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Hegel wohnt hier nicht mehr

Wer kontinentale Philosophie studieren will, sollte nach China oder Brasilien gehen. In
Deutschland liegt das Erbe des deutschen Idealismus am Boden. Seine gedankliche Wucht
versandet im Kleinteiligen.

24.09.2015, von MANFRED FRANK

Ein Gespenst geht um an Deutschlands philosophischen Seminaren: das Gespenst eines


Weltsiegs der analytischen Philosophie und eines Massenexodus der geschlagenen
kontinentalen Philosophie. Wohin zieht sie? Vorwiegend in andere Erdteile: nach
Ostasien, Australien, Brasilien oder, ausgerechnet, in die Vereinigten Staaten, von denen
der entscheidende Schlag gegen die kontinentaleuropäische Philosophietradition geführt
wurde.

Wer heute das Markenzeichen der deutschsprachigen Philosophie, den deutschen


Idealismus (die unmittelbar an Kant anschließende spekulative deutsche Philosophie),
studieren will, wird kaum von einer deutschsprachigen Universität durch ihr Lehrangebot,
geschweige durch ihre Lehrpläne dazu ermutigt. Ja, ein Student wird ernsthaft überlegen,
ob er sein Interesse nicht besser in Sydney, Notre Dame, Georgetown oder Chicago wird
befriedigen können. Die Universitäten zumal der Vereinigten Staaten haben eine lange
Tradition in der Aufnahme deutscher Philosophen, die sich im geistigpolitischen Klima
ihrer Heimat unwohl fühlten oder geradezu verfolgt wurden.

Freilich: Das Emigrationspersonal hat sich merkwürdig gewandelt. Einst, in den finsteren
Zeiten dreier Deutscher Reiche, waren es Vertreter der wissenschaftsförmigen,
,rationalen‘, an Sprachanalyse und Logik orientierten, oft sozialistischen Philosophie, die
aus dem deutschen Sprachraum drängten. Im Blick auf die Gründerväter Frege, Russell,
Carnap und Wittgenstein nennt man diese Tradition die ,analytische Philosophie‘. Ohne
den deutschsprachigen Beitrag wäre die analytische Philosophie nicht geworden, was sie
heute ist. Indem man den überwiegend deutsch-österreichischen Export kurzerhand zur
,angelsächsischen‘ Philosophie schlägt, schickt man die ausgewanderten Philosophen ein
zweites Mal in die Emigration.

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Phasen fruchtbaren Austauschs

Aber die Frage lautet anders: Emigriert nun auch der „irrationale“ Rest - die als
„Nonsense“-Produzentin geschmähte ,klassische‘ deutsche Philosophie? Das wäre eine
merkwürdige Umkehrung der ursprünglichen Verhältnisse! Durch den Exodus der
deutschen Sprachanalyse war in den dreißiger Jahren die deutsche Philosophie brutal auf
ihren ,kontinentalen‘ Rest geschrumpft: eine dem Nationalsozialismus botmäßige oder
ihm jedenfalls nicht laut widersprechende Weltanschauungsphilosophie war
zurückgeblieben. Und diese Universitätsphilosophie prägte weiterhin die Landschaft nach
der „Stunde null“.

Es gab, abgesehen von einigen heimgekehrten Emigranten wie Horkheimer und Adorno,
zwei Jahrzehnte lang kaum philosophische Lehrer, die nicht Schüler von NS-Philosophen
waren oder, wie der charaktervolle Karl Jaspers, erst jetzt und erst recht in die Emigration
gingen. Erst gegen Ende der sechziger Jahre, eigentlich erst im Zuge der Studentenrevolte,
die mit der deutschen Tradition gründlich aufräumte, kam die analytische Philosophie
nach Deutschland zurück. Das war vor allem die Leistung Paul Lorenzens (des Chefs der
Erlanger Schule), Ernst Tugendhats und Karl-Otto Apels. Aber auch der größte Kenner des
deutschen Idealismus, Dieter Henrich, suchte und schuf das Gespräch mit der
angelsächsischen Philosophie, so dass die Ruinen des deutschen Idealismus in
ungewohnter Klarheit erstrahlten.

Aus dieser Kooperation sind bedeutende Einsichten der Philosophie des Geistes
hervorgegangen, die in den Staaten ,Philosophy of Mind‘ heißt. Eine Art von Austausch
hatte begonnen. Immer noch wird er gesucht, bedeutende Forschungen belegen es. Aber
sie knicken mehr und mehr ein vor der Übermacht einer Neuscholastik, die nicht das
Gespräch mit der Tradition, sondern deren Ausrottung sucht.

Im Griff der Neuscholastik

Ja, es begann in jüngerer Zeit eine neue Scholastik, eher: ein neuer Wolffianismus an
Deutschlands Philosophischen Seminaren. So nannte man die Philosophie, die im
achtzehnten Jahrhundert im Anschluss an Christian Wolff aus Leibnizens genialen
Aperçus eine zusammenhängende, eine systematische „Schulphilosophie“ - eben eine
Scholastik - zu errichten versuchte und flächendeckend die deutschen Universitäten
beherrschte. Schon damals gab es eine allgemein anerkannte Terminologie, man stritt sich
um Tüttelchen von Wortdefinitionen, man spaltete die dünnsten Begriffshärchen; aber

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man war sich einig im Dissens, weil man die gleichen Verfahren und dieselben
Definitionen benutzte.

