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Plus IX.

und die Entwicklung


der römisch-katholischen Mariologie*
Professor Dr. Gerhard M ü l l e r , Erlangen, Spardorfer Straße 55
Gerd Teilenbach zum 65. Geburtstag

Bekanntlidi ist kein Gebiet der katholisdien Dogmatik in der Neu-


zeit so stark weiterentwickelt worden wie die Lehre von Maria, der Mutter
Jesu. Von den drei großen lehramtlichen Entscheidungen, die im 19. und
bisher im 20. Jahrhundert gefällt worden sind, entfallen zwei auf die
Mariologie. 1854 erklärte Papst Pius IX., die Meinung, daß die Mutter
Jesu vor der Erbsünde bewahrt worden sei, müsse heilsnotwendigerweise
von allen Gläubigen fest und standhaft vertreten werden. Im Jahr 1950
hat schließlich Papst Pius XII. die leibliche Himmelfahrt Mariens zu einem
Dogma erhoben. Damit ist die Mariologie zu einer der wichtigsten Unter-
scheidungslehren zwischen den christlichen Kirchen geworden. Denn we-
der der Protestantismus noch die Orthodoxie haben sich bisher diesen
römischen Entscheidungen angeschlossen. In unserer klein gewordenen
Welt können die christlichen Konfessionen aber nicht mehr isoliert von-
einander leben. Die Glaubenslehre der versdiiedenen Gruppen muß zwi-
schen ihnen zur Sprache kommen und auch das weitere Vorgehen beein-
flussen. So hat z.B. während des Zweiten Vatikanischen Konzils die
mariologische Diskussion durch ökumenische Gesichtspunkte Verände-
rungen erfahren1.
Die heutige Situation kann aber nicht recht verstanden werden, wenn
nicht die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in der römischen Kirche
gefällten Entscheidungen berücksichtigt werden. Denn damals wurden
die Prinzipien gefunden, auf denen das imposante Gebilde der modernen
katholischen Mariologie ruht. Diese Prinzipien lassen ein Verständnis von
Kirche erkennen, das es kritisch zu betrachten gilt. Dabei ist die Situation
insofern günstig, als seit dem 2. Januar 1967 die vatikanischen Archivalien
aus dem Pontifikar Pius' IX. — d h. für die Zeit von \846 bis 1878 — zu
wissenschaftlicher Erforschung freigegeben worden sind. Die Erhellung
der Motive, der theologischen Begründungen und der kritischen Einwände
kann jetzt recht umfassend vorangetrieben werden.

* Antrittsvorlesung, gehalten in Erlangen am 18. Januar 1968.


1
Ursprünglich war beabsichtigt gewesen, eine eigene Verlautbarung über Maria zu
erarbeiten. Man hat aber dann vorgezogen, die mariologischen Fragen im Zusammen-
hang mit der Ekklesiologie zu behandeln (vgl. Constitutio dogmatica de Ecclesia,
Kap. VIII, abgedruckt z. B. in: Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen,
Dekrete und Erklärungen, Teil I, Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg/Br.
1966, S. 326 ff.; vgl. auch Ernst Wolf, Ekklesiologie und Mariologie nach dem II.
Vatikanum, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts, 18. Jg., 1967,
S. 21—28).
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N. Zcitschr. f. systcmat. Theologie 10 9
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112 Gerhard Müller

Im Mittelpunkt muß dabei jenes Dogma von 1854 stehen, das die
unklare, ja mißverständliche Bezeichnung von der „Unbefleckten Emp-
fängnis Marias" trägt. Denn bei dieser lehramtlichen Entscheidung ging
es nicht um die Zeugung Jesu und die Jungfrauengeburt, sondern um die
Zeugung Marias durch ihre Eltern. Dieses Dogma besagt, daß Maria im
Hinblick auf ihre künftige Aufgabe als Gottesgebärerin von ihrer Zeugung
an alle Zeit vor jedem Makel und besonders auch vor der Erbsünde be-
wahrt worden sei2. Auch Jesus sei ohne Sünde gewesen. Außer ihm aber
nur noch Maria, sonst kein einziger Mensch.
Diese Lehre ist, wie der Spiegel-Bericht über den Glauben der Deutschen
in der Weihnachtsausgabe 1967 gezeigt hat, weitgehend unbekannt. Mehr
als die Hälfte der Befragten, nämlich 53 %, wußte keine Auskunft über
das Dogma von der Immaculata Conceptio zu geben. Mehr als ein Drittel,
nämlich 37 %, dachte an die Geburt Jesu von einer Jungfrau. Lediglich
6 % wußten diese Anschauung »annähernd« richtig zu definieren. Der Rest
entwickelte eigene Vorstellungen. Etwa die: »Wenn man nicht mehr un-
schuldig ist, darf man nicht in Weiß heiraten.« Oder: »Die Frau soll un-
befleckt vor den Altar treten.« Wenn hieraus auch keine Rückschlüsse über
den Glauben gezogen werden können, wie man im »Spiegel« meint, so
doch über die Kenntnis christlichen Traditionsgutes und auch über das Für-
Wahr-Halten einzelner Lehren3. Um der Gerechtigkeit willen muß zwar
gesagt werden, daß auch bei Befragungen über politische Themen die Er-
gebnisse durchaus nicht immer befriedigen. Gleichzeitig kommen wir aber
nicht um die Feststellung herum, daß im Hinblick auf das Immaculata-
Dogma die Spiegel-Enquete alles andere als rosig ist. Handelt es sich doch
hierbei um eine Lehre, die so lange und so heftig wie kaum eine andere
umstritten war. Die Kenntnis solcher Zusammenhänge ist in unseren Tagen
gering. Wir wollen deswegen versuchen, uns einen Überblick über die Ent-
wicklung dieser Lehre zu verschaffen, über die Entstehung des Dogmas und
schließlich über dessen Auswirkungen. Vielleicht ergibt sich daraus ein
Beitrag für unser eigenes Verständnis des Glaubens, für unsere Interpre-
tation von Kirche und für das ökumenische Gespräch zwischen den christ-
lichen Gruppen.
I.
Die Immaculata-Lehre ist erst im Mittelalter4, und zwar in der west-
lichen Christenheit konzipiert worden5. Unter dem Einfluß der augustini-
2
Heinrich Denzinger — Adolf Schönmetzer, Enchiridion symbolorum, 33. Aufl.,
Freiburg/Br. etc. 1965, Nr. 2803.
8
Der Spiegel, 21. Jg., Nr. 52 vom 18. Dezember 1967, S. 53 f.
4
Laurentin hat festgestellt, daß Julian von Aeclanum als erster »behauptete,
daß die Jungfrau der Verstrickung in die Urschuld nicht unterlegen sei«. Er ver-
mochte sich aber nicht durchzusetzen. Noch am Ende des 13. Jahrhunderts wurde
»die Unbefleckte Empfängnis von den Theologen... allgemein bestritten« (Kurzer
Traktat der marianischen Theologie, Regensburg 1959, S. 67 und 98 f.).
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Pius IX. und die Entwicklung der römisch-katholischen Mariologie 113

sehen Erbsündenlehre empfand man es als dringlich, die Mutter Jesu als
von allen Makeln befreit zu sehen. War doch vom Konzil von Ephesus
im Jahr 431 Maria mit dem Titel , Gottesgebärerin, geziert worden.
Es erschien mißlich, sie gleichzeitig als unter dem Fluch der Erbsünde
stehend anzusehen. Deswegen wurde vom 12. Jahrhundert ab in der west-
lichen Christenheit von einer »unbefleckten Empfängnis Mariens« ge-
sprochen. Das heißt, vom Moment ihrer Zeugung ab sei kein Makel an ihr
gewesen, auch nicht der Makel der von Adam her ererbten Schuld.
Auffällig ist nun, daß hervorragende Theologen, die sonst die Mari-
ologie nachhaltig förderten, diese Lehre ablehnten. Sie war neu und be-
drohte die Einzigartigkeit Jesu. Bernhard von Clairvaux z. B. hat die
Immaculata Conceptio nicht akzeptiert. Auch Thomas von Aquin ver-
mochte sich nicht mit ihr zu befreunden. Er nahm vielmehr an, die Mutter
Jesu sei noch vor ihrer eigenen Geburt geheiligt worden. Ihrem Ursprung
nach sei sie aber der Erbsünde unterworfen gewesen wie alle Menschen.
Im Hinblick auf ihre spätere Aufgabe sei sie lediglich sehr früh davon
befreit worden6.
Solche Distinktionen von Theologen vermochten aber nicht viel aus-
zurichten. In der Volksfrömmigkeit wurde nämlich Maria bedenkenlos
mit dem Glanz der neuen Ehre geschmückt. Nach der Hochachtung der
Askese im 1. Jahrtausend nach Christus setzte nun eine Entdeckung des
Weiblichen ein. Sie kommt z. B. im mittelalterlichen Minnesang oder in
der Idealisierung der Frau durch die provenfalischen Troubadours zum
Ausdruck7. Die lange zurückgedrängten und jetzt hervorbrechenden Ge-
fühle mögen zur Verstärkung des Marienkultes nicht weniger beigetragen
haben als die neuen Orden. So haben etwa die Prämonstratenser und die
Zisterzienser alle ihre Kirchen der Gottesmutter geweiht8. Wahrscheinlich
wäre deswegen innerhalb von wenigen Jahrzehnten die Unbefleckte Emp-
fängnis ad maiorem gloriam Mariae allgemein vertreten worden — wenn
diese Lehre nicht zu einem Streitobjekt zwischen den rivalisierenden Do-
minikanern und Franziskanern geworden wäre. Während letztere sie ver-
traten, haben erstere sie abgelehnt.
Damit beginnt nun ein jahrhundertelanges Ringen. Wir können die-
sen Kampf hier nicht verfolgen. Mit Leidenschaft wurde er geführt, was
5
Vgl. dazu auch Bruno Binnebesel, Die Stellung der Theologen des Dominikaner-
ordens zur Frage nach der unbefleckten Empfängnis Marias bis zum Konzil von
Basel, Diss. Breslau, Kallmünz 1934, S. 5 ff. (Teildruck).
0
Giovanni Miegge, Die Jungfrau Maria. Studie zur Geschichte der Marienlehre (Kirche
und Konfession, Bd. 2), Göttingen 1962, S. 106—110.
7
Vgl. Miegge S. 100 f.
8
Stephan Beissel, S. J., Geschichte der Verehrung Marias in Deutschland während des
Mittelalters. Ein Beitrag zur Religionswissenschaft und Kunstgeschichte, Freiburg/Br.
1909, S. 140. Auch wurden viele Niederlassungen der Zisterzienser nach Maria ge-
nannt (ebd. S. 196 f.). Diese Verstärkung des Kultes der Mutter Jesu lag »gleichsam
im Geiste der Zeit« (ebd. S. 195).
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114 Gerhard Müller

