Sie schreitet, wenn sie ihr Wesen achtet,
überhaupt nicht fort. Sie tritt auf der Stelle, um stets das Selbe zu denken.
Das Fortschreiten, nämlich fort von dieser Stelle, ist ein Irrtum, der dem
Denken folgt als der Schatten, den es selbst wirft' ' (ebd.). Trotzdem ist nach
Heidegger Hegels Konzeption der Geschichte der Philosophie „als der
Entwicklung des , Geistes' nicht unwahr. Sie ist auch nicht teils richtig,
teils falsch... Die absolute Metaphysik gehört mit ihren Umkehrungen
durch Marx und Nietzsche in die Geschichte der Wahrheit des Seins" (82).
Daß hier ein Widerspruch vorliegt ist offenkundig. Aber mit der bloßen
Feststellung des Widerspruchs bei Heidegger sind wir kaum im Vorhof
des Problems selbst angelangt. Denn dieser Widerspruch drückt nicht
allein die Inkonsequenz des Denkers aus, nicht irgendeinen logisch­
methodologischen Fehler, der festgestellt und korrigiert werden könnte.
Es handelt sich hier vielmehr um einen der grundlegenden Widersprüche
im gesellschaftlichen Sein des Bürgertums, der —selbstredend der gesell­
schaftlich-geschichtlichen Entwicklung entsprechend —in jeweils ver­
schiedenen Formen immer wieder erscheint.
Die bürgerliche Gesellschaft selbst ist etwas historisch Gewordenes.
Schon seit der Entwicklung Hollands und Englands im 17. bis 18. Jahr­
hundert konnte dies nicht geleugnet werden, und das Erlebnis der großen
Französischen Revolution mußte dieses Erlebnis und diese Erkenntnis
unermeßlich verallgemeinern. Es handelt sich aber in der sich so erhellen­
den Historizität nicht um eine einfache Veränderung in der Zeit, sondern
um eine Vorwärtsbewegung, um eine Aufwärtsbewegung, um einen Fort­
schritt. Von der Aufklärung über Condorcet bis Hegel wird immer wieder
versucht, die Prinzipien dieser Fortschrittlichkeit gedanklich zu erfassen,
auf den Begriff zu bringen.
Hier ergab sich von allem Anfang an eine große Schwierigkeit, der sich
im Laufe der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft eine andere
zugesellte. Von Anfang an sah man, daß das Vorwärtsschreiten keines­
wegs etwas Geradliniges ist, daß der später entstandene, höherstehende
gesellschaftliche Zustand zugleich neue Gebrechen hervorbringt, daß er
in mancher Hinsicht niedriger steht als seine Vorgänger. Daraus ist schon
sehr früh ein Leugnen des historischen Fortschritts entstanden (Linguet) ;
daraus entstand das Bemühen großer Denker, die Fortschrittlichkeit der
Geschichte in ihrer Widersprüchlichkeit, also dialektisch zu fassen (Vico,
Hegel). Zu dieser Widersprüchlichkeit gehört, daß man das Vorwärts­
schreiten nur für die Totalität, für das Schicksal des Menschengeschlechts
adäquat aussprechen kann. Einzelne Erscheinungsweisen dieser Ent­
wicklung bleiben für immer unübertroffen. (Antike Kunst in Hegels
Geschichtsphilosophie.)
i74 Heidegger redivivus

