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Die Dialektik Der Modernen Lyrik. Von Baudelaire Bis Zur Konkreten Poesie PDF
Die Dialektik Der Modernen Lyrik. Von Baudelaire Bis Zur Konkreten Poesie PDF
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List Taschenbücher der Wissenschaft
Literaturwissenschaft
,
Hamburger Die Dialektik der modernen Lyrik
Band 1443
Michael Hamburger, gebürtiger Berliner und
mit den wichtigsten Literatursprachen ver¬
traut, liest an englischen und amerikanischen
Universitäten und schreibt selbst Lyrik, er
vereinigt also Theorie und Praxis in einer
Person. Zwar betont Hamburger, daß sein
Buch keine Geschichte der modernen Lyrik,
sondern der Versuch sei, deren Wesen, Vor¬
aussetzungen und Funktionen zu klären.
Dennoch bietet Hamburger ein Panorama der
europäischen und amerikanischen Lyrik von
Baudelaire bis Heißenbüttel. Die deutsche
Dichtung besitzt in dieser Analyse der wich¬
tigsten Strömungen und Repräsentanten ei¬
nen ihrer Bedeutung angemessenen Stellen¬
wert. Originell sind die Ansätze, von denen
Hamburger ausgeht, um ein und dasselbe
Phänomen unter verschiedenen Gesichtswin¬
keln zu untersuchen. Die Identitätskrise des
modernen Lyrikers, aber auch Themen wie
»Dichtung und Politik« (z. B. Rilkes Bewun¬
derung für Mussolini) und »Lyrik der Arche¬
typen und Phänotypen« spielen in dieser Dar¬
stellung eine dominierende Rolle. Hambur¬
ger behandelt auch die verschiedenen Formen
von »Antipoesie«, doch glaubt er selbst an
die »Menschlichkeit« der Lyrik, weil diese
durch die Sprache garantiert sei.
Der poetologische Aspekt des Buches - Ham¬
burger läßt wiederholt die Dichter über ihre
eigenen Dichtungen sprechen und er setzt sich
auch kritisch mit Theoretikern der Lyrik aus¬
einander - macht diese Arbeit gerade für den
Studenten besonders wertvoll.
Michael Hamburger
Vorwort 7
1 Kindliche Utopie und brutale Fata Morgana io
Bibliographie 425
Personenregister 43°
Über den Autor 436
Ire
4
Vorwort
7
meisten Fällen die Texte nicht zum geistigen Eigentum wer¬
den ließ. Doch wie dem auch sein mochte, mein Buch war ja
von vornherein nicht als ein Überblick über alle bedeuten¬
den Dichter gedacht, die »moderne« Gedickte geschrieben ha¬
ben. Selbst in den Sprachen, die ich kann, habe ich Dichter
unberücksichtigt gelassen, die vielleicht mindestens ebensogut
sind wie diejenigen, die ich erwähnt oder ausführlicher be¬
handelt habe. Zugleich habe ich versucht, der großen Ver¬
schiedenartigkeit der Lyrik sei tBaudelaire gerecht zu werden.
Anstatt meine Untersuchung auf eine einzelne Entwicklungs¬
linie zu beschränken, die von vornherein als »modern« de¬
finiert wird, habe ich mein Augenmerk vor allem auf die
Spannungen und Konflikte gerichtet, die im Werk - oder hin¬
ter dem Werk - eines jeden Dichters der in Frage stehenden
Epoche offenbar werden - angefangen von Baudelaires eige¬
nem Oeuvre.
Wenn im Verhältnis zu viel Gewicht auf die Aussagen der
Dichter über ihre Dichtung und zu wenig auf ihre Gedichte
gelegt worden sein sollte, so ist der Grund dafür darin zu
sehen, daß ein strenges, auf Textinterpretation ausgerichtetes
kritisches Vorgehen die genaue Analyse von hunderten von
Gedickten erfordert hätte, von denen zudem viele in frem¬
den Sprachen geschrieben sind. Wohl waren Gedickte, und
nicht »die Lyrik« oder Theorien über die Lyrik, mein Aus¬
gangspunkt, aber es war unumgänglich, für ein Buch, dessen
Thema sowohl dem geographischen Raum als der historischen
Zeit nach beinahe unbegrenzt ist, von Anfang an sehr strikte
Begrenzungen festzusetzen. Was immer die »moderne Lyrik«
sein mag, ihre ersten Anfänge sind leicht über Baudelaire
hinaus zurückverfolgbar, und sie sind es auch über solche
Dichter wie Edgar Alan Poe hinaus, auf den Baudelaire und
seine Nachfolger ihre literarische Abstammung zurückführ¬
ten. Die »Vorläufer« mußten weggelassen werden; aber ich
hoffe, daß etwas von dem Bewußtsein ihrer Wichtigkeit in
meine Bemerkungen zu den Dichtungen, die in diesem Buch
behandelt werden, eingegangen ist, ebenso wie ich hoffe, daß
auch mein Wissen um die Bedeutung vieler Gedickte und
Dichter, die im Text nicht erwähnt werden konnten, in dem
Buche spürbar wird.
Eine internationale Anthologie wie Hans Magnus Enzensber-
gers Museum der modernen Poesie (Frankfurt, 1960), mit
Übersetzungen aller Texte, könnte helfen, diese notwendigen
Auslassungen auszugleichen; aber bis heute hat niemand eine
vergleichbare Textsammlung für angelsächsische Leser zu¬
sammengestellt. Eine außerordentlich nützliche Begleitlektüre
zu meinem Buch ist The Poem Itself, herausgegeben von Stan¬
ley Burnshaw und erschienen i960 bei Holt, Rinehart und
Winston, New York. Dieser Band enthält Interpretationen
zu Gedichten von französischen, deutschen, spanischen, portu¬
giesischen und italienischen Lyrikern, und dazu die Texte in
der Originalsprache und in wörtlichen englischen Überset¬
zungen. Ein anderer als Ergänzung nützlicher Band ist die
Anthologie Modern European Poetry, herausgegeben von Wil¬
lis Barnstone u. a., die 1966 bei Bantam Books, New York,
erschienen ist. Viele weitere Anthologien und literarkritische
Studien könnten hier aufgezählt werden, wie z. B. die ein¬
schlägigen Bücher von C. M. Bowra; aber der Charakter mei¬
ner eigenen Untersuchung verbot ein häufigeres Verweisen
auf Sekundärliteratur. Ebenso hätte eine adäquate Bibliogra¬
phie, selbst wenn sie sich auf die allerwichtigsten Titel be¬
schränkt hätte, eine Studie, deren thematische Grenzen so
weit abgesteckt sind und die so ungebunden ist wie die hier
vorgelegte, allzusehr belastet.
Zum Schluß möchte ich noch einmal betonen, daß dieses Buch
keine Geschichte der modernen Lyrik ist, sondern ein Ver¬
such, das Wesen, die Voraussetzungen und die Funktionen
dieser Lyrik zu begreifen. Daraus erklären sich viele offen¬
sichtliche und weniger offensichtliche Auslassungen. Andere
ergaben sich aus meiner Abneigung, Dinge zu wiederholen,
die ich schon anderswo gesagt habe oder die schon von der
Literaturkritik im allgemeinen festgestellt worden sind. Da
auch das gegenwärtige Jahrzehnt mitberührt wird, wäre eine
literaturgeschichtliche Darstellung in einen bloßen Überblick
ausgeartet. Meine einzige Hoffnung auf Erfolg bestand dar¬
in, mich auf das zu beschränken, was nach meinem Dafür¬
halten die entscheidenden Probleme sind.
M. H.
London, 1968
9
i Kindliche Utopie und brutale Fata Morgana
10
Er konnte mit absoluter Aufrichtigkeit sagen, er »würde sich
damit zufriedengeben, nur für die Toten zu schreiben«.4
Der Riesenumfang der kritischen und biographischen Litera¬
tur über Baudelaire weist auf eine andere Entwicklung hin,
die in besonderem Maß für die Situation der Dichter, die nach
ihm kamen, Bedeutung erlangen sollte: ich meine das Mi߬
verhältnis zwischen der Nachfrage nach der Lyrik selbst und
der Nachfrage nach Literatur über Lyrik. Ganz wenige ernste
Lyriker seit Baudelaire - wenn überhaupt einer - haben von
ihren Werken leben können; aber tausend Leute, einschlie߬
lich der Dichter selber, haben damit, daß sie über Lyrik schrie¬
ben oder sprachen, ihren Lebensunterhalt verdient. Diese
Anomalie - sie hat viele Parallelen in einer Wirtschaftsent¬
wicklung, die ebenfalls zu einer ständigen Vermehrung der
Zwischenhändler in allen Industrie- und Handelszweigen ge¬
führt hat - hatte nicht nur bewußte oder unbewußte Reaktio¬
nen zur Folge, die sich im politischen Engagement einiger
bedeutender moderner Dichter niedergeschlagen haben, son¬
dern der Einfluß reicht bis in die Substanz des dichterischen
Werkes hinein. Ezra Pounds national-ökonomische Theorien
ebenso wie lange Passagen in seinen Cantos sind ein sinn¬
fälliges Beispiel; Bertolt Brechts Kommunismus und seine
Versuche, eine funktionale Dichtung für den Mann auf der
Straße herzustellen, sind ein weiteres. Auch dafür war Baude¬
laire der Prototyp, nicht zuletzt deshalb, weil er zwischen
einer aristokratischen und einer revolutionären Haltung hin
und her schwankte, sicher allein in seiner verbitterten Ableh¬
nung der bürgerlichen und kapitalistischen Ordnung, die kei¬
nen Platz für ihn hatte. Mehr als irgendein anderer Dichter
seiner Zeit war Baudelaire von dem Bewußtsein durchdrun¬
gen, daß er in einer Zivilisation lebte, in der die Waren die
Dinge abgelöst hatten und die Preise die Werte; und auch
überall dort, wo spätere Dichter ihre Aufmerksamkeit auf
Wirtschaftsprobleme richteten, kreisten ja ihre Gedanken vor¬
wiegend um eine Theorie der Werte. Das gilt für Pound so
gut wie für Brecht, für T. S. Eliot ebenso wie für William
Carlos Williams.
Baudelaires Dilemma ist unter nahezu jedem möglichen Blick¬
winkel untersucht und durchforscht worden - ästhetisch, so¬
ziologisch, psychologisch, existentialistisch, politisch und theo-
logisch. Von all den einander widersprechenden Urteilen über
sein Werk — angefangen mit Victor Hugos Übertragung sei¬
nes eigenen Glaubenssatzes von der »Kunst um des Fortschrit¬
tes willen«, auf Baudelaire; über Sainte-Beuves Rat an ihn,
»seinen Engel zu kultivieren« und »sich gehen zu lassen«, und
Barbey d’Aurevillys Beschreibung Baudelaires als »un de ces
materialistes raffines et ambitieux«, die unfähig seien, sich ir¬
gendeine andere als eine materielle Vollkommenheit vorzu¬
stellen; bis hin zu der jeder logischen Begründung entbehren¬
den Warnung, »nach den Fleurs du mal bleibt dem Dichter,
der sie hat erblühen lassen, nur eine Alternative: sich eine
Kugel in den Kopf zu schießen oder ein Christ zu werden« -
brauchen nur ganz wenige hier berücksichtigt zu werden. Fast
vom ersten Tag an ist Baudelaire als progressiv und reaktio¬
när, originell und banal, klassisch und modern, als Christ, Sa¬
tanist und Materialist, als vollendeter handwerklicher Kön¬
ner und schlechter Schriftsteller, als rigoroser Moralist und als
ein Mann bezeichnet worden, der zur Aufrichtigkeit unfähig
war.5 Die meisten grundsätzlichen Meinungsverschiedenhei¬
ten über Baudelaires Einstellungen und Absichten gehen auf
seine eigenen Widersprüche und Inkonsequenzen zurück; und
er war sich dieser Widersprüche immerhin soweit bewußt,
daß er für ein Recht plädiere, »an dem jedermann interessiert
ist - das Recht, sich widersprechen zu dürfen«. Die Wahrheit,
die in Baudelaires Werk beschlossen liegt, kann man nicht aus
diesem oder jenem Bekenntnis, dieser oder jener apodikti¬
schen Verszeile herauslesen, sondern allein aus den Spannun¬
gen, für die seine widersprüchlichen Äußerungen den sicher¬
sten Schlüssel abgeben.
12
dient«, ist eine von den - nicht ganz seltenen - Studien über
Baudelaire, die sich mehr mit seinem Dilemma als mit seinem
Werk befassen. In dieser Schrift wird Baudelaires »negative
capability« (wie John Keats die Fähigkeit des Dichters nann¬
te, im Ungewissen, Unentschiedenen verharren zu können)
eine exemplarische Bedeutung zugesprochen - nicht zuletzt
deshalb, weil seine außergewöhnliche Neigung zur Selbstbe¬
obachtung Baudelaire dazu veranlaßt hat, seine Schwächen
ebenso wie seinen eigenen Verdacht, er könne »noch schwächer
sein als diejenigen, die er verachtete«, selbst zu dokumentie¬
ren. Tatsächlich kam Baudelaire Sartres Überzeugung, »das
Menschsein sei nichts als ein Betrug« so nahe, daß es ihm
nichts ausmachte, die Art von Beweismaterial zu hinterlassen,
die Sartre gegen ihn Vorbringen konnte. Für Baudelaire selbst
war sein existentielles Dilemma ein wirklich brennendes
Problem, und manche von den Begleiterscheinungen dieses
Problems - wie etwa seine Zweifel an seiner Identität als
Mensch und als Dichter - werden in späteren Kapiteln dieses
Buches zu besprechen sein. Was mich an diesem Punkt meiner
Argumentation interessiert, sind Baudelaires Unsicherheiten
und Zweifel über die Funktion der Lyrik.
Beim Studium jeder beliebigen Bewegung in der europäischen
Dichtung oder jedes beliebigen einzelnen Dichters nach Bau¬
delaire, der irgendeine wesentliche Neuerung in der Lyrik ge¬
bracht hat, stoßen wir fast unweigerlich auf Probleme, die
zwar vielleicht primär nicht im Wesen der betreffenden Dich¬
tung liegen mögen, die aber dennoch die Art unseres Zugangs
bestimmen und an denen sich die Urteile der Kritiker schei¬
den. Der private Leser kann ihnen aus dem Weg gehen; der
Literaturkritiker oder der Lehrer, der moderne Literatur
zu vermitteln hat, kann es nicht. Diese Probleme lassen sich
noch ein gutes Stück weiter zurückverfolgen, aber Baudelaire
war der Dichter, der am Scheideweg zur Moderne als erster
ihre volle Tragweite empfand und unsicher wurde, wie er
weitergehen solle. Seine kritischen Schriften zeigen dasselbe
bedeutungsvolle Zögern wie seine Gedichte — bedeutungsvoll
deshalb, weil er die Verlockungen aller Richtungen kannte,
die spätere Dichter einschlagen sollten — den jähen Rückzug
nicht ausgenommen. Und ebenso zeigte es auch das Leben die¬
ses romantisch-klassisch-symbolistischen Dichters, dieses kon-
r3
servativen Paria, Dandy und Sprechers der Unterwelt, dieses
Einsiedlers und Massenmenschen, dieses Gotteslästerers und
christlichen Apologeten. Seine Theorie ebenso wie seine Pra¬
xis offenbaren einen Konflikt zwischen zwei radikal verschie¬
denen, wenn nicht überhaupt unvereinbaren Ansichten über
den Charakter und die Funktionen von Dichtung. Dieser
Konflikt entspricht einer Krise, die nicht auf die Literatur
oder Kunst beschränkt ist; in mehr oder weniger starkem
Maß beeinflußt sie heute jede Tätigkeit, die mit gesellschaft¬
lichen oder kulturellen Werten zu tun hat. Letzten Endes mag
es sich dabei um die alte Frage nach dem Zweck und den Mit¬
teln handeln; aber in einer Zeit, in der nur wenige Menschen
über die letzten Zwecke menschlichen Handelns derselben
Meinung sind, tendiert jede Kunstart, Wissenschaft oder
handwerkliche Fähigkeit, die einstmals als ein Mittel zum
Zweck: galt, dazu, den Charakter und die Bedeutung eines
Endzweckes anzunehmen.
Baudelaire war einer der ersten Vertreter der Doktrin, daß
das Schreiben von Lyrik eine autonome und ihren Zweck in
sich selbst findende Tätigkeit sei. »La poesie«, schrieb er 1859,
»ne peut pas, sous peine de mort ou de decheance, s’assimiler
ä la Science ou ä la morale; eile n’a pas la Verite pour objet,
eile n’a qu’Elle meme.«7*
Man mag mir entgegenhalten, diese Behauptung stehe in
einem Essay über Gautier, den Begründer der französischen
Schule des l’art pour l’art, und Baudelaire gehöre zu der
Sorte von sympathetischen, einfühlsamen Kritikern, die dazu
neigt, den Standpunkt des behandelten Gegenstandes anzu¬
nehmen, vor allem wenn dieser Gegenstand noch dazu ein
persönlicher Freund ist. Aber Baudelaire erhob ähnliche For¬
derungen auch in anderen Essays. Derjenige über Barbier
(1861), einen sozialistischen Dichter, dessen künstlerisch un¬
bedeutende Verse einen gewissen Einfluß auf Baudelaire hat¬
ten, gerade wegen der Wahrheiten, die sie zum Ausdruck
brachten, enthält den Aphorismus: »La poesie se suffit ä elle-
meme.«**
* »Die Dichtung kann sich, bei Strafe des Todes oder des Thron¬
verlustes, nicht an die Wissenschaft oder die Moral assimilieren;
ihr Ziel ist nicht die Wahrheit, ihr Ziel ist einzig sie selbst.«
*’*' »Die Poesie ist sich selbst genug.«
14
Baudelaire war freilich zugleich ein äußerster Gegner dieser
Ansicht. »Le temps n’est pas loin«, hatte er 1852 geschrieben,
»ou l’on comprendra que toute litterature qui se refuse ä mar-
cher fraternellement entre la Science et la philosophie est une
litterature homicide et suicide.«** Und noch einmal in dem¬
selben Jahr: »La puerile Utopie de l’ecole de l’art pour l’art,
en excluant la morale, et souvent meme la passion, etait ne¬
cessairement sterile.«*** Und schließlich noch eine Passage,
die sich weniger wie ein literarkritisches Urteil denn wie ein
intimes Bekenntnis liest, verwandt der Bemerkung Baude-
laires, daß »Kunst Prostitution ist« und daß »alle Bücher
unmoralisch sind«8: »Le goüt immodere de la forme pousse ä
des desordres monstrueux et inconnus ... La passion freneti-
que de l’art est un chancre qui devore le reste; et comme l’ab-
sence nette du juste et du vrai dans l’art equivaut ä l’absence
de l’art, l’homme entier s’evanouit; la specialisation excessive
d’une faculte aboutit au neant.9****
Für beide Seiten dieser Debatte könnte man eine Vielzahl von
anderen Sätzen aus Baudelaires Schriften heranziehen; um
Baudelaire dabei Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müßte
man sie jeweils zu seinem poetischen Schaffen und zu seiner
persönlichen Entwicklung in Beziehung setzen. Baudelaire
wäre außerdem nicht der große Dichter und kritische Geist,
der er ist, wenn er keinen Versuch unternommen hätte, diese
einander entgegengesetzten Dichtungsauffassungen zu einer
Synthese zu bringen. In seiner dichterischen Praxis tat er das,
** »Die Zeit ist nicht fern, in der man einsehen wird, daß jede
Literatur, die es ablehnt, brüderlich zwischen der Wissenschaft
und der Philosophie zu marschieren, eine menschenmordende
und selbstmörderische Literatur ist«.
*** »Die kindliche Utopie des l’art pour l’art war dadurch, daß sie
die Moral und oft sogar das Gefühl aussperrte, zwangsläufig
zur Sterilität verurteilt.«
**** »Die übertriebene Wertschätzung des Formalen führt zu unge¬
heuren und nie dagewesenen Störungen der Ordnung .. . die
fanatische Leidenschaft für die Kunst ist ein Krebsgeschwür,
das alles andere aufzehrt; und da das völlige Fehlen des
Rechten und Wahren in der Kunst gleichbedeutend mit dem
Fehlen von Kunst überhaupt ist, geht dabei der ganze Mensch
zugrunde; die übertriebene Spezialisierung einer einzigen Fä¬
higkeit resultiert im Nichts.«
indem er die Bildwelt der Großstadt allegorisch einsetzte als
ein Bindeglied zwischen dem Realen und dem Zeitlosen, zwi¬
schen Erscheinung und Idee; indem er eine neue Art von
Realismus mit seiner Suche nach den archetypischen Urbil¬
dern verband. Ein gutes Beispiel ist der »symbolische Gal¬
gen« in Un Voyage ä Cythere, der zugleich der wirkliche
Galgen ist, den Gerard de Nerval auf der - damals englischen
- Insel Cerigo gesehen hat, wie er in seinem Voyage en Orient.
Les Femmes du Ca'ire (1852) berichtet. Wie weit er von einem
konsequenten Symbolismus entfernt war, wie sehr er in der
rhetorischen und didaktischen Tradition der französischen
Versdichtung verwurzelt blieb, kann hier nur anhand eines
Gedichtes aus seiner Reifezeit, Causerie, exemplifiziert wer¬
den. In den Zeilen dieses Sonetts vergleicht er sein Herz ein¬
mal mit etwas, das die wilden Tiere gefressen haben:
und dann mit einem Palast, den der Mob geschändet hat:
18
klärt; und Baudelaire wurde, zusammen mit Poe, als der Be¬
gründer gefeiert. Man möchte dazu neigen, Mallarmes Aus¬
spruch seiner Jugend zuzuschreiben oder der momentanen
Sensation darüber, daß er einen Ersatz für den religiösen
Glauben gefunden hatte; Tatsache ist aber, daß er durch sein
ganzes erwachsenes Leben hindurch eine ästhetische Lehre ver¬
kündete, die ihren Ursprung in jener frühen Krise hatte.
Noch 1894 stellte er in seinem Oxforder Vortrag La Musique
et les lettres folgende erstaunliche Behauptung auf (wenn er
sie auch selbst als eine Übertreibung kennzeichnete): »Ja, in
der Tat, die Literatur existiert und, wenn Sie wollen, als das
einzige - unter Ausschluß von allem anderen.« Obwohl dieser
neue Kult der Literatur und Kunst von den Dichtern, Kriti¬
kern und Metaphysikern der deutschen Romantik abstammte,
war er im Falle Mallarmes mit platonischen oder neuplato¬
nischen Einflüssen kombiniert. Dieselbe Vorlesung macht auch
dies deutlich, so deutlich jedenfalls, wie Mallarmes wahrhaft
diamantner, harter, aber reichfacettierter Prosastil irgend
etwas klar machen kann. »Ich nehme es - auf die Gefahr hin,
meine eigene Ästhetik damit zu gefährden - auf mich, fol¬
gende Ansicht zu verkünden: . . . Musik und Literatur sind
mit Sicherheit die beiden Janusgesichter - das eine auf das
Dunkle hingerichtet, das andere lichtumflossen - ein und des¬
selben Phänomens, des einzigen, das es gibt - ich habe es die
Idee genannt.«15 Nach Mallarme »vereinfacht die Kunst die
Welt«, weil der Künstler kraft einer inneren Befindlichkeit
äußere Erscheinungen auf ihre einheitlich-zentrale Uridee zu¬
rückführt.
Was Schiller »die ästhetische Erziehung des Menschen« ge¬
nannt hat, leitet sich sicherlich von Plato her; aber Plato
hatte auch seine Zweifel an der Eignung der Dichter für diese
Aufgabe. Der eigentliche Grund, warum die Literatur jetzt
auf einmal »nach Beschaffenheit und Rang der Musik streb¬
te«, war das unbequeme Wissen darum, daß sich das geschrie¬
bene Wort letzten Endes doch als Medium der absoluten
Reinheit widersetzt, die von ihm verlangt würde. Der letzt-
liche Sinn von Mallarmes »Vereinfachung« ist darin zu sehen,
daß die Außenwelt, die schon für Delacroix und Baudelaire
nur ein »dictionnaire« gewesen war, ein »Bilderarsenal«, ein
»Wald von Symbolen«, aus dem der Künstler sein Material
19
auswählt, nun zu nichts anderem als einer »brutalen Fata
Morgana« geworden ist.16 Während Baudelaires Allegorien
dazu dienten, die Erscheinung mit der Idee zu verbinden -
oder aber dem rein künstlerischen Ziel dienten, mehr als einen
Sinn gleichzeitig anzusprechen durch den Gebrauch der Syn¬
ästhesie -, schnitt Mallarmes Flucht in einen völlig subjek¬
tiven Symbolismus der inneren Befindlichkeit jede Verbin¬
dung zwischen dem Dichter und jener »relativen, von Um¬
ständen abhängigen« Sphäre ab, in welcher außerkünstle¬
rische Wertungen anwendbar sind. Im wörtlichsten Sinne war
die Kunst zu einer Religion geworden, mit ihrem eigenen
Dogma, ihren Künstler-Heiligen und sogar ihrer eigenen Art
von Askese, die von Villiers de Flsle-Adams Axel brillant
zusammengefaßt wurde in folgendem Aphorismus, den Mal¬
larme sehr bewunderte: »Vivre? Les serviteurs feront cela
pour nous!«*
Es ist also kein Wunder, daß Mallarmes Denken außerhalb
des ästhetischen Bereichs tatsächlich »kindlich« und unzu¬
treffend war. Was könnte kindlicher und unzutreffender sein
als seine Weissagung aus dem gleichen Vortrag: »Wenn es in
der Zukunft in Frankreich eine Wiedergeburt der Religion
geben wird, dann wird das die Erweiterung des Himmels¬
instinktes [instinct de ciel] zu tausend Freuden in jedem
Menschen sein«? Baudelaire hätte gelacht über eine solche
»niaiserie«.
Rimbauds Reaktion war sogar noch extremer. Obwohl er
Baudelaire dafür tadelte, daß er »in einem zu artistischen
Milieu gelebt« und keine neuen Formen erfunden habe, hat
er doch den Meister andererseits mit den Worten, die bereits
zitiert worden sind, deifiziert. Doch während Mallarme sich
in das Allerheiligste der Kunst zurückzog, half Rimbaud den
nächsten Schritt vorzubereiten, nämlich die Welt durch die
Kraft seiner Imagination neuzuschaffen. Während Mallarme
»le mirage brutal, la eite, ses gouvernements, le code«** ge¬
ringschätzte und sich deshalb der steten Verfeinerung seines
Mediums widmen konnte, befand sich Rimbaud in aktivem
20
Aufstand gegen Gesellschaft, Moral und sogar Gott. Daraus
folgte, daß für ihn die Kunst nichts anderes sein konnte als
ein bloßes Mittel zu diesem Zweck: eine Waffe der Revolte;
und als Rimbaud seine geistige Niederlage in diesem größeren
Kampf einsehen mußte, wurde die bloße Waffe zu etwas
Wertlosem. Auf den Rohentwurf des Werkes, das den Kampf
und das Unterliegen aufzeichnete, Une Saison en enfer,
schrieb er diese Worte: »Maintenant je puis dire que l’art est
une sottise.«*
Zusammen mit Lautreamont, dessen Chants de Maldoror
beinahe zur selben Zeit entstanden wie Une Saison en enfer,
wurde Rimbaud zum Vorläufer des Surrealismus und an¬
derer experimenteller »Bewegungen« unseres Jahrhunderts.
Es lohnt sich deshalb, sich daran zu erinnern, daß Rimbaud
und Lautreamont ihre eigenen Experimente als gescheitert
ansahen; nicht aus künstlerischen Gründen, sondern weil sich
hier ein Kreis geschlossen hatte: Wie Baudelaire vorausgesagt
hatte, führte die Hypertrophie der Kunst zu ihrer Atrophie.
Rimbauds Widerruf nahm die Form des Schweigens an; seine
Rebellion war zu sehr mit dem ganzen Herzen erfolgt und
war zu extrem gewesen, als daß sie eine so versöhnliche
Halbheit wie Verlaines Sagesse zugelassen hätte. Rimbauds
Verzicht auf die Literatur war ebenso total wie sein vor¬
heriger Glaube an die Macht des geschriebenen Wortes - wo¬
bei für ihn die Macht des geschriebenen Wortes die Macht be¬
deutet hatte, die Welt zu verändern. Was Lautreamont be¬
trifft, so erfolgte sein Widerruf in seinem letzten Werk, Poe-
sies; der Schöpfer des Maldoror, dessen Suche nach einem
verwandten Geist ihren Höhepunkt in der geschlechtlichen
Vereinigung mit einem Hai gefunden hatte und der ausge¬
rufen hatte: »Moi seul, contre l’humanite!«**, sprach sich
nun für eine Rückkehr zu der »unpersönlichen Dichtung«
der klassischen Epoche aus und propagierte den moralischen
Konformismus. »Das Ziel der Poesie«, schrieb er jetzt, »sollte
die praktische Wahrheit sein.«17
Der Kreis hatte sich geschlossen - schon 1873! Aber die Lite¬
raturgeschichte scheut sich nicht vor Selbstwiederholungen;
und das ist weiter nichts Verwunderliches, da sie doch von
»Jetzt kann ich sagen, daß die Kunst eine Dummheit ist.«
’** »Ich allein, gegen die Menschheit!«
21
Individuen gemacht wird, deren Strebungen und Torheiten
nicht allein durch die Geschichte bestimmt werden und auch
nicht nur durch die literarischen und philosophischen »Strö¬
mungen«, mit denen der Historiker notgedrungen arbeiten
muß. Derselbe Kreis kreist noch immer in sich, etwas lang¬
samer vielleicht, aber dennoch recht stetig. Mallarmes Vor¬
lesung von 1894 zeigt keinerlei Bewußtsein der Implikatio¬
nen, die für den rückschauenden Blick des Historikers so of¬
fenkundig sind. Zwei Jahre danach schrieb Hofmannsthal an
Stefan George, Mallarmes Jünger in Deutschland, und bat
ihn, einen österreichischen Freund zu empfangen, Graf Joseph
Schönborn (»aus dem böhmischen Zweig des Hauses Schön¬
born«), der gerade Deutschland bereiste. George antwortete
entrüstet: »Sie schreiben einen satz, mein lieber freund: >er
gehört völlig dem leben an, keiner kunst<, den ich fast als
lästerung auffassen möchte, wer gar keiner kunst angehört
darf sich der überhaupt rühmen dem leben anzugehören?
wie? höchstens in halbbarbarischen Zeitläuften.«18
In seinem späteren Leben wurde es George nur allzu deutlich
bewußt, daß er tatsächlich in einem halbbarbarischen Zeit¬
alter lebte; und es mag ihm sogar auf gegangen sein, daß die
Kluft, die er durch die Arroganz seines Briefes deutlich ge¬
macht hatte, ein ebenso heftiges Symptom dieser Barbarei
war wie nur irgendein anderes. Hofmannsthal wußte es be¬
stimmt und gab es auf, Lyrik zu schreiben; und auch Yeats
wußte es, denn er schloß die Aristokratie und die Armen in
seine ideale Weltordnung genau so mit ein wie den Künstler
(eine erheblich humanere Variante von Baudelaires Trias
»achtbarer Wesen«: »Der Priester, der Krieger und der Dich¬
ter. Wissen, Töten und Erschaffen«19).
Der Gegenangriff des »Lebens« blieb natürlich nicht aus. Max
Nordaus Entartung erschien 1893. Tolstojs Traktat Was ist
Kunst? kam 1897 und 1898 heraus. Schon 1887 hatte Tolstoj
an Romain Rolland geschrieben: »An unserer gesamten heu¬
tigen Misere ist folgendes schuld: die sogenannten Gebilde¬
ten, unterstützt von den Gelehrten und Künstlern, sind eine
privilegierte Kaste, wie die Geistlichkeit; und diese Kaste
hat den Fehler aller Kasten. Sie erniedrigt und entehrt die
Grundsätze, in deren Namen sie gebildet wurde. Was wir
22
unsere Wissenschaft und Kunst nennen, ist nichts als ein gren¬
zenloser Humbug, ein riesiger Aberglauben von der Art, auf
die wir hereinfallen, sobald wir uns von dem Aberglauben
der Kirche emanzipiert haben.«20 Tolstojs Angriff auf Shake¬
speare folgte 1903. Keine seither getane Äußerung über
Shakespeare hat Tolstojs Bezeichnung für ihn - »ein viert-
klassiger Künstler«, dessen »Fähigkeit zur Charakterdarstel¬
lung gleich Null war« - übertreffen können. In Was ist Kunst?
befaßte sich Tolstoj freilich mehr mit dem modernen Ästheti¬
zismus, den er auch in der Kreuzersonate geißelte.
Tolstojs literarische Urteile waren wegen der inneren Krise,
durch die er um diese Zeit hindurchging — eine Krise des
Selbstekels und der Selbstanklage -, und auch wegen seiner
Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, die erst vor kurzem dem
Feudalismus entwachsen war, so verzerrt, daß man sie eigent¬
lich nur als ein Symptom für das, was kommen sollte, ernst
nehmen kann. Der Vitalismus Nietzsches aber war eine viel
stärkere Erschütterung für den Westen. Obwohl er auf der
Seite des Ästhetizismus stand, hatte Nietzsche es unternom¬
men, diese Lehre mit der philosophischen Situation in Europa
in Beziehung zu setzen; er wies darauf hin, daß die Kunst¬
religion »die letzte metaphysische Betätigung innerhalb des
europäischen Nihilismus« war. Er kombinierte sie mit seiner
Religion des Antichrist, seinem Immoralismus und seiner
eigenen Fassung des Darwinismus, »dem Willen zur Macht«.
Der Kreislauf hatte sich nur noch ein wenig weiterzubewe¬
gen und schon zeigte das Barbarische ein neues Gesicht. Die
Nietzschesche Revolution erzeugte das merkwürdige Phäno¬
men des kultivierten Menschen, der einen leidenschaftlichen
Haß auf die Kultur hat, des Künstlers, der sich der Kunst
schämt. »Wenn ich Rimbaud oder den Siebenten Gesang des
Maldoror lese«, bekannte Andre Gide in seinen Tagebüchern,
»dann schäme ich mich meiner Werke, und alles, was ein blo¬
ßes Produkt der Kultur ist, ekelt mich an.«
Wie klassisch nimmt sich doch Baudelaires Haltung aus, wenn
man diese spätere trahison des clercs daneben hält, die ver¬
ächtliche Desertion des Intellektuellen ins feindliche Lager!
»Tout ce qui est beau et noble«, glaubte Baudelaire (oder
zumindest behauptete er es), »est le resultat de la raison et du
23
calcul.«21* ** Der neue Vitalismus war freilich auch eine Fort¬
entwicklung des Ästhetizismus, und zwar eine solche, die den
Schwerpunkt nicht auf die Schönheit, sondern auf die emotio¬
nale Intensität, die Sensation legte; er war ein Ästhetizismus,
der sich von seinen ethischen, sozialen und kulturellen Hem¬
mungen befreit hatte. Baudelaire, der all dies »vorausgelit¬
ten« hatte"'"', wußte auch um die Verlockungen dieser Posi¬
tion; daher seine Warnung vor der übertriebenen Kunstanbe¬
tung, die - das ahnte er - nicht nur den Barbaren in die Hand
arbeiten, sondern auch die Künstler selbst zu den schlimmsten
Feinden der Kunst werden lassen würde.
Diese kurze Skizze hat sich auf die Haltungen und Aussagen
von Dichtern beschränkt. Um der Vollständigkeit nur ent¬
fernt nahezukommen - insoweit als etwas so Selektives, dra¬
stisch Vereinfachtes und Sprunghaftes wie diese Überschau
überhaupt Vollständigkeit erreichen kann müßte man jetzt
noch das Dilemma der Literaturkritik nachzeichnen, deren
Geschichte mit der Entwicklung, die ich zu umreißen ver¬
suchte, genau parallel läuft. In ihrem Bemühen, mit den
Dichtern Schritt zu halten, ist die Masse der wirklich intelli¬
genten Literaturkritik in unserer Zeit »zu einer Kritik um
der Kritik willen« geworden, wie es D. J. Enright genannt
hat. Wenn auch Edwin Muir bereits 1924 schrieb, daß »alle
Dichtungskritik Kritik um der Kritik willen« sei22, so wider¬
spricht diese seine Bemerkung nicht derjenigen von Enright;
denn Muir fährt fort: »Sie ist die Übertragung einer morali¬
schen Gewohnheit auf die Kunst.« Anstatt zwischen dem
Kunstwerk und einem nicht spezialisierten Publikum zu ver¬
mitteln, ist sie selbst so spezialisiert und schwierig geworden,
wie es angeblich die moderne Lyrik ist; manchmal sogar
schwieriger, denn die Lyrik hat schon ihre spezifische Art,
komplexe Wahrnehmungen mitzuteilen, und die Kritiker
haben dann ihre eigenen Kompliziertheiten zu denen ihrer
Texte noch mit hinzugefügt. Im Augenblick gibt es Anzeichen
* »Alles Schöne und Edle ist das Ergebnis von Vernunft und kul¬
tivierter Überlegung.«
** [Anspielung auf den Seher Tiresias in T. S. Eliots The Waste
Land (1922), von dem es Z. 243 heißt: »And I Tiresias have
foresuffered all.«]
24
dafür, daß die Reaktion auf den New Criticism ebenso ge¬
walttätig und wahrheitsentstellend werden könnte wie Tol-
stojs Protest gegen die verweichlichende Wirkung der Kunst.
Ja, Tolstojs Verbitterung gegen die Kunst war sogar noch
ausgesprochen mild im Vergleich zu der Kunstfeindlichkeit
von Erich Hellers The Disinherited Mind (Der enterbte Geist)
mit seiner hartnäckig wiederholten Behauptung: »Die Dich¬
tung, das sind die Ideen, und die Ideen, das ist die Dichtung.«
Das war Antiästhetizismus in Reinkultur, mit der radikalen
Konsequenz, daß der Autor Rilkes Duineser Elegien ver¬
dammte, weil die darin enthaltenen Ideen falsch seien, und
daß er zu dem Ergebnis kam, »Kafka habe gute Gründe da¬
für gehabt zu verfügen, daß seine Schriften zu verbrennen
seien«. Erich Hellers Thesen über das Verhältnis zwischen
Wahrheit und Dichtung sind die drastische Formulierung
einer Ansicht, die sehr verbreitet ist, aber selten mit soviel
Beredsamkeit vorgetragen worden ist wie gerade von ihm.
Verbreitet ist sie bei den Leuten, deren Einwand gegen die
moderne Dichtung entweder darin besteht, daß sie sie nicht
»verstehen« können, oder aber darin, daß sie mit dem, was
sie verstehen, nicht einverstanden sind. So schrieb Heller in
The Disinherited Mind:
25
Trotz seiner abenteuerlichen Verallgemeinerungen - angefan¬
gen mit der Beschwörung jener mythischen »glücklicheren Kul¬
turen«, in denen die Dichter »Märchen erzählen« und »Lie¬
der singen« - sagt dieser Abschnitt etwas Zutreffendes über
die Entwicklung, die in Mallarmes abwertendem Hinweis auf
die äußere Welt als »brutale Fata Morgana« gipfelt. Aber
dennoch ist es schwer einzusehen, wie und warum die Erfin¬
dungen des modernen Dichters die Welt ärmer machen sol¬
len. Das setzt Leser von Gedichten wie Rilkes Duineser Ele¬
gien voraus, die auf die Dichtung in so pedantischer Weise
wörtlich und so furchtbar passiv reagieren, daß sie die
Welt, die sie kennen, hinter sich lassen um der Welt willen,
die Rilke für sie schuf, indem er in Gesang ausbrach, um »Da¬
sein zu haben«. Selbst die leidenschaftlichsten Bewunderer und
Jünger Rilkes haben das aber doch nicht wirklich getan. Der
Fehler liegt hier bei Hellers eigenem zu wörtlichen Dich¬
tungsverständnis. Er behandelt jedes literarische Werk, sei es
nun rein poetisch oder historisch, so, als ob es die wesent¬
lichste Funktion der Literatur sei, ein System von Glaubens¬
sätzen und Ideen zu erläutern:
Dichten ist Denken. Gewiß ist es nicht nur Denken; aber »Nur-
Denken« gibt es nicht, abgesehen vielleicht von den Operationen
der reinen Logik und Mathematik. Die Sprache ist nicht ganz so
irreführend, wie einige unserer analytischen Philosophen anzuneh¬
men scheinen. Sie weiß, was sie tut, wenn sie uns erlaubt, »an je¬
manden zu denken«, oder wenn sie Handlungen, denen es an Wach¬
heit des Gefühls mangelt, »gedankenlos« nennt. Das sind nicht
bloße Redensarten. Die Worte meinen, was sie sagen: Gedanke
und Denken. Und daß eine Autorität, noch höher als diejenige
Goethes und T. S. Eliots, lehrt, im Anfang sei Logos gewesen, das
Wort, das Denken, der Sinn, - das sollte uns zu denken geben, ehe
wir die Frage beantworten, ob der Dichter denkt.24
Natürlich sollen wir das; aber die eigentliche Frage für den
Dichtungsleser ist, wie ein bestimmter Dichter in einem be¬
stimmten Gedicht oder Teil eines Gedichtes denkt und wie
diese Weise des Denkens funktioniert in bezug auf die Ganz¬
heit dessen, was das Gedicht bewirkt. In seinem übereifrigen
Wunsch, nur ja keinen Kompromiß mit den Ästheten einzu¬
gehen, geht Heller so weit, die folgende Behauptung aufzu¬
stellen:
26
Die Gründe etwa, deretwegen man den Glauben, der in Rilkes spä¬
terer Dichtung Gestalt gewinnt, hinnimmt oder ablehnt, unterschei¬
den sich in nichts von den Erwägungen, die einen bestimmen, den
Marxismus oder die Oxford Group oder die Anthroposophie zu
akzeptieren oder zu verwerfen. Zu sagen: »Aber er ist doch nur
ein Dichter« (und nicht etwa ein Sekten-Hausierer, ein Ideologe
oder ein politischer Propagandist), wäre dasselbe wie zu sagen, daß
es ihm sein Beruf schwerer macht als anderen, die Wahrheit zu er¬
kennen; zu sagen: »Aber seine Gedichte sind zu schön, um wahr zu
sein«, bedeutete doch nur, daß ein Gedicht um so schlechter sein
müsse, je näher es der Wahrheit kommt, weil alle Wahrheit häßlich
ist.25
27
y a une infinite de choses qui la surpassent«.* Hellers man¬
gelnde Bereitschaft, sich mit den Fakten der Literatur zufrie¬
den zu geben — d. h. mit dem spezifischen Einzelgedicht oder
-drama, aus dem er einen Text auszieht, um ihn für seine Pre¬
digt gegen die moderne Literatur im allgemeinen verwenden
zu können -, macht ihn zu einem schlechten Leser. Als solcher
kann er dann nichts anderes tun als die Vorurteile derjenigen
bestätigen, die glauben, die Lyrik sei lediglich eine »schöne«
Art, Dinge zu sagen, die man auch in Prosa sagen könnte.
Diese Funktionsbestimmung ist nicht nur eine Vernebelung,
sondern sie ist in äußerstem Grade undienlich, schneidet sie
doch den Knoten, den sich die Literaturkritik zu lösen be¬
mühen sollte, einfach durch. Es mag sein, daß die ästhetische
Ordnung niemals wieder mit einem umfassenden Ordnungs¬
prinzip zur Deckung gebracht werden wird, was Kierkegaard
noch einmal versucht hat, zu Baudelaires Lebenszeit. Mit Si¬
cherheit aber wird dies nicht dadurch zu erreichen sein, daß
man Dante als Maßstab für alles und jedes heranzieht und
Shakespeare und Goethe zu modern findet, um die Probe zu
bestehen - ganz zu schweigen von Hölderlin und Rilke. Und
man erreicht es auch nicht dadurch, daß man einfach zu der
Position von Matthew Arnold im Jahre 1863 zurückkehrt,
zu einer Zeit also, in der die Kunst noch nicht - zumindest
in England noch nicht - ihre Unabhängigkeit vom Leben
proklamiert hatte, und daß man sagt, Dichtung sei »einfach
die schönste, eindrucksvollste und in der Breite wirksamste
Art, die Dinge zu sagen, und von daher beziehe sie ihre Wich¬
tigkeit«.29 Arnold war ein großer Kritiker, weil er versuchte,
das richtige Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Funk¬
tionen der Dichtung zu bewahren, ebenso wie das T. S. Eliot,
freilich mit ganz anderen Voraussetzungen und Zielen, zu
seiner Zeit versuchte; während der größte Teil des New
Criticism es versäumt hat, sich mit dem Dilemma überhaupt
auseinanderzusetzen. Und doch war das Dilemma mit impli¬
ziert in I. A. Richard’s Diktum, es sei »nicht das wichtig, was
ein Gedicht sagt, sondern das, was es ist*. Erich Hellers
Wörtlichnehmen des »Inhalts« verkehrt diesen Ausspruch in
28
sein Gegenteil; aber das Diktum selber impliziert, daß das,
was ein Gedicht sagt, etwas grundsätzlich Anderes und Ab¬
trennbares gegenüber dem ist, was es ist; und daß der einsich¬
tige Leser der ist, der sich dieses Unterschiedes am meisten be¬
wußt bleibt. Die Literaturkritik hat es nicht vermocht, diese
Differenz zu erklären, ohne dabei mindestens eine der ver¬
schiedenen Funktionen von Literatur aus den Augen zu ver¬
lieren oder diese überhaupt als eine wertlose Sache aufzuge¬
ben. Die analytische Methode ist unvollständig, wenn sie
nicht am Ende die Teile wieder zu einem Ganzen zusammen¬
fügt; und dieser abschließende Prozeß ist in gleichem Maße
wie nur irgendein anderer synthetischer Prozeß imstande,
eine neue Maschine hervorzubringen.
29
wird. Diese Verwirrung ist sehr verbreitet: es gibt wenige
ästhetisch empfindsame Menschen, die ihr nicht gelegentlich
anheimfallen. Der Punkt, auf den es in diesem besonderen
Zusammenhang hinausläuft, ist die Unfähigkeit, zwischen un¬
seren Reaktionen auf das, was häßlich ist, und unseren Re¬
aktionen auf das, was moralisch schlecht ist, zu unterscheiden.
Die Verwirrung unterläuft um so leichter, weil die Kategorie
des Ästhetischen die des Moralischen berührt, dort wo es um
die mores oder moeurs geht; und die Ausdrücke »schmutzig«
und »armselig« scheinen auf beide Kategorien anwendbar zu
sein. (W. H. Auden stellte diese Verbindung her in seiner be¬
kannten Zeile »New styles of architecture, a change of
heart«.*)
Aber Baudelaire hat genau das richtige Wort gewählt, um die
Utopie des l’art pour l’art zu charakterisieren: »kindlich«;
denn gerade die Kinder sind am wenigsten fähig, diese Un¬
terscheidung zu treffen und neigen am stärksten dazu, ethische
Urteile auf der äußeren Erscheinung aufzubauen (obwohl
sehr kleine Kinder durch physische Häßlichkeit nicht abgesto¬
ßen werden).
Die hier besprochene Verwirrung der Begriffe hat zu zwei
weiteren, damit verwandten Konfusionen geführt. Indem sie
ihren Glauben an »die Kunst um der Kunst willen« bekräf¬
tigen, haben es viele Schriftsteller nicht fertiggebracht, zwi¬
schen ihrem persönlichen Motiv für das Schreiben von Dich¬
tung und der Funktion aller Literatur zu unterscheiden. Wenn
ein moderner Dichter sagt, er schreibe nur um des Gedichtes
willen, so ist das weder seltsam noch schockierend; er sagt da¬
mit eigentlich nur mit anderen Worten, daß er weder ein
Schuft ist noch ein Narr. Der Irrtum fängt erst da an, wo der
Dichter dazu übergeht, sein eigenes Motiv mit dem Wesen
oder der Funktion der Dichtung gleichzusetzen oder wenn
er eine Lebensphilosophie auf den Gesetzen seiner Kunst
oder auf seiner persönlichen Lage als Dichter aufbaut. Es war
das Ideal Gottfried Benns, »das absolute Gedicht« zu schrei¬
ben, »das Gedicht ohne Glauben. Das Gedicht ohne Hoff-
3°
nung, das Gedicht, das an niemand gerichtet ist, das Gedicht
aus Worten, die man auf eine faszinierende Weise zusammen¬
stellt«.28 Absolute Gedichte sind »Phänomene, geschichtlich
wirkungslos, ohne praktische Konsequenzen. Das ist ihre
Größe«. Aber Gottfried Benn publizierte seine Gedichte;
und er verachtete nicht einmal solche Hilfsmittel der Breiten¬
wirkung wie den Rundfunk-Vortrag, die öffentliche Dichter¬
lesung und das Presse-Interview. Die bloße Publikation
würde ausgereicht haben, seinen Gedichten eine historische
Wirkung und praktische Konsequenzen zu geben. Auf diese
Inkonsequenz hinweisen heißt nicht, Benn der Heuchelei zu
zeihen; ich verweise darauf nur, um hervorzuheben, daß Mit¬
teilung eine im Wesen der Dichtung liegende Funktion ist,
und zwar selbst dort, wo sich der Dichter in keiner Weise
eines Wunsches bewußt ist, irgend etwas Besonderes mitzu¬
teilen, wo er für die Toten schreibt oder für niemand. Ein
Gedicht kann ein Monolog sein; aber es ist ein Monolog, der
laut gesprochen wird.
Der zweite Irrtum besteht in der Annahme, daß es eine feste
Relation zwischen der Autonomie, die ein Werk der Litera¬
tur erreicht, und seiner Qualität geben müsse; daß diese Re¬
lation von der Glaubensüberzeugung des Dichters abhängig
sei; und daß ein Dichter, der kein Engagement für irgend et¬
was anderes als seine Kunst anerkennt, aus diesem Grunde
kein schlechtes Gedicht schreiben könne, und schon gar nicht
ein vulgäres Gedicht. Engagement ist ebenfalls nicht bloß
eine Sache der bewußten Geisteshaltung; schon wenn man
bloß schreibt, engagiert man sich und verrät eine Art von
Engagement, die sich nicht ausschließlich auf die Kategorie
des Ästhetischen beschränken läßt. Villiers de l’Isle Adam
z. B. verdankt den größten Teil seiner Berühmtheit dieser
Art von Haltung; als Verfasser von erzählender Literatur -
Romanen und Erzählungen - war er weniger bedeutend als
viele populäre Romanautoren seiner Zeit. Und - wie Baude¬
laire gesagt hat - es gibt auch eine Vulgarität, die darin be¬
steht, daß man eine Menschenmenge verunglimpft.
Der Dichter als Ästhet, das ist der Dichter, der zum Spezia¬
listen geworden ist, der Dichter, der über seine Spezialisie¬
rung nicht mehr hinaussehen kann und sie zu einem Glau¬
bensbekenntnis macht. Insoweit als er die l’art pour l’art-
3i
Schule billigte, bewies Baudelaire, daß er dem allgemeinen
Trend zur Spezialisierung nicht widerstehen konnte. Seine
Einsamkeit war gegen ihn. Sein Dandy-Kult - als »das letzte
Aufleuchten von Heroismus in dekadenten Zeiten«29 —war sein
verzweifelter Versuch, seiner Einsamkeit einen Sinn zu geben;
er war ein Religionsersatz, eine aus einer langen Liste von
Ersatzreligionen, in die sich Künstler geflüchtet haben, einfach
um überhaupt weitermachen zu können. Und dennoch war es
Baudelaire, der unter der Überschrift Dandyism in sein Tage¬
buch schrieb: »Wer ist der überdurchschnittliche Mann? Sicher
nicht der Spezialist. Es ist der Mann der Muße und der all¬
gemeinen Bildung. Reich sein und die Arbeit lieben.«30 Aber
Baudelaire war den größten Teil seines Lebens alles andere
als reich, und er haßte die Arbeit. So wurde er zum ersten
Europäer, der über den »unermeßlichen Ekel vor der Re¬
klame« klagte - einen Ekel, der ein Grenzfall ist, halb ästhe¬
tisch, halb moralisch und den er interpretierte als Abscheu
vor dem »schmutzigen« Materialismus des Zeitalters. Zu¬
gleich wußte er, daß der Ästhetizismus - außer in seinen
höchsten, platonischen Bereichen - auch ein Materialismus
ist und daß es sein eigenes Ästhetentum war, das-ihn von der
Masse absonderte. »Was mich betrifft, der ich manchmal dazu
neige, die lächerliche Rolle des Propheten anzunehmen, so-
weiß ich, daß ich darin niemals die Menschenliebe eines Arz¬
tes finden werde. Verloren in dieser gemeinen Welt, herumge¬
stoßen von der Menge, bin ich wie ein total Erschöpfter, der,
wenn er in den tiefen Abgrund der Jahre zurückblickt, nichts
sieht als Desillusionierung und Bitterkeit, und der, wenn er
nach vorwärts schaut, nichts sieht als einen völligen Zusam¬
menbruch, der nichts Neues bringt: weder an Wissen noch an
Schmerz.«31
Als er dann schließlich diesem circulus vitiosus völlig ent¬
ronnen war und die »Menschenliebe des Arztes« erlernt hatte,
hatte Baudelaire schon fast ganz aufgehört zu schreiben; aber
es gibt mehr Anzeichen für diese Art von Liebe in seinem
früheren Werk, als er sich selber einzugestehen wagte. Baude¬
laire fürchtete nichts so sehr, als daß die geistige Leidenschaft,
die er in seine Lyrik investierte, für die falsche Geistigkeit sei¬
ner Zeit, eben jene ästhetische Ersatzreligion der Kunst, ge¬
halten werden könnte; deshalb schrieb er, daß es einzig und
32
allein wichtig sei, »ein großer Mensch und ein Heiliger in sei¬
nen eigenen Augen (pour soi-meme) zu sein«.
Wenn man Baudelaires Urteile über Gesellschaft, Politik,
Ethik und Religion richtig einschätzen will, ist es von aus¬
schlaggebender Wichtigkeit, zwischen zwei Arten von Urtei¬
len zu unterscheiden: denen des Spezialisten, der sich nur für
sein Gewerbe interessiert - ein Gewerbe, für dessen Erzeug¬
nisse damals wenig Bedarf bestand; und denen, die den be¬
sonderen Vorzug einer höheren Warte haben, von der er in
seinem Tagebuch spricht: »Ich habe keine Überzeugungen in
dem Sinn, in dem die Menschen meines Jahrhunderts das
Wort verstehen, weil ich keine Ambitionen habe.« Es ist
zwecklos, aus der ersten Art von Urteilen etwas Sinnvolles
herauslesen zu wollen - es sei denn biographische oder histo¬
rische Informationen; wenn man es tut, stößt man auf einen
Baudelaire, der ein Sozialist, ein Konservativer und ein Fa¬
schist ist, ein mystischer Pantheist und ein orthodoxer Katho¬
lik, ein Satanist, ein Puritaner und ein Heide usw. usw. Es
ist ebenfalls wichtig, zwischen dem zu unterscheiden, was
Baudelaire als Mensch, und dem, was er als Künstler dachte.
So schrieb er z. B.: »Je ne crois pas qu’il soit scandalisant de
considerer toute infraction ä la morale, au beau moral, comme
une espece de faute contre le rythme et la prosodie univer-
sels.«* Das ist ein Beispiel für die Ersatzreligion; es ist ein
Ausspruch, der dazu bestimmt ist, eine sehr wackelige Brücke
zu bauen über die Kluft zwischen der Kategorie des Ästheti¬
schen und der des Ethischen. Tatsache ist, daß der Mensch
Baudelaire nicht an einen »universalen Rhythmus« und »eine
universale Prosodie« glaubte, die die ästhetischen und die
ethischen Funktionen der Dichtung hätten koordinieren kön¬
nen, ohne daß es dazu einer Anstrengung des Dichters bedurft
hätte; aber der Künstler Baudelaire hätte gern daran ge¬
glaubt, und der Pseudoglaube war für einen Dichter etwas
Nützliches.
Man braucht an der modernen Dichtung nicht zu verzweifeln,
* »Ich glaube nicht, daß es skandalös ist, jeden Verstoß gegen die
Moral, gegen das moralisch Schöne, als eine Art Vergehen gegen
den universalen Rhythmus und die universale Prosodie aufzu¬
fassen.« Theophile Gautier
33
weil sie solche Differenzierungen nötig macht, und man
braucht sich nicht das Vergnügen an ihr zu versagen aus
Angst, man könne durch ihre »falschen« Ideen korrumpiert
werden. Es ist Sache des Kritikers und des Lesers, die Ersatz¬
religionen dort zu erkennen, wo sie ein Teil der Dichtung
geworden sind anstatt einer bloßen Elilfskonstruktion, die
den Dichter bei seiner schweren Aufgabe unterstützt. Ich be¬
zweifle, daß ein Leser, der kein Dichter ist (oder überhaupt,
der nicht Rilke ist), lange nach der ästhetischen Religion leben
könnte, die implizit, und manchmal auch explizit, in Rilkes
Duineser Elegien verkündet wird; aber ein solcher Leser
könnte dennoch einen Wissenszuwachs erfahren haben da¬
durch, daß er in eine Erfahrungswelt eingetreten wäre, die er
sich ohne diese Lektüre nicht hätte zu eigen machen können;
und mit »eintreten« meine ich ein aufrichtiges, ernstes Ein¬
gehen in die Erfahrung, ohne Vorurteil oder vorschnelles Ur¬
teil. Wenn die Erfahrung einen Niederschlag von Ideen an¬
statt von Empfindungen zurückläßt, so werden diese Ideen
in einem späteren Stadium zurechtgerückt werden müssen.
Das Unterscheidungsvermögen, das dazu vonnöten ist, ist
kein anderes als das, welches das Leben von uns verlangt; die
Menschen und Dinge, mit denen wir zu tun haben, sind auch
nicht mit einer Aufschrift »gut« oder »schlecht« versehen.
Wahre und falsche Ideen werben um uns in jeder Zeitung,
ganz zu schweigen von den Reklamen, die Baudelaire so ekel¬
haft: waren.
Aber die Sache selbst lügt nicht; das trifft auf ein Gedicht als
einen gut und ehrlich gemachten Gegenstand (A. E. Housman
hat gesagt, daß Dichtung »viel mehr physisch als intellek¬
tuell« sei32) genau so zu wie rein materielle Erzeugnisse. In
beiden Fällen mag es nötig sein, das Objekt von den Behaup¬
tungen, die darüber aufgestellt worden sind, abzusondern,
selbst von Behauptungen, die auf das Objekt selber außen
aufgeprägt sind. Wenn die zunehmende Notwendigkeit einer
solchen Unterscheidung und Abtrennung verwirrend ist,
wenn sie zu Tolstojs Verärgerung über die Literatur und zu
Baudelaires Widerwillen gegenüber dem Leben geführt hat,
oder aber zu Zynismus, Gleichgültigkeit und bewußtem Spie¬
ßertum, so hat die Literatur auch dafür ein Heilmittel: sie hat
die Macht, neue Verbindungen zwischen den Dingen herzu-
34
stellen, die im Leben mehr und mehr »auseinanderfallen«"'
wollen. Es zeichnet die moderne Dichtung aus, daß sie sich auf
das Zählen der »Streifen auf der Tulpe« konzentriert hat;
aber immer wieder hat sie auch ihre Fähigkeit bewiesen, dem
Partikulären einen universellen Sinn zu geben, ein neues
Zentrum für Erfahrungen zu stiften, die nach allen klassi¬
schen Kriterien peripher sein müßten, weil sie die Erfahrun¬
gen von Spezialisten sind. Der moderne Dichter mag »die
Streifen der Tulpe zählen« und nicht nur glauben, sondern
auch hoffen, daß er nichts anderes getan habe als dies; aber
ob es ihm gefällt oder nicht, er hat etwas Neues über Blumen
gesagt - und über den Menschen.
35
2 Die Wahrheit der Dichtung
36
zu geben. Was für die Leser und Kritiker moderner Gedichte
wichtig ist, ist, daß sie keinen allzu einfachen oder gleich¬
bleibenden Zugang zu den vielen Arten von Wahrheit erwar¬
ten, die verschiedene Arten von Gedichten mitzuteilen in der
Lage sind.
Als Donald Davie 1954 Bonamy Dobrees The Broken Cistern
besprach, zitierte er folgenden bekannten Passus aus A. E.
Housmans 1933 gehaltenen Vortrag The Name and Nature
of Poetry2:
Gedichte bestehen sehr selten nur aus Poesie und sonst nichts; und
Vergnügen kann auch aus ihren anderen Ingredienzien gewonnen
werden. Ich bin überzeugt, daß die meisten Leser dann, wenn sie
glauben, Dichtung zu bewundern, einer Täuschung anheimfallen,
weil sie unfähig sind, ihre eigenen Empfindungen zu analysieren;
und daß sie in Wirklichkeit nicht den Poesiegehalt der ihnen vor¬
liegenden Stelle bewundern, sondern etwas anderes darin, was ihrem
Herzen näher liegt als Poesie.
37
Inhalt, ihrer Bedeutung, ist doch eine so geschlossene Einheit,
wie man sie sich nur vorstellen kann.« Wenn so erfahrene
Kritiker wie Bonamy Dobree immer wieder darauf zurück¬
kommen, »das, was gesagt wird« von »der Art, wie es gesagt
wird«, abzutrennen, oder darauf beharren, daß die Dichtung
doch letzten Endes »das, was gesagt wird«, sei, so wie Erich
Heller das getan hat, dann wird man damit rechnen müssen,
daß es noch lange Zeit Leser dieser Art geben wird; und nicht
nur in den Ländern, in denen jede andere Art von Lesern als
ideologisch suspekt gelten. Selbst nach dem Symbolismus,
Imagismus, Futurismus, Expressionismus, Surrealismus und
der neuen Konkreten Poesie bleiben nicht nur die Kritiker
und Leser, sondern auch die Dichter gespalten in ihrer Mei¬
nung über die Frage, auf welche Baudelaire keine eindeutige
Antwort geben konnte; und in vielen Fällen ist die Spaltung
ein innerer Zwiespalt geblieben, einer jener Kämpfe mit sich
selbst, aus denen ein Dichter - wie Yeats gesagt hat - Dich¬
tung macht.
Donald Davie selbst schrieb einmal ein beredtes Plädoyer
für eine Art von Dichtung, die »nach dem Menschlichen rie¬
chen soll« und »keinen Verlust des Glaubens an das begriff¬
liche Denken« sichtbar werden lassen darf; und - so argu¬
mentierte er damals in Articulate Energy3 - eine solche Dich¬
tung müßte zu einer Syntax zurückfinden, die die Logik stär¬
ker berücksichtigt als die Dynamik. Obwohl sich seine eigene
Position wahrscheinlich seither geändert hat, ist seine Analyse
der Syntax der modernen Lyrik und der philosophischen
und psychologischen Wandlungen, die zur Einführung und
Anwendung dieser Syntax geführt haben, immer noch gültig.
Vor allem hatte er recht, wenn er die Wichtigkeit der poeti¬
schen Syntax unterstrich:
Wenn die moderne Lyrik, die doch in allen anderen Beziehungen so
verschiedenartig ist, überhaupt als eine Einheit gesehen werden
kann, dann unter diesem Gesichtspunkt, dem Gesichtspunkt der
Syntax. Und wir können das so definieren: Was aller modernen
Lyrik gemeinsam ist, ist die Feststellung oder Vermutung (meist das
letztere), daß die Syntax in der Dichtung etwas ganz anderes ist als
das, was die Logiker und Grammatiker unter Syntax verstehen.
Wenn der Dichter syntaktische Formen, wie sie der Grammatiker
akzeptiert, beibehält, so ist das bloß eine Konvention, die er sich
entschlossen hat, einzuhalten. Aber niemals vor der Moderne hat es
38
eine Epoche gegeben, in der es für ausgemacht galt, daß alle poeti¬
sche Syntax notwendigerweise von dieser Art ist. Das ist sicherlich
die eine symbolistische Neuerung, die all den vielen anderen von den
symbolistischen Dichtern eingeführten technischen Neuerungen zu¬
grunde liegt. Spätere Dichter konnten es ablehnen, all die anderen
symbolistischen Methoden gutzuheißen, und waren doch deutlich
als Nach-Symbolisten zu erkennen, eben weil sie, bewußt oder un¬
bewußt, die symbolistische Einstellung zur Syntax teilten.
* »... die orphische Deutung der Erde, die die einzige Aufgabe des
Dichters ist und das literarische Spiel par excellence.«
39
nicht mehr als einen Anfang gemacht in der Ausnutzung ihrer
potentiellen Nützlichkeit.« Die für unseren Gebrauch wich¬
tigen Worte sind hier »Erforschen« und »Entdecken«, denn
der entscheidende Unterschied zwischen einer diskursiv dar¬
legenden Syntax und der Syntax der nachsymbolistischen Ly¬
rik hat etwas zu tun mit der Neigung der nachsymbolistischen
Dichter, Wahrheiten eher zu erforschen als zu verkünden.
Elizabeth Sewell zeigt, daß es Präzedenzfälle für dieses er¬
forschende Vorgehen nicht nur in der Dichtung aller Epochen
gibt, sondern auch in der Philosophie und spekulativen Na¬
turwissenschaft. Dichtung, sagt sie, hat dasselbe Ziel wie Reli¬
gion, Mythos und Wissenschaft; und »dieses Ziel ist Wahr¬
heit, im einfachsten Alltagssinn des Wortes.« Diese Funktion
von Dichtung ist ein für allemal im Vorwort zu den Lyrical
Ballads zusammengefaßt worden: »Poesie ist der Atem und
feinere Geist allen Wissens; sie erfüllt die Gegenstände, selbst
die der Naturwissenschaft, mit Empfindung.«
40
ihr definierten Sinn7* - und symbolisch ist, daß »die Bezie¬
hung der Dichtung zur Tatsachenwelt dieselbe ist wie die Be¬
ziehung der Malerei zur Gegenstandswelt; reale Vorkomm¬
nisse — wenn sie überhaupt in ihren Gesichtskreis kommen —
sind Motive der Poesie genauso wie reale Objekte Motive der
Malerei sind. Dichtung, wie alle Kunst, ist abstrakt und be¬
deutungsgeladen«. Aber man kann doch gleichzeitig feststel¬
len, daß man ganz primitiv auf das »argumentative Inter¬
esse« einer Zeile wie Mallarmes
oder Yeats’
41
tion abgeschüttelt ist. Mit anderen Worten: die romantische
Konvention der Dichtung als Bekenntnis beherrscht noch
Mallarmes frühe Gedichte, ebenso wie sie Baudelaires Ge¬
dichte beherrschte, und zwar in einem Maß, das eher ein »ar¬
gumentatives Interesse« auslöst als ein künstlerisches. Die
Behauptung in Mallarmes Gedicht VAzur, daß »der Him¬
mel tot sei« (»Le ciel est mort«), wird fast zwangsläufig eine
Reaktion auslösen, die unserer Reaktion auf Nietzsches in
Prosa getane Feststellung, daß »Gott tot« sei, verwandt ist.
Mallarmes Behauptung füllt keine ganze Zeile; aber die
Apostrophierung der »Materie« in derselben Zeile — »Vers
toi, j’accours! donne, 6 matiere . . .« - bildet ein Bindeglied
von einer solchen Tragweite in der Geschichte sowohl des
Denkens als auch der Kunst, und auch von einer solchen
Wichtigkeit für das Verständnis von Mallarmes Entwicklung
als Künstler, daß es schwer ist, einer Interpretation zu wider¬
stehen, die den Kontext außer acht lassen würde. Gerade die
Erkenntnis, daß Dichter diese Art von Tatsachenevidenz
nicht nötig haben - in seinem Fall ist das eine Variante von
Nietzsches Entdeckung, daß der Tod Gottes die »Kunst zur
letzten metaphysischen Betätigung innerhalb des europäischen
Nihilismus« macht mit der Konsequenz, daß diese moderne
Kunst wahrscheinlich letzten Endes materialistisch wird sein
müssen, so vergeistigt und quasi-religiös die Impulse, die hin¬
ter ihr stehen, auch sein mögen -, gerade diese Erkenntnis der
Unabhängigkeit des Dichters von der Tatsachenevidenz hat
Mallarme und seine Nachfolger dazugebracht, eine Lyrik zu
entwickeln, die eine wörtliche Interpretation einzelner Zeilen
oder Teile von Zeilen außerhalb des Zusammenhangs nicht
mehr zuläßt.
Diese Einsicht bedeutet nicht notwendigerweise eine »Ein¬
buße an geistiger Kraft« seitens der modernen Dichter, wie
Donald Davie in Articulate Energy annahm, oder eine Ver¬
armung der Dichtung, wie Bonamy Dobree in The Broken
Cistern bedauernd feststellte. Die ontologischen oder psycho¬
logischen Wahrheiten, die in Aussagen wie »Man has created
death« und »Le ciel est mort« mitgeteilt werden, sind nicht
aus der Lyrik verschwunden, selbst wenn die Dichter soweit
gekommen sind, der Versuchung, sie direkt zu formulieren,
zu widerstehen. Dichter denken auch heute noch, ebenso wie
42
sie fühlen und ihre Einbildungskraft walten lassen; aber die¬
ses Denken, Fühlen und Einbilden wird von ihnen mehr und
mehr als der unteilbare Prozeß wiedergegeben, der es eigent¬
lich immer war. »Imagination«, sagte der französische Dich¬
ter Saint-Pol Roux 1923, »ist eine Ernte vor der Aussaat.
Verstand ist Imagination, die schal geworden ist.«8*
Was kaum zu bestreiten ist, ist die Tatsache, daß dem Ver¬
stehen von Gedichten als Gedichte nichts so sehr im Wege ge¬
standen hat wie die direkten Feststellungen und Behauptun¬
gen, die aus ihnen herausgelöst werden konnten - d. h. die
Passagen in ihnen, die am unmittelbarsten verständlich schei¬
nen. Manche Behauptungen dieser Art wie das folgende be¬
rühmte Beispiel, das von W. H. Auden glossiert worden ist,
schienen geradezu danach zu schreien, daß man sie heraus¬
löst, weil sie so eminent zitierbar sind:
Wenn man fragte, wer gesagt hat, daß Schönheit Wahrheit und
Wahrheit Schönheit ist, würden sehr viele Leser antworten:
»Keats«. Aber Keats hat nichts derartiges gesagt. Das Zitat ist das,
was, nach Keats’Worten, die griechische Urne gesagt hat; es ist seine
Beschreibung und Kritik einer bestimmten Art von Kunstwerk, der
Art nämlich, in der die Übel und Probleme dieses Lebens, das >heart
high sorrowful and cloyedA* bewußt ausgeschlossen werden. Die
Urne bildet z. B. neben anderen schönen Sehenswürdigkeiten die
Zitadelle einer auf Bergeshöh’ erbauten Stadt ab; sie bildet aber
nicht den Krieg ab, das Übel also, das die Zitadelle notwendig
macht.
Kunst entspringt unserer Sehnsucht sowohl nach Schönheit als auch
nach Wahrheit, sowie auch unserem Wissen darum, daß beides nicht
identisch ist.9
43
schrieben aus dem Wissen heraus, daß Schönheit und Wahr¬
heit nicht identisch sind, dann erzählt er uns etwas über Dich¬
ter wie Auden (und nicht notwendigerweise etwas über Dich¬
ter wie Keats, dessen Behauptungen und Thesen umstritten
und umschreibbar sind und bleiben, ein Turnierplatz für Kri¬
tiker- und Ästhetikermeinungen); und das ist, bestenfalls,
eine Nebenfunktion der Dichtung.
44
muß man dem der modernen Dichtung innewohnenden Di¬
lemma Rechnung tragen. Baudelaire war schließlich einer der
ersten Lyriker, die sich mit den Realitäten der modernen
Großstadt herumgeschlagen haben; und speziell die englisch¬
schreibenden Dichter von T. S. Eliot bis Auden, von William
Carlos Williams bis Philip Larkin und Charles Tomlinson
haben sich besonders hervorgetan mit solchen Arten von Ly¬
rik, die, viel getreuer als Baudelaires Dichtungen, auf spe¬
zifische Örtlichkeiten und Lebensweisen eingehen. Die Assi-
milierung von erlebten und beobachteten Realitäten durch
Dichtung, d. h. ihre Umsetzung in die Diktion, Bildlichkeit
und Rhythmusstruktur von Lyrik, ist ein Prozeß, der sich
allem Anschein nach mit dem Trend zur Abstraktion - so wie
Susanne Langer Abstraktion versteht - oder zur wesentlichen
Autonomie der Kunst schlecht verträgt. Und doch: wo immer
im vergangenen Jahrhundert oder in irgendeinem anderen
Jahrhundert große Poesie geschrieben worden ist, sind diese
beiden entgegengesetzten Impulse zusammengetroffen, ist
Imagination (oder »Innerlichkeit«) in irgendeiner neuen Art
mit äußerer Erfahrung eine Verbindung eingegangen.
Hugo Friedrich legt alles Schwergewicht auf das, was er
die »Zerstörung der Realität« in der modernen Lyrik nennt,
und fängt dabei an mit Baudelaire und seiner »Entpersön¬
lichung der Dichtung, zumindest insofern als das lyrische
Wort nicht mehr aus dem Einssein der Dichtung mit dem em¬
pirischen Ich hervorgeht«.11 Trotzdem gibt er zu, daß dieses
Einssein nur für die bekenntnishafte Dichtung der Romantik
charakteristisch war, so daß Baudelaires »Entpersönlichung«
als eine Rückkehr zu klassischen Prämissen angesehen werden
kann. (In ähnlicher Weise hat Eliots Eintreten für eine un¬
persönliche Literatur innere Verbindungen sowohl mit seinem
Modernismus als auch mit seiner Vorliebe für den Klassizis¬
mus.) Bei Rimbaud gewinnt der Vorstoß der Einbildungs¬
kraft eine Heftigkeit, die Friedrichs Vorstellung einer »Wirk¬
lichkeitszerstörung«, die sich bei gewissen modernen Dichtern
vollzieht, gerechfertigt erscheinen läßt. Friedrich hat auch
recht, wenn er auf den »leeren Transzendentalismus« vieler
moderner Lyrik hinweist und dabei Rimbauds Hinwendung
zu »Engeln ohne Gott und ohne Botschaft« heranzieht. (Eine
ganze Ahnentafel solcher Engel könnte man aufstellen, von
45
Rimbaud zu Stefan George, Rilke, Wallace Stevens und Ra¬
fael Alberti, und Friedrich macht auch auf die Verbindung
zwischen Albertis Engeln und denen von Rimbaud aufmerk¬
sam.) In Rimbaud findet Friedrich auch Anzeichen für einen
»Verlust des Menschlichen«, der für die Entwicklung der mo¬
dernen Dichtung charakteristisch ist - freilich, so muß man
wieder einwenden, charakteristisch nur für die Entwicklungs¬
linie, die zu verfolgen Friedrich für richtig hielt. Er zitiert
diese Zeilen aus Mallarmes Herodiade:
47
Vorgehen auf der Annahme einer magischen Korrespondenz
zwischen Innen- und Außenwelt, eine Annahme, die er bis
zu Novalis und anderen Theoretikern der deutschen Roman¬
tik zurückverfolgt. »Psychologisch gesprochen«, bemerkt er,
»ist Mallarmes Symbolverwendung, und das symbolistische
Verfahren ganz allgemein gesprochen, »eine säkularisierte
Mystik«; psychologisch gesprochen deshalb, weil die Symbo¬
listen unaufhörlich Analogien zum poetischen Schaffensvor¬
gang produzierten. Und doch sprach Mallarme, zumindest in
seinen jüngeren Jahren, noch vom »Verstehen« von Gedich¬
ten, indem er sagte, unser Vergnügen an einem Gedicht be¬
stehe in unserem graduellen Verstehen. Deshalb wird der Le¬
ser zur Teilnahme an einem Entdeckungsvorgang eingeladen.
