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E D I TO R I A L MAI 2016

es auch nicht und fürchtete nach einem Tag Recherche schon,


Manchmal schwebt dass seine Geschichte über den jungen österreichischen
uns eine gute Idee Spitzenkoch Harald Irka scheitern würde. Irgendwann sprach
vor – und lässt sich Irka dann doch noch, spät abends, nach ziemlich viel Weißwein
doch nicht greifen. in der Küche seiner Wohnung am Waldrand (S. 32). Würger
Da hilft dieses Heft. nutzte die Gelegenheit, um in Irkas privaten Kühlschrank zu
schauen – und war erleichtert. Der Kühlschrank war ziemlich
TITELFOTO: SAM KAPLAN / TRUNK ARCHIVE; FOTOS: DANIEL GEBHART DE KOEKKOEK / SPIEGEL WISSEN, JAN VON HOLLEBEN / SPIEGEL WISSEN, HARTONO / PLAINPICTURE

unordentlich, voll mit Gemüse und einem Sahnepudding im


Plastikbecher. „Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, mit einem
„JEDER MENSCH IST EIN KÜNSTLER“, behauptete einst hochbegabten Außerirdischen zusammen zu sein“, sagt Würger,
Joseph Beuys. Den 1986 gestorbenen Künstler mit dem Filzhut „der Blick in den Kühlschrank hat mir gezeigt, Irka ist auch nur
und den wilden Thesen würde sicher begeistern, dass die ein Sterblicher.“
Kreativität zum Zauberwort unserer Zeit geworden ist. Die
deutschen Stiftehersteller kommen mit ihrer Produktion nicht
hinterher, weil viele Menschen das Zeichnen und Malen für sich
entdeckt haben, so auch Autorin Antje Blinda, die für uns die
„Urban Sketchers“-Bewegung beschreibt (S. 20). Andere tüfteln
in kollektiven Experimentierwerkstätten, „Fab Labs“ genannt
(S. 122). Dass gerade im Zeitalter der Digitalisierung die
Sehnsucht nach dem Gestrickten oder sonst wie Handgemachten
wächst, ist paradox, aber verständlich, glaubt Autorin Maren
Keller (S. 106). Auch in der Wirtschaft gilt Kreativität als neues Jan von Holleben
Wundermittel: Je kürzer die Innovationszyklen, desto mehr gute fotografiert für
Ideen müssen die Mitarbeiter entwickeln – dabei soll etwa das SPIEGEL
„Design Thinking“ helfen (S. 80). „Beuys hat recht“, sagt WISSEN sogar
Heftredakteurin Marianne Wellershoff, „jeder kann kreativ sein.“ auf dem Klo.

WIE SPRICHT MAN MIT EINEM MENSCHEN über


Kreativität, von dem alle sagen, er spreche nicht, weil er so
menschenscheu sei? SPIEGEL-Redakteur Takis Würger wusste

SCHON OFT HAT DER FOTOGRAF Jan von Holleben


symbolträchtige Bildwelten für SPIEGEL WISSEN entworfen.
Zwei Sammler im Diesmal sollte er ein Interview mit dem Psychologen Frank
Wald: Koch Harald Berzbach über Achtsamkeit und Kreativität illustrieren – und
Irka (r.) wollte fand seine Inspiration in einer Berliner Altbauwohnung. „Als
Kräuter pflücken, ich eintrat, war ich gebannt von all dem Leben, den Geschichten
Journalist Takis und den kleinen, gealterten Details“, sagt Holleben. „Speziell
Würger Zitate die Böden faszinierten mich sofort. Durch Patina und Geschichte,
nach Haus tragen. durch Rhythmus und Ordnung wird Kreativität stimuliert, genau
wie es Frank Berzbach erklärt – und ich habe angefangen zu
spielen.“ Die Resultate finden Sie ab S. 50.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 3


I N D I E S E M H E F T

26
Schaffenskraft im Doppelpack:
die Zwillinge Uwe und Gert Tobias

JUSTIN LANE / PICTURE-ALLIANCE / DPA, ILONA HABBEN / SPIEGEL WISSEN, JÉROME GERULL / SPIEGEL WISSEN, MAREN AMINI / SPIEGEL WISSEN, JAN PHILIP WELCHERING / SPIEGEL WISSEN, ROBERT SAMUEL HANSON / SPIEGEL WISSEN
sowie andere Künstlerduos

20
Freiluftmalerei: „Urban
Sketchers“ halten die
Welt mit Aquarellpinsel
oder Zeichenstift fest.
38
Wie kreativ sind Sie? Der
große SPIEGEL-WISSEN-
Test verrät es.

K A P I T E L 1 K A P I T E L 2

DAS INSPIRIERTE 32 „Eine langweilige Karotte IM EINFALLSREICH


ICH will ja keiner essen“
Im Wald findet der junge
österreichische Starkoch Harald 58 Schönheitsköniginnen
12 „Licht und Luft“ Irka Kräuter, Pilze und Ideen Ein junges Berliner Start-up macht
Wie Filmregisseur Detlev Buck auf Öko-Kosmetik glamourös
seine Einfälle kommt 35 Bouillabäh
Ein computergeneriertes Rezept – 62 Glückliche Kühe
14 Funkenflug des Geistes ja, schmeckt das denn? Wie drei Freunde ihren Rind-
Schönes erfinden, Neues viechern das Leben verschönern
erschaffen: Nur weil der Mensch 38 Geistesblitzschnell
kreativ und innovativ ist, gibt es Problemlösen und Assoziieren – 67 Lieblingsbuch
Fortschritt in unserer Welt testen Sie Ihre Kreativität Was der Autor Peter Henning als
Lektüre zum Heftthema empfiehlt
20 Mein Bild der Welt 43 Dr. Allwissend
Zeichnen statt fotografieren, das ist Auch die Natur erneuert sich – mit 68 „Die Kunst ist,
das Credo der „Urban Sketchers“ System sich zu trauen“
Google-Innovationschef Frederik
24 Mister Crazy 44 Auf Kresch-Kurs Pferdt setzt auf die Fehlerkultur
Harvard-Lehrer David Edwards In einer Oberhausener Gesamt-
will die Sinnlichkeit retten – mit schule wird Fantasie gelehrt 74 Tun, was guttut
einem Geruchstelefon Sechs Freizeit-Kreative berichten
50 „Der Mensch ist ein
26 Gemeinsame Sache schöpferisches Wesen“ 80 Die Kulturrevolutionäre
Wie verdoppelt man sein Potenzial? Psychologe Frank Berzbach über Für die Arbeitswelt von morgen
Indem man zu zweit arbeitet! Achtsamkeit, Konzentration und werden Querdenker gesucht
das Glück des Kartoffelschälens
101 „Funkeln wie die Huren“
Zwischenruf: Ohne Herkunft gibt
es keine Zukunft

4 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


106
Die Sehnsucht
nach dem
Handfesten:
Warum das
Basteln boomt

85
Dossier „Social Design“
mit Leserwettbewerb:
„Gute Ideen für unsere
Straße“
112 Wikipedia statt
Brockhaus: Innovationen
des digitalen Zeitalters

D O S S I E R K A P I T E L 3

126 „Glück und Stress“


SOCIAL DESIGN RAUSCH DES NEUEN Wenn Fantasie zur Währung wird:
Soziologe Andreas Reckwitz über
die Risiken einer Kreativitätskultur
87 Die Stadt gehört uns 106 Die Welt begreifen
Wie Bürger ihren Lebensraum Das Häkel-Paradox: Wir leben digi- 128 Apps
selbst gestalten tal und lieben Handgemachtes Digitale Helferlein für unsere
schöpferischen Impulse
88 Zusammen baut man 110 Wie sind Sie kreativ?
weniger allein Kochen, Fotografieren, Modell- 129 Frau Burmester hat
Aufbruch statt Abbruch: eisenbahn: unsere Straßenumfrage einen Termin
die britische Architektengruppe … beim Frauenhandwerkskurs
Assemble 112 Mit aller Kraft der
Zerstörung
92 Die Anti-Bürokraten Wenn das Neue das Alte platt-
Im dänischen Mindlab probt der macht – das Phänomen Disruption
Staat die Basisnähe
118 „Wer sich gegen jeden
96 „Urbanität ist Chaos“ Wandel sperrt, zerfällt 3 Editorial
Bernd Kniess, Professor für Urban zwangsläufig“ 6 Ein Bild und seine Geschichte
Design, über neues Zusammen- Evolutionsforscher Jared Diamond 10 Meldungen: Anders handeln
leben in den Metropolen über Innovation in Gesellschaften 53 Kreativität in Zahlen
56 Meldungen: Anders arbeiten
98 Der große 122 Experimente, bitte! 104 Meldungen: Anders leben
Leserwettbewerb „Fab Labs“ sind die Hobbytheken 130 Impressum
SPIEGEL WISSEN und des digitalen Zeitalters
SPIEGEL ONLINE vergeben den Wir freuen uns, von Ihnen zu hören:
Social Design Award für den 125 Was wäre die Welt ohne info@spiegel-wissen.de
besten Vorschlag, der Leben in ... Brainstorming? Folgen Sie uns auch auf Facebook unter:
die Straße bringt Tja, was? Lasst uns brainstormen! facebook.com/spiegelwissendasheft

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 5


K I N D E R L E I C H T
EIN FLIEGENDES SPRINGSEIL hat sich die sechsjährige
Chloe ausgedacht, mit Lichtern und lilalustigen Propellern
(„Achtet darauf, dass ihr landet, ehe die Batterien leer sind!“).
Mehr als 20 solcher Ideen sehr jugendlicher Erfinder hat
der Künstler und Designer Dominic Wilcox im Auftrag der
britischen Kunstorganisation „The Cultural Spring“ 2015 in
allen Details – und funktionstüchtig – bauen lassen. Bei
seinem Projekt „Inventors!“ (Erfinder) entstanden auch ein
Regenschirm für Marienkäfer und eine Gabel, die das Essen
kühlt. Mit Chloes Flugseil sollen Kinder, so wünscht sie sich,
in andere Länder hüpfen. Ein Beitrag zur Völkerverstän-
digung also – wenn die Batterien reichen.

6 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


CATERS / BULLS

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 7


PUTPUT / SPIEGEL WISSEN

8 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


1

DA S I N S P I R I E R T E I C H

Das Zauberwort unserer Zeit heißt Kreativität. Es


wird musiziert, gebastelt, gemalt, gehäkelt, getüftelt.
Schöpferisch zu sein gehört zum Wesen des
Menschen. Und jeder kann sein Potenzial entdecken.

„Beim Einschlafen kann man „Die Muse küsst die, „Eigentlich alles sehr simpel,
sich sehr schön in seine eigene die sich trauen, eine schlechte aber vom Geschmack
Welt träumen. Da fallen mir Idee aufzuzeichnen. ist es überraschend, weil es
auch gute Sachen ein, die Man muss die schlechte Idee salzig, scharf und süß ist.
man in Deutschland aber leider weiterentwickeln. Kreativität in der Küche heißt
aus finanziellen Gründen Das klingt nicht cool, ist auch, dass man den Gast
nicht realisieren kann.“ aber so.“ überrascht.“

Detlev Buck, Filmregisseur Felix Scheinberger, Illustrator Harald Irka, Meisterkoch


Seite 12 Seite 20 Seite 32

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 9


A N D E R S H A N D E L N

Schwarz und
Weiß
VO M E I G E N E N KO P F M AT T
G E S E T Z T : D E R S C H AC H F I L M
„BAUERNOPFER“.

WENN BOBBY FISHER aufs


Schachbrett blickt, sieht er 32 Figuren
und Millionen von Möglichkeiten, wie

„Mentaler Juckreiz“
das Spiel verlaufen könnte. Edward
Zwicks Film „Bauernopfer“, der das
Leben des amerikanischen Schach-
weltmeisters rekapituliert, spielt an
D E R W I S S E N S C H A F T S A U TO R C A R L N A U G H TO N H Ä LT N E U G I E R der Grenze unseres Vorstellungs-
F Ü R E I N E U N T E R S C H ÄT Z T E Q U A L I TÄT. vermögens. Wie viele Varianten kann
das menschliche Gehirn voraus-
berechnen, und wie kommt es plötz-
SPIEGEL: Herr Naughton, warum interes- Naughton: Interessanterweise wird „Neu- lich auf einen Zug, der auf den ersten
siert Sie Neugier? gier“ immer als Gegenpol zur „Routine“ Blick keinen Sinn ergibt, aber 20 Züge
Naughton: Egal, ob Partnerbörse, Stellen- genannt. Aber das ist ein Irrtum: Wenn später zum Matt führt? Der Film, der
inserat oder Innovationskampagne – Neu- neugierige Menschen es mit einfachen am 28. April in deutschen Kinos
gier wird überall gefordert. Nur haben we- Aufgaben zu tun bekommen, entwickeln startet, umkreist seinen Helden (Tobey
nige sie bisher untersucht. Beim Recherchie- sie Strategien, um diese interessanter zu Maguire) wie eine Blackbox, in der
ren fand ich überhaupt erst heraus, was sie machen. sich ein ebenso wirrer wie kreativer
alles kann: Wer neugierig ist, hat ein besse- SPIEGEL: Wie kann man Neugier fördern? Geist verbirgt, die sich aber nie ganz
res Gedächtnis, lebt gesünder, ist kreativer. Naughton: Es gibt unterschiedliche Arten öffnen lässt. Jenseits des Schachbretts
SPIEGEL: Wieso kreativer? von Neugier. Sie alle eint das unangenehme neigte Fisher zu paranoiden Hirn-
Naughton: Neugierige sind per se offener Gefühl, gerade eine Lücke im eigenen Wis- gespinsten. Als er 1972 gegen den Rus-
für neue Ideen. Sie haben richtiggehend sen entdeckt zu haben. Dieser Zustand ist sen Boris Spasski antrat, drohte er fast
Lust auf Neues. Das Kopfklima ist nötig, für das Gehirn quälend, wie ein mentaler den Verstand zu verlieren, weil er sich
um kreativ zu sein. Dazu kommt, dass Neu- Juckreiz. Erst die fehlende Information lin- ständig verfolgt fühlte. Allein die Kon-
gierige laut Studien gewissenhafter sind. dert das Leid. Wer so tickt, sollte ruhig im- zentration auf das Spiel ermöglichte
Sie bleiben automatisch länger dran, wollen mer wieder nach Wissenslücken suchen. es Fisher offenbar, seine Vorstellungs-
verstehen und durchdringen. Das ist nütz- kraft unter Kontrolle zu bekommen.
lich fürs Umsetzen neuer Ideen – sei es in CARL NAUGHTON: „Neugier. So Er musste seine Kreativität extrem
Beziehungen oder in der Firma. schaffen Sie Lust auf Neues und Ver- kanalisieren, um nicht ihr erstes Opfer
SPIEGEL: Brauchen wir Neugier im Alltag? änderung“. Econ; 296 Seiten; 19,99 Euro. zu sein.

Schlau eingefädelt Northern Arizona University. Zusammen mit einer


Kollegin befragte sie 435 handarbeitsaffine Frauen
W E LC H E H O B BYS T U N G U T ? zu Freizeitaktivitäten, die für sie wichtig sind.
Bei 69 Prozent der Versuchsteilnehmer war es
ein kreatives Hobby, bei 31 Prozent eher Lesen
WENN ES STRESSIG WIRD, hilft der oder Sport. In der Studie zeigte sich, dass krea-
Griff zum Nähkorb: Denn Stricken, Sticken und tive Tätigkeiten entspannen und beleben – bei
Häkeln verbessern die Stimmung, machen wie- Lesen oder Fitness ist der Effekt längst nicht
der wach und frisch. Zu diesem Ergebnis kam so stark. Studienleiterin Futterman Collier freut
die Psychologin Ann Futterman Collier von der das Ergebnis: Sie näht und strickt selbst gern.

10
„Mehr
Fachleute
für Sex“
U M F R AG E I : WO F E H LT E S I N
UNSERER GESELLSCHAFT
A N I N N OVAT I O N ?
E I N E A N T WO R T VO N A N N -
MARLENE HENNING, 51,
S E X U A LT H E R A P E U T I N .

„ICH MÖCHTE in allen großen Uni-


versitäten Sexologie als Fach angeboten
sehen. Heute ist Sexologie nicht mal
‚Nebenstrecke‘ der Medizin oder der
Psychologie, sondern schlicht nicht
vorhanden. Dabei leiden viele Men-
schen unter sexuellen Problemen: Viele
Frauen können keinen Orgasmus be-
kommen, wünschen es sich aber sehr.
Männer kommen jahrelang zu früh
oder verlieren im Alter ihre ,Stehfähig-
keit‘. Alles Probleme, die meist einfache
NOA-MAR / PLAINPICTURE, STEPHANIE TETU / PICTURETANK / AGENTUR FOCUS, ACHIM MULTHAUPT / LAIF, ELLIOTT ERWITT / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS

körperliche Ursachen haben oder auf


fehlendem Wissen basieren. Es ist nicht
immer ein Problem im Kopf. Die Pro-
bleme sind behandelbar! Allerdings
fehlt es an Fachleuten. Gynäkologen,
Urologen oder Hausärzte haben keine
entsprechende Ausbildung. Wollen Sie
von Ihrem Urologen den Sex lernen,
den er gerade selber hat? Deshalb:
Mehr Ausbildungen für Sex! Denn Sex
macht das Leben schöner und länger.“

Ann-Marlene
Henning

Der schönste Moment


W I E M A N K R E AT I V I TÄT M I T S E I N E N K I N D E R N Ü B E N K A N N .

VIELE ELTERN wünschen sich, dass 2. Einmal in der Woche unternehmen Groß
ihr Nachwuchs Freude am Malen oder Mu- und Klein etwas zusammen, was beide
sizieren entwickelt. Aber wie klappt das? schön finden: Museumsbesuch, Schwimm- „Die einzig revolutionäre
Die US-Kreativitätstrainerin Julia Came- bad, Roboter basteln.
ron rät davon ab, Kinder überehrgeizig in 3. Eltern sollten sich eigene Kreativzeiten Kraft ist die Kraft der
Kurse und Fördergruppen zu stecken. Statt gönnen. Zum Beispiel mit der „Morgensei-
dessen schlägt sie vor, kleine Veränderun- ten“-Technik – nach dem Aufstehen ein- menschlichen Kreativität,
gen im Tagesablauf vorzunehmen: fach drei Seiten Papier mit den Gedanken die einzig revolutionäre
1. Kurz vor dem Schlafengehen erzählen vollschreiben, die gerade auftauchen.
sich Kind und Erwachsener gegenseitig Kraft ist die Kunst.“
vom schönsten Moment des Tages – so be- JULIA CAMERON: „The Artist’s Way
J O S E P H B E U YS
kommen die Eltern mit, was dem Kind for Parents: Raising Creative Children“.
wichtig ist, und können es aufgreifen. TarcherPerigee; 288 Seiten; 16,24 Euro.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 11


12 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016
I D E E N

„Licht und Luft“


Der Filmregisseur Detlev Buck
über das Warten auf den guten Einfall
F OTO CHRISTIAN WERNER

DAS TOLLSTE AM FILMEMACHEN IST FÜR MICH, den Stoff Beim Einschlafen kann man sich sehr schön in seine eigene Welt
zu entwickeln. Und da ich mich selbst gut kenne und manchmal träumen. Da fallen mir auch gute Sachen ein, die man in Deutsch-
fad finde, mache ich das gern im Austausch mit anderen Menschen. land leider aus finanziellen Gründen nicht realisieren kann, und
Im Dialog entsteht ein Spiel, in dem sich Ideen entwickeln: Ah, das nach dem Aufwachen landet man wieder in der Realität. Science-
ist gut, das ist eine spannende Wendung. Man sieht den Film schon Fiction zum Beispiel, deshalb dreht Roland Emmerich ja lieber in
vor sich. Das macht mir Spaß, und ich möchte bei der Arbeit eine Hollywood.
gute Zeit haben. Es heißt ja, wer glücklich ist, könne nicht kreativ
sein oder Großes schaffen. Ich habe aber keine Lust, unglücklich WENN MAN SO RICHTIG FESTSTECKT beim Schreiben, ist
zu sein und meinen Schmerz dann in Kunst umzuwandeln. das nicht auszuhalten. Da geht einem der Hut hoch. Hitchcock hat
Ideen kann man nicht erzwingen, sie kommen einfach, wenn mit seinen Schreibern angeblich eine Bootsfahrt auf der Themse
man um etwas kreist. Früher habe ich deshalb ein Notizbuch ge- gemacht, wenn sie nicht weiterkamen. Ich gehe spazieren. Bewe-
führt, aber das mache ich nicht mehr. Nur manchmal schreibe ich gung, Licht, frische Luft, das ist gut. Das bringt eine Perspektivver-
einen Gedanken auf. Oder ich fotografiere, vor allem auf Reisen. schiebung.
Ich bewundere Woody Allen, der ganz strukturiert mit einem Zet- An einem historischen Stoff, der in der Mongolei spielt, arbeiten
telsystem arbeitet und deshalb jedes Jahr einen Film abliefert. Ich wir schon seit 15 Jahren. Als ich 2002 in die Mongolei gereist bin,
kann das überhaupt nicht. wusste ich, dass sich nichts so umsetzen lassen würde, wie ich es
Viele Autoren geben sich ein zeitliches Gerüst: Sie arbeiten früh- mir vorgestellt hatte. Wir haben uns in den 15 Jahren immer wieder
morgens oder spätabends, wenn es ruhig ist und keine Mails herum- in verschiedenen Konstellationen zusammengesetzt, um den Stoff
sausen. Als ich mit Ernst Kahl das Drehbuch für „Wir können auch weiterzuentwickeln. Am lustigsten war der Tag, als die anderen
anders“ geschrieben habe, haben wir beide nach dem Mittagessen Haschkekse gegessen hatten, ohne es zu wissen. Nur ich nicht,
erst mal geschlafen, dann gab es abends den philosophischen Wein, weil ich keine Lust auf Kekse hatte. Ich war völlig irritiert, was
und das Filmthema wurde unter diesem Einfluss etwas lockerer mit den anderen los war; die Dramaturgin, die sonst immer Notizen
besprochen, das gab ganz andere Töne. Ernst Kahl ist ja Maler und machte, schlief ein, und was die anderen sagten, habe ich überhaupt
muss eine große Disziplin haben, denn er steht allein vor der nicht verstanden. Ich glaube, es ist trotzdem etwas dabei heraus-
Staffelei. Da gibt es keinen Austausch mit Drehbuchschreibern, gekommen, auf jeden Fall habe ich nachhaltige Erinnerungen an
Redakteuren oder Produzenten. Da sind nur der Maler und sein diesen Tag.
Bild. Das ist auch nicht einfach. Aber man kann nicht einfach Hilfsmittel wie Drogen oder Kaffee
nehmen und erwarten, dass man einen guten Einfall hat. Wir haben
zuletzt ein Jahr lang relativ kontinuierlich an dem Drehbuch ge-
arbeitet. Nun müssen wir das Geld für die Produktion auftreiben.
DETLEV BUCK Auch da muss man sich wieder etwas einfallen lassen. Ich nenne
solche Projekte „Nilpferde schieben“.
wurde 1996 mit „Männerpension“ bekannt. Und dann ist man beim nächsten Film wieder ein Anfänger. Und
Seine „Bibi & Tina“-Filme gehören zu den erfolg- manchmal kommt man im Verlauf des Projekts an einen Punkt, wo
reichsten deutschen Kinderproduktionen. man noch mal von vorn anfangen muss. Man ist dauernd unsicher.
Nächstes Jahr ist Buck, 54, als Schauspieler in Als ich zur Schule ging, dachte ich: Ich will später nie wieder eine
der Sven-Regener-Verfilmung „Magical Mystery“ Prüfung machen. Jetzt ist jeder Film eine Prüfung. Aber wenn ich
im Kino zu sehen. keine Filme mehr machen würde, wäre mir langweilig.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 13


V O R S T E L L U N G S K R A F T

Funkenflug des Geistes


Kreativität ist ein Motor der Menschheits-
geschichte. Aber wo kommt das Neue her?
TEXT MARIANNE WELLERSHOFF I L L U S T R AT I O N E N RUSSLAN

14 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


VO R S T E L L U N G S K R A F T

Es gäbe keinen
Fortschritt, wenn
die Menschen
nicht den schöp-
ferischen Drang
hätten, ihre Welt
immer wieder
neu zu gestalten.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 15


VO R S T E L L U N G S K R A F T

WAS ALLES KANN MAN mit einem Zie- gel in der Pfütze, beides Verwendungen, die der Präsident der American Psychological
gelstein machen? Denken Sie mal eine Mi- nach dem Schwammprinzip funktionieren Association, Joy Paul Guilford, im Jahr 1950
nute darüber nach, und schreiben Sie eine und längst in der Hydrokultur verbreitet sind. seine Kollegen aufgefordert hatte, sich end-
Liste auf ein Blatt Papier. Und was ist mit dem Stoned Chicken? lich der Kreativität zu widmen und diese
Und? Gemahlenen Ziegelstein übers Hähnchen systematisch zu erforschen. Jahrhunderte-
Also, man kann mit einem Ziegelstein zu verteilen, ist fraglos ein ungewöhnlicher lang hatte man Kreativität für das Ergebnis
eine Mauer bauen, man kann ihn als Brief- Einfall, aber wer ihn ausprobiert, wird zwei eines Geistesblitzes gehalten – und es bei
beschwerer benutzen oder als Buchstütze, Dinge lernen: Erstens müssen die Gäste an- dieser Erklärung belassen. Doch auch, als
man kann ihn im Ofen aufheizen und das schließend zum Zahnarzt; und zweitens ist Ende des 19. Jahrhunderts die naturwissen-
Bett damit anwärmen, man kann ihn Men- nicht alles, was originell ist, auch kreativ. schaftliche Psychologie Fahrt aufnahm,
schen, auf die man sauer ist, an den Kopf Denn ein kreatives Produkt ist nur eines, blieb Kreativität ein Randthema.
werfen, man kann ihn in kleine Stücke zer- das wirklich neu ist, darüber hinaus einen Als Guilford seine Erweckungsrede hielt,
trümmern und als Drainage in Blumentöp- Nutzen hat und für jemanden relevant ist. beschäftigte sich weniger als 0,2 Prozent
fen verwenden, man kann ihn in eine Pfütze Die Ziegelstein-Frage ist einer der ältes- der psychologischen Forschung mit Kreati-
stellen und Wasser aufsaugen, man kann ihn, ten Kreativitätstests in der psychologischen vität. Warum? Vermutlich, weil sie so
falls das scharfe Paprikagewürz ausgegan- Forschung. Er wurde entwickelt, nachdem schwer zu definieren und zu messen ist, und
gen ist, pulverisieren, übers Brat- wohl auch, weil sie uns so fasziniert
hähnchen streuen und den Gästen wie einschüchtert: Die meisten
als Stoned Chicken servieren. Menschen bewundern kreative
Das sind acht Möglichkeiten, Leistungen und wären gern selbst
und sicherlich gibt es acht Millio- geniale Schöpfer. Kreativität wird
nen weitere – aber die Frage, um – bis heute – mystifiziert.
die es hier geht, lautet: Welche die- Und wenn sich doch jemand an
ser Vorschläge sind sehr kreativ? die Erforschung der Kreativität ge-
Oder wenigstens ein bisschen? Eine wagt hatte, dann ging es meist um
Mauer mit einem Ziegelstein zu Einzelfallanalysen mit der Frage,
bauen, ist es jedenfalls nicht, denn was eine kreative Person ausmacht:
auf diese Idee sind die Menschen Welchen IQ hatten Johann Wolf-
vor Jahrtausenden gekommen, und gang von Goethe und Martin Lu-
schon immer schlagen Menschen ther (210 und 170)? Sind Genies
mit allem aufeinander ein, was ih- zwangsläufig psychisch krank (Der
nen in die Hände kommt. labile Maler Vincent van Gogh! Der
Den Ziegelstein als Brief- depressive Komponist Robert Schu-
beschwerer zu benutzen, ist kreativ, mann! Der schizophrene Mathema-
wenn man das noch nie vorher ge- tiker John Nash!)?
sehen hat. Ihn als Buchstütze zu ver- 66 Jahre nach Guilfords State-
wenden, ist aber im Prinzip die glei- ment gibt es viele psychologische
che Idee – und daher nicht mehr Kreativitätstheorien und sehr, sehr
kreativ. Heiße Steine im Bett sind viele Experimente und Studien.
ein Klassiker, in puncto Kreativität Mal stehen kognitive Fähigkeiten
also ein Ausfall. im Fokus, etwa zur Problemlösung,
Dasselbe gilt für die Ziegelstein- Das Phänomen Disruption: mal geht es um Talent, um Nonkon-
schicht im Blumentopf und den Zie- Motoren ersetzten Pferde. formismus oder um die Bedeutung

D A S E N D E D E R K U T S C H E

A
ls der Ingenieur Carl Benz am 3. Juli 1886 mit dem Benz- ma“ eingeführt. Er zeigte auf, dass Unternehmen zugrunde gehen,
Patent-Motorwagen Nummer 1 durch Mannheim knat- wenn sie sich an den aktuellen Bedürfnissen der Kunden orientieren
terte, war nicht nur das Auto mit Verbrennungsmotor er- und nicht an den zukünftigen. Disruptive Innovationen dagegen
funden und der Mobilität eine neue Dimension eröffnet, sondern schaffen einen neuen Markt und zerstören einen existierenden.
der Niedergang eines Wirtschaftszweiges hatte begonnen: der Bran- Das Dampfschiff löste das Segelboot als Transportmittel ab, die
che der Pferdekutscher und Droschkenhersteller. Eine Nebenwir- energiesparende LED-Lampe bedeutete das baldige Aus für die
kung der Kreativität ist gelegentlich Zerstörung – Disruption ist Glühbirne. Die Digitalkamera machte Filmrollen überflüssig und
das nicht ganz so gewalttätig klingende Fachwort für solche um- zerstörte das Geschäft von Kodak und Polaroid (siehe auch Bild-
stürzlerischen Erfindungen, die das Alte überflüssig machen und strecke „Mit aller Kraft der Zerstörung“, S. 112). Christensens Buch
hinwegfegen. Den Begriff „disruption“ hat der Harvard-Professor wurde vom „Economist“ zu einer der wichtigsten Wirtschaftsana-
Clayton Christensen 1997 in seinem Buch „The Innovator’s Dilem- lysen aller Zeiten gekürt.

16 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


der rechten Hirnhälfte, die bei kreativen
Prozessen besonders aktiv ist.
Mittlerweile ist die Kategorisierung von
Kreativität ein beliebtes Thema: Sie wird „Jedes Kind ist ein Künstler“,
eingeteilt in bahnbrechende Ideen („Big C“) sagte Picasso. Die Forschung
einerseits und in Alltagskreativität („Little gibt ihm Recht.
C“) andererseits, etwa den aus Not – der
Kühlschrank war leer – entwickelten Muf-
finteig ohne Ei.

AUCH DER GEISTESBLITZ wird er-


forscht, und es hat sich gezeigt, dass er in
Wahrheit kein Himmelseinschlag ist, son-
dern Resultat einer langen, intensiven Be-
schäftigung mit einem Problem. Das gilt
auch dann, wenn man die Lösung schließ-
lich träumt, wie Elias Howe, ein Pionier der
Nähmaschinentechnik, oder wenn sie das
Zufallsresultat eines missglückten Versuchs
zu sein scheint, wie die Erfindung eines
leicht ablösbaren Klebstoffs, der die Post-
its erst möglich machte. dafür sorgen, dass manches schaurige Pro- Eltern können für eine anregende Umge-
Der Fachbegriff für die Fähigkeit, etwas dukt eben wieder verboten wird. bung sorgen, den Kindern Zeit zum Nach-
als Entdeckung überhaupt erst zu erkennen, denken geben, Talente wie Musikalität sys-
heißt „Serendipity“ – also im Fall der Post- tematisch fördern und dafür sorgen, dass
its die Idee, dass der leicht abzulösende Kle- Mehr Ideen gleich Kinder sich viel Wissen aneignen in den Ge-
ber ideal für Sticker aller Art sein könnte. mehr gute Ideen bieten, für die sie sich interessieren.
Eines steht fest: Nichts in unserem Leben Aber ist jeder Mensch kreativ? Hat vielleicht Doch es gibt noch viele weitere Faktoren,
wäre so, wie es ist, wenn die Menschheit sogar jeder das Potential zum Genie? Der die zu Kreativität führen. Einige davon lie-
nicht kreativ wäre. Unsere Geschichte ist die selbst ziemlich geniale Maler Pablo Picasso gen in der Persönlichkeit begründet – der-
Geschichte des Fortschritts, und der ist un- hat gesagt: „Jedes Kind ist ein Künstler – jenigen des Kindes wie später des Erwach-
denkbar ohne die Fähigkeit und den Willen die Schwierigkeit besteht darin, Künstler zu senen. Intelligenz zum Beispiel, denn IQ
des Menschen, noch nie Gedachtes und Ge- bleiben, wenn man erwachsen wird.“ Damit und Kreativität gehören zusammen wie
probtes auszutesten – also ohne Kreativität. hat er das Ergebnis einer Nasa-Studie vor- „Eier und Speck“, sagt der Forscher James
Sie gehört zur menschlichen Natur und weggenommen, die ergeben hat, dass 98 Pro- Kaufman. Außerdem hilft die Fähigkeit, Pro-
prägt unser gesamtes Leben. Unser Gehirn zent der 5-Jährigen „hochgradig kreativ“ sei- bleme überhaupt zu erkennen und Dinge
wäre vielleicht nie so groß und leistungsfä- en, aber nur 2 Prozent der über 25-Jährigen. mal anders zu sehen, dazu Mut, Nonkon-
hig geworden, wenn nicht irgendein schlau- Wie also schafft man es, dieses Potenzial formismus, Offenheit gegenüber Ambiva-
er Urmensch auf die Idee gekommen wäre, zu retten, anstatt Kindern ihre Schöpfungs- lenzen.
Feuer zu machen und Essen zu kochen, was kraft auszutreiben? Die psychologische For-
erstens besser schmeckt als Rohkost und schung hat gezeigt, dass aus Kindern krea- FALLSTUDIEN HABEN GEZEIGT, dass
zweitens die Nährstoffe leichter verdaulich tive Erwachsene werden können, wenn sie Menschen, die Außergewöhnliches in Wis-
macht. Oder mit fiesen Fallen und Waffen nach den Prinzipien der Humanistischen senschaft oder Kunst geleistet haben, sich
Mammuts und andere Tiere zu jagen und Psychologie von Carl Rogers aufwachsen, mit diesen Themen schon als Kinder be-
aufzuessen, um so an große Mengen von also wenn Neugier und Erforschungen von schäftigt haben. Das bestätigt auch die Regel:
Protein zu kommen. Wir müssen uns nicht Eltern gefördert werden, wenn die Meinung Wer mehr Ideen hat, der hat auch mehr gute
mehr den Rücken kaputt machen, weil die der Kinder wertgeschätzt wird und die Kin- Ideen. Kreativität ist also nicht nur das Er-
Mesopotamier vor knapp 6000 Jahren das der eigene Entscheidungen treffen können. gebnis von Talent, sondern auch von Arbeit.
Rad erfunden haben, und wir können die Weshalb Unternehmen nicht nach talentier-
selbst komponierte Melodie von einem elek- ten Mitarbeitern suchen sollten, sondern
tronischen Schlagzeug begleiten lassen, nach talentierten und fleißigen. In einem
wenn wir die App Musikmemos öffnen. Satz des Münchner Wort-Artisten Karl Va-
Natürlich gibt es auch Dinge, die wären lentin zusammengefasst: „Kunst ist schön,
besser nicht erfunden worden, zum Beispiel IQ und Kreativität macht aber viel Arbeit.“
RUSSLAN / SPIEGEL WISSEN

das Pestizid Glyphosat oder die Atombombe. gehören zusammen wie Und hier eine gute Nachricht für dieje-
Kreativität determiniert den Neuigkeits- nigen, die ihr verschüttetes kreatives Poten-
wert, aber nicht den moralischen Wert einer „Eier und Speck“. zial ausbuddeln wollen: Die vielen Ratgeber
Idee, sie teilt nicht ein in Gut und Böse. Da- zur Talentförderung Erwachsener haben
für gibt es gesellschaftliche Normen – Ge- durchaus ihren Sinn, denn Talent kann in
setze oder Abkommen beispielsweise, die jedem Alter noch entdeckt und gefördert

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 17


VO R S T E L L U N G S K R A F T

werden. Der irischstämmige Lehrer Frank An diesen Beispielen sieht man: Es Schottland ist immer noch nicht zu unter-
McCourt schrieb erst nach seiner Pensio- braucht nicht nur eine kreative Person, die schätzen, denn hier lebt auch Johanna Bas-
nierung die eindrucksvolle Autobiografie in einem kreativen Prozess ein kreatives Pro- ford, die zarte, liebevolle Fantasiewelten ge-
„Die Asche meiner Mutter“, die 1996 zum dukt entwickelt – auch die Umgebung, der staltet, in die anschließend die Fans ihrer Aus-
internationalen Bestseller wurde. Zeitgeist, die Umstände sind maßgebliche malbücher Farbe bringen. Damit hat Basford
Allerdings geht es nicht ohne Ausdauer Faktoren. Der US-amerikanische Wirt- nicht nur in den vergangenen Jahren einen
und Geduld, denn es gilt das „Zehn-Jahres- schaftstheoretiker Richard Florida entwi- Trend, sondern auch eine Bereicherung ge-
Gesetz“: Zwischen dem ersten Entdecken ckelte vor gut zehn Jahren die Theorie der schaffen, für beide Seiten. Auch ihr Beispiel
von Mathematik, Musik oder Biologie und „Creative Class“: Danach ist das Wirtschafts- zeigt, dass vom Zeitgeist abhängt, was als
der Aneignung von genug Expertise, um et- wachstum einer Region oder Stadt davon ab- kreativ empfunden wird und Menschen fas-
was Kreatives in dem Feld zu schaffen, liegt hängig, wie viele kreative Köpfe dort leben. ziniert – oder welcher Erwachsene hätte vor
eigentlich immer eine Dekade. Heute ist das Silicon Valley so ein Hot- zehn Jahren freiwillig Bilder bunt gemalt?
spot der Kreativität. Im 18. Jahrhundert war Dem Maler Paul Klee wird das poetische
es Schottland, wie der Autor Eric Weiner in Zitat zugeschrieben: „Eine Linie ist ein
„Ein Punkt, der seinem neuen Buch „The Geography of Ge- Punkt, der spazieren geht.“ Kreativität be-
spazieren geht“ nius“ belegt. Dort wurde nicht nur das WC deutet demnach nicht nur, etwas zu erfin-
Als Sir John Harington 1596 das Wasserklo- erfunden, sondern auch das Leistungsmaß den, zu entdecken oder etwas Neues zu ge-
sett für seine Patentante Queen Elizabeth I. der Pferdestärke, die Encyclopaedia Britan- stalten. Kreativität bedeutet auch, Dinge neu
und für sich selbst erfand, war die Zeit noch nica und die künstliche Kühlung. Wenig zu interpretieren und ihnen eine andere Di-
nicht reif für so viel Hygiene – es geriet in überrascht, dass es in diesen Zentren der mension zu geben. Oder Dinge, die schein-
Vergessenheit. 1775, knapp 200 Jahre später Ideen und Entdeckungen immer eine Uni- bar nicht zusammenpassen, zu etwas Neu-
also, erfand Alexander Cumming das WC versität gibt. Im Silicon Valley an der US- em zusammenzufügen.
noch mal und ließ es patentieren. In den fol- Westküste ist es die Stanford University, auf Der Apple-Mitgründer und Smartphone-
genden drei Jahren kamen zwei weitere Klo- der anderen Landesseite ist es die Techno- Übervater Steve Jobs formulierte es so:
Varianten auf den Markt. logiehochschule MIT in Cambridge. „Kreativität heißt: Dinge miteinander zu ver-
binden“, was der Definition des Wirtschafts-
theoretikers Joseph Schumpeter (1883 bis
1950) nahekommt. Jobs hat vermutlich auch
Schön umständlich: Schumpeters Ansicht geteilt, dass Kreativi-
der elektrochemische Telegraf tät, die in der Wirtschaft meist „Innovation“
genannt wird, nicht aus ökonomischem Ei-
gennutz entsteht – also etwa aus dem
Wunsch, immer reicher zu werden –, son-
dern aus psychologischen Motiven. Nämlich
der „Freude am Gestalten“. Obwohl, das
muss man dazu sagen, bei Apple praktischer-
weise Freude am Gestalten und Freude am
wachsenden Reichtum zusammenfallen.
Voller Freude, also glücklich zu sein, ist
eine der kraftvollsten Motivationen, die Men-
schen antreibt. Sogar dazu, sich jahrelang zu
quälen, in Laboren und Werkstätten, an
Schreibtischen, Computern und Klavieren,
vor Staffeleien, bis sie endlich das befreiende
„Heureka“ rufen können. Wobei es auch schon
glücklich macht, wenn man sich in eine Auf-
gabe vertieft und in einen „Flow“ kommt, wie

G E S C H E I T E R T E E R F I N D U N G E N

D
ie Geschichte der Kreativität ist auch eine Geschichte verbunden, das mit einer Elektrolytlösung gefüllt ist. Die Kabel
der Irrtümer, jedenfalls rückblickend gesehen. Der Na- starten und enden am jeweils gleichen Zeichen. Wenn der Sender
turforscher Samuel Thomas Soemmerring (1755 bis 1830) am Schaltpult ein Zeichen auswählt, wird der Stromkreis geschlos-
war einer der bedeutendsten deutschen Anatome. Er erfand aber sen, und am anderen Ende der Leitung steigt über dem entspre-
1809 auch den elektrochemischen Telegrafen. Bei diesem aus- chenden Zeichen eine Luftblase auf. Das System ist schon umständ-
gesprochen originellen Kommunikationsgerät wird eine Art Schalt- lich zu erklären – die Blubber-SMS zu entziffern, war aber noch
pult über 35 sehr lange Stromleitungen mit einer Art Aquarium mühsamer. Und definitiv langsamer als eine Brieftaube.

18 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


der Seelenforscher Mihaly Csiks- Pünktchen als Augen und einem
zentmihalyi diesen Zustand nennt. schiefen Haarschleifchen: Hello Kit-
ty. Inzwischen gibt es in den Indus-
trieländern dieser Welt wohl kein
Ressourcen in Reichtum Mädchen unter zehn Jahren, das
verwandeln nicht eines der 50 000 Hello-Kitty-
Psychologen haben tatsächlich ein Produkte besitzt, vielleicht ein T-
„Wärmegefühl“ nachgewiesen bei Shirt, eine Haarspange, einen Ruck-
Menschen, die in Experimenten sack, eine Federmappe, ein Seifenbla-
erfolgreich ein Problem lösten – senschwert oder ein Schlauchboot.
denn, ja, auch das Problemlösen ist Kein Wunder, dass 2010 bei einer
eine kreative Leistung. Zum Bei- IBM-Studie mit mehr als 1500 Fir-
spiel, wenn man das scheerersche menchefs aus 60 Ländern und 33
Neun-Punkte-Problem gemeistert Branchen herauskam: Kreativität ist
hat, den Klassiker aus dem Jahr der wichtigste Faktor für zukünfti-
1963, bei dem man neun quadra- gen ökonomischen Erfolg. Um die
tisch angeordnete Punkte mit ma- zu trainieren, gibt es Kreativitäts-
ximal vier geraden Strichen ver- oder Innovations-Weiterbildungs-
binden muss, ohne den Stift zu he- workshops aller Art, zum Beispiel ei-
ben. Noch nicht probiert? Dann mal nen Kurs zum markenrechtlich ge-
los, und wenn Sie es in weniger als schützten „Heldenprinzip“ oder das
drei Minuten rausbekommen, ha- Stift raus und nachdenken: zweitägige Seminar „Kreativität und
ben Sie das Recht auf sehr viel Wär- das scheerersche Neun-Punkte-Problem Ideenfindung“ der Demos GmbH
me – so schnell sind nämlich die für 1120 Euro – vielleicht lohnt es
wenigsten. sich ja auch für die Teilnehmer.
Jeder, der Handarbeiten liebt, weiß, wie UNTERNEHMENSCHEFS suchen heute Doch obwohl Kreativität das Zauberwort
gut es sich im Bauch anfühlt, wenn die im nicht nur intelligente und gut ausgebildete unserer Zeit ist und die ganze Gesellschaft
Norwegermuster selbstgestrickte Weih- Mitarbeiter, sondern auch solche mit dem aufgerufen ist zum Basteln, Tüfteln, Hand-
nachtsbaumkugel fertig ist. Wie glücklich „soft skill“ Kreativität. Eine neue Studie hat werkern, Malen, Musizieren und Dichten,
macht es die Tesla-Gründer, wenn ihr nie- gezeigt, dass kreative Mitarbeiter auch bei gibt es auch jene, die warnen, dass Gesell-
gelnagelneues Elektroauto Model 3 zum ers- den Kollegen für Inspiration sorgen – mehr schaften trotz dieses Hypes immer unkrea-
ten Mal mehr als 350 Kilometer am Stück als eine kreative Arbeitsatmosphäre und tiver werden. Der US-Ökonom und Nobel-
fährt? Wahrscheinlich noch glücklicher als Zeit zum Nachdenken. In den USA werden preisträger Edmund Phelps hat in seinen
das Urteil der Zeitschrift „Forbes“ aus dem deshalb neuerdings die Absolventen von Untersuchungen festgestellt, dass Deutsch-
Jahr 2015, wonach Tesla das innovativste Un- Kunsthochschulen von Headhuntern ange- land, Frankreich und Italien in den vergan-
ternehmen der Welt ist. Was beim Internet- sprochen, und nicht mehr nur jene, die ei- genen Jahrzehnten deutlich an Innovations-
warenhaus Amazon (Platz 8) und bei Apple nen Betriebswirtschaftsabschluss vorwei- kraft in der Wirtschaft verloren haben, wäh-
(gar nicht auf der Liste) im Übrigen zu einem sen können. Denn Kreativität von Angestell- rend die USA sich noch halbwegs wacker
Kältegefühl geführt haben dürfte. ten zahlt sich in Euro, Dollar und Yen aus. schlagen.
Denn intrinsische Motivationen sind stär- Oder, wie der legendäre Ökonom und Pio- Phelps sieht die Ursache einerseits in ei-
ker als extrinsische: Wer glaubt, mit seinen nier der Managementlehre, Peter Ferdinand nem zu sehr steuernden Staat und anderer-
Ideen die Welt ein bisschen besser zu machen, Drucker, es formulierte: „Innovation ist das seits in einem schlechten Image von Wirt-
wird sich mehr ins Zeug legen als jemand, der spezifische Instrument eines Unternehmers, schaftsunternehmen. Er regt an, dass schon
nur vorn auf einer Liste stehen will. Die Goo- wenn es darum geht, Ressourcen in Reich- in den Schulen Lust auf Entdeckungen und
gle-Gründer Larry Page und Sergey Brin ha- tum zu verwandeln.“ auf Risiko gemacht wird.
ben sich diese Erkenntnis geschickt zu eigen Die Japanerin Yuko Shimizu erfand 1974 Das ginge sogar im Biologieunterricht.
gemacht und das strategische Ziel ihres Such- als Angestellte von Sanrio die Figur einer klei- Dort könnten die Schüler lernen, dass die
maschinenimperiums so formuliert: „Die In- nen Katze mit riesigem weißen Kopf, zwei Kreativität kein Alleinstellungsmerkmal des
formationen der Welt zu organisieren und für Menschen ist. Auch eine neukaledonische
alle zu jeder Zeit zugänglich und nutzbar zu Geradschnabelkrähe hatte irgendwann den
machen.“ Wow, wer wollte da nicht mit- originellen Gedanken, die ledrigen Blätter
machen bei dem innovativen Megaprojekt, je- des Schraubenbaums anzuspitzen und da-
dem Menschen auf dieser Welt Zugang zum
ganzen Wissen dieser Welt zu verschaffen?
Die ganze Gesellschaft mit Larven zu angeln, die sich in ihren Lö-
chern fälschlich in Sicherheit wiegten. Aber
RUSSLAN / SPIEGEL WISSEN

Diese Mission motiviert mehr, den Unterneh- ist aufgerufen zum das wäre eine andere Geschichte.
menserfolg mit neuen Ideen voranzutreiben,
als das stylishe Interior Design im Silicon-Val- Basteln, Tüfteln, Malen.
ley-Headquarter und der monatliche Gehalts- Marianne Wellershoff wird beim
scheck (siehe Interview mit Google-Innova- Bassspielen kreativ, wenn sie nach 22 Uhr
tionschef Frederik Pferdt auf S. 68). mit ihrer Band Hansagold probt.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 19


PERSPEKTIVEN

Mein Bild
der Welt

Gemeinsam ziehen „Urban Sketchers“ mit Stift


und Skizzenbuch los. Eine Anhängerin
dieser neuen Bewegung erklärt, warum Zeichnen
sie glücklich macht.

