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Schreiben

im Exil
Sie mussten ihre Heimat verlassen –
und bereichern mit ihrer Literatur jetzt
den deutschen Buchmarkt. Ein Blick auf
Autoren, die vor Gewalt und Verfolgung
geflüchtet sind. Und auf Initiativen,
die ihnen beim Ankommen und
Weiterschreiben in Deutschland helfen.
ULRICH RÜDENAUER

28 00 . 2017 börsenblatt
BELLETRISTIK SPEZIAL

Flüchtlinge, schreibt Philipp gie entstehen. »Ich habe im Moment


Ther in seiner Studie »Die Au­ ganz stark das Bedürfnis«, so Annika
ßenseiter« (Suhrkamp, 436 S., 26 Euro), Reich, »meine Räume den Menschen zu
dürften nicht nur als Objekt der Ge­ Sharon Dodua Otoo: 2016 hat öffnen, die Flucht erlebt haben.«
schichte verstanden werden, sondern sie den Ingeborg-Bachmann- Die eigenen Projekte zurückstellen,
seien »eigenständige Akteure, die nicht Preis gewonnen um anderen das Schreiben und Ver­
namenlos bleiben sollten«. In Zeiten, in öffentlichen zu ermöglichen – jene Form
denen von einer »Flüchtlingsflut« die sen. Aber welche Möglichkeiten haben des Engagements trägt tatsächlich
Rede ist, erscheint dieser Anspruch fast heute Autoren aus Syrien, dem Jemen Früchte. Auf Plattformen und bei Veran­
wie eine Utopie. Umso wichtiger ist es, oder Afghanistan, von ihrem Leben zu staltungen werden die Arbeiten vorge­
© Getty Images/iStockphoto (2, M) · picture alliance / GERT EGGENBERGER / APA / picturedesk.com (v. l.)

den Geflüchteten Gelegenheit zu geben, erzählen? stellt. Der jemenitische Lyriker Galal
ihre Geschichten zu erzählen und Sub­ Alahmadi etwa gehört in seinem Hei­
jekt zu bleiben. Literatur ermöglicht es, Weiterschreiben! »Ich habe mich ge­ matland zu den bekanntesten Dichtern.
hinter den Zahlen, Zeitungsmeldungen, fragt, was denn für mich jenseits von Es­ Eines seiner Gedichte trägt den Titel
Statistiken das einzelne Schicksal zu sen, Trinken und einer Wohnung das »Zu Hause«:
entdecken. Wichtigste wäre, wenn ich in so einer Si­ »Ich sitze jetzt einsam / am runden
Vor gerade einmal 80 Jahren mussten tuation wäre«, sagt Autorin Annika Tisch / ich sitze rund / um mich selbst
viele Deutsche vor den Nationalsozia­ Reich. »Ich bin sicher: Ich würde weiter­ herum / gleiche jetzt einem Tisch, an
listen fliehen; im Exil haben Schriftstel­ schreiben wollen.« Eine Initiative, die dem niemand sitzt / sitze jetzt / irgend­
ler ihre Erfahrungen in Gedichte und Reich mitbegründet hat, heißt deshalb: wie / rieche nach Tabak / und Verlust.«
Romane gefasst. Auch in den Jahrhun­ »Weiter Schreiben.jetzt«: Deutschspra­ Viele der Manuskripte bewegen sich
derten davor gab es immer wieder chige Schriftsteller arbeiten mit ihren durch die Ruinen der Heimat, die Ver­
Fluchtbewegungen, Verfolgungen aus geflüchteten Kollegen an Texten. Nach zweiflung, das Gefühl des Verlorenseins.
religiösen und politischen Gründen. und nach werden diese auf einer Home­ Auch die junge syrische Autorin Lina
Was wir daraus lernen können, entneh­ page veröffentlicht, teils auch in Zei­ Atfah versucht, Bilder für das Gesche­
men wir vor allem literarischen Zeugnis­ tungen, irgendwann soll eine Antholo­ hene zu finden: »Die Lieder sind dort

IMMER NOCH EIN THEMA: DEUTSCHSPRACHIGE EXILLITERATUR

In der NS-Zeit mussten viele deutsche Schriftsteller ins Ausland fliehen. Ihre Bücher werden wieder neu entdeckt.