Die zweite hinzutretende Schwierigkeit ist die der Perspektive. Es ist


konsequent denkerisch unmöglich, das Woher zu erforschen, die Fort­
schrittlichkeit des Geschichtsablaufs festzustellen, ohne für das Wohin
eine Antwort wenigstens zu suchen. Solange die bürgerliche Gesellschaft
mit einer gewissen subjektiven Berechtigung sich selbst als höchste Stufe
der Menschheitsentwicklung betrachten konnte, gab es hier für die bürger­
liche Philosophie kein Problem. Jedoch die Hegelsche Philosophie der
Geschichte ist die letzte, die diese Synthese mit gutem Gewissen voll­
ziehen konnte. Schon in den vierziger Jahren konnte Marx die berechtigte
Frage an seine Gegner stellen: folglich gab es für euch eine Geschichte,
aber gibt es keine mehr? Die spätere - einzelwissenschaftlich-methodolo-
gische —Ablehnung der Perspektivenfrage besagt selbstredend philoso­
phisch gar nichts. Die gesellschaftliche Erschütterung in bezug auf die
Perspektive der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führte not­
wendig dazu, daß der Fortschrittsbegriff aus der Konzeption der Ge­
schichte, mehr oder weniger konsequent, eliminiert wurde. Nach der Ro­
mantik ist Rankes gleiche Nähe zu Gott für alle Epochen der erste wir­
kungsvolle geschichtsphilosophische Schritt in dieser Richtung. Es folgen
die verschiedenartigsten Variationen bis in unsere Tage, in die Zeit der
tiefsten Krise des kapitalistischen Systems. Wenn die Krise jedoch wirk­
lich akut und tief ist, genügt die Rankesche Lösung (historische Bewegt­
heit, empiristische Konkretheit - ohne Fortschritt) nicht mehr. Die Krise
drückt sich für die Anhänger des Bestehenden oder für jene Ideologen,
die sich ein qualitativ anderes, höherstehendes Gesellschaftssystem als
das bestehende nicht vorzustellen imstande beziehungsweise gewillt sind,
dahin aus, daß die historische Entwicklung von einem bestimmten Punkt
aus als Fehlentwicklung, als Irrgang, als Pseudogeschichte erscheint und
die wirkliche Geschichte nun darin besteht, mit Hilfe einer gewissen
tabula rasa zu diesem Ausgangspunkt der Verfehlung zurückzukehren
und von dort aus eine „richtige“ Geschichte zu entfachen. Ein solcher
Ausgangspunkt war für die Romantik das Mittelalter oder das ancien
régime. Solche Ausgangspunkte suchte die präfaschistische Philosophie,
am konsequentesten Klages. Einen solchen Ausgangspunkt fand der Fa­
schismus in der ursprünglichen Rassenreinheit, die durch die Fehlent­
wicklung der neueren Geschichte verdorben wurde und nunmehr —mit
den bekannten Mitteln —wiederherzustellen ist.
Es ist nun interessant, daß gerade die Geschichte der Philosophie im
imperialistischen Zeitalter dieser allgemeinen Entwicklung der reaktio­
nären Geschichtsphilosophie pionierhaft vorangegangen ist. Für Nietzsche
ist Sokrates die Figur, bei der die Fehlentwicklung beginnt; für den
Machisten Petzoldt Protagoras. Heidegger schließt sich in dieser Frage
Heidegger redivivus 175

weitgehend, wenn auch naturgemäß mit anderen Begründungen, der


Nietzscheschen Anschauung an. Seiner Meinung nach beginnt mit Platon
und Aristoteles jene Wendung in der Philosophie, die vom „Anfäng­
lichen“, vom „Eigentlichen“ ablenkt, die Metaphysik mit ihren falschen
Fragestellungen, die falsche Differenzierung der Philosophie in Logik,
Ethik usw. „Die ,Ethik* kommt mit der ,Logik' und der »Physik* zum
erstenmal in der Schule Platons auf. Diese Disziplinen entstehen zu der
Zeit, die das Denken zur »Philosophie*, die Philosophie aber zur επιστήμη
(Wissenschaft) und die Wissenschaft selbst zu einer Sache der Schule und
des Schulbetriebes werden läßt. Im Durchgang durch die so verstandene
Philosophie entsteht die Wissenschaft, vergeht das Denken** (105/106).
Der Rettungsweg der Philosophie kann also, nach Heidegger, nur darin
bestehen, diese Fehlentwicklung rückgängig zu machen, jene Attitüde
zum Sein wiederzufinden, die wir im Laufe der eigentlichen Geschichte
der Philosophie, im Laufe der Entwicklung unserer Zivilisation verloren
haben. Die Polemik gegen das nicht authentische, uneigentliche Leben der
Gegenwart, gegen den Verfall des Menschen unter der Herrschaft des
„das Man** (der Demokratie!) aus „Sein und Zeit“ erhält hier zugleich
eine philosophiegeschichtliche Ausdehnung und eine philosophische Ver­
tiefung. Beides geht, wie wir gesehen haben, nach dem Schema des äußerst
reaktionären Verhaltens in einer Krisenzeit.
Daran ändert nichts, daß Heidegger, wie wir gesehen haben, alle be­
deutenden Philosophen der Vergangenheit trotz ihrer Metaphysik doch
„retten** will. Auch diese Inkonsequenz hat ihre tieferliegenden histori­
schen Gründe. Heidegger hat das richtige Gefühl, daß eine Philosophie,
die einen Weltzustand adäquat —soweit es die historischen Umstände
gestatten - gedanklich reproduziert, als bedeutsames Spiegelbild einer
bedeutenden Etappe der Menschheitsentwicklung, ihre Geltung innerhalb
bestimmter Grenzen auch dann bewahrt, wenn dieser Weltzustand schon
lange der Vergangenheit angehört. Dieses Gefühl ist zum erstenmal in
der Hegelschen Geschichte der Philosophie zum Ausdruck gekommen und
erhielt seine materialistisch vertieftere philosophische Begründung im
Marxismus, da in ihm einerseits die Historizität der menschlichen Existenz
radikaler ernst genommen wurde als je zuvor, andererseits aber und zu­
gleich ein Kriterium gefunden wurde, ob eine Philosophie die Struktur
der Wirklichkeit in der für sie erreichbaren Approximation auf den Be­
griff gebracht hat.
Heidegger kämpft auch hier gegen die irrationalistischen Folgerungen,
die aus ,,Sein und Zeit“ gezogen werden. Seine jetzige Anerkennung der
großen Gestalten der Geschichte der Philosophie ist ein Teilmoment
dieses Kampfes, ein Tribut, den er Hegel und Marx zollt. So anerkennens-
176 Heidegger redivivus