sogar makabre Vorfälle einschloß9. Er war möglich, weil Rom sich an-
fangs nicht festlegte. Und er wurde schließlich entschieden, als man sich im
Zentrum der westlichen Christenheit eindeutig für die Immaculata Con-
ceptio aussprach. Für die Beendigung des Kampfes wurde wichtig, daß
Papst Alexander VII. im Jahr 1661 meinte, Mariens Seele sei vor der
Erbsünde bewahrt worden10. Die Dominikaner konnten nun sagen, ihre
Meinung habe sich auf den Körper, das Fleisch der Gottesgebärerin be-
zogen. Im Handumdrehen wurde jetzt aus dem Aquinaten ein verkannter
»Immakulist«11. Als dann noch im 18. Jahrhundert Kardinal Prosper
Lambertini, der spätere Benedikt XIV., zwischen einer aktiven und einer
passiven Empfängnis unterschied, war auch von der Theorie her alles ein-
deutig. Unter aktiver Empfängnis sollte die Zeugung durch die leiblichen
Eltern verstanden sein. Mit der passiven Empfängnis aber war die Be-
seelung des Embryos durch Gott gemeint. Und allein die passive Empfäng-
nis sei eine unbefleckte gewesen12.
Von wenigen Außenseitern abgesehen, wurde die Immaculata-Lehre
jetzt allgemein akzeptiert. Die mariologische Frage kam in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Ruhe. Es begann jetzt, wie ein franzö-
sischer Mariologe gesagt hat, »eine sterile Periode«13, Wenn man von den
christologisdien Diskussionen des 4. und 5. Jahrhunderts absieht, dann
hatte es keinen Streit gegeben, der so heftig geführt worden war wie der-
jenige über die Immaculata Conceptio14. Das war jetzt vorbei. Am nädist-
liegenden mußte es deswegen sein, diese Angelegenheit auf sich beruhen
zu lassen. Dann konnte sich die Volksfrömmigkeit in ihrer Verehrung der
unbefleckten Gottesgebärerin ungestört im Leben der römisch-katho-
lischen Kirche auswirken.

0
Durch die humanistischen »Dunkelmännerbriefe« erlangte ein Vorfall in Bern eine
gewisse Berühmtheit. Dort wollten Dominikaner einen ihrer Novizen mit Hilfe eines
Schwindels zu einem »neuen Franziskus« machen, der Erscheinungen Mariens haben
sollte, in denen diese sich gegen die Unbefleckte Empfängnis aussprach. Die Sache
mißlang aber, wurde ruchbar und führte dazu, daß vier Dominikaner am 3I.Mai
1509 öffentlich verbrannt wurden (Epistolae obscurorum virorum, hrsg. von Aloys
Bömer, Stachelschriften, ältere Reihe, I, 1—2, Heidelberg 1924, Bd. l, S. 51 f. und
Bd. 2, S. 82 f. u. ö.).
10
Denzinger — Schönmetzer Nr. 2015. Bereits im Jahre 1617 hatte Papst Paul V.
verboten, »die makulistische These« öffentlich vorzutragen, und fünf Jahre später
dehnte Gregor XV. »das Verbot seines Vorgängers ... auch auf private Anlässe aus«.
Nur den Dominikanern wurde gestattet, »unter sich und nicht im Beisein anderer«
ihre alte Meinung zu vertreten (Laurentin S. 106 Anm. 150).
11
Laurentin S. 107.
12
Miegge S. 120.
13
Laurentin S. 107.
14
Giulio da Nembro, O. F. M. Cap., La definibilita dell'Immacolata Concezione negli
scritti e nelPattivita di Giovanni Perrone, S. J. (Centro Studi Cappuccini Lombardi,
Bd. 4), Mailand 1961, S. V.
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Pius IX. und die Entwicklung der römisch-katholischen Mariologie 115

II.
Pius IX. aber dachte anders. In seiner Jugend war er an Epilepsie er-
krankt gewesen. Bei der Heilung, die er erfuhr, wurde er auf die Fürbitte
Mariens verwiesen. Ihr brachte er nun »kindliche Verehrung« entgegen15.
Vom Anfang seines Pontifikates an förderte er ihren Kult16. Es kam sehr
gelegen, daß der Jesuit Giovanni Perrone im Jahr 1847 eine Schrift »Über
die unbefleckte Empfängnis der seligen Jungfrau Maria« publizierte, mit
der er den Nachweis führen wollte, daß diese Lehre »durch ein dogma-
tisches Dekret definiert werden könne«. Aus der Bibel und der kirchlichen
Tradition, aus der Liturgie und dem Glaubenssinn der Kirche versuchte
er nachzuweisen, daß die Zeit für eine dogmatische Entscheidung reif sei.
Konvenienzgründe wie der, daß die Ehre der Gottesgebärerin es nicht ver-
trage, daß sie jemals mit dem Makel der Erbsünde befleckt gewesen sei,
sprachen nach seiner Meinung ebenfalls für ein theologisches Dekret. Aller-
dings schlug Perrone vor, das Dogma nicht direkt zu formulieren, weil
dies Widerspruch hervorrufen könne, sondern es indirekt festzulegen, in-
dem man sage, daß die Kirche nicht irre, wenn sie die Freiheit Mariens von
jedweder Sünde vertrete17.
Diese Schrift, von der in den Jahren 1847 bis 1854 mindestens zwölf
Ausgaben erschienen18, mag mit dazu beigetragen haben, daß Pius IX. sich
entschloß zu handeln. Jedenfalls hat er am 1. Juni 1848 eine Kommission
von Theologen eingesetzt, die die Frage prüfen sollten, ob eine päpstliche
Entscheidung über die Immaculata Conceptio angeraten werden könne.
T)ie Mehrzahl der erbetenen Gutachten ließ auf sich warten. Am fleißigsten
waren die mönchischen Mitglieder der Kommission. Sieben von ihnen
legten innerhalb von sechs Monaten die Ergebnisse ihrer Erwägungen vor.
Darin meinten sie fast alle, daß die Zeit für ein Handeln der römi-
schen Kirche gekommen sei. Zwei Mitglieder der römischen Kurie äußerten
sich dagegen zurückhaltend. Sie hatten nicht nur die Situation eines Ordens
oder eines Landes — nämlich Italiens — im Auge, sondern sie erwogen
15
Josef Schmidlin, Papstgeschichte der neuesten Zeit, 2. Bd., München 1934, S. 7 f.
und 316.

Pius' Vorgänger, Gregor XVI., hat an ihn herangetragene Bittgesuche um Dogma-
tisierung der Immaculata Conceptio nicht erhört (Siegfried Gruber, Das Vorspiel
zur Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Mariens in Deutschland [1849—
1854], Diss. Erlangen S. 5 f.). Einzelne liturgische Veränderungen hat er dagegen
gebilligt, und Pius IX. ist ihm darin gefolgt, vgl. die Zusammenstellung der Erz-
bischöfe, Bischöfe etc., denen Konzessionen zuteil wurden, bei Giovanni Perrone,
S. J., De immaculato B. V. Mariae conceptu an dogmatico decreto definiri possit,
disquisitio theologica, Rom 1847, S. 242—263.
17
Vgl. den Original-Titel in Anm. 16 und die Ausführungen bei Nembro S. 9—66.
^ Nembro nennt S. 72 f. Anm. l elf Ausgaben. Eine zwölfte, eine deutsche Über-
tragung, die 1849 in Regensburg publiziert wurde, verzeichnet in: The Dogma of
the Immaculatc Conception. History and Significance, hrsg. von Eward Dennis
O'Connor, C. S. C, Notre Dame, Ind., 1958, S. 562. Auch Gruber hat diese Über-
setzung gekannt, vgl. S. 28 Anm. l f. u. ö.
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116 Gerhard Müller

