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EXISTENTIALISMUS
ODER
MARXISMUS?
A U F B A U -V E R L A G B E R L IN
1951
VORWORT
Dieses Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, die im Winter IQ46I4J
geschrieben wurden; nur die als Anhang veröffentlichte Studie Über Heidegger
ist etwas später entstanden. Diese Daten mußten wir aus zwei Gründen her-
vorheben. Erstens, weil die Entstehung der einzelnen Teile als selbständiger
Essays eine Erklärung für bestimmte unvermeidliche Wiederholungen bietet.
Zweitens—und dies ist die Hauptfrage—,weil der Existentialismus heute etwas
wesentlich anderes vorstellt als damals und deshalb auch unsere Stellung zu ihm
eine wesentlich andere sein muß. Die weltanschaulichen Tendenzen, als deren
Folge der Existentialismus seine heutige Form erlangte, sind in diesen Auf
sätzen bereits ausführlich auf ihre gefährlichen reaktionären Möglichkeiten
hin analysiert. Nur daß es sich damals noch um Möglichkeiten handelte,
noch um die beginnende Krise einer Ideologie des „dritten Weges“, noch
um den Scheideweg der Existentialisten zwischen Fortschritt und Reaktion.
(Auch unsere damaligen Betrachtungen haben betont, daß die Wahl des
Fortschritts einen Bruch mit Methodologie und Weltanschauung des Exi
stentialismus bedeuten müßte.) Heute hat sich der Existentialismus ent
schieden: er ist eine der wichtigen Ideologien der Konterrevolution ge
worden: die Verleumdung der Sowjetunion, die Verherrlichung der Tito-
banditen usw. sind heute entscheidende Momente seiner Publizistik. Freilich,
auch heute noch unter der Maske einer „erhabenen Überparteilichkeit“,
eines „ehrlichen“ Suchens nach einem „dritten Weg“ zwischen USA und
Sowjetunion. Heute handelt es sich aber um reine Heuchelei und Demagogie.
Sartre und seine Schule sind zu literarischen Agenten des Imperialismus
geworden. Der Existentialismus hat aber nicht nur politisch seine damals
verborgene wahre Physiognomie gezeigt. Er hat auch philosophisch nicht
jene Bedeutung erlangt, die man vor fünf Jahren erwarten konnte: er ist
nicht zu einer allgemein führenden Ideologie — auch nicht im konterrevo
lutionären Sinn - geworden. Die große Mode des Existentialismus ist vor
bei; daß er noch immer eine nicht unwichtige Rolle spielt, entspring$ allein der
beispiellosen Unfruchtbarkeit des heutigen bürgerlichen Denkens; er nimmt nur
darum noch immer einen gewichtigen Platz ein, weil nach ihm nichts oder
so gut wie nichts entstand. Sogar die vorfaschistische Periode —wahrhaft
ein erschreckender Tiefpunkt des bürgerlichen Denkens —zeigt ein weniger
gesunkenes Niveau im Vergleich zu den philosophischen Manifestationen
der „amerikanischen Lebensform“.
Vorwort
Die Tatsache der Krise haben nicht nur wir Marxisten festgestellt.
„Die Krise'* ist schon seit langem ein gewohnter Begriff in der bürger
lichen Philosophie. Als z. B. Siegfried Marek, der bekannte Neuhegelia
ner, Rickerts Platz in der Entwicklung der Philosophie bestimmen wollte,
bezeichnete er ihn als einen Denker „aus der Zeit vor der Krise". Und in der
Tat : wenn wir die Entwicklung der bürgerlichen Philosophie in den letzten
Jahrzehnten aufmerksam verfolgen, dann sehen wir, daß geradezu alle
paar Jahre die Grundlagen der Philosophie immer wieder von neuem in
Frage gestellt werden. Es ist kein Zufall, daß am Anfang dieser Entwick
lung das Programm Nietzsches: die Umwertung aller Werte, stehL Und
so geht es ohne Unterlaß in der modernen Philosophie weiter; ein Jahr,
in dem nicht auf irgendeinem Gebiet der Philosophie eine Krise ausbricht,
ist ein ereignisloses Jahr.
Aber das ernsteste Symptom der Krise ist die Tatsache, daß am Ende
dieser Entwicklung die sogenannte „Weltanschauung" des Faschismus
steht. Und es kann festgestellt werden, daß der gegen sie entfaltete
Widerstand seitens der bürgerlichen Philosophie gleich Null ist. Ja, die
Beliebtheit eines beträchtlichen Teiles jener philosophischen Richtungen,
die der Faschismus vollkommen, von ihm unabtrennbar, in sich auf
genommen hatte (denken wir nur an die Nietzsches), blieb nach wie vor
in weiten Kreisen der bürgerlichen Nazigegner unberührt bestehen.
Die Tatsache der Krise kann also kaum bestritten werden. Kompli
zierter ist ihre Kennzeichnung und ihre Kritik von der historischen und
von der im engeren Sinne philosophischen Seite her. Hier taucht sofort die
Frage auf: was ist das spezifisch Neue in der Philosophie der imperia
listischen Periode, ist sie tatsächlich radikal neu, und wenn ja, inwiefern?
In solchen Fragen ist Vorsicht geboten. Bei der Programmdebatte der
Kommunistischen Partei Rußlands verwahrte sich Lenin gegen die von
einigen vertretene Auffassung, bei der Analyse der wirtschaftlichen
Struktur und der Gesetzmäßigkeiten des Imperialismus könne von dei all
gemeinen Entwicklung des Kapitalismus abstrahiert werden. Ich glaube,
daß diese methodologische Feststellung auch für das ideologische, das
8 Die Krise der bürgerlichen Philosophie
viduelie ist, sondern da ihre ernste Grundlage gerade auf der Verbunden
heit der Denker mit der Klasse beruht, die sie vertreten: sind sie im
Namen dieser welthistorischen Berufung erfüllt von dem Pathos der Be
rechtigung, die Abweichungen vom welthistorisch notwendigen Weg aufs
schärfste zu kritisieren.
Die Revolution von 1830 und noch mehr die von 1848 zeigen, daß die
bürgerliche Klasse aufgehört hat, die führende Klasse des Fortschritts zu
sein. Damit setzt 1830 der Zersetzungsprozeß der klassischen bürgerlichen
Philosophie ein, der mit der 48er Revolution vollkommen beendet ist.
Damit tritt die Philosophie in eine neue Entwicklungsphase, die etwa bis
zum Anfang der imperialistischen Periode reicht. Der Angriff der bürger
lichen Klasse gegen die feudalen Überreste hat sein Ende erreicht ; gegen
das aufstrebende Proletariat werden Verteidigungsstellungen bezogen.
Der andere große Prozeß der bürgerlich-revolutionären Periode, die Her
ausbildung der Nationalstaaten, ist ebenfalls abgeschlossen, und zwar
mit der Schaffung der deutschen und italienischen nationalen Einheit
in reaktionärer Form. Diese Zeit ist die Periode der drückenden Klassen
kompromisse, die Periode Napoleons III. und Bismarcks. Die alte bürger
liche Demokratie ist seit 1848 in ständigem Rückgang, ja in Auflösung be
griffen.'Liberalismus und Demokratie scheiden sich scharf voneinander,
stellen sich feindlich einander gegenüber; der Liberalismus wird zum
konservativen „Nationalliberalismus“ . Der wirtschaftliche Hintergrund
dieses Zersetzungsprozesses der Demokratie ist der stürmische Vorstoß
der kapitalistischen Produktion in West- und Mitteleuropa. Es scheint,
als würde sich der Kapitalismus grenzenlos und nunmehr unproblema
tisch aufwärtsbewegen. (Diese Feststellungen beziehen sich nicht auf
Rußland. In der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung und
infolgedessen auch im ideologischen Kampf Rußlands entspricht im
großen und ganzen das Jahr 1905 dem Jahr 1848 in West- und
Mitteleuropa. Darum konnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun
derts in Rußland noch solche Denker leben wie Tschemyschewskij und
Dobroljubow.)
Die Philosophie dieser Periode ist die gedankliche Widerspiegelung des
Klassenkompromisses. Die Philosophie weicht vor der Beantwortung der
letzten weltanschaulichen Fragen zurück. Der gedankliche, erkenntnis
theoretische Ausdruck dieser Tendenz ist der Agnostizismus: von dem
wirklichen Wesen der Welt, der Wirklichkeit, können wir nichts wissen,
und es ist auch gar nicht wichtig, darüber etwas zu wissen. Wichtig sind
jene einzelnen Kenntnisse, die die voneinander isolierten Spezialwissen
schaften ausarbeiten und anhäufen, und die dazu dienen, um für die vom
täglichen praktischen Leben aufgeworfenen Fragen die unumgänglich
Die Hauptepochen des bürgerlichen Denkens 13
problème dieser Schicht, die die Form und den Inhalt der Philosophie
bestimmen. In dieser Periode hat sich jedoch nicht nur der Geist der
Philosophie grundlegend geändert, sondern auch —und das bestimmt
gerade die Veränderung ihres Geistes - die gesellschaftliche Funktion der
die Philosophie unmittelbar produzierenden Intelligenz ist nicht dieselbe
geblieben. Früher sprach sie im Namen der großen welthistorischen Per
spektiven des fortschrittlichen, des aufsteigenden Bürgertums. Diese Per
spektiven wurden in dem Klassenkompromiß nach 1848, in den gegen das
Proletariat geführten Verteidigungsgefechten vernichtet. Die philosophi
schen Ansprüche der bürgerlichen Klasse verengten sich, wurden negativ,
zu rein grenzbestimmenden Prinzipien. Innerhalb dieser Grenzen war es
der Intelligenz und den ihr angehörenden Individuen möglich, sich schein
bar verhältnismäßig frei, ungebunden zu bewegen. Die Philosophie wurde
in steigendem Maße zur internen Angelegenheit der Intelligenz. Wel
che Lehren die einzelnen Professoren verkünden, ist der Bourgeoisie
vollkommen gleichgültig, vorausgesetzt, daß sie die der Philosophie
gezogenen Grenzen in Ehren halten. Immer mehr versinken die
Katheder der Philosophie im luftleeren Raum der gesellschaftlichen
Gleichgültigkeit.
Wie verhält sich nun die Philosophie der imperialistischen Epoche zu
ihren Vorgängern? Scheinbar tritt ein Aufschwung ein. Die Philosophie
wird wieder „interessant“, freilich nur für breitere Kreise der Intelligenz.
Der bürgerlichen Klasse selbst bleibt sie auch weiter im höchsten Maße
gleichgültig. Äußerlich tritt die neue Philosophie häufig als Gegner der
Kathederphilosophie auf, die auch jetzt noch weiterlebt, und zwar weit
gehend im alten Geiste. Zahlreiche führende Philosophen dieser Zeit
stehen außerhalb der Universitäten (Nietzsche, Spengler, Keyserling,
Klages). Simmel und Scheler sind auch lange Zeit Outsider. Allmählich
breitet sich die neue Richtung auch auf einen Teil der Universitäten aus,
und auch dort wird die „Interessantheit“ zum Prinzip der Auswahl
(Croce, Bergson, Huizinga usw.). Ist hier eine radikale Veränderung ein
getreten? Wir glauben : nein. Dem Wesen der Sache nach ist sogar eine
noch größere Verschiebung in der nach 1848 entstandenen Richtung vor
sich gegangen : die Intelligenz schafft eine Philosophie für die Intelligenz.
Freilich besteht auch hier, wie wir später bei der eingehenden Analyse
sehen werden, eine strenge bürgerliche Klassendeterminiertheit, aber sie
tritt jetzt nicht als unmittelbar bestimmender Faktor der Formen und
Inhalte, sondern als Bildner eines den Interessen der Klasse entsprechen
den und infolge dieser Interessen beschränkten Bewegungsspielraums auf,
in dem die Intelligenz scheinbar frei produzieren kann. Diese Klassen
bestimmtheit nimmt im Faschismus eine konkrete Form an. Der Faschis-
Altes und Neues in der imperialistischen Philosophie 15
3
ALTES UND NEUES IN D E R IMPERIALISTISCHEN PHILOSOPHIE
4
DIE PSEUDO-OBJEKTIVITÄT
dieser Hinsicht ist die Bedeutung Nietzsches entscheidend für die ganze
imperialistische Entwicklung. Man könnte sagen, Nietzsche habe für die
ganze imperialistische Periode das Modell der Mythenbildung geschaffen.
Hier können wir den Leser nur auf einige Leitmotive aufmerksam machen.
Vor allem ist die Rolle des „Leibes“, der „Leiblichkeit“ hervorzuheben.
Nietzsche bricht mit der abstrakten „Geistigkeit“ der Kathederphilo
sophie und mit ihrer philiströsen Moral. Er schafft eine Erkenntnistheorie
und eine Moral, die die Rechte des körperlichen Lebens in Schutz nimmt
und der Philosophie des Materialismus doch keine Konzession macht.
Die Form der Philosophie eines derartigen immateriellen Körpers kann
selbstverständlich nur mythisch sein.
Das ist aber nur ein Teil des Nietzsch eschen Biologismus und der aus ihm
(angeblich) hervorgehenden Psychologie, die bei Nietzsche an die Stelle
der Gesellschaftswissenschaft tritt. Diese Fundierung wird ergänzt und
gekrönt durch die mythische Perspektive der Menschheitsentwicklung,
des Weltenlaufs, durch die Bejahung des Imperialismus, die Schaffung
einer neuen Aristokratie, die Widerlegung des Sozialismus auf der Grund
lage des biologischen Mythos. (Damit sind die philosophischen Grund
steine für die Rassentheorie gelegt.)
Hier ist nicht der Ort für die Analyse anderer Mythen (Bergson, Speng
ler, Klages usw.), wir wollen nur einige prinzipielle Bemerkungen hinzu
fügen. Die so entstehenden Mythen dürfen nicht mit den - oberflächlich
betrachtet —ebenfalls mythenhaft wirkenden Elementen einzelner alter
Philosophien verwechselt werden. Jeder Idealismus, der sich nicht mit
äußerster Strenge agnostizistisch verhält, wird in den Mythos verfallen,
sobald er wirkliche Erscheinungen zu erklären versucht, denn er ist ge
zwungen, gedanklichen Konstruktionen eine wirkliche Rolle in der Wirk
lichkeit zuzuschreiben.
Je mehr sich die Philosophie dem objektiven Idealismus nähert, um so
stärker tritt die in den Mythos übergehende Konstruktion hervor. In
Fichtes „absolutem Ich“ äußert sie sich stärker als im Kantschen „Be
wußtsein überhaupt“ und im Hegelschen „Weltgeist“ noch stärker als
bei Fichte. Doch diese für Wirklichkeit genommenen gedanklichen Kon
struktionen enthalten noch Elemente der ernsten Wirklichkeitsforschung.
Überall kann man hier noch jene Wirklichkeitselemente erkennen, für die
diese Konstruktionen ihre erste Aufdeckung und zugleich ihre gedank
liche Verzerrung sind. Diese als Mythen wirkenden Gedankenkonstruk
tionen bilden einen philosophischen Nebel, der dem Sonnenaufgang der
wirklichen Erkenntnis vorangeht.
Eine völlig entgegengesetzte Lage ergibt sich in der Philosophie der
imperialistischen Periode. Die gedankliche Konstruktion, der Mythos,
24 Die Krise der bürgerlichen Philosophie
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6
INTUITION UND IRRATIONALISMUS
Die neue Objektivität setzt ein neues Organ der Erkenntnis voraus.
Es ist eine zentrale Frage der imperialistischen Philosophie, daß dieses
neue Verhalten der Erkenntnis, dieses neue Erkenntnisorgan : die Intui
tion, dem begrifflichen, rationalen Denken entgegen gestellt wird. In der
Wirklichkeit sieht die Sache so aus, daß die Intuition ein psychologisches
Element einer jeden wissenschaftlichen Arbeitsmethode bildet. Und
psychologisch entsteht in bezug auf die Intuition der unmittelbare
Schein, als wäre sie konkreter, synthetischer als das abstrakte, mit Be
griffen arbeitende diskursive Denken. Dies ist freilich nur ein Schein,
denn die Intuition bedeutet psychologisch nichts anderes als das plötz
liche Bewußtwerden eines unbewußt sich fortsetzenden Gedankenpro
zesses. Und für das gewissenhafte wissenschaftliche Denken ist es eine
ernste Aufgabe, diese „intuitiv” errungenen Resultate erstens daraufhin
zu kontrollieren, ob sie wissenschaftlich standhalten, und zweitens, sie
in das System der rationalen Begriffe organisch derart einzufügen, daß
nachträglich überhaupt nicht zu unterscheiden ist, was von dem mensch
lichen Folgerungsvermögen (bewußt), was mit Hilfe der Intuition (unter
Intuition und Irrationalismus 25
der Schwelle des Bewußtseins und erst später bewußt geworden) auf
gedeckt wurde. Die Intuition ist also hier einerseits die Ergänzung des
begrifflichen Denkens und nicht sein Gegensatz, andererseits wird das in
tuitive A uf finden eines Zusammenhanges nie zum Kriterium der Wahr
heit. Bei einer oberflächlichen psychologischen Beobachtung des wissen
schaftlichen Arbeitsprozesses entsteht die Illusion, als wäre die Intuition
ein von dem abstrakten Denken unabhängiges Organ zur Erfassung
höherer oder auch tieferer Zusammenhänge.
Diese Illusion, die Verwechslung der subjektiven Arbeitsmethode mit
der objektiven Methodik, die der allgemeine Subjektivismus der imperia
listischen Philosophie unterstützt, wird zur Grundlage der modernen In
tuitions-Theorie. Diese Illusion wird durch die Beziehung des hier ent
stehenden Prozesses zur dialektischen Erkenntnis noch erhöht. Aus einer
subjektivistischen Perspektive scheint es naheliegend anzunehmen, der
dialektische Widerspruch komme auf begrifflichem Wege zustande, wäh
rend seine synthetische Lösung, seine Auflösung in eine höhere Einheit,
der Intuition zu verdanken ist. Das ist natürlich eine Illusion, denn die
wirkliche Dialektik drückt jede Synthese wieder auf begrifflichem Wege
aus, und keine Synthese wird von ihr als endgültige Gegebenheit an
erkannt. Das echte wissenschaftliche dialektische Denken enthält immer,
gerade weil es die richtige Spiegelung der Gegenstände der wirklichen
Welt ist, die begriffliche Verbindung, die begriffliche Analyse von Ge
danken. Deshalb ist die Intuition kein Organ der Erkenntnis, kein Ele
ment der wissenschaftlichen Methode. All dies hat Hegel gegen Schelling
in der Einleitung zur „Phänomenologie“ klar ausgeführt.
In der Philosophie der imperialistischen Periode hingegen erhält die
Intuition in der objektiven Methodik eine zentrale Stelle. Dieses Bedürf
nis taucht vor allem deshalb auf, weil sich die Denker von dem erkennt
nistheoretischen Formalismus der vorhergehenden Periode abwenden.
Sie müssen sich von ihm abwenden, denn das Suchen nach einer „Welt
anschauung'‘ bedeutet schon an sich eine inhaltliche Fragestellung. Die
Erkenntnislehre des subjektiven Idealismus ist jedoch notwendigerweise
eine rein formale Analyse der Begriffe, nicht ihre dialektische, gedank
liche Formulierung. Wenn das Denken über diese Grenzen hinausstrebt,
wenn es reale Inhalte philosophisch erkennen will, dann muß es sich
einerseits auf die Widerspiegelungstheorie des Materialismus stützen,
andererseits auf den dialektischen begrifflichen Weltzusammenhang, und
zwar auf einen Weltzusammenhang, der nicht nur als statischer Zu
sammenhang von Objektivitäten und Strukturen zu fassen ist, sondern
als der dynamische Zusammenhang der Entwicklung (der Aufwärts
bewegung) und damit der vernünftigen Geschichte. Für die moderne
2 Ô Die Krise der bürgerlichen Philosophie
Philosophie ist jedoch die Intuition ein Behelf, um sich vom Formalismus
der Erkenntnistheorie und mit ihm vom subjektiven Idealismus und
Agnostizismus (scheinbar) abzuwenden, ohne ihre Grundlagen im minde
sten zu erschüttern.
Diese Philosophie wird also stets mit dem Anspruch auftreten, daß
jene Inhalte, denen sie zustrebt, jene weltanschauliche Wirklichkeit, die
sie zu erreichen sucht, nicht als die begrifflich erfaßbare, sondern als eine
qualitativ andere, höhere Wirklichkeit zu werten seien. Und in diesem
Zusammenhang erweckt die einfache Tatsache der Intuition den Schein,
als wäre sie das Zeichen einer Erleuchtung zur Erfassung dieser höheren
Welt. Hier wird es für die neue Philosophie zur Lebensfrage, die von der
Seite der begrifflichen Analyse ausgehende Kritik zurückzu weisen. Dieser
Selbstschutz der Intuition entstand bereits auf der Linie der aristokrati
schen Erkenntnistheorie in alten ähnlichen Philosophien (ja sogar in
einem Teil des alten religiösen Mystizismus). Sie stellt sich auf den Stand
punkt, daß nicht jedem das intuitive Erfassen der höheren Wirklichkeit
gegeben sei. Wer also für die intuitive Anschauung begriffliche Kriterien
sucht, der beweist nur, daß ihm für die intuitive Erfassung der höheren
Wirklichkeit jede Fähigkeit versagt ist. Seine Kritik ist also lediglich
eine Entlarvung seiner eigenen Minderwertigkeit, genau so wie auch
jener Mensch im Andersen-Märchen nicht rein war, der auf dem nackten
Kaiser die schönen neuen Kleider nicht sah. Eine derartige „Erkenntnis
theorie“ der Intuition ist auch schon deshalb notwendig, weil der Natur
der Sache nach jede so erfaßte „Wirklichkeit“ willkürlich, unkontrollier
bar ist. Die Intuition ist als Organ der höheren Erkenntnis zugleich eine
Rechtfertigung dieser Willkürlichkeit.
Damit sind wir dem Kern der Weltanschauung der imperialistischen
Periode nähergerückt. Wir erinnern nochmals daran, daß für die klas
sische Philosophie die Weltanschauung eine Frage der wissenschaftlichen
Erkenntnis war, ein Weltbild der Wissenschaft; die Übergangsperiode
leugnete die wissenschaftliche Weltanschauung, sie sah unübersteigbare
Schranken dort, wo die spezialwissenschaftlichen Kenntnisse der Er
fassung von Phänomenen endeten. Dieses Auftürmen von erkenntnis
theoretischen Barrieren setzt auch die imperialistische Philosophie fort,
aber sie ergänzt das dadurch, daß sie mit Hilfe des neuen Organs der Er
kenntnis, mit Hilfe der Intuition, eine überwissenschaftliche, eine wissen
schaftsfeindliche Weltanschauung schafft.
Die Grundlinie dieser neuen Weltanschauung ist das Brechen der Herr
schaft der Vernunft, die Entthronung der Vernunft. Die Romantik,
Schopenhauer und Kierkegaard sind die Vorläufer dieser Richtung, Dil-
they bezeichnet den Übergang in die neue Periode; Nietzsche, Bergson,
Intuition und Irrationalismus 27
r.V .
7
DIE SYMPTOME DER KRISE
Werfen wir nun einen Blick auf die Methodologie des Irrationalismus.
Schon Hegel hat gezeigt: wenn im formalen Denken die notwendigen
Widersprüche des Verstandes zum Vorschein kommen (einerlei, ob auf
logischem Wege oder im Zusammenstoß mit der Wirklichkeit), dann ist
der Schein der Irrationalität die unmittelbare Erscheinungsform des
Problems. Es ist Aufgabe der Dialektik, hier die höhere Einheit der
Widersprüche aufzuzeigen; und wenn ihr dies gelingt, dann kommt es
zutage, daß gerade in den Widersprüchen des Verstandes, in ihrem an
Schranken-Stoßen, im Schein der Irrationalität die Hinweise auf eine
höhere Vernünftigkeit liegen, daß in ihnen der Anstoß zum Erreichen
einer höheren Stufe, einer höheren Form der Vernunft liegt. Aus der
Philosophie des Imperialismus ist aber, wie wir gesehen haben, schon von
vornherein die dialektische Methode verbannt. Dieses Denken bleibt bei
der sich in den Widersprüchen des Verstandes offenbarenden Irrationali
tät stehen, es verzerrt die aufgeworfene Frage zur Antwort und kon
struiert in seinem Mythos zwei Welten aus den Widersprüchen, die in der
Übergangsform des Problems enthalten sind: die ohnmächtige und un
menschliche Vernunft und die unerkennbare, nur durch die Intuition er
faßbare höhere irrationelle „Wirklichkeit“ des „Lebens“.
Einem ähnlichen Problem begegnen wir in der durch die kapitalistische
Arbeitsteilung hervorgebrachten Wissenschaftslehre in bezug auf das Ver
hältnis der einzelnen Fachwissenschaften. Sie stehen hier streng und starr
30 Die Krise der bürgerlichen Philosophie
voneinander abgesondert vor uns. Für jede von ihnen schafft der Ver
stand auf der Grundlage seiner undialektischen Kategorien eine besondere
formale Methode. Deshalb werden Zusammenhänge - welche in einer be
stimmten Fachwissenschaft verstandesgemäß behandelt werden können—,
sobald sie in einer anderen auftreten, als irrationelle Inhalte, als auf den
Irrationalismus hinweisende, letzte, unumstößliche Gegebenheit hin
gestellt. Um ein charakteristisches Beispiel zu nennen, weise ich auf die
Rechtsphilosophie des berühmten Neukantianers Kelsen hin. Bei seinem
Ringen mit dem Problem der Gesetzgebung, d. h. der Entstehung des
Rechtsinhalts, ein Problem, das die zeitgenössische Soziologie - schlecht
und recht - als eigenes Fachproblem behandelte, kommt er zu der Folge
rung, daß die Entstehung des Rechtsinhaltes für die Rechtswissenschaft
das „große Mysterium" sei. Andererseits wird die formale Gültigkeit des
Rechts zu einem ebensolchen Mysterium für die bürgerliche Ökonomie usw.