Vielfach tönt die Klage, dass es so wieder an vielen unserer philosophischen Seminare
aussieht. Der scholastische Trend wird durch die Uniformierung und Verschulung der
Studiengänge nach Bologna fast alternativlos. Statt großer Themen, statt Forschungen mit
großem Atem ist eine Mikrologie von Argumentanalysen um ihrer selbst willen in die
philosophischen Debatten eingezogen, die das Interesse gerade auch der anschlussfähig
geglaubten Naturwissenschaftler verspielt, die Philosophie isoliert und das Gros der
Studenten abschreckt oder ins Ausland vertreibt. Oft wünschen sich Neurobiologen den
interdisziplinären Austausch mit Philosophen. Aber die Philosophie, die ihre Eigenheit
aufgegeben hat, entzieht sich diesem Gespräch oder verwandelt es in einen spekulativen
Monolog des Neurowissenschaftlers mit sich selbst. ,Neurophilosophie‘ war einst ein
Spottname für Lehnstuhl-Philosophen, die sich als Laborwissenschaftler gerieren, nun
erscheint er als Lockvögeli in Stellenausschreibungen.

Zusätzlich ist eine spezifisch deutsche Krähwinkelei zu beklagen. Im englischsprachigen


Raum, wo die analytische Philosophie heimisch und dominant geworden ist, ist sie
bedeutend geblieben. Der deutsche Ableger lebt nach seinem Aderlass im Dritten Reich
von den Brosamen, die vom Tisch des reichen Nachbarn fallen. Dankbar notiert er das Lob
der Großen, selbst wird er aber - bedeutende Ausnahmen abgerechnet - in Großbritannien,
Australien und den Staaten als eigenständige Fraktion ignoriert oder allenfalls
herablassend in Fußnoten erwähnt.

Mit Recht. Die Alternative, die große klassische deutsche (und europäische) Tradition,
wird kaum mehr betrieben oder vielmehr: kaum durch aktualisierende Forschungen
weiterentwickelt. Die Folge: Angelsachsen zumal sind immer weniger unter den deutschen
Philosophiestudenten und -doktoranden zu finden, denn was sie in Deutschland lernen
können, lernen sie besser zu Hause. Noch in den Neunzigern war ihre und die Zahl anderer
an der deutschen Tradition Interessierter bedeutend. Philosophische Seminare konnten
sich dieses Interesse - auch vor ihren geizenden Finanzverwaltungen - gutschreiben. Kein
Wunder, dass gerade der deutsche Idealismus und die ernsthaft betriebene
Phänomenologie im (zumal) englischsprachigen Ausland neue Heimstätten gefunden
haben.

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Zeitlose Quellen des Fortschritts

Indes, könnte man sagen: wozu Heulen und Zähneklappern? Sollten wir es nicht begrüßen,
dass der „Nonsense“ endlich auch aus Deutschland verbannt wurde? Und wollen wir den
Preis mickrigen Spezialistentums nicht freudig dafür entrichten?

Dafür würde ich leidenschaftlich plädieren, wenn der Nutzen in der Erleuchtung
studentischer Köpfe so offenkundig wäre, wie es die Propaganda will. Und was ist das für
ein komisches Vorurteil, dass sich Tradition und Fortschritt ausschließen? Die
Studiengänge vieler Philosophischer Institute unterscheiden ,systematische Philosophie‘
und ,Geschichte der Philosophie‘. Erstere meint eigentlich: jüngst publizierte Philosophie.
Aber was publiziert ist, gehört zur Geschichte und ist so angreifbar wie das Ältere.
Manchmal ist das Widerstandspotential des alten Aristoteles immer noch größer als die
publizistischen Eintagsfliegen, die nur dem Neuheitsappeal standhalten.

Es ist eben so: Auch aus der Neubearbeitung alter Quellen fließt Fortschritt an Einsicht -
zugegeben: eher in der Philosophie als in der Physik, aber selbst für die Psychologie und
die Psychiatrie ist das wahr. Beide lernen tatsächlich gegenwärtig in Exzellenz-Clustern
aus romantischen oder phänomenologischen Quellen. Das dichte semantische Potential
dieser Klassiker sorgt dafür, dass sich in ihnen immer wieder Neues entdecken lässt. Neues
mit Wahrheitsanspruch, nicht, was von der philosophischen Tradition in den Staaten
wegen seines „Tiefsinns“ kurzerhand verächtlich der Poesie zugeschlagen und an
literaturwissenschaftlichen oder „Critical-Theory“-Departments behandelt wird. Neues,
das die Kraft besitzt, auch das Konzert der aktuellsten Analyse noch zu innovieren.