Francis Ponges Hinweis auf die Alchemie läßt uns wieder auf
die merkwürdige Auswechselbarkeit von Subjekt und Objekt
in so vieler moderner Lyrik stoßen. Rilkes sogenannte »Ding-
Gedichte« in seinen Neuen Gedichten sind ein anderes auf¬
fälliges Beispiel. Man hat das gewöhnlich als den Versuch
eines höchst subjektiven Dichters angesehen, das Verfahren
des Malers und Bildhauers, ihre vorwiegende Beschäftigung
mit den sichtbaren und tastbaren Qualitäten der Welt nachzu¬
ahmen. Rilkes Der Panther, ein scheinbares Beispiel für den
Triumph der poetischen Objektivität in dem genannten Band,
ist ebenso sehr ein Gedicht über den dichterischen Schaffens¬
vorgang wie über einen Panther: der Blick des Tiers im Käfig,
der nur auf Bilder stößt, die zur wahren Natur des Panthers
keine Beziehung haben - Bilder , die in des Panthers Augen
»hineingehen«, aber »aufhören zu sein«, wenn sie sein Herz
erreicht haben, ebenso wie die Käfigstäbe der ersten Strophe
mit »keiner Welt« hinter ihnen - all das sind Analogien für
die entfremdete »Innerlichkeit« des Dichters. Aber auch das
ist »psychologisch gesprochen«, und wir sind nicht gezwungen,
unsere Befragung des Gedichts auf den psychologischen Me¬
chanismus, der dahinter steht, auszudehnen. Was das Gedicht
so erfolgreich macht, ist die Tatsache, daß der Dichter eine
Korrespondenz gefunden hat, die funktioniert - Eliots »ob-
jective correlative« - und daß er sich so wiedergegeben hat,
daß er uns nicht mit Anspielungen auf seinen inneren Zu¬
stand und seine Problematik ablenkt. Baudelaires Gedicht
VAlbatros ist, psychologisch gesprochen, ein ähnliches Ge-
48
dicht; aber Baudelaire fühlte sich noch verpflichtet zu erklä¬
ren und seine Analogie zwischen dem Tier und dem Dichter,
den »seine Riesenflügel am Gehen hindern«, für den Leser
aufzulösen (dieser durch seine Flügel am Gehen gehinderte
Dichter ist Rilkes Panther nahe verwandt, dessen »großer
Wille« gelähmt ist durch das Fehlen von etwas, woran er sich
betätigen könnte). Baudelaires Erklärung verwandelt seinen
Albatros in einen metaphorischen Vogel, der in sich selbst
weniger interessant ist als Rilkes Panther; und sie macht es
dem ablehnenden oder pedantischen Leser möglich einzuwen¬
den, daß Dichter, da sie weder Vögel noch Engel sind, keine
Flügel haben, geschweige denn Riesenflügel. Der Vergleich
tut beidem Abbruch, dem Vogel und dem Dichter, weil jeder
Vergleich, selbst der am strengsten logisch durchgehaltene,
immer durchblicken läßt, daß die beiden miteinander vergli¬
chenen Dinge in Wirklichkeit nicht gleich sind. Was immer
ihre psychologischen und philosophischen Voraussetzungen
waren: Mallarmes Verwendung von freischwebenden, un-
verankerten und unerklärten Bildern bereicherte die Möglich¬
keiten der Lyrik, und aus den Gründen, die der obige Ver¬
gleich deutlich machte; künstlerisch gesprochen - d. h. vom
Standpunkt der Wirkungen mehr als von dem der Ursachen
her gesehen - entband es spätere Dichter von dem abgedro¬
schenen Zwiespalt zwischen Geist und Dingwelt.
49
Objekt scheint sogar den neuesten Experimenten anzuhaften,
die in die Richtung einer Poesie gehen, welche gar nichts mehr
ausdrückt oder registriert, sondern Wörter und ihre gegen¬
seitige Beziehung zueinander zu ihrem einzigen Material
macht; bezeichnenderweise ist diese Art Poesie sowohl als
»abstrakte« wie auch als »konkrete« Lyrik bezeichnet wor¬
den.
Ein anderer Dichter, dessen Werk mit Menschen, Schau¬
plätzen und Dingen vollgepackt ist, ist William Carlos Wil¬
liams. Wie in Ponges Werk ist auch hier das Sich-Abgeben
mit diesen Objekten ein aktives Verhalten, das auf der Wech¬
selwirkung zwischen Imagination und äußerer Realität ba¬
siert. Es ist üblich, Williams mit dem Etikett »Gedanken sind
nur in Dingen« zu versehen; der Satz kommt in seinem Ge¬
dicht A Sort of Song (Eine Art Liedj15 vor:
50
Zunächst ist zu sagen, daß dies Gedicht ein dynamischer Vor¬
gang stufenweiser Entdeckung ist; und die Worte in der
Klammer sind keine Vorschrift, sondern ein Teil einer Erfah¬
rung - ein Teil der Erfahrung übrigens, der nicht durch die
zwei »Bilder« oder Dinge ausgedrückt werden kann, die das
Gedicht beherrschen: die Schlange und das Steinbrechge¬
wächs. In späteren Gedichten entwickelte Williams einen me¬
ditativen Stil, der das direkte Ansprechen von Ideen ebenso¬
wenig ausschließt, wie das der Stil in Eliots Four Quartets
tut; und auch hier schon muß er auf die Sprache der Ideen
zurückgreifen, um sein Anliegen klar zu machen, das Ponges
Widerstand gegen die anthropozentrische Ausbeutung des
Universums verwandte Anliegen nämlich, »Menschen und
Steine versöhnt allein die Metapher«. Ein späteres Gedicht,
Tke Desert Music (Die Musik der Wüste), gibt uns einen wei¬
teren Hinweis auf die Art von Williams’ Verhältnis zu der
äußeren Welt an die Hand:
Die folgende Zeile führt uns sofort wieder zurück in die Welt
physischer Realitäten, so daß auch hier wieder die zitierten
Zeilen den Charakter einer Vorschrift verlieren und Teil einer
Erfahrung werden, die ebenso auch eine Entdeckung ist. In
beiden Fällen ist es unmöglich und auch völlig belanglos zu
entscheiden, ob Williams ein Gedicht über den dichterischen
Schaffensvorgang geschrieben hat oder eines über Menschen
und Gegenstände.
Ebensowenig besteht ein wirklicher Widerspruch zwischen
dem Vorgehen in dem früheren Gedicht A Sort of Song und
Ji
Williams’ Worten in einem anderen späteren Gedicht, The
Host (Der Wirt) - Worten, die auch aus ihrem Kontext her¬
ausgerissen und als eine Art Manifest behandelt worden sind:
it is all
according to the imagination!
Only the imagination
is real! They have imagined it
Therefore it is so!
alles hängt
von der Imagination ab!
Nur die Einbildung
ist real! Sie haben es sich eingebildet
also ist es so!17
*2
nen Lyrik die Extreme eine Neigung haben, sich zu berühren,
da die Möglichkeiten des poetischen Ausdrucks immer bis zu
ihren Grenzen getrieben werden. Wenn eine solche Grenze er¬
reicht ist, kann es sein, daß ein Dichter nach der anderen
Seite zurückschwingt. Aber das Prinzip der Imagination war
in den Worten vor und hinter der Klammer in A Sort of
Song, in den Begriffen »zusammenstellen« und »erfinden«
nicht weniger vertreten. Wenn es scheint, als ob »Gedanken
sind nur in Dingen« und »Nur Einbildung ist real« einander
widersprächen, so ist das auf die Sprache selbst zurückzuführen.
Ein Zug, den Williams mit Wallace Stevens ebenso wie mit
Ezra Pound und T. S. Eliot und fast allen wesentlichen Dich¬
tern seiner Zeit gemein hatte, war das ständige Beschäftigt¬
sein mit den Möglichkeiten und Grenzen der Sprache ein¬
schließlich des Widerspruchs, der ihr als dem Material der
Dichtung innewohnt. In seinem tiefschürfenden und scharf¬
sinnigen Essay The Poet as Tool and Priest18 (Der Dichter
als Narr und Priester) zeigte der vor kurzem verstorbene Si¬
gurd Burckhardt, warum die Sprache selbst die völlige Ab¬
straktion in der Lyrik oder in der Prosa verbietet:
53
sichtigung aller Künste basieren. Burckhardt erklärt dann,
warum Dichter — und nicht nur moderne Dichter — oft so
große Anstrengungen unternommen haben, um ihre Sprache
»schwierig« zu machen (genauso wie andere Dichter oder die
gleichen Dichter zu anderer Zeit oder bei anderer Gelegenheit
eine Einfachheit der Diktion gepflegt haben, die dann ganz
genau so weit von dem Stil der literarischen oder nichtlite¬
rarischen Umgangsprosa entfernt war, wie sie zu ihrer Zeit
im Schwange war):
Im Idealfall sollte die Sprache des gesellschaftlichen Umgangs wie
Fensterglas sein; wir sollten gar nicht merken, daß sie zwischen
uns und der Bedeutung steht, die »hinter der Sprache« liegt. Aber
als Chemiker vor kurzem einen Plastikbelag entwickelten, der das
Glas, auf das man ihn auftrug, gänzlich unsichtbar machte, war das
Resultat weit davon entfernt, befriedigend zu sein: die Leute stie¬
ßen fortgesetzt gegen das unsichtbare Glas. Wenn es eine Sprache
gäbe, die so rein wäre, daß sie alle menschlichen Erfahrungen ohne
jede Verzerrung wiedergäbe, dann bestünde kein Bedürfnis nach
Dichtung. Aber eine solche Sprache gibt es nicht nur nicht, sondern
es kann sie gar mcht geben. Sprache kann genauso wenig aller
menschlichen Wahrheit gerecht werden, wie Gesetze allen mensch¬
lichen Wünschen gerecht werden können. Es liegt in ihrem Wesen als
einem gesellschaftlichen Instrument, daß sie eine Konvention sein
muß, daß sie das Chaos der Erfahrungen arbiträr ordnen muß und
dabei zwangsläufig manche Erfahrungen zum Ausdruck kommen
läßt, manche nicht. Sie muß gemeinsame Nenner erstellen, und so
muß sie zwangsläufig verfälschen, ebenso wie das Gesetz zwangs¬
läufig auch Ungerechtigkeit mit sich bringt. Und diese Verfälschun¬
gen werden um so gefährlicher sein, je »durchsichtiger« die Sprache
zu werden scheint, je fragloser sie als ein nicht-verzerrendes Me¬
dium akzeptiert wird. Sie ist kein Fensterglas, sondern vielmehr ein
System von Linsen, die die Strahlen einer hypothetisch unvermit¬
telten Sicht in Brennpunkte sammeln und brechen. Der wichtigste
Zweck einer poetischen Sprache und besonders von Metaphern ist
das gerade Gegenteil des Durchsichtigmachens der Sprache. Meta¬
phern erhöhen das Bewußtsein, daß die Sprache verzerrt, indem sie
die Dicke und Krümmung der Linsen vergrößern und so die Bre¬
chungswinkel übertreiben. Sie rütteln uns auf aus der bequemen
Überzeugung, ein Grab sei ein Grab sei ein Grab. Sie sind seman¬
tische Wortspiele (puns), ebenso wie puns phonetische Metaphern
sind; wenn sie auch die Wörter als Klangbilder unversehrt lassen,
so brechen sie doch deren semantische Identität.
54
Der poetische Sprachgebrauch nimmt also Zuflucht zu dem,
was Brecht, in einem ganz anderen Zusammenhang, »Ver¬
fremdungseffekte« nannte. Metrum und Reim sind, wie
Burckhardt zeigt, derartige Effekte solange, bis sie »eine ver¬
pflichtende Konvention der Dichtung« werden und ihre »dis¬
soziative Kraft« verlieren. Anhand eines Kommentars zu
dem Lied »Fünf Faden tief« (»Full fathom five . . .«) aus Sha¬
kespeares Sturm zeigt Burckhardt, daß das Wort in der Ly¬
rik, um reich zu sein, »zuerst zu etwas Seltsamem werden«
muß. Verrenkungen der normalen Syntax, wie bei Mallarme,
sind ein anderes Mittel dieser Art. »Ein Wort, das zugleich als
zwei oder mehr verschiedene Wortarten oder Satzglieder fun¬
gieren kann, ein Satz, der in zwei oder mehr Weisen gram¬
matisch zerlegt werden kann - dehnt einfach - zur Verzweif¬
lung aller Grammatiklehrer - die durchgehende Unbestimm¬
barkeit der Lyrik von den Worten auf ihre Verbindungen in
grammatischen Aussagen aus.«
Aber sobald solche Dinge wie Reim, Metrum und Inversion
Konventionen der Poesie geworden sind, müssen die Dichter
unter Umständen den ganzen Prozeß umkehren, um die
notwendige Verfremdung hervorzubringen. Ja, sie können
sogar unter Umständen versuchen, auf jede Art von metapho¬
rischer Sprache zu verzichten, da ja die nicht-poetische Ge¬
brauchssprache ohnehin schon voller Metaphern ist. Wenn
die poetischen oder allgemeinsprachlichen Konventionen sich
auf einen starken Formalismus und eine größere Kompli¬
ziertheit zubewegen, werden sie die Möglichkeiten der ein¬
fachen Umgangssprache erproben, wie das Blake und Words-
worth im achtzehnten Jahrhundert oder Williams in unserem
getan haben.
In diesem Zusammenhang greift Burckhardt William Emp-
sons Analyse der Mehrdeutigkeit (ambiguity) auf und ver¬
schiebt, wie er sagt, »den Akzent ein wenig« - eine sehr be¬
scheidene Untertreibung seines eigenen Verdienstes:
55
deutungen primär, und die Wörter nur die Zeichen dafür sind, dann
sind mehrdeutige Wörter falsch; jede Bedeutung sollte ihr Wort ha¬
ben, so wie jeder Laut seinen Buchstaben haben sollte. Aber wenn
das Entgegengesetzte wahr ist und die Worte primär sind - d. h.
wenn die Worte die stofflichen Wesenheiten sind, die der Dichter
benötigt - dann ist Mehrdeutigkeit etwas ganz anderes: sie ist die
Brechung einer ursprünglichen Einheit durch die analytischen Be¬
griffsauseinandersetzungen der Prosa.
56
tet das Wort und löst es in seine Bestandteile auf - mark und
bark -, aber schmilzt es zugleich in eine neue und nunmehr sakra¬
mentale Einheit zusammen.
57
unumwunden gesagt hat, Dichtung und Philosophie seien
eins. Weder die Wissenschaftslehre der Naturwissenschaften
(philosophy of the Sciences) noch die Wissenschaftslehre der
Mathematik stehen im Gegensatz zur Dichtung.«21
Mallarme, Valery, Stevens und Jorge Guillen sind einige
der Dichter, die versucht haben, vom rein poetischen Stand¬
punkt aus zu denken, ganz so wie ein Mathematiker rein
mathematisch denkt - d. h. ohne direkten Bezug auf Anlie¬
gen und Interessen, die sie vielleicht bei all ihrem anderen
Tun hatten. Mallarme schuf, wie er 1867 schrieb, sein Werk
»nur, indem er eliminierte.«- Dieses Eliminieren, das auch im
Werk späterer Dichter vor sich geht, ist sicherlich sowohl mit
den Abstraktionen der Mathematik wie auch mit dem Zug zu
abstrakten Formen in der Malerei seit den Nachimpressioni¬
sten verwandt; aber da Wörter Bedeutungen haben, die un¬
abhängig sind von den speziellen Funktionen, welche die
Dichtung ihnen zuweist, sollte man solche Analogien nie all¬
zu wörtlich nehmen. Selbst Stevens verband ein gewisses Maß
von Wort-Clownerie mit seiner philosophischen Ernsthaftig¬
keit, die in genau dem Sinne priesterlich war, den Sigurd
Burckhardt definiert hat. Stevens begann mit dem Glauben
an die »Eyrik um der Lyrik willen«: »Worauf ich bei all dem
aus bin, das ist die Poesie, und ich glaube nicht, daß ich je et¬
was mit irgendeinem anderen Ziel geschrieben habe als mit
dem einen: Poesie zu schreiben.«22 Erst als er diesen Glauben
sich selbst und anderen zu erklären versuchte, kam er dazu,
ihn zu Interessenbereichen in Beziehung zu setzen, die durch¬
aus nicht nur ästhetisch waren.
Das, was die Theorien und beiläufigen Bemerkungen der
Dichter verwirrender, obskurer und oft widerspruchsvoller
macht als ihre poetische Praxis, ist das der Sprache selbst inne¬
wohnende Paradoxon. Pierre Reverdy z. B. schrieb 1948, daß
»der Dichter überhaupt kein Thema« habe. ». . . Sein Werk
ist etwas wert, gerade weil es keine Begründung für seine Zu-
sammenhanglosigkeit und für seine Art, mit unvereinbaren
Dingen Verbindungen einzugehen, zu geben hat.« In einer
Rundfunkdiskussion mit Francis Ponge und Jean Cocteau
sagte derselbe Dichter: »Form ist nur der sichtbare Teil von
Inhalt - die Haut.« Die beiden Behauptungen scheinen einan¬
der zu widersprechen, aber beide sind sinnvoll, wenn man sie
58
auf Reverdys Lyrik anwendet oder auf die Lyrik vieler sei¬
ner Zeitgenossen. Im ersten Fall dachte Reverdy an ein
Thema, das man in Prosa paraphrasieren, übersetzen oder
von seinem Medium in das der logischen Rede überführen
kann. Im zweiten Fall dachte er nicht an diese Art von
Thema, sondern an das spezifisch poetische Denken und Füh¬
len und Imaginieren, das tatsächlich die Form eines Gedichtes
bestimmt, vor allem dort, wo diese Form »organisch« oder
»frei« ist. Beide Thesen sagen daher etwas über die untrenn¬
bare Verbindung von Form und Inhalt in der Lyrik aus, und
beide implizieren einen Unterschied zwischen Inhalt und
Thema.
Echte Meinungsverschiedenheiten zwischen Dichtern ergeben
sich bei der Frage nach dem Wert, den jeder von ihnen den
politisch-gesellschaftlichen Funktionen und Konsequenzen der
Dichtung beimißt - Funktionen und Konsequenzen, die bei
weitem nicht alle durch Mallarmes Ausspruch beseitigt sind,
daß »Gedichte nicht aus Ideen, sondern aus Worten gemacht
werden«, oder durch MacLeishs »ein Gedicht soll nicht be¬
deuten, sondern sein«. Das sind auf jeden Fall Halbwahrhei-
ten, wie Burckhardt dargelegt hat; denn Wörter können nie¬
mals gänzlich von der Verbindung mit Ideen und Bedeutun¬
gen abgeschnitten werden. Und man muß auch kein Marxist
sein, um einzusehen, daß alle Dichtung politische, soziale und
moralische Implikationen hat, gleichgültig ob die dahinter¬
stehende Absicht didaktisch und »aktivistisch« ist oder nicht.
Im Gegensatz zu dem, was Hugo Friedrich behauptet hat,
könnte man manches für die spezifische Humanität vieler
moderner Lyrik sagen, - für ihr Besorgtsein um die Mensch¬
heit als ganze, das um so intensiver ist, als es »depersonali-
siert« ist, in einer Weise, die man in vieler romantischer Dich¬
tung nicht findet-weil sich nämlich diebekenntnisfreudigeren
unter den Romantikern hauptsächlich und zuerst für ihre
eigene Individualität interessieren und für die Dinge, in
denen sie sich von anderen Leuten unterschieden.
Ganz unabhängig von moralischen oder politischen Engage¬
ments als solchen - und ich werde darüber noch zu sprechen
haben, ebenso wie über das Fortleben romantisch-symbolisti¬
scher Haltungen bei Dichtern, die sonst modern sind- hat die
bloße Ausübung des Dichtens als einer Kunst, deren Medium
59
die Sprache ist, gesellschaftliche Implikationen, die in unse¬
rem Jahrhundert besonders hervorgehoben worden sind, so
zum Beispiel von dem österreichischen Kritiker und Aphori¬
stiker Karl Kraus, dessen ganzes umfangreiches Schrifttum
über Gesellschaft und Literatur auf der Analyse der vielen
Gebrauchsarten und Mißbräuche der Sprache basiert. Wenn
Dichter Schreibende sind, deren Sprachgebrauch zwangsläufig
kritisch ist - denn was immer sonst ein Gedicht sein mag, es
kann kein gutes Gedicht sein, wenn nicht jedes Wort darin ab¬
gewogen worden ist -, dann haben sie eine unausweichliche
Funktion, eine Aufgabe, die sogar von einem Autor unterstri¬
chen wurde, der sich so sehr mit der Gesellschaft, in der er
lebte und mit ihren Wertmaßstäben herumschlug, wie Ezra
Pound: »Flat die Literatur eine Funktion im Staat, in der
Anhäufung von Menschen, in der Republik . . .? Ja, sie hat
. . . Und diese Funktion hat zu tun mit der Klarheit und
Kraft von >jedem beliebigen und jedwedem< Gedanken und
jeder Meinung . . . Wenn diese ihre Leistung verdirbt und faul
wird - damit meine ich nicht den Fall, in dem die Dichter
unziemliche Gedanken zum Ausdruck bringen - aber wenn
das Medium, das Essentielle an ihrer Arbeit, die Anwendung
des Wortes auf die Sache faul wird, d. h. schwammig und
ungenau oder übertrieben oder aufgeblasen, dann geht die
ganze Maschinerie des gesellschaftlichen und individuellen
Denkens und der sozialen und individuellen Ordnung in die
Binsen.«23
Das war auch die Ansicht von Karl Kraus, der weit davon
entfernt war, Ezra Pounds damalige politische Enthusiasmen
zu teilen. Diese politischen Enthusiasmen haben sehr viel mit
dem Maß zu tun, in dem Pound in der romantisch-symbolisti¬
schen Ästhetik verwurzelt blieb; aber so begrenzt auch seine
Sicht der gesellschaftlichen Realitäten sein mag, Pound war
leidenschaftlich an diesen Realitäten interessiert - mit einer
Inständigkeit, die man z. B. bei Mallarme vergeblich suchen
wird: »In dem Maß, in dem das Werk des Dichters exakt ist
- d. h. daß es getreulich dem menschlichen Bewußtsein und
der menschlichen Natur entspricht, sowie auch, daß es den
Wünschen und Sehnsüchten des Menschen eine exakte Formu¬
lierung gibt -, in demselben Maße ist es dauerhaft und nütz¬
lich; ich möchte sagen, es bewahrt die Präzision und Klarheit
60
des Denkens nicht nur zum Nutzen einiger weniger Dilettan¬
ten und >Literaturliebhaber<, sondern es erhält auch das ge¬
sunde Denken außerhalb der literarischen Zirkel und im
nichtliterarischen Dasein in gutem Zustand, und zwar im in¬
dividuellen und im gemeinschaftlichen Leben ganz allge¬
mein.«24 Und in Pounds in derselben Schrift gegebener Defi¬
nition dessen, was große Literatur ist - er definiert sie als
»einfache Sprache, die bis zum höchstmöglichen Grad mit Be¬
deutung beladen ist« -, gibt es keinerlei Verwirrung in der
Frage der Ideen und Worte, des Bedeutens und des Seins von
Dichtung.
»Das menschliche Bewußtsein« und »die menschliche Natur« -
schon diese zwei Begriffe deuten an, warum Dichtung niemals
den Menschen wird ausschließen können - jedenfalls solange
nicht, als sie von Menschen geschrieben wird und nicht von
Maschinen (und selbst Maschinen sind von Menschen entwor¬
fen und hergestellt). Was die Dichtung ausschließen kann -
vor allem dort, wo Wörter aufs Geratewohl zusammenge¬
stellt werden, wo sie in ihre Bestandteile zerspaltet werden
oder wo man sie visuelle oder akustisdie Muster auf der
Druckseite bilden läßt - ist die Individualität. Aber dort, wo
diese Art von Vorgehen überhaupt sinnvoll ist, sagt sie etwas
über Sprache aus, und die Sprache bringt uns wieder zurück
zum »menschlichen Bewußtsein« und zur »menschlichen Na¬
tur«.
Octavio Paz hat erklärt, warum »Lyrik eine Speise ist, die die
Bourgeoisie - als Klasse - nicht hat verdauen können«.25 Die
Lyrik, so sagt er, hat auf verschiedenen Wegen versucht, »die
Distanz zwischen dem Wort und der Sache« abzubauen, und
diese Distanz rührt von der Selbstbewußtheit der Gebildeten
her und von ihrer Naturferne. »Das Wort ist nicht mit der
Realität identisch, die es benennt, weil sich zwischen die Men¬
schen und die Dinge - und, in einer tieferen Schicht, zwischen
die Menschen und ihr wahres Sein-das Bewußtsein des Selbst
einschiebt.« Die moderne Lyrik bewegt sich nach Paz zwi¬
schen zwei Polen, die er den magischen und den revolutionä¬
ren Pol nennt. Der magische Pol besteht in einer Sehnsucht
danach, zur Natur zurückzukehren, indem man das Selbst-Be¬
wußtsein, das uns von ihr trennt, zur Auflösung bringt; darin
»sich auf ewig in einer animalischen Unschuld zu verlieren
oder sich von der Geschichtlichkeit zu befreien«. Das revolu¬
tionäre Streben andererseits fordert eine »Eroberung der hi¬
storischen Welt und der Natur«. Beides sind Versuche, die¬
selbe Kluft zu überbrücken und das »entfremdete Bewußt¬
sein« mit der Außenwelt zu versöhnen.
Aber beide Tendenzen können in ein und demselben Dichter
wirksam sein, ja sogar in ein und demselben Gedicht, genauso
wie ein und derselbe Dichter die Funktionen des Priesters und
Narren, des Hassers und Liebhabers von Worten in sich ver¬
einigen kann. Octavio Paz hat auch geschrieben: »Was ein
Gedicht charakterisiert, ist seine zwangsläufige Abhängigkeit
von Worten ebenso sehr wie sein Ringen darum, sie zu tran¬
szendieren.«26 Die Abhängigkeit hängt mit der Zugehörig¬
keit des Dichters zu Geschichte und Gesellschaft zusammen,
das Transzendieren mit dem magischen short cut zurück zur
Natur und zu der primitiven Ungeschiedenheit von Wort
und Ding. Beides entspricht allgemein-menschlichem Anlie¬
gen, wenn auch wahrscheinlich vielen Leuten die Spannungen
und Komplexitäten, die in ihrer Beziehung zu Wörtern oder
zu Dingen enthalten sind, in keiner Weise bewußt werden.
Ein außerordentlicher Grad von Entfremdung gegenüber der
Sprache, selbst als Medium der einfachsten Kommunikation,
hat sich mehr und mehr in »hochentwickelten« Gesellschafts¬
systemen bemerkbar gemacht, wie man in Fernsehinterviews
junger Leute sehen kann, die nicht fähig sind, einen einfachen
kurzen Satz zu äußern, ohne dabei die Hilfe eines »irgend¬
wie« oder »wissen Sie« in Anspruch zu nehmen. Die Gründe
für diese Ausdrucksschwäche mögen durchaus eng mit der
»Wort-Skepsis« Zusammenhängen, die vielen Praktiken der
modernen Lyriker zugrundeliegt (und die Hofmannsthal auf
eine grundsätzliche Kluft zwischen den Konventionen der
Sprache und der Realität der Einzeldinge zurückführte).27
Die Wahrheit der Dichtung, und besonders der modernen
Lyrik, findet man nicht nur in ihren direkten Aussagen, son¬
dern auch in ihren spezifischen Schwierigkeiten, ihren Kurz¬
schlüssen, ihrem Verschweigen, ihren Hiatus und Fusionen.
62
3 Identitätsverlust
63
Nur in seinen frühen, mehr argumentierenden als visionären
Gedichten empfand Rimbaud es noch als eine Notwendigkeit
zu verneinen. So etwa in Ce quon dit au poete a propos de
fleurs:
oder:
La pas d’ esperance,
Nul orietur.3
65
was seine Beschreibung Cytheres, der Insel der Aphrodite, ist.
Corbiere gelang es, genau wie Baudelaire, nie ganz, sein »em¬
pirisches Ich« völlig aufzulösen. Er blieb ein Bekenntnisdich¬
ter, wenn auch ein antiromantischer, und zwar ein ausge¬
sprochen konsequenter Bekenntnisdichter. Der größte Teil
seines Werkes ist eine Selbstentblößung von egozentrischen,
romantischen Attitüden; und das Negieren ist eine der Spiel¬
arten ihrer durchgehenden Ironie.
»Je rime, donc je vis«, schrieb Tristan Corbiere in Le Poete
contumace; aber diese existentielle Bejahung der Kunst um
ihrer selbst willen - wenn nicht des Lebens um der Kunst
willen - muß man in ihrem Kontext lesen, im Zusammen¬
hang der halb lyrischen, halb dramatischen Darstellung einer
Dichterexistenz, so wie er sie erlebt und so wie andere sie se¬
hen, eingefügt in ihren sozialen Hintergrund. Hier wie auch
anderswo erzeugt Corbieres Ironie ein vervielfachtes Selbst¬
porträt, das, je nach dem gewählten Blickwinkel, Karikatu¬
ren oder eine Leere vorstellt:
(Ja ja, ich bin’s - bin da - doch wie eine ausradierte Stelle)
(Vor allem in dem, wovor mich ekelt, bin ich von geschmäcklerischer
[Eleganz:
Du weißt: ich hatte das Leben mit Glacehandschuhen losgelassen ...)
66
spektiven ist die der armen bretonischen Gemeinde, zu der er
gehörte und dodi zugleich nicht gehörte. Corbieres Hand¬
schuhe dienen nicht dazu, seine poetische Integrität und seine
Überlegenheit als Dichter zu bewahren, sondern dazu, auf
eine stilistisch einwandfreie Weise »das Leben loszulassen«
und dichterisch aus dieser Selbst-Zerstörung das meiste zu
machen.
Corbiere war besessen von Verneinungen und Zweifeln in
bezug auf seine eigene Realität. In einem anderen Geiste
als Rimbaud - ohne Rimbauds Kopfsprung in eine wild¬
wütende Phantasietätigkeit - spielte er mit den disiecta
membra des »empirischen Selbst« in Bonsoir:
(Seine Lieder? . . . Die waren von jemand anders. Er hat sie nicht
[gelesen.)
67
poetische Maske auszuweichen. Corbi^res Selbstbildnisse sind
die wahrheitsgetreuesten lyrischen Wiedergaben dessen, was
Keats in Prosa über die »chamäleonartige« Natur des Dichters
gesagt hatte - des Dichters, der »das unpoetischste aller We¬
sen ist, weil er keine Identität hat - er ist ständig stellver¬
tretend für jemand anders da und füllt ständig einen anderen
Leib aus«.6 Corbieres Begrenztheit besteht darin, daß er stän¬
dig darauf aus war, diesen Identitätsmangel herauszustellen -
zu wahrheitsgetreu vielleicht, oder zu pedantisch oder zu sehr
mit seinem eigenen Unglücklichsein beschäftigt, als daß er sich
zum Zwecke des Selbstschutzes in Personen oder Dinge ge¬
flüchtet hätte und »einen anderen Leib ausgefüllt« hätte. Cor-
biere verwirklichte eine Hälfte von Keats’ Rezept, »wie man
seinen Intellekt stärkt« - »man muß sich über nichts klar wer¬
den«; aber er verfehlte die andere Hälfte - »man muß den
Geist zu einer Durchgangsstraße für alle Gedanken werden
lassen, aber nicht zu einer entschiedenen Partei«.7 Seine Lyrik
kehrt immer wieder zurück zu dem Ich, das kein Selbst war,
sondern ein »melange adultere de tout«.
In dem gleichen Gedicht Epitaphe schrieb er über seine Posen,
die keine Posen waren, eben weil er sich der Tatsache, daß
er posierte, zu bewußt war:
68
einem Vergleich, der für den tatsächlichen Hund zwar vor¬
teilhaft ausfällt - der Hund ist, im Gegensatz zu seinem
Herrn, reinrassig und ein Engländer -, allen Belangen des Ge¬
dichtes mit Ausnahme der autobiographischen aber zum
Nachteil gereicht.
Dennoch war Corbiere ein echter Moderner, nicht nur wegen
des Dilemmas, das sein ewiges Thema darstellte, sondern auch
im Ton und in der Diktion seiner Lyrik. Sein Kolloquialismus
z. B. war ein wirklicher Bruch mit Dichtungskonventionen,
in denen Baudelaire noch ganz verwurzelt war; und die Mög¬
lichkeiten, die in seiner kolloquialen Sprachbehandlung steck¬
ten, sollten außerhalb Frankreichs dankbar aufgegriffen wer¬
den, wenn sich auch spätere französische Dichter im allge¬
meinen eher nach dem Vorbild von Rimbauds »Wortalche¬
mie« und von Mallarmes hermetischem Symbolismus aus¬
richteten. Ein wenig von dem Corbiereschen Ton mit seinen
Understatements, seinem Mangel an Selbstvertrauen und sei¬
ner Selbstironie mischte sich mit den Laforgueschen Tönen
in T. S. Eliots frühen Gedichten, und Ezra Pound bestätigte
eine ähnliche Beeinflussung seiner Lyrik durch Corbieres
»eigensinnige« Zeilen, wobei er ihn als »den vielleicht schärf¬
sten und beißendsten Dichter seit Villon« und »sehr stark auf
Villons Linie liegend« bezeichnete.8 Die Härte und Rauheit,
die Pound an Corbiere bewunderte, ist in der Hauptsache
eine Eigenschaft seiner Diktion. Obwohl Eliot stärker unter
dem Einfluß Laforgues stand, kam er solchen Zeilen wie den
folgenden aus Corbieres Rapsodie du sourd im Ton näher
als Pound:
(Du sprichst zu mir kein Wort: ich antworte dir keins ...
Und nichts kann so das Gold unsres Gesprächs entweihn)
69
beklagt, daß er kein Selbst hat; auf die Selbstbekenntnisse
eines Liebenden, dem die Geliebte fehlt:
Auf diese Zeilen folgt dann ein Zitat aus Pascal, der sich ja
lange vor den Existentialisten dem Nichts gegenübergestellt
sah und erkannte, daß wir uns wirklich durch einen Akt der
Willensentscheidung zu dem machen, was wir sind. Rein tech¬
nisch gesehen geht Corbieres Lyrik selten über diese Kon¬
frontation hinaus; aber seine Sprache und sein Ton sind be¬
reits jenes rhetorischen und bombastisch-schwülstigen Dekors
entkleidet, der nicht nur eine Sache der literarischen Konven¬
tion ist, sondern ebenso mit den Glaubensüberzeugungen, den
Haltungen und Meinungen zu tun hat, die hinter den Kon¬
ventionen stehen - den Glaubensüberzeugungen, Haltungen
und Meinungen, die die menschliche Identität als etwas an-
sehen, das gegeben ist und nicht gemacht wird. Deshalb, weil
70
Baudelaire nicht, so wie Corbiere das tat, auf ein gewisses tra¬
ditionelles Vokabular verzichtete, hat sein Werk alle Arten
von theologischen Interpretationen hervorgerufen, die wahr¬
scheinlich zum großen Teil unzutreffend sind. Auch in dieser
Hinsicht war also Corbiere - der 1875 gestorben ist, nur acht
Jahre später als Baudelaire - ein beachtlicher Neuerer.
Seine Verwendung der umgangssprachlichen und direkten
Aussageform plaziert ihn in eine andere Entwicklungslinie
als die des Symbolismus, aber es muß hier wieder betont wer¬
den, daß man Modernität nicht nur in solchen Dichtern su¬
chen sollte, deren Streben sich auf die Autonomie des poeti¬
schen Bildes und auf eine Diktion richtete, die sich so weit
wie möglich vom Alltagssprachgebrauch entfernen sollte.
Pound und Eliot waren nicht die einzigen, die Corbieres neue
Errungenschaften aufgriffen. Deutsche Übersetzungen10 er¬
schienen genau in dem Zeitpunkt, in dem die modernistische
Bewegung des 20. Jahrhunderts in Gang kam, und zumindest
zwei von den frühen deutschen expressionistischen Dichtern,
Hoddis und Lichtenstein, kombinierten Corbieres Ironie mit
einer grotesken oder bewußt trivialen Bildersprache, die der
seinen gar nicht unähnlich war. Abgesehen von verwandten
Tendenzen in einem Teil von Verlaines und in der Gesamt¬
heit von Laforgues Werk - beide fast gleichaltrig mit Cor¬
biere - ist die französische Moderne auch sonst nicht aus¬
schließlich hermetisch gewesen. Apollinaire, Blaise Cendrars,
Max Jacob, Paul Eluard und Pierre Reverdy sind einige aus
der Zahl derjenigen französischen Dichter des 20. Jahrhun¬
derts, die die Alltagssprache nicht ablehnten und die den nai¬
ven Ton für subtile Wirkungen dienlich fanden. Corbieres
eigene Entwicklung ging auf Subtilität und Zartheit der
Nuancen hin: auf Les Amours )aunes sollte Mirlitons folgen,
und die wenigen kurzen Stücke daraus, die er noch vor seinem
Tod vollenden konnte, haben eine Leichtigkeit und Locker¬
heit der Machart, eine Zartheit und Verspieltheit, die viel
mehr an Ronsard gemahnt als an Villon. Hier werden die
für Corbiere typischen Ironien als selbstverständlich voraus¬
gesetzt, und der Dichter hat sich losgemacht von dem Zwang,
seine eigene Identität durch Negationen und Paradoxa zu de¬
finieren, wie er das in knapper Form in dem kürzeren der
beiden mit Epitaphe überschriebenen Gedichte tat. Dieses
71
posthume Gedicht ist wie eine Schlußbilanz von Corbieres
»negative capability« (»Fähigkeit zur Ungewißheit«) in
Form eines lakonischen Inventars:
73
er mit einer Freude an der Sprachspielerei, wie z. B. in der
Widmung seiner nächsten Gedichtfolge an Paul Bourget mit
ihrem Wortspiel mit »pour cent« (Prozent) und »pur sang«
(reines Blut):
En deuil d’un Moi-le-Magnifique
Lanjant de front les cent pur-sangs
De ses vingt ans tout hennissants . . .u
Von dieser Zeit an bis zu seinem Tod fünf Jahre später (er
starb 1887) gaben solche formale Experimente Laforgues
Werk eine zunehmende Differenziertheit, vor allem in der
Behandlung des Rhythmus und des enjambements, die hier
dazu beitragen, einer Tendenz des französischen Verses zum
Sentenziösen und Aphoristischen entgegenzuwirken. Das
Vorbild Corbieres klingt nicht nur in Laforgues Gebrauch
solcher Wörter wie chic* an, das eines der Lieblingswörter
Corbieres war, sondern zeigt sich auch in einer Versessenheit
auf Verneinungen und Identitätsleugnungen:
74
gue das Mischwort »[la celeste] Eternullite«, eine Trouvaille,
die ebenso typisch für seine sprachliche Virtuosität ist wie für
seine Gabe, den endemischen Nihilismus amüsant zu machen
- in Gedichten, die passenderweise als »Klagen« bezeichnet
sind. Laforgues Melancholie war ebenso echt wie die Corbie-
res; und ebenso wie Corbiere und Rimbaud erfuhr er seine
Selbstentfremdung, die uns die ironische Bezugnahme auf
»Moi-le-Magnifique« leichter verstehen läßt. Dieser »Ich-
der-Großartige« ist das »egotistical sublime« (die »selbstisch¬
erhabene Art« [Häusermann], dieKeats an Wordsworth fest¬
stellte)"' der romantischen Dichtung, wie sie am großartigsten
und hochtrabendsten in Victor Hugo zu finden ist - in Hugo,
der Corbiere überlebte und noch immer lauthals lebendig
war, als Laforgue, ebenso wie Verlaine, beschloß, »der Rhe¬
torik den Hals umzudrehen«."'"' Das geschah 1882. In einem
in diesem Jahr geschriebenen Brief schrieb Laforgue über sei¬
nen ersten Gedichtband: »Er ekelt mich an: damals wollte ich
eloquent sein, und das geht mir heute auf die Nerven. Dem
rhetorischen Glanz zu frönen ist etwas, das mir jetzt denkbar
geschmacklos und einfältig vorkommt.«12 Als er zwei Jahre
später in einem Brief an seine Schwester auf seine wesentlich
moderneren späteren Gedichte zu sprechen kam, nahm er die¬
ses Thema wieder auf: »Ich finde es blöd, große Worte zu
tönen und den Rhetoriker zu spielen. Jetzt, wo ich skeptischer
geworden bin und mich nicht mehr so leicht in die Lüfte er¬
hebe und wo ich zugleich meine Sprache auf eine exaktere,
clownshafte Art beherrsche, schreibe ich kleine Phantasiege¬
dichte und habe dabei nur ein Ziel im Auge: um jeden Preis
etwas Originelles hervorzubringen.« Im gleichen Brief gibt er
zu, daß »das Leben zwar in der Tat grobschlächtig und vul¬
gär« sei, »aber, bei Gott, wenns um die Dichtung geht, laßt
uns so erlesen sein wie die Nelken«.
Genauso wie Corbiere sich mit den bretonischen Fischern nur
soweit identifizieren konnte, daß er sich so sah, wie sie ihn
sahen - wobei er sein Selbstbewußtsein und sein Gefühl, an¬
ders zu sein, gerade durch diese teilweise Identifizierung
76
mende »Herz«, das »mit nichts reimt« und deshalb seine
Glaubwürdigkeit in Frage stellt - mit Laforgues Bewußtsein
der vielen Möglichkeiten, die einem Ich offenstehen, das be¬
gonnen hat, sich zu verflüssigen oder zu verflüchtigen. Schon
Baudelaire hatte die Verbindung hergestellt zwischen »der
Liebe zur Verkleidung und Masken« und einer »Leidenschaft
für das Reisen«. Laforgues Reisen zu Wasser und zu Lande
sind, wie die von Baudelaire, nur als etwas Potentielles von
Wert:
(Kein Ich, das nicht gegen die Stangen seines Käfigs schäumt
Und seine Tage zerpflückt in Fäden aus Langeweile).
77
seines Käfigs, wenn er etwa das Unendliche auffordert, seine
Ausweispapiere vorzuweisen:
78
. .. et ce sieur que j’intitule
Moi, n’est, dit-on, qu’un polypier fatal!
79
Bref, j’allais me donner du’n >Je vous aime<
Quand je m’avisais non sans peine
Que d’abord je ne me possedais pas bien moi-meme.
(Kurz, ich war drauf und dran, mit einem »Ich liebe Sie«
Mich aus der Hand zu geben, als ich merkte
- Nicht ohne Pein -, daß ich mich ja vorher
Auch nicht so ganz besessen hatte.
Mein Ich: ’s ist Galathea, die Pygmalion blendet!
Unmöglich, diese Situation zu ändern.
Ich armes, bleiches, schofles Individuum,
Das nur in seinen traumverlorenen Momenten
Es fertig bringt, ans eigne Ich zu glauben, -
So sah ich also meine Braut verschwinden,
Entführt vom Lauf der Dinge ...)
8o
von seinen Vorgängern ererbte Hauptsorge Laforgues, die
ständige Beschäftigung mit seiner eignen Entfremdung, Iso¬
liertheit und leidenden Betrübtheit, ersetzt. Ebenso wie T. S.
Eliots frühe Gedichte - deren formale und thematische Ver¬
bindung mit Laforgue so eng ist, daß man die Dichtungs-
»Revolution« des 20. Jahrhunderts neu überdenken zu müs¬
sen glaubt - ordnen Laforgues letzte Gedichte das Selbstbe¬
kenntnis und sogar den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit
einer Kritik am modernen Leben unter oder vielleicht einer
Kritik am Leben überhaupt:
81
Hafen des Vergessens sein?«; oder ob er in Sur une defunte
und dem letzten der zwei Derniers vers betitelten Stücke sich
der ersten Person Singular bedient, um dasselbe Bedrängtsein
von der Zufälligkeit des Lebens darzustellen, wobei er die
Liebe unter dem Schatten des Todes rekapituliert:
82
libre in den späten Gedichten sind zwei von den augenfälli¬
geren Beispielen seiner technischen Erfindungsgabe. Seine
Sprache hielt ein sonst nur selten zu findendes Gleichgewicht
zwischen dem umgangssprachlichen Ton und einer originellen
Technik der geistreichen oder witzigen Anspielung; und diese
Balance entspricht einer ebenso gekonnten Balance zwischen
der expressiven und der rezeptiven Qualität seiner Bilder.
Laforgue wird gewöhnlich zu den Symbolisten gerechnet; das
ist aber irreführend, wenn man unter Symbolismus nicht nur
allgemein die neue Lyrik versteht, die nach Baudelaire und
den Parnasse-Dichtern geschrieben wurde, sondern eine be¬
sondere Art von Lyrik, die nach hermetischer Dunkelheit
strebt und für sich »die Voraussetzungen und die Beschaffen¬
heit der Musik« erreichen möchte. Viele von Laforgues Neue¬
rungen brachten die Dichtung nicht der Musik, sondern dem
Gesprächston näher; sie rückten sie nicht in die Nähe des ex¬
klusiven Ästhetizismus Mallarmes oder Villers de l’Isle-
Adams, sondern führten sie zu einem existentiellen und mo¬
ralischen Einbezogenwerden in die Grausamkeiten des Le¬
bens. Dort wo Laforgue (in den oben zitierten Zeilen) von
seinem »Tag in der Zeit« und seinem »Platz im Raum«
spricht, meint er das empirische Ich. Das dichterische Ich - mit
seinen Masken, dem Clown und Ironiker, dem romantischen
Träumer und verzweifelten Metaphysiker - hatte es nicht
nötig, Angst zu haben vor seinem spurlosen Verschwinden in
der »himmlischen Eternullität«, als einer der vielen Durch¬
gangsgäste in dem »Grand Hotel der Anonymität«.
83
ins Unpersönliche entrückte. Dies wiederum bedeutet nicht,
daß die Zweifel über die persönliche Identität zerstreut ge¬
wesen wären. Paul Valery, der konsequenteste Praktiker und
Theoretiker der poesie pure nach Mallarme, war von der
Frage der persönlichen Identität ebenso sehr beunruhigt, wie
es Baudelaire, Rimbaud, Corbiere und Laforgue vor ihm
waren; aber er hat es in seiner Prosa explizit gemacht: »Ist
unser Ich vielleicht von seiner Umwelt isoliert, davor ge¬
schützt, Alles zu sein oder Irgendetwas zu sein, ungefähr so
wie das Uhrwerk meiner Uhr in meiner Westentasche ge¬
schützt ist? ... Es ist zwecklos, sich an sein Gedächtnis zu
wenden; es liefert uns mehr Beweise für unsere Veränderun¬
gen als für unsere Beständigkeit... In unseren Wünschen, un¬
serer Trauer, unseren Forschungen, in unseren Gefühlen und
Leidenschaften und selbst in den Anstrengungen, die wir ma¬
chen, um uns selbst zu kennen, sind wir die Spielbälle ab¬
wesender Dinge - die nicht einmal existieren müssen, um auf
uns einzuwirken.«17
Unzweifelhaft waren es nicht allein die Dichter, die unabläs¬
sig mit diesem Problem der Diskontinuität des Ichs rangen.
Valerys Bemerkungen zu dem Thema stehen in seinem ge¬
wichtigsten Essay über Gesellschaft und Politik. Schopen¬
hauer, und nach ihm Nietzsche, hatten in radikaler Weise das
»Prinzip der Individuation« durchdacht, und Bergson hatte
das Bewußtsein in Beziehung zur Zeit gesetzt. Die neue Tie¬
fenpsychologie stellte dieselben Fragen, und die Antworten,
die sie unterbreitete, waren genauso stark dazu angetan, kon¬
ventionelle Vorstellungen zu zerstören. Entfremdung, wenn
auch einer anderen Art, war ein Schlüsselbegriff der Marx-
schen Gesellschaftslehre. Auch die Romanautoren erkundeten
Bewußtseinsströme und zerbrachen traditionelle Erzählstruk¬
turen, die auf den alten Einheiten von Charakter, Handlung
und Zeit basierten. Es gab jedoch einen besonderen Grund da¬
für, daß gerade die Lyriker immer wieder auf diese Dinge zu
sprechen kamen. Die Lyrik war, das ist in ihrem Wesen be¬
gründet, seit je weniger mit der kontinuierlichen, historischen
oder epischen Zeit, mit dem chronos befaßt als mit dem kairos
und dem, was Joyce Epiphanien nannte, mit Momenten, in
denen Erleben oder Vision konzentriert oder kristallisiert er¬
scheinen. Deshalb war die Lyrik stärker von der Einheit des
84
inneren Erlebens - und das heißt von der Einheit des erleben¬
den Bewußtseins — abhängig als von jener Folge äußerer Er¬
eignisse, die der Erzählung in Vers oder Prosa ihren festen
Rahmen gibt. Obwohl diese Einheit nicht zwangsläufig die
Einheit dessen voraussetzt, was Hugo Friedrich das empiri¬
sche Ich nennt - er scheint anzunehmen, daß das »Bekennt-
nis-Ich« der romantischen Dichtung immer mit dem »empiri¬
schen Ich« des Dichters identisch war und daß diese Identität
eine Norm ist, von der spätere Dichter abwichen, während sie
doch in Wahrheit immer der Ausnahmefall war -, mußten
natürlich Zweifel über die Beständigkeit des Ichs das Be¬
wußtsein des Lyrikers vergrößern, daß er eine besondere
Freiheit hatte, sich dieser Einheit völlig zu entziehen und
»irgendeinen anderen Leib auszufüllen«.
Die Dichter von Valery bis Pound und Pessoa nützten diese
Freiheit reichlich und in der verschiedenartigsten Weise. Die
Wahrheit der Dichtung unterschied sich bei ihnen nicht mehr
von dem, was Oscar Wilde »die Wahrheit der Masken«
nannte. Hugo von Hofmannsthals zur fixen Idee gewordene
Beschäftigung mit der Zufälligkeit und Unbeständigkeit des
empirischen Ichs veranlaßte ihn, die Lyrik aufzugeben und sich
vom dramatischen Monolog oder der persona weg dem
»lyrischen Drama« zuzuwenden - einer Art kurzem Vers¬
drama, in dem es selten zu einem Handlungsgewebe mit In¬
einandergreifen und -wirken von Charakteren kommt -, um
dann, nach stufenweiser Fortentwicklung, schließlich beim
echten Drama zu landen.* Zu dem grundsätzlichen Zweifeln
an der Identität der Persönlichkeit kam bei Hofmannsthal
eine tiefe Skepsis gegenüber der Sprache und der Fähigkeit
der Wörter, das mitzuteilen, was nur die Gebärde oder der
Tanz mitteilen können - das Ich, das all seiner empirischen
Akzidenzien entkleidet ist. Valery, Yeats, Eliot und Lorca
sind einige aus der Zahl der Dichter, die diese Ansichten teil-
86
4 Masken
87
nomie nicht nur der Kunst, sondern auch des subjektiven
Denkens mit Versuchungen in Gestalt der Liebe oder des
Todes oder einer Kombination aus beiden konfrontiert/' Sein
Narziß sagt zu der Nymphe:
(Ich bin allein, Ich bin Ich. Ich bin wirklich ... Ich hasse dich.)
(Dein Fehl ist, daß ringsum die Herzen dich nicht kümmern.)
Um die Wahrheit zu sagen, mein Freund, weder liebe ich noch hasse
ich die Vergangenheit oder meine Bücher, die die Fragmente oder
Früchte davon sind. Sie sind nicht mehr Ich selbst. Ich vermag mich
in der Vergangenheit nicht zu finden ... Hat ein EGO eine Ver¬
gangenheit? Das Wort Vergangenheit hat für es keinen Sinn. Ich
lebte . . . und dann ... tat ich mehr als leben! Wie kann ich es aus-
drücken? Mein Schicksal war so absolut einmalig, daß ich es nur
metaphorisch darstellen kann ... Ich nehme an, leben sei eine Art
88
Bewegung, die am Geburtsort und -datum ihren Ausgang nimmt
und beim Sterbeort und -datum zu Ende kommt. Die Summe einer
Lebenszeit geht an einem Punkt des Horizontes auf, taucht aus den
Nebeln und den zarten Schatten der Kindheit empor. Der Mittag
der Gefühle und Sehnsüchte, des Wissens, Denkens und Liebens be¬
ginnt seine Herrschaft . .. Das Licht wird präzise und hart. Das
Gestirn der Stärke und Sicherheit erreicht seinen Zenit und schwin¬
det dahin .. . Der Mensch ist eine Art Eintagsfliege, die den einzi¬
gen Tag, der ihr ganzes Leben ist, nicht noch einmal erlebt. Die
Sonne seines Daseins scheint niemals zweimal, und alles, was sie be¬
scheint, ist für ihn jeweils ohne Präzedenzfall, von der Neuartig¬
keit seiner Geburt bis zur Neuartigkeit seines Todes ... Ich dage¬
gen, mein Freund, sah mithilfe geheimnisvoller Kräfte meinen Le¬
benstag unter dem Horizont des Fatums weitergehen. Die andere
Seite der Natur, die Antipoden der Schöpfung wurden mir of¬
fenbart. Ich machte die wirkliche Reise um die wirkliche Welt ...
Die kühnste, die beispielloseste Idee, die mir in den Sinn kommt,
kann mir niemals neu erscheinen .. .3
89
nichts. Sie wissen, was die Menschen mit dem anfangen, was
ausgedrückt werden kann. Nur allzu gut. Sie machen es zu
Kleingeld, zu einem Werkzeug der Ungenauigkeit, einem Kö¬
der, einer Falle zum Zwecke der Unterwerfung und Ausbeu¬
tung. Die Realität ist absolut unmittelbar. Sie ähnelt nichts,
sie bedeutet nichts; nichts kann sie darstellen oder erklären;
sie hat weder Dauer noch Ort in irgendeiner vorstellbaren
Ordnung oder in irgendeinem denkbaren Universum . . .«5
Wie Hofmannsthal und andere Nachsymbolisten wandte sich
Valery einer synästhetischen Verbindung der Künste zu - der
Verschmelzung von Worten mit Musik, Dekoration, Gebärde
und Tanz in Amphion und Semiramis, von Wort und Musik
allein in der Narcissus-Kantate - aus Abneigung gegen das
»Kleingeld« der Worte. Diese hinzugezogenen Medien be¬
schrieben und berichtigten nicht; sie spielten: und Valerys
Aversion erstreckte sich auf die epischen und deskriptiven
Kunstformen: »Was nacherzählt werden kann, kann nicht
viel zählen!«6
»Die Hauptpersonen eines Gedichts«, so heißt es andererseits,
»sind immer die Anmut und Kraft des Verses.«7 Form konnte
mit jeder Art von Problem fertig werden — sogar mit der
problematischen oder solipsistischen Person des Autors -
denn, so sagte Hofmannsthal, »Form ist Maske, aber ohne
Form weder Geben noch Nehmen von Seele zu Seele«.8
Valerys allzu starre Unterscheidung zwischen zweckbestimm¬
ter oder »instrumentaler« Prosa, die er mit dem Gehen oder
Laufen verglich, und einer Poesie, die wie Tanz ist, weil sie
»keinen anderen Zweck hat als sich selbst« (Eupalinos), weist
auf einen Zwiespalt in ihm selbst hin. Valery gab das sogar
selbst zu, als er im Vorwort zu Monsieur Teste schrieb, er sei
mit dem »mal aigu de la precision« geschlagen. Die Präzision
und Klarheit von Valerys Denken wurde zu einer Heim¬
suchung wegen des »positiven Elektrons« in ihm, das mono¬
ton wiederholte: »Es gibt nur mich. Es gibt nur mich. Es gibt
nichts als mich, mich, mich . . ,«9 Die Lyrik befreite ihn auch
von einer Art des Denkens, das seine eigenen Denkprozesse
untersucht und häufig darin endet, daß es sich selbst in den
Schwanz beißt; und, um es noch einmal zu sagen, es machte
keinen Unterschied, daß Valery mit seiner Dichtung nichts
mitteilen wollte, daß sie keinen anderen Zweck haben sollte
90
als sich selbst. Valerys Bestehen auf bewußter und absichts¬
voller Komposition anstelle von »Inspiration« ist genauso
paradox wie der Rest seines Denkens. »Technisch gewandtes
Versschreiben«, schrieb er in Au Sujet d’Adonis, »ist die Kunst
eines tiefen Skeptikers. Er setzt eine ungewöhnliche Freiheit
im Hinblick auf die Gesamtheit unserer Ideen und Empfin¬
dungen voraus. Die Götter in ihrer Gnädigkeit geben uns ge¬
legentlich einmal eine erste Zeile umsonst ein; aber wir müs¬
sen dann die zweite formen, die mit der ersten zusammen¬
klingen muß und ihrer übernatürlichen älteren Schwester
nicht unwürdig sein darf. Alle Hilfsquellen der Erfahrung
und des Geistes werden gebraucht, um sie der ersten Zeile, die
ein Geschenk war, gleichwertig zu machen.«10
Die Skepsis, von der Valery hier schreibt, ist eine Freiheit,
nicht ein Zwang, zu argumentieren und rational zu begrün¬
den. Es ist dies die Freiheit, die Keats so treffend beschreibt -
die Freiheit, »sich über nichts eine feste Meinung zu bilden,
den Geist eine Durchgangsstraße für alle Gedanken sein zu
lassen, nicht eine Gesellschaft für ausgewählte Gäste«. Diese
Freiheit und Offenheit ist, zusammen mit der äußersten Kon¬
zentration auf die besonderen Ansprüche, die das jeweilige
Gedicht stellt, nichts anderes als »Inspiration«. Valery er¬
kennt das an, wenn er konstatiert, daß »alle Hilfsquellen der
Erfahrung und des Geistes« nötig sind, damit die eingegebene
Zeile mit der gemachten Zeile zusammenstimmt - ein verklei¬
deter Tribut an die unbewußten Faktoren, die beim Schrei¬
ben wirksam sind. Da aber Valery als Kritiker und Denker
vor diesen Faktoren Angst hatte, sind seine Aussagen über
die Dichtung weit davon entfernt, eine Methode oder auch
nur eine konsistente Dichtungsanschauung zu offenbaren. Im
einen Augenblick fordert er »so viel Bewußtheit wie nur
möglich«;11 im nächsten schreibt er: »Ich bringe nur für solche
Dinge Interesse auf, die ich nicht erfinden kann«12 - und seine
Definition dessen, was ein Gedicht ist, heißt: ». . . eine Art
Maschine, die mit Hilfe der Worte den dichterischen Zustand
hervorbringen soll.«13 Maschinen werden erfunden und bewußt
konstruiert; aber Valery interessierte sich nur für Gedichte.
Er führte sein eigenes Gedicht La Jeune parque als Beispiel
für diejenigen seiner Gedichte an, die »zum Keim nur eine
dieser Anregungen >formaler< Sensibilität« hatten, »die je-
9i
dem >Sujet<, jeder ausdrückbaren und fertigen Idee voraus¬
gehen«. »Manches andere Gedicht hat in mir durch das bloße
Auftreten eines Rhythmus begonnen, der sich nach und nach
einen Sinn gegeben hat.«
Wenn Valery erklärte, er schätze diejenigen »Liebhaber der
Poesie, die ihre Göttin zu hellsichtig verehren, um ihr ein
weibliches Denken und eine erschlaffte Vernunft darbringen
zu wollen«15, so kann er damit nur gemeint haben, daß die
Qualität des Denkens und des Verstandes eines Dichters in
»Übungen« sichtbar wird, die - wie La jeune parque - so
weit wie möglich von denjenigen Dingen entfernt sind, auf
die Denken und Verstand üblicherweise angewendet werden;
und das ist unbestreitbar richtig! Auch Keats hat gesagt, »sich
über nichts eine feste Meinung zu bilden« - d. h. das absichts¬
volle und zweckgerichtete Denken auszuschalten -, sei ein
Mittel zur »Stärkung des Intellekts«.
Valery glich darin, daß er den Verstand benützte, um den
Verstand zu besiegen, seinem Meister Mallarme. Das Ziel der
Lyrik, die er bewunderte, war »enchantement«, wie er es
nannte, und eine »Empfindung des Entzückens ohne Gegen¬
standsbezug«, die er »in größtmögliche Entfernung von allem,
was die Prosa tut und will«, plazierte . . . »Was midi ent¬
zückte, war die Entfernung von Menschen.«16 Seine Semira-
mis ist »undenkbar und deshalb göttlich«; und all die Kunst¬
erfahrung und Intelligenz, die er an seine lyrischen Gedichte
wendete, diente dazu, sie »menschenfern« zu machen. Und
doch machte ihm sein Skeptizismus - die Skepsis eines Den¬
kers des 20. Jahrhunderts, der mit den naturwissenschaft¬
lichen und politischen Tendenzen und Entwicklungen der Zeit
vertraut war - die Grenzen der »reinen« oder »absoluten«
Poesie klar, in der er selber so Hervorragendes leistete: »Letz¬
ten Endes ist die reine Poesie eine aus der Beobachtung ge¬
wonnene Fiktion«, schrieb er 192817; und 1920 erklärte er,
warum sie nicht mehr als eine Fiktion sein kann:
Mit den Bedingungen des Lebens verträgt sich nichts, was so rein
ist. Wir durchqueren nur die Idee der Vollkommenheit, wie die
Hand ungestraft durch die Flamme streift. Aber die Flamme ist
unbewohnbar, und die Häuser der höchsten Glückseligkeit stehen
notwendigerweise leer. Ich meine, unser Streben nach der äußersten
Strenge der Kunst - nach einer Folgerung aus den Voraussetzungen,
die uns frühere gelungene Werke boten, - nach einer Schönheit, die
ihrer Entstehungsgeschichte immer tiefer bewußt wäre, die von
allen Inhalten immer unabhängiger, von vulgären Gefühlsreizen
ebenso wie von groben Effekten der Beredsamkeit immer freier ge¬
worden wäre, - all dieser allzu aufgeklärte Eifer führte vielleicht
zu irgendeiner beinahe unmenschlichen Daseinsform. Das ist eine
allgemein feststellbare Tatsache: die Metaphysik, die Moral, ja so¬
gar die Wissenschaften haben es bezeugt.
Die absolute Poesie kann nur durch außergewöhnliche Wunder
vorankommen. Die Werke, die sie vollständig komponiert, bilden
in den unwägbaren Schätzen einer Literatur das was sich an Erle¬
senstem und Unwahrscheinlichstem denken läßt.18
93
Aber die Wurzel des Mangels an Modernität in Valery, dem
Dichter, war sein Solipsismus - ein Solipsismus, der in sich
selbst gar nicht so unmodern gewesen wäre, speiste er sich doch
aus der naturwissenschaftlichen und philosophischen Proble¬
matik seines Zeitalters. Wenn Valery die Maske der Form
fallen ließ wie in den späten Prosa- und vers-libre-Gedichten,
die er poesie brüte - grobe oder rohe Lyrik - nannte, dann
übte sein empirisches Ich keine fürchterliche Rache, vergleich¬
bar der Rache in Yeats’ The Circus Animais’ Desertion. Die
mystische und mythische Sonnenanbetung der Gedichte des
Kanons wird empirisch, vom Standpunkt direkten persön¬
lichen Erlebens dargestellt in dem Gedicht Au Soleil, und hier
tauscht Valery einmal das »reine Ich«* seiner früheren Lyrik
gegen eines aus, das von äußeren Umständen abhängig und
auf eine private Weise informell ist:
Au Soleil
94
Da das Gedicht kein aktives Verb enthält, kulminiert seine
syntaktische Bewegung in dem Ausruf »Moi!« am Ende -
nach Windungen im Ablauf, die die Kompliziertheit von Va-
lerys Wahrnehmungsmodus in Bildern von vielfältiger Spie¬
gelung wiedergeben. Au Soleil ist eine authentische Selbst¬
darstellung und ein authentisches Gedicht des 20. Jahrhun¬
derts darin, daß es zu einer organischen Struktur greift, die
die »Anmut« der inneren Stimmigkeit aufopfert. Es ist kein
großes, nicht einmal ein hervorstechendes Gedicht, denn es hat
keinerlei Spannung; und es hat deshalb keine Spannung, weil
diese Nacktheit etwas Weiches und Selbstgefälliges an sich
hat, das so sehr weit weg ist von der Nacktheit des Herzens,
die das Wort >fou< impliziert, aber nicht wirklich realisiert.
Die Zirkustiere haben die Arena verlassen, aber Kaffee und
Gedanken scheinen als passender Ersatz akzeptiert zu wer¬
den. In Psaume devant la bete rekapituliert Valery sowohl
den Solipsismus als auch den Konflikt zwischen dem Denken
auf der einen Seite und Liebe und Tod auf der anderen -
jenen Zwiespalt also, der Valerys ganzes Werk durchzieht:
(Doch ist dies das Mittel, durch das ich mir einen
Begriff von anderem verschaffen kann als mir selbst .. .)
Dennoch ist wieder >Ich selbst< das letzte Wort; und die per¬
sona, die im Abschlußgedicht dieses Zyklus spricht, ist die
Idee-maitresse, nicht eine Frau oder gar der Archetyp des
Weibes, sondern eine Idee, die aus dem Ich abstrahiert wor¬
den ist. >Du bist mein Narr, ein Verrücktgewordener-um-
95
mich: DEINE IDEE<, sagt sie zu dem Dichter, der mit ihr in
Liebe >verschmolzen< ist.
Als er in seinem Oxforder Vortrag Poesie et pensee abstraite20,
in dem er die These vertrat, daß abstraktes Denken und Poe¬
sie nicht unvereinbar seien, auf den Logiker und den Dichter
zu sprechen kam, gab Valery seinem aufrichtigen Glauben<
Ausdruck, daß, >wenn nicht jeder Mensch imstande wäre, eine
Reihe von anderen Leben neben seinem eigenen zu leben,
niemand imstande wäre, sein eigenes Leben zu leben<. Die
Masken von Valerys offiziellen, d. h. in traditionellem Me¬
trum gehaltenen Gedichten versetzten ihn in die Lage, andere
Leben als sein eigenes in seiner Phantasie zu leben, und seine
Prosawerke treiben die Versöhnung des Logikers mit dem
Dichter in der Tat ziemlich weit voran, immer vorausgesetzt
freilich, daß es >keine Theorie gibt, die nicht ein sorgfältig
präpariertes Fragment von irgend jemands Autobiographie
ist<, wie Valery in derselben Vorlesung bemerkte. Wenn der
Logiker in ihm, der abstrakte Denker, sich gelegentlich wi¬
dersprach, so kann auch das biographisch verstanden werden;
die Selbstwidersprüche treten an den Punkten auf, an denen
der abstrakte Denker und der Dichter sich nicht einig waren.
Valerys Beschränkung bestand darin, daß sein Werk ein so
geringes Bewußtsein von anderen Leben als denen des Künst¬
lers und des abstrakten Denkers zeigt, daß es ihm so schwer
fiel, sich zu dem Glauben und dem Gefühl zu zwingen, daß
es irgend jemand anderen als diese beiden gab. Obwohl Va¬
lery einen Platz in der orphischen Tradition der Lyrik ein¬
nimmt, sagt Elizabeth Sewell, die Deuterin und Chronistin
dieser Tradition und zugleich anerkannte Valery-Expertin:
»[die orpbische Tradition] steht auf der Seite des Lebens und
der Worte und nicht auf der Seite der reinen Form; dadurch,
daß sie dies nicht verstanden, führten Mallarme und Valery
die Dichtung in eine Sackgasse, in die ihnen ein großer Teil der
zeitgenössischen Lyrik nachgefolgt ist.«21 Und noch einmal, im
Zusammenhang mit Wordsworths Gedicht On the Power of
Sound: Wordsworth macht sich zum Fürsprecher für Harmo¬
nie, Sprache und Menschheit, und das ist außerordentlich wich¬
tig im Hinblick auf das, was der orphischen Richtung später
beiMallarm£ und Valery widerfahren sollte. Jeder von beiden
hätte mit absoluter Sicherheit entweder die Musik oder das
96
Schweigen der »Unreinheit« der menschlichen Sprache vor¬
gezogen. Es ist interessant, Wordsworth dies lange vorher
für unzulässig erklären und anprangern zu sehen als Reak-
tionärstum und impietas in dichterischer, menschlicher und
theologischer Hinsicht.«
Poesie pure also, »reine Poesie«? Diese platonische Idee könnte nie¬
mals in einer konkreten Verkörperung Gestalt gewinnen. Keiner
von uns* träumte von einer so absoluten Reinheit, keiner wünschte
sie, nicht einmal der Autor von Cantico22, einem Buch, das man ne¬
gativ definieren könnte als die Antithese zu Valerys Charmes . . .
Als einer, der in der Tradition Edgar Allan Poes stand, glaubte Va¬
lery kaum oder gar nicht an die Inspiration - von der diese spa¬
nischen Dichter immer abhängig waren: Muse für manche, dngel für
andere, duende (eine Art Dämon) für Lorca .. . Eine Macht, die
dem Verstand und Willen unbekannt ist und die jene tiefen, un¬
vorhergesehenen Elemente zur Verfügung stellt, welche die gracia
des Gedichtes ausmachen . .. Valery machte sich ein recht unnatür¬
liches Vergnügen daraus, über die »Fabrikation« oder «Verferti¬
gung von Lyrik« zu sprechen. »Erschaffen«, ein stolzer Ausdruck,
»komponieren«, ein nüchternes, professionelles Wort, deuten beide
nicht auf einen fabrikmäßigen Verfertigungsprozeß hin. Valery war
vor allem anderen ein inspirierter Dichter . . . Leerer oder fast lee¬
rer Formalismus ist ein Monstrum, das inkompetente Leser er¬
funden haben oder das man nur auf inkompetente Autoren anwen¬
den sollte. Wenn es Lyrik geben soll, dann wird sie menschlich sein
müssen. Wie könnte es anders sein? Unmenschliche oder über¬
menschliche Dichtung hat es vielleicht gegeben. Aber ein »ent¬
menschlichtes« Gedicht ist eine physische und metaphysische Un¬
möglichkeit und der Satz von der »Enthumanisierung der Kunst«,
der von unserem großen Philosophen Ortega y Gasset geprägt
wurde, hatte von Anfang an einen falschen Klang.23
97
Valery war einer von den — für Erich Heller so anstößigen -
Dichtern, die behaupteten, dichterische »Schöpfung« oder
poesis sei gottgleich24, wenn er das auch mit ironischen Ein¬
schränkungen versah, die die Anmaßung seines Anspruchs ab¬
mildern. Jorge Guillen distanziert sich ausdrücklich von die¬
ser theologischen Analogie: »Der Dichter fühlt den Inhalt
dieses Wortes »Poesie« in seiner vollen etymologischen Be¬
deutungsschwere. (Aber diese »Schöpfung« wird immer sekun¬
där sein gegenüber der Schöpfung des ersten Schöpfers, von
dem das Buch der Genesis spricht. Alle Dichter sind in diesem
Sinne poetes du dimanche, des Sonntags nämlich, der nach
dem Sabbath kam, an dem Jehova ruhte von seinen Wer¬
ken.)« Unter den Dichtern, die jünger waren als Valery, ent¬
wickelten Rilke und Wallace Stevens Theorien, in denen
poesis oder »das Machen« eine über das Ästhetische und
Technische hinausgehende Bedeutung annahm; und Gottfried
Benn begründete sein ganzes Denken auf der Nietzscheschen
Akzeptierung sowohl des Nihilismus als auch des Ästhetizis¬
mus als notwendigen Folgen der Entdeckung »Gott ist tot«.
Benns grundsätzlicher Solipsismus war eine andere Verbin¬
dungslinie zu Valery, wenn seine heftigen und unironischen
Feststellungen auch eine Scheidung des Dichters vom Logiker
voraussetzten, die einen großen Teil seiner kritischen Prosa so
ekstatisch und syntaktisch unkonventionell werden ließ wie
seine Versdichtung. Das Gegenteil ist freilich der Fall in eini¬
gen von Benns letzten Gedichten, die der Magie so gründ¬
lich abzuschwören scheinen wie die Lyrik so vieler Dichter
allenthalben, die nach dem zweiten Weltkrieg schrieben.
Benns Praxis in diesen Gedichten straft die Theorie der »ab¬
soluten Poesie« Lügen, die er in seinen Prosaschriften jener
Jahre nie wesentlich abgeschwächt hat.
Valerys deutscher Altersgenosse Stefan George begann auch
als ein Jünger Mallarmes, den er in Paris besucht hat; aber
von Anfang an übernahm Stefan George wenig mehr als die
äußere Haltung und Gestik des reinen Symbolismus - die Ex¬
klusivität und die Verachtung für die »vulgäre« Literatur;
den Kult der Masken nicht nur als Form und Stilprinzip, son¬
dern als richtige Verkleidung des empirischen Ichs, die mehr
ist als seine bloße Erweiterung und die sich oft nicht mehr
erkennbar vom bloßen Posieren und von der bloßen Maske-
98
rade unterscheidet; und die Bevorzugung des Künstlichen
gegenüber dem Natürlichen. Hätte George französisch ge¬
schrieben, so hätte man ihn eher als einen Parnassien denn
als einen Symbolisten angesehen, wenn ihn auch seine Wahl
von personae wie Heliogabal mit der internationalen deca-
cfence-Haltung der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts ver¬
bindet. Bei all ihrer geschmäcklerischen »Erlesenheit« und
ihrem kalkulierten Schönklang erreicht Georges frühere Lyrik
nicht die Freiheit der symbolistischen Dichtung, womit ich
die Freiheit eines Gedichts meine, seine eigenen Beziehungen
und Bezüge herzustellen, eine Zeichensprache, die in keine
andere Form als ihre eigene aufschlüsselbar ist. Viele von
Georges bemerkenswertesten lyrischen Gedichten sind in
Wirklichkeit Bekenntnisgedichte nach älterem Modell, trotz
ihrer harten und gemeißelten Oberfläche, die nicht so sehr
romantisch als vielmehr klassizistisch anmutet, ln seiner spä¬
teren Lyrik brach George das Verbot, das der Symbolismus
gegen das Lehrhafte in der Dichtung ausgesprochen und das
er in folgendem Ausspruch selbst neu formuliert hatte: »In
der dichtung - wie in aller kunstbetätigung - ist jeder, der
noch von der sucht ergriffen ist etwas zu >sagen< etwas >wir-
ken< zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst ein¬
zutreten.«25 Man braucht den Stil dieses Diktums nur mit
Mallarmes Prosastil in seinen Essays und Vorträgen zu ver¬
gleichen, um zu verstehen, warum Georges Praxis zwangs¬
läufig die von ihm selbst aufgestellte Regel durchbrechen
mußte: der sprachliche Gestus jenes Aphorismus widerspricht
dem, was die Worte sagen. Der Ausspruch war gegen andere
gerichtet, genauso wie Georges spätere Lyrik auf andere ab¬
gezielt war - mit einer Gebärde verachtungsvoller Überlegen¬
heit, die sich selbst rechtfertigt und sich anderen aufzwingt
anstatt zu versuchen, eine Wahrheit zu ergründen, die viel
komplizierter ist als der Ausdruck, den sie hier gefunden hat.
Was aber »Wirkung« und »Einfluß« von Georges Oeuvre an¬
langt, so mag es in diesem Zusammenhang genügen darauf
hinzuweisen, daß sie beträchtlich und recht umstritten waren.
Es war in erster Linie Georges Kult der Masken, was seinem
Werk die Gewichtigkeit gab, die man von einem großen
Dichter erwartet. Thematisch und formal reichten seine Ge¬
dichte vom klassischen und biblischen Altertum bis zum mit-
99
telalterlichen und modernen Europa; von »Übungen« in
Orientalismus, die an Ähnliches bei den im frühen 19. Jahr¬
hundert schreibenden Dichtern Platen und Rücken erinnern,
bis zu Blankvers, gereimten Liedern von einem metrischen
Abwechslungsreichtum wie bei Verlaine, und ungereimten
lyrischen Stücken, die nicht weniger rhythmische Variabilität
zeigen. Das Wort »Übung« ist in diesem Zusammenhang
nicht nur deshalb besonders passend, weil Valery es zur Be¬
schreibung von La Jeune parque verwendet hat, sondern auch
deshalb, weil George seine Masken mit einem solchen Maß
von bewußter Absichtlichkeit wählte und anlegte, daß sich
hier Valerys von Poe abgeleitete Theorie zu bestätigen
scheint, Gedichte könnten zusammengesetzt und verfertigt
werden wie Maschinen. Doch trotz Georges historischer und
formaler Bedeutung übertrafen ihn Hofmannsthal und Rilke
im Gebrauch von personae einfach deshalb, weil beide eine
Einfühlungsgabe hatten, die sie dazu befähigte, »einen an¬
deren Leib auszufüllen« und ihn mit einer Stimme sprechen
zu lassen, deren Klang nicht von der Maske gedämpft wurde.
Mit wenigen Ausnahmen — und bei ihnen handelt es sich ge¬
wöhnlich um Bekenntnisse, bei denen Georges eigene Stimme
durch die Maske hindurch hörbar wird - erinnert uns die
durchweg steife und undurchlässige Oberflächenbeschaffenheit
von Georges Gedichten daran, daß Metall und Pappe nicht
lebendige Haut sind. Deshalb, weil Georges empirisches Ich
nur selten durch eine phantasievolle Identifikation mit etwas,
was nicht es selbst war, erweitert und bereichert wurde und
weil er Masken nur als Verkleidungen gebrauchte, wirkt sein
Werk als Ganzes heute mehr wie ein Museum und Wachs¬
figurenkabinett als wie ein Konzert lebendiger Stimmen.