Sobald das gesellschaftliche Bedürfnis nach einem einheitlichen Welt
bild, einer Weltordnung auftritt, entsteht zur Überwindung derartiger
wissenschaftstheoretischen Schwierigkeiten die „Geisteswissenschaft"
und die „Geistesgeschichte". Im Gegensatz zu der vorangegangenen
Periode und ihren Epigonen wird ein Zusammenhang, eine Totalität ge
sucht, allerdings, wie aus dem Vorstehenden klar hervorgeht : auf falscher
Grundlage. Denn die gemeinsame Basis der Einzelwissenschaften kann
nur dort gefunden werden, wo sie nicht gesucht wird : in der einheitlichen,
ökonomisch bestimmten, historisch-gesellschaftlichen Entwicklung. Es
ist klar, daß dieser Weg für das bürgerliche Denken ungangbar ist, denn
er würde für jede einzelne Wissenschaft eine Umarbeitung auf der Grund
lage der materialistisch-dialektischen Methode erfordern. An jene grund
legenden Widersprüche, mit denen die auf der Basis der kapitalistischen
Arbeitsteilung entstandenen Fachwissenschaften infolge ihrer nicht
dialektischen Methode Zusammenstößen, konnte und wollte die neue
Zeitperiode nicht rühren, denn sie hat, wie wir gesehen haben, die Er
kenntnistheorie des subjektiven Idealismus, die die philosophische Grund
lage ihrer Methoden bildet, voll und ganz übernommen.
Die geisteswissenschaftliche Synthese kann daher nur etwas Neues
bieten, wenn sie die irrationellen Bindungen zum Mythos erhebt. Seit
Diltheys „genialer Anschauung" wird überall die Intuition zur herrschen
den Methode der geisteswissenschaftlichen Synthese. Das Resultat be
steht darin, daß auf intuitivem Wege neue fetischistische Symbole ent
stehen, die eine neuerliche Fetischisierung, eine neue Mythisierung zu
(allerdings rein „individuellen'', irrationellen) Gestalten der Wirklichkeit
auf bläht. Freilich kann auch die Geistesgeschichte einzehie konkrete
historische Resultate erzielen, aber immer nur dann, wenn sie von der
Die Symptome der Krise 31
Richtung ihrer eigenen Methode ab weicht, wenn sie sich einer realen Ge
sellschaft sauffassung zuwendet. (Einzelne derartige Analysen finden wir
bereits bei Dilthey.)
Das Resultat ist eine farbige, stellenweise geistreiche Scheinlösung aller
philosophischen Probleme. Die „geniale“ Willkür der Intuition wird zur
allgemeinen Methode der Philosophie. Nietzsche sprach über diese Will
kür noch ganz offen, später war man bemüht, sie immer mehr zu mas
kieren, sie in Hüllen der Objektivität zu kleiden; am raffiniertesten ge
schieht das dort, wo die rein gedankliche Phänomenologie zur Unter
suchung der Wirklichkeit, zur Wirklichkeitswissenschaft, zur Ontologie
(Existentialismus) wird. Daß es sich hier um eine Scheinlösung handelt,
wird daraus ersichtlich, daß trotz der neuen Methoden, trotz der im
Glanz der Phantasie erstrahlenden oder dunklen, „tiefen“ logischen und
zugleich antilogischen, geschichtsphilosophischen Mythen alle Fragen
der Philosophie ungelöst bleiben, ja, daß die Philosophie im Vergleich zu
jenen Resultaten, die das klassische Zeitalter bereits erreicht hatte, weit
zurückbleibt.
Eine derartige Frage ist vor allem das Verhältnis von Denken und
Wirklichkeit und im engsten Zusammenhang damit das Problem des
inneren Aufbaus der Logik selbst. Der Irrationalismus bedeutet einen
Rückfall; er fixiert den Gegensatz von Wirklichkeit und Verstandes
kategorien, d. h. dem noch nicht dialektischen, der formalen Logik ent
springenden Denken als letzten, unüberbrückbaren Gegensatz. Der Ir
rationalismus bedeutet, wie wir gesehen haben, teils die philosophische
„Rechtfertigung“ der willkürlichen Mythen, teils das erneute Stecken
bleiben der theoretischen Philosophie in der formalen Logik. Gerade der
Anspruch der Intuition auf eine besondere aristokratische Weihe, auf den
Sinn für „das Höhere“, das dem gewöhnlichen Menschen abgeht, sperrt
die theoretische Philosophie in den Kerker der Formallogik, den die
Philosophen der Klassik bereits durchbrochen hatten.
Hierher gehört die Frage von Freiheit und Notwendigkeit. Während
die klassische Philosophie ihr wirkliches Verhältnis weitgehend geklärt,
weil konkretisiert hatte (Hegel), steht jetzt wieder ein abstrakter, abso
luter und in dieser seiner Absolutheit sinnlos gewordener Freiheitsbegriff
einem starren und mechanischen Fatalismus gegenüber. Das sehen wir
am deutlichsten bei Nietzsche, Spengler, neuerdings bei Sartre. Die Kari
katur dieser abstrakten, starren und in ihrer starren Abstraktheit un
sinnig gewordenen Dualität ist die sogenannte „Weltanschauung“ des
Faschismus.
Der Faschismus ist tatsächlich die Karikatur der Krise der modernen
Philosophie. Aber zugleich war diese Karikatur* auch eine lang anhal-
32 Die Krise der bürgerlichen Philosophie
mit denen die Epoche ringt. Es muß uns also hier der Inhalt der Philo
sophie als Lebensinhalt, ihre Methode als das Verhalten zum Leben inter
essieren. Was ist der Ausgangspunkt der neuen Philosophie, wohin geht
sie und was erfaßt sie? Ist ihr Inhalt die Totalität des menschlichen Seins
(wie bei den alten großen Philosophen, freilich innerhalb der Möglich
keiten ihrer Zeit) oder nur ein teilweiser, verzerrter Aufriß der Welt, so
wie er sich einer schmalen Schicht von einem partiellen Blickpunkt aus
darbietet? Diese Frage entscheidet die bleibende Wirkung einer Philo
sophie. Die rein fachliche Kritik, die nicht von hier ausgeht und nicht
von hier aus die Resultate mißt, entartet zur Haarspalterei. (Siehe die
Kritik der angeblichen logischen Fehler der Hegelschen Dialektik.)
Noch nie kam eine epochemachende Philosophie ohne eine wirklich
originelle Methode zustande. Dies bestätigt sich bei allen großen Philo
sophen, einerlei ob wir Plato oder Aristoteles, Descartes oder Spinoza,
Kant oder Hegel nehmen. Wie steht es nun um die Originalität der Me
thode des Existentialismus? Hier handelt es sich keineswegs um philo
sophische Quellenforschung. Daß der Existentialismus eine Abzweigung
der Husserlschen Phänomenologie ist, würde die Frage nicht entscheiden.
(Wieviel hat Spinoza von Descartes übernommen, und doch blieb er ori
ginell!) Obwohl Husserl noch nicht Existentialist war, können wir die
phänomenologische Methode ruhig als eine Errungenschaft des Existen
tialismus ansehen.
Aber was brachte diese Methode Neues? Auch diese Frage bezieht sich
nicht auf die inneren Angelegenheiten der Fachphilosophie, sondern dar
auf, in welcher Beziehung die Philosophie —als das abstrakteste mensch
liche Verhalten - zu ihrer Zeit, zur Menschheit, zu den großen Problemen
der Welt steht. Betrachten wir die Frage von hier aus, so kommen wir
zu dem Ergebnis, daß die moderne Phänomenologie eine der zahlreichen
philosophischen Methoden ist, welche sich einerseits durch die Ent
deckung eines philosophischen „dritten Weges“ sowohl über den Idealis
mus als auch über den Materialismus erheben möchten, andererseits -
und im engsten Zusammenhang damit - die Intuition zur echten, wesent
lichen Quelle der Erkenntnis machen will. Von Nietzsche über Mach-
Avenarius bis zu Bergson und darüber hinaus bewegt sich die große
Masse der bürgerlichen Philosophie auf diesem Weg. Die Husserlsche
„Wesensschau“ ist nur ein Abschnitt dieser Entwicklung.
Dies wäre an sich noch kein entscheidendes Argument gegen die phäno
menologische Methode. Um hier zu einem richtigen Urteil zu kommen,
müssen wir zunächst die philosophische und zeitgeschichtliche Bedeutung
des „dritten Weges“ und auch den Platz und die Rolle der Intuition im
Prozeß der Erkenntnis klären.
Die Methode als Verhalten 35
■X*· Λ
Ist neben dem Idealismus und dem Materialismus nocli Platz für einen
„dritten Weg“ ? Wenn wir diese Frage nicht nach modernen Phrasen be
urteilen, sondern sie ernst, ihrem Wesen nach stellen, so wie es die alten
großen Philosophen taten, dann kann es nur eine Antwort geben : Nein.
Denn es ist Idar, wenn wir die Beziehung von Sein und Bewußtsein auf
das Wesen konzentriert betrachten, dann sind nur zwei Positionen mög
lich: entweder ist das Sein primär gegenüber dem Bewußtsein und be
stimmt es (Materialismus), oder es ist das Bewußtsein primär dem Sein
gegenüber (Idealismus). Oder gleichbedeutend hiermit: das Grund
prinzip des Materialismus ist die Unabhängigkeit des Seins vom Bewußt
sein, das des Idealismus seine Abhängigkeit von ihm. Die heutigen Mode
philosophen setzen zur Fundierung des „dritten Weges“ eine Korrelation
zwischen Sein und Bewußtsein fest : es gibt kein Sein ohne Bewußtsein
und kein Bewußtsein ohne Sein. Aber mit der ersten Behauptung produ
ziert man nur eine Abart des Idealismus, die Anerkennung der Abhängig
keit des Seins vom Bewußtsein.
Den philosophischen „dritten Weg“ hat die unerbittliche Wirklichkeit
der imperialistischen Periode dem bürgerlichen Denken aufgezwungen. Nur
in ganz ruhigen, windstillen Zeiten kann man einen konsequenten Idea
lismus glaubhaft machen. Goethes witzige Bemerkung über den Fichte-
schen subjektiven Idealismus ist bekannt. Als bei Gelegenheit irgendeines
Universitätskonfliktes die Studenten die Fenster im Hause des großen
Philosophen einschlugen, sagte Goethe lächelnd: „Dies ist eine überaus
unangenehme Art, von der Realität der Außenwelt Kenntnis zu nehmen.“
Dieses Fenstereinschlagen lieferte die imperialistische Epoche massenhaft
im Weltmaßstabe. Und der aufrichtige philosophische Idealismus ver
schied sanft unter diesem Steinregen. Wer sich dennoch - abgesehen von
einigen imwesentlichen Kathederbesitzem - als Idealist bekannte, war
von hoffnungsloser Resignation in bezug auf die Gültigkeit des Idealis
mus für die Wirklichkeit erfüllt (Valéry, Benda usw.).
Die Abkehr von dem alten aufrichtigen Idealismus wurde bereits in
der Mitte des vorigen Jahrhunderts durch den kleinbürgerlichen Asketis
mus der idealistischen Philosophen vorbereitet. Seit Nietzsche spielt der
Leib eine führende Rolle in der bürgerlichen Philosophie. Die neue Philo
sophie braucht solche Formulierungen, welche die primäre Wirklichkeit
des Leibes, der Freuden und Gefahren des körperlichen Lebens recht-
fertigen, ohne dem Materialismus Konzessionen zu machen. Denn
zur selben Zeit wurde der Materialismus zur Weltanschauung des revo
lutionären Proletariats. Damit war die Stellungnahme Gassendis und
Hobbes' für die bürgerlichen Denker unmöglich geworden. Die Epoche
hatte die Methode des Idealismus kompromittiert, man hielt es aber
36 Der Existentialismus
und der Teufel steht leibhaftig vor uns/' Scheler lachte, zuckte mit den
Achseln und antwortete nichts.)
Die Willkür der Methode offenbart sich vor allem, wenn die Frage ge
stellt wird: ist das, was die phänomenologische Intuition auffindet, ta t
sächlich Wirklichkeit, und mit welchem Recht spricht sie über den Wirk
lichkeitscharakter ihres Gegenstandes? Es ist interessant, daß sich nie
mand darüber Gedanken machte, weshalb die größten Vertreter der im
perialistischen Intuitions-Philosophie auf die konträrsten „Wirklich
keiten" verschiedenster Struktur und Art stoßen konnten; so ist für
Diltheys Intuition die Farbigkeit, die Buntheit des einmaligen histo
rischen Prozesses die Wirklichkeit, für die Bergsons das Fließen selbst,
die Dauer (durée), die die erstarrten Formen des gewöhnlichen Lebens
löst, für die Husserls ist das logische Gesetztsein des Dinges an sich, das
raumartige, geradezu statuenhafte, starre Nebeneinander die Wirklich
keit. Sie gaben sich alle damit zufrieden, daß zumindest innerhalb einer
Schule in bezug auf den Charakter dieser „Wirklichkeit" eine relative
Übereinstimmung herrschte. Die einander ausschließenden Intuitionen
konnten sogar relativ friedlich nebeneinander hausen.
Diese eigentümliche Lage hat außer dem gesellschaftlichen Bedürfnis
des „dritten Weges" noch konkretere Gründe. Eine allgemeine Tendenz
der imperialistischen Periode ist das Überspringen der gesellschaftlichen
Verhältnisse ; sie werden als sekundäre, das Wesen des Menschen über
haupt nicht oder höchstens oberflächlich berührende Gegebenheiten be
trachtet. Die Intuition der Wesensschau, die die unmittelbare Gegeben
heit des Erlebnisses zum Ausgangspunkt nimmt, die von diesem, unbe
dingt als primär betrachteten Ausgangspunkt, ohne dessen Charakter
und Vorbedingungen auch nur zu untersuchen, zu ihrer letzten, abstrak
ten wirklichkeitsfremden „Schau" gelangt, konnte unter den gegebenen
Zeitverhältnissen sehr leicht bei Aufrechterhaltung des Scheins vollkom
mener Objektivität und Wissenschaftlichkeit von allen gesellschaftlichen
Gegebenheiten absehen. So entstand der dem Verhalten der bürgerlichen
Intelligenz glänzend entsprechende logische Mythos, eine für objektiv er
klärte Welt, deren vom Bewußtsein unabhängige Existenz der Denker
anerkennt, die das Bewußtsein nur aufnimmt (und nicht „schafft",
wie dies der Idealismus alten Typs beanspruchte), deren Struktur und
Beschaffenheit aber dennoch vom individuellen Bewußtsein bestimmt
wird.
Es ist unmöglich, hier eine ausführliche Kritik der phänomenologischen
Methode zu geben. Deshalb wollen wir nur ein Beispiel ihrer Anwendung
flüchtig analysieren. Unsere Wahl fiel auf das Buch des bekannten Hus-
serl-Heidegger-Schülers Szilasi („Wissenschaft als Philosophie", Europa-
38 Der Existentialismus
Verlag, Züricli-New York, S. 15/16), teils weil Szilasi ein ernster, auf
wissenschaftliche Objektivität gerichteter Forscher ist, kein zynischer
Mythenproduzent wie Scheler, teils weil die elementare Form des Bei
spiels für eine kurze Behandlung besonders geeignet ist.
Szilasi untersucht vor einem seiner Vorträge sein und der Hörer Mit
einandersein. In der Wesensschau liegt der Saal vor ihm, die Bänke, also
die Außenwelt, welche das phänomenologische System angeblich objektiv
erfaßt: „Dieser Raum mit seinen verschieden bearbeiteten Brettern ist
nur dadurch ein Hörsaal, weil wir diese Anhäufung von Holz so ver
stehen, und wir verstehen sie so, weil sie im vorhinein in einem engen
Zusammenhänge mit der gemeinsamen Aufgabe steht.** Daraus folgt die
Feststellung: „Die aktuelle Situation des Miteinanderseins bestimmt je
weils a priori das Was-Sein des Seienden/*
Betrachten wir nun ein wenig die Resultate dieser Wesensschau vom
methodologischen Standpunkt. Vor allem ist es eine primitive Abstrak
tion, daß Szilasi hier „auf verschiedene Weise bearbeitete Bretter** sieht
und nicht Tische, Bänke usw. Aber methodologisch ist dies unumgäng
lich notwendig, denn wenn er darauf einginge, daß der Hörsaal in seiner
ganzen zweckmäßigen Einrichtung nicht weniger zur Abhaltung von
juristischen, philologischen und anderen Vorträgen geeignet wäre, wo
bliebe dann die magische Wirkung des intentionalen Erlebnisses, die
apriorische Schaffung des „Was-Seins**?
Aber gerade methodologisch ist das, was die Analyse nicht enthält,
noch wichtiger. Der Hörsaal befindet sich in Zürich, es sind die 40er Jahre.
Daß Szilasi gerade in Zürich einen Vortrag halten konnte, hat auch ver
schiedenste gesellschaftliche Vorbedingungen. Szilasi hielt z. B. vor der
Machtergreifung Hitlers seine Vorträge in Freiburg, nach 1933 wurden
sie nicht mehr gestattet, ja der Vortragende war gezwungen, Deutsch
land zu verlassen, da seine persönliche Sicherheit in Gefahr war. Warum
fehlt dies alles in der Wesensschau des „Miteinanderseins**, obwohl ihm
das objektiv zumindest in dem Grade angehört, wie die „bearbeiteten
Bretter* *?
Aber kehren wir auch zu diesen zurück. Daß Bretter auf eine gewisse
Art und Weise zur Herstellung von Bänken, Tischen benutzt werden,
setzt eine gewisse Entwicklungsstufe der Industrie, der Gesellschaft vor
aus. Daß diese und der Saal im allgemeinen sich in diesem oder jenem
Zustand befinden (ob es Kohle gibt zu seiner Beheizung, ob die Fenster
scheiben ganz sind), steht wieder mit anderen gesellschaftlichen Ereig
nissen und Strukturen in untrennbarem Zusammenhang usw., usw.
Auch wenn wir auf die philosophische Kritik der phänomenologischen
Methode nicht eingehen, sehen wir, daß selbst ihre ernstesten, Vorurteils-
Die Methode als Verhalten 39
4
2
DER MYTHOS DES NICHTS
berufen.) Das bunte Faschingsfest, freilich nicht selten von einer tra
gischen Begleitmusik gespenstisch gemacht, entfaltete sich unaufhalt
sam. Die Philosophie von Simmel und Bergson, ein großer Teil der Zeit
dichtung zeigen uns genau, worum es geht. Der paradoxe Ausspruch
Oskar Wildes, „den Londoner Nebel haben die Bilder Turners geschaffen“,
spricht vielleicht am deutlichsten.
Daß sich hier trotz des Faschingsrausches das Wesenloswerden des
fetischisierten Ichs offenbart, sah mehr als ein guter Schriftsteller oder
scharfsinniger Denker. Aber sie gingen nicht weiter, als hinter die bunten
Geschehnisse tragische oder tragikomische Perspektiven zu projizieren.
Die fetischisierte Lebensgrundlage schien so unumstößlich selbstver
ständlich, daß sie selbst nie einer Kritik, ja sogar nicht einmal einer
Untersuchung unterworfen wurde. Wenn sich Zweifel regten, dann nur
wie bei jenem Inder, der gegen den allgemeinen Glauben, die Welt werde
von einem Elefanten getragen, die bescheidene Frage stellt, worauf der
Elefant stehe. Die Antwort: „Auf einer Schildkröte“ beruhigte ihn voll
auf. Und die Kraft der das Bewußtsein formenden Fetischisierung war
so groß, daß, als der erste Weltkrieg und die auf ihn folgende Krisenreihe
geradezu alle Möglichkeiten der menschlichen Existenz in Frage stellte,
als dieses Erdbeben alle konkreten Inhalte des Denkens auf den Kopf
stellte und jeder Idee eine neue Färbung gab, als auf den Fasching des
isolierten Individualismus ein Aschermittwoch folgte, die grundlegende
Struktur der philosophischen Fragestellung dennoch fast unberührt be
stehen blieb.
Aber das Ziel und die Richtung des Suchens nach dem Wesen machten
dennoch wichtige Veränderungen durch, und diese Umformung brachte
den im engeren Sinne verstandenen Existentialismus, die Philosophie
Heideggers und Jaspers* hervor. Das grundlegende Erlebnis dieser Philo
sophie ist leicht zu beschreiben. Es handelt sich darum, daß der Mensch
—wie der Existentialismus meint - infolge des Wesens der menschlichen
Existenz selbst, in der Wirklichkeit aber infolge der Spiegelung der im
perialistischen Krise im fetischisierten Bewußtsein der Menschen: dem
Nichts, dem Nichtsein gegen übersteht ; daß die grundlegende menschliche
Beziehung zur Welt die Situation des vis-à-vis de rien ist.
In diesem Erlebnis selbst läge noch wenig Originalität. Seit Poe, der
vielleicht als erster diese Lage und das ihr entsprechende Verhalten be
schrieben hat, stehen das tragische Schicksal, das den Menschen an den
Rand des Abgrundes treibt, ihn von reißenden Strudeln ergreifen läßt,
und die Ausweglosigkeit der Schicksalsgestaltung, deren subjektiver, er-
lebnishafter Reflex die vis-à-vis de rien-Situation ist, in der modernen
Literatur als intime Bekannte vor uns.
44 Der Existentialismus
Bei großen Schriftstellern wird dies als subjektiver Reflex einer objek
tiven Lage gestaltet, d. h. genauer gesagt, als die Beziehung eines durch
die Umstände und die Charakterentwicklung entstandenen Verhaltens zu
einer sehr konkreten, wirklichen, ganz bestimmten Lage. Denken wir an
die Lage Raskolnikows nach dem Mord, an das mit Selbstmord endende
Leben von Swidrigailow oder Stawrogin. Worum handelt es sich hier
überall? Um eine eigentümliche, aus dem heutigen Leben entspringende
Form der tragischen Entwicklung, aus der ein wirklich großer Schrift
steller auf Grund eigentümlicher Charakterbildungen echte tragische
Schicksale formt, die in ihrer Art gerade so plastisch sind, wie es seiner
zeit die Tragödie von Ödipus oder die von Hamlet war.
Solche Situationen (eben als typische Situationen) nimmt auch Hei
degger zum Ausgangspunkt. Die individuelle Note seiner Philosophie liegt
darin, daß er das ganze Problem mit Hilfe der komplizierten Methode der
Phänomenologie in die fetischisierte Struktur der bürgerlichen Seele ein
bettet, in den perspektivelosen Nihilismus und Pessimismus der Intelli
genz aus der Zeitspanne zwischen den beiden Weltkriegen.
Sehen wir uns nun diese Untersuchung an, wo Heidegger dieses Grund
erlebnis der (fetischisierenden) Methode der Phänomenologie und Onto
logie unterwirft, um den Existentialismus als selbständige, neue Philo
sophie zu schaffen. Die erste Fetischisierung ist der Begriff des Nichts.
Sowohl bei Heidegger als auch bei Sartre ist dies die zentrale Frage der
Wirklichkeitsforschung, der Ontologie. Das Nichts ist bei Heidegger eine
mit dem Sein gleichrangige ontologische Gegebenheit; bei Sartre ist es
nur ein Moment des Seins, aber ein Moment, das sich bei jeder Offen
barung des Seins als unumgänglich notwendig, als vom Allerwesentlich
sten des Seins unabtrennbar erweist.
Denken wir an unsere methodologische Analyse zurück. Wenn wir mit
der Methode der Phänomenologie, sagen wir, die Gestalt Stawrogins
und das Verhalten, mit dem er auf die Lage des vis-à-vis de rien re
agiert, die ihm am Schluß entgegenstarrt, untersuchen, wenn wir bei dieser
Untersuchung jede objektive Wirklichkeit „in Klammer setzen“, wie es
die phänomenologische Methode vorschreibt, und ausschließlich Stawro
gins Seelenakte und deren intentionale Gegenstände betrachten, dann
sehen wir, daß der intentionale Gegenstand der Erlebnisse Stawrogins
die ausweglose Leere ist. Wenn wir nun - unter Zuhilfenahme des oben
zitierten Teufelrezeptes von Scheler —die „Klammer öffnen“ , dann steht
das Nichts als neue ontologische zentrale Wirklichkeit leibhaftig vor uns.
Wir sahen, welchen Trick die phänomenologische Methode auch hier be
nutzte : sie sah konsequent ab von jener konkreten objektiven Wirklich
keit, deren seelischer und moralischer Ausdruck die Seelenerlebnisse
Der Mythos des Nichts 45
sten ist - dies klingt nur auf der Oberfläche als Paradoxie —einer
der Hauptgründe für die intensive Wirkung des Existentialismus.
Menschen, die keine Lebensperspektive vor sich sehen, werden die Lehre,
daß es überhaupt keine Lebensperspektive gibt, daß die Perspektive des
Lebens prinzipiell (also nicht nur für sie) unerkennbar ist, als Trost be
grüßen.
Hier mündet der Existentialismus in den modernen Irrationalismus, in
die allgemeine geistige Strömung, die die Herrschaft der Vernunft stürzen
will. Die phänomenologische und ontologische Methode steht scheinbar im
schroffen Gegensatz zu den gemeingültigen irrationellen Strömungen ; wol
len doch die ersteren streng wissenschaftlich sein, und Husserl ist Anhän
ger der fanatischsten Logizisten (Bolzano und Brentano). Aber selbst eine
nur oberflächliche Untersuchung der Methode deckt sofort ihre nahe Ver
bindung mit den Meistern des Irrationalismus, mit Dilthey und Bergson,
auf. Als der Husserl-Schüler Heidegger die Bestrebungen Kierkegaards
erneuerte und gleichzeitig an Dilthey anknüpfte, wurde diese Verbin
dung nur noch enger.
Dieser Zusammenhang ist mehr als eine bloße methodologische Be
gegnung. Je bewußter die Phänomenologie zur Methode des Existentialis
mus wird, um so mehr wird die grundlegende Irrationalität des einzelnen
Menschen und mit ihm des ganzen Seins zum zentralen Gegenstand, und
um so tiefer wird ihre Parallelität zu den übrigen Strömungen der Zeit,
deren gemeinsames Ziel der Sturz der Vernunft ist. Das Sein ist ohne
Sinn, ohne Ursache, ohne Notwendigkeit; der Definition nach ist das
Sein „das ursprünglich Zufällige“, schreibt Sartre.
