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bar weiter exportieren. Vielleicht müssen kommentierte eine Griechin die Senkung
die so kalkulieren. Das macht sie aber un- ihres Lohnes um 20 % so: »Das ist mir völ-
fähig, irgendetwas dagegen zu unterneh- lig egal, ich bekomme seit einem Jahr so-
men, wie zurzeit die Logik der Demokratie wieso keinen Lohn mehr.« Wenn sich sol-
der des Kapitals untergeordnet wird. Was che Situationen häufen, können vielleicht,
Sie »romantisch« genannt haben, ist, wenn ähnlich wie im 19. Jahrhundert, aus Bewe-
die Leute sich dies nicht mehr gefallen las- gungen, die zunächst nur zielloser radika-
sen und spüren, wie die Absurdität der ler Protest sind, Organisationskerne neuer
Lage ihre Würde angreift. Im Fernsehen Art entstehen. ■
Jan Turowski
Gibt es noch Spielarten des Kapitalismus?
Jan Turowski
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DAS THEMA
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die zunehmende Deregulierung des globa- oder die Selbstüberschätzung und unver-
len Kapitalismus anpassen könnten; die antwortliche Risikobereitschaft der Finanz-
Logik der Deregulierung und Entbettung investoren zu kritisieren, darauf zu ver-
wurde hingegen kaum in Frage gestellt. weisen, dass bloß Kontrollmechanismen
Ende der 90er Jahre war die syste- eines ansonsten perfekten Systems nicht
matische Kapitalismuskritik gänzlich in richtig funktioniert hätten oder zu be-
wissenschaftlich-politische Randsegmen- haupten, dass ja nur das anglo-amerikani-
te verbannt. Das bedeutete natürlich nicht, sche, finanzmarktgetriebene Wirtschafts-
dass soziale Widersprüche, Ausbeutungs- modell gegen die Wand gefahren sei (auch
und Machtverhältnisse, ökologische Zer- wenn die Argumente jeweils ja nicht falsch
störung, Klima- und Rohstoffkrisen in den waren). Es wurden zunehmend auch dieje-
kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten nicht nigen Stimmen lauter, die darauf verwie-
mehr politisch thematisiert wurden. Sie sen, dass die gegenwärtige Krise aus den
wurden aber kaum mehr als strukturelle kapitalismusinhärenten, systemischen Ri-
Fragen des Kapitalismus behandelt, son- siken fast zwangsläufig erwachsen sei.Auch
dern nur noch als Sachprobleme, denen sei der deregulierte Finanzmarktkapitalis-
man mit Polit-Management-Konzeptio- mus, der als Sinnbild neoliberaler Fehl-
nen und technologischen Innovationen entwicklung für die Krise verantwortlich
sinnvoll begegnen könnte. gemacht wurde, seinerseits die machtpoli-
Im Zeitgeist jener Jahre wagte Gordon tisch restaurative Problemlösung der Krise
Brown – damals noch britischer Schatz- des fordistischen Wirtschafts- und Sozial-
kanzler – die These, dass die moderne modell der 70er Jahre gewesen. Immer
Wissensökonomie zu einer Umkehrung neue Krisen und Spekulationsblasen in
der Machtbeziehungen zwischen Kapital immer kürzeren Abständen seien weniger
und Arbeit geführt habe: Arbeit könne die natürliche Abfolge von konjunkturel-
über die wachsende Relevanz von Wissen len Auf- und Abschwüngen, sondern viel-
und Fertigkeiten und dem daraus abgelei- mehr Teil und Ausdruck einer Metakrise
teten Marktwert des individuellen Human- des über 200 Jahre währenden kapitalis-
kapitals nun das Kapital ausbeuten. tischen Entwicklungs-, Wachstums- und
Fortschrittsmodells, das offensichtlich nun
an seine natürlichen und sozialen und
Finanzkrise 2008: nicht zuletzt systemimmanenten Grenzen
Rückkehr der Kapitalismuskritik gestoßen sei.
Der Wohlfahrtsstaat, vor allem in seiner
Bei der Analyse der Unterschiede der je- spezifischen – und in der Rückschau auch
weiligen kapitalistischen Volkswirtschaf- idealisierten – Ausprägung der 70er Jahre
ten geriet allerdings die eine machtvolle gilt in heutigen Diskussionen vielfach als
und unerbittliche Triebkraft des Kapita- der normative Referenzpunkt eines demo-
lismus aus dem Fokus der Kritik: Die ver- kratisch regulierten und kontrollierten
selbstständigte Form der Profitakkumu- Kapitalismus, zu dem man wieder zurück
lation, die allen Gesellschaften und dies will. Zugleich macht sich jedoch das Ge-
in allen Kapitalismusvarianten gleicher- fühl breit, dass die gegenwärtige Krisen-
maßen ihre Verwertungslogik und Hand- situation in seiner langen Geschichte viel
lungsbedingung aufzwingt. eher den Normalzustand des Kapitalismus
Dies änderte sich allerdings mit der beschreibt und nicht die »goldenen Jahre«
Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise mit Wirtschafts- und Wohlfahrtsstaats-
ab 2008. Es wurde schnell deutlich, dass es wachstum, starken Gewerkschaften und
nicht ausreichte, nur die Gier der Banker Normalarbeitsverhältnis und nicht zuletzt
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