wert diese Tendenz ist, so wenig läßt sie sich mit der Grundtendenz
Heideggers vereinen. Denn in der Geschichte der Philosophie Hegels
wird gerade die - relative - Homogeneität der philosophischen Entwick­
lung aufgezeigt ; es ist dieselbe, freilich sich in dieser Dieselbigkeit histo­
risch wandelnde Wirklichkeit, von der alle großen Philosophen ausgehen,
die sie in ihren Philosophien wiedergeben, an die sie sich mit ihrer Lehre
wenden. Trotz aller Sprunghaftigkeit enthält, ja eben in dieser Sprung­
haftigkeit bewahrt die Geschichte der Philosophie bei Hegel das Moment
der Kontinuität. Gerade diese fehlt jedoch bei Heidegger, wenn man
seine Konzeption ernst nimmt, und das ist Pflicht einem jeden Denker
gegenüber, den man auch nur einigermaßen ernst nimmt. Aber wenn die
entscheidende philosophische Methode seit Platon und Aristoteles vom
eigentlichen Sein ablenkt, wenn sie ein gedanklicher Ausdruck der „ Seins­
vergessenheit* *ist, wenn die wahre Philosophie nur durch einen radikalen
Bruch mit all diesen falschen, nur an dem Seienden orientierten Über­
lieferungen vollzogen werden kann, wie können Platon und Aristoteles,
Descartes und Hegel, die Verderber der eigentlichen Philosophie, die
Schöpfer ihrer falschen Differentiation, die Verdränger des Denkens des
Seins durch das Vorherrschen des Denkens des Seienden eine derartig
bevorzugte Stelle erhalten?
Heidegger führt auch - von seinem Standpunkt aus konsequent - an
anderer Stelle aus: „Die ,Logik* versteht das Denken als das Vorstellen
von Seiendem in seinem Sein, das sich Vorstellen im Generellen des Be­
griffes zustellt. Aber wie steht es mit der Besinnung auf das Sein selbst
und das heißt mit dem Denken, das die Wahrheit des Seins denkt? Dieses
Denken trifft erst das anfängliche Wesen des λόγος, das bei Platon und
Aristoteles, dem Begründer der »Logik*, schon verschüttet und verloren­
gegangen ist. Gegen ,die Logik* denken, das bedeutet nicht, für das Un­
logische eine Lanze brechen, sondern heißt nur : dem Logos und seinem
in der Frühzeit des Denkens erschienenen Wesen nachdenken, heißt : sich
erst einmal um die Vorbereitung eines solchen Nach-denkens bemühen.
Was sollen uns alle noch so weitläufigen Systeme der Logik, wenn sie sich,
und sogar ohne zu wissen, was sie tun, zuvor der Aufgabe entschlagen,
nach dem Wesen des λόγος auch nur erst zu fragen?** (98). Damit ist
jedoch über die Begründer und Weiterbildner einer solchen „Logik** das
philosophische Todesurteil ausgesprochen.
Doch es kommt hier weniger auf die Geschichte der Philosophie als
auf die Philosophie selbst an ; jene mußte nur darum so ausführlich heran­
gezogen werden, damit die ganze Widersprüchlichkeit des angeblich ge­
schichtlichen Charakters des Seins bei Heidegger in ein konkretes Licht
gerückt werde. Und gerade von diesem Standpunkt aus erscheint der
Heidegger redivivus I 77