Bis jetzt haben wir ständig vom Nichts gesprochen und kaum vom
Sein, von der Existenz selbst, und auch da nur von ihrer Unerkennbar
keit —wo bleibt nun die Existenz im Existentialismus? Auch hier ist die
Antwort in der Richtung der Verneinung zu suchen. Existenz ist das,
was dem Menschen fehlt. „Das menschliche Wesen“ , sagt Heidegger, „er
kennt sich nur aus seiner Existenz, aus der Möglichkeit, ob er das wird,
was er ist, oder nicht.“ Hier taucht wieder, wie wir sehen, die schon be
kannte Frage von dem Wesenlos- oder Wesentlich werden des Menschen
auf. Wir haben gesehen, daß diese Fragestellung in den führenden Ten
denzen der modernen Philosophie einen antigesellschaftlichen, sich von
der Gesellschaftlichkeit ab wendenden Charakter hat. Auch in dieser
Frage krönt Heidegger die Entwicklung. Er unterwirft, auf der Grundlage
seiner bekannten Methode, das Alltagsleben des Menschen einer phäno
menologischen Analyse. Das Leben des Menschen ist ein Mitsein und
gleichzeitig ein In-der-Welt-Sein. Dieses Sein hat ebenfalls seine eigen
tümliche zentrale fetischisierte, mythyfizierte Gestalt : „das Man“. Dieser
48 Der Existentialismus
3
DIE FREIHEIT IN EINER FETISCHISIERTEN WELT
UND DER FETISCH DER FREIHEIT
Der Existentialismus ist nicht allein die Philosophie des Todes, sondern
zugleich auch die der,abstrakten Freiheit. Dies ist einer der wichtigsten
Gründe für die Popularität vor allem des Sartreschen Existentialismus,
und hier ist - obwohl dies im ersten Moment paradox klingt - die reaktio
näre Seite der heutigen Wirkung des Existentialismus verborgen. Hei
degger sah, wie wir wissen, nur in dem auf den Tod gerichteten Leben einen
Weg zum Wesentlichwerden, zur Verwirklichung der Existenz. Sartre zer
stört in spitzfindigen Erörterungen die angeblich überzeugende Kraft der
Heideggerschen Theorien. In diesem Gegensatz zwischen Sartre und Hei
degger kommt nicht nur das verschiedene Verhalten der französischen und
50 Der Existentialismus
Konsequenz der Persönlichkeit. Aber er verwirft auch das Kant sehe for
male Kriterium, die aus dem kategorischen Imperativ resultierende
Allgemeinheit des freien Entschlusses und der freien Handlung.
Es scheint freilich, als wäre er vor den Konsequenzen dieses letzten
Ergebnisses etwas zurückgeschreckt. In seiner populären Flugschrift sagt
er: „Nichts kann für uns gut sein, was nicht für alle gut ist“ , und an
anderer Stelle: „Zur selben Zeit, wo ich meine eigene Freiheit will, ist es
meine Pflicht, auch die anderer zu wollen; ich kann nicht meine eigene
Freiheit als Ziel setzen, wenn ich nicht auch die der anderen als Ziel
setze.“ Das klingt sehr schön. Aber dies ist bei Sartre nur eine eklektische,
/
stoßen. Da sie aber nicht dialektisch an sie herangehen, sondern auf der
Grundlage eines in den Schnürleib der Formallogik gepreßten, in sich
selbst zerfallenden Irrationalismus, wird all das zum Unsinn, was als
Moment der dialektischen Zusammenhänge sinnvoll und berechtigt wäre.
Die Meister der Dialektik haben uns häufig gemahnt, nicht zu vergessen,
daß jede Wahrheit, sobald sie überspannt wird, zur Absurdität führt.
Wo ist nun bei Sartre dieses relativ berechtigte Moment? Unzweifelhaft
in der Betonung der Entscheidung des Individuums, des individuellen Ent
schlusses, dessen Wichtigkeit der bürgerliche Determinismus und der
vulgäre Marxismus gleichermaßen zu unterschätzen pflegten. Jede gesell
schaftliche Tätigkeit setzt sich aus Handlungen von Individuen zusam
men, und so entscheidend in diesen ihren Entschlüssen auch die wirt
schaftliche Grundlage sein mag, so kommt dies, wie Engels oft hervor
hebt, nur „letzten Endes“ zur Geltung. Das bedeutet, daß für die Ent
schließungsmöglichkeit der einzelnen Menschen immer ein gewisser kon
kreter Spielraum existiert, in dem dann die Notwendigkeit der Entwick
lung in der Mehrzahl der individuellen Entschließungen früher oder später
auch zur Geltung kommen wird. Die bloße Existenz der politischen Par
teien beweist die Realität dieses Spielraums. Die Hauptrichtungen der
Entwicklung sind auch hier vorauszusehen, aber es wäre Pedanterie —wie
dies ebenfalls Engels gelegentlich viel höherer geschichtlicher Zusammen
hänge betonte —, wenn wir wissenschaftlich festsetzen oder aus den E nt
wicklungsgesetzen ableiten wollten, ob in einem gegebenen Fall Peter
oder Paul individuell genau so oder so entscheiden, für diese oder
jene Partei stimmen wird usw. Die Notwendigkeit der Entwicklung setzt
sich immer über innere und äußere Zufälligkeiten durch. Ihre Bedeutung
hervorzuheben, ihren Platz und ihre Rolle zu untersuchen, wäre ein
wissenschaftlichesVerdienst, freilich nur, wenn damit ihre methodologische
Bedeutung im gesamtdialektischen Prozeß genauer bestimmt werden
würde als bisher. In diesem Sinne kommt den moralischen Problemen,
den Fragen der Freiheit, des individuellen Entschlusses in der dialekti
schen Gesamtkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklung eine nicht zu
unterschätzende Rolle zu.
Sartre macht freilich gerade das Entgegengesetzte. Wir sahen, daß er,
wie es schon seit Jahrzehnten Mode ist, die Notwendigkeit der Entwick
lung, ja die Entwicklung selbst leugnet. (Sogar bei den Individuen;
trennt er doch die Situation der Entscheidung von der Vergangenheit
ab!) Er leugnet den wahren Zusammenhang des Individuums mit der
Gesellschaft; er macht aus den den Menschen umgebenden dinglichen
Zusammenhängen eine „Welt“ für sich, deren Wechselwirkung mit dem
Individuum ganz anders geartet ist als bei seinen Mitmenschen. Die
56 Der Existentialismus
solchen Art von moralischer Erhabenheit bis zur Frivolität, zum Zynis
mus.
Den gedanklichen Bankrott des Sartreschen Freiheitsbegriffs mußten
wir deshalb so scharf herausarbeiten, weil gerade hier der Schlüssel zu
der stürmischen Wirkung dieser Lehre auf gewisse Kreise liegt.
Eine solche abstrakte und überspannte, vollkommen entleerte und
irrationell gewordene Konzeption der Freiheit und der Verantwortung,
die vornehme Verachtung der gesellschaftlichen Gesichtspunkte, des
öffentlichen Lebens bei der Verteidigung der ontologischen Integrität des
Individuums ergänzt in hinreichender Weise - besonders für die Bedürf
nisse von Snobs —den Mythos des Nichts ; denn ihnen muß die Mischung
der grausam strengen Prinzipien mit zynischen Handlungsmöglichkeiten
und moralischem Nihilismus besonders Zusagen. Aber darüber hinaus
bietet diese Freiheits-Konzeption einem gewissen Teil der zum extremen
. Individualismus stets geneigten Intelligenz eine ideologische Stütze, eine
Selbstberuhigung dafür, die Entfaltung des Aufbaus der Demokratie ab
lehnen zu können. Es haben sich auch Publizisten gefunden, die sich
Demokraten nennen und im Namen der individuellen Freiheit die Rechte
des schwarzen Marktes, der sabotierenden und schiebenden Kapitalisten
in Schutz nehmen, ja sogar dieses Prinzip so erweitern, daß auch die
Freiheit der Reaktion, des Faschismus, der Kriegstreiberei darin Platz
findet ; auch bisher war die Verantwortung jene Losung, in deren Namen
zuerst versucht wurde, die Intabulierung des Bodens der neuen Grund
besitzer, die Reinigung des Staats- und Verwaltungsapparates zu ver
hindern und später ihre Zurücknahme zu fordern. Diesen Bestrebungen
kam die abstrakte und überspannte Freiheits- und Verantwortungskon
zeption Sartres großartig in den Wurf.
So macht sich nicht nur der Snobismus, sondern auch die Reaktion
daran, ihre Suppe auf dem Feuer des Existentialismus zu kochen. Und
die Gefahr einer Verwirrung und Irreführung bestimmter Schichten der
Intelligenz durch den Existentialismus wächst noch dadurch, daß Sartre,
wie wir gesehen haben, mit zwei Freiheitsbegriffen arbeitet. Der eine,
der grundlegende, der esoterische, zeigt jene Züge, die wir eben nach
gewiesen haben. Der zweite, der exoterische, in populären Schriften ver
kündete, gebärdet sich, als ob er auch die Probleme des gesellschaftlichen
Fortschritts, ja des revolutionären Verhaltens gedanklich erfassen würde.
Sachlich liegt hier ohne Frage ein eklektisches Nebeneinander unverein
barer Anschauungen vor. Aber die Hartnäckigkeit, mit welcher Sartre
an dieser doppelten Buchführung festhält, zeigt klar die bedenkliche
Nähe seines Philosophierens zu einer irreführenden Demagogie, zu einer
mala fides.
D IE RO BIN SO N A D E D E R D EK A D EN Z
mit der Todesstimmung von Heideggers „Sein und Zeit“, mit dem Auf
ruf zur absoluten Passivität des alten Existentialismus, mit seinem ab
strakt-privaten Freiheitsbegriff auskommen kann. Natürlich sind die
sozialen und historischen Bedingungen des Nachkriegs keineswegs ein
heitlich. Der Faschismus ist geschlagen. Nicht nur militärisch und poli
tisch, auch moralisch. Dies aber eher in objektiver Hinsicht als subjektiv.
Vor allem: die Faschisten sind geblieben. Und nicht ohne Unterstützung
seitens jener „demokratischen“ Strömungen, die in ihnen eine brauch
bare Reserve gegen links erblicken. Dies bedeutet auch eine Abdämpfung
des ideologischen Kampfes gegen den Faschismus. Vor allem aber eine
volle Toleranz jenen Weltanschauungen gegenüber, die den Faschismus
geistig und moralisch vorbereitet haben (Nietzsche, Spengler, Ortega y
Gasset, Heidegger). Der Einfluß dieser Strömungen ist auch in der poli
tisch linken Intelligenz beträchtlich. Die neue soziale und politische Lage
drückt sich also weltanschaulich sehr kompliziert und widerspruchsvoll
aus, ist aber weit entfernt von jener radikalen Abrechnung mit dem prä
faschistischen und faschistischen Erbe, die Optimisten von der Nieder
lage Hitlers erwarteten.
Diese Tendenzen werden von der politischen Lage in den meisten Län
dern und durch bestimmte internationale Beziehungen verschärft. Das
labile Gleichgewicht dieser Jahre zwischen Verhinderungs- und Vorberei
tungsversuchen eines neuen Weltkrieges, zwischen dem Vormarsch zu
einer neuen Demokratie und der Restauration eines Viertel- bis Drei
viertel-Faschismus muß selbstredend auch weltanschauliche Folgen haben.
Vor allem in der völligen Ratlosigkeit des Humanismus alten Typs, der
sich vor der Aufrichtung einer zuendegeführten Demokratie mindestens
ebenso fürchtet wie vor der Restauration des Faschismus, der sich darum
immer stärker in die Welt der abstrakten Postulate, in einen „erhabenen“
Pessimismus zurückzieht. Das hat aber zur Folge, daß die präfaschisti
schen Weltanschauungen - freilich nicht ohne innere Umgruppierung -
weiterwirken und versuchen, ihre Anpassung an die neue Wirklichkeit
ohne Veränderung der Grundlagen zu vollziehen. Einiges spricht zum
Beispiel dafür, daß gerade der Heideggerschen Philosophie eine verstärkte
Wirkung jenseits des Ozeans bevorsteht, und zwar ebenso als Philoso
phie von dezidiert reaktionärer Richtung wie seinerzeit in Deutschland, so
daß es dort Phänomenologen gibt, die diese Überhandnahme der Reaktion
seitens Heidegger und Scheler im Namen einer Husserlschen Orthodoxie
bekämpfen möchten. Auch die Intelligenz der Alten Welt ist keines
wegs weltanschaulich einheitlich. Jaspers, der von Anfang an den Exi
stentialismus sehr gewandt an eine gemäßigt bürgerliche Mentalität an
paßte, wird in weiten Kreisen der Intelligenz - besonders in jenen, die der
6o Die Robinsonade der Dekadenz
Imperativs nahe, daß alles in der Welt auch als bloßes Mittel behandelt
werden könne, und „nur der Mensch Zweck an sich selbst" ist. Wir wer
den sehen, daß dieser Gedanke im Aufbau der existentialistischen Ethik
eine entscheidende Rolle zu spielen berufen ist.
Es fragt sich nur, mit welchem Recht Sartre hier seinen ursprünglichen
Freiheitsbegriff in dieser Weise ausdehnt? Ist diese Kantsche Fassung der
Moral noch immer ein organischer Bestandteil des Existentialismus? Wir
wollen hier kein Mißverständnis aufkommen lassen. Wir fühlen uns
keineswegs verpflichtet, über die Orthodoxie des Existentialismus zu
wachen. Aber wenn Sartre und seine Anhänger mit dem Anspruch auf-
treten, daß diese Philosophie, deren Grundlage wir bei Heidegger als nihi
listisch und reaktionär erkannten, die Weltanschauung des demokrati
schen Fortschritts repräsentiere, so muß dagegen protestiert werden. Das
Aufzeigen der Diskrepanz zwischen philosophischer Fundamentierung
und ethischen Forderungen enthält also für jeden, der das Denken und
die Moral ehrlich nimmt, die Forderung, entweder auf die Heideggersche
Die Antinomie von Gesinnungsethik und Folgeethik 67
3
WIEDER EINMAL WIRD MARX GETÖTET
des Dialektischen. In einer loyalen Polemik müßte auf den - vom land
läufigen völlig verschiedenen - Sinn dieses Ausdrucks bei den Marxisten
wenigstens hingewiesen werden. Es ist verständlich, daß Sartre, für den
die Dialektik nur in der von Kierkegaard und Heidegger entstellten, in
ihr Gegenteil verkehrten Form existiert, in der Wissenschaftlichkeit
einen Gegensatz zur Dialektik erblickt. Er wirft jedoch den französischen
Marxisten derartige Verwechslungen vor, während er es selbst ist, der
mit einem geschickten Jonglieren mit dem Doppelsinn der Metaphysik,
mit der Erklärung, daß die Wissenschaft als „Realisation der Quantität'*
der Dialektik widerspricht, klare Tatbestände verdunkelt. (Weiß Sartre
nicht, daß bei Hegel und Marx auch die Quantität in ihre wissenschaft
liche Entwicklung der Dialektik gehört?) Er verdunkelt weiter die Tat
bestände, wenn er die Marxisten über die Materie sagen läßt, „sie sei die
selbe, von der die Gelehrten sprechen". Wenn es sich um die konkreten
Fragen der Struktur usw. der Materie handelt, so ist eine solche Antwort
richtig. Sartre stellt aber den philosophischen, den erkenntnistheoreti
schen Begriff der Materie zur Diskussion und müßte wissen, daß Lenin
in seinem philosophischen Hauptwerk den allgemein philosophischen Be
griff der Materie (das, was unabhängig von unserem Bewußtsein existiert)
von der sich immer wandelnden, sich stets vervollkommnenden kon
kreten Erkenntnis der konkreten Wesensart der Materie scharf trennt.
(Da ich diese Frage im folgenden Aufsatz ausführlich behandle, möge hier
dieser Hinweis genügen.)
Mit solchen Mitteln also will Sartre den Materialismus diffamieren ; er
erscheint bei ihm als „ein Monstrum, ein unfaßbarer Proteus, ein vager
und widerspruchsvoller Schein".
Aber weiter zu den sachlichen Fragen. Der Hauptvorwurf Sartres
gegen den Materialismus ist der, daß er „die Subjektivität eliminiert",
daß er dem Menschen „die Freiheit raubt", Vorwürfe, die uns Marxisten
aus den Traktaten strebsamer Privatdozenten seit Jahrzehnten bekann'
sind. Jeder Marxist weiß, und wir werden es im folgenden kurz zeigen,
daß Sartre auch hier den Marxismus entstellt. Er ist dazu in seinem Ver
teidigungskampf, den er geschickt als Offensive maskiert, gezwungen,
weil gerade die Betonung der Subjektivität der Punkt ist, wo das relativ
berechtigte Moment am Existentialismus zum Ausdruck kommt ; freilich
ein nur relativ berechtigtes Moment, das infolge seiner Überspannung
und Verabsolutierung durch den Existentialismus ins Absurde umschlägt.
Was aber an diesem Moment berechtigt ist, ist dem Marxismus von allem
Anfang an bekannt. Nämlich, daß die Menschen selbst ihre Geschichte
machen, und zwar im persönlichen Leben ebenso wie im öffentlichen.
Daraus folgt, daß alles, was in der Geschichte der Menschheit geschah,
Wieder einmal wird Marx getötet 73
Es ist kein Zufall, daß Sartre hier unzufrieden ist. Denn die Freiheit,
die der Arbeiter in der Arbeit - natürlich nur in der Arbeit als solcher,
als gesellschaftlichem Stoffwechsel mit der Natur, nicht in der Arbeit als
zwischenmenschlicher, als sozialer Beziehung - entdeckt, ist tatsächlich
die echte, reale Freiheit, nämlich die Freiheit als erkannte Notwendig
keit. Ihre Grundlage ist eine - wenn auch nicht wissenschaftlich, even
tuell nicht einmal bewußt-begrifflich formulierte - annähernd adäquate
Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit. Diese notwendige Material
gebundenheit der Arbeit, ihr Zusammenhang mit Stoff, Werkzeug usw.
ist natürlich an „freiheitlicher“ Vollkommenheit von jenen Gedanken
experimenten im luftleeren Raum der Intellektuellen-Existenz weit ent
fernt, an denen Sartres Hauptwerk seinen Freiheitsbegriff demonstriert
hat. Diese ins Ontologische gewendete Minderwertigkeit der Arbeit äußert
sich bei Sartre darin, daß erstens für den Arbeiter „die Idee der Be
freiung mit der des Determinismus verbunden ist“ ; zweitens darin, daß
er —angeblich - in der Beziehung von Mensch zu Mensch die Beziehung
einer „tyrannischen Freiheit zu einem gedemütigten Gehorsam“ sieht,
die er darum mit der Beziehung des Menschen zur Sache, die er be
herrscht, ersetzt, und drittens endlich, da der Mensch, der die Sachen
beherrscht, seinerseits auch eine Sache ist, mit der Beziehung von Sache
zu Sache. „Wenn alle Menschen Sachen sind, gibt es keine Sklaven.“
Sartre identifiziert also in völlig imzulässiger Weise den Arbeitsprozeß
an sich (den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur) und die Arbeit
als Grundlage der sozialen Beziehungen der Klassen in der Gesellschaft.
Wie verschieden die beiden in ihrem objektiven Wesen sind (obwohl sie
sich in dialektischer Wechselwirkung zueinander entwickeln), und wie
verschieden sie deshalb auf das Bewußtsein der Arbeitenden einwirken,
zeigt, daß der Arbeitsprozeß selbst notwendig und spontan einen prak
tischen Materialismus erzeugt, denn ohne annähernde Erkenntnis der
objektiven Wirklichkeit kann der primitivste Handgriff nicht erfolgreich
vollzogen werden, während die materialistische Erfassung der Gesell
schaftlichkeit der Arbeit nur als Ergebnis jahrhundertelanger Klassen
kämpfe langsam, krisenhaft zustande kommen konnte. Die englischen
Arbeiter vom Anfang des 19. Jahrhunderts waren als Arbeitende ebenso
spontane Materialisten wie die alt ägyptischen Sklaven (wenn auch auf
höherer Erkenntnisstufe) ; als Maschinenstürmer handelten sie rein idea
listisch, d. h. von subjektiven, falschen sozialen Vorstellungen geführt,
ohne Erkenntnis der objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Man sieht, was bei dieser fundamental-ontologischen „Vertiefung“ aus
der Verdinglichungslehre von Marx geworden ist. Marx stellt objektive
soziale Tatbestände fest; die Arbeitskraft eines jeden Arbeiters ist - um
Wieder einmal wird Marx getötet 77
bei Sartres Beispiel zu bleiben —die einzige Ware, durch deren Verkauf
er sein Leben erhalten kann. Kauf und Verkauf dieser Ware schaffen —
unabhängig von jedem Bewußtsein - gesellschaftliche Beziehungen zwi
schen den Menschen, die Beziehungen von Sache zu Sache zu sein
scheinen. Die Marxsche Analyse der Verdinglichung besteht gerade darin,
hinter, oder besser gesagt, in diesen Beziehungen die Beziehungen von
Mensch zu Mensch (von Klasse zu Klasse) aufzudecken. Die Sartresche
Ontologie geht den entgegengesetzten Weg. Sie fixiert die im Kapitalis
mus notwendig für alle Klassen entstehende Bewußtseinsstruktur als
wesentliche Struktur, als entscheidende „Situation" des Arbeiters und
deduziert von hier aus eine - in der Wirklichkeit nirgends vorhandene —
„Phänomenologie" des Arbeiters, in der alle Zusammenhänge in völliger
Umkehrung erscheinen. Denn während die Befreiung des Arbeiters in
Wirklichkeit auch die Aufhebung, die Vernichtung aller verdinglichten Be
ziehungen zwischen den Menschen bedeutet, wird bei Sartre das Freiheits
ideal des Arbeiters zu einem imbeschränkten Universalismus der Ver
dinglichung. Und andererseits entsteht der Anschein, als ob die kapita
listische Verdinglichung nicht in der objektiven gesellschaftlichen Wirk
lichkeit und darum im Bewußtsein sowohl des Kapitalisten wie des
Arbeiters vorhanden, sondern ein Produkt des Arbeiterbewußtseins,
seines Verhaltens zur Wirklichkeit wäre. So kommt Sartre zu der aus der
präfaschistischen Literatur nicht unbekannten Schlußfolgerung, daß die
„materialistische Konzeption und die der Unterdrücker" eine gewisse
Einheit zeigen. So kann er als Pointe hervorheben, daß der „Mythos des
Materialismus" der einzige ist, „der den Anforderungen der Revolution
entspricht". Die pragmatistische Konzeption konnte - nach Sartre - den
Revolutionären nicht genügen, darum „hat man den materialistischen
Mythos erfunden".
Mit solchen und ähnlichen „Argumenten" will Sartre - zum wievielten
Male? - den Marxismus gedanklich vernichten. Was er an seiner Stelle
der Jugend anbietet, sind die „neuen Begriffe" der „Situation", des „In-
der-Welt-Seins“, deren Erklärungswert wir später werden ermessen kön-
nen. Und als entscheidend neue Perspektive, daß aus der Freiheit des
Menschen die Unsicherheit des Siegs des Sozialismus folgt. Der Sozialismus
ist - natürlich! - „ein menschliches Projekt". „Er wird das, was die Men
schen aus ihm machen." Dabei wird wieder ein wichtiger und in seinem kon
kreten gesellschaftlich-geschichtlichen Zusammenhang richtiger Neben
satz aus dem „Kommunistischen Manifest" in dieser existentialistisch
isolierten Aufbauschung zu einem leeren und abstiakten Gemeinplatz.
Aber diese Gemeinplätze und Umkehrungen haben eine bestimmte
Richtung. Sartre versucht, seine Ideologie der heuchlerischen Bejahung
78 Die Robinsonade der Dekadenz
der Revolution, die ihn mit den Trotzkisten und anderen Gegenrevo
lutionären verbindet, sowohl mit der „Situation“ der Unterdrückten zu
verbinden, als auch zu einer universellen, nicht mehr klassengebundenen
Philosophie zu machen. Er will zeigen, wie man auch aus anderen Klas
sen, auch aus der Bourgeoisie, zur Revolution kommen kann, denn „ein
unterdrückender Bourgeois ist selbst durch seine Unterdrückung unter
drückt“. Hier wird wieder ein marxistischer Gedanke durch seine funda
mental-ontologische „Vertiefung“ abstrakt, leer und sinnlos gemacht.
Engels hat dargestellt, daß auch der Bourgeois, ja auch der nichtstuende
kapitalistische Rentner der kapitalistischen Arbeitsteilung unterworfen
ist, und Marx zeigt sehr deutlich die Einheit der gemeinsamen und ent
gegengesetzten Momente im gesellschaftlichen Sein und Bewußtsein von
Bourgeois und Proletarier. „Die besitzende Klasse und die Klasse des
Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar, aber die
erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt,
weiß die Entfremdung als ihre eigene Macht und besitzt in ihr den Schein
einer menschlichen Existenz. Die zweite fühlt sich in der Entfremdung
vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer un
menschlichen Existenz.“
Natürlich gibt es auch bei Marx eine Möglichkeit für den nicht Arbei
tenden, revolutionär zu werden. Man denke an die bekannten Hinweise
im Kommunistischen Manifest“ (darüber ausführlich später). Dies ist
jedoch für Sartre nicht akzeptabel. Und hier offenbart sich, was wir
später detailliert zeigen werden, die größte - die irrationalistische -
Schwäche des Existentialismus: er will den Anschauungen, Ansichten
usw. der Menschen, genauer gesagt : den gedanklichen Widerspiegelungen
der objektiven Wirklichkeit im menschlichen Bewußtsein- keine entschei
dende Rolle in ihren Entschlüssen zubilligen. Sartre stellt in charakte
ristischer Weise Praxis und Kontemplation (Theorie : Erkenntnis der ob
jektiven Wirklichkeit) einander ausschließend gegenüber. So sehr, daß er
in der objektiven Erkenntnis eine Konsequenz der „Situation“ der Kon
servativen erblickt. „Der konservative Gedanke“, sagt Sartre, „erklärt,
daß er die Welt betrachtet, wie sie ist. Er betrachtet die Geschichte und
die Natur vom Standpunkt der reinen Erkenntnis, ohne sich zu gestehen,
daß seine Attitüde der reinen Erkenntnistheorie den gegenwärtigen Zu
stand des Universums zu verewigen trachtet, indem er dazu überredet,
daß man sie eher erkennen als verändern kann, oder zumindest, daß man
sie erkennen muß, um sie verändern zu können.“ Was an diesen Sätzen
richtig ist, ist bereits in den von Marx schon vor über ioo Jahren ge
schriebenen Feuerbach-Thesen enthalten, nämlich der Unwert einer von
der Praxis losgelösten Theorie, die Heuchelei einer angeblichen reinen
Die Ethik der Zweideutigkeit 79
Erkenntnis. Was Sartre aus dem seinigen hinzufügt, ist die Ablehnung der
Erkenntnis der Wirklichkeit als Voraussetzung ihrer Veränderung; ein
Standpunkt, den er mit einer merkwürdigen „phänomenologischen
Wesensschau" den Konservativen zuspricht, obwohl dieser Standpunkt
der konservativen Erkenntnistheorie vollständig fremd ist und in der
konservativen Literatur nicht vorkommt.
