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Die Wilhelminische Zeit (1890-1914)

Nach dem 20. März 1890, der Entlassung Bismarcks durch Kaiser Wilhelm II., spricht man von
einer wilhelminischen Ära, um die wachsende Einschaltung des Kaisers in die
Regierungsgeschäfte und das „persönliche Regiment“ als Herrschaftsweise des neuen
Monarchen zu kennzeichnen. Nach der Ausscheidung Bismarcks war die Frage des
konstitutionellen Dualismus, eben die der Machtverteilung zwischen Kanzler und Monarch, die
sich fürs erste zu Gunsten des Kaisers ausgestaltete.

1. 1890-1894 Regierung Caprivi


In seiner ersten Thronrede hatte sich der neue Kaiser Wilhelm II. für ein „soziales Kaisertum“
ausgesprochen und hatte versucht, dieses in die Gesetzgebung zur Realität werden zu lassen
und dann in die Praxis umzusetzen: Er war der Herr im Hause, er wollte regieren und die
Minister sollten seine Werkzeuge sein, 1890 hatte er es klar zum Ausdruck gebracht:
„Diejenigen (...), welche sich Mir (...) entgegenstellen, zerschmettere ich“. In einer Rede 1891
verkündete er noch: „Einer nur ist Herr im Reich, keinen anderen dulde ich.“
Bei Wilhelm II. verband sich eine Mischung aus preußischen Traditionen des Militärkönigtums
und absolutistisch gedeutetem Gottesgnadentum, was die Stellung des Kaisers in der
Reichsverfassung nicht berücksichtigte und die Beziehungen zu den anderen Bundesfürsten
äußerst erschwerte. Zusammenfassend kann man seine Herrschaftsvorstellungen zu Recht als
neoabsolutistisch kennzeichnen, wie viele Zeitgenosse es auch schnell zur Kenntnis nahmen,
aber zur gleichen Zeit hat er versucht, über die Reichsinstitutionen hinweg den Kontakt mit der
Öffentlichkeit, den Massen durch seine Reden und Auftritte aufzunehmen und
weiterzuerhalten, um seine Legitimität auch weiter auszubauen. Ein weiteres Merkmal seiner
Herrschaft ist der Einfluss des engsten Kreises auf Politik und Entscheidungen: die „Entourage“
(Kabinett, Kamarilla, Nebenregierung) stellt auch als ein wichtiges Element der
Herrschaftspraxis dar. Aus dem reichen Material der uns heute zur Verfügung stehenden
Quellen, kann man zu einem Bild des Kaisers, als ein spontaner Mensch, der sich aber schnell
von der Innenpolitik distanzierte, dessen Regieren eher ein „Intervenieren ohne sonderliche
Kontinuität“ war. Zwar blieb die Außenpolitik kaiserliche Prärogative, aber auch hierin gab es
nur vereinzelte Aktionen des Kaisers selbst, in den anderen Fragen war sie eher Sache des
Kanzlers und Außenamtes, die sich der Person Wilhelms bedienten, um ihre Politik besser
abzudecken, so zum Beispiel im Falle der Flottenpolitik. In den Personalentscheidungen hat
der Monarch im Gegensatz zu seinem Großvater, der fast immer den Ratschlägen des Kanzlers
gefolgt war, eine große Rolle gespielt. Phasen kann man hierin unterscheiden: 1894-97
Durchsetzung des persönlichen Regiments, bis 1900 stärkste Ansätze zur Selbstregierung,
dieses Systems führt in die Krise von 1908, nach der der Kaiser sich immer mehr aus der
Öffentlichkeit und Politik zurückzieht. Zusammenfassend kann man also sagen, dass drei
Elemente das politische Leben nach 1890 bestimmt haben: die Ausweitung der Staatstätigkeit,
die Ablösung der Ausnahmefigur des starken Kanzlers, die Ansätze zum persönlichen
Regiments.

Der Nachfolger Bismarcks war der General Leo von Caprivi, der jahrelang Staatssekretär im
Reichsmarineamt gewesen war. Programm für seine Kanzlerschaft: Mit diesem Programm
erhoffte man sich ein Ende zum Konfliktkurs à la Bismarck, eine Auflockerung der Fronten
sowie die zunehmende Integration breiter Bevölkerungsschichten in den neuen Staat. Aber all
das hielt sich in Grenzen, denn die Sozialdemokraten galten weiterhin als Feinde und die
Monarchie sollte ihre Prärogativen nicht angetastet sehen.