Brüchige Biografien Starke Gefühle Bedrückende Atmosphäre


1944 auf Englisch publiziert, Das Drama eines Exilschick- Der angesehene jüdische
schlug Neumanns Roman sals, die Liebe zu zwei Frauen Kaufmann Otto Silbermann
im Nachkriegsdeutschland und der Hass auf einen wird im November 1938 aus
Wellen: Er zeigt die Wider- Gestapo-Agenten: Ein nach seiner Wohnung vertrieben,
standskämpfer der Weißen Paris emigrierter Arzt um seinen Besitz gebracht.
Rose in Rückblenden als durchlebt die Zeit vor dem Seine Reise ins Ungewisse
ambivalente und zerrissene Charaktere. Zweiten Weltkrieg. wird hier authentisch geschildert.
Alfred Neumann: »Es waren ihrer sechs«, Erich Maria Remarque: »Arc de Triomphe«, Ulrich Alexander Boschwitz: »Der Reisende«,
Das kulturelle Gedächtnis, 400 S., 25 € Kiepenheuer & Witsch, 704 S., 12,99 € Klett-Cotta, Februar, 304 S., 20 €

2 . 2018 börsenblatt 29
SPEZIAL BELLETRISTIK

Senthuran Varatharajah:
Sein Debüt »Vor der Zunahme
der Zeichen« erzählt von
Herkunft und Ankunft

der Tod. / Wir summten die alten Verse, »Synchronicity« (256 S., 9,99 Eu­ro) bei
/ weinten und wiegten uns mit ihnen, S. Fischer erschienen sind,
was niemand bemerkte.« yy der in Bagdad geborene Abbas Khider,
der in »Ohrfeige« (Hanser, 224 S.,
Stimmgewaltige Erzähler Das Pro­ schan stammenden Olga Grjasnowa be­ 19,90 Euro) ebenso witzig wie
jekt Weiter Schreiben biete »das, was die­ schreibt eine dramatische Flucht aus Sy­ tieftraurig das Warten und die Ängste
se Initiative bereits im Namen trägt: rien. Nicht minder aktuell ist das Schick­ eines irakischen Flüchtlings in Bayern
Fortsetzung. Fortdauer. Erweiterung. sal des türkischen Schriftstellers Dogan schildert,
Ausdehnung«, schreibt der in Berlin le­ Akhanli, der seit Jahren in Köln lebt. yy sowie der vor dem Bürgerkrieg im
bende Senthuran Varatharajah. Er ge­ In seinem Buch »Verhaftung in Grana­ Libanon geflohene Pierre Jarawan,
hört zu einer Generation von Schriftstel­ da« (Kiepenheuer & Witsch, Februar, der seinen Protagonisten in »Am Ende
lern, deren Eltern nach Deutschland flie­ 180 S., 9,99 Euro) setzt er sich mit sei­ bleiben die Zedern« (Berlin Verlag, 448
hen mussten und die mit der neuen Spra­ ner eigenen Geschichte auseinander, er­ S., 22 Euro) nach dem verschwun­
che groß geworden sind. Sie bereichern zählt aber auch davon, wie sich die Türkei denen Vater suchen lässt.
die deutschsprachige Gegenwartslitera­ in ein autoritäres Land verwandelt. Eben­
tur nicht nur, sondern prägen sie mit. so stimmgewaltige Erzähler sind Freiräume durch Stipendien »Zu­
Varatharajah, der tamilischer Her­ yy die im saudi-arabischen Jeddah flucht in Deutschland« (S. Fischer, 288 S.,
kunft ist, hat mit seinem Roman über aufgewachsene Rasha Khayat, die 9,99 Euro) – unter diesem Titel haben
Erinnern, Vergessen und die Brüche in in »Weil wir längst woanders sind« Josef Haslinger und Franziska Sperr