auch die Verhältnisse in anderen Gebieten der Christenheit. Dadurch ka-


men sie zu der Auffassung, daß ein Dogma nicht opportun und möglicher-
weise auch in absehbarer Zeit nicht anzuraten sei. Ein römischer Dogmatik-
professor schließlich hielt die Lehre von der unbefleckten Empfängnis
Mariens grundsätzlich nicht für definierbar. Sie fehle in der Bibel und in
der kirchlichen Tradition. Audi aus den Liturgien könne kein zwingender
Schluß gezogen werden. Von einer Übereinstimmung der Gläubigen könne
ebenfalls keine Rede sein. Bekanntlich sei sie noch im 13. Jahrhundert nicht
vorhanden gewesen. Die Belege, die der Jesuit Perrone zusammengetragen
hatte, werden von dem römischen Dogmatiker zerpflückt. Übrig bleibt
— was heute allgemein historisch-kritisch anerkannt werden muß —, daß
diese Lehre erst im Mittelalter wirklich konzipiert wurde19.
Aus den Erwägungen der Theologen konnten entgegengesetzte An-
sichten abgeleitet werden: Bejahung wie auch Verneinung eines Dogmas
von der Immaculata Conceptio. Bevor man aber daraus Schlüsse ziehen
konnte, trieb die Revolution von 1848 den Papst aus Rom und dem
Kirchenstaat hinaus. Pius IX. floh ins Königreich Neapel und mußte war-
ten, bis nichtitalienische Truppen ihm sein Land zurückeroberten. Aber
auch in seinem Exil verlor er den Plan, die Mariologie zu bereichern, nicht
aus den Augen. Noch gegen Ende des Jahres 1848 setzte er in Süditalien
eine Kardinalskommission ein, die diesen Fragenkomplex weiter behan-
deln sollte20. Er persönlich kümmerte sich um deren Zusammensetzung.
Als Berater wurden Theologen hinzugezogen. Es hatte ganz den Anschein,
als wolle Pius auch außerhalb von Rom wichtige Glaubensentscheidungen
fällen. Dazu vermochten aber nicht alle Kardinale und nicht alle Ratgeber
ihre Zustimmung zu geben. Ihnen schien es unvorstellbar, daß ein Papst
außerhalb von Rom ein Dogma fälle. Deswegen einigten sie sich darauf,
dem Papst zu empfehlen, eine Enzyklika an alle Bischöfe zu richten, durch
die er sie auffordern möge, ihm Bericht zu erstatten über ihre persönliche
Einstellung in dieser Marienfrage und über die Marienverehrung in ihren
Diözesen. Außerdem sollten verschiedene Theologen die Grundlagen für
die Immaculata-Lehre im Alten wie im Neuen Testament und in den alten
Liturgien überprüfen und zu weiteren Fragen Stellung nehmen.
Das ist dann auch weitgehend geschehen. Vor allem aber hat Pius IX.
den Vorschlag akzeptiert, eine Befragungsenzyklika an den Episkopat zu
versenden21. Der Papst, der sich persönlich mit dem Text dieses Dokumen-
19
Vgl. Gerhard Müller, Die unbefleckte Empfängnis Mariens im Urteil päpstlicher
Ratgeber 1848—1852, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, Bd. 78, 1967, S. 300—318
(zit.: Die unbefleckte Empfängnis). Allerdings wird die implizite Offenbarung dieser
Lehre in der Bibel und der apostolischen Tradition auch weiterhin behauptet, vgl.
z. B. Gabriele M. Roschini, O. S. M., La Madonna secondo la f ede e la teologia,
Bd. 3: I singolari privilegi di Maria SS., Rom 1953, S. 16 ff.
20
Vgl. Müller, Die unbefleckte Empfängnis S. 318 ff.
21
Vgl. hierzu und zum folgenden Gerhard Müller, Die Immaculata Conceptio im
Urteil der mitteleuropäischen Bischöfe. Zur Entstehung des mariologischen Dogmas
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Pius IX. und die Entwicklung der römisdi-katholischen Mariologie 117

tes befaßt hat, bringt darin seine eigene Beschäftigung mit der Immaculata-
Lehre zum Ausdruck und berichtet von den Vorarbeiten, die Theologen
und Kardinale bereits in seinem Auftrag geleistet haben. Er fordert die
Bischöfe auf, ihm möglichst rasch mitzuteilen, »ob ihr Klerus und die
Gläubigen von dem 'brennenden Wunsch' erfüllt seien«, die Lehre von der
Immaculata Conceptio vom Apostolischen Stuhl entschieden zu sehen.
Damit tritt nun die Vorgeschichte des Dogmas von 1854 in ihre entschei-
dende Phase. Die Ratschläge der Theologen in Rom waren geheim geblie-
ben. Die Beteiligten waren zu Vertraulichkeit verpflichtet. Auch von den
Beratungen der Kardinale und ihrer Ratgeber im Königreich Neapel gilt
das. Da jetzt aber die Bischöfe in aller Welt mit den päpstlichen Inten-
tionen vertraut gemacht wurden, mußte es naheliegen, daß die einmal in
Bewegung geratenen Bestrebungen nicht mehr aufgehalten werden
konnten.
Die nun bald in großer Zahl eintreffenden bischöflichen Antworten
haben die Arbeiten der theologischen Ratgeber zunächst in den Hinter-
grund treten lassen. Die episkopalen Äußerungen wurden gesammelt und
in einer neunbändigen, allerdings damals zunächst geheimen Publikation
während der Jahre 1851 und 1852 in Rom an der Kurie vorgelegt22. Das
Echo ist — was man bisher kaum beachtet hat23 — vielfältig. Neben der
Bejahung der Dogmatisierungsbestrebungen steht deren Ablehnung — wo-
bei allerdings die Befürworter weitaus die Mehrheit bilden. Etliche
Bischöfe antworten gar nicht, weil sie dem Papst nicht mitteilen wollen,
daß sie mit seinen Bestrebungen nicht konform gehen24. Andere wagen es
nicht, ein Urteil zu fällen, sondern versichern dem Papst lediglich, daß
sie gehorsam annehmen werden, was er entscheidet25. Wenn eine Harmonie
innerhalb dieses vielstimmigen Chores herrscht, dann darin, daß die oboe-
dientia der Bischöfe gegenüber dem Papst vorbehaltlos akzeptiert wird.
Man redet, als sei die Unfehlbarkeit päpstlicher Entscheidungen bereits
dogmatisiert. Selbst dizidierte Gegner der Immaculata-Lehre kündigen
an, daß sie eine positive Stellungnahme Pius' IX. gehorsam annehmen

von 1854, in: Kcrygma und Dogma, ßd. 14, 1968, S. 46 f. (zit.: Immaculata Con-
ceptio).
22
Der Titel lautet: Pareri dell'episcopato cattolico, di capitoli, di congregazioni, di
universitä, di personaggi ragguardevoli ecc. ecc. sulla definizione dogmatica delPlm-
macolato Concepimento della ß. V. Maria, rassegnati alla Santita di Pio IX P. M.
in occasione dclla sua enciclica data da Gaeta il 2 febraio 1849.
23
Das hängt sicher mit der Behauptung in der Dogmatisierungsbulle zusammen, die
Bischöfe hätten »einstimmig« um die Dogmatisierung gebeten, vgl. unten Anm. 32.
21
So erklärt der päpstliche Nuntius in Wien, Michele Viale Prela, die auffällige Tat-
sache, daß nur wenige Bischöfe aus dem Gebiet der österreichischen Monarchie die
Enzyklika beantworteten (Vincenzo Sardi, La solenne definizione del dogma
deirimmacolato Concepimento di Maria Santissima. Atti e documenti, Bd. l, Rom
1904, S. 623 f.).
25
Müller, Immaculata Conceptio S. 47 f.
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118 Gerhard Müller