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Zwei Probleme kann man nennen, welche die Kanzlerschaft Caprivi schwer belastet haben: 1.
war es die ständige Angriffsbereitschaft und Kritik des ehemaligen Reichskanzlers, 2. waren es
die wachsenden Spannungen zwischen dem Reich und Preußen. Die Gewichte der Verzahnung
von Reich und Preußen verschoben sich und ordneten immer mehr die preußische Politik der
Reichspolitik unter (Umkehrung von dem, was unter Bismarck geschieht).
Wilhelm II. hat die anderen Bundesfürsten eher als Vasallen angesehen und das Vordringen des
Reiches in den Lebensverhältnissen der Bürger hat eine vereinheitliche Rolle gespielt auf
Kosten der Einzelstaaten und somit das Verhältnis zwischen Reich und Bundesstaaten
verschoben. Nach Bismarck wurde der Konfrontationskurs aufgegeben, Norm wurden
Normalität und evtl. Kooperation. Beamte und Staatssekretäre haben immer mit einer
Reichstagsmehrheit im Kopf gearbeitet, dafür gab es 2 Gründe: 1. relative Verselbständigung
der Reichsämter gegenüber den preußischen Ministerien, 2. das Zentrum gab ihre
oppositionelle Rolle gegen Konzessionen und Kompromisse auf.
Das Zentrum als tragende Partei gewann im Reichstag eine hegemoniale Position. Änderung in
der politischen Vorbereitung von Gesetzen: ab 1890 zuerst mehr und mehr mit den Parteien
abgesprochen -> Trennung von Exekutive und Legislative beeinträchtigt und Unabhängigkeit
und Macht der Exekutive beeinträchtigt. Aufstieg des Reichstags v. a. in Finanzfragen: Für die
Militärpolitik geriet das Reich durch immer mehr Anleihen in ständige Finanzkrise, die erst
durch die Einführung neuer Steuern (1900 und 1905/6 Erbschaftssteuer zB) durch den
Reichstag teilweise gelöst werden konnte. 1906 Einführung von Diäten für die Abgeordneten -
> Typus des Berufspolitikers.
Caprivi, der gegen eine Kanzlerdiktatur war, hatte den Ministern mehr Spielraum eingeräumt,
was aber zu Schwierigkeiten führte, Reibungen zwischen Ressorts und Menschen hervorrief.
Aber die Grundlinien der Politik dieser Jahre sind interessant. Zuerst kam schon 1893/94 die
Sozialreform zum Stillstand: trotzdem Arbeiterschutzpolitik, Anfänge eines
Betriebsverfassungs- und gerichtliches Schlichtungsrechts. Dann die Neuorientierung der
Wirtschaftspolitik: Caprivi setzte auf den Export (der Imperativ des Exportierens), um mit der
wachsenden Bevölkerung und Industrie fertig zu werden und gleichzeitig durch die Herstellung
eines mitteleuropäischen Wirtschaftsblocks - Rußland inbegriffen - die Nichtverlängerung des
Rücksicherungsvertrages auszugleichen, vor allem da 1892 die bisherigen Handelsabkommen
ausliefen. Pbm: für Senkung der Industriezölle der Partner sollte das Reich die eigenen
Agrarzölle senken, also Vorrang der Industrie auf die Landwirtschaft => Dezember 1892
Verträge mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien mit großer Mehrheit im Reichstag ratifiziert.
Jedoch nicht die Rede einer Rückkehr zum Freihandel. 1892/93 Überangebot von Getreide =>
Existenzkrise und Notlage, Gründung des Bundes der Landwirte im Februar 1893
(populistische Bewegung), der trotz junkerlicher Führung eine bäuerliche Massenbewegung
darstellte. Der russische Handelsvertrag wurde im März 1894 ratifiziert.
Steuerreform mit Einführung der Einkommenssteuer als Modernisierung des Steuersystems
durch Miquel 1891. Denn die Aufteilung der Steuern ist immer ein Problem des Föderalismus
gewesen: Für die Finanzen des Reiches galten die Matrikularbeiträge, das ist die von den
Bundesländern zu entrichtenden Beiträge, blieben aber eine ungeliebte Notlösung
(Matrikularbeiträge sind Summen, die von den Landtagen an das gesamte Reich überwiesen
werden, die nach deren Bevölkerungszahl, nicht nach der Leistungsfähigkeit bemessen wurden,
wenn das Reich es forderte).
Seit 1893 mit der Heeresreform hatte sich das Reich stark verschuldet und eine Sanierung der
Reichsfinanzen war unerlässlich.
1881/85 = 95% auf Verteidigung und 5% Verwaltungsausgaben,
1905 = 88,4% und 8,4% dazu 3,2% Zuschüsse zur Sozialversicherung,
1913 = 90,1% 6,6% und 3,3%.
1877/78 machte der Schuldendienst 2,3 Millionen Mark aus, 1913 182.