Die Folgen dieses ablehnenden Verhaltens gegenüber der sozialen und
ethischen Bedeutung der Erkenntnis werden wir bei Simone de Beauvoir
und Merleau Ponty noch ausführlich behandeln. Hier sei nur noch kurz
darauf hingewiesen, daß Sartres Vorwürfe dem Marxismus gegenüber oft
darauf hinauslaufen, daß er dieses Problem überhaupt nicht zu begreifen
imstande ist. Indem er die entscheidende Wirkung der Erkenntnis von
gesellschaftlichen Lagen und Tendenzen nicht sehen will, meint er, der
Marxismus könne das Klassenbewußtsein nicht erklären: „Ein Zustand
der Welt kann niemals ein Klassenbewußtsein produzieren." Er meint,
die Marxisten würden hierüber auch im klaren sein, schicken sie doch
ihre Funktionäre in die Massen, um sie zu radikalisieren und ihr Klassen
bewußtsein zu erwecken. „Aber", fragt Sartre triumphierend, „diese
Funktionäre selbst, woher nehmen sie ihr Verständnis der Lage?" Frei
lich, wenn die Erkenntnis nicht eine Widerspiegelung der objektiven
Wirklichkeit im menschlichen Bewußtsein ist, wenn das revolutionäre
Handeln zu einer „Selbständigkeit" fetischisiert wurde, in der es in gar
keiner Beziehung mehr zur Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit und
ihrer ebenfalls objektiven Bewegungsgesetze steht, so wird der an sich
höchst einfache Tatbestand, daß es eine höhere oder niedrigere, eine um
fassendere oder beschränktere Einsicht auf diesem Gebiet gibt, und daß
die höhere Einsicht fördernd auf die eigene Praxis und auf die Praxis von
Menschen mit einer relativ unentwickelten Einsicht wirken kann, zu
einem Rätsel. An dieser Verfinsterung ist aber der Marxismus völlig un
schuldig. Nachdem Sartre das Licht der objektiven Erkenntnis aus
gelöscht hat, beschuldigt er die Marxisten, daß er selbst im Dunkeln sitzt.
4
„DIE ETHIK DER ZWEIDEUTIGKEIT“
UND DIE ZWEIDEUTIGKEIT DER EXISTENTIALIST! SCH EN ETHIK
als „vulgäre" Zeitlichkeit verwirft, indem auch für ihn, wie für alle
bürgerlichen Denker, das isolierte Individuum und seine Erlebnisse (und
nicht sein reales Sein) den Ausgangspunkt bilden, müssen alle Katego
rien, die er auf solcher Grundlage findet, mit denselben Gebrechen be
haftet bleiben, wie die der übrigen bürgerlichen Philosophen. Vor allem
bleibt bei ihm und auch bei seinen französischen Schülern das Wesen des
„Daseins" (d. h. des Menschen), das ontologische Wesen seiner sich wan
delnden „Situation" etwas Abstrakt-Überhistorisches. Simone de Beau
voir drückt dies ganz klar aus: „Keine soziale Umwälzung, keine mora
lische Konversion kann jenen Mangel, der in seinem (des Menschen —
G. L.) Herzen liegt, unterdrücken." Sind aber aus dem Wesen fides“ Men
schen alle historisch sozialen Momente, alle Bestimmungen seiner
Existenz durch die Ökonomie, durch die „Produktion und Reproduktion
des wirklichen Lebens" (Engels), durch seinen gesellschaftlichen Stoff
wechsel mit der Natur —vermittelt durch die jeweilige konkrete ökono
mische Struktur der Menschen miteinander - prinzipiell, mit methodo
logischer Notwendigkeit eliminiert, so können sie nachträglich nur noch
als rein empiristische, unorganische „Zutaten" beigefügt werden. Die
künstliche gedankliche Isolierung des Einzelmenschen kann, auch wenn
diese mit ebenso abstrakten Kategorien wie Mit-Sein, In-der-Welt-Sein
usw. verziert wird, nicht nachträglich aufgehoben werden. Denn die
phänomenologisch oder ontologisch vollzogene Isolierung verzerrt derart
die Grundstruktur der Erkenntnis vom Menschen, daß auch richtige
empirische Beobachtungen und Feststellungen ökonomischer Tatsachen
aus dieser Verbogenheit nie wieder etwas Gerades machen können. Um
zu den wirklichen, historischen Menschen, zu dem Ensemble ihrer sozialen
Verhältnisse zu gelangen, muß begriffen werden, daß die ökonomischen
Kategorien „Daseinsformen", „Existerizbestimmungen" (Marx) des ge
sellschaftlichen Lebens sind.
Kehren wir nun zu den beiden Zitaten der Beauvoir zurück. Im ersten
verschwindet die Entwicklung der Produktivkräfte, der dadurch ent
stehende Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsver
hältnissen und mit ihnen alles Konkrete an den historischen Situationen,
in denen die von der Beauvoir geschilderten Bestrebungen entstehen.
Sartre hat, wie wir gesehen haben, Marx dahin verzerrt, daß bei ihm an
geblich jede Subjektivität verschwindet. Wir haben das Unrichtige daran
nachgewiesen; der subjektive Faktor der menschlichen Geschichte ist,
wie wir gesehen haben, für den Marxismus entscheidend wichtig. Aber
nur im engsten Konnex mit dem objektiven Faktor, auf der Grundlage
des objektiven Faktors. Selbst wenn es der Marxismus mit Tatbeständen
zu tun hat, bei denen die oberflächliche Betrachtung zu bezeugen scheint
Die Ethik der Zweideutigkeit 83
Man soll sich nicht wundem, daß die Bourgeoisie durch ihre Agenten der
art brutal offenkundige Geschichtslügen verbreiten läßt. Es ist aber
bezeichnend, daß Sartre die Beauvoir und Merleau Ponty, bei aller Kritik
im einzelnen, sich mit dem gekauften Renegaten Köstler wie mit einem
ernstzunehmenden Denker beschäftigen.
Dies führt aber zu einer weiteren Vorfrage der Antigewalt-Ideologie.
Wir erinnern daran, wie ausschließend mechanisch die Beauvoir Revolte
und kontinuierliche Entwicklung einander gegenübergestellt hat. Darin
drückt sich, wie wir gezeigt haben, der unhistorische Charakter ihrer Be
trachtung der Welt aus ; das ist ein allgemeines Kennzeichen des heutigen
bürgerlichen Denkens. Diese unhistorische Einstellung hat nun für unser
Problem zur Folge, daß bei den meisten der bürgerlichen Ideologen die
Gewalt den spezifischen Akzent des Außergesetzlichen, des Illegitimen
und Illegalen erhält. Dagegen betrachten viele von ihnen alle gesetz
mäßig fixierten und vorgeschriebenen Gewaltmaßnahmen nicht als Ge
walt. Daß eine solche Scheidung - die selbstverständlich wieder den
sozialen und ideologischen Bedürfnissen der Bourgeoisie dient - theore
tisch unhaltbar ist, weiß jede wissenschaftlich ernst zu nehmende Rechts
philosophie und Rechtssoziologie von Macchiavelli bis Max Weber.
Weber drückte das Wesen des Rechts in dieser Hinsicht klar und pitto
resk aus: Recht sei, wenn beim Überschreiten seiner Schranken „Männer
mit der Pickelhaube kommen'* und die Menschen zum Einhalten der
Vorschrift zwingen.
Bei Simone de Beauvoir ist es nicht ganz klar, ob sie die Gewalt in
diesem breitesten, aber wissenschaftlich allein richtigen Sinne nimmt.
Jedoch, wenn die Frage der moralischen Zulässigkeit oder Verwerflich
keit der Gewalt wissenschaftlich behandelt werden soll, muß man von
4 *
der Bedeutung der jeweiligen Inhalte usw. mit oder ohne aktiv an
gewandte Gegengewalt.
Kann aber unter solchen Umständen die Gewaltanwendung überhaupt
zum moralischen Problem oder gar —nach den Worten der Beauvoir —
zum „Ärgernis“ werden? Die Bejahung dieser Frage enthält keinen inne
ren Widerspruch für religiöse Weltanschauungen, in denen das jenseitige
Weiterleben der menschlichen Seele, ihr ewiges Heil eine entscheidende
Rolle spielen. Ob dann die Ablehnung der Gewalt die inhaltlich um-
stürzlerischen Hoffnungen der Unterdrückten ausdrückt, die für das Er
dulden der Gewalt beim bald erwarteten Weitende auf ihre jenseitige
Belohnung hoffen, oder ob diese Erwartung von den herrschenden Klas
sen zum ideologischen Niederhalten der Ausgebeuteten utilisiert wird,
spielt in diesem Zusammenhang für uns keine ausschlaggebende Rolle.
Denn in beiden Fällen wird dadurch das irdische Leben der Menschen zu
einem unwesentlichen Vorspiel ihres jenseitigen Lebens herabgesetzt.
Das moralische Gebot der Ablehnung einer jeden Gewaltanwendung
durch das Individuum ist geiade die Akzentuierung der Tatsache, daß
der soziale Aufbau dieser Welt, da sie eben als Ganzes ohne letzte Be
deutung ist, moralisch nicht oder nur sehr sekundär in Frage kommt.
„Gebet dem Kaiser, was des Kaisers is t..." läßt sehr folgerichtig das
Neue Testament Jesus sagen.
Ganz anders ist die Lage jener Weltanschauungen, die eine jenseitige
Fortsetzung und Erfüllung des menschlichen Lebens ablehnen ; für diese
ist das irdische Leben des Menschen, d. h. ihr konkretes, wirkliches Leben
in jener konkreten Gesellschaft, in welcher sie geboren, mit ihren Klassen
verhältnissen, den aus ihnen entspringenden legalen und illegalen Ge
waltfragen das einzig mögliche Betätigungsfeld; ihre Moral muß also
gerade auf dieses Leben zugeschnitten werden. Das gilt für den Existen
tialismus, der bei Heidegger atheistisch geworden ist. (Für Kierkegaard
ist noch das jenseitige Heil der Seele das religiöse Erfüllungsgebiet der
Moral.) Hier entsteht notwendig die Frage : kann eine Ethik, für welche
eine der Grundtatsachen des gesellschaftlichen Lebens ein Ärgernis ist,
überhaupt vernünftig und folgerichtig aufgebaut werden, ohne daß die
Ethik nun die Aufhebung dieses Ärgernisses zu ihrem Hauptgebot
machen würde? Wenn wir die Frage so stellen, unterstreichen wir das
Wort gesellschaftlich, denn selbstredend kann keine Ethik sich die Auf
hebung von Naturgegebenheiten zur Aufgabe stellen. (Mit der Ausnahme
freilich, wo diese auf dem Umweg der Aufhebung ihrer gesellschaftlichen
Vermittlungen ebenfalls aufgehoben werden können.)
In der Stellungnahme der Beauvoir und anderer Existentialisten ver
rät sich hier deutlich der unorganische Ursprung ihrer Philosophie.
88 Die Robinsonade der Dekadenz
der verschwinden soll”. Die Gewalt in der Sowjetunion, die sie freilich
durch eine trotzkistisch-köstlerische Brille sieht, „hat einen Sinn, es
steckt Vernunft in ihr; es handelt sich darum, ein Regime aufrechtzu
erhalten, das das Schicksal einer ungeheuren Masse von Menschen ver
bessert”. Schön und gut. Wenn aber nun die Beauvoir daraus Konse
quenzen zu ziehen hat, besitzt sie in ihrer eigenen Methode nicht die ge
ringste Handhabe, nicht den Schatten eines Kriteriums. Sie springt des
halb aus der abstrakten existentialistischen Gesinnungsethik in eine
ebenso abstrakte Folgeethik und fragt: „Dem Tode Bucharins stellt man
Stalingrad gegenüber; aber man müßte wissen, wie weit die Moskauer
Prozesse effektiv die Chancen des russischen Sieges vermehrt haben!” -
Abgesehen davon, daß dies viele wissen, nicht nur Kommunisten, sondern
auch die weder trotzkistisch noch imperialistisch befangenen bürgerlichen
Beobachter der Ereignisse, taucht die Frage auf, wie die Bejahung dieses
Zusammenhanges im existentialistischen Sinne eine befriedigende Ant
wort geben könnte. Denn hier steht ja die Ethik und die Geschichts
philosophie des Existentialismus zur Diskussion; Bucharin und Stalin
grad sind nur Probiersteine für sie. Aus Beauvoirs Frage geht hervor, daß
sie bei bejahendem Nachweis dieses Zusammenhanges über Bucharins
Hinrichtung beruhigt wäre. Schön und gut. Sie setzt aber damit die
Nützlichkeit einer Maßnahme (freilich im Dienste eines bejahungswürdi
gen Zieles) zum Kriterium ihrer ethischen Zulässigkeit oder Verwerflich
keit. Wie kann sie dies aber tun, wenn sie im selben Aufsatz - vom Stand
punkt der existentialistischen Gesinnungsethik aus folgerichtig - die
Nützlichkeit als Maßstab der Ethik ablehnt? Wenn sie dort nachweisen
will, daß ein solches Kriterium für die Ethik eine unauflösbare Antinomie
mit sich führt? Sie formuliert diese Antinomie so: „Die einzige Recht
fertigung des Opfers ist seine Nützlichkeit; aber nützlich ist, was dem
Menschen dient.”
Dieses Hin- und Hergeworfensein zwischen den beiden gleich abstrak
ten und gleich falschen Extremen von Gesinnungsethik und Folgeethik
zeigt deutlich, wie wenig die Beauvoir imstande ist, von ihren existentia
listischen Voraussetzungen aus zu den konkreten moralischen Fragen der
Gegenwart Stellung zu nehmen. Wir haben auf die Kant-Verwandtschaft
der neuen existentialistischen Zauberformel, daß man die eigene Freiheit
nur wollen kann, wenn man die Freiheit aller will, bereits hingewiesen.
Die Kant-Verwandt Schaft zeigt sich auch in diesem Schicksal der Lehre.
Wie die zwiespältige erkenntnistheoretische Position Kants, sein Schwan
ken zwischen Idealismus und Materialismus, das Lenin aufgezeigt hat,
dahin führte, daß seine ganze theoretische Philosophie in ein System
von Antinomien mündet, so stößt die Beauvoir, in dem Bestreben, die
90 Die Robinsonade der Dekadenz
wegs, wie Sartre meint, eine Vernichtung von Individualität oder Sub
jektivität. Er bedeutet nur die richtige Anwendung der dialektischen Be
ziehung von absolut und relativ auch auf diese Frage. Über die Prinzipien
dieser Dialektik des Absoluten und Relativen spreche ich im folgenden
Aufsatz ausführlich. Hier sei nur so viel bemerkt, daß dazu einerseits die
Auffassung des Menschen als eines von vornherein durch und durch ge
sellschaftlichen Wesens notwendig ist und die Einsicht, daß auch die per
sönlichsten Probleme des ,, einsamst en'4Individuums ihre unabtrennbare
gesellschaftliche Seite haben ; andererseits, daß die Freiheit der Menschen
zugleich ein gesellschaftliches und historisches Problem ist, und die Frei
heit nur dann einen konkreten Inhalt und eine konkrete dialektische Be
ziehung zur Notwendigkeit haben kann, wenn sie in ihrer historisch
sozialen Genesis als Kampf der Menschen mit der Natur durch Vermitt
lung der verschiedenen gesellschaftlichen Formationen aufgefaßt und die
historisch-soziale Genesis der Freiheit aus dem ursprünglichen Unter
worfensein der Menschen unter die Naturmächte, aus den zur „zweiten
Natur" gewordenen, in diesem Kampf entstandenen Gesellschaftsformen
begriffen wird.
Es ist interessant und für die starke Einwirkung des Marxismus auf
die heutigen Problemstellungen der Existentialisten, auf ihre „Situation"
bezeichnend, daß ihre Fragestellungen nicht aus der eigenen Methode
entspringen, sondern ihnen vom Marxismus aufgezwungen werden, und
daß beide Fragen in der Beauvoirschen Analyse der Moral auftauchen,
wenn sie auch nicht imstande ist, mit ihnen gedanklich fertig zu werden.
Sie fühlt deutlich und spricht es auch aus, daß Sartres philosophisches
Hauptwerk unfähig ist, für die Lösung jener Fragen, die sie beschäftigen,
eine befriedigende methodologische Basis zu geben. Sie beschuldigt und
entschuldigt gleichzeitig das Buch Sartres damit, daß es die Probleme
auf einem anderen, abstrakteren Niveau behandelt. „Auf dem Niveau
der Beschreibung, auf das sich ,L’être et le néant‘ stellt, hat das Wort
nützlich noch keinen Sinn erhalten: es läßt sich nur definieren in der
menschlichen Welt, konstituiert durch die Projekte der Menschen und
durch die von ihm gesetzten Ziele. In der ursprünglichen Hilflosigkeit des
Menschen, aus der der Mensch entsteht, ist nichts nützlich, nichts un
nützlich." Sowohl Beschuldigung wie Entschuldigung sind mehr gefühls
mäßig als theoretisch. Denn es stimmt einerseits nicht, daß in Sartres
philosophischem Hauptwerk noch keine Projekte und Zielsetzungen Vor
kommen, und andererseits ist die letzte Annahme der Beauvoir ebenfalls
falsch; wenn für den Menschen „in seiner ursprünglichen Hilflosigkeit"
das Nützliche noch nicht existiert - wie entsteht es überhaupt? Es kommt
aber hier mehr auf das dumpfe Gefühl der Unzufriedenheit der Beauvoir
92 Die Robinsonade der Dekadenz
als auf ihre philosophischen Argumente an. Denn ihre Aufsätze verraten
wirklich das Bestreben, diesen abstrakten Ausgangspunkt, ohne ihn frei
lich radikal aufzugeben, auf ein konkreteres Niveau zu überführen. Dieses
Bestreben ist jedoch duich und durch illusorisch.
In solchen Illusionen kommt aber die latente, unbewußt gebliebene
Krise des Existentialismus klar zum Ausdruck. Denn die hier schüchtern
kritisierte fundamental-ontologische Genesis des Menschen bei Sartre ist
nichts weiter als eine geistige Robinsonade der dekadent nihilistischen
Mentalität. Wie am Anfang der Herausbildung der bürgerlichen Ideologie
der bürgerliche Roman in Defoes „Robinson” seine erste klassische Ge
stalt erhielt, wie die gedankliche Erfassung der kapitalistischen Produk
tionsweise, der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft bei Smith und
Ricardo aus den Austauschoperationen der einzelnen und vereinzelten
Urjäger und Urfischer abgeleitet wurde, so will jetzt der Existentialismus
den heutigen Menschen, seine Welt und seine Problematik, wie wir ge
sehen haben, aus der „ursprünglichen Hilflosigkeit“ des einsamen und
vereinsamten Menschen begreiflich machen. Marx zeigt nun für die Öko
nomie von Smith und Ricardo, daß dieses vereinzelte und einsame Indi
viduum ein Produkt der entstehenden kapitalistischen Gesellschaft ist:
„In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der einzelne los
gelöst von Naturbanden usw., die ihn in früheren Gesellschaftsepochen
zum Zubehör eines bestimmten begrenzten menschlichen Konglomerats
machten.“ Dieser Mensch, „das Produkt einerseits der Auflösung der
feudalen Gesellschaftsformen, andererseits der seit dem 16. Jahrhundert
neu entwickelten Produktivkräfte“, schwebe Smith und Ricardo vor.
Jedoch: „Nicht als ein historisches Resultat, sondern als Ausgangspunkt
der Geschichte.** Es wäre nicht schwer, zu zeigen, daß das „Vernunfts
wesen** der Ethik Kants auf philosophischer Ebene gleichfalls das Pro
dukt eines derartigen unhistorischen Abstrahierens, eines Projizierens des
gegenwärtigen Resultats an den Anfang, in den „Ursprung** ist.
Nach der Niederlage der 48er Revolution, nach der Auflösung der
Hegelschen Philosophie, die auf bürgerlichem Boden den Versuch unter
nahm, über diese antihistorische Schranke des bürgerlichen Denkens
hinauszukommen, setzt die Periode der Robinsonaden wieder ein. Aller
dings in einer subjekti vier ten und darum noch abstrakteren Form, öko
nomisch in der Grenznutzentheorie, philosophisch im Neukantianismus.
Für beide ist es kennzeichnend, daß sie alle objektiven Bestimmungen
der Klassiker verwerfen und aus der Analyse des Bewußtseins der robin
sonhaften Käufer und Verkäufer, beziehungsweise der ethischen Subjekte
alles abzuleiten versuchen. Während aber die klassischen Urfischer und
Urjäger wenigstens selbst ihre Fische gefangen, ihr Wild erjagt haben, tau-
Die Ethik der Zweideutigk eï, 93
ebenso das Abbild des Seelenlebens der dekadenten Intelligenz, wie Ro
binsons Tätigkeit ein Abbild der kapitalistischen Produktion war. Und
ebenso wie die ursprüngliche Robinsonade als Beweis für die Unableit
bar keit der kapitalistischen Produktionstätigkeit dienen soll, will die
Heidegger-Sartresche Ontologie dieses Seelenleben, diese Freiheit als
letztes, unableitbares Fundament des menschlichen Daseins konstitu
ieren.
Freilich versucht die Beauvoir diese Annäherung an die Wirklichkeit
auf existentialistische Weise. Es ist nicht die konkrete Freiheit, deren
Entstehungsgeschichte im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung der
Menschheit vor uns treten würde. Es handelt sich bei ihr nur um die
Genesis der Freiheit bei jedem einzelnen Individuum, vielleicht in einem
solchen Sinne, wie Sartre in seinem Hauptwerk vom Ausbau einer „exi
stentiellen Psychoanalyse“ spricht. Dazu kommt, daß diese Genesis nur
scheinbar eine wirkliche Genesis ist.
Die Beauvoir gibt eher den Kontrast der phänomenologischen Be
schreibung zweier Zustände : der freiheitslosen Kindheit und des Lebens
in Freiheit der Erwachsenen, als den wirklichen Übergang aus dem ersten
Zustand in den zweiten. Interessanter wird die Sache, wo sie diese phäno
menologische Beschreibung zu einem Analogisieren mit bestimmten Ge
sellschaftsproblemen benützt : „Das ist z. B. der Fall bei Sklaven, die
sich noch nicht zum Bewußtsein ihres Sklaventums erhoben haben. Das
selbe gilt für die Lage der Frauen in vielen orientalischen Ländern/'
Diese leben, nach Meinung der Beauvoir, in einem der Kindheit analogen
freiheitslosen Zustand.
Hier würde nun für die Beauvoir die Verpflichtung entstehen, die Über
gänge wenigstens zwischen unfreiem und freiem Bewußtsein aufzuzeigen,
um die Rolle des Freiheitsbegriffs des Existentialismus in der Mensch
heit sent wicklung klarzulegen. Sie unternimmt diesen Versuch aber nicht.
Verständlicher weise. Denn selbst wenn sie sich rein auf die Genesis des
Freiheitsbewußtseins beschränken würde, müßte es sich auch hier zeigen,
daß das gesellschaftliche Bewußtsein der Freiheit etwas ganz anderes ist
als das, was die existentialistische Philosophie unter Freiheit versteht.
Bei der leisesten Berührung mit der konkreten Wirklichkeit löst sich
dieser Freiheitsbegriff in bloßen Schein auf. Dagegen benutzt die Beau
voir das neugewonnene Bild von der Kindheitswelt, um bestimmte Ge
stalten der Typologie, die sie in ihren Aufsätzen gibt (auf die wie hier
nicht näher eingehen können), zu diffamieren, indem sie von ihnen be
hauptet, daß sie sich in die freiheitslose Kindheitswelt flüchten. Das wäre
an und für sich ein unschuldiges Vergnügen und bei der Beschreibung be
stimmter Philistertypen gewiß von einer bestimmten, wenn auch nicht
96 Die Robinsonade der Dekadenz
allzu originellen oder tiefen Wahrheit. Freilich auch hier nicht ohne
Schiefheit, wie stets, wo mit Hilfe von Bildern analogisiert wird. Publi
zistisch mag es wirksam sein, die Faschisten als Kannibalen, als Ver
treter des dunkelsten Mittelalters, zu bezeichnen; gesellschaftlich ver
schleiern diese Ausdrücke den monopolkapitalistischen Charakter der
faschistischen Barbarei. Ebenso steht es mit der Verwendung des Bildes
„Infantilismus“ für soziale Typen.