100
ding und Robert Graves scheinen Yeats von der ernsthaften
Erwägung als »Modernist« auszuschließen, wenn sie ihn ein¬
fach erwähnen als »Mr. Yeats, der sich, weil er erkannt hat,
daß seine alten poetischen Gewänder inzwischen ziemlich
schäbig und abgetragen sind, einen neuen Anzug angeschafft
hat«; aber auf Yeats traf, fast mehr als auf irgendeinen an¬
deren britischen Dichter der Zeit, ihre eigene Definition des¬
sen zu, was modernistische Dichtung sein sollte: eine Lyrik,
die »ihren Rang weder daraus bezöge, daß sie auf die Zivili¬
sation mit satirischem oder tatsächlichem Primitivismus re¬
agierte, noch daraus, daß sie ihre Fähigkeit, mit der Zivilisa¬
tion Schritt zu halten oder ihr sogar vorauszueilen, unter Be¬
weis stellte. Sie würde jedoch das zeitgenössische Universum
um sich her nicht ignorieren aus dem einfachen Grund, daß
sie nicht dumm sein möchte . . .«
Yeats’ frühe Lyrik ignorierte tatsächlich »das zeitgenössische
Universum um sich her«; aber das trifft genauso auf Valerys
und Georges frühe Lyrik zu und überhaupt auf einen Gro߬
teil der besten Dichtung, die in den späten achtziger und in
den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben
wurde - eine Dichtung, die auf der Annahme basierte, »das
zeitgenössische Universum« sei eine »brutale Fata Morgana«.
Das findet sich auch in Yeats’ The Song of the Happy Shep-
herd (aus Crossways, 1889):
101
Archetypischen. Aus diesem Konflikt schuf er in der Tat herr¬
liche Lyrik - nicht so modern vielleicht wie die Lyrik derje¬
nigen, die von Anfang an mit ihrem »zeitgenössischen Uni¬
versum« zu Rande gekommen waren, aber mit einer viel grö¬
ßeren Chance, ihre Anlässe und Phänomene zu überleben,
als das bei der Lyrik jener anderen Dichter zu erwarten ist.
Yeats’ zwei Seelen disputieren in Ego Dominus Tuns, dem
Dialoggedicht, das die Einleitung zu seinem Prosawerk Per
Amica Silentia Lunae (1918) bildet:
102
oder Selbsttäuschung, die es ihm erlaubt haben würde, die
Motive, die ihn zum Aufbau eines zweiten, heroischen und
poetischen Ichs bewogen, zu verschweigen.
103
schäften und Werten der Menge ziehen können. Yeats ver¬
hehlt die Verzweiflung und äußerste Not nicht, die seine Aus¬
gangssituation waren. »Aber die Leidenschaften, wenn wir
wissen, daß sie keine Erfüllung finden können, werden zur
Vision.« Sie können, wie die Psychologen wissen, auch zu et¬
was sehr anderem werden; aber im Falle von Yeats wurden
sie tatsächlich zur Vision.
Je länger Yeats lebte, um so mehr Gerechtigkeit ließ er den
Gefühlen widerfahren, die Erfüllung finden können; und
auch das hat wieder mit seiner persönlichen Entwicklung zu
tun. »Ich bin mit jedem Lebensjahr glücklicher geworden, als
ob ich allmählich etwas in mir besiegte, denn sicherlich sind
meine Leiden nicht von anderen verursacht worden, sondern
waren ein Teil meines Denkens.«28 Dennoch konnte sich Yeats
ebenso wenig damit zufriedengeben, daß er dem persönlichen
Glück Ausdruck gab, so wie er sich vorher mit der Gestal¬
tung seines persönlichen Leidens zufriedengegeben hatte:
»Wenn ich über persönliche Liebe oder persönlichen Schmerz
schriebe in vers libre oder irgendeinem anderen Rhythmus,
der sie unverändert ließe und umgeben von all ihren Akzi¬
denzien, dann müßte ich voller Selbstverachtung sein wegen
meiner Egozentrik und Indiskretion, und ich sähe die Ge-
langweiltheit meiner Leser voraus. Ich muß eine traditionelle
Strophenform wählen, selbst das was ich ändere muß tradi¬
tionell aussehen. Ich übertrage meine Gefühle auf Schäfer,
Hirten, Kameltreiber, Gelehrte, auf Milton oder Shelleys
Platoniker, auf den Turm in der Zeichnung von Palmer.
Sprich mir von Originalität, und du wirst mich zum wüten¬
den Gegner machen. Ich bin eine Menge, ich bin ein einsamer
Mann, ich bin nichts. Altes Salz ist das beste Packmaterial.«29
Diese Worte schrieb Yeats am Ende seines Lebens. Sie fassen
nicht nur Yeats’ Praxis als Dichter zusammen, sondern zu¬
gleich die Situation all jener Dichter nach Baudelaire - ebenso
wie die von Whitman und Browning, ältere Zeitgenossen
Baudelaires -, die ihre Zuflucht zu Masken nahmen, um den
einsamen Menschen in eine Menge zu verwandeln und die
fehlende Identität ihres Seins in eine positive Vielfalt oder
Universalität von Sein. Wie Yeats andeutet und Hofmanns¬
thal offen sagte, kann poetische Form selber als Maske wir¬
ken. Als das empirische Ich in der Dichtung wieder Eingang
104
fand - nicht weil die Dichter es ernster genommen hätten als
vorher, sondern weil sie sich nicht mehr für ihre eigene Ein¬
samkeit und Einmaligkeit interessierten und deshalb die Dis¬
kretion in bezug auf ihr Ich nicht mehr nötig hatten zeigten
die Formen eine Tendenz zu Freiheit und gelöster Offenheit.
Yeats ging es vor allem um Spannung und Intensität; und um
die zu erreichen, mußte er das einsetzen, was er »active vir-
tue« (etwa: »Leistungsaktivität«) nannte, etwas was seinem
empirischen Ich gegen den Strich ging. »Active virtue«, schrieb
er in Per Amica Silentia Lunae, »ist also im Unterschied zu
der passiven Übernahme eines Regelkanons theatralisch, be¬
wußt dramatisch, das Tragen einer Maske.« Der hohe Grad
von Bewußtsein, der sich in all diesen Dingen zeigt, bewahrte
Yeats davor, auf seine Masken selbst hereinzufallen oder sie
die Stelle seines eigenen Gesichts einnehmen zu lassen. Und
diese Bewußtheit machte ihn auch moderner und origineller,
als er eigentlich sein wollte. Keine »traditionelle Strophe«,
die in Yeats’ reifer Lyrik vorkommt, könnte jemals für das
Werk eines anderen Dichters gehalten werden. Die Tradition
war tatsächlich Yeats’ Alibi, so wie die Neuerungssucht das
Alibi von Dichtern gewesen ist, die sich krampfhaft moder¬
nistisch gaben; und vieles von dieser Tradition war genauso
eine Schöpfung von Yeats’ Phantasie und Willen wie sein
»Anti-Ich«. Seine modern-relativistische Prämisse wird sehr
offenkundig in dem folgenden Satz aus dem gleichen Werk:
»Vor einigen Jahren fing ich an zu glauben, daß uns unsere
Kultur mit ihrer Doktrin der Aufrichtigkeit und Selbstver¬
wirklichung sanft und passiv macht und daß das Mittelalter
und die Renaissance recht hatten, wenn sie ihre Kultur auf
der Nachfolge Christi oder irgendeines antiken Helden auf-
bauten.« Allein das Zusammen werfen von Mittelalter und
Renaissance, von Christus und irgendeinem antiken Helden
beweist Yeats’ Modernität.
Diese Modernität war von der Art der Modernität Nietzsches
- zugleich skeptisch und irrational, psychologisch bohrend
und ekstatisch. »Leute, die sich viel mit moralischen Fragen
befassen, verlieren immer die Fähigkeit zur heroischen Ek¬
stase«,30 schrieb Yeats an Dorothy Wellesley; und »Bitter
und froh, das ist die heroische Stimmung«. Yeats’ tragisches
Frohsein und sein Kraftrausch waren von Nietzschescher Art;
i°5
und ebenso war es sein Eingeständnis in einem anderen von
diesen Briefen: »Wenn ich krank bin, bin ich ein Christ und
das ist abscheulich.« Und doch verurteilt er im gleichen Brief
»einen Menschentyp, vor dem ich keine Achtung habe. Solche
Menschen haben kein moralisches Empfinden«. Er nennt sich
»anarchisch wie einen Spatzen« und meint damit den Nietz-
scheschen Immoralismus, der die Ekstase um jeden Preis an¬
strebte. Aber er tat auch folgenden Ausruf: »Ach, meine
Liebe, ich habe keine Lösung, nicht eine« - weil die heroische
Ekstase und der Immoralismus zu seinem Anti-Ich gehörten
und dieses Anti-Ich eine poetische Maske war, die nur in
Yeats’ Lyrik wirkliche Gültigkeit hatte und nicht in den
Sphären - wie Politik und Gesellschaft und sogar Literatur¬
kritik -, auf die Yeats vergeblich versuchte, seine »Philoso¬
phie« anzuwenden. Yeats deutete das ungefähr an in seinem
kleinen Gedicht Politics, einer Erwiderung auf Thomas
Manns Feststellung, daß »das Schicksal des Menschen in un¬
serer Zeit seinen Sinn von der Politik her erfahre«:
there is no truth
Saving in thine own heart...
Dream, dream, for this is also sooth.
107
rechterhalten, sondern selbst seine Beispiele und Proben der
schmutzigen Realität werden so fest in ihr »altes Salz« ge¬
packt, daß sie die »heroische Ekstase«, die ihr Gegenpol ist,
ins Gedächtnis rufen:
108
Hauch der Eingebung, der sich in dem alten lyrischen Sehnen
oder in dem enthusiastischen Schwung des Satzes offen¬
barte.«31 Yeats’ »Präsenz als Redner« tritt durch seine ganze
Lyrik hindurch sehr stark hervor, wenn auch viel von seinem
Rednerton von seinen Masken oder seinem Anti-Ich seinen
Ausgang nimmt. Selbst Yeats’ empirisches Ich wird als Prä¬
senz spürbar in Form von kolloquialer Diktion, in Sprech¬
rhythmen und in der dauernden Spannung zwischen »heroi¬
scher Ekstase< und bitterer Wirklichkeitserfahrung. Aber The
Circus Animals’ Desertion ist nur eines von mehreren aufge¬
wühlten Abschiedsgedichten, in denen die romantisch-sym¬
bolistischen Grundvoraussetzungen32 dem gegenübergestellt
werden, was sie ablösen sollte,
als
109
dreißiger Jahre, ihren »Kult der Aufrichtigkeit, diese Ableh¬
nung gegen die Vervielfachung der Persönlichkeit, die für un¬
sere Zeit charakteristisch ist«, gibt er folgenden Kommentar:
»Ich kann hier selten mehr als ein halbes Dutzend lyrische
Stücke finden, die mir gefallen, aber in diesem Augenblick
des Mitempfindens sind sie mir lieber als Eliot, lieber als
ich selber - auch ich habe versucht, modern zu sein.«33 Von
denselben Dichtern sagt er: »Sie haben die Maske, die sich
die manieristischen Autoren bis heute zugelegt hatten, her¬
untergerissen . . .« Dieser Kommentar ist scharfsichtig und
wahrhaft, besonders in dem Hinweis auf einen »Augenblick
des Mitempfindens« - denn es war ja die Überzeugung seines
Nietzscheschen Anti-Ichs, daß Mitleid und Erbarmen Sym¬
ptome von Schwäche seien, Symptome christlicher »Sklaven¬
moral«, die Yeats von jenen Dichtern schied und von noch
viel mehr als jenen Dichtern. Dieses Zaudern und diese Un¬
sicherheit sprechen genauso deutlich aus seinen Bemerkun¬
gen über Wilfred Owen, den er nicht in die Anthologie auf¬
nahm, wofür er Dorothy Wellesley gegenüber folgende
Gründe angab: »Er ist nichts als Blut, Dreck und abgelutschte
Zuckerstange (schauen Sie sich die Auswahl in Fabers Antho¬
logie an - er nennt Dichter >Barden<, ein Mädchen >eine Maid<
und er redet von Titanenkämpfen).«34 Yeats’ eigene Antho¬
logie ist voll von Versen, die genau die Mängel und die Ar¬
chaismen enthalten, um derentwegen er Owen kritisiert. In
seinem Verstestament Under Ben Bulben schrieb Yeats, oder
Yeats’ Anti-Ich:
I io
Der Abschnitt über Kriegsdichtung in Yeats’ Einleitung zu
seinem Oxford Book of Modern Verse35 sagt ungefähr dasselbe,
aber Yeats’ Ungewißheit und seine Skrupel werden offenbar
in dem Konditionalsatz »Wenn Krieg notwendig ist oder in
unserer Zeit und hier notwendig ist, dann ist es das Beste,
seine Leiden zu vergessen, so wie wir das Unbehagen eines
Fieberanfalls vergessen . . .«, und sie werden es auch aus der
Wiederholung des »wenn Krieg notwendig ist« nach der viel
vorsichtiger formulierten Äußerung »Auch das ist vielleicht
eine richtige Art, den Krieg zu betrachten . . .«. Yeats wußte
ganz genau, daß der Erste Weltkrieg, zumindest nach seiner
Anfangsphase, nicht von Männern geführt wurde, die
»kampfversessen« waren, sondern von Männern, die halb
wahnsinnig wurden durch das »passive Erleiden«, vor dem
er zurückschreckte, weil es unvereinbar war mit der »heroi¬
schen Ekstase«. Yeats’ komplexe Persönlichkeit schloß den
klarsichtigen und unheroischen Moralisten mit ein, der über
unsere Zeit schrieb:
Yeats hatte auch recht mit seiner Behauptung, daß die Lyri¬
ker, die vor Baudelaire und den Symbolisten schrieben, Mas¬
ken getragen hatten, selbst wenn es sich nur um die Masken
des Stils, der Form, der Konvention handelte - und nicht um
die personae, die in der symbolistischen und nachsymbolisti¬
schen Lyrik überhandnehmen. Wir mögen mit manchen von
Yeats’ Masken hadern und unsere Einwände gegen die dra¬
matischen Attitüden seines Anti-Ichs zum Ausdruck bringen;
aber es würde von einem absurden Wörtlichnehmen zeugen,
wenn wir seine Lyrik deshalb verdammen wollten, weil sie
nicht die Totalität der Wahrheit formuliert und verkörpert,
um die er die ganze Zeit wußte. »Die hochentwickelte mo¬
derne Psychologie klingt egozentrisch«, meinte Yeats, »wenn
sie in der ersten Person spricht, nicht aber tun das jene ein¬
fachen Gefühle, die, je stärker sie sind, desto mehr jeder¬
manns Gefühlswelt gleichsehen, und ich sollte bald eine
ui
Menge Gedichte schreiben, in denen ein in jedem Falle per¬
sönliches Gefühl zu einem juwelengeschmückten Muster aus
Mythen und Symbolen verwoben wurde.« Unter diesen »ein¬
fachen Gefühlen« waren auch atavistische und rohe; aber wir
wissen heute besser denn je, daß »jedermanns Gefühlswelt«
zuzeiten atavistisch und roh ist. Yeats’ lyrische Dichtungen
müssen vielleicht mehr als die irgendeines anderen Dichters
seiner Periode mit der Art von Einstellung des Objektivs ge¬
lesen werden, die wir sonst nur für dramatische Dichtungen
verwenden; und die erste Person in einem lyrischen Gedicht
sollte überhaupt in keinem Fall mit dem empirischen Ich des
Dichters gleichgesetzt werden. Ob sie nun vorwiegend be¬
kenntnishaft oder vorwiegend dramatisch ist, die erste Per¬
son in der Lyrik dient dazu, eine Haltung sichtbar zu machen,
nicht Identität mit dem Autor zu dokumentieren oder bio¬
graphische Fakten zur Geltung zu bringen. Nur dort, wo
Dichter dies vergessen, wird die erste Person »egotistisch«
und meistens zugleich recht langweilig. Yeats’ vielfache Ich-
Formen sind nie langweilig; und sie machen sehr viele ver¬
schiedene Haltungen sichtbar, die aus den verschiedensten
Seinsordnungen stammen. Jene Zeilen über den Krieg aus
Under Ben Bulben z. B. sagen etwas Wahres und psycholo¬
gisch Gültiges über den Kampfgeist, so wenig sie auch auf
den modernen Krieg passen und so zweifelhaft ihre politi¬
schen Implikationen sein mögen. Wie bei aller Lyrik, außer
der völlig verkleidet didaktischen, ist es die Aufgabe des Le¬
sers, auf die dramatische Attitüde zu reagieren, ohne selber
auf die Bühne zu springen. Es gibt kaum einen lesenswerten
modernen Dichter, der nicht von seinem Leser verlangt, daß
er »die Wahrheit der Maske« versteht und ihr Wesen mit
einkalkuliert.
112
5 Absolute Dichtung und absolute Politik
114
Die beiden Extreme können eine gleichzeitige Attraktion für
ein und denselben Dichter haben. Baudelaire fiel zur Zeit der
Barrikadenkämpfe 1848 einer wilden Revolutionsbegeiste¬
rung anheim. Yeats war zugleich der Fürsprecher für »aristo¬
kratische Haltung« und für »Rowdytum«. Und es war auch
nicht nur der irische Nationalismus, was Yeats an dem Auf¬
stand von 1916 feierte, als er schrieb: »A terrible beauty is
born« (»eine schreckliche Schönheit entstand«). Selbst der ge¬
walttätige Umsturz hat die Phantasie romantisch-symbolisti¬
scher Dichter fasziniert und erregt, und zwar fast unabhängig
von ihren politischen Sympathien. Alexander Blök war einer
aus der großen Zahl von Dichtern, die den Revolutionen zum
Opfer fielen, welche sie glorifiziert hatten.
Das einzige, was an der Haltung romantisch-symbolistischer
Dichter immer gleich bleibt, ist die Ablehnung des gesamten
Gebäudes der modernen Zivilisation; und selbst Robert Gra¬
ves, ein Dichter, der seine Entwicklungsjahre im Schützen¬
graben verbracht hat, war nicht in der Lage, sein poetisches
Kredo mit dem Utilitarismus zu versöhnen, der in jedem
höher entwickelten Land herrscht, ob es nun kapitalistisch,
sozialistisch oder kommunistisch ist. Was auch immer Gra¬
ves’ politische Ansichten sind - und sie gelten als gemäßigt
und liberal -, der Glaube, zu dem er sich im Vorwort zu
The White Goddess bekennt, könnte nicht romantischer, und
deshalb reaktionärer, sein:
Die Funktion der Dichtung ist die religiöse Anrufung der Muse;
ihr Nutzen liegt im Erfahren der musikalischen Verzückung und
des Schreckens, die ihre Gegenwart erregt. Aber »heutzutage«?
Funktion und Nutzen sind dieselben geblieben; nur die Anwendung
hat sich geändert. Diese war einst eine Warnung an den Menschen,
daß er in Ffarmonie mit der Bruderschaft der lebenden Geschöpfe
bleiben muß, in deren Mitte er hineingeboren wurde, und daß er
dies durch Gehorsam gegenüber der Dame des Hauses zu erreichen
hat; heute ist die Anwendung eine Mahnung daran, daß er die
Warnung mißachtet und das Haus von unterst zu oberst gekehrt
hat durch seine kapriziösen Experimente in Philosophie, Natur¬
wissenschaft und Industrie, und damit den Ruin für sich selbst und
seine Familie herbeigeführt hat. »Heutzutage« meint eine Zivilisa¬
tion, die die Hauptembleme der Poesie entehrt: Schlange, Löwe und
Adler gehören zum Zirkuszelt; Ochse, Lachs und Eber zur Kon¬
servenfabrik; Rennpferd und Windhund zum Wettbüro und der
heilige Hain zum Sägewerk. Der Mond wird als ein ausgebrannter
Satellit der Erde verachtet und die Frau zählt nur als »zusätzliches
Arbeitspotential«. Für Geld kann man fast alles kaufen außer
Wahrheit, und beinahe jeden außer den von der Wahrheit beses¬
senen Dichter.3
Ein Mensch, der die Welt mit völliger Skepsis betrachtet, kann
keine Gründe für eine moralische Autorität oder transzendente mo¬
ralische Verpflichtung erblicken; es kann für ihn so aussehen, als
gäbe es keinen Raum für seinen moralischen Perfektionismus. Er
kann diesen aber doch befriedigen, indem er seine Skepsis gegen die
bestehende Gesellschaft richtet und ihre Moral als minderwertig,
künstlich, heuchlerisch und als eine bloße Maske brandmarkt - als
eine Maske, hinter der sich Gier und Ausbeutung verbergen. Ob-
wohl eine solche Kombination von moralischer Skepsis mit mora¬
lischer Empörung unlogisch ist, wird beides in der Tat zusammen¬
geschweißt durch die gemeinsame Angriffsrichtung auf das gleiche
Ziel. Die Folge ist ein moralischer Haß gegen die bestehende Ge¬
sellschaft und die Entfremdung des modernen Intellektuellen. Die
Auswirkung auf sein Seelenleben geht sehr tief. Sein Skeptizismus-
cum-Perfektionismus lehnt jede Berufung auf sein eigenes traditio¬
nelles Moralempfinden ab . . . Mit sich selbst zerfallen, sucht er eine
Identität, die gegen den Zweifel an sich selber gefeit ist. Nachdem
er den Unterschied zwischen Gut und Böse als unaufrichtig ver¬
dammt hat, kann er immer noch auf die Aufrichtigkeit eines solchen
Verdammungsurteils stolz sein. Da gewöhnliches anständiges Ver¬
halten nie vor dem Verdacht sicher sein kann, es sei bloßer Konfor¬
mismus oder gar reine Heuchelei, kann nur eine absolut amoralische
und sinnlose Handlung den Menschen seiner völligen Authentizität
versichern. Der ganze moralische Eifer, den der wissenschaftliche
Skeptizismus von der Kontrolle der Religion freigesetzt und schlie߬
lich heimatlos gemacht hat, indem er seine eigenen Ideale in Zwei¬
fel zog, kommt dann zurück;, um eine amoralische Authentizität mit
einer intensiven moralischen Beglaubigung zu versehen . . . Dieses
Thema hat im abendländischen Denken eine Heimstätte gehabt, seit
vor einem Jahrhundert Dostojewski zum erstenmal den Mord als
ein Experiment des moralischen Skeptizismus beschrieb und Nietz¬
sche wenig später alle traditionellen Vorstellungen .von Gut und
Böse als Heuchelei von sich wies ... Dies sind einige individuali¬
stische Lösungen des Konfliktes zwischen Skeptizismus und Perfek¬
tionismus. Sie vereinigen die beiden opponierenden Auffassungen in
einem moralischen Nihilismus, der mit moralischem Zorn aufgela¬
den ist. Diese paradoxe Kombination ist neu in der Geschichte und
verdient einen neuen Namen; ich habe sie moralische Inversion ge¬
nannt. In der Politik führt die moralische Inversion zum Totali¬
tarismus.
Das Werk von W. B. Yeats ist voll von Beispielen für einen
»moralischen Nihilismus, der mit moralischem Zorn aufge¬
laden ist«; und sein Sympathisieren mit totalitären Bewegun¬
gen der politischen Rechten wurde geteilt von so verschieden¬
artigen Dichtern wie Rainer Maria Rilke, Wallace Stevens,
Ezra Pound, Gottfried Benn und dem Futuristen F. T. Mari-
netti. Der Konservatismus von Hugo von Hofmannsthal und
T. S. Eliot war weniger nihilistisch in seiner Begründung und
weniger »mit moralischem Zorn aufgeladen«; aber Hof¬
mannsthal griff das gefährliche Schlagwort von der »konser¬
vativen Revolution« auf - einen Begriff, der auch den ver-
schiedenen nationalistischen Parteien teuer war, die dem Na¬
zismus in Deutschland und Österreich den Weg bahnten
und Eliots »Idee einer christlichen Gesellschaft« war so abso¬
lut und utopisch, daß sie mit der freiheitlichen Demokratie
unvereinbar war. Stefan Georges Kult des »Caesarentums«
hatte offenkundige Berührungspunkte mit den Caesaren-
posen Mussolinis, wenn auch George nicht den Anbiederungs¬
versuchen der nationalsozialistischen Führer nachgab, deren
»Rowdytum« seiner anspruchsvollen »Aristokratenhaltung«
unsympathisch war/'’' (Hofmannsthal fand Georges »Aristo¬
kratenhaltung« im ganzen »zu bürgerlich«; und es ist rich¬
tig, daß der ganze Zug zu sektiererischen Kultur-Eliten eine
bürgerliche Erscheinung war. Dennoch war es ein adeliger
Jünger Stefan Georges, Graf Stauffenberg, der versuchte, Hit¬
ler zu ermorden.) Jedenfalls waren diese ganzen Sympathien
eingeschränkt durch wichtige Vorbehalte. In den meisten
Fällen waren sie von kurzer Dauer, wurden durch andere
Aussprüche oder Entscheidungen Lügen gestraft, oder wurden
tatsächlich widerrufen, wenn das Wissen um die politischen
Wirklichkeiten früher oder später gegenüber dem Reiz der
politischen Gesten überwog. Und trotzdem - man kommt
um die Tatsache nicht herum, daß der »moralische Perfektio¬
nismus« all dieser Dichter mit dem »bürgerlichen Liberalis¬
mus« einfach nicht zurechtkam, daß ihre Phantasie dessen
Grundvoraussetzungen und Institutionen ablehnte, selbst
dort, wo ihre Vernunft zugeben mußte, daß derselbe bürger¬
liche Liberalismus ihnen das gab, was sie am nötigsten
brauchten, die Freiheit, anderer Meinung zu sein, ihre eigenen
Wertvorstellungen Vorbringen zu können und den »com¬
mon dream« zu verachten.
I 20
zählt, ist ihre kraftvolle Beschwörung von Mächten, die nur
wenige unter seinen Zeitgenossen erkannten (obwohl Hof¬
mannsthal, der 1929 - zehn Jahre vor Yeats - starb, sie in
seinem späten Drama Der Turm erkannt hatte: Hofmanns¬
thal bemerkte zwar, daß »die Einbildungskraft konservativ
sei«, aber seine eigene Einbildungskraft konnte so prophetisch
und apokalyptisch sein wie die von Yeats). O’Briens Kom¬
mentar zu Leda and the Swan sagt alles, was über die Art
gesagt werden muß, in der die Gedichte von Yeats’ »fana¬
tischem Herzen« profitierten, von der Fähigkeit zum Haß,
die Yeats’ politische Ansichten für O’Brien und die meisten
Yeats-Leser unannehmbar macht.
Aber in der Lyrik machen sich die rohen Verkündigungen dessen,
was drohend bevorsteht - die telepathischen Wellen von Gewalt¬
tätigkeit und Angst - bemerkbar, nicht in Form von wohlkalku¬
lierten praktischen Folgerungen, sondern in dem Versuch, durch
metaphorische Einsicht zu offenbaren, was tatsächlich geschieht und
sogar, in einem weiten Sinne, was unmittelbar bevorsteht. Der
Dichter ist wie die Dame (Leda)
so caught up,
So mastered by the brüte blood of the air
(so hingestreckt,
So unters wilde Blut der Luft gepreßt)5a
Yeats ist einer der Dichter, die Frank Kermode »die neuen
Apokalyptiker« genannt hat.8 Auch Kermode macht die Dis¬
krepanz zwischen Yeats’ moralischem Relativismus und den
121
Glaubensüberzeugungen oder halben Überzeugungen, deren
er sich für seine Dichtung bediente, Sorge. »Im Grund«,
schreibt Kermode, »war er skeptisch gegenüber dem Unsinn,
mit dem er das befriedigte, was wir seine Begierde nach En¬
gagement nennen könnten. Hie und da glaubte er an einiges
darin, aber insofern, als sein wahres Engagement die Poesie
war, erkannte er, daß seine Fiktionen heuristisch und ent¬
behrlich waren, >wissentlich falsch«. >Sie liefern mir Meta¬
phern, mit denen ich Lyrik machen kann«, stellte er fest.«
Und doch läßt sich die Diskrepanz nicht wegdiskutieren; und
wir werden sehen, wie spätere Dichter dann dazu kamen, der
Metapher selbst zu mißtrauen, weil sie sich zu einer Art Be¬
trug hergibt, uneingestandene Verschiebungen und Übertrei¬
bungen von einem Wirklichkeitsbereich in den anderen. Ker¬
mode schreibt von Yeats’ »Flucht in den Mythos und in die
Rituale des Okkulten; auf der einen Seite waren die Krämer
der Logik, auf der anderen die verlockenden und schillernden
Formen des Nichtvernünftigen«. O’Brien hat gezeigt, wie ge¬
rade diese Flucht in den Mythos die ursprünglichen Intentio¬
nen des Dichters vereiteln und das Gedicht von seinem Anlaß
erlösen konnte. In anderen Fällen trat, wie Kermode bemerkt
hat, das genaue Gegenteil ein: die pragmatische Realität
machte sich in Yeats’ dichterischer Sprache geltend, nahm
seinem politischen Zorn den Wind aus den Segeln und er¬
setzte die Apokalypse durch Erfahrung. »Was ihn letzten
Endes rettete, war ein Vertrauen, das zu den Grundlagen
der gesamten europäischen Tradition gehört, ein Vertrauen
in die Alltagssprache, die Sprache des gewöhnlichen Lebens,
mit deren Hilfe wir Tag für Tag die Realität, wenn auch
nicht die platonische Idee einer absoluten Korrektheit, mei¬
stern. Alles hängt ab von einer Fähigkeit,
122
Das trifft allerdings nur für die Lyrik zu, wie Kermode im
weiteren betont. »Die apokalyptischen Träume sind viel¬
leicht dann, wenn sie das wache Denken usurpieren, die
übelsten Träume«, schreibt er, und er zitiert Deweys Bemer¬
kung, daß »selbst ästhetische Systeme die Ursache einer Hal¬
tung zur realen Welt werden und offenkundige Wirkungen
zeitigen können.« In Yeats sieht Kermode einen vereinzel¬
ten Fall, in dem »totalitäre Theorien über die künstlerische
Form mit einer totalitären politischen Einstellung gekoppelt
erscheinen oder sich in einer totalitären politischen Einstel¬
lung spiegeln«; und »der einzige Grund dafür, daß dies ohne
Bedeutung ist, ist darin zu sehen, daß er keinen Einfluß auf
diejenigen hatte, die seine Glaubenssätze einem Gebrauchs¬
text hätten unterziehen können«.
Unter welchem Blickwinkel wir ihn auch betrachten, der Fall
Yeats ist paradox, nicht zuletzt deshalb, weil er seine Dich¬
tung aus einem Konflikt mit sich selbst machte, anstatt aus
den Lösungen dieses Konflikts - obwohl auch die Lösungen
von Bedeutung sind, erklären sie doch Yeats’ außerordent¬
liches Fortschreiten von melancholisch-romantischen Träume¬
reien zu prophetischen oder unerbittlich realistischen Begeg¬
nungen mit dem »Savage God« (»barbarischen Gott«) - eine
Entwicklung, die ihn im Alter Zeilen schreiben ließ, die so
neu, intensiv und doch scheinbar mühelos wirken wie diese:
A barnacle goose
Far up in the Stretches of night; night splits and the dawn breaks
loose;
I, through the terrible novelty of light, stalk on, stalk on;
Those great sea-horses bare their teeth and laugh at the dawn.7
(Eine Ringelgans
Hoch droben in den Weiten der Nacht; Nacht birst und die Däm¬
merung reißt sich los;
Und ich, ich schreite, schreite dahin durch die schreckliche Neuheit
des Lichts,
Und die großen Walrosse blecken die Zähne und lachen der Dämm¬
rung entgegen.)
123
Strophen zu erfahren, die er beschworen hatte. Trotz seines
Gebrauchs von Masken ließ Yeats sich nicht durch ein ästhe¬
tisches oder irgendein anderes System von Schlägen und Stö¬
rungen und Zusammenbrüchen isolieren. »Von seinen Gefüh¬
len ohne Furcht oder moralische Ambition reden, sich unter
dem Schatten des Denkens anderer Leute hervorwagen, ihre
Nöte vergessen, von Grund auf man selbst sein - das ist alles,
was die Musen interessiert.«8 Unter allen Masken von Yeats
spüren wir den Drang, »von Grund auf man selbst zu sein«,
obwohl ihn allein die Masken in die Lage versetzen, die Viel¬
falt dieses Selbst ohne Verlust der Intensität und Dichte wie¬
derzugeben, und ebenso die Universalität, die er der Tradi¬
tion verdankte und die er in den großen Lyrikern und Tra¬
gikern fand, die vor ihm geschrieben hatten: »Diese Schaf¬
fensfreude hat den Schmerz rein erhalten, genauso wie sie es
getan hätte, wenn das Gefühl Liebe oder Haß gewesen wäre;
denn der Adel der Kunst liegt in der Vermischung von Gegen¬
sätzlichem: dem Äußersten an Schmerz, dem Äußersten an
Freude, Vervollkommnung der Persönlichkeit, Vervoll¬
kommnung auch ihrer Preisgabe, Überborden der stürmischen
Energie und wunderbarer Stille . . .« Da »wir nur an die Ge¬
danken glauben, die nicht nur im Gehirn, sondern mit dem
ganzen Körper gefaßt worden sind«, zumindest soweit es sich
um Dichtung handelt, drängen sich Yeats’ Ansichten dem Le¬
ser viel weniger auf, als es die Ansichten anderer, konsequen¬
ter moderner Dichter wie Ezra Pound tun. Yeats selber
schrieb in seiner spät verfaßten General Introduction for My
Work, »Ich habe die Literatur des festen Standpunktes stets
gehaßt, und ich hasse sie noch immer mit einem sich ständig
vermehrenden Haß«. Abgesehen von ein paar offensicht¬
lichen Entgleisungen vermittelt uns Yeats’ Lyrik nicht nur
den moralischen Zorn, sondern auch die tragische Einsicht des
Dichters, der vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb:
124
(Die Kultur wird zusammengehalten, wird
Unters Gesetz gezwungen, unter den Anschein von Frieden
Durch vielerlei Illusion; doch des Menschen Leben ist Denken,
Und seinem Schrecken zum Trotz kann er’s nicht lassen
Raubend durch Jahrhundert um Jahrhundert zu gehn,
Raubend, rasend, ausreißend alles, damit er endlich
Ankomme in der trostlosen Öde der Wirklichkeit...)
Was immer unser Standpunkt sein mag und was immer Yeats’
Standpunkt war, als er diese Zeilen schrieb, selbst eine so all¬
gemein gehaltene und undramatische Feststellung muß uns
überzeugen, nicht bloß wegen der meisterhaften Modulation
und Kontrolliertheit des Blankverses, sondern deshalb, weil
die Feststellung wahr ist; und die Ereignisse, die Yeats nicht
mehr erleben sollte, haben ihre Wahrheit nicht weniger, son¬
dern mehr zur Erscheinung gebracht.
Wenn wir Yeats’ Ansichten untersuchen, finden wir, daß sie
alle ihr Korrektiv oder ihre Ergänzung in seinem eigenen
Werk haben. Seine pro-faschistischen Tendenzen werden z. B.
modifiziert durch sein Zugeständnis, »Ich bin kein Nationa¬
list, außer in Irland, wo ich es aus zeitbedingten Gründen
bin«, und diese »zeitbedingten Gründe« dürfen nicht außer
acht gelassen werden; sie werden auch durch die folgende
psychologische Bemerkung modifiziert, die er gemacht hat:
»Alle leeren Seelen neigen zu extremen Ansichten. Nur bei
denen, die eine reiche Welt von Erinnerungen und Denkge¬
wohnheiten in sich aufgebaut haben, verletzen extreme An¬
sichten den Wahrscheinlichkeitssinn. Z. B. können Behaup¬
tungen, die alle Wahrheit einer Seite zusprechen, nur in
kranke Gehirne Eingang finden, um sie zu verrenken und zu
verzerren, wenn sie überhaupt Eingang finden; und früher
oder später stößt sie der Geist instinktiv wieder ab.«10 Die
meisten der extremen Ansichten und Haltungen in Yeats’
Werk gehören zu seinem Anti-Ich. Der Yeats, der bekannte
»Ich habe keine Lösung, keine einzige«, war der vernunftge¬
leitete Mann, der an der »Vervollkommnung des Lebens«
verzweifelte, weil er wußte, daß die Art Vollkommenheit,
die er für sein Werk anstrebte, nicht ohne die Hilfe seiner
»Zirkustiere« erreichbar war, ohne die Hilfe jener Stilmaske,
die abzulegen selbst der Prosaschriftsteller Yeats selten fer¬
tigbrachte.
Yeats’ Teilnahme sowohl an der Bewegung, die die irische
Literatur neu zu beleben versuchte, als auch an den poli¬
tischen Entwicklungen, die so eng damit verbunden waren,
verschärfte seine moralischen und künstlerischen Konflikte.
Aber die Wahl zwischen »Vollkommenheit des Lebens« und
»Vollkommenheit des Werkes« war auch anderen Dichtern
vertraut, di^weniger Gelegenheit als Yeats hatten, die apo¬
kalyptische Phantasie auf ihre politische Aktivität übergrei¬
fen zu lassen. Auch Paul Valery bemerkte: »Jeder, der Werk
sagt, sagt Opfer. Das zentrale Problem ist zu entscheiden,
was man aufopfern wird: man müßte wissen, wer, wer auf¬
gefressen werden wird.»11 Als französischer Intellektueller
blieb Valery freilich bewahrt vor apokalyptischen Neigungen
durch die Tradition einer skeptisch, analytisch und psycholo¬
gisch forschenden Intelligenz - eine Tradition, die auf die
französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts und noch wei¬
ter bis Montaigne zurückgeht und die seine Prosawerke fort¬
setzten, trotz seiner »Übungen« in absoluter Lyrik. Yeats
könnte nie geschrieben haben: »Eine politische oder künst¬
lerische Meinung sollte etwas so Vages sein, daß sie ein und
dasselbe Individuum unter ein und derselben Gestalt jeder¬
zeit seinen Stimmungen und Interessen anzupassen vermag;
daß er damit sein Handeln rechtfertigen, seine Parteinahme
erklären kann.«12 Yeats’ Definition des Gentleman - eines der
Beispiele für seine Beeinflussung durch die englische Kultur
und Moral - verbot einen so gewollten Relativismus.
In ähnlicher Weise hielt eine sehr französische Abneigung
dagegen, sich lächerlich zu machen, Valery davon ab, Prophe¬
zeiungen zu riskieren, wenn er sich in Schriften wie La Poli-
tique de l’esprit oder Regards sur le monde actuel mit poli¬
tischen und aktuellen Themen beschäftigte, etwa der »Krise«
der europäischen Kultur, zu der seine Lyrik so wenig zu sa¬
gen hatte, verglichen mit Yeats’ apokalyptischem Wissen
vom Zerfall der Dinge, die ihren Mittelpunkt verloren ha¬
ben. Ähnliche Äußerungen von Hugo von Hofmannsthal
und insbesondere sein Vortrag Das Schrifttum als geistiger
Raum der Nation (1927) zeigen, wie klug Valery war, wenn
er sich diese Art von Beschränkung auferlegte. Hofmannsthals
Thema hat vieles mit dem von Valery gemeinsam. Als Sozial¬
kritiker und Kulturpolitiker waren beide zutiefst beunruhigt
126
durch die Veränderungen nicht nur in den Institutionen, son¬
dern in der gesamten Mentalität des Abendlandes, die sich
zwischen den beiden Kriegen vollzogen. Tatsächlich ist die
von Valery in La Politique de l’esprit vorgenommene Analyse
dessen, was die Technologie und der Konformismus dieser
Mentalität antat, vernichtender als die von Hofmannsthal in
seinem Vortrag geäußerten Befürchtungen wegen der die Mitte
verlierenden Hybris seiner Zeitgenossen. Aber Valery wurde
durch seinen »Horror vor Prophezeiungen« dazu veranlaßt,
seine Analyse mit dem Eingeständnis abzuschließen, daß er
»keine Lösung habe«, »keine einzige«, daß er nicht wisse, was
aus der Menschheit werden würde, und daß er seinem Publi¬
kum nur den Rat geben könne, auf alles gefaßt zu sein, oder
auf »fast alles«. Hofmannsthal dagegen versuchte eine Syn¬
these; dabei gebrauchte er die Worte »Konservative Revolu¬
tion« und überschritt damit die gefährliche Grenze zwischen
kulturkritischer Analyse und aktiver Politik, zwischen Dia¬
gnose und Rezept. Hofmannsthal war kein Faschist oder
Mitläufer des Faschismus, und die Nationalsozialisten sollten
später seine Werke in Bann tun, weil er einen jüdischen oder
»nicht-arischen« Großvater hatte; aber die »konservative
Revolution« wurde zum Schlagwort einer Reihe von extrem
nationalistischen und dem Faschismus nahestehenden Grup¬
pen in Österreich und Deutschland. Hofmannsthals verzwei¬
felter Konservatismus, der sich in Geist und Absicht völlig
von den Programmen aller politischen Parteien seiner und
einer späteren Periode unterschied, wurde in seinen dichteri¬
schen Werken durch Ironie, Selbstkritik und Liberalismus
abgemildert. In jenem öffentlichen Vortrag schlug seine poe¬
tische Phantasie eine Lösung vor, die rhetorischer und drasti¬
scher war, weil die poetische Phantasie zur Utopie, Apoka¬
lypse und Prophetie neigt, wenn sie nicht mit der Art von
Realitäten befaßt ist, mit der es Hofmannsthal als Erzähler
und Dramatiker zu tun hatte.
Valery kannte seine Grenzen. Er wußte, daß Literaten durch¬
aus dazu befähigt sind, Gesellschafts- und Kulturkritik anzu¬
bieten, daß sie aber im allgemeinen »keine Lösung, keine ein¬
zige« haben, wenn es um die Wahl von Übeln geht, die mit
der praktischen Politik unabdingbar verbunden sind. Außer¬
dem erschwerten es ihm sein durchgängiger Skeptizismus und
127
sein Individualismus, der ständig an der Schwelle zum Solip¬
sismus stand, die Politik ernst zu nehmen. »Alle Politik«,
schrieb er, »gründet auf der Gleichgültigkeit der Mehrzahl
derjenigen, die davon betroffen sind; wäre es anders, so wäre
keine Politik möglich.«13 Er konnte bestenfalls ein zynischer
Beobachter von Ereignissen sein, denen er weniger Wichtig¬
keit beimaß als den Veränderungen in den geistigen Gewohn¬
heiten und Arbeitsverfahren seiner Zeitgenossen: »Große Ge¬
schehnisse sind vielleicht nur für kleine Geister große Ge¬
schehnisse. Das, was für wachere Geister zählt, sind die kaum
wahrnehmbaren und fortlaufenden Ereignisse.« Valery hat
aus diesen Gründen beinahe nichts über die politischen Be¬
wegungen und Konflikte zu sagen, die dabei waren, seine
eigene individualistische und bürgerliche Kultur hinwegzu¬
fegen, obwohl er doch in der Analyse von »wacheren Gei¬
stern« Bedeutendes geleistet hat. Bei all ihren politischen Un¬
klugheiten waren sowohl Yeats als auch Hofmannsthal in en¬
gerer Berührung mit dem Zeitgeist und hatten mehr Gespür
für dies Beben und unterirdische Grollen eines gewalttätigen
Zeitalters. Einer der Gründe ist der, daß beide weniger zum
Solipsismus neigten als Valery, daß sie sich stärker mit der
condition humaine im allgemeinen beschäftigten ynd daß für
sie bestimmte nationale und soziale Gesellschaftsgruppen von
Interesse waren, nämlich ihre eigenen.
128
Gautier proklamiert - wurde dieser Mittelweg oft in der
Praxis gefunden, aber selten in der Theorie. Von Anfang
an gab es bei den Dichtern eine Tendenz, die Autonomie
der Kunst mit der Autonomie des Künstlers zu verwechseln,
eine Verwechslung, die in einem Zeitalter, das den Künstler
als Helden und »Repräsentanten der Menschheit« verehrte,
besonders leicht eintreten konnte. Paradoxerweise bestand
dieser »Repräsentant der Menschheit« auf seiner Einzigartig¬
keit, ja auf all den Dingen, die ihn von der Menschheit als
Ganzes trennten und isolierten. Daher erklärt sich das immer
wieder festzustellende Unbehagen der Dichter über ihr »em¬
pirisches Ich« und das Kultivieren von Masken oder einer
starken Unpersönlichkeit - beides Auswege, die ihr Unbeha¬
gen in eine neue Art imaginativer und moralischer Freiheit
wandelte. Ohne diese Freiheit, die von den verschiedenartig¬
sten Dichtern durch ganz Europa und Amerika in der ver¬
schiedenartigsten Weise genutzt wurde, hätte es eine moderne
Eyrik von der Art, wie sie international in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts gedieh, nicht gegeben. Die besten Ge¬
dichte von K. P. Kavafis z. B. sind historische persona-Ge¬
dichte, die ihre intellektuelle Brillanz und ihre Lebendigkeit
dieser Freiheit verdanken - und das geht so weit, daß Kava¬
fis’ empirisches Ich nur in seinen Verkleidungen gegenwärtig
ist, daß es sich nur in seinen Verwandlungen erfüllt. In einem
etwas geringeren Maße trifft das auf die meisten bedeuten¬
deren modernen griechischen Dichter zu, die ja eine besondere
Gabe haben, ein modernes Lebensgefühl mit den Figuren und
Landschaften von Geschichte oder Mythos zu verschmelzen.
Im Werk von Giorgos Seferis wird persönliches Erleben -
einschließlich der politischen Erfahrung, Zweifel und Be¬
fürchtungen über den Zustand seines Landes, Exil, Verlust,
Einbuße und Wiedergewinnung - mit einem solchen Feinge¬
fühl in die Figuren und Bilder übersetzt, die ihre »objektiven
Korrelate« sind, daß einzig irgendwelche belanglose biogra¬
phische Informationen einen dazu bringen könnten, sein em¬
pirisches und sein poetisches Ich auseinanderzuhalten. Eine so
scheinbar mühelose und restlose Transposition verlangt mehr
als nur die Bereitschaft, sich eine Maske überzuziehen; im
Falle von Seferis sind die rivalisierenden Ansprüche der
Ästhetik und des Wirklichkeitserlebens in Wahrheit versöhnt
129
durch eine Unpersönlichkeit, die kein berechneter Kunstgriff
ist, sondern einer Überzeugung entspringt, daß das Ganze
größer ist als der Teil, das individuelle Bewußtsein unwich¬
tiger als das, was es enthält. Eine ähnliche Überzeugung er¬
füllt das Werk T. S. Eliots, aber die Traditionen, von denen
er sich die Aufrechterhaltung seiner Unpersönlichkeit ver¬
sprach, konnten nicht so leicht für selbstverständlich gehalten
werden, sie waren weniger naheliegend, verschiedenartiger
und problematischer. Eliots frühe Vorliebe für das Werk La-
forgues und Corbieres, also der Dichter, die wie kaum jemand
anders ihr Ich in Frage stellten, deutet einige seiner Schwierig¬
keiten an.
Paul Valery sagte einmal, daß »Tradition und Fortschritt
zwei große Feinde der Menschheit sind«15 - ein Beispiel für
seinen einfallsreichen und boshaften Humor; aber er ging an¬
schließend dazu über, die ambivalente, wenn nicht positiv
feindselige Haltung von Dichtern des 19. Jahrhunderts zum
Fortschritt in Naturwissenschaft und Technologie zu unter¬
suchen. Edgar Allan Poe wird oft als Beispiel eines Dichters
der Romantik zitiert, der sich gegen diese Art von Fortschritt
stellte, aber zugleich neue wissenschaftliche Entdeckungen in
seinen Werken als Motive bemühte. Im Gefolge Poes wurde
Villiers de l’Isle-Adam, dieser Ästhet durch und durch, zu¬
gleich einer der Väter der modernen Science-Fiction, als er
den Roman L’Eve juture schrieb. Die romantisch-symboli¬
stische Fyrik andererseits konnte nicht einmal einen derart
doppeldeutigen Gebrauch von den Naturwissenschaften ma¬
chen, weil ihre Spezialisierung eine rein ästhetische war und
deshalb unweigerlich mit der zunehmenden Spezialisierung
der naturwissenschaftlichen Forschung in Konflikt kam und
ebenso mit einer Technologie, von der sie das Gefühl hatte, sie
sei ebenso materalistisch, wie sie »der Zeremonie der Un¬
schuld« erbarmungslos zuwiderlief. Valerys eigenes Werk
zeigt das Ausmaß der Kluft zwischen intellektueller Neugier
in der Prosa und mythenschaffendem Atavismus im Vers.
Diese Kluft konnte zufriedenstellend von denjenigen Dich¬
tern überbrückt oder geschlossen werden, die in den technisch
unterentwickelten Teilen Europas oder Amerikas lebten und
dichteten oder die ohne allzuviele Mühe aus der Erinnerung
an einen solchen Hintergrund schöpfen konnten. Der spa-
130
nische Dichter Juan Ramön Jimenez z. B. brachte es noch
fertig zu glauben, daß »jeder, der in einer Disziplin Fort¬
schritte macht (Dichtung z. B., Religion, Kunst oder Natur¬
wissenschaft usw.), zwangsläufig in allen anderen Fortschritte
machen wird, auch wenn er sie nicht für Gebiete hält, die
seine persönlichen Fachdisziplinen sind«.16 Der gleiche Dich¬
ter versuchte, die fortschrittsfeindliche Tendenz der roman¬
tisch-symbolistischen Dichter mit einer humanistischen Be¬
jahung der freiheitlichen Demokratie zu versöhnen; und
einen ebensolchen Versuch unternahmen sein Altersgenosse
Antonio Machado und die meisten Vertreter der nächsten
Dichtergeneration in Spanien, der Generation von Lorca,
Alberti, Aleixandre, Alonso, Guillen und Cernuda. 1941 gab
Jimenez den Worten »Demokratie« und »Aristokratie« eine
solche Neudefinition, daß dadurch die gesellschaftliche und
politische Unvereinbarkeit der beiden Begriffe herabge¬
schraubt wurde. Die Herkunft aus der poetischen Phantasie
wird aber offenbar, wenn er die »Aristokratie« mit dem
Bauerntum gleichsetzt, weil »es keine exquisitere Form des
Adels gibt, als in der freien Luft zu leben«.17 Es ist schwer,
sich einen Dichter mit einem großstädtischen Hintergrund
vorzustellen, der 1941 einen solchen Ausspruch gewagt hätte,
ohne dabei das spöttische Gekicher der Soziologen hinter sei¬
nem Rücken zu hören. Selbst Yeats’ Vorliebe für das Bauern¬
tum wird als eine reaktionäre Geste gewertet - und Yeats
war Ire. Jimenez machte zwar klar, daß seine Aristokratie
kein Geburtsadel war, den Yeats ja ebenfalls glorifizierte;
aber wie Yeats glaubte er, daß man »immer und überall mit
Poesie enden« müsse, denn sie sei »der unvergleichliche Aus¬
druck von Adel«.
Dies sind die Worte eines Dichters, der seine Bevorzugung
der freiheitlichen Demokratie dadurch bewies, daß er nach
dem Bürgerkrieg seine Heimat verließ. Diese politische und
moralische Entscheidung und die Prämissen romantisch-sym¬
bolistischer Dichtung sind zwei Sachen, die nichts miteinander
zu tun haben. Als Dichter konnte Jimenez sich eine Kultur,
die ihre Wurzeln nicht in der Natur und in der Tradition
hatte, einfach nicht vorstellen. In einem anderen Essay aus
derselben Zeit macht er einen spezifischen Unterschied zwi¬
schen Lyrik und Literatur. »Der Literat macht kaum je einen
Fehler«, stellt er fest, »fast immer fängt er die Teller, die er
in die Luft geschleudert hat, wieder auf, und wenn einer her¬
unterfällt, dann fällt er irgend jemand anderem auf den
Kopf. Der Dichter verliert gewöhnlich einige Teller, aber sie
fallen niemand auf den Kopf, sie verlieren sich im Unend¬
lichen; denn er ist ein guter Freund des freien Raums.« Der
Literat weiß, mit anderen Worten, was er tut und was er tun
will; aber »Poesie wird nie von jedermann erfaßt, sie ent¬
zieht sich stets, und der wahre Dichter, der gewöhnlich ein
ehrenwerter Mann ist, weil er die Gewohnheit hat, mit der
Wahrheit zu leben, weiß, wie er sie sich entziehen lassen
kann . . .« Jimenez schließt daraus, daß »die Literatur ein
Kulturzustand ist, die Poesie dagegen ein Stand der Gnade
vor und nach der Kultur«.
Jimenez hatte vollkommen recht, wenn er implizierte, daß
der Vorrang der Phantasie in der Lyrik die totale Integrie¬
rung und Assimilierung der poetischen Werte in irgendeine
der sozialen oder kulturellen Ordnungen, die in der moder¬
nen Welt existieren, verbietet; und er hatte genauso recht,
wenn er seine politischen und moralischen Entscheidungen
von seinem Wissen, daß dem so ist, getrennt hielt. »Die Ima¬
gination ist autonom«, schrieb er, »und ich bin ein imagina¬
tiver Autonomist.«18 Im Gegensatz zu so vielen seiner Dich¬
terkollegen erkannte er aber die Grenzen der autonomen
Phantasie und versagte sich alle aggressiven Ausfälle über
ihre Grenzen hinaus. Das war der Zweck seiner Unterschei¬
dung zwischen Poesie und Literatur, zwischen der Kunst, die
instinktiv um ihrer selbst willen betrieben wird, und der
zunftmäßigen Fertigkeit, die »von der äußeren Welt besessen
ist, die sie zu inkorporieren hat«. Weil die Lyrik ein »Gna¬
denstand« ist - »ist der Dichter, schweigend oder schreibend,
ein abstrakter Tänzer; und wenn er schreibt, dann tut er es
aus einer Alltagsschwäche heraus, denn wenn er wahrhaft
konsequent sein wollte, dürfte er eigentlich nicht schreiben.
Der, der schreiben soll, ist der Literat«.19
Yeats, Valery und Hofmannsthal gehörten zu der großen
Zahl jener in der romantisch-symbolistischen Tradition ste¬
henden Dichter, die von den stummen Künsten fasziniert
waren, wobei sie nicht sosehr »den Zustand der Musik« an¬
strebten als vielmehr den Zustand des Schweigens; und »der
132
Tanz ist«, wie Frank Kermode geschrieben hat, »die primi¬
tivste und eine von der Sprache unabhängige Kunstart, eine
Kunst, die ein vorwissenschaftliches Bild des Lebens vermit¬
telt, eine intuitive Wahrheit. Daher ist der Tanz das Emblem
des romantischen Bildes. Der Tanz gehört zu einer Epoche,
bevor das Ich und die Welt sich voneinander getrennt haben,
und bewerkstelligt daher auf natürliche Weise die >ursprüng-
liche Einheit^ die die moderne Lyrik nur durch eine große
und bis zur Erschöpfung gehende Anstrengung wiederher¬
stellen kann«.20 Jimenez läßt vermuten, daß nicht die Lyrik,
sondern die Literatur »diese große und bis zur Erschöpfung
gehende Anstrengung« zu machen habe. Für ihn als Spanier
war es leichter als für die meisten jener Dichter, die Frank
Kermode in Romantic Image behandelt hat, »die Zeremonie
der Unschuld« zu bewahren und die Einfachheit und Schlicht¬
heit zu erreichen, die in einem Gedicht über die Lyrik aus sei¬
nen Eternidades (1918) gefeiert und beschrieben wird, das so
anhebt
*33
neuen Technologie waren. Jimenez hatte den Vorteil, daß er
durch die Dinge, denen er sich gegenübergestellt sah, nicht zu
pseudopolitischen Gesten veranlaßt wurde, da sie Teile einer
noch weitgehend vorindustriellen Natur und Lebenshaltung
waren. Er konnte es der »Literatur« überlassen, die anderen
Dinge, die Produkte des Maschinenzeitalters, zu akzeptieren
oder zu verwerfen.
04
derfolgenden Phasen seines Lebens ebenso deutlich wird wie
aus der Vielzahl seiner Masken und personae, auf einer aus¬
drücklichen Betonung der Sanftheit, Empfindsamkeit und Mit¬
leidsfähigkeit gründete. Im Gegensatz zu seinem nur wenig
älteren Zeitgenossen Stefan George fing Rilke nicht mit einem
strengen ästhetischen Regelkanon und einer Haltung von
strikter Exklusivität an, sondern mit der Bereitschaft, für
nahezu jede Erfahrung offen zu sein und sich nahezu aller
literarischen Vorbilder zu bedienen, denen er begegnete. Nach
der romantischen Art, in der ein Großteil seiner frühen Lyrik
gehalten ist, folgte er den Naturalisten - Georges höchstem
Greuel - in einer Mitleidspoesie, die ihre Inspiration aus der
Großstadtszene seiner Zeit bezog und in der er sich vor al¬
lem mit den Ausgestoßenen der großen Metropole, den Ar¬
men, Kranken und Unterdrückten identifizierte. Dann kam
der pseudo-christliche und pseudomystische Lyrismus des
Stundenbuchs, der im Buch der Lieder vorweggenommen
worden war - und die Reaktion gegen die Subjektivität die¬
ses pseudo-religiösen Lyrismus in den »Dinggedichten« der
Neuen Gedichte, die unter dem Einfluß von Rodin und Ce-
zanne entstanden, als bewußte Versuche, die Disziplin der bil¬
denden Kunst auf die Poesie zu übertragen. In den kritischen
Jahren zwischen 1908 und der Vollendung der Duineser Ele¬
gien und der Sonette an Orpheus im Jahre 1922 erwies Rilke
seine Empfänglichkeit für viele neue Strömungen in der Ly¬
rik, in den anderen Künsten und in der Gesellschaft - ein
scheinbar kosmopolitischer Geist, der in den Palästen und
Slums von Europa zu Hause war, mit Aristokraten und Ar¬
beitern verkehrte, der »reinen« Lyrik Valerys ebensoviel Of¬
fenheit entgegenbrachte wie der weniger »reinen« Lyrik Su¬
pervielles und der entschieden engagierten Lyrik der politisch
revolutionären deutschen Expressionisten. Die Experimen¬
tierfreudigkeit der Gedichte, die in dieser Zeit geschrieben,
aber nicht als Sammlung herausgegeben wurden, machte Rilke
zu einem entschieden modernen Dichter, der hier seinen fast
gleichaltrigen Dichterkollegen George und Hofmannsthal
weit voraus war. (Hofmannsthal hatte sich ohnehin dem
Drama und diversen Arten der erzählerischen oder kritischen
Prosa zugewandt, in einer verzweifelten Anstrengung, die
T35
Kluft zwischen romantisch-symbolistischer Kunst und Gesell¬
schaft zu überbrücken.)
Erst 1956, dreißig Jahre nach Rilkes Tod, erschienen seine
Lettres milanaises, 1921-192621, die er auf französisch an die
italienische Herzogin Gallarati-Scotti geschrieben hatte.
Diese Briefe lassen erkennen, daß er gegenüber dem neuen
Nationalismus in Europa eine ebenso zweideutige Haltung
einnahm, wie er sie gegenüber dem Ersten Weltkrieg einge¬
nommen hatte. Seine eigene notorische Entwurzeltheit hinderte
ihn nicht daran, der Herzogin zu schreiben, daß »Internatio¬
nalismus« und »Humanismus« nicht mehr seien als abstrakte
Ideen - und das im Zusammenhang mit einer Verteidigung
von Mussolinis Faschismus. An dieselbe Adressatin schrieb er:
136
Her-Wechseln zwischen der persona des Aristokraten und der
des Paria zu verzeichnen, ein Pendeln, das ganz besonders
deutlich in den Paris-Episoden von Die Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge zum Ausdruck kommt und ebenso in
dem Abschnitt des Buches, der mit Bibliotheque Nationale
überschrieben ist. Dieses Schwanken geht auf Baudelaire zu¬
rück, dessen Präsenz in den genannten Episoden so spürbar
ist. Im Malte Laurids Brigge schreibt Rilke auch über die Not¬
wendigkeit, Masken zu verwenden: »Ich hatte nie Masken
gesehen vorher, aber ich sah sofort ein, daß es Masken geben
müsse«,23 und die Maske, die Brigge sich aufsetzt, ergreift Be¬
sitz von ihm und treibt sein gewohntes Ich aus ihm heraus,
obwohl die Identität und der Charakter der Maske zweifel¬
haft und Undefiniert bleiben. Rilkes außerordentlicher Reich¬
tum als Lyriker ist untrennbar verbunden mit einer »negative
capability«, einer Einfühlungsgabe, die ihn außerhalb seiner
Gedichte zu allen erdenklichen Absurditäten verführte. Kein
anderer Dichter seiner Zeit hatte eine so veränderliche Per¬
sönlichkeit, einen so weiten Spielraum von Masken und Sti¬
len; aber auch von Sympathien und Haltungen, die einander
ausschließen und widersprechen, sobald man sie von einem
pragmatischen oder logischen Gesichtspunkt aus betrachtet.
Darum hat die posthume Veröffentlichung seiner Briefe und
Privatdokumente seinem Werk unendlich geschadet.
. . . Wenn ich meinen Tod sehr nahe kommen fühlte, würde ich Wei¬
sungen hinterlassen, die fast entgegengesetzten Sinnes wären. Ich
würde alles tun - was in meinen Kräften stände - soweit sich in
dieser zerfahrenen Welt etwas tun läßt - diese vielen schalen und
oft so indiskreten Äußerungen über einen produktiven Menschen
und seine Hervorbringungen, dieses verwässernde Geschwätz, zu
unterdrücken; zumindest ihm möglichst die Nahrung zu entziehen
137
durch das Beiseitebringen der privaten Briefe und Aufzeichnungen,
Erschwerung des läppischen Biographismus und aller dieser Un¬
ziemlichkeiten. Mein Gedanke wäre, das schwer deutbare mensch¬
liche Wesen, das einmal da war, R.M.R. oder H.H., wirklich dem
Tod zu überantworten, und sei es der Vergessenheit (außer in den
wenigen treuen Herzen einiger Menschen), und die Werke ganz al¬
lein diesen schweren, geheimen Kampf aufnehmen zu lassen mit
den feindseligen nächstfolgenden Dezennien . . 24
138
geht, war, daß er so viel »Leben« in eine grundsätzlich auto¬
nome Kunst einbezog und daß er eine grundsätzlich indivi¬
dualistische Sehweise so sehr mit der Sprache einer mystisch¬
religiösen Gemeinschaft durchsetzte, daß er wie kein anderer
Dichter seiner Zeit eine neu-existentielle Philosophie und eine
neue Moral zu verkünden schien. Diese philosophische und
didaktische Funktion kann man außer Betracht lassen und
übergehen als eines jener Mißverständnisse, auf denen, wie
Rilke selber gesagt hat, der Ruhm von Künstlern beruht;
aber es ist ebenso schwierig geworden, diese Funktion von
Rilkes Ruhm abzusondern, wie es schwierig ist, das Wissen
um seine Person von seiner Dichtung abzusondern.
Hofmannsthal wußte, daß seine eigene Entscheidung andere
Schwierigkeiten und Gefahren nach sich zog und sah die Ver¬
dunkelung voraus, die seinem Werk in den feindseligen Jahr¬
zehnten widerfahren würde; aber heute, da der Kampf um
das Überleben Rilkes als Dichter voll eingesetzt hat, wird es
bald allzu offenbar werden, daß Hofmannsthals Warnung
klug und richtig war. Vier Jahrzehnte nach Rilkes Tod hält
die Publikationsflut an, als ob nichts geschehen wäre; aber
mehr und mehr Poesieleser wenden sich von Rilkes Lyrik ab
mit einem Gefühl, das von Widerwillen nicht weit entfernt
ist. Der Mythos, den er in seiner späteren Lyrik so schön auf¬
recht erhalten konnte, ist durch einen Wust von biographi¬
schen »Indiskretionen« zum Einsturz gebracht worden; seine
Philosophie andererseits wurde durch kritische Überprüfun¬
gen ihres Nimbus gründlich und endgültig beraubt.
Wenn die Lyrik ebenso wie die Lyriker den moralischen
Maßstäben unterworfen wären, die man an die Handlungen
und Entscheidungen von Persönlichkeiten des politischen
Lebens anlegt, wäre es sinnvoll, Rilke für einige der post¬
humen Herabwürdigungen, die sein Werk erlitten hat, ver¬
antwortlich zu machen. Er war der Mann, der jene Masse von
Briefen mit einem unverkennbaren Schielen auf die Nachwelt
schrieb. Er war der Mann, der in Bekenntnissen und Mani¬
festen wie seinen Briefen an einen jungen Dichter und dem
Brief eines jungen Arbeiters sowie in seinen Briefen an seinen
polnischen Übersetzer über die Duineser Elegien selber den
Samen zu der philosophischen und theologischen Kritik aus¬
säte, die heute seine anspruchsvollsten Werke in Mißkredit
139
gebracht hat. Fast von Anfang an hat Rilke absolute Autori¬
tät für sich gefordert. Seine frühe autobiographische Erzäh¬
lung Ewald Tragy enthält diese beiläufige Bemerkung: »Ich
bin mein eigener Gesetzgeber und König; es gibt keinen über
mir, nicht einmal Gott.« Aber wenn es um seine Dichtung
geht, ist diese Frage nach der Verantwortlichkeit einfach ohne
Belang. Die Wahrheit der Dichtung gehört in eine ganz an¬
dere Kategorie. Wenn wir es nicht fertigbringen, die Dich¬
tung von den Anmaßungen und Eitelkeiten - ganz zu schwei¬
gen von den harmlosen Schwächen — des Menschen getrennt
zu halten, haben wir den Verlust zu tragen; und nur ein klei¬
ner Teil von Rilkes Lyrik verlangt von uns eine »Suspension
of disbelief« (Aufhebung unseres Unglaubens). Der fragliche
Teil - vor allem Abschnitte aus den Duineser Elegien und den
Sonetten an Orpheus - ist der, in welchem Rilke den Fehler
beging, seine private religio poetae zu formulieren, anstatt
sie zu benützen, um damit Lyrik zu schreiben. Diese Privat¬
religion war eine Flilfsreligion, die außerhalb und jenseits
von Rilkes Dichtung sehr wenig Anwendbarkeit oder Gültig¬
keit hat. Die Engel der Duineser Elegien z. B. dürfen nicht
mit den Engeln der Theologie verwechselt werden, denn sie
waren rein weltliche Engel, Sendboten nicht des Glaubens,
sondern der Einbildungskraft. Wie der Engel von Wallace
Stevens waren sie »notwendige Engel der Erde« - notwendig
innerhalb eines Phantasiesystems, aber nirgends sonst; und es
besteht tatsächlich eine außerordentlich weitgehende Überein¬
stimmung zwischen den Privatreligionen von Rilke und Wal¬
lace Stevens, die beide Theologen der poetischen Imagina¬
tion waren, Hierophanten des Irdischen, doch besonders der
Dinge und Orte. »Das Leben ist eine Sache von Menschen
und Orten«, schrieb Stevens, »aber für mich ist das Leben
eine Sache von Orten, und das ist die ganze Schwierigkeit.«25
140
bloß als personae, die er mit seiner eignen »Innerlichkeit«
ausfüllen konnte - ebenso mit vollkommener Einfühlung zu
durchdringen, wie ihm das mit Landschaften, Pflanzen, Tie¬
ren und Kunst- oder Bauwerken gelungen war. Mit anderen
Worten: Rilke wußte, daß sein Verhältnis zu Menschen sich
in keiner Weise von seinem Verhältnis zu jenen Dingen unter¬
schieden hatte, die Gefühle nicht erwidern und nicht erwidern
können. Sein Narziß-Gedicht enthält die Zeile
Seen
Sind erst im Ewigen. Hier ist Fallen
das Tüchtigste.
142
den Glauben an Gott aufgegeben hat, ist die Dichtung die¬
jenige Realität, die als Lebenserlösung an seine Stelle tritt.«
Der Dichter wird zum »Priester des Unsichtbaren«, Worte,
die Rilkes an seinen polnischen Übersetzer gerichtete Äuße¬
rung über die »Bienen des Unsichtbaren« ins Gedächtnis ru¬
fen. In beiden Fällen hat die dichterische Phantasie die Stelle
der transzendenten Kategorie eingenommen, auf deren Exi¬
stenz außerhalb der bloßen Einbildung die meisten der gro¬
ßen Religionen ausdrücklich bestehen.
Diese »mystische Theologie« ist also zugleich materialistisch,
da ihr Ausgangspunkt empirisch ist - und irrational, wenn
nicht antirational. Trotz all seiner Betonung des Denkens in
der Dichtung - einer Betonung, die bei Rilke genauso pro-
nonciert zum Ausdruck kommt - sagte Stevens, daß »ver¬
nunftbegabte Wesen Canaille sind«28; und er sagte: »Das Ge¬
dicht offenbart sich nur dem Unwissenden«, denn »die Lyrik
muß der Intelligenz einen beinahe erfolgreichen Widerstand
leisten.« Vor allem darf das »Reale« nicht mit der verstandes¬
betonten, ja nicht einmal mit der realistischen Aussageweise in
den Künsten verwechselt werden. Die Realität muß von der
Einbildungskraft umgeformt werden, bevor sie wahrhaft ge¬
schaut werden kann. Das ist es, was Stevens meinte, wenn er
sagte: »Letzten Endes kommt es auf die Wahrheit nicht an.«
Diese Wahrheit ist eine fixierte Wahrheit, die Wahrheit, an
der der Verstand oder der Glaube ein für allemal festhält.
Dichtung ist andererseits ein ständiger Verkehr und Gegen¬
verkehr zwischen Erfahrung und Imagination. Dichter wie er,
sagte Stevens zu wiederholten Malen, sind »Denker ohne
endgültige Gedanken«,
M3
»von der Mystik wegzudrängen in Richtung auf jene funda¬
mentale Vernünftigkeit, die wir Zivilisation nennen«.30 T. S.
Eliot und Hofmannsthal waren »Anhänger des Zentralen«,
Rilke und Stevens andererseits können nicht mit Hilfe einer
philosophisch verankerten Kritik festgelegt werden. Jede
Gesamtinterpretation des Denksystems von Rilke oder Ste¬
vens - und nicht bloß ihrer Gedanken - muß dieses Denk¬
system so behandeln, als sei es etwas Definitives, als seien
ihre Entdeckungen kodifizierte Wahrheiten und ihre Er¬
kenntnisblitze (innerhalb eines bestimmten Kontextes) die
Artikel eines Glaubensbekenntnisses. Das ist im Ergebnis so,
wie wenn man ein Lasso benützte, um einen Kolibri einzu¬
fangen.
»Dichtung ist eine Befriedigung des Verlangens nach Ähnlich¬
keit«,31 schrieb Stevens. Die Befriedigung dieses Verlangens
läßt sich selten innerhalb der Grenzen der Glaubensüber¬
zeugungen eines Dichters festhalten, selbst wenn es sich um
einen Dichter handelt, der Glaubensüberzeugungen hat. Die
Imagination sammelt ihre Ähnlichkeiten auf, wo immer sie
sie zu finden vermag. Wenn sie Engel braucht, wird sie sie
von einer Religion nehmen, die der Dichter nicht akzeptieren
kann oder der er sielt sogar aktiv widersetzt, so wie Rilke
sich dem Christentum widersetzt hat. So skrupellos solche
Gepflogenheiten aussehen mögen, so sind doch nicht nur
christliche Mystiker, sondern sogar nüchterne Apologeten und
Prediger in ganz gleicher Weise imstande, Metaphern und
Analogien von weltlichen Tätigkeiten auszuborgen, die sie
keinesfalls glorifizieren wollen. Der Vorwurf trifft hier das
Medium der Sprache.
Wenn wir konstatieren, daß Stevens’ und Rilkes Gedanken
selten außerhalb der Sphäre »funktionieren«, in der es um
poetische Vorgänge oder ihre Analogien geht, müssen wir
zugleich zugeben, daß wir uns jeglichen Tag unseres Lebens
gezwungen sehen, Spezialisierungen dieser Art zu dulden.
Eisenbahnbillets kann man nicht auf der Bank einlösen, ob¬
wohl sie einen Geldwert darstellen. In »dieser zerfahrenen
Welt« ist es für einen einzelnen Mann durchaus genug an
Leistung, wenn er große Lyrik schreiben kann. Daß die
Wahrheiten mancher Gedichte voreingenommen und vor¬
läufig sind, macht sie nicht weniger wertvoll. Es ist Sache des
144
Lesers von Lyrik, nicht mit Erwartungen und Forderungen
an diese Gattung heranzugehen, die sie ihrem Wesen nach
nicht erfüllen kann.
145
für die Phantasie sinnenhaft greifbar sind und deshalb »an
den Strand gezogen werden können, als Schutz gegen unser
Verderben«/1'
Rilkes Widerstand gegen die Maschine, die »Alles Erworbne
bedroht . . . solange / sie sich erdreistet, im Geist, statt im
Gehorchen zu sein«34, gehört zu dem gleichen romantisch¬
symbolistischen Komplex; und ebenso gehört dazu der Anti¬
kapitalismus eines Sonetts aus derselben Folge, No. XIX des
zweiten Teils der Sonette an Orpheus, in dem Rilke seine auch
in manchen Passagen der Duineser Elegien deutlich werdende
Fähigkeit beweist, die Idiome und Erscheinungen der moder¬
nen Zivilisation in eine Art von Poesie einzugliedern, die ih¬
nen eigentlich einen radikalen Widerstand entgegensetzt. Das
Geld, das »Irgendwo wohnt in der verwöhnenden Bank / und
mit Tausenden . . . vertraulich« tut, wird kontrastiert mit der
Gestalt des blinden Bettlers, einer Figur, die an Rilkes frühes
Buch der Bilder erinnert:
Hier stoßen wir auf das Dilemma all der vielen Dichter, die -
wenn auch oft nur kurz - glaubten, daß der Faschismus eine
Alternative bieten könne zu der Vorrangstellung des ökono¬
mischen sowohl im Kapitalismus als auch im Marxismus,
einem Vorrang, der in der faschistischen Ideologie in den
Hintergrund tritt, weil ihn primitivistische Gefühlsattitüden
verdecken. Rilke hat nicht lange genug gelebt, um sehen zu
müssen, wie weit der Faschismus in seiner Mechanisierung des
Geistigen gehen sollte. Wallace Stevens aber hat es erlebt;
und in einem späteren Brief35 schrieb er: »Seit langem denke
ich daran, zu den Notes [toward a Supreme Fiction] weitere
Abschnitte hinzuzufügen und vor allem einen: Sie [die
»supreme fiction«] muß menschlich sein.«
146
The heaven of Europe is empty, like a Schloss
Abandoned because of taxes .. .
147
(’s hat eine klare, einzigart’ge, feste Form:
Die Form des Sohns, der den geliebten Vater
Auf seinem Rücken trägt; und trägt ihn fort
Aus den Ruinen der Vergangenheit,
Fort aus dem Nichts-mehr, und wird veredelt
Durch die ihm so zuteil gewordne Wolke.
Der Sohn stellt den Vater wieder her: er verbirgt
Des Vaters altes Blau unter dem eignen
Leuchtenden Rot. Doch er trägt ihn aus Liebe:
Sein Leben wird verdoppelt durch des Vaters Leben,
Dieweil er am Firmament der Menschlichkeit
Emporsteigt. . .)
In ihrem Interesse an den Dingen auf der einen und einer
»höchsten Fiktion« (die dazu ästhetisch befriedigend sein
mußte) auf der anderen Seite neigten diese Dichter dazu,
Stevens’ Zusatz Sie muß menschlich sein zu vergessen, sofern
das so zu verstehen ist, daß jeder Art von menschlichem Be¬
dürfnis, und nicht nur dem ästhetischen und imaginativen,
Rechnung getragen werden muß. In ihren Bemerkungen über
das Werk von St-John Perse, einem Dichter, der selbst nach
dem Zweiten Weltkrieg weiterhin mit viel Phantasie »ab¬
solute« Lyrik geschrieben hat, wies Kathleen Raine auf »ein
Element« hin, »das in seinen Dichtungen völlig fehlt - das
Menschliche als solches. Der Dichter macht in seiner Darstel¬
lung des Menschen genau bei dem halt, was (nach dem Aus¬
weis aller höher entwickelten Religionen) das spezifisch
Menschliche im Menschen ist, bei seinem individuellen Sein.
DieGötter, die eranruft, sind alte pantheistische Götter ...«.37
Ich werde an anderer Stelle mehr zu sagen haben über die
Sehnsucht nach ursprünglich-unkomplizierten Lebensformen
bei gewissen Dichtern, die einen verzweifelten Kampf gegen
solche Komplexitäten führen, mit denen die Phantasie nicht
fertig wird; aber die Worte von Stevens könnten auch bedeu¬
ten, daß die höchste Fiktion nichts anderes als menschlich
sein kann, weil die Phantasie eine menschliche Fähigkeit ist,
so wenig sie auch Kundmachungen des Menschlichen brau¬
chen kann wie diejenigen, die in E. E. Cummings Haßliebe-
Gedicht über die Menschheit aufgeführt werden:
humanity i love you because you
are perpetually putting the secret of
life in your pants and forgetting
it’s there and sitting down
148
on it
and because you are
forever making poems in the lap
of death Humanity
i hate you38
darauf hinsetzt
und weil du
im schoß des todes immerzu
gedichte machst menschheit
149
Wie selbst Yeats erkannte, hat die »Politisierung der Kunst«
in unserem Jahrhundert der poetischen Imagination eine zu
schwere Verantwortung aufgebürdet. Rilke, dieser fast mo¬
nomanisch der Poesie hingegebene Dichter, erwog zu einem
gewissen Zeitpunkt, die Dichtung aufzugeben und Landarzt
zu werden. Und Yeats schrieb:
In Oklahoma,
Bonnie and Josie,
Dressed in calico
Danced around a stump.