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Zusammenfassend kann man sagen, dass die Lage des Reiches aufgrund der wachsenden
Verschuldung schlecht wurde, während die der Bundesländer und der Gemeinden noch ging.
Der Reichstag blieb auf die Zölle und Verbrauchssteuern, also die Steuerbelastung der Massen
angewiesen, während die Landtage die direkten, also die Hauptmassen der Steuern in ihren
Händen hatten. Aber mit den wachsenden Kosten der Verteidigung und Rüstung verschärfte
sich das Problem. Die Finanzierung durch Anleihen verschob nur das Problem zeitlich, ohne es
zu lösen. Denn der Reichstag hing von seinen Wählern ab, die aber keine höhere
Steuerbelastung bewillkommneten. Aus diesem Grund geriet der Reichstag in eine
Zwickmühle, deren einziger Ausgang eine Besteuerung von Besitz und Einkommen zu sein
schien. 1913 Besizt-(Vermögens-)steuer war der Anfang einer Systemreform.

Neben dieser Frage nach der Steuerreform bleibt für die Ära-Caprivi auch die Polenpolitik zu
nennen. Seit 1886 hatte Bismarck eine Germanisierungspolitik geführt, die auch vom
Kulturkampf bestimmt ist. 1886-92 53 000 ha polnischen Landes wurden aufgekauft und in
Bauernstellen parzelliert worden, dies verstärkte den nationalen Gegensatz. Mit Caprivi ändern
sich die Verhältnisse, da er an einen Konfliktkurs nicht glaubt und vor allem die Polen gegen
die Russen brauchen möchte (Lockerung der Schulspracheregelung). Nach Caprivi herrschte
wieder der harte Kurs in der preußischen Polenpolitik mit einer Eindämmung der Polen und
einer numerischen Majorität der Deutschen. Ausgleich und Versöhnung wurden vergessen.
Mit einer neuen Welle von anarchistischen Attentaten in Europa (französischer Staatspräsident
Carnot wurde 1894 ermordet) wollte der Kaiser gegen die Sozialisten vorgehen. Unterschied
zwischen Sozialisten und Anarchisten ignoriert. Der Kaiser wollte eine starke Politik gegen die
„Partei des Umsturzes“, aber Caprivi wollte einen normalen Kurs mit Reichsgesetz. Am 29.
Oktober 1894 Caprivi entlassen.

1894-1900 Regierung Hohenlohe

Als Nachfolger wählte der Kaiser einen schon alten Mann: Chlodwig von Hohenlohe-
Schillingsfürst war ein Süddeutscher, schon lange Beamter und seit 1885 Statthalter von Elsaß-
Lothringen, 1894 aber schon 75 Jahre alt. Es war nach allgemeiner Einschätzung ein schwacher
Kanzler, der seine Funktion vor allem in der Vermeidung der größten Desaster sah, welche der
Kaiser durch seine ungestüme Natur veranlassen konnte. Er war freikonservativ. „Ära“
Hohenlohe = eine doppelte Ebene für die politische Entwicklung: 1. Durchsetzung des
persönlichen Regiments, 2. Verhältnis von Regierung und Reichstag. Schließlich spielt der
Versuch neuer antisozialistischen Gesetze, des Flottengesetzes und der Reform des
Militärstrafprozesses eine wichtige Rolle.
1. Kampf um Personen für die Verteilung der Ministerposten, dem die Auseinandersetzung
mit der Demokratie und Sozialdemokratie als Voraussetzung gelten. Kaiser will Konflikt,
Kanzler im Rahmen des Gesetzes eher gelassen. Trotz einer ungünstigen Lage im Reichstag
forderte der Kaiser von Kanzler, die „Umsturzvorlage“ (Verschärfung des Straf- und
Presserechts gegen regierungs- und systemfeindliche oder nur systemkritische Aktionen) im
Reichstag einzubringen (Ablehnung 1895).
2. Militärstrafprozess: Vereinheitlichung, Liberalisierung, Öffentlichkeit, Unabhängigkeit der
Richter, eine Frage, die der Kaiser so hochstilisierte, dass es zu einem nationalen Problem
wurde: denn für Wilhelm II. war diese Reform seiner Macht ein großer Abbruch, seines
Erachtens ging es mit dieser Vorlage um die Eindämmung des Liberalismus. In der Frage
Kanzler gegen Kaiser, schließlich Ausschluss der Öffentlichkeit bei „Gefährdung der
Disziplin“.
3. Flottengesetz, als Zeichen der Neuorientierung der deutschen Politik, der Öffentlichkeit und