Aktualität des Ursprünglichen

Wer glaubt denn ernsthaft, man solle Platon makulieren oder seine Lektüre auf die
Passagen beschränken, die in neueren peer-reviewed Journals analytischer Observanz
zitiert werden? Auch der deutsche Idealismus und besonders die phänomenologische
Tradition waren weder dumpfbackig noch ins Ungefähre verliebt, noch
fortschrittsfeindlich. Große Leistungen wissenschaftlicher Prosa und die Schärfung der
deutschen Sprache für den Ausdruck feinster begrifflicher Nuancen verdanken wir diesen
zwei Bewegungen. Die Wissenschaftsprosa des späten neunzehnten und des frühen
zwanzigsten Jahrhunderts wäre ohne sie gar nicht denkbar gewesen. Cantor und Frege,
leuchtende Beispiele, publizierten einige ihrer bahnbrechenden Texte in der „Zeitschrift

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für Philosophie und philosophische Kritik“, einem Journal des Spätidealismus, begründet
und lange Zeit herausgegeben von Fichtes Sohn Immanuel Hermann.

Von der „ursprünglichen Einsicht“ dessen Vaters, Johann Gottlieb, urteilte Dieter Henrich
1966, die Philosophie habe sie vergessen, „mehr noch, hat sie niemals zur Kenntnis
genommen“. Das wird man auch von Schleiermachers hermeneutischer Grundeinsicht
sagen können. Beide aber hatten das Zeug, ganze Theoriemoden, die nur die Aktualität für
sich haben, in die Luft zu blasen.

Viele Analytiker aber glauben fest, alle alten Irrtümer der philosophischen Tradition seien
im neuen (wohlgemerkt: analytischen) Schulwissen korrigiert, Fortschritte an Einsichten
stillschweigend berücksichtigt. Das ist eine Form des Hegelianismus, der jeden
nachhaltigen Gedanken als Meilenstein auf dem Weg zum „absoluten Wissen“ aufhob und
mitnahm.

Soll das unser Leitbild sein? Ist nicht die analytische Philosophie gut beraten, sich in viel
stärkerem Maße der Philosophiegeschichte zu besinnen? Nicht aus naseweiser
Bescheidwisserei (wie Adorno das nannte), die einem Gedanken, statt seine Wahrheit zu
prüfen, einen Vorgänger nachweist. Sondern um zu vermeiden, dass sie das Rad neu
erfindet oder uns gar ein weit schlechter rollendes andreht als das alte. Schließlich tut uns
die Geschichte nicht überall den Gefallen, in Richtung ,Fortschritt‘ zu verlaufen. Wichtige
gedankliche Durchbrüche werden durch falsche Meinungen oder Theoriemoden verdrängt.
Dem apokalyptischen Aktualismus derer, die einen Text schon darum für verdächtig
halten, weil er älter als fünf Jahre ist, ist Schopenhauers Diktum entgegenzuhalten: „Das
Neue ist selten das Gute, weil das Gute nicht lange neu bleibt.“

Manfred Frank ist Emeritus für Philosophie an der Universität Tübingen.

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Wir sollten mit eigenen Worten denken

Manfred Frank sieht die Tradition des Deutschen Idealismus ins außereuropäische Exil
getrieben. Aber das stimmt höchstens zur Hälfte. Trotzdem müssen wir etwas tun, um die
Philosophiegeschichte wiederzuentdecken. Eine Replik.

14.10.2015, von TOBIAS ROSEFELDT

Geht mal wieder das Abendland unter? Nein, diesmal ist es immerhin nur die deutsche
Philosophie. So sieht es zumindest Manfred Frank: Die analytische Philosophie -
hierzulande Inbegriff scholastischer Detailhuberei und Mediokrität - stehe vor ihrem
„Weltsieg“ und zwinge Philosophen mit Interesse am deutschen Idealismus zum
„Massenexodus“. Diese Formulierungen sind aufgrund der historischen Assoziationen, die
sie wecken, ziemlich befremdlich. Aber hat Frank der Sache nach nicht trotzdem recht?

Der wahre Kern von Franks Ausführungen ist, dass die Beschäftigung mit der eigenen
philosophischen Tradition in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren signifikant
abgenommen hat. Dass die Lage so dramatisch ist, wie Frank sie beschreibt, lässt sich aber
mit guten Gründen bezweifeln. An den Instituten in Basel, Konstanz, Leipzig und
Tübingen sind in jüngerer Vergangenheit insgesamt fünf Lehrstühle mit Philosophen
besetzt worden, die ihren Forschungsschwerpunkt im deutschen Idealismus haben. Im Fall
von Konstanz ist das sogar an einem traditionell stark analytisch ausgerichteten Institut
geschehen, an dem es zuvor noch nie jemanden mit diesem Profil gab. Nimmt man zudem
an (wie jeder vernünftige Mensch es tun sollte), dass die Glanzzeit der deutschsprachigen
Philosophie nicht, wie Frank schreibt, der deutsche Idealismus nach Kant, sondern die
klassische deutsche Philosophie seit Kant ist, dann entpuppt sich die Behauptung, dass zu
dieser Epoche in Deutschland nicht mehr intensiv geforscht und gelehrt wird, als
drastische Übertreibung.

