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um ein und dasselbe gehe: um gerecht oder ungerecht, Heil oder Vernichtung. 923
Indem sie hier im Sinne des Paulus eine Trennung beider Komplexe vornehmen
will - "Spricht Paulus jedoch vom Gericht über Christen, dann fehlt
Rechtfertigungsterminologie"924 -, sieht sie sich in der Lage, sowohl das
Gericht nach den Werken als auch die Rechtfertigung sola gratia radikal ernst
zu nehmen. "Das radikale Gericht dient Paulus vielmehr als Folie für das
Heilsgeschehen, um den Geretteten zu zeigen, aus welchem Gericht sie befreit
sind. "925 Diese, einst sola gratia gerecht gesprochen, werden auch am Jüngsten
Tage sola gratia gerecht gesprochen. Nur der Christ, der aufhört Christ zu
sein, verfällt dem Vernichtungsgericht. Es muß also ein Gericht geben, das
darüber urteilt, 0 b der Christ wirklich Christ war. Dieses Gericht urteilt über
gerecht oder ungerecht, Heil oder Vernichtung. Beim Gericht über den Christen
geht es aber gerade nicht um diese Alternative. "Wenn Gott den freien Dienst
des Christen, sein verantwortliches Partizipieren an Gottes Werk, ernst nimmt,
dann ist ein Gericht über das verschieden gute Werk des Christen,
das verschiedene Maß seines Glaubens notwendig."926 Somit ist das
Gerichtsverständnis des Paulus nicht jüdisch und das Gericht kein Kapitel am
äußersten Rand paulinischer Theologie. 927
LIESELOTTE MATTERN bietet in der Tat eine in sich stimmige, aufgehe~de
Lösung der zunächst so antinomisch erscheinenden Aussagen des Paulus. Aber
es geht doch alles zu glatt auf. Sie erreicht dies nur, indem sie das Gericht
über den Christen so abschwächt, daß es sein eigentliches Gewicht verloren
hat. So spricht CALVIN J. ROETzEL, dessen Werk eJudgement in the Commu-
nity'928 wir gleich noch zu besprechen haben, davon, daß ihre Argumentatiqn
an einigen fundamentalen Schwächen (" some basic weaknesses") leide. Als
deren erste nennt er: "With her tendeney to minimize the importance of
the final judgement for the Christian~ Miss 'Mattern seriously weakens the
eschatological tension which appears to us to run through all of Paul's
judgement thought."929 Symptomatisch zeigt sich die exegetische Einseitigkeit
an ihrer Auslegung von 1 Kor 3,5 H.: "In 1 Kor 3,5 H. bringt Paulus seine
ausführlichste Darstellung des Gerichts über Christen. "930 Aber diese Stelle
handelt doch gar nicht vom ,Christen schlechthin, sondern spezifischer ,vom
Werk des Missionars und Apostels!931
CALVIN J. ROETZEL betrachtet e~ als eine Verzerrung des paulinisthen
Denkens, Glaubensgerechtigkeit und Gericht in einem dialektischen Verhältnis
Immer noch umstritten ist die Frage, ob die in 1 Thess sicher nachweisbare
Naherwartung nur für diesen Brief, der im allgemeinen als der älteste
Paulusbrief angesehen wird, zutrifft oder ob Paulus sie bis zu seinem Ende
durchgehalten hat. Mit anderen Worten, hat Paulus im Blick auf seine eschato-
logischen Vorstellungen, im Blick auf sein eschatologisches Denken eine theo-
logische Entwicklung durchgemacht? Die wichtigsten für diese Fragestel-
lung zu berücksichtigenden Stellen sind: 1 Thess 4,13 -18; 5,1-11; 1 Kor 15;
2 Kor 5,1-10; Phil 1,23; 3,20 f.; Röm 13,11-14. Die Frage, ob Paulus an
der Naherwartung auch nach 1 Thess festgehalten hat, kann allerdings nur
beantwortet werden, wenn ihre Interdependenz mit anderen Fragen, haupt-
sächlich biographischen und einleitungswissenschaftlichen, berücksichtigt
wird; vor allem, ob unterschiedliche eschatologische Aussagen durch die jewei-
ligen Gegner bedingt sind, mit denen sich Paulus gerade auseinandersetzt, oder
949 Vielleicht erinnert man sich daran, daß auf dem Regensburger Reichstag 1541 der 5.
Artikel (über die Rechtfertigung) des Regensburger Buches von der "duplex iustitia"
sprach (dazu HUBERT JEDIN, Das Konzil von Trient I, Der Kampf um das Konzil,
Freiburg 21951, 308 f.). Hier geht es freilich um die Gleichzeitigkeit zweier iustitiae.
Doch steckt in der Formel "duplex iustitia" strukturell die gleiche Problematik wie in
STUHLMACHERS Formulierung von der "doppelten Rechtfertigung", da es beide Male um
die Frage nach dem Verhältnis von Tun Gottes und Tun des Menschen geht. Gegenüber
der Regensburger Formel besteht aber das Bedenkliche an STUHLMACHERS Formulierung
darin, daß durch das zeitliche Auseinanderreißen das Tun Gottes hier und heute irgendwie
relativiert wird, das Problematische der Regensburger Formel hingegen darin, daß Tun
Gottes und Tun des Menschen zumindest als komplementäre Größen mißverstanden
werden können. Dennoch meine ich sagen zu dürfen - es sei nur am Rande
vermerkt -, daß die Regensburger Formel eine Einigung in der Rechtfertigungslehre
zwischen Katholiken und Protestanten hätte artikulieren können. Aber 1541 ging die
eigentliche Auseinandersetzung schon nicht mehr um den articulus stantis et cadentis
ecclesiae! Ekklesiologisch-sakramentale Fragen hatten bereits den ureigensten theologi-
schen Streitpunkt der Reformation überlagert. Und cl a r i n liegt heute noch die Tragik
der christlichen Spaltung!
950 DONFRIED, ZNW 67 (1976), 95.
951 Ib. 95.
952 Ib. 102; Hervorhebungen von mir.
953 Ib. 104.
954 SYNOFZIK, op. cit. 152.