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der Mentalität der Nation. Ringen zwischen Regierung und Reichstag. Tirpitz, Befürworter des
Schlachtflottenbaus, wurde zum Staatssekretär ernannt. Wollte die Marine vom Parlament
unabhängig machen. Mit dem 1898 gegründeten Flottenverein und Unterstützung aus
bestimmten Kreisen startete Tirpitz eine propagandistische Kampagne riesigen Ausmaßes für
den Flottenbau. Schon 1899 begann eine neue Kampagne für ein zweites Flottengesetz, es ging
darum die Flotte so zu vermehren, dass sie 1917 die drittstärkste der Welt wäre. In der
Öffentlichkeit anti-englische Stimmung im Zusammenhang mit dem Burenkrieg. Gesetz nach
Veränderungen akzeptiert mit jährlicher Etatbewilligung, Mittel dazu durch Reichssteuer mit
der Folge eines neuen Machtzuwachses des Reichstags. 1895 Eröffnung des Mittellandkanals
1896 wurde vom Reichstag das Bundesgesetzbuch verabschiedet, das dann 1900 in Kraft trat,
als „letzter Akt der Vereinheitlichung und Modernisierung des Rechtswesens nach der
Reichsgründung.“
90er Jahre im Zeichen einer Fundamentalpolitisierung der Wähler, der populistischen
Bewegungen und der Organisation von Interessenkämpfen. 1. Auffangen des agrarischen
Protestes, 2. Mittelstands- und Sozialpolitik
Systemverteidigung gegen Sozialdemokratie, Dominanz der Produzenteninteressen, starke
Stellung der Landwirtschaft = Faktoren der deutschen Realität. Kaum Veränderungen bei den
Wahlen von 1898, die vor allem der Verstädterung und Industrialisierung zuzurechnen sind;
ausschlaggebende Stellung des Zentrums.