Zusammenhang jener Denkmotive, die bisher der Klärung wegen geson­


dert betrachtet werden mußten, besonders wichtig : nämlich die Beziehung
des Seins zum Seienden, der geschichtliche Charakter des Seins, die Rück­
kehr zum „Anfänglichen“ und der Ausgangspunkt von der „Heimatlosig­
keit“ des Menschen in der Gegenwart. Zweifellos ist auch in „Sein und
Zeit”y wenn auch ohne die jetzige terminologische Bezeichnung, das
letzte Moment das ausschlaggebende. Es bestimmt zugleich den spezifi­
schen Charakter der Heideggerschen Geschichtlichkeit, sowie —dadurch
vermittelt —die Beziehung des Seins zum Seienden. Wir haben bereits
darauf hingewiesen, daß dieser Ausgangspunkt mit jenem Problem-
komplex polemisiert, der im Lebenswerk von Marx wissenschaftlich dar-
gelegt wurde, mit der Stellung des Menschen in der kapitalistischen Ge­
sellschaft. Wir haben dort ebenfalls bereits aufgezeigt, woher die Be­
grenztheiten dieser Berührung stammen, nämlich daher, daß Marx die
objektive Struktur und Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Gesellschaft
in ihrem geschichtlichen Werden, in ihrer geschichtlichen Gewordenheit
behandelt, und die Beziehungen der Menschen zur Welt und zueinander
(durch dieses gesellschaftliche Sein bestimmt, durch diese gesellschaft­
liche Struktur vermittelt) als Endfolgen erscheinen und erklärt werden,
während Heidegger den entgegengesetzten Weg einschlägt. Neben den
bereits dort angedeuteten Mißlichkeiten ergibt dieser Ausgangspunkt die
Verwandlung der wirklichen Geschichte in eine mythifizierte Pseudo­
geschichte.
Dieser Gegensatz erscheint —durch Heideggers Methode konsequent
auf den Kopf gestellt - als der von vulgärer und eigentlicher Zeit, von
vulgärer und eigentlicher Geschichte. Die eigentliche Geschichte ent­
stünde nämlich bei Heidegger, wenn das Erlebnis dieser „Heimatlosig­
keit“ des Menschen phänomenologisch erfaßt, durch die phänomenologi­
sche Wesensschau geklärt, in ihrer intentionalen Gegenständlichkeit er­
hellt und dann ontologisch auf das ihr zugrunde liegende Sein hin durch­
dacht wird. Die Illusion Heideggers besteht darin, daß er meint, auf diese
Weise eine „eigentlichere“ Geschichtlichkeit auffinden zu können als
jene, die sich mit dem wirklichen objektiven historischen Prozeß ab­
mühen. Sagt er doch in seiner neuen Schrift: „Die Ek-sistenz des Men­
schen ist als Ek-sistenz geschichtlich, nicht aber erst deshalb, und nur
deshalb, weil mit dem Menschen und den menschlichen Dingen mancher­
lei im Verlauf der Zeit geschieht“ (82). Wie wir schon früher gesehen
haben, schiebt Heidegger hier die realen geschichtlichen Geschehnisse
bewußt beiseite, um zum angeblich wirklich historischen Wesen der
„Ek-sistenz“ des Menschen zu gelangen. So entstehen jene Perioden der
„Anfänglichkeit“ und der „Heimatlosigkeit“, die sich zwar bei bestimm-
178 Heidegger redivivus

ten geschichtlichen Ereignissen abgrenzen, allerdings stets bei bestimm­


ten Formen des Denkens, des Bewußtseins (Platon und Aristoteles bei
Heidegger, Sokrates bei Nietzsche, Protagoras bei Petzoldt), die ihr me­
thodologisches Vorbild in den strukturellen Abgrenzungen der Perioden
in der christlichen Theologie haben. (Von den Kirchenvätern bis Kierke­
gaard.)
Diese Verwandtschaft ist keine zufällige. Denn auch hier ist die „Hei­
matlosigkeit“ des Menschen und das Wiederfinden der „Heimat“ die
Zentralfrage, und auch hier wird eine geschichtsphilosophische Antwort
vom erlösungsbedürftigen Subjekt aus gesucht. Vom Standpunkt einer
theologischen Dogmatik war es aber verständlich und konsequent, im
Erscheinen Christi einen solchen qualitativ strukturellen, periodisierenden
Markstein als zentralen Orientierungspunkt für alle historischen Gescheh­
nisse zu schaffen, welche nur darauf bezogen wesentlich, an sich wesenlos,
in diese Geschichtsphilosophie eingeordnet und ihrem Zentrum unter­
geordnet werden konnten. Denn die Konstruktion vom erlösungsbedürf­
tigen Subjekt aus konnte sich hier auf eine Konzeption der Geschichte
einer als objektiv gedachten Wirklichkeit stützen, mag diese auch noch so
theologisch und mystisch gewesen sein. H at der geoffenbarte Gott diese
seine konstituierende, Methoden schaffende Rolle in der Geschichtsphilo­
sophie verloren —und dies ist auch bei Heidegger der Fall, einerlei, ob er
daraus persönlich atheistische Konsequenzen zieht oder sich, wie hier,
gegen den Atheismus verwahrt —, so wird diese ganze Methode völlig
widerspruchsvoll willkürlich, haltlos; sie wirft den Reichtum der ge­
schichtlichen Wirklichkeit mit ihren erkennbaren Gesetzen und Entwick­
lungstendenzen als unwesentlich, als nur Seiendes wreg und hält nur die
völlig leere Abstraktion eines vom Seienden getrennten Seins in den Hän­
den, noch dazu eines Seins, das für die Menschheit in der Gegenwart ver­
lorengegangen ist und erst —durch diese Philosophie —wiedererobert
werden soll. Im Vergleich zu dieser öden Leere bringt die negative Theo­
logie des Mittelalters eine reiche und gegliederte Welt. Denn die Heidegger-
sche Trennung des Seins vom Seienden, das Leugnen, daß die möglichen
Prädikate des Seienden sich auf das Sein beziehen könnten, ist sehr ver­
wandt mit der Gotteskonzeption der negativen Theologie. Nur daß diese
ihre Negativität auf die Erkenntnis Gottes bezieht und beschränkt und
darum die Welt in ihrer Gegenständlichkeit bestehen lassen kann, während
die negative Theologie der Seinslehre Heideggers gerade die Wirklichkeit
selbst in ein abstraktes Nichts verwandelt.
Allein dies bringt klar zum Ausdruck, daß es bei Heidegger keinen Weg
von der Erkenntnis des Seienden zum Denken des Seins gibt. Und daß es
vom Denken des Seins einen prinzipiell für alle gangbaren, einen wissen-
Heidegger redivivus 179