TEXT ANTJE BLINDA F OTO S JÉROME GERULL

20 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


ABWIEGEN, QUATSCHEN, kassieren – Am Hamburger Fischmarkt im Skizzenbuch, das Rühren in Aquarell-
kann dieser Mann nicht stillhalten? Ich ver- ist die Urban Sketcherin Nicole farbnäpfen – und schnelle Skizzen. In Cafés,
suche, ihn in meinem Skizzenbuch zu por- Maier-Reimer vollkommen in Straßen, am Hafen, vor Landschaften. Am
trätieren, aber er, Fusselbart, Zopf und in ihre Zeichnung vertieft. Ganz in liebsten auf Reisen, am zweitliebsten in der
Basecap, macht seinen Job und wuselt hin- der Nähe wirft sie mit eigenen Stadt und fast nie zu Hause. Andere
ter dem Obststand herum. Mal sehe ich sein Wasserfarben ihre Impressionen machen Musik, joggen oder meditieren –
Gesicht von vorn, mal von der Seite. des U-Bahnhofs ich zeichne. Seit zwölf Jahren.
Die „Fabrik“, ein Kulturzentrum in Ham- Landungsbrücken aufs Papier. So wie mich gibt es viele, die angefixt
burg-Altona, ist gut besucht. Über dem In- sind von Stift, Pinsel, Farben und dem Vor-
door-Markt schwebt der Duft von Kaffee, Ort-Zeichnen. Die allein oder in Gruppen
Käse und Quiche, von der Bühne tönt „Over lernen, wie man Wolken wie Wolken aus-
the Rainbow“. Noch etwa 20 weitere Zeich- sehen lässt und wie sich Segelboote im Was-
ner hocken auf Treppen, stehen an Bistro- ser spiegeln. Wir alle sind Anhänger dieses
tischen oder lehnen sich an die Brüstung im Hobbys mit leicht verschnarchtem Volks-
ersten Stock. Sie skizzieren die alte Maschi- hochschulimage. Wie viele wir tatsächlich
nenfabrikhalle mit den dicken Holzträgern, sind, macht seit ein paar Jahren die Urban-
porträtieren Musiker, Verkäuferinnen und „Ich mag das Gefühl, Sketchers-Bewegung sichtbar.
Samstagmorgen-Shopper. Sie alle sind zum 2007 rief der Journalist und Illustrator
Hamburger „Urban Sketchers“-Treffen ge- wenn ein Fineliner Gabriel Campanario in Seattle die Online-
kommen. Community ins Leben, erst auf Flickr und
Ich bin ein Smartphone-Junkie, meine über glattes Papier dann als Blog. Für all jene, die „es lieben, die
Artikel sind normalerweise nur online zu gleitet, das Rühren in Städte zu zeichnen, in denen sie leben und
lesen, und Tag für Tag sitze ich vor Bild- die sie besuchen … immer vor Ort, niemals
schirm und Maus. Aber ich mag auch das Aquarellfarbnäpfen.“ vom Foto oder aus der Erinnerung“. Als
Gefühl, wenn ein Fineliner über glattes Pa- Hunderte und dann Tausende ihre Skizzen
pier gleitet, ich mag das Kratzen der Feder posteten, gründete er eine gemeinnützige

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 21


D A S
U R B A N - S K E T C H E R S -
M A N I F E S T

1. 3. 6.
Wir zeichnen vor Ort, Unsere Zeichnungen Wir unterstützen
drinnen oder draußen, nach sind eine Aufzeichnung einander und zeichnen
direkter Beobachtung. der Zeit und des Ortes. zusammen.

2. 4. 7.
Unsere Zeichnungen Wir bezeugen unsere Wir veröffentlichen
erzählen die Geschichte Umwelt wahrhaftig. unsere Zeichnungen online.
unserer Umgebung,
der Orte, an denen wir 5. 8.
leben oder zu Wir benutzen alle Wir zeigen die Welt, Zeichnung
denen wir reisen. Arten von Medien. für Zeichnung.

Organisation mit einem Acht-Punkte-Mani- Der 47-Jährige begreift sich selbst nicht aber so.“ Und voilà, die Angst vor dem wei-
fest (siehe Kasten). Ihr Motto: die Welt zei- als Urban Sketcher. Sein Leitfaden „Mut ßen Blatt Papier schwindet.
gen, Zeichnung für Zeichnung. zum Skizzenbuch“ wirkt allerdings wie ein Ein anderer Helfer in kreativer Not ist
Lehrwerk für die Community und hat mit Danny Gregory, ein ehemaliger Werber aus
URBAN SKETCHERS VERNETZEN sich einer Auflage von 45 000 Exemplaren uner- New York. „Kümmere dich nicht um die
über die sozialen Plattformen und treffen wartet großen Erfolg. Noch besser verkauft Qualität deiner Zeichnungen“, sagt er. „Ma-
sich regelmäßig, lokal und global. 45 000 sich sein Nachfolgeband „Wasserfarbe für che deine eigenen Bilder, und du schaffst
Mitglieder weltweit hat die offizielle Face- Gestalter“. dir deine eigenen Erinnerungen.“ Jede
book-Gruppe heute, 68 registrierte Ableger Scheinberger ist einer meiner Mutma- Zeichnung sei eine Erfahrung. 2008 schon
gibt es. In Deutschland sind es mehr als tau- cher, wenn die dreidimensionale Welt so gar gab Gregory „An Illustrated Life“ heraus,
send Urban Sketchers. Die Community nicht auf die zwei Dimensionen meines Blat- mit Auszügen aus Skizzenbüchern von
wächst noch immer, sagt Brenda Murray, tes passen will, wenn ich Vorbilder und In- Künstlern, Illustratoren und Designern. Vor
die in den USA für Kommunikation zustän- spiration brauche. „Die Muse küsst die, die zwei Jahren startete er mit der Niederlän-
dig ist. Viele Designer, Architekten und sich trauen, eine schlechte Idee aufzuzeich- derin Koosje Koene die Online-„Sketch-
Künstler sind dabei, aber auch Freizeit- nen“, sagt er, „man muss die schlechte Idee book Skool“. Im Schnitt nehmen 1500 Schü-
zeichner wie ich. „Den meisten fehlt der weiterentwickeln. Das klingt nicht cool, ist ler an einem bis zu sechswöchigen Video-
Mut, allein in der Öffentlichkeit zu zeich- kurs teil, 17 500 waren es bisher insgesamt.
nen“, sagt Murray. „Unser Ziel ist es, inte- Warum Zeichnen so beliebt geworden
grativ zu sein. Die Gruppen sind offen für ist? „Wir wollen nicht nur unterhalten wer-
alle.“ Für mich sind solche Treffen Motiva- den“, sagt Gregory, 55, „wir wollen etwas
tion, wenn ich im Alltag vergesse, wie gut erschaffen. Kreativ zu sein befriedigt uns.“
mir Zeichnen tut. Und es ist großartig, Men- Urban Sketchers und Sketchbook Skool:
schen zu treffen, die dasselbe lieben wie Eigentlich stellen sie eine Gegenbewegung
ich. zum Digitalen dar, zugleich wurden sie erst
Warum aber erlebt das Zeichnen seit ei- durch das Internet möglich. Wie sie die
niger Zeit eine Renaissance? Urban Sket- Welt schrumpfen lassen und wie global die
ching sei ähnlich wie Slow Food, sagt André Sprache der Bilder verstanden wird – mich
Sandmann, Designer und Gründer der fesselt das: Wenn ich in einem Blog von Jan
Schweizer Urban-Sketchers-Gruppe: eine aus Neufundland lese, die 2000 Kilometer
Gegenbewegung zum schnellen Konsum, entfernt von einem Künstlerbedarf lebt und
zum „massenhaften Bilderpflücken“ mit auf Schiffslieferungen warten muss. Mit
der Digitalkamera. meinem Tablet reise ich stellvertretend
„Die digitale Welt ist so brachial in unser durch viele Länder und erlebe mit, wie die
Leben, auch unser Privatleben, hineinge- Urban Sketcherin Liz Steel Sydneys Archi-
prescht, dass wir uns an die Wand gedrückt tektur erkundet, Nina Johansson sich die
fühlen“, sagt Felix Scheinberger, Professor Viertel von Stockholm aneignet und der
für Illustration an der Fachhochschule Berliner Radfahrer Jens Hübner sich durch
Münster. „Das Echte ist wieder gefragt, ge- den Sudan zeichnet.
rade weil das immer seltener und vieles aus-
tauschbarer wird. Zum Authentischen zählt Handarbeit: Für Autorin Antje Blinda UNTERWEGS SEIN und malen, dafür übe
Handgemachtes – Schreinern, Häkeln und braucht Zeichnung „keine Sprache, sie ist ich im Alltag. Zeichnend die Welt entde-
bestimmt auch Zeichnen.“ selbst Kommunikation“. cken? Ein Traum. Skizzenbuch, Buntstifte

22 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


PERSPEKTIVEN

und Aquarellkasten schleppe ich mit in je- „Wichtiger als die Dokumentation glaubhaft zeigen oder das Dächermeer von
den Urlaub, von Amrum bis Marokko und des Straßenlebens ist mir der Moment Marrakesch? Auch wenn ich dabei allein
Vietnam. Kunst ist es vielleicht nicht, was des Zeichnens“, sagt Antje Blinda. bin, ist dies keinesfalls eine introvertierte
ich mache, bestenfalls die Kunst, den Au- Tätigkeit – so ein Skizzenbuch ist manch-
genblick zu genießen. Denn wichtiger als mal wie ein Hund: ein perfektes Mittel, um
die Dokumentation von Tempeln, Straßen- mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Nie-
leben oder Stränden ist mir der Moment des mand würde fragen, was ich in einem Café
Zeichnens. Das Jetzt, das ich bewusst erlebe; WEITERLESEN in mein Tagebuch schreibe, aber wenn ich
all die Details, die ich nicht wahrgenommen male, ist das Interesse oft groß.
hätte, würde ich vorbeischlendern und ein GABRIEL CAMPANARIO: „Ur- Als ich eine Tankstelle im Jemen skiz-
paar Fotos machen. „Man schaut intensiver, ban Sketching“. Frech Verlag, zierte, wunderten sich unsere Beduinen-
weil man länger steht als beim Fotografie- Stuttgart; 320 Seiten; 24,99 Euro. Fahrer. Als ich die Gesichtszüge einer
ren“, sagt Felix Scheinberger. Und in dieser Buddha-Statue in Sri Lanka zu erfassen
Zeit passiere etwas: Jemand spricht einen DANNY GREGORY: „An Illus- versuchte, hatte ich einen Trupp kichern-
an, eine Taube fliegt vorbei, ein Geruch weht trated Journey“. F&W Publica- der Kinder um mich herum und viel Spaß.
herüber – was einen berührt, das krieche in tions Inc, Blue Ash (Ohio); 272 Zeichnung braucht keine Sprache, sie ist
die Skizze. „Ein Foto ist allgemeingültiger, Seiten; 21,95 Euro. selbst Kommunikation. Und jede Skizze ver-
objektiver“, sagt er, „eine Zeichnung ist per- spricht eine Geschichte, etwas, das hinter
JÉROME GERULL / SPIEGEL WISSEN

sönlich, eine individuelle Sicht.“ JENS HÜBNER: „Ein Jahr Ur- Strichen, Farbklecksen und Schattierungen
Wenn ich mein Skizzenbuch vor mir ban Sketching“. Edition Michael liegt. antje.blinda@spiegel.de
habe und die Zeit vergesse, bin ich zufrie- Fischer, Igling; 144 S.; 19,99 Euro.
den. Ich gucke mir Linie für Linie die Welt
ab, nehme mir die Freiheit, meine Version FELIX SCHEINBERGER: „Mut
VIDEO: Unterwegs mit
der Wirklichkeit zu erschaffen und meine zum Skizzenbuch“. Verlag Her- einer Urban Sketcherin
eigene Zeichensprache zu entwickeln. Wie mann Schmidt, Mainz; 160 Seiten; spiegel.de/sw022016zeichnen
kann ich die Tiefe einer toskanischen Ebene 29,80 Euro.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 23


Q U E R D E N K E R

Mister Crazy
[1]

[3]

[1]
[2] Edwards mit
„Aerolife“-
Nahrungsergän-
zungsspender.
[2]
Essbare
Verpackung
„Wikicell“
[3]
Kolben „Le Whaf“
zum Inhalieren von
Getränkedunst

Er schätzt wilde Ideen, Naivität und Whiskey-Dunst.


Der Harvard-Lehrer David Edwards ist ein genialischer
Grenzgänger zwischen Technologie und Kunst.
TEXT JOHANN GROLLE

24 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


QUERDENKER

NEIN, DA SEI KEIN ZUCKER DRIN, Satz, der ihm auf die Frage nach seiner Ju- gen durchs Grenzland zwischen Kunst und
sagt David Edwards und hebt den silbernen gend einfällt. Die Lehrer hätten ihn darauf Wissenschaft aufbrechen. In der „Innova-
Behälter vom Tisch: „Das ist der Lautspre- gedrillt, in vorgefertigten Bahnen zu denken. tionsecke“ seines Cafés lässt sich studieren,
cher meines Geruchstelefons.“ Seit Jahren Und daran habe sich auch an der Universität wohin ihn sein Erfindergeist nun treibt. Im
werkelt der Unternehmer, Erfinder und wenig geändert. „Überall bin ich auf Wände Zentrum seines Interesses, sagt er, stünden
Harvard-Professor daran, der Nase den ihr gestoßen“, sagt Edwards. jene Sinne, die in der modernen Welt ver-
gebührenden Platz in der digitalen Welt zu Er möchte es anders machen. Sein Har- nachlässigt würden. „Viele Menschen ver-
schaffen. Jetzt endlich sei das Produkt vard-Kurs trägt den Titel: „Wie man Dinge bringen heute einen Großteil ihres Lebens
marktreif, sagt er höchst zufrieden und erschafft und dafür sorgt, dass sie bedeutend in der digitalen Welt“, sagt er. „Dort aber
schraubt den Behälter auf. „Ende April wer- sind.“ Ziel ist es, die Kreativität der Studen- sind von unseren fünf Sinnen nur zwei ver-
den wir es in New York vorstellen.“ ten zu wecken, zum Unterricht lädt er sie treten: das Sehen und das Hören.“
Unter dem Deckel kommen drei Düsen in sein Café. Dort dürfe es keine Denkver-
zum Vorschein, die Duftstoffe versprühen bote geben, sagt der Professor: „Gleich am ERST GESCHMACK UND GERUCH aber
können. „Sehen Sie, ich wähle auf meiner Anfang sage ich ihnen, dass sie sich bewah- gäben den Dingen ihren vollen emotionalen
App einen Geruch aus“, sagt Edwards und ren sollen, was die meisten Studenten als Gehalt. Eine Welt, die dieser Sinne beraubt
tippt zur Demonstration den Button Allererstes loswerden wollen: ihre Naivität.“ ist, werde schal und fad. Um das zu verhin-
„Sonnencreme“ auf dem Bildschirm seines Vor Semesterbeginn sei eine Studentin dern, hat er zum Beispiel Verpackungen aus
Telefons an, „und jetzt riechen Sie.“ Tatsäch- zu ihm gekommen, die sich nicht traute, sei- essbaren Polymeren ersonnen, in die sich
lich weht einen Moment lang eine Ahnung nen Kurs zu belegen. „Sie hatte Angst, dass Eis, Joghurt oder auch Getränke hüllen las-
von Strand durch den Raum. sie keine Ideen hätte“, sagt Edwards. Ach sen. Orangensaft verkauft er nun in Gestalt
Gerüche per SMS versenden – natürlich was, erklärte er ihr, er habe jeden Tag hun- walnussgroßer orangefarbener Perlen. Gaz-
weiß Edwards, dass manch einer diese Idee dert Einfälle, und nicht etwa, weil er so vielpacho gibt es in Form tomatenroter Kügel-
für verrückt halten wird. Aber gerade das kreativer sei. „Ich habe einfach eine höhere chen, beim Wein entschied sich Edwards
gefällt ihm, „crazy“ ist eines seiner Lieblings- Toleranz dafür, was ich eine Idee nenne“, für den violetten Farbton reifer Trauben.
wörter. Er kann sich Spinnereien leisten – Besonders stolz aber ist er auf eine Er-
spätestens seit sich seine erste Firma für 114 findung, die er „Le Whaf“ getauft hat. „Ich
Millionen Dollar verkauft hat. Edwards, 54, zeige es Ihnen“, sagt er und spurtet in die
ist Ingenieur, er hat angewandte Mathema- Küche. Das Gerät besteht aus einem bauchi-
tik studiert. Doch das ist Vergangenheit. Die „Überall bin ich auf gen Glaskolben, in den Edwards ein wenig
ungebändigten Locken, der struppig-grau- Whiskey füllt. „Sie können auch jedes ande-
melierte Bart und vor allem seine über-
Wände gestoßen.“ re Getränk nehmen“, erklärt er, während er
schwängliche Art signalisieren, dass er sich das Gefäß auf eine Art Herdplatte stellt. Pie-
schon lange nicht mehr als Techniker, son- zoelektrische Kristalle im Sockel des Kol-
dern als Künstler versteht. bens erzeugen Ultraschall, dessen Schwin-
Nahe des Tech Square im US-Universi- sagte er der Schülerin. Keine Angst vor der gungen die Flüssigkeit im Handumdrehen
tätsstädtchen Cambridge, wo sich die Start- Blamage, das sei die erste Lektion. vernebelt. Diese Schwaden lässt Edwards
up-Szene tummelt, betreibt Edwards das Es war vor allem ein Gedankenblitz, der in ein Glas strömen, aus dem er den Whis-
„Café Artscience“, ein Restaurant und Kul- ihm die Freiheit gab, seinen Ideen nachzu- key-Dunst durch einen Strohhalm inhaliert:
turzentrum. Er hat es als Begegnungsstätte gehen. Mitte der Neunzigerjahre arbeitete „Purer Geschmack, ohne eine einzige Kalo-
konzipiert, in der sich Kunst und Wissen- er in einem MIT-Labor in Cambridge. Der rie“, verkündet er.
schaft wechselseitig befruchten sollen. „La- Laborleiter ließ Edwards prüfen, ob sich In- Und dann ist da natürlich noch seine
boratorium“ nennt er diese Garküche der sulin auch über die Lunge aufnehmen lasse. jüngste Erfindung: die Kommunikation über
Ideen. In Ausstellungen, Vorträgen und Diabetiker könnten das Medikament dann Gerüche. „Mit meinem Geruchstelefon kön-
Workshops soll die Grenzzone zwischen inhalieren und wären so unabhängig von nen Sie nicht nur einzelne Aromen versen-
analytischem und kreativem Denken erkun- den lästigen Injektionen. Edwards ersann den, sondern ganze Geruchsmusik“, erklärt
det werden. Stets, sagt Edwards, habe ihn neuartige, hochporöse Insulin-Partikel. Und Edwards. Wie die Töne einer Melodie wür-
der Graben gestört, der die Welt der Künst- tatsächlich: In dieser luftigen Form gelangte den dabei die Duftstoffe nacheinander frei-
ler von derjenigen der Forscher trennt. das Hormon viel leichter ins Blut. gesetzt. Um das Prinzip vorzuführen, zieht
Als er vor rund 15 Jahren nach Harvard Er kann sich noch gut an das mulmige Edwards zunächst Symbole in eine Art Text-
kam, hatte das Schlagwort „Interdisziplina- Gefühl erinnern, das ihn befiel, als sich ein zeile auf seiner App: „Sonnencreme“, „Ko-
rität“ Konjunktur. Allerorten wurden Pro- Banker bei ihm meldete: „Ich hatte ja keine kosöl“, „Ananas“. Dann bleibt nur noch ei-
jekte geboren, in denen Forscher unter- Ahnung, was Risikokapital eigentlich ist.“ nes zu tun: Nachdem er die Komposition
schiedlicher Fachdisziplinen aufeinander- Gleichzeitig aber schmeichelte ihm das seiner kleinen olfaktorischen Strandserena-
treffen sollten. Doch schon bald fiel Ed- Interesse: Insulin zum Inhalieren – in der de vollendet hat, drückt er auf „Senden“.
wards auf: Die Bildhauer, Dichter und Ar- Pharmabranche versprach man sich davon johann.grolle@spiegel.de
chitekten blieben beim Dialog außen vor. ein gewaltiges Geschäft.
NICOLAS BUISSON

Er selbst dagegen fühlte sich vom emo- Zwar erwies sich das Produkt später als
tionalen, sprunghaften und assoziativen wenig erfolgreich, doch Edwards hatte seine
Denken der Kreativen angezogen. „Ich Firmenanteile rechtzeitig verkauft, konnte Johann Grolle wird kreativ, wenn es um die
mochte die Schule nie“: Das ist der zentrale nun als Multimillionär zu seinen Streifzü- Kreativität anderer geht.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 25


26 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016
PA R T N E R S C H A F T E N

Gemeinsame Sache
Inspiration im Doppelpack:
Fünf kreative Duos aus Musik, Mode,
Design und Kunst
TEXTE ANNETTE BRUHNS UND TOBIAS BECKER

Schnipo Schranke
Friederike Ernst, 26, und Daniela Reis, um, oder wir machen das, was von Belang ist.“
27, haben etwas Anständiges gelernt – und daraus Also gründeten sie eine Band: Schnipo Schranke.
etwas Unanständiges gemacht. Sie lernten sich Der Name steht für Schnitzel mit Pommes,
an der Hochschule für Musik und Darstellende Mayonnaise und Ketchup, einen deftigen Imbiss-
Kunst in Frankfurt am Main kennen, Reis studier- klassiker, und deftig-derbe sind auch die Texte,
te Cello, Ernst Blockflöte. Ein halbes Jahr lang die Ernst und Reis singen („Warum schmeckt es,
teilten sie sich ein Zimmer. „Wir saßen den ganzen wenn ich dich küsse, untenrum nach Pisse“). Für
JENNY SCHÄFER

Tag rum, kifften und zockten ,Big Brain Academy‘, den ironischen Bruch sorgen ihre zarten Stimmen
so ein IQ-Spiel auf der Wii“, erzählt Ernst. Irgend- – und die Flötenklänge, mit denen sie die garstigen
wann sagte Reis: „Entweder wir bringen uns jetzt Zeilen gern unterlegen.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 27


PA R T N E R S C H A F T E N

Uwe und Gert Tobias


„Eins und eins ist bei uns drei, und drei ist bensentwurf, so wild ist die Arbeitsweise: Die bei-
die Arbeit“ – die Tobias-Zwillinge pflegen ihre ganz den pressen ihre Druckstöcke meist mit der Wucht
eigene Rechenweise. Auch die Kunst der 1973 in ihrer Körper aufs Papier. Die Ergebnisse werden
Transsilvanien geborenen Holzschnitt-Virtuosen sogar im Museum of Modern Art in New York be-
treibt Schabernack mit Konventionen. Sie wirkt staunt. Was ihnen die Arbeit im Duett bringt?
naiv und verspielt, zugleich düster-gruselig. Ihre „Durch zwei subjektive Qualitätsfilter entstand ein
Drucke und Skulpturen erschaffen die Brüder von Mehrwert“, sagt Uwe Tobias. „Wir sind produktiver,
9 bis 18 Uhr in ihrem Atelier in Köln, nebenan woh- nicht was die Quantität angeht, vielmehr im Hin-
nen sie, mit jeweiligem Anhang. So brav dieser Le- blick auf die Ideen, die zusammenfließen."

ACHIM LIPPOTH - VG BILD-KUNST, BONN 2016, MAX VADUKUL / AUGUST

Rodarte
Die Mulleavy-Schwestern geben Rät- richten namenlos und erzählen die Geschichten
sel auf: Kate, 36, und Laura, 35, haben nie Mode der jeweils anderen, als wären es die eigenen. Ihre
studiert oder Schneidern gelernt – und gehören Mode ist punkig, fetzig und ungefällig, „Laura und
trotzdem zu den besten amerikanischen Mode- ich waren todunglücklich, als wir mal zu hören
designerinnen, ihre Kleider, Schuhe und Taschen bekamen, wir hätten ein ,hübsches Kleid‘ ge-
werden in den wichtigsten Museen gezeigt. Auch macht“, hat Kate Mulleavy verraten. Immerhin,
menschlich sind die Kalifornierinnen ein Myste- das Geheimnis hinter dem Namen ihres Labels ist
rium. Sie agieren, als wären sie eine Person, teilen gelüftet: Es ist der Mädchenname ihrer Mutter.
denselben E-Mail-Account, verschicken ihre Nach- Sie brachte ihren Töchtern das Nähen bei.

28 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 29
PA R T N E R S C H A F T E N

Macklemore und
Ryan Lewis
Zwei weiße Jungs von der amerikanischen Westküste
steigen auf zu Hip-Hop-Stars – und schämen sich dafür. Mack-
lemore (bürgerlich: Ben Haggerty) singt über das unverdiente
Glück, als Weißer in den USA geboren zu sein und Musik ma-
chen zu können. Andere Themen: Schwulenehe, Konsumwahn,
Starkult. Kennengelernt hat sich das international erfolgreiche
Gespann mit dem schlechten Gewissen vor zehn Jahren auf
MySpace: Macklemore, heute 32, hatte einen Song hochgela-
den, der seinem jetzigen Produzenten Ryan Lewis, 28, gefiel.
Damals war der rothaarige Macklemore noch hauptberuflich
Sozialarbeiter – und drogensüchtig. Zwei Jahre und einen Ent-
zug später taten sich die beiden zu einem Duo zusammen; 2014
katapultierte sie ihr Album „The Heist“ in den Grammy-Him-
mel. „Ryan ist einer meiner besten Freunde“, sagt Macklemore,
„ich vertraue auf sein Gehör und seinen Blick.“ Ohne Ryan
Lewis hätte er nie so viel erreicht. Und außerdem: „Es macht
viel mehr Spaß, gemeinsam mit einem Freund Kunst zu ma-
chen, Fans zu gewinnen und in der Welt herumzureisen.“

Studio Job
Kitsch oder Kunst? Ein hübsches Paar
macht hübsche Dinge; es verewigt, so sehen es
die beiden, seinen Alltag in Gegenständen. Der
Flame Job Smeets, 45, und die Niederländerin
Nynke Tynagel, 38, lernten sich vor zwei Jahr-
zehnten an der Eindhovener Design-Akademie
kennen – sie das neue It-Girl unter den Studenten,
RENE VAN DER HULST, BEN RAYNER / NYT / REDUX / LAIF

er der Meisterschüler. Smeets gründete kurz da-


rauf das Studio für Skulpturen aller Art, in das Ty-
nagel bald einstieg. Vereint hat sie privat eine
Hochzeit (die Ehe ist inzwischen Geschichte) und
beruflich ein Heureka-Moment: Auf der Mailän-
der Möbelmesse sahen sie Hunderte Prototypen,
die, meist vergebens, auf eine Serienherstellung
warteten. Da dachten die beiden, dass sie besser
nur Einzelstücke produzierten. Paradebeispiel:
eine drei Meter hohe Parodie auf den Burj Khalifa,
Dubais Mega-Skyscraper. Vielleicht das richtige
Geschenk für einen Scheich mit Humor?

30 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


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ESSENZ

„Es geht dauernd etwas schief“: Irka hat


schon als Kind am Herd experimentiert.

„Eine langweilige
Karotte will ja keiner
essen“
32 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016
ESSENZ

Wie entstehen Ideen am Herd? Was machen


die Pilze im Dessert? Ein Besuch beim
jungen österreichischen Starkoch Harald Irka.
TEXT TAKIS WÜRGER F OTO S DANIEL GEBHART DE KOEKKOEK

VIELE MENSCHEN, die ihn getroffen haben, sagen, Europas bes- rösteten Haselnüssen, Schafsmilchjoghurt, geräuchertem Lamm-
ter junger Koch sei ein Autist. Ein Mann, der liebevoll, doch ir- fond, Birnen-Balsam-Essig, Lammgrammeln und römischem
gendwie anders im Kopf sei, der kaum spreche und eine soziale Schildampfer. Aber sein Schweigen umgibt diesen Mann wie ein
Störung habe, der aber eine Gabe besitze, die alles andere nivelliere. Schutzschild. Man traut sich nicht zu fragen. Woher kommt die
Eine Gabe, die manche für angeboren halten, die im Zusammen- Inspiration? Wie lernt man das? Und was sind bitte Grammeln?
spiel seiner Finger, seiner Geschmacksknospen und seiner Hirn- Später am Tag steht er in der Küche seines Restaurants, von der
synapsen zu der Fähigkeit führt, ein Essen auf den Tisch zu stellen, aus er auf einen Weinberg schaut, er gießt Blut in eine Schale für
dass den Kritikern die Gabel vor Entzücken aus der Hand fällt. Mit die Blutwurst, er hackt Kalbsbries, er rührt in einem Topf mit Ka-
19 wurde er Chefkoch der Saziani Stub’n in der Steiermark. Die rotten. In der Küche arbeiten noch drei weitere Köche, und auch
Tester des „Gault Millau“, die wichtigsten Restauranttester in Öster- hier schweigen die Menschen.
reich, gaben diesem Mann drei Hauben, was extrem viel ist, und Spitzengastronomie ist bekannt für die Lautstärke in den Kü-
schrieben über seine Speisen: „Im Herzbries mit Kamillentee, Son- chen und den ruppigen Ton. Da schreit gern mal ein Küchenchef
nenblumenkernrisotto, Honig und Buttermilch möchte man sich und wirft mit Pfannen, da wird gequatscht, auch weil es normal
am liebsten eingraben, und der mit Pimientos, Glasnudelsalat und ist, dass sich der ein oder andere Koch eine Linie Kokain gönnt,
geräuchertem Paprikafond servierte Bauch vom Milchferkel lässt um dem Druck standzuhalten, da läuft Musik, da ist Druck im Kes-
viele vergleichbare Gerichte der Konkurrenz alt aussehen.“ sel, und das scheppert. In der Küche Harald Irkas hört man kaum
Der Mann, der dieses Essen kochte und ein Autist sein soll, heißt etwas, nur den satten Klang von geschliffenem Stahl auf Plastik-
Harald Irka, er ist inzwischen 24 Jahre alt, ein Junge mit einer wil- brettern, das Summen der Knetmaschine, das feine Geräusch, wenn
den, schwarzen Punkerfrisur, einer engen roten Jeans und ausge- Miklos, der Küchenjunge, das Marzipan in kleine Bröckchen brö-
latschten Vans. selt, das Geräusch von siedendem Lammfond.
An diesem Morgen sitzt er in seinem Auto und fährt ziemlich Nach einer Ewigkeit rührt Irka in einem kleinen Topf, kostet
schnell über die Landstraßen. Er schweigt, er will in einen Wald mit einem Löffel und sagt: „A bisserl a Knoblauch.“
an der slowenischen Grenze, Kräuter sammeln, hat der Besitzer Unklar, mit wem er spricht. Unklar, was er damit meint. Soll da
des Weinguts gesagt, Albert Neumeister, dem das Restaurant gehört, mehr Knoblauch rein? Ist da „a bisserl a Knoblauch“ drin? In jedem
in dem Irka kocht. Irka selbst hat nichts weiter gesagt, er murmelte Fall passiert nach diesem Satz erst mal nichts mit Knoblauch. Zwei
einen Morgengruß, stieg in den Wagen, trank ein paar Schluck Red der anderen Köche sagen nur leise: „Ja.“ Dann geht das stille Kochen
Bull und gab Gas. weiter.
An einem Waldrand parkt Irka, steigt aus und läuft still den Vorn im Gastraum sitzen Menschen, die teilweise von weit her-
Weg entlang. Er schweigt nun seit einer halben Stunde. Er geht in gekommen sind, um diese Küche zu probieren, und denen es na-
die Hocke und rupft ein paar grüne Blätter und weiße Blüten aus türlich egal ist, wie redselig sich der Koch gibt. Der Gast entscheidet
der Erde. „Vogelmiere“, sagt er. sich zwischen Menü „Grün“ und
„Schmeckt total intensiv nach Mais Menü „Terroir“. Sieben Gänge kos-
und Erbsen.“ ten hundert Euro.
Im Wald singen die Baumpieper, Das Essen lässt sich folgender-
am Wegesrand fließt die Mur. Irka maßen zusammenfassen: Es ist der
läuft umher, füllt eine Plastikschale Oberhammer.
mit Grünzeug und sagt Sätze wie: Ob es ein, zwei oder drei Sterne
„Junge Linde. Wenn man die Blät- bekommen sollte, bleibt den Test-
ter kocht, schmecken die wie Spi- essern des Michelinführers über-
nat.“ Oder: „Knollen vom Bärlauch lassen, aber der Laie wird Irkas
kannst du kochen wie kleine Kar- Stub’n mit dem Gefühl verlassen,
toffeln.“ Er schabt ein wenig Moos an etwas Großartigem teilgenom-
von einem toten Baum. „Wenn man men zu haben. Auf der Karte steht
das trocknet und dann kocht, zum Beispiel der Gang „Zucchini“,
schmeckt das wie Pilze.“ der sich zusammensetzt aus einer
Eigentlich soll Irka erklären, wie gerollten gedämpften Zucchini,
Kreativität in der Küche funktio- Sauce béarnaise, mit Holunderblü-
niert. Wie er zum Beispiel auf die ten eingekochtem Rhabarber, kurz
Idee kommt, ein Gericht zu kochen Für seine vegetarische Chefin begann Irka, mit mehr sautierten jungen Erbsen, Vogel-
aus: gedämpften Lauchherzen, ge- Gemüse zu kochen: „Das hat dann Spaß gemacht.“ miere (der aus dem Wald), Butter-

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 33


ESSENZ

bröseln und Erbsencreme. Es schmeckt frisch, neu, leicht, nach leer löffeln. Das Püree schmeckt süß und erdig, intensiv nach Mohr-
Frühling und intensiv nach, nun ja, Zucchini. rüben und so lecker, dass man sich fragt, warum man in seinem bis-
herigen Leben so selten Karotte aß.
INSGESAMT PRÄSENTIERT sich die Küche als sehr aufgeräumt, Die Nachspeisen sind auch Granaten: vor allem der getrocknete
sehr klar, fast puristisch. Dann gibt es noch ein paar irre Sachen auf Kräutersaitling aus dem Marchfeld, der mit Pistazieneis, Biskuit
der Karte, zum Beispiel Hahnenkämme und Bluttaube. Das ist eine aus grünem Tee und Thymian an den Tisch kommt und jeden Zwei-
Taube, der nicht der Kopf abgehauen wurde, bevor sie auf den Teller fel daran, ob ein Pilz in ein Dessert gehört, verschwinden lässt.
kommt, sondern die zu Tode gewürgt wurde, damit das Blut im Vo- Es ist also, alles in allem, fantastisch, was Herr Irka da in seiner
gel bleibt. Das Fleisch ist dadurch für Geflügel ungewohnt rot und Küche kocht, aber es bleibt die Frage, wo seine Ideen herkommen.
sehr saftig. Es wirkt ein wenig gestört, so etwas zu essen, und an Als die Gäste nach Hause gehen, der letzte Kräutersaitling über
alle Tierschützer unter den Lesern: Bitte nicht das Restaurant bom- den Pass geschickt ist, entkorkt Irka in der Küche eine Flasche Sau-
bardieren. Die Bluttaube, die mit Kartof- vignon und schenkt sich und seinen Kö-
felpüree, rotem Rübenmus mit Kren, Ge- chen ein. Lisa aus dem Service ist auch
würzapfelcreme und rotem Jaipur-Curry da, sie hat an einer unmöglichen Stelle
serviert wird, schmeckt, unter uns gesagt, ihres Körpers einen Wolf tätowiert und
ziemlich großartig. ist Irkas Freundin. Nach einer Flasche,
Es gibt in diesen Tagen wieder guten als die Küche blank gewienert und der
Grund, daran zu zweifeln, ob ein Gott Boden gewischt ist, gehen Irka, Lisa und
existiert, und in diese Leere und diese Mitbewohner und erster Offizier Chris-
Zweifel schickt Harald Irka seine Möhr- toph in ihre gemeinsame Wohnung am
chen aus der Küche, den Gang „Ochsen- Waldrand und stellen noch ein paar Fla-
herz-Karotte“, und beim ersten Bissen schen Weißwein des eigenen Bergs auf
wird deutlich: Da ist gar keine Leere. Da den Tisch.
ist eine Schöpfung, und alles hat einen Und dann, nach dem ein oder ande-
Sinn. Das Leben ist schön. Die Schöpfung ren Glas, nach einer großen Mahlzeit
offenbart sich als Püree einer in Salz ge- und vielen Lobesworten, wird klar, dass
backenen Ochsenherz-Karotte (eine nor- Harald Irka kein Autist ist, sondern ein-
male Möhre, ohne Herz), mit rotem fach ein Mann, der erst mal zuhört, be-
Mangold, kandierter Grapefruit und ge- vor er redet. Vielleicht haben all die Men-
röstetem Sesam. Wer das isst, möchte am schen, die ihn getroffen haben und au-
liebsten einen Nachschlag bestellen oder tistisch nannten, einfach zu wenig Ge-
gleich in die Küche schleichen und zwi- duld gehabt oder nicht zugehört oder
schen den schweigenden Köchen den „Ich wusste in Wahrheit gar nichts“: sich nicht getraut, die richtigen Fragen
Topf mit dem Möhrchenmus finden und Irka wurde schon mit 19 Jahren Chefkoch. zu stellen.