werden26. Im übrigen haben die Bischöfe aber kaum Veranlassung gesehen,


sich mit grundsätzlicheren Problemen abzugeben. Entsprechend dem päpst-
lichen Anschreiben haben sie sich lediglich über ihre persönliche Einstellung
geäußert und über die Marienfrömmigkeit in ihrer Diözese. Ob dieselbe
in einer apostolischen Tradition wurzele, ob sie eine legitime Entwicklung
aus der altkirchlichen Lehre darstelle oder ob sie sich aus anderen Motiven
herleite, all dies wurde fast von keinem von ihnen untersucht.
Auffällig ist lediglich, daß vor allem in Mitteleuropa der Wider-
stand gegen diese Lehre groß war. Besonders ausgeprägt war er in der
österreichischen Monarchie. Der gesamte böhmische und der slowakische
Episkopat sprachen sich gegen ein Dogma aus. Aus den österreichischen
Erblanden unterstützte lediglich ein einziger Bischof die beabsichtigte
Dogmatisierung27. In Deutschland war das Echo unterschiedlich28. Neben
warmen Befürwortungen stehen zurückhaltende Antworten und auch ab-
lehnende Stimmen. Der Erzbischof von Bamberg verwies darauf, daß nicht
einmal das Konzil von Trient es gewagt habe, die Immaculata Conceptio
Mariae zu dogmatisieren, und bat den Papst mit bewegten Worten, die
Entscheidung über diese Frage einem Generalkonzil zu überlassen29. Wenn
von ihm auch nicht expressis verbis das Recht des Papstes zur Festlegung
von Dogmen bestritten wurde, so wurde doch deutlich, daß er die Stellung-
nahme eines Generalkonzils für notwendig erachtete.
26
Audi der bisher bekannteste Gegner einer Dogmatisierung, der Erzbischof von Paris
Dominique—Auguste—Marie Sibour, hat erklärt, er werde sich dem »jugement
infaillible du Vicaire de Jesus-Christ« unterordnen (Pareri, Bd. 3, S. 310 f.). Zwar
hat er in dieser Angelegenheit dreimal an den Papst geschrieben: am 25. August 1849,
am 26. Juli 1850 und am 17. Dezember 1850. Jedesmal hat er seiner Überzeugung
Ausdruck gegeben, daß die Lehre von der Immaculata Conceptio weder definibel
noch ein solcher Akt jetzt opportun sei (Pareri, Bd. 2., S. 26—46, und Bd. 3., S. 310 f.
und S. 338). Aber dennoch hat er seine Unterordnung unter eine anderslautende
päpstliche Entscheidung angekündigt und dieselbe auch wahr gemacht (vgl. Müller,
Immaculata Conceptio S. 70 Anm. 106). Auf die Bedenken einiger Bischöfe, die
noch dazu nicht immer ganz richtig wiedergegeben sind, hat Eduard Preuß hin-
gewiesen in seiner polemischen Schrift »Die römische Lehre von der unbefleckten
Empfängnis aus den Quellen dargestellt und aus Gottes Wort widerlegt«, Berlin
1865, S. 121 ff. Preuß konvertierte später zum Katholismus, revozierte diese Schrift
und starb »als treuer Verehrer Marias« (Ludwig Kösters, Maria, die unbefleckt
Empfangene, Regensburg 1905, S. 189 Anm. 1).
27
Nämlich der Benediktiner Gregor Thomas Ziegler, der Bischof von Linz (Müller,
Immaculata Conceptio S. 53).
28
Hierüber hat S. Gruber in seiner Anm. 16 genannten Dissertation viel neues Material
zusammengetragen. Er behandelt vor allem neben dem deutschen Episkopat auch
die deutsche Universitätstheologie und die öffentliche Meinung in Deutschland
(S. 43—176).
29
Müller, Immaculata Conceptio S. 58 f. Gruber hat nachgewiesen, daß Erzbischof
Kaspar von Urban sich dabei »auf die Ergebnisse einer schriftlichen Befragung des
gesamten Diözesanklerus« stützte, und hat das vorliegende Quellenmaterial zum
ersten Mal analysiert (S. 51 ff.).
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Pius IX. und die Entwicklung der römisch-katholischen Mariologie 119

Andere wie der Fürstbischof von Breslau bezweifelten die Oppor-


tunität dieses Dogmas. Ein solches werde nämlich die Welle von Konver-
sionen zum Katholizismus, die eingesetzt hatte, zum Erliegen bringen30.
Es ist nicht möglich, die Fülle der kritischen Argumente hier vorzutragen.
Nur darauf sei noch verwiesen, daß auch die Notwendigkeit einer Dogma-
tisierung bestritten wurde: Dogmen seien zur Abwehr von Irrlehren for-
muliert worden; die Immaculata Conceptio werde aber jetzt kaum
irgendwo bestritten31. Oder es wurde erklärt, für viele Leute sei die Lehre
von der unbefleckten Empfängnis Mariens unzweifelhaft. Wenn sie jetzt
dogmatisiert werde, mache man die Menschen erst darauf aufmerksam,
daß die Möglichkeit zu zweifeln besteht, denn viele kennen den Unter-
schied zwischen einer frommen Meinung und einer heilsnotwendigen Lehre
nicht. Da aber von keinem der Bischöfe angekündigt wurde, daß er ein
solches Dogma als eine Irrlehre ansehen müsse, so daß er im Falle eines
päpstlichen Handelns die oboedientia gegenüber dem Bischof von Rom
aufkündigen müsse, blieb Pius IX. in seinen Bestrebungen grundsätzlich
ungehindert™.
Daran änderten auch die weiteren theologischen Gutachten wenig,
die vom Oktober 1850 ab an der römischen Kurie eingingen. Zwar wurde
deutlich gemacht, daß die unbefleckte Empfängnis der Mutter Jesu nir-
gendwo in der Bibel ausdrücklich bezeugt sei33. Aber dem wurde entgegen-
gehalten, daß es die Kirche sei, die einige Stellen der Heiligen Schrift
mariologisch interpretiere und die darin auch die Immaculata Conceptio
implizit ausgedrückt finde34. Dazu habe die Kirche das Recht — das Lehr-

30
Müller, Immaculata Conceptio S. 62 f. Damals war Melchior von Diepenbrock Fürst-
bischof von Breslau, den Gruber »einen unter dem Episkopat des 19. Jahrhunderts
in Deutschland hervorragenden Mann« nennt (S. 59; über ihn vgl. auch Heinrich
Tritz, CSSR, Fürstbischof Diepenbrocks heitere Chronikberichte für Kanonikus
Zech in Regensburg, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte, Bd. 24, 1966, S.
232—255 und die dort angegebene Literatur). Auch der Primas von Belgien, Kardinal
Engelbert Sterckx, bezweifelte die Opportunität einer Dogmatisierung der Im-
maculata—Lehre (Roger Aubert, L'e*piscopat beige et la proclamation du dogme
de rimmacuiee Conception en i£54, in: Ephemerides theo/ogicae lovanienses, Bd.
31, 1955, S. 65—70).
31
Vgl. hierzu und zum folgenden Müller, Immaculata Conceptio S. 58 ff.
32
Die Behauptung in der Dogmatisierungsbulle vom 8. Dezember 1854, die Bischöfe
hätten den Papst »einstimmig« um seinen Schiedsspruch gebeten (Rudolf Graber,
Die marianischen Weltrundschreiben der Päpste in den letzten hundert Jahren, 2. Aufl.
Würzburg 1954, S. 26), geht allerdings über den geschilderten Sachverhalt — Bereit-
schaft zum Gehorsam — in einer sachlich und historisch nicht zutreffenden Weise
hinaus.
33
Auch die theologischen Gutachter haben nicht alle — wie es nach den Aussagen der
Dogmatisierungsbulle den Anschein hat und wie bisher angenommen wurde (vgl.
Graber S. 26 und Müller, Die unbefleckte Empfängnis S. 302 und S. 336 f.) — den
Wunsch nach einer Dogmatisierung geäußert.
34
Vgl. hierzu und zum folgenden Müller, Die unbefleckte Empfängnis S. 323—335.
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120 Gerhard Müller

amt wurde also der Bibel ausdrücklich übergeordnet. Außerdem tendiere


der Glaubenssinn der Kirche in die Richtung dieses neuen Dogmas. Es
fehlten nicht Stimmen, die diesen Glaubenssinn zum alleinigen Maßstab
für kirchliche Entscheidungen machen wollten. Vor allem aber galt die so
weitverbreitete Verehrung der Immaculata als ein Indiz für die Wahrheit
dieser Lehre: Gott will die Kirche ja in alle Wahrheit leiten. Er kann des-
wegen nicht gestattet haben, daß eine Irrlehre in der Kirche vertreten
wurde oder wird. Schließlich wurden auch Konvenienzgründe geltend ge-
macht. Aus dem Dogma von 431 wurde der Schluß gezogen, daß es unge-
bührlich sei, die Mutter des Gottessohnes nicht als von der Erbsünde befreit
anzusehen.
Auch die Gegner der Dogmatisierung konnten solche Folgerungen
nicht abstreiten. Sie behaupteten aber, Konvenienzgründe allein genügten
nicht für einen solch gewichtigen Schritt, wie ihn die feierliche Verkündi-
gung eines Dogmas darstelle. Diese Männer bekannten sich zur Immacu-
lata-Lehre als einer pia opinio, einer frommen Meinung. Sie lehnten ledig-
lich die Dogmatisierung dieser Anschauung ab. Aus der Tatsache, daß es
hier um eine Angelegenheit geht, die nach ihrer Meinung nicht zur gött-
lichen Offenbarung gehört, wird nicht grundsätzlich im Sinne einer re-for-
matio der christlichen Botschaft die Aussonderung dieser Anschauung aus
der Kirche gefordert, sondern etwas für die Frömmigkeit akzeptiert, was
für ein Dogma nicht annehmbar erscheint35. Dieser Standpunkt war wenig
glücklich36. Es kann deswegen nicht verwundern, daß Pius IX. sich darüber
hinwegsetzte, ja, daß er der Meinung war, grundsätzlicher Widerstand sei
ihm nicht entgegengetreten37. Denn auch die Opportunitätserwägungen
konnten seine Bestrebungen nicht ernsthaft gefährden. Was für Deutsch-
land und Österreich ungünstig zu sein schien, konnte für Italien förderlich
sein. Dort war er in schwierige politische Verhältnisse verquickt. Die Aus-
sicht, von der ein theologischer Ratgeber sprach, daß Maria nach einem
Dogma »Rom und der ganzen Kirche den wahren Frieden wiederschenken«
werde38, konnte nur verlockend sein. Mit anderen Worten: Die Hoffnung,
daß das Papsttum in Italien durch die Förderung der Mariologie wieder
festeren Fuß fassen würde, da der romanische Katholizismus hinter diesen
Tendenzen stand, eröffnete sogar aussichtsreiche Perspektiven.