schaftlichen Weg zurück zur Welt des Seienden geben kann, hat Heid­
egger hier in keiner Hinsicht erwiesen. Ja, alle seine hier wiederholt an­
geführten Bemerkungen über die Gegenständlichkeit, über die Erkenn­
barkeit und den Wahrheitsgehalt der Erkenntnis des Seienden in Natur
und Geschichte sprechen beredt gegen eine solche Möglichkeit. Mag sich
Heidegger mit noch so echt empfundener subjektiver Überzeugung gegen
den Vorwurf des Irrationalismus wehren, die philosophische Grundstim­
mung dieser seiner letzten Schrift ist rein irrationalistisch.
Auch dies steht im engen Zusammenhang mit seinem Ausgangspunkt,
mit dem Problem der Stellung des Menschen in der kapitalistischen Ge­
sellschaft der Gegenwart, aufgeworfen von der Seite des unter ihren ob­
jektiv notwendigen, aber in ihrer Notwendigkeit unerkannten, Einwirkun­
gen leidenden Subjekts. Wir haben auf die Problemverzerrungen, die sich
von dieser Fragestellung aus zwangsläufig ergeben, bereits in verschiede­
nen Zusammenhängen hingewiesen. Wir müssen uns jetzt aber von einer
neuen Seite diesem Komplex nähern. In der Marxschen Analyse der
kapitalistischen Gesellschaft wird es jeweils stets völlig klar, ob irgendeine
Kategorie des gesellschaftlichen Lebens der Menschen (eine Beziehung
zwischen Menschen, Klassen) etwas spezifisch Kapitalistisches oder eine
gemeinsame, freilich Wandlungen, Funktionswechseln unterworfene Ge­
genständlichkeitsform mehrerer sozialer Formationen ist. Wird aber der
Ausgangspunkt der Fragestellung vom Subjekt aus genommen, wie bei
Heidegger, so ist die methodologische Möglichkeit solcher Erkenntnisse
von vornherein verbaut.
Für solche subjektivistischen Fragestellungen sind sie auch ohne Inter­
esse. Das hat zur Folge, daß historische oder ontologische „Synthesen“
geschaffen werden, in denen das die Gegenständlichkeit bestimmende
Prinzip die günstige oder ungünstige Einwirkung auf das Subjekt ist.
Denn für das leidende Subjekt in seiner Unmittelbarkeit sind solche
historischen und theoretischen Unterschiede völlig gleichgültig - solange
es sich nicht über diese Unmittelbarkeit erhebt, was aber die Heidegger-
sche Methode prinzipiell ausschließt. Und da der Intellektuelle der kapi­
talistischen Welt unter dem unmittelbaren Zwiespalt zwischen sinnlosem,
mechanisiertem Tun und sinnloser, weil in der Gesellschaft effektloser,
subjektiver Persönlichkeitsäußerung leidet, wird dies —ein beiläufiges
Nebenprodukt der kapitalistischen Arbeitsteilung — zu einer weltge­
schichtlichen oder ontologischen Dualität aufgebauscht, zur Dualität
zwischen Zivilisation (Technik) und Kultur, zwischen Geist und Seele
(Klages), zwischen Metaphysik und „anfänglichem“ Denken (Heidegger).
Wie stark sich diese Position Heideggers mit den hier angedeuteten
Gedankengängen berührt, zeigt seine Beschreibung des Ausgangspunktes
ι8ο Heidegger redivivus