Und trotzdem - es wird heute weniger dazu geforscht und gelehrt als früher. Wie konnte
das geschehen? Die Antwort ist in der Entwicklung der deutschen Philosophie der letzten
zwei Jahrzehnte zu suchen, die man durchaus als historische Leistung begreifen muss,
nämlich in der Ausdifferenzierung in historische und systematische Forschung. Wenn man
wie ich selbst vor 25 Jahren in München angefangen hat zu studieren, musste man zu der
Ansicht kommen, dass man zwar systematische Wissenschaftstheorie und Logik betreiben
kann, dass die Beschäftigung mit Metaphysik, Bewusstseinsphilosophie oder normativer
Ethik aber schlicht nichts anderes sein kann als das Studium von Platon, Fichte und Kant.

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Das ist natürlich Unsinn. Die Frage, was die grundlegende Struktur der Wirklichkeit
ausmacht, wie sich das menschliche Bewusstsein zur Natur verhält und ob es unbedingte
und allgemeingültige Normen gibt, ist eine andere Frage als die, was die genannten
Philosophen dazu gesagt haben.

Ein Fortsetzen philosophischer Tradition

Frank schreibt, es gebe eigentlich keinen Unterschied zwischen systematischer und


historischer Philosophie, sondern nur einen zwischen jüngst publizierter und früher
publizierter Philosophie. Aber das stimmt nicht. In der historischen Philosophie versucht
man zu verstehen, was ein bestimmter Autor behauptet, wie er es begründet und ob das,
was er sagt, plausibel ist. Systematisch zu philosophieren heißt dagegen, selbst eine
philosophische Frage zu beantworten und die Schriften anderer Autoren nur dazu zu
verwenden, dies auf die beste mögliche Weise zu tun. Das ist eine ganz andere
Herangehensweise als die der Interpretation.

Die Wende zur analytischen Philosophie in Deutschland muss deswegen vor allem als
Durchsetzung der Einsicht verstanden werden, dass es sich lohnt, sie zu vollziehen. Denn
hat man einmal verstanden, was es heißt, selbst zu philosophieren, dann ist klar, dass man
das nicht einfach mit den Worten und Methoden von Kant und Hegel tun kann. Das
funktioniert so wenig, wie man heute im Stil von Beethoven Musik komponieren kann.
Man braucht eine eigene Sprache, eine, deren Bedeutung so klar ist, dass sie nicht erst der
Interpretation bedarf. Dazu macht die analytische Philosophie das heute in den Augen der
meisten systematischen Philosophen überzeugendste Angebot, das zudem für viele
Bereiche der Philosophie de facto alternativlos ist.

Dieses Angebot ist nicht gegen die philosophische Tradition gerichtet, sondern setzt diese
fort. Eigene Thesen zu entwickeln, sie durch begriffliche Differenzierungen zu erhellen und
dafür mit schlüssigen Argumenten zu argumentieren, mitunter auch durch den Einsatz
von Logik, das ist ja letztlich nichts anderes als das, was Aristoteles, Descartes und Kant
getan haben. Die einzige philosophische Epoche, in der man meinte, dass eigene
philosophische Einsichten letztlich nichts anderes sein könnten als Reinterpretationen der
Texte kanonischer Autoren, war dagegen - richtig: die Scholastik.

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Philosophische Tradition als Voraussetzung

Die analytische Philosophie ist nicht scholastisch. Sie ist mittlerweile extrem stark
ausdifferenziert, das ist richtig. Und sie verliert sich manchmal in winzigen Details. Aber
das ist der enormen Komplexität der Sachverhalte geschuldet, mit denen wir es in der
Philosophie zu tun haben, und der Wissenschaftlichkeit in der Form der
Auseinandersetzung. Vor allem aber betrifft das Phänomen der Ausdifferenzierung
beileibe nicht nur die analytische Philosophie, sondern in genau demselben Maße auch die
Forschung zu Aristoteles, Kant und Hegel.

Problematisch wäre diese Ausdifferenzierung nur dann, wenn sie der Bewahrung von
geistigen Besitzständen diente. Aber die analytische Philosophie ist ja gerade erstaunlich
gut darin, immer wieder neue Themen zu entdecken, oft solche, von denen man dachte, sie
könnten niemals wieder salonfähig werden. Man denke an die Renaissance
metaphysischer Fragestellungen oder an den Boom der Auseinandersetzung mit der Idee
der Relativität von Wahrheit in den letzten Jahren.

Frank wünscht sich eine aktualisierende Befassung mit der philosophischen Tradition.
Eine starke analytische Philosophie schließt diese nicht aus. Sie ist vielmehr deren
Voraussetzung. Denn aktualisieren kann nur, wer gelernt hat, über die Sachen selbst zu
sprechen. Es ist nicht verwunderlich, dass die beeindruckendsten Aktualisierungen von
Gedanken der klassischen deutschen Philosophie der jüngeren Vergangenheit von
analytischen Philosophen stammen: Christine Korsgaards neokantisches Projekt in der
Ethik, Stephen Darwalls im Anschluss an Fichte entwickelte Konzeption eines Zweite-
Person-Standpunkts und Robert Brandoms Wiederentdeckung Hegels für eine Theorie des
geistigen Gehalts.