a5
Gerhard Müller, Theologische Erkenntnis und päpstliche Infallibilität. Vincenzo
Tizzani über die Lehre von der Immaculata Conceptio am Vorabend ihrer Dogma-
tisierung, in: Humanitas-Christianitas. Walther von Loewenich zum 65. Geburtstag,
Witten 1968, S. 182flF.(zit.: Theol. Erkenntnis).
86
Er wurde im Grunde von allen Bischöfen und allen Theologen vertreten, die ein
Dogma ablehnten, sich aber in ihrem eigenen Glauben als Verehrer der unbefleckt
Empfangenen ausspradien.
87
Vgl. die Aussagen in der Dogmatisierungsbulle bei Graber S. 25 f.
38
Müller, Die unbefleckte Empfängnis S. 311.
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Plus IX. und die Entwicklung der römisch-katholischen Mariologie 121

III.
Angesichts dieser Lage ist es nicht verwunderlich, daß bereits im Jahr
1850 der I.Entwurf für eine päpstliche Dogmatisierungsbulle vorgelegt
wurde39. Er stammte aus der Feder des schon genannten Giovanni Perrone,
der zu dieser Zeit noch nicht zu den offiziellen Ratgebern Pius' IX. in
dieser Frage gehörte40. Daß dieser Befürworter der Immaculata-Lehre
seine alten Anschauungen vertritt, ist naheliegend. Ohne Rücksicht auf die
Bestreitungen der Gegner werden alt- und neutestamentliche Stellen auf
die Immaculata Conceptio bezogen. Aus der Überzeugung von der immer-
währenden Jungfrauschaft Mariens — also aus einer nicht ausdrücklich
dogmatisierten, aber im Mittelalter im Westen allgemein anerkannten
Lehre41 — wird gefolgert, daß Maria von allen Makeln befreit sei. Hier
handelt es sich wieder um eine Konvenienzaussage. Aber darauf liegt nicht
der Nachdruck. Perrone meint vielmehr nachweisen zu können, daß die
Immaculata-Lehre in beiden Quellen der Offenbarung — in Bibel und
Tradition — oder wenigstens in einer der beiden implizit vorhanden und
damit beständiges Glaubensgut der Kirdne sei42. Mit Hilfe einer großen
Zahl von Stellen versucht er dies zu belegen. Sein Entwurf macht deswegen
einen recht akademischen Eindruck und entspricht kaum dem, was man
von einer lehrmäßigen päpstlichen Entscheidung erwartet43.
Perrones Text ist von den päpstlichen Konsultoren dann auch mit
recht großen Reserven aufgenommen worden. Von fünf Äußerungen, die
wir über ihn besitzen, stammen zwei von Gegnern der Lehre. Einer von
ihnen meint, wenn diese Meinung schon definiert werde, dann solle man
nicht Kirchenväterstellen als Belege zitieren, in denen es nicht um die
Immaculata Conceptio, sondern um die Jungfräulichkeit Mariens gehe44.
Ein Befürworter der Dogmatisierung erklärt, in der Bulle müsse zugegeben
werden, daß diese Lehre nicht immer explizit in der Kirche vorhanden
gewesen sei. Immerhin sei der Widerspruch gegen sie zeitweise ausdrück-
lich erlaubt gewesen45. Ein weiterer Befürworter wendet sich gegen die
39
X. Le Bachelet meinte, die Vorbereitungen für die Dogmatisierungsbulle hätten im
Afürz 1851 begonnen (Immzculee conceptlon, in; Dictionnaire de TheOJogie catholl-
que, Bd. 7, l, Paris 1922, S. 1199). Ncmbro äußerte, Perrone sei spätestens Anfang
1851 mit dem Entwerfen einer Bulle beauftragt worden (S. 86). Aus Perrones Text
geht aber hervor, daß er schon 1850 verfaßt worden sein muß, denn es heißt, im
vorigen Jahr seien am 2. Februar die Bischöfe um ihren Rat gebeten worden (Sardi,
Bd. 2, Rom 1905, S. 34). Das war 1849, so daß Perrones Arbeit während der zweiten
Hälfte des folgenden Jahres entstanden sein dürfte.
40
Mitglied der Theologen-Kommission wurde Perrone erst am 4. August 1851 (Müller,
Die unbefleckte Empfängnis S. 329).
41
J. Weerda, Mariologie, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Bd. 4,
Tübingen 1960, Sp. 768.
43
Vgl. auch Nembro S. 86.
43
Dieser erste Entwurf wurde abgedruckt bei Sardi 2, 22—38.
44
Sardi 2, 41.
45
Sardi 2, 39 f.
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122 Gerhard Müller

Übertreibung, daß die unbefleckte Empfängnis viel ehrenvoller als alle


anderen Prärogativen Mariens sei. Auch er meint, man könne nicht sagen,
daß diese Lehre immer Lehre der Kirche gewesen sei. Sonst würde man
auch diejenigen Äußerungen der Päpste akzeptieren, denen zufolge die
Immaculata Conceptio umstritten sein darf. Dann werde aber nichts
Neues geschaffen46. Nur ein Gutachter findet den vorgelegten Text, so wie
er ist, recht und gut47.
Dieser erste Entwurf ist dann auch nicht angenommen worden. Es
sind aber kaum die Bedenken dieser Konsultoren gewesen, die ihn zu Fall
gebracht haben. Vielmehr wünschte Pius Ende 1851 und Anfang 1852
einen neuen Text, durch den man sowohl die Mariologie bereichern als
auch den Zeitirrtümern den Kampf ansagen wollte. Einen Entwurf, der
diesen Wünschen Rechnung tragen sollte, verfaßte der Benediktiner
Prosper Louis Pascal Gueranger, Abt von Solesmes, der von dem Jesuiten
Carlo Passaglia unterstützt wurde. Der Text wurde dem Papst bereits am
23. März 1852 übergeben48, also mehr als zwei Jahre vor der endgültigen
Fertigstellung des Dogmatisierungsdekretes.
Auch dieser Vorschlag hat aber nicht die in ihn gesetzten Erwartungen
erfüllt. Wahrscheinlich stieß Pius sich daran, daß der Entwurf nicht orga-
nisch aufgebaut war. Es kommen Wiederholungen vor. Die Dogmatisie-
rung der Immaculata Conceptio findet sich mitten im Text. Daran schließt
sich dann wie ein Anhängsel die Verurteilung der Zeitirrtümer an, die
noch dazu recht allgemein gehalten ist. All dies konnte nicht als das an-
gesehen werden, was der Papst gewünscht und gefordert hatte. Er setzte
deswegen am 8. Mai 1852 eine Spezialkommission ein49, die die Argumente
zusammenstellen sollte, die bei einer Dogmatisierungsbulle berücksichtigt
werden müßten. Es ist hier nicht der Ort, ihre Arbeiten im einzelnen zu
untersuchen. Man muß aber zugestehen, daß sie es sich nicht leicht gemacht
hat. Nochmals wurden die Argumente zusammengestellt, die bei der Ab-
fassung eines Dekretes beachtet werden müßten. An erster Stelle werden
Konvenienzgründe genannt. Was die Bibel angeht, so heißt es lediglich, daß
ihre Aussagen nicht gegen, sondern für die Immaculata Conceptio seien.
Auch in der kirchlichen Tradition sei die große Mehrheit für diese Lehre.
Aus der Tatsache, daß es ein Fest der Unbefleckten Empfängnis gibt, könn-
ten ebenfalls nur positive Folgerungen gezogen werden. Vor allem aber
spreche der „Glaubenssinn der gesamten Kirche" für die Dogmatisierung50.
Hier wird deutlich, daß man sich bei der Begründung einer päpstlichen
46
Sardi 2, 41—45.
47
Sardi 2, 46.
4S
Nembro S. 88 f. Anm. 11. Dieser Entwurf stammt also nicht allein von Passaglia,
wie noch Sardi angenommen hatte (2, 60 Anm. 1), der diesen Text ebenfalls abge-
druckt hat: 2,60—76.
49
Nembro S. 90.
50
Sardi 2, 46—54.
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Pius IX. und die Entwicklung der römisch-katholischen Mariologie 123