der von ihm perhorreszierten Entwicklung. Er spricht über Theorie und


Praxis bei Platon und Aristoteles und sagt: ,,Das Denken selbst gilt dort
als reine τέχνη, das Verfahren des Überlegens im Dienste des Tuns und
Mächens. Das Überlegen aber wird hier schon aus dem Hinblick auf
πράξις und ποίηβις gesehen. Deshalb ist das Denken, wenn es für sich
genommen wird, n ic h t,praktisch'. Die Kennzeichnung des Denkens als
&έωρι<χ und die Bestimmung des Erkennens als des »theoretischen' Ver­
haltens geschieht schon innerhalb der »technischen' Auslegung des Den-
kens. Sie ist ein reaktiver Versuch, auch noch das Denken in eine Eigen­
ständigkeit gegenüber dem Handeln und Tun zu retten. Seitdem ist die
,Philosophie' in der ständigen Notlage, vor den ,Wissenschaften' ihre
Existenz zu rechtfertigen. Sie meint, dies geschehe am sichersten dadurch,
daß sie sich selbst zum Range einer Wissenschaft erhebt. Dieses Bemühen
ist aber die Preisgabe des Wesens des Denkens" (54/55).
Und wie bei jedem, der subjektivistisch-romantisch sich in Gegensatz
zur kapitalistischen Gesellschaft stellt, entsteht auch hier bei Heidegger
ein Angriff auf die demokratischen Formen, die die Entwicklung des
Kapitalismus mit sich führt. Der Verfall der Philosophie wird mit der
Herrschaft der Öffentlichkeit in Zusammenhang gebracht. ,,Wenn das
Denken zu Ende geht, indem es aus seinem Element weicht, ersetzt es
diesen Verlust dadurch, daß es sich als τέχνη, als Instrument der Aus­
bildung und darum als Schulbetrieb und später als Kulturbetrieb eine
Geltung verschafft. Die Philosophie wird allgemach zu einer Technik des
Erklärens aus obersten Ursachen. Man denkt nicht mehr, sondern man
beschäftigt sich mit »Philosophie'. Im Wettbewerb solcher Beschäftigun­
gen bieten sich diese dann öffentlich als ein ...ismus an und versuchen,
sich zu überbieten. Die Herrschaft solcher Titel ist nicht zufällig. Sie
beruht, und das vor allem in der Neuzeit, auf der eigentümlichen Diktatur
der Öffentlichkeit" (58). Dieser Gedankengang könnte bei jedem beliebi­
gen präfaschistischen Antikapitalisten stehen, bei jedem, der —bewußt
oder unbewußt, gewollt oder ungewollt —eine günstige geistige Atmo­
sphäre für die soziale Demagogie des Faschismus zu schaffen half. Und
Heidegger widerlegt hier unbewußt seine Behauptung, daß der „das Man"
aus „Sein und Zeit" nichts mit der Gesellschaft, mit der gegenwärtigen
kapitalistischen Gesellschaft zu tun habe.
Heidegger unterscheidet sich aber hier, sehr zu seinem Vorteil, von
jenen Kritikern der Demokratie, die sich in spießbürgerlichem Hochmut
vom öffentlichen Leben abwenden, um ihre selbstgefällige bloße Privat­
existenz mit der Glorie des „Wesentlichen", des „Eigentlichen" zu um­
geben (Jaspers). Denn Heidegger setzt den eben zitierten Gedankengang
so fort: „Die sogenannte ,private Existenz' ist jedoch nicht schon das
Heidegger redivivus i 8i