Aber ist nicht zumindest die deutsche analytische Philosophie besonders


traditionsvergessen, wie Frank das behauptet? Nein, auch das stimmt nicht. Unter den
führenden deutschen Analytikern sind ausgewiesene Experten für die Philosophie von
Aristoteles, Descartes, Hutcheson, Kant, Hegel und Bolzano. Jemand wie der diesjährige
Träger des Frege-Preises der Gesellschaft für Analytische Philosophie, Wolfgang Spohn,
schließt mit seinem Opus Magnum „The Laws of Belief“ sachlich an die Projekte von Hume
und Kant an. Thomas Sattig und Barbara Vetter aktualisieren in ihren Büchern Aristoteles‘
Hylemorphismus und seine Theorie der Modalität. Und Andreas Müller und Benjamin
Kiesewetter betreiben ihre metaethischen Studien vor dem Hintergrund einer genauen
Kenntnis der Kantischen Philosophie. Alle genannten Bücher erscheinen übrigens bei der
Oxford University Press - ein guter Gradmesser für die internationale Anerkennung, die
gerade die jüngere Generation deutscher Analytiker erfährt.

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Die Stellenstruktur ist problematisch

Der analytischen Philosophie in Deutschland geht es immer besser. Heißt das, dass alles in
Ordnung ist? Nein, leider nicht. Denn es bleibt ja der Befund, dass die notwendige
Wiederentdeckung der systematischen Philosophie in Deutschland auf Kosten der
historischen Forschung, insbesondere der zur klassischen deutschen Philosophie,
gegangen ist. Das ist bedauerlich, da gebe ich Frank vollkommen recht. Denn die
Philosophie dieser Epoche ist nicht nur großartig, sondern das internationale Interesse
daran ist tatsächlich riesengroß, und wir in Deutschland wären töricht, wenn wir es in
Zukunft nicht mehr bedienten. Wir brauchen, so scheint mir, nach der Renaissance der
systematischen Philosophie in Deutschland nun tatsächlich eine Wiederentdeckung der
Philosophiegeschichte. Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass sich die Beschäftigung
damit selbst dann lohnt, wenn sich die Autoren nicht für den systematischen Diskurs
aktualisieren lassen. Und wir brauchen mehr eigens dafür ausgeschriebene Stellen.

Das größte Hindernis für die Vollendung der Ausdifferenzierung in historische und
systematische Philosophie ist meines Erachtens die gegenwärtige Stellenstruktur an
deutschen Philosophieinstituten. Die meisten dieser Institute haben nicht mehr als drei
oder vier Professuren, über deren inhaltliche Ausrichtung sie ihr Profil definieren. Wenn
man den Unterschied zwischen systematischer und historischer Philosophie und die
enorme Vielfalt der Disziplinen innerhalb dieser beiden Bereiche zur Kenntnis nimmt, ist
völlig unklar, wie man das auf befriedigende Weise schaffen soll.

Soll man ganz auf die praktische Philosophie verzichten (wie derzeit in Heidelberg)? Oder
ganz auf die analytische Philosophie (wie bis vor kurzem in Freiburg)? Oder soll man gar
keine Stelle mehr für die Philosophiegeschichte reservieren, wie das einige der kleineren
analytisch orientierten Institute tun? Keine dieser Optionen ist befriedigend. Daher würde
man der Philosophie in Deutschland den größten Gefallen tun, wenn man die übliche
Stellenstruktur mit ihrer Unterscheidung zwischen Professuren und Mitarbeiterstellen
auflösen würde und Letztere zugunsten von Juniorprofessuren mit Tenure-Track-Option
abschaffte. Diese Änderung ist als Maßnahme zur Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses ohnehin sinnvoll. Sie würde wegen der damit verbundenen Erhöhung der
Zahl von Professuren auch dafür sorgen, dass systematische und historische Philosophie
an deutschen Instituten in Zukunft beide Platz haben und sich gegenseitig so befruchten
können, wie Manfred Frank sich das wünscht.

Tobias Rosefeldt ist Professor für klassische deutsche Philosophie an der Humboldt-
Universität zu Berlin und von 2016 an Vizepräsident der Gesellschaft für Analytische
Philosophie.

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Ein Schisma in der Philosophie?

Tobias Rosefeldt hält die analytische Methode für das Maß der Dinge in der Philosophie.
Doch wer historische Philosophen zu bloßen Epigonen und Analytiker zu kristallklaren
Selbstdenkern erklärt, stellt Karikatur gegen Wunschbild. Eine Replik.

11.11.2015, von ROLF-PETER HORSTMANN

Darauf haben viele schon lange gewartet: einmal von kompetenter Seite gesagt zu
bekommen, was es mit systematischer und besonders analytischer Philosophie auf sich hat
und was von den Klagen mancher Vertreter des Faches Philosophie an deutschen
Universitäten zu halten ist, mit denen sie „das Gespenst eines Weltsiegs der analytischen
Philosophie und eines Massenexodus der geschlagenen kontinentalen Philosophie“
(Manfred Frank) an die Wand malen. Aufgeklärt werden wir von Tobias Rosefeldt, der in
einer Replik auf Franks Sorgen mit einer Analyse des Zustands der Philosophie an den
Universitäten in Deutschland aufwartet, die auch dazu dienen soll, Franks Ängste zu
relativieren. Die Relativierung gelingt Rosefeldt überzeugend. Er hat recht, wenn er gegen
Frank darauf hinweist, dass es um Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Philosophie
Kants und der idealistischen Nachkantianer gar nicht so schlecht bestellt ist.