1900-1909 Regierung Bülow

Am 18. Oktober 1900 wurde der Diplomat Bernhard von Bülow zum Reichskanzler ernannt,
war aber schon lange vom Kaiser als „der“ Kanzler, eher gesagt als „sein“ Kanzler, der Kanzler
nach seinen Wünschen betrachtet worden. Seit 1897 war er als Staatssekretär des Auswärtigen
tätig. Von Anfang an, im Unterschied zu Hohenlohe, war er ein starker Kanzler. Er galt auch
sofort als Kanzler des persönlichen Regiments, auch wenn er die verschiedenen Eingriffe des
Kaisers in die Reichsgeschäfte eher einzuhegen versuchte (wie zB 1903 mit dem Zentrum, wo
Bebel sagte, jede Kaiserrede brächte seiner Partei 100 000 Stimmen). Die Schwäche Bülows
lag in seiner Art und Weise, den Kaiser zu zähmen: Er machte es mit Diplomatie, Schmeichelei.
Was die Beziehung von Reichstag und Regierung betrifft, sind drei Themenkomplexe zu
erwähnen:
1. Verabschiedung des Zolltarifs 1902 mit Erhöhung der Getreidezölle als Schutz der
politischen Stellung der verhassten Junker, aber führte nicht zur Beeinträchtigung des
deutschen Exports. Bei den Wahlen 1903 stieg die Wahlbeteiligung auf 76,1% und brachten
den Sozialdemokraten neue Stimmen.
2. Damit kommen wir zum zweiten Komplex: die Sozialpolitik. Ausdehnung von Arbeiter-
und Kinderschutz, Ausbau der Sozialversicherungen, Einführung von Arbeitsgerichten für den
Handel. Arbeiterausschüsse und Maximalarbeitstag eingeführt mit Hilfe des Kaisers nach
einem großen Streik der Ruhrbergarbeiter 1905. Das Kulturkampfklima dauerte fort, auch wenn
Bülow 1904 eine Revision des Jesuitengesetzes, den Wegfall von Ausweisung oder
Aufenthaltsbeschränkung im Reichstag durchsetzte (Opposition der Liberalen und
Protestanten).
3. Das letzte Komplex haben wir schon mit Caprivi und Hohenlohe erwähnt: die Frage der
Reichsfinanzen im Zusammenhang mit dem Flottengesetz. Trotz einer als verkündeten
Finanzreform 1906 ging das Defizit weiter. 1905/06 gelang es dem Zentrum als Kompensation
für seine Unterstützung der Regierung, die Forderung nach Abgeordnetendiäten durchzusetzen.
Denn das Zentrum war zu einer quasi monopolartigen Position zugewachsen, da keine Gesetze
ohne seine Unterstützung durchgehen konnten. Die Abstützung der Regierung auf das Zentrum

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ermöglichte moderate konservative Politik. Gemeinsamkeiten bildeten der Imperialismus, die
Welt- und Flottenpolitik. Aber als im Dezember 1906 der Reichstag die Nachtragsetats für die
Kolonialpolitik ablehnte, löste Bülow den Reichstag auf. Damit konnte er das Zutrauen des
Kaisers wiedergewinnen sowie die Unterstützung der Öffentlichkeit, soweit sie nicht katholisch
war, gegen die indirekte Zentrumsherrschaft. In der Wahlkampagne intervenierte die
Regierung, um eine zuverlässige Mehrheit in nationalen Fragen zu erreichen, also gegen die
Sozialdemokraten als „vaterlandslose Gesellen“ und das Zentrum, das national immer noch als
„unzuverlässig“ galt, mit der folgenden Parole: „Kampf für Ehr’ und Gut der Nation gegen
Sozialdemokraten, Polen, Welfe und Zentrum“. Es bildete sich also mit den Konservativen und
Linksliberalen der Bülow-Block.
Die Reichstagswahlen vom 25. Januar 1907 (von Bebel als „Hottentottenwahlen“
charakterisiert) brachte eine noch höhere Wahlbeteiligung als zuvor: 84,7%, die auf Kosten der
Sozialdemokratie kam. Der Block war aber nicht unbedingt zurechnungsfähig, da die
jeweiligen Parteien trotz allem ihre Unterschiede nicht aufgaben. Zustimmung zu den Kolonial-
und Flottenbudgets, das Reichsvereinsgesetz 1908 (Vereinheitlichung des
Versammlungsrechts, Verbot des Nicht-Deutschen als Versammlungssprache), Januar 1908
Neufassung der Normen für Majestätsbeleidigung, das Börsengesetz wurde liberalisiert.
Anerkennung durch Regierung und Kaiser der Notwendigkeit einer Reform des preußischen
Wahlrechts. Am 28. Oktober 1908 ging die Daily-Telegraph-Affäre hoch: Es war eine
Zusammenfassung von Interviews des Kaisers mit der englischen Zeitung zur Verbesserung
der Beziehungen zwischen den zwei Ländern. Der Kaiser ließ sich als Englandfreund
bezeichnen, der in Deutschland zu einer kleinen Minderheit gehöre, habe während des
Burenkriegs die englische Königin beraten. Es waren „diplomatische Affronts ohne politische
Vernunft“, so der Historiker Nipperdey. Die Reaktion Bülows war zwiespältig: weder
verurteilte er den Kaiser noch schützte er ihn. Im Reichstag wurde am 10. und 11. November
debattiert und der Kanzler zur Rechenschaft gezogen und die Abdankung des Kaisers durch die
Sozialdemokraten verlangt, auch weil sich dieser während der ganzen Krise auf Jagdreise
befand. Erst am 17. November kam eine Aussprache zwischen Kaiser und Kanzler: Der Kaiser
verpflichtete sich auf „die Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßigen
Verantwortung“. Bülow verlor dabei das Zutrauen des Kaisers. Breite Gruppen im Reichstag
wollten die Verantwortung des Reichskanzlers konkretisieren, aber es passierte nichts. =>
Ablehnung des persönlichen Regiments mit der Folge, dass der Kanzler von einer
Reichstagsmehrheit immer abhängiger wurde. Aber das Problem blieb weiterhin die
Finanzfrage. Jetzt waren 500 Millionen Mark mehr pro Jahr aufzubringen: der Bülow-Block
wurde gesprengt und die Vorlage abgelehnt. Am 26. Juni 1909 reichte Bülow sein
Rücktrittsgesuch ein. Mit einem Einverständnis des Zentrums und der Konservativen über
weitere Verbrauchssteuern statt Erbschaftssteuer und Verkehrssteuern, also indirekte Steuern,
wurde die Finanzreform schließlich am 10. Juli 1909 beschlossen.