wesenhafte, nämlich freie Menschsein. Sie versteift sich lediglich zu einer


Verneinung des Öffentlichen. Sie bleibt der von ihm abhängige Ableger
und nährt sich vom bloßen Rückzug aus dem Öffentlichen. Sie bezeugt
so wider den eigenen Willen die Verknechtung an die Öffentlichkeit“ (58).
Aber diese Klarsicht führt Heidegger wieder in die tiefste Widersprüch­
lichkeit seiner Position hinein. Er hätte vollkommen recht, wenn er die
Einsicht hätte, daß der Kapitalismus —und zwar simultan —sowohl das
öffentliche als auch das private Leben der Menschen destruiert. Er müßte
dann aber historisch weiterfragen nach den gesellschaftlichen Gründen
dieser Destruktion, nach der gesellschaftlichen Möglichkeit der Rekon­
struktion der Öffentlichkeit, die es gerade im antiken Leben gab, und mit
ihr der Rekonstruktion auch des privaten Lebens. Das ist jedoch wieder­
um nur von einer objektiv-ökonomischen Analyse des gesellschaftlichen
Lebens aus möglich. Statt dessen sucht Heidegger eine Sphäre, eine „Di­
mension“, die weder öffentlich noch privat ist, also wiederum einen
„dritten Weg“, der diesmal ebenfalls ins Nichts führt: „Soll aber der
Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muß er zuvor
lernen, im Namenlosen zu existieren. Er muß in gleicher Weise sowohl
die Verführung durch die Öffentlichkeit als auch die Ohnmacht des
Privaten erkennen“ (60).
Diese Widersprüchlichkeit des von Heidegger eingeschlagenen „dritten
Weges“ ist desto ausgeprägter, je positiver er sich gibt. Denn das wesent­
lichste Unterscheidungszeichen dieser neuen Schrift zu „Sein und Zeit“
besteht gerade darin, daß Heidegger mit dem Nihilismus der Verzweif­
lung, die sein früheres Werk ausstrahlt, aufräumen will, ja das ältere
Werk so interpretiert, als ob es diese Verzweiflung gar nicht enthalten
hätte, als ob diese seine Wirkung ein Mißverständnis gewesen wäre. Das
Positive soll vor allem darin bestehen, daß eine angebliche Perspektive
eröffnet wird, daß im ek-sistentiellen Denken des Seins, im „Stehen in
der Lichtung des Seins“ (66/67) eine „Dimension des Heiligen“, in der
allein danach gefragt werden kann, „ob der Gott sich nahe oder ent­
ziehe“ (102), sich erschließen könne.
Dazu aber ist das „anfängliche“ Denken nötig. Und dies ist, auch beim
heutigen Heidegger —wie einst bei dem ganz anders gearteten'Klages —
ein radikales Aufräumen mit der ganzen gegenwärtigen Kultur und Zivi­
lisation. Es ist nicht ein Aufstieg, wie in der von ihm verworfenen bis­
herigen Metaphysik, es ist ein Abstieg: „Der Abstieg ist, zumal dort, wo
der Mensch sich in die Subjektivität verstiegen hat, schwieriger und ge­
fährlicher als der Aufstieg. Der Abstieg führt in die Armut der Ek-sistenz
des homo humanus“ (103). Mit diesem Abstieg wird ein neuer „dritter
Weg' ‘ aus der heute überall —mit Ausnahme des Marxismus —verworre-
182 Heidegger redivivus

nen Beziehung von Theorie und Praxis zu eröffnen versucht: „Dieses


Denken ist weder theoretisch noch praktisch. Es ereignet sich vor dieser
Unterscheidung. Dieses Denken ist, insofern es ist, das Andenken an das
Sein und nichts außerdem. Zum Sein gehörig, weil vom Sein in die Wahr-
nis seiner Wahrheit geworfen und für sie in den Anspruch genommen,
denkt es das Sein. Solches Denken hat kein Ergebnis, es hat keine Wir­
kung. Es genügt seinem Wesen, indem es ist" ( in ). Und wenn man von
hier aus auf den Anfang von Heideggers Betrachtungen zurückblickt,
sieht man, was es mit der angeblichen Geschichtlichkeit des Seins auf
sich hat. Heidegger sagt dort: „Vollbringbar ist deshalb eigentlich nur das,
was schon ist“ (53). Hier erscheint auch ganz deutlich, warum es nach
Heidegger in der Philosophie keinen Fortschritt geben kann. Es würde,
wenn sich solche ausgeklügelten subjektivistischen Utopien verwirklichen
ließen, wenn dieser „Wesensschau“ irgendeine Wirklichkeit entspräche,
die Welt ein bewegungsloses Sein sein, in welcher alles Seiende wesenlos
wird, in welcher das Denken des Seins in einem völlig undurchdringlichen
äußeren wie inneren Inkognito „anfänglich“ , „einfach“ wesen würde.
Das ist aber - allen Protesten Heideggers zum Trotz - doch das all­
gemeine Weltbild des Existentialismus, aus welchem Sartre und seine
Schüler krampfhaft einen Weg in die soziale Realität suchen, in welches
sich Jaspers in eitler Selbstbespiegelung einspinnt. Die Grundlage dieser
Gedankenwelt der verschiedenen Nuancen des Existentialismus ist, wie
gezeigt wurde, die Wirklichkeit des sich auflösenden Monopolkapitalis­
mus, gesehen von einem Menschentypus, von einer Gesellschaftsschicht,
die alle Probleme der Gegenwart ausschließlich von ihren subjektiven Er­
lebnissen aus bewertet. „Sein und Zeit“ nahm eine Sonderstellung in
dieser Literatur ein ; dieses Werk hat den Nihilismus der Verzweiflung,
der aus einem solchen Lebensgefühl naturgemäß entspringen muß, mit
großer Energie zum Ausdruck gebracht. Mögen alle seine Kategorien
subjektivistisch verzerrte sein, mag in ihm jeder Begriff auf dem Kopfe
stehen, „Sein und Zeit“ war doch ein philosophisches Zeitdokument aus
der Periode des Präfaschismus von Gewicht und Rang.
Jetzt will Heidegger diesen Nihilismus der Verzweiflung überwinden.
Was er objektiv philosophisch an seine Stelle setzt, ist um nichts weniger
problematisch als das frühere Werk, nur fehlt ihm dessen, trotz allem
vorhandenes, suggestives Pathos. Freiüch, dieses Pathos, dieser Nihilis­
mus der Verzweiflung war ebenfalls eine wichtige Erscheinungsform des
Präfaschismus. Ohne eine solche perspektivenlose Verzweiflung in den
breitesten Massen - die freilich aus dem kapitalistischen Leben kam und
nicht aus „Sein und Zeit“, Heidegger half nur, diese Stimmung unter den
Intellektuellen zu vertiefen und zu verfestigen —hätte Hitler nie seine
Heidegger redivivus 183