They cried,
>Ohoyaho
Ohoo< ...
Celebrating the marriage
Of flesh and air.
152
nachgezeichnet oder aufgezählt werden. Es muß jedoch ge¬
sagt werden, daß sie nicht eine mehr oder weniger gleichblei¬
bende Maske festhalten, wie das bei den personae Stefan
Georges oder denen von W. B. Yeats’ späteren Gedichten der
Fall ist, die ja alle durch die Maske eines und desselben Stils
zusammengehalten werden. Das heißt nicht, daß Rilke ein
geringerer Dichter ist. Es heißt nur, daß er anfälliger war für
Störungen des Gleichgewichts zwischen seinem empirischen
und seinem poetischen Ich. Die Unfestigkeit seiner Ansichten
und Sympathien hängt ebenfalls mit dieser Anfälligkeit zu¬
sammen. Das Bedürfnis nach Masken ist noch deutlicher im
Frühwerk von Hugo Hofmannsthal, das aus einem Zustand
grenzenloser Einfühlungsbereitschaft und -gäbe entstanden
ist, aus einer totalen Ichauflösung, die ebenso ekstatisch wie
schwer zu ertragen war. Seine lyrischen personae reichen von
einem Schiffskoch bis zum Kaiser von China, von der Kind¬
heit bis zum Greisenalter, von einer mythischen Vergangen¬
heit bis zur zeitgenössischen Welt, und er bewegt sich in al¬
len diesen Masken mit einer magischen Beweglichkeit, die er
schließlich einer pseudomystischen Verfassung zuschrieb, einer
»Präexistenz«, deren Alternative der Einsatz für die soziale
Welt war. Den Übergang kann man in seinen »lyrischen Dra¬
men« nachverfolgen, kurzen Versdramen, deren Figuren nicht
miteinander oder gegeneinander handeln, weil sie alle lyri¬
sche personae sind, ohne jede gesellschaftliche Interferenz, die
einen Dialog ermöglichen würde. Nach und nach weicht dann
das lyrische Drama dem echten Drama - auf Kosten der
Lyrik. Stefan George andererseits schloß dramatisches Zu¬
sammenspiel prinzipiell aus. Sein Dialog-Gedicht Der Mensch
und der Drud aus dem späten Band Das Neue Reich ist eine
Gegenüberstellung von zwei grundsätzlich verschiedenen per¬
sonae, die noch weniger zu gegenseitiger Kommunikation fä¬
hig sind als die Personen in Hofmannsthals früher Idylle,
einem Gedicht, das scheinbar demselben Genre zugehört.
Wenn die Kunst als etwas dem Wesen nach Symbolisches an¬
gesehen wird, ob sie nun mit voller Absicht Symbole verwen¬
det oder nicht, dann werden die Schwierigkeiten mit den em¬
pirischen und poetischen Identitäten der Lyriker scheinbar
zu einem Pseudoproblem. Susanne K. Langer z. B. schreibt:
U3
»Die Lyrik läßt zwar in der Tat das Leben in gewissen For¬
men erscheinen, aber das heißt nicht, daß sie es kommentiert.
Selbst das Kommentieren, wenn es als poetisches Element ver¬
wendet wird, ist nicht ein Kommentar des Dichters, sondern
des imaginären Sprechers, der diesen Kommentar in diesem
Gedicht macht. Sein Name kann einfach »Ich« sein; aber auch
das ist wieder ein Teil einer dichterischen Schöpfung.«2 Die
Dichter freilich tun uns den Gefallen nicht und machen sich
weiterhin Sorgen um ihr wirkliches oder empirisches Ich.
Wenn dem nicht so wäre, hätte Juan Ramon Jimenez sein
Gedicht Yo no soy yo (Eternidades, 1916-17) nicht zu schrei¬
ben brauchen. Und es ist nur eines der vielen Gedichte über
das empirische Ich, die moderne Dichter wie Dämaso Alonso,
Pedro Salinas, Jorge Guillen, Wladimir Majakowski und
Ezra Pound geschrieben haben. Daß das Ich des lyrischen Ge¬
dichtes eine Schöpfung oder eine Funktion des Gedichtes sel¬
ber ist, erschien diesen Dichtern nicht so selbstverständlich,
daß sie sich dadurch eines häufig wiederkehrenden Themas
hätten berauben lassen:
Yo no soy yo.
Soy este
que va a mi lado sin yo verlo;
que, a veces, voy a ver,
y que, a veces, olvido.
El que calla, sereno, cuando hablo,
el que perdona, dulce, cuando odio,
el que pasea por donde no estoy,
el que quedara en pie cuando yo muera.
Daß das poetische Ich außerhalb von Zeit und Raum vor¬
kommt, ist wundersam genug, um ein Gedicht zu rechtferti-
iJ4
gen, das so einfach und so richtig ist; und es gibt noch ein
anderes verwandtes Gedicht in Jimenez’ Sammlung Belleza
(1917-23), das Gedicht Cenit (Zenit):
155
sie noch hervor und wird sie weiterhin hervorbringen), dann
heißt er nicht mehr Surrealismus, Imagismus oder Modernis¬
mus, sondern er heißt wieder Poesie.«3 Das Problem der ver¬
vielfachten Persönlichkeit wurde bei den Dichtern besonders
akut, für die die Tradition nicht etwas Gegebenes und Selbst¬
verständliches war - wie für die Mehrzahl der modernen spa¬
nischen und griechischen Dichter -, sondern etwas, das man
aus dem musee imaginaire der Literaturgeschichte auswählte,
um es zu erneuern und wieder zum Leben zu erwecken. Die
nackte, direkte Sprache gelang Jimenez erst, nachdem er alle
wesensfremden literarischen Übernahmen abgestreift hatte.
Sie kam ebensosehr aus seinem empirischen Ich wie aus seinem
imaginativen oder imaginierten Ich; und die Tradition sorgte
dafür, daß sein imaginatives oder imaginiertes Ich, so »auto¬
nom« es auch sein mochte, sich nicht vollkommen isolierte.
Der Tod, von dem Jimenez sich seine Vollendung erwartete,
ist eine Republik.
156
einer Ungezwungenheit Gebrauch, für die weder die drama¬
tischen Monologe des späten 19. Jahrhunderts noch deren
Nachahmungen im 20. Jahrhundert, einschließlich der Ge¬
dichte dieser Art von Pound selbst in seinem Zyklus Perso¬
nae, ein vergleichbares Beispiel liefern. In all diesen drama¬
tischen Monologen und personae-Gedichten mußten bis zu
einem gewissen Grad noch historische Kulisse und Einheit
aufrechterhalten werden. Im Waste Land und den Cantos
andererseits wurde die imagistische Technik - die ursprüng¬
lich nur für das kurze Gedicht bestimmt war — auf das lange
Gedicht ausgeweitet. Auch die personae wurden nun verviel¬
facht und veränderlich innerhalb eines einzelnen Gedichts und
verschoben und vertauschten sich freizügig in Zeit und Raum.
Aber während Eliots Waste Land ein Zentrum hatte, das au¬
ßerhalb von des Dichters eigenem Ich lag - ein Zentrum, das
in der Figur des Tiresias personifiziert oder auch nicht perso¬
nifiziert sein mag -, bleibt das Zentrum der Cantos durchweg
ein primär persönliches, trotz des noch breiteren Arsenals von
personae, historischen Beispielen und topographischen Frag¬
menten, auf das Pound zurückgreift.
»Nach seinen Wurzeln zu suchen«, ist nicht nur biologisch ge¬
sehen eine Absurdität, sondern es ist zugleich ein Eingeständ¬
nis, daß der Sucher wurzellos ist (oder, da ja kein Mensch
wirklich ohne Wurzeln ist, daß er nach einer Art von Wur¬
zel sucht, die er akzeptabler findet als diejenigen, mit denen
er ausgestattet ist). Pounds »Suche« nach einer Tradition
stand von Anfang an unter dem Unstern des Paradoxons,
daß man nach seiner Tradition ebensowenig suchen kann wie
nach seinen Wurzeln, außer in dem speziellen Fall, in dem
die Suche ein wachsendes Erkennen und Bewußtwerden der
Wurzeln ist, die man bereits hat. Politisch zeigt sich das bei¬
spielhaft in Pounds Faschismus: wie Rilke - auch ein Dichter,
der sich seiner nationalen Zugehörigkeit nicht sicher war -
mußte Pound sich mit dem Nationalismus eines Volkes iden¬
tifizieren, zu dem er nicht gehörte. Dichterisch zeigt sich das
Paradoxon in der extrem literarischen Inspiration eines Au¬
tors, der in seinen Anfängen erfolgreich gegen die herrschen¬
den literarischen Konventionen revoltiert hatte; oder mit
anderen Worten: es zeigt sich in dem außerordentlich starken
Schwanken von Pounds dichterischer Sprache zwischen dem,
U7
was ihm sprachlich angeboren war, und dem, was er aus
Büchern übernahm. Pound selbst hat einmal von der »War-
dour-Street-«Komponente in seinen frühen Gedichten ge¬
sprochen, die ihm 1964 wie »eine Kollektion von altbackenen
Sahnewindbeuteln«4 vorkamen. Pounds unvergleichliche
rhythmische Neuerungen rührten zu einem großen Teil von
seiner heimatlichen Umgangssprache her, von Sprachgesten -
oder »Satzklängen«, wie Robert Frost sie nannte -, die durch
sein archaisches oder literarisches Vokabular so oft neutrali¬
siert werden. Das hat mit der prinzipiellen Unsicherheit zu
tun, dem Mangel an Selbstvertrauen, vor dem T. S. Eliot sich
in die Unpersönlichkeit flüchtete; es ist das eine Unsicherheit
und eine Unentschiedenheit gegenüber dem amerikanischen
Wertsystem, das in Gegensatz zu den europäischen Werten
und zu den asiatischen Kulturen gestellt wird, und auch eine
Unsicherheit in bezug auf die Autor-Leser-Beziehung.
In Pounds früher Poesie, bis einschließlich der Lustra von
1916, ist ein außerordentlich starkes Uberwiegen von Ge¬
dichten nicht über den Dichtungsvorgang - wie bei Stevens
und Rilke -, sondern über den Weg des Gedichts hinaus in
die Welt und seine Aufnahme durch die Welt festzustellen.
Die Konvention des envoi, des Abschieds des Dichters von
seinem Gedicht, wird in einer Art und Weise modernisiert,
die nicht nur Pounds Besorgtsein um die Dichter-Kritiker-
Leser-Beziehung offenbart, sondern auch auf eine Befangen¬
heit schließen läßt, die in der gesamten Geschichte der Lyrik
fast ohne Beispiel ist. Das Resultat ist das Gegenteil der
Wirkung, die durch die Dichter einer »reinen« oder »absolu¬
ten« Lyrik erreicht wird. Obwohl diese Gedichte genau wie
die der poesie-pure-Didner sich innerhalb ihrer eigenen Gren¬
zen bewegen, lenken die wiederholten Selbst-Apostrophen
die Aufmerksamkeit des Lesers von dem Gedicht ab und auf
seinen Autor hin. In A Lume Spento legt gleich das erste Ge¬
dicht, Grace Before Song, diese besondere Aussageweise fest,
obwohl man es durchaus als ein lyrisches Gegenstück zu dem
traditionellen Musenanruf des Ependichters lesen kann. Und
es gibt kaum ein Gedicht in dem Zyklus, das nicht den Dich¬
ter qua Dichter einführt, seine Funktion, seine Vorläufer und
Affinitäten bespricht, sei es direkt, sei es auf dem Weg der
literarischen Anspielung oder des Pastiche. Diese Gedichte
158
sind natürlich Jugendwerke, und man muß die literarische
Begeisterungsfähigkeit und die subjektiven literarischen Vor¬
lieben in Rechnung stellen, die die meisten jungen Dichter
auszeichnen; aber man findet in A Lume Spento und in A
Quinzaine for this Y ule so viel rhythmischen Abwechslungs¬
und Erfindungsreichtum, daß diese Werke nach mehr als blo¬
ßen Gesellenstücken aussehen. Das Gedicht Histrion ist eines
unter mehreren, die Pounds späteren Einsatz von personae
vorwegnehmen und erhellen:
H9
I beg you, my friendly critics,
Do not set about to procure me an audience.
I mate with my free kind upon the crags . ..
Tenzone
Take thought:
I have weathered the storm
I have beaten out my exile.
The Rest
Bedenkt:
Ich hab’ dem Sturm widerstanden
Ich habe das Exil geschmeckt bis zur Neige.)
160
You are very idle, my songs.
I fear you will come to a bad end.
O chansons foregoing,
You were a seven days’ wonder.
When you came out in the magazines
You created considerable stir in Chicago,
And now you are stale and worn out .. .
Epilogue
161
Ezra Pounds empirisches Ich - weitgehend identisch, soweit es
um sein dichterisches Gesamtwerk geht, mit seiner Rolle als
Literat und nicht mit dem, was man normalerweise persön¬
liches Erleben nennen würde -, ist bei weitem nicht eliminiert,
weder hier noch irgendwo sonst in seinem späteren Werk,
trotz des Imagismus gewisser bekannter kurzer Gedichte.
»Auf der Suche nach dem eigenen Selbst«, schrieb Pound um
dieselbe Zeit5,
Ebenso wie T. S. Eliot schlug sich Pound weiter mit der ver¬
vielfachten Persönlichkeit, mit der »Suche nach dem Selbst«
und mit verschiedenen Möglichkeiten herum, die Vielfältig¬
keit in einem Gedicht zur Einheit zu reduzieren. Im Gegen¬
satz zu Eliot, der sich eine einzige Tradition aneignete (bzw.
sich von ihr aneignen ließ) - eine Tradition, die religiöse,
ethische und gesellschaftliche Werte umfaßte versuchte
Pound sein eigenes Wertsystem zu kreieren, seinen eigenen
Kanon dessen, was man wissen, bewundern und nachahmen
sollte. Eliot gelang es, eine echte Unpersönlichkeit zu er¬
reichen, wenn auch eine solche, die weniger auf der Imagina¬
tion als auf dem religiösen Glauben basiert, eine Unpersön¬
lichkeit, die in diesen Zeilen aus seinem letzten Drama zum
Ausdruck kommt:
163
aufgreift. Wie Davie aufzeigt, sind Pound selber die Gründe
dieses Dilemmas, die ja kultureller Art sind, sporadisch be¬
wußt geworden, so z. B. als er bemerkte: »Wissen ist NICHT
Bildung. Der Bereich der kulturellen Bildung fängt da an, wo
man >vergessen hat, welches Buch<«; oder als er sich, im Zu¬
sammenhang einer Erörterung musikalischer Fragen, über die
Unterschiede verbreitete »zwischen einer Kunst, die eine Kul¬
tur hinter sich hat, und einer Kunst«, wie die von Pounds
eigenen Cantos, »die aus dem Kampf eines einsamen Künst¬
lers gegen die Kultursituation hervorgeht, in die er hineinge¬
boren wurde«. Der Vergleich zwischen Boccherini und Bar-
tök, der den Anlaß zu dieser Unterscheidung lieferte (sie fin¬
det sich in Pounds Guide to Kulchur, 1938), kann sie, wie das
so geht, nicht begründen, und Pounds kritische Schriften sind
allgemein nicht weniger exzentrisch, sprunghaft und verbohrt
als sein übriges Werk. Man könnte Pounds Dilemma auf sich
beruhen lassen, wenn seine eigenen Bedenken und Zweifel
gegenüber seinem Werk von denjenigen seiner Jünger geteilt
würden, die ihn gepriesen haben und weiterhin preisen für all
diejenigen Dinge, die an seiner Dichtung und an den ihr
zugrundeliegenden Voraussetzungen falsch sind. Kurz gesagt,
Pounds totalitäre Kunst - die »neue Synthese, die totalitäre«,
die er in Guide to Kulchur forderte - war eine Unterdrük-
kung des Pluralismus, nicht eine Integrierung und ein Ord¬
nen des Vielfältigen. Tradition kann man nicht machen oder
aufpflanzen, genausowenig wie man Wurzeln aufpfropfen
kann. Pounds eigene Kunst in den Cantos blieb im wesent¬
lichen pluralistisch und eklektisch, ebenso wie seine dichte¬
rische Sprache unrein geblieben ist, ein Gemisch von Idiomen,
die aus den heterogensten Konventionen der Gebrauchs- und
Literatursprache stammen. Wenn die Cantos eine Einheit
haben, ist es die Einheit von Pounds eigenen Erinnerungen
und Vorurteilen. Die Forderung, daß eine derartige Einheit
als eine Synthese der Kultur akzeptiert werden müsse, ist ein
totalitärer Akt.
Pounds kritische Schriften sind gültig - und bewundernswert
- dort, wo er sich auf seine eigne Erfahrung als Dichter und
auf seine ansteckende Begeisterung für die Dichtung anderer
stützen kann. Sein ABC of Reading8 ist ein einschlägiges Bei¬
spiel. »Unwissende Männer von Genie«, schreibt Pound dort,
164
»entdecken ständig >Gesetze< der Kunst wieder, die die Aka¬
demiker verlegt oder versteckt hatten.« Insoweit, als das
ABC des Lesens aus solchen Entdeckungen besteht und nicht
aus generellen Vorschriften, sind seine aphoristischen Be¬
hauptungen nicht nur annehmbar, sondern sie sind den soge¬
nannten wissenschaftlichen Argumenten vorzuziehen, die nur
Vorurteil und Vorliebe in eine konventionelle Pseudologik
kleiden. Sobald sich Pound zum Gesetzgeber aufwirft - selbst
in der wichtigen Feststellung, daß
166
begeht er selbst soviele marginale Irrtümer, daß er völlig
erschöpft ist, bevor er seine Auffassung durchdrücken kann ...
Wenn man so schreibt, daß man verstanden wird, besteht im¬
mer das Problem, wie man richtigstellt, ohne das aufzugeben,
was richtig ist. Das Problem ist der Kampf dagegen, daß man
seinen Namen auf die gestrichelte Linie für die Opposition
setzt.« Das spricht insgesamt viel von dem aus, woran jene
Passagen der Cantos, einschließlich der Pisan Cantos, kran¬
ken, die sich auf die heutige Welt beziehen, wenn auch gesagt
werden muß, daß ihre zusammenhanglose Geschwätzigkeit
nicht nur ein moralischer, sondern auch ein dichterischer Irr¬
tum ist. Die vielgerühmte Stelle »What thou lovest well re-
mains« (»Was du innig liebst, ist beständig«) im Canto
LXXXI zeigt, wie sowohl die stilistische als auch die thema¬
tische Zusammenhanglosigkeit verringert werden kann, so¬
wie Pound sich eine »Richtigstellung« erlaubt, die aus der
gleichen Einsicht in seinen Irrtum entspringt. Es ist kein Zu¬
fall, daß die Abschlußzeilen dieser Passage mit ihrem Refrain
»Pull down thy vanity« (»Laß ab von Eitelkeit«) in Tonfall
und Rhythmus der späten Dichtung von T. S. Eliot so nahe
kommen:
167
But the beauty is not the madness
Though my errors and wrecks lie about me.
And I am not a demigod, I cannot make it cohere.
Über die Weite von Ezra Pounds Blickfeld - nicht was sein
Differenzierungsvermögen anlangt, aber soweit es um den
Radius seiner Wißbegierde, seiner Erfindungsgabe und seiner
Assimilierungsfähigkeit geht - kann es keinen Zweifel ge¬
ben. Seine vielen Stile und seine vielen personae würde man
ohne weiteres mehreren verschiedenen Dichtern zuschreiben,
wenn die Texte anonym veröffentlicht worden wären oder
unter verschiedenen Pseudonymen erschienen wären wie die
Gedichte von Fernando Pessoa. Aus dem gleichen Grund
konnte kein anderer Dichter der englischen Sprache aus der¬
selben Periode Gleichaltrigen oder Nachfolgern von so ver¬
schiedenartiger poetischer Praxis und Weltanschauung wie
T. S. Eliot und Robert Duncan, Louis Zukofsky und Robert
Creeley, Basil Bunting und Charles Olson - um nur einige
Dichter zu nennen, deren Dankesschuld an Ezra Pound außer
jedem Zweifel steht - soviel geben wie gerade er. Der Ein¬
fluß, den T. S. Eliot ausgeübt hat, ist viel schwerer zu fassen,
obwohl mehrere Generationen von englischen Dichtern und
eine beträchtliche Zahl außerenglischer Lyriker sich von ihm
ebenso stark beeinflußt fühlten, wie andere ihre Abhängig¬
keit von Ezra Pound empfanden. Ezra Pounds Unfähigkeit
»to make it cohere« (»dem Zeug einen Zusammenhalt zu ge¬
ben«), könnte leicht einer der Gründe für die Heterogenität
seiner Nachfolger in einer in zunehmendem Maße heteroge¬
nen Welt sein. Es ist kaum möglich, Eliot nachzufolgen, ohne
zugleich seine spezielle weltanschauliche Entscheidung mitzu-
168
vollziehen, die zugleich ein Verzicht war. Pounds Vielseitig¬
keit lähmte seine Energie nicht: und ein entschieden verein¬
heitlichender Faktor in seinem Werk ist seine unvergleichliche
Gabe der melopoeia, um seinen eigenen Terminus zu gebrau¬
chen - eine Begabung für musikalische Beherrschung und
Stimmigkeit des Verses, die ihn nur dort verließ, wo ihm das
außerpoetische Anliegen - in Gestalt von häßlichen Zitaten
aus häßlichen Quellen - wichtiger zu sein schien als das poe¬
tische Medium.
T. S. Eliots frühere personae - sie sind (erkennbar, aber
nicht sehr nahe) verwandt mit den aus dem 20. Jahrhundert
stammenden personae in Pounds Hugh Selwyn Mauberley
und mit den personae des Moeurs-Contemporaines-Abschnit¬
tes von Quia Pauper Amavi (1919) - traten in seiner Spät¬
phase, vor allem in den Four Quartets, mehr und mehr zu¬
rück oder verschwanden ganz.
Viele Abschnitte der Four Quartets sprechen mit einer Stim¬
me, die, wenn sie auch nicht mit dem empirischen Ich des
Autors verwechselt werden darf, ganz entschieden des Dich¬
ters eigene Stimme ist - entpersönlicht zwar, aber nicht mit¬
hilfe von Masken, sondern nur durch die Zurückhaltung, die
Eliot zu allen Zeiten eignete. Pounds Ausweiten der imagi¬
stischen und der persorw-Techniken auf das lange Gedicht,
das schon in seinem Mauberley-Zyklus und in Homage to
Sextus Propertius ebenso wie in Eliots The Waste Land vor¬
weggenommen war, gab den Cantos eine Spannweite und
Freiheit, die dem späteren Eliot versagt blieb. Aber es ist eben
eine Freiheit, welche die Geschichte und die geschichtlichen
Persönlichkeiten in einer Weise verwendet, die eigenwillig,
manchmal unverantwortlich und bis ins Letzte egozentrisch
ist: wir können kaum je den Manipulator all dieser Mario¬
netten, den Bauchredner hinter all diesen Masken vergessen.
Als Ganzes stehen oder fallen die Cantos mit ihrem zentra¬
len, sie zur Einheit zwingenden Anliegen, und dieses verein¬
heitlichende Anliegen ist nirgends anders zu finden als im
Geist des Autors, denn seine Figuren, Szenen und Dialoge
haben keine andere erkennbare Einheit. Das ist Pounds Para¬
doxon und Dilemma. Die totalitäre Synthese, deren Absicht
es doch war, eine Alternative zum modernen Individualismus
169
und Pluralismus zu bieten, bringt uns unausweichlicher als die
meiste direkte Bekenntnislyrik zurück zu dem isolierten In¬
dividuum, das sie erstrebt hat. Während eine einzelne per¬
sona eine Erfahrungserweiterung sowohl für den Dichter als
auch für den Leser ermöglichen kann und während das offen
als Bekenntnislyrik auftretende Gedicht dem Leser eine Iden¬
tifikationsmöglichkeit bieten kann, die die Kluft zwischen
Individuen zu überbrücken vermag - wie das bei gewissen
Passagen der Cantos durchaus der Lall ist, wenn man sie aus
dem Ganzen herauslöst -, hat eine große Ansammlung von
heterogenen personae innerhalb eines einzigen Gedichts keine
solche Wirkung? Auch das Waste Land vermittelt eine An¬
sicht vom Leben, ja in der Tat eine Beurteilung des Lebens,
die stärker idiosynkratisch und subjektiver ist als die direk¬
ten, erklärenden Aussagen gewisser Abschnitte der Four
Quartets.
T. S. Eliots Problem unterschied sich tatsächlich nicht sehr
stark von dem Ezra Pounds, und ein Teil seiner Gedanken
über Gesellschaft und Politik war, wenn er auch vorsichtiger
formuliert ist, in der Tendenz nicht weniger totalitär. Beide
Dichter wandten sich Europa mit einem inständigen Bedürf¬
nis zu, das sich mehr aus literarischen und romantischen Er¬
wartungen speiste als aus realistischen Beurteilungen. Der¬
jenige von den beiden, der einer liberalen, pluralistischen
und kommerzialisierten Demokratie von Anfang an radikal
und absolut ablehnend gegenüberstand, war T. S. Eliot. Ezra
Pound brachte es fertig, sich mit Walt Whitman und mit Ro¬
bert Browning auszusöhnen, und sein späterer Kampf gegen
amerikanische Bürokratie und amerikanischen Geschäftsgeist
hinderte ihn nie daran, ein leidenschaftliches Interesse an der
Geschichte und den Institutionen seines Vaterlandes zu neh¬
men; aber weil sie von Europa erwarteten, daß es all das sein
müsse, was Amerika nicht war, konnten weder Pound noch
Eliot diejenigen Entwicklungen im zeitgenössischen Europa
hinnehmen, die liberal, pluralistisch und kommerzialistisch
waren. Pounds Angeekeltsein von England, als er 1920 von
London wegging, war mindestens ebenso heftig wie sein frü¬
herer Ekel vor Amerika. Die Gefallenen des Ersten Welt¬
kriegs starben
170
For an old bitch gone in the teeth,
For a botdied civilization . . .
Uber diese Zeilen könnte man sagen, was Pound 1917 (nicht
sehr treffend) über Laforgue sagte: »Er schreibt nicht die
Volkssprache irgendeines Landes, sondern ein internatio¬
nales Idiom, die Gruppensprache der übertrieben Gebilde¬
ten.«15 George Orwell hat zwar auch von Eliots frühen Ge¬
dichten behauptet, sie gäben dem »Horror eines hyper-kulti¬
vierten Intellektuellen« Ausdruck, »der sich mit der Häßlich¬
keit und Geistleere des Maschinenzeitalters konfrontiert
sieht«16; aber man braucht nicht »übertrieben gebildet« oder
»hyperkultiviert« zu sein, um The Love Song of ]. Alfred
Prufrock zu verstehen und davon angesprochen zu werden,
denn die in dem Gedicht wiedergegebene Erfahrung hat eine
moralische und soziale Relevanz, die über Eliots persönliche
Einstellungen als Dichter und Literat weit hinausgeht. Or¬
well hatte meiner Meinung nach nicht recht mit seiner Be¬
hauptung, Eliots frühe Gedichte gäben einer »glühenden Ver¬
zweiflung« und seine späten »einem melancholischen Glau¬
ben« Ausdruck, einem Glauben, der »den Blick der Vergan¬
genheit zuwendet, die Niederlage akzeptiert, irdisches Glück
als eine Unmöglichkeit abschreibt, von Reue und Gebet mur¬
melt«. Wie ich an anderer Stelle17 zu zeigen versucht habe,
bieten die Four Quartets mehr Hoffnung auf irdisches Glück
als Eliots frühe Lyrik; und selbst Eliots frühe personae lassen
seine Sehnsucht nach einer Unpersönlichkeit durchblicken, die
zugleich eine Art Universalität ist, ein Transzendieren seiner
eigenen Lebensumstände und spezialisierten Interessen, ein
»objektives Korrelat« des subjektiv Erlebten.
Freilich war diese Sehnsucht nach Unpersönlichkeit so extrem
und so dauerhaft, daß man dahinter ein akutes Unbehagen in
bezug auf das empirische und das gesellschaftliche Ich ver¬
muten möchte. Hugh Kenner hat Eliot den »unsichtbaren
Dichter« genannt. Wenn Eliot in Lines for Cuscuscaraway
and Mirza Mur ad Ali Beg, so etwas wie ein Selbstbildnis ent¬
wirft, dann wird die gesellschaftliche Maske aufrecht erhalten
durch die Darstellung in der dritten Person, durch eine Iro-
172
nie, die ganz auf seine Kosten geht und ganz anders ist als die
selbstironischen Stellen bei Corbiere und Laforgue - die ja
aus dem Baudeiaireschen Dualismus von spieen et ideal ent¬
sprangen - und durch die Konventionen der Nonsens-Poesie.
Was diese Zeilen verraten, ist nicht mehr als die Bewußtheit,
mit der Eliot seine Maske trägt — die Maske, die dazu diente,
sich andere Leute vom Leib zu halten, die Maske des extrem
schwer faßbaren Mannes der Öffentlichkeit
173
etwas Wichtiges über sich selbst mit, aber nichts über die
große Mehrheit von Dichtern, die ihre eigene Persönlichkeit
nicht als so unangenehm oder hinderlich empfanden, daß sie
geglaubt hätten, sie auslöschen zu müssen. Was für Eliot hin¬
derlich war, war die Tatsache, daß er eine individuelle Per¬
sönlichkeit hatte, die für Leiden anfällig war, welche von an¬
deren Leuten nicht empfunden, ja nicht einmal verstanden
wurden, und zwar deshalb, weil diese anderen Leute die
Dinge, die ihm gräßlich waren, ganz in Ordnung fanden. Das
war natürlich die Hauptschwierigkeit von Generationen von
Dichtern vor Eliot gewesen; aber Eliot konnte auch diese
Schwierigkeit nicht billigen, weil sie die Schwierigkeit des ro¬
mantischen Individualismus gewesen war, und Eliot doch ein
klassisches Zugehörigkeitsgefühl des Individuums zur Gesell¬
schaft als Ziel vorschwebte. Daher sollte eine christliche Ge¬
sellschaft begründet werden, ungeachtet der jahrhundertelan¬
gen Entwicklung, ungeachtet und trotz des modernen Plura¬
lismus und Liberalismus, die dabei waren, selbst in die christ¬
lichen Kirchen und Sekten einzudringen, nicht zuletzt in die
englische Staatskirche; und die individuelle Persönlichkeit
mußte ausgelöscht werden, weil sie von der Heterodoxie und
dem Pluralismus angesteckt war. »Je vollkommener der
Künstler, desto vollständiger wird in ihm die Trennung
durchgeführt sein zwischen dem Menschen, der leidet und dem
Geist, der schöpferisch tätig ist: und umso vollkommener
wird der Geist die Gefühle verarbeiten und verwandeln, die
sein Material sind.« In diesem Ausspruch ist genug allgemeine
Wahrheit enthalten - eine Wahrheit über den Dichtungsvor¬
gang -, um die Aufmerksamkeit von der überheblichen Prä¬
misse abzuleiten, daß der Künstler zwangsläufig mit dem
Menschen unvereinbar sei. Keine solche Unvereinbarkeit läßt
sich z. B. im Werk von Villon nachweisen, oder in dem von
Racine, Milton, Dryden oder Pope, um nur einige Namen aus
der Zeit vor der Romantik herauszugreifen. Ebenso nimmt
Eliots Ausspruch an, daß das, was den Menschen vom Dich¬
ter, das Individuum vom Spezialisten eines unpersönlichen
Handwerks unterscheidet, sein Leiden sei. Auch das ist eine
romantische Annahme, und eine Annahme, die uns mehr über
Eliot sagt als seine Zeilen über die »Peinlichkeit, ihm zu be¬
gegnen«. Dennoch - die Förmlichkeit und die Grimmigkeit
*74
seiner gesellschaftlichen Maske hing eng zusammen mit den
persönlichen Leiden, die Eliot in einmaliger Weise zu »ob¬
jektivieren« verstand in Figuren, Situationen, Großstadtsze¬
nerien wie der Rhapsody on a Windy Night, fragmentarischen
Visionen und Mythen, bruchstückhaften Zitaten und Dialo¬
gen. Für Eliot, wenn auch für niemand sonst, erfüllte die
Unpersönlichkeit die ihr zugedachte Funktion; und sie tat es,
weil sie keine literarische oder ästhetische Doktrin war, son¬
dern ein persönliches Bedürfnis. Verzicht und Selbstverleug¬
nung durchzogen sein Werk, lange bevor er eine religiöse
Rechtfertigung für sie fand. »Poesie ist nicht ein Freigeben
von Gefühl, sondern eine Flucht vor dem Gefühl; sie ist nicht
der Ausdruck von Persönlichkeit, sondern eine Flucht vor der
Persönlichkeit. Aber es wissen natürlich nur die, die Persön¬
lichkeit und Gefühl haben, was es heißt, diesen Dingen ent¬
rinnen zu wollen.« Es ist merkwürdig, daß Eliot es sich er¬
laubt hat, das Wort Flucht (escape) in diesem Zusammenhang
zweimal zu gebrauchen, denn gerade dieses Wort macht aus
der »unpersönlichen« Feststellung ein intimes Bekenntnis.
Seine Persönlichkeit und sein persönliches Gefühl dichterisch zu
verwandeln, sich in ihr »objektives Korrelat« einzuschmelzen,
ist etwas anderes als ihnen entrinnen zu wollen. Eliot hatte
das Bedürfnis, ihnen zu entrinnen, obwohl die Leiden, die
er mit ihnen identifizierte, in seinen früheren Werken viel
peinigender präsent sind als in der aufdringlichsten Bekennt¬
nislyrik. Als er später soweit war, daß einige seiner Gefühle
Empfindungen der Freude oder der Erfüllung geworden wa¬
ren, war die Unpersönlichkeit bereits ein so unabtrennbarer
Bestandteil seines dichterischen Verfahrens geworden, daß er
diese neuen Empfindungen kaum für seine Dichtung nutzen
konnte. Eine Ausnahme - sie wirkt eher rührend als ergrei¬
fend, weil hier die grimmige und förmliche Maske gefallen
ist, aber damit zugleich auch die poetische Kraft sich ver¬
flüchtigt hat - ist das kleine Gedicht To My Wife, das er sei¬
nem letzten Versdrama, The Eider Statesman (Ein verdienter
Staatsmann), als Widmung vorangestellt hat. Hier durfte
Eliots empirisches und privates Ich zum einzigen und zum
letzten Mal an die Öffentlichkeit treten; aber der Ausdruck
des »Leaping delight / That quickens my senses in our wak-
ingtime / And the rhythm that governs the repose of our
175
sleepingtime« (»Das springende Glück / Das meine Sinne
belebt in unserer Wachzeit / Und der Rhythmus, der die Ruhe
regiert unsrer Schlafzeit«) wird mehr konstatiert als spürbar
gemacht. Die persönliche Freude und Erfüllung kam zu spät,
um eine mehr als theoretische Revision der ganzen Unpersön¬
lichkeitsauffassung zu bewirken.
Sowohl Ezra Pound als auch T. S. Eliot versuchten, wenn
auch auf sehr verschiedenen Wegen, Brücken zu schlagen zwi¬
schen dem individualistischen Ästhetizismus, der ein Erbe der
romantisch-symbolistischen Ära war, und einer umfassende¬
ren Kunst, die auch ethische, soziale und politische Werte ein¬
schließen sollte. Ezra Pounds Weitsicht ist dabei einsam,
eklektisch und essentiell individualistisch geblieben, trotz sei¬
ner aufrichtigen und leidenschaftlichen Auseinandersetzung
mit Geschichte, konfuzianischer Ethik, Währungsreform und
vielen anderen Dingen, die nicht unmittelbar etwas mit dem
Schreiben von Lyrik oder mit dem Praktizieren der anderen
Künste zu tun haben. T. S. Eliot führte seine Überwindung
des Ästhetizismus und des Individualismus zu dem Punkt, an
dem »the poetry does not matter« (»Auf die Poesie kommt’s
nicht an«), wie er in East Coker schrieb. Aber seine »fortge¬
setzte Selbstaufopferung«, sein »ständiges Auslöschen der
Persönlichkeit« hat er mit einer Strenge und Enthaltsamkeit
durchgeführt, für die es in der Lyrik nahezu kein Beispiel
gibt. Eliots Weitsicht war von Anfang an asketisch, und diese
Askese verlangte eine Aufopferung nicht nur der Liebe zu sich
selbst, sondern der Liebe und Sympathie für alle gröberen
Manifestationen des Menschlichen. Für Sweeney Agonistes,
sein dramatisches Fragment von 1932, wählte Eliot als Motto
einen Satz des Johannes vom Kreuz: »Daher kann die Seele
der göttlichen Vereinigung nicht teilhaftig werden, bevor sie
nicht die Liebe zu den Geschöpfen abgelegt hat!« Dieser aske¬
tische Mystizismus - er ist extremer in Eliots Frühwerk als
in all dem, was er nach seinem Eintritt in die anglikanische
Kirche geschrieben hat - war ebenso schwer mit einer beste¬
henden Religion zu vereinigen, wie es schwierig war, seinen
politischen Konservatismus mit der Politik und den Prinzi¬
pien (soweit vorhanden) einer bestehenden Partei in Einklang
zu bringen. Eliots Interesse für eine Bewegung wie die Action
Frangaise und seine Ketzerjagd in After Strange Gods
176
(Fremden Göttern nach, 1934) und The Idea of a Christian
Society (Die Idee einer Christlichen Gesellschaft, 1939) ver¬
raten eine antidemokratische, antipluralistische Neigung, die
gar nicht mit der Grundeinstellung jener British Conservative
Union zusammenstimmt, vor der Eliot 1953 eine Rede hal¬
ten sollte.38 Wie wir an Notes Towards the Definition of
Culture (Beiträge zum Begriff der Kultur, 1948) sehen kön¬
nen, wurde Eliots Ansicht über die Gesellschaft in seinen spä¬
teren Jahren verständnisvoller, ebenso wie sein Verhältnis
zu den »Geschöpfen« und seine Urteile über Autoren, deren
Weltanschauung oder Temperament ihm einst unsympathisch
gewesen waren; aber die Lyrik, um derentwillen er vor allem
fortleben wird, macht keine Konzessionen dieser Art.
Im Gegensatz zu den religiösen Bekenntnissen fast aller be¬
deutenden Dichter seiner Zeit, einschließlich Ezra Pound, war
Eliots Credo keine religio poetae, die sich - wie lose auch im¬
mer - auf die Bedürfnisse und Verfahrensweisen der Dichtung
stützt. Sowohl Rilke als auch Wallace Stevens könnte man
als agnostische oder weltliche Mystiker bezeichnen, die mit
der Liebe zu den »Geschöpfen« oder zu den »geschaffenen
Dingen« anfangen und mit der Verwandlung der geschaffe¬
nen Welt in Dichtung enden, wobei diese Verwandlung kraft
eines Prozesses vor sich geht, der sie selbst zu autonomen
Schöpfern machte. Selbst christliche Dichter wie Gerard Man-
ley Hopkins haben es für richtig befunden, »die Geschöpfe«
und »alles Geschaffene« zu preisen mit der Sinnenhaftigkeit,
die ein so strenger Dichter wie Milton als das Hauptcharak¬
teristikum von Dichtung bezeichnet hat; und selbst christliche
Mystiker wie Johannes vom Kreuz fanden, daß diese Sin¬
nenhaftigkeit für die Dichtung etwas so Unerläßliches ist,
daß sie das Vokabular und die Bildersprache der weltlichen
Liebe zu leihen nahmen, um das Abstreifen der »Liebe zu den
Geschöpfen« sprachlich auszudrücken. T. S. Eliots Bilder
der sinnlichen Schönheit, wie etwa seine immer wiederkeh¬
renden Garten- und Blumen-Bilder oder das »Haar im
Wind« und der »Flöten-Hall« in Ash Wednesday, werden
an Zahl weit überwogen von Bildern des sinnlichen Ekels,
von dem asketischen Mystizismus, der sich weigert, der sinn¬
lichen Erfahrung oder den »Geschöpfen« irgendeine Schön¬
heit oder Bedeutung zuzugestehen. Schließlich und endlich
177
kam’s auf die Poesie nicht an, und das Poetische wurde ab¬
gelegt oder hinter dem Geplauder versteckt, das eine ihrem
Wesen nach triviale Konvention, nämlich die der Gesell¬
schaftskomödie, in Eliots späteren Stücken erforderte.
Obwohl Eliot sich dafür entschied, sich zu verpflanzen an¬
statt zu entwurzeln, und er dabei ein englischer Gentleman
und eine Säule der Kirche wurde - nicht der amerikanische
Emigrant, der Ezra Pound bis heute geblieben ist ist die
Tradition, der er sich weihte, einer großen Zahl von jüngeren
Dichtern und Lesern in England und auch in Amerika heute
nicht mehr vertraut, ja nicht einmal mehr ganz verständlich.
Auch Eliots Brückenschlag war also eine riskante Sache.
Wenn er es ihm auch ermöglichte, den Wechsel aus einer Um¬
welt in die andere zu vollziehen, aus einer Ära in die andere
überzusiedeln, so war doch die Konstruktion der Brücke zu
zerbrechlich, um viel allgemeinen Verkehr zuzulassen. Auf
Grund einer gesellschaftlichen Umwälzung, für die Eliot kei¬
nerlei Sympathie aufbringen konnte, hat die offizielle per¬
sona, die er mit soviel Diskretion, Takt und anspruchsvoller
Sorgfalt aufbaute und durchhielt, seinen heutigen Nachfol¬
gern weniger zu sagen als die Stimme, die dahinter hörbar
wird, die Stimme eines »Predigers« (oder besser eines Kla¬
genden und Anklagenden) »in der Wüste«. Eliot staffierte
diese Wüste, so wie es vor ihm Baudelaire und Laforgue ge¬
tan hatten, mit den Attributen des modernen Großstadtver¬
kehrs aus, mit Straßenlaternen, Kneipen und Stundenhotels,
obgleich auch die Bildwelten der echten Wüste überall in sei¬
nem Werk Vorkommen; doch selbst die sehr weltliche Ironie
Laforgues konnte die Stimme des asketischen Propheten nicht
ganz überdecken, diese Stimme, die älter und archetypischer
ist als die Institutionen, denen sich Eliot verschrieb. Diese
strenge, bittere Sicht der modernen Welt und überhaupt des
weltlichen Lebens zu allen Zeiten - und daran ändern auch
die romantisierten Beschwörungen vergangener Epochen im
Waste Land und anderswo nichts - bricht immer wieder
durch, selbst in den späteren, versöhnlicheren Gedichten wie
etwa in den Zeilen aus East Coker, die »den Almanach de
Gotha / Die Börsenzeitung und das Verzeichnis der Auf¬
sichtsräte« in dasselbe Dunkel einordnen wie »Elofräte und
Exzellenzen, Vorsitzende vieler Vereine / Industriebarone
178
und Gewerkschaftsführer« sowie »berühmte Literaten«; oder
die folgenden Zeilen aus Burnt Norton:
T79
theorie keine Gültigkeit. Darüber Spekulationen anzustellen,
welche Möglichkeiten T. S. Eliots Aufopferung der Persön¬
lichkeit in seiner Dichtung unerfüllt gelassen und verschüttet
hat, wäre sinnlos und anmaßend. Was uns sein Werk sagt und
was es noch immer mit großer Kraft vermitteln kann, ist die
Tatsache, daß es ihm gelang, seine vielen Selbste zu einer Ein¬
heit und Reinheit zu reduzieren, die in der modernen Dich¬
tung selten ist; und daß der leidende Mensch Eliot - wie im¬
mer das Gefühl und die Persönlichkeit ausgesehen haben mö¬
gen, denen er zu entrinnen wünschte - so unausweichlich in
diesen Dichtungen präsent ist wie der Dichtergeist Eliot, der
sie schuf.
(Untergrundbahn)
(Hätt ich doch ein Dummkopf sein dürfen, einer der lebte,
Bevor noch das Unheil seine Werber aussandte hierher;
Jünger als Würmer, Würmer haben schon zuviel zu leiden.
Ja, Gestein wär das Beste: Könnte ich nur
Diese Wälder, von den Feldern das Grün, diese lebhafte Welt
Unfruchtbar sehen wie den Mond.)27
183
Paraphrase des ersten Gedichts aus Gottfried Benns Gesänge
von 1913 sein:
185
sind, äußerlich konventionell und »innerlich sanft und fleißig
wie Nausikaa«. Benn, der damit geprahlt hatte, in seiner
Lyrik, wenn auch nicht in seinem Leben, ein Nihilist und
Amoralist zu sein, schließt mit drei Zeilen, in denen es kaum
auf die Poesie ankommt und in denen sich das »lyrische Ich«
so selbstverleugnend aus dem Blickfeld rückt wie die Per¬
sonen, denen das Gedicht huldigt:
186
In Benns Lyrik aus dieser Zeit ist kein Raum für individuell
gezeichnete Charaktere, obwohl das Gedicht Die Dänin
im Titel ein Individuum beschwört, nur um sie dann zu »des
Nichts Isolde« zu reduzieren und sie im Sinne des dauernden
Wechsels zu feiern, der alle Individualität verschlingt. Die
Stimme des Dichters ist in diesem Gedicht denkbar weit ent¬
fernt von der Gesprächsstimme des Menschen Gottfried Benn.
Trotz aller Anspielungen auf zeitgenössische Erscheinungen
und Begriffe in Die Dänin - »Philosophia perennis« reimt
mit »Tennis«, »lohnende Odds« mit »Gotts« - sind diese Ge¬
dichte absolut in ihrer Auflösung des empirischen Ichs und
seines bedingten, von den Umständen abhängigen Bewußt¬
seins.
187
aber fast von Anfang an wegen Nietzsches »Umwertung aller
Werte« nicht in Frage kam - wäre dazu geeignet gewesen,
seine »zwei Leben« miteinander zu verbinden. Diese Ver¬
bindung kam in einigen seiner späten Gedichte zustande, aber
sie kam entgegen allen von Benn vertretenen Theorien und
zur Schau getragenen Attitüden zustande.
Der extremste Fall von vervielfachter Persönlichkeit und
Selbstaufspaltung in der modernen Lyrik ist der des portu¬
giesischen Dichters Fernando Pessoa (1888-1935). Wie so-
viele seiner gleichaltrigen Zeitgenossen — Pound und Eliot
und Apollinaire sind einige Beispiele dafür - erlebte Pessoa
eine physische und kulturelle Verpflanzung, die vielleicht et¬
was mit seiner außergewöhnlichen Entwicklung als Dichter
zu tun hat. (Der Ausdruck »transplantes« ist von Remy de
Gourmont dafür verwendet worden; er unterscheidet ihn von
dem Terminus »deracines«, der im Munde gewisser früher
Anhänger der »Blut-und-Boden-Mystik« zu einem Schimpf¬
wort geworden war.)28 Als Kind wurde Pessoa nach Südafrika
verpflanzt, und er verbrachte seine Entwicklungsjahre in Dur¬
ban und in einer englischsprachigen Public School. Seine frü¬
hen Gedichte schrieb er englisch, und sie erschienen gesammelt
in drei Bänden im Jahr 1922, nachdem er schon 1918 zwei
frühere Bände mit englischen Gedichten veröffentlicht hatte.
Der größte Teil seines reifen Werkes, das portugiesisch ge¬
schrieben ist, wurde zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt, ob¬
wohl Pessoa 1905 nach Portugal zurückgekehrt war.
Eine posthum veröffentlichte Skizze erklärt, warum Pessoa
die verzweifelte Zuflucht zu einer Aufteilung selbst seines
dichterischen Ichs in vier verschiedene Autoren - Alvaro de
Campos, Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Fernando Pessoa
— genommen hat, von denen jeder eine Art von Lyrik schrei¬
ben durfte, wie sie die drei anderen nicht schrieben und schrei¬
ben konnten.
Der erste Grad der lyrischen Dichtung ist derjenige, in der der
Dichter sich auf sein Gefühl konzentriert und dieses Gefühl zum
Ausdruck bringt. Ist er jedoch ein Wesen mit wandelbaren und
mannigfaltigen Gefühlen, so wird er gleichsam eine Vielzahl von
Persönlichkeiten ausdrücken, die nur durch Temperament und Stil
zusammengehalten wird. Einen Schritt weiter und wir haben einen
Dichter vor uns, der ein Wesen mit mannigfaltigen und fiktiven
Gefühlen, eher phantasie- als gefühlvoll ist und jeden seelischen
188
Zustand mehr mit der Intelligenz als mit dem Empfindungsvermö¬
gen erlebt. Dieser Dichter wird sich wie eine Vielzahl von Persön¬
lichkeiten aussprechen, die nicht mehr durch Temperament und Stil
geeint wird, sondern allein durch den Stil; denn das Temperament
ist durch die Phantasie ersetzt worden und das Gefühl durch die
Intelligenz. Noch einen Schritt weiter auf dem Weg zur Entpersön¬
lichung oder, besser gesagt, Phantasie, und wir haben den Dichter
vor uns, der sich in jeden seiner verschiedenen geistigen Zustände so
hineinlebt, daß er seine Persönlichkeit vollkommen aufgibt, derart,
daß er, indem er jeden seelischen Zustand analytisch erlebt, aus ihm
gleichsam den Ausdruck einer anderen Person gewinnt; dabei wird
sogar der Stil mannigfaltig. Ein letzter Schritt und wir finden den
Dichter, der verschiedene Dichter zugleich ist, einen dramatischen
Dichter, der Lyrik schreibt. Jede Gruppe unmerklich verwandter
Seelenzustände wird dabei zur Persönlichkeit mit eigenem Stil,
deren Gefühle sich von den typischen Gefühlserlebnissen des Dich¬
ters selbst unterscheiden, ja ihnen durchaus entgegengesetzt sein
können. Und so kommt die lyrische Dichtung . . . zur dramatischen
Dichtung, ohne dramatische Form anzunehmen.29
189
keit erkennen lassen. Wie Gottfried Benn, der behauptete, das
belastete Bewußtsein des modernen Großstadtmenschen habe
zu einer biologischen Hypertrophie des Gehirns geführt, die
die weiße Rasse dem Untergang entgegenbringen werde, ent¬
wickelte Alberto Caeiro, ein Nietzsche-verwandter Bukoliker
und Schäfer, seine »Metaphysik des Nicht-Denkens«:
190
und Gottes Attribute und Glorie der sichtbaren Welt zurück¬
geben kann - ganz so wie Rilke das tat:
O poeta e um fingidor.
Finge täo completamente
Que chega a fingir que e dor
A dor que deveras sente.
Stilistisch weist dieses Gedicht in der Tat auf einen Autor hin,
der sich deutlich von Pessoas anderen drei lyrischen Medien
unterscheidet, obwohl er hier den Vorteil hatte, sich die Er¬
fahrung von allen vieren zunutze machen zu können, um
ein Paradoxon darzustellen, das in hohem Maße relevant ist
für das Verbergen des Selbst, das in so vieler moderner Ly¬
rik die Voraussetzung des Selbstausdrucks ist. Die skeptische
Intelligenz, die die ganze Autopsicografia durchwirkt, findet
sich in allen Werken Pessoas, sogar in den Elaboraten des
Alvaro de Campos, dessen Nietzschescher Vitalismus so dop-
192
peldeutig ist wie Nietzsches eigener oder wie der Vitaläsmus
Gottfried Benns - denn sowohl Nietzsche als auch Benn wa¬
ren ja »Intellektualisten«, die gegen den Intellekt revoltier¬
ten.
Die Ode maritima, das anspruchsvollste und charakteri¬
stischste von den Gedichten, die Alvaro de Campos zuge¬
schrieben sind, bezieht die Kraft ihrer Wirkung aus einer
äußersten Spannung zwischen einem Gefühl der dynamischen
Bewegung und einem entgegengesetzten Gefühl der Stasis -
einer Spannung, die auch in Gottfried Benns Werk auffällt,
der ja eine seiner späteren Gedichtsammlungen Statische Ge¬
dichte genannt hat, trotz seiner Vergötzung der nackten Ener¬
gie. Die Ode maritima oszilliert zwischen einer vitalistischen,
oft brutalistischen Bejahung der Wildheit nicht nur der See
selber, sondern auch der Seeleute und einer müden, sanften
und zarten Rückkehr zu einem »Meer des Innern«, das in
ewiger Stille unter der Aufgewühltheit der Oberfläche ruht.
Es liegt etwas morbid Masochistisches in den Apostrophen
des Intellektuellen an die Matrosen und in seinen Beschwö¬
rungen eines »schrecklichen und satanischen Gottes, des Gottes
eines Blut-Pantheismus«.
03
Das »Ich« des Gedichts, das die wilde Grausamkeit in solchen
Worten feiert, wird als »ein Ingenieur in Lissabon« beschrie¬
ben, - »gezwungen, praktisch zu sein, empfänglich für alles. /
Anders als ihr, an diesen Ort gebunden, selbst dann wenn ich
wandre; / Selbst wenn ich handle, träg; selbst wenn’s nach
meinem Willen geht, schwach, / Statisch, zerbrochen, ein fei¬
ger Veruntreuer eurer Herrlichkeit, / Eurer großen, kreischen¬
den Kraft, heiß und blutig«. Der Einschub von »Fünfzehn
Mann auf des Toten Brust / Yo-ho-ho und ’ne Bottel voll
Rum!« zieht sich als bloßes rohes Gebrüll in die Länge: »Eh-
laho-laholaHO-lahä-ä-äää-äää . . .« Im Sinne der Futuri¬
sten - und nicht so sehr im Sinne Hart Cranes mit seinen hi¬
storischen und mythischen Interessen - werden auch Maschi¬
nen und das Maschinenzeitalter in der Ode maritima gefeiert,
obwohl Alvaro de Campos die Vergötzung der Maschine im
Gegensatz zu Marinetti dem wachen und rationalen Bewußt¬
sein zuschrieb, nicht den Tagtraum-Phantasien eines »bluti¬
gen Pantheismus«, so daß eine wesentliche Unterscheidung
getroffen wird zwischen animalischer und mechanischer Ener¬
gie. Als dann der Ingenieur aus seiner verzückten Raserei
wieder zu sich kommt, wendet er sich »modernen und nütz¬
lichen Dingen, / Frachtern, Dampfern und Passagieren« zu.
Die barbarischen Phantasien - die von erotischen, passiv ho¬
mosexuellen Obertönen begleitet sind - sind nicht mit diesen
modernen Erscheinungen verbunden, sondern mit einem alt¬
modischen Schoner; und dieser Schoner wird wiederum mit
idyllischen Kindheitserinnerungen assoziiert, die in starkem
Kontrast mit den besagten gewalttätigen Phantasien stehen.
Die Ode maritima umspannt also mit ihren drastischen Mo¬
dulationen Unterschiede und Abstände, die so groß sind wie
die zwischen den Hervorbringungen der vier Dichter, deren
Werke alle von Fernando Pessoa geschrieben wurden; und die
vielen potentiellen Identitäten, die Pessoa zur Verfügung
standen, sind zumindest angedeutet innerhalb der Grenzen
dieses einen Gedichts. Doch die anderen Gedichte von Alvaro
de Campos fügen diesen Ich-Möglichkeiten noch weitere hin¬
zu. Die Ode Grandes sao os desertos, e tudo e deserto (Groß
sind die Wüsten, und alles ist Wüste) ist nicht nur in Thema¬
tik und Bildersprache mit T. S. Eliots frühen Gedichten ver¬
wandt, sondern dazu auch noch im Ton so ironisch untertrie-
194
ben, wie der größte Teil der Ode maritima hyperbolisch über¬
trieben war.
Das ganze Gedicht ist von einer Frage beherrscht - soll man
den Koffer packen oder nicht, Sein oder Nicht-Sein; und seine
Bilder, die zugleich trivial und existentiell sind, geben einem
Komplex, mit dem man seit Baudelaires und Laforgues und
Mallarmes poesie des departs vertraut gemacht worden war,
eine neue Färbung und Würze. Derselbe Komplex wird be¬
sonders durch den Titel eines verwandten Gedichtes von Al-
varo de Campos in Erinnerung gerufen, das mit Lä-bas, je ne
sais oü überschrieben ist:
195
Dichtern hätte Vorkommen können, die gegen alle Zweifel an
der persönlichen Identität gefeit waren. Mit absoluter Auf¬
richtigkeit konnte Pessoa in einem Brief schreiben: »Ricardo
Reis schreibt besser als ich, aber er schreibt mit einem Puris¬
mus, den ich übertrieben finde.« Wie auch bei anderen Dich¬
tern wurde bei ihm ein extremer Zweifel an der persönlichen
Identität zu einem extremen Zweifel an der Wirklichkeit
überhaupt. Wieder ist es ein Gedicht von Alvaro de Campos,
Tabacaria (Der Tabakladen), das die genaueste Konzentra¬
tion auf eine äußere Realität, nämlich den Tabakladen, mit
einem Gefühl von traumhafter Unwirklichkeit verbindet. Hier
nimmt Pessoa, oder de Campos, nicht nur den Existentialis¬
mus vorweg, sondern auch den nouveau roman und Drama¬
tiker wie Ionesco, indem er den Dichter mit dem Tabakver¬
käufer identifiziert und damit einen totalen Bruch mit der ro¬
mantisch-symbolistischen Vorstellung vom Dichter erreicht:
»Er wird sterben und ich werde sterben / Er wird seine Spur
hinterlassen und ich - Verse«; aber vor allem, indem er be¬
wußt triviale oder unwesentliche Details anhäuft und damit
einen beinahe hypnotischen Effekt erzielt. Wie in frühen Ge¬
dichten von T. S. Eliot liefern hier Unentschlossenheit und
leichte Verschrobenheit der Phantasie neue dichterische Mög¬
lichkeiten. Die Parenthese (»Wenn ich die Tochter meiner
Wäscherin heiratete, vielleicht wär ich dann glücklich«) ist nur
ein Beispiel für die Übergriffe auf die Domänen des Roman¬
ciers und des Dramatikers, die sich Pessoa hier erlaubt. Wie
im nouveau roman werden scheinbar zufällige Bewegungen
und Handlungen registriert, als geschähe es um ihrer selbst
willen: »Der Mann hat den Tabakladen verlassen . . . der
Tabakverkäufer hat gelächelt.«
Pessoas drastischer Schritt, sich als Dichter verschiedene Na¬
men zuzulegen, gab ihm einen ungeheuren Ausdrucks-Spiel-
raum. Unter anderem ermöglichte er es ihm, die ganze Wahr¬
heit über sich selbst zu sagen, über die vielfachen »Selbste«,
die die Biographie nicht erfassen kann. In seinem wichtigen
Brief an Armando Cortes-Rodrigues vom 19. Januar 1915
bestand er mit Recht darauf, daß sein Werk aufrichtig und
wahrhaft sei: Die Gedichte von Caeiro-Reis-Campos, schreibt
er, »sind eine Literatur, die ich geschaffen und gelebt habe,
196
aufrichtig, weil sie gefühlt wurde ... in der anderen Person
gefühlt; dramatisch geschrieben, aber so aufrichtig (in dem
ganzen gewichtigen Sinn, in dem ich das Wort verstehe) wie
das, was Lear sagt, obwohl Lear nicht Shakespeare ist, son¬
dern eine seiner Schöpfungen.«31 Unter seinem eigenen Na¬
men konnte Pessoa Gedichte der verschiedensten Art schrei¬
ben, bis hin zu der mystischen Initiation mit der Schlußzeile:
»Neophyte, es gibt keinen Tod.« Er brauchte Alvaro de
Campos, um die moderne Erfahrung des lebenden Totseins
wiederzugeben (»Ich bin nichts. / Ich werde immer nichts
sein«), genauso wie er Ricardo Reis brauchte, um poesie pure-
Gedichte zu schaffen, obwohl er in dem schon zitierten Brief
an Cortes-Rodrigues von der »schrecklichen Wichtigkeit des
Lebens« schrieb, »jenem Bewußtsein, das es uns unmöglich
macht, Kunst nur um der Kunst willen zu schaffen, dem Be¬
wußtsein auch, daß wir eine Pflicht uns selbst und der Mensch¬
heit gegenüber haben«. Pessoa glaubte an »die zivilisierende
Funktion aller Kunstwerke«. Seine Aufrichtigkeit, die Ver¬
kleidungen und gelegentlich sogar »das zum-Ausdruck-Brin-
gen einer allgemeinen Wahrheit durch eine persönliche Lüge«
erforderte, wird in demselben Brief definiert aus dem Gegen¬
satz zu der Unaufrichtigkeit von »Dingen, die geschrieben
werden um zu schockieren . . . und solchen, die keine meta¬
physische Grundidee enthalten, durch die kein Gefühl von
dem tiefen Ernst und Geheimnis des Lebens hindurchtönt«.
Er hatte nichts übrig für das »dekorativ Künstlerische«, für
»diejenigen, die Kunst um verschiedener untergeordneter
Gründe willen machten, so wie die, die spielen, die sich amü¬
sieren, die ein Wohnzimmer geschmackvoll einrichten«. Und
dennoch beruht sein Vorgehen auf der Entdeckung, daß der
größte Künstler »mit der größten Intensität, dem größten
Reichtum und der größten Vielfalt das ausdrückt, was er in
Wirklichkeit gar nicht fühlt«.
Und selbst das ist noch eine Vereinfachung, die in Pessoas
Gedicht Autopsicografa eine Korrektur erfährt. Das, was die
Dichtung erweitert, ergänzt oder sogar durch fiktive Gefühle
ersetzt, ist das Fühlen des empirischen Ichs - aber nur des¬
halb, weil das empirische Ich nicht das ganze Ich ist, da es
ja doch eingeengt ist durch seine Schale aus Konvention, Ge-
197
wohnheit und Lebensumständen."' Pessoas Verkleidungen be¬
einträchtigten seine Aufrichtigkeit und Wahrheitstreue nicht,
weil er sie nicht dazu verwendete, um andere zu täuschen,
sondern um die Realität zu ergründen und die volle Identität
seiner vielfältigen Ichmöglichkeiten klarzustellen.
198
7 Internationalismus und Krieg
199
tigte. Rilkes kurzes Kriegsfieber hatte in Wahrheit genauso¬
wenig mit Patriotismus zu tun wie sein Liebäugeln mit dem
Faschismus in späteren Jahren; beides war ein Restbestand
von romantischem und Nietzscheschem Heroenkult, ganz
ähnlich wie das bei Yeats’ heroischen Attitüden der Fall war.
Mit sehr wenigen Ausnahmen waren die deutschen und öster¬
reichischen Dichter der sogenannten expressionistischen Schule
- d. h. die Neuerer und Modernisten, die jünger waren als
Rilke - radikal gegen den Krieg eingestellt, selbst wenn sie in
ihm dienten und fielen. Viele unter ihnen unterschieden sich
von ihren englischen und französischen Kollegen dadurch,
daß sie apokalyptischen Ahnungen Ausdruck gaben, die nicht
nur den Ausbruch des Krieges vorwegnahmen, sondern diese
Dichter auch dazu tendieren ließen, den Krieg als das unver¬
meidliche Vorspiel einer neuen Ära der Bruderschaft und der
weltweiten gesellschaftlichen Umwälzung zu sehen. Etwas
von diesem apokalyptischen Geist erfüllt auch Rilkes Fünf
Gesänge; und es gab eine Zeit, in der Rilke sehr stark mit den
politischen Bestrebungen jener expressionistischen Revolutio¬
näre sympathisierte, die den Krieg überlebten.
Es ist so viel über »Kriegsdichtung« als solche geschrieben
worden, daß sich eine weitere Untersuchung dieser Spezies
erübrigt. Und soweit es sich um die Moderne handelt, wüßte
ich auch kein einziges Kriterium, anhand dessen ein »Kriegs¬
gedicht« klar von anderen Arten von Gedichten zu unter¬
scheiden wäre, da doch der Frieden zu einer Folge begrenzter
Kriege geworden ist, ob sie nun militärisch oder politisch ge¬
führt werden, und da selbst die Unterscheidung von Solda¬
ten- und Zivilistenlyrik, die im Ersten Weltkrieg noch an¬
wendbar war, heute kaum mehr als eine technische Bedeutung
haben kann. Die erinnerungswürdigste und charakteristischste
Lyrik aus dem Ersten Weltkrieg war die, welche aus dem
Auftreften der Auswirkungen der modernen Kriegsführung
auf letztlich zivilistische Empfindungsweisen hervorging. Des¬
halb ist das Wort »moderne Kriegsdichtung« fast ein Syno¬
nym von Anti-Kriegsdichtung geworden, von den Werken
von Wilfred Owen, Siegfried Sassoon und Isaac Rosenberg,
August Stramm, Georg Trakl und Giuseppe Ungaretti im
Ersten Weltkrieg bis zu den dichterisch weniger vollkomme¬
nen Werken von Frontkämpfern des Zweiten Weltkriegs. Als
200
das Jahr 1915 zu Ende ging und sowohl Rupert Brooke als
auch Julian Grenfell (ein Berufssoldat) gefallen waren, war
es bis auf ein paar dickfellige oder hartnäckig romantische Zi¬
vilisten allen klar geworden, daß die traditionelle Bejahung
des Krieges auf der Grundlage von Heldentum und Vater¬
landsliebe kein passendes Thema mehr für die Lyrik war.
Das soll nicht heißen, daß der Patriotismus völlig aufgehört
hätte, die Haltung von Frontdichtern zu beeinflussen oder
daß der Krieg nun keinerlei Momente des Glanzes oder der
Heiterkeit mehr gehabt hätte. Charles Vildracs Releve (Ab¬
lösung) zum Beispiel gab die Freude wieder, zunächst einmal
»davongekommen« zu sein, ein persönliches Gefühl, das im
ersten Krieg genauso gültig war wie im zweiten. Guillaume
Apollinaire setzte weiterhin das tödliche Feuerwerk dessel¬
ben Krieges bis zum bitteren Ende in ein Feuerwerk der
Worte um, nicht zuletzt in den geistreichen Analogien zwi¬
schen Liebe und Krieg, die in seiner Gedichtfolge Ombre de
mon amour Vorkommen. Auf seine distanzierte und faire Art
ist Edward Thomas’ This Is No Case of Petty Right or
Wrong . . . eine Rechtfertigung des Patriotismus. Yeats’ An
Irish Airman Poresees Plis Death andererseits ist eine Recht¬
fertigung des Heroismus um seiner selbst willen - ebenso wie
Rilkes Fünf Gesänge es waren. Obwohl es ein mit dem Krieg
zusammenhängendes Gedicht ist, zögert man, es ein Kriegs¬
gedicht zu nennen - nicht deshalb, weil Yeats, genau wie
Rilke, selbst kein Frontkämpfer war, sondern weil keiner
von diesen beiden Dichtern auf die Realitäten dieses speziel¬
len Krieges einging, was selbst für nicht zur Kampftruppe
gehörende Dichter durchaus möglich war und tatsächlich bei
ihnen durchaus vorkam. Georges Drei Gesänge, die 1921,
also nach Kriegsende, veröffentlicht wurden, sind ein weite¬
res Beispiel für das Aufrechterhalten einer heroischen Hal¬
tung trotz jener Realitäten.
Rilke konnte unmöglich das beispiellose Elend des Ersten
Weltkrieges vorhersehen, als er, im August 1914, seine Ge¬
dichte schrieb; und der einzige Grund, weshalb diese Gedichte
bei manchen seiner Leser Anstoß erregt haben, ist darin zu
sehen, daß sie im Widerspruch zu dem Internationalismus der
modernistischen Kunstrevolution zu stehen scheinen, dem
Rilke unvergleichlich viel näher stand als Yeats oder George.
201
Am klarsten und präzisesten freilich zeigen die Werke der
Frontdichter, wie dieser Internationalismus selbst auf den
Schlachtfeldern und in den Schützengräben weiterwirkte und
-existierte. Jules Romains, dessen Unanimismus-Bewegung
eng mit dem Paneuropagedanken Romain Rollands ver¬
knüpft war, brachte seine Conjuration (Beschwörung) 1916
heraus:
202
Romains, Charles Vildrac, Rene Arcos und Andre Spire hin¬
gewiesen, als er sagte, Spire und Arcos schrieben »mehr oder
weniger wie ich selber schreibe«.1 In der gleichen Weise be¬
stätigte Wyndham Lewis die Dankesschuld, die sein Vorti-
zismus und alle modernistischen Bewegungen Deutschland ge¬
genüber hatten2; und auch Apollinaire besuchte Deutschland
und schrieb Beiträge für die expressionistische Zeitschrift Der
Sturm. Apollinaires französischer Patriotismus hatte beson¬
dere persönliche Wurzeln, von denen noch zu sprechen sein
wird; aber auch in der Lyrik von Rene Arcos ist der Krieg
als eine tyrannische und bösartige Unterbrechung der euro¬
päischen Einigkeit dargestellt. So schreibt er in Les Morts:
203
lungsjahre fallende Erlebnis des Krieges, das Bertolt Brecht
dazu veranlaßte, radikaler als irgendein anderer Dichter sei¬
ner Zeit mit allen Prämissen und Praktiken der romantisch¬
symbolistischen Kunst zu brechen; und es kam bezeichnender¬
weise in Deutschland dazu, daß der Kampf zwischen den Ge¬
nerationen zu einem Gemeinplatz der Periode zwischen den
beiden Kriegen wurde, ein Vorgang, der sich nach dem Zwei¬
ten Weltkrieg wiederholte. In England taten selbst so einge¬
fleischte Traditionalisten aus der älteren Generation wie
Kipling, Chesterton, Newbolt und Alice Meynell ihr bestes,
die Kluft zu überbrücken, indem sie ihrem Zorn oder ihren
Schuldgefühlen in bezug auf den Krieg Ausdruck gaben,
während etwa ein junger Dichter wie Charles Sorley, bei
all seiner Intelligenz und bei all seinen Vorbehalten gegen¬
über dem »Sentimentalismus« Rupert Brookes, in Konven¬
tionen der Dichtungssprache und Gefühlshaltung befangen
blieb, die seine französischen und deutschen Altersgenossen
schon vor dem Krieg abgestreift hatten. Trotzdem gab es auch
in England die besagte Kluft. In der unmittelbar nach dem
Krieg entstandenen Lyrik von Robert Graves und Edmund
Blunden verlagerte sie sich ins Innere der Dichter und wurde
zu einem Konflikt zwischen Tendenzen zu einer Rückkehr zur
Vorkriegsnaturidyllik oder Märchenromantik auf der einen
Seite und der neuen Sachlichkeit und Direktheit auf der an¬
deren. Solche inneren Konflikte mußten noch lange Zeit
durchgefochten werden. Blundens Report on Experience, sein
bekanntestes Gedicht, das von der Desillusionierung handelt,
die von so vielen Überlebenden des Krieges empfunden wur¬
de, erschien in seiner Gedichtsammlung von 1929; Herbert
Reads The End of a War kam erst 1933 und David Jones’ In
Parenthesis gar erst 1937 heraus.
In Deutschland, wo es keine festetablierte herrschende Klasse
gab, die fähig und willens gewesen wäre, die nötigen Richtig¬
stellungen und Zugeständnisse zu machen, nahm der Genera¬
tionenkonflikt so gewaltige und unversöhnliche Formen an,
daß sich darin bereits die ganze weitere geschichtliche Ent¬
wicklung Deutschlands, einschließlich der heutigen Teilung des
Landes, abzuzeichnen scheint. Mindestens vier der bedeuten¬
den jungen Dichter wurden zu Revolutionären: Werfel und
204
Toller in den früheren Jahren zwischen den beiden Kriegen,
Brecht und Becher bis zum Zweiten Weltkrieg und noch über
ihn hinaus. Schon zwischen den Kriegen wurde klar, daß der
Internationalismus von 1912, die Solidarität und Einmütig¬
keit der modernistischen Schriftsteller und Dichter in allen
Ländern, nicht wiederherstellbar war. Der Pazifismus und
das Brüderlichkeitsdenken der Sozialrevolutionäre verhärte¬
ten sich zu einem ideologischen Engagement, das unüberwind¬
lichere Barrieren errichtete, als es die nationalen Grenzen ge¬
wesen waren; und faschistische oder nationalistische Ideolo¬
gien beanspruchten die Anhängerschaft aller Gegner des Kom¬
munismus. Die Auswirkungen dieser ideologischen Spaltun¬
gen auf die Lyrik lassen sich in der Entwicklung des deutschen
Expressionismus in den zwanziger und dreißiger Jahren eben¬
so verfolgen wie in der englischen und amerikanischen Lyrik,
die sich aus der frühen Praxis der Imagisten heraus weiterent¬
wickelt hatte-Ezra Pounds Cantos sind das hervorstechendste
Beispiel - und auch in der französischen Lyrik von Aragon,
Eluard und anderen Dichtern, die einst mit der Gruppe der
Surrealisten in Verbindung gestanden hatten. Als der Zweite
Weltkrieg ausbrach, gaben etliche der in Frage stehenden
Dichter ihre modernen »formalistischen« und individualisti¬
schen dichterischen Verfahrensweisen auf, um sich in Einklang
mit dem kommunistischen oder nationalsozialistischen Kol¬
lektivismus zu bringen. Die spätere Lyrik von Johannes R.
Becher, der Kulturminister der deutschen Demokratischen Re¬
publik wurde, zeigt ebensowenig formale Verwandtschaft mit
seinen expressionistischen Werken, wie Le Creve-cceur und
Les Yeux d’Elsa formale Verwandtschaften mit Louis Ara¬
gons Lyrik aus der Zeit zwischen den Kriegen aufweisen.
Der Zweite Weltkrieg war die militärische Fortsetzung der
ideologischen Konflikte, die ihm vorhergegangen waren. Er
war daher, in dem, was die Intellektuellen und Künstler be¬
traf, eine viel voraussagbarere Angelegenheit als der Erste
Weltkrieg. Das ist einer der Gründe dafür, daß der Zweite
Weltkrieg viel weniger Lyrik des Vergewaltigtseins und des
Mitleids hervorbrachte, die sich mit den Werken von Wilfred
Owen, Georg Trakl und Charles Vildrac oder mit der ruhi¬
gen Beredtheit von F. S. Flints Lament3 vergleichen könnte:
205
The young men of the world
Are condemned to death.
They have been called up to die
For the crime of their fathers.
Insoweit, als er ein Krieg der Ideologien war, kam der Zweite
Weltkrieg zu spät; und ein Gutteil der »Kriegsdichtung« die¬
ses Weltbrandes wurde vor Kriegsausbruch von den politisch
engagierten Dichtern in allen Ländern geschrieben, so wie ein
Gutteil der »Kriegsdichtung« des Ersten Weltkriegs nach
1918 geschrieben wurde. Was von dem Internationalismus
von 1912 überlebt hatte, war eine verlorene Sache, schon be-
206
vor der zweite Krieg anfing: Spanien und München hatten
seine Niederlage besiegelt. Herbert Reads To a Conscript of
1940 kann man entweder als ein »Kriegsgedicht« des Zweiten
Weltkriegs lesen oder als ein retrospektives »Kriegsgedicht«
des Ersten; und da Zensur und Unterdrückung die Veröffent¬
lichung irgendwelcher aufrichtiger Kriegslyrik auf der deut¬
schen Seite nicht zugelassen hatten, wurde die deutsche Lyrik
des Zweiten Weltkriegs nach 1945 geschrieben und wird noch
immer geschrieben, wenn man sie auch nicht mehr genau von
einer Antikriegsdichtung unterscheiden kann, die sich gegen
die Bedrohung durch einen dritten Weltkrieg richtet.
Die Gültigkeit von F. S. Flints Lament - das mit den Zeilen
»Weint, weint, ihr Frauen. / Und ihr, alte Männer, laßt’s
euch das Herz brechen« endet - geht weit über das hinaus,
was den Anlaß des Gedichtes bildete. Nach 1914 gehörte
mehr und mehr Dichtern »die Straße nicht mehr«, wenn auch
vielleicht nur deshalb, weil der totale Krieg die Ära der to¬
talen Politik heraufgeführt hatte. Die Entscheidung, ob ein
Dichter »reine« oder »unreine« Lyrik schrieb, ob er in einer
neuen oder in einer konventionellen Manier schrieb, hörte in
vielen Teilen der Welt auf, eine Frage der persönlichen Wahl
oder des persönlichen Geschmacks zu sein. Selbst dort, wo die
Literatur nicht durch Regierungsmaßnahmen gelenkt wurde,
konnte das »politische Bewußtsein« als ein innerer Zensor
und Lenker fungieren, der gute Dichter dazu zwang, gegen
die natürliche Gegebenheit ihrer Sensibilität und ihres Welt¬
erlebens schlechte Gedichte zu produzieren oder die Schichten
ihrer Persönlichkeit aus ihrer Kunst auszuschließen, die dem
körperschaftlichen Bild der zeitgemäßen Persönlichkeit nicht
einzuordnen waren. Ein Nachklang der Erregung von 1912
hielt sich in gewissen Gruppen noch weiterhin; aber nach 1914
waren nur mehr wenige Dichter ganz immun gegen neue
Zweifel an der Gültigkeit und Werthaltigkeit privater Ziele
irgendwelcher Art, und diese Zweifel konnten sehr leicht
umschlagen in ein schlechtes Gewissen darüber, daß man
überhaupt Dichter war.