1909-1914 Regierung Bethmann-Hollweg

Es entstand eine Proteststimmung gegen die Konservativen und ihre Politik einerseits, gegen
das Zentrum als bloß opportunistisch andererseits. Eine Reihe von Nachwahlen brachte einen
Linksruck und einen Gewinn der Sozialdemokratie. Aber Bethmann-Hollweg wollte nur
moderate Reformen, um die Monarchie und das bestehende System zu erhalten. Sein Ziel war
eine Sammlung um die rechte Mitte des politischen Spektrums zwischen Konservativen,
Nationalliberalen und Zentrum, weit weg von den Linken, seines Erachtens ein Regieren über
den Parteien. Strukturelles Problem des Jahrzehnts: Reichstag der Mitte und streng
konservatives Preußen. Zwei große Probleme an der Tagesordnung: 1. Reform des preußischen

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Wahlrechts und 2. eine Verfassung für Elsass-Lothringen.
1. Die Reform des preußischen Wahlrechts scheiterte jedoch, weil sie für die einen zu extrem,
für die anderen nicht genug war, da der Kanzler einen Konflikt mit den Konservativen
vermeiden wollte. Die Frage nach einer Verfassung für Elsass-Lothringen sollte die innere
Struktur des Landes normalisieren und seine Stellung im Reichsgefüge normalisieren, also die
Integration der Bewohner ins Reich fördern. Das allgemeine Wahlrecht wurde eingeführt. Zum
ersten Mal stimmten die Sozialdemokraten dem Gesetz zu, ein Zeichen, dass sie an die
Nützlichkeit reformistischer parlamentarischer Arbeit glaubten, die Konservativen waren
dagegen und wurden damit zum Feind des Kanzlers. 1911 wurde die Sozialversicherung durch
die Reichsversicherungsordnung und die Angestelltenversicherung (Beiträge zur Hälfte von
den Versicherten und Unternehmen aufgebracht) ausgebaut (die Leistungen blieben aber
gering, um das Reichsbudget nicht weiter zu belasten), eine Witwenrente eingeführt, die
Krankenversicherung auf die Landarbeiter, Wandergewerbetreibende und Hausangestellte
ausgeweitet. Aber die Arbeiter waren weiterhin diskriminiert, denn man wollte der
Sozialdemokratie keine Zugeständnisse machen. Die Finanzen bleiben immer noch den
Prüfstein und der Kanzler weigert sich, die Parteien zu provozieren.
3 Punkte sind erwähnenswert in diesem Klima:
1. die nationalistische Erregung im Zuge der Marokkokrise,
2. die Auseinandersetzung mit den Sozialdemokraten,
3. Kritik an den preußischen Verhältnissen, vor allem weil in den Süddeutschen Staaten das
Wahlrecht demokratisiert wurde. Bei den Reichstagswahlen von Januar 1912 mit einer
Rekordbeteiligung von 84, 9% gewannen die Sozialdemokraten noch an Sitzen, aber da eine
Zusammenarbeit mit dem Zentrum abgelehnt wurde, konnte keine stabile Mehrheit
hervorgehen. Zum ersten Mal ging die Sozialdemokratie aus ihrer Außenseiterrolle und stand
an der Wegscheide zu einer parlamentarischen Mehrheitskoalition. Die beiden
Rüstungsvorlagen von 1912, der Zuwachs der Flotte und die Erhöhung der
Friedenspräsenzstärke um 29 000, wurden mit großer Mehrheit verabschiedet, da der zum
Führer des Zentrums avancierte Matthias Erzberger eine Mehrheit ohne die Konservativen nicht
mehr versagte. Zur Deckung der aufzubringenden Gelder wurde 1913 ein
Vermögenszuwachssteuer mit den Sozialdemokraten und gegen die Konservativen beschlossen
und aufgrund der internationalen Lage auf dem Balkan eine weitere Heeresvorlage akzeptiert.
Die bürgerliche Mehrheit hatte jetzt die Spaltung aus dem Kulturkampf überwunden und ging
in die Offensive ohne direkte und frontale Konfrontation mit dem Obrigkeitsstaat über.