Dennoch stimmt ebenfalls, was Frank konstatiert: Irgendwie scheint sich im deutschen
akademischen Philosophieren ein Stil durchzusetzen, der weniger stark durch eine
Auseinandersetzung mit Positionen in der Geschichte der Philosophie geprägt ist, sondern
sich primär durch die Kultivierung eines gewissen ahistorischen, „szientifisch“, kurz:
„analytisch“ genannten Gestus auszeichnet. Auch Rosefeldt leugnet das Phänomen nicht.
Er sieht in ihm aber die Folge einer von ihm als historisch gepriesenen Leistung „der
Ausdifferenzierung in historische und systematische Forschung“, in deren Gefolge sich
eine „analytische“ Denkweise in der systematischen Philosophie durchgesetzt hat.
Befremdlich ist dabei, wie Rosefeldt die Unterscheidung zwischen historischer und
systematischer Forschung verstanden wissen will. Hier seine Charakterisierung: „In der
historischen Philosophie versucht man zu verstehen, was ein bestimmter Autor behauptet,
wie er es begründet und ob das, was er sagt, plausibel ist. Systematisch zu philosophieren
heißt dagegen, selbst eine philosophische Frage zu beantworten und die Schriften anderer
Autoren nur dazu zu verwenden, dies auf die beste mögliche Weise zu tun.“

Zweierlei ist befremdlich: So dargestellt, insinuiert die Unterscheidung zwischen


historischer und systematischer Philosophie zum einen, dass der historisch orientierte

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Philosoph nicht selbst denkt, sondern sich damit begnügt, traditionellen Autoritäten das
Privileg des Selbstdenkens zu überlassen, während der systematische Philosoph den Mut
hat, sich seines eigenen Verstandes „ohne Leitung eines anderen“ (Kant) zu bedienen. Auf
diese Weise wird aus einer deskriptiven Unterscheidung eine normative Alternative:
Orientierst du dich historisch in der Philosophie, machst du dich zum Knecht der
Tradition, philosophierst du systematisch, gehst du das Wagnis der Aufklärung ein (das
Kantische „Sapere aude“), nur deiner eigenen Einsicht zu folgen.

Lektionen des Vergangenen

Auch wenn man unterstellt, dass Rosefeldt diese Rollenverteilung gar nicht intendiert hat,
so indiziert schon die bloße Möglichkeit einer solchen Deutung alles andere als einen
unvoreingenommenen Blick auf die Implikationen der als so verdienstvoll gepriesenen
Ausdifferenzierung. Außerdem: Wenn diejenigen, die sich historisch in der Philosophie
orientieren, damit rechnen dürfen, mit den Stigmata der Autoritätsgläubigkeit und
Selbstgenügsamkeit belegt zu werden, muss man sich nicht groß darüber wundern, dass
der sogenannte akademische Nachwuchs immer weniger motiviert ist, sich auf
Historisches einzulassen. Da sieht man sich doch lieber auf der Seite der Selbstdenker.

Was aber noch befremdlicher wirkt: Rosefeldt erläutert seine Unterscheidung dadurch,
dass er das, was für schlechte historische Forschung typisch ist, als ein wesentliches
Merkmal von historischer Forschung insgesamt ausgibt, während er das, was man als
charakteristisches Merkmal von guter systematischer Arbeit betrachten kann, als ein
Kennzeichen von systematischer Arbeit schlechthin behauptet. Denn er präsentiert nicht
nur die Anstrengungen der Interessanteren unter den historisch-philosophisch
Forschenden in der Form der Karikatur, er gibt auch von der Tätigkeit der „Systematiker“
ein vollständig unrealistisches Wunschbild.

Was die Anerkannteren der historisch Forschenden betrifft, so ist in der Regel so gut wie
niemand von ihnen an einem Autor um seiner selbst willen interessiert. Sie versuchen
vielmehr herauszufinden, was ein Autor zu einer bestimmten philosophischen Frage zu
sagen hat. Dies nicht etwa nur deshalb, um zu sehen, ob und wie der jeweilige Autor in der
Lage ist, seine Antwort mit den von ihm in Anspruch genommenen argumentativen
Mitteln zu begründen. Eine solche rein immanente Untersuchung kann natürlich auch
interessant sein, ist aber selten ein Leitmotiv historischen Philosophierens. In ihm geht es
darum, die erhellenden Potentiale der Antwort des betrachteten Autors für die
gegenwartsbezogene Diskussion einer bestimmten philosophischen Sachfrage zu
erkunden. Nicht selbstgenügsame Autorenfixiertheit, sondern problembezogene Prüfung
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dessen, was von der Vergangenheit zu lernen ist, macht ordentliches historisches
Philosophieren aus.