207
einen durch keine Scham gehemmten Individualismus ver¬
raten, wie das etwa in Guiseppe Ungarettis Veglia (Wache)
von 1915 der Fall ist:
Un’intera nottata
buttato vicino
a un compagno
massacrato
con la sua bocca
disgrignata
voha al plenilunio
con la congestione
delle sue mani
penetrata
nel mio silenzio
ho scritto
lettere piene d’amore
208
schlammigen Schützengräben noch Mut zu haben - einer Il¬
lusion, die der Fronteinsatz selbst liefert: »Ein Scheinwerfer /
dort drüben / läßt ein Meer / im Nebel entstehn.« Dieses
Meer-Bild sollte in Ungarettis Werk immer wiederkehren, bis
hin zu seinem späten Gedicht Finale, und selbst der Nebel
des Schlachtfelds steigt in diesem späten Gedicht aus der Erin¬
nerung auf: »A fumi tristi cede i letto il mare, / II mare«
(»Traurigen Schwaden trat sein Bett ab / das Meer, / Das
Meer«), wobei es aber zu einer völligen Umkehrung der Stim¬
mung kommt, denn in Finale heißt es: »Sogar das Meer ist
tot«. Ungarettis Kriegsgedichte hätten ohne seine Fronterfah¬
rung nicht geschrieben werden können; aber das, was sie zu
etwas Umfassenderem als bloßen »Kriegsgedichten« macht,
sind Dinge, die ihn persönlich betreffen, einschließlich seines
inständigen Wunsches, den Krieg zu überleben.
Dasselbe läßt sich über die Kriegsgedichte von Georg Trakl
sagen, obwohl ein Erlebnis, das so ähnlich war wie das in Un¬
garettis Veglia geschilderte, Trakl 1914 in den Selbstmord
trieb, als er bei der österreichischen Armee an der Ostfront
diente. Auch ihm ging es um die Zukunft, aber seine Sorge
galt nicht der eigenen Zukunft. Seine Klage hat, wie die von
F. S. Flint, mit der Güte des Lebens und mit »des Menschen
Bildnis« zu tun, und das Einwirken des besonderen persön¬
lichen Kriegserlebens macht dieses Gedicht in keiner wesent¬
lichen Beziehung zu etwas anderem, als es seine vor dem
Krieg geschriebenen Gedichte waren, die dieselben Themen
und dieselbe visionäre Dichte aufweisen:
Klage
209
Als literarische Gestalt war Trakl alles andere als ein Kosmo¬
polit oder ein Mann der Metropolen. Seine Berührungen mit
anderen Autoren, selbst mit jenen deutschen Expressionisten,
unter die ihn die Literaturhistoriker einreihen, waren selten
und am Rand, wenn auch seine frühe Lektüre von Rimbaud
und anderen französischen Dichtern seine Art zu schreiben
beeinflußte. Wenn Trakls Lyrik in einer Weise internationale
Aufnahme fand, wie das bei Wilfred Owen, Isaac Rosenberg
und Siegfried Sassoon nicht der Lall war, so ist das darauf
zurückzuführen, daß Trakls Bilder eher archetypisch als
phänomenal sind und daß sein Modernismus weniger mit Gei¬
steshaltungen und Erfahrungen zu tun hat als mit stilistischen
Entwicklungszügen, die viele verschiedene nationale Litera¬
turen und viele literarische Bewegungen gemein haben. Trakls
letztes Gedicht, Grodek, enthält diese Zeile:
210
Die Zehen sterben
Atem schmilzt zu Blei
In den Fingern sielen heiße Nadeln.
Der Rücken schneckt
Die Ohren summen Tee
Das Feuer
Klotzt
Und
Floch vom Flimmel
Schlürft
Dein kochig Herz
Verschrumplig
Knistrig
Wohlig
Sieden Schlaf.
211
oder toter Marmor, den er zum Leben erwecken wollte, wie
ein echter Bildhauer.« Kurze Zeit, nachdem er Stramm diesen
Tribut gezollt hatte, fiel auch Marc im Kampf; aber das, was
die Lyrik in den darauffolgenden Dekaden so verarmen ließ,
war nicht nur der Tod so vieler Begabungen auf beiden Sei¬
ten. Viele der Überlebenden erlangten niemals wieder die Be¬
geisterung und Überzeugtheit der Vorkriegszeit, jener Zeit,
in der eine Revolutionierung der Kunst noch in der Lage zu
sein schien, die Herzen und Geister einer »neuen Menschheit«
zu revolutionieren. F. S. Flint war einer dieser Überlebenden;
und ebenso wie sein Lament erinnert auch der Abschnitt IV
von Ezra Pounds E. P. Ode Pour L’Election De Son Se-
pulckre an das vorzeitige Ende dessen, was ein neues Zeit¬
alter hätte werden sollen:
212
Die verschiedenen modernen »Bewegungen« der Zeit unmit¬
telbar vor 1914 und der Kriegsjahre haben-für den histori¬
schen Betrachter durchaus auch ihr Interesse, aber ihre Bedeu¬
tung für die Werke, die in dieser Zeit geschaffen wurden, ist
weit geringer als die Bedeutung der Stimmung von Abenteuer
und Erneuerung, die ihr gemeinsamer Nenner ist. »Nach dem
Kubismus und Unanimismus«, registriert Margaret Davies6,
»hatte es den Paroxysmus gegeben, den Futurismus, den Si¬
multanismus, den Orphismus, den Dramatismus, Beaudonins
>Synoptisme polyplan< (der die Technik des Kinos und musi¬
kalische Konstruktionsprinzipien in die Kunst einbeziehen
wollte), den Dynamismus, den Modernismus, und in England
den Vortizismus und Imagismus, in Rußland den Rayonnis-
mus-.« Man könnte noch viele Namen in diese Liste mit auf¬
nehmen, darunter den russischen Futurismus, den deutschen
Expressionismus und den internationalen Dadaismus, auf den
der Surrealismus folgte mit Paris als Zentrum, aber mit Filia¬
len und Anhängern in der ganzen Welt. Wenn man die sehr
kurzen Gedichte von T. E. Hulme als die Prototypen für das
Verfahren der Imagisten bezeichnen kann, so zeigt die spä¬
tere Entwicklung der wichtigsten Mitarbeiter an den imagisti¬
schen Anthologien beispielhaft die Tendenz auf, die alle der¬
artigen Programme haben - die Tendenz nämlich, mit der
Zeit den persönlichen Ausdrucksbedürfnissen der Autoren zu
weichen. Allein Apollinaire stand in Verbindung mit einer
erklecklichen Zahl der »Ismen«, die in der Liste von Marga¬
ret Davies aufgeführt sind. »Expressionismus« andererseits ist
ein Etikett, das während mehrerer Jahrzehnte auf Werke von
deutschen Künstlern und Autoren von solcher Verschieden¬
heit angewendet worden ist, daß es heute eigentlich nur mehr
als Synonym für »moderne Kunst« verwendbar ist.7
Ernst Stadler z. B. schrieb Gedichte, die sich von denen Trakls
ebenso grundsätzlich unterscheiden, wie Trakls Gedichte von
denen Stramms verschieden sind oder von der Lyrik Alfred
Lichtensteins, eines anderen deutschen Dichters, der im Ersten
Weltkrieg gefallen ist. All diese Dichter werden als Expres¬
sionisten bezeichnet, und alle vier wurden posthum in die
Anthologie Menschheitsdämmerung von 1920 mit aufgenom¬
men, die ihr Herausgeber eine »Symphonie jüngster Dich¬
tung« nannte.
213
Das, was Stadler mit anderen Autoren von Beiträgen zu Zeit¬
schriften wie Die Aktion und Der Sturm gemein hatte, ist
eine Unzufriedenheit mit der alten Ordnung sowohl in der
Gesellschaft als auch in der Kunst, ein Ungenügen, das in Bil¬
dern der Bedrohung und des Ruins zum Ausdruck kam — so
wie etwa in Georg Leyms Gedicht Der Krieg, geschrieben
wenige Jahre vor Kriegsausbruch, und in Stadlers eigenem
Gedicht Der Aufbruch - aber auch in Bildern der Erneuerung
und Wiedergeburt. Die Ironiker Alfred Lichtenstein und Ja¬
kob van Hoddis trivialisierten ihre apokalyptische Grund¬
stimmung, indem sie sie zugleich clownesk, elegant und gro¬
tesk machten. Georg Trakl gab seinen apokalyptischen Visio¬
nen einen elegischen Ton und einen getragenen Ernst, der an
Hölderlin erinnert. Stadler war ein Realist und ein Vitalist.
Seine Gedichte über das East End von London - Judenviertel
in London und Kinder vor einem Londoner Armenspeisehaus
- sind eindrucksvolle Beispiele für einen poetischen Stil, der
in keiner Weise expressiv oder expressionistisch zu nennen ist,
da in diesen Texten die Beschreibung vorherrscht und das be¬
schriebene Elend nicht die apokalyptischen Bedeutungen und
Dimensionen annimmt, die Trakl in seinem Gedicht Das Herz
in ein einziges Bild zusammendrängen konnte:
Dieses Bild mag aus der Erfahrung stammen ebenso wie der
»Gestank von faulem Fleisch und Fisch«, der in Stadlers Ge¬
dicht über das Judenviertel von London »in den Mauern
hängt« oder die »schmutzigen und zerlumpten« Kinder, die
in seinem anderen London-Gedicht um ein kostenloses Essen
Schlange stehen; aber Stadlers sehr viel präzisere Beschrei¬
bungen in diesen Gedichten fixieren die Aufmerksamkeit des
Lesers auf die Szene selber, während Trakls Beschreibungen
ein Gefühl des Bösen und des Verdammtseins erwecken, für
das die Szene nur ein Beispiel ist.
Ein weiteres Gedicht Stadlers mit englischer Szenerie, Meer,
ist ebenso typisch für seinen Vitalismus, wie es die beiden an-
214
deren für seinen Realismus waren; und einer der Gründe da¬
für ist die Tatsache, daß Meer ein Gedicht des subjektiven
Ausdrucks ist, während die beiden zitierten Texte Mitleids-
gedidhte waren. Auch Kinder vor einem Londoner Armen¬
speisehaus beginnt zwar mit dem Wort »Ich«, aber nach
dem einleitenden »Ich sah« verschwindet die erste Person aus
dem Gedicht. In Meer dagegen ist das »Ich«, mit dem das Ge¬
dicht anfängt, das wahre Subjekt und das eigentliche Thema.
Gleich von der ersten Zeile an wird das Meer etwas, das in
dem Dichter ist und zugleich immer noch das Gewässer be¬
zeichnet, in dem er badet:
215
fallen. Die Ambivalenz hängt damit zusammen, daß Stadler
eine Ekstase zelebriert, die immer eine Auflösung des Ichs
ist, wie das etwa in seinem Gedicht Puppen der Fall ist, wo
der Mund der Prostitution ist »wie eine tolle Frucht die Lust
und Untergang verheißt«. Ekstase und Selbstzerstörung sind
in Stadlers Gedichten fast untrennbar miteinander verbun¬
den — selbst dort, wo der Kontext keine offen erkennbaren
erotischen Bedeutungsgehalte hat.
Bereits 1902, als Stadler noch an der ziemlich unoriginellen
Lyrik arbeitete, die er in seinem ersten Buch Präludien (1904)
gesammelt herausgab - seine zweite und letzte Sammlung
Der Aufbruch erschien erst 1913, kurze Zeit vor seinem Tod
— schrieb er in seinem Essay Neuland: »Alle wahre Kunst
dient der Zukunft.« Das Titelgedicht von Stadlers zweitem
Gedichtband kleidet seine ungeduldige Erwartung der Zu¬
kunft in militärische Ausdrücke:
216
fiel, in dem er seine Universitätsstelle als Gastprofessor in
Toronto hätte antreten sollen; und daß er in demselben
Land fiel, in dem er als Universitätslektor gelebt und gelehrt
hatte, nämlich in Belgien - aber sein früher Tod auf dem
Schlachtfeld steht in Einklang mit der durchgehenden Ambi¬
valenz seiner Dichtung. Der Aufbruch, ein vor 1914 entstan¬
denes Gedicht, ist sein einziges Stück »Kriegslyrik«; und es
ist kein Gedicht über den Krieg, sondern es handelt vom lei¬
denschaftlichen, gefährlichen und uneingeschränkt freien Le¬
ben, einer Lebenshaltung, die sich so sehr wie nur möglich
von dem Lebensstil des selbstzufriedenen und verhätschelten
Bürgertums von 1912 unterscheiden sollte. Stadler blieb die
Erfahrung jener Kluft quer durch die westliche Zivilisation
erspart, die Siegfried Sassoon in Does It Matterf1® offenlegte:
217
Ein so geartetes Wissen mußte den internationalen Futuris¬
mus, dem sich Stadler verschrieben hatte, dämpfen und spal¬
ten. Die tonangebenden »Ismen« der Jahre zwischen den
Kriegen waren meist stärker politisch als ästhetisch fundiert
und tendierten dazu, dem Bereich einengende Grenzen vorzu¬
schreiben, innerhalb dessen ein Dichter, ohne Schuld auf sich
zu laden, jenem Widerstreit mit sich selbst nachgehen konnte,
aus dem nach dem Worte von Yeats die Lyrik gemacht wird.
Stadlers Gedicht Der Aufbruch z. B. wurde wegen seines
>Militarismus< kritisiert und seine Feier der »dunklen Göt¬
ter« des Blutes wurde aus verwandten Gründen verdächtig
gemacht. Der Individualismus, der eine Voraussetzung für
die Erneuerung in der Kunst war - und selbst für das Trach¬
ten nach einer neuen Gemeinschaft oder »Kommunion«, das
Stadlers ganzes Werk durchzieht -, sollte sich bald Pressio¬
nen und Angriffen von beiden politischen Seiten ausgesetzt
sehen.
218
11 s’amusait ä vous jeter des fleurs et des couronnes
Tandis que vous passiez derriere son corbillard
Puis il a achete une petite cocarde tricolore
Je l’ai vu le soir meme manifester sur les boulevards
II etait ä cheval sur le moteur d’un camion americain et
brandissait un enorme drapeau international deploye
comme un avion
VIVE LA FRANCE .. «
219
(Kleine Franzosen, halb Engländer, halb Neger, halb Russen,
ein bißchen Belgier, Italiener, Annamiten, Tschechen
Der eine mit kanadischem Akzent, der andere mit Hinduaugen
Zähne Gesicht Bau Gelenke Haltung Gang Lächeln
Sie haben alle ein bißchen was Fremdes und sind trotzdem
bei uns zu Hause
In ihrer Mitte Apollinaire, wie jene Statue des Nil, Vater der
Wasser, hingelagert mit seinen Gören, die überall auf ihm
herumturnen
Zwischen den Füßen, unter den Achseln, im Bart
Sie gleichen ihrem Vater und weichen von ihm ab
Sie sprechen alle die Sprache Apollinaires.)
220
starb 1944 in einem deutschen Vernichtungslager. Die deut¬
sche Dichterin Gertrud Kolmar wurde 1943 zum letzten Mal
lebend gesehen; sie arbeitete damals in einem Zwangsarbeits¬
lager. Der türkische Dichter Nazim Hikmet wurde 1929 zu
neunundzwanzig Jahren Einzelhaft verurteilt und sah sich
nach seiner Entlassung 1951 gezwungen, nach Rußland zu
fliehen. Die meisten der deutschen Modernisten, die 1933 noch
am Leben waren, endeten ihr Leben in der Emigration, mehr
als einer beging im Exil Selbstmord. Die spanischen Dichter
der Generation, der Lorca angehörte, und Antonio Machado
und Juan Jimenez wurden nach dem Bürgerkrieg in ähnlicher
Weise in alle Winde verstreut. Apollinaires Freund Max Ja¬
cob wurde aus seiner klösterlichen Zurückgezogenheit in
Saint-Benoit-sur-Loire heraus verhaftet und starb in einem
deutschen Konzentrationslager. Es ist nicht notwendig, diese
Liste zu vervollständigen oder auf den neuesten Stand zu
bringen. Die wenigen aufgeführten Fälle dürften mehr als
ausreichend sein, um zu zeigen, daß die Nachkriegszeit ab
1918 in der Tat sehr anders aussah, als Cendrars sie sich in
seinem Preisgedicht auf Apollinaire ausgemalt hatte.
221
so nahm er dieselbe Art von vertraulicher Beziehung zum
Zeitgeist für sich in Anspruch wie Brecht sie - mit sehr an¬
deren Vorzeichen, aber mit derselben Berufung auf villoneske
Vorbilder - für sich in Anspruch nahm in Gedichten wie Vom
armen B. B. und An die Nach geborenen. Beide Dichter waren
Eklektiker und bedienten sich aller Modelle und Konventio¬
nen, die sich für ihre Zwecke erneuern oder umfunktionieren
ließen. Selbstverständlich erlaubte ihnen die villoneske Kon¬
vention nicht die Gesamtheit ihrer Persönlichkeit wiederzu¬
geben, denn die war in beiden Fällen so komplex und viel¬
seitig wie die Persönlichkeit Pessoas; aber sie ermöglichte es
ihnen immerhin, eine historisch repräsentative Funktion zu
erfüllen, die seit langem als unvereinbar mit modernen Ver¬
fahrensweisen in der Dichtung gegolten hatte. Bewußte Ver- '
einfachungen seines poetischen Idhs - sie waren unvermeid¬
lich, wenn Guillaume Apollinaire, der kosmopolitische Dich¬
ter mit der gemischten, fremdländischen und von Geheimnis
umwitterten Herkunft, von Frankreich als eine repräsenta¬
tive Figur angenommen werden sollte - treten stärker in sei¬
nen späteren Gedichten hervor als in den vor dem Krieg ent¬
standenen Werken. Obwohl der naive Ton mit seinen Echos
nicht nur aus Villon, sondern auch aus der Volkslieddichtung,
aus Ronsard und einer bunten Menge von anderen Vorbil¬
dern ein ebenso legitimer und wesentlicher Zug von Apolli-
naires frühen Neuerungen war wie sein sehr geglückter Ge¬
brauch der zeitgenössischen Umgangssprache, sind Zone und
La Chanson du mal-aime eher Selbstentdeckungen als Projek¬
tionen des eignen Selbst in die Dichtung. Trotz seines direk¬
ten Anrufs an die Nachwelt setzt auch Vendemiaire diese
Selbsterforschung fort, indem es den Dichter mit Hilfe der
Erlebnisse darstellt, die ihn geformt haben. Der Anspruch
Als ein Dichter, der ebenso sehr nach rückwärts wie nach vor¬
wärts schaute, der zwischen einer futuristischen Freude an al¬
lem Neuen und einer müden Sehnsucht nach jenem »Zeremo¬
niell der Unschuld« schwankte, die viele der Neuerungen des
zwanzigsten Jahrhunderts zu »ertränken« halfen, hatte es
Apollinaire nicht nötig, seinen repräsentativen Status zu be¬
tonen. Gerade sein Wunsch, eine repräsentative Gestalt zu
sein und »Vollkommenheit des Lebens« mit der »Vollkom¬
menheit des Werkes« zu verbinden, war seltsam anachro¬
nistisch und erinnert eher an Victor Hugo als an Hugos
Nachfolger. Es war auch eine naive Ambition; und dieselbe
Naivität, die Apollinaire als Charakter so sympathisch
macht, erklärt viele von den Unvollkommenheiten des Dich-
223
ters Apollinaire - seine Neigung zum Plagiat etwa, oder seine
Unfähigkeit konventioneller Rhetorik und konventionellen
Lyrismen von einer Art zu widerstehen, die nicht wirklich
mit seiner ebenso echten Leidenschaft für das Moderne ver¬
einbar ist. Diese Mängel scheinen seine französischen Kriti¬
ker mehr zu stören als die ausländischen; und es besteht ein
Zusammenhang zwischen Apollinaires etwas unsicherer Re¬
putation in Frankreich - verglichen mit seiner internationa¬
len Wertschätzung ist seine Reputation in Frankreich un¬
sicher - und der grundsätzlichen persönlichen Unsicherheit,
die ihn sich vielleicht zu verkrampft um eine Kompensation
für seine illegitime ausländische Geburt bemühen ließ. Apol¬
linaire wurde damit nie ganz fertig. Daher sein übertriebenes
Bedürfnis, anerkannt und akzeptiert zu werden - sei es bei
der Pariser Avantgarde oder bei der Academie Fran£aise
daher seine geistigen Zwänge, sein übertriebener Patriotismus
und seine Anfälle von äußerster Niedergeschlagenheit. Selbst
sein Tod im Alter von achtunddreißig Jahren wäre vielleicht
vermieden worden, hätte er es nicht als Zwang empfunden,
für seine Wurzellosigkeit zu kompensieren dadurch, daß er
darauf bestand, die vergleichsweise Sicherheit der Artillerie
auzugeben, um sich für die Ernennung zum Offizier zu qua¬
lifizieren, obwohl schon allein das Gefühl, der französischen
Armee anzugehören, die Wunde in seinem Inneren beinahe
geschlossen zu haben scheint.
Diese biographischen Erwägungen sind nicht bedeutungslos
im Fall eines Dichters, der niemals versucht hat, sein empi¬
risches Ich aus seinen Gedichten herauszuhalten, und der das
Bedürfnis empfand, die Nachwelt um dieselbe Anerkennung
und Aufnahme zu bitten, die er als Mensch nötig hatte:
224
schließt, drängt sich Apollinaires Ich-Bewußtsein auf in dem
»Mais riez, riez de moi« (»Doch lacht, ach lacht mich aus«),
einer Aufforderung an seine Leser, die von einem Gedicht ab¬
lenkt, das ohne diese Einmischung keinerlei Nachsicht von sei¬
ten irgendeines Lesers fordern würde, denn es bietet die
Summe von Apollinaires Erfahrung dar mit einer Direktheit
und einem Verzicht auf jegliche Anmaßung, die nur durch
die erwähnten Bitten um Nachsicht und Mitleid einen Bruch
erfahren. Man wäre bereit, die Banalität von Apollinaires
Hinweis auf den Krieg als eine »effroyable lutte« (»einen
schrecklichen Kampf«) zu entschuldigen - die Benennung
steht übrigens im Widerspruch zu anderen Gedichten in Cal-
ligrammes wie etwa
(Wie schön sie sind, diese Raketen, die die Nacht erhellen),
(Ich weiß von Altem und Neuem so viel wie ein einzelner
davon wissen kann
Und ohne mich heute über diesen Krieg aufzuregen
Unter uns und für uns meine Freunde
Schlichte ich diesen langen Streit zwischen Tradition und Erfindung
Zwischen Ordnung und Abenteuer.)
225
sich an diejenigen wendet, deren »Mund nach dem Ebenbild
Gottes geschaffen« ist und sie um Nachsicht bittet für eine
Generation, die die Ordnung dem Abenteuer aufopferte. Sehr
oft sind Apollinaires dichterische Fehltritte Verbeugungen vor
Konventionen und Ordnungen, die endgültig hinter sich zu
lassen sein Mut nicht ausreichte; und gerade diese Art von
Verstößen erklärt die Entstehung der vielen Unsauberkeiten
der Sprache, des Aufbaus und des poetischen Gestus. Trotz
all seiner begeisterten Werbung für eine lange Reihe von mo¬
dernistischen Bewegungen zeigen selbst Apollinaires Mani¬
feste und kritische Aufsätze, daß sein Bruch mit den dichteri¬
schen Verfahrensweisen der romantisch-symbolistischen Lyri¬
ker ebensosehr eine Restauration wie eine Revolution war.
Man sieht das schon an seinen frühesten Artikeln von 1903,
und man sieht es ebenso an seinem späten Essay L’Esprit
nouveau et les poetes mit seinen Warnungen gegen ein »kos¬
mopolitisches lyrisches Ausdrucksstreben«, das »nur form¬
lose Werke ohne Charakter oder individuelle Struktur« her¬
vorbringen könne. Sowohl der Dadaismus wie die heute
neueste Konkrete Poesie könnten der Gegenstand eines ande¬
ren Vorbehaltes in demselben Essay sein: »Ich halte es für
falsch, wenn ein Gedicht nur aus Nachahmungen eines Ge¬
räusches besteht, mit dem sich keine lyrische, tragische oder
rührende Bedeutung verbinden läßt.« Und doch entsprang
Apollinaires Originalität einem neuen Bewußtsein, das grund¬
sätzlich kosmopolitisch war, einem Bewußtsein auch, das
Schockwirkungen zuließ wie
22 6
Gegensatz zu der erhabenen Unnahbarkeit, die die Symbo¬
listen in dieser Beziehung kultivierten sondern deshalb,
weil sich gerade seine Unsicherheiten und seine Schwächen als
ebenso symptomatisch erwiesen wie seine erfolgreichen Neue¬
rungen. Apollinaires außergewöhnliche Fähigkeit, die Dinge
vorauszuwissen, ließ ihn 1917 schreiben: »Der Gebrauch der
literarischen Freiheit in der Gesellschaft wird in zunehmen¬
dem Maße selten und kostbar werden. Die großen Demokra¬
tien der Zukunft werden sich gegen die Schriftsteller nicht sehr
tolerant erweisen.«17 Seine eigne Lyrik nimmt diese Entwick¬
lungstendenz vorweg in der Direktheit ihrer Aussage, ihrer
Hinwendung zu traditionellen Vorbildern und Konventio¬
nen, ihrem Zurückschrecken vor Neuerungen, die seinem Ge¬
fühl nach zu individualistisch oder kosmopolitisch waren. All
das sind charakteristische Züge auch der Werke, die nach dem
ersten Weltkrieg von solchen Dichtern produziert wurden, die
unter gesellschaftlichem Druck schrieben, ob der Druck nun
von totalitären Regimen ausging oder aus ihrem eigenen
ideologischen Engagement resultierte.
Apollinaire erschuf, wie sonst nur wenige Dichter seiner Zeit,
eine legendäre Rolle für sich, indem er sein empirisches und
sein poetisches Ich eine etwas unbehagliche Ehe eingehen ließ,
eine Verbindung, die seit Wordsworths »egotistical sublime«*
oder Victor Hugos noch selbstsicherem, aber nicht immer zu¬
gleich erhabenem Ehrgeiz, als ein »Gesetzgeber der Mensch¬
heit« aufzutreten** oder doch zumindest als Sprachrohr und
Gewissen eines Volkes, kaum mehr versucht worden war. Die
Stile, über die Apollinaire verfügt, sind beinahe so verschie¬
denartig und heterogen wie die Stilfarben von Fernando Pes-
soa, aber das, was sie vor dem Auseinanderfallen bewahrt —
manchmal innerhalb der Grenzen eines einzigen längeren Ge¬
dichtes - ist gerade die biographische Einheit der Persönlich-
227
keit, die Pessoa den Mut hatte abzuschütteln. Unter dem Ge¬
sichtspunkt der Legendenbildung gesehen, hätte Apollinaires
Tod im November 1918 nicht besser und genauer geplant
werden können. Blaise Cendrars war nicht der einzige, der
empfand, daß er das Ende eines Zeitalters war. Max Jacob
schrieb: »Wenn ich die Wahrheit sagen soll: weder der Erfolg
meiner Freunde noch die Erfolge unseres siegreichen Vater¬
landes können das wieder zum Leben erwecken, was sein
Tod für immer in mir hat verdorren lassen. Ich wußte nicht,
daß er so sehr »mein Leben« war. Irgendwo ist für mich ir¬
gendetwas zerbrochen. Wenn ich ein bißchen fühlsamer wäre,
würde ich empfinden, daß ich selber gestorben bin.«18
Apollinaires exemplarische Bedeutung im Rahmen der un¬
mittelbar dem Krieg vorausgehenden Ära des internationalen
Aufbruchs der modernen Kunst kann als gesichert gelten.
Was nicht so offenkundig ist, ist das Ausmaß, in dem sein
Werk spätere Entwicklungen vorwegnimmt. Ich habe schon
zwei Gedichte erwähnt, in denen Bertolt Brecht sich — oder
ein Bild, eine Legende von sich - der Nachwelt präsentiert.
Das frühere der beiden Stücke - Vom armen B. B. (1919) -
enthält folgende Strophe:
228
Während sich Brechts Zeilen krampfhaft antiromantisch ge¬
ben, sind die von Apollinaire romantisch: das »Pissen« paßt
viel besser zu den Gaslampen und vermittelt suggestiv den
Schmutz der modernen Großstadt; das ganze Gedicht beklagt
ja die »Ausrottung« von Lämmern und Hirten, das »Erträn¬
ken« einer bestimmten Art von »Feier der Unschuld«. Im Ge¬
gensatz zu dem »Ich« des Brechtschen Gedichtes »trinkt« das
»Ich« von Apollinaires Fianqailles »die Sterne gläserweise«,
eine Metapher, die in massivem Kontrast steht sowohl zu
den Bierseideln der Sargträger in seinem eigenen Gedicht als
auch mit der Art, in der Brecht sein Glas leert. Dennoch waren
diese beiden Dichter einander nicht nur in ihrem Eklektizis¬
mus und in ihrem Hang zum Plagiat gleich, sondern auch
darin, daß sie sich solcher Schockeffekte bedienten. »Die Über¬
raschung ist das stärkste moderne Kunstmittel«, schrieb Apol¬
linaire in einem Essay.
Ein anderes frühes Gedicht von Apollinaire, Merlin et la
vieille femme in Alcools, ist beherrscht von dem polaren Ge¬
gensatz zweier Bilder, einmal des Bildes des »blutenden
Lichts«, von dem die »Wolken triefen wie ein Monatsfluß«
und zum anderen des Bildes vom »Weißdorn, der in Blüte
steht«. Dieses Gedicht - es ist noch sehr stark in der sym¬
bolistischen Manier gehalten, mit besonders deutlichen An¬
klängen an die hermetischen Gedichte von Gerard de Nerval
- belädt das immer wiederkehrende Bild der »aubepine en
fleurs« mit einer lebenserneuernden Bedeutung, die der Ro¬
heit der rein physischen Phänomene »Geburt, Begattung und
Tod« gegenübergestellt wird. Das gleiche Bild kommt noch
einmal in einem Gedicht aus dem Zweiten Weltkrieg vor, in
Louis Aragons Santa Espina:19
229
Diese Gedichte von Aragon aus der Kriegszeit waren ein be¬
wußter Bruch mit seiner früheren Art zu dichten - sowohl als
surrealistischer Dichter wie auch als ein Dichter, der avant¬
gardistische Techniken als kommunistische Propaganda ein¬
setzte - manchmal so plump, wie in der folgenden Passage
aus Front-rouge (Rotfront) von 1930:
und so weiter. Andre Gide begrüßte den Bruch als die »Wie¬
dergeburt« der »direkten Lyrik«, im Gegensatz zur »Gehirn¬
lyrik«, und Cyril Connolly bezeichnete Aragon als »den
ersten Dichter der Vereinten Nationen, der aus dem Krieg
Musik machen kann«. Wenn aus dieser »Wiedergeburt« nichts
23°
wurde, so kann uns die an der Oberfläche so effektvolle Rhe¬
torik der Stelle aus Santa Espina, die wir zitiert haben — eine
Rhetorik, die sich von der in Front-rouge vorliegenden nur
unterscheidet durch ihr absichtliches Zurückgreifen auf tradi¬
tionelle lyrische Klischees und durch ihr Spekulieren auf me¬
chanische Reaktionen des Lesers, die eher patriotisch und reli¬
giös sind als international - verraten, warum das so war.
Man darf Apollinaire dieses zufällige Zusammentreffen nicht
anlasten, aber seine späteren Gedichte lieferten tatsächlich
Modelle für die Pseudo-»Wiedergeburt«, die Gide begrüßte,
und freilich ebenso für solche empfindungsechte Lyrismen,
wie sie Aragon in Le Creve-coeur und Les Yeux d’Elsa auch
gelungen sind. Apollinaires im Grunde naive Gemütsart - die
überall in seinem Werk zum Ausdruck kommt, trotz allem,
was es darin an Zerebralem, zu Absichtsvollem und unecht
Naivem gibt - macht vieles von seinen Entgleisungen wieder
gut, selbst in der Folge von Liebes- und Kriegsgedichten, die
er gegen Ende seines Lebens geschrieben hat. Die Periode
zwischen den Kriegen freilich mit ihrer Forderung eines to¬
talen ideologischen Engagements war dazu angetan, die
»Feier der Unschuld« zu »ertränken«. Das politische Utopie¬
denken, das ein so auffallender Zug der modernistischen Be¬
wegungen der Zeit vor 1914 war, hatte der Phantasie Ent¬
faltungsmöglichkeiten und einen Elan gegeben, die nur sel¬
ten der Erfahrung zuerst der Massenschlacht und dann des
ständigen Aufeinanderprallens der Ideologien, Parteien und
nationalen Ambitionen während des nächsten halben Jahr¬
hunderts standhielten. Aber ohne diese utopischen Voraus¬
setzungen hätten die realistischen Kriegsgedichte von Wilfred
Owen, Isaac Rosenberg und Siegfried Sassoon nicht die ins
Herz schneidende Heftigkeit des Mitleids und der Empörung
haben können, die sie von dem größten Teil der von Front¬
kämpfern des Zweiten Weltkrieges geschriebenen Lyrik un¬
terscheidet.
231
ließ. Aus demselben Grund müßte er dann auch die deutsche
und russische »Kriegsdichtung« und Anti-Kriegsdichtung aus
der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einschließen und eben¬
so die Gedichte, die den Korea- und den Vietnamkrieg zum
Anlaß haben; und er hätte schließlich auch noch Gedichte über
den Krieg zu berücksichtigen, die geschrieben wurden, bevor
das Ereignis des Krieges eintrat, also Stücke wie Georg
Heyms apokalyptisches Gedicht Der Krieg von 1911. Ein
Gutteil der bleibenden Kriegslyrik des Zweiten Weltkriegs
wurde von Dichtern geschrieben, die keine Frontkämpfer wa¬
ren, oder von Widerstandskämpfern der Resistance wie Paul
Eluard und Rene Char. In der Ära der totalen Politik ist
die Kriegsdichtung praktisch zu einer ständigen, allenthal¬
ben zu findenden Erscheinung geworden - einer Erscheinung
zudem, die sich kaum mehr von anderen Arten von Lyrik ab¬
hebt.
Mit Ausnahme der Dichtung des Widerstandes - die Arbei¬
ten von widerwillig Eingezogenen, von Opfern totalitärer
Diskriminierung und von Zivilisten oder Guerillakämpfern
in besetzten Ländern mit einschließt-war die einzige Kriegs¬
dichtung von Frontkämpfern im Zweiten Weltkrieg, die zählt,
die Kriegslyrik der Engländer und Amerikaner; denn von
den aktiven Kämpfern der anderen Nationen besaß keiner
mehr dieselbe Freiheit zu schreiben und zu veröffentlichen,
was ihm gefiel, die seine Vorgänger im Ersten Weltkrieg
noch hatten.
232
- und der Stimmung der jungen britischen und amerikani¬
schen Dichter der Generation, an die sich das Gedicht wendet.
Hinter der stoischen Gelassenheit dieser Zeilen fühlt man
nicht nur das Erlebnis des aktiven Kriegsdienstes in dem
»Krieg, der allen Kriegen ein Ende machen wird«, sondern
auch die Erfahrung des nie beendeten Krieges, der 1917 an¬
gefangen hat. Dieser Stoizismus ist auch die Grundstimmung
von Keith Douglas, dem reifsten und empfänglichsten unter
den englischen Dichtern, die im Zweiten Weltkrieg im Kampf
gefallen sind. Douglas war kein Pazifist, noch war er ein
Anarcho-Syndikalist wie Herbert Read, noch auch ein Christ
wie T. S. Eliot; aber Douglas kämpfte »ohne Hoffnung«
und »mit Anstand«. In einem Brief an seinen Freund J. C.
Hall schrieb er: »In der jetzigen Zeit sentimental oder ge¬
fühlvoll zu sein, ist gefährlich für einen selber und für andere.
Auf jemanden zu vertrauen oder sich irgendeine Hoffnung
auf eine bessere Welt zu machen, ist eine verbrecherische
Dummheit; es ist ebenso töricht, wie es töricht wäre, sich
nicht mehr dafür einzusetzen, nicht mehr dafür arbeiten zu
wollen.«21 Auch hinter dieser Feststellung steht das Bewußt¬
sein dessen, was vorhergegangen ist, und dieses Bewußtsein —
nicht nur dessen, was sich international in der Literatur voll¬
zogen hatte (diese Art von Gewahrsam kommt im Werk von
Sidney Keyes ebenso deutlich zum Ausdruck), sondern dessen,
was dem ganzen Gefüge der abendländischen Kultur wider¬
fahren war und widerfuhr -, dieses Bewußtsein ist das, was
Douglas gegenüber den anderen britischen »Kriegsdichtern«
seiner Altersklasse eine Sonderstellung gibt. Als Entgegnung
auf den Vorwurf, er habe als Dichter versagt, brachte Dou¬
glas in demselben Brief von 1943 folgendes Argument vor:
»Nur jemand, der keine Verbindung/(und damit meine ich
eine direkte Verbindung, eine Erfahrung aus erster Hand)
mit dem hat, was sich außerhalb Englands ereignet hat - und
von einem kulturellen Standpunkt aus wünschte ich, daß es
das Leben in England stärker beeinflußt hätte - nur so je¬
mand konnte diese Kritik Vorbringen.«
Daß Keith Douglas beim Schreiben seiner Gedichte auch seine
Vorgänger aus dem Ersten Weltkrieg im Bewußtsein hatte,
beweist sein Tribut an Isaac Rosenberg - »Rosenberg, ich
wiederhole nur, was du gesagt hast« — in Desert Flowers.
233
Doch im Gegensatz zu der Abhängigkeit Alun Lewis’ von
Edward Thomas oder jene Sidney Keyes’ von Yeats, Rilke,
Eliot und anderen Dichtern hat der literarische Einfluß, den
Keith Douglas hier eingesteht, ihn nicht daran gehindert,
sich seine volle Empfänglichkeit für das eigene Erleben der
Kriegserfahrung zu bewahren. Er brachte dafür zwei un¬
schätzbare Vorteile mit: einen Blick für das bedeutsame De¬
tail, wie er sonst nur bei Malern zu finden ist, und eine Reife
des Denkens und Empfindens, die weit über seine Jahre hin¬
ausging. (Douglas war nicht älter als 24 Jahre, als er im
Juni 1944 fiel, aber seine Gesammelten Gedichte (Collected
Poems) enthalten Gedichte, die er mit 14 Jahren schrieb, und
seine technische Kompetenz, seine Sicherheit und die Weite
seiner Beobachtungen hatten seit diesen frühreifen Anfängen
ständig zugenommen.) Die Rauheit der Struktur und Machart
in seinen späteren Gedichten, die nach J. C. Halls Empfinden
unpoetisch - oder, wie ihn Douglas korrigierte, unlyrisch
ist -, hat mit der Offenheit gegenüber der Erfahrungswelt
zu tun, die seine große Stärke war, ebenso wie sie die Stärke
von Isaac Rosenberg und anderen Dichtern des Ersten Welt¬
kriegs gewesen war. Wiederum ist es Douglas selber, der uns
die Erklärung liefert, warum Glätte und Schönklang unpas¬
send gewesen wären:
Ich weiß nicht, ob Dir je das Wort Schafscheiße begegnet ist, es ist
ein Kommißwort und bedeutet Humbug und unnötigen Kleinkram.
Es symbolisiert das, was wir, glaube ich, loswerden müssen — die
Masse von überflüssigem Zeug, von »Haltungen«, »methodischen
Ansätzen«, Propaganda, Elfenbeintürmen usw. . . . das steht zwi¬
schen uns und unseren Problemen oder dem, was wir mit unseren
Problemen tun müssen. Wenn ich die Themen, die mich in der letz¬
ten Zeit beschäftigt haben, in lyrischer und abstrakter Form litera¬
risch behandeln wollte, so wäre das überlebensgroße Schafscheiße ...
Vermutlich spiegle ich nur den Zynismus und das vorsichtige Feh¬
len jeder Erwartung (was nicht ganz dasselbe ist wie Apathie) wi¬
der, mit denen ich die Welt betrachte . . . Ich habe nie versucht, über
den Krieg zu schreiben ... bis ich ihn erlebt hatte.21
234
wendig und so kämpfenswert er sein mochte, letztlich die
Konflikte nicht lösen und die Ubelstände nicht ausmerzen
konnte, aus denen er entsprungen war. Bei all seiner Tapfer¬
keit und soldatischen Einsatzbereitschaft blieb daher Douglas
zum Teil distanziert. Die ständige Vorausahnung, daß er
den Krieg nicht überleben würde, machte ihn zugleich wag¬
halsig und ironisch. Gerade weil er »ohne Hoffnung« und
»mit Anstand« kämpfte - d. h. also mit einer Art altmodisch¬
ritterlicher Tapferkeit, die es ihm zuzeiten erlaubte, seinen
Panzer in einen Krankenwagen für Verwundete umzufunk¬
tionieren, wie er in seinem Prosabericht über den Krieg in
der Wüste, Alamein to Zem Zem22, berichtet - machte ihn
sein kritischer Verstand besonders wachsam gegen jeden Hum¬
bug, selbst den in sich selber. Alamein to Zem Zem beginnt
so:
Wenn ich sage, daß ich die Schlacht von Alamein als eine Bewäh¬
rungsprobe für mich ansah, so klingt das aufgeblasen: aber ich sah
sie wirklich als einen wichtigen Test an, den ich gerne bestehen
wollte. Ich beobachtete diese Schlachten teilweise wie eine Vorstel¬
lung — das heißt ich ging durch sie hindurch wie ein Besucher vom
Lande, der zu einer großen Schau geht, oder wie ein Kind in einer
Fabrik - ein Kind sieht den Glanz und das Funktionieren von stäh¬
lernen Maschinen und es sieht endlose Treibriemen klatschend rund¬
um laufen, ohne daß es wissen möchte oder weiß, wozu das alles
da ist. Wenn ich Zeit fand, meine Gedanken zu ordnen, hielt ich
nach etwas Ausschau, das auf mehr Bedeutung schließen lassen
würde als der bloße äußere Anschein; ich schaute immer noch nach
etwas aus - ich komme nicht davon weg - was dekorativ, poetisch
oder dramatisch wäre .. . Nie verlor ich das sichere Gefühl, daß
das Erlebnis der Schlacht etwas war, was ich haben mußte.
235
platz der Schule und vom Verhaltenskodex des Zivillebens
auf das Kriegshandwerk übertragen worden sind:
236
verschärft. Douglas war selber in hohem Maße ein Erzeugnis
des upper-class-England vor dem Krieg, mit all den Tugen¬
den und all der Ritterlichkeit jener »aussterbenden Helden¬
rasse«, von der er spricht, aber ohne die Borniertheit, die den
Verhaltenskodex dieser Rasse als etwas Selbstverständliches
voraussetzte. Aber Douglas wußte auch, daß diese Tugen¬
den, für deren Erhaltung er und seine Offizierskameraden
kämpften, den Krieg, und selbst einen siegreich beendeten
Krieg, nicht überleben würden. Aristocrats ist mehr als ein
satirisches Gedicht und mehr als ein Gedicht des Mitleids,
denn hier sieht sich Douglas der Hoffnungslosigkeit und zu¬
gleich dem Anstand, mit denen er in diesem Krieg, der ihn
das Leben kostete, kämpfte, illusionslos gegenübergestellt. Es
ist ein Kampf nicht nur mit anderen, sondern mit sich selbst,
den er hier austrägt; und das Gedicht ist nicht nur ein Denk¬
mal des Heldentums anderer, sondern es ist auch einf Denk¬
mal seines eigenen Heldentums. Vielleicht wußte Douglas
auch im Innersten seines Herzens, daß er seine eigene Wahr¬
haftigkeit im Angesicht des Kollektiverlebnisses Krieg zu
einem großen Teil seiner Erziehung zu verdanken hatte -
einem Liberalismus und Individualismus -, die nicht weniger
der Gefahr des Aussterbens ausgesetzt waren wie jenes Ver¬
trauen auf die Fairness, das dieselben Institutionen dem jun¬
gen upper-class-Engländer einzuprägen bestrebt waren. Die¬
ser Liberalismus und Individualismus sind jedenfalls nicht
wegzudenken von Douglas’ Reaktion auf einen liberalismus¬
feindlichen und weitgehend totalitären Krieg; und alle seine
Gedichte aus der Kriegszeit und ebenso Alamein to Zem Zem
beweisen, daß er sich über die Anomalie seiner eigenen Rolle
in diesem Krieg keine Illusionen machte.
Weniger ambivalent ist die Haltung in Randall Jarrells The
Death of the Ball Turret Gunner. In diesem Gedicht wird
der einzelne Soldat, das Individuum, nur mehr als ein bloßes
Zubehörteil in einem völlig mechanisierten Krieg gesehen,
und der Bordschütze des Gedichtes könnte genauso gut ein
Deutscher oder ein Russe sein wie ein Amerikaner; denn die
grundsätzliche Annahme dieses Gedichtes ist es, daß der An¬
spruch des Staates auf das Individuum ebenso total ist wie der
Anspruch, den die moderne Kriegsmaschinerie an den einzel¬
nen stellt. Die Einstellung des Soldaten zum Krieg wird hier
237
belanglos, denn keine der beiden Maschinerien erfordert seine
moralische Zustimmung:
238
Wilfred Owen aus dem Ersten Weltkrieg sondern die sich
in Abfall verwandelten wie Metallteile, die undicht gewor¬
den sind. Jarrells Gedicht andererseits hätte nicht geschrieben
werden können ohne einen unausgesprochenen Vergleich sei¬
ner total mechanisierten Welt mit einer, die ein gewisses Maß
an Freiheit und Anstand zuläßt.
239
8 Ein Zeitalter ohne jeden Fixpunkt
We went where you are going, into the rain and the mud;
We fought as you will fight
With death and darkness and despair;
We gave what you will give - our brains and our blood.
240
(Wir gingen dorthin, wo auch du hingehst, in den Regen und Dreck;
Wir kämpften, so wie du kämpfen wirst,
Mit Tod und Dunkel und Verzweiflung;
Wir gaben hin, was auch du hingeben wirst - unser Hirn und
[unser Blut.)
241
ist. Was der Erste Weltkrieg für jedermann - Konservative
wie Revolutionäre — beeindruckend klargemacht hatte, war
das Ausmaß, in dem kollektive Mächte das Individuum über¬
wältigen und seine Entscheidungsfreiheit über den Haufen
rennen konnten - und das gerade zu einem Zeitpunkt, an dem
die Freiheit des Individuums sicherer schien als je zuvor.
Diese Sicherheit war zwar von Dichtern vor 1914 in Frage
gestellt worden, vor allem von denen, die erkannt hatten,
daß sie das Privileg einer gesellschaftlichen Minderheit war,
in Ländern, die in derselben Weise privilegiert waren; aber
selbst die Vorkriegsdichter, die gegen diese Sicherheit revol¬
tierten oder die heraufkommende Ära der Massenbewegun¬
gen und des Massendrucks vorhersahen, wie Apollinaire das
tat, hielten unbewußt und ohne es zu wollen ihre eigenen Le¬
bensbedingungen für eine Selbstverständlichkeit.
In England, Amerika, Deutschland, Frankreich, Rußland,
Italien und Spanien fielen unter dem Druck von politischen
Ideologien die Avantgarde-Bewegungen auseinander, in vie¬
len Fällen schon vor ihrer Unterdrückung durch totalitäre
Regierungen. »In den späten zwanziger Jahren«, schrieb
Frederik Brown in seinem Essay On Louis Aragon: Silence
and History1, »fing die surrealistische Bewegung zu zerbrök-
keln an. Die Reihen der Surrealisten lichteten sich durch
Selbstmorde, persönliche Streitereien und Übertritte in die
kommunistische Partei, die die Surrealisten beinahe von An¬
fang an gezwungen hatte, ihre Existenz als revolutionäre
Gruppe in Frage zu stellen und zu rechtfertigen.« Frederick
Brown demonstriert die Unvermeidlichkeit des Zerfalls der
Surrealistengruppe, indem er Aragons Versuche nachzeichnet,
die Ästhetik des Surrealismus mit einem politischen Engage¬
ment in Einklang zu bringen, das darin gipfelte, daß Aragon
sein Gedicht Front-rouge schrieb. Die Surrealisten hatten, wie
Brown zeigt, »den Wunsch, die Welt dadurch kurzzuschlie¬
ßen, daß sie Geist und Welt gleichsetzten«. Er zitierte Andre
Bretons Zweites Manifest:
Es ist klar . .. daß der Surrealismus sich nicht ernstlich für die
Dinge interessiert, die im Haus nebenan produziert werden unter
dem Vorwand der Kunst oder der Antikunst, der Philosophie oder
der Antiphilosophie - mit einem Wort, für irgendetwas, dessen
Ziel nicht die Aufhebung des Seienden in einem Blitz ist, innen und
242
blind . .. Welchen Gewinn könnten sich Leute, die noch irgendeine
Sorge um den Platz in sich tragen, den sie in der Welt einnehmen
werden, aus dem surrealistischen Experiment versprechen können?
^43
auch immer das Thema ist. Schon das Fehlen von Gegenstän¬
den oder einem Thema in der surrealistischen Dichtung - oder
die Unmöglichkeit, ihre Gegenstände oder Themen katego¬
risch einzuordnen oder rational zu erfassen - verweist auf
die romantisch-symbolistische Abstammung dieser Dichtung
und auf ihre dem Wesen nach entdeckerische Natur. Das ist
der Grund dafür, daß Andre Breton Einwände gegen den
»objektiven Ausgangspunkt« in Aragons Front-rouge erhob,
der zugleich ein »objektiver Endpunkt« sein müsse. Der
größte Teil der englischen »politischen« Lyrik der dreißiger
Jahre hatte nur sehr wenig Verwendung für surrealistische
oder andere modernistische Neuerungen, denn hier war das
primäre Ziel nicht Entdeckung, sondern Mahnung oder Zu¬
standsbeschreibung; hier wurde eine Dichter-Leser-Beziehung
vorausgesetzt, die auf gemeinsamer Erfahrung, gemeinsamen
Haltungen, einem gemeinsamen Wissenshintergrund basierte.
(Die Schwäche dieser Dichtung resultierte aus dem Umstand,
daß diese Gemeinsamkeit nicht wirklich gegeben war, da die
fraglichen Dichter durch Klassen- und Bildungsschranken von
der Mehrheit derjenigen geschieden und abgeschirmt waren,
in deren Namen sie gerne gesprochen hätten.) Ezra Pound
drückte den Standpunkt eines entdeckerischen Dichters aus,
wenn er 1931 schrieb: »Alle Entwicklungen im englischen
Vers seit 1910 sind fast gänzlich den Amerikanern zu ver¬
danken. Es gibt tatsächlich keinen Grund mehr, hier von
englischem Vers zu sprechen, und es gibt gegenwärtig über¬
haupt keinen Grund dafür, in diesem Zusammenhang an Eng¬
land zu denken.«2
Etwa 35 Jahre später bemerkte Donald Hall, der amerika¬
nische Herausgeber des Faber Book of Modern Verse, in sei¬
ner Einleitung zu dieser Anthologie: »Manchmal frage ich
midi, ob England überhaupt jemals zur modernen Kunst ge¬
langt ist. Während Strawinsky und Picasso und Henry Moore
- um wenigstens einen Engländer zu erwähnen — Formen und
Techniken erfanden, »experimentierte« W. H. Auden mit So¬
netten und Halbreimen und angelsächsischen Metren herum.
Auden und Dylan Thomas sind die einzigen von Geburt bri¬
tischen Lyriker, die in H. M. Enzensbergers internationalem
Museum der modernen Poesie vertreten sind - verglichen mit
zehn gebürtigen Amerikanern, sechzehn Franzosen, fünf pol-
nischen und vier tschechoslowakischen Dichtern, um nur einige
der dort vertretenen Nationalitäten herauszugreifen. Den¬
noch wäre England ohne Zweifel in jeder internationalen An¬
thologie der besten Gedichte aus dem gleichen Zeitabschnitt
reichlich vertreten, sobald nicht mehr die Modernität das
Auswahlkriterium wäre; und Enzerisberger selber hat einge¬
räumt, daß die moderne Poesie, die in seinem Museum
vorgeführt wird, eine Sache der Vergangenheit ist, daß sie
»nur mehr als ein konventionelles Spiel fortgesetzt werden
kann«.
Das bringt uns wieder zurück zu dem Unterschied zwischen
einer primär auf Entdeckung ausgehenden oder experimentel¬
len Lyrik und einer Lyrik, deren primäres Anliegen ihre
Funktion als Kommunikationsmedium ist. Es war ein ausge¬
zeichneter amerikanischer Dichter, Robert Frost, der die
Grundvoraussetzung jener nicht modernistischen Dichter ar¬
tikulierte, deren Werk zu jener »öffentlichen« Breitenwir¬
kung tendiert, die oben angedeutet wurde: »In der Literatur
ist es unsere Aufgabe, den Leuten das zu geben, was sie sagen
läßt: >0 ja, ich weiß schon, was sie meinen.< Sie kann nim¬
mer und nimmer darin bestehen, daß man ihnen etwas er¬
zählt, was sie nicht wissen, sondern wir müssen ihnen Dinge
sagen, die sie wissen, aber die auszusprechen ihnen nicht in
den Sinn gekommen ist. Es muß etwas sein, das sie wieder¬
erkennen.«3 Ich brauche nicht eigens zu betonen, daß ein
zu starres Festhalten an diesem Prinzip den Spielraum der
Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts empfindlich einschrän¬
ken würde, ebenso wie es den Wirkungsrahmen von Dich¬
tern eingeschränkt hat, die weniger bedeutend waren als
Robert Frost; und das auch dort, wo kein totalitäres Kunst-
Programm die extreme Anwendung des Prinzips erzwang.
Robert Frost selber brachte eine Korrektur an seinem Aus¬
spruch an und erkannte an, daß alle gute Lyrik zu einem er¬
heblichen Grade entdeckerisch sein müsse, als er schrieb: »Für
mich beginnt das Vergnügen damit, daß ich mich an etwas
erinnere, von dem ich nicht wußte, daß ich es wußte.«
Der Unterschied ist also ein gradueller, und er hat mit der
Frage zu tun, welche Art innerer und äußerer Realitäten ein
Dichter sich berechtigt glaubt zu erforschen. Die Surrealisten
setzten ihrer Freiheit keine Grenzen, zumindest was innere
24 5
Realität angeht, einschließlich des Unterbewußten; und
auch Dylan Thomas übte diese Art Freiheit in seinen früheren
Gedichten aus und erzählte den Leuten nicht nur etwas, was
sie nicht wußten, sondern auch etwas, was er selbst nicht
wußte, bevor er das Gedicht ans Licht brachte. Was Robert
Frost in seine Behauptung einzuschließen vergaß, ist die
Tatsache, daß selbst die Dinge, die die Leute über sich selber
oder über irgendetwas anderes nicht wissen, von ihnen wie¬
dererkannt werden könne, wenn sie in einem Gedicht auf-
treten; freilich impliziert Frost das in etwa, wenn er von
dem Vergnügen spricht, sich an etwas zu erinnern, »von dem
ich nicht wußte, daß ich es wußte«. Damit hängt es auch zu¬
sammen, daß Dichter, die sich so wenig darum kümmerten, ob
sie verstanden würden, wie Dylan Thomas, und die sich so
wenig bemühten, für andere anstatt für sich selber zu spre¬
chen, eine breitere und tiefere Wirkung haben konnten als
andere Dichter, die ihrerseits skrupulös darauf achteten, was
ihre Leser wohl wissen oder nicht wissen mochten.
Wie sehr sie auch die Frage nach ihrer moralischen und sozia¬
len Funktion beschäftigte - den besten Dichtern der Periode
zwischen den beiden Kriegen gelang es deshalb, eine Ba¬
lance herzustellen zwischen persönlichem und öffentlichem
Aussagemodus, zwischen Entdeckungsfreude und direkter
Bezugnahme auf die Wirklichkeit, zwischen der Freiheit des
Gedichts, einfach zu »sein« und der unentrinnbaren Tendenz
der Wörter, Bedeutung zu vermitteln oder zu implizieren.
Das trifft auf Majakowski und Pasternak in Sowjet-Rußland
ebenso zu wie auf Montale und Ungaretti im faschistischen
Italien, obwohl man sagen kann, je stärker der politische
Druck die Dichter zur Konformität zwang umso größer war
im allgemeinen ihr Bedürfnis, sich einen kleinen Freiheits¬
raum zu sichern, indem sie ihre Zuflucht zu einer »hermeti¬
schen« Kunst nahmen. Die Kultusbürokraten reagierten dar¬
auf so, daß sie annahmen - in den meisten Fällen ganz zu
Recht -, daß alles, was sie nicht verstehen konnten, zwangs¬
läufig zersetzend und nicht linientreu sein müsse. Selbst Ber¬
tolt Brecht, der konsequenteste Theoretiker und Praktiker
einer politisch engagierten Dichtung, die zugleich noch mo¬
dern und intelligent war, bediente sich chinesischer Vorbilder,
um den Konsequenzen zu entgehen, die es haben mußte, un-
246
ter einem kommunistischen Regime zu leben, indem er kurze
Gedichte schrieb, deren Bildersprache nicht ohne weiteres in
eindeutige Direktaussagen übertragbar war; und Brecht war
bereits lange bevor er sich dieser Gefahr aussetzte, zu einem
Meister der trickreichen Ausflüchte geworden.
247
Ich will Stefan George nicht für den Weltkrieg verantwortlich
machen. Aber ich sehe keinen Grund dafür, daß er sich isolierte. Ich
denke, daß dieser naive Weise allen Gleichgesinnten zeigen wollte,
daß er seinesgleichen nicht hatte. Nach einer flüchtigen Unter¬
suchung seines Schönheitswertes mußte ich zu dem Resultat gelan¬
gen, daß man von ihm Polizeidienste verlangen könne. Und für
einen Polizisten ist eine rein genießende Stellungnahme im Mittel¬
punkt weitverzweigter Verbrechen nicht die gegebene. Ein Polizist
ist nicht dazu da, auf seinem Gesicht gewisse widerstreitende Emp¬
findungen einfach zu registrieren. . . . Ich behaupte nunmehr, daß bei¬
nahe die gesamte, vor allem aber der repräsentative Teil der Dich¬
tung der ausgehenden Bourgeoisie, um reinen Schönheitswert zu er¬
reichen, viel zu viel klassenkämpferische Tendenz in sich hat.5a
248
7- In den Hütten ist das Licht der Nächte wie
Lachs. Man feiert die Auferstehueng des Fleisches.8a
249
gung dieses Begriffs liegt, zitiert er Shelleys The Mask of
Anarchy, jene satirische Dichtung, die er auch übersetzt hat -
ein auffallender Beweis für Brechts Fähigkeit, sich der ver¬
schiedensten Modelle zu bedienen, vom antiken griechischen
Drama bis zu Arthur Waleys Übersetzungen aus dem Chine¬
sischen, von Villon bis Kipling, von der Bibel Luthers bis zu
Jazz-Strophen und Kabarett-Liedern. Brecht hatte sicher -
oder beinahe sicher - seine eigenen dichterischen Verfahrens¬
weisen im Sinn, als er sich gegen die Unterdrückung von »de¬
struktiver und anarchistischer Lyrik« durch den Staat aus¬
sprach: »Der Staat schädigt die fürstaatliche Literatur, wenn
er die gegenstaatliche unterdrückt. . .«8
Eine aus der Rückschau geschriebene Bemerkung von 1940
über seine eigene Hauspostille verurteilt diese nicht nur als
anarchistisch, sondern auch als »entmenscht«, da in diesen
Gedichten »die Schönheit auf Wracks . . . etabliert« und »die
Fetzen delikat« werden. »Das Erhabene wälzt sich im Staub,
die Sinnlosigkeit wird als Befreierin begrüßt. Der Dichter
solidarisiert nicht einmal mehr mit sich selber. Risus mortis.
Aber kraftlos ist das nicht.«9
Brechts revolutionärste Tat als Dichter war das, was er die
>Sprachwaschung< nannte. Damit, daß er seine Diktion von
allem ornamentalen und sentimentalen Beiwerk entkleidete,
vermied er die gefährlichen Fußangeln der »engagierten« Ly¬
rik und gewann so eine exemplarische Bedeutung für viele
jüngere Dichter nach dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl seine
außerordentlich abwechslungsreiche lyrische Produktion - sie
füllt um die zweitausend Seiten in der posthum erschienenen
Gesamtausgabe und es ist wahrscheinlich, daß noch weitere
Gedichte dazukommen werden - ein Gutteil lehrhafter poli¬
tischer Lyrik enthält, erhielt er sich seine eigene Freiheit zu
sagen, was er sagen wollte. ^Auch seine theoretischen Aus¬
sagen sind wahrhaft dialektisch. »Die Kunst ist ein autono¬
mer Bezirk«, schrieb er 1940, »wenn auch unter keinen Um¬
ständen ein autarker«; und er schrieb es wieder in Verbin¬
dung mit einem romantischen Gedicht der »bürgerlichen
Ära«, nämlich mit Wordsworths »She was a Phantom of De-
light«.10 Eine Aufzeichnung von 1944 über Arthur Waleys
Übersetzungen aus dem Chinesischen sucht zu beweisen, »daß
zwischen Didaktik und Amüsement kein Unterschied be-
250
steht. . . . Die Dichtung, in ihren didaktischen wie in ihren
anderen Werken, vollbringt es, unseren Lebensgenuß zu er¬
höhen. Sie schärft die Sinne und verwandelt selbst die Schmer¬
zen in Genuß«.11
Weitaus der größte Teil von Brechts Lyrik ist darauf ange¬
legt, den Leuten etwas zu geben »was sie wiedererkennen«;
aber Brechts Direktheit konnte auch für die Bloßstellung
kommunistischer Selbstgefälligkeit dienlich sein - für eine
Bloßstellung, die ebenso vernichtend war wie in vielen an¬
deren seiner Gedichte die Anprangerung der kapitalistischen
Ausbeutung oder des faschistischen Militarismus. Sein Ge¬
dicht Die Lösung12 über den Arbeiteraufstand in Ostberlin ist
ein gutes Beispiel für Brechts Fähigkeit, in einer völlig uner¬
warteten Weise über eine politische Angelegenheit zu spre¬
chen:
Die Lösung
Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?
251
Dichter nicht der Mühe wert wäre, seine Prosa in »Poesie«
umzusetzen; aber auf ihre spezielle Art entsprechen diese
Zeilen fast allen Forderungen des sogenannten Imagist Ma¬
nifest o:
1. Die Umgangssprache verwenden, aber stets das exakte
Wort benutzen, . . . nicht das nur dekorative Wort.
2. Neue Rhythmen schaffen - als Ausdrucksmittel für neue
Stimmungen — . . .
3. Absolute Freiheit in der Wahl des Gegenstandes zulas¬
sen . . .
4. Ein Bild hinstellen. . . . Wir sind keine Malerschule, aber
wir glauben, daß Dichtung Details exakt wiedergeben
und sich nicht mit vagen Allgemeinheiten befassen sollte ...
j. Eine Lyrik schreiben, die hart und klar ist, niemals ver¬
schwommen oder unbestimmt.
6. Und schließlich: die meisten von uns glauben, daß Kon¬
zentration das eigentliche Wesen der Lyrik ist.
Man könnte vielleicht über den vierten Punkt streiten - »Ein
Bild hinstellen« -, wenn nicht die spätere Praxis der Imagi¬
sten selber gezeigt hätte, daß lyrisches Dichten und politisches
Dichten zwei Paar Stiefel sind.
Daß Brecht den Hauptautor des Imagist Manifesto, Ezra
Pound, kannte, bestätigt ein kurzes Gedicht aus den frühen
vierziger Jahren, E. P. Auswahl seines Grabsteins, das sich
nicht gegen Ezra Pounds spätere politische Parteinahme wen¬
det, sondern gegen den Ästhetizismus, den Brecht für deren
Voraussetzung angesehen haben muß:
253
Ich kenne nur noch einen Dichter des zwanzigsten Jahrhun¬
derts, dem es so gut wie Brecht gelang, sein poetisches und
sein gesellschaftliches Ich derart in Einklang zu bringen, daß
er damit den romantisch-symbolistischen Zwiespalt und all
seine Folgen überwand: William Carlos Williams. Beide wur¬
den Meister des scheinbar spontan improvisierten, scheinbar
anstrengungslosen Sprechens, das zwischen dem Gesagten
und der Art, es zu sagen, keinen Bruch erkennen läßt, zwi¬
schen dem, was das Gedicht ins Werk s^tzt, und der Person,
die es ins Werk setzt. Williams war bei weitem der sinnen-
haftere, intensiver visuelle von beiden, und er stellt viel mehr
Bilder als Moralkommentare hin; aber beiden Dichtern ge¬
lang es, eine neue Reinheit aus den Materialien zu gewinnen,
die die meisten ihrer Vorgänger von vornherein als unrein
verdammt hätten, weil sie allgemein und alltäglich waren.
Die Ähnlichkeit im Ton ist erstaunlich, sobald Williams sich
an die Gemeinschaft wendet, anstatt sich mit den individuellen
Personen und Dingen zu befassen, die die Gemeinschaft bil¬
den; so z. B. in Tract:
No wreaths please -
especially no hot-house flowers.
Some common memento is better,
something he prized and is known by:
his old clothes - a few books perhaps -
God knows what! You realize
how we are about these things,
my townspeople —
something will be found - anything
even flowers if he had come to that.
So much for the hearse.15
254
Da Brecht erst durch eine Phase individualistischen Revoltie-
rens hindurchgehen mußte - nämlich durch die Phase seines
Dramas Baal und der Gedichte seiner Hauspostille —, bevor
er sich mit der Alltäglichkeit identifizieren konnte, war Wil¬
liams viel erfolgreicher als er in der Darstellung von »all tra-
des, their gear and tackle and trim« und überhaupt der
»pied beauty«, die Gerard Manley Hopkins gefeiert hat."'
In dieser Beziehung war Brecht gehemmt durch seine politi¬
schen Anliegen, sein Befaßtsein mit jenen Realitäten, die ein
»Gespräch über Bäume« beinahe zu einem Verbrechen ma¬
chen konnten; und lange Zeit erschien ihm die Güte und die
Art von Gefühlseinklang, die leicht in andere Menschen oder
Dinge Eingang findet, suspekt wegen ihrer Assoziationen von
»bürgerlichem« Gefühl, dem Luxus von Leuten, deren Emo¬
tionen und Kraftreserven sonst keine Beschäftigung haben.
Brecht schrieb aber in der Tat Gedichte, in denen er Menschen,
Dinge, Orte und - dies zu wiederholten Malen - Bäume pries;
und sein Lied Die Liebenden (aus seiner Oper Mahagonny)
ist das am nachhaltigsten beeindruckende von vielen Gedich¬
ten, in denen eine recht rauhe Wirklichkeit eine ganz eigene
Zartheit der Empfindung abwirft. Brechts Gedicht An die
Nachgeborenen deutet die Umstände an, die dazu führten,
daß sich solche Gedichte aus der Masse seines Werkes beson¬
ders herausheben:
MS
größte Teil seiner Dichtungen ist auf die Probleme der Ge¬
meinschaft bezogen in einem Maße, das an klassische Epochen
erinnert, und vieles davon ist volkstümlich ohne jeden Beige¬
schmack von Herablassung, selbst dort, wo Brecht sich in be¬
wußter Absicht solcher Medien bediente wie der Ballade, des
Sonetts und des Lieds - Ausdrucksformen, von denen man
geglaubt hätte, es sei unmöglich, sie wirklich wiederzubeleben
und zu modernisieren. Im Gegensatz zu der Lyrik von Wil¬
liam Carlos Williams ist nur weniges von Brechts Lyrik un¬
persönlich in dem Sinne, den Pasternak meinte, als er schrieb:
»In der Kunst schweigt der Mensch und es spricht das Bild.«
Brechts Persönlichkeit, seine verschlagen-listige Intelligenz
und seine moralische Robustheit sind selbst in solchen Ge¬
dichten gegenwärtig, die dem Pastiche nahekommen; aber
in den späteren Gedichten ist das ganz unaufdringlich ge¬
worden, weil die Persönlichkeit selbst auf das Essentielle re¬
duziert worden ist.
Auch Pasternak mußte sein frühes Vertrauen auf das Bild
und auf die Musik in der Lyrik einer Revision unterziehen.
»Wir verbannen die alltäglichen Dinge in die Prosa um der
Poesie willen. Wir locken die Prosa in unsere Poesie hinein
um der Musik willen«, schrieb er in Sicheres Geleit (1931);
aber auch: »Die Poesie, wie ich das Wort verstehe, fließt
durch die Geschichte und steht in Zusammenarbeit mit dem
realen Leben.«16 Das autonome Bild und die Musik der Lyrik
mußten ausgesöhnt werden mit einem Geschichtsbewußtsein,
das in einem Zeitalter der totalen Politik unausweichlich ge¬
worden war. In einem Interview, das er kurz vor seinem Tod
gab, sagte Pasternak: »Beim Schreiben wie beim Sprechen ist
die Musik des Wortes niemals nur eine Sache der Lautung.
Sie ergibt sich nicht aus der Harmonie von Vokalen und Kon¬
sonanten. Sie ergibt sich aus der Beziehung zwischen der
Sprache und der Bedeutung. Und die Bedeutung - der Inhalt
-muß dabei immer führend sein.«17
Ausgenommen dort, wo sich die Dichtung gegen dieses histo¬
rische Bewußtsein abschirmte oder wo sie durch eine Konti¬
nuität der Traditionen und Institutionen davor bewahrt
blieb - in Ländern, die relativ ungestört blieben von Krieg
oder Revolution -, nahm der alte Streit um den Vorrang der
Lorm oder des Gehaltes eine neue Dringlichkeit und eine neue
256
Komplexität an. Die Frage selber ist ein bißchen so wie die,
was zuerst da war, die Henne oder das Ei; aber die Antwort
in jedem einzelnen Fall, die genaue Balance, die von jedem
Dichter zwischen Gewissen und Phantasie, zwischen Gemein¬
schaftsinteresse und privaten Interessen, zwischen Kommuni¬
kation und einsamer Entdeckungsfahrt hergestellt werden
muß, wurde wahrhaft schwierig und problematisch. Auch
machten sich nach dem internationalen Futurismus von 1912
nun nationale Unterschiede geltend, und zwar mit Vehemenz.
In der französischen, italienischen und spanischen Lyrik z. B.
wurde am Primat der Form viel hartnäckiger festgehalten als
in der englischen, amerikanischen, russischen und deutschen
Lyrik; und die Gründe hierfür sind nicht nur sozial und po¬
litisch, sondern sie sind auch im Kulturellen und Sprachlichen
zu suchen. Wenn auch der Surrealismus als Bewegung ausein¬
anderbrach, so blieben die französischen Lyriker doch bis in
die fünfziger und sechziger Jahre im Banne der surrealisti¬
schen Dichtungspraxis - wie das in den Werken von Paul
Eluard, Pierre Jean Jouve, Pierre Reverdy, Henri Michaux
und Rene Char sichtbar wird -, während die an eine breite
Öffentlichkeit gewandte, populäre und soziale Lyrik von
Jacques Prevert von französischen Kritikern selten so ernst
genommen wurde wie von gewissen Kritikern außerhalb
Frankreichs.
Auch der Dadaismus erwies sich als zählebig lange nach sei¬
nem Untertauchen (aus dem er nach dem Zweiten Weltkrieg
wieder auftauchen sollte.) Die Lautgedichte von Kurt Schwit-
ters schufen einen Präzedenzfall für vieles, das zehn Jahre
nach seinem Tod für außerordentlich neu angesehen wurde.
Jean (oder Hans) Arp, bekannter noch als Bildhauer, schrieb
und veröffentlichte Gedichte durch eine Periode von sechzig
Jahren hindurch; er begann 1903 mit Gedichten, die trotz
ihrer Jugendstilzüge den Surrealismus vorwegnahmen. In
seinen eigentlich dadaistischen Gedichten, die von 1916 bis
kurz nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, wurden
»Wörter, Schlagwörter, Sätze aus Tageszeitungen und vor
allem deren Reklamen zur Grundlage von poetischen Kon¬
struktionen«, wie Arp selber erklärte. Der Zufall wurde zu
einem künstlerischen Prinzip, weil Arp den Zufall als einen
Gegensatz zu allem, was in der konventionellen Kunst ge-
257
wollt und absichtlich geplant ist, mit der Realität und mit der
Natur gleichsetzt. Auch dieses Prinzip sollte von der Kon¬
kreten Poesie wieder erweckt werden, ebenso wie Arps Ein¬
setzen von Sprachkollagen und seine Permutationen von
Wörtern und idiomatischen Wendungen, »dada«, schrieb Arp
1931 oder 1932, »ist für Nonsens, der nicht Dummheit be¬
deutet. dada ist unsinnig wie die Natur und das Leben, dada
ist für die Natur und gegen die Kunst, dada möchte wie die
Natur allem seinen wesensgemäßen Platz geben.«18 Die mei¬
sten der Gedichte von Arp, die er selber als »Worte ohne An¬
ker« bezeichnete, weil ihre Wörter und Dinge nicht an eine
vorgefaßte Bedeutung gekettet sind, sind unübersetzbar, denn
sie spielen zu frei mit dem Material, aus dem sie gemacht sind:
der Sprache. Aber in den zwanziger Jahren ließen manche
von Arps Gedichten auf einmal einen Anker sichtbar werden,
der entweder metaphysisch oder sozial sein konnte:
258
Die Verankerung solcher Gedichte verrät sich in derselben
Gedichtfolge, wenn Arp einen Schuh »das Emblem sinnloser
Geschäftigkeit« nennt. Um 1930, als er seinen Textband Das
Tagesgerippe schrieb, hatte der überschäumende Unsinn der
Dada-Periode einer nüchterneren, elegischen und weitgehend
retrospektiven Stimmung Platz gemacht, und selbst die
Sprachspielerei war abgestreift worden, so etwa im Abschnitt
7'
259
Feststellung, die auf die Gedichte, die er bis kurz vor seinem
Tod 1966 weiterhin schreibt, buchstäblich zutrifft.22
Arps nachdrückliches Bestehen auf dem Zufall hat mehr mit
der surrealistischen Methode der »dictee automatique« ge¬
mein als mit den strenger »wissenschaftlichen« Experimenten
in Sprachanalyse, Sprachschablonen und Sprachpermutatio-
nen, die man später bei den konkreten Lyrikern findet. Oder
mit anderen Worten: das Festhalten an dem Prinzip des Zu¬
falls gab Arps Phantasie, und auch Arps scharfsinniger Erfin¬
dungsgabe den größtmöglichen Aktionsradius, zumal sein
Spiel mit Wörtern und Redewendungen die freie Assoziation
von Bildern nicht ausschloß. Ebensowenig wie bei William
Carlos Williams das Sichstützen auf minutiös beachtete Wirk¬
lichkeitsdetails die Schlußfolgerung ausschloß, daß »nur die
Imagination real ist«, verhinderte bei Arp das Ausgehen von
der gegenteiligen Position die Tatsache, daß er viele seiner
Gedichte in erkennbaren Realitäten verankerte; und selbst
dort, wo Arp seinen Gedichten keine vorherbestimmbare Be¬
deutung aufpflanzte, sorgte das Wesen der Sprache dafür, daß
durch seine Wortstrukturen Bedeutungen ausgelöst wurden.
Arps Gleichsetzung des Zufalls mit der Natur setzt einen
Glauben an Bedeutungen voraus, die unser normaler Sprach¬
gebrauch nicht erfassen kann; und lange Zeit bevor er zu
einem Meister der komischen Nonsenspoesie wurde, ist Arp
ein visionärer Dichter konventioneller Art gewesen. In einem
Gedicht aus den späten dreißiger Jahren, Lied des Roten23,
erinnert sich Arp an die Künstler im Cafe Odeon von »vor
zwanzig Jahren«. Sie verschwinden wieder und »rauchende
Eier liegen an ihrer Stelle«. Das Gedicht fährt fort:
260
Das Subjekt von »es singt und weht« ist nicht »die Zeit«. Das
»es« ist unpersönlich und seine Identität wird nicht offenbart.
Die kosmischen und biblischen Anspielungen in diesem Ge¬
dicht weisen zurück auf Arps früheste, noch nicht moderni¬
stische und vordadaistische Visionen. Arps »Natur« ist nie die
Natur der Naturalisten gewesen, sondern vielmehr eine Über¬
wirklichkeit, die in Worten nicht ausdrückbar war, die die
Worte erst entließen, wenn sie durchgeschüttelt und aufge¬
brochen worden waren, wie das bei Arps Nonsenstexten der
Fall war. Trotz der »Verankerungen« - einer Konzession
an das geschichtliche Bewußtsein - blieb Arps Sprachbehand-
lung immer so weit wie nur möglich unterschieden von der
Sprachbehandlung Brechts, der seine Wörter und Wendungen
auflas, wo immer er sie finden konnte und der die meisten
von ihnen als solide, zuverlässige Münze verwendete.