2. Verfassung für Elsass-Lothringen


Erhält drei Sitze im Bundesrat, jedoch nicht gezählt, wenn zum Vorteil Preußens. Dezember
1913 geschah die Zabern-Affäre, in der ein preußischer Offizier die Elsässer beleidigte,
willkürlich protestierende Zivilisten verhaftete und von der Militärhierarchie vollkommen
gedeckt.

Der Militarismus, die Verhältnisse von ziviler und militärischer Macht standen zur Debatte und
trotz der deklamatorischen versprechen des Kanzlers. 1912, so einigen sich die meisten
Historiker, war das Reich innenpolitisch in eine Sackgasse, fast am Rande der Unregierbarkeit
geraten. Die Parteien untereinander, der Reichstag und die Regierung blockierten einander,
ohne jedoch mehr unternehmen zu können. Eine stabile Krise oder Stagnation, die dauern
konnte, wenn sich alle weiter defensiv verhielten.

Zusammenfassung:
Von 1890 bis 1914 lassen sich bestimmte Problemfelder aufzeigen, die auf eine Krise des

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Reiches hinsteuern, ohne sie aber weder unvermeidlich noch verhängnisvoll zu machen. Die
Auswirkungen dieser Fragen lassen sich als Anfälligkeit des konstitutionellen Systems
erklären, wie Bismarck es aufgebaut haben wollte. Die Ablehnung des Parlamentarismus durch
den ersten Reichskanzler hatte zu einer föderalistischen Verfassung hingeführt, deren
Wahlrecht im Gegensatz zu dem der Bundesstaaten stand, und hätte früher oder später einen
Ausgleich zwischen den „verbündeten Staaten“ und dem Reich herbeiführen müssen. Da aber
weder die Reichskanzler noch der Kaiser diesen parlamentarischen Weg zu nehmen gewillt
waren, hat es in eine verstärkte Opposition mit dem Reichstag in der Frage der
Reichsfinanzierung gemündet, auch wenn die Mehrheitspartei, das Zentrum, versuchte,
allmählich den Kulturkampf zu vergessen und eine integrative Macht für seine Wählerschaft
zu sein.
Andererseits aber ist in der Frage der Innenpolitik dem Reich nie gelungen, die breite Masse
der Bevölkerung für eine bedingungslose Integration zu gewinnen. Nach dem von Bismarck
errichteten Modell des Gegeneinander-Ausspielens der verschiedenen Gruppen haben die
Reichskanzler die Probleme der Innenpolitik nach außen verlagert und geglaubt, durch eine
imperialistische und aggressive Außenpolitik die inneren Mankos verdrängen zu können. Der
Mangel an innerer Kohäsion wurde durch eine Hetzpolitik gegen vermutlich gefährliche innere
Feinde - die Katholiken, die Sozialdemokraten, die Minderheiten - kompensiert. Die innere
Einheit war insofern eher „negativ“, das heißt nicht für etwas oder jemanden, sondern viel eher
gegen etwas oder jemanden. In der Finanzfrage hat diese Flucht nach vorn – immer höhere
Verschuldung zum Flottenbau und zur Verteidigung – die Grenzen des Obrigkeitsstaates auch
deutlich gezeigt und eine Verlagerung der Macht auf den Reichstag am Vortag des Ersten
Weltkriegs klar veranschaulicht. Enge Verzahnung Preußen und Reich führte oft zu
Konfusionen (Polenpolitik zB).

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