Was sind nun die Ergebnisse dieser - in Einzelausführungen oft scharf
sinnig geschriebenen - Aufsätze? Sie sind, wie vorauszusehen war, äußerst
mager und zwiespältig. Wer von diesen Aufsätzen auch nur eine metho
dologische Anleitung zur Lösung ethischer Fragen erwartet, muß schwer
enttäuscht werden. Denn wenn die Beauvoir verlangt, „daß solche Ent
schlüsse nicht übereilt und leichtsinnig gefaßt werden sollen“, wenn sie
mahnt, daß eine „ausführliche politische Analyse“ vorangehen muß,
„bevor wir das Moment der ethischen Wahl setzen können“, so sind das
im besten Fall gutgemeinte Banalitäten. Auch bringt es uns nicht weiter,
wenn die Beauvoir verlangt, „daß die Handlung in ihrer Wahrheit erlebt
werde, das heißt mit dem Bewußtsein über die Antinomien, die in ihr
enthalten sind“. Sie fügt zur letzten Bemerkung hinzu: „Das bedeutet
nicht, daß man auf sie verzichten soll.“ Aber bald darauf kommt sie doch
auf den Verzicht zu sprechen und drückt darin das Wesentlichste ihrer
Ausführungen aus: „Die Handlung kann sich nicht erfüllen durch Mittel,
die ihren Sinn selbst zerstören würden. So sehr, daß es in bestimmten
Situationen für die Menschen keinen anderen Weg gibt als das Sich-
Weigern. In dem, was man Realpolitik nennt, gibt es keinen Platz für
das Sich-Weigern, denn die Gegenwart wird hier als vorübergehend be
trachtet; es gibt das Sich-Weigern, wenn der Mensch von der Gegenwart
seine Existenz als absoluten Wert zurückfordert ; dann muß er alles ab
solut zurückstoßen, was diesen Wert leugnet.“
Hier ist endlich ein klarer Standpunkt dargelegt. Konsequent durch
geführt, würde diese Haltung nach allem, was die Beauvoir über das
„Ärgernis der Gewalt“ geäußert hat, etwa beim Tolstojismus, bei der
Antigewalt-Ideologie einiger deutscher Expressionisten usw. enden.
Allerdings will die Beauvoir in dieser Frage nicht alle Konsequenzen
ziehen und sich lieber im Fangnetz der Widersprüche ihrer Gewalt-Anti
nomien verwickelt sehen, als ein solches falsch erhabenes, in Wirklichkeit
feiges Beiseitestehen dezidiert zu wählen. Leider gibt sie ihren aus sub
jektiv ehrlichen Gründen entsprungenen Inkonsequenzen eine auf illu
sionärem Boden erwachsene Begründung. Sie beruft sich auf die franzö
sische Widerstandsbewegung: „Der Widerstand erstrebte nicht, wirksam
zu sein. Er war Negation, Revolte, Märtyrertum; und in dieser negativen
Die Ethik der Zweideutigkeit 97
Bewegung war die Freiheit positiv und absolut bewahrt.“ Das ist ein
Mythos. Wenn die Widerstandsbewegung Züge in die Luft gesprengt,
Gestapo-Agenten getötet, Gefangene befreit hat oder gar Partisanen-
kämpfe organisierte, so hat sie Aktionen mit sehr konkreten politischen
Zielen geführt und erstrebte selbstverständlich ihre maximale Wirksam
keit, sowohl in bezug auf die einzelnen Handlungen als auch auf ihren
Zusammenhang mit der Befreiung Frankreichs.
Natürlich waren damals die politischen Fronten einfacher gelagert als
nach der Befreiung, obwohl ihre völlige Einfachheit ebenfalls ein Mythos
ist. Es ist menschlich verständlich, daß sich manche Leute - nicht nur
Simone de Beauvoir - aus der verwickelteren und prosaischeren Proble
matik der Gegenwart, besonders wenn sie diese Problematik weder ge
danklich noch politisch meistern können, in diese - romantisch idealisierte-
Einfachheit und Poésie der Widerstandszeit zurücksehnen. Wird aber
diese Sehnsucht, wie hier, gedanklich verallgemeinert, so entstehen
Mythen, und wird die Sehnsucht gar ins Absolute erhoben, so entspringt
daraus geradezu Falsches, wie in dem bald auf diese Ausführungen folgen
den Ausspruch : „Nur die Revolte ist rein.“ Es steckt darin, was Beauvoir
im folgenden klar ausspricht, die Angst vor dem Sieg der Revolution, die
Angst, daß dieser Sieg eine „Entartung“ der ursprünglichen Prinzipien
reinheit des ursprünglichen romantischen Enthusiasmus nach sich ziehen
könnte. Der revolutionäre Humanismus, führt die Beauvoir weiter aus,
„hat eine Kirche geschaffen, wo das Heil durch den Eintritt in die Partei
erkauft wird, wie man es früher durch die Taufe und den Ablaß erkauft
hatte“. Hier zeigt sich der Existentialismus wieder in seiner originären
Gestalt als nihilistischer Anarchismus von Intellektuellen, die zwar den
imperialistischen Monopolkapitalismus verachten, vor der wirklichen
Revolution aber eine panische Angst empfinden ; nicht notwendigerweise
aus Feigheit, wohl aber aus Angst vor einer Gefährdung ihrer isoliert
erhabenen „Existenz“. Und diese Angst schlägt sofort in ärgste Phi
listerei und - in der politischen Konsequenz - in ordinären Antibolsche
wismus um.
Die Betrachtungen der Beauvoir sind insofern interessant, als sie einen
nicht un wesen tüchen Charakterzug dieses Typus enthüllen: die Angst
vor der Reife im persönlichen Leben und die Angst vor der Erfüllung in
der historisch-sozialen Welt. Beides hängt aufs engste zusammen, denn
in beiden Fällen löst ja die „Prosa“ der Objektivität die „Poesie“ des
jugendlichen Subjektivismus ab; die Prosa der echten Verwirklichung
im harten, zähen und doch stets weichenden Material der Wirklichkeit
löst die „Poesie“ der verworren imgeschiedenen Bestimmungen, die
„Poesie“ der noch ungeklärten nebelhaften Problematik ab. Hegel gibt
98 Die Robinsonade der Dekadenz
EXISTENTIALISTISCHE ETHIK
UND HISTORISCHE VERANTWORTUNG
Merleau Pontys Darlegungen zeigen alle diese Probleme auf einer ent
wickelteren Stufe. Vor allem: auf Merleau Ponty hat der Marxismus am
stärksten eingewirkt, er kennt ihn von allen Existentialisten am besten,
versucht am meisten, ihn auszunutzen. Das hat einerseits zur Folge, daß
er die Fragen zumeist auf einem höheren Niveau zu stellen vermag,
andererseits, daß der Abstand zwischen seinen, sich zur Objektivität und
Wirklichkeit bewegenden Gedankentendenzen, und zwischen seinen exi-
stentialistischen Voraussetzungen noch größer ist als der, den wir bei
Simone de Beauvoir beobachtet haben. Freilich bildet der Existentialis
mus unverändert die Grundlage seines Denkens. Aber gewisse kritische
Bedenken, die bei der Beauvoir schüchtern hervortraten, äußern sich bei
ihm weit deutlicher. Daß diese Diskrepanz zwischen neuem Inhalt und
alter Methode .bei ihm nicht wirklich offen zutage tritt, daß sie ihm selbst
nie völlig bewußt wird, hat seine Ursache im Trotzkismus, der in ihm
ständig lebendig ist. Wir werden sehen, wie diese Sympathie Merleau
Ponty jedesmal, wenn er sich dem wirklichen Verständnis des Marxismus
und den aus diesem Verständnis sich ergebenden Problemen und Folge
rungen nähert, wieder von diesen ablenkt. Der Trotzkismus vermittelt
objektiv zwischen den pseudomarxistischen Ketzereien Merleau Pontys
(Ketzereien vom Standpunkt des Existentialismus) und seiner trotz alle
dem bewahrten existentialistischen Orthodoxie und macht es möglich,
daß er diese Fragen eklektisch als gegenseitige „Ergänzung“ von Exi
stentialismus und Marxismus stellt. Sartre selbst springt, wie wir gesehen
haben, resolut, von Bedenken unbelastet, hin und her und ist sich der
Widersprüchlichkeit seiner denkerischen Positionen von allen führenden
Existentialisten am wenigsten bewußt.
Werfen wir vorerst einen Blick auf Merleau Pontys beginnende kri
tische Stellungnahme zum theoretischen Hauptwerk der Richtung, zu
„L*être et le néant“, wobei wir freilich im klaren darüber sind, daß er —
bewußt - den Existentialismus nur verbessern, ergänzen, solider fundieren,
nicht aber überwinden will. Er geht einmal von dem alten Dilemma
Determinismus und Freiheit aus und versucht, es existentialistisch zu
lösen. Er fügt hinzu : „Wir sagen nicht, daß diese Paradoxie des Bewußt
seins und der Handlung in tL*être et le néant' vollständig gelöst wäre.
Unseres Erachtens bleibt das Buch zu exklusiv antithetisch: die Anti
these meines Blickes auf mich selbst und des Blicks des anderen auf
mich, die Antithese von Für-sich und An-sich ergeben oft alternative
ΙΟΟ Die Robinsonade der Dekadenz
bewußt ist, gibt die ideologische Formel seiner Zeit; er übersetzt in Be
griffe diese Phase der Geschichte, in welcher Wesen und Existenz des
Menschen noch getrennt sind und der Mensch nicht er selbst ist, da er
in die Widersprüche des Kapitalismus versunken ist.“ (Von mir hervor
gehoben - G. L.)
Merleau Ponty ist sich sicher dessen nicht bewußt, daß er hier durch
seinen Versöhnungsversuch einen Bruch mit der ganzen Ontologie des
Existentialismus proklamiert. Denn diese muß notwendig - wenn sie als
Ontologie bestehen bleiben will —das Wesen des Menschen und die onto
logischen Wesenszeichen seines Daseins (Freiheit, Situation, Mit-Sein,
In-der-Welt-Sein, das Man usw.) überhistorisch, jenseits jeder konkreten
Gesellschaftlichkeit (Kapitalismus) fassen. Die besonderen ökonomischen
Kategorien einer Epoche können für diese Methode nur Akzidenzen sein,
die innerhalb dieses überzeitlichen ontologischen Zusammenhanges als
soziale, historische, individuelle usw. Variationen, Modifikationen des
gleichbleibenden zeitlosen Wesens auftauchen. Ich will dabei gar nicht
auf Husserl, Heidegger oder Sartre zurückgehen; erinnern wir uns nur
daran, daß Simone de Beauvoir das Wesen „des“ Menschen als überzeit
lich, als in dieser seiner Beschaffenheit von keiner Revolution veränder
bar aufgefaßt hat.
Die Philosophie des Marxismus, die in den ökonomischen Kategorien
„Daseinsformen, Existenzbestimmungen“ erblickt, sieht dagegen in dem
Menschen - freilich in einer historischen Kontinuität —ein sich ununter
brochen wandelndes Wesen. Der Mensch hat sich durch seine Arbeit
selbst geschaffen, das heißt, er ist durch die Arbeit aus einem Tier zum
Menschen geworden. Gelingt es einmal der Menschheit, ihre „Vor
geschichte“ abzuschließen, den Sozialismus und Kommunismus endgültig
und vollständig aufzubauen, so entsteht, um Lenins Ausdruck zu ge
brauchen, durch eine lange „Gewöhnung“ der Menschen an menschliche
Verhältnisse, an menschliche Beziehungen zueinander, durch ein prak
tisches in Vergessen-Geraten der unmenschlichen Beziehungen eine
durchgreifende Änderung des „Wesens“ des Menschen. Daß der sich
historisch schaffende und sich historisch wandelnde Mensch auch be
stimmte dauernde Beziehungen zur Welt und zu seinen Mitmenschen hat
(z. B. Arbeit, Sprache) und dadurch vermittelt bestimmte dauernde
Eigenschaften, bringt diese historisch-dialektische Objektivität des
Marxismus um keinen Schritt einer zeitlosen Ontologie der Subjektivität
näher.
Diese beiden Auffassungen können nicht miteinander versöhnt werden;
man muß zwischen ihnen wählen.Ebenso wie man zwischen dem existen-
tialistischen Begriff der Freiheit und der marxistischen historischen Dia-
102 Die Robinsonade der Dekadenz
lektik von Freiheit und Notwendigkeit zu wählen hat; man kann auch
hier nicht, wie Merleau Ponty es in einem früher angeführten Ausspruch
tat, zwischen ihnen eine Versöhnung statuieren.
Man kann diesen Betrachtungen vielleicht entgegenhalten, daß Mer
leau Ponty in den zitierten Ausführungen nicht den Existentialismus,
sondern den Marxismus, den er freilich entsprechend existentialistisch
subjektiviert hat, charakterisieren wollte. Er kommt aber in anderen
Zusammenhängen wieder auf dieses Problem zurück und äußert sich dar
über wie folgt: „Diese Philosophie (Merleau Ponty spricht hier von dem
Existentialismus - G. L.) ist der Ausdruck einer aus den Fugen geratenen
Welt, sagt man. Sicherlich, und das ist in der Tat die Wahrheit. Die ganze
Frage ist nur, zu wissen, ob sie uns zu Boden drückt oder heilt, indem
sie unsere Konflikte und Zerspaltungen ernst nimmt. Hegel spricht oft
von einer schlechten Identität, worunter er die abstrakte Identität ver
steht, die die Differenzen nicht integriert und deren Manifestationen
nicht überleben wird. Man könnte in analoger Weise von einem schlechten
Existentialismus sprechen, der sich auf die Beschreibung des Schocks der
Vernunft gegenüber den Widersprüchen der Erfahrung beschränkt und
sich in dem Bewußtsein eines Mißerfolgs erschöpft/* Merleau Ponty kon
kretisiert seinen Gedanken nicht weiter, charakterisiert vor allem den
„schlechten Existentialismus** nicht näher. Er deutet nur an, daß der
„schlechte Existentialismus** mit den nihilistischen Konsequenzen dieser
Lehre aufs engste zusammenhängt. Uns scheint, daß diese seine Be
schreibung vollinhaltlich auf >}L*être et le néant“ paßt, und Merleau Pontys
früher zitierte kritische Bedenken deuten an, daß auch ihm zuweilen
solche Gedanken aufdämmern. Ja, wir meinen, daß - wenn man die Me
thoden des Existentialismus konsequent zu Ende denkt —es gar keinen
„guten**, d. h. nicht nihilistischen Existentialismus geben kann.
Wie immer es auch um diese Stellung Merleau Pontys zum orthodoxen
Existentialismus stehen mag, sicher ist, daß er in der Behandlung der
von der Zeit zur Diskussion gestellten Probleme viel weiter kommt als
Simone de Beauvoir, von Sartre gar nicht zu reden. Er sagt sehr scharf
über Köstler, der die angelsächsischen Demokratien verteidigt, daß es
sich bei ihm „nicht um die Diskussion des Yogi mit dem Kommissar,
sondern um die Diskussion eines Kommissars mit dem anderen**, das
heißt um die Auseinandersetzung von Gewalt mit Gewalt handelt. Und an
einer anderen Stelle noch klarer, die meisten Argumentationen der Beau
voir einfach beiseiteschiebend : „Wir haben nicht die Wahl zwischen Rein
heit und Gewalt, sondern zwischen verschiedenen Arten der Gewalt.. .Wor
über es zu diskutieren gilt, ist nicht die Gewalt, sondern ihr Sinn und ihre
Zukunft.** Und ebenfalls —bewußt oder unbewußt gegen Beauvoir - sieht
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 103
rätselhaften Absichten und Wendungen. Das alles geht stark über die
Hegelschen Mystifikationen hinaus. Verständlicherweise. Denn die Hegel-
sehe Geschichte hatte einen objektiven Inhalt und eine objektive Rich
tung. Die „List der Vernunft“ war fast nur ein plastisches Bild, um die
richtige Erkenntnis, daß nicht die Zielsetzungen der einzelnen die Ge
schichte regieren, klarzulegen. Bei Merleau Ponty muß aber dieser Inhalt
und diese Richtung fehlen; denn selbst, wenn er als Privatmensch oder
als Politiker etwa den Sozialismus als einen solchen Inhalt oder als eine
solche Richtung betrachtet, kann dies von seinen existentialistischen Vor
aussetzungen aus nur seine private, subjektive Meinung sein und nicht
Inhalt und Richtung der Geschichte selbst. Darum muß bei ihm die Ge
schichte als kokette und betrügerische Frauensperson vor uns stehen, die
nur im letzten Moment, stets nur post festum, nachträglich ihre Absichten
enthüllt. Ist aber die bloße Tatsache des Erfolgs (hier der Sieg der
Alliierten) wirklich ein alles entscheidendes Kriterium? Waren die Wider
ständler weniger glorreich, die Kollaborateure weniger unwürdig, so
lange der Hitlerfaschismus vorübergehend gesiegt hatte?
Die ausschließliche Beurteilung nach dem Erfolg ist die Weltanschau
ung der reaktionären „Realpolitik“ , die ihren Höhepunkt im Faschismus
erreicht hat, und des kleinbürgerlichen Opportunismus, der sich ihr an
paßt. Goebbels spricht diese ausschließliche Orientiertheit auf Erfolg,
deren Konsequenz es ist, daß eine erkenntnismäßige Beurteilung erst
nachträglich, nach dem Erfolg ein treten kann, in seiner bekannten zyni
schen Weise offen aus: „Wir haben nicht die Absicht, unsere Welt
anschauung wissenschaftlich zu begründen, sondern ihre Lehren zu ver
wirklichen, und es sollte späteren Zeiten Vorbehalten bleiben, die Praxis
als Erkenntnisobjekt der Idee gelten zu lassen.“ Und er zieht daraus auch
die für den Faschismus notwendigen Konsequenzen: „Es ist nicht Sache
des Zeitgenossen, wissenschaftlich objektiv und nüchtern zu den Vor
gängen in der Politik Stellung zu nehmen ... seine Aufgabe besteht darin,
historische Realitäten mitzuschaffen ...“
Natürlich sympathisiert Merleau Ponty nicht mit Goebbels, im Gegen
teil, er will alles Faschistische leidenschaftlich ablehnen. Aber der histo
rische Agnostizismus, der aus den philosophischen Positionen des Exi
stentialismus notwendig folgt, muß ihn, sobald er die Beurteilung rein
nach dem ethischen Akt des vereinzelten Individuums verläßt, in die
geistige Nähe dieser zynischen Realpolitik treiben. Das von uns bereits
behandelte falsche Dilemma von Gesinnungsethik und Folgeethik (Real
politik) entstammt eben dem agnostizistischen Verhalten der Geschichte
gegenüber. Und wenn der Existentialismus die seiner orthodoxen Form
gemäße reine Gesinnungsethik verläßt, ohne an seinen wirklichen philo-
ιο6 Die Robinsonade der Dekadenz
wir eben bei ihm, ist zugleich zufällig und rationell. Einerseits-anderer-
seits, wie das stets bei einer eklektischen Methode der Fall ist. Für den
Marxismus handelt es sich hier um die objektive Dialektik von Zufall und
Notwendigkeit. Um aber zum Verständnis dieser - in der Geschichte real
waltenden - Dialektik zu gelangen, deren gedanklich ungeklärtes Erleb
nis bei Merleau Ponty zum Verlassen des orthodox existentialistischen
Standpunktes positiv aber nur zum Eklektizismus führt, ist die Einsicht
in seine Zusammenhänge notwendig. Erstens muß die schroff ausschlie-
/
ren gelangen könnte. Es ist vielleicht auch hier lehrreich - wenigstens die
abstrakten Ausführungen abkürzend -, auf dichterische Beispiele hinzu
weisen. Man denke an die oben angeführte Darstellung des Kampfes
zwischen Revolution und Konterrevolution bei Balzac, und man ver
gleiche sie mit allermodernsten dekadenten Erzeugnissen, sagen wir mit
der „Antigone“ von Anouilh. Im ersten Falle sehen wir die konkreten
historischen Umstände mit ihren konkreten, sozial und individuell ver
schiedenen und doch gesetzmäßigen Spiegelungen in den Anschauungen
der gestalteten Menschen, die lebendige dialektische Wechselwirkung zwi
schen Anschauung und Gesamtpersönlichkeit und Tat. Im zweiten Falle
eine fundamental-ontologische Analyse in dramatischer Form. Indem
dabei notwendigerweise alle inhaltlich historischen Bestimmungen der
menschlichen Seele entfallen (durch „phänomenologische Reduktion“
bewußt entfernt werden), müssen die Gestalten dichterisch zu Marionet
ten, psychologisch-moralisch zu Narren und Monomanen werden. Denn,
wie Merleau Ponty richtig bemerkt hat, ohne eine Rationalität der Ge
schichte können die in ihr handelnden Menschen nur Narren sein. Diese
Rationalität darf aber nicht nur als ein abstraktes (und eventuell un
erreichbares) An-sich der Geschichte existieren, sondern es muß auch
aufzeigbar sein, wie dieses An-sich in den handelnden Menschen zu einem
(mehr oder weniger, wahr oder falsch) begriffenen Für-uns wird, wie das
Verwachsen mit dem objektiven Ablauf der Geschichte in den Menschen
der zur Durchsetzung des historischen An-sich berufenen Klasse aus
diesem An-sich ein Für-sich macht.
Erst die dialektische Wechselwirkung zwischen dem konkreten gesell
schaftlichen Sein, das das Bewußtsein der Menschen bestimmt, und zwi
schen der Widerspiegelung dieser objektiven Wirklichkeit in ihrem Be
wußtsein ergibt hier eine wirkliche Erklärung. Erst wenn wir im klaren
darüber sind, daß alle Anschauungen der historisch Handelnden Wider
spiegelungen derselben objektiven Wirklichkeit sind, erst wenn wir weiter
einsehen, daß Art, Quantität, Umfang usw. der Widerspiegelung selbst,
weiter ihre gedankliche, gefühlsmäßige, willensmäßige usw. Bearbeitung
in den Subjekten durch dieselbe Wechselwirkung mit dem gesellschaft
lichen Sein bestimmt sind, haben wir einen methodologischen Zugang zu
diesen Zusammenhängen.
Merleau Ponty stellt mit Recht die Forderung, daß das Aufdecken
dieser Zusammenhänge bis zum Individuum hinunterreiche. Gerade dies
aber leistet der Marxismus, und nur der Marxismus. Die allgemeine
Theorie des gesellschaftlichen Bewußtseins kann sich natürlich nur auf
den typischen Durchschnitt richten. Jedoch der Marxismus ist keine
„Soziologie“, die diese Bestimmung als eine fatalistische Determination
ÏIO Die Robinsonade der Dekadenz
oder - wie dies bei den Modernen zu sein pflegt - als eine abstrakte, nur
registrierende Typologie auffassen würde. Er gibt im Gegenteil die be
wegliche Struktur dieser Zusammenhänge, den realen gesellschaftlich
geschichtlichen Spielraum, in dessen Grenzen die individuelle Bewußt
seinsentwicklung individuell vor sich gehen und sich gleichzeitig dieser
Typik einordnen kann. Ich führe die bekannte Stelle aus der „Deutschen
Ideologie“ an, wo Marx die Lage des Individuums in der kapitalistischen
Gesellschaft ökonomisch-historisch beschreibt und damit die Gesetz
mäßigkeiten dieses realen sozialen Spielraums für das Individuum auf
zeigt: „Die Individuen gingen immer von sich aus, natürlich aber von
sich innerhalb ihrer gegebenen historischen Bedingungen und Verhält
nisse, nicht vom ,reinen‘ Individuum im Sinne der Ideologen. Aber im
Lauf der historischen Entwicklung, und gerade durch die innerhalb der
Teilung der Arbeit unvermeidliche Verselbständigung der gesellschaft
lichen Verhältnisse, tritt ein Unterschied zutage zwischen dem Leben
jedes Individuums, soweit es persönlich ist, und insofern es unter irgend
einen Zweig der Arbeit und die dazu gehörigen Bedingungen subsumiert
ist. (Dies ist nicht so zu verstehen, als ob z. B. der Rentier, der Kapita
list usw. aufhörten, Personen zu sein; sondern ihre Persönlichkeit ist
durch ganz bestimmte Klassenverhältnisse bedingt und bestimmt, und
der Unterschied tritt erst im Gegensatz zu einer anderen Klasse und für
sie selbst erst dann hervor, wenn sie bankrott macht.) Im Stand (mehr
noch im Stamm) ist dies noch verdeckt, so bleibt z. B. ein Adeliger stets
ein Adeliger, ein Roturier stets ein Roturier, abgesehen von seinen sonsti
gen Verhältnissen eine von seiner Individualität unzertrennliche Quali
tät. Der Unterschied zwischen persönlichem Individuum und Klassen
individuum, die Zufälligkeit der Le bensbedingungen für das Individuum
tritt erst mit dem Auftreten der Klasse ein, die selbst ein Produkt der
Bourgeoisie ist. Die Konkurrenz und der Kampf der Individuen unter
einander erzeugt und entwickelt erst diese Zufälligkeit als solche, ln der
Vorstellung sind daher die Individuen unter der Bourgeoisieherrschaft
freier als früher, weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufällig sind. In der
Wirklichkeit sind sie natürlich unfreier, weil mehr unter sachliche Ge
walt subsum iert/4
Es ist für die bürgerliche, agnostizistische philosophische Einstellung
schwer zu begreifen, daß gerade die Widerspiegelung der objektiven
Wirklichkeit im menschlichen Bewußtsein die nicht fatalistische Ent
wicklung der Individuen zu ihrer Klassenlage vermittelt. Schon in den
primitivsten Fällen wirkt gerade - freilich nur bei bestimmt veranlagten
Individuen - die Kenntnisnahme der Tatsachen der objektiven Wirklich
keit jenen Bestimmungen entgegen, die vom gesellschaftlichen Sein aus
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung III
jener ähnlich, die wir soeben in bezug auf die „Situation** untersucht
haben. Es fragt sich, ob der Wahrscheinlichkeitscharakter unserer Er
kenntnisse über die geschichtliche Wirklichkeit, über die Gegenwart und
die in ihr wirksamen, in die Zukunft weisenden Tendenzen die einzig
mögliche Art einer Annäherung an die Erkenntnis der objektiven Wirk
lichkeit ist, die deshalb unbeschadet der Unaufhebbarkeit des Relativi
tät smoments an ihr —so weit sie innerhalb dieser Grenzen die objektive
Wirklichkeit richtig widerspiegelt —zugleich auch eine absolute Erkennt
nis ist? Oder folgt aus diesem Moment der Relativität ein Relativismus
in unserer ganzen Erkenntnis der Wirklichkeit, vor allem der historischen?