Ein Gedicht von Pedro Salinas drückt das Unbehagen über die
Namen der Dinge aus, das so viele moderne Dichter empfun¬
den haben und das sie dazu veranlaßt hat, sich allen Forde¬
rungen nach direkter, unverschlüsselter Kommunikation zu
widersetzen:
Se tu no tuvieras nombre
Yo no sabria que era,
ni como, ni cuändo. Nada.
261
Si tu no tuvieras nombre,
todo serfa primero,
inicial, todo inventado
por mf
intacto hasta el beso mio.
Gozo, amor: delicia lenta
de gozar, de amar, sin nombre.
262
nen, deren die Wörter entkleidet werden müssen, bevor die
wesentliche Erscheinung erfahren werden kann. Ein Gedicht
von Jorge Guill&i, Los Nombres, sieht so aus, als ob es dem
Gedicht von Sahnas widerspräche, da es Julias Behauptung
bestreitet, daß »Was uns Rose heißt, / Wie es auch hieße,
würde lieblich duften«:
Albor. El horizonte
Entreabre sus pestanas
Y empieza a ver. Que? Nombres.
Estän sobre la pätina
263
Kommt er zu seinem Ziele
Und zwingt uns das Nachher auf.
Drum Achtung, Achtung, Achtung,
Ich bin, ich bin, ich werde.
264
Bonnefoy stark beschäftigt, einen Mann, den seine Shake¬
speare-Übersetzungen mit dem Problem konfrontierten; und
von Bonnefoys Beobachtungen zu diesem Thema wird noch
die Rede sein müssen. Auch ein, wenn auch noch so kursori¬
scher, Vergleich von Brechts Art zu schreiben mit der von
Pablo Neruda oder Paul Eluard oder Salvatore Quasimodo -
von Dichtern also, die kaum weniger stark politisch enga¬
giert waren als Brecht - würde Unterschiede dieser Art offen¬
bar werden lassen.
Wie den meisten spanischen Dichtern seiner Altersgruppe ging
es Federico Garcia Lorca ebensosehr um die Fortsetzung der
Tradition der spanischen Lyrik wie um den internationalen
Modernismus. Sein Wunsch, den andalusischen canto jondo
wiederzuerwecken, geht zurück bis zum Jahr 1922. Vier
Jahre später war er an der Wiederbelebung des Interesses an
Gongora beteilgt, die im Zusammenhang mit der dreihun¬
dertsten Wiederkehr von Gongoras Todestag betrieben wur¬
de; er hielt damals Vorträge über Gongora selbst und ebenso
über Soto de Rojas, einen Dichter aus der Göngora-Schule. In
diesen Vorträgen identifizierte Lorca seine eigenen Ziele weit¬
gehend mit dem dichterischen Verfahren der barocken Ma¬
nieristen. Er entwickelte eine Theorie des »Anti-Naturalis¬
mus, der Ablehnung der Spontaneität«.26 Wie Valery betonte
Lorca den Wert eines bewußten und handwerklich planenden
Künstlertums; die Hauptaufgabe des Dichters sei es, sich zu
»beschränken« (limitarse), sein Bewußtsein zu erforschen und
die Mechanik seiner künstlerischen Hervorbringungen zu stu¬
dieren. »Einzig die Metapher«, sagt Lorca, »kann Stil zu
einer Art Dauer erheben.« Obwohl Lorcas Bildgebrauch oft
dem der Surrealisten sehr nahekam, stimmt seine Forderung
nach bewußter Kontrolle und Ausarbeitung von Metaphern
nicht mit den Verfahrensweisen der Modernisten überein, und
schon gar nicht mit der Praxis der Surrealisten. Im Gegensatz
zu Arp kümmerte sich Lorca in dieser Phase um die Natur
sehr wenig: »Der Dichter erkennt klar, daß die Natur, so wie
Gott sie gemacht hat, nicht identisch ist mit der Natur, wie sie
im Gedicht erscheint.« Deshalb gab Lorca auch der Inspira¬
tion eine neue Definition, indem er Paul Valerys Argumente
gegen die Theorie von der Eingebung zitierte und dann
schrieb: »Inspiration ist ein Zustand der Betrachtung, nicht ein
265
Zustand schöpferischer Dynamik. Von der Inspiration kehrt
man zurück wie von einem fernen Land. Das Gedicht ist ein
Bericht über die Reise. Die Inspiration liefert das Bild, aber
nicht die Einkleidung. Um das Bild zu bekleiden, muß man
die Eigenschaften und den Klang eines jeden Wortes mit
Gleichmut abwägen und ohne eine diesen Gleichmut gefähr¬
dende Gefühlsbewegung.«
Zwei Jahre später, in seinem Vortrag Imagination, Inspira¬
tion, Evasion revidierte Lorca diese Stellungnahme, indem
er die Bedeutung, die er in dem Gongora-Vortrag der Imagi¬
nation und der Phantasie zugemessen hatte, erheblich ein¬
schränkte. Natur und Realität kommen nun zu ihrem Recht.
»Eine Grotte als geologisches Phänomen betrachtet, unser
Erkennen und Verstehen dessen, was das Wasser tut und be¬
wirkt, ist poetischer als die Phantasieerfindung, daß Riesen
die Erbauer dieser Grotte gewesen seien.« Spezifische Phäno¬
mene der Wirklichkeit werden nun wichtiger als die künst¬
lerische Technik, die sie ordnet und zum Mythos erhebt. Aber
dennoch ist dem Anspruch der Realität an den Dichter eine
Grenze gesetzt, und zwar durch das Prinzip der evasion
oder »Flucht«; von den verschiedenen Erscheinungsweisen
dieses Prinzips heißt eine Ironie, eine andere Mystik.
1930 hielt Lorca einen Vortrag über den besonderen spa¬
nischen Begriff der duende, einer Art nationaler Eigentüm¬
lichkeit, die den Tod zu einer fixen Idee werden läßt; sie ist
das, was Unamuno »das tragische Lebensgefühl« nannte. Be¬
reits mit seinem Romancero gitano (Zigeunerromanzen) von
1928 hatte Lorca nicht nur bewiesen, daß er selber die duende
besaß, sondern auch daß die spanische Lyrik immer noch
volkstümlich sein konnte, wenn sie sich »für den Tod offen¬
hielt«. Die Betonung der intellektuellen Brillanz in dem
Gongora-Vortrag wurde nun gründlich widerrufen: »Der
Intellekt wird off zum Feind der Dichtung, weil er zu viel
imitiert.« Lorcas neue Vorstellung von der Dichtung als
einem Medium, das das Publikum beinahe als einen aktiven
Teilhaber an der Komposition einschließt, bricht ebenso radi¬
kal mit der romantisch-symbolistischen Dichtungstheorie wie
das Werk von Brecht, obwohl es Lorca nicht ganz leicht fiel,
die Anwendung seiner Ideen auch auf nichtspanische Lyrik
auszudehnen. »Spanien ist zu allen Zeiten von der duende
z66
besessen . . . denn ... es ist ein Land, das sich für den Tod
offenhält. In allen anderen Ländern ist der Tod ein Ende.
Er kommt, und man zieht den Vorhang zu. Nicht so in Spa¬
nien. In Spanien ist ein Toter als Toter lebendiger als irgend¬
wo anders in der Welt; sein Profil verwundet wie ein Rasier¬
messer.« Nicht sehr überzeugend ist Lorcas Argument, das
italienische Pendant zur duende sei der Engel und das deut¬
sche die Muse; aber Lorca erweitert das praktisch doch, wenn
er schreibt: »Die duende verwundet und die Richtung, die
diese niemals sich schließende Wunde nimmt, macht den
schöpferischen Menschen aus.« Diese psychologische Einsicht
entspricht einer Beobachtung, die Edmund Wilson in seinem
Essayband The Wo und and the Bow (1941) gemacht hat -
einem Buch, das sich überhaupt nicht mit spanischer Literatur
befaßt.
In Das dichterische Bild (1932) gibt Lorca die dialektische
Aufspaltung zwischen Eingebung und Erfindung, Gefühl und
Intellekt, absichtsvoller und spontaner Kunst auf. Seine De¬
finition des Bildes in der Dichtung - »ein dichterisches Bild
ist stets ein Umsetzen von Bedeutung« - unterstreicht immer
noch dessen metaphorischen Charakter auf Kosten jenes Rea¬
lismus, durch den sich englische und amerikanische Dichter
dieses Jahrhunderts ausgezeichnet haben. Viele poetische Bil¬
der in den frühen Gedichten von William Carlos Williams
z. B. setzen keine Bedeutung um, weil die Dinge in diesen
Gedichten — »die rote Schubkarre«, die »Pflaumen im Eis¬
schrank«, das »verknitterte Blatt Packpapier« - keine Meta¬
phern sind. Das Gewicht, das Lorca der metaphorischen
Funktion von Bildern zumißt, wird auch offenbar, wenn er
schreibt: »Zwei Bedingungen müssen erfüllt sein, wenn ein
Bild lebendig sein soll: Form und ein ausreichender Raum für
die Entwicklung des Bildes: ein zerebraler Kern und eine für
die Perspektive nötige Weite darum herum.«
Freilich hatte Lorca in seiner Gedichtfolge Poeta en Nueva
York (1929-30) bereits mit einem Thema gerungen, das ihn
die Grenzen der traditionellen Metaphorik erfahren ließ,
ebenso wie sie ihm auch die Grenzen jener Balladen- und
Liedformen spürbar machte, die er mit so großem Erfolg er¬
neuert hatte. New York und Amerika - das bedeutete nichts
weniger als das Erlebnis der modernen Zeit, eine Konfronta-
267
tion mit all dem, was das spanische Leben und die spanische
Tradition nicht waren. Ob er wollte oder nicht - Lorca mußte
sich irgendwie arrangieren mit dem kosmopolitischen Be¬
wußtsein, das die vor 1914 entstandenen Gedichte von Apol¬
linaire und Cendrars erfüllt hatte; und seine Fähigkeit, das,
was er erlebte, umzusetzen, wurde einer neuen Probe unter¬
worfen. Das spanische »Offensein für den Tod« war doch
etwas recht anderes als die Massenproduktion von Fleisch in
einer amerikanischen Fabrik:
268
der Hälfte, welche nie mehr auszulösen ist,
die ihre Berge aus Zement errichten,
wo all der Tierchen, die vergessen werden,
Herzen schlagen,
und wo wir alle niederfallen
beim letzten Fest der Bohrer.)27
No es el infierno, es la calle.
No es la muerte, es la tienda de frutas . . .
Que voy a hacer, ordenar los paisajes?
Ordenar los amores que luego son fotograflas,
que luego son pedazos de madera y bocanadas de sangre?
No, no; yo denuncio,
yo denuncio la conjura
de estas desiertas oficinas
que no radian las agonias,
que borran las programas de la selva,
y me ofrezco a ser comido por las vacas estrujadas
cuando sus gritos llenan el valle
donde el Hudson se emborracha con aceite.
269
Die Ordnung, die die poetische Einbildungskraft mit Hilfe
der Metaphorik errichtet, bricht angesichts solcher Erlebnisse
zusammen; und das, was dieses Gedicht wahrhaft modern
macht, ist Lorcas Kapitulation vor Realitäten, die er nicht
ordnen oder umsetzen kann. Lorcas Reaktion auf die indu¬
strielle »Verarbeitung« des Todes in Amerika könnte über¬
trieben wirken, nähme sie nicht die »Blutzüge« vorweg, die
bald mit menschlichem Schlacht-»Material« gefüllt werden
sollten, vervielfacht bis in die Abstraktion und verwaltet in
Büros, die »keine Todeskämpfe ausstrahlten«. Lorcas spa¬
nische duende erforderte die Würde des tragischen Opfers, die
sich selbst in der Stierkampfarena einstellt, weil sich der
Mann und der Stier dort als Gegner gegenüberstehen. Dieser
sterilisierte, entpersönlichte Tod erzeugte in Lorca das Ge¬
fühl, daß seine eigene Menschlichkeit annulliert worden sei;
daher sein Drang, sich als Opfer darzubieten.
Die stilistischen Unsicherheiten und Uneinheitlichkeiten in
Poeta en Nueva York als Ganzem entstehen aus der Diskre¬
panz zwischen Lorcas Grundeinstellungen als spanischer
Dichter und den fremden, entfremdenden Realitäten, mit de¬
nen er sich in Amerika konfrontiert sah. Surrealistische Bil¬
der, rhetorische Häufungen von Metaphern und Hyperbeln
wechseln mit einer neuen Einfachheit des Sprachausdrucks.
Lorca sucht immer noch sein Material mithilfe der Phantasie
zu meistern und zu ordnen, wie etwa in dem Gedicht Cemen-
tario judio (Judenfriedhof), einer apokalyptischen Deutung
nicht des Friedhofs selber, sondern der Überfahrt der dort
begrabenen Einwanderer nach Amerika. In der Ode an Walt
Wbitman wird das Alternieren zwischen den beiden Stilen
besonders deutlich, weil Lorca von einer realistischen Be¬
standsaufnahme beobachteter Phänomene überwechselt zu
einer ähnlich gearteten Interpretation der Vereinigten Staa¬
ten als Ganzes, wobei er die Entfremdung der amerikanischen
Großstädter von dem Land, in dem sie sich angesiedelt haben,
ganz besonders unterstreicht:
270
(. .. Niemand aber schlief ein,
niemand wollte der Fluß sein,
niemand liebte die großen Blätter,
niemand des Strandes blaue Zunge.)
(und edel ist das Leben nicht, nicht gut, nicht heilig.
271
an das William Carlos Williams dann in seinem Paterson
pragmatischer und realistischer heranging, unbelastet von
Lorcas Traditionsverhaftung oder Cranes Sehnsucht nach
einer Keatsschen oder Miltonischen Erhabenheit, die mit dem
amerikanischen Englisch schwer in Einklang zu bringen ist.
In beiden Gedichten wird Walt Whitman beschworen, aber
mehr als Pionier des Mythos Amerika denn als Pionier einer
spezifisch amerikanischen Dichtungssprache, mehr als ein Pro¬
phet denn als ein kritischer Betrachter. In beiden Gedichten
herrscht eine extreme Spannung zwischen empirischer Erfah¬
rung und Phantasie.
Crane begann - und das ist wieder ein Zug, den er mit Lorca
gemein hat - als ein Dichter der poesie pure, der keinerlei
Neigung zu einem gesellschaftlichen oder politischen Enga¬
gement in der Lyrik hatte. In einem Brief an Gorham Mun-
son, in dem er sich erklärend zu seinem frühen Gedicht Black
Tambourine äußerte, schrieb Crane: »Der Wert des Gedichtes
besteht für mich einzig und allein in dem, was ein Maler seine
>Tastbarkeit< nennen würde, — einer ausschließlich ästheti¬
schen Eigenschaft. Ein Propagandist in der Sache der Neger¬
frage, ganz gleich welcher Seite er angehörte, könnte alles,
was er braucht, darin finden.«28
Black Tambourine fängt so an:
272
The black man, forlorn in the cellar,
Wanders in some mid-kingdom, dark, that lies,
Between his tambourine, stuck on the wall,
And, in Africa, a carcass quick with flies.
Das tragische Dilemma (oder der Agon) der modernen Welt rührt
von den Paradoxien her, die ein unzulängliches System von Ra¬
tionalität dem lebendigen Bewußtsein aufzwingt. Ich will diesem
273
System nicht irgendeine neue Synthese von Vernunftgesetzen ent¬
gegenstellen, die vielleicht in der Lage wäre, als folgerichtiges philo¬
sophisches und moralisches Programm für unsere Epoche zu dienen.
Ich will aber auch andererseits nicht versuchen, irgendein derartiges
Denksystem in dichterischer Form zu umreißen. Wenn dieses »Wis¬
sen«, wie Du es nennst, so zureichend organisiert wäre, daß es die
Beschränktheiten meiner persönlichen Erfahrung (Bewußtsein)
überwinden könnte, dann würde ich midi vermutlich automatisch
unter seinem »klassischen« Diktat schreiben sehen, und in dem
Fall könnte ich vielleicht so diszipliniert philosophisch sein, wie Du
nur wünschen könntest . . . Aber meine Lyrik würde selbst dann -
insoweit als sie wahrhaft poetisch wäre - die Verwendung von ab¬
strakten Schlagwörtern, die Formulierung von Erfahrung in einer
Sprache der Tatsächlichkeit u. ä. vermeiden — sie würde zwangs¬
läufig ihre begrifflichen Vorstellungen in der direkteren Sprache
des leib-seelischen Erlebens auszudrücken haben.
*74
liehe Verbindungen zwischen dieser Vergangenheit und einem künf¬
tigen Geschick, das ihrer wert sein könnte, nicht zu erklären ver¬
mag. Das »Geschick« ist längst vollendet, vielleicht ist der letzte
Abschnitt meines Gedichtes ein nachhängendes Echo davon - aber es
hängt in der Schwebe irgendwo im Äther, wie ein Absalom an sei¬
nen Haaren. Die Brücke als Symbol hat heute keine Bedeutung, die
über einen zeitsparenden Zugang zu kürzeren Arbeitszeiten, schnel¬
leren Mittagessen, Behaviourismus und Zahnstocher hinausginge . . .
Wenn es heute nur noch halb so lohnend wäre, über Amerika zu
sprechen wie vor fünfzig Jahren, als Whitman darüber sprach,
dann könnte es vielleicht für mich etwas zu sagen geben . . ,33
275
I don’t want to know what time it is - that
damned white Arctic killed my time .. .«
276
von Eliot, und sie war seinem Zeitalter gegenüber großzügi¬
ger. Trotzdem - wenn sich Crane explizit mit der Vergangen¬
heit beschäftigt, wie in dem Ave A/fzrhz-Abschnitt über Co-
lumbus, werden die Milton-Echos in seinen Versen ebenso un¬
überhörbar und aufdringlich wie es die Shakespeare-Echos
in Eliots Versen waren:
*77
(deine Hände in meinen Händen - Taten;
meine Zunge an deinem Hals - singend
Arme umfangen; Augen geweitet, von Zweifeln frei
dunkel
trinken das Morgengraun
ein Wald erschauert in deinem Haar!)
und ebenso mischt sich der Traum von der großen indiani¬
schen Vergangenheit mit Geräuschen, die noch heute an der
Ostküste Amerikas zu hören sind:
278
(»Aber ich möchte Bedienung in diesem Büro
BEDIENUNG
sagte ich - nach
der Vorstellung weinte sie ein wenig nachher aber -«
279
Der Radwechsel
280
Ah r ’uomo che se ne va sicuro,
agli altri ed a se stesso amico,
e l’ombra sua non cura die la canicola
stampa sopra uno scalcinato muro!
* [George Kay]
281
ren Leben des Meeres gegenübersieht, wird klar, daß die
Kraft, die Montale feiert, die Auslöschung des individuellen
Lebens verlangt, seine Rückkehr in den Strom der Natur:
Non sono
che favilla d’un tirso. Bene lo so: bruciare,
questo, non altro, h il mio significato.42
Der Blick für solche »Tatsachen« ist das, was seine Art zu
empfinden der Sensibilität T. S. Eliots annähert, trotz sehr
erheblicher Unterschiede des Hintergrunds und der Weltan¬
schauung. Diese Verwandtschaft ist besonders auffällig in
Eliots kürzeren und weniger »philosophischen« Gedichten,
etwa den fünf Landscapes (Landschaften), die er unter seine
»minor poems« verbannt hat, obwohl sie sich mit allem, was
er sonst geschrieben hat, messen können.
In Montales Casa sul mare (Haus am Meer) weicht das Strö¬
men einer Zeitlosigkeit oder Ewigkeit, die die Natur zu
transzendieren scheint, ebenso wie sie »des Meeres Schaum
oder Furche« transzendiert; aber man kann sich dessen nie
sicher sein, denn Montale unterscheidet sich von Eliot darin,
daß er weniger auf erkennbare »objective correlatives« —
oder »subjective correlatives« - beobachteter Phänomene
ausgeht. Montales Phantasie bewegt sich freier und liefert
weniger Einzelheiten, die Allgemeingut sind. Seine Lyrik hat
fast immer eine Körperlichkeit, die alle Sinne gefangen
nimmt und in Übereinstimmung bringt. Die Faszination, die
das Meer auf Montale ausübte, blieb bei ihm ebenso dauer¬
haft; wie bei Ungaretti, aber das Meer der Casa sul mare ist
nicht dasselbe wie das Meer in seinem Gedicht Eastbourne
mit seinen Andeutungen geschichtlicher Untergänge, die — wie
immer bei Montale - untermischt sind mit persönlichen The¬
men und unmittelbarer Beobachtung. Was Montale »religiöse
Durchdringung der Welt« genannt hat, das hat ihm die Mög¬
lichkeit gegeben, alle Barrieren zwischen privater und poli¬
tischer Lyrik, zwischen einer Lyrik des persönlichen Erlebens
und einer Lyrik der Ideen einzureißen. Nur der Titel seiner
La primavera hitleriana (Hitler-Frühling) macht dieses Stück
zu einem vorwiegend »politischen Gedicht«; seine Textur und
seine Bildersprache sind genauso subtil und kompliziert va¬
riiert wie Textur und Bildersprache seiner »Liebes-« oder
»Naturgedichte« - all diese Kategorien sind gleichermaßen
unanwendbar auf Montales Werk. Und aus dem gleichen
Grund ist Montale zugleich ein »reiner« und ein »engagier¬
ter« Dichter.
Auch bei Montales wundervollem Gedicht L’anguilla (Der
Aal) ist es schwer zu sagen, ob es die Lebenskraft feiert, die
zugleich der »Lebensdrang« in seiner Auswirkung ist, oder ob
er ein transzendentes, geistiges Prinzip rühmt. Der Aal wird
charakterisiert als
torcia, frusta,
freccia d’Amore in terra
die solo i nostri botri o i disseccati
ruscelli pirenaici riconducono
a paradisi di fecondazione;
l’anima verde che cerca
vita lä dove solo
morde l’arsura e la desolazione,
la scintilla che dice
tutto comincia quando tutto pare
incarbonirsi, bronco seppellito . . .44
283
(Fackel, Peitschenhieb,
Pfeil der Liebe auf Erden,
den nur unsre Gullies oder die ausgetrockneten
Pyrenäenbäche zurückführen
in ein Paradies der Befruchtung;
die grüne Seele, die
nach Leben sucht, wo nichts als
sengende Hitze und Einsamkeit nagen,
der Funke, der sagt:
alles beginnt, wenn alles zu
verkohlen scheint, ein vergrabener Strunk . ..)
* [L’Amor che move il sole e l’altre stelle (Die Liebe die beweget
Sonn’ und Sterne)]
284
Gedichts, das - wie in so vielen Gedichten Montales - nicht
identifiziert wird.
Bewegung und suchendes Streben werden auch in Montales
Conclusioni provvisorie (Provisorische Schlüsse) von 1953-4
noch bejaht. Der »Funke« des frühen Gedichtes Dissipa tu
se lo vuoi (Vergeude du, wenn du willst) und das Schillern
in L’anguilla finden ihre Entsprechung in der »traccia madre-
perlacea di lumaca« (perlmutterne Spur der Schnecke) in
Piccolo testamento (kleines Testament); und Montales noch
frühere Weigerung, in »Feuerlettern« zu sprechen, wird be¬
stätigt durch die insistierende Behauptung des gleichen Ge¬
dichts, der kraftgebende Lichtschein
285
pas von den zwanziger bis zu den sechziger Jahren unseres
Jahrhunderts läßt sich aus dem, was seine Gedichte sagen
oder nicht sagen, erschließen -, sondern er ist ein Hermetis¬
mus der Sprache und poetischen Gebärde, und er diente dazu,
jene wesentliche Autonomie der Dichtung zu erhalten, die
selbst Brecht erkannte und anerkannte. Genau so wie Brecht
kryptisch sein konnte, wenn es ihm in den Kram paßte,
konnte Montale direkt sein, sowohl in der Wiedergabe phy¬
sischer Phänomene als auch im Aussprechen von Ideen und
Schlußfolgerungen; aber das, was den Grad der Direktheit
bestimmte, war die innere Notwendigkeit jedes einzelnen
Gedichts, nicht ein Zwang, mit der Sprache und den Funk¬
tionen der Prosa Kompromisse zu schließen.
Nichts könnte direkter oder unverschlüsselter sein als der
letzte Absatz von Montales Gedicht Xenia (1964-6), einem
Zyklus, der dem Andenken an seine Frau gewidmet ist; aber
gerade dieser Text ist eine Rechtfertigung all dessen, was so
vieles in Montales Lyrik schwierig und unfaßbar gemacht hat:
Dicono che la mia
sia una poesia d’inappartenenza.
Ma s’era tua era di qualcuno:
di te che non sei piü forma, ma essenza.
Dicono che la poesia al suo culmine
maginifica il Tutto in fuga,
negano che la testuggine
sia piü veloce del fulmine.
Tu sola sapevi che il moto
non e diverso dalla stasi,
che il vuoto e il pieno e il sereno
e la piü diffusa delle nubi.
Cosi meglio intendo il tuo lungo viaggio
imprigionata tra le bende e i gessi.
Eppure non mi dü riposo
sapere che in uno o in due siamo una sola cosa.45
(Sie sagen, mein Dichten
sei eine Dichtung des Nicht-Dazugehörigseins.
Doch wenn sie dir gehörte, war sie jedermanns Dichtung:
dir, die nun keine Gestalt mehr ist, sondern Wesen.
Sie sagen, daß die Dichtung auf dem Höhepunkt
das All in seinem Hingehen rühmt,
und sie bestreiten, daß die Schildkröte
schneller ist als der Blitz.
286
Du allein wußtest, daß Bewegung
sich von Stillstand nicht unterscheidet,
daß die Leere Fülle ist und der heitre Himmel
die weitverstreuteste der Wolken.
Damit versteh ich besser deine lange Reise
eingesperrt in Binden und Gips.
Und doch gibt es mir keine Ruh zu wissen,
daß wir, als einer oder zwei, nur eine Sache sind.)
287
9 Eine neue Enthaltsamkeit
288
Invano cerchi tra la polvere,
povera mano, la citta e morta.
E morta: s’e udito l’ultimo rombo
sul cuore del Naviglio. E l’usignolo
e caduto dall’antenna, alta sul convento,
dove cantava prima del tramonto.
Non scavate pozzi nei cortili:
i vivi non hanno piü sete.
289
sättigt mit Schweiß und Rauch, eine Dichtung, die nach Urin
und weißen Lilien riecht, eine Dichtung, der jede Art mensch¬
licher Tätigkeit, sei sie erlaubt oder verboten, ihr Siegel auf¬
geprägt hat«.
Eine Dichtung, so unrein wie ein Tagesanzug, wie ein Leib, von
Essen bekleckert, eine Dichtung, die mit anstößigen, schmählichen
Taten vertraut ist, die sich in Träumen, Beobachtungen, Runzeln,
schlaflosen Nächten, Vorahnungen auskennt; Ausbrüche von Haß
und Liebe; Tiere, Idyllen, Ärgernisse; Verhandlungen, Ideologien,
Behauptungen, Zweifel, Steuerforderungen . . .la
290
Von allen Werken
291
Gideaner,
. . Intellektualisten, Rilkeaner
Verdunkler des Daseins, unwahre existenzialistische
Gaukler, surrealistische
Blüten des Mohns, im Grab nur
entflammte, europäisierende
Modekadaver,
bleiche Maden im Käse
des Kapitalismus.3
293
Diktion, sondern auch sein dichterisches Ich von all dem rei¬
nigen, was ihm zu sehr nach Individualismus aussah. Ein ähn¬
licher Prozeß läßt sich in Nerudas späterer Lyrik beobachten
- und ebenso in der späteren Diskussionslyrik eines anderen
politisch engagierten Dichters, Hugh MacDiarmid, dessen
In Memoriam James Joyce5 der für die Periode nach 1945
charakteristischen Anti-Poesie recht nahekommt - einer Ly¬
rik, die absichtlich unrein ist und deren Verwandtschaft zur
Prosa sich in der Unterordnung von Rhythmus und Bildver¬
wendung unter die thematische Argumentation zeigt.
Nerudas empirisches Ich macht sich geltend in dem Textband,
der in England unter dem Titel We are Many6 veröffentlicht
und mit Übersetzungen von Alastair Reid ausgestattet wurde.
Hier sind die rhetorischen und prophetischen Posen abge¬
streift, obwohl es ständig zu Überprüfungen des eigenen
Standpunktes bzw. zu Selbstprüfungen kommt, und Neruda
ist sich sehr klar darüber, daß sich eine so reiche und viel¬
seitige dichterische Persönlichkeit wie die seine nicht leicht
auf ein empirisches Ich zurückschrauben läßt, das den Stand¬
punkt des Mannes auf der Straße repräsentiert. Sein Ent¬
schluß von 1953 wird in dem kurzen Eröffnungsgedicht Nada
mds (Nichts weiter) wieder aufgenommen:
294
Die in diesem Gedicht implizierte Feststellung ist die, daß
die gesellschaftlichen und politischen Funktionen der Dich¬
tung nicht die ganze PhantasieNerudas ausfüllen können; daß
ein »Gespräch über Bäume«, oder auch nur eine schweigende,
einsame Betrachtung von Bäumen ein menschliches Bedürfnis
darstellt, das ebenso real, wenn auch nicht ganz so allgemein
verbreitet ist, wie das Verlangen nach Brot, selbst wenn das
Schweigen ein Schweigen »über so viele Untaten« ist, wie
Brecht geschrieben hat. In dem Gedicht Pido silencio (Ich
bitte um Schweigen) spricht Neruda dieses Bedürfnis aus:
296
Mi casa tiene mar y tierra
mi mujer tiene grandes ojos
color de avellana silvestre . . .
297
(Der erste Wein ist rosenfarben,
ist süß wie ein zartes Kind,
der zweite Wein ist kräftig
wie die Stimme eines Matrosen,
und der dritte Wein ist ein Topas,
ein Mohn und ein Feuer zugleich.)
298
Todos mis huesos son ajenos;
yo tal vez los robe!
Yo vine a darme lo que acaso estuvo
asignado para otro;
y pienso que, si no hubiera nacido,
otro pobre tomara este cafe!
Yo soy un mal ladron .. . A donde ire!
Man sagt mir: Iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich . . .9
2 99
Ein Unterschied besteht darin, daß Vallejo das Gefühl des
Mitleids wiedergibt, Brecht dagegen seine Dialektik, die sich
in der lakonischen und betont sachlichen fünften Zeile vollen¬
det. Brecht interessierte sich weniger für die Art seiner Ge¬
fühle im »Backofen« seines Herzens, als vielmehr für ein
Dilemma, das durch politisches Handeln gelöst werden mü߬
te, nämlich die Abschaffung der Armut. In den Widmungs¬
zeilen zu einem anderen frühen Gedicht, Los dados eternos
(Die ewigen Würfel), das Manuel Gonzales Prada zugeeig¬
net ist, nannte es Vallejo »dieses wilde und außerordentliche
Gefühl - eines der Gefühle, um derentwillen mich der große
Meister enthusiastisch gerühmt hat«. Vallejos spätere Ge¬
dichte legen weniger Nachdruck auf die gefühlshafte Geste,
aber nie verwandelte ihn sein politisches Engagement in einen
vorwiegend lehrhaften oder unpersönlichen Dichter. Selbst
Un hombre pasa (Ein Mann geht vorbei), ein Stück, in dem
das Brot nachdrücklich und offen mit den Sahnetörtchen ver¬
glichen wird, welche das »avantgardistische« Denken und
Kunstschaffen zu Vallejos Lebenszeit anbot, ist viel mehr
Erlebnis- als Gedankenlyrik:
(Ein Mann geht vorbei mit einem Laib Brot auf der Schulter.
Wie, soll ich etwa über meinen Doppelgänger schreiben?
300
Ein anderer setzt sich hin, kratzt sich, holt sich
einen Floh unter der Achsel hervor, bringt ihn um.
Was nützt es, über Psychoanalyse zu reden?
Ein Mann mit Holzbein geht vorbei, von einem Kind am Arm ge¬
führt.
Wird es etwas helfen, wenn wir Andre Breton lesen?
Ein Arbeiter fällt vom Gerüst und wird nie mehr Frühstückspause
[machen.
Kann man da unverzüglich zur Erneuerung der Tropik und Meta-
[phorik übergehen?
301
Dios mi'o, estoy llorando el ser que vivo;
me pesa haber tomädote tu pan;
pero este pobre barro pensativo
no es costra fermentada en tu costado:
tu no tienes Marias que se van!
(Mein Gott, ich weine über das Leben, das ich lebe;
daß ich dein Brot annahm, bedrückt mich schwer;
doch ich, der arme gedankenvolle Lehm,
bin keine Kruste, die in deiner Flanke gärte:
du hast keine Marien, die davongehn!
302
tu propja Espana (Kümmre dich, Spanien, um dein eigent¬
liches Spanien) enthält eine Warnung vor den »hundertpro¬
zentig Loyalen«, den Parteifunkionären und -bürokraten,
deren Handeln nicht durch das Vallejosche Mitleid bestimmt
war; und viele von seinen letzten Gedichten kehrten zu einer
individuellen oder existenziellen Angst zurück, zu den Angst¬
gefühlen von El alma que sufrio de ser su cuerpo (Die Seele,
die daran litt, ein Leib zu sein), wie der Titel eines Gedichtes
aus dem letzten Lebensjahr Vallejos lautet.
3°3
»Schlucke Wirklichkeit« ist auch eine Metapher, und sein
ganzes Gedicht ist »die Metapher eines Gefühls«, eine ver¬
bale Geste, deren Wirkung davon abhängt, ob es ihm ge¬
lingt, seinen »Wirklichkeiten« emotionale Überzeugungskraft
zu verleihen, da sie ja, sobald sie in Dichtung umgesetzt wer¬
den, nicht mehr empirisch überprüfbar sind. Und das führt
uns wieder zurück zu Jözsefs eigener Metaphorik und damit
zur »Dichtkunst«. Die Frage, ob die Metaphorik der Dichter,
denen sein Tadel galt, wirklich »Talmi« war, bleibt ohne Be¬
lang für die Wortgeste, die sein Gedicht zum Ausdruck
bringt: in uns wird die Vorstellung erweckt, diese Dichter
seien mit gewissen Lebenstatsachen weniger vertraut gewesen
als Jözsef, mit denen nämlich, die Jozsef durch seine Stellung
als Proletarier in einer noch teilweise feudalen Gesellschafts¬
ordnung eindringlich vor Augen geführt wurden; und es ist -
was das Gedicht von Jozsef anbelangt - völlig genug, wenn
irgendeine derartige Vorstellung in uns erweckt wird.
Wenn auch die neue Anti-Poesie (die Jozsef nicht schrieb) eine
offensichtliche Verbindung mit dem Marxismus hat, so findet
sich ein Mißtrauen gegen Tropen und Metaphern auch bei
modernen Lyrikern, die entschieden nicht-marxistisch oder
anti-marxistisch waren, ja selbst bei einem so weit vom sozia¬
len Realismus, um nicht zu sagen sozialistischen Realismus,
entfernten Lyriker wie Wallace Stevens. Eine Tendenz zum
Anti-Poetischen ist unablösbar mit fast jeder Variante des
Modernismus im 20. Jahrhundert verbunden, eingeschlossen
selbst Ezra Pounds Unduldsamkeit gegen das bloß dekorativ
verwendete Wort; und hinter jeder dieser Tendenzen stand
die unbehagliche Erkenntnis, die in Marianne Moores Ge¬
dicht Poetry12 zum Ausdruck gebracht ist:
I, too, dislike it: there are things that are important beyond
all this fiddle.
Reading it, however, with a perfect contempt for it, one
discovers in
it after all, a place for the genuine.
Hands that can grasp, eyes
that can dilate, hair that can rise
if it must, these things are important not because a
304
high-sounding Interpretation can be put upon them but because
they are
useful. When they become so derivative as to become
unintelligible,
the same thing may be said for all of us, that we
do not admire what
we cannot understand: the bat
holding on upside down or in quest of something to
(Ich mag sie auch nicht: es gibt Dinge, die wichtiger sind als dieser
ganze Unsinn. Wenn man sich freilich beim Lesen mit Verachtung
wappnet, entdeckt man in ihr schließlich doch einen Raum für das
Echte. Hände, die greifen und Augen, die weit werden können,
Haare, die zu Berg stehen können, wenn es sein muß, diese Dinge
sind wichtig, nicht nur weil man ihnen eine hochtrabende Interpre¬
tation unterlegen kann, sondern weil sie nützlich sind. Wenn wir
sie freilich so sehr aus zweiter Hand haben, daß sie uns unverständ¬
lich werden, dann kann wohl von uns allen das gleiche gesagt wer¬
den: daß wir dem, was wir nicht kapieren, keine Bewunderung ent-
305
gegenbringen: der Fledermaus, die sich kopfunter irgendwo auf¬
hängt oder nach Nahrung sucht, einem Elefantengedränge, einem
Wildpferd, das sich wälzt, einem unermüdlichen Wolf unter einem
Baum, dem unerschütterlichen Kritiker, der mit der Haut zuckt wie
ein Pferd, wenn es eine Fliege spürt, dem Baseball-Fan, dem Stati¬
stiker - wir haben aber auch kein Recht, über »Geschäftspapiere
und Lehrbücher« die Nase zu rümpfen; all diese Phänomene sind
wichtig. Man muß aber trotzdem einen Unterschied machen: wenn
Halbdichter diese Dinge ins Relief zerren, dann ist das Ergebnis
nicht Lyrik, und es wird auch für uns keine Lyrik geben, ehe nicht
die Dichter unter uns »Prosaiker der Phantasie« geworden sind -
gleich erhaben über alle Überheblichkeit wie über alle Frivolität,
und ehe sie nicht »imaginäre Gärten mit echten Kröten darin« zur
Besichtigung anbieten können. Bis dahin: wenn ihr einerseits den
Rohstoff der Dichtung in seiner ganzen Roheit verlangt und zu¬
gleich das, was andererseits das Siegel der Echtheit trägt, dann habt
ihr Interesse an der Lyrik.)
3°7
ren« - und sie fungieren hier eindeutig als Beispiele, nicht
als Metaphern vermag noch auf eine andere amerikanische
Besonderheit hinzuweisen, nämlich auf die weitgehende Na¬
turentfremdung vieler amerikanischer Städter: es könnte
leicht sein, daß in anderen Kulturkreisen oder Gesellschafts¬
systemen ein Statistiker als eine wesentlich weniger vertraute,
weniger verständliche Erscheinung empfunden würde als eine
Fledermaus.
Es gibt viele verschiedene Gründe, aus denen moderne Dich¬
ter etwas gegen die Lyrik gehabt haben. Das von Marianne
Moore empfundene Ungenügen ist das Gegenteil der Frustra¬
tion, die die Lyriker der poesie pure in ihrem verzweifelten
Bemühen empfanden, die Wörter daran zu hindern, daß sie
etwas bedeuten. Das »auch« des Gedichtanfangs - »Ich mag
sie auch nicht« - stellt sofort ein komplizenhaftes Einver¬
ständnis her, und zwar nicht mit den Dichtern (wie das bei
Mallarme der Fall ist, der sich konfrontiert sieht mit dem
leeren Papier, »das sich durch seine Weiße verweigert«), son¬
dern mit der pragmatischen Majorität der Amerikaner. Dar¬
aus erklärt sich Marianne Moores Festhalten an einer unge¬
schminkten Nüchternheit, das ihre Anti-Poesie mit der von
Brecht und anderen marxistischen Dichtern verbindet. Im
Gegensatz zu diesen blieb sie jedoch bewahrt vor der Gefahr,
jene Art von Nicht-Dichtung zu produzieren, die von gewis¬
sen Renegaten der Avantgarde produziert wurde - von sol¬
chen engagierten Dichtern nämlich, die zu stark und zu ab¬
sichtsvoll gegen ihren »bürgerlichen« Subjektivismus und In¬
dividualismus reagierten (diese Nicht-Dichtung ist etwas
grundsätzlich anderes als das, was wir Anti-Poesie nennen).
Im Gegensatz zu den europäischen Vertretern dieser Art en¬
gagierter Dichtung war Marianne Moore auch nicht in der
Lage, auf traditionelle oder volkstümliche Versformen zu¬
rückzugreifen, um eine leichtere Kommunikation mit einem
breiten Publikum herzustellen: das Backen von synthetischem
Brot zur allgemeinen Verteilung war keine Möglichkeit für
sie. Das ist gerade das Dilemma ihrer Anti-Poesie, einer Anti-
Poesie, die ganz entschieden für Intellektuelle bestimmt ist,
weil nämlich die gleiche fanatische Wahrhaftigkeit, die ihrem
Werk seine ungeschminkte Nüchternheit gab, dieses zerebral
und auf eine exklusive Weise streng werden ließ. Trotz all
308
ihrer Zitate aus Zeitungen und Magazinen, trotz ihrer auf¬
richtig gemeinten Verbeugungen vor Baseball-Fans und Sta¬
tistikern hat Marianne Moores Aufopferung des Lyrismus
nicht dazu geführt, daß ihr Werk der pragmatischen Mehr¬
heit ihrer Landsleute ans Herz gewachsen ist. So paradox
es aussehen mag: der extrem subjektive Lyrismus eines Dylan
Thomas hat eine wesentlich größere Chance, Statistiker von
ihren Statistiken, Baseball-Fans von ihrem Baseball, Ge¬
schäftsleute von ihren Geschäftspapieren wegzulocken. Ma¬
rianne Moores Herbheit, ihre präzise und konsequente Nüch¬
ternheit wird am meisten von denen geschätzt, die erst da¬
durch dazu gekommen sind, die Lyrik »auch nicht« zu mö¬
gen, daß sie sie vorher zu sehr gemocht haben - so sehr, daß
sie ihrer überdrüssig geworden sind. Das sind die Leute, die
den Preis einschätzen können, den Marianne Moore für ihre
Selbstverleugnung bezahlt hat.
Trotz allem: angesichts des Werkes von Marianne Moore
kann man sich doch der Frage nicht entschlagen, ob Verdich¬
tung, selbst wenn sie sich als Anti-Poesie versteht, das beste
Medium für die Art von Beobachtungen und moralischen
Bemerkungen ist, die ihre Stärke sind. Die Prosastücke in
ihrem Buch Teil Me, Teil Mei3 sind genauso geistvoll, elegant
und einfallsreich wie ihre Verse, und ebenso charakteristisch
für ihren Ton. Andererseits kann man Verslyrik sogar aus
dem Fehlen derjenigen Substanz machen, die Marianne Moore
in so reichem Maße zu liefern versteht.
Der brasilianische Dichter Carlos Drummond de Andrade
zum Beispiel ist besessen von Zweifeln an dem Wesen der
Realität selbst, Zweifeln, von denen man annehmen würde,
daß sie mit der objektgetreuen Aufmerksamkeit, die Ma¬
rianne Moore allen menschlichen Belangen gewidmet hat, un¬
vereinbar wären.
3°9
tionen über das Wort Mensch), beschließt eine lange Reihe
von Fragen mit dem charakteristischen Fragesatz »existiert
der Mensch überhaupt?« (»mas existe o homen?«). Diese so
gar nicht pragmatischen Zweifel haben Drummond de An-
drade nicht davon abgehalten, eine Lyrik voll sehr irdischer
Ironien und Einsichten in das menschliche Leben zu schreiben,
oder zum Beispiel ein so ausgeprägt aktuelles Stück wie das
lange Gedicht A bomba (Die Bombe)14, das so anfängt:
A bomba
e una flor de pänico apavorando os floricultores
A bomba
e o produto quintessente de um laboratorio falido
A bomba
e miseria confederando milhöes de miserias. . .
(Die Bombe
ist eine Blüte der Panik, die die Gartenkünstler erschreckt
Die Bombe
ist das Kernprodukt eines bankrotten Labors
Die Bombe
ist Elend verbündet mit einer Million anderen Elends . ..
Poesia
Gastei uma hora pensando um verso
que a pena näo quer escrever.
No entanto eie estä cä dentro
inquieto, vivo.
Eie estä cä dentro
e näo quer sair.
Mas a poesia deste momento
inunda a minha vida inteira.15
310
(Ich habe eine ganze Stunde damit vergeudet, eine
[Verszeile zu erdenken,
die meine Feder sich zu schreiben weigert.
Und dennoch ist sie hier, in mir,
Unruh’ stiftend, lebendig.
Sie ist hier, in mir,
und sie will nicht heraus.
Doch die Poesie dieses Augenblicks
überflutet mein ganzes Leben.)
311
weil sie es nicht müssen. Ihr Vorhandensein, ihre konkrete Evidenz,
ihre Festigkeit, ihre Dreidimensionalität, ihr greifbares, unbezwei-
felbares Aussehen ..(dies erfindet sich nicht selbst, sondern es
läßt sich sehen), ihr Aussehen: »es ist schön, weil ich es nicht erfun¬
den haben würde; ich wäre außerstande gewesen, es zu erfinden«; -
das alles ist meine einzige raison d’etre, oder genauer, mein Vor¬
wand: und die Vielfalt der Dinge ist das, woraus ich eigentlich be¬
stehe. Das ist es, was ich sagen will: ich bestehe aus ihrer Vielfalt,
was mir sogar zu existieren erlaubte, wenn ich völlig schwiege. Als
ob ich der Ort wäre, um den herum sie existieren. Aber im Bezug
auf ein einzelnes von ihnen, auf jedes einzelne für sich genommen,
wenn ich nur eines bedenke, verschwinde ich, es hebt meine Exi¬
stenz auf.18
312
Ho lavorato tutti gli anni, ho veduto
poco mutar le stagioni dietro i vetri, lavorando
per l’auto, i giornali, i medici, il cibo e la casa.
Non quello che dovevo ma nemmeno
quello che mi piacera, facendo; non con l’animo
lento dei savi, ne con l’occhio lucente
ne con la mente allegra.
3i3
politisch realistischsten Dichter eigentlich fast immer im In¬
nersten ihres Herzens sind - in Fortinis Geste der Solidarität
mit den anderen miteingeschlossen, und er entgeht damit je¬
nem gewollt legeren Kokettieren mit dem Populären, wenn
nicht gar Ordinären, das für so viele der Dichter charakteri¬
stisch ist, die sich die neue persona des Dichters-als-Mann-auf-
der-Straße zugelegt haben.
Der von ihm selbst eingestandene Einfluß der englischen Ly¬
rik auf Drummond de Andrade hängt mit seiner Vorliebe für
das der Beobachtung entstammende und spezifische Detail zu¬
sammen; aber andere lateinamerikanische Dichter, und selbst
der spanische Dichter Blas de Otero, haben gelernt, diese
Vorliebe zu teilen. Die französischen Lyriker stehen fast al¬
lein da mit einer Art von Lyrik, die so gut wie nichts mit den
Erfahrungen ihres empirischen und gesellschaftlichen Ichs an¬
fangen kann, oft aufgrund einer Einstellung zu der Funktion
des Nennens, die viel mehr der Haltung Heideggers als der¬
jenigen Wittgensteins entspricht. Eine mögliche Erklärung
dafür ist von Yves Bonnefoy in mehreren Essays und Vor¬
trägen vorgeschlagen worden, in Äußerungen, die seiner Be¬
schäftigung mit englischer Dichtung, vor allem seiner Erfah¬
rung als Übersetzer Shakespeares entsprungen sind.
Sein Aufsatz La Poesie frangaise et le principe d’identite21
stellt fundamentale Unterschiede zwischen den beiden Spra¬
chen und literarischen Traditionen fest, Unterschiede, die von
sehr voneinander abweichenden Arten nicht nur der Sprache,
sondern des Denkens und Wahrnehmens abhängen. Bezeich¬
nenderweise berichtet der Essay von einer »Epiphanie« - im
Joyceschen Sinne des Wortes - die ihren Anlaß darin hatte,
daß Yves Bonnefoy eine Eidechse auf der Mauer eines ver¬
fallenen Hauses sah.* Die prosaischen Möglichkeiten, diese
Wahrnehmung auszunützen, konfrontieren den Dichter mit
der »qualvollen Tautologie des Gebrauchswortes«, mit dem
* Das Wort, das im Original hier steht, ist »Salamander«; mit der
Pedanterie des Empirikers habe ich Monsieur Bonnefoy darauf
aufmerksam gemacht, daß diese volkstümliche Bezeichnung für
einen Gecko im Zusammenhang seines Essays nicht präzise ge¬
nug ist, da ein Salamander, wenn man genau sein will, ein am¬
phibisches Wesen ist, das nicht die Mauern hinaufklettert.
3M
»plötzlichen Stummsein des Universums« und mit dem »Ge¬
danken des Todes«. Um seine Eidechse poetisch zu »nennen«,
muß er auf eine »Freiheit« in ihm selbst zurückgreifen, auf
eine Freiheit, die an Rilkes Vorstellung der »Wandlung«*
ebenso erinnert, wie an Heideggers »Ins-Werk-Setzen« des
Seins durch den Dichter; und Yves Bonnefoy spricht tatsäch¬
lich vom »Sein«, vom »logos«, vom »Universum«, von einem
»Erlösungsimpuls«. Die Wirklichkeit muß »verinnerlicht«
werden durch die Suche des Dichters nach den »Fäden, welche
die Dinge in mir vereinen«. Im weiteren zeigt Yves Bonne¬
foy dann, daß für die französische Fyrik nicht alle Wörter
poetisch sind und daß einige von ihnen sich in einem Maße
gegen den poetischen Gebrauch sperren, wie es in der eng¬
lischen Dichtung schlechthin unvorstellbar ist. Der Grund da¬
für ist darin zu sehen, daß die englische Poesie primär von
»Aspekten« oder Erscheinungen ausgeht, während die fran¬
zösische Poesie primär von dem ausgeht, was man in der Phi¬
losophie »Substanzen« nennt. Das, was der Dichter aus der
Begegnung mit der Eidechse einzufangen hatte, war die »Sub¬
stanz« des Tieres; und er war darauf angewiesen, sie in sich
selbst zu entdecken.
Ein Gedicht in Yves Bonnefoys Du Mouvement et de l’im-
mobilite de douve22 (Von Bewegung und Unbeweglichkeit
des Hahnenfußes) steht in einer sehr bedeutsamen Beziehung
zu dem eben behandelten Essay:
3U
O ma complice et ma pensee, allegorie
De tout qui est pur,
Que j’aime qui resserre ainsi dans son silence
La seule force de joie.
3l6
Fall eine Detaillierung des Sinneseindrucks erwarten, die auf
eine genaue Bestimmung der Spezies hinausliefe - Angaben,
die von dem französischen Dichter als etwas Prosaisches emp¬
funden würden.) Gerard Manley Hopkins oder Ted Hughes
hätten zuerst die »haeccietas« der Echse wiederzugeben ver¬
sucht, und zwar nicht durch Abstraktionen, sondern durch die
Fixierung konkreter Einzelheiten. Wenn sie schließlich doch
eine wesenhafte Substanz herausgeholt hätten, so wäre auch
dieses Wesentliche den sinnlich erfaßten Details inhärent ge¬
wesen oder es wäre zumindest in einem viel höheren Grad in
ihnen vorgebildet gewesen. Yves Bonnefoys Gedicht ist so
weit von fast allen Idiomen der zeitgenössischen englischen
und amerikanischen Lyrik entfernt, weil seine Sprache in
einer grundsätzlich anderen Weise wirkt und weil sein Be¬
wegungsablauf in eine grundsätzlich andere Richtung geht;
und vor allem auch deshalb, weil es einen Bereich reiner
Ideen oder reiner Subjektivität als Voraussetzung akzep¬
tiert, der mit einem Minimum von sinnlicher Hypostasierung
poetisch beschworen werden kann. Die Kosmologie, die das
Gedicht implizit enthält, wird zwar zugegebenermaßen viel
greifbarer, wenn man sie im Kontext des gesamten Gedicht¬
bandes betrachtet, der ja den Charakter eines Zyklus hat;
und es wäre sicherlich absurd, Bonnefoys Gedicht als ein
»Tier-Gedicht« zu lesen, was es offensichtlich nicht ist; aber
das Gedicht bestätigt das, was Bonnefoy über die Unter-
schiede zwischen französischer und englischer Dichtung gesagt
hat.
Bonnefoy faßt diese Unterschiede wie in einer Formel zu¬
sammen, wenn er darauf hinweist, daß die englische Dichtung
aus der Spannung zwischen der Vielfältigkeit der Erschei¬
nungswelt und dem Bestreben erwächst, darin wesenhafte
Substanzen zu entdecken. Er zitiert eine Bemerkung von
Coleridge: »Schön ist das, worin das Vielfältige, noch als
Vielfalt sichtbar, zur Einheit wird.« Mit offensichtlicher An¬
spielung auf John Donne schreibt Bonnefoy: »Die Leute sa¬
gen immer, die englische Lyrik ^beginnt mit einem Floh und
endet bei Gott<. Dem entgegne ich, daß die französische Ly¬
rik den Vorgang umkehrt: sie beginnt, wenn sie kann, mit
Gott, um bei der Liebe zu irgend etwas x-Beliebigem zu en¬
den.« Viele englische Lyrik kommt französischen Lesern tri-
vial vor; und Bonnefoy macht einige Bemerkungen über die
Vorliebe englischer und amerikanischer Leser für Corbiere
und Laforgue, für Dichter, denen nach französischen Krite¬
rien nur ein niedriger Rang zukommt. All dies hängt mit der
Sprache selbst zusammen, mit dem, was Bonnefoy die »Halb-
Transparenz« französischer Wörter nennt, im Vergleich zu
der erdhaften Kompaktheit und Körperlichkeit des Angel¬
sächsischen. Da ja das Latein die Sprache der Theologie, Li¬
turgie und Mystik war, verloren »Blätter und Nachtigallen«
im Französischen ihre Assoziationen mit dem Heiligen. »In
jedem praktischen Fall mußte das die Erfahrung des Absolu¬
ten in französischen Wörtern - wenn sie auch noch so direkt
war - zu etwas unendlich Zerbrechlichem und Privatem wer¬
den lassen.« Bonnefoy ist sich aus diesem Grunde der Schwä¬
chen und Gefahren, die seine Muttersprache für die Dichter
bietet, sehr bewußt; denn »wenn die Wörter, die wir verwen¬
den, diese virtuelle Möglichkeit der Präsenz, diese große Hoff¬
nung, tatsächlich enthalten, dann folgt daraus, daß wir unter
diesem Zeichen sprechen werden, so als seien wir trunken,
ohne vorher, wie es unsere Pflicht wäre, unser praktisches
Verhältnis zu den Dingen einer Kritik unterzogen zu haben.
Aber den Baum zu leichthin aussagen heißt, das Risiko ein-
gehen, daß man der Gefangene eines armseligen Bildes des
Baumes bleibt, das im Raum des Absoluten nicht wachsen
kann, ohne daß es von einem der Aspekte seinen Ausgang
nimmt, die wir - geistesabwesend - in Form einer Vereinze¬
lung des Dinges im Gedächtnis behalten haben.« »Französische
Dichtung«, bemerkt Bonnefoy, »hat keinen Mercutio, der
ihren Romeo von jener Schönheit der Worte - in die sie viel¬
leicht nicht mehr hineingelegt haben als das Phantom der
Dinge - zur »Pflicht der Trivialität zurückruft.«
In seinen späteren Gedichten hat Bonnefoy den Kampf gegen
dieses »Manko«, wie er es nennt, aufgenommen bis zur offe¬
nen Kriegserklärung an die »Schönheit«, von der sich die
französischen Symbolisten verführen ließen - eine Dichtungs¬
richtung, deren Kunst er in dem oben erwähnten Essay als
»narzißtisch und steril« bezeichnet hatte.
318
(Sie, die das Sein zerstört, die Schönheit,
sie wird gemartert werden, auf das Rad geflochten .. .)
3l9
Der Anteil der französischen Lyriker nach 1945 an der neuen
Sachlichkeit ist demnach von einer Art, die ihnen noch einen
beträchtlichen Freiheitsabstand von dem sichert, was man als
einen »internationalen Stil« der Lyrik festgestellt hat. Ein
Kritiker im Times Literary Supplement25 hat die folgende,
nicht gerade von Sympathie zeugende und allzu pauschale
Beschreibung dieses Stils gegeben: »In seinem letzten Buch
scheint Mr. Merwin sich nun also dem in die Arme geworfen
zu haben, was in der Lyrik dem >internationalen Stil< in der
Malerei entspricht: d. h. einer poetischen Kunstausübung, die
alle erzählerischen Elemente ausschließt, einem Neo-Imagis-
mus, der gleich gut, oder gleich schlecht, zur englischen wie
zur französischen, spanischen, deutschen oder japanischen
Sprache paßt, ein frostiges Nebeneinander von unsicher su¬
chender, sich dauernd wiederholender, manchmal fast stam¬
melnder Zusammenhanglosigkeit.« Nun, dieser Stil »paßt«
nicht »gleich gut« zu den aufgeführten Sprachen; und er ist
nur selten neo-imagistisch, denn eines seiner unterscheidenden
Merkmale ist ein Mißtrauen gegen bildliche Kunstmittel, das
sich auch auf den Gebrauch der Art von Bildlichkeit erstreckt,
die in ihrer reinsten Form bei den Imagisten zu finden ist, wie
etwa in T. E. Flulmes berühmtem Vergleich in dem Gedicht
Autumn (Herbst):
I walked abroad,
And saw the ruddy moon lean over a hedge
Like a red-faced farmer.
Der Kritiker der TLS zitiert dann weiter ein paar Zeilen
aus Gedichten von W. S. Merwin und schreibt dazu: »Das
könnten Übersetzungen von Texten von Sernet oder Heißen¬
büttel oder Tamura Ryuichi sein; oder es könnte Eluard in
der Übersetzung von Creeley sein, oder Lorca >in der Nach-
dichtung< von Wieners.« Das Zusammenwerfen all dieser
Namen in einen Topf beweist nichts als Ignoranz und einen
völligen Mangel an Gefühl für wesentliche Unterschiede.
»Imagismus« ist offenbar ein ausreichendes Synonym für
320
»modern«, gut genug für Lorca und Eluard, Creeley und
Heißenbüttel - einen Dichter, dessen lexikalische, grammati¬
kalische und semantische Permutationstechniken etwa ebenso
viel mit Robert Creeleys lyrisch ausdrucksvollen Gedichten zu
tun haben wie beider Lyrik mit Lorcas Werk: und im übri¬
gen hat Lorca ja auch erzählende Balladen geschrieben, wenn
es ihm einfiel. Es gibt in der Tat so etwas wie einen neuen
internationalen Stil in der Lyrik, und zwar neben der pro¬
grammatisch internationalen Bewegung, die sich »konkrete
Lyrik« nennt und mit der Heißenbüttels Schaffen in Zusam¬
menhang steht. Ich habe die Ansicht vertreten, daß die fran¬
zösische Lyrik immer noch dazu tendiert, eine Sonderstellung
einzunehmen, weil so vieles davon jedes explizite Zeugnis
eines sozialen oder politischen Interesses ausschließt. Trotz¬
dem: in Philippe Jaccottet haben wir ein weiteres Beispiel für
einen französischen Dichter, der auf eine »Lyrik ohne Bil¬
der«26 hingearbeitet hat, womit er eigentlich eine Lyrik ohne
Metaphern meint, denn er unterscheidet zwischen »notwen¬
digen« und »ornamentalen« Bildern. Die notwendigen Bil¬
der, die Bilder, die »zählen«, sind diejenigen, welche zu der
in dem Gedicht wiedergegebenen »Epiphanie« gehören, nicht
zu einer Argumentation, die sich etwa aus der Epiphanie er¬
geben könnte. Ich verwende hier wieder das Wort »Epi¬
phanie«, denn Jaccottet ist kein beschreibender Lyriker,
wenn seine Epiphanien auch aus intensiven Begegnungen mit
sichtbaren Erscheinungen hervorgehen, mit der Luft und dem
Licht, die sie umgeben, mit »inscapes«*, welche mit derselben
Detailgenauigkeit und liebenden Einfühlung wiedergegeben
werden wie bei Hopkins. Aber ebenso wie Bonnefoy betont
Jaccottet die Verbindung all dieser Phänomene mit dem
Innenleben. Audi er sucht nach dem, was er ein »Zentrum«
nennt, nach einer Wesensoffenbarung, die viel mehr durch
die Naturgegenstände erreicht werden muß als in ihnen. Er
versucht, »das, was ich gesehen habe, in einer bestimmten
Realitätssphäre (air) anzusiedeln. Nichts scheint zunächst ein¬
facher als das, und doch ist gerade das das Schwierigste und
3 21
Seltenste, was es gibt: jener Augenblick, an dem die Lyrik -
scheinbar ohne es zu wollen, denn sie ist all ihres ästhetischen
Glanzes entkleidet - das erreicht, was für mich ihr absoluter
Höhepunkt ist.«27 In diesem Moment »wird die Lyrik zum
bloßen Nennen der Dinge«, und das ist der Punkt, an dem
auch Jaccottet sich auf die neue Einfachheit zubewegt, auf
einen dichterischen Phänomenalismus, der weitaus radikaler
ist als derjenige der Imagisten. Das folgende kurze Gedicht
aus Jaccottets Airs28 ist ein gutes Beispiel für die Reduktion,
die er durchgeführt hat, um nichts als einen Augenblick der
Wahrnehmung wiederzugeben, aber eben einen Augenblick,
der sich im Geist zu etwas Wesentlichem ausweitet:
Le souci de la tourterelle
c’est le premier pas du jour
Dies ist eine Sachlichkeit, die zugleich neu und alt ist: denn
sie ergänzt Sapphos Beobachtung über die Abenddämmerung
und Hesperus, der sammelt, »was der helle Sonnenaufgang
zerstreut hat«.
322
amerikanischer Dichter wie Robert Duncan, von zentraler
Bedeutung ist. In ihrer extremsten Erscheinungsform ist die
neue Sachlichkeit nicht nur anti-metaphorisch, sondern auch
anti-mythisch; und eines von Yves Bonnefoys anspruchsvoll¬
sten späteren Gedichten, Le Dialogue d’Angoisse et de Desir
(Das Zwiegespräch der Angst mit dem Verlangen), ist eine
Neuinterpretation des Mythos von Persephones Hinunterstei¬
gen in die Unterwelt. Für den polnischen Dichter Tadeusz
Rozewicz zum Beispiel sind Mythen und Archetypen ebenso
suspekt wie die traditionelle Sprache der Lyrik. »Ich be¬
trachte meine eigenen Gedichte mit schärfstem Mißtrauen«,
schreibt er; »ich habe sie aus einem Überrest von Wörtern ge¬
macht, geborgenem Worttreibgut, uninteressanten Wörtern,
Wörtern aus dem großen Abfallhaufen, dem großen Fried¬
hof.« Der »große Abfallhaufen« und der »große Friedhof« -
das sind die Realitäten, auf die der Zweite Weltkrieg Roze¬
wicz und viele andere europäische Dichter eingeengt hat.
Der gleiche Lyriker gab auch seinem Mißtrauen gegen poe¬
tische Metaphern Ausdruck:
323
Rozewicz macht sein dichterisches Vorgehen völlig klar in
seinem Gedicht Meine Lyrik:
übersetzt nichts
erklärt nichts
drückt nichts aus
umfaßt keine ganzheit
erfüllt keine Hoffnung
324
Antrieb für meine Dichtung ist auch der Haß gegen die
Poesie. Ich rebellierte dagegen, daß sie das >Ende der Welt<
überlebt hat, als wäre nichts geschehen.« Sein banales Voka¬
bular - »Ich mußte der >Banalität< ihr Recht wiedergeben«
schrieb er 1966 - hängt mit einer extremen Abkehr von der
Individualität zusammen, und damit von dem Prinzip der
Phantasie. Was er anstrebte war »Anonymität; ein Fehlen
der schöpferischen Persönlichkeit; das Fehlen jeglicher Art
von Originalität«. In einem anderen Gedicht über die Dich¬
tung, betitelt Nowy Wiersz (Neuer Vers), wacht sein Sohn
auf und fragt ihn, was er tut. »Nichts«, antwortete er, und:
Ich korrigiere
das neue
überflüssige Gedicht
Traum
Was für ein schrecklicher Traum
ließ den Dichter
aus seinem Schlaf auffahren
wie ein Hirsch aus einem brennenden Forst?
- Der Schmetterling aus seiner Metaphorik
hatte ihn mit seinen Flügeln zugedeckt
die fühlbarste
Beschreibung von Brot
liefert der Hunger
es ist darin
ein feuchter löchriger Kern
ein warmes Innen
Sonnenblumen bei Nacht
die Brüste der Bauch die Schenkel der Kybele
Mangel Hunger
das Fehlen
von Fleisch
ist eine Beschreibung der Liebe
ist das moderne Liebesgedicht.
326
Deine Furcht ist groß
metaphysisch
meine ist klein
ein Buchhalter mit einer Mappe . ..
327
Fortinbras) oder Apollo und Marsyas ist aus demselben »gro¬
ßen Abfallhaufen« und »großen Friedhof« herausgewachsen,
und ist durch dasselbe Schweigen hindurchgegangen.
Die romantische Vorstellung vom Dichter, der seine Wunden blo߬
legt, der sein eigenes Elend besingt, hat noch heute viele Anhänger,
trotz des Wandels im Stil und im literarischen Geschmack. Sie glau¬
ben, es sei des Künstlers geheiligtes Recht, egozentrisch zu sein und
sein wundes Ich zur Schau zu stellen. Wenn es so etwas wie eine
Schule für Literatur gäbe, so müßte sie vor allem Übungen in der
Beschreibung von Dingen vorschreiben - nicht von Träumen. Jen¬
seits des Ichs des Dichters dehnt sich eine andere, dunkle, aber reale
Welt. Man sollte nicht den Glauben aufgeben, daß wir diese Welt
sprachlich einfangen und ihr gerecht werden können.
328
drücklich losgesagt von dem, was er »die Tendenz zu einer
formalen Universalität der dichterischen Sprache« nennt und
als »das Symptom einer oberflächlichen Standardisierung der
Ware in unserem industriellen Zeitalter« brandmarkt.37 Eine
derartige »formale Universalität« ist nicht nötig, da die ge¬
meinsame Grundlage Abweichungen oder Verschiedenartig¬
keit nicht verbietet. Die gemeinsame Grundlage ist nicht mehr
als ein Ausgangs- und Endpunkt, an dem man sich dem
Schweigen stellen muß, an dem man alles sprachliche Rüst¬
zeug der Lyrik abzulegen und der Prüfung des Schweigens
zu unterwerfen hat.
(...
Jesus, was ist
ein Dichter, wenn es überhaupt einen
gibt?
329
Ein Mann,
dessen Worte wirklich
zubeißen
an der richtigen
Stelle - weil sie Tatsachen sind
weil sie die Form
der Bewegung haben ...)
und:
330
(Doktor, glauben Sie an
»das Volk«, die Demokratie? Glauben
Sie immer noch — an diese
Abfallgrube korrupter Städte?
Glauben Sie daran, Doktor? Jetzt?
Geben Sie’s auf,
das Gedicht. Geben Sie’s auf, das unentschlossene
Tändeln der Kunst.)
in dieser mördergrube,
wo der Kalender sich selber abreißt vor ohnmacht und hast,
wo die Vergangenheit in den müllschluckern schwelt
und die Zukunft mit falschen zähnen knirscht, ...
331
Die satirische, aus sich selbst erzeugte und sich selbst abwer¬
tende Hyperbel dieses Gedichts dient nur dazu, sich dem
Schweigen zu stellen, »dem großen Abfallhaufen, dem großen
Friedhof«, und sich dann tastend einen Weg zu suchen, der
herausführt. Der gesamte Vorrat der deutschen Sprache wird
eingesetzt gegen die deutsche Sprache und gegen eine dich¬
terische Tradition, die der Mittäterschaft an der Erzeugung
des Abfallhaufens und des Friedhofes geziehen wird, weil sie
eine Tradition der »Macht-geschützten Innerlichkeit« - wie
Thomas Mann es nannte - gewesen ist. Die moralische Nüch¬
ternheit, die in Enzensbergers Hyperbel impliziert ist, wird
deutlich sichtbar in seinem kürzeren und späteren Gedicht
schattenreich, das so beginnt:
ii
dieser schatten
ist nicht zu verkaufen.
332
There are no women -
just anti-men.
In the forests, anti-machines are roaring. . . ,43
333
Durch das ganze Gedicht hindurch werden Roboter und »pro¬
grammierte Tiere« kontrastiert mit dem einen dauerhaften
Ding, das die Erde enthält, »der Menschenseele«; und Wos-
nessenski spricht mit seiner eigenen Stimme, wenn er geltend
macht:
334
und die Kampfansage dieses Volkssängers gegen den kommu¬
nistischen Bürokratismus enthält die Behauptung »Das Kol¬
lektiv hat sich von mir getrennt!« Hier spricht Biermann für
das Individuum allgemein ebenso wie für sich selber, und ein
eigner Abschnitt dient dazu, die großartige Unverschämtheit
seiner Tirade einzuschränken:
4
Ich will beharren auf der Wahrheit
ich Lügner
335
Bundesrepublik erschien.48 Das Buch enthält keine Protest-
Gedichte und keinerlei offene Bezugnahmen auf das Regime,
unter dem Hüchel sich seinerzeit zu leben entschieden hatte,
selbst um den Preis des Schweigenmüssens und des öffent¬
lichen Geschmähtwerdens. Der Garten des Theoprast ist
eines dieser späteren Gedichte, und es ist dem Sohn des Dich¬
ters zugeeignet:
336
Die Tatsache, daß das Prinzip der Persönlichkeit von Dich¬
tern, die unter dem Kommunismus leben, wieder bekräftigt
wird, während viele Dichter, die in relativ individualisti¬
schen Gesellschaftsordnungen leben, noch immer die Sprache
und die poetologischen Grundlagen der Dichtung zu deper-
sonalisieren trachten, wäre nur dann ein Paradoxon, wenn
Dichter Konformisten wären, wenn Dichter völlig unabhän¬
gig wären von den inhärenten Paradoxa der Geschichte, oder
wenn die Entwicklung der Lyrik sich geradlinig vollzöge und
nicht dialektisch, d. h. unter dem Anstoß von Konflikten und
Spannungen. Politische Engagements werden durch politische
Programme entwertet, genauso wie politische Programme
entwertet werden nicht nur durch die Versuchungen, die das
Im-Amt-Sein mit sich bringt, sondern auch einfach durch die
Vertracktheit unvorhersehbarer Umstände. Die Trauer von
Efuchels Gedicht findet ihr Pendant in der Trauer von Franco
Fortinis Traducendo Brecht (Beim Übersetzen von Brecht),
das im gleichen Jahr erschien wie Hucheis Garten des Theo-
phrasti9\ aber da Fortini in einem nicht-kommunistischen
Land schreibt, braucht er keine Verkleidung, weder für seine
eigene Person noch für den Grund seiner Trauer:
Un grande temporale
per tutto il pomeriggio s’e attorcigliato
sui tetti prima di rompere in lampi, acqua.
Fissavo versi di cemento e di vetro
dov’erano grida e piaghe murate e membra
anche di me, cui sopravvivo. Con cautela, guardando
ora i tegoli battagliati ora la pagina secca
ascoltavo morire
la parola d’un poeta o mutarsi
in altra, non per noi piü, voce. Gli oppressi
sono oppressi e tranquilli, gli oppressori tranquilli
parlano nei telefoni, l’odio e cortese, io stesso
credo di no sapere piü di chi e la colpa.
Scrivi, mi dico, odia
chi non dolcezza guida al niente
gli uomini e le donne che non te si accompagnano
e credono di non sapere. Fra quelli dei nemici
scrivi anche il tuo nome. II temporale
e sparito con enfasi. La natura
per imitare le battaglie e troppo debole. La poesia
non muta nulla. Nulla e sicuro, ma scrivi.
337
(Ein großes Unwetter
braute den ganzen Nachmittag über den Dächern,
bis es dann losbrach mit Blitzen, mit Wolkenbrüchen.
Ich starrte auf Zeilen aus Zement, Zeilen aus Glas,
darin Schreie eingemauert waren und Wunden und Glieder -
Gliedmaßen auch von mir, der ich überlebte. Vorsichtig, die Augen
einmal auf die zinnengezackten Ziegel gerichtet, dann wieder auf
das trockne Blatt Papier
hört ich das Wort
eines Dichters sterben oder sich wandeln
in eine andere Stimme, nicht mehr für uns.
Die Unterdrückten
sind unterdrückt und ruhig, die ruhigen Unterdrücker
sprechen durch die Telephone, der Haß ist höflich und ich selber
weiß, glaub ich, nicht mehr, wer der Schuldige ist.
338
Glaubensbekenntnis für den Individualismus neu zu errich¬
ten. Günter Kunerts Werk hat Beispiele für die »humanisie¬
rende« Aufgabe der Dichtung erbracht, auf welche er in einer
Äußerung hingewiesen hat50; er schreibt diese Humanisierung
einem »dialektischen Prozeß« zu, »in dem das spannungsbe¬
ladene lyrische Ich und das Ich des Lesers identisch und doch
gleichzeitig nicht identisch werden; eines verfremdet das an¬
dere und verschmilzt doch gleichzeitig mit ihm. Das Gedicht
färbt auf die Psyche des Lesers ab, aber das Bild des Lesers
färbt seinerseits auf das Gedicht ab«.
339
Die »Prosaik der Phantasie«, die eine Begleiterscheinung
der neuen Einfachheit ist, war seit langem in der engli¬
schen Lyrik fest etabliert; und Philip Larkin beteuerte sein
Festhalten an der nüchternen Wahrheit der Lyrik in seinem
Interview mit Ian Hamilton: »Ich glaube, ich versuche im¬
mer, die Wahrheit zu schreiben und würde kein Gedicht
schreiben wollen, das nahelegte, daß ich ein anderer bin als
der, der ich bin . . . Nehmen Sie zum Beispiel Liebesgedichte.
Ich würde es als falsch empfinden, ein Gedicht zu schreiben,
das vor Liebe für irgend jemand überschäumt, wenn man
nicht gleichzeitig die angedichtete Person heiratet und mit ihr
einen Hausstand gründet . . . Ich glaube, ein großer Punkt
der Kritik an den Dichtern der Vergangenheit ist der Vor¬
wurf, daß das, was sie schrieben, nicht mit dem überein¬
stimmte, was sie taten - eine falsche Beziehung zwischen
Kunst und Leben. Ich versuche immer, das zu vermeiden.«
Genau das ist der Vorwurf, den die neuen Anti-Poeten den
»Dichtern der Vergangenheit« machen, den Dichtern, die an
die Dichtung glaubten. Es braucht nicht eigens gesagt zu wer¬
den, daß Philip Larkin, wenn er das empirische Ich des
Dichters in dieser Weise in die Verpflichtung zu prosaischer
Sachlichkeit mit einschließt, der Lyrik eine ernste Beschrän¬
kung auferlegt, wenn er diese Beschränkung auch in vielen
seiner Gedichte dadurch überwindet, daß er sich mit den
empirischen Ichs anderer Menschen identifiziert und mit ih¬
nen mitfühlt. Aber Larkin hat auch folgende Bemerkung ge¬
macht: »Ein sehr grober Unterschied zwischen Romanen und
Lyrik besteht darin, daß Romane von anderen Leuten han¬
deln, während es in der Lyrik um einen selber geht.« Die
Gefahr entsteht dort, wo Dichter sich zu sehr bemühen, das
Bild des Lesers auf ihre Gedichte abfärben zu lassen, beson¬
ders wenn dieses Bild durch Klassenunterschiede bedingt und
durch eine Reihe von Haltungen charakterisiert ist, die der
Haltung des Dichters moralisch und geistig unterlegen sind.
Ein ganz entschiedenes Interesse an ausländischer Dichtung -
das bis zu einem gewissen Maß und mit den verschiedensten
Begleitumständen und Resultaten von Donald Davie, D. J.