Entscheidung weniger auf den Nachweis einer apostolischen Tradition als


auf den Zusammenhang der mariologischen Lehren, auf die vorhandene
Frömmigkeit und auf das Lehramt der Kirche stützen mußte. Die Spezial-
kommission machte sich auch die Mühe, sich mit den Argumenten der
Gegner einer Dogmatisierung auseinanderzusetzen, deren Gründe sie als
nicht stichhaltig hinstellte51.
Diesem Gremium war recht viel Zeit zur Durchführung seiner Ar-
beiten gewährt worden. Erst am 2. August 1853 — also fast 15 Monate
nach seiner Konstituierung — wurden seine Ergebnisse vor allen päpst-
lichen Konsultoren zur Diskussion gestellt. Auch dabei kam es aber nicht
zu einer einhelligen Meinung. Die Gegner einer Dogmatisierung ließen
sich nicht von den Erwägungen der Mitglieder der Spezialkommission
überzeugen52. Sie hielten vielmehr an ihren grundsätzlichen Bedenken oder
an ihren Opportunitätszweifeln fest. Nach mehr als fünfjähriger Diskus-
sion war man sich nicht näher gekommen. Hier die Betonung der Not-
wendigkeit einer apostolischen Tradition, dort der Nachdruck auf dem
Glaubenssinn der Kirche. Hier historisch-kritische Einwände, dort der
Verweis auf Lehramt und Frömmigkeit. Neue Schriftstücke wurden ge-
wechselt. Der Ton wurde schärfer, ja unerquicklich.
Pius aber, dem alle Konsultoren ihren Gehorsam beteuerten, hielt an
seinem Vorhaben fest. Am 22. März 1854 setzte er eine Kardinalskommis-
sion ein, die den Auftrag erhielt, den endgültigen Definitionstext festzu-
legen53. Den Emminenzen wurden verschiedene Unterlagen übermittelt,
aus denen ersichtlich war, welche vorbereitenden Arbeiten während des
Pontifikates Pius' IX. bereits geleistet worden waren. Vor allem erhielten
sie die bischöflichen Antworten auf die päpstliche Befragungsenzyklika und
die Voten der Konsultoren, die ebenfalls gedruckt worden waren54. Die
Kardinale haben ihre Arbeit im Mai 1854 aufgenommen, als sich die Ziele
der römischen Kurie verdeutlichten und als sich herauskristallisierte, daß
bei der Dogmatisierung Bischöfe aus aller Welt in Rom anwesend sein
sollten.
51
SarJi 2, 55—6 . Man iiatte aii'efc/irigs darauf verzichtet, Gegner einer Dogmatisie-
rung in die Spezialkommission aufzunehmen. Deren wichtigste Mitglieder waren
Perrone und Passaglia. Gruber berichtet, Perrone habe den Vorsitz geführt (S. 6).
Das geht aber aus den mir bekannt gewordenen Quellen nicht hervor. Roger Aubert
verweist mit Recht auf Passaglias großen Anteil an den Beratungen und Ergebnissen
dieses Gremiums (Le pontifkat de Pie IX, Histoire de l'Eglise Bd. 21, 1952, S. 279).
52
Der wichtigste Gegner war Tizzani, vgl. Müller, Theol. Erkenntnis S. 183; zum
folgenden vgl. ebd. S. 184 ff.
5a
Sardi 2, 89—93.
5
* Es handelt sich dabei um drei Bände, die den Titel tragen: Voti sull'Immacolata
Concezione della Madre di Dio, emessi da varii consultori, destinati dalla Santita
di N. S. Papa Pio IX. Die Bände erschienen 1852 in Rom und wurden nur dem
engsten Kreis der Mitarbeiter an dieser Frage vorübergehend zugänglich gemacht.
Sie sind bisher fast unbeachtet geblieben (vgl. Müller, Die unbefleckte Empfängnis
S. 302 f.).
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124 Gerhard Müller

Das geht aus dem dritten Dogmatisierungsentwurf hervor, der wäh-


rend dieser Zeit entstanden sein dürfte55. Er stammt zum guten Teil von
Passaglia56, der sich an den ersten Entwurf Perrones anlehnte, während
der zweite Vorschlag kaum Spuren hinterlassen hat — hauptsächlich wohl
deswegen, weil an eine Koppelung der Dogmatisierung der Immaculata
Conceptio mit der Verurteilung der sogenannten Zeitirrtümer jetzt nicht
mehr gedacht war. In diesem Text wurde wieder die Überzeugung laut,
daß die behandelte Lehre in Bibel, Tradition und Kult sowie von den her-
vorragendsten Kirchenlehrern vertreten worden sei. Sie sei implizit oder
explizit immer vorhanden gewesen. Denn die Kirche bewahre die Religion
unverletzt. Sie wisse, wann es Zeit sei zum Reden und wann zum Schweigen.
Jetzt sei die Zeit zum Reden gekommen: Die Freiheit der Seele Mariens
von der Erbsünde soll von den Gläubigen mit dem Herzen geglaubt und
mit dem Munde bekannt werden. Im Unterschied zum ersten Entwurf war
hier das Dogma von der Immaculata Conceptio direkt formuliert worden.
Auch Perrone, der früher für eine direkte Lehrentscheidung eingetreten
war, setzte sich jetzt für die klarere Form ein und nahm keine Rücksichten
mehr auf Gegner der Lehre57, die eine zurückhaltendere Festlegung leichter
hätten gutheißen können.
Aber auch dieser dritte Vorschlag wurde nicht als endgültig akzeptiert.
Immer wieder wurden Veränderungen vorgenommen. Umstellungen,
Weglassungen und Ergänzungen sind festzustellen. Lediglich die Grund-
struktur blieb erhalten. Der vierte Entwurf von Anfang September 1854
ist z. B. eine erweiterte Fassung des vorhergehenden Vorschlages58. Aber
noch immer ist man sich nicht einig. Noch am 9. September wird von einem
Konsultor der Vorschlag gemacht festzustellen, ob der Papst eine direkte
oder eine indirekte Dogmatisierung wünsche. Denn davon hänge viel ab59.
Man überläßt also Pius und seinen engsten Ratgebern die schwierigsten
Entscheidungen, anstatt ihnen eine bestimmte Art des Vorgehens anzu-
raten und ihnen eine andere als weniger gut oder falsch hinzustellen.
Immer wieder wird am Entwurf gearbeitet, bis im November dann schließ-

65
Nembro meint zwar, dieser Text sei Anfang 1854 entworfen worden (S. 98). Am
Schluß dieses Entwurfes steht aber, er sei im neunten Pontifikatsjahr Pius* entstanden
(Sardi 2, 89), das erst am 16. Juni 1854 begann. Es ist möglich, daß dieser Dogma-
tisierungsvorschlag einige Wochen vorher verfaßt wurde, als deutlich wurde, daß
der feierliche Akt im neunten Pontifikatsjahr und unter Beteiligung von Bischöfen
(Sardi 2, 86) vollzogen werden würde.
66
Dieser dritte Entwurf wurde bei Sardi 2, 76—89 gedruckt. Passaglia geriet übrigens
später aus politischen und aus theologischen Gründen in Konflikt mit der römischen
Kurie, vgl. Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 8, Freiburg/Br. 1963,
Sp. 133.
57
Nembro S. 129 f.
58
Gedruckt bei Sardi 2, 103—118.
59
Sardi 2,118 f.
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Pius IX. und die Entwicklung der römisch-katholischen Mariologie 125

lieh ein achter Text den nach Rom gekommenen Bischöfen vorgelegt wer-
den kann60.
Deren Beteiligung stellt aber — so wird vorher vorsorglich fest-
gelegt — lediglich einen Akt der Unterrichtung dar. Sie haben nicht das
Recht zu einem Dissensus, sondern lediglich die Pflicht der Zustimmung61.
Es wird darauf verwiesen, daß die Bischöfe sich ja schon in ihren Ant-
worten an den Papst geäußert hätten. Pius soll deswegen die Dogmatisie-
rung von sich aus vollziehen62 — »ex sese,nonautemexconsensuecclesiae«,
um mit einem Vorgriff auf das Erste Vatikanum zu sprechen63.
Bei den vier Bischofsversammlungen, die vom 20. bis zum 24. No-
vember 1854 durchgeführt werden, macht der erste Präsident, Kardinal
Brunelli, sofort klar, daß die Bischöfe nur zur äußeren Form des ihnen
vorgelegten Entwurfes Stellung nehmen können. Der Papst behält sich die
endgültigen Entscheidungen vor64. Dennoch werden recht weitgehende
Vorschläge gemacht, etwa wenn der Erzbischof von Baltimore meint, es
genüge eine kurze Definition. Die angeführten Autoritäten, besonders die
zweifelhaften und die apokryphen, solle man dagegen streichen65. Auch
der Fürst-Erzbischof von Wien, Joseph Othmar von Rauscher, faßt ein
heißes Eisen an, als er empfiehlt, die Immaculata Conceptio lediglich als
eine Lehre der römischen Kirche zu definieren, um Ärgernisse bei Häre-
tikern und Unwissenden zu vermeiden. Der Bischof von Pittsburg rät, auf
die Zustimmung der Bischöfe zu verweisen, während der Erzbischof von
Genua wünscht, man solle überhaupt erst die Meinung der Bischöfe er-
fragen, zumal dadurch die päpstliche Autorität nicht verletzt werde. Die
Mehrzahl der Anwesenden lehnt diesen Vorschlag aber ab66. Überhaupt
wird der vorgelegte Entwurf von den päpstlichen Konsultoren, vor allem
von Passaglia und Perrone, energisch verteidigt. Deswegen konnten nur
wenige Änderungen aufgrund dieser Diskussionen erwartet werden. Das-
selbe gilt von einer Reihe von schriftlichen Stellungnahmen, die der römi-
schen Kurie von verschiedenen Bischöfen vorgelegt wurden67.
Mit einem geheimen Konsistorium am 1. Dezember 1854 beginnt
schließlich die Schlußphase. Achtzehn Kardinale äußern sich schriftlich zum
60
Derselbe wurde gedruckt bei Sardi 2, 259—274. Es war daran gedacht, daß aus jedem
Reich zwei Bischöfe bei der Dogmatisierung anwesend sein sollten (Sardi 2, 123 f.).
Die Beteiligung war aus manchen Ländern aber erheblich höher, vgl. Müller, Im-
maculata Conceptio S. 67 Anm. 89.
61
In einer Sitzung am 26. September 1854 hieß es, die Bischöfe seien »sine iure dissensus,
cum officio consensus, et iure instructionis«. Gleichzeitig erklärte man, die Publika-
tion des Dogmas solle vollzogen werden »colla massima pompa« (Sardi 2, 122).
62
Sardi 2, 123.
63
Denzinger — Schönmetzer Nr. 3074.
64
Sardi 2, 198.
65
Sardi 2, 208.
66
Sardi 2, 211 f.; vgl. auch E. E. Y. Haies, Papst Pius IX. Politik und Religion, Graz
etc. 1957, S. 208.
67
Dieselben wurden gedruckt bei Sardi 2, 214—246.
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126 Gerhard Müller