SPIEGEL: Herr Irka, wir wollen über Krea- Irka: Die Idee dahinter war, dass wir ein Ge- Irka: Die hat gutbürgerlich gekocht, wie
tivität reden, okay? richt machen wollten rund um das Ei. Mir man es heute leider nur noch wenig kennt.
Irka: Okay. ist in den Sinn gekommen: das Huhn, sein Die hat auch ihr Brot selbst gebacken und
SPIEGEL: Sie sind berühmt für Ihr pochier- Futter und das Ei. Die Inspiration war also ständig Apfelstrudel gemacht.
tes Ei. Wieso? die Natur, und das kam dann in Kombina- SPIEGEL: Isst man den eigentlich mit Va-
Irka: Ist nicht so einfach, wie es klingt, das tion mit den Techniken, die ich gelernt habe. nilleeis und Schlag?
Ei ist ganz schön aufwendig in der Produk- SPIEGEL: Sie haben schon mit zehn Jahren Irka: Na, das ist ein Sakrileg. Man isst nur
tion. Wir haben im Teller unten getrocknete angefangen mit dem Kochen. den Strudel. Mein Opa hat immer Leinöl
Hühnerhaut gemischt mit dem, was ein Irka: Ich hab immer gern mit meiner Mutter drübergegossen, das schmeckt furchtbar, ist
Huhn so frisst, also Mais und Getreide, ver- und Oma gekocht. Wie ich zehn war, haben aber wahrscheinlich gesund.
schieden zubereitet, einmal fast wie ein Ri- meine Eltern beide gearbeitet, aber wenn SPIEGEL: Was ist denn mal schiefgegangen
sotto, einmal gekocht, getrocknet und frit- mein älterer Bruder von der Schule kam, beim Experimentieren?
DANIEL GEBHART DE KOEKKOEK / SPIEGEL WISSEN

tiert, dass es aufpufft, und dazu Chips aus musste irgendwer kochen. Das war ich. Ich Irka: Ich esse wahnsinnig gern Schnitzel
selbst gemachten Cornflakes. Wir haben für habe dann selber probiert, etwas zu entwi- und wollte mir mittags eines machen, aber
die Basis auch Haferschleim gekocht, ge- ckeln in der Küche. es war natürlich nichts da für ein Schnitzel,
trocknet gemahlen und mit Hühnerhaut ver- SPIEGEL: Was denn so? aber dann habe ich einfach Spaghetti
mischt. Das Ei wird dann bei 63 Grad eine Irka: Reis konnte ich relativ gut. gekocht und Kugeln daraus geformt, die
Stunde lang gedämpft, dadurch ist es durch SPIEGEL: Reis? paniert und frittiert. Das war ziemlich
und durch wachsweich, dann lassen wir es Irka: Ich hab auch experimentiert, irgend- furchtbar.
abkühlen, machen die Schale ab und erwär- was zusammengerührt und geschaut, was SPIEGEL: Wie ging Ihr Weg weiter?
men es wieder. Obendrauf kommt geräu- passiert, wenn ich das zusammengieße. Irka: Ich hab nach der Hauptschule eine
cherte Butter. SPIEGEL: Haben Sie das von Ihrer Oma ge- Ausbildung in der Hotelfachschule gemacht,
SPIEGEL: Woher kommt so eine Idee? lernt? drei Jahre lang. Ich war ziemlich faul, und

34 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


EXPERIMENTE

grammierer. „Cognitive Cooking“ nennt er


das Prinzip. Tausende Rezepte hat Chef
Watson aus Datenbanken analysiert und

Bouillabäh
setzt daraus nun neue Kombinationen zu-
sammen. „Das System erkennt, welche Zu-
taten man durch andere ersetzen kann“, sagt
Pinel, der eine Kochausbildung genossen
hat. „Bevor man sich versieht, hat man es
mit einer Billion oder einer Billiarde Rezep-
Wie gut kocht der Computer? te zu tun.“

„HMM, VANILLE an Garnelen riecht er-


TEXT HILMAR SCHMUNDT staunlich lecker“, lobt Freeman, als er am
Topf schnuppert. „Divergentes Denken“
wird die Methode dahinter genannt: Über-
„WOLLEN WIR DOCH MAL SEHEN , erkennt die Datenanalyse ja ein Ge- raschendes neu verknüpfen. „Aber das Re-
was der Neue so drauf hat“, sagt Alfred Free- schmacksmuster, für das wir Sterblichen be- zept schlägt mir vor, Rotwein zu verwen-
man und bindet seine Kochschürze um: triebsblind sind. den“, wundert sich Freeman. „Das ist Un-
„Oder ob er mich vielleicht irgendwann ein- Können Rechenmaschinen kreativ sein? sinn, das ergibt eine traurig-braune Soße,
mal ersetzen kann.“ Freeman hat jahrelang Kann ein Programm seinen Schöpfer über- ich nehme lieber Weißwein.“ Chef Watson
in einem Hamburger Sternerestaurant ge- raschen? Diese philosophischen Fragen ist gut im Neukombinieren – aber das allein
kocht, seit 1990 bereitet sein Team ergibt nicht Kreativität, sondern
Tag für Tag mehr als 900 Essen in Beliebigkeit.
der Kantine des SPIEGEL zu. Er „Warum um Himmels willen soll
hat schon viele Berufsanfänger ein- ich die feinen Sprossen als Erstes
gearbeitet, aber diesmal ist der im Topf anschmoren?“, schnaubt
Neue nicht ganz von dieser Welt. Freeman nun. „Die verkochen doch
Freeman schiebt Essig, Öl und total, daher tut man die eigentlich
Pfannen beiseite und klappt den ganz am Ende dazu.“ Der Neue
Computer auf. nervt. Chef Watson mangelt es an
„Chef Watson“ nennt sich der Materialgefühl: etwa das Wissen
neue Kollege. Er ist eine Kochsoft- darum, dass zartes Gemüse schnell
ware aus dem Hause IBM, benannt zu Brei zerkocht. Seit Jahrzehnten
nach dem früheren Firmenchef debattieren Informatiker darüber,
Thomas J. Watson. Vor 20 Jahren wie man künstlichen Intelligenzen
bezwang eine verwandte IBM- eine Art „Bauchgefühl“ für Alltags-
Technologie den Schachweltmeis- fragen vermitteln kann. Chef Wat-
ter Garri Kasparow, vor fünf Jahren son jedenfalls illustriert, dass künst-
siegte sie im US-amerikanischen liche Intelligenz ohne ein solches
Fernseh-Wissensquiz „Jeopardy“. robustes Weltmodell allzu leicht ge-
Nun also soll die kochkünstliche rinnt zu künstlicher Dummheit.
Intelligenz sich sogar am Herd „Nein, nein, nein, ich kann das
zum Chef aufschwingen. nicht mitansehen“, schimpft Free-
„Vietnamesisches Apfel-Kebab man schließlich. „Ich kann doch
mit Pilzen und Erdbeeren? Ge- nicht die schönen Garnelen hier
wagt“. Freeman klickt sich durch endlos lange totkochen, das bringe
Chef Watsons Menü: „Keniani- ich nicht übers Herz.“
scher Rosenkohl mit Kardamom? Am Ende löffelt Freeman tapfer
Ambitioniert“. Der SPIEGEL- die Suppe aus, die ihm die künstli-
Koch entschließt sich am Ende, das Watson- Handlanger in der eigenen Küche: che Dummheit eingebrocht hat. „Sieht trau-
Rezept eines Klassikers auszuprobieren, den SPIEGEL-Koch Freeman bereitet Fisch- rig aus wie Waschwasser“, sagt er. Er
WILMA LESKOWITSCH / SPIEGEL WISSEN

jeder kennt – einer Bouillabaisse. Und suppe nach „Chef Watson“-Rezept zu. schnuppert, schlürft und verzieht das Ge-
staunt nicht schlecht: Chef Watson listet sicht: „Genau so schmeckt es auch.“
nicht einfach die Standardzutaten für das Twitter: @hilmarschmundt
französische Fischgericht auf. Sondern setzt stellte die geniale Mathematikerin Gräfin
einen kulinarischen Paukenschlag: Meeres- Ada Lovelace im Morgengrauen der Com-
früchte mit Vanille und … Chicken Wings. puterära vor rund 170 Jahren.
VIDEO: Computeressen –
„Eigenwillig, aber das muss ja nicht schlecht Heute ist diese Frage entschieden mit ei- schmeckt das?
sein“, sagt Freeman etwas skeptisch. Er ist nem Ja beantwortet – das findet zumindest spiegel.de/sw022016rezept
bereit, sich überraschen zu lassen. Vielleicht Florian Pinel, einer der beteiligten IBM-Pro-

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 35


ESSENZ

Gemüse und Kräutern schmeckt es roh und


frisch geerntet oft am besten. Je mehr du
damit machst, umso mehr zerstörst du das
Produkt.
SPIEGEL: Wo finden Sie Inspiration?
Irka: Das pochierte Ei ist da schon ein gutes
Beispiel. Meine Inspiration ist die Natur.
SPIEGEL: Würden Sie das ausführen?
Irka: Wir haben ein berühmtes Gericht: das
Kalbsbries mit Sonnenblume, Kamille und
Raps. Das ist beim Kräutersammeln entstan-
den, als die Sonnenblumen geblüht haben.
Wir machen viel mit der Sonnenblume, mit
den Kernen, den Blättern, den Wurzeln, die
Knospen kannst du kochen wie Artischo-
cken. Als ich durch die Felder gegangen bin
und die Sonnenblumen abgeschnitten habe,
habe ich gesehen, da blühen jetzt auch der
Raps und die Kamille, und so bin ich auf das
Gericht gekommen. Wir haben das Kalbs-
bries in Buttermilch eingelegt und dann po-
chiert, das hat dann einen milden Ge-
„Meine Inspiration ist die Natur“: Beim schmack und ist sehr weich, danach haben
Kräutersammeln kam Harald Irka die Idee für sein berühmtes wir es knusprig gebraten. Aus den Sonnen-
Kalbsbries mit Sonnenblume, Kamille und Raps. blumenkernen haben wir ein Risotto ge-
macht, indem wir sie in einem Druckkoch-
topf gekocht haben. Dann haben wir dazu
mich hat die Schule genervt. Meine Eltern selbst ein. Vielleicht zeigt ein anderer Koch einen Sud aus Kamillentee gegeben, den wir
haben mich gezwungen, die Schule fertig einem auch eine Garmethode, aber was man mit Rapsöl gebunden haben, darauf kom-
zu machen. Ich hab von der Wäscherei bis dann damit macht, kann einem niemand zei- men noch knusprige Sonnenblumenkerne
zur Rezeption alles gemacht. In der Woche gen. Sonst kopiert man immer. Ich glaube, und getrocknete Blüten. Das ist so ein Ge-
nur zwei Stunden kochen. Ziemlich zäh. Kreativität muss aus einem selbst kommen. richt, das völlig von der Natur inspiriert ist.
SPIEGEL: Kannten Sie Spitzengastrono- SPIEGEL: Sie wurden mit 19 Jahren Kü- SPIEGEL: Wie kommt das Kalbsbries dazu?
mie? chenchef und hatten nie einen großen Meis- Das lag ja nicht auf dem Feld.
Irka: Überhaupt nicht. Als ich fertig war mit ter. Was bedeutet das? Irka: Kalbsbries haben wir eigentlich immer
der Schule, habe ich Bewerbungen geschrie- Irka: Ich kann genau das machen, was ich auf der Karte, weil ich das so gern esse und
ben und habe nichts gefunden, mich wollte mir unter guter Küche vorstelle, weil nie- weil man das fast nirgends bekommt. Wir
keiner haben. Ich habe mich bei den Besten mand mir seinen Stil aufgedrückt hat. An- hatten erst das Gericht ohne Bries, da hat
beworben. Der Herr Neumeister, der Besit- dere machen viele Stationen durch, und da was gefehlt, dann haben wir es probiert, das
zer dieses Weinguts, war der Einzige, der erkennt man keinen Stil mehr. Bei mir ist es gehört auch zum Kreativprozess dazu.
mich angerufen hat, und am nächsten Tag so, wenn ich was koche, da kann man schon SPIEGEL: War das Zufall oder Kreativität?
habe ich angefangen. sagen, das ist von hier. Ich glaube, das ist Irka: Das war Zufall. Ein chaotisches Ele-
SPIEGEL: Was haben Sie von Ihrem ersten eine Handschrift, die nur ich habe. ment.
Küchenchef gelernt? SPIEGEL: Was ist Ihre Handschrift? SPIEGEL: In einer Nachspeise von Ihnen
Irka: Ich wusste in Wahrheit gar nichts. Der Irka: Puristisch, würde ich sagen. Die Spei- steckt verbrannte Milchhaut. Wie sind Sie
Küchenchef musste mir alles erklären und sen können schön sein, müssen sie aber darauf gekommen?
alles zeigen. nicht. Viel Gemüse, viele Kräuter. Wir wol- Irka: Ich habe an meine Oma gedacht. Die
SPIEGEL: Haben Sie Kreativität gelernt? len vieles so natürlich wie möglich auf den wohnt am Ende von Österreich auf dem
Irka: Handwerk, aber keine Kreativität. Teller bringen. Ein gutes Verhältnis zwi- Land und holt jeden Tag beim Bauern die
DANIEL GEBHART DE KOEKKOEK / SPIEGEL WISSEN

Man kann in der Küche beim Handwerk das schen süß und sauer haben wir auch. Bei frische Milch mit der Kanne. In der Kanne
Rad nicht neu erfinden, es gibt in Wahrheit ist unten die magere Milch, darauf die Sah-
schon alles, alle Garmethoden und so, ist al- ne, darauf die Haut. So ist auch das Gericht
les schon da. Man lernt überall Kombinatio- aufgebaut. Wir kochen die magere Milch
nen und Techniken, die einem selbst nicht
einfallen würden. Man findet bei anderen
„Ich glaube, das ist ein, bis sie karamellisiert, das wird relativ
süß, deswegen haben wir zum Gegensteu-
auch Inspiration. So wie die getrocknete eine Handschrift, die ern ein paar fermentierte Käferbohnen da-
Hühnerhaut, das ist ein berühmtes Rezept bei. Darauf ist so ein Blätterteig, wo ein we-
von René Redzepi aus Kopenhagen. Da habe
nur ich habe.“ nig Butter drin ist, darauf ist eine Schicht
ich mal gegessen und das kennengelernt. So sahniges Milcheis mit Kren, das ist leicht
was nimmt man mit und baut das bei sich scharf. Darauf liegt die Haut, die wir in der

36 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


ESSENZ

Pfanne karamellisieren, bis sie knusprig ist. gibt es eine Wurst, Naem, darin steckt fa- Gericht. Wir haben oft für jede Speise einen
Eigentlich alles sehr simpel, aber vom Ge- schierter Schweinebauch, der mit Reis und eigenen Essig, weil das den Geschmack hebt
schmack ist es überraschend, weil es salzig, viel Knoblauch vermischt wird, in Bananen- und so eine Reduktion auf ein Gemüse erst
scharf und süß ist, ich find es sehr cool. blätter gepackt und einfach in die Sonne ermöglicht. Eine langweilige Karotte will ja
Kreativität in der Küche heißt auch, dass gelegt wird, das ist auch Fermentation. keiner essen.
man den Gast überrascht. Das haben wir probiert, und es war furcht- SPIEGEL: Wie schaffen Sie es, aus einem
SPIEGEL: Funktioniert der Schaffenspro- bar. Möhrchen so viel rauszuholen?
zess bei Ihnen im Team? SPIEGEL: Heißt Kreativität bei Ihnen auch Irka: Frau Neumeister, die Chefin hier, ist
Irka: Würde ich gern so haben, aber meis- Reduktion? Vegetarierin. Die hat gesagt, koch doch mal
tens mache ich es. Wir haben das im Team Irka: In der Reduktion wird es noch schwe- Gemüse, so hat das angefangen. Und das hat
immer wieder probiert, aber die anderen rer, gut zu sein, aber deswegen machen wir dann Spaß gemacht. Bei einem Rinderfilet
verstehen oft nicht, was ich denke. Am Ende es. Da hat das Ergebnis dann viel mit dem bin ich eingeschränkt, was ich damit mache.
ist es dann so, dass ich sage, gute Idee, aber Spiel zwischen Säure und Süße in den Spei- Aber mit einer Karotte kann ich entsaften,
wir machen das so, wie ich es will. sen zu tun. Diese Erkenntnis kommt sicher Eis machen, sie trocknen, einlegen, sie fer-
SPIEGEL: Wieso klappt Kreativität in der auch daher, dass ich bei einem Weinbauern mentieren. Die Karotte ermöglicht mir
Küche nicht im Team? arbeite. Der Herr Neumeister hat mir vom Freiheit. Und ich kann probieren und so die
Irka: Jeder hat viel gelesen, gegessen und ge- ersten Tag an gepredigt, dass das Wichtigste Leute überraschen. Ich glaube, der bessere
kocht und hat ein eigenes Ideal, wie gute Kü- beim Geschmack das Spiel zwischen süß Geschmack ist möglich, weil wir in dieser
che sein soll. Und viele verstehen nicht bis und sauer ist. Das ist beim Wein auch sehr Küche Respekt vor dem Produkt haben.
ins Detail, was unser Stil hier im Haus ist. wichtig. Das habe ich erst mit der Zeit ver- SPIEGEL: Was heißt Respekt vor einer Ka-
SPIEGEL: Gehört Scheitern zum kreativen standen. Wir arbeiten immer ungefähr mit rotte?
Prozess? zehn verschiedenen Essigen und mit Verjus, Irka: Dass man eine Karotte genau so an-
Irka: Bei uns geht dauernd etwas schief, dem Saft der unreifen Weintrauben, einem schaut wie ein extrem teures Stück Fleisch.
vor allem beim Fermentieren. In Thailand Zitronenersatz, der ist bei uns fast in jedem Dass man sie nicht zu Tode kocht.

Wie wichtig das Spiel zwischen Säure und Süße ist, hat Irka vom Besitzer der Saziani
Stub’n gelernt, einem Weinbauern: „Das habe ich erst mit der Zeit verstanden.“

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 37


K R E A T I V I T Ä T S T E S T

Geistesblitzschnell

Einfallsreichtum messen? Doch, das geht.


Es gibt psychologische Tests, die zuverlässig
Kreativität voraussagen. Hier können
Sie selbst Ihre Fähigkeiten ausprobieren.
TEXT ANNE OTTO I L L U S T R AT I O N E N MAREN AMINI

38 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


K R E AT I V I TÄT S T E S T

Stift und – wichtig – eine Uhr mit Sekundenzeiger


oder eine Stoppuhr, sodass Sie die vorgegebenen Zei-
ten einhalten können. Nur wenn Sie diese zeitliche
Komponente messen, kann man über die Ergebnisse
überhaupt Aussagen treffen.

1. AUFGABE:
LÖSUNGEN FINDEN
In einer alten Villa wurde das erste Stockwerk restau-
riert. Als Innenarchitekt sind Sie dafür verantwortlich,
Wege zu finden, wie die teilweise recht sperrigen Mö-
bel wieder in den ersten Stock transportiert werden.
Sie haben zwei Minuten Zeit, so viele Ideen wie möglich
aufzuschreiben, wie der Transport bewerkstelligt werden
kann. Nehmen Sie ein leeres Blatt, und beginnen Sie jetzt.

2. AUFGABE:
ERKLÄRUNGEN FINDEN
WER HERAUSFINDEN WILL, wie viel Kreativität Schreiben Sie für folgenden Sachverhalt so viele mög-
andere besitzen, braucht selbst findige Ideen. Und liche Erklärungen auf, wie Ihnen einfallen:
selbst wenn man gute Aufgaben gefunden hat, sind Die Zahl der Zugvögel, die den Sommer in Deutsch-
die Ergebnisse häufig nicht so einfach auszuwerten. land verbringen, hat über längere Zeit abgenommen.
Denn anders als in Intelligenztests, in denen Fragen Im letzten Sommer war jedoch wieder ein erheblicher
so konzipiert sind, dass es eine richtige Lösung gibt, Anstieg zu verzeichnen. Was könnten die verantwort-
geht es bei der Messung von Kreativität eher darum, lichen Faktoren sein?
dass Testkandidaten möglichst viele originelle Einfälle Sie haben für das Finden von Erklärungen drei
generieren sollen, die man später auszählt. Heinz Minuten Zeit.
Schuler, der an der Universität Hohenheim 28 Jahre
lang den Lehrstuhl für Psychologie innehatte, ist ein
Experte für Eignungsdiagnostik und Testkonstruktion.
Er hat das Fachbuch „Kreativität“ (Hogrefe Verlag)
geschrieben und gemeinsam mit seinen Mitarbeitern
mehrere wissenschaftliche Kreativitätstests entwi-
ckelt.
Exklusiv für SPIEGEL WISSEN hat er eine Reihe
von Testfragen konzipiert, mit denen Sie Ihre Kreati-
vität auf die Probe stellen können. „Die Fragen geben
einen ersten Eindruck, wo die eigenen kreativen Stär-
ken und Schwächen liegen“, erklärt Schuler. Wer es
genauer wissen will, sollte allerdings einen standardi-
sierten Test machen.

VORBEREITUNG
Sie brauchen für die Aufgaben etwa 30 Minuten Zeit.
Bitte suchen Sie sich einen ruhigen Ort, schalten Sie
jede Musik aus. Sie brauchen mehrere Blatt Papier,

U N D S O G E H T E S W E I T E R
Wenn Sie möchten, schicken wir Ihnen ab dem 20. fragen. Um die Aufgaben zu lösen, sind Kreativität
Mai acht Wochen lang jeweils freitags eine Aufgabe und Intelligenz gefragt. Anmelden können Sie sich
per Mail zu – und natürlich später die Lösung. Ei- unter www.spiegel.de/kreativitaetstraining/ . Dort
nige Beispielaufgaben stammen aus dem Bereich finden Sie dann nach und nach auch alle acht Auf-
„Problemlösen“, andere sind ausgeklügelte Rätsel- gaben und deren Lösungen.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 39


K R E AT I V I TÄT S T E S T

Kieselsteine, 2 Bierkästen, 3 Autoreifen, 2 Bilderrah-


men, Wäschekorb, Ofenrohr, Gymnastikmatte, Garten-
tor, Hanfseil, Gartenliege.
Und jetzt zur Aufgabe: Bauen Sie möglichst viele
Behausungen (Hütten oder ähnliches) aus den Dingen,
die auf der Liste stehen. Verwenden Sie jeweils drei
Gegenstände für ein Gebäude.
Sie haben dazu vier Minuten Zeit.

6. AUFGABE:
KATEGORIEN BILDEN
Sie bekommen jetzt eine Reihe von Begriffen. Es geht
darum, Kategorien zu bilden, in die jeweils drei Dinge
passen.
Hier einmal ein Beispiel: Angenommen, Sie haben
die Wörter Haus, Iglu, Pfeife, Käfig, Kamin, Lagerfeuer.
Dann lassen sich etwa die Kategorie „Brandstellen“
(Pfeife, Kamin, Lagerfeuer) und die Kategorie „Behau-
sungen“ (Käfig, Iglu, Haus) bilden.

3. AUFGABE:
SÄTZE BILDEN I
Ihnen werden jetzt vier Buchstaben vorgegeben. Diese
sind die Anfangsbuchstaben für Wörter, aus denen Sie
Sätze bilden sollen. Versuchen Sie, möglichst viele
schlüssige Sätze zu finden.
Beispiel: Sie haben hier die Buchstaben S – B – D
– W. Mögliche Lösungen wären Sätze wie „Sie weiß
darüber Bescheid“ oder auch „Wer sagt das bitte?“.
Bei den verschiedenen Lösungen darf maximal ein
Wort gleich sein! (Der Satz „Das sagt Bernd wieder“)
wäre eine ungültige Lösung, weil zwei Wörter, die
schon im zweiten Beispielsatz vorkamen, wieder auf-
tauchen.)
Jetzt geht es los. Finden Sie möglichst viele Sätze
zur Buchstabenkombination:
E–I–D–B
Sie haben dazu drei Minuten Zeit.

Nun haben Sie fünf Minuten Zeit, möglichst viele


4. AUFGABE: Kategorien zu den folgenden Begriffen zu bilden. (Den-
SÄTZE BILDEN II ken Sie daran: drei Dinge pro Kategorie.)
Die gleiche Aufgabenstellung wie bei 3. Nur jetzt mit Begriffe: Buch – Erklärung – Tasse – Zange – Blume
einer anderen und komplizierteren Buchstabenkombi- – Ärger – Kind – Tanne – Leiterwagen – Traum – Rau-
nation: pe – Hut – Freude – Jacke – Schere – Reh – Musik –
P–H–R–V Zug – Wissen – Film – Vase – Wort – Ernst – Auto –
Sie haben wieder drei Minuten Zeit. Socken – Gabel – Tante – Pilz – Gedanke – Lupe –
Bild – Klugheit – Kerze – Zahnstocher
MAREN AMINI / SPIEGEL WISSEN

5. AUFGABE:
BAUEN UND ERFINDEN 7. AUFGABE:
Sie sollen nun aus den Gegenständen der folgenden KRITIK ÜBEN
Liste etwas herstellen: In dieser Aufgabe geht es darum, möglichst viele Ar-
Gießkanne, Fotostativ, Schilf, 3 Holzbalken, Rha- gumente gegen einen Standpunkt zu finden – und
barberblätter, 2 Pappkartons, Fußmatte, 4 Plastiktüten, zwar unabhängig davon, ob es Ihr eigener ist:

40 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


K R E AT I V I TÄT S T E S T

Stellen Sie sich vor, Sie sind Rektor oder Rektorin an


einem Gymnasium. Beim Elternabend macht ein Vater
den Vorschlag, die Schulnoten abzuschaffen, um die
Leistungsmotivation der Kinder zu fördern. Welche
Gegenargumente finden Sie?
Sie haben zwei Minuten Zeit.

8. AUFGABE:
IDEEN ANPREISEN
Sie arbeiten in der Entwicklungsabteilung einer Firma,
die Lesegeräte herstellt, mit denen Bücher vorgelesen
werden können. Sie haben eine Technik erfunden, die
Texte ab sofort nicht nur vorliest, sondern auch gleich
stilistisch verbessert und inhaltlich ergänzt. Wie „ver-
kaufen“ Sie Ihren Vorgesetzten – die sehr skeptisch
sind – diese Idee?
Finden Sie möglichst viele Argumente. Sie haben
dafür drei Minuten Zeit.

AUSWERTUNG AUFGABE 2: Hier wird das Verständnis für Kausali-


täten getestet und für die Fähigkeit, sie kreativ zu-
MEINE KREATIVEN STÄRKEN Nehmen Sie Ihre einander in Beziehung zu bringen. Die Aufgabe setzt
Blätter zur Hand und zählen Sie für jede Aufgabe zu- immer auch einen bestimmten Wissenshintergrund
sammen, wie viele brauchbare Kategorien, Argumen- voraus, in diesem speziellen Fall vor allem die Kennt-
te, Ideen Sie jeweils gefunden haben. Schreiben Sie nis von Parametern, die beim Vogelflug eine Rolle spie-
eine Ergebniszahl unter jede Aufgabe. Wichtig: Wie len, etwa Klimaveränderungen.
schon gesagt, können Sie mit diesen Testaufgaben nur Auswertung: Um hier im Bereich normaler Kreativi-
Tendenzen kreativer Stärken und Schwächen feststel- tät zu liegen, sollte man mehr als zwei bis drei Begrün-
len und keinen Gesamtwert für „hohe oder niedrige dungen gefunden haben. Ab fünf gefundenen Gründen
Kreativität“ ermitteln. Deshalb schlüsseln wir hier wäre die Kreativität hoch.
für jede Aufgabe einzeln auf, welche Elemente des
kreativen Denkens jeweils getestet werden und wie
die Leistung in einzelnen Fragen einzuschätzen ist.

AUFGABE 1: Hier wird die Fähigkeit zum kreativen


Problemlösen getestet, es geht um konkret-pragmati-
sche Aspekte der Kreativität. Die Art, wie man diese
Aufgabe bewältigt, sagt also auch etwas über den „le-
benspraktischen“ Einfallsreichtum aus. Wer bei den
Transportlösungen in der Aufgabe noch dazu berück-
sichtigt hat, dass man mit alten Möbeln und einem al-
ten Haus besonders vorsichtig umgehen muss, zeigt
außerdem ein Potenzial zur „Problementdeckung“,
also der Fähigkeit, in einer Situation Probleme zu se-
hen, die noch keiner gefunden hat. Das klingt eher un-
erfreulich, ist aber eine wertvolle Teilfähigkeit der
Kreativität.
Auswertung: Eine passable kreative Leistung wäre
es, zwei Lösungen gefunden zu haben, ab sechs Lösungen
kann man von hoher Kreativität sprechen.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 41


K R E AT I V I TÄT S T E S T

AUFGABE 3: Mit dieser Art von Aufgabe wird gemes- Lösungen von geringer Kreativität, mehr als sechs Ant-
sen, wie gut jemand mit Wortschatz und Satzbau „spie- worten dagegen von hoher.
len“ kann. Außerdem ist zur Lösung eine gewisse Ge-
dankenflüssigkeit wichtig. Wer in dieser Aufgabe auf- AUFGABE 6: Bei der Kategorien-Aufgabe geht es
fallend schlechter abschneidet als in anderen, hat um sprachliche Kreativität, um Abstraktionsvermö-
wahrscheinlich im sprachlichen Bereich nicht seine gen, aber auch um eine Fähigkeit, die man Konzept-
größten Stärken. Kombination nennt. Damit bezeichnet man das Po-
Auswertung: Um eine durchschnittliche Leistung zu tenzial, zwei bekannte, bereits bestehende Ideen zu-
erreichen, sollte man drei oder mehr Sätze formuliert sammenzufügen und etwas Neues daraus zu machen.
haben, für eine hohe Leistung ab sechs. Einige kreativ arbeitende Menschen nähern sich Ide-
en und Problemen grundsätzlich auf diese Weise.
AUFGABE 4: Wie Aufgabe 3, nur ist die hier vorgege- Auswertung: Ab drei Kategorien beginnt die „nor-
bene Buchstabenkombination schwerer. male“ Kreativität , etwa ab sechs Lösungen beginnt die
Auswertung: Jetzt ist die Leistung ab zwei Sätzen überdurchschnittliche Kreativität.
passabel, ab vier Sätzen überdurchschnittlich.
AUFGABE 7: Diese Aufgabe misst die Urteilsfähigkeit
AUFGABE 5: Bei dieser Aufgabe war ein gewisses und das Vermögen, eine geäußerte Idee kritisch zu
räumliches Vorstellungsvermögen gefragt. Speziell bewerten. Auch das ist eine kreative Fähigkeit, die be-
testet sie aber etwas, das in der Psychologie „geringe sonders im beruflichen Kontext in Kreativ- und Ent-
funktionale Gebundenheit“ genannt wird: Man ver- wicklungsprojekten sehr wichtig ist.
sucht herauszufinden, wie stark sich jemand gedank- Auswertung: Drei Argumente und mehr zeigen eine
lich von der eigentlichen Funktion eines Gegenstands durchschnittlich kreative Leistung, ab fünf Argumenten
entfernen kann. Klar: Je mehr man ein Ding zweck- liegt eine gute Leistung vor.
entfremden kann, desto kreativer ist man – zum Bei-
spiel, indem man ein Tipi aus Holzbalken, Hanfseil AUFGABE 8: Hier soll getestet werden, ob jemand
und Rhabarberblättern baut. Diese Form des Einfalls- in der Lage ist, eine Idee auch zu „verkaufen“ und da-
reichtums war oft Schwerpunkt in den Kreativitäts- für wiederum kreative Argumente zu finden. Auch
tests der Siebzigerjahre. Häufig findet man dort Auf- dieser Punkt wird besonders in Tests berücksichtigt,
gaben wie „Was kann man alles mit einer Zeitung ma- die berufsbezogene Kreativität messen. Dass hier ein
chen?“ oder „Was kann man alles als Bilderrahmen be- Nonsens-Produkt angepriesen wird, erhöht übrigens
nutzen?“. Doch diese Aufgaben waren ungleich leich- die Genauigkeit der Messung: Wenn man realistische
ter – und meist auch für Kinder konzipiert – als die Neuerungen wählen würde, hätten diejenigen Vorteile,
hier formulierte Übung. die sich in der Materie auskennen.
Auswertung: Für diese neuartige Aufgabe gibt es Auswertung: Auch hier sollten mindestens zwei Ar-
noch keine Vergleichswerte in der Wissenschaft. Vor- gumente gefunden werden, um im Bereich der „normalen“
sichtig geschätzt zeugen weniger als drei gefundene Kreativität zu sein. Ab etwa fünf Argumenten: sehr gut.

MAREN AMINI / SPIEGEL WISSEN

42 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


tur benennen: Ihrem fantastischen Erfin-
dungsreichtum, so sagen sie, liege ein simp-
les Baukastenprinzip zugrunde. Die wun-
dersamen Alleskönner unter den Molekülen

DR.
seien die Proteine – Kettenmoleküle mit ei-
ner schier grenzenlosen Vielfalt von Eigen-

A L LW I S S E N D
schaften. Das nützlichste unter all den vie-
len Proteinen finde die Natur heraus, indem
sie verschiedene Varianten ausprobiert.
Doch halt: Eine einfache Rechnung of-
fenbart, dass dies nur ein Teil der Wahrheit
Was macht die Natur sein kann. Ein kleines Protein besteht aus
100 Aminosäuren, und wer ausrechnet, wie

erfinderisch? viele verschiedene Ketten dieser Länge es


gibt, kommt auf eine Zahl mit 131 Ziffern.
Das ist eine große Zahl, weit größer als die-
jenige sämtlicher Atome des Universums.
Wie sollte die Evolution die Zeit finden, all
diese schwindelnd vielen Varianten durch-
zuprobieren, um die tauglichsten zu finden?

FASZINIERENDE ANTWORTEN auf die-


se Frage hält der Zürcher Systembiologe An-
dreas Wagner bereit. Man solle sich eine gi-
gantische Bibliothek des Lebens vorstellen,
in der jeder Band ein anderes Protein vor-
stellt. Zunächst müsse sich ein Besucher völ-
lig überfordert fühlen: Wie unter den un-
endlich vielen Büchern das eine finden, das
man sucht? Bei näherer Betrachtung jedoch,
so Wagner, offenbare sich eine geradezu
magische Ordnung. Das Geheimnis, das die
Natur so erfinderisch macht, liege in der
Architektur dieser Bibliothek verborgen.
Sie habe nicht drei Dimensionen, wie un-
sere Alltagswelt, sondern so viele, wie es
Aminosäuren gibt – nämlich 20. Eine 20-
dimensionale Welt aber gehorcht gänzlich
IRGENDWANN STEHT JEDER, der sich anderen räumlichen Regeln: Überall tun sich
mit den Wundern der Natur befasst, vor ei- Abkürzungen auf, spukhaften Geheimgän-
ner großen Rätselfrage: Spinnen bauen fili- gen gleich, die jeden beliebigen Ort im gi-
grane Netze, Fledermäuse sehen nachts mit gantischen Reich der Möglichkeiten mit je-
ihren Ohren, Zugvögel finden zielsicher ihr dem anderen verbinden. Wer hier nach der
5000 Kilometer entferntes Winterquartier. Lösung eines Problems sucht, kann gewiss
Und als wäre all das noch nicht erstaunlich sein: Die Antwort steht nicht weit entfernt.
genug, sind Organismen auch noch kompli- Auch die Sortierung der Bücher folgt ei-
zierte Chemiefabriken, die wahlweise aus genen Regeln, es steht nicht immer Gleiches
Gras Kühe, aus Körnern Meisen oder aus mit Gleichem zusammen. Die Evolution
Frolic-Pellets Hunde herstellen können. darf man sich nun als Gast in dieser großen
OLIVER SCHWARZWALD / SPIEGEL WISSEN

Kann all das wirklich Zufall sein? Bibliothek vorstellen. Sie stöbert durch die
Alle Phänomene der belebten Natur, so Regale, greift mal hier, mal dort nach einem
lehren es die Biologen, hat die Evolution her- Band. Die Art der Sortierung kommt ihr sehr
vorgebracht, beruhend allein auf dem Wech- entgegen, denn für Überraschungen ist stets
selspiel von zufällig auftretenden Mutatio- gesorgt. Und wenn sich, rein zufällig, er-
nen, Genkombinationen und anschließender weist, dass der Band, den sie gerade schmö-
Selektion. Doch ist das die ganze Wahrheit? kert, etwas nie zuvor Gelesenes enthält, ist
Zwar scheint es zunächst, als könnten das Leben um eine Innovation reicher.
die Biochemiker das Erfolgsrezept der Na- Johann Grolle

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 43


LERNEN

Schulhof der Unterstufe


der Oberhausener
„Gewei“, kurz für
„Gesamtschule Weier-
heide“, mit dem
Maskottchen, einem
selbstgebauten Elch.

GRAUE HÄUSER säumen die Straße der


einstigen Zechenkolonie, auf dem Bürger-
steig lungern Halbstarke. Hier, in Oberhau-
sen-Lirich, wohnt Vanessa Plementas, drit-
tes Kind einer alleinerziehenden Reini-
gungsfrau. Die 16-Jährige hat viel durchge-
macht, von Mobbing bis zur Magersucht.
Neuerdings aber schöpft sie Hoffnung. „Seit-
dem ich in der Schule das mache, was ich
liebe“, sagt die Zehntklässlerin. „Auf einmal

Auf
fühle ich mich stark.“
Die Geschichte von Vanessas Wandlung
klingt märchenhaft. Aber ihr Retter ist kein
Prinz. Der Mann hat eine Plauze und lichtes,
rotblondes Haar, er heißt Jens Niemeier und
ist von Beruf Musiker und Theaterpädagoge.
Niemeier leitet den Kurs, den Vanessa so

Kresch-
liebt: „Kresch“. Kresch steht für „Kreative
Schule“, und das ist wörtlich gemeint. „In
meinen Kursen sind die Schüler aktiv“, er-
klärt Niemeier. „Statt Lernstoff zu konsu-
mieren, gestalten die Jugendlichen den Un-
terricht.“ Sie dichten, trommeln, malen, fil-

Kurs
men, stricken, „Hauptsache, am Ende steht
ein gemeinsam erarbeitetes Projekt.“
Die Gesamtschule Weierheide ist die viel-
leicht einzige Schule in Deutschland, bei
der Kreativität auf dem Unterrichtsplan
steht, als Wahlpflichtfach für die Klassen-
stufen acht bis zehn. Äußerlich fügen sich
die Schulbauten nahtlos ein in die triste Ar-
chitektur angejahrter Ruhrpott-Bauten in An einer Ruhrpott-Gesamt-
der Umgebung. Umso mehr fällt der seltsa-
me Vierbeiner aus Mosaiksteinchen auf, der schule steht Kreativität auf
vor dem Eingang des Unterstufenhauses
steht: ein Elch, das Wappentier der „Gewei“,
wie Schüler und Lehrer ihre Schule liebevoll
dem Stundenplan. Seitdem
nennen. Die Botschaft wird schon an der
Pforte klar: Hier geht es um Fabelhaftes, um
geschehen hier kleine Wunder.
Neues, Originelles.
Jedes Jahr ist der Ansturm auf die Plätze TEXT ANNETTE BRUHNS F OTO S HENNING ROSS
groß, weit mehr Eltern wollen ihre Kinder
anmelden, als die Schule aufnehmen kann.
Die Gewei-Schüler entfalten ihre Fantasie

44 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


Mikado-Stifte als
Schulhofplastik (l.).
Kresch-Schüler bei
der Probe des eigenen
Theaterstücks „Die
Jugend von heute“

Schulleiterin Doris
Sawallich, selbst Musikerin,
auf einer Schulhofbank.
Innen- und Außenwände
der Gewei sind
von Schülern bemalt.
45
LERNEN

nicht nur in den Kresch-Kursen, sondern Dass die Oberhausener Gesamtschule Schülersprecher
überall, ob im Chemielabor oder in der Kü- mit ihren rund tausend Schülern zu einer Pascal Jakuly: „Von
che. Eindrucksvolles Beispiel: Als das Ober- Art Laboreinrichtung für Kreativität gewor- Kresch habe ich
hausener LVR-Industriemuseum 2014 eine den ist, hat sie vor allem ihrem Gründer zu das Selbstbewusstsein
Ausstellung über das Leben vor 100 Jahren verdanken. Hermann Dietsch, 66, seit letz- für meine Ziele.“
organisierte, kamen gleich aus 25 Klassen tem Jahr im Ruhestand, ist ein herzlicher
Exponate. Ein Deutschkurs hängte Anti- Mann in grauem Pulli, von Haus aus Che-
kriegsgedichte an die Museumswände; im mielehrer. Seine Rührigkeit hat der 19 Jahre
Chemieunterricht waren riesige Styropor- alten Schule die vielen Plaketten am Ein-
modelle von Giftgasmolekülen entstanden, gang beschert: „Schule im Sporthelfer-Pro-
die von der Decke der alten Zinkfabrik bau- gramm“, „Zukunftsschulen NRW“, „Strate-
melten; die Sportler hatten das „vaterländi- gische Schulpartnerschaft“ und einige
sche Turnen“ erkundet und die Hauswirt- mehr. Als Dietsch 2010 vom bundesweiten
schaftler Rezepte für die Mangelküche ent- Förderprogramm „Kulturagenten für krea-
wickelt: Steckrüben in allen Varianten. tive Schulen“ hörte, war er auch daran so-
„Wir hatten mehrere Schulen um Beiträ- fort interessiert. Nicht zuletzt, weil für die
ge gebeten“, sagt Museumsleiter Burkhard ersten vier Jahre für jede Schule stolze
Zeppelfeld. „Aber die Flut von Arbeiten aus 50 000 Euro zu holen waren.
der Weierheide hat alle unsere Erwartungen
übertroffen. Fast jedes Fach hatte den Ers- DIE IDEE: Sogenannte Kulturagenten, die
ten Weltkrieg zum Thema gemacht.“ Der an den Schulen eingesetzt werden, sollen
nordrhein-westfälische Bildungsplan, so Lehrer und Schüler mit Kulturinstitutionen
hatte das Schulkollegium herausgetüftelt, –  Theater, Bibliotheken, Museen  – vernet-
lässt dies tatsächlich zu. zen. Unterstützt werden sie durch Künstler,

46 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


Elftklässler stellen
im LVR-Industrie-
museum eigene Bei-
träge zur Postkarten-
ausstellung „Grüße
aus Oberhausen“ aus.

die an den beteiligten Schulen unterrichten. „Die Jugend von heute“. In zwei Gruppen
Die Kulturagentin an der „Gewei“ heißt schreiten sie die Aula ab, von rechts, von
Anke Troschke, sie sieht sich als Übersetze- links, Stöpsel in den Ohren, kaugummikau-
rin zwischen den Welten. „Galerien oder end, hüpfend oder schleichend.
Theater ticken total anders als Schulen“, er- Ein Schüler tritt vor. „Meine Gedanken
klärt sie. „Während ein Museum mit drei bis kreisen oft um meine tote Familie“, beginnt
vier Jahren Vorlauf plant, überblicken Leh- der Junge seinen Monolog, „meine Mutter
rer höchstens ein Schuljahr.“ und meinen Bruder, die ich beide nie ken-
„Wir mussten Schule neu denken“, gibt nenlernen durfte. Und meinen verscholle-
Hermann Dietsch zu. Im Kollegium ent- nen Vater. Selbst meinen sogenannten
spann sich ein hoch emotionaler Dialog. Freunden erzähle ich nichts davon, weil ich
„Zuerst mussten wir einen Kulturfahrplan mich dabei unwohl fühle.“ Der Junge tritt
aufstellen. Am Ende konnten wir unser altes ab, die Musik setzt wieder ein, die Schüler
Schulprogramm wegschmeißen.“ Ein zwei- fallen erneut in den Trott ihrer Figuren.
Den Theaterpädagogen tägiger künstlerischer Workshop für alle Fünf weitere Sprecher treten noch vor. Sie
Jens Niemeier dürfen Lehrer habe Wunder gewirkt. Zwei enga- erzählen, das spürt man, von echten eigenen
alle duzen. Masimbonge gierte jüngere Lehrer sind ins Programm Sorgen und Ängsten.
(l.) erzählt auf der fest eingebunden, und Jahrgang für Jahr- Am Ende fallen alle gemeinsam in einen
Bühne sein Schicksal. gang wurde Kreativität im Schulalltag ver- Sprechgesang: „Ist es normal, nur weil alle
ankert, Gesang in Klasse 5, Perkussion in es tun?“ Der Refrain ist ein Zitat aus einem
Klasse 6, Tanz in 7, für die Älteren schließ- Hip-Hop-Song der „Fantastischen Vier“, die
lich Kresch. Schüler wiederholen ihn, wieder und wie-
der, stampfen dazu, drängen nach vorn.
ES IST DONNERSTAGMITTAG, der Bei der Nachbesprechung gibt es eine
Kresch-Kurs tagt in der Aula. Musiktheater- Überraschung. „Masimbonge, ist das deine
profi Niemeier beratschlagt sich mit den 29 Geschichte?“ Der Schüler, der von seiner
HENNING ROSS / SPIEGEL WISSEN

Schülern für ihre anstehende Aufführung Familie erzählt hat, nickt. „Ich komme aus
bei den „Duisburger Akzenten“, einem Südafrika. Meine Mutter starb, als ich drei
Theaterfestival. Kulturagentin Troschke hat war. Ich wurde nach Deutschland adoptiert.“
dafür gesorgt, dass die Schule eingeladen Die anderen starren ihn an. Jens Niemeier
wird. Der Druck ist groß, 600 Zuschauer erklärt: „Eigentlich sollen die Schüler ihre
werden erwartet. Die Schüler haben ein ei- Texte untereinander tauschen. Aber Masim-
genes Stück geschrieben und proben es jetzt: bonge wollte seinen unbedingt vortragen.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 47


Wir haben lange darüber geredet, ob das selbst in die Hand nehmen“, sagt Pascal.
wirklich eine gute Idee sei.“ Der junge Afri- Der Sohn eines Maschinenbautechnikers
kaner sagt entschlossen: „Es tut gut, endlich will auf jeden Fall studieren. „Von Kresch
darüber zu reden. Die Zuschauer wissen ja habe ich das Selbstbewusstsein für meine
nicht, dass es meine Geschichte ist.“ Ziele.“
Niemeier bleibt noch lange, nachdem die Wie es mit Kresch weitergehen wird, liegt
Schüler weg sind. Er macht diesen Job seit jetzt auch in den Händen der neuen Schul-
vier Jahren. Damit ist er der am längsten leiterin. Doris Sawallich ist eine schlanke
tätige Gewei-Künstler – 14 hat die Schule Frau mit gut geschnittenen Haaren, sie
schon beschäftigt. „Ich will den Jugend- strahlt Disziplin und Ehrgeiz aus. Finanziell
lichen etwas mitgeben, was sie für ihr Leben hat sie es schwerer als ihr rühriger, gemütli-
brauchen. Selbstwahrnehmung, Fremd- cher Vorgänger. Der Zuschuss für die Künst-
wahrnehmung, das, was man Social Skills ler ist von rund 10 000 Euro im Jahr auf 6000
nennt.“ Den meisten Schülern fehle es ele- Euro gesunken; 2018 läuft die Förderung
mentar an Körperbewusstsein. „Durch das ganz aus. „Bis dahin soll sich unser Konzept
ständige Hängen am Handy findet eine Ent- selbst tragen“, sagt Sawallich. Leicht wird
körperung statt“, hat der Theatermann be- „Mir ist jetzt ganz egal, das nicht. Die Künstler können nicht auf
obachtet. „Die können Gefühle blitzschnell was andere von mir Lehrerstellen beschäftigt werden. Auch das
mit Emoticons ausdrücken, aber verstehen denken“, sagt die Schü- Amt der Kulturagentin, das aus vielen Töp-
sich kaum noch auf Gestik und Mimik.“ lerin Vanessa Plementas. fen bezahlt wird, ist nur bis 2018 sicher.
Die Schüler hätten auch meist keine Ah- Anke Troschke schreibt bereits Anträge, um
nung davon, was „kreativ sein“ überhaupt die Finanzierung der Kulturprojekte fortzu-
bedeutet. „Die lernen im Kunstunterricht führen – mit wechselndem Erfolg.
oft nur Handwerkliches. Da wird dann be- An den Gewei-Schülern ist der erfahre-
wertet, wie jemand einen Stuhl zeichnet, es ze am Ende vor Publikum gezeigt werde. nen Pädagogin Sawallich eine besondere
geht um gut oder schlecht, um richtig oder Wegen der anstehenden Vorstellung beim Haltung aufgefallen. „Die gucken einen an
falsch.“ Niemeier versucht, den Schülern Duisburger Theaterfestival hätten ihn schon und überlegen nicht: Was macht die mit
klarzumachen, dass Kunst sich solchen Be- viele Schüler gefragt, ob auch Erwachsene uns? Sondern: Was können wir mit der ma-
wertungen entzieht. „Wir haben etwas zu zuschauten. „Es ist ihnen enorm wichtig, chen?“ Ihre neuen Schüler seien kontakt-
sagen, darum geht es.“ Noten werden auch ernst genommen zu werden.“ freudig, flexibel und selbstbewusst. „Die
bei Kresch verteilt. Niemeier tut das nicht Jens Niemeier ist nicht nur für Vanessa sind nicht so schnell auf einer Pegida-
gern. „Ich gebe nur Empfehlungen an den eine Art Held. Auch der Schülersprecher Demo“, sagt die Rektorin resolut. „Kultur
jeweiligen Lehrer ab, der meinen Unterricht Pascal Jakuly hält den Mann für „ein Genie“. ist kein Luxus, sondern Voraussetzung für
begleitet“, sagt er. Wenn überhaupt, findet Pascal, ein hünenhafter, ruhiger 17-Jähriger, demokratisches Verhalten, für Wachheit
der Künstler, müsse das Engagement und war bis vor einem Jahr Kresch-Schüler. „Wir und Wachsamkeit.“
nicht der Output benotet werden, „wer echt dürfen Jens duzen“, erzählt er, „auf Augen-
mitmacht, verdient eine Eins“. höhe lerne ich viel besser.“ Eigentlich habe VANESSA, DIE BLASSE Zehntklässlerin
er keine Lust gehabt, Theater zu spielen, er aus dem Arbeiterviertel, in dem heute so
EIN KRESCH-PROJEKT kann vieles sein: sei viel von Mitschülern gehänselt worden. viele arbeitslos sind, will am Ende des Jah-
ein Film, ein Konzert, eine Hip-Hop-Revue. Aber dann kam die Aufführung. Pascal res die Schule verlassen und Erzieherin wer-
Voriges Jahr ging eine Gruppe von notori- war in die Rolle eines ehemaligen Lehrers den. Sie fühlt sich nicht wohl in ihrer Klasse;
schen Schulschwänzern mit einem Schau- aus der DDR geschlüpft, Dr. Gustav von zuletzt haben Mitschüler Fotos von ihr im
spieler auf Klassenfahrt und drehte dabei Schlesing, eines heimatlosen, aber würde- Internet gepostet. „Der Kresch-Kurs reißt
einen eigenen Film für die „Internationalen vollen Mannes. „Ich war dieser alte Mann“, jetzt aber vieles heraus“, sagt sie. In ihren
Kurzfilmtage Oberhausen“. Das Projekt hat sagt Pascal, und plötzlich fällt er wieder in Augen glitzern Freudentränen. „Ich habe
die Drop-outs hoch motiviert – einige seine Rolle, blafft sein Gegenüber an: „Ich zum ersten Mal Freunde.“
machen seitdem doch noch den Schul- bin wichtig.“ Das war einer von Schlesings Seitdem Jens Niemeier einen Song von
abschluss. Das ist wichtig, gerade hier im Schlüsselsätzen. Anschließend spielte Pas- ihr vertont hat, singt Vanessa in einer Band.
Brennpunkt Ruhrpott: In der 210 000-Ein- cal sogar eine Hauptrolle. Er wurde zum Ge- Sie ist schon vor Flüchtlingskindern aufge-
wohner-Stadt Oberhausen ist etwa jeder jagten, zum Oberhausener Alfred Ill aus treten und träumt von ihrer Entdeckung in
Achte arbeitslos; die Stadt steht mit 1,9 Mil- Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“. Es einer Talentshow. „Mir ist jetzt ganz egal,
liarden Euro in der Kreide. Es ist nicht zu- gab stehende Ovationen. Danach outete sich was andere von mir denken“, sagt die 16-
letzt diese Not, die die Gesamtschule und Pascal vor seinen Mitschülern als schwul. Jährige. In ihrer Nase blitzt ein schmaler
die sie unterstützende Kommune erfinde- Und plötzlich hörten die blöden Sprüche Ring. „Ich werde an meinen Zielen so lange
risch macht. In diesem April ging der nächs- auf, wählten die Schüler den einstigen Au- arbeiten, bis es klappt.“
te Schulschwänzer-Trupp auf Tour. ßenseiter sogar zu ihrem Vertreter. annette.bruhns@spiegel.de
Auch Theaterstücke sind sehr beliebt, Der Elftklässler sitzt heute im Jugend-
sagt Niemeier, „da können die einen auf die parlament der Stadt, berät andere schwule
Annette Bruhns malt am liebsten
Bühne und die anderen dahinter, etwa als Jugendliche und moderiert Veranstaltun- mit dem Kielwasser eines
Beleuchter“. Ganz wichtig sei, dass das Gan- gen. „Hier im Pott müssen wir die Dinge Segelboots Schaumstreifen ins Wasser.