Enright, Charles Tomlinson, Geoffrey Hill, Thom Gunn,
John Silkin und Ted Hughes geteilt wird, um die in diesem
Zusammenhang wesentlichen unter den Lyrikern zu nennen,
340
die seit 1945 hervorgetreten sind ein starkes Interesse an
der Dichtung des Auslands liegt Christopher Middletons
Überblick über Nachkriegsströmungen und Tendenzen in sei¬
nem Interview zugrunde. »Der Modernismus in Zentral¬
europa und Spanien«, sagte er54, »war in den meisten Orten
mit einem starken Sinn für gesellschaftliche Revolution, mit
einem auf Katastrophen zutreibenden Geschichtsbild ver¬
bunden, in dem die Dichter sich den progressiv demokrati¬
schen und linken Bewegungen anschlossen. Im Modernismus
des englischen Sprachbereichs andererseits haben wir eigent¬
lich nie eine demokratische Tradition gehabt. Eliots und
Pounds Dichtung aus dieser Zeit befaßte sich eher damit,
traditionelle Werte neu zu bestimmen und zu reinigen, als
mit einem Versuch, neue Ideen zu konzipieren, die in die
Zukunft weisen.« Wenn man die neue Sachlichkeit unter die
modernen Strömungen rechnet - trotz ihres negativen Re-
agierens auf gewisse Formen des Modernismus -, dann
scheint die englisch-sprachige Dichtung seit den dreißiger
Jahren nicht weniger demokratisch als die meiste Lyrik, die
in anderen Sprachen geschrieben wurde, sondern vielmehr
demokratischer, selbst wenn dieser Eindruck nur dadurch zu¬
standekommt, daß sie sich intensiver mit der Ethik und dem
»ambiente« persönlicher menschlicher Beziehungen beschäf¬
tigt hat - mit dem, was in Philip Larkins Bemerkung über
Liebesgedichte ausgesprochen wird. Diese Beschäftigung war
permanenter als das Interesse an formalen Neuerungen einer¬
seits und an einem politischen Wandel andererseits; aber die
Diktion und die personae der englischen Lyrik nahmen in
einem beträchtlichen Maße den internationalen Trend zu
einer Schließung der Kluft zwischen persönlicher Sicht und
Gemeinschaftsinteresse vorweg. Auch in Amerika war Wil¬
liam Carlos Williams nicht der einzige, der eine demokra¬
tische Tradition hochhielt. Middleton hat sicherlich recht,
wenn er sagt, Eliots und Pounds Sorge »galt der Kultur,
nicht den Menschen«; aber Williams Sorge galt den Menschen
und der Kultur.
Der Provinzialismus der englischen Lyrik steht auf einem an¬
deren Blatt. Philip Larkin ist stolz darauf. Middleton hat
dazu gesagt: »Es gibt anscheinend sehr wenige englische Dich¬
ter, die den geringsten Sinn haben für die Geschichte als et-
34i
was, das sich in mir und dir und allen, die um uns leben, zu
jeder Zeit vollzieht: sie haben ihren Kahn in einen provin¬
ziellen Winkel des Universums gesteuert und ihren Ge¬
schichtssinn verloren.« Charles Tomlinson sprach ebenfalls
von dem »Mangel an Atemluft, der einen so großen Teil der
englischen Kunst seit dem Tode Byrons betroffen hat.«55
Von einem speziell amerikanischen Standpunkt aus schrieb
Robert Bly 1962:56 »Die heutigen Dichter in den Vereinigten
Staaten scheinen beiderseits einer grauen Scheidewand zwi¬
schen jahrhunderaltem britischen Formalismus einerseits und
einem anti-poetischen Vandalismus auf der anderen Seite
zugrundezugehen.« Aber eine gewisse Art von Provinzia¬
lismus kann durchaus eine Kraftquelle sein, wenn sie mit
dem von Middleton angesprochenen »Geschichtssinn« kombi¬
niert ist. Die lyrische Neuerungsbewegung, zu der Tomlin¬
son, Middleton und Bly beigetragen haben, hat mit dem
»jahrhundertealten britischen Formalismus« aufgeräumt,
nicht aber mit einem oft intensiven Zugehörigkeitsgefühl zu
spezifischen Örtlichkeiten und Lebensweisen. »Ich glaube,
Lyrik ist ein sprachliches Ausdrucksmittel, das einen nicht
in Träume führt, nicht in die Wolken, sondern in Wirk¬
lichkeiten, die jenseits der normal zu beobachtenden Reali¬
täten liegen«, beteuerte Christopher Middleton. Unauffällige
und kleine beobachtbare Realitäten können zu ihnen hin¬
führen; und selbst Träume können hinführen, wenn ihre be¬
sondere Art von Wahrheit genauso gewissenhaft wiederge¬
geben wird wie jede andere Wahrheit. Bei der Besprechung
von A Group Anthology aus dem Jahr 1963 faßte ein ano¬
nymer Korrespondent von The Times Literary Supplement57
seinen Gesamteindruck des Inhalts in einem Urteil zusam¬
men, das dem entspricht, was Northrop Frye »the low mime-
tic«* genannt hat, wobei er die Texte der Anthologie fol¬
gendermaßen charakterisierte: »Die Mimesis der Dichter zielt
heute nicht mehr auf die Taten von Göttern oder Heroen ab,
oder auf allegorische Figuren, die Tugendideale darstellen,
342
oder auf Stadien bürgerlichen Wohlbehagens, oder auf inten¬
sive und erregende subjektive Gefühlszustände: sie imitieren
die unordentliche, schäbige, zusammenhanglose Schablone des
Alltagslebens wie es ist, und diese Imitation erweckt in ihnen
keine starken positiven oder negativen Gefühle, sondern viel¬
mehr einen merkwürdigen und ziemlich dunkelgetönten Ge¬
fühlszustand - wie die Empfindung von jemand, der mit
einem Verziehen des Gesichts eine lauwarme und schal ge¬
wordene Molle Bier hinunterschluckt - gegenüber der Trüb¬
seligkeit und dennoch der Notwendigkeit der aktuellen Lage
der Dinge.«
Was ich, in Ermangelung eines besseren Wortes, die neue
»Anti-Poesie« genannt habe, ist eine Extremform des »low
mimetic«, die sich mit Strenge dem Gebot unterworfen hat,
»die aktuelle Lage der Dinge«, die Dinge wie sie sind, wie¬
derzugeben in der Sprache, wie sie die Leute sprechen. Diese
Art Lyrik ist anti-poetisch, wenn wir von der Norm der ro¬
mantisch-symbolistischen Dichtung und deren Hinarbeiten
»auf die Wirkungsweise der Musik« ausgehen. Aber unser
Verstehen der modernen Lyrik ist unvollständig und wird
der Sache nicht gerecht, wenn wir vergessen, daß jede Bewe¬
gung, die eine reine, absolut autotelische oder hermetische
Kunst anstrebte, ihren Ursprung in einem Hader mit »der
aktuellen Lage der Dinge« hatte, in einer polaren Spannung -
wie sie bei Baudelaire gegeben war - zwischen der Welt des
»Spleen« und dem »Ideal«. Diese Spannung mag in einem
großen Teil der englischen Lyrik aus den fünfziger und sech¬
ziger Jahren recht niedrig sein; aber seit Baudelaire hat die
moderne Dichtung oszilliert zwischen einer Kollaboration
mit dem Zeitgeist und einer schmähenden Herausforderung
des Zeitgeists. Kollaboration bedeutete »low mimesis« und
Ironie, den Realismus nicht nur der Laforgue und Corbiere
und Eliot, sondern den von Baudelaire selbst in Zeilen wie
dem »Eldorado banal de tous les vieux garfons«.58 Die starke
Wirkung dieser Zeile ergibt sich natürlich aus der Zähigkeit,
mit der Baudelaire sich an den anderen Pol kjammerte, den
Pol der hohen Kunst und der »idealen Eigenschaften«. Bau-
delaires Dandytum forderte den Zeitgeist heraus und berei¬
tete der »dehumanisierten« Kunst Mallarmes den Weg; aber
sein Realismus kollaborierte mit dem Zeitgeist und humani-
343
sierte die Lyrik, indem er Menschen, Örtlichkeiten und Dinge
in sie aufnahm, die seine rein romantischen Vorgänger ausge¬
schlossen hatten. Aus einem ähnlichen Widerstreit mit sich
selbst heraus kam Wallace Stevens - von dessen früherer
Lyrik ein Großteil geradezu die Verkörperung eines baude-
laireschen Dandyismus zu sein schien - zu der Erklärung:
»Sie muß menschlich sein«, in der das »muß« entweder als
ein Imperativ verstanden werden kann oder als die Bestäti¬
gung eines unausweichlichen Faktums; und William Carlos
Williams, ein Meister der »low mimetic«, kam zu der Erklä¬
rung: »Nur die Phantasie ist real.«
Auch W. H. Auden hat den Kampf weitergeführt, als er in
einer Neuausgabe seiner Werke die Zeilen unterdrückte, die
eine seiner bekanntesten Konfessionen zum politischen En¬
gagement enthielten59:
344
ersetzt durch ein anderes, ebenso deutliches, in Audens New
Year Letter:
Mit anderen Worten: Kunst ist nicht die Erschaffung von Formen,
die Gefühle im realen Leben symbolisieren und ihnen einen Sinn
geben. Sie ist eine zweite, eine Ausweichwelt (escape world), die
vom realen Leben vollkommen abgeschnitten ist. Und dem Kaiser
geben, das des Kaisers ist, bedeutet nicht, daß man die Entdeckun¬
gen der Kunst für eine gesündere, vernünftigere Lebensführung
ausnützt: es bedeutet vielmehr die verfälschend« Mischung der
Kunst selbst mit der Lebensphilosophie, die der Künstler sowieso
schon hat. Verantwortungsvolle Lyrik wird deshalb zu einer Art
von Rosinenkuchen aus der Kriegszeit, in dem die Rosinen des
escape dünn verteilt sind in einem Alltagsbrotteig aus Parabeln.
Viele Leute neigen zu dem Gefühl, daß diese ziemlich prosaischen
Theorien in Audens Dichtungen ihre Spuren hinterlassen haben.
Aber ist es nicht vielleicht wahrer zu sagen, daß die Geschichte an¬
ders herumgeht? Das heißt: In dem Auden, den wir kennen,
steckte einst ein romantisch-symbolistischer Auden, der Signale gab,
daß er herauswollte; irgend etwas passierte mit den Signalen, und
der Dichter fing nun an, überall herumzusuchen nach einer äußeren
Autorität, die ihn von der Autorität der Dichtung selber losspre¬
chen könnte .. .60
345
»Barbaren« und »Hellenen«61, einen Kampf, der nicht nur
zwischen entgegengesetzten Schulen von Dichtern und Kri¬
tikern ausgefochten wird, sondern in der Seele eines jeden
Dichters, der als Dichter zählt, von Gedicht zu Gedicht, und
von Zeile zu Zeile.
346
io Stadt und Land:
Phänotypen und Archetypen
347
Car j’ai de chaque chose extrait la quintessence,
Tu m’as donne ta boue et j’en ai fait de Tor.
Wie nach ihm Rimbaud, sah sich Baudelaire als einen »Alche¬
misten des Wortes«, der die schäbigen Materialien der moder¬
nen Großstadt nicht nur sammelt, sondern verwandelt: und
bis hin zu den Wirtshaus-Gesprächsfetzen in Eliots The Waste
Land haben nur sehr wenige unter Baudelaires Nachfolgern
irgendeine andere Möglichkeit gefunden, das Rohmaterial
des modernen Großstadtlebens einer poetischen Verwen¬
dung zuzuführen. Wordsworth konnte London in der Weise
rühmen, in der er es tat*, weil ihn die Tageszeit und
der Blick auf die Westminster Bridge des moralischen Ein¬
bezogenwerdens in all die Dinge enthob, die »dies mächtige
Herz« (that mighty heart) in Gang hielten, wenn es nicht
»stille lag« (lying still). In solchen Gedichten wie dem Vers-
Epilogue zu den Petits poemes en prose bemühte sich Baude¬
laire intensiv, Paris aus einer ästhetisch abmildernden Di¬
stanz und in einem sanfteren Lichte zu sehen; aber er kommt
nicht weiter als bis zur dritten Zeile seines Epilogue, und
schon haben sich nicht nur ein »Krankenhaus« und »Bordell«
in seinem Luftbild von der Stadt als Gesamtheit abgehoben,
sondern diesen sachlichen Gegebenheiten haben sich ohne
Übergang ein metaphorisches »Legefeuer« und eine metapho¬
rische »Hölle« zugesellt. Das Gedicht endet mit einer Liebes¬
erklärung an die »schandebeladene Metropole«, ihre »Kurti¬
sanen« und »Banditen«, wobei unterwegs noch ein Gruß an
Satan eingeflochten ist, den »Schirmherrn« von Baudelaires
»Verzweiflung« — denn nur diese Zuflucht zu einer Verkeh¬
rung der Wertordnungen ermöglichte es Baudelaire, ästhe¬
tisches Gold aus dem moralischen Schlamm herauszudestillie¬
ren, der sein Rohmaterial war.
Und es war auch kein Zufall, daß der erste Dichter, der -
sowohl als Künstler wie auch als Moralist - mit dem Erlebnis
348
der Großstadt rang, zu solchen Mitteln greifen mußte, wie
es Baudelaires Pseudotheologie des Satanismus oder seine da¬
mit verwandten Bemühungen sind, sich selber zu überzeugen,
daß Kunstprodukte der Natur überlegen sind. Dieser Kult
der Künstlichkeit, der Bewußtheit und Absichtlichkeit - den
Baudelaire aus den Schriften von Edgar Allan Poe bezogen
und an eine Vielzahl von späteren Dichtern, von Mallarme
und Wilde bis zu Stefan George und dem Yeats der Byzan-
tium-Gedichte weitergegeben hat - hätte ohne Schwierigkeit
ein Bindeglied zwischen der modernen Lyrik und der moder¬
nen Technologie werden können. Der Autor von Axel etwa,
einem klassischen Werk des »dekadenten« Ästhetizismus, war
zugleich der Verfasser eines der ersten klassischen Werke der
Science fiction, L’Eve future; aber Villiers de l’Isle-Adams
Interesse an modernen Erfindungen war, ebenso wie dasjenige
von Poe, ein ästhetisches und psychologisches. Baudelaire und
seine Nachfolger konnten den Scharfsinn und die Genialität,
die zu naturwissenschaftlich-technischen Erfindungen führten
und ebenso auch ihre utopischen Möglichkeiten durchaus gut¬
heißen; was sie nicht assimilieren konnten, waren die utilita¬
ristischen Funktionen und Ziele der modernen Technologie.
Trotz seines Lippendienstes gegenüber dem Kult der Künst¬
lichkeit behielt Baudelaires poetische Bildersprache eine Ten¬
denz, sich seine Symbole für das »Ideal« aus der Natur zu
holen, wohingegen er die Symbole für den gefallenen, laster¬
haften und neurotischen Zustand, den er »spieen« nannte,
aus den Erscheinungen der moderen Zivilisation bezog. So
sehr er sich auch anstrengte, er kam in dieser Beziehung an
Modernität nicht über William Blake hinaus - Blake, dessen
Reaktion auf »schwarze Fabriken des Satans« (»dark Sata-
nic mills«) oder auf die »Schwächemale, Schmerzenszeichen«
(»marks of weakness, marks of woe«) auf dem Antlitz eines
jeden Großstädters sich von Baudelaires Betroffenheit durch
die Metropole nur dadurch unterschied, daß sie in ihrer lei¬
denschaftlichen Ablehnung des Nützlichkeitsprinzips, des uti¬
litaristischen Optimismus gegenüber der Technisierung abso¬
lut eindeutig war.
Viele spätere Dichter haben eine ähnliche Unfähigkeit an den
Tag gelegt, »brüderlich« neben einer Wissenschaft in die Zu¬
kunft zu marschieren, die sich bemühte, neue Mittel für die
349
wirtschaftlichere Ausbeutung zur Verfügung zu stellen. Ein
Grund mag auch darin liegen, daß, wie Hofmannsthal sagte,
»die Phantasie konservativ« ist; aber dieses »konservativ«
darf nicht in einem engen politischen Sinn verstanden werden.
Die Phantasie kann auch politisch radikal sein, wie bei Wil¬
liam Blake, oder revolutionär, wie bei so vielen Dichtern seit
Baudelaire. Aber dennoch ist die Phantasie, selbst dort, wo
sie sich am radikalsten utopisch oder apokalyptisch äußert,
konservativ in ihrem ständigen Rückgriff auf Normen und
Archetypen. The Good City (die Idealstadt) ist einer dieser
Norm- und Archetypen; aber da nur wenige oder keine der
modernen Großstädte von ihren Be-Dichtern für schön ge¬
nug befunden worden sind, ist die Natur die Norm geblie¬
ben, zu der die Dichtung immer wieder zurückkehrte, mit
einer Hartnäckigkeit, die durch das Ausgreifen der Städte
und Industrieanlagen in die Naturlandschaft hinein nicht ver¬
ringert, sondern vielmehr intensiviert worden ist. Wie David
Wright betont hat2, war auch die englische romantische Na¬
turpoesie eine Reaktion auf die Industrielle Revolution und
auf Denkweisen, die mit dieser im Einklang standen. Sogar
denjenigen Lyrikern des zwanzigsten Jahrhunderts, die einen
totalen Bruch mit den romantisch-symbolistischen Prämissen
der Poetologie bewerkstelligt haben, ist es unmöglich gewe¬
sen, einen Fortschritt der Technik zu akzeptieren, der zur
Zerstörung aller Natur und ebenso aller Kultur auf unserem
Planeten führen könnte - »des besten, den wir haben«, wie
ihn Günter Kunert in seinem sardonischen Epigramm Laika3
genannt hat. Das trifft selbst auf die politisch Progressiven
und am stärksten an wissenschaftlichem Denken Orientierten
unter den Dichtern der Zeit nach 1945 zu, mit einer Aus¬
nahme vielleicht: nämlich derjenigen von einigen »konkre¬
ten« Lyrikern, deren Methoden ja selber wissenschaftlich
oder mechanistisch sind, insofern als sie mit Sprachmaterialien
experimentieren, die zugleich moralisch so neutral und se¬
mantisch so zufällig sind, als ob diese Lyriker den Status
von Computern anstrebten.
Maschinen spielen eine große Rolle in der Lyrik von Hans
Magnus Enzensberger, der ungeheuere Anstrengungen unter¬
nommen hat, mit den naturwissenschaftlichen und technischen
Entwicklungen unserer Zeit Schritt zu halten, ebenso wie er es
350
sich zur Aufgabe macht, über alles, was sich in der Politik
und Gesellschaft rings um die ganze Welt ereignet, stets auf
dem laufenden zu sein. Aber er hat das nicht getan und tut
das nicht, um »brüderlich« neben den Technikern zu mar¬
schieren, sondern um zu wissen, worauf sie hinarbeiten, und
um ihnen entgegenzutreten. Daß auch er auf der Seite der
Natur steht, kann kein Leser bezweifeln, der sein Gedicht das
ende der eulen4 gelesen hat:
3 J1
Die Abwertung der Menschheit in diesem Gedicht ist rheto¬
risch und ironisch gemeint. Aber das Ausspielen der Menschen
gegen die Natur, von technischen Apparaturen gegen das
»graue Moor« weist auf eines von Enzensbergers immer wie¬
derkehrenden und wirklich ernst gemeinten Anliegen hin.
Zu einer extremen Konfrontation der beiden Bereiche kommt
es in einem späteren Gedicht, lachesis lapponica; und dort
stellt das »Grau« einer skandinavischen Landschaft sogar die
menschlichen und moralischen Engagements in Frage, welche
Enzensberger in die anti-poetische Richtung getrieben haben.
Enzensberger ist auch nicht der einzige Dichter seiner Zeit,
der die Kategorie der Natur als eine Alternative zur Zivili¬
sation erfährt. Während die Romantiker eher nach einer
Harmonie zwischen Menschheit und Natur suchten, waren
die nach-Nietzscheschen Dichter der Versuchung ausgesetzt,
alle Zivilisation als eine verpfuschte Angelegenheit abzutun,
der Geschichte den Rücken zuzukehren und alles menschliche
Treiben sub specie naturae zu sehen. Enzensberger ist dieser
Versuchung nicht erlegen, aber er hat sie offensichtlich emp¬
funden. Das Beispiel von Vorläufern wie Gottfried Benn,
der seine naturwissenschaftliche Bildung für dichterische Äu¬
ßerungen nützte, die nicht nur einer drastischen Feindseligkeit
gegen die Wissenschaft Ausdruck gaben, sondern geradewegs
atavistisch waren in ihrer Sehnsucht nach einer Natur, die
vor der Entstehung des menschlichen Bewußtseins lag, - dieses
Beispiel diente Enzensberger und anderen zur Warnung.
Aber Wohlwollen gegenüber dem Naturwissenschaftsfort¬
schritt verlangt den brüderlichen Marsch Seit’ an Seite, und
eine glückliche Ehe zwischen den »zwei Kulturen«* ist seit
Baudelaires Zeiten nicht realisierbarer geworden, sondern es
stellen sich ihr heute noch mehr Schwierigkeiten in den Weg.
Viele Lyriker haben ihr Bestes getan, um wissenschaftlicher
zu werden; aber viele Techniker und Technokraten erfüllen
heute Aufgaben, die mit den humanen Zielen der Wissen¬
schaft ebenso unvereinbar sind wie mit den humanen Zielen
der Dichtung. Es erübrigt sich zu erwähnen, daß es auch eine
* [Der Ausdruck geht auf C. P. Snows The Two Cultures von i960
zurück, wo die Dissoziation der »Bildung« von den technisch¬
politischen Realitäten der Neuzeit beklagt wird.]
wissenschafts- und positivismusfeindliche Tendenz bei vielen
Dichtern gegeben hat.
353
tung< der Lyrik ist ein Bedeuten anderer Art; es liegt in der
wechselseitigen Beziehung von Zeilen und Lautmustern, die
vielleicht harmonisch, vielleicht kontrastreich und dissonant
sind, und die das Ohr des Lesers eher erfühlt als versteht;
Klangfiguren, in die Luft gezeichnet, die tiefere Gefühle auf¬
rühren — Gefühle, die nicht einmal einen Namen haben in
der Prosa. Das braucht einem Publikum, das seine Lyrik mit
dem Gehör wahrnimmt, nicht weiter erklärt zu werden.«
Wenn wir einmal die Frage, ob Lyrik gelesen oder gehört
werden soll, beiseite lassen — und die heute sich vollziehende
Wiederbelebung gesprochener Lyrik hat, pauschal gesprochen,
nicht die Art von Dichtung bevorzugt, die Bunting meint,
sondern vielmehr eine andere Art lyrischer Äußerung, die
sofort erfaßbare und offensichtliche »Bedeutung« vermittelt
und sich recht wenig um »Schönheit« kümmert -, ungeachtet
der Frage also, ob man Lyrik lesen oder hören soll, bezeich¬
net Buntings Feststellung die Position eines Lyrikers, der
nicht bereit ist, mit dem Zeitgeist zusammenzuarbeiten, eine
Position, die an den Modernismus von 1912 erinnert. Schon
allein seine Verwendung des »unzeitgemäßen« Wortes
»Schönheit« erinnert uns daran, daß die Wahrheiten der mo¬
dernen Dichtung nicht notwendigerweise die Wahrheiten
der Zeitungen sein müssen, und ihre Anliegen nicht die An¬
liegen der Politiker. Buntings hochentwickelter Sinn für die
Atmosphäre von Orten und das Wesen bestimmter Lebens¬
weisen, die in bestimmten Örtlichkeiten ihre Wurzeln haben,
ist ein weiteres Charakteristikum, das sein Werk deutlich
von allem absondert, was man als einen neuen »internatio¬
nalen Stil« in der Lyrik bezeichnen könnte.
Von all den Werten, welche die Phantasie der Dichter des
zwanzigsten Jahrhunderts bewahrt hat - sei es mit der nüch¬
ternen Sachlichkeit Enzensbergers, sei’s mit der komplizierten
Indirektheit früherer Modernisten - ist keiner so beständig
und einmütig aufrecht erhalten worden wie die scheinbar
verlorene Sache der Natur. Die jeweiligen Vorstellungen
von der Good City waren unterschiedlich, da sie ja von reli¬
giösen, ethischen und politischen Überzeugungen abhängen.
Edwin Muirs Gedicht The Good Town7 (Die gute Stadt) ver¬
sucht ein Beispiel für eine solche Vorstellung hinzustellen,
aber es tut es im Rückblick und aus dem Gegensatz zu den
354
Dingen heraus, die die »gute Stadt« zu einer schlechten ge¬
macht haben; und das gesamte Werk von Edwin Muir er¬
wuchs aus einem Zwiespalt, der demjenigen von Baudelaire
nicht unähnlich ist: einem Dualismus, der die Phänomene der
Erfahrung kontrastiert mit den Archetypen der Imagination.
Etwas von der Ambivalenz des baudelairischen Reagierens
auf seine Stadt haftet einem Gutteil der speziellen Gro߬
stadtpoesie an, die seit Baudelaires Tagen geschrieben worden
ist - sogar, wie ich schon angedeutet habe, Hart Cranes The
Bridge, trotz aller positiven und rühmenden Absichten, die
in diesem Gedicht manifest geworden sind.
Eliots The Waste Land ist bei weitem nicht die einzige Dich¬
tung ihrer Epoche, in der die moderne Großstadt inferna¬
lische Züge annimmt. Eliots Altersgenosse in Deutschland,
Georg Heym, gestorben 19x2, widmete den Dämonen der
Städte ein Gedicht (Die Dämonen der Städte); und dies ist
nur eine von vielen apokalyptischen Visionen des Infernos
der Megalopolis in seinem Werk und in dem seiner Altersge¬
nossen Georg Trakl, Ernst Stadler, Jakob van Hoddis, Al¬
fred Lichtenstein und Yvan Goll. In einem Gedicht von
Hoddis, Morgens, sind Mädchen, die morgens in die Fabrik
gehen, »zur Maschine und mürrischem Mühn« neben das
»zärtliche Licht« der Frühe und »der Bäume zärtliches Grün«,
ist das »Schrein« der Großstadtspatzen neben das »Lerchen-
singen . . . draußen auf den wilderen Feldern« gestellt. Georg
Trakls vergleichsweise oberflächliche Erfahrung von Wien
und Berlin löste Visionen des Bösen aus, die schonungsloser
sind als die Großstadtvisionen von Eliot oder Baudelaire, so
etwa in seinem kurzen Gedicht An die Verstummten:
O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend
An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren,
Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut;
Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt.
O, das versunkene Läuten der Abendglocken.
351
Man könnte dazu neigen, die Feindseligkeit all dieser Lyriker
gegen die Großstädte, die ihre Ausweitung dem Handel und
der Industrie verdankten, romantisch-symbolistischen Hal¬
tungen zuzuschreiben. Trakl hat auch ein frühes Gedicht, Die
schöne Stadt, über Salzburg geschrieben; und in diesem Ge¬
dicht ist kein moralisches oder ästhetisches Verdammungs¬
urteil über die Stadt als solche zu finden. In der Stadt dieses
Gedichts mischen sich die Glockenklänge und die Orgelmusik
ganz problemlos und organisch mit »Marschtakt« und »Wa¬
cherufen«, ebenso harmonisch wie der »Duft von Weihrauch«
und »Flieder« sich mit dem Geruch des Teers mischt. Trakls
Salzburg vor 1914 konnte, ebenso wie Edwin Muirs Prag
vor dem kommunistischen Staatsstreich von 1948, immer noch
mit der Vorstellung der Good City in Einklang gebracht
werden. Aber die Kommunisten unter den deutschen Lyri¬
kern von Trakls Generation standen den großen Städten
nicht weniger feindselig gegenüber als diejenigen Altersgenos¬
sen, die liberal oder christlich eingestellt waren; und schon
eine Generation vorher hatte der politisch »progressive«
Dichter Richard Dehmel seine Predigt ans Großstadtvolk8
geschrieben, in der er das neue Großstadtproletariat aufrief,
die Städte zu verlassen und von der freien Natur Besitz zu
ergreifen! Auch der utopische Kommunismus der Ära vor
1918, und ganz besonders seine deutschen Varianten, müssen
deutlich vom späteren Parteidogma abgehoben werden; selbst
Bert Brecht, der durch die gesamte stalinistische Zeit hindurch
Kommunist blieb und sein Möglichstes tat, seine Lyrik von
jeder Art von Restbeständen bürgerlicher Romantik zu rei¬
nigen, ließ Visionen vom Untergang der großen Städte ent¬
stehen, von dem frühen Text Vom armen B. B. mit seinem
Hinweis auf »die langen Gehäuse des Eilands Manhattan« -
356
Leben durch ihre Verletzung.« In seinem Gedicht aus der
me der zwanziger Jahre Von der zermalmenden Wucht
er Städte ist Brechts Art zu schreiben noch modernistisch,
visionär und höchst individuell; die freie Bildassoziation er¬
innert an Rimbaud:
Plötzlich
Flohen einige in die Luft
Bauend nach oben; andere vom höchsten Hausdach
Warfen ihre Hüte hoch und schrien:
So hoch das nächste!
Aber die Nachfolgenden
Nach gewohnten Daches Verkauf fliehend vor Nachtfrost
Drangen nach und sehen mit Augen des Schellfischs
Die langen Gehäuse
Die nachfolgenden.
Denn zu jener Zeit in selbiger Wändefalt
Aßen in Hast
357
Ihnen wuchs ineinander
Das Erz und der Stein.
So kurz war die Zeit
Daß zwischen Morgen und Abend
Kein Mittag war
Und schon standen aus altem, gewöhnetem Boden
Gebirge Beton.
358
eines zu nennen - Larkins Gedicht Here11 mit seiner »Rabatt-
Preis-Menge, städtisch und unkompliziert«. Es erübrigt sich
zu erwähnen, daß selbst Larkins Bereitschaft, diese Menge
und ihr technisches Zubehör zu akzeptieren, gewissen Erwar¬
tungen und Präferenzen abgerungen worden ist, die einer
traditionelleren Vorstellung des »Poetischen« entsprechen:
der baudelairesche »spieen«, der die meisten seiner neueren
Gedichte durchzieht, beweist das zur Genüge; aber Basil
Buntings Archetypen würden ebenso die Hälfte ihrer Bedeu¬
tungskraft einbüßen, wenn sie nicht ihr Gegenteil neben sich
hätten, die »Privatdetektive« und die »Anthropometrie«.
Der Mann, der gesagt hat: »Ohne Gegensätze gibt es kein
Fortschreiten«, war ein Dichter, William Blake. Ohne Gegen¬
sätze gäbe es auch keine Lyrik. Jeder moderne Dichter, den
es sich lohnt zu lesen, enthält in sich einen Anti-Poeten, ge¬
nau wie jeder moderne Anti-Dichter, den es sich zu lesen
lohnt, einen romantisch-symbolistischen Dichter in sich birgt.
Je weiter und je stärker aufgeladen das Spannungsfeld zwi¬
schen beiden ist, desto größer sind für einen Lyriker die Mög¬
lichkeiten des Gelingens und des Vorankommens in der Dich¬
tung.
359
und dadurch wird Gascoynes Stadt eine Art von promethei-
scher oder luziferischer Großartigkeit zugestanden, trotz der
»Dünste, die den Abgründen entsteigen«. Aber all das kann,
da Gascoynes Vision von Archetypen beherrscht ist, nicht
verhindern, daß seine Megalometropolis eine infernalische
Domäne bleibt.
Andererseits haben Dichter, deren poetische Weitsicht von
Natur-Archetypen beherrscht ist, es fertiggebracht, die Städte
zu akzeptieren, ja sogar zu rühmen, vielleicht deshalb, weil
dies moralische Bewerten für ihre Phantasie keine so unaus¬
weichliche Verpflichtung bedeutete. Zwei Zeitgenossen der
frühen Expressionisten, Oskar Loerke und Wilhelm Leh¬
mann, verdienen Beachtung wegen einer Lyrik, die alle zeit¬
lichen und räumlichen Unterschiede einer Nietzscheschen Kos¬
mologie der ewigen Wiederkunft unterordnen, einer Kosmo¬
logie, die in den Kreisläufen der Natur und in den Archety¬
pen des Mythos gründet. Beide Dichter konnten viele Er¬
scheinungen der modernen Zivilisation akzeptieren und assi¬
milieren, nicht etwa weil sie ihnen gegenüber ein besonderes
Engagement empfunden hätten, sondern weil in einen so wei¬
ten Bezugsrahmen beinahe jede Erscheinung eingepaßt wer¬
den konnte. Ich sage bewußt »beinahe«, denn das Phänomen
der nationalsozialistischen Herrschaft trieb Loerke in die
Verzweiflung und ließ Lehmann das Schweigen wählen. We¬
der die Natur noch die Mythologie enthielt Beispiele für diese
Art von Zivilisation, wenn Loerke auch die tierische Welt
und die »Schattenreiche« heranzog in seinem Versuch, die
selbstzerstörerische Sinnlosigkeit des von Hitler entfachten
Krieges poetisch wiederzugeben.13 Wilhelm Lehmann über¬
lebte beide Kriege, um am Ende Gedichte zu schreiben, in
denen Marlene Dietrich und Claire Bloom ohne jede Ver-
krampftheit neben Aphrodite und Artemis gestellt werden,
wo also die Einzelphänomene der beobachteten Realität -
und schon allein Lehmanns Kenntnisse in Botanik und Zoolo¬
gie geben seinen Beobachtungen eine naturwissenschaftliche
Präzision - neben ihre ewig wiederkehrenden Archetypen zu
stehen kommen. Nach einem Besuch Englands im Alter von
zweiundachtzig Jahren, seinem ersten seit fast einem halben
Jahrhundert, schrieb Lehmann ein Gedicht mit dem Titel
London (1964).14 Dieses Gedicht versucht nicht, die Stadt als
360
Ganzes zu charakterisieren oder gar ein Urteil über sie zu
fällen. Von den Anfangszeilen
Jahrhundertespät,
Novemberkühl.
361
sehen Philosophie« von Cambridge erklärt: »Denn alle Kom¬
plexitäten und Mehrdeutigkeiten und Relationen, die er ent¬
deckt, liegen auf der gleichen Realitätsebene. Aber es gibt
eine Art von Komplexität, die er überhaupt nicht in Er¬
wägung zieht: jenen Widerhall, der auch in einem Bild von
scheinbar großer Einfachheit vorhanden sein kann und der
ganz andere Schichten der Realität und des Bewußtseins in
Schwingungen versetzen kann, als diejenigen der sinnlich er¬
fahrbaren Welt: die Macht des Symbols und des Sich-Mit-
teilens durch Symbole.«16 Hier befindet sich Kathleen Raine
zu einem gewissen Teil in Übereinstimmung mit Philippe
Jaccottet, der auch von der »scheinbaren Einfachheit der
größten Lyrik« gesprochen hat; aber in der Praxis - und das
gilt für eine ganze Reihe von Gedichten in Kathleen Raines
The Hollow Hill17 -, in der Praxis können Symbole, die aus
einer esoterischen Philosophie abgeleitet sind, für Leser, die
nicht mit dieser Philosophie vertraut sind, ebenso unzugäng¬
lich sein wie die spitzfindigen »ambiguities« und »complexi-
ties« in William Empsons Gedichten; und dazu besteht noch
die Gefahr, daß die Lyrik an innerer Spannung verliert,
wenn die Einzeldaten der Wirklichkeitserfahrung entweder
zu rigoros ausgesperrt oder zu unvermittelt mit den Arche¬
typen gleichgesetzt werden.
In seiner späteren Essay-Sammlung, L’Entretien des Muses18
(Das Gespräch der Musen), hat Philippe Jaccottet Sorge da¬
für getragen, die richtige Balance herzustellen zwischen den
Extremen der »reinen« und der »unreinen« Poesie, wobei er
auch jene Art von »Reinheit« miteinschließt, die sich unver¬
mittelt der Archetypen bedient. Im Werk von Ren£ Char
z. B. entdeckt Jaccottet eine Tendenz zu einem dichterischen
»Narzißmus«, der ein Narzißmus des Stils und nicht der gei¬
stigen Haltung ist; er hält deshalb diejenigen Passagen in
Chars Lyrik für die besten, »die sich dadurch abheben, daß
sie der Umgangssprache vergleichsweise näherkommen«. Jac¬
cottet glaubt immer noch an die Dichtung als »einen ein¬
fachen Gegenstand des Wissens«: »Das Auge des Dichters
ist der Sturmbock, der die ihm entgegenstehenden Mauern
einrennt und der uns, sei es auch nur für einen Augenblick,
das Wirkliche zurückgibt und, zusammen mit der Realität,
eine Möglichkeit von Leben.« Aber diese Realität braucht
362
nicht esoterisch zu sein, und das vor allem nicht in einer Zeit,
in der die allergewöhnlichsten Erscheinungen der »sinnlich er¬
faßbaren Welt« ihre Realität verlieren. »Das Auge der mo¬
dernen Dichter ist eines der scharfsichtigsten und aufmerk¬
samsten, die es gibt (ob es nun auf nahe oder entfernt liegende
Gegenstände fällt, auf das Innen oder auf den äußeren Raum,
Pole, die er ohnehin gerne austauscht oder verkehrt).« Vor
allem vergißt Jaccottet niemals diese entscheidende Polari¬
tät des poetischen Wahrnehmungsmodus. Er definiert »die
Art von Realismus, die für moderne Lyrik Gültigkeit hat«,
als einen Realismus, der nicht »bloß ein bis ins Detail präzises
Inventar des Sichtbaren ist, sondern eine so profunde Beob¬
achtung des Sichtbaren, daß er unweigerlich am Ende an die
Grenzen der sichtbaren Welt stoßen muß«. Mit anderen
Worten, poetischer Realismus ist nicht unvereinbar mit dem
»Sich-Mitteilen durch Symbole«, da in der Lyrik selbst das
konkreteste Bild eine Tendenz hat, symbolische Bedeutungs¬
gehalte anzunehmen, die weder bewußt, noch systematisch
oder beabsichtigt sein müssen. Auch Kathleen Raine hat eine
Kenntnis von den Details der Natur, die eines Wissenschaft¬
lers würdig wäre; und gerade diese Konzentration auf De¬
tails ist das, was für die Naturlyrik des zwanzigsten Jahr¬
hunderts charakteristisch ist, wobei es belanglos ist, ob diese
Details um ihrer selbst willen dargestellt werden oder ob sie
in einen kosmologischen, metaphysischen oder symbolischen
Zusammenhang gestellt werden.
Wenn »Naturlyrik« heute zu einer entbehrlichen Kategorie
der Dichtung geworden ist, dann hat das seinen Grund nicht
darin, daß die Empfänglichkeit und Weitsicht der Dichter
vorwiegend urban geworden ist. In den Werken von Ted
Hughes etwa ist das Miterleben der geschichtlichen Gegen¬
wart unablösbar verbunden mit einem ganz neuartigen In¬
teresse an der Wildheit von Raubtieren. Ted Hughes hatte
es nicht nötig, kunstvoll erdachte Analogien aufzustellen zwi¬
schen seinem Habicht, dessen »Lebensart im Kopf-Abreißen
besteht« und den menschlichen Triebneigungen, die ihm die
besondere Ausdruckskraft gegeben haben, mit der er sich mit
Habichten, Hechten, Drosseln, Fischottern oder Seerosen zu
identifizieren versteht; das einzige Wort »Lebensart« (man-
363
ners) in dem oben gebrachten Zitat reicht aus, um die Verbin¬
dung herzustellen. Selbst Ted Hughes’ Schneeglöckchen ist
»brutal« in der Verfolgung »seiner Ziele«. Seit den Tier- und
Pflanzengedichten von A Hawk in the Rain (Ein Habicht
im Regen) und Lupercal hat Ted Hughes jedenfalls die glei¬
che Sicht der Dinge auf menschliche Verhältnisse ausgeweitet,
und ganz besonders auf den Krieg, wie in der Gedichtfolge
Scapegoats and Rabies19 (Sündenböcke und Tollwut) oder in
der Folge, die Out20 betitelt ist. Eine Kosmologie und Onto¬
logie der Grausamkeit ist auch in Gedichten wie Pibroch
(Dudelsackstück) und Gnat-Psalm (Mücken-Psalm) zutage
getreten. Wenn dies »Natur-Gedichte« sind, dann sind sie
ebenso auch Zivilisations-Gedichte der Ära nach Auschwitz,
nach Hiroshima - Beispiele für die »Extremistenkunst«, die
A. Alvarez in den Werken von Robert Lowell, John Berry-
man, Sylvia Plath und Anne Sexton entdeckt hat.21 Auch der
Vorwurf des Anthropomorphismus ist im Falle der Tierge-
dichte von Ted Hughes unanwendbar geworden, und ebenso
im Falle der Flower Poems22 (Blumengedichte) von Jon Sil¬
kin; denn man könnte genausogut den Spieß umdrehen und
Hughes’ Gedichten über Menschen vorwerfen, daß sie
»zoomorph« seien; und Vergleiche - ausgesprochene oder
implizierte - zwischen menschlichem und nicht-menschlichem
Verhalten sind im Lauf der Zeit ohnehin mehr und mehr
zugunsten der nicht-menschlichen Spezies ausgefallen. In Ted
Hughes’ View of a Pig23 (Anblick eines Schweins) kommt
kein einziger Hinweis auf die Welt der Politik vor; aber das
Verhalten des Schweins - das ja in jedem Fall durch das be¬
dingt ist, was die Menschen aus dem ursprünglichen Tier ge¬
macht haben, indem sie es züchteten und domestizierten —,
das Verhalten des Schweins wird in Beziehung gesetzt zum
Verhalten des Menschen dem Schwein gegenüber:
364
(. .. Schweine müssen heißes Blut haben, sie fühlen sich an wie
Backöfen.
Ihr Biß ist schlimmer als wenn einen ein Pferd beißt -
Sie schneiden einen ganzen Halbmond glatt heraus:
Sie fressen verkohltes Holz, Katzenkadaver.
365
jede erfolgreiche Beschreibung in der Lyrik ein gewisses Maß
von Selbst-Identifikation mit dem beschriebenen Gegenstand
voraussetzt, erzählen uns alle Pflanzen- und Treibhausge¬
dichte Roethkes auch etwas über die Natur des Menschen. In
einem gewissen Sinn sind sie ein Bestandteil von Roethkes
Selbstbiographie, ein Erforschen jener unterbewußten Schich¬
ten der Persönlichkeit, die immer innig mit der Welt des Tie¬
rischen, Pflanzlichen und selbst Mineralischen in Verbindung
gestanden haben und stehen werden. Stephen Spender schrieb
einmal: »Das unbewußte Denken, aus dem die Lyrik ent¬
springt — oder, um es altmodischer zu sagen, die Imagination
- glaubt an alles, wodurch es belebt wird.«25 Man kann das
auch umdrehen: das unbewußte Denken oder die Imagina¬
tion belebt das, womit es sich verwandt fühlt; und wenn¬
gleich Maschinerien und Apparate unser bewußtes Denken
mit Beschlag belegen mögen, weil wir sie benützen oder mit
ihnen herumbasteln oder von ihnen gebraucht und beherrscht
werden, beweist doch die moderne Lyrik schlüssig, daß unsere
tiefe Verwandtschaft mit der organischen Natur nur ver¬
drängt, aber niemals ausgerottet werden kann. Je mehr sie
unterdrückt wird, umso größer wird ihre Bedrohung für die
Zivilisation, die sie unterdrückt.
»Die Tradition des Modernismus ist, wenn sie auch zwischen
ungefähr 1935 und 1955 vernachlässigt worden ist, heute
wieder sehr lebendig geworden«, schrieb Louis Simpson
1964.26 Einer der beachtenswertesten amerikanischen Mitwir¬
kenden an dieser Wiederbelebung, Gary Snyder, hat erklärt,
wie wenig diese Wiederbelebung dem Zustand der industriel¬
len Zivilisation seines Landes zu verdanken hat. »Meine
eigene Meinung ist«, so schrieb er in seinem Essay Passage to
More than India27*, »daß wir zur Zeit eine Oberflächenaus¬
wirkung (in einer spezifisch »amerikanischen« Verkörperung)
der großen Subkultur miterleben, die vielleicht so weit zu¬
rückgeht wie in das späte Paleolithikum.« Diese Oberflächen¬
auswirkung hängt mit der Wiederentdeckung der Tatsache
zusammen, daß »die Mutter der Menschheit die Natur ist
und daß der Natur mit zärtlicher Verehrung gegenübergetre-
366
ten werden sollte; daß Leben und Schicksal des Menschen
Wachstum und Daseinserhellung in durch Selbstzucht gezü¬
gelter Freiheit bedeuten; daß das Göttliche Fleisch gewor¬
den ist und daß dieses Fleisch göttlich ist; daß wir einander
nicht nur lieben sollen, sondern tatsächlich liehen«. Eine Ma¬
nifestation dieser Oberflächenauswirkung ist die Anerken¬
nung der indianischen Vergangenheit Amerikas: »Der ameri¬
kanische Indianer ist der rächende Geist, der im Rücken des
beunruhigten Denkens Amerikas lauert . . . Dieser Geist wird
die nächste Generation als sein Eigentum fordern. Wenn sich
das vollzogen hat, werden Bürger der Vereinigten Staaten
endlich beginnen, Amerikaner zu sein, wahrhaft beheimatet
auf ihrem Kontinent, von Liebe zu ihrem Land beseelt.«
Gary Snyders Voraussage ist auf die Ansicht gegründet, daß
»die Industriegesellschaft in der Tat am Ende zu sein scheint«.
Selbst wenn diese Ansicht von Wunschdenken gefärbt ist -
und Snyder untermauert sie mit den unterschiedlichsten Be¬
weismitteln -, so ist doch dieser Wunsch etwas, was von den
Politikern ernst genommen werden sollte, und ebenso von
den Soziologen und Städteplanern. In der neuen amerikani¬
schen Lyrik, und nicht zuletzt in den Dichtungen von Gary
Snyder, hat er entscheidende und fruchtbare Bedeutung ge¬
wonnen; dort freilich, wo er sich sprachlich nicht artikulieren
kann oder unbewußt bleibt, ist sein einziges Ventil zerstöre¬
rische Gewaltanwendung.
Ein gemeinsamer und einigender Zug vieler neuer amerika¬
nischer Lyrik ist ihr Dynamismus - »Kunst als Vorgang«
(art as process)28, wie Charles Olson es genannt hat. Diese
Ästhetik ist nicht nur in dem Sinne naturalistisch, daß sie die
Natur nachahmt, sondern auch darin, daß sie möchte, daß
Kunst wirklich Natur sei. Ein großer Teil dieser Lyrik ist in
hohem Maße individuell, mit einer Betonung des Individuel¬
len, die bis zur Idiosynkrasie geht; aber sie ist nicht indivi¬
dualistisch, den das Ich des Dichters wird als ein Teil der Na¬
tur aufgefaßt. Olson hat ja auch geschrieben, man müsse
»loskommen von der lyrischen Einmischung des individuellen
Ego«. Die erste Person Singular wird ungehemmt verwen¬
det als ein unentbehrliches Medium in dem Prozeß der Erfas¬
sung objektiver Wirklichkeitsdaten. Oder wie Robert Creeley
es ausdrückt, »das Ganze wird zu der Frage, was ist real -
367
und was gehört zu den Dingen, die von dieser Art sind. Der
ernsteste Einwand, den wir gegen den >Wert< einer Sache
oder einer Handlung erheben können, ist der, daß sie nicht
real ist, daß sie keinen ihr zustehenden Ort hat in dem, was
unsere Welt, sei es aufgrund eigener Entscheidung, sei es ge¬
zwungenermaßen, als existent zuläßt. So ist also die Beschaf¬
fenheit des Seins der Realität das, worauf wir unser Haupt¬
interesse richten«. Olson definiert dieses reale Sein als etwas
»Ununterbrochenes« - wie die Realität der Natur -, und es
ist die Aufgabe des Dichters, »die Gegenstände, welche in je¬
dem einzelnen Augenblick des Dichtungsvorgangs auftauchen
(in jedem einzelnen Augenblick des Erkennens, könnten wir
sagen) genau so zu behandeln, . . . wie sie darin auftauchen,
und nicht nach Maßgabe irgendwelcher Ideen oder vorgefa߬
ten Meinungen, die von außerhalb des Gedichtes kommen ...«
Robert Duancan hat dieselbe Feststellung gemacht, sowohl
in seiner von Creeley angeführten Analyse konventioneller
Formgestaltung, »die bedeutsam ist, insofern sie künstlerische
Kontrolle erkennen läßt« - er findet diese Art von Form
inadäquat - als auch in der folgenden Erklärung seines eige¬
nen Vorgehens:
»Der Zentralgedanke und zugleich die eigentliche Definition
der Poetik, die ich hier vor Augen führen möchte, ist die
Überzeugung, daß die Ordnung, die der Mensch herzustel¬
len oder den Dingen um ihn herum aufzuerlegen oder seiner
eigenen Sprache aufzuzwingen imstande ist, trivial ist im
Vergleich zu der göttlichen oder natürlichen Ordnung, die er
darin entdecken kann.«29 Es ist kaum nötig, die Verbindung
zu betonen zwischen diesem Prinzip des Entdeckens, Nicht-
Auferlegens, von Ordnung und Gary Snyders Ansicht, daß
»die Industriegesellschaft in der Tat am Ende zu sein scheint«.
Die Grundannahmen, die hinter dieser neuen Ästhetik ste¬
hen, sind nicht wissenschaftsfeindlich - unter Duncans Kron¬
zeugen finden sich die Naturwissenschaftler Whitehead und
Schrödinger -, aber sie sind technologie-feindlich. »Es ist eine
sich wandelende Ästhetik«, sagt Duncan, »aber es ist auch
ein sich veränderndes Lebensgefühl. Vielleicht erkennen wir,
wie das nie zuvor in der Menschheitsgeschichte erkannt wor¬
den ist, daß nicht nur unser eigenes persönliches Bewußtsein,
sondern auch die innere Struktur des Universums selber nur
368
dieses unmittelbar direkte Sich-Ereignen hat, um Wirklich¬
keit zu werden. Die Atomphysik hat uns an die Schwelle sol¬
cher - ich weiß nicht, ob ich sagen soll, Sicherheit oder Zwei¬
fel - gebracht . . . Das andere Gefühl, das der neuen Formge¬
staltung zugrunde liegt, ist eines, auf das die Menschen im¬
mer wieder in den intensivsten und tiefsten Momenten ihrer
Weltschau gekommen sind: das Gefühl, daß das Reich Gottes
hier und jetzt ist, daß wir nur das Jetzt haben, um darin zu
leben.«30
Robert Creeley unterstreicht auch die Wichtigkeit, die Orte
und Dinge in einer Art von dichterischer Äußerung haben,
deren Wesen darin besteht, »sich auf dem Feld ihres eigenen
Erkennens zu bewegen, dem >offenen Feld< von Olsons Pro-
jective Verse« (Projektions-Lyrik). Dieser Ort, so sagt er,
»ist jetzt nicht mehr und nichts anderes als Tätigkeit«; und
Gary Snyders Werk ist das beachtenswerteste Beispiel dafür,
wie sowohl Orte als auch Dinge wesentliche Bestandteile von
Tätigkeiten werden können, die ihrerseits durch Worte reak-
tualisiert werden in Gedichten, die genau den Rhythmus der
physischen Arbeit wiedergeben. Diesen Aspekt der neuen Ly¬
rik arbeitet auch Edward Dorn in seinem Essay über Olsons
Maximus Poems heraus, besonders dort, wo er sich gegen die
Beschreibung um der Beschreibung willen wendet, gegen das
Vorgehen, das Creeley »jenes Verfahren« nennt, »das >das
Reale begleiten möchte<, das aber von sich annimmt, es stehe
: irgendwie >objektiv< außerhalb des Realitätszusammen¬
hangs«. Creeley zitiert auch Louis Zukovsky: »Das will nicht
heißen, daß der Stil der Mensch sein wird, sondern vielmehr,
daß die Ordnung seiner Silben sein Bewußtsein der Ord¬
nung definieren wird. Denn sein . . . Hauptziel ist nicht, sich
selber vorzuzeigen, sondern jene Ordnung, die aus sich selbst
heraus zu allen Menschen sprechen kann.«
Da diese neue Ästhetik eine Lyrik fordert, »bei der die ge¬
samte Physiologie eines Menschen in dem Gedicht in Tätig¬
keit tritt«31, kommen stilistische Unterschiede wieder zum
Tragen, trotz der bestehenden Einmütigkeit all dieser Dich¬
ter in bezug auf die Grundprinzipien. Robert Creeleys Ge¬
dichte zum Beispiel sind nicht nur straff und nüchtern im
Vergleich zu den Gedichten von Olson oder jüngeren Arbei¬
ten von Edward Dorn32, sondern die Vorgänge, die sie zum
369
Ausdruck bringen, sind im wesentlichen innere Vorgänge. Da¬
her spielen Dinge und Örtlichkeiten in ihnen eine geringe
Rolle, und daher zeigt Creeley gewisse Affinitäten zu euro¬
päischen Lyrikern der neuen Enthaltsamkeit in seinem fast
völligen Vermeiden der Metaphorik. Wenn Creeley Olson
mit Pound vergleicht und dabei über ihn sagt: »Er wollte die
Organisation des Gedichts zu etwas werden sehen, was mehr
ist als ein Ich-System«, dann wirft er entscheidende Fragen
nicht über die Absichten, aber über das praktische Vorgehen
von einigen dieser Dichter auf, vor allem dort, wo sie län¬
gere Dichtungen schreiben. Duncan hat Olson für seinen »ge¬
lassenen und exakten Gesprächston« ein Lob erteilt33; aber
eine der Beschränkungen der neuen Ästhetik besteht doch dar¬
in, daß sie das Prinzip der Auswahl abschafft; und das kann
zur Geschwätzigkeit führen, jener unausrottbaren Sünde der
sich von Walt Whitman herleitenden Linie der amerikani¬
schen Lyrik. Olson hat sicher recht, wenn er immer wieder
betont, »die Kunst sucht nicht zu beschreiben, sondern etwas
stattfinden zu lassen«.34 Aber das alles andere ausschließende
Festhalten an Energie und Prozeß kalkuliert die unvermeid¬
lichen Unterschiede zwischen Kunst und Natur oder die Qua¬
lität dessen, was ein Gedicht »stattfinden läßt«, nicht mit ein.
Robert Bly glaubt, daß diese neue Ästhetik sich zu einer
Orthodoxie verhärtet habe, die so starr ist wie der Akade¬
mismus, den sie doch ursprünglich beseitigen wollte, und er
macht dafür »die amerikanische Liebe für das Technische«35
verantwortlich. Bly hat selber eine Lyrik des »tiefen Bildes«
(deep image) sowohl propagiert als auch praktiziert, und da¬
bei waren seine Vorbilder eher in der europäischen als in der
amerikanischen Lyrik zu suchen. Über die neuen amerikani¬
schen Dichter schreibt er, daß sie jetzt »ungefähr halb-frei«
seien - nur halbfrei, weil »ihre Lyrik dazu tendiert, sich auf
ganz bestimmte, genau festgelegte Ausschnitte der Psyche zu
beschränken. Der Grund ist darin zu sehen, daß diese vierte
Generation, anstatt sich auf die Quellen des vers libre in Eu¬
ropa zurückzubesinnen, sich im wesentlichen an Eliot, Pound
und Williams orientiert hat . . . Wir haben in der amerikani¬
schen Lyrik noch nicht jene schnelle Beweglichkeit quer durch
die ganze Psyche wiedergewonnen, jenes rasche Umschalten
vom Bewußten zum Unbewußten, von einem schönen Tisch
37°
zu wahnsinnigem inneren Verlangen, das die alten Dichter
hatten oder das Lorca und andere in Spanien für die Ly¬
rik zurückgewonnen haben. Warum haben wir das nicht? Je¬
desmal, wenn wir einen Ansatz dazu machen, lassen wir uns
ablenken in die Technik«.
Trotz der Übereinstimmung in bezug auf die Theorie, die
zwischen Dichtern der Black Mountain-Gruppe und der Beat-
Gruppe herrscht, ist die dichterische Praxis einiger dieser
Dichter verwandter derjenigen von Robert Bly, James
Wright, Louis Simpson, W. S. Merwin und Donald Hall, die
zu keiner der beiden Gruppen gehören. Denise Levertov und
Cid Corman schreiben ebenso wie Robert Creeley meist kurze
Gedichte, oft mit einer psychischen Freiheit, die dem »tiefen
Bild« sehr zuträglich ist. Andererseits haben diese Dichter
aber auch politische Gedichte geschrieben, in denen dieses freie
Verfügen über die Psyche eingeschränkt ist durch die Not¬
wendigkeit, einen wesentlichen Punkt einzuhämmern, wenn
auch zugegeben werden muß, daß ihre besten politischen Ge¬
dichte immer noch soviel von jener psychischen Freiheit be¬
wahren, als das Genre erlaubt.36 Es fehlt ihnen auch nicht ein
Sinn für das Gedicht als Prozeß, und ebensowenig fehlt dieser
Sinn bei anderen Lyrikern, die nicht zu den »Projectivists«
gehören. Robert Blys Driving through Minnesota during the
Hanoi Bombings (Auf einer Autofahrt durch Minnesota wäh¬
rend der Bombenabwürfe auf Hanoi) ist ein Versuch, zwei
Erlebnisse gleichzeitig dichterisch zu realisieren, wovon eines
den Dichter physisch und unmittelbar einbezieht, das andere
dagegen sein Mitgefühl und seine Phantasie engagiert; auch
in diesem Gedicht ist die erste Person Singular nur als Me¬
dium eingesetzt, nicht als Subjektivität.
Die Rückkehr zur Natur in der amerikanischen Lyrik - und
damit meine ich nicht nur die ländliche Szenerie eines erheb¬
lichen Teils der neuen Dichtung, sondern auch das, was ich
ihre naturalistische Ästhetik genannt habe - hängt eng mit
dem Bedürfnis zusammen, »Ich-Systeme« loszuwerden. Die¬
ses Bedürfnis, das Brecht schon vorweggenommen hatte, ist
die gleiche Kraft, die schon die neue Enthaltsamkeit bei den
europäischen Lyrikern bewirkt hatte; aber in den Ländern, in
denen der Druck von Parteiapparaten am stärksten war, un¬
ter stalinistischen und faschistischen Regimen, haben die Ly-
371
riker ein entgegengesetztes Bedürfnis empfunden, nämlich das
Bedürfnis, dem Prinzip der Persönlichkeit wieder zur Gel¬
tung zu verhelfen. In A Precocious Autobiography (Vorzei¬
tige Autobiographie)37 schrieb Jewgeni Jewtuschenko über
»die Ersetzung des >Ich< durch das >Wir<, durch die proleta¬
rische Kultur-Bewegung - das >Wir<, das aus der Druckseite
heraustrommelt und donnert und dabei mit seiner Lautstärke
die zarte und unnachahmliche Musik der menschlichen Indi¬
vidualität ertränkt. Noch lange nach der Auflösung der Be¬
wegung trugen viele Gedichte, die in der ersten, singulari-
schen, einmaligen Person geschrieben waren, den Stempel
jenes gigantischen >Kulissen-Wir<. Das >Ich< des Dichters war
rein nominell«. Die grammatische Person, in der eine Dich¬
tung geschrieben ist, macht kaum einen Unterschied. Das, was
daran in der Lyrik wesentlich ist, ist der Gebrauch, der davon
gemacht wird; worauf es Jewtuschenko ankommt, ist die Be¬
hauptung, die Dichtung fordere nichts Geringeres als die
Wahrheit. Das kollektive »Partei-Wir« war dazu ungeeignet,
denn »Sowjetdichter schrieben nichts über ihre eigenen Ideen,
ihre eigenen Konflikte und Kompliziertheiten und deshalb
zwangsläufig auch nichts über die Schwierigkeiten und Kon¬
flikte anderer. . . . Wenn Majakowski >wir< sagt, dann ist er
immer noch Majakowski. Pasternaks >Ich< ist das >Ich< von
Pasternak«. Mit anderen Worten, jede Reduktion des moi
haissable muß von einer echten Erkentnis seiner eigenen Be¬
grenztheit ausgehen, nicht von einer von außen kommenden
Auferlegung eines simplifizierten und verfälschten »Wir«.
Nicht nur die Sozialordnung, sondern auch »die göttliche
oder Naturordnung«, von der Robert Duncan gesprochen
hat, läßt die Dichter auf die Grenzen ihres eigenen Bewußt¬
seins stoßen.
372
kommen sucht wie nur irgend möglich; aber jeder Wandel
in der Sprachhaltung bedeutet zugleich einen Wandel in
Grundannahmen und -haltungen, einen Wandel in der Gestik
der Lyrik. Spezieller ausgedriickt: die Wahl einer absicht¬
lich »unpoetischen« Sprache, des »low mimetic«, bedeutet
ein Aufopfern des individuellen Sonderstatus; und es ist kein
Zufall, daß diese Aufopferung als Charakteristikum bei Dich¬
tern wie Rözewicz oder Enzensberger auftritt, deren Stil sich
aus der Reaktion auf eine politische oder soziale Krise heraus
geformt hat. Die amerikanische Betonung der Aktion und
damit des »Feldes«, das durch ein Gedicht erforscht wird, das
Gewicht, das die Amerikaner auf Atembögen und Satzstruk¬
turen legen - diese Dinge gehen oft Hand in Hand mit einer
ähnlich absichtsvollen Verwendung der Gebrauchssprache des
ungebildeten Volkes. Beide Vorgehen sind naturalistisch in
ihrem Umgang mit der Wirklichkeit, obwohl die Realität,
um die es sich handelt, entweder primär äußerlich oder pri¬
mär innerlich sein kann. Wo »Ich-Systeme« abgeschafft wor¬
den sind, ist diese Unterscheidung nicht mehr von wesent¬
licher Bedeutung. Was aber weiterhin wesentlich ist, ist die
Spannung zwischen Partikulärem und Generellem, zwischen
dem phänotypischen und dem archetypischen Bild. Diese
Spannung wird sich von Dichter zu Dichter ändern, sie wird
von Fall zu Fall anders gelagert sein; und keine Theorie
oder Gruppen-Technik kann sie reglementieren.
Eine beachtliche Variante in dieser Hinsicht findet sich in den
nach dem Krieg entstandenen Werken des deutschen Dichters
Günter Eich, von dem bekannten Inventar-Gedicht, in dem
er eine Liste seiner Besitztümer als Kriegsgefangener auf¬
zählt, in dem Band Abgelegene Gehöfte (1948), bis hin zu
den »Naturgedichten« in Botschaften des Regens (195s) -
Gedichten, in denen Erscheinungen der Natur tatsächlich ver¬
schlüsselte Botschaften von menschlicher und moralischer Be¬
deutung übermitteln - und zu den kryptischen und lakoni¬
schen kurzen Gedichten in Zu den Akten (1964) und Anlässe
und Steingärten (1966). Diese Entwicklung läuft dem domi¬
nierenden Trend insofern zuwider, als das frühe Gedicht jun¬
gen Verfechtern des sachlichen Stils als Vorbild diente, wäh¬
rend die späteren Gedichte zugleich sehr persönlich-idiosyn-
kratisch und frei in ihren Bildassoziationen sind. Das lyri-
373
sehe Oeuvre von Günter Grass hat sich in der entgegengesetz¬
ten Richtung entwickelt, von einer fast neo-dadaistischen Ver-
spieltheit der Metaphysik und Bildersprache hin zu einer
Manier, die den Anschein der Direktheit, des Realismus und
der nüchternen Sachlichkeit hat.38 Solche Varianten entste¬
hen ganz besonders leicht dort, wo privates und politisches
Interesse nicht leicht in Einklang zu bringen sind, wie in der
Bundesrepublik mit ihrer besonderen Bürde politischer Ver¬
antwortung, die fast jeder Dichter, der sich seit 1945 verneh¬
men ließ, auf sich genommen hat. Die besondere Spannung
zwischen »Gewissen und Schöpfertum«, wie Christopher
Middleton die beiden Pole einmal genannt hat, diese Span¬
nung, die das Erbe der geschichtlichen Entwicklung in
Deutschland ist, läßt sich im Werk Ingeborg Bachmanns auf¬
zeigen, einer österreichischen Lyrikerin, deren Sensibilität und
Phantasie nicht von Natur aus auf politische oder soziale
Themen angelegt waren. Erich Fried, ein in Österreich ge¬
borener, aber schon seit vor Kriegsbeginn in England leben¬
der Dichter, ist zu dem intensivsten und - der Zahl seiner
Gedichte nach - fruchtbarsten politischen Lyriker deutscher
Sprache geworden; aber ein Gutteil von Frieds früherem
Werk, besonders die längeren Zyklen, die er in seinem Reich
der Steine39 zusammen veröffentlichte, war ein sprachliches
und semantisches Experimentieren, näher verwandt den
Wortspielereien von James Joyce oder Dylan Thomas als der
nüchternen Strenge einer lehrhaften und mahnenden Lyrik.
Gewissen und Schöpfertum sind in bewundernswerter Weise
in Einklang gebracht im Werk des DDR-Lyrikers Johannes
Bobrowski, dessen Dichtung alle Kategorien, Antinomien und
Entwicklungstendenzen durcheinanderbringt. Bobrowskis
Kriegsgedichte sind ebensosehr »Naturgedichte«. Seine Ge¬
dichte über bestimmte Orte sind dbensosehr Gedichte über
Menschen, seine Gedichte über Menschen sind ebensosehr Ge¬
dichte über Geschichte und Natur. Nur ein sehr geringer Teil
seiner Lyrik ist unverblümt lehrhaft, und doch wurde, wie
er selbst sagte, all seine Lyrik als ein Akt der Sühne geschrie¬
ben. Er war ein Christ und ein Sozialist, ein Traditionalist
und ein Neuerer. Seine Sprache war so einfach und unge-
schmückt wie die Sprache der extremen Anti-Poeten - und
zwar auf Grund eines Unpersönlichkeitsstrebens und einer
374
Abneigung gegen das Sich-zur-Schau-Stellen, die er mit ihnen
teilte aber seine einfachen Worte sind in einer Weise ange¬
ordnet, die seinem Werk eine Tiefendimension gibt, wie sie
sonst für die reinste poesie pure charakteristisch ist. Seine ost¬
europäischen Landschaften werden eher beschworen als be¬
schrieben, und er steht damit im Einklang mit einer Tradition
in der deutschen Lyrik, die von Klopstock und Hölderlin bis
zu Trakl reicht; aber dennoch ist die Wirkung von einer ge¬
radezu greifbaren Präzision. Vor allem aber wurde Bobrows-
kis bewußtes Miterleben seiner eigenen Zeit, einschließlich
des Krieges (an dem er mit innerem Widerstreben teilgenom¬
men hattte) durch eine historische Phantasie bereichert, die in
fast jeder Ära und an fast jedem Ort zuhause war. Sein Ge¬
dicht Absage geht ungezwungen von den alten Pruzzen, ei¬
nem slawischen Volksstamm, der von den mittelalterlichen
Deutschordensrittern ausgerottet wurde, zu der folgenden
entpersönlichten, das private Ich ganz in den Hintergrund
drängenden Charakterisierung von Bobrowskis Daseinsauf¬
gabe als Mensch und Dichter über:
Dort
war ich. In alter Zeit.
Neues hat nie begonnen. Ich bin ein Mann,
mit seinem Weibe ein Leib,
der seine Kinder aufzieht
für eine Zeit ohne Angst.
375
mistisch - nicht zwangsläufig die Form des persönlichen Be¬
kenntnisses annehmen muß, so wie in Robert Lowells Life
Studies (Lebensstudien), Sylvia Plaths Ariel oder John Ber-
rymans Dream Songs (Traumlieder), wird auch aus dem lyri¬
schen Werk Paul Celans ersichtlich. Sein frühes Gedicht To¬
desfuge, der vielleicht einzige schlüssige Beweis dafür, daß
Gedichte nach Auschwitz nicht nur geschrieben, sondern sogar
über die eisigen Schrecken, die dort verübt wurden, geschrie¬
ben werden konnten, - Celans frühe Todesfuge also enthält
das Wort »ich« nicht, obwohl Celan sie aus eigener Erfahrung
und nur kurze Zeit nach jenen schrecklichen Ereignissen
schrieb. Die komplizierte musikalische Struktur ebenso wie
die archetypische, teilweise surrealistische Bildersprache dient
dazu, das Gedicht von der historisdien Begebenheit zu distan¬
zieren. Aus dem gleichen Grund ist das Gedicht eher instru¬
mentiert als für den Sprechvortrag geschaffen. Ein derartiges
Thema kann man nur mit einer Zurückhaltung in Angriff
nehmen, die das Unaussprechliche unausgesprochen läßt.*
Celans Extremismus in seinem späten Werk ist entscheidend
von der Frage bestimmt, was man in der Lyrik noch sagen
oder nicht mehr sagen kann. Wenn er Anti-Gedichte geschrie¬
ben hat, dann sind seine Anti-Gedichte so weit wie nur denk¬
bar entfernt von dem Modus des »low mimetic«. Die ge¬
wöhnliche Sprache kann er nicht brauchen. Seine lyrische Dik¬
tion oszilliert zwischen Archaismen und Wortneubildungen.
Seine Bilder sind ebenso eindeutig auf das Art-Typische ge¬
richtet wie die Bilder Bobrowskis - »Stein« etwa ist ein im¬
mer wiederkehrendes Bild -, aber dennoch sind ihre mit¬
schwingenden Zusatzbedeutungen in einer kryptischen Weise
idiosynkratisch. Immer wieder stoßen seine späteren Gedichte
- »Sprachgitter«, wie sie der Titel einer seiner Gedichtsamm¬
lungen40 nennt - an die Grenze des nicht mehr Sagbaren.
Pausen und Schweigen sind ein Teil dessen, was sie wieder¬
geben und sich vollziehen lassen. Und trotzdem sind Celans
Gedichte, auf ihre eigene unnachahmliche und schwierige
Weise, Versuche, sich mitzuteilen, »Wege einer Stimme zu
einem wahrnehmenden Du«, wie er einmal gesagt hat41, ein
* Auch im Werk von Nelly Sachs ist die Behandlung dieser The¬
matik eher mythisch oder mystisch als realistisch.
376
»verzweifeltes Gespräch« und »eine Art Heimkehr«. Auch Jo¬
hannes Bobrowski, dessen kurze Zeilen und zögernde Syntax
eine gewisse Verwandtschaft mit Celans späteren Gedichten
aufweisen, schrieb von seiner eigenen
Sprache
abgehetzt
mit dem müden Mund
auf dem endlosen Weg
zum Hause des Nachbarn.42
Aus¬
gewirbelt,
frei
der Weg durch den menschen-
gestaltigen Schnee,
den Büßerschnee, zu
den gastlichen
Gletscherstuben und -tischen.
Tief
in der Zeitenschrunde,
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.
3 77
Ein Kritiker in The Times Literary Supplement44 zitiert eine
Stelle aus diesem Gedicht - »das hundert-/züngige Mein-/Ge-
dicht, das Genicht« - und nennt dies einen Augenblick der
Verzweiflung, »in dem das Gedicht dem Spott eines Echos
ausgesetzt scheint, das die Vorstellung des Nichts erweckt:
das Genicht«. Aber Celan kontrastiert hier sein eigenes lyri¬
sches Vorgehen mit demjenigen anderer Dichter, der Anhän¬
ger des »low mimetic«: das »hundertzüngige Mein-gedicht«,
das ein Nicht-Gedicht oder »Genicht« ist, meint deren Dich¬
tung, nicht die von Celan. Sein Weg besteht darin, seine Ge¬
dichte von dem »bunten Gerede des An-/erlebten« zu reinigen
und die »gastlichen/Gletscherstuben und -tische« anzusteuern.
Die Tatsache, daß es nahezu unmöglich ist, eine solche Lyrik
zu übersetzen, wird offenkundig, wenn der erwähnte Kritiker
dann eine ähnliche Wortprägung in dem Abschlußgedicht des
Bandes interpretiert. Das Original hat folgenden Wortlaut:
Einmal,
da hörte ich ihn,
da wusch er die Welt,
ungesehen, nachtlang,
wirklich.
3 78
lisch »naught«, entsprach aber diese Übersetzung trägt den
Zusammenhang mit dem »Mein-gedicht« des anderen Ge¬
dichtausschnittes nicht Rechnung, dem besitzergreifenden, be¬
sitzanzeigenden Ich-Prinzip, das Gedichte in »genichte« ver¬
wandelt. Paul Celan hat mich darauf hingewiesen, daß »ich-
ten« primär eine verbale Bildung ist, die von dem Pronomen
»ich« abgeleitet ist. Wenn der Infinitiv dieses Verbums »ichen«
lautete, dann wäre »ichten« die dritte Person Plural des Prä¬
teritums dieses Verbums.*
Über das fragliche Gedicht äußerte sich der gleiche Kritiker
folgendermaßen: »Celan spricht von dieser Epiphanie so, als
habe sie sich an irgendeinem bestimmten Augenblick in der
Vergangenheit ereignet, aber sein Gedicht verkörpert sie, läßt
sie Wiedererstehen, und das enthebt sie dem Zeitzusammen¬
hang. Wen hat er da gehört, wer wusch die Welt, wer brachte
die Rettung? Wir wissen es nicht.« Was immer die primäre
Bedeutung von »ichten« sein mag, wir werden es so und so
nicht wissen können, selbst wenn Celans eigene Interpreta¬
tion das Gefühl einer positiven Aussage und des Sich-Offen-
barens einer Identität, die nicht diejenige des Dichters selbst
ist, verstärkt. »Trotz des häufigen Gebrauchs, hier und an¬
derswo, von Ausdrücken und Bildern, die durch die christ¬
liche und jüdische Tradition geheiligt sind«, schrieb der Kri¬
tiker des TLS weiter, »wird keine religiöse Doktrin die ge¬
heimnisvollen Wesenheiten von Celans Lyrik in ihrer Bilder¬
und Vorstellungswelt unterbringen können - diese Wesenhei¬
ten, die aus der Verzweiflung geboren sind, aus einem Ge-
379
fühl des Verlustes, aus einer nachnietzschischen Überzeu¬
gung, daß der Gott, den frühere Zeitalter angebetet haben,
tot ist.«
Celan liefert keinen Beweis für eine solche Überzeugung.
Ein Punkt, in dem seine Kunst traditionell ist, hängt zu¬
sammen mit ihrer selbstübernommenen Aufgabe, Zeugnis ab¬
zulegen, einer religiösen Aufgabe, die sie mit der Lyrik von
Johannes Bobrowski gemein hat; aber ihr Extremismus - er
ist größer als der Extremismus der amerikanischen Bekennt¬
nislyriker oder der »low mimetic« Modus der neuen Anti-
Poesie, die ja auf eine Sprache zurückgreift, welche ein gewis¬
ses Maß von menschlicher Gemeinsamkeit garantiert - weist
auf eine nachnietzschische Situation hin. Was nach wie vor
eine Schwierigkeit darstellt, ist der Grad, in dem Celans
Kunst anachronistisch und zugleich extremistisch ist; denn er
erkennt keinerlei Bruch in der Entwicklung der modernen
Lyrik an, keine Konsolidierung oder Revision des Modernis¬
mus. Zum Beispiel stellen Celans Genitiv-Metaphern eine
Verbindung zu der späten Lyrik Rilkes und zum französi¬
schen Surrealismus her; und ein signifikanter Hinweis auf die
geistige Provenienz seines künstlerischen Extremismus, der
ja ein Extremismus der Sprachbehandlung und der Syntax
ist, kommt in seiner Ansprache Der Meridian45 vor, in der er
die Möglichkeit andeutete, »Mallarme logisch zu Ende zu
denken«. Sowohl Mallarmes als Rilkes geistige Grundlagen
waren entschieden nachnietzschisch: und mit Mallarme
verbindet Celan zudem eine starke Abneigung gegen das bloß
Phänomenale und Zufällige, im Gegensatz zum Wesentlichen
und Archetypischen.
Celan begann mit der lyrischen Wiedergabe extremen Erle¬
bens - der Erlebnisse eines Dichters, der in Rumänien in eine
jüdische, deutschsprachige Gemeinde hineingeboren wurde,
sich unter der deutschen und russischen Okkupation von der
»schwarzen Milch« des Grauens nährte und dieses Grauen
schließlich überlebte, um sich in Frankreich anzusiedeln. Ob¬
wohl er deutsch schreibt, hat sein künstlerischer Purismus
engere Parallelen mit der gleichzeitigen französischen als mit
der west- oder ostdeutschen Lyrik. Dieser künstlerische Pu¬
rismus gibt sich nur mit »raids on the inarticulate« (Angrif-
380
fen auf das kaum Verstehbare)* zufrieden. Es wäre eine An¬
maßung, wollte man Spekulationen darüber aufstellen, wie¬
viel von Celans späterer Art zu dichten auf seine extremen
Lebenserfahrungen zurückzuführen ist und wieviel auf die
künstlerische Kompromißlosigkeit eines unbeirrbaren Mo¬
dernisten. Aber was man mit Sicherheit über diese späte Ly¬
rik Celans sagen kann, ist dies: sie erforscht die Grenzen der
Sprache und die Grenzen des Bewußtseins und sucht dabei
tastend einen Weg zu einer Gemeinsamkeit, die vielleicht re¬
ligiös oder mystisch ist; denn ihr Ausgangspunkt ist völlige
Einsamkeit und der Ort ihrer Ankunftshoffnung liegt »jen¬
seits der Menschheit«.
381
die Frage der Kommunikation sagt, mag auch auf Paul Ce¬
lans lyrische Verfahrensweise zutreffen: »Was wichtig ist, ist
nicht die Kommunikation von Mensch zu Mensch, sondern die
Kommunikation zwischen dem Menschen und dem Kosmos.