Dogmatisierungsentwurf. Unter ihnen befindet sich auch Graf Schwarzen-


berg, der noch jetzt, eine Woche vor der angekündigten, feierlichen Pro-
klamation erklärt, er sei grundsätzlich dagegen68. Wenn der Papst dennoch
ein Dogma erlasse, dann möge es ganz kurz sein. Jedenfalls sollten Bibel-
stellen und Väterzitate weggelassen werden, die nur zum Anlaß für Dis-
kussionen mit den Häretikern werden würden. Überhaupt werde im
Entwurf vieles gesagt, was in die theologische Diskussion, aber nicht in das
kirchliche Lehramt gehöre. Schwarzenberg machte selber zwei Vorschläge
für eine kurze Definition, wie er sie sich — wenn überhaupt — denke.
Damit waren Bedenken laut geworden, die schon früher an der Kurie
geäußert worden waren, über die sich aber die Mehrheit hinweggesetzt
hatte. Man wollte nicht wahrhaben, daß die bisher vorgelegten Entwürfe
mehr einem polemischen, akademischen Traktat als einer lehramtlichen
Verlautbarung glichen.
Auch Pius IX. schienen jetzt, kurz vor der für den 8. Dezember vor-
gesehenen Dogmatisierung, Bedenken zu kommen. Die Ereignisse spitzen
sich dramatisch zu. In letzter Minute, nämlich zum 4. Dezember, lud der
Papst sieben Kardinale zu sich ein. Unter ihnen waren vier, die sich gegen
die vorliegende Fassung ausgesprochen hatten69. Noch jetzt war zumindest
die Form für den angekündigten Akt umstritten — eine Tatsache, die
bisher nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat. Aus einem
päpstlichen Autograph wissen wir, daß es nun um die endgültige Fest-
legung des Dogmatisierungstextes gehen sollte70. Pius hat damit gezeigt,
daß er die von ihm gewünschte Entscheidung nicht leicht nahm. Er ließ die
Endredaktion in eigener Verantwortung durchführen und ordnete noch
jetzt eine völlige Neubearbeitung an. Zuerst solle auf die Verehrung Ma-
riens in der Kirche verwiesen werden. Erst dann solle von den Vätern
gesprochen werden. Die bisherige Reihenfolge sollte also umgekehrt wer-
den. Die Meinung der Kirche, der Päpste etc. wünschte Pius nur global
genannt und nicht — wie bisher — mit Einzelnachweisen belegt zu sehen.
Der Entwurf wurde dadurch knapper. Vor allem stand jetzt nicht mehr
am Anfang der umstrittene Versuch eines Nachweises dieser Lehre in der
Tradition, sondern der Hinweis auf Meinung und Glaubenssinn der Kir-
che. Die in diesem Sinne durchgeführten Veränderungen hat Pius persön-
lich gebilligt und damit selber den endgültigen Text festgelegt71.
Derselbe war im Grunde das Ergebnis eines Kompromisses. Längst
nicht alle Zitate sind gestrichen worden. Z. B. sind die wichtigsten Äuße-
rungen der Päpste der Neuzeit wiedergegeben worden. Die Verweise auf
die Kirchenväter und vor allem auch die Bibelzitate sind aber so stark
68
Über Schwarzenberg vgl. auch Gruber S. 50 f., der aber diese letzte Äußerung des
Kardinals vor der Dogmatisierung nicht behandelt hat.
09
Patrizi, Recanati, Brunelli und Santucci (Sardi 2, 167 f. und 299).
70
Sardi 2,298.
71
Sardi 2, 300.
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Pius IX. und die Entwiddung der römisch-katholischen Mariologie 127

zurückgetreten, daß es römisch-katholische Theologen gibt, die meinen,


entscheidend sei bei der dogmatischen Formulierung vom 8. Dezember
1854 allein das Lehramt der Kirche. Die angeführten Bibelstellen seien
lediglich Belege für die Tradition72. Fest steht jedenfalls, daß das tragende
Prinzip für diese Lehrentscheidung die Einmütigkeit der Kirche bildet73.
Nicht umsonst steht am Anfang des Dokumentes der Befund, der über
diese mariologische Frage aus der römisch-katholischen Welt erhoben wor-
den war74. Erst später folgen allgemeine Verweise auf Bibel und Tradition.
Die Frage, ob es sich hier um ein Thema handelt, das als apostolisch nach-
gewiesen werden kann, wird zweitrangig75. Aufgrund seines Lehramtes
sieht Pius IX. sich im Stande, es in einer direkten Aussage als glaubens-
notwendig hinzustellen, Maria sei vom ersten Augenblick ihrer Empfäng-
nis an als vor jedem Makel der Erbsünde bewahrt anzusehen76. Der Papst
spricht also nicht nur von der passiven Empfängnis Mariens, d. h. von der
Sündlosigkeit ihrer Seele, sondern er weitet die Definition gegenüber
früheren Lösungsversuchen aus77. Nicht die im 17. und 18. Jahrhundert
gefundene und während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast all-
gemein vertretene Auffassung wird dogmatisiert, sondern die darüber
hinausgehende, die Maria ganz und gar makellos erscheinen läßt.
Aber auch in dieser Form ist die päpstliche Entscheidung kaum bean-
standet worden. Dies ist um so bemerkenswerter, wenn man gesehen hat
— was bisher nicht bekannt war —, wie wenig einmütig die Bischöfe und
die Theologen waren, die dem Papst ihre Meinung kundgetan hatten.
Welches Gewicht muß sein Lehramt bereits 1854 besessen haben, daß sich
seiner Definition gehorsam der gesamte Episkopat unterordnete! Audi alle
72
Vgl. Nembro S. 113 f. Anm. 21.
73
Nembro S. 104.
74
Diese Bulle wurde öfter gedruckt, z. B. bei Sardi 2, 301—314. Eine deutsche Über-
setzung findet sich bei Graber S. 14—28. Lateinisch und deutsch wird sie wieder-
gegeben bei Kösters S. 200—-235.
75
Welche Schwierigkeiten sich daraus ergeben, zeigt ein Aufsatz wie der von Karl
Schwerdt, SCJ, Der Schriftbeweis in den marianischen Lehrschreiben der Päpste seit
Pius IX., in: Heilige Schrift und Maria (MarioJogische Studien, 2. Bd.), Essen 1963,
S. 95 ff.
70
Die eigentliche Definition bei Denzinger — Schönmetzer Nr. 2803.
77
Carl Johann Jellouschek, O.S.B., Inhalt und Entfaltung des Dogmas von der Un-
befleckten Empfängnis Marias, meint allerdings, Pius IX. habe lediglich die passive
Empfängnis dogmatisiert (in: Maria im Lichte der Glaubenswissenschaft, hrsg. von
Hermann Peichl, O.S.B., Studien der Wiener Katholischen Akademie, 1. Bd., Wien-
München 1955, S. 15). Dafür kann man höchstens ins Feld führen, daß im Text nicht
ausdrücklich von der »aktiven Empfängnis« gesprochen wird. Die Tatsache aber, daß
ursprünglich von der unbefleckten Empfängnis der Seele Marias gesprochen war und
dann diese präzisierende Einschränkung fallengelassen wurde, muß die Absicht, die
Definition auszuweiten, sehr viel näherliegend erscheinen lassen. So hat z. B. auch
Emilio Campana von der »außerordentlichen Vollkommenheit der ganzen Natur
der unbefleckten Maria« gesprochen (Maria nel dogma cattolico, 6. Aufl., Turin 1946,
S. 337 ff.).

N. Zeitschr. f. systemat. Theologie 10 Brought to you by | Universität Heidelberg


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128 Gerhard Müller

päpstlichen Konsultoren haben die oboedientia vor der cathedra Petri


für wesentlicher gehalten als ihre bisherigen persönlichen und wissenschaft-
lichen Überzeugungen. Nur wenige römisch-katholische Christen waren
es, die dieses erste, allein von einem Papst festgelegte Dogma nicht akzep-
tierten78.