Wirkungen erreichen können. Es ist also verständlich, daß Heidegger -


aus welchen inneren Motiven auch immer - mit seiner präfaschistischen
Vergangenheit aufräumen, ja sie durch Uminterpretation annullieren
möchte. Vergebliches Bemühen. Erstens bleibt „Sein und Zeit" für seine
Leser - mag Heidegger heute was auch immer behaupten —das, was in
seinen Worten und zwischen seinen Zeilen steht. Zweitens ist, was Heid­
egger heute bietet, dem inneren Gehalt nach viel zu wenig vom gestrigen
verschieden, um wesentlich andere Wirkungen hervorbringen zu können
als „Sein und Zeit“. Heidegger hat mit seiner präfaschistischen Ver­
gangenheit nicht gebrochen, ja nicht einmal sein persönliches Eintreten
für den Faschismus philosophisch desavouiert. Ja, das hier entworfene
Inkognito des Seins dem Seienden gegenüber kann leicht ein Deckmantel
für eine spätere Enthüllung von was immer sein. Man denke an jene
Jünglinge Heideggers, von denen wir eingangs sprachen. Sie haben nach
Heidegger „angesichts des Todes" ein „anfängliches Denken" realisiert;
gemordet, geraubt, geschändet haben sie nur in der imwesentlichen „Di­
mension" des Seienden. Und das kann für diese Philosophie keine Be­
deutung haben.
Dieses erste postfaschistische Werk Heideggers kann also sehr leicht
in der reaktionären ideologischen Entwicklung der Zukunft eine ähnlich
prominente Rolle spielen wie „Sein und Zeit" im Präfaschismus.
INHALT

V o r w o r t............................................................................................ 5
Die Krise der bürgerlichen P h ilo s o p h ie ............................ 7
1. Fetischisiertes Denken und W irklichkeit............................ 8
2. Die Hauptepochen des bürgerlichen D enkens......................... 10
3. Altes und Neues in der imperialistischen Philosophie 15
4. Die Pseudo-Objektivität..............................................................17
5. „Der dritte Weg“ und der M y t h o s ......................................... 22
6. Intuition und Irra tio n a lism u s................................................. 24
7. Die Symptome der K rise............................................................. 29
Der Existentialismus............................................................................. 33
1. Die Methode als V erh alten ......................................................... 33
2. Der Mythos des N i c h t s ............................................................. 41
3. Die Freiheit in einer fetischisierten Welt und der Fetisch
der F r e ih e it ................................................................................. 49
Die Robinsonade der D ekadenz......................................................... 58
1. Die historische Situation des E xisten tialism u s..................... 58
2. Die Antinomie von Gesinnungsethik und Folgeethik . . 63
3. Wieder einmal wird Marx g e tö te t............................................. 69
4. „Die Ethik der Zweideutigkeit“ und die Zweideutigkeit der
existentialistischen E t h i k ......................................................... 79
5. Existentialistische Ethik und historische Verantwortung . 99
Die Erkenntnistheorie Lenins und die Probleme der modernen
Philosophie................................................................................... 127
1. Die weltgeschichtliche Aktualität des philosophischen Ma­
terialismus ................................................................................... 128
2. Materialismus und D ia lek tik ................................................... 137
3. Die dialektische Bedeutung des Annäherungscharakters der
Erkenntnis....................................................................................143
4. Totalität und Kausalität............................................................150
5. Das Subjekt der Erkenntnis und die P r a x is ....................... 155
Anhang: Heidegger redivivus...........................................................161

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