© Stefan Waldek · Weiter Schreiben _ Almut Elhardt · picture alliance / dpa (v. l.)
der Biografie, »Vor der Zunahme der Zei­ (DuMont, 192 S., 19,99 Euro) 2017 Texte von Autoren herausgegeben,
chen« (S. Fischer, 19,99 Euro; Fischer schmerzhafte Fragen zu Freiheit und die Teil des »Writers in Exile«-Programms
Taschenbuch, September, 256 S., 12 Eu­ Fremdheit stellt, des deutschen PEN-Zentrums sind. Sti­
ro), großen Eindruck hinterlassen. Auch yy der vor dem Irak-Krieg geflohene pendien ermöglichen geflohenen Schrift­
Shida Bazyar, Autorin mit iranischen Najem Wali, der in »Saras Stunde« stellern den Start in ein neues Leben.
Wurzeln, bringt deutschen Lesern in ih­ (Hanser, 256 S., 23 Euro) über eine »Wir haben etwa einen Autor aus Bangla­
rem Roman »Nachts ist es leise in Tehe­ mutig aufbegehrende Frau in Saudi- desch aufgenommen, der aus seinem
ran« (Kiepenheuer & Witsch, 298 S., Arabien schreibt, Land fliehen musste, weil er auf eine To­
19,99 Euro, Tb.-Ausgabe 9,99 Euro) eine yy Sharon Dodua Otoo mit Eltern aus desliste geraten ist«, schildert der lang­
Welt nahe, die sie sonst nur aus den Ghana, die als Gewinnerin des jährige PEN-Präsident Haslinger einen
Nachrichten kennen. Bachmann-Preises 2016 brillierte und Fall. »Er war Blogger, und eine Gruppe
»Gott ist nicht schüchtern« (Aufbau, deren erste Novellen »die dinge, die ich von Islamisten in Bangladesch hat begon­
310 S., 22 Euro) von der aus Aserbaid­ denke, während ich höflich lächle« und nen, Autoren wie ihn auf grausame Art

Heimatlosigkeit Buchhändlerexistenz Wenn die Welt untergeht


Der Erzählton, in dem die Die jüdische Sortimenterin 24 Stunden in einem Berliner
zehnjährige Kully Einblicke in Françoise Frenkel leitete die Hotel im April 1945 – ein
das rastlose Leben in der erste französische Buchhand- äußerst temporeicher Roman,
Emigration gibt, wechselt von lung in Berlin, bis sie 1939 eine Liebesgeschichte,
naiv bis abgeklärt – der durch das besetzte Frankreich getrieben von Vicki Baums
Roman der Bestsellerautorin floh und sich in die Schweiz Frage: »Wie sieht es jetzt in
erschien erstmals 1938 in Amsterdam. rettete: ihr literarisch anspruchsvoller Rückblick. Deutschland aus?«
Irmgard Keun: »Kind aller Länder«, Françoise Frenkel: »Nichts, um sein Haupt zu Vicki Baum: »Hotel Berlin«, Wagenbach,
Kiepenheuer & Witsch, 222 S., 17,99 € betten«, btb, Februar, 288 S., 10 € April, 288 S., 14 €