Damit begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte der römisch-


katholischen Kirche. Das Infallibilitätsdogma von 1870 erwies sich als eine
geradezu notwendige Folgerung aus dem von 1854. Wurde doch 1870
lediglich das theoretisch nachgeholt, was sechzehn Jahre vorher praktiziert
worden war. Und da 1854 eine Lehre dogmatisiert worden war, die nicht
bestritten wurde, konnte 1950 von Pius XII. ohne Schwierigkeiten die
ebenfalls in der Volksfrömmigkeit weitverbreitete Vorstellung von der
leiblichen Himmelfahrt Mariens als glaubensnotwendiges Heilsgut fest-
gelegt werden. Zu diesem Dogma hieß es nach 1950 kritisch, es sei hier
etwas unerhört Neues geschehen: man habe mit dem Grundsatz gebrochen,
daß Glaubenswahrheiten auf Schrift und Tradition beruhen müßten; an
deren Stelle sei nun »fast ausschließlich« der »consensus ecclesiae« getre-
ten79. Dazu muß aber gesagt werden, daß dies bereits 1854 der Fall war,
so daß Pius XII. sich auch bei der Begründung dieses Dogmas in starkem
Maße an die Entscheidung Pius' IX. halten konnte.
Diese Entwicklung ist seit Johannes XXIII. nicht weitergeführt
worden. Sowohl er als auch — bisher — Paul VI. haben Infallibilitäts-
besdilüsse vermieden. Das Zweite Vatikanische Konzil hat über Maria im
Zusammenhang mit der Ekklesiologie gehandelt und weder die Heils-
mittlerschaft der Mutter Jesu noch andere mariologische Themen dogma-
tisiert. Das war nicht voraussehbar, hatte doch noch Pius XII. gemeint,
die Erscheinungen von Lourdes im Jahre 1858 könnten als eine Bestätigung
des Immaculata-Dogmas gedeutet werden80. Von Pius IX. bis zu Pius XII.
liegt eine »lückenlose Kette päpstlicher Äußerungen« über Maria vor81,
die die These vom marianischen Zeitalter zu begründen vermochte82.
78
Für Deutschland vgl. Gruber S. 223 ff.; siehe auch Rösters S. 238 f.
79
Giovanni Miegge, Die gegenwärtige Situation der katholischen Mariologie, in: Theo-
logische Literaturzeitung, 82. Jg., 1957, Sp. 563, und Friedrich Heiler, Assumptio.
Werke zur Dogmatisierung der leiblichen Himmelfahrt Marias, in: Theologische
Literaturzeitung, 79. Jg., 1954, Sp. l f.
80
G. Filograssi, S. J., II Dogma dell'Immacolata nell'Enciclica »Fulgens Corona«, in:
Gregorianum, Bd. 36, 1955, S. 4 f.
81
Gerhard Ebeling, Zur Frage nach dem Sinn des mariologischen Dogmas, in: Zeit-
schrift für Theologie und Kirche, 47. Jg., 1950, S. 388; auch abgedruckt in: Gerhard
Ebeling, Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen
(Kirche und Konfession, Bd. 7), Göttingen 1964, S. 175 ff.; das Zitat S. 179 f.
82
Es ist darauf hinzuweisen, daß der Syllabus genau zehn Jahre nach der Dogmati-
sierung der Immaculata Conceptio veröffentlicht wurde: am 8. Dezember 1864. Ur-
sprünglich war das Mariendogma als eine indirekte Ablehnung der »Zeitirrtümer«
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Plus IX. und die Entwicklung der römisch-katholischen Mariologie 129

Leo XIII. schrieb seine Rosenkranzenzykliken83, und Pius X. erin-


nerte in seinem Rundschreiben »Ad diem illum« vom 2. Februar 1904 an
die fünfzig Jahre vorher erfolgte Dogmatisierung. Er forderte auf, mit
Hilfe Marias, der Mutter Christi und der Christen, zu Jesus zu schreiten84.
Voll und ganz stellte er sich hinter die von Pius IX. gefällte Entscheidung.
Auch die übrigen Päpste unseres Jahrhunderts ließen es sich nicht nehmen,
ihre Devotion gegenüber Maria zum Ausdruck zu bringen — zuletzt
Paul VI. durch seine Wallfahrt nach Fatima am 13. Mai 196785. Wir kön-
nen und müssen hier nicht auf Einzelheiten eingehen. Es genügt die Fest-
stellung, daß die Entscheidung von 1854 eine Reihe von wichtigen päpst-
lichen Verlautbarungen und eine Fülle von Arbeiten über die Mutter
Jesu zur Folge gehabt hat.
Die Zahl der erbaulichen wie auch der theologisch-wissenschaftlichen
Schriften ist unübersehbar. Das Immaculata-Dogma hat gewissermaßen
die Schleusen für den Strom der modernen Mariologie geöffnet. Bereits
während des 1. Vatikanischen Konzils baten 195 Konzilsväter um die
Dogmatisierung der leiblichen Himmelfahrt Mariens. Dieser Wunsch ist
danach noch vielfach wiederholt worden86. Man kann also feststellen, daß
der Verehrung der Mutter Jesu durch die Festlegung Pius' IX. von 1854
neue und große Antriebe vermittelt wurden.
Nur die Entscheidung des Konzils von Ephesus hat der Entwicklung
der Mariologie einen ähnlichen Impuls gegeben wie diejenige Pius' IX.
Die Dogmatisierung von 1854 wurde zum »Sockel, auf welchem alle
früheren Bildungen der Mariologie nun aufruhen«87. Sie wurde z. B, als
ein Beleg für die Lehrentscheidung von 1950 ins Feld geführt. Man konnte
sagen, weil Maria unbefleckt empfangen sei, sei sie auch leiblich gen Him-
mel gefahren88. Mit Hilfe solcher Konvenienzgründe kann die Mariologie
jederzeit weitergeführt werden. Es sind nur gut zehn Jahre her, daß er-
klärt wurde, von der Unbefleckten Empfängnis führe »ein direkter
Weg ... zur Miterlöserschaft Mariens«. Auch die »allgemeine Gnaden-
mittlerschaft Marias« wurde mit der Immaculata Conceptio begründet89.
verstanden worden. Audi Pius X. pries Maria aJs Übcrwindcrin der modernen Irr-
lehren (Gräber S. 137 f.).
83
In deutscher Übersetzung bei Graber S. 30 ff.
81
Vgl. Graber S. 128 ff.
85
Dieses Geschehen muß nun noch den bedeutenden Marienereignissen hinzugefügt
werden, die Rene Laurentin zusammengestellt hat (Die marianische Frage, Freiburg/
Br. 1965, S. 15).
8
Michael Schmaus, Katholische Dogmatik, 5. Bd., Mariologie, München 1955, S. 222 f.
87
Miegge, Die Jungfrau Maria, S. 124 und 126.
88
Vgl. Heiler Sp. 7.
89
Albert Mitterer, Von der Unbefleckten Empfängnis zur Gnadenmittlerschaft Marias,
in: Maria im Lichte der Glaubenswissenschaft, S. 148 und 154; vgl. auch Carl Feckes,
Die Gnadenausstattung Mariens, und Ernst Böhminghaus, Geschichte der Marien-
verehrung seit dem Tridentinum, in: Katholische Marienkunde, Paderborn 1952,
Bd. 2, S. 100 ff., besonders S. 110 ff., und Bd. l, S. 365 ff.
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130 Gerhard Müller

Auf diese Weise kann das 1854 verkündete Dogma jederzeit zum Funda-
ment für neue mariologische Lehren gemacht werden.
Das protestantische Prinzip, das die absolute Irrtumslosigkeit der
Kirche nicht kennt, das die Gemeinde der Heiligen nicht mit irdischen
Konfessionen identifiziert, von denen eine kraft göttlichen Rechtes besteht,
das vielmehr eine kritische Rückbesinnung auf den Ursprung stets in sich
beinhaltet, wird gegenüber diesen marianisdien Folgerungen Bedenken
anmelden müssen. Ist es tatsächlich angängig, sich in einem solchen Maße
von einem postulierten consensus ecclesiae zu neuen Ufern führen zu
lassen, so werden wir zu fragen haben. Kann die Volksfrömmigkeit so
unkritisch übernommen und zum Fundament für theologische Entschei-
dungen gemacht werden, die dann häufig erst sekundär gerechtfertigt wer-
den90? Andererseits zeigt aber die Freiheit der Diskussion aus der Vor-
geschichte des Immaculata-Dogmas, daß voreilige Festlegungen nicht ge-
macht wurden. Jedoch endete die Freiheit der Auseinandersetzung mit der
päpstlichen Entscheidung. Und gehorsam wurde nun von allen angenom-
men, was sie noch kurz vorher bekämpft hatten.
Am Thema Kirche und Dogma werden also zwei verschiedene ek-
klesiologische Konzeptionen deutlich. Es wäre voreilig und nutzlos, wenn
mariologische Diskussionen zwischen den christlichen Konfessionen auf-
genommen würden, ohne daß man die dahinterstehenden Prinzipien
beachtete. Die Fragen nach Schrift91 und Tradition, nach kirchlichem Lehr-
amt und historisch-kritischer Forschung, nach Frömmigkeit und Dogmen-
bildung brechen hier auf. Der Protestant fühlt sich weit, ja vielleicht allzu
weit von der oboedientia eines katholischen Christen gegenüber der Kirche
entfernt. In der Frage nach der Wahrheit und nach der Wahrnehmung
unserer Verantwortung könnte und sollte aber eine neue Besinnung auf
Kirche und christliche Lehre ein Gespräch zwischen den Konfessionen
und schließlich auch zwischen Kirche und Welt ermöglichen.

90
Audi bei der Entwicklung der mittelalterlichen Ablaßlehre war die Volksfrömmig-
keit der treibende Motor. Die Theologen bemühten sich dann nachträglich, das Ganze
theologisch zu rechtfertigen (Nikolaus Paulus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter
vom Ursprünge bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Bd. l, Paderborn 1922, S. 289,
und Bd. 2, Paderborn 1923, S. 166, sowie Karl Rahner, Ablaß, in: Lexikon für
Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. l, Freiburg/Br. 1957, Sp. 49.
91
Wolf gang Sucker nannte die Exegese in der Dogmatisierungsbulle von 1854 »jämmer-
lich« (Geschichte eines »Dogmas«. Gedanken zur römischen Säkularfeier der unbe-
fleckten Empfängnis Mariens, in: Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung, Bd. 8,
1954, S. 352).
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