48 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


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Liebe, Drama, Windsor


Die seltsamen britischen Royals
Mit Tiara und Zepter
Elizabeth als Jahrhundertherrscherin
Der nächste König
Charles, der ewige Zweite
50
INTROSPEKTION

„Der Mensch ist ein


schöpferisches Wesen“
Wie können wir ein kreatives Leben führen? Am besten
mit Achtsamkeit, glaubt Psychologe Frank Berzbach.
INTERVIEW ANNE OTTO F OTO S JAN VON HOLLEBEN

SPIEGEL: Herr Berzbach, Sie gelten als Experte für Achtsamkeit


und Kreativität. Das wirkt, als würden hier nur zwei Modeworte
zusammengewürfelt. Wie kamen Sie auf die Verbindung?
Berzbach: Vor einigen Jahren habe ich ein arbeitspsychologisches
Buch mit Tipps und Tricks für den kreativen Prozess geschrieben.
Ich mochte den praktischen Ansatz, merkte aber beim Schreiben,
dass die Sichtweise zu kurz greift: Kreativität benötigt vielmehr
Energie und Klarheit. Deshalb bin ich tiefer gegangen, habe Quellen
aus Religionswissenschaft, Buddhismus, Kunsttheorie zurate ge-
zogen. Dabei wurde deutlich, dass eine achtsame Haltung ein
Schlüssel für Kreativität sein kann.
SPIEGEL: Was ist das: eine achtsame Haltung?
Berzbach: Viele denken, Achtsamkeit sei einfach ein vorsichtiges,
behutsames Handeln, aber das stimmt nicht. Es ist ein Verhaltens-
kodex aus dem Buddhismus, der von westlichen Psychologen auf-
gegriffen wurde. Er beinhaltet das Einüben einer bestimmten Geis-
teshaltung: Vor allem geht es darum, dass ich jederzeit meinen Kör-
per und meinen Geist beobachten kann, während ich etwas tue.
Ich merke dadurch, wann ich abgelenkt bin, wann bestimmte Emo-
tionen hochkommen oder wann ich eine Pause brauche. Das erzeugt
eine Grundruhe, steigert die Konzentrationsfähigkeit.
SPIEGEL: Warum brauchen Kreative Gegenwärtigkeit so dringend?
Berzbach: Weil die Idee einer Work-Life-Balance für schöpferische Atelier. Dass eine Trennung zwischen Beruf und Privatem nicht
Menschen nicht gilt. Arbeit ist für sie immer ein großer Teil des stattfindet, ist in Ordnung. Dennoch benötigen Kreative Strategien,
Lebens, wird auch nicht primär als belastend erlebt. Wer in der um sich nicht zu überlasten. Wenn sie eine achtsame Haltung ein-
Firma in einem innovativen Projekt steckt, liest auch nach Feier- nehmen, können sie auseinanderhalten, ob sie gerade auf heilsame
abend gern Fachbücher. Künstler gehen auch am Wochenende ins Art arbeiten oder nicht.
SPIEGEL: Heißt das auch, dass man sich vom kreativen Prozess
immer wieder distanzieren sollte?
Berzbach: Ich halte überhaupt nichts von Besessenheit oder dem
FRANK BERZBACH kompletten Aufgehen in einer Tätigkeit. Im Moment fühlt sich das
gut an, doch als Kreativideal ist es schlecht – denn so verausgaben
hat Pädagogik, Psychologie und Litera- wir uns leicht, identifizieren uns ganz mit der Aufgabe. Zu Ruhe
turwissenschaften studiert und lehrt an und Routine zurückzufinden ist zentral. In der frühen christlichen
der TH Köln und der ecosign Akademie Arbeitslehre wusste man das bereits: Es gab eine Art Dreieck aus
für Gestaltung. Sein Buch „Die Kunst, Arbeiten, Lesen und Beten. In den Klöstern legte man das Gebet
BJØRN FEHL

ein kreatives Leben zu führen“ (Verlag zwischen die Arbeitsphasen, um Ruhe und Abstand zu erzeugen.
Hermann Schmidt; 192 Seiten; 29,80 SPIEGEL: Abstand, Ruhe, Routine: Das sind nicht gerade Begriffe,
Euro) wurde zum Überraschungserfolg. die wir mit Kreativen verbinden.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 51


INTROSPEKTION

irgendetwas ein: Radio, Fernseher, Computer. Es ist ihnen häufig


nicht wichtig, was dort läuft – sie machen das reflexhaft. Viele hal-
ten die Stille nicht mal fünf Minuten aus. Natürlich können wir ge-
nau das auch üben: durch Meditation zum Beispiel.
SPIEGEL: Gibt es auch andere Wege?
Berzbach: Es gibt viele Zugänge. Langsames Gehen ist quasi in sich
schon Meditation. Wer versucht, im Alltag ganz bedächtig zu gehen,
also in der Wohnung oder beim Einkauf, kommt in diesen Zustand
der Gegenwärtigkeit. Das ist schwer, kostet Überwindung, ich habe
es eine Weile probiert. Eine weitere Übung wäre, Haushaltsaufga-
ben mit Ruhe und Aufmerksamkeit zu erledigen. Sich also zu sagen:
Jetzt steht der Abwasch an, den mache ich und freue mich an der
Ordnung, die ich dadurch geschaffen habe.
SPIEGEL: Achtsames Abwaschen klingt lästig. Warum ist es für
die Kreativität so wichtig, den Alltag bewusst zu erleben?
Berzbach: Ich glaube, es gibt nur den Alltag. Wir stehen auf, kom-
munizieren, es regnet, wir ärgern uns, arbeiten, holen die Kinder
ab. Ein paar außerordentliche Momente gibt es natürlich in jedem
Leben, Hochzeiten, Krankheiten, Todesfälle, große Erfolge, aber
gar nicht viele. Deshalb ist der Alltag mein Leben, und die Art, wie
ich ihn gestalte, macht den Unterschied. Wie ich abwasche. Wie
ich mich kleide. Wie ich ein Buch schreibe. Wie ich meine Kunden
betreue. Die Abläufe selbst sind trivial, wiederholen sich. Es kommt
allein darauf an, mit welcher Haltung, Intention und Konzentration
man etwas tut. Joseph Beuys hat gesagt: „Wenn man eine Kartoffel
Berzbach: Stimmt. Wir lieben die Idee von Künstlertypen, die sich schält, ist man schon ein Bildhauer.“
verausgaben, von Drogen, Chaos, Exzess. Ich glaube, das sind My- SPIEGEL: Ist diese achtsame Haltung vor allem Arbeitsschutz
then. Bessere Werke entstehen so jedenfalls nicht. Amy Winehouse für Kreative – oder wirkt sie sich auch auf die Kreativität selbst
hat nicht aufgrund ihrer Sucht gute Songs gemacht, sondern trotz- aus?
dem. Uns ist das nicht so präsent, aber es gibt viele Kreative, die in Berzbach: Sie ist natürlich noch kein Garant für Ideen, nein. Es ist
der Ruhe und Normalität ihre schöpferische Kraft gefunden haben, eher so, dass aus einer achtsamen Haltung Konzentration folgt, und
etwa der Maler Henri Matisse, der Dichter Goethe oder auch der die wiederum führt zu Kreativität. Der Maler Lucian Freud hat ge-
Philosoph Immanuel Kant, der jeden Tag einen Spaziergang durch sagt, falls er überhaupt ein Kreativitätsgeheimnis habe, sei das die
Königsberg machte. Konzentration. Wer in einer gelassenen und konzentrierten Stim-
SPIEGEL: Wieso hängen wir am Bild vom gequälten Kreativen? mung ist, hat oft auch Energie, Kraft, Zuversicht. Zu solchen Zu-
Berzbach: Ich vermute, das hat etwas mit sozialen Vergleichspro- sammenhängen kommen quasi wöchentlich Studien heraus: Wer
zessen zu tun: Kreative schaffen eine Menge. Wir bewundern häufig positiv gestimmt ist, ist kreativer. Wer selbstbewusst ist, ist kreativer.
ihre Werke. Wir sehen sie also lieber als halb verrückte Wesen au- Wer sich ruhig fühlt, ist kreativer. Wer wütend ist, den verlässt die
ßerhalb unserer Sphäre, sonst würde der Vergleich für uns selbst schöpferische Kraft.
wenig schmeichelhaft ausfallen. Die Idee des chaotischen Künstlers SPIEGEL: Was ist mit der Kreativität selbst: Gehört sie zu einem
gibt es im asiatischen Raum übrigens nicht: Dort herrscht das Bild, gelungenen Leben? Macht sie uns glücklich?
dass der künstlerische Geist gelassen und konzentriert sein soll, Berzbach: Kreativität macht Freude. Ich glaube, das läuft über ein
einsam sein kann. Ich habe in meinem Buch deshalb Aspekte dieser Gefühl von Selbstwirksamkeit: Ich erlebe mich als schöpferisch,
östlichen Lehre eingeflochten, wollte dem westlichen Blick auf als wirksam in einem Bereich, in dem ich etwas kann. Ich bin zu-
Kreativität etwas entgegenstellen. Die asiatischen Konzepte sind frieden, wenn ich etwas gebastelt, geschrieben, ausgedacht habe –
alltagsbezogen und machbar. oder auch nur meine Wohnung aufgeräumt habe. Wir alle erleben
SPIEGEL: Was ist denn praktisch zu tun, wenn man achtsam kreativ uns gern als Gestalter, dann fühlen wir uns mündig und aktiv. Der
arbeiten will? Mensch ist ein schöpferisches Wesen – so viel ist sicher.
Berzbach: Zunächst nimmt man die Rahmenbedingungen in den SPIEGEL: Könnte man auch sagen: Solange wir kreativ sind, hat
Blick, äußere und innere: Wie und wo arbeiten wir? Wann veraus- das Leben einen Sinn?
gaben wir uns? Wann sind wir konzentriert? Wann fahrig? Moderne Berzbach: Nein. Für mich ist Kreativität nur dann sinnvoll oder
Büros sind oft nicht kreativitätsförderlich: Menschen sitzen eng heilsam, wenn sie aus dem Antrieb heraus geschieht, die Welt ein
JAN VON HOLLEBEN / SPIEGEL WISSEN

zusammen, überall ist Lärm, Ablenkung. Viel besser wäre Abge- bisschen schöner zu hinterlassen, als sie vorher war. Das reicht.
schiedenheit. Virginia Woolf hat formuliert, dass Kreativität ent- Doch Kreativität per se ist noch nicht sinnstiftend. Wir verlieren
steht, wenn man etwas Geld hat und ein Zimmer für sich. das gern aus dem Blick: Auch wer eine Bombe baut, ist kreativ. Ge-
SPIEGEL: Die äußeren Bedingungen können wir oft nicht ändern. sellschaftlich gesehen gestalten gerade sehr unterschiedliche Kräfte
Berzbach: Stimmt. Die Suche nach Ruhe ist aber auch ein inneres sehr stark die Welt mit, ob es Friedensstifter, Nachhaltigkeitsfreun-
Thema. Auch wenn wir eigentlich konzentriert sein könnten, er- de oder Terroristen sind. Deshalb finde ich, dass Kreativität und
tragen wir die Stille oft nicht. Ich frage Studierende häufig, was sie die Frage nach Werten zusammengehören. Nur wenn sie sich an
als Erstes tun, wenn sie nach Hause kommen. Die meisten schalten Werten orientiert, ist Kreativität sinnstiftend.

52 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


Z A H L E N

37
249 000 70
Jahre alt war Albert Einstein,
als die allgemeine Relativitäts-
theorie veröffentlicht wurde –
Unternehmen im Kreativsektor er- laut einer Studie ein typisches Dezibel laute Hintergrundgeräusche –
wirtschafteten in Deutschland 2014 einen Alter für den Höhepunkt kreati- etwa der Pegel in einem Restaurant –
Jahresumsatz von 146 Milliarden Euro. ven Schaffens. fördern die Kreativität mehr als
absolute Stille, fanden Forscher der
Universität Illinois heraus.

15 425
129 864 880 Euro verdient ein
freischaffender Künstler in
Bücher existierten im August 2010 Deutschland durchschnittlich
laut einer Google-Schätzung auf der Welt. pro Jahr.

72 8000
Prozent aller Befragten in
einer Kreativitätsstudie gaben an, Kaugummis, die auf der Straße
dass ihnen Ideen klebten, bemalte der Street-Art-Künstler
unter der Dusche zufliegen. Ben Wilson in London.

1,5 1 500 000


Kilogramm wog der erste „kleine“
MAREN AMINI / SPIEGEL WISSEN

Taschenrechner von Texas Instruments, Exemplare ihres Erwachsenenmalbuchs


der im Jahr 1967 auf den Markt kam. „My Secret Garden“ hat die britische Illus-
Er hatte in Deutschland einen tratorin Johanna Basford bis Mai 2015 ver-
Ladenpreis von 1987 Mark. kauft – der Erfolgstrend ist ungebrochen.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 53


PUTPUT / SPIEGEL WISSEN

54 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


2

I M E I N FA L L S R E I C H

Ohne Innovation gibt es keinen Fortschritt. Für die


Wirtschaft heißt das umgekehrt: Wer sich nicht erneuert,
geht unter. Gesucht werden daher frische Denk-
ansätze. Willkommen im Zeitalter der Nonkonformisten.

„Wir leben ökonomisch und öko- „Man muss versuchen, über „Der Veränderungsdruck
logisch über unsere Verhältnis- eine Situation nachzudenken durch Globalisierung,
se. Wir müssen aufpassen, dass wie ein Busfahrer, Digitalisierung und Automatisie-
uns die Probleme nicht über den ein Lehrer, ein Wissenschaftler: rung steigt nicht mehr linear,
Kopf wachsen. Wir brauchen Wie würde das sondern exponentiell, das
mehr Menschen, die intelligente Problem aus deren spüren sowohl Individuen
Lösungsbeiträge entwickeln.“ Perspektive aussehen?“ wie Unternehmen.“

Günter Faltin, Ökonom Frederik Pferdt, Innovationschef Ulrich Weinberg, Hochschulleiter


Seite 56 Seite 68 Seite 80

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 55


A N D E R S A R B E I T E N

„Wichtig ist Beharrlichkeit“


D E R B E R L I N E R W I R T S C H A F T SW I S S E N S C H A F T L E R
G Ü N T E R FA LT I N F I N D E T, DA S S E S V I E L
Z U W E N I G E U N T E R N E H M E R I N D E U T S C H L A N D G I B T.

SPIEGEL: Die Unternehmensgründungen zu denken. Sich zu überlegen, welche be-


in Deutschland gehen seit Jahren zurück. stehenden Schwierigkeiten man auf wel-
Warum? chem Weg lösen könnte. Und dann anzu-
Faltin: Das ist ein statistisches Artefakt: fangen, daran zu arbeiten.
Viele sogenannte Notgründungen aus der SPIEGEL: Tüfteln können viele. Aber Un-
Arbeitslosigkeit heraus sind tatsächlich we- ternehmer sein?
niger geworden. Entrepreneurs, die eigene Faltin: Es ist heute leichter, weil man viele
Ideen verwirklichen und dafür Unterneh- Komponenten einkaufen kann, etwa die
men aufbauen, werden dagegen mehr. Das Buchhaltung, das Rechnungswesen oder
begrüße ich. die Logistik. Der Weg von der Idee zum

Wer war SPIEGEL: Warum ist es Ihnen wichtig, vie-


le Menschen fürs Gründen zu gewinnen?
tragfähigen Produkt ist allerdings oft lang.
Es braucht Durchhaltevermögen. Dazu

zuerst? Faltin: Wir leben ökonomisch und ökolo-


gisch über unsere Verhältnisse. Wir müssen
passt, dass laut Studien die einzige wirklich
wichtige Fähigkeit für Gründer Beharrlich-
aufpassen, dass uns die Probleme nicht keit ist.
W I R K L A U E N DA U E R N D über den Kopf wachsen. Wir brauchen
E I N FÄ L L E VO N A N D E R E N . mehr Menschen, die intelligente Lösungs- GÜNTER FALTIN: „Wir sind
beiträge entwickeln und umsetzen. das Kapital“. Murmann-Ver-
SPIEGEL: Wie kommt man auf solche lag; 288 Seiten; 22 Euro.
WENN DER KOLLEGE mit der Ideen? Mehr zu Faltins Gründer-
Idee brilliert, die man selbst in der letz- Faltin: Jedenfalls nicht im Kreativwork- projekten unter
ten Sitzung formuliert hatte, ist das shop. Es ist ganz wichtig, vom Problem aus www.entrepreneurship.de.
ärgerlich. Aber wahrscheinlich hat er
keine Ahnung, dass er geistiges Eigen-
tum geklaut hat. Der niederländische
Psychologe Douwe Draaisma hat in ei-
nem Übersichtsartikel dargelegt, dass
unbewusster Ideendiebstahl – wissen-
schaftlich: „Kryptomnesie“ – weitver-
breitet ist. Schon vor Jahren konnte der
US-Psychologe Alan Brown belegen,
DAS LEBEN KLEBEN
dass Versuchsteilnehmer, die in einer E I N FAC H E H I L F E N F Ü R Z I E M L I C H S C H W I E R I G E F R AG E N .
Gruppe Begriffe erfunden hatten, be-
reits kurze Zeit später glaubten, die KLEBEBAND, PAPIER, bunte Filzstifte. Was Robert
Begriffe der anderen seien ihre eigenen Kötter und Marius Kursawe in ihren Kurzfilmen zeigen,
gewesen. Dieses Phänomen der fal- sieht eher nach Bastelstunde als nach Beratungssitzung
schen Erinnerung wurde immer wie- aus. Doch die beiden Coaches haben nur besonders
der nachgewiesen. Es wird stärker, anschauliche Tools entwickelt, um Hilfesuchenden
wenn Menschen sich ähneln oder bei der Verwirklichung ihrer Ziele zu helfen. Etwa
wenn alle durcheinanderreden, sprich: den „Life Equalizer“: Um sich klarzumachen, wo
in Teams. Draaisma findet diese Art man mit bestimmten Lebensthemen wie Familie,
der Gedächtnislücke sinnvoll, jeden- Geld und Fitness steht, malt man sich eine Art Regler
falls evolutionär gesehen: Schließlich und markiert mit Klebestreifen Soll- und Ist-Zustände.
kann es nützlich sein, dass eine Gruppe „Design Your Life“ nennen die beiden ihren Ansatz.
sich eine gute Idee merkt – egal, von Ihre Website und das gleichnamige Buch sind eine Ideen-
wem sie zuerst kam. fundgrube. Filme gibt es unter www.workliferomance.de.

56 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


„Kreativität kann
man nicht aufbrauchen.
Je mehr man sich
ihrer bedient, desto
mehr hat man.“
M AYA A N G E LO U ,
US-SCHRIFTSTELLERIN
(1928 BIS 2014)

chen, endet in Beliebigkeit. Wer sich was


traut, stellt fest: Das Verrückteste ist oft das
Beste.
5 . Innovation braucht Venture Capital in
großem Stil. Die Erfolgsstory des Silicon
Valley ist vor allem die seiner Investoren.
Keine Rakete entkommt dem Schwerefeld
ohne maximalen Anfangsschub. Deutsch-
land leistet sich zu viele Fehlstarts mangels
Risikoinvestment.
6 . Wenn du es nicht machst, macht es ein
FRAUKE THIELKING / PLAINPICTURE, KIMMO METSARANTA / GORILLA / PLAINPICTURE, JUNOS / BEYOND / PLAINPICTURE, HEIKO SPECHT / LAIF

anderer. Zögern, zaudern, aussitzen: Deutsch-


land könnte Weltmarktführer zum Beispiel
in grünen Technologien sein. Die Ideen sind
da, die Umsetzung überlassen wir anderen.
7. Zu jeder guten Idee gehört das Wis-
sen, dass sie irgendwann keine gute Idee
mehr ist. Unternehmen gehen pleite, Künst-
ler verschwinden in der Versenkung, weil
sie versäumen, sich neu zu erfinden. Die
beste Idee trägt ihr Ende schon in sich, also
gilt, die nächstbessere gleich mit zu ent-

„Keine Fans ohne Gegner“ wickeln.


8. Wer stagniert, stirbt aus. Kreativität ist
ein Überlebensvorteil, basierend auf unserer
UMFRAGE I I : WO F EHLT ES I N UN SER E R G E S E L L S C H A F T A N evolutionär erworbenen Fähigkeit, uns das
INNOVATION? EINE ANTWORT VON FRANK SCHÄTZING, 58, AU TO R Morgen vorzustellen. Es liegt in unseren Ge-
nen, Grenzen zu überschreiten, Neues zu
erproben, das Unmögliche zu probieren.
„Es fehlt uns nicht an kreativen Köpfen. Es Atlantik überqueren im Wikingerschiff? Ohne Update keine Zukunft.
fehlt am Glaubensbekenntnis. Hier ein Flugzeuge? Sex Pistols? Viel zu gefährlich! 9. Innovation braucht Kommunikation.
Vorschlag: 3. Kreativität braucht Chaos. Darum nie- Sprich, Medienpower. Dann kann Inno-
1. Kreativ darf sich nur nennen, wer bereit mals einengen! Das Universum vation sogar global identitätsstif-
ist zu scheitern. Ob’s funktioniert, erweist konnte nur entstehen aus der tend wirken – siehe Mondlan-
sich einzig in der Praxis, und die ist nichts Verfügbarkeit sämtlicher dung.
für Feiglinge. Wer versucht, das Wenigste Möglichkeiten. Erst wer die 10. Der beste Weg, die Zu-
verkehrt zu machen statt das meiste richtig, alte Ordnung gedanklich kunft vorauszusagen, ist, sie
verschenkt Potenzial. atomisiert, erhält eine neue. zu erfinden. Agieren statt
2. Vorabtests sind der Tod jeder Innovation. 4. Was nicht polarisiert, ist reagieren. Die Zukunft ist
Testgruppen sind nie visionär, sie wurzeln nicht relevant. Du gewinnst nicht vorgefertigt. Jeder kann
im Gewohnten. Alle großen Pionierleistun- keine Fans ohne Gegner. Wer sie mitgestalten. Kreativität ist
gen wären in Vorabtests durchgefallen: versucht, es jedem recht zu ma- die Kraft der Veränderung.“

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 57


UNTERNEHMERGEIST

„Und Gretel“-Gründerinnen
Roth, Dettmann: „Es war
wie ein Heiratsantrag, und ich
habe sofort Ja gesagt.“

Die Schönheits-
königinnen

58 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


UNTERNEHMERGEIST

Ein Berliner
Kosmetik-Label
setzt auf Öko mit
Glamour – ein
überraschendes
Erfolgsrezept
TEXT

BETTINA MUSALL

F OTO S

NORMAN KONRAD

BERLIN, PRENZLAUER BERG, ein Loft


im Hinterhof. Noch riecht es nach dem öko-
logisch unbedenklichen Parkettöl, mit dem
der frisch verlegte Holzboden getränkt wur-
de. Hohe Sprossenfenster, weiße Wände –
die ehemalige Fabrikhalle strahlt, als ob es
den Berliner Schmuddeltag draußen gar
nicht gäbe.
Ein Jahr nach dem Start ist eine junge
Kosmetikfirma hierher in große, repräsen-
tative Geschäftsräume umgezogen.
Ein Jahr, das ist nur ein Atemzug für eine
Existenzgründung. Für den Versuch, eine
Produktlinie zu etablieren, die es schon in
Abertausenden Varianten auf dem Markt
gibt. „Es war“, sagt Christina Roth und zieht
verwundert die Augenbrauen hoch, „als hät-
ten sie auf uns gewartet.“

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 59


UNTERNEHMERGEIST

„Es sollte ein deutscher Name


sein, der auf alte Werte verweist,
irgendwie traditionell,
irgendwie märchenhaft.“

Wohlbefinden verbessern. Äußerliche Schön- Als Christina Roth erfuhr, dass sie allein
macher mit Tiefenwirkung, so war ihr Ziel. eine halbe Million Euro brauchen würde,
Ihr Handwerk hat Roth gelernt. Die um ihre Produktpalette zu entwickeln, hätte
Homepage der Make-up-Artistin versam- sie beinahe schlappgemacht. „Da fange ich
melt Glitzernamen aller Art. Von Franziska lieber nur mit einem Lipgloss an“, war ihr
van Almsick und Iris Berben bis Sophie Rois, erster Gedanke. Aber dann wäre die kauf-
Nora Tschirner und Katarina Witt reicht kräftige Kundschaft, die sie im Blick hatte,
das Promi-Portfolio der Schminkkünstlerin, weiterhin vom Puder bis zur Wimpern-
die neue Mrs Murdoch firmiert in der Liste tusche auf andere Fabrikate angewiesen ge-
ihrer Kundinnen noch als Jerry Hall. Män- wesen. Der Freund, mit dem sie jahrelang
Eine „nachhaltige Seele“ ner wie Daniel Brühl, Herbert Grönemeyer, an ihrer Idee herumgedacht hatte, verließ
gehöre zu den Inhalts- Oskar Roehler und Tom Tykwer haben sich beide, Frau und Projekt. So suchte Christina
stoffen, sagt die Make-up- den Pinseln und Quasten der lebhaften Visa- Roth „einen Mann, der Ordnung in die Zah-
Artistin Christina Roth. gistin anvertraut, sogar raue Hänsels wie len bringt“.
Jürgen Vogel und Wotan Wilke Möhring fin-
den sich unter ihren VIPs. AUF DEM BALKON NEBENAN fand sich
Jahrelang legte die Kosmetikerin Hand stattdessen eine Frau. Die Marketingexper-
Lippenstift, Wimperntusche, Lidschat- an die Haut der Hautevolee, ebnete Fältchen tin Stephanie Dettmann hatte bei interna-
ten, Kompaktpuder & Co. – all die kleinen ein, puderte Pausbäckchen zurück und Joch- tionalen Unternehmen gelernt, zügig Ent-
Helfer, um weibliche Gesichter mit ein biss- beine hervor, tupfte, zupfte, klopfte, lackte. scheidungen zu treffen. „Sie saß da und ar-
chen Farbe, ein bisschen Frische, ein biss- Doch die Tinkturen, Gels und Gloss, die sie beitete eigentlich immer“, erinnert sich
chen Glamour aufzutunen. Darauf soll ir- verwendete, wurden von mehr und mehr Roth. Die Frauen kamen ins Gespräch, im-
gendjemand gewartet haben? ökobewussten Kunden als zu künstlich, zu mer intensiver auch über das „Und Gretel“-
Offensichtlich. Jedenfalls, wenn sie von chemisch empfunden. „Die Haut ähnelte Projekt. Dettmann gefielen Roths Einfalls-
„Und Gretel“ produziert werden. Von wem? nach einem Film- oder Fotoshooting oft ei- reichtum und ihre unverwüstliche Energie.
Christina Roth, Erfinderin und Mitgründe- ner Wüstenlandschaft“, sagt Roth. Benutzte Und als die zum Aufbruch in die Selbststän-
rin des neuen Kosmetik-Labels, rutscht auf sie rein pflanzliche Schönmacher, sahen die digkeit Entschlossene ihr bei einem Tee den
ihrem Konferenzstuhl herum wie eine Schü- Models zwar so natürlich aus wie Eier aus Vorschlag machte, das Abenteuer gemein-
lerin, die endlich ihre Geschichte vorlesen Bodenhaltung, aber alles andere als makel- sam zu wagen, sagte Dettmann so spontan
darf. „Es sollte ein deutscher Name sein, der los zurechtgemacht fürs Studiofoto mit zu, als hätte sie darauf nur gewartet: „Es
auf alte Werte verweist, irgendwie traditio- High-Definition-Make-up. war wie ein Heiratsantrag, und ich habe so-
nell, irgendwie märchenhaft.“ Brainstorming Roth wollte beweisen, dass beides zusam- fort Ja gesagt.“
am Lagerfeuer, man kam auf die Brüder mengeht: topmodische Looks und Naturkos- Aber die erfahrene Agenturfrau wusste
Grimm, Hänsel und Gretel, „da geht es um metik. Hochkünstliche Geschöpfe schaffen, auch, dass man eine Marktstudie und eine
Intellekt und Intuition“, meint Roth, Hänsel irgendwo zwischen Schneewittchen und Finanzierungsstrategie braucht, Partner,
versuche mit allen Tricks, drohendes Unheil Schneeweißchen, aber mit unbedenklichen Fachleute, Unterstützer. Dass so ein Master-
abzuwenden, „und Gretel schafft es, weil sie Produkten. Mit Rohstoffen, die nicht nur plan von der Produktidee über Herstellung,
die Hexe einfach in den Ofen stößt“. Hänsel verschönern, sondern der Haut auch guttun, Design, Verpackung, Werbung bis zum
und Gretel also – aber wieso Hänsel, wenn natürlich ohne Tierversuche und Konser- Verkauf wie am Schnürchen abrollen muss.
es um Make-up für Frauen geht? Übrig blieb vierungsstoffe. „Zum Glück ahnt man ja trotz aller Profes-
„Und Gretel“. Dass die Leute bei dem Namen Märchen, Mythen, Lagerfeuer, eine Frau sionalität nicht“, sagt Dettmann, „was für
NORMAN KONRAD / SPIEGEL WISSEN

stutzen, findet Roth „gerade gut“. und ihre Vision: Ist es wirklich so einfach, ein Slalom aus Umwegen und Rückschlägen
Die blonde Schwäbin hatte eine Vision. aus einem Einfall ein „blühendes Geschäft“ vor einem liegt.“
Mithilfe ihrer Schönheitsmittel sollten sich zu machen, wie das „Handelsblatt“ acht Mo- Zwei Frauen gründen eine Firma, worauf
Frauen in Paradiese versetzt fühlen, wo Bü- nate nach der Einführung schrieb? In einem kommt es an? „Fragen, fragen, fragen“, sagt
roangestellte und Verkäuferinnen auf einen Markt, der allein in Deutschland elf Milli- Roth, „wir haben jedem, dem wir zutrauten,
Blush zu Prinzessinnen erblühen. Sich mit arden Euro umsetzt und in dem die Natur- etwas beizutragen, Löcher in den Bauch ge-
ihren Produkten zurechtzumachen, das soll- kosmetik heute immerhin schon ein Zehntel fragt.“ Gibt es EU-Mittel für Existenzgrün-
te nicht nur das Spiegelbild, sondern das ausmacht? der? Gibt es. Macht es Sinn, gleich ein gan-

60 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


UNTERNEHMERGEIST

zes Sortiment zu produzieren? Macht es.


Wie viel Geld geben Frauen monatlich für
ihre Schönheit aus? Eine Marktstudie ergab,
dass sie es gar nicht so genau wissen, will
sagen: wissen wollen. Sie möchten sich „et-
was gönnen“, sagt Dettmann, morgens im
Bad „hübsche Produkte anschauen“ und
ihre Kinder „mit gesundem Lippenstift küs-
sen“. Da dürfen 30 Milliliter Make-up dann
ruhig 48 Euro, eine Wimperntusche 33 Euro
und ein Lippenstift 39 Euro kosten.

ANDERTHALB MILLIONEN Euro Schul-


den haben die Damen aufgenommen für ihr
Label, das überwiegend in Italien produziert
wird und das renommierte deutsche BDIH-
Gütesiegel trägt. Mit ihrer Fusion von Öko-
logie und Ökonomie, mit Leidenschaft, Hart-
näckigkeit und Sachverstand überzeugte das
Duo zwei Berliner Banken und eine Münch-
ner Investorengruppe. Um noch gut schla-
fen zu können, brauchten sie aber vor allem
absolutes Vertrauen ineinander und gegen-
seitigen Respekt, wenn es mal Zoff gab. Dass
sie nicht mehr zu den Jüngsten gehören, sei
ein Vorteil gewesen – Roth ist Jahrgang 1962,
Dettmann zehn Jahre jünger, verheiratet,
das zweite Kind ist gerade geboren. Familie „Frauen wollen ihre Kinder mit
und Beruf seien in der Selbstständigkeit bes- gesundem LIppenstift küssen“, glaubt die
ser zu verbinden als mit den starren Arbeits- Marketingexpertin Stephanie Dettmann.
zeiten im Angestelltenverhältnis.
So unterschiedlich die beiden Frauen er-
scheinen, umtriebig und übersprudelnd die
eine, zielstrebig und wild entschlossen die Märchenmarke aus. Eine „nachhaltige See- Ketzerische Frage: Braucht es bei der
andere: Gemeinsam ist ihnen, dass sie genau le“ gehöre quasi zu den Inhaltsstoffen, so ganzen Zurück-zur-Natur-Bewegung über-
wissen, was sie wollen, flexibel bleiben, Roth. haupt noch Kosmetik? Da machen sich die
wenn es die Situation verlangt, und absolut Noch ehe die neue Marke überhaupt in beiden Neu-Unternehmerinnen keine Sor-
bereit sind, sich verbindlich aufeinander den Drogerien lag, gewannen die „Und Gre- gen. Das Bedürfnis, sich zu verschönern, sei
und den gemeinsamen Weg einzulassen. tel“-Tiegel und -Stifte im hippen Bauhaus- im Menschen angelegt. Nicht nur in der
Zu Hilfe kommt ihnen ein alternativer design einen internationalen Branchenpreis Frau. Bei „Und Gretel“ ist also noch Luft für
Luxustrend. Wer sich zwischen San Fran- der Kosmetikindustrie. Lifestyle-, Beauty- Hänsel. bettina.musall@spiegel.de
cisco und Berlin-Friedrichshain zu den und Frauenmagazine warben ebenso für
„Yuccies“ zählt, den Young Urban Creatives, „Und Gretel“ wie Öko- und Wirtschaftszeit-
die sich vegane Delikatessen und nach- schriften. Zur Einführung der exklusiven Kreativ wird Bettina Musall, wenn sie
haltige Designerfashion gönnen, der ver- Schminke kamen 1500 Gäste – und zwar ausgeschlafen ist und Lust auf das hat, was
wöhnt seine Epidermis vorzugsweise mit nicht irgendwohin: Andreas Murkudis, Ber- zu tun ist. Zum Beispiel Kuchen zu backen
und dabei das Rezept abzuwandeln.
edel-natürlichen Substanzen. Zutaten wie lins angesagtester Konsumritter, hatte zum
Besonders wenn es heißt „Das geht nicht“,
Muskatellersalbei, Bienenwachs oder Avo- Launch der fabulösen Schönmacher in sein springt ihr Kreativitätsmotor an, nach dem
cado-Mandelöl weist die junge Berliner Design-Kaufhaus geladen. Motto: „Geht nicht, gibt’s nicht.“

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 61


Rubbeln, massieren, scheuern: Die Schwarzbunten
lieben die Rundbürste von Betebe.

62 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


W E LT V E R B E S S E R E R

Glückliche Kühe
Es pieselt. So heißt es hier, wenn es nie-
selt. Hinter dem Kuhstall verläuft ein Mod-
Innovation im Stall: Drei derweg, links zieht Bauer Hubert seine Krei-
se. Und rechts liegt der Ort, an dem alles be-

Freunde aus dem Münsterland gann: eine Hütte im Ententeich. Hier haben
sie gehockt und überlegt, wie man den
Schiet wegkriegt: „Was meinste?“, hat Anto-
erfinden Praktisches nius Bengfort, genannt Töne, den Ralf da-
mals gefragt. „Mmmh“, hat der gesagt.
für Bauern. Und machen Heinz Werner Temminghoff, Spitzname
Heinzi, hat mit Pfeilen die Dart-Scheibe
Millionenumsatz damit. durchbohrt und gemeint: „Stabil muss es
sein, damit die Viecher drüberrennen kön-
nen.“ Töne hat ergänzt: „Und draufkacken.“
TEXT SILVIA DAHLKAMP F OTO S JAKOB SCHNETZ „Ne Zeitschaltuhr wäre gut“, hat Ralf ge-
sponnen und den Töne gefragt: „Kannste
was frickeln?“ Der hat gesagt: „Mmmh, mal
sehen.“ Dann haben sie Cognac Royal ge-
kippt, Billigfusel aus Holland, und die Sache
HACH, WILMA kann eine Zicke sein. Seit aus. Bennink lässt einen Trecker passieren. erst mal vergessen.
einer Stunde gibt sie die Diva, blockiert die Darauf sitzt Bauer Hubert, der rumpelt vor- Schließlich konnte niemand wissen, dass
Massagebürste. Sie hat schon ihre Zähne ge- bei, hebt die Hand zum Gruß. Wilma hebt die Scheißidee ihr ganzes Leben verändern
putzt, die Kuhle im Nacken staubfrei gerub- ihren Schwanz und entleert ihren Darm.
belt, ihr Becken massiert. Bodypflege endlos, Ralf Bennink hebt auch die Hand. Der Fla-
obwohl draußen andere Rindviecher war- den klatscht auf den Boden, dampft. Land-
ten: Berta, Lotte, Greta – und wie sie alle leben eben. Aber nicht das aus Hochglanz-
heißen. Jede will ein bisschen Wellness an heften, in denen immer Lavendel blüht. Hier
diesem grauen Frühlingstag. Doch Wilma riecht es nach Mist. Und genau der macht
genießt, steckt ihren Po in die Borsten und im westlichen Münsterland aus Bauern Er-
muht. finder.
So geht Zickenkrieg in Wennewick, ei- Im Stall ziehen dicke Ketten einen Drei-
nem Kaff direkt an der niederländischen Meter-Flitscher über den Boden. Wilmas
Grenze, in dem es mehr als 500 Kühe und Klacks verschwindet in einer Rinne. Der
nur 300 Menschen gibt. Und Ralf Bennink, Durchgang ist wieder sauber. Eine Erfin-
45, hat Spässken, als er das Spektakel sieht: dung von Bennink, so wie die Kuhbürste.
„Tja, Kühe sind eben auch nur Frauen.“ Er „Jungs, die Kühe versinken in ihrer Scheiße“,
muss es wissen. Seine Firma Betebe hat die fluchte Huberts Vater vor 19 Jahren. „Baut
Bürste schließlich erfunden und noch vieles mal was gegen den Dreck.“ So begann die Hier fing alles an: Antonius Bengfort,
mehr, was Kühe glücklich macht. ungewöhnliche Karriere von Ralf, Heinzi Ralf Bennink und Heinz Werner Tem-
Grüne Gummistiefel, grauer Hoodie, da- und Töne – einem Landwirt, einem Schlos- minghoff in ihrer Hütte im Ententeich.
rüber ein Parka. So sieht also ein Erfinder ser und einem Studenten.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 63


W E LT V E R B E S S E R E R

Der mechanische Kuhmistschieber


war eine Revolution. Jeder
Bauer wollte so ein Schietding haben.

der ihn damals gelockt. Doch er bockte: ren, haben sie aus Blechen und Rohren eine
„Denkste, ich will komisch werden?“ Bei sei- Art Ölplattform geschweißt. Der erste Ent-
nem Vater, einem Elektriker, hat er Flexen, wurf passte nicht durchs Scheunentor. Pech.
Löten, Schweißen gelernt. Später ist er Den zweiten haben sie im Teich versenkt –
Schlosser geworden. neben dem Entenhaus. Bauer Bengfort hat
Ralf Bennink hat schon als Zehnjähriger getobt.
Wildgänse gefangen und vertickt, später
beim Kutschenbauer gejobbt: Holz biegen, DIE JUNGEN hatten ein schlechtes Gewis-
Eisen aufziehen, Räder drechseln. Er hat sen. Deshalb konnten sie sich nicht drücken,
Landwirt und Schlosser gelernt. als der Landwirt bölkte: „Zur Strafe schafft
Antonius Bengfort, heute 48, kämpfte ihr die Kuhscheiße weg.“ Der Prototyp war
sich durch die Sexta, Quinta, Quarta. Doch simpel: Ein Motor treibt ein Rad an, das
eigentlich hockte er lieber im Schuppen und zieht eine Kette. An ihr hängt ein Stab mit
Auch ’n Laufsteg: Wenn Kühe in die schweißte mit Heinzi Tandems zusammen. Gummilippe, der den Boden schubbert. Da-
Matte pieschern, versickert der Urin. In der 8. Klasse war er wieder bei seinen für sorgte eine Steuerung, die Töne aus Pla-
Freunden – auf der Hauptschule. Später hat tinen zusammengefummelt hatte. Blieb das
er noch sein Fachabi gemacht und einige Se- Ding stehen, half ein Tritt. Irgendwann hat
mester Elektrotechnik studiert. ein niederländischer Händler es entdeckt
Nicht gerade Voraussetzungen für eine und gefragt: „Wo kümmt dat denn wech –
würde. Schon ein Jahr später haben sie steile Erfinderkarriere – denkt man. Und woher stammt das denn?“
beim Steuerberater gehockt und ihn gefragt: doch können die drei, was nur wenigen ge- Der mechanische Kuhmistschieber war
„Wie geht das – Sachen verkaufen?“ An- lingt: Mechanik mit Elektrik, Handwerk mit eine Revolution. Jeder Bauer wollte so ein
schließend hat Lehrer Kleingries einen Technik zusammenbringen. Im vergange- Schietding haben. Die ersten sind in einem
Brief ans Patentamt in München geschrie- nen Jahr gingen beim Deutschen Patentamt alten Kuhstall entstanden. Heute produziert
ben – damit niemand die Idee klaut. Es war über 66 000 Anmeldungen ein. Zwei Drittel Betebe in großen Hallen. Jahresumsatz: 8,5
die erste von vielen. Seitdem sind die drei davon in der Regel von Konzernen. Ein Millionen. Allerdings ist aus dem einfachen
im Tüftlergeschäft, finden immer neue knallhartes Geschäft mit Riesenkonkurrenz. Kettenflitscher inzwischen ein Hightech-
Tricks, die das Leben der Bauern erleich- Und wer klaut, ist weg vom Fenster. Manch- Entmistungsflitzer geworden.
tern: Melkstände, die hoch und runter fah- mal auch, wenn er gar nichts geklaut hat. Es ist ein Freitag, kurz nach 15 Uhr. Die
ren. Roboter, die Rinder füttern. Mit zwei Auch Betebe hätte es fast erwischt. Eines meisten der 50 Angestellten sind schon zu
Hochschulen haben sie einen Hightech- Tages kam Post von einem dänischen Melk- Hause, aber in Halle drei fährt immer wie-
Entmister entwickelt. Und Töne frickelt technikkonzern: „Sie verletzen unser Pa- der ein Testroboter gegen die Bande. So ein
schon wieder: an einer Maschine, die Gülle tent.“ Es ging um eine Kuhbürste, die sich Mist. Er ist die neueste Weiterentwicklung
so lange auswringt, bis daraus fester Dünger nach allen Seiten dreht. Ihre erste Reaktion ihrer ersten Geschäftsidee – ein intelligenter
wird. Das restliche Stickstoffwasser wird war: „Die haben wohl ’ne Meise?“ Bis sie ka- Flitscher, aber noch zu dumm, um selbst-
gefiltert, bis es sauber ist. Damit weniger piert haben: „Die haben mehr Knete.“ Sie ständig um die Ecke zu biegen.
Nitrate in den Boden gelangen und die Bau- mussten klein beigeben: „Die hätten uns Um Arbeitsvermeidung geht es immer ir-
ern nicht mehr mit Chemie nachhelfen durch alle Instanzen gejagt, Millionen Scha- gendwie, wenn die drei ihre Köpfe zusam-
müssen. densersatz gefordert, unsere Pupsfirma ein- menstecken. „Ein Kehrmaschinenschieber
fach weggefegt“, sagt Bennink. Heute prü- wäre cool“, hat Töne vor sechs Jahren sin-
DOCH ZURÜCK ZUR HÜTTE am See fen sie genau, ob vor ihnen nicht schon ein niert. Heinzi hat gefragt: „Einer, der die Fla-
und noch viel weiter in die Vergangenheit. anderer den Geistesblitz hatte. den aufsaugt, aber ohne Fahrer?“ „Aber er
JAKOB SCHNETZ / SPIEGEL WISSEN

Zurück in eine Bullerbü-Kindheit im Müns- Die Hütte am See. Das war auch so ein darf keine Kuh umnieten“, hat Ralf überlegt
terland, zurück zu drei Schuljungen, die lie- Geistesblitz. „Nicht auf meinem Grund“, und Töne gefragt: „Kannst du ihn so pro-
ber auf dem Trecker als in der Schule saßen. brauste der alte Bauer Bengfort auf, als sie grammieren, dass er sich nicht im Stall ver-
Zurück in ein Dorf, in dem von 30 Kindern ein Plätzchen suchten zum Feiern und Klö- irrt?“ Der hat gebrummt: „Mhmm, mal se-
höchstens 3 aufs Gymnasium gingen – nur nen. Aber Sohn Töne konnte das nicht ak- hen.“ Dann haben sie ihre Stullen gegessen
die eingebildeten Pinsel. zeptieren: „Wasser“, so erklärte er deshalb und die Idee erst mal verdaut.
„Du kriegst jeden Tag ’ne Mark, wenn du den Freunden, „ist ja nicht Grund.“ Das Schließlich konnten sie ja nicht wissen,
aufs Gymnasium gehst“, so hat Heinzis Bru- leuchtete ein. Als die Eltern im Urlaub wa- dass sie 2011 für diese Idee den Oskar be-

64 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


W E LT V E R B E S S E R E R

Es geht immer irgendwie um Arbeitsvermeidung, wenn die Freunde


etwas Neues basteln: Fladensammler und Kehrmaschine für den Stall.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 65


W E LT V E R B E S S E R E R

Außen stehen All-you-can-eat-Futtertröge


mit Silage, in der Mitte Delikatesshäppchen:
Buchen für den Pansen, Efeu gegen Husten.

kommen würden – den Großen Preis des Projekt erklärte: ein Stall mit Plexiglasdach, im Stall. Vielleicht eine Spinnerei, vielleicht
Mittelstands für pfiffige Unternehmer. Vor- in dem Bäume und Sträucher wachsen. Ein aber die Zukunft.
nehmer Empfang in einem feinen Hotel, mit Paradies ohne Boxen. Die Schwarzbunten Immerhin: Jetzt will König Willem-Ale-
Abendgarderobe und Lobeshymnen. „Klar wandeln auf weichen Kunststoffböden. Au- xander der Niederlande die Erfinder Ralf,
fühlt man sich gebauchpinselt, aber wir ste- ßen stehen All-you-can-eat-Futtertröge mit Heinzi und Töne empfangen und für ihr
hen nicht auf so einen Fez“, sagt Bennink. Silage, in der Mitte Delikatesshäppchen: Bu- Öko-Kuhfladenhaus ehren. Weil sie helfen,
chen für den Pansen, Kirschen für die Ver- dass die Pole nicht so schnell schmelzen
IM FÜNF-STERNE-STALL von Biobauer dauung, Efeu gegen Husten. Die Idee: Kühe, und die Niederlande nicht im Meer ver-
Bomers fühlt er sich sichtlich wohler. Stolz die komfortabel leben, werden älter, bekom- sinken.
zeigt er auf den Roboter, erste Generation, men mehr Kälber, geben mehr Milch.
der gerade eine Runde dreht – nicht durch Und vor allem: Sie verrichten ihr Ge-
irgendeinen Kuhstall, sondern durch den schäft umweltfreundlich. Weil der Urin in
Silvia Dahlkamp ist kreativ darin,
ersten Kuhgarten weltweit. „Du willst mich geschreddertem Gummi versickert, entwi- Ausreden zu finden, wenn ihre
verscheißern“, hat Bennink gesagt, als ein ckeln ihre Fladen keine giftigen Ammoniak- Freundinnen sie mal wieder mit
niederländischer Naturschützer ihm das gase. Das ist gut für das Klima – nicht nur zum Zumba schleppen wollen.