30 2 . 2018 börsenblatt
Madjid Mohit: Sein
Sujet-Verlag veröffentlicht
»Luftwurzelliteratur«
zu töten. Nachdem vier dieser Autoren burger Tor und dem Literarischen Col­
umgebracht worden waren, ist er geflo­ loquium Berlin (LCB) ein sechsmona­
hen, hat seine Familie zurückgelassen. tiges Stipendium »Torschreiber am Pa­ Diese Kreativität ist spürbar. Es gibt
Seine Geschichte beschreibt, wie alte riser Platz« vergeben. Es richtet sich an aktuell viele entdeckenswerte Stimmen,
Feindbilder durch das Internet plötzlich aus ihren Heimatländern geflohene wütende und traurige, verzweifelte und
eine gefährliche Dimension erreichen Autoren, die in Deutschland leben und hoffnungsfrohe – darunter etablierte
können.« in den letzten zwei Jahren einen Autoren wie Can Dündar aus Ankara
Flüchtlingsstatus erhielten. Erste »Tor­ und Liao Yiwu aus Sichuan, aber auch
schreiberin« ist ab April die Syrerin Ra- Newcomer wie Mariam Meetra aus Af­
sha Habbal, die seit 2015 in Trier lebt ghanistan, die kurdisch-syrische Widad
und auf Arabisch schreibt. Sie arbeitet Nabi, Zaza Burchuladze aus Georgien
laut Jury derzeit an einem »vielver­ oder Sanath Balasooriya aus Sri Lanka.
sprechenden Roman über die Lebens­ Sherko Fatah, deutscher Schriftsteller
bedingungen im Exil in Deutschland«. mit irakisch-kurdischen Wurzeln,
schreibt in der Anthologie »Weg sein –
Hoffnungsfrohe Kreativität Ma- hier sein« (Secession, 256 S., 24 Euro):
Rasha Habbal: Die Syrerin djid Mohit ist vor 27 Jahren aus dem »Als Schriftsteller, das heißt als öffent­
ist die erste »Torschreiberin« Iran nach Deutschland geflohen. Kurze liche Person, sollte man diese Rolle an­
am Pariser Platz in Berlin
Zeit später gründete er in Bremen den nehmen und ausfüllen, so gut man
Sujet-Verlag, heute eine Heimat für kann, sei es als Brückenbauer zwischen
Autoren verschiedenster Ursprungs­ den Kulturen oder als Hüter einer für
Auch Yamen Hussein, der aus Syrien sprachen. Mit dem Begriff Exilliteratur die meisten im Gast- oder neuen Hei­
über den Libanon und die Türkei nach operiert Mohit allerdings ungern. matland sehr fremden Vergangenheit.«
Deutschland fliehen konnte, ist Writer Stattdessen spricht er von »Luftwur­ Eine bedeutsame Aufgabe kommt bei
in Exile: »Ich schreibe Gedichte über al­ zelliteratur – die besondere Art Litera­ diesem Brückenbau den Übersetzern
les – nicht nur über Syrien oder die tur von Autoren, die mit zwei oder zu. Und uns Lesern. Madjid Mohit je­
Flüchtlinge«, sagt er. Für ihn sei »das mehr Sprachen und Kulturen leben denfalls glaubt fest daran, dass man
ein Weg, um Hoffnung zu stiften. Es und unterwegs sind«. Sie seien mit ih­ sich nur mehr und mehr kennenlernen
hilft auch mir selbst, mit meinen Erin­ rer neuen Identität zufrieden und »se­ müsse, »um einen gemeinsamen Weg
nerungen klarzukommen.« hen sie als eine Herausforderung und zu finden, auf dieser Welt friedlich mit­
2018 wird erstmals von der Allianz einen Gewinn an Kreativität für ihre einander zu leben«. Die Literatur kann
Kulturstiftung, der Stiftung Branden­ Werke«. solche Wege ebnen. b

Literarische Spurensuche Ein Arbeitsbündnis Fahrten ins Ungewisse


Die AG »Frauen im Exil« der PEN-Mitglied Andreas Rumler Geglückte wie tragisch
Gesellschaft für Exilforschung begleitet die beiden gescheiterte Fluchten
ist als reisende Konferenz den Schriftsteller Feuchtwanger jüdischer Frauen von
Spuren der nach 1933 und Brecht chronologisch 1933 bis zum Ausreise-
Vertriebenen gefolgt – nach durch die Zufluchtsorte ihres verbot 1941. Ihre Wege führen nach Palästina,
Sanary, Les Milles und Exils. Amerika, Südafrika und Shanghai.
Marseille: Was erzählen die literarischen Werke? Andreas Rumler: »Exil als geistige Lebens- Kristine von Soden: »Und draußen weht ein
Irene Below u. a.: »Fluchtorte – Erinnerungs- form. Brecht und Feuchtwanger – ein Arbeits- fremder Wind ... Über die Meere ins Exil«, Der
orte«, edition text & kritik, 300 S., 34 € bündnis«, Edition A B Fischer, 160 S., 16,80 € Diwan, Februar, 5 CDs, Booklet, 24,90 €

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