Was dagegen die sich als systematisch verstehenden philosophischen Forscher betrifft, so
werden auch sie in ihrer übergroßen Mehrzahl keineswegs Rosefeldts Beschreibung
entsprechen. Dies deshalb, weil die meisten zwar irgendwelche Fragen beantworten,
zugleich aber vollständig unklar ist, was an diesen Fragen philosophisch sein soll.
Natürlich steht es einem frei, jede Frage, die in irgendeinem Sinn kontrovers beantwortet
werden kann, eine philosophische zu nennen. Die seltsame Vermehrung der
Subdisziplinen der Philosophie (Umweltphilosophie, Wirtschaftsphilosophie,
Sportphilosophie, Internetphilosophie, Neurophilosophie und vieles andere mehr) könnte
als Indikator dafür genommen werden, dass diese Freiheit bedenkenlos genutzt wird.

Molekularsprache der Analytik

Doch die Kehrseite dieser Freiheit ist der Schrecken, eigentlich gar nichts mehr mit der
Rede von philosophischen Fragen meinen zu können. Rosefeldts hehrer Traum vom
systematischen Selbstdenker wird daher entweder von allen verwirklicht, die irgendeine
Meinung zu irgendeinem Thema irgendwie verteidigen, oder er kann nur durch diejenigen
realisiert werden, die ein als philosophisch anerkanntes Problem traktieren. Die von ihm
als Beispiele philosophischer Probleme genannten Fragen („was die grundlegende Struktur
der Wirklichkeit ausmacht, wie sich das menschliche Bewusstsein zur Natur verhält und ob
es unbedingte und allgemeingültige Normen gibt“) lassen ahnen, dass seine Gruppe der
Systematiker ziemlich klein ausfallen wird. Ihre Auswahl scheint außerdem nahezulegen,
dass Rosefeldt durchaus einen Sinn für die Autorität der Tradition hat. Schließlich handelt
es sich bei seinen paradigmatischen Fragen um solche, die tief verwurzelt sind in der
Geschichte der Philosophie.

Doch Rosefeldt will uns vor allem verständlich machen, warum der von ihm zu
systematischer Philosophie ernannte Umgang mit diesen Fragen geradewegs auf die
Unvermeidlichkeit der analytischen Philosophie führen soll. Dieses Ziel glaubt er durch
folgende Überlegung zu erreichen: „Die Wende zur analytischen Philosophie in
Deutschland muss deswegen vor allem als Durchsetzung der Einsicht verstanden werden,
dass es sich lohnt, sie zu vollziehen. Denn hat man einmal verstanden, was es heißt, selbst
zu philosophieren, dann ist klar, dass man das nicht einfach mit den Worten und
Methoden von Kant und Hegel tun kann. (...) Man braucht eine eigene Sprache, eine,
deren Bedeutung so klar ist, dass sie nicht erst der Interpretation bedarf. Dazu macht die
analytische Philosophie das heute in den Augen der meisten systematischen Philosophen
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überzeugendste Angebot, das zudem für viele Bereiche der Philosophie de facto
alternativlos ist.“ Aha, so ist das also: Die kristallklare Sprache der analytischen
Philosophen hat das altdeutsche Kauderwelsch eines Kant und Hegel abgelöst, weil der
seine Fragen selbst beantwortende Systematiker sich im reinen Äther
interpretationsimmuner Bedeutungen aufhalten muss, will er seinem Handwerk „auf die
beste mögliche Weise“ nachgehen.

Wer auch immer Rosefeldt diesen Floh ins Ohr gesetzt hat, es muss jemand gewesen sein,
der in den letzten zwanzig Jahren keinen einzigen Blick in die in unserem Sprachraum für
„analytisch“ geltenden Publikationen geworfen hat. Nicht nur begegnet man zu fast allen
Themen einen hochspezialisierten Jargon, dessen Esoterik mühelos mit dem
Fachvokabular eines „Journal of Molecular Endocrinology“ oder einer anderen
medizinischen Subdisziplin mithalten kann, man wird sich auch ganze Jahrgänge von
einschlägigen Zeitschriften hindurch selten mehr, häufig weniger gut unterhalten finden
durch nicht enden wollende Diskussionen, was denn nun eigentlich zum Beispiel mit
Begriffen wie „access consciousness“ oder „volition“ genau gemeint sein soll. Dass die
analytische Philosophie eine Sprache implementiert, deren Klarheit Mehrdeutigkeiten
ausschließt und daher nicht der Interpretation bedarf, wird man getrost zu einem der
vielen Mythen des philosophischen Alltags zählen können.

Es gibt weder den Unterschied zwischen systematischer und historischer Philosophie in


der Schärfe und mit den Konnotationen verbunden, die Rosefeldt nahelegt, noch ist zu
erwarten, dass die „historische Philosophie“ vom Aussterben oder Auswandern bedroht ist.
Vielmehr scheint es so zu sein, dass sich der akademische „Nachwuchs“ in
unterschiedlichen Traditionen gut aufgehoben fühlt. An dieser Situation gibt es eigentlich
nichts auszusetzen.

Rolf-Peter Horstmann ist emeritierter Professor für Philosophie an der Humboldt


Universität Berlin.

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Was ohne Deutung bleibt, ist leer

Kontinentale und analytische Philosophie gelten heute nicht mehr als unvereinbar. Doch
das harmonische Bild trügt. Mit ihren Reinheitsdogmen entzieht die Analytik dem Denken
das kulturelle Fundament.