JAKOB SCHNETZ / SPIEGEL WISSEN

Bennink, Temminghoff und Bengfort vor ihrer Firma in Wennewick:


Mehr als 500 echte Kühe gibt es hier – und 4 Stück aus Plastik.

66 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


namens Wilhelm Dantine. Dieser Dantine,
so will es der Roman, schildert seinen ehe-
maligen Chef in der Tonlage eines zutiefst
enttäuschten Mannes, getrieben von bren-

LIEBLINGSBUCH
nenden Rachegelüsten gegen den großen
Walt, der ihn einst unter fadenscheinigen
Gründen aus seinem aufstrebenden Zeich-
nerteam entfernt hatte.
Genau das gibt Jungks literarischem Dis-
Was der Schriftsteller Peter Henning als ney-Close-up seinen großen zeitlosen Reiz.
Denn die meisten Biografien jenes Mannes,
Lektüre zum Heftthema empfiehlt der als Erster Zeichentrickfiguren Persön-
lichkeit verlieh, der als Erster einen abend-
füllenden Zeichenfilm produzierte und un-
term Strich 32 Oscars einheimste, beten un-
kritisch oder gar ehrfurchtsvoll die Erfolgs-
story seines Lebens und seiner (immer noch
fortwirkenden) Karriere herunter. Jungk da-
gegen treibt seine Sätze tiefer ins nicht sel-
ten knarrende Gebälk der Disney-Legende.
Er gibt Dantine die Stimme eines Mannes,
der im Hinblick auf sein einstiges großes
Idol bis zuletzt gefangen bleibt in einer un-
auflöslichen Ambivalenz – schwankend zwi-
schen Bewunderung für den großen Kreati-
ven und Hass auf den großen Egomanen.

DIESER BLICK des zerrissenen, ent-


täuschten Dantine auf den übermächtigen
Disney ist großartig, denn so gelingt eine
Nahaufnahme, die mir den Menschen durch
das Detail verständlicher macht als sämtli-
che Bücher über die Zeichnerlegende. Und
Jungk liefert mir mit seinem Roman einmal
mehr einen Beweis für meine These, dass
die Erfindung bisweilen näher an eine be-
stimmte Wahrheit heranzurücken vermag,
ICH HATTE ANFANG der Neunzigerjah- American Film Institute in Los Angeles als es noch so zahlreich aufgeführte und ver-
re begeistert Peter Stephan Jungks Roman studiert hatte – also wohl ziemlich filmaffin bürgte Fakten in einem Sachbuch tun.
„Tigor“ über den gleichnamigen Chaosfor- sein musste. Erst zehn Jahre später fiel mir Nachdem ich „Der König von Amerika“
scher gelesen. Dem Klappentext entnahm zufällig ein weiteres Werk Jungks in die nochmals gelesen hatte, habe ich aufs Neue
ich damals, dass Jungk drei Jahre lang am Hände, sein Roman „Der König von Ameri- das Gefühl gehabt, dabei gewesen zu sein
ka“. Ich fand meine Annahme, der Mann auf den letzten Lebensmetern jenes Walter
müsse mehr als nur ein Faible fürs Kino ha- Elias Disney, der zeitlebens vor dem weglief,
ben, eindrucksvoll bestätigt. Denn sein groß- was er offenbar am meisten fürchtete: Stille
OLIVER SCHWARZWALD / SPIEGEL WISSEN, DAVID KLAMMER

artiger Roman über den Begründer des mo- und Stillstand – und darum bis zuletzt, be-
dernen Trickfilms, Walt Disney, ist so le- reits den eigenen Tod vor Augen, schuftete
bendig, farbenprächtig und intensiv ge- und schuftete. So klingt das bei Jungk:
schrieben, dass er sich wie ein Film liest. „Ich bin tonangebend“, dachte er, „ich bin
Jungk gelingt in seinem Buch das Kunst- einer der Glorreichen der Welt.“ Wie ein Echo
stück, Disney auf gerade mal 244 Seiten auf hallen diese Worte in Walts Innerstem wider.
PETER HENNING die ganz große Literaturleinwand zu holen. „Mehr Menschen auf Erden haben meinen Na-
Er bedient sich dabei eines so einfachen wie men im Ohr als den von Jesus Christus. Ich
schwärmt für Peter Stephan Jungks 2001 er- genialen Tricks: Er beschreibt die letzte bin ein Mythos. Die Maus ist beliebter als das
schienenen Walt-Disney-Roman „Der König Schaffensphase im ruhelosen Leben des Christkind und der Weihnachtsmann zusam-
von Amerika“ (Klett Cotta). Henning, 57, ver- bereits tödlich an Lungenkrebs erkrankten mengenommen. Ich habe ein Universum ge-
öffentlichte zuletzt den Roman „Die Chronik Filmpioniers – und zwar aus der Sicht eines schaffen. Mein Ruhm wird Jahrhunderte an-
des verpassten Glücks“ (Luchterhand). früheren, gleichwohl fiktiven Mitarbeiters dauern.“

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 67


M O T I VA T I O N

„Die Kunst
ist,

sich
zu trauen“

D I E F O T O S
Die seltsame, technoid-bedrohliche und manch-
mal auch sehr kuriose Welt der Forschungslabore
hat der deutsche Fotograf DANIEL STIER in sei-
ner Bilderserie „Ways of Knowing“ festgehalten
(o.: Hirnforschung an der Universität Birmingham;
u.: Schwindelambulanz der Universität München).
Ergänzt hat Stier die Dokumentation mit eigenen,
künstlerischen Installationen. Seine Fotoserie ist
auch als Buch erschienen.
www.ways-of-knowing.com

68 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


M OT I VAT I O N

Zwischen Sicherheit und Freiheit:


Frederik Pferdt, Googles Innovationschef,
erklärt, wie Unternehmen
eine Ideenkultur fördern können.
INTERVIEW THOMAS SCHULZ F OTO S DANIEL STIER

SPIEGEL: Herr Pferdt, hat jeder Mensch SPIEGEL: Ein Beispiel bitte.
das Potenzial, kreativ zu sein? Pferdt: Ich mache nur selten zweimal das
Pferdt: Mehr noch als nur das Potenzial: Gleiche. Wenn ich einmal ein Restaurant be-
Wir alle sind von Natur aus kreativ und sucht habe, gehe ich das nächste Mal in ein
werden mit dieser Eigenschaft geboren. Wir anderes. Wenn ich einmal in einem Hotel
beschäftigen uns bei Google mit dem Thema in Tokio gewohnt habe, buche ich das nächs-
sehr intensiv und haben dabei unter ande- te Mal ein anderes. Wenn ich einen bestimm-
rem gelernt, dass Kreativität wie eine er- ten Weg gelaufen bin, wähle ich das nächste
neuerbare Energie ist: Man muss sie zwar Mal einen anderen, selbst wenn er länger
manchmal neu aufladen, aber sie geht uns FREDERIK PFERDT ist. Meine Frau hat sich an dieses Verhalten
nie aus. gewöhnt, meine Freunde treibe ich damit
SPIEGEL: Aber es muss wohl eine Eigen- ist Head of Innovation and Creativity aber ehrlich gesagt oft in den Wahnsinn.
schaft sein, die meist unter der Oberfläche Programs bei Google und Mitgründer Aber so fördert man, was ich Forschergeist
schlummert. Im Alltag erscheint Kreativität der „Garage“ auf dem Google-Cam- nenne.
als eher seltenes Gut. pus, einer Art Mega-Bastelwerkstatt. SPIEGEL: Diesen offensiven Forschergeist
Pferdt: Das liegt vor allem daran, dass uns Der promovierte Wirtschaftspädago- versuchen Sie bei Google den Mitarbeitern
oft einfach das Selbstbewusstsein fehlt, Pro- ge lehrt an der Stanford Universität, systematisch beizubringen. Wie gehen Sie
bleme wirklich auf neue, kreative Art zu lö- an der er selbst studierte. Pferdt, 38, vor?
sen. Die Kunst ist, sich zu trauen, die Ideen wuchs in Ravensburg auf. Pferdt: Man muss lernen, die Perspektive
auch wirklich in die Tat umzusetzen. zu wechseln, sich in andere Menschen hi-
SPIEGEL: Aber gibt es nicht Menschen, die neinzuversetzen. So vermeidet man die ei-
von Natur aus kreativer sind? Picasso zum genen Vorurteile und Tendenzen, die Pro-
Beispiel oder Mozart? blemlösungen oft im Weg stehen. Man muss
Pferdt: Verwechseln Sie das nicht mit künst- versuchen, über eine Situation nachzuden-
lerischem Talent. Das ist eine sehr spezifi- ken wie ein Busfahrer, ein Lehrer, ein Wis-
sche Begabung. Bei Kreativität geht es zu- senschaftler: Wie würde das Problem aus
nächst viel allgemeiner darum, neue Ideen deren Perspektive aussehen?
zu entwickeln, Lösungen für Probleme zu SPIEGEL: Es geht also um Empathie?
finden. Und dazu muss man vor allem Mut Pferdt: Exakt, das Nachempfinden, sich in
entwickeln. andere einfühlen, ist ganz zentral. Der zweite
SPIEGEL: Selbstbewusstsein und Mut las- Punkt, auf den wir viel Wert legen, ist die Su-
sen sich aber nicht so leicht antrainieren. che nach Lösungen, die nicht nur ein biss-
Pferdt: Ganz im Gegenteil. Man kann mit chen besser sind, sondern zehnmal besser.
gezielten Übungen sehr gut daran arbeiten, Radikale Lösungen, radikale Verbesserungen.
mehr Kreativität aus sich herauszuholen. Es SPIEGEL: Klingt anstrengend.
NORBERT VON DER GROEBEN

geht vor allem darum, aus der Alltagsroutine Pferdt: Ist es aber gar nicht. Man muss ei-
auszubrechen: Wir sprechen immer mit den gentlich nur ein Wort im täglichen Sprach-
gleichen Leuten, gehen denselben Weg, sit- gebrauch verändern. Statt immer „Ja, aber“
zen immer am gleichen Platz. Das behindert auf einen Vorschlag oder eine Idee zu ant-
enorm. Man muss Monotonie durchbre- worten, müssen wir uns angewöhnen, „Ja,
chen, so oft es geht. und“ zu sagen.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 69


SPIEGEL: Das müssen Sie näher erklären. machen. In unseren allwöchentlichen Mee-
Pferdt: Es geht darum, Ideen nicht schon tings lassen wir zum Beispiel immer eine
im Ansatz zu zerstören: mit Kritik, mit Erfolgsgeschichte und einen Fehlschlag aus
Häme, mit Ablehnung. Das passiert so oft. der Vorwoche Revue passieren. Wir stellen
Ja, schöne Idee, aber das geht nicht. Wenn also bewusst eine Umgebung her, in der
wir jedoch etwas hinzufügen, aufeinander man nicht nur mit seinen Erfolgen angibt,
aufbauen, einen Stein nach dem anderen, sondern ganz offen analysiert, was falsch
statt einen Gedanken einfach abzulehnen, gelaufen ist und was man daraus mitneh-
dann kann man sehr weit kommen. men soll.
SPIEGEL: Ist das jetzt nicht allzu simpel? SPIEGEL: Lässt sich das wirklich so ver-
Pferdt: Nein, das ist eine Technik, die enorm allgemeinern? Oder sind das Methoden, die
hilfreich dafür ist, eine optimistische Um- vor allem bei Google funktionieren?
gebung herzustellen. Eine positive Atmo- Pferdt: Das gilt keineswegs nur für Google.
sphäre, in der man sich traut, kreativ zu sein. Wir haben über drei Jahre wissenschaftlich
Im Optimismus steckt eine gesunde Miss- sehr genau anhand von mehreren Hundert
achtung des Unmöglichen. Denken Sie mal Teams untersucht, was ein wirklich erfolg-
an eine Situation, in der Sie einen Vorschlag reiches Team ausmacht.
gemacht haben und dieser dankend ange- SPIEGEL: Und was haben Sie herausgefun-
nommen wurde – auch wenn der Vorschlag den?
vielleicht nicht umgesetzt wurde, denken Pferdt: Vor allem psychologische Sicherheit
Sie daran, wie es sich angefühlt hat, dass Ihr unterscheidet kreative Teams von weniger
Beitrag wertgeschätzt wurde. Genau dies erfindungsreichen. Das heißt, dass Men-
geschieht in einer optimistischen Kultur: schen sich sicher fühlen müssen, Fehler zu
Die Menschen fühlen sich ermutigt, einen machen.
Beitrag zu leisten. „Im Optimismus steckt SPIEGEL: Und wie stellt man diese Sicher-
SPIEGEL: Aber ist die wichtigste Voraus- heit her?
setzung dafür nicht Freiheit? Wer in tausend
eine gesunde Missach- Pferdt: Führungskräfte sollten versuchen,
Regeln eingeengt ist, dem hilft auch die tung des Unmöglichen.“ sich so weit wie möglich im Hintergrund zu
freundlichste Umgebung nichts. halten. Gib dem Team so viel Unabhängig-
Pferdt: Absolut. Sich frei zu fühlen, ein Pro- keit wie möglich. Selbst wenn es gute Grün-
blem anzugehen, eine radikale Lösung zu de gibt, warum eine Idee nicht funktionie-
entwickeln, das ist natürlich die Grundbe- ren könnte, hilf den Mitarbeitern trotzdem,
dingung. Und Unternehmen können das den Fehler selbst zu machen. Und daraus
sehr leicht herstellen. Ich muss den Mitar- etwas zu lernen.
beitern dazu vor allem erlauben, Fehler zu SPIEGEL: Dazu müssten aber die meisten
Unternehmen ihre Unternehmenskultur
deutlich verändern. Hierarchiebewusstsein
zählt am Ende fast immer mehr.
Pferdt: Ich habe noch nie jemanden getrof-
fen, der gern Fehler machen möchte. Weder
in Stanford, wo ich sehr smarte Studenten
unterrichte, noch hier bei Google. Aber je-
der will lernen! Und das muss man vermit-
teln: Wir wollen nicht das Projekt an die
Wand fahren, sondern etwas Neues mitneh-
men. Und das geht nur, indem man nach an-
deren Lösungen sucht.
SPIEGEL: Trotzdem: Welcher Chef will
schon absichtlich zulassen, dass die Mitar-
beiter Fehler machen? Das kostet Zeit und
Geld. Die Ansage ist stattdessen: Macht ge-
fälligst gleich alles richtig!
Pferdt: Natürlich soll niemand über Jahre
an einer Idee arbeiten und ständig immer
nur Neues ausprobieren. Geschwindigkeit
spielt eine große Rolle. Lerne, so schnell es
geht! Aber Führungskräfte sollten dazu mo-
DANIEL STIER

tivieren, statt zu entmutigen.


SPIEGEL: Schön und gut. Die meisten wer-
den trotzdem sagen: Basteln Sie bitte an wil-

70 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


M OT I VAT I O N

in dem sie mit zwei, drei großen Aufgaben


konfrontiert werden. Und sie sollen dafür
Lösungen finden. Es geht darum, von Be-
ginn an Fähigkeiten wie Experimentierfreu-
de zu stärken.
SPIEGEL: Aber mit einem Einführungstrai-
ning am zweiten Arbeitstag kann es ja nicht
getan sein. Gibt es dann jedes Jahr einen
Kreativitäts-Auffrischungskurs?
Pferdt: Mitarbeiter oder auch ganze Abtei-
lungen können jederzeit zu mir und meinem
Team kommen und sagen: Wir kommen
nicht voran mit einem Projekt, wir brauchen
ein wenig Anschub. Wir helfen dann dabei,
die Abteilung wieder in Schwung zu brin-
gen. Vergangenes Jahr haben wir rund 460
Teams in solchen Workshops trainiert.
SPIEGEL: Sie schulen jedes Jahr Tausende
Mitarbeiter in Kreativität?
Pferdt: Zehntausende, um genau zu sein.
Wir wollen aber vor allem, dass daraus ein
sich selbst erhaltendes System wächst, in-
dem in möglichst vielen Teams ein Mitar-
beiter speziell für Kreativität und Innova-
den Ideen in Ihrer Freizeit, hier geht es um tion zuständig ist. Unser Ziel ist es, Tau-
Ergebnisse. sende solcher Innovations-Evangelisten zu
Pferdt: Das ist aber ein Fehler. Niemand haben.
weiß, was die Zukunft bringt. Wer mitbe- SPIEGEL: Warum arbeiten nicht mehr Or-
stimmen will, wie die nächsten zehn Jahre ganisationen so?
aussehen, muss sich darauf einlassen, Fehler Pferdt: Die meisten verbringen zu viel Zeit
zu machen und Risiken einzugehen. Und damit herauszufinden, was nicht funktio-
dabei immer wieder die richtigen Fragen Fragen stellen, träumen, niert. Immer wieder höre ich: Das kann bei
stellen. neugierig sein – Innovatoren sollen uns nicht funktionieren, weil ... Und dann
SPIEGEL: Das heißt? sich, so Pferdt, ein Beispiel folgt eine lange Liste mit Dutzenden von
Pferdt: Sich immer wieder zu fragen: Was an Kindern nehmen. Ziel: Gründen. Aber man muss es einfach umdre-
wäre, wenn? Es geht darum, den Status quo Experimentierfreude stärken. hen: nur einen Grund finden, warum etwas
anzugreifen. Google ist entstanden, weil sich Oder Dinge mal anders sehen, funktionieren könnte.
unsere Gründer die verrückte Frage gestellt wie die Testpersonen im
haben: Was wäre, wenn man das ganze In- Department of Cognitive
ternet downloaden würde? Neurology des Hertie Institute for
SPIEGEL: Aber wie verankert man all diese Clinical Brain Research
Prinzipien in einem Unternehmen? Per Be- an der Universität Tübingen (l.)
fehl von oben wird das kaum funktionieren. und im Labor des
Pferdt: Man muss das spezielle Verhalten Psychologischen Instituts der
von Innovatoren trainieren. Dabei kann man Universität Zürich (o.).
sich vor allem an Kindern ein Beispiel neh-
men.
SPIEGEL: Wie bitte?
Pferdt: Erwachsene stellen sehr wenige Fra-
gen. Das gilt als unprofessionell, es sieht so
aus, als wäre man nicht klug genug. Kinder
dagegen stellen Hunderte Fragen am Tag.
Ich sage nicht, dass wir kindisch sein sollten,
sondern dass wir kindliche Neugierde brau-
chen. Träumt groß! Versucht, das Unmögli-
che zu erreichen.
SPIEGEL: Und das bringen Sie den Google-
Mitarbeitern in Ihren Workshops bei?
Pferdt: Schon am zweiten Arbeitstag gehen
alle neuen Mitarbeiter durch ein Training,

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 71


M OT I VAT I O N

erhalte ich normalerweise ein Nein zur


Antwort.
SPIEGEL: Und was ist der richtige Weg?
Pferdt: Bei Google haben wir zuerst die
Prinzipien aufgestellt, die eine kreative Kul-
tur fördern, und erst dann Raum für kreative
Freiheit geschaffen. Man muss erst die Wer-
te verankern, dann die Architektur und das
Design passend dazu schaffen.
SPIEGEL: Aber egal, wie spielerisch und
offen die Unternehmenskultur sein mag:
Wenn die Mitarbeiter 70 Stunden die Wo-
che schuften, ist Schluss mit Kreativität.
Muss ein Unternehmen, das innovative Mit-
„Die meisten verbrin- arbeiter will, nicht als Erstes dafür sorgen,
dass sie nicht gestresst und überarbeitet
gen zu viel Zeit damit sind?
herauszufinden, was Pferdt: Da kommen wir zurück zur Freiheit.
Wenn man wahnsinnig begeistert ist von ei-
nicht funktioniert.“ ner Idee und die Möglichkeit hat, sie zu ver-
folgen, investiert man freiwillig auch viel
SPIEGEL: Spielt nicht auch die Arbeitsum- mehr Zeit. Allerdings macht man das nur,
gebung, also die Architektur und das Design wenn man seinen Job wirklich liebt. Dazu
des Arbeitsplatzes, eine große Rolle? In muss man das Gefühl haben, an etwas Be-
kleinen, kommunikationsfeindlichen Büro- deutsamem zu arbeiten.
zellen lässt sich schlecht Teamkreativität SPIEGEL: Also braucht es eine Mission?
entwickeln. Pferdt: Ja, davon sind wir überzeugt. Eine
Pferdt: Wie der Arbeitsplatz angelegt ist, Mission, eine klare, mutige und große Idee
ob es Räume gibt, in denen man seiner Krea- motiviert ungemein. Bei Google ist unser
tivität freien Lauf lassen kann, das spielt Ziel, die Informationen der Welt zu ordnen
auf jeden Fall eine Rolle. Leider ist das oft und diese allgemein zugänglich und nutzbar
das Erste, was Unternehmen tun. Sie stellen zu machen. Aber auch alle anderen Unter-
eine Tischtennisplatte und ein paar Video- nehmen können das. Denn so eine Mission
spiele zur Verfügung und erwarten, dass führt dazu, dass Menschen sagen: Das ist
damit der Weg zur Innovation geebnet ist. toll, da möchte ich dazugehören.
Und wenn ich sie dann frage, ob irgendje- SPIEGEL: Herr Pferdt, wir danken Ihnen
mand diese Orte nutzt, um kreativ zu sein, für dieses Gespräch.

Menschen arbeiten gern, wenn sie


das Gefühl haben, an etwas Bedeut-
samem mitzuwirken: Labor des
Instituts für Arbeitsforschung an der
Technischen Universität Dortmund.

Blick auf den


360°-FOTO:
DANIEL STIER

Google Campus
spiegel.de/sw022016google

72 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


Hinter den Schlagzeilen beginnt die

10 Wochenenden mit der taz.am wochenende für 10 Euro.


www.taz.de/testabo | taz Verlags- und Vertriebs-GmbH | Rudi-Dutschke-Str. 23 | 10969 Berlin
74 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016
LEBENSKUNST

Tun, was guttut


Sechs Freizeit-Kreative erzählen, was
ihnen ihre Hobbys bedeuten.

P R OTO KO L L E SASKIA KERSCHBAUM F OTO S MATTHIAS HASLAUER

HOLZ ERINNERT MICH an geronnene Zeit. Am


Anfang ist der Baum, Jahr für Jahr zieht er seine Rin-
ge um den Kern, Lebenskreise. Jahresringe werden
zur Maserung, die wird zur Form, zur Skulptur.
Ich hatte schon immer ein besonderes Verhält-
nis zur Natur. Vielleicht, weil ich auf einem Hof in zu mir, zu meiner alltäglichen
der Wesermarsch aufgewachsen bin, wo im Kreis- Arbeit als Sozialpädagogin. Es
„ICH HATTE lauf der Natur gelebt und gearbeitet wurde. Die ist mein Job, Menschen zu un-
körperliche Arbeit ist mir vertraut, und so scheue terstützen und zu begleiten,
IMMER EIN ich bis heute nicht die Anstrengung, die auch die deren Leben aus dem Gleich-
BESONDERES Holzbildhauerei mit sich bringt.
Im Rahmen meines Studiums legte ich meinen
gewicht geraten ist.
In der Bildhauerei spiegelt
VERHÄLTNIS Schwerpunkt auf die Umweltbildung, in der ich sich mein Bedürfnis wider, Ba-
auch die ersten Berufsjahre arbeitete. Ich vertiefte lance zu halten oder wieder-
ZUR NATUR.“ mein Wissen über die ökologischen Zusammenhän- herzustellen. Begleitet wird
ge zwischen Natur, Kultur und Mensch. Beschäftig- der Entstehungsprozess von
Karin Frenzel, 53, te mich mit den Mythen und Geschichten des Wal- einer inneren Freude und gro-
Sozialpädagogin und des, der Bäume, die viele Parallelen zum Menschen ßer Neugierde. Zu Beginn
Holzbildhauerin beinhalten. Alles will in der Balance gehalten sein, steht die Wahl des Holzes. Ers-
um gesund zu bleiben. Die Natur gleicht Ungleich- ten Schnitten mit der Motorsä-
gewicht aus, auch wenn dieser Ausgleich andere Zeit- ge folgen viele Schläge mit den
dimensionen benötigt. Mich beschäftigen die The- unterschiedlichen Stechbei-
men Einheit, Vielfalt und Balance in den künstleri- teln und Klüpfeln. Zum Ende
schen Prozessen sehr – und hier entsteht ein Bezug hin verwende ich viel Zeit aufs
Schleifen und Schmirgeln. Das
bildet den Kontrast zum geschnitzten Holz, die Ma-
serung wird als „geronnene Zeit“ herausgearbeitet.
Der letzte Akt im künstlerischen Entstehen einer
Skulptur ist das Einölen. Das birgt nochmals ein gro-
ßes Überraschungsmoment, denn erst wenn die Ma-
serung sichtbar wird, tritt die ganz eigene Dynamik
einer Skulptur hervor, gewinnt sie ihre Lebendigkeit.
Inzwischen habe ich eine Familie. Beruf, Bild-
hauerei und Familie unter einen Hut zu bekommen
ist auch immer wieder ein Balanceakt. Es bleibt je-
doch noch genug Zeit für die eine oder andere Her-
zensskulptur.

VIDEO: Schnitzen nach


Feierabend
spiegel.de/sw022016schnitzen

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 75


„ICH
VEREWIGE,
WAS MIR
WICHTIG
ICH WAR IMMER VOLLER IDEEN, voller Wör-
IST.“ ter, Bastelprojekte, Kochideen. Mein erstes Buch
habe ich mit 14 Jahren geschrieben, da wollte ich
Nina Brinker, 37, die jüngste Autorin aller Zeiten werden. Aber von
Marketingreferentin all diesen großen Träumen habe ich keinen je ver-
und Food-Bloggerin wirklicht.
Dann begann ich, als Marketingreferentin für
ein Verkehrsunternehmen zu arbeiten, ein Job, bei
dem ich mich tagtäglich mit Fahrkarten und Tarifen Rezepten wurde mein Ventil.
auseinandersetze. Ich muss mich stark auf Zielvor- Natürlich freue ich mich über
gaben konzentrieren, die nur eingeschränkt Raum jede positive Reaktion in mei-
für Kreativität bieten. Vor einigen Jahren kamen nem Gästebuch, weil ich dann
meine Söhne, ich war immer in Eile, hatte noch we- weiß, dass es Leute gibt, die
niger Zeit. 2014 gab es viele Schicksalsschläge in diesen Blog mögen, meine Re-
meinem Umfeld. Ich war an meinem persönlichen zepte nachkochen. Aber in ers-
Tiefpunkt angelangt. ter Linie habe ich ihn als Sam-
Und mir wurde klar, dass ich etwas für mich melpool für meine Ideen ge-
schaffen wollte, wo ich mich verwirklichen konnte, schaffen. In diesem Blog ver-
abseits von Familie und Beruf. Meine persönliche ewige ich, was mir wichtig ist.
Energiequelle. Der Blog „24 minutes“ mit schnellen Manchmal beschweren
sich meine Jungs, dass das Es-
sen kalt wird, weil ich vorher unbedingt noch Fotos
für den Blog machen muss. Abends sitze ich oft
noch auf dem Sofa und schmökere in Kochbüchern
und Zeitschriften. Man könnte meinen, ich hätte
nun noch weniger Zeit, aber so empfinde ich das
nicht, ich nutze die Zeit einfach intensiver. Denn
wenn ich Essen und Ideen produziere und andere
sich darüber freuen, fühle ich mich gut.

76 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


LEBENSKUNST

MEIN JOB MACHT MIR SO VIEL SPASS, dass


ich nie gemerkt habe, wann der Spaß aufhört. Seit
über 20 Jahren bin ich selbstständig, berate Unter-
nehmen und coache Führungskräfte, wenn große
Veränderungen anstehen. Die Arbeit ist extrem
stressig, erfordert mein ganzes Einfühlungsvermö-
gen und viel Flexibilität, manchmal muss eben auch
Frust moderiert werden. Bis 2009 war ich Perfek-
tionist und kannte kein Limit. Dann kam die Voll-
bremsung. 112 gewählt und direkt auf die Intensiv-
station. Eine Entzündung am Herzen, Magen-
Darm-Entzündung, das war eine knappe Nummer.
In der langen Reha danach fragte mich der Arzt,
ob es etwas gebe, durch das ich wieder runterkäme.
Da fiel mir an erster Stelle die Musik ein. Ich ent-
spanne, wenn ich eine Gitarre bloß anfasse. Heute
noch kann ich mich daran erinnern, wie sich mein
Vater am Wochenende immer an seine Zither setzte
und spielte. Er hat mir die erste Gitarre zum siebten
Geburtstag geschenkt. Seit den Achtzigern bin ich
Gitarrist und Sänger in der Indie-Rockband Bizono.
Früher wollten meine Jungs und ich dringend be-
rühmt werden, gingen auf Tour, produzierten Al-
ben. Heute sehen wir das etwas entspannter.
Manchmal rutsche ich vor den Auftritten trotz-
dem wieder in mein altes Hochleistungs-Ich zu-
rück. Dann müssen mich meine Mitmusiker ansto-
ßen, mir klarmachen, dass wir dann gut sind, wenn
wir locker sind und genauso viel Spaß wie das Pu-
blikum haben. Meine Erkenntnis: Um beruflich Pro-
fi sein zu können, muss ich meine Kreativseite im-
mer gut bedienen. Um mich zu zentrieren, brauche
ich Musik in meinem Kopf.

„ICH
BRAUCHE
MUSIK
IN MEINEM
KOPF.“
Hajo Winkler, 60,
Change Director und
Musiker
MATTHIAS HASLAUER / SPIEGEL WISSEN
LEBENSKUNST

„ICH WAR IM
FIEBER.“
Uta Behnfeld,
42, Bürokauffrau und
Fotografin

ICH BIN IM VERTRIEB TÄTIG und betreue


Cash-and-carry-Kunden, meine Aufgaben sind vor
allem administrativer Natur. Meine Leidenschaft
aber ist das Fotografieren. Im Jahr 2000 hat sich
mein damaliger Freund eine Kamera gekauft. Die
hat er dann allerdings nicht mehr wiedergesehen;
„DAS ich war wie im Fieber, ständig damit unterwegs, habe
alles fotografiert, was mir vor die Linse lief. Dann
KONNTE ICH belegte ich Volkshochschulkurse, funktionierte mei-
BESSER.“ ne Wohnung in eine Dunkelkammer um, legte mir
relativ schnell eine teure Spiegelreflexkamera zu.
Gehe ich heute durch die Straßen Hamburgs,
Thomas Einfeldt, 58, bewegen sich meine Finger schon automatisch in
Zahnarzt und Autor Kameraposition, wenn ich eine interessante Szene
von Historienromanen sehe. Genau diese Straßenmomente mag ich sehr,
sie ergeben sich aus dem Alltag, und man muss
schnell sein, um sie einzufangen, sonst sind sie Ver-
gangenheit. Am liebsten ziehe ich meine Bilder in
Schwarz-Weiß ab, die Konturen, die Abstufungen,
DAS SCHREIBEN IST MEIN KOPFKINO. Ich das Spiel mit dem Licht faszinieren mich jedes Mal
kann mich in dieser Welt völlig verlieren. Dann ist aufs Neue. Hamburg in Licht und Nebel ist atem-
es plötzlich zwei Uhr morgens, und ich weiß nicht beraubend, dazu habe ich schon Ausstellungen kon-
mehr, wo die Zeit geblieben ist. Zwar entwerfe ich zipiert. Mein zweiter Schwerpunkt ist Porträtfoto-
meine Figuren bewusst, doch sie entwickeln ein grafie, ich finde sie direkt und sehr ehrlich. Bei mir
Eigenleben, einen eigenen Charakter, den ich selbst wird nicht mit Photoshop die Realität geschönt.
manchmal gar nicht richtig durchschaue. Dieser Ich will immer noch Fotografin werden, aber
Schaffensprozess packt mich jedes Mal aufs Neue. ich sehe das inzwischen realistischer. Die Konkur-
Der historischen Realität will ich so nah sein renz ist einfach zu groß. Deshalb bin ich glücklich
wie möglich, diesen Anspruch habe ich schon des- mit meiner privaten Leidenschaft.
wegen, weil ich eigentlich Geschichte studieren
wollte, bis ich mich doch dazu entschied, die Praxis
meines Vaters zu übernehmen.
Dass ich heute überhaupt schreibe, verdanke
ich meinen Kindern. Als sie noch kleiner waren,
habe ich ihnen viel vorgelesen, mein Sohn konnte
von Piratenabenteuern nie genug bekommen. Ein-
mal hatte ich ein Kinderbuch über Klaus Störtebe-
ker in der Hand, fand es unhistorisch und schlecht.
Das konnte ich besser. Während der Recherche zu
meinem eigenen Kinderbuch merkte ich, wie span-
nend Störtebekers Welt war, und entschloss mich
MATTHIAS HASLAUER / SPIEGEL WISSEN

dazu, einen richtigen Roman für Jugendliche zu


schreiben. Als das Manuskript zur Hälfte fertig
war, geriet ich in eine Sinnkrise; da habe ich mir
einen Verlag gesucht, der mich sanft unter Druck
setzte. Nach eineinhalb Jahren hielt ich 1999 mein
erstes eigenes Buch in der Hand.
In jedem Buch kommt übrigens ein Zahnarzt
vor. Und ich schreibe nur über hamburgische Ge-
schichte. Als Lokalpatriot ist das ja quasi ein Muss.

78 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


ICH HABE MEIN HOBBY eine Zeit lang zum Be-
ruf gemacht. Und bin daran fast kaputtgegangen.
2005 habe ich mich als Textildesignerin selbst-
ständig gemacht und Handtaschen, Kulturbeutel
und andere Accessoires auf Messen für den Handel
vertrieben. Es lief richtig gut. Mein Gewinn und
meine Auflage sind jedes Jahr gestiegen, ich hatte
renommierte Kunden. Aber ich habe auch 14 Stun-
den am Tag gearbeitet. Ich hatte einen Tunnelblick.
Es war reines Abarbeiten, für die nächste Messe,
den nächsten Kunden. Sieben Jahre habe ich das
durchgezogen. Dann, 2013, konnte ich irgendwann
morgens nicht mehr aufstehen, Burn-out. Das hat
alles infrage gestellt, und ich habe meine Firma
„DAS GIBT MIR aufgegeben.
Es war schon ein Schlag ins Egokontor, und es
SELBST- hat lange gedauert, bis ich darüber hinweggekom-
BESTÄTIGUNG.“ men bin. Heute betreue ich Kinder und arbeite in
einem Wohn- und Pflegeheim, da gebe ich zum Bei-
spiel Kreativkurse. Kinder sind ehrlich, die holen
Cornelia Köhler, einen auf den Boden der Tatsachen zurück. Natür-
Kinderbetreuerin und lich bin ich immer noch künstlerisch tätig, das gibt
Designerin, 45 mir Selbstbestätigung. Momentan finde ich Grafik
und Papeterie sehr spannend. Mit meinen Arbeiten
gehe ich auch wieder auf eine Messe, aber ich möch-
te das nicht mehr hauptberuflich machen. Mir ist
es wichtig, etwas Sinnvolles zu tun. Und das kann
ich jetzt im Hobby und im Beruf.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 79


Volltreffer: Innovation bedeutet,
die Perspektive zu wechseln, Grenzen zu
überschreiten.