Es ist wieder klar, daß der orthodoxe Existentialismus unbedingt die
zweite Frage bejahen wird. Bei Sartre - ich zitiere absichtlich aus seiner
späteren Broschüre, weil er sich in ihr, wie wir gesehen haben, einige
Schritte vom Nihilismus seines Hauptwerks zu entfernen scheint —ge
schieht der Entschluß rein ins Nichts hinaus, bei Ablehnung einer jeden
Perspektive im objektiven Sinne: „Morgen, nach meinem Tode, können
sich die Menschen entschließen, den Faschismus einzuführen... Von
diesem Augenblick an wird der Faschismus die menschliche Wahrheit
sein ; um so schlimmer für uns. In Wirklichkeit, die Dinge werden so, wie
der Mensch sich entscheiden wird, daß sie sein sollen/* Und an einer an
deren Stelle desselben Buches lehnt er - wie auch Simone de Beauvoir -
den Fortschritt ab: „Der Fortschritt ist eine Verbesserung; der Mensch
ist immer derselbe, angesichts einer Situation, die wechselt, und die Wahl
bleibt immer eine Wahl in einer Situation.** Solche Zitate könnte man in
unbeschränkter Zahl anführen, aber der Gegensatz tritt hier, scheint uns,
bereits hinreichend klar zutage.
Freilich geht Merleau Ponty in letzter Zeit weiter als Sartre :, ,Die Ge
schichte bietet uns Linien in den Tatsachen, die es in die Richtung der
Zukunft zu verlängern gilt, aber sie eröffnet uns nicht mit einer geo
metrischen Evidenz die Linie der privilegisierten Tatsachen, die die Ge
schichte der Gegenwart endgültig umreißen wird, wenn sie sich einmal
erfüllt haben wird. Vor allem, wenigstens in bestimmten Augenblicken,
ist in den Tatsachen nichts fixiert, und es ist gerade unser Abseitsstehen
und unser Eingreifen, das die Geschichte erwartet, um eine Form zu er
halten. Das will nicht besagen, daß wir was immer tun können ; es gibt
Grade der Wahrscheinlichkeit, die nicht wertlos sind.** Die Entfernung
von Sartre ist offensichtlich. Die letzten Sätze zeigen eine deutliche Nei
gung, sich der Objektivität der Geschichte zu nähern. Und wenn wir hier
wieder fragen: Woher weiß Merleau Ponty das? Woher nimmt er den
Maßstab zur Beurteilung des Grades der Wahrscheinlichkeit? (wir fragen
den existentialistischen Philosophen Merleau Ponty und nicht den Privat-
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 117
noch weit entfernt von der Vollendung ihrer Analyse ... Dieses Wahr
scheinliche ist für uns das Wirkliche, man kann es nicht entwerten, in
dem man an eine Chimäre der Apodiktizität appelliert, die in der mensch
lichen Erfahrung nirgends fundiert ist.“
Wir sehen also wieder das alte falsche Dilemma von starrer Apodikti
zität und Relativismus. Merleau Ponty identifiziert hier das Annähernde
der Erkenntnis mit ihrer bloßen Wahrscheinlichkeit, das heißt bei ihm,
mit ihrer Relativität; hier aber mit der deutlichen Absicht, die „Linien
der Voraussicht“ von Stalin und Trotzki relativistisch auf einen Nenner
zu bringen. Wenn Merleau Ponty an anderen Stellen vom Versagen der
Perspektive usw. bei Trotzki spricht, wenn er es gelegentlich als Fak
tizität anerkennt, daß die Linie Stalins sich als richtig erwiesen hat, so
ist dies hier noch viel mehr als im früheren Beispiel von der „Situation
1940“ eine Laune der boshaften Göttin Geschichte, nicht der Sieg der
richtigeren Annäherung an die objektive Wirklichkeit der Geschichte
über die unrichtige und falsche. Und diese Atmosphäre der tragischen
Verklärung wird noch gesteigert durch die Zukunftsperspektive, die Mer
leau Ponty gibt: „Wie die Kirche wird einmal vielleicht die Partei jene
ehren, die sie verdammt hat, wenn eine neue Phase der Geschichte den
Sinn ihres Verhaltens ändern wird.“
Es soll natürlich nicht geleugnet werden, daß Merleau Ponty einige der
gröbsten Dummheiten Trotzkis ablehnt, daß z. B. der zweite Weltkrieg
der letzte Probierstein des Marxismus sei ; führt dieser nicht zum Sozialis
mus, so erweist sich der Marxismus als Utopie ; daß er einsieht, „das poli
tische Leben wäre für ihn unmöglich geworden“. Trotzdem bleibt sein
Denken in vielen entscheidenden Punkten vom Trotzkismus stark beein
flußt. Schon daß er eine Reihe der blödesten Verleumdungen über die
Sowjetunion nachplappert, deren Sammlung und Verbreitung nur eines
Köstler würdig ist, zeigt dies. Wir beschränken uns hier, wo die theore
tischen Fragen im Vordergrund stehen, nur auf ein Beispiel: er führt
Stalins Kampf gegen die Gleichmacherei in der Lohnfrage unter den Tat
sachen an, die beweisen sollen, der Bolschewismus hätte sich von der
klassischen Theorie des Marxismus entfernt, er befinde sich theoretisch
im Niedergang, nähere sich dem Pragmatismus usw. usw. Dabei wäre
keine eingehende Quellenforschung nötig, um zu wissen, daß die Diffe
renzierung der Löhne von Marx schon im Jahre 1875 in der „Kritik des
Gothaer Programms“ als eine der ökonomischen Grundtendenzen der
ersten Phase des Sozialismus theoretisch begründet wurde.
Es kommt hier nicht auf Details an, denn wichtig ist die theoretische
Einwirkung des Trotzkismus auf Merleau Ponty. Alle konkreten Aus
lassungen Trotzkis faulen längst auf dem Misthaufen der Geschichte, eine
Existentialistische Ethik und historische Verantwortung 119
seiner Einwirkungen ist aber heute noch vorläufig lebendig : das Ablenken
von den konkreten Zentralfragen der Gegenwart und im Zusammenhang
damit ein Maskieren des theoretischen und praktischen Nihilismus mit
revolutionären Phrasen. Trotzkis Absicht war ursprünglich vielleicht
nicht, prinzipiell von diesen Fragen abzulenken; er hat sie „nur"
grundfalsch beantwortet, indem er zwischen Arbeiter- und Baueminter-
essen eine unüberbrückbare Gegensätzlichkeit statuierte. Da aber daraus
das Leugnen der Möglichkeit, den Sozialismus in einem Lande aufzu
bauen, erwuchs, da dieses Leugnen zum Banner der Konterrevolution
wurde, zu ihrem Versuch, die Arbeiter und die rebellisch veranlagte In
telligenz in einen Gegensatz zur Sowjetunion zu bringen, ist diese Ab
lenkungstendenz in breiten linken Kreisen zu einer Zentralfrage ge
worden. Je mehr die ökonomische, politische und kulturelle Entwicklung
den Sozialismus als Perspektive in den Mittelpunkt des Interesses rückt,
desto mehr wird die Stellungnahme zur Sowjetunion ein Probierstein
nicht nur für alle politischen, sondern auch für alle weltanschaulichen
Fragen. Denn nicht nur politisch muß eine Perspektivenfrage konkret ge
stellt werden, sondern auch weltanschaulich. Nur eine konkrete Perspek
tive der Zukunft ist imstande, den weltanschaulichen Nihilismus theo
retisch zu überwinden. Und eine andere Perspektive als den Sozialismus
gibt es nicht.
Wenn wir nun sagen, daß Menschen von heute, die das Bedürfnis nach
theoretischer Reinlichkeit haben, zwischen der Perspektive des Sozialis
mus und dem philosophischen Nihilismus zu wählen haben, so bedarf dies
einer wenigstens skizzenhaften Begründung. Solange die Philosophie ein
theoretisches Vorspiel zur Französischen Revolution, eine ideologische
Vorbereitung des erhofften „Reiches der Vernunft" war, mußte die Philo
sophie, um eine Perspektive geben zu können und nicht nihilistisch zu
sein, keineswegs direkt an die Geschichte appellieren. Die Wirklichkeit,
die der Philosophie zugrunde lag, war der Kampf der entstehenden bür
gerlichen Gesellschaft mit dem überlebten Feudalismus, philosophisch
ausgedrückt : der Vernunft mit Unvernunft und Chaos. Zweitens konnte
die Philosophie dabei - gleichviel, ob erkenntnistheoretisch, ontologisch
oder psychologisch - vom isolierten Individuum ausgehen, konnte be
liebige philosophische Robinsonaden schaffen, sie verlor dabei doch nicht
ihre Gesellschaftlichkeit, ihre implizite Fortschrittlichkeit und damit ihre
Perspektive. Denn für die fortgeschrittensten Denker vor der Franzö
sischen Revolution bestand die welthistorisch berechtigte Illusion, daß
aus dem individuellen Handeln der einzelnen, egoistischen Menschen der
bürgerlichen Gesellschaft spontan und gesetzmäßig eine vernünftige und
harmonische Gesellschaft entstehen könne, ja müsse. Ein wenig paradox
120 Die Robinsonade der Dekadenz
Seins" in die Ontologie Heideggers ist ein Zeichen dieser nicht bewußt
gewordenen Einwirkung. Die von uns geschilderte Krise des französischen
Existentialismus spiegelt diese Spannung zwischen den vom gesellschaft
lichen Leben aufgedrängten Problemen und der ideologischen Remanenz
ihrer philosophischen Methodik deutlich wider. Diese Remanenz haben
wir gerade bei Merleau Ponty studieren können, der unter den Existen-·
tialisten die feinste Empfindlichkeit für die neuen Probleme zeigt, bei
allen seinen Versuchen, die soziale Wirklichkeit der Gegenwart zu er
fassen.
Es kommt hier noch darauf an, den Zusammenhang dieser existentia-
listischen Remanenz mit der Remanenz der trotzkistischen Anschauun
gen und Stimmungen aufzuzeigen. Dazu ist aber ein weiterer kleiner
historischer Exkurs nötig : Merleau Ponty wäre nämlich vielleicht geneigt,
sich mit dem, was er „klassischen Marxismus" nennt, auszusöhnen; er
erhebt vor allem Einwände gegen die heutige Form des Marxismus, gegen
den Marxismus-Leninismus, der von den kommunistischen Parteien ver
treten wird. Merleau Ponty hat dabei vom Trotzkismus (trotz seiner Ab
lehnung vieler konkreter Anschauungen Trotzkis und seiner Anhänger)
zwei miteinander eng zusammenhängende Einstellungen übernommen
und aufbewahrt: erstens ein Mißtrauen gegen den Sozialismus in der
Sowjetunion, zweitens eine Ablehnung jener Politik der kommunistischen
Parteien, die diese seit dem VII.Weltkongreß der Kommunistischen
Internationale (1935) verfolgen. Über die erste Frage haben wir schon ge
sprochen und als Beispiel Merleau Pontys Verständnislosigkeit für die
Abstufung der Löhne in der Sowjetunion angeführt. Wir ergänzen dies
hier nur mit einem Ausspruch Merleau Pontys: „Wenn morgen die So
wjetunion Europa zu erobern und in allen Ländern ein Regime nach ihrer
Wahl einzuführen drohte ... Das ist nicht die Frage von heute." Merleau
Ponty lehnt also die Auffassung der Konterrevolution von Hitler und
Rosenberg bis Trotzki, daß die Sowjetunion ein imperialistisch-aggres
siver Staat sei, nicht prinzipiell ab, sondern betrachtet die „sowjetistische
Aggression" nur als etwas, das heute nicht aktuell sei. Er grenzt sich also
nur taktisch und nicht prinzipiell von der antisowjetischen Konterrevo
lution ab.
Für die zweite Tatsache ist bezeichnend, daß Merleau Ponty in allen
seinen Ausführungen nie - auch nicht mit der leisesten Andeutung - auf
den Kampf um die neue Demokratie in Frankreich und in der übrigen
Welt eingeht, auf jenen Kampf, der für unsere Gegenwart das Schicksal
der Entwicklung, auch das Schicksal der Perspektive des Sozialismus
entscheidet. Es scheint, daß er gerade hier die Grundlage der angeblich
theoriefeindlichen Entwicklung der letzten Phase des Marxismus, der
122 Die Robinsonade der Dekadenz
Gegenwartsfrage, erklärt hat: „Hier ist das Stehen über den Parteien
niedrig, und die Parteilichkeit ist gerecht.“ Zweitens fällt diese Stellung
nahme Merleau Pontys mit der verworrensten und rückständigsten For
mulierung seiner Geschichtsauffassung - wohl nicht zufällig-zusammen:
„Wenn die Geschichte irrationell ist, enthält sie Phasen, in welchen die
Intellektuellen untragbar sind und die Klarheit verboten wird.“ Bei der
subjektivistischen Grundlage von Merleau Pontys Geschichtskonzeption
ändert eben die Geschichte ihre Struktur, je nachdem was für ein sub
jektives Verhalten ihr gegenübersteht. Existentialistisch-ontologisch folgt
also nicht aus der Irrationalität der Geschichte die Gefährdung der Ge
dankenfreiheit der Intellektuellen, sondern die Geschichte wird sogleich
irrationell (früher war sie nur ein eklektisches Nebeneinander von ratio
nal und zufällig), wenn dies zur pathetischen Verteidigung des „au-des-
sus-de-la-melée“ notwendig scheint.
Aber von· welchen Intellektuellen ist die Rede und von welcher Klar
heit? Romain Rolland ist vom ,,au-dessus-de-la-melée“ bis zur aktiven
Verteidigung des konkreten Fortschritts der Menschheit emporgestiegen.
Der Sozialrevolutionär Sawinkow-Ropschin ist aus nihilistischen Stim
mungen der irrationellen Welt und der revolutionären Phrase zu einem
gegenrevolutionären Bandenführer geworden, Köstler aus einer ähnlichen
Haltung zum belletristischen Propagandisten des Churchillschen Im
perialismus, Malraux wiederum wurde durch sein freilich unver
gleichlich begabteres und echteres, aber ebenso nihilistisches, von re
volutionären Phrasen erfülltes literarisches Schaffen zum Adjutanten
de Gaulles.
Ich habe das - relativ - berechtigte Moment am Existentialismus, daß
es für den Menschen eine Wahl gibt, daß man sich in einer Situation zu
entscheiden hat, nie bestritten. Der Existentialismus befindet sich -histo-
rich - in einer „Situation“. Die Entscheidung ist - bei solchen Ideologen
wie Merleau Ponty - nicht nur eine moralische und politische Frage,
sondern im engsten Zusammenhang mit ihnen eine philosophische. Aber
zur Entscheidung, vor allem zu der, die eigene Stellungnahme in allen
ihren Konsequenzen rücksichtslos und folgerichtig zu Ende zu denken,
gehört nicht wenig Mut. Simone de Beauvoir spricht —sicher unbewußt —
die Lage der ehrlichen Existentialisten richtig aus, wenn sie die „Situa
tion“ der heutigen Menschen überhaupt charakterisieren will: „Sie haben
Angst vor ihrer Freiheit.“ Diese Angst ist in den Positionen, die heute
Simone de Beauvoir und Merleau Ponty bezogen haben, deutlich fühlbar.
Sie haben heute noch die Freiheit, aber auch die historische Verantwort
lichkeit der Entscheidung; es hängt von ihnen ab, ob sie den Weg Ro
main Rollands oder den von Malraux zu gehen sich entschließen.
126 Die Robinsonade der Dekadenz
Aber die Dinge haben ihre Logik, und eine Logik hat demzufolge auch
die Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit in unserem Bewußtsein.
Die existentialistische Position ist ihrem Wesen nach so tief mit dem
Nihilismus verbunden, daß ein Festhalten an ihr - ob man will oder
nicht - in die Richtung des Malrauxschen Weges treibt, während die
Romain Rollandsche Orientierung früher oder später zu einem Bruch mit
den existentialistischen Voraussetzungen führen muß. Wie immer sich
auch die subjektiv ehrlichen Existentialisten entscheiden mögen, wie aus
schlaggebend dieser Entschluß auch für ihr Schicksal als Menschen und
Denker sein wird, das Schicksal des Existentialismus als Richtung hat
die Geschichte dem Wesen nach bereits entschieden.
D IE ERKENNTNISTHEORIE LENINS
UND D IE PROBLEME DER MODERNEN PHILOSOPHIE
D IE WELTGESCHICHTLICHE AKTUALITÄT
DES PHILOSOPHISCHEN MATERIALISMUS
sucht den Inhalt, die Formen und Akte des Bewußtseins und verfällt der
Illusion, das Gebiet des Bewußtseins verlassen zu haben, wenn sie diese
Untersuchung nicht vom psychologischen Standpunkt aus durchführt.
Die weltgeschichtliche Aktualität des philosophischen Materialismus 133
Da auch diese Richtung den Inhalt und die Form des Bewußtseins nicht
als Widerspiegelung des objektiven Seins anerkennt, ist sie natürlicher
weise unumgänglich gezwungen, nach dem Mythos zu greifen, nach dem
Mythos der angeblich selbständigen Existenz der Bewußtseinskategorien
ohne Bewußtsein.
Husserl steht am Anfang seiner Entwicklung noch dem Machismus
nahe. „Die Frage der Existenz und der Natur der »Außenwelt' ist eine
metaphysische Frage", sagt er und verwirft in diesem Sinne die Erkennt
nistheorie als Theorie, als Wissenschaft schon von vornherein. Noch deut
licher drückt sich diese Tendenz zu einem philosophischen „dritten Weg"
in der positiven Formulierung der Position Husserls aus. Wenn er das
Hauptgewicht darauf legt, daß Denken stets das Denken von etwas, das
Denken eines Gegenstandes ist, so will er damit auf dem Niveau der
reinen Denklehre ebenso ein neutrales Gebiet zwischen philosophischem
Idealismus und Materialismus schaffen, wie es vor ihm Mach und Ave-
narius auf dem Gebiet der Perzeption mit ihren „Elementen" getan haben.
Die Gegenständlichkeit erscheint auf diese Weise zugleich und unzer
trennlich als Bestandteil des subjektiven Denkprozesses einerseits (wenn
man seinen Inhalt und Sinn und nicht nur seine rein subjektiven Seiten
betrachtet) und als abstrakter Wesenszusammenhang, als Wesensstruk
tur der objektiven Welt andererseits. Dabei drückt sich die erkenntnis
theoretische „Neutralität" zwischen philosophischem Idealismus und
Materialismus darin aus, daß die Wirklichkeit des Gegenstandes „in
Klammem gesetzt" wird, d. h. es bleibt bei der Untersuchung von Ge
halt, Struktur usw. der Gegenständlichkeit dahingestellt, ob und wie der
untersuchte Gegenstand wirklich existiert. Damit ist aber die erkenntnis
theoretische Fragestellung nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Sobald
die „Klammern" aufgelöst werden, müßte diese Frage ernsthaft auf
geworfen werden. Das geschieht jedoch weder bei Husserl noch bei seinen
Schülern. Im Laufe der späteren Entwicklung wird die Sehnsucht nach
der Objektivität, etwa bei Husserl und vor allem bei seinen Anhängern,
immer heftiger, und zur Befriedigung dieser Sehnsucht wird die Wissen
schaft der Ontologie geschaffen, in der die Methode des „dritten Weges"
in den modernsten Formen zum Ausdruck kommt. Dem Wesen nach unter
sucht die Ontologie ebenso die Tatsachen, Formen und Akte des Bewußt
seins wie seinerzeit die Husserlsche Phänomenologie, aber sie verkündet
dogmatisch, selbst ohne den leisesten Versuch eines ernstlichen erkenntnis
theoretischen Beweises, daß die so gefundenen „Gegenstände" objektiv
existierten, ja, daß sie sogar die Grundkategorien des Wesens des objektiv
Existierenden seien. Die moderne Ontologie benützt so - im geheimen,
ohne es einzugestehen —die Widerspiegelungstheorie des Materialismus ;
I 34 Die Erkenntnistheorie Lenins
Alle diese Fragen haben uns bereits zur Dialektik geführt. Es wäre der
größte Fehler, anzunehmen, daß Lenin durch die Unterstreichung des
Materialismus die Dialektik vernachlässigt habe. Im Gegenteil, gerade
bei ihm finden wir - das erstemal seit Marx und Engels - die fruchtbare
Neuaufnahme und Weiterentwicklung der dialektischen Probleme. Die
Frage der erkenntnistheoretischen Priorität des Materialismus bekommt
hier einen neuen Akzent: der Materialismus ist die Zentralfrage der
heutigen philosophischen Lage, aber eben deshalb, weil heute die dialek
tische Methode nur noch allein auf der Grundlage der materialistischen
Weltanschauung zur Geltung kommen kann. Die oben skizzierte Krise
des Idealismus macht es unmöglich, daß die heutige Zeit - wenn auch nur
in kleinerem Maßstab —einen Proklos oder Cusanus, einen Vico oder
Hegel hervorbringt.
Doch die für die Menschheit so schicksalsschwere Zuspitzung des Le-
bens, des Fortschritts der Wissenschaften, der gesellschaftlichen Pro
bleme kümmert sich wenig darum, ob die Denker einer Periode dialek
tisch denken oder nicht. Das Leben selbst, die Gesellschaft, die Natur
sind dialektisch und zeigen dies um so mehr, je tiefer unsere Erkenntnis
in sie eindringt, je höher die Stufe der Entwicklung ist, die sie erreichen.
Die Wissenschaft - und vor allem die Philosophie - gelangt auf diese
Weise in folgende Lage : die Fragen, die zu lösen sie gezwungen ist, denen
sie auf keine Weise ausweichen kann, sind immer ausgesprochener dialek
tischer Natur. Aber die Wissenschaft - und hauptsächlichst die Philo
sophie - ist nicht imstande, auf die dialektischen Fragen dialektische Ant
worten zu geben ; die wirkliche, die nicht selten entscheidende Frage er
hält eine falsche, verzerrte, in die Irre führende Antwort; die wirkliche
Frage, die die Möglichkeiten einer kolossalen, sprunghaften Entwicklung
in sich birgt, wird in ihrer Beantwortung zur Stütze des Konservativis
mus, der Reaktion.
Diese Situation der modernen Philosophie, die von grundlegender Be
deutung ist, hat Lenin auf geniale Weise erkannt. Und zwar nicht nur,
was für ihn auf der Hand lag, in dem Reaktionär-Werden der geschicht
lichen und gesellschaftlichen Wissenschaften, nicht nur, wie wir oben
sahen, in dem In-die-Sackgasse-Geraten der idealistischen Philosophie,
sondern auch - die ganze spätere Entwicklung der modernen Wissen
schaften gedanklich vorwegnehmend - in der Krise der modernen Physik.
Es ist bekannt, daß jene grundlegende Umgestaltung der Physik im
ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts seinen Anfang nahm und wir ihre
138 Die Erkenntnistheorie Lenins
■■■■
Resultate erst in der letzten Zeit zu übersehen beginnen. Lenin sah sofort
das philosophische Wesen der Frage, und damit gelang es ihm, auf die in
folge der Entwicklung der Naturwissenschaften objektiv aufgeworfene
dialektische Frage die dialektische Antwort zu geben. Wie Stalin hervor
hebt, hat Lenin auch hier jene Konsequenz aus dem dialektischen Mate
rialismus gezogen, daß jeder große Schritt, den die Entwicklung der
Naturwissenschaft vorwärts macht, auf die Bestimmung der Dialektik
umformend wirkt. Und es ist ebenfalls bekannt, daß diese Krise sich in
erster Linie darin äußerte, daß Auffassungen über die Beschaffenheit, die
Struktur, die Gesetze der Materie, die durch Jahrzehnte, ja oft Jahr
hunderte hindurch für unerschütterliche Wahrheiten gehalten wurden,
„plötzlich“ ins Schwanken kamen, in Zweifel gezogen wurden. Die klas
sische Dualität von Materie und Energie, Materie und Bewegung wurde
„plötzlich“ unbestimmt; es wurden neue einheitlichere physikalische Be
griffe notwendig, um den neu entdeckten Erscheinungen einen adäquaten
gedanklichen Ausdruck zu geben. Der überwiegende Teil der philosophie
renden Physiker und der die Naturwissenschaften auslegenden Philo
sophen schreckten jedoch vor den sich vor ihnen auftürmenden Fragen
—die ohne Dialektik nicht zu lösen waren —zurück. Sie bliesen Rückzug,
retteten sich in den reaktionären Idealismus, und das taten auch viele
Naturwissenschaftler, die in ihrer eigenen wissenschaftlichen Praxis bis
zu Ende Materialisten blieben.
Diese gedankliche Krise äußerte sich teils als die Krise der physikali
schen Begriffsbildung, teils (besonders in der philosophischen Erklärung
von physikalischen Erscheinungen) als Krise des Materialismus. „Die
Materie ist verschwunden“, verkündete man als Folge der Umgestaltung
der Physik —und mit dem Verschwinden der Materie verlor natürlich
auch die materialistische Weltanschauung ihre Geltung. Es ist bekannt,
daß diese Krise der Philosophie auch tief in die Reihen der Marxisten
eingedrungen ist; im Rahmen der II. Internationale wurde allerorts der
Materialismus erschüttert, allerorts wucherte der philosophische Revisio
nismus auf, die Nachfolge von Kant, Mach usw.