16.01.2016, von CHARLES TAYLOR

Die wichtigste Unterscheidung in der modernen Philosophie scheint mir nicht die
zwischen „analytischer Philosophie“ und „Kontinentalphilosophie“ zu sein, sondern
vielmehr ein Unterschied, der sich aus den verschiedenen Antworten auf die Frage ergibt,
ob die Philosophie eine autarke Fachdisziplin ist; ob Philosophen also ihre Fragen ohne
Rückgriff auf die Erkenntnisse anderer Fachgebiete beantworten können oder nicht.

Nun ist die Philosophie natürlich ein überaus vielschichtiges Feld, und einige ihrer Fragen
lassen sich höchstwahrscheinlich rein immanent bearbeiten: in der Philosophie der Logik
beispielsweise. Doch wenn es um Ethik, Geschichtsphilosophie, Religionsphilosophie oder
gar um die komplizierten Angelegenheiten der menschlichen Natur - also um
philosophische Anthropologie - geht, so erscheint mir das erkennbar unmöglich.

Reale Bedingungen des Denkens

Ethik ist ein gutes Beispiel. Ohne eine gewisse Rückbindung an den Reichtum der ethisch-
moralischen Erfahrung, verkürzt man sie schnell auf die Beweisproblematik: Wie lässt sich
zeigen, dass Moral bindend ist? Wie kann man schlüssig für eine bestimmte Position
argumentieren? Dabei wird der Wettstreit zwischen einer handverlesenen Menge von
Kontrahenten ausgetragen, in erster Linie zwischen Spielarten des Utilitarismus und
Varianten jener Theorien, die sich von Kants kategorischem Imperativ herleiten.

Oder nehmen wir die politische Philosophie. In der Nachfolge von John Rawls ist eine
Richtung der politischen Philosophie entstanden, die Politik grundsätzlich außer Acht
lässt. Ihr geht es ausschließlich um das Normative. Wenn ich sage, sie lasse Politik außer
Acht, meine ich damit, dass sie niemals bei den Bedingungen ihrer eigenen Verwirklichung
ankommt. Für eine Theorie vom Rawls’schen Typ müsste die Verwirklichung in
irgendeiner Form von liberaler Demokratie mit starkem konstitutionellen Rechtsschutz
bestehen. Doch wie funktionieren diese Politikformen eigentlich? Wie bringen sie ihre
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Bürger dazu, sie zu bewahren? Welche Art von sozialer Vorstellungswelt setzen sie voraus?
Wie sind solche Vorstellungswelten historisch entstanden?

Der Gegensatz zwischen einer derartigen und einer, sagen wir, Toqueville’schen Theorie,
die auf ihre Bedingungen reflektiert, ist schlagend. Doch welche Demokratietheoretiker
von heute stehen in der Tradition de Tocquevilles? Es sind allesamt Denker, die die
Fachgrenzen zwischen Philosophie, Geschichte und Politik überwinden: Pierre
Rosanvallon in Frankreich, Michael Sandel in den Vereinigten Staaten und Jürgen
Habermas in Deutschland.

Preis des Reinheitsdogmas

Was hat das mit der Kluft zwischen Kontinentalphilosophie und analytischer Philosophie
zu tun? Ziemlich viel! Das liegt an der verhängnisvollen Vorliebe vieler analytischer
Philosophen für das selbstgenügsame Philosophiemodell. Diese Vorliebe ist nicht
unvermeidlich. Viele analytisch geschulte Philosophen versuchen durchaus, sie zu
umgehen. Doch vielleicht wird sie von einem kulturellen Selbstverständnis befördert, aus
dem die analytische Philosophie einst hervorging: von einem positivistischen Weltbild
nämlich, das die Hermeneutik unter Generalverdacht stellt.

In einem interessanten Beitrag in dieser Zeitung wies Tobias Rosefeldt auf die
Gretchenfrage dieses Ansatzes hin. Lässt sich eine Fachwissenschaft konstruieren, fragte
Rosefeldt, deren Grundbegriffe „keiner weiteren Interpretation bedürfen“? Keine der
Humanwissenschaften, die ich bisher erwähnt habe - Geschichte, Politik, das Inventar
ethischer Perspektiven -, kann einen solchen Grad an Reinheit erreichen. Wenn sie es
versucht, wird sie steril oder zahlt für ihre Genauigkeit - so wie die Ökonomie - den Preis,
nichts mehr zu den wesentlichen Fragen sagen zu können. Will die Philosophie „rein“ sein,
muss sie sich von diesen heillos verunreinigten Formen fernhalten. Doch damit ist auch sie
zur Sterilität verdammt.

Weil die meisten großen, in der Tradition der Philosophie stehenden Denker die Kluft
zwischen Philosophie und Humanwissenschaften überbrücken, hören ihre Werke nicht
auf, unser eigenes Denken zu befruchten. Dies gilt in besonderem Maße für die
Philosophen des deutschen Idealismus, doch auch für viele andere deutsche Denker der
letzten beiden Jahrhunderte. Es wäre ein großer Verlust, wenn sie in Vergessenheit
gerieten.

Aus dem kanadischen Englisch von Bettina Engels.

Charles Taylor ist emeritierter Professor für Philosophie in Montreal. 1997 wurde er mit
dem Hegel-Preis ausgezeichnet.
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