80 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


UMBRÜCHE

Die Kulturrevolutionäre
Die Arbeitswelt verändert sich rasant, Computer
übernehmen immer mehr Aufgaben. Gerade darum
haben kreative Querdenker ganz neue Chancen.
TEXT EVA-MARIA SCHNURR F OTO S MARIA FECK & DAVID CARRENO HANSEN

HINTER EINER STELLWAND wirft sich Die School of Design Thinking am Has- te? Vielleicht sogar wichtiger als Fachwis-
ein Mann einen Arztkittel über, am Fenster so-Plattner-Institut für Softwaresystemtech- sen? Und welche Art von Kreativität ist ge-
hat jemand Zettel mit Slogans wie „Wilde nik ist eine Art Brutkasten in Sachen Inno- nau gefragt?
Ideen ermutigen“ oder „Früh und oft vation: Hier werden Menschen mit unter- „Wir stehen an der Schwelle zu einem
scheitern“ mit Neonklebeband angebracht, schiedlichen fachlichen Hintergründen im Zeitalter, in dem Ökonomie und wirtschaft-
neben einer Gitarre liegt ein Büschel Bana- „Design Thinking“ ausgebildet, einem An- liches Wachstum primär auf Wissen und
nen – das hier wird keine übliche Business- satz, der Probleme der Wirtschaftswelt mit Kreativität basieren“, prognostizierte das
präsentation, so viel ist gleich klar. Ab- unorthodoxen Fragestellungen und Blick Zukunftsinstitut 2012. Jobs mit vielen Rou-
schlusstag an der School of Design Think- auf Kundenbedürfnisse lösen soll. tinen, und zwar selbst geistig anspruchsvol-
ing in Potsdam. Drei Monate lang haben 40 Entwickelt wurde Design Thinking in le wie die von Programmierern oder Daten-
Teilnehmer des Aufbaustudiengangs an den Achtziger- und Neunzigerjahren in Ka- analysten, werden von billigen Arbeitskräf-
Projekten für Kunden gewerkelt: Firmen lifornien, gerade drängt es mit Macht nach ten irgendwo auf der Welt oder von Robo-
wie die Deutsche Bahn oder Volkswagen Deutschland. Der Ansatz: die Bedürfnisse tern erledigt, so die Vorhersage der Zu-
haben Fragestellungen aus dem echten Le- der Kunden erforschen, experimentieren, kunftsforscher. Intelligenz bleibt kein
ben an die Studenten weitergereicht und rasch Prototypen entwickeln, testen, kriti- menschliches Alleinstellungsmerkmal, weil
viel Geld bezahlt, damit die sich Gedanken sieren und die Idee wieder überarbeiten – auch Computer immer schlauer werden.
machen. Nun sitzen die Firmenleute im of- oder verwerfen und etwas Neues erdenken. Kreativität werde deshalb zur Schlüsselqua-
fenen Foyer zwischen Studenten auf Bän- Etwa die Hälfte der größten Unterneh- lifikation.
ken im Halbkreis und hören sich die Ergeb- men in Deutschland praktiziert Design
nisse an. Thinking bereits, die Lufthansa ebenso wie ABER STIMMEN SOLCHE Vorhersagen?
Oder besser: Sie genießen die Show. die Telekom, SAP oder die Deutsche Bank. Oder sind Kreativität und Innovation gerade
Denn keines der Projektteams kommt mit Hier in Potsdam probieren Firmen im Rah- einfach „Buzzwords“, mit denen sich Geld
schnöden Power-Point-Folien. Sie haben men der Studentenprojekte oft zum ersten verdienen lässt, weil Firmen wie Menschen
aufwendige Videos gedreht, demonstrieren Mal aus, ob Design Thinking auch etwas für verunsichert sind – und in Wahrheit verän-
ihre Ideen in Rollenspielen, zeigen in Ani- sie sein könnte – die Warteliste ist lang. dert sich gar nicht so viel?
mationen, wie ihre Antworten auf die Fra- Die Schule ist also die perfekte erste An- Ulrich Weinberg, der Leiter der Potsda-
gen der Unternehmen aussehen. Das Publi- laufstelle für die Suche nach Prognosen zur mer School of Design Thinking, kommt viel
kum jubelt und lacht, hakt kritisch nach – Arbeitswelt von morgen: Welche Rolle wer- herum in Unternehmen, steht im ständigen
es sieht aus, als seien die Präsentationen ein den Kreativität und Innovationsgeist spie- Austausch mit Forschungschefs und Perso-
großer Erfolg. len? Werden sie entscheidender sein als heu- nalverantwortlichen, und für ihn ist die Sa-
Leider darf man nicht schreiben, worum che klar: Ohne Kreativität geht in Zukunft
es genau geht; alles streng geheim, durchaus noch weniger als heute. Er nutzt allerdings
möglich, dass die eine odere andere Idee einen anderen Begriff, er spricht von „ver-
später umgesetzt wird, heißt es. In früheren netztem Denken“.
Workshops haben Studenten schon Produk- Erforschen, entwickeln, Der ehemalige Professor für Computer-
te erfunden, die auf dem Markt sind oder animation und Vizepräsident der Medien-
weiterentwickelt werden: einen Staubsau-
kritisieren, verbes- hochschule in Babelsberg, glatzköpfig und
ger etwa, den man umbauen und so an un- sern – das ist das neue ganz in Schwarz gekleidet, schnappt sich ei-
terschiedliche Bedürfnisse anpassen kann. nen Stift und skribbelt an der Wand des Be-
Oder einen speziellen Trolley für den Si- „Design Thinking“. sprechungsraums, während er erläutert, wa-
cherheitscheck im Flughafen, der die War- rum er das vernetzte, kreative Denken für
tezeiten verkürzen soll. die entscheidende Brücke in die Zukunft

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 81


UMBRÜCHE

hält: „Der Veränderungsdruck durch Globa- als Ingenieurbüro‚ entwickelt und produ- ben und so Wartungszeiten minimieren und
lisierung, Digitalisierung und Automatisie- ziert das Unternehmen inzwischen an meh- Ausfälle verhindern. Ein erster Schritt in
rung steigt nicht mehr linear, sondern ex- reren Standorten weltweit Kühlaggregate eine vernetzte Produktwelt, Industrie 4.0,
ponentiell, das spüren sowohl Individuen für Schaltschränke sowie Warnleuchten für also das, was Experten als nächste Evolu-
wie Unternehmen.“ Die Komplexität wach- die Industrie. Keine hippen Konsumgüter, tionsstufe der Wirtschaft vorhersagen: „Je-
se, das Tempo nehme zu, die Entwicklungen nichts, woran man beim Stichwort Kreati- der weiß, das wird kommen, aber keiner
seien immer weniger vorhersagbar. Viele vität sofort denken würde. Und doch, sagt weiß, wie das Geschäftsmodell aussehen
Unternehmensberater rieten deshalb zu Ver- Firmenchef Andreas Pfannenberg, erziele wird“, sagt Pfannenberg – es gelte also zu
einfachung, Komplexitätsreduktion. man mehr als 40 Prozent des Umsatzes mit experimentieren oder den Anschluss zu
Weinberg empfiehlt stattdessen, Grenzen Produkten, die jünger als vier Jahre sind. verlieren.
zu überschreiten: solche von Zuständigkei- Pfannenberg empfängt in einem Konfe-
ten, Hierarchien, Abteilungen ebenso wie renzraum im Stil der Achtzigerjahre, Kunst- DIE DIGITALISIERUNG und Automatisie-
die einzelner Köpfe. Nur in gemischten, un- drucke an den Wänden, runder Tisch mit rung der Wirtschaft, durch die intelligente
hierarchischen Teams könne der Einzelne Thermoskannenkaffee und Schokoriegeln. Computer mehr und mehr Arbeit überneh-
sein kreatives Potenzial wirklich entfalten. Sein Unternehmen sei schon immer inno- men, werden in den kommenden Jahren zu
Und nur mit Kreativität komme man auf Lö- vativ gewesen, sagt Pfannenberg, logisch, Umwälzungen führen – und zwar nicht nur
sungen, die einen wirklich weiterbrächten. sie sind ja Ingenieure, Erfinder also, und na- für Unternehmen, sondern auch für Ange-
türlich sind neue Entwicklungen immer not- stellte, so prognostizieren Wissenschaftler.
IN DER DESIGN-THINKING-SZENE kur- wendig für Produktivität in der Wirtschaft. Bei rund 47 Prozent aller Arbeitsplätze in
siert die Aussage eines deutschen Konzern- Doch in den vergangenen Jahren habe die den USA bestehe ein hohes Risiko, dass sie
oberen. Der habe gestanden, wenn seine Fir- Geschwindigkeit mächtig angezogen, meint der Automatisierung zum Opfer fallen wer-
ma die Aufgabe bekommen hätte, das Taxi Pfannenberg: „Die Innovationszyklen sind den, berechneten Forscher der Universität
der Zukunft zu bauen, hätten sie das luxu- viel kürzer geworden.“ Oxford. Übertragen auf Deutschland sieht
riöseste, bestausgestattete Taxi überhaupt Immer mehr Wert legt er deshalb auf die Sache nicht viel besser aus: Bis zu 42
entwickelt. Doch einen Taxiservice ganz Mitarbeiter, die nicht mehr in „Silo-Struk- Prozent der Jobs wären hier gefährdet.
ohne Taxis, mit privaten Fahrern, die über Zwar streiten Ökonomen, wie zuverläs-
das Internet organisiert werden, wäre ihnen sig solche Vorhersagen sind, einige sehen
wohl niemals eingefallen. Das fiel nur einem die Entwicklung weniger pessimistisch, und
Branchenfremden ein, dem kalifornischen andere glauben, dass durch die neuen Tech-
Start-up Uber, das in vielen Ländern den Wer mutig ist, quer und niken sogar neue Arbeitsplätze entstehen
Personentransport durcheinanderwirbelt.
Die alten Denkmuster halten sich hart-
wild denkt, besitzt werden. Doch klar ist inzwischen, dass
längst nicht nur Routinetätigkeiten eine un-
näckig – Querdenken und Experimentieren entscheidende Fähig- gewisse Zukunft haben. Schon heute wer-
ist in vielen Unternehmen nicht gefragt. Da- den Computer eingesetzt, die medizinische
bei gibt es genug abschreckende Beispiele: keiten für die Zukunft. Diagnosen, zum Beispiel bei Brustkrebs,
Viele Firmen scheitern an mangelnder Fan- exakter stellen als Ärzte. Es existieren Pro-
tasie für die eigene Zukunft – und werden gramme, die in Sekunden alle relevanten Ur-
von jungen, agilen Unternehmen überholt, teile aus juristischen Datenbanken zusam-
die näher an den Bedürfnissen der Kunden turen“ denken, wie er das nennt, sondern mensuchen oder einfache Rechtsfälle auto-
sind. Der Handyhersteller Nokia etwa: Bis die ihre Perspektive wechseln können. Spe- matisch abwickeln, ebenso solche, die für
2008 waren die Finnen Marktführer im ent- zialisten zwar, doch solche, die auch nach Zeitungen Börsenmeldungen oder Sport-
stehenden Smartphone-Markt, cool und in- rechts und links gucken, die den Kunden berichte texten. Sogar mit maschinellen Vor-
novativ, doch das Management wehrte sich im Blick haben. „Die Welt verändert sich standsvorsitzenden wird experimentiert, sie
gegen Touchscreens, setzte zu lange auf die so rasant, dass Fachwissen immer schneller treffen zum Teil bessere Entscheidungen
Strahlkraft der Marke und ihre hochwerti- überholt ist“, sagt Pfannenberg. Umso wich- als ihre menschlichen Kollegen.
gen Produkte – Nokia-Telefone verschwan- tiger sei die Bereitschaft zum Wandel, dazu, „Mit der zunehmenden Digitalisierung,
den in der Bedeutungslosigkeit. Bei den Gewohntes infrage zu stellen, Neues zu Vernetzung und Automatisierung unserer
Kult-Sofortbildkameras Polaroid fehlte die lernen. Welt rückt die Frage in den Mittelpunkt,
Idee, wie man weiterhin eine eigene Nische Seit einiger Zeit bietet Pfannenberg allen was uns Menschen unersetzlich macht“,
neben der digitalen Fotografie besetzen Mitarbeitern Kreativitätsworkshops an, bei heißt es in einer Studie des Branchenver-
konnte. Und dem Filmhersteller Kodak, in Treffen mit Kunden und Lieferanten den- bands Informationswirtschaft, Telekommu-
den Neunzigerjahren eine der wertvollsten ken sie über neue Produkte oder Verbesse- nikation und neue Medien im Februar 2015.
Marken der Welt und sogar Erfinder der ers- rungen der alten nach. Doch er betont, dass Die Antwort der Studienautoren überrascht:
ten tragbaren Digitalkamera, fiel keine Stra- Innovationsgeist nicht nur Sache des Ein- Künstlerisches Denken und Talent seien –
tegie ein, wie man das Unternehmen neu zelnen sei, sondern eine Frage der Unter- neben Empathie und sozialen Kompeten-
positionieren könnte. nehmenskultur. Und dass er, der Chef, vo- zen – die Alleinstellungsmerkmale des Men-
Den wachsenden Veränderungsdruck rangehen, Risiken eingehen müsse. Auch schen, jedenfalls bis auf Weiteres. Sie emp-
spüren selbst mittelständische Familienun- deshalb trauen sie sich jetzt in ein für sie fehlen deshalb, das kreative Denken schon
ternehmen wie die Elektrotechnikfirma neues Feld: Sie tüfteln an Kühlgeräten, die vom Kindergarten an stärker in alle Ausbil-
Pfannenberg in Hamburg. 1954 entstanden per Internet über ihren Status Auskunft ge- dungswege einzubeziehen.

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MARIA FECK & DAVID CARRENO HANSEN / SPIEGEL WISSEN

SPIEGEL WISSEN
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EINER DER AUTOREN der Studie will, sollte weichen Fächern Raum
ist Dirk Dobiéy, viele Jahre Manager geben“, so das Fazit der Forscher.
beim Walldorfer Softwarekonzern Genau das versuchen sie beim
SAP. Vor einem Jahr gründete er Stuttgarter Elektronikriesen Bosch.
„Age of Artists“, ein Forschungs- und In der obersten Etage des neuen
Beratungsnetzwerk, mit dem er he- Zentrums der zentralen Forschungs-
rausfinden will, was Unternehmer und Vorausentwicklung in Rennin-
und Arbeitnehmer von Künstlern gen eröffnete im vergangenen Okto-
lernen können. ber die „Platform 12“, ein für Außen-
Denn wenn man nach Spezialis- stehende verbotener Ort, in dem die
ten im Umgang mit Ungewissheiten Entwickler jede Menge Freiräume
und Risiken sucht, stoße man rasch haben. Erfunden hat ihn die Innova-
auf Künstler, so Dobiéy – schließlich tionsmanagerin Birgit Thoben, ge-
wissen die am Anfang des Schaffens- meinsam mit der Berliner Agentur
prozesses selten, wohin sie ihre Ar- „Wimmelforschung“. Thoben be-
beit führen wird, müssen Wagnisse richtet, dass die Forscher mit allen
eingehen, um bahnbrechend Neues möglichen Materialien basteln und
zu schaffen. werkeln, mit Legosteinen bauen, die
Dobiéy entschied sich, die Ar- Fenster vollschreiben oder unkom-
beitsweise von Berufskreativen zu pliziert miteinander ins Gespräch
analysieren. Mehr als hundert Inter- kommen – all das soll Ideen wecken,
views hat er inzwischen gemeinsam die Perspektive weiten.
mit Kollegen geführt, mit Künstlern Vor allem aber, und das ist wirk-
wie Norbert Bisky, mit Regisseuren lich neu, arbeitet in einer Ecke des
und Musikern, mit Menschen aus Die Dinge auf den Kopf stellen: Raumes ein Künstler. Es gab schon
dem Kulturbetrieb, mit Wissen- Kunst ist inzwischen eine gefragte Workshops über die „Freiheit im
schaftlern. Sie arbeiten ergebnisof- Inspirationsquelle für Innovation. Denken“ oder über das „Nichts“,
fen, hat Dobiéy herausgefunden, Kunstwerke stehen im Raum he-
spielerisch und dennoch mit klarer rum, anfangs irritierten sie die For-
Haltung. Und sie gehen anders an ihre che es neue, kreative Ansätze: Offenheit, Lei- scher, nach und nach entstand ein Aus-
Aufgaben heran als normale Angestellte: denschaft, Wagemut – also alles, was künst- tausch zwischen den Bosch-Leuten und
Mindestens ebenso viel Zeit wie auf das lerisches Arbeiten ausmacht. den Kreativen, die jeweils mit einem drei-
Kunstwerk selbst verwenden sie auf die Vor- Für Ohren, die nüchternes Management- monatigen Stipendium in der „Platform 12“
bereitung: Sie nehmen intensiv ihre Um- Sprech gewohnt sind, klingt seine Idee erst arbeiten. Die Sache ist ein Experiment, ob
welt wahr, suchen ein Thema oder einen einmal pathetisch, überzogen, geradezu daraus irgendein Nutzen für Bosch entsteht,
Anknüpfungspunkt, reflektieren, testen, romantisch. Doch Dobiéy liegt damit im lässt sich noch nicht sagen. Aber das ist,
experimentieren mit ihren Einfällen, ver- Trend: Kunst ist eine gefragte Inspira- glaubt man den Beteiligten, auch nicht
werfen viel, bevor sie Ausgewähltes konkre- tionsquelle für Innovation und Perspektiv- oberstes Ziel. Es gehe darum, die Köpfe zu
tisieren. wechsel in der Wirtschaft – gerade weil öffnen, über das eigene Tun und die Gesell-
Dobiéy tastet sich gerade an sein neues dort vollkommen andere Prinzipien und schaft zu reflektieren. „Indem die Künstler
Arbeitsfeld heran, noch weiß er nicht wirk- Werte gelten. unsere Arbeit und unsere Strukturen spie-
lich, wie er seine Ergebnisse in der Beratung Unternehmensberater arbeiten mit Bild- geln, regen sie die Entwickler an, Dinge zu
umsetzen wird, er lebt seinen künstleri- betrachtungen, um Führungskräfte zum hinterfragen, anders zu denken“, sagt die
schen Ansatz also selbst. Wie der Design- Querdenken anzuregen, an amerikanischen Innovationsmanagerin Thoben.
Thinker Weinberg träumt er von einer Art Universitäten trainieren Ärzte mit Kunst- Noch ist der kreative Ansatz vor allem
Kulturrevolution: Auch um gesellschaftliche werken ihre Wahrnehmung, um später eine Verheißung, für den Einzelnen ebenso
Herausforderungen wie den Klimawandel etwa Röntgenbilder besser verstehen zu wie für Unternehmen: Denn wer mutig ist,
MARIA FECK & DAVID CARRENO HANSEN / SPIEGEL WISSEN

oder die Flüchtlingsfrage zu meistern, brau- können. Und in einer Stellungnahme des quer und wild und grenzenlos denkt, so die
„Handelsblatt“-Forschungsinstituts hieß es Erwartung, der fürchtet sich nicht vor Un-
im vergangenen Jahr, die einseitige För- sicherheit. Der traut sich, die Dinge infrage
WEITERLESEN derung von mathematisch-naturwissen- zu stellen. Und verlässt sich darauf, dass ihm
schaftlichen Fächern an Schulen und am Ende schon irgendeine Lösung einfallen
ERIK BRYNJOLFSSON, AN- Universitäten sei falsch, weil das der wird. Kurz gesagt: Der besitzt ziemlich si-
DREW MCAFEE: „The Second Entwicklung des Kreativitätspotenzials cher die entscheidenden Fähigkeiten für die
Machine Age“. Plassen Verlag; schade – dies aber sei für die Zukunfts- kommenden Zeiten.
368 Seiten; 24,99 Euro. fähigkeit von Unternehmen zentral, denn eva-maria.schnurr@spiegel.de
es gehe immer mehr darum, schöpferisch
ULRICH WEINBERG: „Net- mit neuen Techniken und Computerpro-
Eva-Maria Schnurr hat die besten Ideen
work Thinking“. Murmann Ver- grammen zusammenzuarbeiten. „Wer in- beim Spazierengehen oder im Zug – und
lag; 232 Seiten; 25 Euro. novative Ingenieure und Mathematiker deshalb immer etwas zu schreiben dabei.

84 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


DOSSIER

SOCIAL DESIGN
DESIGN: KJOSK; ILLUSTRATION: ROBERT SAMUEL HANSON / SPIEGEL WISSEN

Unsere Welt schöner, sinnvoller und lebens-


freundlicher gestalten – das ist Social Design. Immer
mehr Menschen engagieren sich mit eigenen Ideen.
SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 85
Rostfreie Belüftungsschieber

Deckelthermometer

Porzellanemaillierung

Grillbesteckhaken

199,-
Holzkohle-Kugelgrill 'Sunset Special' Mehr
Grillfläche Ø 57 cm, indirektes Grillen möglich, Asche-
topf inkl. Hitzeregulierung, porzellanemaillierter Kessel Auswahl
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Alle Informationen zur Firma und Anschrift Ihres Fachcentrums finden Sie unter www.bauhaus.info/fachcentren www.facebook.com/bauhaus
oder kostenlos unter Tel. 0800-3905000. Produkte sind nicht in allen Fachcentren verfügbar. www.youtube.com/bauhausinfo
Abrisshaus: Bürger gestalten ihre Viertel selbst. Solche Social-
Die Stadt

Design-Projekte verändern die Städte – und die Menschen.


gehört

Ob Apfelbäume im Park oder ein Pop-up-Store im


TEXT MARIANNE WELLERSHOFF

Dieses Social Design verändert unsere Städte, weil wir


uns verändern. Menschen wollen in den Städten nicht
mehr nur wohnen und arbeiten, sondern sie möchten
ihren Lebensraum mitgestalten. Dazu müssen neue Kon-

uns zepte des urbanen Wohnens entwickelt werden, müssen


neue Ideen her, die statt konventioneller Nutzung von
öffentlichen Räumen einfach ganz andere Formen und
Erfahrungen von Stadtkultur erfinden. Oft sind das Do-
it-yourself-Ansätze wie in den „Prinzessinnengärten“:
2009 stellten Freunde des Gärtnerns Bäckerkisten und
Tetrapaks als Pflanzkästen auf einer Brache in Berlin-
Kreuzberg auf – heute sind die Prinzessinnengärten
das bekannteste deutsche Urban-Gardening-Projekt.
JEDES JAHR am Reformationstag, dem 31. Oktober, Die Heterogenität der Stadt, ein neues Bewusstsein der
pflanzt Pastor Frank Engelbrecht mit den Kindern der Menschen für die Vorteile des Miteinanders statt des
Kita St. Katharinen einen Apfelbaum im Hamburger Nebeneinanders und das Interesse der öffentlichen Ver-
Lohsepark. Die Eltern bringen selbst gebackenen Ku- waltungen, schon wegen der knappen Kassen Verant-
chen mit, dazu gibt es Apfelsaft. Wenn sie sich in diesem wortung an die Bürger abzugeben – all das macht das
Herbst dort wieder treffen werden, stammen die Äpfel Social Design zu einem immer wichtiger werdenden
auf den Kuchen vielleicht schon von den in früheren Teil urbanen Lebens. „Das ist erst der Anfang“, sagt
Jahren gepflanzten Bäumen. Bernd Kniess, Professor für Urban Design an der Ham-
Am anderen Ende des Parks, der mitten in der langsam burger HafenCity Universität, im Interview (Seite 96).
wachsenden HafenCity liegt, wird zu dieser Zeit schon Interessante Ansätze findet man jetzt schon an vielen
das Gemüse geerntet sein, das die Freunde des Urban Orten: Die Bremer ZwischenZeitZentrale (ZZZ) etwa
Gardenings dort in Kisten angebaut haben. Direkt neben spürt seit etlichen Jahren leer stehende Häuser und
dem Pflanzkistenareal liegt der Bolzplatz, den Eltern Flächen auf und entwickelt Ideen für deren vorüber-
aus der HafenCity mithilfe von Sponsoren angelegt ha- gehende Nutzung – zum Beispiel einen Recycling-Pop-
ben. Jeden Mittwoch kicken hier die kleineren Kinder up-Store in einem Abrissgebäude, in dem es Vogelhäus-
aus dem neuen Quartier, und auch an den anderen Ta- chen aus Milchtüten zu kaufen gibt. Auf Brachen wird
gen wird kräftig gebolzt. in mobilen Küchen gekocht, in Baulücken entstehen
Apfelbäume, Pflanzkistengarten und Fußballplatz – alle Künstlerateliers, es gibt Repair-Cafés und Sammelstel-
drei Projekte sind keine Kopfgeburten von Behörden len für aussortierte Kleidung oder Küchengeräte, die
und Landschaftsarchitekten. Nein, sie sind entstanden, Nachbarn vielleicht noch gebrauchen können. Im Au-
weil die Bewohner der HafenCity während der jahre- genblick, aus aktuellem Anlass, denken die ZZZ-Macher
langen Bauzeit die Chance bekamen, den Park mitzu- darüber nach, wie man Begegnungsräume für Flücht-
gestalten und nach ihren Wünschen mit Leben zu füllen. linge schaffen könnte: Social Design statt sozialem
Für diesen Prozess gibt es einen Begriff: Social Design. Brennpunkt.

87
Zusammen
baut
man

weniger

allein
TEXT MORITZ AISSLINGER
FOTO IMMO KLINK

DER ANRUF KAM UNVORBEREITET. Man wolle Am anderen Ende aber: Zögern. Keine Zusage. Nur
ihnen, der Architektengruppe Assemble, den Turner- eine Frage: Können wir Sie zurückrufen?
Preis verleihen, wichtigste Kunstauszeichnung des Ver- „Wir wollten das zunächst mit den Menschen aus
einigten Königreiches. Die Jury habe sich für ihr Projekt der Granby Street besprechen“, sagt Maria Lisogors-
Granby Four Streets entschieden; ein Projekt, bei dem kaya. „Ohne ihre Zustimmung hätten wir den Preis
Assemble das Arbeiter- und Elendsviertel Toxteth in nicht angenommen.“ Sie erzählt fast schüchtern von
Liverpool gemeinsam mit dessen Bewohnern renoviert. diesem Anruf, der in der Kunstwelt für viel Wirbel und
Ob man den Preis annehme? Keine Frage eigentlich, Empörung sorgte. Erstmals sollte der Turner-Preis
mehr pro forma. Englische Anstandsregel. nicht an einen klassischen Künstler gehen, sondern an
ein Architekturbüro, dessen Mitglieder sich bis dato
niemals gefragt hatten, ob das, was sie da machen, viel-
leicht Kunst ist.
Warum? Was ist das Besondere an dieser Gruppe?

EIN TAG MITTE MÄRZ, draußen herrscht britische


Kälte. Lisogorskaya, lilafarbene Jacke, Leggings, Turn-
schuhe, sitzt vier Monate nach dem Telefonat am Kon-
ferenztisch von Assemble. Sie ist eines der Gründungs-
mitglieder des 15-köpfigen Kollektivs, über das in den
vergangenen Monaten halb England diskutierte. Von
dem Hype ist hier, in einem Hinterhof in Stratford,
schmucklose Gegend im Osten Londons, allerdings
nichts spürbar.
Architekten, das Wohnen zu revolutionieren.

Ein heruntergekommenes Industriegebäude aus


Backstein, die eine Hälfte abgebrannt, die andere not-
dürftig wiederhergerichtet, dient als Hauptquartier der
Jungarchitekten, die alle erst in ihren Zwanzigern sind.
Im Vorraum: keine Lounge, kein Warteraum, kein
In London versucht eine Gruppe junger

Hauch von Chic, vielmehr ein Spielplatz für ambitio-


nierte Hobbybastler. Die Werkstatt von Assemble, eine
Art Versuchslabor der Gruppe. „Um Materialien zu tes-
ten und ein bisschen herumzuexperimentieren“, sagt
Lisogorskaya.
Es riecht nach Hobelspänen, Leim und Farbe. In
Einkaufswagen stapelt sich Holz, Kabel hängen lose
von Regalen, ein Betonmischer steht neben dem Ein-
gang zur Küche, von der Decke baumelt eine Disco-
kugel. Im Büro dahinter sitzen die Kollegen vor Com-
putern, zeichnen, diskutieren. Niemand von ihnen ist
staatlich anerkannter Architekt, für den Abschluss fehlt
die Zeit.
Doch gerade dieser Nonkonformismus, die Diver-
sität auch, ist ein Kennzeichen von Assemble. Zwar
studierten die meisten von ihnen Architektur, es sind
aber ebenso gelernte Historiker, Philosophen und Ang-
listen dabei. Die fachfremden Kollegen, findet Liso-
gorskaya, täten dem Gesamtkonstrukt gut, da sie andere
Erfahrungen einbrächten und anders auf die Dinge
schauten. Alle zusammen arbeiten sie an der Zukunft
des Wohnens.
Assemble setzt sich auseinander mit sozialen Woh-
nungsfragen. Wie gelingt in wirtschaftlich schwachen
Gegenden kostengünstiges Bauen? Wodurch kann eine
Nachbarschaft zusammenwachsen? Wie kann man mit
einfachsten Mitteln modern wohnen? Indem man par-
tizipativ arbeitet, in Zusammenarbeit mit den Bewoh-
nern, glaubt Assemble. Dafür muss man mehr bedenken
als nur Architektur. Und die Baumeister müssen mehr
sein als nur Architekten. Lisogorskaya sagt: „Manchmal
sind wir Künstler, manchmal Aktivisten, Bauarbeiter

89
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Mit den Bewohnern plante Assemble


die Erneuerung des verfallenden
Viertels Granby; aus einer Tankstelle
in London machten sie ein Kino:
„Manchmal sind wir Künstler,
manchmal Aktivisten, Bauarbeiter
oder einfach nur Klempner“, sagt
Maria Lisogorskaya.

oder einfach nur Klempner.“ In Granby Four Streets ge-


lang dies exemplarisch.

DAS VIERTEL GRANBY in Liverpool galt bei Politi-


kern und Behörden lange Zeit als verloren. 1981 erschüt-
terten Unruhen die Gegend, Menschen protestierten
gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt. Seither ge-
lang es der lokalen Verwaltung nicht, den stetigen Ver-
fall aufzuhalten. Granby wurde zum No-go-Quartier.
Bis Assemble sich der Sache annahm.
Anders als bisherige Stadtplaner sprachen die Jung-
architekten nicht zuerst mit potenziellen Geldgebern,
sie setzten sich mit den Anwohnern zusammen und
fragten sie: Seit wann wohnt ihr hier? Was macht diesen
Stadtteil für euch aus? Wie würdet ihr in eurem Viertel
gern leben? Aus den Gesprächen mit den Menschen
vor Ort erfuhren die Architekten viel mehr über die
Infrastruktur, die Geschichte, den Charakter des Vier-
tels, als die Behörden ihnen je hätten sagen können.
„Die Anlieger kennen die Umgebung naturgemäß am
besten, sie sind die Experten, wissen, wo was passiert.

90
Deshalb ist es einfach gut, mit ihnen zu reden“, sagt Li- meistbefahrenen Straßen Londons, machten die Jung- A
S
sogorskaya. architekten mit rund 200 Freunden, Freiwilligen und
S
In Zusammenarbeit mit den Bewohnern plante As- Passanten ein schillerndes Kino. Sie nähten an das Tank- E
semble die Erneuerung individuell. Über die Freifläche stellendach einen Vorhang aus schwerem, goldfarbenem M
zwischen zwei Reihenhäusern etwa zog die Gruppe ein Stoff, zimmerten Reihen von Klappstühlen aus einfa- B
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Glasdach, fertig war ein Wintergarten für die Gemein- chem Holz, am Eingang lief eine Popcornmaschine. „Als
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schaft. Aus einem Haus mit eingestürzter Zwischen- die Menschen tatsächlich kamen, Tickets kauften, die
decke machten sie einen Raum mit doppelter Geschoss- Vorstellung sahen – das hat mich echt beeindruckt“,
höhe. Die Umbauarbeiten eröffneten den Bewohnern sagt Lisogorskaya.
zudem die Möglichkeit zur Mitgestaltung. Die Architek- Danach folgte ein Projekt nach dem anderen. Assem-
ten zeigten Anliegern in einer gemeinsamen Werkstatt, ble baute ein provisorisches Theater, einen Abenteuer-
wie sie Möbel für ihre Wohnungen zimmern können. spielplatz, eine Kunstgalerie. Und in Berlin-Pankow
Jugendliche lernten in Workshops, mit Holz zu arbeiten zeigten sie, wie neues Wohnen für alte Menschen aus-
und Beton zu mischen, sie konnten dabei handwerkliche sehen kann.
Qualifikationen erlangen. Die Bevölkerung von Granby Dort, in der Stillen Straße 10, hatten Senioren 2012
nahm die Zukunft ihrer Straße selbst in die Hand. ein Haus besetzt, das ihnen bislang als Freizeit- und
Da keiner von ihnen die finanziellen Mittel hatte, Begegnungsstätte gedient hatte, nun aber verkauft wer-
die Renovierung ihrer Häuser allein zu stemmen, orga- den sollte. Sie demonstrierten gegen die Räumung,
nisierten sie sich in einer Genossenschaft, um öffentli- kämpften gegen Verdrängung und die zunehmende
che Gelder zu erhalten. Zudem verkauften sie Kacheln, Gentrifizierung ihres Stadtteils. Die Hausbesetzung
Stühle und Handtücher, die sie in Handarbeit während machte Schlagzeilen, Medien in der ganzen Welt be-
des Projekts in der Werkstatt produzierten, um die Er- richteten von den rüstigen Rentnern, die sich nicht ver-
neuerung zu finanzieren. treiben lassen wollten. Auch Assemble erfuhr davon,
sie waren fasziniert.
INMITTEN DIESES PROZESSES platzte die Nach-
richt vom Turner-Preis. Man nahm sie mit gemischten GEMEINSAM MIT DEN SENIOREN entwickelten die
Gefühlen auf. „Wir hatten die Befürchtung, die Kunst- Architekten ein experimentelles Wohnmodell für das
welt würde durch den Preis Granby als Kunstobjekt ver- Leben im Alter. Lisogorskaya und ihr Kollege Lewis
stehen“, sagt Lisogorskaya. „Es geht bei dem Projekt Jones flogen nach Berlin, um sich mit den Rentnern
aber um die Menschen und um das Viertel.“ Deshalb auszutauschen. Im Gespräch erfuhren die beiden Ar-
sprach man zuerst mit den Anwohnern. Die konnten chitekten, wie sich die Älteren ein angenehmes Woh-
kaum glauben, was sie da hörten, waren stolz, sagten nen vorstellen: Sie wünschten sich ein Haus fürs Mit-
IMMO KLINK / SPIEGEL WISSEN, JEFF J MITCHELL / GETTY IMAGES, ALAN TOWSE / CAMERA PRESS / DDP IMAGES, LEWIS JONES / ASSEMBLE STUDIO

zu. Es sei, erzählte ein Genossenschaftsmitglied, gewe- einander, in dem man in Gemeinschaftsräumen mit
sen wie damals, 2008, als Liverpool europäische Kul- Nachbarn und Bekannten jederzeit zusammenkommen
turhauptstadt war: Die Menschen tanzten auf den Stra- kann, das zugleich aber den individuellen Bedürfnissen
ßen, weil sie etwas gewonnen hatten – obwohl niemand aller Parteien und dem Wunsch nach Privatheit gerecht
wusste und sich darum scherte, was das war, das sie da wird. Eine Durchmischung der Generationen forderten
gewonnen hatten. die Senioren und Wohnungen, die sich je nach Lebens-
Der Preis machte Assemble weltweit bekannt. Plötz- lage – wenn etwa der Partner stirbt oder die Enkelin
lich war die Gruppe Mittelpunkt einer eigenartigen Dis- oft zu Besuch kommt – verkleinern oder vergrößern
kussion: Ist das eigentlich Kunst, was die machen? Viele lassen.
Galeristen, Kritiker, Künstler waren sich einig: nein. Im April 2015 präsentierten Lisogorskaya und Lewis
Architekten seien keine Künstler. Die Jury setzte mit den Bewohnern ihren Entwurf samt Finanzierungskon-
der Wahl aber ein Zeichen: dass Kunst sich immer auch zept: Ein Bauherr erstellt einen mehrgeschossigen Roh-
mit realen Problemen zu befassen hat; dass sie sich in bau mit rund 20 Wohneinheiten und einer Gemein-
ihrer Praxis auch sozialen Fragen stellen muss. Es ist schaftsfläche über das gesamte Erdgeschoss. Für den
eine Art engagierte Architektur, die Assemble antreibt weiteren Ausbau sind die Bewohner selbst verantwort-
und die sie für die Turner-Jury auszeichnungswürdig lich, dafür können sie die Wohneinheit viel günstiger
gemacht hat. Die Gruppe selbst hätte, als sie sich vor als marktüblich kaufen. Jede Wohnung besteht aus zwei
knapp zehn Jahren fand, niemals erwartet, sich je mit gleich großen Teilen, durch eine Wand getrennt. Der
dieser Frage auseinandersetzen zu müssen. eine Teil dient als herkömmliche Zweizimmerwohnung
und wird von den Senioren gekauft. Der andere Teil
DER GROSSTEIL DES KOLLEKTIVS lernte sich in kann hinzugemietet werden.
Cambridge kennen, sie studierten gemeinsam Architek- Ob ein solches Haus jemals in Pankow oder anders-
tur. Waren eine Clique. Später jobbten sie in Architek- wo gebaut wird? Das ist noch offen. Doch in einem Hin-
turbüros, nach Feierabend trafen sie sich, diskutierten, terhof in London versuchen sie sich an ungewöhnlichen
träumten, entwarfen Visionen. So auch irgendwann an Lösungsideen; sie versuchen, Antworten zu finden auf
einem Abend 2009: ein Geburtstag, ein Pub, viele Biere. die drängenden Wohnungsfragen unserer Zeit.
Und eine Idee. „Wir quatschten so herum, tranken und „Wohnraum ist heutzutage in den meisten Großstäd-
hatten diesen gemeinsamen Traum, etwas als Gruppe ten Europas unerschwinglich, die Schere zwischen Arm
aufzubauen“, erzählt Lisogorskaya. Man müsse nur end- und Reich wird immer größer“, sagt Lisogorskaya. „Ar-
lich anfangen. chitektur kann den Menschen mehr Macht und Mög-
So entstand das „Cineroleum“. Aus einer leerstehen- lichkeiten geben, Alternativen zu entwickeln, sodass je-
den Tankstelle in Clerkenwell, gleich neben einer der der Zugang zu einem guten Leben finden kann.“

91
Die

Anti-

Bürokraten
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Innovationslabor, das gesellschaftliche


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Der dänische Staat leistet sich ein D
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Probleme mit unkonventionellen


A
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Für frischen Wind sollte MindLab sorgen, als es 2002


gegründet wurde, um den jahrzehntealten Staub der
Ministerien aufzuwirbeln, Raum und Bewegung für
neue Konzepte zu schaffen. Der erste Chef kündigte
frohgemut an, er wolle „eine Granate in die Bürokratie
werfen“. Heute befinden sich die MindLab-Büroräume
ausgerechnet im Justizministerium, also im bürokrati-
schen und politischen Herzen von Kopenhagen. Eine
Mitteln lösen soll.

schicke Adresse, direkt gegenüber dem eleganten Back-


steinbau der Börse, in Sichtweite des dänischen Parla-
ments. Keine Granate, dafür ein sehr bodenständiger
Erfolg.

STOLZE 130 PROJEKTE stehen auf der MindLab-


Erfolgsliste. Das thematische Spektrum ist breit, es
reicht vom Klimawandel bis zur Integration von Mi-
granten in den Arbeitsmarkt und der Verbesserung der
Erwerbsunfähigkeitsrente, stets schwingt ein Hauch
Idealismus mit. Da scheint eines der neuesten Projekte
sehr passend: MindLab plant in Odenses Fußgänger-
zone ein Bürgerhaus. Dort sollen sich Bürger und Ver-
treter von Ministerien treffen können, austauschen oder
Beratung suchen.
„Wir werden eine neue Gesellschaftspolitik schaf-
fen“, sagt Thomas Prehn selbstsicher. Jung und dyna-
misch, im perfekt sitzenden Anzug, mit gepflegtem Bart
und schwarzer Brille, wirkt er eher wie ein Unterneh-
TEXT SASKIA KERSCHBAUM mensberater denn wie ein Reformer. Seine Worte sind
F OTO S MARIE HALD wohlüberlegt, klingen ein wenig nach Beamtendänisch,
beeindruckend, aber etwas vage.
Besucher empfängt er im lichtdurchfluteten Groß-
raumbüro, wo eine lockere, gleichzeitig hoch konzen-
trierte Stimmung herrscht, große Bildschirme, Mappen,
Blätter die Schreibtische zudecken. Der Konferenzraum
DIE LEHRER der dänischen Stadt Odense waren ge- nebenan steht voller Stellwände, Tafeln mit bunten Post-
stresst, genervt, überfordert. 2014 wurden die Grund- Its, die Projektpläne enthalten, aufgeschlüsselt bis ins
schulen reformiert, und die Neuerungen bedeuteten für kleinste Detail, auf Dänisch und Englisch.
sie eine Katastrophe: mehr Unterricht, längere Präsenz- Ein Team von 20 Leuten schiebt hier Ideen hin und
zeiten, weniger Zeit für Korrekturen oder Vorbereitung. her, versucht, gesellschaftliche Prozesse in Gang zu
Doch dann entstand die Idee der „Lunchbox“: Jeder setzen, zwischen Bürgern und Regierung zu vermitteln.
Lehrer legte seine besten Unterrichtsmaterialien hinein, Die Stadt Odense sowie drei dänische Ministerien fi-
und die anderen durften sich nehmen, was sie gebrau- nanzieren MindLab – und diese öffentlichen Träger lie-
chen konnten. fern meist auch die Aufträge, die das Innovationslabor
Angestoßen wurde das Projekt von MindLab, einem abarbeitet.
Experimentallabor für freies Denken, ungewöhnliche Um nicht Teil der Bürokratie zu werden, die sie doch
Blickwinkel, verrückte Ideen. Und zwar im Auftrag der eigentlich aufbrechen sollen, werden die Mitarbeiter
dänischen Regierung. im sogenannten MindLab-Way geschult – dem ständi-
„Die Lehrer waren begeistert“, berichtet Thomas gen Hinterfragen von Prozessen, der Reflexion über die
Prehn, der Direktor von MindLab. „Sie hatten sich na- eigene Arbeitsweise. Vielleicht schwingt darin auch die
türlich schon vorher ausgetauscht, aber wir haben das Angst mit, vom Staat zu stark vereinnahmt zu werden.
systematisiert. Die Box kursiert inzwischen auch in an- Dabei helfen sie gerade Einzelpersonen in ihrem Kampf
deren Städten, wir sind sehr gespannt, wie weit das gegen die Bürokratie. So unterstützte MindLab eine
noch führen wird.“ Er hält kurz inne, überlegt, wie er Krankenschwester, die sich bei der Ausbildung schwer
diesen Gedanken formulieren soll. „Der öffentliche Sek- am Rücken verletzte, seitdem vor Schmerzen oft im
tor soll wieder das machen, wozu er da ist: der Öffent- Bett liegen muss. Ihren Beruf kann sie nie wieder aus-
lichkeit dienen“, sagt er schließlich. üben.

93
M Die junge Frau war völlig überfordert mit den An- KANN MINDLAB DAS ALSO LEISTEN: einen
I
trägen, Formblättern, Beglaubigungen, die sie einrei- Wandel der Gesellschaftspolitik durch innovatives Den-
N
D chen musste, gab irgendwann einfach auf. MindLab half ken? Thomas Prehn ist davon überzeugt, spricht von
L nicht nur der Krankenschwester; das zuständige Natio- einer „kulturellen Mondlandung“.
A nalkomitee für Arbeitsunfälle wurde auf den Fall auf- Dass MindLab Teil der dänischen Regierung ist, ist
B
merksam. Und arbeitet seitdem mit MindLab an einem momentan noch etwas Besonderes. Viele kreative
groß angelegten Projekt, das Erwerbsunfähigen helfen Labors sind bei der Uno oder an Universitäten zu
soll, wieder arbeiten zu können. finden, manche agieren dagegen selbstständig. Mind-
Schon in den Siebzigerjahren hat die Wissenschaft Lab hat den großen Vorteil, dass es auf die Macht
das, was Prehn und seine Laboranten in Kopenhagen und die Ressourcen der Ministerien zurückgreifen
tun, „soziale Innovation“ genannt. Heute gilt sie als kann.
Schlüssel für viele gesellschaftliche Themen unserer Wenn es gut geht, so der Traum, werden irgendwann
Zeit – ob überfällige Bildungsreformen, Nachhaltigkeit auch die staatlichen Stellen den „MindLab-Way“ über-
und Umwelt, demografischer Wandel, Veränderung und nommen haben. Dann wäre der Weg frei für eine un-
Beschleunigung der Arbeitswelt. Denn die traditionel- bürokratische Bürokratie.
len Maßnahmen des Staates greifen oft nicht mehr.
2009, da war das Unternehmen schon sieben Jahre
alt, beschäftigte sich die internationale Politik erstmals
mit dem Konzept der sozialen Innovation. In das EU- e n e in e n e
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Wirtschaftsprogramm „Europa 2020“ wurde das Schlag-

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wort an prominenter Stelle aufgenommen; Großbritan-

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niens Regierung gründete einen Thinktank nach dem

„Wir
Vorbild der dänischen Kollegen. Selbst in Brasilien

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kennt man die jungen Innovativen – seit Dezember 2015
helfen Prehn und sein Team beim Aufbau eines ähnli-
chen Labs.

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MARIE HALD / MOMENT / INSTITUTE / SPIEGEL WISSEN, MIND-LAB.DK

Schritt für Schritt: In Kopenhagen entwickelt das MindLab-Team bürgerfreundliche Projekte.

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einzulösen. Hinweis: Ich kann innerhalb von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
96
„Urbanität
ist

INTERVIEW MARIANNE WELLERSHOFF F OTO YVONNE SCHMEDEMANN

Chaos“
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der Städter und die Sehnsucht nach


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Bernd Kniess über die Arroganz
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SPIEGEL: Wie plant man Städte, wenn sich die I
Lebensformen ihrer Bewohner ändern? G
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Kniess: Städte werden von ihren Nutzern alltäglich pro-


duziert. Urbanität ist Chaos. Die Menschen schaffen
Tag für Tag ein großes Durcheinander, an dem Planer,
Politik und Verwaltung sich orientieren. Oder, besser
gesagt, orientieren sollten. Denn oft werden Bürger
nicht involviert in Planungen, sondern nur von oben
herab über diese informiert.

SPIEGEL: Meinen Sie mit dem Durcheinander


Gemeinschaft

auch Initiativen der Bürger, also zum Beispiel


Urban-Gardening-Projekte?

Kniess: Absolut. Dieses Bottom-up ist das Gegenteil


vom Geist der Moderne, die Ordnung ins Stadtchaos
bringen wollte und die beispielsweise bis heute mit ei-
ner Baunutzungsverordnung fortwirkt, in der Funktio-
nen festgeschrieben sind. Das Gemüsebeet auf der Bra-
che ist eine Falschnutzung. Aber das, was aus dieser
Falschnutzung entsteht, ist das Wesen der Stadt, und
dieses produktive Chaos macht sie lebenswert.

SPIEGEL: Urban Gardening, um bei diesem Bei-


spiel zu bleiben, ist vor allem ein Großstadt-
Kniess, 54, ist Professor für Urban Design an der HafenCity phänomen. Ist solches Social Design tatsäch-
Universität in Hamburg. lich nur etwas für Metropolen?

Kniess: Ja, eine gewisse Dichte und auch Heterogenität


sind Grundvoraussetzung. Die Menschen müssen sich
über den Weg laufen, miteinander reden und feststellen,
SPIEGEL: Herr Kniess, die ersten Versuche, di- dass sie gemeinsame Interessen oder aber Interessens-
gitale Nachbarschaftsnetzwerke zu gründen, dissonanzen haben, damit etwas Neues entsteht. Wenn
scheiterten in den Neunzigerjahren allesamt. alle zufrieden in ihrem Gärtchen hocken, abgeriegelt
Heute funktioniert diese Idee, wie Nextdoor in durch einen Zaun, dann wird man nie feststellen, ob
den USA oder WirNachbarn und Nebenan in der Nachbar die gleichen Interessen hat.
Deutschland zeigen. Woran liegt das?
SPIEGEL: Sollten die Behörden also glücklich
Kniess: Die Lebensformen in den Städten differenzieren sein, wenn Anwohner in einem Park Apfelbäu-
sich immer weiter aus – statt der klassischen Kleinfamilie me pflanzen?
gibt es beispielsweise alle möglichen Formen der Patch-
workfamilie. Gleichzeitig haben Menschen das Bedürfnis Kniess: In dem Moment, wo ich in einem öffentlichen
nach Gemeinschaft, und hier setzen die Nachbarschafts- Park einfach einen Apfelbaum pflanze, privatisiere ich
netzwerke an. Sie verorten Freundschaft in der Stadt neu. ihn. Das geht nicht, das muss mit den anderen Nutzern
und mit der Verwaltung ausgehandelt werden. Ein Park
SPIEGEL: Ist dies die Sehnsucht des Städters gehört der Gemeinschaft. Vielleicht wollen ja andere
nach dem Dorf? genau dort, wo der Apfelbaum steht, lieber Fußball
spielen? Aber trotzdem hat eine solche Initiative etwas
Kniess: Nein, ein Städter hat andere Vorstellungen, für sich.
einen anderen Lebensstil als jemand, der in einer dörf-
lichen Gemeinschaft lebt. Der Soziologe Georg Simmel SPIEGEL: Und zwar was?
hat vor mehr als hundert Jahren die Merkmale des Städ-
ters formuliert: Reserviertheit, Blasiertheit, Intellek- Kniess: Es ist wichtig, dass die Menschen Initiative ent-
tualität – Ausblenden. Eine nachbarschaftliche Gemein- wickeln, sich mit dem Raum auseinandersetzen, in Ver-
schaft in der Stadt ist also eher die Fortschreibung der handlungen treten, selbst wenn sie am Ende keinen Er-
Familie als die des Dorfes. folg haben. Das macht Urbanität aus.