In dieser Krise bewies Lenin besonders eindringlich die Fruchtbarkeit
und Wirksamkeit des Begriffes des Materialismus. Lenin sah klar, daß
das, was in der Physik geschieht, nichts mit den philosophischen Grund
lagen des Materialismus zu tun hat. Wenn freilich, wie wir sahen, die
Physik die Struktur der Materie auf neuer Grundlage formuliert, so muß
hieraus auch die materialistische Philosophie lernen. Aber was immer
auch der konkrete Inhalt der physikalischen Entdeckungen, der in ihrer
Spur entstandenen neuen Hypothesen, neuen Gesetze sein mag, es ändert
durchaus nichts an der erkenntnistheoretischen, philosophisch einzig ent-
Materialismus und Dialektik J39
scheidenden Frage. Lenin schreibt : „Um die Frage von dem einzig rich
tigen, d. h. dialektisch materialistischen Gesichtspunkt aus zu stellen,
müssen wir fragen: existieren die Elektronen, der Äther und so weiter
unabhängig vom menschlichen Bewußtsein als objektive Wirklichkeit
oder nicht? Auf diese Frage müssen die Naturwissenschaftler ohne Zau
dern antworten, und sie haben immer mit ja geantwortet, so wie sie die
Existenz der Natur vor der Entstehung des Menschen und der organi
schen Materie anerkennen. Und damit ist die Frage zugunsten des
Materialismus entschieden, denn der Begriff der Materie bedeutet er
kenntnistheoretisch, wie wir schon sagten, nichts anderes als die ob
jektive, vom menschlichen Bewußtsein unabhängig existierende und
durch sie dargestellte Wirklichkeit.“
Aber diese entscheidend richtige Antwort ist für Lenin nur der Aus
gangspunkt. Gleichzeitig damit, daß er im Zusammenhang mit der Krise
den aus ihr erwachsenden reaktionären Idealismus kritisiert, daß er
scharf darauf hinweist, wie die aus den neuen Erscheinungen zu ziehen
den neuen Konsequenzen die Grundlagen der materialistischen Erkennt
nistheorie nicht berühren, geschweige denn erschüttern, weist er auch
darauf hin, daß diese Krise zugleich die Krise des alten, des mechani
schen Materialismus ist. Nicht die Materie ist verschwunden, nicht der
erkenntnisthe oretische Begriff der Materie ist problematisch geworden,
sondern das System der Begriffsbildung des alten Materialismus ist zu
sammengebrochen, hat sich zur wissenschaftlich adäquaten Formulierung
der neuen Erscheinungen als unfähig erwiesen. Die Gründe sind vor allem
die Starrheit der Begriffe des alten Materialismus, die Überschätzung
des mechanistischen Standpunkts, das Verkennen des relativen Charak
ters der wissenschaftlichen Theorien, der Mangel an Dialektik.
Lenin charakterisiert diese Lage so: „Die neue Physik hat sich haupt
sächlichst deshalb in den Idealismus verwickelt, weil die Physiker die
Dialektik nicht gekannt haben. Sie haben gegen den metaphysischen
Materialismus gekämpft (im Engelsschen und nicht positivistischen,
Humeschen Sinne des Wortes), gegen seine ,mechanistische Einseitigkeit*
und haben mit dem Bad das Kind ausgeschüttet. Sie leugneten die
Unveränderlichkeit der bis dahin bekannten Elemente und Eigenschaften
der Materie und gelangten damit zur Leugnung der Materie selbst,
d.h. zur Leugnung der objektiven Wirklichkeit der physischen Welt. Sie
leugneten den absoluten Charakter der wichtigsten und grundlegendsten
Gesetze und kamen dahin, jede objektive Gesetzmäßigkeit in der Natur
zu leugnen, die Naturgesetze als bloße Konventionen hinzustellen, als
Beschränkungen unserer Erwartungen*, als ,logische Notwendigkeiten*.
Sie forderten den relativen, den Annäherungscharakter unserer Erkennt-
140 Die Erkenntnistheorie Lenins
»Λ
nisse und kamen dahin, den von unserer Erkenntnis unabhängigen Ge
genstand; den unsere Erkenntnis annähernd treu, relativ richtig wider
spiegelt, zu leugnen usw. bis in die Unendlichkeit."
So stellt, wie wir sehen, gerade die Verteidigung des Materialismus
Lenin dem alten Materialismus gegenüber und gleichzeitig stellt die Ver
teidigung des Materialismus die Probleme der Dialektik in den Vorder
grund. Lenin erfaßt diese bei einer zentralen Frage, bei der Frage der
absoluten und relativen Beschaffenheit unserer Kenntnisse. Der Weg der
dialektischen Lösung geht von der Frage aus, wie die Relativität der
einzelnen Kenntnisse (Sätze, Gesetze usw.) ein notwendiges, unentbehr
liches Moment des Absoluten ist; wie ist es möglich, daß eine solche
Relativität der Kenntnisse ihre Objektivität, die Objektivität der Außen
welt und ihrer Erkennbarkeit nicht erschüttert? Der Weg zur Lösung
steht ausschließlich der Dialektik offen. Für jedes mechanische, formal
logische, metaphysische Denken (und das bezieht sich auch auf den
alten Materialismus) ist die Wahrheit entweder absolut oder relativ.
Einen Übergang gibt es nicht. Man muß wählen. Und da uns die modernen
Wissenschaften, die Entwicklung des modernen Lebens Tag für Tag, von
Stunde zu Stunde einbleuen, daß die Erscheinungen selbst und damit die
Kenntnisse, die wir uns von den Erscheinungen aneignen können, rela
tiv sind, mußte notgedrungen in den der Dialektik fremden modernen
Philosophien der Relativismus und mit ihm der Agnostizismus siegen.
Wir sehen aus dieser Frage, die Lenin im Zusammenhang mit der Krise
in der modernen Physik, mit dem Bankrott der Methode des alten Mate
rialismus aufwirft, daß hier etwas viel Allgemeineres verborgen liegt als
der - wenn auch an sich wichtige - auslösende Anlaß. Im Zusammen
hang mit der Krise in der Physik kritisiert natürlich Lenin nicht nur den
alten Materialismus, sondern weist auch darauf hin, daß der heutige
Idealismus mit diesen neuen Erscheinungen ebensowenig gedanklich
fertig werden kann wie jener, nur die Form des Bankrotts ist ein an
derer; hier kommt eine rein relativistische Weltanschauung zustande.
(Diese Auffassung begleitet die Entwicklung der ganzen modernen
bürgerlichen Philosophie ; denken wir nur an die Rolle der Wahrschein
lichkeit - probabilité - im französischen Existentialismus.)
Die dialektische Lösung bestand bei Hegel darin, daß das Relative
ein Moment, aber nur ein Moment der Dialektik ist. Und das bedeutet,
daß, vom Standpunkt des Ganzen, das Resultat nicht das Leugnen der
objektiven Wahrheit ist, sondern die erkenntnistheoretische und ge
schichtliche Bestimmung der Annäherung an die Wahrheit. Lenin führt
dieses Prinzip so aus: ,,Vom Standpunkt des modernen Materialismus,
d. h. des Marxismus, sind nur die Grenzen dessen geschichtlich bestimmt,
Materialismus und ÎMalektik
#
Antworten. Und die Frage ist in unserem Fall die Krise der Physik, das
Zweifelhaft-Werden des alten Begriffes der Materie, ihrer Struktur und
ihrer Gesetze. So abweisend Lenin gegenüber den idealistischen, den
„dritten Weg“ vertretenden Kommentatoren dieser Erscheinung war,
so leidenschaftlich und verständnisvoll studierte er die Erscheinung
selbst, d. h. das, was in den modernen Naturwissenschaften vorging.
Und er sah klar, daß gerade der Zusammenbruch des alten mechani
schen materialistischen Weltbildes zugleich der Ausgangspunkt für die
Entstehung eines neuen dialektischen materialistischen Weltbildes ist.
„Die moderne Physik liegt in Geburtswehen. Sie ist dabei, den dialek
tischen Materialismus zu gebären.“ Wir haben Lenins Kritik über die
philosophiegeschichtlichen Methoden Plechanows mit Absicht zitiert.
Lenin begnügte sich nicht damit, nur Kritik zu üben ; er stellte in seiner
eigenen Praxis die echte marxistische Auffassung über die geistige Ent
wicklung der Menschheit ihrer im Geiste des alten Materialismus voll
zogenen Vergröberung, Vulgarisierung gegenüber.
3
DIE DIALEKTISCHE BEDEUTUNG
DES ANNÄHERUNGSCHARAKTERS DER ER K EN N TN IS
sinnlich gegebene räumliche und zeitliche Stoff fehlt. „Der Wert“, sagt
Lenin, ,,ist eine Kategorie, der das Sinnenmaterial ,fehlt', er ist aber
trotzdem wahrer als das Gesetz von Nachfrage und Angebot." Ja, wie
sehr auch Lenin Hegels Polemik gegen Kant in der Frage der Scheidung
von Erscheinung und Ding an sich bejaht, wie sehr er auch die all
gemeine Feststellung der Hegelschen Dialektik anerkennt, daß die Welt
des Dinges an sich identisch ist mit der Welt der Erscheinunge n und
gleichzeitig auch ihr Gegensatz, also anerkennt, daß sowohl die Welt der
Erscheinungen als auch die des Dinges an sich Momente für die Er
kenntnis sind, ihre Stufen, ihre Vertiefung bedeuten, so stellt er doch
kritisch gegenüber Hegel fest, daß dieser nicht sieht, daß die Welt des
Dinges an sich immer mehr von den Erscheinungen abrückt.
Diese Behauptung erweckt im ersten Moment den Schein, als wolle
die Dialektik die bereits bei Demokrit aufgetauchte Antinomie des alten
Materialismus dadurch lösen, daß sie die Rolle der Erscheinungen im
Weltbild herabdrückt. Lenin jedoch hebt gleichzeitig die Feststellung
Hegels hervor, daß die Welt der Gesetze die Widerspiegelung eines
Ruhezustandes der existierenden, d. h. erscheinenden Welt ist, woraus
folgt, daß die Welt der Erscheinungen gegenüber der Gesetze das Ganze,
die Totalität bedeuten, denn sie enthält das Gesetz, außerdem aber noch
mehr, nämlich das Moment der sich selbst bewegenden Form. Das heißt,
die ganze Wirklichkeit hat immer einen reicheren Inhalt als das voll
kommenste Gesetz ; hier können wir die positive Bedeutung des Moments
der Relativität in der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis
sehen. Und wenn es auch wahr ist, daß die immer vollkommenere Er
kenntnis der Gesetze immer mehr von diesem Moment ergreift und es
immer besser und tiefer erfaßt, so bleibt doch wahr, daß der dialektische
Widerspruch von Erscheinung und Wesen ewig ist, das heißt, jedes ein
zelne konkrete Gesetz immer nur eine Annäherung an die sich immer
verändernde, sich umgestaltende, in jeder Beziehung unendliche und des
halb gedanklich nie mit voller Adäquatheit vollkommen zu erschöpfende
Totalität ist.
So ergibt sich aus der richtigen Fragestellung der dialektisch-mate
rialistischen Erkenntnistheorie die richtige Erfassung der absoluten und
relativen Beschaffenheit der Erkenntnis. Alle unsere Erkenntnisse sind
nur Annäherungen an die Wirklichkeit in ihrer ganzen Vollkommenheit ;
insofern ist die Erkenntnis immer relativ. Da sie aber eine wirkliche
Annäherung an die objektive, vom Bewußtsein imabhängige Wirklich
keit ist, ist sie (wenn sie die objektive Wirklichkeit richtig widerspiegelt)
immer absolut. Die absolute und relative Beschaffenheit der Erkenntnis
bilden eine untrennbare dialektische Einheit.
Die dialektische Bedeutung der Erkenntnis 1 4 7
4
TOTALITÄT UND KAUSALITÄT
5
DAS SUBJEKT D E R ERK ENNTNIS UND DIE PR A X IS
dung von Vernunft und Verstand, die Kant begonnen und Hegel auf
die im Idealismus höchst mögliche Stufe erhoben hatte, immer mehr
verwischte, oft vollkommen auflöste. Wenn daher das moderne Denken
die führende Rolle der Vernunft kritisierte, so wendete sich seine Kritik
eigentlich immer gegen den Verstand. So wie es auf objektiver Linie die
mechanisch aufgefaßte Kausalität mit der vom Bewußtsein unabhän
gigen Existenz der Wirklichkeit identifizierte und seine Kritik deshalb
zum zügellosen Subjektivismus führte, so mündet auch jetzt die Kritik
der einseitigen führenden Rolle der Vernunft (bzw. des Verstandes) in
einen bodenlosen Subjektivismus, in die kritiklose Lobpreisung des
Gefühls, des Erlebnisses, der Intuition. Die objektive Wirklichkeit
wurde in den meisten dieser Theorien mechanisch identifiziert mit den
durch die Vernunft bzw. durch den Verstand erfaßbaren Gegenständen
und infolgedessen als tiefstehend beiseite geschoben, verschwand sol-
ipsistisch oder versank im Nebel des zur Scheinobjektivität aufgeblasenen
Mythos.
Jene Folge der kapitalistischen Arbeitsteilung, die die Möglichkeit
des ganzen und einheitlichen Menschen zerstört, was schon seit langem
der bürgerlichen Psychologie, dem subjektiven Teil der Erkenntnis
theorie ihren Stempel aufdrückt, erreicht hier ihren Gipfelpunkt. Und
infolge einer eigentümlichen Ironie der Entwicklung geschieht das am
prägnantesten bei jenen Denkern, deren ursprüngliches und erlebnishaft
am tiefsten betontes Bestreben gerade die romantische Opposition gegen
diese den Menschen zerstückelnde Tendenz des Kapitalismus gewesen
war (Bergson, Klages usw.). Sie wollten in ihrer Phüosophie den ganzen
Menschen retten, aber sie zerrissen ihn gedanklich noch mehr, als es die
kapitalistische Wirklichkeit getan hatte.
Die sich auf die Erfassung des Subjekts der Erkenntnis beziehenden
Analysen der Leninschen Erkenntnistheorie bekämpfen gleichermaßen die
alten, die Rolle des Verstandes einseitig überspannenden Bestrebungen
(Hegel einbegriffen) und den modernen Irrationalismus. Aus der All
seitigkeit, Unerschöpflichkeit, unaufhörlichen Veränderlichkeit der zu
erkennenden Gegenstände, aus dem Annäherungscharakter ihrer Er
kenntnis folgt von selbst die mögliche Vielseitigkeit der Annäherungs
versuche, folgt, daß in jedem Fall jene Fähigkeit bzw. Eigenschaft des
erkennenden Subjekts in den Vordergrund treten muß, die der gegebenen
konkreten Lage am besten entspricht und sich den konkreten Umständen
der gegebenen Lage am besten anschmiegt. Die sich auf das Subjekt
beziehende Lehre der Leninschen Erkenntnistheorie hält deshalb immer
alle Eigenschaften des Menschen, ihre Zusammenhänge, ihr Ineinander-
Übergehen, ihr gegenseitiges Sich-Ergänzen im Auge und hütet sich
Das Subjekt der Erkenntnis und die Praxis 1 5 7
gewiesen, daß die bereits bei Hume einsetzende Polemik gegen das Prin
zip der Kausalität auf dem Feld der „reinen“, von der Praxis, der Hand
lung isolierten Theorie nicht entschieden werden kann. Nur wenn wir
mit unserer Praxis, durch die konkrete Anwendung des Prinzips der
Kausalität in unserer Praxis, in der von unserem Bewußtsein unabhän
gigen Außenwelt im voraus vorgestellte, im voraus berechnete Kausali
tätszusammenhänge hervorrufen, haben wir über jeden Zweifel erhaben
bewiesen, daß das Verhältnis von Ursache und Wirkung nicht eine sub
jektive „Gewöhnung“ ist, daß die α^/ein an der folgenden Ereignisse nicht
nur von uns als awseinanderfolgend betrachtet werden, wie dies Hume
behauptet, sondern daß es sich hier um den wirklich gegenständlichen,
objektiven Zusammenhang von wirklichen Gegenständen handelt. Daß die
materialistische Dialektik diesen Zusammenhang als einen überaus kompli
zierten erkannt hat, darüber sprachen wir bereits ; hier mußten wir nur an
die grundlegende erkenntnistheoretische Frage erinnern.
Diese Erkenntnis, die Praxis als das wirkliche echte Kriterium der
Erkenntnis, rückt bei Lenin die wichtigsten Fragen der Teleologie, des
Zwecks und der Zweckmäßigkeit in ein neues Licht. Lenin weist darauf
hin, daß bereits Hegel diese Frage aufgeworfen hat, ja daß Hegel gerade
hier, gerade in dem die Idee behandelnden Teil seiner ,,Logik“ dem
historischen Materialismus am nächsten gekommen ist. Hegel sieht in
der Wechselwirkung der menschlichen Zielsetzung und der Außenwelt
(in der mechanischen und chemischen Struktur der Wirklichkeit) die
grundlegende Frage der menschlichen Entwicklung; er sieht, daß der
Mechanismus und Chemismus gerade in diesem Zusammenhang zu „seiner
Wahrheit** gelangt, ja Hegel sieht sogar, daß in diesem Zusammenhang
der vermittelnde Faktor, das Mittel, höher steht als jene endlichen Ziele,
jene äußerlichen Zielsetzungen, in deren Diensten es steht. „Der Pflug“,
sagt er, „ist ehrwürdiger als jene unmittelbaren Genußmittel, die mit
seiner Hilfe zustande kommen, und die das Ziel ausgemacht haben.“
Lenin bleibt nicht bei diesen, oft abstrakten Feststellungen Hegels
stehen, er benützt sie, aber stellt sie gleichzeitig materialistisch vom
Kopf auf die Füße, konkretisiert und entfaltet sie. So steht bei Hegel
die menschliche Zielsetzung noch in einem äußerlichen Verhältnis zu
jener Wirklichkeit, auf die sie angewandt wird; Lenin ist es klar, daß
die ganze Unabhängigkeit der menschlichen Zielsetzung von der Außen
welt nur ein Schein ist; der historische Materialismus hat auf die hier
auftauchenden Fragen bereits ein ganzes System von konkreten Ant
worten gegeben, und Lenin hat nur erkenntnistheoretisch alle Konse
quenzen aus dieser wissenschaftlichen Praxis gezogen.
Auch in einer hiermit eng zusammenhängenden wichtigen Frage ist
Das Subjekt der Erkenntnis und die Praxis 159
Lenin weit über Hegel hinausgegangen. Hegel ist ständig bestrebt, die
hier behandelte grundlegendste reale menschliche Tätigkeit, die produk
tive Arbeit, in logischen Zusammenhang mit den abstraktesten Formen
des Denkens, mit den Formen der Folgerung, des Syllogismus zu bringen.
Lenin sieht klar, daß es sich hier nicht um ein logisches Spiel handelt,
daß hier die Fragen der wichtigsten Zusammenhänge von Denken und
Praxis auftauchen. Ihre Lösung zu finden, ist einzig und allein die
Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus fähig. Nur sie
ist imstande zu erklären, wie die grundlegendste menschliche Tätigkeit,
die Arbeit, das allerspeziellste Kennzeichen der Menschlichkeit des
Menschen, die Verwendung des Werkzeugs in der zielbewußten Praxis,
die von Schritt zu Schritt vordringende Eroberung der Natur zu den
abstraktesten Formen des menschlichen Bewußtseins wird. Hier spiegelt
sich auch die Außenwelt (und die handelnde Wechselwirkung des Men
schen auf die Außenwelt), natürlich bei weitem nicht unmittelbar, son
dern in einer durch unzählige wirkliche Vermittlungsfaktoren hervor
gerufenen, sich fortwährend steigernden Abstraktheit. Diese Abstrakt
heit ist aber nicht ein gedankliches Hirngespinst, sondern einerseits die
allgemeinste und eben deshalb in allen konkreten Erscheinungen auf
findbare Form der wirklichen Tätigkeit und Wechselwirkungen, anderer
seits mußte, wie Lenin sagt, „die praktische Tätigkeit des Menschen
milliardenmal das menschliche Bewußtsein zu der Wiederholung der
verschiedenen logischen Formen führen, damit diese Formen die Bedeu
tung von Axiomen erlangen konnten“.
Eine solche dialektische, von jeder dogmatischen Erstarrung freie Auf
fassung der subjektiven Seiten der Erkenntnis folgt klar aus der Lenin
schen Bestimmung des Objekts. In seinen zusammenfassenden polemi
schen Bemerkungen gegen den Idealismus kehrt Lenin zu dem Bild
zurück, das die Erkenntnis zu einer aus einem System von Kreisen
gebildeten Kurve vergleicht. Aus jedem einzelnen Teilchen der Kurve
kann man eine selbständige, ganz gerade Linie machen; das macht der
Idealismus, das führt ihn in den Morast der Einseitigkeit und des Sub
jektivismus.
Die annähernd adäquate Erkenntnis der unerschöpflichen Objektivi
tät setzt den vielseitigen, ganzen Menschen voraus. Im Gegensatz zu der
ohnmächtigen Opposition der Romantik, die die Zerrissenheit des Men
schen durch den Kapitalismus nur steigert, zeigt Lenins nüchterne, wohl
erwogene und pathosfreie Erkenntnistheorie den Weg zur Wiederherstel
lung der Totalität des Menschen auf dem Gebiet der Erkenntnis, in
erster Linie dadurch, daß die Erkenntnis in einen untrennbaren Zusam
menhang mit der Praxis, der Arbeit gelangt ist. Diese Erkenntnistheorie
ι6 ο Die Erkenntnistheorie Lenins
Auf die detaillierten Folgen, die sich von hier aus ergeben, kommen
wir später zu sprechen. Kehren wir zur Frage des „Anfänglichen" zu
rück. Wir glauben, daß der heutigen Philosophie Heideggers, ebenso wie
der früheren, ein Lebensgefühl - entstanden aus einem Erleben der
Gegenwart, aus einer Stellung des gegenwärtigen Menschen zum Leben
mit seinen Mitmenschen, zum eigenen Leben - zugrunde liegt, dessen
erlebnismäßiger Inhalt von jenen sozialen Tatsachen des Lebens der
Gegenwart bestimmt ist, die Marx in seinen Werken wissenschaftlich
analysiert hat.
Es klingt vielleicht im ersten Augenblick paradox, bei der Behandlung
der Heideggerschen Philosophie an die Gesellschaftslehre von Marx zu
erinnern. Vergessen wir aber nicht, daß erstens die Auseinandersetzung
mit Marx eine außerordentlich große Rolle in der Entwicklung des franzö
sischen Existentialismus spielt; daß es zweitens schon früher Forscher
gab, die darauf aufmerksam gemacht haben, daß „Sein und Zeit“ in
bestimmtem Sinne eine große Auseinandersetzung mit dem von Marx
wissenschaftlich entdeckten und auf seine Gesetzmäßigkeit gebrachten
Phänomen des Fetischismus bildet, daß auch der gewesene Heidegger
schüler Löwith zwischen Kierkegaard und Marx Parallelen sucht; daß
drittens Heidegger in seiner neuen Schrift zum erstenmal direkt auf
Marx Bezug nimmt und dabei zu äußerst interessanten Ergebnissen
kommt. Er schreibt: „Was Marx in einem wesentlichen und bedeuten
den Sinne von Hegel her als die Entfremdung des Menschen erkannt
hat, reicht mit seinen Wurzeln in die Heimatlosigkeit des neuzeit
lichen Menschen zurück... Weil Marx, indem er die Entfremdung er
fährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht, des
halb ist die marxistische Anschauung von der Geschichte aller übrigen
Historie überlegen. Weil aber weder Husserl, noch, soweit ich bisher
sehe, Sartre die Wesentlichkeit des Geschichtlichen im Sein erkennen,
deshalb kommt weder die Phänomenologie, noch der Existentialismus
in diejenige Dimension, innerhalb der erst ein produktives Gespräch mit
dem Marxismus möglich wird" (87).
Scheinbar nähert sich hier Heidegger mehr Marx als Sartre, der in
seinen Zeitschriftenartikeln alle alten und banalen Privatdozentenargu
mente gegen den Marxismus erneuert (seine Schüler, besonders zuweilen
Merleau Ponty, beschäftigen sich etwas eingehender mit Marx). Dies
ist jedoch nur ein Schein. Denn, indem die französischen Existentiali-
sten bestrebt sind, sich der Sphäre der sozialen Existenz des Menschen
gedanklich zu nähern, indem sie auf die Frage, wie der Mensch sich in
der konkreten gesellschaftlichen Gegenwart zu verhalten hat, Ant
worten suchen, kommen sie, gewollt oder ungewollt, in die Nähe jener
Heidegger redivivus 165
vorgebracht haben, die Struktur, die das reale Leben in dieser Gesell
schaftsformation erhält, wissenschaftlich analysiert h at. Die ökonomischen
Kategorien sind für Marx: ,,Daseinsformen, Existenzbestimmungen1“ (es
ist vielleicht überflüssig zu sagen, daß diese Worte nicht existentialistisch
interpretiert werden dürfen). Alles, wohin solche „Grunderlebnisse44 der
Menschen der kapitalistischen Gesellschaft „intentionieren“, wird da
durch in seiner wirklichen, objektiven Gegenständlichkeit aufgedeckt.
Selbstverständlich geht hier der Weg nicht von der Intention zum Gegen
stand, sondern die objektive Erkenntnis des historisch charakterisierten
Gegenstandes bringt, wo es nötig ist, eine Erklärung der Intention. Und
naturgemäß kann nur diese methodologische Hierarchie und Reihenfolge
uns vor Willkür und Mystik in der Analyse schützen. Denn die,,intentio
nalen44 Erlebnisse der Phänomenologen vollziehen sich, wie alle subjek
tiven Erlebnisse, befangen im Horizont der Bürgerlichkeit im imperia
listischen Zeitalter, notwendig mit einem falschen Bewußtsein. (Diese
Notwendigkeit des falschen Bewußtseins und ihre Gesetze hat ebenfalls
Marx aufgedeckt.)
Das heißt, sie gehen von erlebnismäßigen Symptomen aus und „inten
dieren44 darum notwendig auf einen nur erlebnishaft bestimmten oder
auf erlebnishafter Grundlage denkerisch bewußt gemachten Gegenstand.
Was sich jedoch in der kapitalistischen Fetischisierung verbirgt, daß
nämlich alle „toten44 Gegenstände der gesellschaftlichen Umwelt eines
jeden Menschen in Wirklichkeit Beziehungen zwischen Menschen (Klas
sen) sind, daß das daraus entspringende Auf-den-Kopf-Gestelltsein der
gesellschaftlichen Gegenständlichkeit eine notwendige Folge der spezi
fischen Struktur der kapitalistischen Beziehungen zwischen den Menschen
ist, wird nur durch eine objektive ökonomische Analyse erhellt, niemals
aber mit Hilfe der umgekehrten, der vom Subjekt ausgehenden Methode.