97
Der
S O C I A L D E S I G N AWA R D

SPIEGEL WISSEN und SPIEGEL ONLINE vergeben

große
besten Vorschlag, der Leben in die Straße bringt.
den dritten Social Design Award für den

Leserwettbewerb
ES IST DAS DRITTE MAL, dass der Social Design
Award vergeben wird. In den beiden Jahren zuvor ging
es um Ideen für ein besseres Zusammenleben in der
Stadt und um gute Ideen für die Schule. Gewonnen ha-
ben 2014 das Berliner Studentenprojekt des Treibhauses
„U-Rangerie“, das geheizt oder gekühlt wird von der U-
Bahn-Abluft, und die „Mitfahrerbank“ im ländlichen
Raum der Eifel, die in einer Gegend mit unzureichen-
dem Nahverkehr Mobilität ermöglicht. 2015 siegten das
Bienenprojekt „Schulblüte“ des Friedrich-Dessauer-
Gymnasiums in Frankfurt am Main und die „Säule des
ES GIBT SCHNELLSTRASSEN, Durchgangsstraßen, Erfolgs“ des Schweizer „SBW Haus des Lernens“, wo
Einfallstraßen – Trassen, in denen Menschen nur als bunte Bälle in einer Plexiglassäule die Erfolge von Schü-
Randerscheinung des rasenden Autoverkehrs vorgese- lern und Schule dokumentieren.
hen sind. Und dann gibt es die anderen Straßen, die Mitmachen kann bei dem Wettbewerb auch in die-
Straßen zum Bummeln, Schlendern, Spielen, Einkaufen, sem Jahr jeder, und zu gewinnen gibt es wieder zwei
Herumsitzen, Klönen. Die Straßen, die Menschen mit Preise, die mit jeweils 2500 Euro dotiert sind: den Jury-
Geselligkeit füllen, indem sie Baumscheiben bepflanzen, preis und den Publikumspreis (alle weiteren Details
Bänke aufstellen, Flohmärkte veranstalten. Die Straßen zum Wettbewerb finden Sie auf Seite 99 und unter
für Menschen, für Nachbarn, für Freunde. Die Lebens- www.spiegel.de/socialdesignaward).
ROBERT SAMUALL HANSON / SPIEGEL WISSEN

straßen. Jurymitglieder des Social Design Award sind in die-


Von solchen Straßen brauchen wir noch viel mehr – sem Jahr: Friedrich von Borries, Künstler und Professor
und auch viel mehr Ideen, wie sich die ganz normalen für Designtheorie an der Hochschule für bildende Küns-
Asphaltstrecken in unserer Nachbarschaft in Lebens- te Hamburg; Jolanthe Kugler, Autorin und Kuratorin
straßen verwandeln lassen. SPIEGEL WISSEN und am Vitra Design Museum; Thorsten Dörting, SPIEGEL
SPIEGEL ONLINE suchen, in Kooperation mit BAU- ONLINE; Marianne Wellershoff, SPIEGEL WISSEN.
HAUS, hierfür die besten Vorschläge: beim Wettbewerb Wer den Social Design Award gewonnen hat, erfahren
„Gute Ideen für unsere Straße“. Zwei Gewinner werden Sie in SPIEGEL WISSEN – in Heft 6, das am 13. Dezember
mit dem Social Design Award ausgezeichnet, der mit erscheint. Vielleicht ist der preisgekrönte Vorschlag ja
jeweils 2500 Euro dotiert ist. Ihrer – oder jedenfalls auch etwas für Ihre Straße?

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Gute Ideen für unsere Straße
Jetzt mitmachen beim Ideenwettbewerb 2016! So kommt Leben in die Straße!

Worum geht es? Wie kann man teilnehmen? Wie läuft der Wettbewerb ab? Was gibt es zu gewinnen?
Straßen sind vollgeparkt, Mitmachen kann jeder! Aus allen Beiträgen stellen Vergeben werden ein
Bürgersteige verwaist, und Die Einreichungsfrist für wir die zehn besten Ideen ab Jurypreis und ein
die Menschen kennen sich den Social Design Award Anfang Oktober 2016 auf Publikumspreis.
höchstens vom Sehen. Das läuft bis zum 31. August 2016. SPIEGEL ONLINE vor. Beide Preise sind jeweils
soll sich ändern: Wir suchen Die Wettbewerbsunterlagen Die Leser können dann ihrem mit 2500 Euro dotiert.
gute Ideen für eine lebens- und das Onlineformular Favoriten eine Stimme geben. Der Rechtsweg
werte und schöne Straße, für die Beiträge gibt es unter Die Gewinner geben wir am ist ausgeschlossen.
in der aus Anwohnern www.spiegel.de/ 13. Dezember 2016 in SPIEGEL
Nachbarn werden. socialdesignaward Wissen 6/2016 und auch auf
SPIEGEL ONLINE bekannt.

In Kooperation mit
www.bauhaus.info

www.facebook.com/bauhaus
www.youtube.com/bauhausinfo
ZWISCHENRUF

„Funkeln wie die


Huren“
Warum wir das Alte nicht
unterschätzen sollten
TEXT JOHANNES SALTZWEDEL I L L U S T R AT I O N CECILE DORMEAU

„JEDE GENERATION LACHT über Mo- Oder liegt es am Ton? Vielleicht sollten
den, aber folgt den neuen treu“, beobachtete Anhänger des Bestehenden ihre Argumente
der amerikanische Philosoph Henry David bloß ein bisschen weniger larmoyant, eher
Thoreau. Heute ist das Neue selbst die neu- spöttisch vortragen. „Überhaupt hat der
este Mode: Es muss auf jeden Fall das schöp- Fortschritt das an sich, dass er viel größer
ferisch Gewagte sein, die Innovation um je- ausschaut, als er wirklich ist“, stichelte
den Preis, neben der alles Bisherige überholt schon 1847 der Bühnensatiriker Johann Ne-
aussieht – vom einträglichen Patent bis zum pomuk Nestroy. Nicht minder launig hat der
bloß umgestylten Logo. Philosoph Odo Marquard in seinen Essays
Aber ist Frische der Frische wegen nicht vorgeführt, wie Machbarkeit – zumal des
selbst schon Ideologie? Liegt das Heil wirk- Neuen – regelmäßig an dem scheitert, was
lich in der Novität? Menschen vergangener man altmodisch Schicksal nennen könnte.
Zeitalter hätte das heute geradezu hek- Für das verflixt kurze Leben des Menschen
tische Neuerungstempo tief verstört: „Re- seien „Üblichkeiten“ nicht nur unvermeid-
rum novarum cupidus“ (auf Neues begierig) lich, sondern ein Segen. Zukunft brauche
zu sein, das war im alten Rom gleichbedeu- immer Herkunft, Zufriedenheit trainiere
tend mit staatsgefährdendem Umstürzler- man am besten durch konservative Skepsis,
tum. Noch im Mittelalter bemäntelte man und für Neues gelte: „Die Beweislast hat der
einen philosophischen Geistesblitz nach Veränderer.“
Möglichkeit als Rückkehr zur ewigen, gött- Natürlich war das nicht als Freibrief für
lich garantierten Weltordnung. Erst seit einfallslose Faulpelze gemeint. Aber mit
Beginn der Neuzeit haben Innovateure in dem netten alten Sprichwort „If it ain’t
den meisten Lebensbereichen freie Hand, broke, don’t fix it“ – frei übersetzt: Was funk-
vor allem infolge des wirtschaftlichen Wett- tioniert, brauchen wir doch nicht zu repa-
bewerbs. rieren – lässt sich Neuerungssüchtigen
Natürlich melden sich immer mal Zweif- schon recht gut entgegentreten. Alles wei-
ler. So hat der Lyriker Rainer Maria Rilke tere Beharrungsvermögen, in Fachkreisen
schon um 1900 vor der Rastlosigkeit der als Trägheit bekannt, hat eigentlich gar kein
großen Städte gewarnt: „Und ihre Men- Plädoyer mehr nötig: Physisch wie mora-
schen dienen in Kulturen / und fallen tief lisch kann man, was schon da ist, gewöhn-
aus Gleichgewicht und Maß / und nennen lich nur recht mühsam aus der Welt schaf-
Fortschritt ihre Schneckenspuren / und fah- fen; im Universum steht folglich das Neue
ren rascher, wo sie langsam fuhren / und prinzipiell unter Bewährungsdruck, nicht
fühlen sich und funkeln wie die Huren / erst seit Darwin.
und lärmen lauter mit Metall und Glas.“ Bis Und für alle, die glauben, beim Wissen
hin zur ökologischen Wachstums- und Kon- sei das anders, ist da noch die Anekdote vom
sumkritik gab und gibt es etliche solcher Chef der Bonner Sternwarte. Als Preußens
Stimmen, doch fast immer bilden sie eine König Friedrich Wilhelm IV. ihn bei einer
Minderheit. Visite 1845 fragte: „Na, Argelander, was gibt
Wer vom Reiz des Neuen mit seinen an- es Neues am Himmel?“, erwiderte der As-
geblichen Vorzügen unbeeindruckt bleibt, tronom: „Kennen Majestät schon das Alte?“
gilt als Spielverderber, Reformbremse und
törichter Antimodernist. Stillstand, so heißt
Johannes Saltzwedel hat besondere Freude
es dann, behindert das Wachstum; Rück- daran, sich unerwartet bei einem Einfall zu
wege können nur Rückschritte sein. ertappen – und sei es bloß ein flapsiger Kalauer.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 101


PUTPUT / SPIEGEL WISSEN

102 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


3

RAUSCH DES NEUEN

Die Digitalisierung fordert uns heraus mit dem enormen


Tempo ihrer Erneuerungen. Unvorstellbares wird
möglich, aber im Wandel bleiben auch gute Traditionen
zurück. Das rechte Maß müssen wir selbst finden.

„Man muss systematisch eine „Die Leute da im Silicon „Kreativität entsteht immer im
neue Idee entwickeln. Es ist Valley liegen fundamental Auge des Betrachters. Es gibt
nicht mehr wie in der deutschen daneben mit ihrem naiven nichts objektiv Neues, das hängt
Romantik, dass man in den Wald Glauben, dass Technologie vom Beobachter, vom
geht und darauf wartet, dass prinzipiell die Welt verbessert. Interpreten ab, der etwas als
einem eine Idee kommt, weil Dafür gibt es mehrere offen- neu anerkennt und von
der Geist in einen hineinfährt.“ sichtliche Gegenargumente.“ etwas Altem unterscheidet.“

Gerold Muhr, Geschäftsführer Jared Diamond, Evolutionsforscher Andreas Reckwitz, Soziologe


Seite 110 Seite 118 Seite 126

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 103


A N D E R S L E B E N

„Heiterkeit
im Raum“
U M F R AG E I I I : WO F E H LT E S
A N I N N OVAT I O N ? E I N E
A N T WO R T VO N M A R G OT
K Ä S S M A N N , 57, B OT S C H A F -
T E R I N D E S R AT E S D E R
E VA N G E L I S C H E N K I R C H E
IN DEUTSCHLAND

„IN MEINEM Bereich wünsche ich


mir mehr Innovation in Gottesdiensten.
Menschen sollten spüren, dass sie will-
kommen sind, dass es Orte sind, an de-
nen es nicht nur um Konsum und Geld
geht, sondern um Sinn und Seele. Wenn
viele sich beteiligen, die Musik das Herz
anrührt und die Predigt die Gottes-
dienstbesucher konkret in ihrer Lebens-
situation anspricht, auch wenn etwas
Heiterkeit im Raum ist und anschlie-
ßend Zeit ist für ein Gespräch bei Kaffee
und Tee, dann kann das zum bestärken-
den Erlebnis werden für den Alltag.“

Margot
Käßmann
Lauter kluge Köpfe: der In-
formatiker Vincent Cerf, der
ehemalige US-Präsident
Jimmy Carter, die Neurolo-
gin Rita Levi-Montalcini

Angeknipst
Weitere Antworten aus unserer Umfrage finden
Sie auf unserer Facebook-Seite unter
www.facebook.com/spiegelwissendasheft.

P E T E R B A D G E P O R T R ÄT I E R T N O B E L P R E I S T R ÄG E R .
„Ich verstehe nicht,
warum die Menschen „WARUM WOLLEN SIE alte Männer fotografieren?“, fragte der 82-jährige Atomphysiker
Hans Georg Dehmelt den Fotografen Peter Badge, als dieser ihn in Los Angeles besuchte.
Angst vor neuen Doch Badge hat gute Gründe: Seit 2001 macht er Bilder von Nobelpreisträgern, will die
Ideen haben. Ich habe Menschen hinter der Wissenschaft sichtbar machen. Die meisten der Fototermine sind
derart entspannt und informell abgelaufen, dass Badge nun auch ein Buch mit anekdoti-
Angst vor den alten.“ schen Berichten über seine „Weltreise“ herausgebracht hat. Man erfährt, dass Desmond
Tutu Football liebt, Doris Lessing eine launische Katze hatte und Jimmy Carter es hasst,
J O H N C AG E
wenn Technik nicht funktioniert. (Peter Badge, Sandra Zarrinabal: „Geniale Begegnun-
gen: Weltreise zu Nobelpreisträgern“. Daab; 576 Seiten; 29,95 Euro)

104 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


ANDERS LEBEN

Soll das so?


D I E S E H AC K E R W I L D E R N I M
ÖFFENTLICHEN RAUM.

SCHON MAL VON „Cultural Hacking“ gehört? Bei dieser Spielart


der Street Art werden öffentliche Gegenstände, gern Schilder oder
Werbeflächen, verfremdet und umgewidmet: Auf der Plakatwand
eines Zoos wird etwa der Pinguin durch ein heimisches Tier ersetzt
und eine Wildtier-Schutzparole zugefügt. Auf dem Poster eines
konservativen Politikers wird ein Wahlversprechen klammheimlich
umgetextet zu „Voller Einsatz für die gleichgeschlechtliche Ehe“.
Eine große Zahl solcher subversiven Aktionen haben Dozenten der
Zürcher Hochschule der Künste und der HDK Bern in einem Blog
zusammengestellt. Viele der Kunstprojekte stammen übrigens ganz
offiziell aus studentischen Projekten der beiden Unis. cultural
hacking.wordpress.com.
PETER BADGE / TYPOS1 (3), KONTRASTMOMENT.DE, DAVID BALTZER / BILDBUEHNE.DE, THOMAS MEYER / OSTKREUZ, ESRA ISIKLAR / CULTURALHACKING.WORDPRESS.COM

„Wissensrausch“
GRÜNDERIN HANNAH HURTZIG ÜBER IHRE
„ M O B I L E AC A D E M Y “ , B E I D E R W E LT W E I T E X P E R T E N
U N D P U B L I K U M I N D I A LO G T R E T E N .

PA PIE RE, SPIEGEL: Frau Hurtzig, Sie haben eine Rei- vor Ort und entdecken spezifische Themen:
BITT E! he von Performanceabenden erfunden als
„Schwarzmarkt für nützliches Wissen und
In Liverpool, einer kämpferischen Stadt,
die historisch viele Niederlagen ertragen
Nicht-Wissen“. Inszeniert werden 100 musste, war das Thema „Müll“.
DESIGNER UND Zwiegespräche, Experte und Zuschauer sit- SPIEGEL: Werden die Abende aufge-
F L Ü C H T L I N G E G E S TA LT E N zen sich gegenüber. Warum? zeichnet?
Z U S A M M E N PÄ S S E . Hurtzig: Im Dialog entsteht ein anderer Hurtzig: Wir haben mittlerweile 1000 Ge-
Austausch als bei Vorträgen oder Talk- sprächsmitschnitte in einem Archiv
„WER SICH Integration wünscht, soll- runden. Man muss miteinander gesammelt. Entscheidend ist
te Geflüchtete legitimieren.“ Aus die- verhandeln, hofft auf Ver- aber, was Zuschauer erleben:
sem Gedanken heraus entwickelten De- ständnis, es ist mehr Zeit, Sie navigieren sich selbst
signer der Münchner Agentur Kon- über Missverständnisse durch den Abend, kon-
trastmoment die Idee, zusammen mit und Vorurteile zu spre- struieren quasi eine eige-
Flüchtlingen in einem Kreativwork- chen. Wir beschreiben ne Wissenserzählung.
shop auf eigene Faust Reisepässe zu ge- das oft mit einem Satz SPIEGEL: Warum ist
stalten. Gemeinsam malten sie kleine von Oswald Wiener: „Erst das reizvoll?
Geschichten oder stempelten Parolen als ich hörte, wie du mich Hurtzig: Wahrscheinlich
wie „SOS“ in die gebastelten Reise- verstehst, wusste ich, was weil ein öffentlicher Raum
dokumente. Das Projekt „Servus Refu- ich gesagt hatte.“ Dabei ent- bereitsteht, in dem das loka-
gee“ soll nicht nur Kontakt und Kom- stehen neue Erkenntnisse. le Wissen sich mit Wissen-
munikation fördern, sondern auch sym- SPIEGEL: Passen die jeweiligen schaft und Weltwissen trifft und vo-
bolische Geste sein. Die hat offenbar Themen eigentlich zu den Städten, in de- rübergehend ein kollektiver Wissensrausch
Eindruck gemacht: Für das Projekt be- nen Sie gastieren? entsteht.
kam das Team jetzt den German Design Hurtzig: Wir wollen lokales Wissen sicht- Infos unter mobileacademy-berlin.com oder
Award. bar machen, deshalb suchen wir Experten www.blackmarket-archive.com.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 105


S E L B E R M A C H E N

Schönschrift üben
Als Anna-Maria Koy zum ersten Mal die mit der Feder gezeichneten
Schriftzeichen einer Künstlerin sah, hatte sie sofort Lust, das Kalligrafieren
auszuprobieren. Seitdem schreibt sie abends Goldbuchstaben.

106 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


S E L B E R M AC H E N

Die Welt begreifen


Mitten in der Digitalisierung ist das Handarbeiten so
populär wie noch nie. Wie passt das zusammen?
TEXT MAREN KELLER F OTO S ILONA HABBEN

NACH EINEM VOLLZEITARBEITSTAG, Häkeldecken, die im Wohnzimmer auf den quellen, sie tingeln von Designmarkt zu De-
unten in der spiegelfassadenglatten Hafen- nächsten Regentag warten. Die Nachricht, signmarkt wie Schausteller über Jahrmärk-
City mit Blick auf die Elbphilharmonie, setzt dass Stiftehersteller in Sonderschichten pro- te. Man kann auf Etsy ganz hervorragend
sich Anna-Maria Koy abends an den Tisch duzieren, weil so viele Deutsche das Ausma- bedruckte Geschirrtücher oder Holzfinger-
in ihrer Hamburger Wohnung, um der Welt len für sich entdeckt haben. Den Strickklub ringe mit Landschaftsmotiven kaufen. Vor
ihre eigene Handschrift zu verpassen. Sie im Wollladen des Vertrauens, der jetzt Knit allem aber kann man auf Etsy ganz hervor-
taucht eine Schreibfeder in Tinte, schwarz Nights anbietet. ragend sehen, dass die Do-it-yourself-Hand-
oder gold, und führt die Hand über das Blatt. Während die Welt digital geworden ist, arbeitskultur längst von einer Gegenbewe-
Koy ist Kalligrafin. wollen wir plötzlich wieder selbst Bier brau- gung zu einem Massenphänomen geworden
Zumindest am Abend. Tagsüber tippt en und selbstgesiedete Seife kaufen. ist. Und dass es nicht nur ums Machen geht,
Koy Buchstaben in ihren Computer. Sie ar- Das ist das Etsy-Paradox. sondern auch ums Nachmachen.
beitet für ein Hochzeitsportal, ist den gan- Und dafür ist auch Lisa Blum-Minkel ver-
zen Tag damit beschäftigt, Bildstrecken zu antwortlich. Blum-Minkel entwickelt Bastel-
durchsuchen und Trends zu entdecken und anleitungen für Zeitschriften. Gerade sitzt
zu prognostizieren, was den Leuten gefällt. sie an einem Projekt für die „Landlust“.
Koy ist 29 Jahre alt und von Selfie-geschul-
ter Schönheit. Sie fotografiert und schreibt „Ausmalen ist WANN IMMER eine Zeitschrift gern eine
einen Modeblog, für den sie sich regelmäßig Strecke hätte mit Filzanhängern oder Strick-
die schönsten Kleider von überall her schi-
Yoga mit pullovern für den Winter, meldet sie sich bei
cken lässt. Koy ist gut darin, die Dinge zu Buntstiften.“ Blum-Minkel. Dann geht Blum-Minkel in
finden, die bald jeder gut finden wird. ihr Atelier und zieht eine ihrer Arbeitsschür-
Auf einer Messe, die sie für ihren Job be- zen an. Sie besitzt eine Schürze zum Nähen,
suchte, sah sie die Kalligrafien einer Künst- eine zum Malen, eine für Dreckarbeiten, wie
lerin und bekam sofort Lust, das auszupro- sie das sagt, und eine gute, auf die sie selbst
bieren. in zögerlicher Schreibschrift „the future is
Es gibt ja den alten Schnack über die mo- Etsy ist ein Onlinemarktplatz für Selbst- female“ gestickt hat. Sie hat sich damals viele
derne Kunst, bei deren Anblick jeder Muse- gemachtes. Das E-Bay des Bastelns, wenn Gedanken gemacht über die hohe Anzahl
umsbesucher denkt: Das kann ich auch! Im man so will, nach dessen Vorbild sich in weiblicher Analphabeten, deshalb sollte die
Bereich der Handarbeiten wird er gerade Deutschland Dawanda gegründet hat. Bei Schrift so unbeholfen aussehen. Und über
immerzu wahr. Etsy trifft alles zusammen – das Selbstge- den Zusammenhang zwischen Feminismus
Immer gibt es die eine Freundin, die ge- machte, das Digitale, die Lust an der Kreati- und Handarbeit denkt sie sowieso nach. So
rade in einem Kurs das Sockenstricken ge- vität und die Zwänge. Wegen dieser E-Com- ist das mit der Schürze, und so ist das auch
lernt hat. Die Mitbewohnerin, die ein Stick- merce-Plattformen geht es bei vielen Sel- mit allem anderen, was Blum-Minkel macht.
set aus dem Bastelladen mit nach Hause bermachern nicht mehr nur um Zeitvertreib, Hinter allem, was sie stickt, steckt eine Ge-
bringt, für den nächsten Fernsehabend. Die sondern auch um Vertrieb, auch wenn we- schichte oder mindestens ein Gedanke.
Bekannte, die sich jetzt Bienen auf dem nige als Verkäufer davon leben können. Vie- Blum-Minkel ist jetzt bald 50 Jahre alt,
Hausdach hält. Die eigenen angefangenen le haben eine ganze Reihe von Einnahme- auch wenn sie sich eine freundliche Mäd-

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 107


S E L B E R M AC H E N

chenhaftigkeit bewahrt hat, die sie zwischen


den Mittzwanzigern in den Szenecafés
kaum auffallen lässt. Sie ist auf einem Bau-
ernhof aufgewachsen mit einem Großvater,
der der Überzeugung war, dass jeder
Mensch eine Reihe von Fertigkeiten besit-
zen müsse, und seiner Enkelin deshalb zum
Beispiel das Knopflochsticken beigebracht
hat. Später hat sie dann eine Lehre zur
Schneiderin gemacht und Modedesign stu-
diert, ein paar Jahre als Trendscout in Paris
gearbeitet, bis die Sehnsucht nach dem Be-
nutzen der eigenen Hände sie zurück ins
Atelier getrieben hat. Seitdem schreibt sie
Anleitungen. Blum-Minkels Auftragsbuch
ist ein besserer Beleg für die Sehnsucht nach
Kreativität, als es jede Statistik sein könnte.

ALS SIE DAMIT ANGEFANGEN hat, gab


es keine Smartphones und keine MacBooks,
kein Instagram, kein Pinterest und keine Do-
it-yourself-Blogs. Kein Etsy, kein YouTube,
kein Dawanda. Weder die Strickcommunity
ravelry noch den Lieferdienst supercraft,
der Abonnenten sechsmal im Jahr Bastel-
sets samt Anleitungen vor die Tür stellt, na-
türlich immer saisonal abgestimmt, gleich
neben die Gemüsebox vom Biobauern.
„Ich liebe das Internet“, sagt Blum-Min-
kel. Und dann kommt das große Anderer-
seits.
Denn wenn man Blum-Minkel fragt, wie
sich das Selbermachen in dieser Zeit verän-
dert hat, sagt sie: „Es ist heute viel, viel per-
fekter.“ Allein schon dadurch, dass man es
später auf Instagram zeigen wolle. „Diy“ –
Do it yourself – stand einmal für stolzen
Dilettantismus. Heute sollen die gekauften
Waren möglichst selbst gemacht aussehen
und das Selbstgemachte wie gekauft.
Wenn Blum-Minkel über neue Projekte
nachdenkt, nutzt sie deshalb weder Pinte-
Taschen nähen
rest noch Instagram und am liebsten auch Weiches Rindsleder, durchdachte Riemen – in einer kleinen
sonst keine Plattform im Internet. In ihrem Sattlerei, in der die Werkzeuge ihres Großvaters hängen, fertigen zwei
Atelier hütet sie antiquarische Bücher über Schwestern mit ihrem Bruder Taschen und verkaufen sie auf Etsy.
Handarbeitstechniken, die sie ihre Bibeln
nennt. Als sie noch in Paris wohnte, hat sie
am Liebsten in der Fachbibliothek im
Louvre recherchiert, und wenn sie auf mich nicht gut. Ich bin dann nicht mehr bei zu verlieren. Und dann gibt es noch die an-
Ideensuche ist, besucht sie lieber Flohmärk- mir.“ deren, denen es nicht darum geht, eine ei-
te als Facebook. Und manchmal fragt sie sich schon, wa- gene Stimme zu finden, sondern um Ruhe.
Während die Kalligrafin Koy die besten rum in Japan die gleichen Taschen genäht Nicht um Absatzzahlen, sondern ums Ab-
Blogs und die schönsten Styled Shoots werden wie in Berlin. Oder warum plötzlich schalten.
kennt, also inszenierte und ausstaffierte Fo- jeder die Ananas liebt und in manchem Ins- Wie sonst ließe sich der erstaunliche
tosessions, und eigentlich immer im Inter- tagram-Stream mehr von diesen Früchten Verkaufserfolg der Ausmalbücher für Er-
net unterwegs ist, stellt Blum-Minkel zu finden ist als auf jedem exotischen Ho- wachsene erklären, die ein Schaffen in en-
manchmal auch für Tage ihr Smartphone tel-Buffet. Ananas-Aquarelle. Ananas-Sti- gen Grenzen versprechen. Eine manuelle
aus: „Ich sehe sonst so viele tolle Sachen ckereien. Ananas-Prints. Tätigkeit in fertigen Formen. Ausmalen ist
und merke, wie die Stunden vergehen. Koy will die tollsten Produkte finden. Yoga mit Buntstiften. Eine Entspannungs-
Dann mache ich das Internet aus und fühle Blum-Minkel sorgt sich darum, ihren Stil übung, bei der es darum geht, dass alles

108 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


„Es schwingt immer
eine Sehnsucht nach
Tradition mit und
nach Geschichte.“

überschaubar bleibt, nicht darum, ob es an-


sehnlich wird.
In den letzten Jahren hat Blum-Minkel
viel gestickt. Für einen Verlag hat sie ein
Stickbuch entwickelt. Ganze Stunden, ganze
Tage hat sie mit Sticken zugebracht, und da-
bei hat sie genau dieses Gefühl kennenge-
lernt, nach dem die Workaholic-Seele giert.
„Nach 20 Minuten Sticken wird alles ganz
sauber in meinem Kopf“, sagt sie.
Handarbeit ist Reinemachen in der Seele.
Handarbeit ist das wortwörtliche Begrei-
fen der Welt.
Blum-Minkel ist fest davon überzeugt,
dass die Freude am Selbermachen aus der
Sehnsucht kommt, verstehen zu wollen, wie
die Dinge funktionieren. Wer in seinem All-
tag immer von Geräten umgeben ist, die er
zwar bedienen kann, aber niemals selber
bauen könnte, wolle wenigstens im Kleinen
wissen, warum Brotteig gehen muss oder
wie der Knopf an der Hose hält.

DIE DIGITALISIERUNG liefert die Anlei-


tungen dazu. Auf YouTube gibt es Tutorials
für den Perlstich, in Foren Anleitungen für
Sessel und Tische. Es sind goldene Zeiten
für Autodidakten. Theoretisch kann jeder
Nähen, Bauen, Sägen lernen, ohne je einen
Kurs zu besuchen oder eine Lehre zu ma-
Bilder sticken
chen oder einen Großvater zu haben, der Viele Tage lang hat Lisa Blum-Minkel gestickt,
das Knopflochsticken beherrscht. als sie für ein Buch Anleitungen entwickelt hat. „Nach 20
Selbstgemachtes ist nicht zufällig zu eben Minuten wird alles sauber in meinem Kopf“, sagt sie.
jener Zeit populär geworden, in der Ge-
brauchtes plötzlich „Vintage“ hieß und in
Mode kam. Seitdem wächst sie immer weiter,
diese Sehnsucht nach Tradition und nach vor irgendjemand das Wort „upcycling“ be- Produkt. Der Erfolg der Tasche erzählt vom
Geschichte. Den Beweis dafür kann man nutzt hat. Jetzt hängen die Werkzeuge des Heimweh der digitalen Weltbürger.
zum Beispiel in der kleinen Sattlerwerkstatt Großvaters an der Werkstattwand seiner En- Einem Heimweh, das sich nur mit dem
finden, in der drei Geschwister eine Tasche kelin. Und die Geschwister nähen dort Ta- Töpfern von Broschen oder dem Gießen von
produzieren. „Die Beiden Drei“ nennen sie schen, die sie in ausgewählten Läden, auf Duftkerzen oder dem Stricken von Socken
ILONA HABBEN / SPIEGEL WISSEN

sich. Eine der Schwestern hat eine Ausbil- Etsy und auf Messen verkaufen. Es sind schö- oder dem Tragen dieser Taschen stillen lässt.
dung zur Sattlerin gemacht, genau wie ihr ne Taschen, aus weichem Leder und mit maren.keller@spiegel.de
Großvater, der Karl Oeltjen hieß und immer durchdachten Riemen. Aber wann immer es
so viele Geschichten zu erzählen wusste, um die Tasche geht – bei Wettbewerben oder
dass die Kunden extra Zeit einplanten, und in Designzeitschriften –, geht es irgendwann
Maren Keller hat den Herbst damit
der sich einen Briefkasten aus einem alten um den Großvater, um das Fortführen von zugebracht, ihrem Pferd eine Ab-
Regenrohr selbst gebaut hat, lange noch be- Traditionen, um die Geschichte hinter dem schwitzdecke aus Islandwolle zu stricken.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 109


A N T WO R T E N

W I E S I N D S I E K R E A T I V ?

Mascha Winkels, 25, Studentin, Köln


Privat lebe ich meine Kreativität aus, indem ich schreibe. Das
mache ich seit meinem elften Lebensjahr. Ich habe bereits
viele Kurzgeschichten geschrieben und auch einen Roman,
der aber nicht veröffentlicht ist. Außerdem habe ich viele Jah-
re lang Tagebuch geschrieben, aber inzwischen habe ich damit
aufgehört, weil ich im Journalismusstudium schon so viel
schreiben muss, Reportagen beispielsweise. Wenn ich schla-
fen gehe, liegt immer ein Buch neben mir. Darin schreibe ich
alles auf, was mir nachts einfällt.

Isabell Derenthal, 22, Studentin, Köln


In meinem Medien- und Kommunikationsdesignstudium bin
ich jeden Tag kreativ. Aber ich liebe es auch, am Wochenende
fotografieren zu gehen. Alles, was mir vor die Linse springt,
fotografiere ich, Menschen und Objekte. Außerdem koche
ich gern für Freunde und bin auch in der Küche kreativ: Ich
schaue einfach in den Kühlschrank und mixe etwas zusam-
men. Dadurch, dass ich ein eher chaotischer Mensch bin, bin
ich quasi gezwungen, kreativ zu sein, um mein Leben über-
haupt auf die Reihe zu bekommen.

Gerold Muhr, 46, Hochschul-


geschäftsführer, Berlin
Sicherlich bin ich auch kreativ, aber
nicht im klassischen Sinn. Ich leite
eine Designhochschule. Mein Job be-
steht darin, neue Geschäftsideen und
Studiengänge zu entwickeln. Inspi-
ration „finde“ ich nicht, sie ist eine
berufliche Notwendigkeit. Über-
haupt, Inspiration? Die ist auch nur
eine Arbeitstechnik, ein System.
Man muss systematisch eine neue Buyuan Liu, 26, Antwan Lymore, 26, Coach und
Idee entwickeln. Es ist nicht mehr ehemalige Architektin, Peking Choreograf, Norderstedt
wie in der deutschen Romantik vor Bis vor Kurzem war ich Architektin, Ich denke mir Choreografien für die
200 Jahren, dass man in den Wald da musste ich kreativ sein. Das hat Cheerleader-Mannschaft aus, die ich
geht und darauf wartet, dass einem mir gefallen, aber es war auch schwer, trainiere. Meiner Kreativität sind
eine Idee kommt, weil der Geist in denn alle guten Ideen hat irgendwer dabei kaum Grenzen gesetzt, denn
einen hineinfährt. irgendwann schon gehabt. In der Ar- das Spektrum der möglichen Bewe-
chitektur kann man nichts völlig Neu- gungen ist sehr breit: Es gibt Akro-
es mehr erfinden. Meine Inspiration batik, Hebefiguren, Bodenturnen.
habe ich bei großen Planern wie Rem Eine neue Choreografie zu erfinden
Koolhaas gefunden und in der Natur: macht mir jedes Mal wieder Spaß,
Für ein Einkaufszentrum habe ich weil ich mich immer freue, sie genau
mich von den Kurven des Grand Can- auf das jeweilige Team abstimmen
yons inspirieren lassen. Ich liebe zu können. Meine Inspiration be-
Kunst und Architektur. Aber die Be- komme ich durch die Musik, manch-
zahlung ist so schlecht, das ich in die mal auch aus Videos auf YouTube.
Finanzbranche wechseln musste, um Für mich ist Kreativität alles: Hobby,
mehr zu verdienen. Leben, Alltag.

110 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


A N T WO R T E N

Helga Pfeiff, 69,


Rentnerin, Hamburg
Ich dekoriere Schaufenster in einem
Geschäft des Hilfsorganisationsver-
bundes Oxfam. Da arrangiere ich die
Secondhandkleidung und andere ge-
spendete Gegenstände so, dass es
zum Kauf anregt. Alle zwei Wochen
wird das Schaufenster nach einem
anderen Motto gestaltet – Ostern, Ski-
fahren oder Afrika. Zu Hause mache
Heinz Schröder, 63, Rentner, ich jetzt Origami, nur für mich. Das Bärbel Behnke, 58,
Wuppertal ist gar nicht so einfach. Buchhalterin, Meldorf
Ich spiele seit 57 Jahren mit Modell- Beim Stricken, Häkeln, Nähen und
eisenbahnen. Ich habe sogar noch Reparieren. Beispielsweise habe ich
die alten Sachen von damals, als ich schon eine Hose in eine Tasche um-
sechs Jahre alt war. Jetzt, im Ruhe- gearbeitet. Ich stricke und häkele Pul-
stand, beschäftige ich mich zwei, lover, Schals, Mützen, Socken, früher
drei Tage in der Woche damit, von auch die klassischen Toilettenrollen-
morgens bis abends. Früher habe ich überzüge. Ich mache das, weil ich im-
mein Hobby im Keller ausgeübt, aber mer etwas zu tun haben muss. Wenn
inzwischen habe ich dafür einen ich untätig vor dem Fernseher sitze,
großen Raum in der ersten Etage. fange ich an, an meinen Fingern zu
Ich baue komplette Anlagen, die pulen, das habe ich von meiner Mut-
Technik, die Hintergrundbilder, die ter. Häkeln und Stricken kann ich
Beleuchtung und alles, was dazu- schon länger als Lesen und Schreiben.
gehört. Ich denke mir Landschaften
aus und ganze Fantasiestädte. Meine
Inspiration hole ich mir im Miniatur-
wunderland und in der echten Welt,
zum Beispiel bei der Rügenschen Bä-
derbahn. Die Technik hat sich sehr
verändert, heute ist alles digital, es
gibt Leuchtdioden, und man steuert
die Anlage per Handy. Ich baue auf,
ich baue um, ich baue ab. Es kommt
immer wieder etwas Neues raus, das
baut man dann ein.

Jens Vollbrecht, 54,


Heilerzieher, Hamburg
Ich fotografiere Landschaften. Als
Krischan Göttsch, 30, Heilerzieher arbeite ich im Schicht-
Matrose in der Binnenschifffahrt dienst, sodass ich oft frei habe, wenn
Ich zeichne und male, ausschließlich Maritimes. Na andere Menschen arbeiten müssen.
ja, ab und zu auch mal ein paar kleine Skizzen von Manchmal stehe ich um vier Uhr
meinen Mitarbeitern. Und manchmal politische Ka- morgens auf, ziehe los und fotogra-
rikaturen. Ich zeichne schon seit frühester Kindheit. fiere den Wald oder die Stadt. Dann
Drei-, viermal in der Woche setze ich mich abends ist noch kein Mensch unterwegs, und
eine Dreiviertelstunde lang hin – das macht den Kopf die Welt sieht ganz anders aus.
frei, und das Kreative will ja raus. Ich zeige die Bilder
eigentlich keinem, das ist überwiegend für mich. Aber
manche sind so gut geworden, dass ich sie tatsächlich Texte: Charlotte Klein
aufgehoben habe. Fotos: Maria Feck

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 111


all er
DISRUPTION

Mit

vation unse rer Zeit –


r un g ist d ie größte Inno
Die Digitalis ie
ig en , w ie si e G es ch äf ts m odelle, Branchen
sechs Beispiele ze
ig e u m g e k re mpelt hat.
n d g a n z e W irtschaftszwe
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112 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


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TEXT SUSANNE WEINGARTEN

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SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 113


DISRUPTION

Spotify vs. CD
Wer über FÜNFZIG ist , erinnert sich noch an Plat-
ten, dann kamen Kassetten und der Walkman, dann
CDs, dann MP3 und der iPod – aber inzwischen kann
man getrost alle Tonträger verschrotten. Streaming-
dienste wie Spotify sorgen dafür, dass praktisch die
gesamte Musikgeschichte jederzeit und überall übers
Internet verfügbar ist. Statt fürs Einzelprodukt zahlt
man, wenn überhaupt, fürs Musikabo. Spotify, 2006
gegründet und inzwischen in 60 Ländern verbreitet,
hat derzeit 30 Millionen zahlende Abonnenten.

Wikipedia vs. Lexikon


Dass ganz normale Menschen gemeinsam und
umsonst eine brauchbare Enzyklopädie erstellen könn-
ten: Dieser Gedanke wurde Anfang des Jahrtausends
souverän bespöttelt. Wer sollte Wikipedia brauchen,
wenn doch der Brockhaus oder die Encyclopaedia Bri-
tannica im Regal standen? Heute ist das vom Internet-
unternehmer Jimmy Wales gegründete, kostenlose und
gemeinnützige Lexikon die am siebthäufigsten aufge-
rufene Website der Welt, mit über 37 Millionen Artikeln
in etwa 300 Sprachen. Und die Spötter sind verstummt.

114 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


DISRUPTION

E-Bay vs. Ladengeschäft


Wer früher Omas Blümchenporzellan ver-
hökern wollte, ging auf den Flohmarkt oder gab eine
Kleinanzeige im Anzeigenblättchen auf. Dann kam E-
Bay. Das 1995 gegründete Unternehmen (Umsatz 2015:
8,6 Milliarden Dollar) begann mit Onlineprivatauktio-
nen – ein kaputter Laserpointer war der erste verstei-
gerte Artikel –, inzwischen verkaufen dort neben
Hausfrauen und Hobbysammlern längst Millionen
Händler ihre Waren. Auch Kleinanzeigen kann man
bei Ebay schalten, wie früher, nur im Netz.
JAN PHILIP WELCHERING / SPIEGEL WISSEN

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 115


DISRUPTION

Netflix vs. Videothek


Sie waren meist muffig, billig und anonym,
doch wer sich einen frischen Film für den Couchabend
holen wollte, hatte keine Alternative zur Videothek. Das
änderte sich, als die Datenkanäle so schnell wurden,
dass sich Filme problemlos aus dem Internet streamen
ließen. In Deutschland ist der Branchenführer Netflix
erst seit Herbst 2014 aktiv, weltweit hat das 1997 als
Onlinevideothek in den USA gegründete Unternehmen
75 Millionen Abonnenten in über 190 Ländern und
machte 2015 einen Umsatz von 6,8 Milliarden Dollar.

116 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


DISRUPTION

Uber vs. Taxi


Das wunderbar bürokratisch klingende
„Personenbeförderungsgesetz“ schützt in Deutschland
die Taxibranche, die sich heftig – und mit Erfolg – ge-
gen ihre Deregulierung wehrt. Der umstrittene neue
Konkurrent Uber bietet per App unter anderem Mit-
fahrgelegenheiten in Privatwagen an; kaum ein ande-
res Unternehmen der straff durchkommerzialisierten
„Share Economy“ ficht weltweit derart viele Rechts-
streitigkeiten aus. Trotzdem ist Uber inzwischen in
403 Städten weltweit vertreten; der Umsatz belief sich
2015 auf geschätzte zwei Milliarden Dollar.

Airbnb vs. Hotel


Die Hotellerie sah die Bedrohung nicht kom-
men, Ferienwohnungen hatte es schließlich schon im-
mer gegeben. Doch die Onlineplattform Airbnb (und
ihre Nachahmer), auf der Privatleute Betten, Zimmer
oder ganze Unterkünfte anbieten können, wurde schnell
zur ernsthaften Konkurrenz, gerade bei Jüngeren.
2015 übernachteten weltweit rund 30 Millionen Gäste
in 2,16 Millionen Airbnb-Quartieren, es gab Angebote –
darunter sogar Iglus, Inseln und Schlösser – in 34 000
Städten.
JAN PHILIP WELCHERING / SPIEGEL WISSEN

ANIMATION: Share
Economy - Teilen ist in
spiegel.de/sw022016teilen

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 117


E N T W I C K L U N G

Homogene Kulturen erstarren und überaltern. Das spreche für mehr


Einwanderung, sagt Jared Diamond: „Die Frage ist nur: wie viel?“

„Wer sich gegen


jeden Wandel sperrt,
zerfällt
zwangsläufig“

118 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


ENTWICKLUNG

Diamond: Wandel muss selektiv sein, um


Gesellschaften voranzubringen. Man darf
nicht einfach alles auf den Kopf stellen. Die
Deutschen etwa sollten sicher nie ihre
Wie erneuern sich Gesellschaften? kulturellen Werte aufgeben, die auf Bach,
Kant und Hegel zurückgehen. Gleichzeitig

Wann nützt ihnen die Veränderung? lohnt es sehr, die türkische Minderheit
zu integrieren. Die psychologische For-
schung hat gezeigt, dass es für den einzel-
Der Evolutionsforscher nen Menschen eine Reihe von Indikatoren
gibt, durch  die sich vorhersagen lässt, ob
Jared Diamond rät zur Bereitschaft, jemand mit großen Veränderungen gut
umgehen wird. Aber wie ist das bei Gesell-
von anderen zu lernen. schaften?
SPIEGEL: Das wüssten wir gerne von Ih-
nen.
INTERVIEW THOMAS SCHULZ Diamond: Die Geschichte zeigt, dass die-
jenigen Gesellschaften Herausforderungen
am besten meistern, die bereit sind, von an-
deren Gesellschaften zu lernen. Die Japaner
haben das sehr erfolgreich gemacht.
SPIEGEL: Inwiefern?
SPIEGEL: Herr Diamond, in Deutschland Diamond: Das Land war lange völlig abge-
ist eine erbitterte Debatte darüber entbrannt, riegelt von der Außenwelt. Aber die Japa-
wie unsere Gesellschaft mit den Flüchtlin- ner haben gemerkt, dass sie überrannt wer-
gen umgehen soll, die ins Land strömen. Vie- den würden, wenn sie sich nicht schnell
le sagen: Wir brauchen Immigranten, denn wandeln. Sie haben dann begonnen, sich
nur so kann sich unsere Gesellschaft weiter- das Beste aus der westlichen Welt heraus-
entwickeln. Aber es gibt auch Menschen, die zusuchen, etwa europäische Kleidung und
glauben: Alles muss bleiben, wie es ist, Wan- Militärstrukturen. Und doch haben sie sich
del ist gefährlich. Was lehrt uns die Geschich- nicht wahllos angepasst. Das Gegenteil sind
te der menschlichen Zivilisation? heute die USA: Wandel wird hier gerade
Diamond: Darauf gibt es leider keine ganz nahezu komplett abgelehnt.
eindeutige Antwort. Immigration hat viel SPIEGEL: Das ist erstaunlich, denn Ameri-
mit der Identität eines Landes zu tun. Die ka galt lange als das fortschrittlichste Land
USA zum Beispiel sind schon immer ein Ein- der Welt. Muss man da nicht gerade sehr
wanderungsland gewesen und können da- offen sein für Veränderungen?
mit gut umgehen. Japan dagegen ist stolz Diamond: Die USA versteifen sich zu sehr
PIERRE CROM / GETTY IMAGES, PHOTOCAKE.DE / PLAINPICTURE, STEVE SCHOFIELD / THE GUARDIAN

darauf, sehr homogen zu sein. Und die auf eine Haltung, die sich „American Excep-
Europäer ähneln eher den Japanern. Aber tionalism“ nennt: Wir sind total anders als
diese homogenen Gesellschaften altern nun alle anderen, wir sind außergewöhnlich und
sehr schnell. Das spricht, neben den mora- können deswegen von niemandem etwas
lischen Gründen, für mehr Einwanderung. lernen. Die Deutschen dagegen sind viel
Die Frage ist nur: wie viel? anpassungsfähiger. Nach dem Zweiten Welt-
SPIEGEL: Aber müssen Gesellschaften krieg haben sie das sehr gut gemacht. Das
nicht sogar den Wandel suchen, ist Stagna- habe ich ja hautnah miterlebt.
tion nicht die größte Gefahr? SPIEGEL: Das müssen Sie näher erklären.
JA R E D D I A M O N D Diamond: Ja, aber nur bis zu einem gewis- Diamond: 1961 habe ich in München gelebt
sen Punkt. Mit genau diesem Problem und am Max-Planck-Institut geforscht. Seit-
erforscht den Zusammenhang beschäftige ich mich in dem Buch, an dem dem bin ich Ihrem Land sehr eng ver-
zwischen Natur und Kultur, unter ich gerade schreibe. Der Titel lautet „Krise bunden. Immer wenn ich nach Deutschland
anderem mit Feldstudien in und Wandel“, und es geht um die Frage, wie fahre, nehme ich einen leeren Koffer mit
Neuguinea. In seinem mit einem Nationen mit großen Herausforderungen und fülle ihn mit Andechs-Bier. Und mein
Pulitzer-Preis ausgezeichneten umgehen. Ein Beispiel ist dabei Deutschland Sohn Max ist benannt nach meinem besten
Buch „Arm und Reich“ analysiert nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch Freund in Deutschland. Für mich war im-
er, wie Landschaft und Klima die Finnland zu Beginn des 20. Jahrhunderts mer sehr auffällig, wie Deutschland seine
Entwicklung von Gesellschaften und Japan im 19. Jahrhundert. Vergangenheit viel effektiver aufgearbeitet
determinieren. Diamond, 68, lehrt SPIEGEL: Das sind sehr verschiedene Ge- hat als etwa die Japaner.
heute Geografie an der University sellschaften in sehr verschiedenen Epochen. SPIEGEL: Und das hat die Gesellschaft
of California in Los Angeles. Was vereint sie trotzdem? vorangebracht?