Damit steht im engen Zusammenhang, daß Marx den Kapitalismus
wirklich geschichtlich faßt, als Fortschritt gegenüber dem Feudalismus,
als Vorstufe zum Sozialismus. Alle Widersprüche des kapitalistischen
Systems werden dabei ans Licht gebracht, aber mag das so Erhellte
noch so fürchterlich, noch so antihuman, noch so bekämpfenswert sein,
diese Eigenschaften des Kapitalismus sind doch immer nur als Momente
seiner objektiven Existenz in der Totalität der Weltgeschichte gefaßt,
und das Problem seiner einstigen Fortschrittlichkeit kann nur in diesem
Gesamtzusammenhang geklärt werden. (Die Analyse der gesellschaft
lichen Praxis, die sich für den Marxismus ergibt, liegt naturgemäß außer
halb des Rahmens dieser Betrachtungen.)
Aber jeder Idealismus —natürlich auch der Heideggersche —geht einen
entgegengesetzten Weg. Heidegger sagt: „Die so zu denkende Heimat-
Heidegger redivivus 167
losigkeit beruht in der Seinsverlassenheit des Seienden. Sie ist ein Zeichen
der SeinsVergessenheit. Dieser zufolge bleibt die Wahrheit des Seins un
gedacht“ (86). Heidegger jongliert hier wie in „Sein und Zeit“ zwischen
einem extremen Subjektivismus und einer Pseudoobjektivität. Wir sagen
Pseudoobjektivität, denn objektiv ist eine Seinsverlassenheit des Seien
den ein gedankliches Unding. Eine Erklärung dafür bietet nur der fol
gende Satz mit dem Ausdruck der - rein subjektiven - Seinsvergessenheit.
Wenn diese Betrachtung einen Sinn hat, dann nur den, daß die Seins
vergessenheit des Subjekts die Seinsverlassenheit des Seienden hervor
bringt. Bei dieser Methode muß die so gefundene Gegenständlichkeit
notwendig im Bereich des subjektiv Erlebten befangen bleiben, muß die
Betrachtung an der objektiven Struktur des Zeitalters Vorbeigehen, und
soweit der Versuch gemacht wird, eine Objektivität zu statuieren, muß
diese eine irrationalistische, eine mystische, eine Pseudoobjektivität sein,
wie auch jede solche Kritik des kapitalistischen Zeitalters, mag sie sich,
wie bei einigen Denkern, noch so offen „soziologisch“ gebärden, mag sie,
wie bei Heidegger, mythologisiert ontologisch sein, stets die Kritik von
bloßen Symptomen bleibt und an die entscheidenden Probleme der Be
wegungsrichtung der Weltgeschichte nie heranreicht. Die Komplimente
an die Adresse des Marxismus haben also philosophisch wenig zu be
deuten. Sie sind höchstens als Symptome interessant: als Druck der
objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit sogar auf an und für sich
widerstrebende Intellekte. So war die Lage bereits in der präfaschisti
schen Philosophie und Soziologie. Die Freyerschule neigte damals zu
einer ähnlichen „Anerkennung“ von Marx. Hugo Fischer z. B. gab alle
Verdienste von Marx zu mit dem Vorbehalt, daß Marx ein Neben
phänomen, die ökonomische Entwicklung und die Gesetzmäßigkeit des
Kapitalismus zur Hauptsache machte, während der wirkliche Philosoph,
Nietzsche, klarer sah, daß das Grundphänomen, dem alles, was Marx
analysierte, philosophisch unterzuordnen und einzufügen wäre, die De
kadenz sei. Bei aller methodologischen Divergenz zur Freyerschule ist
die Lage Heideggers zu diesem Problemkomplex gerade methodologisch
eine sehr ähnliche. In allen solchen Fällen geht die „Anerkennung“ an
allen entscheidenden Problemen vorbei, weder die Fischersche Dekadenz,
noch die Heideggersche „Dimension des Seins“ berühren die wesent
lichen Probleme des Marxismus.
Wir wissen: Heidegger und seine Anhänger würden hier vor allem
gegen die Bezeichnung Idealismus heftig protestieren. Behauptet doch
Heidegger, jetzt wie früher, weder Idealist noch Materialist zu sein, son
dern eben jene Beziehung zum Sein aufgefunden zu haben, die jenseits
dieses angeblichen falschen Dilemmas steht. Gemeint ist stets die Engels-
ι6 8 Heidegger redivivus
Trennung bei Heidegger ist, zeigt die folgende Stelle: „Doch das Sein -
was ist das Sein? Es ist Es selbst... Das ,Sein'—das ist nicht Gott und nicht
ein Weltgrund. Das Sein ist weiter denn alles Seiende und ist gleichwohl
dem Menschen näher als jedes Seiende, sei dies ein Fels, ein Tier, ein
Kunstwerk, eine Maschine, sei es ein Engel oder Gott. Das Sein ist das
Nächste. Doch die Nähe bleibt dem Menschen am weitesten. Der Mensch
hält sich zunächst immer schon und nur an das Seiende. Wenn aber das
Denken das Seiende als das Seiende vorstellt, bezieht es sich zwar auf
das Sein. Doch es denkt in Wahrheit stets nur das Seiende als solches
und gerade nicht und nie das Sein als solches. Die ,Seinsfrage' bleibt
immer die Frage nach dem Seienden. Die Seinsfrage ist noch gar nicht
das, was dieser verfängliche Titel bezeichnet: die Frage nach dem Sein“
(76). Über die Fragen, die sich hier eröffnen, nämlich über die Frage des
Weges vom Sein zum Seienden und über Heideggers Beziehung zu den
früheren Philosophen, die vom Seienden ausgingen, sprechen wir später.
Wenn man aber meint, daß durch die jetzt angeführte Bestimmung
wirklich ein objektives Sein gedanklich Umrissen sei - und mag dies in
noch so mythischer Form geschehen - , so täuscht man sich. Zwar ver
sucht Heidegger, die äußerste Mystik seiner Bestimmung gleich etwas
abzuschwächen. In unserem letzten Zitat haben wir einen Satz ausge
lassen, der lautet: „Dies (nämlich, was das Sein ist, G. L.) zu erfahren
und zu sagen, muß das künftige Denken lernen“ (76) ; also ist doch das
Denken jenes Organ, durch welches dieses Sein erfaßt wird, wenn auch
ein Denken sehr sui generis, wie wir ebenfalls später sehen werden.
Wenn wir uns nun an das Sein selbst, an seine genauere Bestimmung
halten wollen, entschlüpft, zerrinnt alles. Wir haben bereits vernommen,
daß Heidegger auf die Frage, was das Sein ist, die Antwort des großen
Krummen aus „Peer Gynt“ erteilt : Es selbst. Und der neue Heideggersche
Begriff „ekstatisch gedacht“ soll nämlich nichts mit Existenz zu tun
haben. Heidegger lehnt jede Gemeinschaft mit Sartre ab, weil dieser
„den Vorrang der existentia vor der essentia“ (73) behauptet, und be
stimmt seinerseits seine Stellung wie folgt: „Der Satz: ,Der Mensch
ek-sistiert' antwortet nicht auf die Frage, ob der Mensch wirklich sei
oder nicht, sondern antwortet auf die Frage nach dem ,Wesen' des Men
schen“ (70/71). Und im folgenden führt er aus, daß jede Frage nach dem
Wer und Was des Menschen etwas Personenhaftes enthält. „Allein das
Personenhafte verfehlt und verbaut zugleich das Wesende der seins
geschichtlichen Existenz nicht weniger als das Gegenständliche“ (71).
Das Wort Wesen steht hier, wie in „Sein und Zeit“, mit Bedacht in An
führungszeichen, um anzudeuten, daß es „aus dem Ek-statischen des
Daseins bestimmt“ ist (71).
Heidegger redivivus
* -- ----- ----------- - - — -
Nun ist „Dasein" gerade die zweideutigste Kategorie von „Sein und
Zeit“. Einerseits tritt sie mit der Prätention der Objektivität auf, an
dererseits und zugleich ist ihr Sinn nichts weiter als die menschliche
Existenz in der äußersten Subjektivität genommen. Hier ist der Punkt,
wo die Heideggersche Ontologie sich als reine Anthropologie enthüllt.
Heidegger sagt : „Wahrheit,gibt es nur, sofern und solange Dasein ist...
Die Gesetze Newtons, der Satz vom Widerspruch, jede Wahrheit über
haupt sind nur solange wahr, als Dasein ist. Vordem Dasein überhaupt
nicht war und nachdem Dasein überhaupt nicht mehr sein wird, war keine
Wahrheit und wird keine sein, weil sie als Erschlossenheit, Entdeckung
und Entdecktheit dann nicht sein kann“ („Sein und Zeit“ 226). Das ent
spricht haargenau der Erkenntnistheorie des Machismus. Heidegger
zitiert in seiner neuen Schrift einen ähnlichen Satz seines älteren Werkes :
„Nur solange Dasein ist, gibt es Sein“ (83). Hier fügt er aber hinzu: „Der
Satz sagt nicht, das Sein sei ein Produkt des Menschen“ (ebd.). Das ist
jedoch eine bloße Versicherung, und ähnliche hat man auch von den
Machisten wiederholt vernommen. Daß Heidegger weiter das Sein als
transzendent bezeichnet, besagt nichts. Die Transzendenz des Dinges
an sich hebt auch bei Kant den subjektiven Idealismus seiner Erkenntnis
theorie nicht auf.
Alles Objektive —und was hat das Sein für eine Bedeutung, wenn es
nicht das Objektive ist? - löst sich hier ebenso auf wie im Machismus.
Denn philosophisch ist es eine durchaus zweitrangige Frage, ob Wahr
nehmender und Wahrnehmung oder Dasein und Wahrheit eine solche
untrennbare Koexistenz bilden, daß das eine ohne das andere unmöglich
wird. In beiden Fällen heißt es: kein Objekt ohne Subjekt, was die er
kenntnistheoretische Hauptthese des subjektiven Idealismus ist; der
„dritte Weg“ erweist sich auch bei Heidegger als subjektiver Idealismus.
Und zwar als eine irrationalistisch-mystische Abart des subjektiven
Idealismus, denn alles Gegenständliche der Welt, alles Personenhafte am
Menschen, alles Konkrete in Natur oder Geschichte erweist sich als Hin
dernis dieser Seinserkenntnis. Das Denken des Seins hat, wie Heidegger
ausdrücklich hervorhebt, nichts mit Wissenschaft zu tun. Vom gewöhn
lichen Denken der Menschen, von ihren Erfahrungen über das Seiende
führt keine Brücke zum Denken des Seins. Nur Kierkegaard hat diese
Dualität so schroff formuliert, allerdings noch immer konkreter als Heid
egger, denn sein verzweifelter Sprung sollte beim geoffenbarten Christus
zum Ziel kommen, während die Philosophie Heideggers buchstäblich ins
Nichts springt. Man sieht, alle Abschwächungsversuche in bezug auf den
Nihilismus von „Sein und Zeit“, die Heidegger hier unternimmt, sind
vergeblich ; der Nihilismus steckt tief in seiner grundlegenden Position
172 Heidegger redivivus
und Methode, wie auch in der Kierkegaards, nur dort von der Theologie
verdeckt, während Heidegger ihn nackt zum Vorschein bringt. Von hier
aus wird Heideggers Opposition gegen den Humanismus erst wirklich
verständlich, erscheint sie als notwendige Folge seiner ganzen Philosophie.
Er sagt über die älteren Humanisten : „ .. .sie kommen doch darin überein,
daß die humanitas des homo humanus aus dem Hinblick auf eine schon
feststehende Auslegung der Natur, der Geschichte, der Welt, des Welt
grundes, das heißt des Seienden im Ganzen, bestimmt wird'* (63).
Damit sind wir dort angelangt, wo die systematischen philosophischen
Bestrebungen Heideggers im Zusammenhang mit seiner Einschätzung
der gegenwärtigen Lage der Menschheit und damit im Zusammenhang
mit seiner Konzeption der Menschheitsgeschichte überblickbar werden.
Heidegger lehnt, wie wir gesehen haben, am alten Humanismus von der
Antike bis Goethe die Vorstellung ab, man könnte aus dem Ganzen der
seienden Welt Folgerungen in bezug auf das Wesen des Menschen, auf
den Weg der Menschheit ziehen. Und in der Tat handelt es sich hier um
die Kernfrage einer jeden humanistischen Weltauffassung. Sie geht gerade
im entwickeltesten Humanismus, im „Faust* *und in d er,,Phänomenologie
des Geistes**, davon aus, wie der Mensch, ursprünglich ein Produkt der
Natur, im Laufe der Geschichte sich zu dem machte, was er geworden ist,
sich zu dem machen wird, was er seinen Möglichkeiten nach werden kann.
(Das Konkretisieren der zweiten Frage ist bereits das Werk des sozialisti
schen Humanismus von Fourier bis zu unseren Tagen.)
Heidegger leugnet aber beides. Er sagt: ,,Der Leib des Menschen ist
etwas wesentlich Anderes als ein tierischer Organismus" (67). In bezug
auf Geschichte ist seine Stellung zwiespältiger, schillernder. Seine von
uns zitierte Anerkennung der Marxschen Konzeption, ihrer Überlegenheit
über Husserl und Sartre, deutet darauf hin, wie ja bereits in „Sein und
Zeit** eine geschichtliche Auffassung der Existenz des Menschen, mit ge
legentlichen energischen Hinweisen auf die Verdienste Diltheys, an
gegeben war. Auch hier tritt er für die Geschichtlichkeit des Seins ein.
Jedoch in einer äußerst zwiespältigen Weise. Einerseits wird auch hier
die Geschichtlichkeit des Seins ausdrücklich anerkannt. „Dieses ,es gibt*
(nämlich ,es gibt das Sein' von Parmenides, G. L.) waltet als das Ge
schick des Seins. Dessen Geschichte kommt im Wort der wesentlichen
Denker zur Sprache. Darum ist das Denken, das in die Wahrheit des
Seins denkt, als Denken geschichtlich" (81). Freilich ist auch dies eine
bloße und leere Enunziation. Und andererseits wird dem sogleich hinzu
gefügt: „Die Geschichte geschieht nicht zuerst als Geschehen. Und dieses
ist nicht Vergehen. Das Geschehen der Geschichte west als das Geschick
der Wahrheit des Seins aus diesem" (81). Darum gibt es keinen Fort-
Heidegger redivivus 1 7 3
schritt in der Philosophie. „Sie schreitet, wenn sie ihr Wesen achtet,
überhaupt nicht fort. Sie tritt auf der Stelle, um stets das Selbe zu denken.
Das Fortschreiten, nämlich fort von dieser Stelle, ist ein Irrtum, der dem
Denken folgt als der Schatten, den es selbst wirft' ' (ebd.). Trotzdem ist nach
Heidegger Hegels Konzeption der Geschichte der Philosophie „als der
Entwicklung des , Geistes' nicht unwahr. Sie ist auch nicht teils richtig,
teils falsch... Die absolute Metaphysik gehört mit ihren Umkehrungen
durch Marx und Nietzsche in die Geschichte der Wahrheit des Seins" (82).
Daß hier ein Widerspruch vorliegt ist offenkundig. Aber mit der bloßen
Feststellung des Widerspruchs bei Heidegger sind wir kaum im Vorhof
des Problems selbst angelangt. Denn dieser Widerspruch drückt nicht
allein die Inkonsequenz des Denkers aus, nicht irgendeinen logisch
methodologischen Fehler, der festgestellt und korrigiert werden könnte.
Es handelt sich hier vielmehr um einen der grundlegenden Widersprüche
im gesellschaftlichen Sein des Bürgertums, der —selbstredend der gesell
schaftlich-geschichtlichen Entwicklung entsprechend —in jeweils ver
schiedenen Formen immer wieder erscheint.
Die bürgerliche Gesellschaft selbst ist etwas historisch Gewordenes.
Schon seit der Entwicklung Hollands und Englands im 17. bis 18. Jahr
hundert konnte dies nicht geleugnet werden, und das Erlebnis der großen
Französischen Revolution mußte dieses Erlebnis und diese Erkenntnis
unermeßlich verallgemeinern. Es handelt sich aber in der sich so erhellen
den Historizität nicht um eine einfache Veränderung in der Zeit, sondern
um eine Vorwärtsbewegung, um eine Aufwärtsbewegung, um einen Fort
schritt. Von der Aufklärung über Condorcet bis Hegel wird immer wieder
versucht, die Prinzipien dieser Fortschrittlichkeit gedanklich zu erfassen,
auf den Begriff zu bringen.
Hier ergab sich von allem Anfang an eine große Schwierigkeit, der sich
im Laufe der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft eine andere
zugesellte. Von Anfang an sah man, daß das Vorwärtsschreiten keines
wegs etwas Geradliniges ist, daß der später entstandene, höherstehende
gesellschaftliche Zustand zugleich neue Gebrechen hervorbringt, daß er
in mancher Hinsicht niedriger steht als seine Vorgänger. Daraus ist schon
sehr früh ein Leugnen des historischen Fortschritts entstanden (Linguet) ;
daraus entstand das Bemühen großer Denker, die Fortschrittlichkeit der
Geschichte in ihrer Widersprüchlichkeit, also dialektisch zu fassen (Vico,
Hegel). Zu dieser Widersprüchlichkeit gehört, daß man das Vorwärts
schreiten nur für die Totalität, für das Schicksal des Menschengeschlechts
adäquat aussprechen kann. Einzelne Erscheinungsweisen dieser Ent
wicklung bleiben für immer unübertroffen. (Antike Kunst in Hegels
Geschichtsphilosophie.)
i74 Heidegger redivivus
wert diese Tendenz ist, so wenig läßt sie sich mit der Grundtendenz
Heideggers vereinen. Denn in der Geschichte der Philosophie Hegels
wird gerade die - relative - Homogeneität der philosophischen Entwick
lung aufgezeigt ; es ist dieselbe, freilich sich in dieser Dieselbigkeit histo
risch wandelnde Wirklichkeit, von der alle großen Philosophen ausgehen,
die sie in ihren Philosophien wiedergeben, an die sie sich mit ihrer Lehre
wenden. Trotz aller Sprunghaftigkeit enthält, ja eben in dieser Sprung
haftigkeit bewahrt die Geschichte der Philosophie bei Hegel das Moment
der Kontinuität. Gerade diese fehlt jedoch bei Heidegger, wenn man
seine Konzeption ernst nimmt, und das ist Pflicht einem jeden Denker
gegenüber, den man auch nur einigermaßen ernst nimmt. Aber wenn die
entscheidende philosophische Methode seit Platon und Aristoteles vom
eigentlichen Sein ablenkt, wenn sie ein gedanklicher Ausdruck der „ Seins
vergessenheit* *ist, wenn die wahre Philosophie nur durch einen radikalen
Bruch mit all diesen falschen, nur an dem Seienden orientierten Über
lieferungen vollzogen werden kann, wie können Platon und Aristoteles,
Descartes und Hegel, die Verderber der eigentlichen Philosophie, die
Schöpfer ihrer falschen Differentiation, die Verdränger des Denkens des
Seins durch das Vorherrschen des Denkens des Seienden eine derartig
bevorzugte Stelle erhalten?
Heidegger führt auch - von seinem Standpunkt aus konsequent - an
anderer Stelle aus: „Die ,Logik* versteht das Denken als das Vorstellen
von Seiendem in seinem Sein, das sich Vorstellen im Generellen des Be
griffes zustellt. Aber wie steht es mit der Besinnung auf das Sein selbst
und das heißt mit dem Denken, das die Wahrheit des Seins denkt? Dieses
Denken trifft erst das anfängliche Wesen des λόγος, das bei Platon und
Aristoteles, dem Begründer der »Logik*, schon verschüttet und verloren
gegangen ist. Gegen ,die Logik* denken, das bedeutet nicht, für das Un
logische eine Lanze brechen, sondern heißt nur : dem Logos und seinem
in der Frühzeit des Denkens erschienenen Wesen nachdenken, heißt : sich
erst einmal um die Vorbereitung eines solchen Nach-denkens bemühen.
Was sollen uns alle noch so weitläufigen Systeme der Logik, wenn sie sich,
und sogar ohne zu wissen, was sie tun, zuvor der Aufgabe entschlagen,
nach dem Wesen des λόγος auch nur erst zu fragen?** (98). Damit ist
jedoch über die Begründer und Weiterbildner einer solchen „Logik** das
philosophische Todesurteil ausgesprochen.
Doch es kommt hier weniger auf die Geschichte der Philosophie als
auf die Philosophie selbst an ; jene mußte nur darum so ausführlich heran
gezogen werden, damit die ganze Widersprüchlichkeit des angeblich ge
schichtlichen Charakters des Seins bei Heidegger in ein konkretes Licht
gerückt werde. Und gerade von diesem Standpunkt aus erscheint der
Heidegger redivivus I 77
schaftlichen Weg zurück zur Welt des Seienden geben kann, hat Heid
egger hier in keiner Hinsicht erwiesen. Ja, alle seine hier wiederholt an
geführten Bemerkungen über die Gegenständlichkeit, über die Erkenn
barkeit und den Wahrheitsgehalt der Erkenntnis des Seienden in Natur
und Geschichte sprechen beredt gegen eine solche Möglichkeit. Mag sich
Heidegger mit noch so echt empfundener subjektiver Überzeugung gegen
den Vorwurf des Irrationalismus wehren, die philosophische Grundstim
mung dieser seiner letzten Schrift ist rein irrationalistisch.
Auch dies steht im engen Zusammenhang mit seinem Ausgangspunkt,
mit dem Problem der Stellung des Menschen in der kapitalistischen Ge
sellschaft der Gegenwart, aufgeworfen von der Seite des unter ihren ob
jektiv notwendigen, aber in ihrer Notwendigkeit unerkannten, Einwirkun
gen leidenden Subjekts. Wir haben auf die Problemverzerrungen, die sich
von dieser Fragestellung aus zwangsläufig ergeben, bereits in verschiede
nen Zusammenhängen hingewiesen. Wir müssen uns jetzt aber von einer
neuen Seite diesem Komplex nähern. In der Marxschen Analyse der
kapitalistischen Gesellschaft wird es jeweils stets völlig klar, ob irgendeine
Kategorie des gesellschaftlichen Lebens der Menschen (eine Beziehung
zwischen Menschen, Klassen) etwas spezifisch Kapitalistisches oder eine
gemeinsame, freilich Wandlungen, Funktionswechseln unterworfene Ge
genständlichkeitsform mehrerer sozialer Formationen ist. Wird aber der
Ausgangspunkt der Fragestellung vom Subjekt aus genommen, wie bei
Heidegger, so ist die methodologische Möglichkeit solcher Erkenntnisse
von vornherein verbaut.
Für solche subjektivistischen Fragestellungen sind sie auch ohne Inter
esse. Das hat zur Folge, daß historische oder ontologische „Synthesen“
geschaffen werden, in denen das die Gegenständlichkeit bestimmende
Prinzip die günstige oder ungünstige Einwirkung auf das Subjekt ist.
Denn für das leidende Subjekt in seiner Unmittelbarkeit sind solche
historischen und theoretischen Unterschiede völlig gleichgültig - solange
es sich nicht über diese Unmittelbarkeit erhebt, was aber die Heidegger-
sche Methode prinzipiell ausschließt. Und da der Intellektuelle der kapi
talistischen Welt unter dem unmittelbaren Zwiespalt zwischen sinnlosem,
mechanisiertem Tun und sinnloser, weil in der Gesellschaft effektloser,
subjektiver Persönlichkeitsäußerung leidet, wird dies —ein beiläufiges
Nebenprodukt der kapitalistischen Arbeitsteilung — zu einer weltge
schichtlichen oder ontologischen Dualität aufgebauscht, zur Dualität
zwischen Zivilisation (Technik) und Kultur, zwischen Geist und Seele
(Klages), zwischen Metaphysik und „anfänglichem“ Denken (Heidegger).
Wie stark sich diese Position Heideggers mit den hier angedeuteten
Gedankengängen berührt, zeigt seine Beschreibung des Ausgangspunktes
ι8ο Heidegger redivivus
V o r w o r t............................................................................................ 5
Die Krise der bürgerlichen P h ilo s o p h ie ............................ 7
1. Fetischisiertes Denken und W irklichkeit............................ 8
2. Die Hauptepochen des bürgerlichen D enkens......................... 10
3. Altes und Neues in der imperialistischen Philosophie 15
4. Die Pseudo-Objektivität..............................................................17
5. „Der dritte Weg“ und der M y t h o s ......................................... 22
6. Intuition und Irra tio n a lism u s................................................. 24
7. Die Symptome der K rise............................................................. 29
Der Existentialismus............................................................................. 33
1. Die Methode als V erh alten ......................................................... 33
2. Der Mythos des N i c h t s ............................................................. 41
3. Die Freiheit in einer fetischisierten Welt und der Fetisch
der F r e ih e it ................................................................................. 49
Die Robinsonade der D ekadenz......................................................... 58
1. Die historische Situation des E xisten tialism u s..................... 58
2. Die Antinomie von Gesinnungsethik und Folgeethik . . 63
3. Wieder einmal wird Marx g e tö te t............................................. 69
4. „Die Ethik der Zweideutigkeit“ und die Zweideutigkeit der
existentialistischen E t h i k ......................................................... 79
5. Existentialistische Ethik und historische Verantwortung . 99
Die Erkenntnistheorie Lenins und die Probleme der modernen
Philosophie................................................................................... 127
1. Die weltgeschichtliche Aktualität des philosophischen Ma
terialismus ................................................................................... 128
2. Materialismus und D ia lek tik ................................................... 137
3. Die dialektische Bedeutung des Annäherungscharakters der
Erkenntnis....................................................................................143
4. Totalität und Kausalität............................................................150
5. Das Subjekt der Erkenntnis und die P r a x is ....................... 155
Anhang: Heidegger redivivus...........................................................161