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 119


ENTWICKLUNG

war noch in den Fünfzigerjahren sehr arm,


gehört heute aber zur Ersten Welt.
SPIEGEL: Manche Gesellschaften scheinen
überleben zu können, ohne ständig nach
Wandel zu streben. Papua-Neuguinea zum
Beispiel hat sich über Jahrhunderte fast
allen Veränderungen widersetzt.
Diamond: Das täuscht. Neuguinea hat sich
enorm verändert, seitdem ich 1964 das erste
Mal dort war. Heute tragen dort fast alle
Menschen Kleidung, es gibt Handys, Polizei
und eine gemeinsame Sprache. Und warum?
Weil die Stämme, die sich selektiv angepasst
haben, die anderen überrannten. Wer sich
Diamond sieht „selektiven Wandel“ auch in Deutschland: Traditionen dagegen gegen jeglichen Wandel sperrt, zer-
bewahren etwa die Opernhäuser, Fortschritt brachte die Studentenrevolte. fällt zwangsläufig.
SPIEGEL: Was empfehlen Sie dann den
Gesellschaften, die stagnieren?
Diamond: Eine ganz simple Botschaft: Ler-
Diamond: Ganz klar. Sich mit der Naziver- ne aus der Geschichte! Das hört sich so ba-
gangenheit auseinanderzusetzen führte zur nal an, aber viele Gesellschaften haben das
Studentenrevolte. Und heute ist Deutsch- versäumt. Insbesondere Deutschland in den
land viel weniger hierarchisch geprägt als Dreißigerjahren. Vielleicht auch die USA
noch in den Sechzigerjahren. Auf der ande- heute.
ren Seite gibt es nirgends auf der Welt mehr SPIEGEL: Es gibt unzählige Beispiele aus
Opernhäuser. Also: selektiver Wandel. der Geschichte, von denen wir lernen
SPIEGEL: Aber wie wählt man richtig aus? können. Stattdessen aber treffen Gesell-
Was sind die treibenden Faktoren für Ver- schaften immer wieder Entscheidungen,
änderungen? die geradezu selbstmörderisch sind. In Ih-
Diamond: Das ist die zentrale Frage. Prinzi- rem Buch „Kollaps“ beschreiben Sie etwa,
piell mischen sich zwei Wege, die beide wie die grönländische Wikinger lieber ver-
funktionieren können: Wandel getrieben hungerten, als Fisch zu essen. Wie kann so
von unten, wie im Fall der Studentenre- etwas passieren?
volution. Oder von oben, wie im Fall der Diamond: Ach, es gibt reihenweise Gründe,
Gründung der Europäischen Gemeinschaft, warum sich ganze Zivilisationen dämlich
getrieben von den Visionen europäischer verhalten. Zum ersten natürlich, wenn man
Politiker. Am Ende muss aber jeder Wandel das Problem nicht vorhersieht, da es noch
vor allem kompatibel sein mit den zentralen keine Referenzpunkte gibt aus der Geschich-
Werten einer Gesellschaft. te. Das gilt zum Beispiel für die globale Er-
SPIEGEL: Das heißt? wärmung. Dann gibt es oft Interessenkon-
Diamond: Die Werte in Deutschland und flikte. Das Habsburger Reich modernisierte
Europa basieren viel mehr auf Gemein- sich nicht, weil der Landadel kein Interesse
schaft. Da darf man schon mal einen an der Eisenbahn hatte. Und oft stehen die
Baum auf dem eigenen Grundstück nicht Werte im Weg. In den USA glaubt die Mehr-
fällen, weil das der Gemeinschaft schaden heit der Menschen nicht an die Evolution.
würde. In den USA wäre es dagegen un- Das ist unfassbar und auch nicht besser als
denkbar, auf den Rechten des Individuums die Wikinger.
herumzutrampeln. Auf so etwas muss man SPIEGEL: Können sich unsere modernen
FUTURE IMAGE / IMAGO, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG PHOTO

achten. Gesellschaften etwas bei den traditionellen


SPIEGEL: Wie wirkt sich selektiver Wandel Gesellschaften wie den Amazonas- oder
individuell aus? Wer profitiert von gesell- Neuguinea-Stämmen abschauen?
schaftlichen Veränderungen? Dieser Tage Diamond: Einiges sogar. Wie man gesünder
scheint es oft mehr Verlierer als Gewinner lebt zum Beispiel. Und auch bei der Kinder-
WEITERLESEN zu geben.  erziehung. 
Diamond: Wenn man sich die USA heute SPIEGEL: Angeblich haben Sie Ihre eigenen
JARED DIAMOND: „Kollaps. anschaut, haben Sie recht. Eine immer klei- Kinder wie Neuguineer erzogen. 
Warum Gesellschaften überle- ner werdende Gruppe profitiert immer Diamond: Ja, mit sehr großen Freiheiten.
ben oder untergehen“. Fischer mehr. Doch es gibt auch Gesellschaften, die Eltern in Neuguinea sehen ihre Kinder als
Taschenbuch Verlag; 736 Seiten; durch ihren Wandel mehr Gewinner als Ver- autonome Wesen, denen man nicht einfach
10,99 Euro. lierer produzieren. Südkorea zum Beispiel den eigenen Willen aufzwingt. Als mein

120 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


ENTWICKLUNG
Wie
Kommunikation
Sohn Max drei Jahre alt war, wollte er un- Diamond: Internetzugang ist das geringste
bedingt eine Schlange als Haustier. Wir der Probleme für Neuguinea. Ja, das Inter- in allen
waren nicht begeistert, aber wir haben ihm net bringt Wissen und Fortschritt und da-
den Wunsch erfüllt. Er hat sehr früh ge-
lernt, seine eigenen Entscheidungen zu
mit Wandel. Doch das darf man nicht au-
tomatisch positiv sehen, sondern muss es
LEBENSLAGEN
treffen und dann auch die Konsequenzen eher neutral betrachten: Fortschritt ist im-
zu tragen. 
SPIEGEL: Tatsächlich scheint die Welt
mer gleichzeitig gut und schlecht. Unsere
Lebenserwartung wächst, das ist toll. Wir
gelingt
sich jedoch nicht an Tradition, sondern haben allerdings auch ganz neue Probleme.
am Gegenteil zu orientieren: immer Die Umweltverschmutzung ist nur eines
schnelleren Fortschritt, getrieben durch von vielen Beispielen.
Technologie. Die Silicon-Valley-Konzerne SPIEGEL: Fortschrittliche Gesellschaften
wie Google und Facebook verbreiten dabei sind aber zivilisierter: nicht nur technolo-
sehr aggressiv ihre Überzeugung, dass gisch, sondern auch im Hinblick auf De-
Technik die Menschheit zweifellos voran- mokratie und Wirtschaft. Damit sind doch
bringen werde.  die Überlebenschancen für eine Gesell-
Diamond: Das ist totaler Quatsch. Interes- schaft größer, oder nicht?
santer Quatsch zwar, über den sich treff- Diamond: Das ist halb richtig. Je mehr es
lich streiten lässt, das gebe ich zu. Aber vorangeht, umso größer sind eben die Pro-
die Leute da im Silicon Valley liegen fun- bleme. Zum ersten Mal in der Mensch-
damental daneben mit ihrem naiven Glau- heitsgeschichte tickt eine Uhr im Hin-
ben, dass Technologie prinzipiell die Welt tergrund: Wenn wir die Umweltkatastro-
verbessert. Dafür gibt es mehrere offen- phe in den nächsten 30 Jahren nicht in
sichtliche Gegenargumente. den Griff bekommen, werden wir irgend-
SPIEGEL: Die wären? wann ins Steinzeitalter zurückkatapul-
Diamond: Niemand hat bislang einen Weg tiert.
gefunden, Technologien zu entwickeln, die SPIEGEL: Warum gefährden sich fortge-
nur positive Wirkung und keine Schatten- schrittene Gesellschaften selbst? Müsste
seiten haben. Autos sollten ursprünglich nicht mit wachsender Zivilisation die Welt
den Lärm und Schmutz der Pferdekut- stabiler werden?
schen in den Städten beseitigen, haben Diamond: Denken Sie doch einfach mal
allerdings beides nur verschlimmert. Ge- an den Zweiten Weltkrieg. Zivilisation be-
friergase in Kühlschränken sollten ungiftig deutet auch wachsende Ungleichheit und
für Kühlung sorgen, zerstörten jedoch die gefährlicher werdende Waffen.
Ozonschicht.  SPIEGEL: Wir sind also am Ende nicht
SPIEGEL: Man kann aber auch argumen- besser als die Bewohner der Osterinsel, die 192 Seiten
Klappenbroschur | € 14,99 [D]
tieren: Am Ende überwiegen die positiven einst jeden Baum in ihrem Lebensraum ab-
Auch als E-Book erhältlich
Effekte der meisten Technologien. Moto- holzten?
risierte Fahrzeuge haben die Menschheit Diamond: Wenn man sich den Klimawan-
erheblich vorangebracht, und die Luftver- del anschaut, muss man wohl sagen: nicht
schmutzung bekommen wir langsam in wesentlich. Die Welt so aufzuheizen ist Ob privat oder professionell, direkt
den Griff mit Abgasrichtlinien und Elek- wirklich ein enormer Fehler. Aber viel- oder digital: Wer den richtigen
troautos. leicht geht uns auch einfach das Essen
Diamond: Mag sein, aber die drängendsten aus, weil wir die Meere überfischen und
Ton trifft, ist meist im Vorteil. Doch
Probleme, die den Gesellschaften heute immer mehr giftige Chemikalien in den was ist das Geheimnis gelungener
bevorstehen, sind nicht durch Technologie Boden sickern.  Gespräche? Ausgehend von
zu lösen, sondern durch politische Ent- SPIEGEL: Das klingt alles ziemlich fata-
scheidungen. Wir wissen ja, was zu tun ist, listisch. Werden wir mit zunehmendem neuesten Erkenntnissen der
um die globale Erwärmung zu stoppen: Fortschritt einfach nur besser darin, uns psychologischen Forschung und
Wir müssen den Energieverbrauch redu- selbst zu sabotieren? mit vielen praktischen Tipps zeigen
zieren und mehr erneuerbare Energien Diamond: Das müssen wir uns wohl fra-
einsetzen. Technik hilft da, doch am Ende gen. Es ist wie bei einem Pferderennen: SPIEGEL-Autoren und Experten,
geht es um den politischen Willen.  Auf der einen Seite galoppiert die Selbst- wie wir gut kommunizieren und
SPIEGEL: Die Technikverfechter betonen, zerstörung und auf der anderen Seite der
yÌiÛiÀi`i i°
dass Wissen immer Fortschritt bedeutet. positive Fortschritt, der höhere Lebens-
Gleich mehrere Konzerne arbeiten deswe- standard. Das Tempo wird immer schnel-
gen daran, das Internet mit Drohnen und ler. Aber es ist noch nicht abzusehen, wel-
Satelliten selbst in die entlegensten Winkel ches Pferd gewinnt. 
der Erde zu bringen. Ist das gut für ein SPIEGEL: Herr Diamond, wir danken Ih-
Land wie Neuguinea? nen für dieses Gespräch.

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 121


www.dva.de
ZUKUNFTSLABOR

rector“. Alle Türen sind englisch beschriftet,

Experimente,
„Wood Shop“, „Staff Only“, ebenso die Geräte
und Schubladen in der Küche, „Dishwasher“,
„Trash Bags“, „Cutlery“. Etwa ein Drittel der
Besucher und Kunden spricht kein oder kaum

bitte!
Deutsch; die Szene ist sehr international.
Das erste Fab Lab wurde 2002 an der Eli-
teuniversität MIT in Cambridge, Massachu-
setts, initiiert, das erste deutsche 2009 an
der Rheinisch-Westfälischen Technischen
Hochschule Aachen. Heute gibt es beinahe
In „Fab Labs“ trifft neueste in jeder größeren Stadt eins. „Was wir hier
machen, hat einen riesigen Einfluss darauf,
Technik auf den alten wie wir in 50 Jahren arbeiten und zusam-
menleben“, sagt Jeschonnek – und bremst
Traum einer besseren Welt. die Erwartungen sofort wieder: „Die deut-
schen Industrieunternehmen haben große
Angst, von der Digitalisierung überrollt zu
TEXT TOBIAS BECKER F OTO S KAI MÜLLER
werden. Die meisten Pläne für komplexe, di-
gital gefertigte Produkte sind aber von der
Marktreife noch weit weg.“
Der größte 3-D-Drucker des Berliner Fab
DIE MENSCHEN, die an der Zukunft bas- Labs druckt gerade die Sitzschale eines
teln, blicken auf die Vergangenheit. Auf eine Stuhls. Bis sie fertig ist, vergehen noch zwei
Backsteinfabrik aus dem 19. Jahrhundert, Tage. 3-D-Drucker sind so etwas wie die Sym-
Industrieromantik. Früher brauten die Ar- bole der Fab-Lab-Bewegung. Ihr Verspre-
beiter der Bötzow-Brauerei auf diesem Ge- chen: Jeder kann zum Produzenten werden.
lände Bier, heute sitzen junge Menschen mit Dank ihnen, so die Idee, bauen Start-ups
Mütze an MacBooks und trinken Club-Mate. nicht mehr nur Websites und Apps, sie bauen
Rote und weiße Designerstühle an schlich- Produkte zum Anfassen. Die Hardware.
ten Schreibtischen, unter der Decke Strick-
girlanden. Willkommen im Fab Lab Berlin, DER PRODUKTDESIGNER Olaf Thiele, 30,
15 Fußminuten entfernt vom Alexander- nutzt das Fab Lab, um an seinem Traum zu
platz im Stadtteil Prenzlauer Berg. arbeiten: einem Maßschuh aus dem 3-D-
Die Abkürzung steht für „Fabrication La- Drucker, einem wirklichen Unikat, aufbau-
boratory“, Fertigungslabor. Ein Ort für Ex- end auf einem Scan und einer Druckpunkt-
perimente. Geschäftsführer ist Wolf Jeschon- messung des Kundenfußes. Das weiße, lab-
nek, 33, ein schlaksiger Mann in Turnschu- berige Modell, das Thiele in Händen hält, er-
hen, grauen Chinos und einem dunkelblauen innert jedoch mehr an eine Socke als an ei-
Troyer, einem Arbeitspulli, wie ihn früher nen Schuh. „Im Moment ist noch nicht plan-
Seemänner trugen. Jeschonnek ist in Flens- bar, wo sich das alles hin entwickelt“, sagt
burg aufgewachsen und hat es als Segler bis er. „Das dauert sicher noch ein paar Jahre.“
in die deutsche Nationalmannschaft ge- 3-D-Drucker sind die wichtigsten, aber
schafft; seine Karriere begann mit einer nicht die einzigen Maschinen in einem Fab
Selbermacher: Wolf Jeschonnek hat selbst gebauten Jolle. Später studierte er Pro- Lab. Es geht, ganz generell, um die Digitali-
Produktdesign studiert und 2013 das duktdesign an der Weißensee Kunsthoch- sierung der Produktion. Im Fab Lab Berlin
Berliner Fab Lab gegründet. Der schule Berlin und reiste nach seinem Diplom gibt es auch Näh- und Strickmaschinen, Fo-
3-D-Drucker (r.) ist so etwas wie das drei Monate durch die USA, von Fab Lab zu lienplotter, Lasercutter, CNC-Fräsen. Mit ei-
Symbol der Do-it-yourself-Bewegung. Fab Lab. 2013 gründete er sein eigenes. ner wird gerade die Frontplatte eines Synthe-
Fab Labs sind die Hobbytheken der Ge-
genwart. Öffentlich zugängliche Hightech-
Werkstätten, die digitale Produktionsanlagen
bereitstellen. Viele von ihnen haben politi- Fab Labs
sche Ziele: Widerstand gegen die Wegwerf-
gesellschaft, Befreiung aus den Klauen der sind lokale Werkstätten, in denen Profis
Großkonzerne mit Do-it-yourself. Selberma- wie Laien computergestützte Maschinen
chen als neue industrielle Revolution. Das nutzen können, zum Beispiel 3-D-Drucker.
Fab Lab Berlin ist weniger linksideologisch. Weltweit gibt es mehr als 360 Fab Labs,
Auf der Firmen-Homepage firmiert Je- in Deutschland über 30. Eine Liste
schonnek als „Founder“ und „Managing Di- findet sich unter www.fablabs.io/labs.

122 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 123
mit der Modesta ihre Lichtshow steuern
kann. Zudem ist der Franzose Nicolas Hu-
chet zurzeit für drei Monate zu Gast im Co-
Working-Space. Huchet, ein Star der Szene,
will von Ottobock lernen und Ottobock von
ihm. Das Ziel: Huchets 3-D-gedruckte, bio-
nische Handprothese zu perfektionieren.
Jeschonnek schwärmt davon, den idea-
len Partner gefunden zu haben: „Ottobock
ist ein inhabergeführter Mittelständler mit
kurzen Entscheidungswegen, noch dazu in
einer sehr innovationsgetriebenen Branche.“
Die gemeinsamen Projekte seien eine „tolle
Experimentierwiese“: „Prothesen sind sehr
hochpreisige und vor allem extrem indivi-
dualisierte Produkte, die heute noch größ-
tenteils in traditioneller Handwerksarbeit
Hardware für alle: Tüftler und Erfinder können sich im Berliner Fab Lab Tische hergestellt werden. Da ist viel Potenzial für
mieten und ihre Ideen mit den nötigen Geräten und Werkzeugen umsetzen. bessere und günstigere Produkte.“
Jedes Fab Lab muss sich an die sogenann-
te Fab Lab Charter halten, in der die Leitlini-
sizers ausgefräst. Wer die Geräte nutzen will, mit Biergarten, ein Boutiquehotel mit Reha- en der Bewegung formuliert sind. Kommer-
zahlt entweder einen monatlichen Pauschal- Lofts für Medizintouristen, vor allem aber zielle Aktivitäten sind danach erlaubt, „aber
preis (25 Euro für die Basismitgliedschaft) viel Platz für die Forschungs- und Entwick- sie dürfen den offenen Zugang für andere
oder einen Minutenpreis: 10 Cent für einen lungsabteilung von Ottobock. Eigentümer Nä- nicht behindern“. Bislang habe ihn in der Sze-
einfachen 3-D-Drucker, 80 Cent für eine CNC- der träumt von einem „Cape Canaveral für ne noch keiner für die Kooperation mit Otto-
Fräse, 160 Cent für den besten Lasercutter. neue Technologie“, einem Zukunftslabor. bock kritisiert, sagt Jeschonnek. „Wir leben
Ein Raum ist als Co-Working-Space ein- Das Fab Lab Berlin passt ihm perfekt ins davon, dass sich interessante Menschen bei
gerichtet, gedacht als Rückzugsgebiet für Konzept, als Ideen- und Impulsgeber, und uns wohlfühlen. Würden wir das Fab Lab zu
professionelle Erfinder und Tüftler, Frei- so hat er Jeschonnek und seinem Team über- sehr auf Kommerz trimmen, würden sie
berufler und kleine Start-ups, aber auch für gangsweise schon mal einen Leichtbau vor nicht mehr kommen.“ Die Herausforderung
einzelne Mitarbeiter größerer Firmen. Sie die Backsteinfabrik gesetzt, 600 Quadrat- sei es, einen Ort für alle Zielgruppen zu schaf-
alle können sich monatsweise Tische mieten meter groß. Wenn der Umbau abgeschlos- fen: „Wir müssen offen dafür sein, dass hier
– und so von der Nähe zu anderen Kreativen sen ist, soll das Fab Lab in eines der histori- 30 Kinder rumturnen, und gleichzeitig pro-
profitieren. Zu ihnen gehört das Start-up schen Gebäude umziehen. Schon heute ar- fessionell genug, damit auch Leute kommen,
Himmelwasser, das seit einem Dreiviertel- beiten die Fab-Lab-Leute Tür an Tür mit die richtig was können.“ Im Idealfall beför-
jahr an einer Maschine werkelt, die Wasser Technikern von Ottobock, teilweise sogar dern sich alle Zielgruppen gegenseitig: die
zunächst destilliert und dann über Kapseln an gemeinsamen Projekten, etwa an einer Profis die Laien und die Laien die Profis.
mit einer frei wählbaren Mineralienmi- 3-D-Prothese für die beinamputierte Sänge- Jeden Freitagabend lockt der Open Lab
schung versetzt. Individuelles Wasser. rin und Performancekünstlerin Viktoria Mo- Day mit kostenlosen Führungen, in den Fe-
desta; die Prothese soll Sensoren enthalten, rien das Junior Lab mit Workshops für Kin-
DIE MEISTEN FAB LABS sind an eine der. So kann Sami, 13, in den Osterferien ei-
Uni angegliedert oder als Verein organisiert, nen Synthesizer bauen. In einer Workshop-
also nicht gewinnorientiert, das Fab Lab Ber- Pause bestaunt er die Tüftelarbeit von Frank,
lin ist eine GmbH. „Es gibt große weltan- 19. Der Elektrotechnikstudent werkelt an ei-
schauliche Unterschiede in der Szene“, sagt nem Geschenk für die Lehrer seiner ehema-
Jeschonnek. „Das reicht von antikapitalisti- ligen Schule – eine Uhr, die auch die Tempe-
schen Fab Labs bis hin zu unserem. Wir be- ratur anzeigen kann und auf Musik mit einer
treiben sicher eines der marktwirtschaft- Lichtshow reagiert. Ein verrücktes Teil, zu-
lichsten, zumindest in Deutschland.“ sammengebaut aus sechs Vakuumröhren, die
Dazu gehört ein Kooperationsvertrag mit er auf E-Bay ersteigert hat, und einem per
dem Medizintechnikunternehmen Ottobock, Lasercutter signierten Acrylglasgehäuse.
den Jeschonnek im Mai 2015 für fünf Jahre „Hier treffen sich tolle kreative Leute“,
KAI MÜLLER / SPIEGEL WISSEN

unterzeichnete. Der Ottobock-Inhaber Hans sagt Frank, „das Fab Lab ist ein Paradies für
Georg Näder hat das Gelände der ehemaligen Nerds wie uns.“ Er nickt dem 13-jährigen
Bötzow-Brauerei vor einigen Jahren gekauft Sami zu. Und Sami strahlt.
und erschließt es nach einem Masterplan des tobias.becker@spiegel.de
Stararchitekten David Chipperfield. Wenn al-
les fertig ist, soll es ein öffentliches Schwimm- Tobias Becher schaut gern anderen beim
bad auf dem Gelände geben, eine Brauerei Kreativsein zu. Er ist Theaterkritiker.

124 SPIEGEL WISSEN 2 / 2016


berühmt wurde und die Idee des Brainstor-
mings in die Welt setzte. Wie lassen sich aus
einer Gruppe von Mitarbeitern möglichst vie-
le Ideen herauskitzeln? Seiner Meinung nach

WA S WÄ R E D I E W E LT
ganz einfach: eine Fragestellung, eine Hand-
voll Menschen in einem Raum, jeder darf sa-

OHNE ...
gen, was er will, keinerlei Kritik. Und je mehr
Vorschläge, desto besser. Zum Schluss werde
sich in dem Wirrwarr aus Gedanken und Ide-
en stets auch ein Geniestreich finden.

Brainstorming?
Die Methode erschien so einleuchtend,
dass sie mühelos die letzten 70 Jahre über-
stand. Der Siegeszug des Brainstormings als
angeblicher Kreativitätsschleuder ist global,
bei keinem Meeting eines Start-ups darf es
fehlen, kein Volkshochschultreffen ohne.
Dumm nur, dass Dutzende empirischer
Studien, die erste bereits 1958 an der be-
rühmten US-Universität Yale, zu einem er-
nüchternden Ergebnis kommen: Brainstor-
ming in Gruppen bringt nicht viel, je größer
die Zahl der Teilnehmer ist, desto sinnloser
wird es. Wolfgang Stroebe, einer der bedeu-
tendsten deutschen Sozialpsychologen, no-
tierte vor Jahren: „Gruppen generieren im
Brainstorming insgesamt weniger und auch
weniger erfolgreiche Ideen, als würden sich
die Teilnehmer allein Gedanken machen.“
Aber warum das denn? In Gruppen wer-
den eher konventionelle Ideen entwickelt. Vie-
le Teilnehmer sind gehemmt, weil sie Angst
haben, sich vor den anderen lächerlich zu ma-
chen. Gleichzeitig will kaum jemand eine
wirklich originelle Idee mit den anderen tei-
len, da er dann das Copyright daran verlieren
würde. Der Geistesblitz wäre nicht mehr sei-
ner. Und auch das Verbot jeglicher Kritik ist
kontraproduktiv: Ohne Widerspruch entste-
hen kaum wegweisende Ideen, auch das zei-
gen wissenschaftliche Analysen.
EIN BRAINSTORMING, was ist das noch Aber wieso ist Brainstorming trotzdem so
mal? beliebt? Es erfüllt das Harmoniebedürfnis
‣ „Da denken mehrere Leute gemeinsam der Menschen. Zusammen mit anderen ir-
über eine Sache nach, jeder sagt einfach, gendwie kreativ zu sein, das erfreut das Herz
was ihm so in den Kopf kommt.“ der meisten Büroarbeiter und fühlt sich gut
‣ „Ein wildes Sammeln von Einfällen, das an. Danach denkt jeder, dass man toll etwas
helfen kann, neue Ideen zu entwickeln.“ geschafft habe, mag das Gesamtergebnis
‣ „Eine aufgesetzte Diskussionsrunde, in der noch so klein sein.
oft nur gelabert wird, nett, aber sinnlos.“ Gehört das Brainstorming also ausgemus-
OLIVER SCHWARZWALD / SPIEGEL WISSEN

‣ „Meist hat niemand Lust dazu, aber der tert, weg in die Ablage „Mythen von gestern“?
Chef will es.“ Nein. Denn ein Brainstorming hilft durchaus:
So, das war ein kleines Brainstorming Es verbessert das soziale Klima in einer Grup-
zum Thema Brainstorming. pe. Auch das kann die Wissenschaft beweisen.
Aber wer hat’s eigentlich erfunden? Der Wir müssen also nur ehrlich sagen, was
amerikanische Werbefachmann und Autor wir mit einem Brainstorming erreichen wol-
Alex Osborn. Der Partner der New Yorker len: Die Kreativität fördern? Welch ein
Werbeagentur BBDO veröffentlichte 1948 Quatsch. Die Atmosphäre unter den Kollegen
das Buch „Your Creative Power“, womit er verbessern? Wunderbar. JOACHIM MOHR

SPIEGEL WISSEN 2 / 2016 125


„Glück
und
Stress“

FOTOCREDIT LINKS
S T R U K T U R WA N D E L

Der Soziologe SPIEGEL: Herr Reckwitz, Sie glauben, Krea-


tivität sei zu einem allgegenwärtigen Ideal
cher Weise verbreitet hat. Die Gründe liegen
im Kulturellen und im Ökonomischen. Ende
und einem Gebot für alle geworden. Finden des 18. Jahrhunderts, in der Zeit der „Sturm-
Andreas Sie das gut? und Drang“-Bewegung und in der Roman-
Reckwitz: Erst einmal ist das eine wün- tik, entwickelte sich das moderne Modell
Reckwitz er- schenswerte, positive Entwicklung. In der des Künstlers als Gegenmodell zum Bürger-
Vergangenheit musste man sich die Kreati- tum: Die Idee des Schöpferischen sowie der
klärt, warum die vität erkämpfen, in der Nische, in Subkul-
turen. Nun ist es für sehr viel mehr Men-
Geniemythos des Künstlers wurden hoch-
gelobt, standen für Selbstverwirklichung
neue Lust an der schen eine Möglichkeit und Chance. Pro-
bleme entstehen immer dann, wenn eine
und eine nicht entfremdete Existenz. Zu-
nächst war das ein Minderheitenideal, das

Kreativität auch Möglichkeit umkippt in eine soziale Erwar-


tung, wenn also Kreativität nicht nur eine
nur in bestimmten Subkulturen galt, doch
es ist in der gesamten Entwicklung der Mo-
Chance ist, sondern geradezu erwartet wird. derne immer mitgelaufen.
Gefahren birgt. SPIEGEL: Wer nicht kreativ ist, hat schlech- SPIEGEL: In welcher Form?
te Karten? Reckwitz: In Bohèmekulturen, in den Ge-
INTERVIEW
Reckwitz: Ja, wenn die kreative Leistung genkulturen, den Counter-Cultures wie
nicht erbracht wird, ist das mit sozialen etwa der Hippiebewegung. Bis in die Sech-
ANGELA GATTERBURG Sanktionen verbunden. Der Nichtkreative ziger- und Siebzigerjahre hinein ist diese
I L L U S T R AT I O N erscheint problematisch, steht unter Ver- kulturelle Linie immer dominanter gewor-
JÖRN KASPUHL dacht, und so entsteht Leistungsdruck. Das den. Wir sprechen in der Soziologie von
erscheint uns zunächst ungewöhnlich, weil einem Wertewandel in Richtung Postmate-
wir Leistungsdruck eher mit einer Pflich- rialismus. Die Menschen streben etwas an,
tenethik verbinden. das über das Materialistische hinausgeht,
SPIEGEL: Ist das nicht ein Widerspruch in und dabei spielt nun die Kreativität eine
sich: Kreativität zu fordern wie eine Leis- große Rolle. Damit diese Entwicklung die
tung? gesamte Gesellschaft erfasst, bedarf es be-
Reckwitz: Ja, es ist ein bisschen wie mit die- stimmter institutioneller Stützen, das sind
sem Imperativ: Sei spontan! Das ist das Pa- vor allem die aus der Ökonomie. Seit einigen
radoxe. Es gibt ja viele Kreativitätsratgeber, Jahrzehnten stellt sich die Wirtschaft im-
die darlegen, mit welchen Methoden man mer mehr in Richtung Kreativität um.
seinen Alltag oder seinen Beruf kreativer SPIEGEL: Wie sieht das genau aus?
gestalten kann. Auch die Tradition des Reckwitz: Die Ökonomie, vonseiten der Pro-
Brainstorming gilt als Technik der Kreati- duzenten wie auch der Konsumenten, ver-
vitätsförderung. Man versucht eine Art Pro- langt nach Neuem, vor allem verlangt sie das
grammierung des Kreativen. ästhetisch und kulturell Neue. Es geht um
SPIEGEL: Wie erreicht die Botschaft „Sei Dinge, die nicht unbedingt technisch neu
kreativ!“ die Leute? sind, sondern einen besonderen Aspekt des
Reckwitz: Der kreative Mensch wird durch Designs und der Lebensqualität haben und
die Medien breit inszeniert als etwas Vor- deshalb interessant sind. Das genau treibt
bildliches, sei es im Bereich Film, Musik, die Gegenwartsökonomie voran, ich nenne
Architektur oder Design. Überall gibt es das den ästhetischen Kapitalismus. Diese
Stars, die in den Medien präsent sind. Nicht lange historisch-kulturelle Traditionslinie
so sehr, weil sie eine bestimmte Leistung er- und die Umstrukturierung der Ökonomie
bracht haben, sondern weil sie den Erwar- treffen jetzt zusammen, und daraus entsteht
tungen der sogenannten „creative indus- die neue Orientierung an der Kreativität.
tries“ entsprechen. Auf der anderen Seite SPIEGEL: Denken Sie dabei an Produkte
ANDREAS RECKWITZ ist da die Ebene der Psychologie und der wie das iPhone?
Pädagogik. Seit 1950 kann man beobachten, Reckwitz: Genau, ja. Man könnte sagen, das
ist Professor für Soziologie an der dass Kreativität in psychologischen Texten iPhone ist ein technisches Produkt, doch
Europa-Universität Viadrina in als Ideal der Persönlichkeitsentwicklung de- die Technologie tritt immer mehr dahinter
Frankfurt/Oder. In seinem Buch kretiert wird, seither sickert diese Idee im- zurück, was dieses Produkt für uns bedeu-
„Die Erfindung der Kreativität“ mer mehr in unseren Alltagsdiskurs ein. Wir tet. Es hat bestimmte haptische Qualitäten,
(Suhrkamp Verlag; 408 Seiten; 18 sprechen heute selbstverständlich von ist mit einem bestimmten Design, mit dem
Euro) zeigt Reckwitz, 46, ein- Selbstverwirklichung, ursprünglich ist das Faktor des In-Seins verbunden. Darin zeigt
drucksvoll auf, wie und warum das ein psychologischer Begriff. sich eine kulturelle Wende in der Produkt-
Kreative in den vergangenen SPIEGEL: Wie ist es zu dieser Entwicklung welt. Produkte sollen die Menschen kultu-
Jahrzehnten zu einem prägenden gekommen? rell, ästhetisch und emotional ansprechen.
Phänomen unserer Gesellschaft Reckwitz: Meine These ist, dass sich die SPIEGEL: Unternehmen stehen unter In-
geworden ist. Orientierung am Kreativen in ungewöhnli- novationsdruck, auch wenn man als Ver-

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S T R U K T U R WA N D E L

AP PS braucher den Eindruck hat, dass sich die


Produkte oft nicht sehr voneinander unter-
SPIEGEL: Es gibt sicher viele Verlagsleute,
die sich heute noch die Haare raufen, weil
scheiden. sie das „Harry Potter“-Manuskript ab-
Digitale Helfer für Reckwitz: Kreativität entsteht immer im gelehnt haben.
mehr Kreativität Auge des Betrachters. Es gibt nichts objektiv Reckwitz: Ja, ein gutes Beispiel. Das zeigt
Neues, das hängt vom Beobachter, vom In- den Unterschied der neuen kulturellen
terpreten ab, der etwas als neu anerkennt Märkte im Vergleich zu den traditionellen
Künstlerisches und von etwas Altem unterscheidet. Auf Märkten der Industriegesellschaft. Die wa-
dem Konsumentenmarkt kann es passieren, ren relativ berechenbar, damals war das
BLOOM dass bestimmte Produkte nicht als neu an- Neue einfach technisch besser als das alte.
„Eine Musicbox fürs 21. Jahrhun- erkannt, sondern übersehen oder aussor- Die neuen Kreativmärkte sind extrem un-
dert“, nannte der Musiker Brian Eno tiert werden. berechenbar und produzieren damit auch
seine eigene App. „Bloom“ ist eines SPIEGEL: Haben also Visionäre, die etwas systematisch Enttäuschungen. In vielen Be-
der frühen Musik-Selbstmach-Pro- kreieren, wonach die Masse verrückt ist, reichen ist das Verhältnis zwischen Leistung
gramme. Auf dem Touchpad kann einfach nur Glück gehabt? und Erfolg heute sehr prekär. Sie leisten ja
man Sounds erzeugen, kleine, klang- Reckwitz: Es gibt interessante Untersu- alle etwas, die Kreativen, aber nur wenige
volle Kompositionen sind ohne chungen zu den „creative industries“. Viele sind erfolgreich. Das kann man durchaus
musikalische Vorkenntnisse möglich. Dinge werden auf den Markt geworfen, die als Problem sehen. Eine Gesellschaft und
Sprache: Englisch; für iPhone, iPad; alle den Anspruch haben, etwas Neues zu eine Ökonomie, die sich immer mehr auf
3,99 Euro. präsentieren. Man könnte von einer kultu- Kreativität fokussieren, stellen keine klas-
sische Leistungsgesellschaft mehr dar. Denn
SIMPLYB&W nicht Leistung, Mühe und Arbeit werden
Aus Handyfotos zaubert diese App prämiert, sondern lediglich der Erfolg auf
eine ganz klassische Schwarz-Weiß- dem Markt.
Optik mit vielen Kontrasten. „In vielen SPIEGEL: Wenn wir dauernd kreativ und
Sprache: Englisch; für iPhone, iPad, originell sein sollen, bereitet uns das Stress,
Android; kostenlos.
Bereichen ist das oder?
Verhältnis Reckwitz: Nicht nur. Es schafft sowohl
SCRATCHJR Glücksgefühle als auch Stress, das ist gerade
Früh übt sich, wer die Zukunft meis- zwischen Leistung das Vertrackte an der Kreativität. Die posi-
tern will: Diese in der Technologie-
schmiede MIT entwickelte App führt
und Erfolg heute tiven Gefühle sollte man nicht unterschät-
zen, genau sie haben ja das Ideal des Schöp-
Fünf- bis Siebenjährige spielerisch sehr prekär.“ ferischen immer schon so attraktiv gemacht.
ans Programmieren von Spielen, Dieses Lebendigkeitsgefühl beim schöpfe-
Szenen und Geschichten heran. rischen Tun, das kann man im Beruf erleben,
Sprache: Englisch; für iPhone, iPad, aber auch, wenn man seine Wohnung neu
Android; kostenlos. einrichtet oder einen Garten anlegt. Dinge
kommen in Bewegung, verändern sich. Das
rellen Überproduktion sprechen, denn nur wird als befriedigend erlebt.
Organisatorisches ganz wenige dieser Produkte kommen SPIEGEL: Als eine Form des Selbstaus-
durch. Auf dem Buchmarkt ist es so, ebenso drucks.
MINDJET bei Musikhits oder Filmen. Die große Mehr- Reckwitz: Ja, ein Ausdruck des Ichs in sei-
Beliebte App für alle, die gern im heit der kreativen Offerten verschwindet, ner eigenen Umgebung. Das ist positiv und
Telefon Notizen machen und dabei findet keinen Rezipienten, nur einige weni- motivierend, und dabei sind enorme Emo-
kritzeln, mindmappen oder sonst wie ge kommen groß heraus. Auf sie richtet sich tionen und Affekte am Werk. Auf der ande-
festhalten wollen, was Sache ist. die Aufmerksamkeit des Publikums, und sie ren Seite wird eben auch die Gefahr des
Sprache: Deutsch; für iPhone, iPad, werden dann als wahrhaft kreativ ausge- Scheiterns größer.
Android; kostenlos. zeichnet. SPIEGEL: Wer kein Publikum findet oder
SPIEGEL: Aber welcher Film, welches Mu- keinen Applaus erhält, ist frustriert?
FLOWSTATE sikstück das sein wird, lässt sich nicht vor- Reckwitz: Eine Gesellschaft, die den eher
Die App gegen Arbeitsblockaden: hersagen. fragilen Werten der Kreativität folgt, wird
Timer einstellen, etwa auf 15 Minu- Reckwitz: Genau. Man spricht von „Nobody sehr viel enttäuschungsanfälliger. In der
ten. Und dann muss man loslegen. knows“-Märkten: Niemand weiß, welches alten Industriegesellschaft genügte es, sei-
Denn wenn man während der selbst- Produkt Erfolg haben wird. Die Musik- ne Pflichten zu erfüllen. Arbeitszufrieden-
gesetzten Frist mehr als sieben firmen wissen nicht, was ein Hit wird. Na- heit war einfacher zu bekommen. Jetzt ist
Sekunden aussetzt, beginnt das türlich gibt es Versuche, das abzuschätzen, es nicht mehr so einfach, darin liegen Chan-
Geschriebene sich selbst zu löschen. indem man auf bestimmte Pfade setzt, die cen und Glückspotenziale, aber die Mög-
Hart, aber effektiv! bis jetzt immer erfolgreich waren. Aber lichkeit der Enttäuschung ist eben auch
Sprache: Deutsch; für iPhone, iPad; auch dabei bleibt immer ein Element der sehr viel größer geworden. Das ist das
4,99 Euro. Unberechenbarkeit. Dilemma.

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F R A U B U R M E S T E R H AT
EINEN TERMIN
Zehn flieseninteressierte Frauen sind
wir, und natürlich ist es ein Mann, der uns
zeigt, wie eine Fliese den Weg an die Wand
findet. Aber Herr Koschel ist keiner von
den üblichen Handwerksmeiern mit Ho-
... beim Frauenhandwerkskurs. ho-ho-Witzen und Chauvi-Allüren. Nach
diesem Nachmittag bin ich mir sicher, es
macht für ihn keinen Unterschied, ob er
Männern, Frauen oder Holzwürmern das
Fliesen erklärt. Er erklärt einfach. Ohne
Dünkel, ohne Überheblichkeit sagt er, wo-
rauf es ankommt, und zeigt, wie man es
macht. Und dann geht es los: Jede Frau be-
kommt eine Wand und kann spachteln, was
der Kleber hergibt. Ich stelle mich am An-
fang etwas blöd an, obwohl es ja nach Be-
trachtung von Meister Koschels Tun ganz
leicht gehen müsste, kriege dann aber den
Bogen raus.
Ich klatsche den Kleber auf den Spachtel,
schmiere das Zeug immer an der Wand lang
und drücke die Keramikplatte ein. Ganz
ohne Fliesenkreuz, einfach so, und alsbald
klebt da, wo eben noch das Nichts war, mei-
ne erste Fliesenreihe. Und dann die zweite.
Es stellt sich eine wunderbare, freudige
Leichtigkeit ein, die mich an meine diversen
Jahre im Töpferkurs erinnert, und seit lan-
ger, langer Zeit formt sich wieder etwas
unter meinen Händen und nicht in meinem
Kopf.
ICH MÖCHTE auch mal was können. Ich kulinarischer Nachsicht mit den Damen –
kann bis heute kein Vogelhaus bauen, weil Fleisch dominiert die zur Stärkung bereit- DAS IST EIN GROSSARTIGES Gefühl, et-
mir mein Vater, als ich ihn bat, mir zu zeigen, liegenden Brötchen. Der gemeine Fliesen- was zu tun, bei dem der Kopf ruht. Bei dem
wie das geht, erst mal erklären wollte, wie leger scheint ein Mett-Mann zu sein. die Gedankenschleuder auf null steht und
man einen Nagel einschlägt. Dieser Ansatz trotzdem etwas entsteht. Ich könnte ewig
war für mich als Zehnjährige unter meiner so weitermachen. In meiner Fantasie ent-
Würde, weswegen mein Nagelschlagen bis stehen ganze Räume im Fliesendress, ich
heute so na ja ist. Im Baumarkt werden Kurse frage mich, ob ich nicht lieber nach einer
OLIVER SCHWARZWALD / SPIEGEL WISSEN, ILONA HABBEN

für Frauen mit Vätern wie meinem angebo- Ruine statt einer Wohnung in Berlin suchen
ten. „Frauen-Power pur“ werden sie bewor- sollte. Oder ich könnte meine Dienste an-
ben. „Alles allein hinbekommen – dank der bieten. Bei anderen Leuten alles vollfliesen,
Workshops für Frauen, die sich trauen.“ Flie- bis das Gerümpel in meinem Kopf quasi
senlegen ist im Angebot. Ich weiß zwar nicht, weggekachelt ist. Mich macht dieses Erleb-
was Fliesenlegen für Frauen, die sich trauen, nis sehr froh. Froh und heiter. Ich freue
sein soll. Vielleicht heißt das ja, dass wir die mich, etwas gelernt zu haben.
Fliesen mit Eierlikör ankleben und jedes Mal, SILKE BURMESTER Nur andere scheinen noch mal einen
wenn eine sitzt, „Stößchen!“ rufen, aber ir- Kurs machen zu müssen. Zwei Herren vom
gendwo muss man ja mal anfangen. stöbert in den Ecken und Nischen des Baumarkt. Sie kommen vorbei und wollen
Tatsächlich gibt es Sekt. Rotkäppchen, deutschen Alltags. Hier schreibt sie „mal gucken“. Ja, und natürlich den einen
halbtrocken. Bloß nicht zu viel Staub in die regelmäßig über ihre interessantesten oder anderen Spruch loswerden. Über Frau-
Kehle kriegen. Das ist es dann aber auch an Entdeckungen. en und Handwerk. Ho, ho, ho.

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V O R S C H A U

Das neue Heft erscheint am 28. Juni 2016

I M P R E SS U M
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04/15 Gelassenheit – 03/15 Versteh mich nicht 02/15 Bewegung – 01/15 Richtig scheitern –
Die Kunst der Seelenruhe falsch! – Erfolgreiche Fit bleiben, Spaß haben, Wie Niederlagen zum Erfolg
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