Bringt die Menschen in Verbindung mit dem Kosmos und sie
werden von selbst miteinander in Verbindung sein!« Kenneth
Whites Hauptanliegen ist »das unmittelbare Leben«, das der
moderne Stadtmensch seiner Ansicht nach beinahe ganz ver¬
loren hat. »Was bedeutet denn letzten Endes die Welt für
den modernen Menschen - oder vielleicht schenkt ein moder¬
ner Mensch der Welt gar keinen Gedanken mehr, hat keine
Erfahrung mehr von ihr, ist de facto abwesend von der Welt,
steht ihr feindlich gegenüber? Oder sollte ich eher sagen, ab¬
wesend von der Erde, als abwesend von der Welt? Es gibt
nichts, was der Mühe lohnte, um darin zu leben - Megalo-
polis, ein Alptraum: das ist die moderne Welt.« Audi die
modernen Künstler bewegen sich in dem Raum zwischen dem
»Abstrakten und dem Geschmacklos-Persönlichen«. Kenneth
White sehnt das Ende der modernen Kunst herbei: Nach sei¬
ner Ansicht hat es »der Dichter nicht mit Kunst, sondern mit
der Realität zu tun. Der Dichter ist Mensch, aber er ist auch
etwas, das über das Menschsein hinausreicht - er hat Berüh¬
rungspunkte mit dem Kosmischen . . . Lyrik ist Bestätigung
der Realität, nicht mehr und nicht weniger«. White hat Ge¬
dichte und Prosawerke über die moderne Großstadt geschrie¬
ben, oder genauer über Glasgow; aber auch in seinen Ge¬
dichten ist die städtische Zivilisation etwas Negatives, »Ab¬
straktion und Häßlichkeit«, und die Sonne in Winter Evening
(Winterabend) ist eine in den Schlamm geworfene Runkel¬
rübe. Sein positives, d. h. sein unmittelbares Erleben des Kos¬
mos findet in White Wood (Weißer Wald) Ausdruck:
So I have put away the books
and I watch the last apples fall
from the frosty trees
. . . and suddenly
suddenly in the midst of the winterwood
I knew I had always been there
382
and my heart will be bare
and my brain open to the wind.47
383
ein Auge für die Gier und Grausamkeit der Natur oder für
die außerordentlichen Schwierigkeiten, die sich bei jedem
Versuch ergeben, Modelle für das menschliche Dasein aus¬
schließlich aus der nicht-menschlichen Natur abzuleiten. Viel¬
leicht ist der Ideenkomplex der Good City eine notwendige
Ergänzung der »Berührungspunkte mit dem Kosmischen«,
die ein Dichter zu haben glaubt; und dieser Ideenkomplex
ist tatsächlich in den Werken der meisten bedeutenderen Ly¬
riker, deren Hauptanliegen die Natur ist, in irgendeiner
Form mitenthalten oder impliziert.
Selbst Saint-John Perse, ein nachnietzschischer Dichter der
»ewigen Wiederkehr«, der Naturprozesse und der primitiv¬
menschlichen Urerfahrungen, hat die Lyrik als eine »Er¬
kenntnisform« verteidigt, wobei er den Satz aufstellte, daß
Naturwissenschaft und Dichtung »dieselben Fragen an den¬
selben Abgrund« richten.48 »Denn wenn Dichtung nicht über¬
haupt, so wie manche behauptet haben, >absolute Realität<
ist, so ist es doch die Dichtung, die die stärkste Leidenschaft
und das lebhafteste Verständnis für die absolute Realität
aufbringen, bis hin zu jener extremen Grenze des Zusammen¬
wirkens, an der die Realität sich innerhalb des Gedichtes zu
bilden scheint. . . . Dichtung ist nicht nur eine Erkenntnis¬
form, sie ist in noch viel höherem Maße eine Lebensform -
eine Form von Leben in seiner Totalität.« Für Perse ist der
Dichter das »schuldbeladene Gewissen seiner Zeit«, denn »das
wahre Drama unseres Jahrhunderts besteht in der wachsen¬
den Entfremdung zwischen dem vergänglichen und dem un¬
vergänglichen Menschen«. Eine der Begrenztheiten der Poesie
von Perse liegt darin, daß er dem »vergänglichen Menschen«,
der in die Bezüge der heutigen Welt gestellt ist, so wenig an¬
zubieten hat; die kosmischen Affinitäten dieser Poesie haben
kaum Platz für einen Sinn für das individuelle Leben oder
für irgendwelche historisch oder sozial bedingte Erfahrungen
einer spezifisch modernen Art. Das schränkt auch die Rele¬
vanz von Perses Verteidigung der modernen Lyrik ein, zum
Beispiel dort, wo er schreibt: »Ihre angebliche Obskurität
liegt nicht in ihrer eigenen Natur begründet, die ja der Er¬
hellung dient, sondern in der Dunkelheit, die sie erforscht
und erforschen muß; das Dunkel der Seele selber und das
Dunkel des Geheimnisses, welches die menschliche Existenz
384
umgibt.« Nun, die angeblichen Obskuritäten der modernen
Lyrik sind von ganz verschiedener Natur; sie können ihren
^rund nicht nur in einer Erforschung des Dunklen haben,
sondern in den Kompliziertheiten der Tageswelt, die der
Dichter mit dem nächsten besten Menschen gemeinsam hat.
16 können ihren Grund in Kompliziertheiten der Sprache
und des Stils haben oder in einer durchsichtigen Einfachheit,
welche die Abstraktionen der logischen Argumentation ver¬
meidet, und »die Bücher weglegt«. Sie können ihren Grund
haben in der Wiedergabe außergewöhnlicher oder extremer
Erfahrungen, wie in den Halluzinationsgedichten von Henri
Michaux, oder auch in der Intellektualisierung einer primär
allgemein verständlichen Erfahrung, wie in den Gedichten
von William Empson und in einigen lyrischen Stücken von
W. H. Auden.
Ein Sich-Vertiefen in die Dinge der Natur schließt nicht von
vornherein irgendeine dieser Arten von Schwierigkeit oder
angeblicher Obskurität aus. Auch die Natur kann man arche¬
typisch oder phänomenologisch behandeln, mit vielen das
Prädikat »unmittelbar« verdienenden Abstufungen von Rea¬
lismus und Symbolismus. Aber fast alle modernen Lyriker
sind sich darin einig, daß eine Hinneigung zur Natur nicht
zugleich eine Flucht vor dringlicheren Sorgen und Aufgaben
sein sollte; und das Voranschreiten der Verstädterung und
Industrialisierung hat zu einem neuen Gefühl geführt, das
Jules Supervieille »le regret de la terre« - »die Trauer um die
Erde« - genannt hat.
Un jour la terre ne sera
Qu’un aveugle espace qui tourne,
Confondant la nuit et le jour.
Sous le ciel immense des Andes
Elle n’aura plus de montagnes,
Meme pas un petit ravin.
385
(Und eines Tages wird die Erde
Nur blinder Raum sein, der sich dreht,
Und Tag und Nacht wird nicht mehr sein.
Unter dem weiten Andenhimmel
Wird sie dann kein Gebirg mehr tragen,
Nicht einmal eine kleine Schlucht.
Von allen Häusern dieser Erde
Bleibt nichts zurück als ein Balkon.
Vom Kartenwerk der Menschentaten
Ein Traurigsein ohne Plafond.
Von dem verblichenen Atlantik
Ein Salzhauch in der Ätherleere,
Ein Fisch, der fliegt, ein zauberhafter,
Der nichts mehr weiß vom großen Meere.)
In Supervielles Gedicht fordert die Sorge um die Dinge der
Natur die Einfachheit und Natürlichkeit der Diktion, ob¬
wohl seine Reaktionen auf die Natur eine sehr moderne Kul¬
tiviertheit, Kompliziertheit und Ironie enthalten, selbst dort,
wo er sich in Apostrophen an Naturphänomene wendet, wie
in dem späten Gedicht Pins50 (Pinien):
O pins devant la mer,
Pourquoi donc insister
Par votre fixite
A demander reponse?
J’ignore les questions
De votre haut mutisme.
L’homme n’entend que lui,
II en meurt comme vous.
Et nous n’eümes jamais
Quelque tendre silence
Pour melanger nos sables,
Vos branches et mes songes.
Mais je me laisse aller
A vous parier en vers,
Je suis plus fou que vous,
O camarades sourds,
O pins devant la mer,
O poseurs de questions
Confuses et touffues,
Je me mele ä votre ombre,
Humble zone d’entente,
Oü se joignent nos ämes
Oü je vais m’enfon9ant,
Comme l’onde dans l’onde.
386
(Ihr Pinien vor dem Meer,
Warum besteht ihr denn
Darauf, mit eurer Un¬
beweglichkeit von uns
Antworten zu verlangen?
Ich kenne nicht den Inhalt
Der Fragen, welche euer
Ragendes Stummsein stellt.
Der Mensch versteht nur sich,
Er stirbt daran, wie ihr.
Und niemals hatten wir
Einen Moment der Stille,
Ein zartes Schweigen, während
Wir unser Sandsein, euer
Gezweig und meine Träume,
Hätten vermengen können.
Aber ich laß mich gehn,
Zu euch in Versen so
Zu sprechen. Ich bin wohl
Noch närrischer als ihr,
Ihr schweigsamen Gefährten,
Ihr Pinien vor dem Meer,
Ihr Fragesteller - wirr,
Zweigdicht, dunkelverhangen,
In euren Schatten mische
Ich mich, in die bescheidne
Zone des Sich-Verstehns,
Wo sich die Seelen einen
Eure und meine Seelen
In die ich mich versenke,
Wie Welle sinkt in Welle.)
387
Gedicht enthält ja auch in der Tat ebenso eine Aussage über
die Unterschiede zwischen Menschen und Bäumen.
H. D.’s Gedicht Sigil51 läßt keine Reserve, keine Ironie zu.
Die Identität zwischen der menschlichen und der nicht¬
menschlichen Natur wird ohne logische Argumentation über¬
mittelt, ausschließlich mit stilistischen Mitteln, die aus der
imagistischen Dichtungspraxis stammen:
somewhere,
under an edge of rock,
a sea will open;
slice of the tide-shelf
will show in coral, yourself,
in conch-shell,
myself;
somewhere,
over a field-hedge,
a wild bird
will lift up wild, wild throat,
and that song, heard,
will stifle out this note.
irgendwo,
unterm Saum eines Felsenriffs,
wird sich öffnen ein weites Meer;
ein Schnitt durch den Sand, wo die Brandung bricht
wird in Korallenzweigen zeigen: dich,
in Muschelhornschalen,
mich;
388
irgendwo,
auf einem Feldheckenzaun,
wird ein wilder Vogel
die wild-wilde Kehle hochheben ins Licht,
und sein Gesang, ringsum gehört,
wird ersticken dies mein Gedicht.)
In einem Gedicht, das sich wie vers libre liest und auch im
Druckbild so aussieht, wird hier der Reim dazu verwendet,
die Identität von menschlicher und nicht-menschlicher Natur
zu suggerieren, und zwar direkt in dem Endreim »tide-shelf«
— »yourself«, unauffällig in der zum Teil als Binnenreim auf¬
tretenden Reihe »ledge« - »edge« - »hedge«, die alle drei
Strophen miteinander verbindet. Man kann Sigil als »Natur¬
gedicht« lesen oder als »Liebesgedicht«; der nachnietzschische
Sinn für das Kosmische, der aus dem Text spricht - er wird
ganz offenkundig in dem »Zyklus« der ersten Zeile - geht
quer durch diese altmodischen Kategorien hindurch.
Selbstverständlich stehen solche Gedichte weit abseits von
dem, was die meisten Leute heute für die Grundannahmen
und Ziele der Naturwissenschaftler halten. Für diejenigen,
die glauben, die Aufgabe der Naturwissenschaft sei nicht, die
Natur zu kennen und zu verstehen, sondern vielmehr sie zu
verändern und zu manipulieren, muß der tiefverwurzelte
Hang der Dichter, »Gespräche über Bäume« zu führen, be¬
stenfalls wie ein harmloser Anachronismus aussehen, schlimm¬
stenfalls wie ein reaktionäres Verbrechen; und Supervielles
Gedicht ist noch viel mehr, nämlich ein Gespräch mit Bäumen.
Die Kehrseite dieser verlangenden Sehnsucht nach den Din¬
gen der Natur ist eine sich ebenso hartnäckig haltende Ableh¬
nung der modernen Großstadt. In Luis Cernudas Cemeterio
de la cmdad (Großstadt-Friedhof) werden selbst die Toten
in die allgemeine Entfremdung einbezogen:
389
Cuando la sombra cae desde el cielo nublado
y el humo de las fabricas se aquieta,
en polvo gris, vienen de la taberna voces,
y luego un tren que pasa
agita largos ecos come un bronce iracundo.
(Kein Blatt hier, kein Vogel. Stein, nichts als Stein. Und Erde.
Ist so die Hölle? Hier gibt es Schmerz, ohne Vergessen,
Schmutz und Lärm, Kälte weithin und kein Hoffen.
Hier gibt’s nicht den schweigenden Schlaf
des Todes, weil das Leben rings sich herumtreibt
zwischen all diesen Gräbern, wie eine Dirne
ihrem Gewerbe nachgeht unter einer reglos-stillen Nacht.
und auch das ist eine aus der Erfahrung gewonnene Wahrheit.
»Wissenschaft und Dichtung sind sich gleich«, hat auch May
Swenson behauptet, »oder, wie mir scheint, Verbündete in
der Erreichung ihres größten und wichtigsten Ziels - nämlich
darin, alle und jegliche Phänomene der Existenz bis unter die
banale Oberfläche des Erscheinenden zu erforschen . . . Das
Material des Dichters ist immer die Natur gewesen - mensch¬
liche und nichtmenschliche Natur - alle Gegenstände und Er¬
scheinungsweisen unserer äußeren Umwelt, ebenso wie das
>Seelenklima< und das >Theater der Gefühlen Der Dichter ist
der große Anti-Spezialist.«53 Obwohl die charakteristischsten
Gedichte May Swensons Tiere und Landschaften zum Gegen¬
stand haben, kommt sie zu dem Ergebnis, daß »Lyrik dem
Menschen helfen kann, menschlich zu sein«. Der Naturwis¬
senschaftler P. B. Medawar stimmt mit May Swenson nicht
nur in der Bestimmung des »wichtigsten Zieles« der beiden
Tätigkeiten überein, sondern hält die wissenschaftliche Form
der Erkenntnis sogar für etwas der Dichtung wesenhaft Ver¬
wandtes:
391
Widerlegung. Vor allem ist es wichtig, sich darüber klar zu sein,
daß die Naturwissenschaft nicht eine Anhäufung von Fakten ist und
auch kein rubriziertes Inventar von Tatsacheninformationen. Eine
solche Annahme ist ein vulgärer Irrtum.54
Ein Punkt, in dem sich die Dichtung, wie alle Kunst, von der
Wissenschaft unterscheidet, ist ein in ihr enthaltenes Element,
das ich bisher nur gelegentlich gestreift habe: das Element des
reinen Spiels. Dieses Element tritt am deutlichsten in der
Nonsens-Dichtung zutage, angefangen von Lewis Carroll,
Edward Lear und Alfred Jarry bis hin zu Christian Morgen¬
stern, Joachim Ringelnatz, Kurt Schwitters, Gertrude Stein,
Edith Sitwell und einer Menge späterer experimentierender
Lyrik. Im Zusammenhang mit der dichterischen Praxis von
Jean Arp wies ich auf das von den Dadaisten eingeführte
Prinzip der Zufälligkeit hin. In mancher neueren Lyrik - so¬
wohl in einer mehr visuellen als auch in einer mehr lautlichen
Wirkungen nachgehenden Form - ist das Prinzip des Zufalls
zu einer quasi-mechanischen Methode umfunktioniert wor¬
den. Dem komischen Nonsens, dem ernsten Nonsens und dem
phantastischen Nonsens ihrer Vorgänger haben die neuen
Dichter der »konkreten Lyrik« eine ganze Menge von präten¬
tiösem Nonsens an die Seite gestellt; und sie haben denjeni¬
gen ihrer Kritiker erheblichen Kummer bereitet, die glauben,
392
daß die Aufgabe, welche die Dichtung für die Menschlichkeit
zu erfüllen hat, durch eine Kunst, die sich der Abstraktion an¬
nähert, indem sie Wörter als ein semantisch neutrales Mate¬
rial verwendet, ernstlich bedroht ist. Eine solche Kunst könnte
in der Tat die Verbindung zwischen Innenwelt und Außen¬
welt - eine Verbindung, die in jeder anderen Spielart der mo¬
dernen Lyrik in einem mehr oder weniger großen Umfang
noch bewahrt bleibt-abschneiden. Der neue Lyriker wäre hier
zugleich ein Spieler von Wortspielereien und ein Techniker,
der eine ohne jede Verantwortung arbeitende Maschine mit
rein zufälligem Material »füttert«.
Einer der in dieser Richtung besorgten Kritiker war Erich von
Kahler, ein Elumanist, der bemerkenswert war in seiner hart¬
näckigen Weigerung, zu einem bloßen Spezialisten auf ir¬
gendeinem der Gebiete zu werden, zu deren Entwicklung er
Wertvolles beigetragen hat. Seine Befürchtung ging dahin,
daß der Dichter aufhören könnte, »der große Anti-Spezia¬
list« zu sein; und diese Furcht hat ihn veranlaßt, die neue
Experimental-Poesie anzugreifen:
393
ob sich die Lyrik noch viel länger wird halten können unter lauter
»ultraintelligenten« Maschinen, wie lange ihr bei der jungen Ge¬
neration noch Zeit und Raum und ein natürlicher Nährboden be-
schieden sein werden, um darin gedeihen zu können. Wir sehen
zwar den poetischen Ausdruckszwang noch aus der inneren Revolte
erwachsen in Ländern, die unterdrückt sind, wir fühlen zwar noch
in der Not und Rebellion vieler westlicher Dichter, wie er durch das
Gestrüpp des Intellektualismus hindurchbricht. Aber es ist, glaube
ich, höchste Zeit, unsere Jugend vor einer ernsten und lebensbe¬
drohenden Gefahr zu warnen: vor der absoluten Beherrschung al¬
ler Lebensgebiete durch die Verwissenschaftlichung, d. h. eine Wis¬
senschaftsmentalität (im Unterschied zur Wissenschaft selber, ihrem
unschätzbaren Wert, wenn auch nicht ihrer unbegrenzten Gültig¬
keit); sie zu warnen vor jener allgemein gewordenen Neigung, un¬
ser ganzes Leben, ja alle Wirklichkeit für einen Komplex erforsch¬
barer und letzten Endes voraussagbarer und reproduzierbarer Me¬
chanismen anzusehen.
Mir will scheinen, daß diese Gefahr mehr theoretisch als tat¬
sächlich gegeben ist, ähnlich wie die Gefahr der »Entmensch¬
lichung« in der Lyrik einer früheren Moderne. Dort wo die
neue experimentelle Dichtung nur halb so mechanisch ist,
wie sie sich vornimmt es zu sein, wird sie zugleich in einem
Maße langweilig, das sie eher zu einer bitteren Medizin
macht als zu einer verderblichen Droge. Die Leser, die genug
Askese aufbringen, diese Kost zu schlucken, um mit der Zeit
Schritt zu halten und up to date zu sein, beweisen eine be¬
wundernswerte Standhaftigkeit: und man darf wohl ziem¬
lich sicher sein, daß die Künstler es in dem Moment aufgeben
werden, die Beschaffenheit von Computern anzustreben, in
dem die Computer für sie zu einer ernsten Konkurrenz wer¬
den, indem sie nämlich das, was diese Künstler tun, auch
fertigbringen, aber besser oder mindestens ebenso gut. Selbst
vom Standpunkt eines Humanisten aus verdienen viele von
den »konkreten« Lyrikern jedes Maß von Sympathie, da sie
doch versuchen, die Lyrik von ihren atavistischen Voraus¬
setzungen zu befreien. Wenn bei diesem Prozeß die Lyrik sel¬
ber sich verflüchtigt, was sie sehr oft tut, dann ist doch an¬
dererseits zu sagen, daß wir nicht nur Neues über das Wesen
und die Grenzen der Lyrik daraus lernen können, sondern
auch, daß die entstehende Lücke mit Sicherheit durch Dichter
einer anderen Art geschlossen werden wird.
394
Außerdem sind die neuen Lyriker gar nicht wirklich so neu.
Dem Gedicht Epitaphe57 von Corbiere ist ein kleines Stück
Prosa vorangestellt, das genausogut ein halbes Jahrhundert
später Gertrude Stein oder fast ein Jahrhundert später Hel¬
mut Heißenbüttel geschrieben haben könnten. Es würde über¬
setzt etwa so aussehen:
395
Da diese Permutationen von einem kritischen Intellekt ge¬
leitet und kontrolliert sind, sind sie weder mechanisch noch
in Hinsicht auf menschliche Dinge belanglos. Sie vermitteln
ganz im Gegenteil ein moralisches Urteil, das so schlagend
auf keine andere Weise vermittelt werden könnte. Sowohl
die Langweiligkeit als auch die Komik dieses syntaktischen
Perpetuum Mobile entsprechen haargenau dem circulus vitio-
sus, den sie zum Ausdruck bringen und analysieren. Natür¬
lich ist weder der Text von Corbiere noch der von Heißen¬
büttel Lyrik; und Heißenbüttel hat eine Erklärung gegeben,
warum seine Texte eine Grenzziehung zwischen Lyrik und
Prosa nicht mehr aufrechterhalten: »Die Entwicklung der
Künste im 20. Jahrhundert ist unter anderem dadurch ge¬
kennzeichnet, daß sie, schubweise, Bereichen zudrängt, in
denen jede Kunstart an die Grenze zur anderen gerät.«59
Ein anderes Charakteristikum der Lyrik des zwanzigsten
Jahrhunderts, das Heißenbüttel hervorhebt, ist der Grad, in
dem sie die Sprache autonom werden läßt. Von den längeren
Dichtungen oder Gedichtbänden von Pound, Guillen und
Olson sagt er, sie seien »nicht ein Bild der Welt . . sondern
Welt aus Sprache und sonst nichts«. Das trifft auf die Dichter,
die er aufzählt, in geringerem Maße zu als auf sein eigenes
Werk und auf die Konkrete Poesie; und es ist andererseits
auch nicht die ganze Wahrheit über die Gesamtheit seines
eigenen Werks. Klassenanalyse zum Beispiel dient nicht bloß
dazu, »sprachlich die Welt zu verdoppeln, zu vervielfachen«.
Was Heißenbüttel und andere mit der Sprache experimen¬
tierende Dichter durch ihre Verfahren ausschließen, ist die
Subjektivität der Lyrik, ihre Exhibitionen von Gefühlen und
Stimmungen; aber solange sie das sprachliche Material, das
dann sich selbst überlassen wird - grammatikalische Per¬
mutationen, Aufteilung in Silben oder Buchstaben, oder
neue Kombinationen dieser Komponenten, oder wie immer
ihre Spielereien aussehen mögen -, solange sie das sprachliche
Material für diese Spiele selbst auswählen, solange kann die
Autonomie der Sprache keine totale sein. Wie ich bereits an¬
gedeutet habe, ist es die Selektion und Kontrolle des ur¬
sprünglichen Wortmaterials, die ihre Prozeduren vor einem
Automatismus bewahrt, der sie vor gänzlicher Langeweile
ersticken ließe.
Ähnliche Unterscheidungen ergeben sich beim Betrachten
einer experimentellen Lyrik, die mindestens zwei Jahrzehnte
vor der Entstehung einer Bewegung oder Schule der Kon¬
kreten Poesie in der Periode nach 1945 geschrieben wurde.
Weil in den sprachlichen Permutationen von Gertrude Stein
mit ihrer echten oder angenommenen Naivität des Tons, mit
ihrem Versuch, kindlichen Spielen nachzueifern, das Element
des Spiels vorherrscht, kommen sie der Sprachautonomie der
Konkreten Poesie, dem Zufallsprinzip der Dadaisten oder
der dictee automatique der Surrealisten recht nahe. Zumin¬
dest sehen viele ihrer Wortfolgen aus, als seien sie semantisch
unverankert. Aber ein Gutteil derselben Technik der wört¬
lichen Wiederholung und Permutation wurde auch von Laura
Riding in Teilen eines Gedichtbandes übernommen, der heute
noch ein ebenso außergewöhnlicher Beweis von intellektueller
Straffheit, von Raffinement und psychologischer Präzision ist
wie bei seinem Erscheinen 1930: ich meine ihren Band Poems:
A Joking Word60 (Gedichte: ein Witzwort). Die Parallelen
zu Heißenbüttels Verwendung dieser Technik für Satire und
Gesellschaftskritik sind besonders auffallend in Laura Ri¬
dings Gedicht Fine Fellow Son of a Poor Fellow (Feiner
Kerl Sohn von einem armen Kerl). Das Experimentieren mit
der Sprache geht dann im nächsten Gedicht desselben Bandes
(der übrigens zwischen 1919 und 1929 entstanden ist), einem
Gedicht mit dem Titel What to Say When the Spider* (Was
man sagen soll, wenn die Spinne), bis zu dem Extrem eines
asyntaktischen Kontinuums, und auch diese Art des Vorge¬
hens ist eine Vorwegnahme gewisser anderer Texte von Hei¬
ßenbüttel und eine Präfiguration der Praktiken vieler »kon¬
kreter« Lyriker.
Daß verbale Permutationen in Laura Ridings Gedichten kein
Nonsens sind, oder daß sie ein Nonsens der ernstesten und
: verantwortlichsten Art sind, könnte man nur dadurch zeigen,
1 daß man das ganze Gedicht What to Say When the Spider
t mit Laura Ridings Werk im allgemeinen in Beziehung brächte,
397
und auch mit den traditionelleren lyrischen oder reflektieren¬
den Gedichten, die in dem Band vorausgehen oder nachfol-
gen; und Laura Ridings Gedanken über Sprache, Gesellschaft,
persönliche Beziehungen und die persönliche Identität im
Schatten des Todes - um nur ein paar von ihren zentralen
Themen zu nennen - sind so kompliziert und zugleich so
kühn, daß sich ein solches Unterfangen hier verbietet. Was die
beiden erwähnten Gedichte aber unmittelbar beweisen kön¬
nen, ist die Tatsache, daß die Techniken der Konkreten Poesie
nicht so neu sind, wie manche ihrer Befürworter glauben oder
behaupten; und daß selbst ihre Variationsbreite in den Wer¬
ken früherer experimenteller Dichter durchaus ihre Vorbilder
hat.
Auch Heißenbüttel geht von Zweifeln an der Sprache aus,
Zweifeln darüber, was man noch sagen kann und nicht mehr
sagen kann. Das ist das Verbindungsglied, das ihn nicht nur
mit Vorläufern wie Laura Riding verbindet, sondern auch
mit ausschließlichen lyrischen Dichtern wie Paul Celan unter
seinen Altersgenossen und mit der neuen Anti-Poesie (im
Unterschied zu der Nicht-Poesie, die manchmal sein Ziel zu
sein scheint). »Heute, wo alles gemischt erscheint, läßt sich
nicht einfach mehr sagen, daß ich die Wahrheit schreibe, wenn
ich die Unwahrheit bekämpfe.« Diese Feststellung Heißen¬
büttels läßt seine Beschäftigung mit den Schriften von Witt¬
genstein erkennen. Er spricht dann weiter von dem »Zwei¬
fel, ob überhaupt noch sagbar ist, was gesagt werden kann«,
einem Zweifel, »der nun kritisch gegen die konventionellen
Vorurteile der Sprache gerichtet ist«. Aber eine Kritik an der
Sprache - und das ist es, was Heißenbüttels Texte im Grunde
darstellen, wenn auch seiner Sprache in einem beträchtlichen
Maße die Freiheit belassen wird, sich selber zu kritisieren,
nämlich die Voraussetzungen und Vorurteile bloßzustellen,
die dem allgemeinen Sprachgebrauch innewohnen -, eine Kri¬
tik an der Sprache bekämpft natürlich die totale Autonomie.
Mit anderen Worten, Heißenbüttels »Verwissenschaftlichung«
ist eine Sache der Methode, und sie ist nicht unvereinbar mit
einem Engagement, das über diese Methode hinausgeht. Dar¬
um kann er auch schreiben: »Literatur ist Erkenntnis; das
heißt für unsere Epoche unter anderem: ein Mittel der radi¬
kalen Aufklärung.«
398
Helmut Heißenbüttel repräsentiert den ernsten und philoso¬
phischen Flügel der neuen linguistisch orientierten Lyrik. Sein
Werk ist auf das Ziel ausgerichtet, »ein erstesmal einzudrin¬
gen und Fuß zu fassen in einer Welt, die sich noch der
Sprache zu entziehen scheint« und die Grenze zu erreichen
»zu dem, was noch nicht sagbar ist«. Was an seinem Verfah¬
ren neu ist, ist seine strenge intellektuelle Konsequenz, nicht
seine Verspieltheit; aber das hat ihn nicht daran gehindert,
Texte zu schreiben, die außergewöhnliche Einsichten in
menschliche Verhaltensweisen mit Wirkungen kombinieren,
die ganz entschieden komisch und grotesk sind.
Die Laut-Gedichte von Ernst Jandl andererseits scheinen das
Spielprinzip besonders herauszustreichen und zu verherr¬
lichen. Seine bekanntesten Gedichte und diejenigen, die am
unmittelbarsten »ankommen«, wenn sie von ihrem Autor re¬
zitiert werden, sind lautmalende Darstellungen eines einzel¬
nen Wortes, wie etwa das Stück schmerz durch reibung62,
das ganz aus den Konsonanten- und Vokallauten des Wortes
»Frau« zusammengesetzt ist, oder schtzngrmm, das auf den
Konsonantenklängen des Wortes »Schützengraben« basiert.
Gedichte dieser Art sollte man hören anstatt sie zu lesen, denn
die Buchstaben auf der Seite sind eine bloße Notation, die
schwerer durch das Auge zu erfassen ist als eine musikalische
Partitur; und es ist zweifelhaft, ob irgend jemand außer dem
Dichter selbst solche Stücke genauso stimmlich zur Darstel¬
lung bringen kann, wie sie in ihrer klanglichen Wirkung be¬
absichtigt sind. Die letzte Zeile von schtzngrmm etwa ist
»t-tt«, was man beim Lesen auf der Buchseite für eine laut¬
malende Wiedergabe von Gewehr- oder Maschinengewehr¬
feuer halten würde, während es, wenn man des Dichters ei-
i gene Rezitation hört, auch ein Ersterben der Stimme und das
deutsche Wort »tot« evoziert. Obwohl in Jandls wichtigster
Gedichtsammlung Laut und Luise die Laut-Gedichte den
- größten Anteil ausmachen, können diese Stücke sehr verschie-
i denen Charakter haben: sie können witzig oder ernst, mi-
: metisch (d. h. also durch Darstellung nachahmend auf Wirk-
6 liches bezogen) oder phantastisch, satirisch oder ausdrucksvoll
isein; und dann gibt es auch noch Prosagedichte wie die Se-
i quenz über England, prosa aus der flüstergalerie, die wieder
leher mit den semantischen Experimenten Helmut Heißen-
399
bütteis verwandt sind, und weiter Textfolgen, die sich vor¬
wiegend an das Auge oder an den Intellekt wenden. Ernst
Jandls Laut-Permutationen schöpfen aus dem Reservoir einer
großen Buntheit von Fach- und Gruppensprachen, ganz be¬
sonders aber aus dem Wiener Dialekt - einer Quelle, aus der
auch Hans Carl Artmann, ein anderer österreichischer ex¬
perimenteller Lyriker, sich Material für völlig andere Wir¬
kungen holt - und schließlich auch aus Jandls Empfindungs¬
reaktionen auf den Klang englischer Sprachlaute. Bei wieder
anderen Texten sind die Quellen von literarischer Art, so
etwa wenn in der Folge der zehn ahendgedichte und in der
längeren Variationsreihe klare gerührt Wortgruppen von
Goethe und Hölderlin aufgegriffen werden.
Im Zusammenhang mit Jandls Arbeiten hat Helmut Heißen¬
büttel geschrieben, daß Experiment und Tradition nicht un¬
vereinbare oder unversöhnliche Gegensätze zu sein brauchen.
Ganz abgesehen von der Tatsache, daß Jandl selber auch ly¬
rische Gedichte geschrieben hat und noch weiterhin schreibt,
die nicht experimentell sind, können viele von Jandls experi¬
mentellen Gedichten als Weiterentwicklungen von anerkann¬
ten und altehrwürdigen Aussagemedien gesehen werden. Und
man kann Jandl auch nicht, sowie anderen »konkreten«Lyri¬
kern, den Vorwurf machen, er habe die Ausdrucksbreite der
lyrischen Dichtung als solche eingeengt. Trotz des scheinbaren
Übergewichts des schieren überquellenden Spiels tragen doch
auch Beobachtungen, Überlegungen, Gefühle und Einfalls¬
reichtum zur Wirkung seiner Worte bei, selbst dort, wo sein
Material bis auf die Bestandteile eines einzigen Wortes redu¬
ziert worden ist; und sein Wirkungsbereich erstreckt sich auf
der einen Seite bis zum Prosagedicht, auf der anderen bis zum
Miniaturdrama. Mit vollem Recht weist Heißenbüttel darauf
hin, daß Jandls Wort-Gedichte sich nicht grundsätzlich von
irgendeiner anderen in der Vergangenheit geschriebenen Ly¬
rik unterscheiden; und damit meint er nicht nur die »Tradi¬
tion des Neuen« und die Präzedenzfälle, die vor einem
halben Jahrhundert durch die onomatopoetischen Verse von
August Stramm oder die Laut-Gedichte von Kurt Schwitters
geschaffen worden waren.
Ernst Jandl kann in keiner Weise der Verwissenschaftlichung
geziehen werden; er vermeidet auch die Tendenz zur Tauto-
400
logie, zur Binsenwahrheit und zur Banalität, die viele Wort-
Gedichte so langweilig macht, in der gleichen Weise, in der
viele nachwittgensteinsche Philosophie für alle Leser mit
Ausnahme der professionellen Logiker langweilig ist. Selbst
Franz Mon, ein verdienter und vielseitiger experimenteller
Dichter, war imstande, die folgende Variationsreihe über das
Offensichtliche in sein Lesebuch63 mit aufzunehmen:
401
also, kurz gesagt, die Wahrhaftigkeit, die er für eine den
Dichtern seiner Zeit angemessene Haltung erklärt; und schon
allein durch diese Mentalität wird die didaktische Funktion
der Dichtung bewahrt. Von allen Dichtern, die hundert Jahre
nach Baudelaire schreiben, verdienen es nur die Lyriker der
»konkreten« Schule, oder einige von ihnen, daß man ihnen
bestätigt, sie brächten Werke hervor, die »brüderlich zwischen
Naturwissenschaft und Philosophie marschieren«.
Meine Studie fing an mit einem inneren Widerspruch. Sie
wird mit einem Paradoxon und mit einer Ironie enden; denn
genau diese Dichter, die Lyriker der‘»konkreten« Schule, ha¬
ben die Humanisten in Schrecken versetzt. Den Grund dafür
sehe ich darin, daß Naturwissenschaft und Philosophie selber
eine Provinz für Spezialisten geworden sind; und die hier be¬
handelten Dichter sind in bezug auf ihr Material, die Worte,
ebenfalls Spezialisten. Ihre moralische Neutralität oder »Of¬
fenheit« - sie steckt implizite in Heißenbüttels Verteidigung
von Mons logischen Etüden, wird aber niemals zur Gänze
realisierbar, solange die Dichter ihr Wortmaterial selbst aus¬
wählen - ist eine Spezialistentugend, oder aber ein Speziali¬
stenlaster, letzteres natürlich für diejenigen, die die mora¬
lische Neutralität von Spezialisten als die größte Bedrohung
für das Überleben des Menschen auf der Erde ansehen.
Das Paradoxon und die Ironie haben noch eine weitere Son¬
derbarkeit. Baudelaires gegensätzliches Prinzip - Kunst als
Selbstzweck, Kunst als Spiel - hat ebenfalls in den Verfah¬
rensweisen derselben Schule, von der wir hier sprechen, den
Sieg davongetragen, besonders bei denjenigen Angehörigen
der Schule, welche Wörter dazu verwenden, Muster und Fi¬
guren zu bilden, die sich hauptsächlich an das Auge wenden.
Val^ry schrieb: »Das auffälligste Charakteristikum eines
Kunstwerks kann man Nutzlosigkeit nennen . . . Von einem
anderen Gesichtspunkt aus bringt uns das In-Betracht-Ziehen
unserer möglichen Akte dazu, neben diesen Begriff der Nutz¬
losigkeit . . . den der Willkür zu setzen (wenn nicht gar diese
beiden Begriffe zu vereinigen)«; er fügt dem den wichtigen
Folgesatz hinzu: »die Erfindung der Kunst hat immer in dem
Versuch bestanden, den ersteren«, d. h. den »nutzlosen Emp¬
findungen«, »eine Art Nützlichkeit zu verleihen, den letzte¬
ren«, d. h. unseren »willkürlichen Akten«, »eine Art Not-
402
Wendigkeit.«65 Im Werk eines beliebigen »konkreten« Lyri¬
kers mag entweder »die radikale Aufklärung« oder das will¬
kürliche Spiel den Vorrang haben, aber die beiden Prinzi¬
pien sind unentwirrbar ineinander verwoben in den verschie¬
denen Verfahrensweisen, die der Schule als solcher eigentüm¬
lich sind. Baudelaires Antinomie wäre also, so scheint es, auf¬
gelöst oder außer Kraft gesetzt in den experimentellen Ar¬
beiten der jüngsten Zeit: und genau das ist der Punkt, an dem
bei sovielen von ihnen etwas nicht stimmt. Valerys Folge¬
satz ist nicht beachtet worden. Dort wo das Prinzip der Will¬
kür nicht auf einen Anschein von Notwendigkeit stößt, geht
die Spannung der Dichtung verloren; und in lyrischer Dich¬
tung ist der Anschein von Notwendigkeit immer durch ein
Gefühl der emotionellen Dringlichkeit erzeugt worden, durch
die persönliche Teilnahme des Dichters am Material seiner
Kunst. Baudelaires Antinomie ist noch immer eine Quelle
der Spannung in anderen Arten von Lyrik; und es gibt ge¬
wichtige Gründe für die Behauptung, daß viele Texte der
reinsten »konkreten« Lyrik gar keine Lyrik sind, weil Lyrik
mehr sein muß als eine irrititierende - oder langweilige -
Übung in Logik auf der einen Seite, oder ein quasi-abstraktes
visuelles Muster auf der anderen.
Etwas von der gleichen Ambivalenz haftet einer anderen Ent¬
wicklungslinie der Lyrik seit 1945 an, nämlich die Fähigkeit
gewisser Dichter, ein breites Publikum zu gewinnen und in
ihren Bann zu ziehen - und zwar ein Interessentenpublikum
von einer Art, wie sie den Dichtern seit Jahrhunderten ver¬
sagt gewesen ist. Dies ist eher ein kulturelles und soziales
Phänomen als ein rein poetisches; und gerade seine kulturel¬
len Implikationen könnten es nicht weniger erschreckend für
Humanisten erscheinen lassen als die »Verwissenschaftlichung«
der Konkreten Poesie. Wenn sich die Kluft zwischen Dichtern
und Publikum endlich zu schließen scheint, so ist ein Begleit¬
umstand dieses Vorgangs die sich weitende Kluft zwischen
einer Lyrik, die sich an das innere Gehör wendet und einer
Lyrik, die in erster Linie für den öffentlichen Vortrag be¬
rechnet ist - und für den Sofortverbrauch. Es gibt ausgezeich¬
nete Lyriker wie Robert Creeley, deren öffentliche Lesungen
die innere Kraft ihrer Gedichte mit einer Unmittelbarkeit
hervortreten lassen, die dem gedruckten Text noch etwas
403
Wesentliches hinzufügt; denn die Atmungsbögen und -einhei-
ten, welche eine für den Aufbau und den Bewegungsablauf
dieser Gedichte entscheidende Funktion haben, können auf
dem Papier nicht so deutlich zur Wirkung gebracht werden
wie durch die lebendige Stimme des Dichters selber. Freilich
gibt es andere wegen ihrer öffentlichen Lesungen bekannte
Lyriker, die ihre Popularität der Tatsache verdanken, daß
sie die schwierige Wahrheit der Dichtung oberflächlicher Ef¬
fekthascherei aufopfern oder aber der Akzeptierung von im
Schwange befindlichen Kollektivanschauungen, die unter Um¬
ständen falsch oder minderwertig sein können. Wenn der Zu¬
stand der heutigen, technisch hochentwickelten Gesellschafts¬
ordnungen den Lyrikern nur die Wahl zwischen Sprachlabo¬
ren und der Unterhaltungsindustrie ließe, wären die Zu¬
kunftsaussichten tatsächlich trübe. Schon heute verdanken
recht viele Dichter ihren Ruf mehr der Aura, die Schauspieler
oder Solisten umgibt, als der Qualität ihrer Werke. Manche
dieser Dichter brauchen uns hier nicht zu interessieren, denn
sie gehören »mehr in die Geschichte der Publizität als in die¬
jenige der Dichtung«, wie F. R. Leavis von den Sitwells ge¬
sagt hat, die zu ihrer Zeit hervorragende Schausteller waren
und unvergleichlich viel bessere Dichter als etliche von ihren
Nachfolgern; aber es ist etwas anderes, ob man zynische Kar¬
rieremacher für das nimmt, was sie sind, oder ob man keiner¬
lei Interesse an ihrem Publikum zeigt oder an dem echten
Talent von Dichtern, die zu naiv sind, um den Unterschied
zwischen wahrhaft populärer Kunst und deren kommerziali¬
sierten Ersatzprodukten zu sehen.
In ihren besten Realisierungen hat die »beat«-, »pop«- und
»underground«-Lyrik eine Spontaneität, Aufrichtigkeit und
Ungezwungenheit der Phantasie, wie man sie in den Labora¬
torien oder bei den akademischen Dichtern selten findet.
Aber diese Gruppen sind ni$ht nur alle in einem ungewöhn¬
lichen Maße untereinandergemischt, sondern es verbindet sie
auch ein wechselseitiger Verkehr mit Gruppen und einzelnen
Dichtern, die sich nicht gerne als »beat«, »pop« oder »Under¬
ground« abstempeln lassen würden. Der Verkehr ist auch ein
Hin und Her in der Zeit. Manche von den »beat«-, »pop«-
und »underground«-Lyrikern sind entschieden altmodisch
oder eklektisch in ihren stilistischen Mitteln; und die Neu-
404
heiten von anderen unterscheiden sich nicht grundsätzlich von
den Neuerungen, die von modernen Lyrikern jeglicher an¬
deren Schule, oder gar keiner Schule, eingeführt worden sind.
Was heute »pop«, »beat« oder »Underground« ist, wird mor¬
gen akademisch sein - wenn es das Morgen noch erlebt; d. h.
wenn es nicht verdorben wird durch die Schlaffheit, die sich
als Folge einstellt, wenn sich die Dichter zu sehr auf eine vor¬
aussagbare Publikumsreaktion verlassen, oder auch wenn sie
einfach inkompetent sind. Mit anderen Worten, das neue
Phänomen reduziert sich auf die Frage nach den Qualitäts¬
standards; und diese Frage hängt eher mit den neuen Publi¬
kumsschichten für die Lyrik zusammen als mit der jeweiligen
Lyrik selber. Vielleicht ist auch diese Frage kein neues Pro¬
blem, denn schlechte oder mittelmäßige Dichter haben schon
seit langem leichter ein breites Publikum erobern können als
gute. Das, was die neue Reaktion auf Lyrik so beunruhigend,
aber zugleich auch so erfreulich macht, ist die besondere Be¬
weglichkeit und Veränderlichkeit der gegenwärtigen Situa¬
tion, die soviel guten Willen und soviel ungeduldigen Eifer,
aber auch so wenig kritisches Unterscheidungsvermögen auf
beiden Seiten erkennen läßt.
Es wird hier keine Voraussage angeboten. Wenn ein wahrer
Dichter Voraussagen könnte, was für eine Lyrik er nächstes
Jahr, oder im Lauf der nächsten Jahrzehnte, schreiben wird,
dann könnte er es sich schenken, diese Lyrik zu schreiben.
In diesem Sinne ist jedes Gedicht experimentell, oder aber
nicht wert, geschrieben zu werden. Lyrik ist ein Suchen und
ein Finden des Unvoraussagbaren innerhalb von Grenzen
und Bedingungen, die jenseits der Kontrollmöglichkeit des
Dichters liegen, weil sie von dem komplexen Ineinanderwir¬
ken von äußeren und inneren Vorgängen abhängen. Wenn
sich die Lyrik zur Zeit in einem Zustand der Krise befindet,
so ist zu sagen, daß das seit Baudelaire ihr permanenter Zu¬
stand war; und dennoch war das Jahrhundert seit Baudelai-
res Tod ein Jahrhundert, das so reich an den verschiedenar¬
tigsten Entwicklungen der Lyrik war, daß hier nur einige
wenige nachgezeichnet oder durch Beispiele belegt werden
konnten. In einem anderen Sinn aber geht es in der Lyrik
immer um dieselbe Sache; das ist der Grund, warum sie nach
jeder Art des Hineingezogenwerdens in die Erscheinungswelt,
jeder Form der Erfassung oder Aktualisierung der Erschei¬
nungswelt in Worten, zu Archetypen zurückgekehrt ist. So¬
lange Lyrik überhaupt geschrieben wird - geschrieben, und
nicht von Maschinen zusammengestellt oder aus dem Flut
eines Taschenspielers hervorgezaubert, um einem Publikum
etwas Kitzel zu verschaffen -, solange wird sie fortfahren,
solche Arten von Wahrheit zu aktualisieren, die sie aktuali¬
sieren kann und muß.
Wenn meine Studie irgend etwas hat aufzeigen können, so ist
es der Umstand, wieviel Arten von Wahrheit innerhalb
der letzten hundert Jahre, oder mehr als hundert Jahre, die
Lyriker sich verpflichtet fühlten auszusprechen oder auszu¬
drücken - wobei selbst die ungeschminkt-realistischsten und
die selbstverständlichsten nicht ausgeschlossen blieben. Die
notwendige Wechselbeziehung von Schönheit und Wahrheit
in der Dichtung bleibt nach wie vor eine quälende und zu¬
gleich lockende Paradoxie, wenn nicht überhaupt ein Myste¬
rium; denn die »Prosaiker der Phantasie« sind zwangsläufig
auf die Erkenntnis gestoßen, daß die besondere Wahrheit der
Dichtung unter Umständen durch Fiktionen wiedergegeben
werden muß und durch etwas, das buchstäblich dem Lügen
entspricht; und die Absolutisten der Phantasie sind zwangs¬
läufig auf die Erkenntnis gestoßen, daß »sie menschlich sein«
muß. Das, was allein konstant und ewig bleibt, ist das Para¬
doxon selber.
Erst vor kurzem, 1967, ist Keats’ umstrittene Gleichsetzung
der Schönheit mit der Wahrheit erneut bekräftigt worden
in einem Gedicht von Paul Roche, The Function of ArtM
(Die Funktion der Kunst), und zwar mit einer nackten, um¬
gangssprachlichen Prosaik, die schließlich und endlich das
prosaische Denken zunichte macht.
»1 thought art was beautiful«, she said.
»Of course - by how it teils the truth:
Necessarily - by lying.«
(»Ich dachte Kunst ist etwas Schönes«, sagte sie.
»Natürlich - durch die Art, wie sie die Wahrheit sagt
Zwangsläufig - indem sie lügt.«)
406
Quellennachweise
Kapitel I
407
15 Mallarme: Oeuvres en prose, Genf, 1946, S. 13.
16 Ebd., S. 137.
17 Comte de Lautreamont: Oeuvres completes, Paris, 1938, SS.
303, 308.
18 Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, München und
Düsseldorf, 1953, S. 87.
19 Mon coeur mis d nu, in Oeuvres posthumes, Paris, 1908, S. 107.
20 Brief vom 4. Oktober 1887. Erste Veröffentlichung in Cahiers
de la Quinzaine, 1902.
21 Aufsätze über Guys, loc. cit., S. 248. Siehe auch Baudelaires
Essay über Wagner (ebd., S. 288): »Dichter, die sich als einzi¬
gem Führer ihrem Instinkt anvertrauen, tun mir leid. Ich halte
sie für unvollkommen.«
22 Edwin Muir: Latitudes, London und New York, 1924, S. 147.
23 Erich Heller: The Disinherited Mind, Cambridge, 1952; dt. Ent¬
erbter Geist, Berlin und Frankfurt, 1954, S. 234 f.
24 Ebd., S. 209.
25 Ebd., S. 216.
26 Culture and Anarchy, London, 1869, S. VIII.
27 Aus Rasselas. T. S. Eliot zitiert diese Passage in On Poetry and
Poets, New York und London, 1957, S. 179.
28 Probleme der Lyrik (1951), in Gottfried Benn: Gesammelte
Werke IV, Wiesbaden, 1968, S. 215.
29 Le Peintre de la vie moderne, in L’Art Romantique, S. 244.
30 Mon coeur mis d nu.
31 Fusees, letzter Eintrag.
32 A. E. Housman: The Name and Nature of Poetry, Cambridge
und New York, 1933.
Kapitel II
408
10 Neue, erweiterte Ausgabe, Hamburg, 1967.
11 Op. cit., S. 36.
12 Ebd., S. 110.
13 Ebd., S. 150.
14 Werner Vordtriede: Novalis und die französischen Symbolisten,
Stuttgart, 1963, SS. 149, 156 und passim.
15 In William Carlos Williams: Collected Later Poems, New York,
1963, S. 7. [Deutsche Übersetzung von Hans Magnus Enzens¬
berger, aus William Carlos Williams: Gedichte, Frankfurt a. M.,
1962, S. 127.]
16 ln Pictures from Breughel and Other Poems, New York, 1962,
S. 109.
17 Ebd., SS. 93-4.
18 In ELH, a Journal of English Literary History, Bd. 25, Nr. 4,
Dezember 1956, SS. 279-98.
19 Brief an Ronald Lane Latimer, 26. November 1955. Letters of
Wallace Stevens, New York, 1966; London, 1967.
20 An Samuel French Morse, 13. Juli 1949. Ebd.
21 An Barbara Church, 20. August 1951. Ebd.
22 An Ronald Lane Latimer, 22. Oktober 1935. Ebd.
23 Ezra Pound: How to Read, London und New York, 1931, SS.
17, 18.
24 Ebd., SS. 18, 19.
25 Octavio Paz: L’Arc et la lyre, Paris, 1965, SS. 46, 40-41.
26 Ebd., S. 246.
27 Ein Brief, Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Ein¬
zelausgaben, Prosa II, Frankfurt a. M., 1951, SS. 7-20.
Siehe auch Donald Davies Bemerkungen zu Hofmannsthals
Chandos-Brief in Articulate Energy, SS. 1-5.
Kapitel III
Kapitel IV
410
10 [Übersetzt nach der vom Verf. zitierten englischen Version,
Concerning Adonis, in Valery: Ttoe Art of Poetry, (engl. Ubers,
von Denise Folliot), New York und London, 1958, S. 18.]
11 Memoirs of a Poem (Fragments des memoires d’un poeme), in
The Art of Poetry, S. 120.
12 Poetry and Abstract Thought (Poesie et peusee abstraite), ebd.,
S. 105.
13 Dichtkunst und abstraktes Denken, in Valery: Zur Theorie der
Dichtkunst, übertragen von Kurt Leonhard, Frankfurt, 1962,
S. 165.
14 Fragmente aus den Memoiren eines Gedichts, ebd., S. 113, Auch
in Dichtkunst und abstraktes Denken, wo Valery davon spricht,
daß sein Gedicht Le Cimetiere Marin in ihm angefangen habe
mit einem »gewissen Rhythmus . . ., nämlich mit dem der fran¬
zösischen zehnsilbigen Verse, die in je vier und sechs Einheiten
aufgeteilt sind«.
15 Vorwort zur »Erkenntnis der Göttin«, ebd., S. 75.
16 Fragmente aus den Memoiren eines Gedichts, ebd., S. 128.
17 Poesie pure, ebd., S. 81.
18 Vorwort zur »Erkenntnis der Göttin«, ebd., S. 73.
19 Aus Melange, Paris, 1941, SS. 117-31.
20 Oxford, 1939; dt. in Zur Theorie der Dichtkunst, SS. 136fT.
21 Elizabeth Sewell: The Orphic Voice, London, 1961, SS. 288,
324-5. Siehe auch E. Sewell: Paul Valery, Cambridge, 1952.
22 Jorge Guillen: Cantico (spanisch-englischer Auswahlband), Bo¬
ston und London, 1965.
23 Jorge Guillen: Language and Poetry, Cambridge (Mass.), 1961,
SS. 207, 208-9.
24 Au Sujet d’Adonis, in The Art of Poetry, SS. 8-9.
25 Stefan George: Tage und Taten, 2. Aufl., Berlin, 1925, S. 85.
26 London, 1927.
27 Per Amica Silentia Lunae, London, 1918, SS. 22, 26, 28, 40.
27a Dieses und die beiden vorhergehenden Zitate stützen sich auf
die deutsche Übersetzung aus W. B. Yeats: Werke I, Ausge¬
wählte Gedichte, hrsg. v. Werner Vordtriede, Neuwied und
Berlin, 1970, SS. 128 ff.
28 Autobiographies, London, 1955, S. 11. The Autobiography of
William Butler Yeats, 1953, S. 7.
29 Essays and lntroductions, London und New York, 1961, S. 522.
30 Letters on Poetry from W. B. Yeats to Dorothy Wellesley, Lon¬
don, 1940, SS. 8, 119, 143, 157, 196; New York, 1940.
30a Yeats: Werke I, op. cit., S. 278.
30b Yeats: Werke I, op. cit., SS. 275 f.
30c Yeats: Werke I, op. cit., SS. 275 f.
31 Mallarme: Crise de vers, Paris, 1951,5.366.
32 Eine glänzende Darstellung dieser Voraussetzungen gibt Frank
Kermode: Romantic Image, London, 1957.
33 Einleitung zu The Oxford Book of Modern Verse (1936), S.
XXXVI.
34 Leiters to Dorothy Wellesley, S. 124.
35 Ebd., Oxford 1964, S. 113.
Kapitel V
1 Autobiographies, S. 487.
2 Riding und Graves, op. cit., SS. 227, 254-5.
3 The White Goddess, London, 1951, S. 14.
4 On the Modern Mind, in Encounter, Bd. XXIV, Nr. 5, S. 18.
5 Yeats and Fascism, in The New Statesman, 26. Februar 1965;
nachgedruckt in Excited Reverie, London, 1965.
6 In Partisan Review, Bd. XXXIII, Nr. 3, SS. 339—61.
7 Aus High Talk. Last Poems and Plays, London, 1940, S. 73;
The Collected Poems of William Butler Yeats, New York, 1956,
S. 331.
8 Essays and Introductions, SS. 339, 225, 203, 511, 526.
9 Aus Meru. A Full Moon in March, London, 1935, S. 70.
10 Autobiographies, S. 469.
11 Tel Quel II, Paris, 1943, S. 65.
12 Ebd., S. 43.
13 Regards sur le monde actuel, Paris, 1931, SS. 95, 101.
14 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techni¬
schen Reproduzierbarkeit, in Schriften, Frankfurt, 1955, Bd. I,
S. 397.
15 Regards sur le monde actuel, S. 174.
16 [Übersetzt nach der englischen Ausgabe] The Selected Writings
of Juan Ramon Jimenez, Ubers, von H. R. Hays, New York,
1957, S. 214.
17 Ebd., SS. 188, 196, 200, 202.
18 Ebd., S. 251.
19 Ebd., S. 199.
20 Frank Kermode: Puzzles and Epiphanies, London, 1962, S. 4.
21 Paris, 1956.
22 [Da der deutsche Originaltext dem Übersetzer nicht zugänglich
war, wurde diese Briefstelle aus der vom Verfasser zitierten
englischen Fassung rückübersetzt; diese stammt aus] Eudo C.
Mason: Rilke, Europe and the English-Speaking World, Cam¬
bridge, 1961, S. 13. Mason gibt einen erschöpfenden Bericht
412
über Rilkes politische Einstellungen, ihre Komplexitäten und
Widersprüche.
23 R. M. Rilke: Gesammelte Werke, Leipzig, 1927, Bd. III, S. 127.
24 Aus einem Brief, der mit Rodaun, 24. April 1927 datiert ist
und mir durch die Witwe Hofmannsthals, Frau Gerty von Hof¬
mannsthal, in einer nach dem Original gefertigten Maschinen¬
schriftkopie zugänglich gemacht wurde. Der Brief ist vermutlich
bisher sonst nirgends veröffentlicht.
25 Wallace Stevens: Opus Posthumous, New York, 1957, S. 158.
26 Wallace Stevens: The Necessary Angel, New York, 1951, SS.
31, 3°> i69> 4. 81.
27 Opus Posthumous, SS. XV, 158.
28 Ebd., SS. 160, 171, 227.
29 Ebd., S. 115.
30 The Necessary Angel, S. 116.
31 Ebd., S. 77.
32 Brief an R. L. Latimer, 31. Oktober 1935; Letters, New York,
1966, S. 289.
33 Opus Posthumous, SS. 46-52.
34 Sonette an Orpheus, Leipzig, 1923, SS. 44, 53.
35 An Robert Pack, 28. Dezember 1954. Letters, S. 863.
36 Opus Posthumous, SS. 86-8.
37 Kathleen Raine: Defending Ancient Springs, Oxf., 1967, S. 186.
186.
38 Poems 1932-54, New York, 1954, S. 152. Selected Poems 1923
- 1958, London, i960, S. 11. - [Deutsche Übersetzung aus
e. e. cummings: gediehte, deutsch von Eva Hesse, Ebenhausen
bei München, 1958, S. 12.]
39 Ebd., New York, S. 397; London, S. 56; [Ebenhausen, S. 1]
40 Ebd., New York, S. 401; London, S. 58; [Ebenhausen, S. 27.]
41 Aus On Being Asked for a War Poem, in Later Poems, London,
1931, S. 287.
42 An R. L. Latimer, 8. Januar 1935; Letters, S. 274.
Kapitel VI
413
7 Ebd., S. 244; und siehe auch S. 147.
8 London und New York, 1951, S. 14; [Übersetzung ins Deutsche
Eva Hesse, s. Ezra Pound: ABC des Lesens, Zürich, 1957, S. 17.]
9 Ebd., S. 51; [Übersetzung S. 65.]
10 Beide Urteile in Ezra Pound - A Collection of Essays (hrsg. Pe¬
ter Rüssel), London, 1950; New York, 1950 unter dem verän¬
derten Titel An Examination of Ezra Pound: A Collection of
Essays.
11 The Paris Review, Nr. 28, Sommer-Herbst, 1962, SS. 45-8; in
Writers at Work, Second Series, New York, 1963, SS. 35-59.
11a [Cantos 1916-1962, Eine Auswahl. Englisch—deutsch, hrsg. u.
übers, v. Eva Hesse, München, 1964, S. 158 f.]
12 [Ebd., SS. 190-193.]
13 E. P. Ode pour l’Election de Son Sepulcre; [Übersetzung aus
Ezra Pound: Dichtung und Prosa, Ausgewählt und übertragen
von Eva Hesse, Zürich, 1953, S. 61 ff.]
14 Mauberley 1920 I, in Ezra Pound: A Selection of Poems, London,
1940, S. 55; Toronto, 1940; [Übersetzung loc. cit., S. 71.]
15 Literary Essays of Ezra Pound, London und New York, 1954,
S. 283.
16 The Collected Essays, Journalisms and Letters of George Or-
well, New York und London, 1968, Bd. 2, S. 239.
17 The Unity of Eliot’s Poetry, in The Review, Oxford, Nr. 4, No¬
vember 1962, SS. 16-27.
18 The Literature of Politics. Auch abgedruckt in T. S. Eliot: To
Criticize the Critic, London und New York, 1965.
19 Neu abgedruckt in T. S. Eliot: On Poetry and Poets, London,
1957, SS. 89-102; New York, 1957, SS. 96-112.
20 Gottfried Benn: Gesammelte Werke, IV, Wiesbaden, 1961, S.
215.
21 Ebd., 1, Wiesbaden, 1961, S. 510.
22 Paul Valery: Memoirs of a Poem, in The Art of Poetry, Lon¬
don und New York, 1958, S. 108.
23 Benn: Gesammelte Werke, IV, S. 401.
24 Benn: Ausdruckswelt, Wiesbaden, 1949, S. 101.
25 Benn: Gesammelte Werke, IV, S. 68.
26 »Wenn es nämlich noch eine Transzendenz gibt, muß sie tierisch
sein.« Akademie-Rede, 1931, in Gesammelte Werke, I, S. 436.
27 W. H. Auden: Selected Poems, London, 1938, SS. 19-20;
Poems, New York, 1934, S. 68.
28 Remy de Gourmont: Promenades litteraires, Paris, 1919, SS.
33°-47-
29 Zitiert nach Fernando Pessoa: Poesie, portugiesisch-deutsch;
übertragen und mit einem Nachwort versehen von George Ru-
414
dolf Lind, Frankfurt a. M., 1962, SS. 138 f. [Dieser Ausgabe
wurden auch die Übersetzungen aller im Text gegebenen Poesie¬
zitate aus Pessoa entnommen; s. SS. 140, 107, 142, 49, 144, 145.]
30 Aus O Guardor de Rebanhos V, in Fernando Pessoa: Obras
completas, Lissabon, Bde. 1—5, 1951. Die Originaltexte der fol¬
genden Zitate aus Pessoas Werken unter seinen verschiedenen
Namen sind alle dieser Ausgabe entnommen.
31 Fernando Pessoa: Presentation par Armand Guibert (Poetes
d’aujourd’ hui, 73), Paris, i960, S. 209.
Kapitel VII
4M
15 Merveilles de la guerre. Ebd. [Das folgende Zitat aus La Jolie
Rousse (in Caligrammes) in der Übersetzung von Gerd Hen-
ninger, Ed. cit., S. 315.]
16 La Chanson du mal-aime. Ebd. [Übersetzung von Lothar Klün-
ner, Ed. cit. S. 79.]
17 Vorwort zu Apollinaires Auswahl aus Baudelaire, Paris, 1917.
18 Zitiert bei Margaret Davies, op. cit., S. 304.
19 Aragon: Le Creve-Coeur, London, 1942, S. 16.
20 Herbert Read: Thirty-Five Poems, London, 1940, S. 10.
21 Keith Douglas: Collected Poems, London und New York, 1967,
S. 150.
22 London, 1946; New York, 1968.
23 Keith Douglas: Collected Poems.
24 Randall Jarrell: Little Friend, Little Friend, New York, 1945.
Kapitel VIII
416
19 Hans Arp: Der gordische Schlüssel, in Gesammelte Gedichte I,
Wiesbaden, 1963.
20 Ebd., S. 153.
21 Ebd., S. 231.
22 Siehe sein Gedicht Das Rad von 1963 in German Writing Today
(hrsg. Christopher Middleton), London, 1967, S. 19.
23 Gesammelte Gedichte I, Wiesbaden, S. 248.
24 Pedro Salinas, Poesias completas, Madrid, 1955.
25 Aus Jorge Guillen: Cantico, Buenos Aires, 1950.
[Übersetzung von Ernst Robert Curtius aus Jorge Guillen:
Lobgesang, Zürich, 1952, S. 41.]
26 Erwin Walter Palm: Kunst jenseits der Kunst, Akzente j, Mün¬
chen, 1966, SS. 255-70.
27 Dieses und die folgenden Lorca-Zitate sind der zweisprachigen
Ausgabe Dichter in New York, Frankfurt, 1963, S. 92-111 ent¬
nommen. Die deutsche Übertragung stammt von Enrique Beck.
28 Brief vom Mai 1961, in The Poet’s Vocation (hrsg. William
Burford und Christopher Middleton), Austin, Texas, 1967, S.
49-
29 Hart Crane: The Collected Poems, New York, 1933.
30 Brief vom Mai 1961. The Poet’s Vocation, S. 52.
31 Ebd., SS. 67-8; Complete Poems and Selected Letters and Prose
of Hart Crane, New York, 1966, SS. 226 ff.
32 Einleitung zu The Collected Poems of Hart Crane, London,
1938, S. 15; New York, 1933.
33 Brief an Waldo Frank, 20. Juni 1926. The Poet’s Vocation, SS.
68-9; The Complete Poems and Selected Letters and Prose of
Hart Crane, S. 232.
34 The Complete Poems and Selected Letters and Prose of Hart
Crane, S. 82 f.
35 Ebd., S. 51.
36 Ebd., S. 56.
37 Ebd., S. 54.
38 Ebd., S. 110.
39 Brecht: Gedichte 7, S. 7.
40 Eugenio Montale: Ossi di Sepia, Mailand, 1925.
41 [Übersetzung aus Eugenio Montale: Glorie des Mittags (Über¬
tragen von Herbert Frenzei), München, i960]
Italienischer Text nach der italienisch-englischen Ausgabe Mon¬
tale: Poesie!Poems, Edinburgh, 1964, S. 11.
42 Ebd., S. 41.
13 Ebd., S. 49.
44 Ebd., SS. 213-15.
45 Abdruck des Originaltextes in Quarterly Review of Literature,
Annandale-on-Hudson, Bd. XV, Nr. 1/2, SS. 7-9.
417
Kapitel IX
418
30 Moja Poeszia (1965). Übersetzt ins Deutsche von Karl Dede-
cius: Ein Gedicht und sein Autor, Berlin, 1967, SS. 123-4. S.
auch SS. 121, 132, 145. [Da dieses Buch nicht rechtzeitig zu be¬
schaffen war, hat sich der Übersetzer bei allen Zitaten daraus
an den englischen Wortlaut bei M. Hamburger gehalten.]
31 Übersetzt nach der englischen Nachdichtung von Adam Czer-
niawski, in Polish Writing Today, London, 1967, S. 53.
32 Ebd., SS. 123-4. Englische Nachdichtung von Czeslaw Milosz.
33 Ebd., S. 125.
34 Aus An Address, übersetzt von Jan Darowski, ebd., S. 137.
35 Ein Gedicht und sein Autor, S. 155, 156.
36 Ausschnitte aus diesen Werken wurden vonChristopher Middle-
ton ins Englische übersetzt in seinen Pavlovic Variations, einem
weiteren Beispiel für internationale Affinitäten. London Maga¬
zine, Februar 1968.
37 Ein Gedicht und sein Autor, S. 108.
38 Collected Earlier Poems, S. 68.
39 Paterson, Buch II, New York, 1948, S. 103; London, 1964.
40 Paterson, Buch III, New York, 1949, S. 122; London, 1964.
41 Ebd., S. 132 (New Yorker Ausgabe).
42 Hans Magnus Enzensberger: poems for people who don’t read
poems, London und New York, 1968.
43 [Die englische Fassung von Richard Wilbur] — aus Andrei Voz-
nesensky: Anti-worlds, New York, 1966, S. 40 - [wurde mit¬
zitiert, da ihr die formale Nachahmung des russischen Originals
in der Reimtechnik, die im Deutschen unmöglich ist, so ausge¬
zeichnet gelingt, daß die ursprüngliche Form klar sichtbar wird.]
44 Nach der englischen Übertragung von William Jay Smith, ebd.,
S. 69.
45 Ebd., S. 97.
46 Ebd., S. 106. [Auch hier schien das Mitzitieren der englischen
Fassung wegen des Durchscheinens der originalen Versform an¬
gezeigt.]
47 Wolf Biermann: Die Drahtharfe, Berlin, 1965, SS. 69-71.
48 Peter Hüchel: Chausseen Chausseen, Frankfurt, 1963.
49 In Fortini: Una Volta per sempre, Mailand, 1963.
50 Ein Gedicht und sein Autor, S. 336.
51 Bd. 4, Nr. 8, 1964, S. 75.
52 Ebd., S. 30.
53 Ecce Homo, in David Gascoyne: Poems ipyj-42, London, 1943.
54 The London Magazine, loc. cit., SS. 78-81.
55 Ebd., S. 84.
56 In Cesar Vallejo: Twenty Poems, Madison, Minnesota, 1962,
S. 10.
419
57 7. Juni 1963, S. 407.
58 In Un Voyage ä Cythere.
59 /. Sept. 1939 in Another Time, London und New York, 1940.
1940.
60 Encouter, August 1966, SS. 77-8.
61 In Für die Mouche. Siehe Michael Hamburger: Reason and
Energy, London und New York, 1957, SS. 161-2.
Kapitel X
420
28 Charles Olson: Selected Writings, hrsg. v. Robert Creeley, New
York 1966, SS. 46, 24.
29 Einleitung zu The New Writing in the USA, London, 1967, SS.
19-20, 21, 22, 23, 24.
30 In Contemporary American Poetry, herg. v. Howard Neme-
rov, Voice of America Forum Lectures, Washington, D. C., SS.
173, 182, 183.
31 Robert Creeley, in The Review, Nr. 10, Oxford, 1964, SS. 30,
3i-
32 Edward Dorn: The North Atlantic Turbine, London, 1967;
New York, 1968.
33 Robert Duncan: The Review, loc. cit., S. 36.
34 Evergreen Review, Nr. 5, New York, 1958, S. 97.
35 In Stand, Newcastle, Bd. 9, Nr. 1, 1967, SS. 11-12.
36 Siehe James Wright: Eisenhower’s Visit to France, 1959, in The
Branch Will Not Break, Middletown, Connecticut, 1963; und
Robert Bly: Johnson’s Cabinet Watched by Ants, in The Light
around the Body, London, 1968.
37 London, 1965, SS. 7-9; New York, 1964.
38 Vgl. jedoch meine Einleitung zu Günter Grass: Poems, London,
1969.
39 Hamburg, 1963.
40 Sprachgitter, Frankfurt, 1959.
41 In Der Meridian, Frankfurt, 1961, SS. 22, 18.
42 Sprache, in Wetterzeichen, Ost-Berlin, 1966.
43 Atemwende, Frankfurt, 1967, SS. 22, 27, 103.
44 7. Dezember 1967, S. 1190.
45 S. 12.
46 Kenneth White: En toute candeur, Paris, 1964. Dieses und die
folgenden Zitate sind alle dieser Quelle entnommen worden:
SS. 10, 30, 68, 25, 23, 67, 69.
47 Aus The Cold Wind of Dawn, London, 1966.
48 Nach der englischen Übersetzung von W. H. Auden, erschienen
unter dem Titel On Poetry, New York, 1961, SS. 7, 9, 12, n.
49 Prophetie, in Gravitations, Paris, 1925.
50 Aus 1939-45, Paris, 1945.
51 Selected Poems of H. D., New York, 1957.
52 In The New Hungarian Quarterly, Bd. 8, Nr. 25, Budapest,
Frühjahr 1967, S. 23.
53 In Contemporary American Poetry, SS. 191, 196, 199.
54 P. B. Medawar: Scientific Method, in The Listener, London,
Bd. 78, Nr. 2011, 10. Dezember 1967, SS. 435, 436.
55 Edwin Muir: An Autobiography, London und New York, 1954,
S. 233.
421
56 Erich Kahler: Out of the Labyrinth, New York, 1967, SS. 173,
177, 198. Vergl. auch den Vortragsband desselben Autors The
Disintegration of Form in the Arts, New York, 1968 (dt. Die
Auflösung der Form, München, 1971), in dem seine Argumen¬
tation erweitert und vertieft ist.
57 Les Amours jaunes, Paris, 1947, S. 12.
58 Freiburg und Olten, 1965, SS. 44-5.
59 Helmut Heißenbüttel: Über Literatur, Freiburg und Olten,
1966, SS. 75, 198, 202, 231-2, 237, 223.
60 London, 1930, SS. 112-18.
61 Die Gründe für Laura Ridings Absage an die Dichtung sind in
der Tat von Bedeutung für ein Buch, das sich mit Lyrik und
Wahrheit beschäftigt - ebenso bedeutsam wie Rimbauds Ab¬
kehr von der Dichtung, oder Hofmannsthals; aber als ich diesen
Abschnitt niederschrieb, hatte ich die wenigen Angaben über
ihre Verzichterklärung, die Laura Riding seit dem Erscheinen
ihrer Collected Poems von 1938 in der Öffentlichkeit gemacht
hat, noch nicht gesehen. Ihre einführenden Worte zu einer Aus¬
wahl aus ihren Gedichten, die im Dritten Programm der BBC
am 1. April 1962 gesendet wurden, machen verständlich, warum
sie seit 1938 keinen Gedichtband mehr veröffentlicht hat:
»Die letzten Gedichte jenes Bandes waren der Abschluß einer
langen Erforschung der Möglichkeit, Worte in der Lyrik mit der
wahren Stimme und dem wahren Denken seiner selbst zu ver¬
wenden. Ich hatte leidenschaftlich daran geglaubt, daß der Weg
dazu, die Wörter in dieser Art zu verwenden, in der Lyrik ge¬
funden werden könne - ein Weg, der bis jetzt noch nirgends
völlig gefunden worden war. Aber nach 1938 fing ich an, die
Lyrik mit ganz anderen Augen zu sehen, ja sogar sie als einen
schädlichen Bestandteil unseres sprachlichen Lebens anzusehen.
. . . Die Gleichwertigkeit von Lyrik und Wahrheit, die ich her¬
zustellen versucht hatte, stand nicht im Einklang mit der Be¬
ziehung, die beide zueinander haben als - im einen Fall - Kunst
und - im anderen — Wirklichkeit. .. . Was immer ich in dieser
Richtung zustande brachte, wurde in den Strudel der poetischen
Kunstfertigkeit hineingezogen, mit ihren alles übertrumpfenden
Notwendigkeiten der rhythmischen Anordnung und des har¬
monischen Spiels der Laute - Notwendigkeiten, die der natür¬
lichen Angemessenheit von Ton und Sprache Verzerrungen an¬
tun. . . . Ich habe gelernt, daß die Sprache sich nicht natürlich
und selbstverständlich für den lyrischen Stil hergibt, sondern
daß sie vielmehr verbogen wird, wenn man sie in den lyrischen
Stil einpaßt; daß der einzige Stil, der einen natürlichen und
treffenden Gebrauch des Wortes ergeben kann, der Stil der
422
Wahrheit ist, eine Richtschnur von Wahrhaftigkeit der Stimme
und des Denkens, an der sich jedes Stückchen von dem, was
man redet, orientiert; daß um des Zieles willen, daß die An¬
wendung des Stiles der Wahrheit eine Sache der Gegenwart
werde, die Lyrik eine Sache der Vergangenheit werden muß.«
Ein Ausschnitt aus einer längeren, weniger persönlichen Stel¬
lungnahme zu demselben Thema, die den Titel Poetry and tbe
Good hat, erschien in der Zeitschrift Cbelsea (Nr. 14, New
York, Januar 1964, SS. 38-47) unter der Überschrift Furtber
on Poetry (Weiteres über die Lyrik). Hier ging Laura Riding
daran, das, was sie die »geistige Wirkungslosigkeit« der Lyrik
nennt, näher zu definieren und zu analysieren. »Sie ist eng ver¬
knüpft mit dem Anschein, der die Lyrik umgibt, als sei sie eine
Ausdrucksweise für das, was auf eine andere Weise nicht aus-
drückbar wäre, oder, besser gesagt, für das Sonst-nicht-zum-
Ausdruck-Gebrachte. Dieses Sonst-nicht-zum-Ausdruck-Gebrach-
te findet aber keinen wirklichen Ausdruck in der Lyrik. Es wird
skizziert, angedeutet, impliziert; und ein großer Teil dessen,
wofür es in der normalen Sprache des Umgangs eine explizite
Möglichkeit des Ausdrucks gäbe, erfährt dieselbe Behandlung.
Bedeutungs-Inhalt in der Lyrik ist mehr ein Gegenstand der
Vermutung als eine Sache des direkten Verstehens; und es kann
der Anschein entstehen, daß auf diese Weise viel mehr gesagt
werden könne als auf die gewöhnliche Art - es wird so sehr
viel mehr der Vermutung überlassen. Die Wirkung eines erfolg¬
reichen Ausdrückens wird durch eine Technik erzeugt, die man
die Technik der poetischen Indirektheit nennen könnte. In der
Lyrik weicht der Pfad des Wortgebrauchs zwangsläufig von
dem Pfad der natürlichen Schwierigkeiten der Sprache (die,
wenn man ihnen auf den Fersen bleibt, zum Pfade der Wahr¬
heit werden) ab, um die Linie der Kunst zu verfolgen; und die
kann gerader aussehen als die Gerade, während sie doch in
einem abweichenden Winkel weiterführt. Ein stilisiertes Ver¬
sagen im Ausdruck ist das sprachliche Herz der sakrosankten
Stellung der Lyrik. ... Da auf diese Weise weder die Dichter
noch ihre Worte je der Echtheitsprobe unterzogen werden (au¬
ßer in bezug auf die künstlich erzeugten Bedingungen der Lyrik
selbst), wird in Gedichten nichts je de facto geistig definiert,
moralisch festgelegt, sprachlich aufgelöst. Auf keinem anderen
Gebiet menschlicher Tätigkeit gibt es ein solches Maß von Hoch¬
gespanntheit der Erwartung und eine so geringe Möglichkeit,
daß etwa geschehen könnte, um diese Erwartung einzulösen . ..
Die letztendliche Wirkung der Lyrik ist die, daß sie nichts klärt,
nichts verändert.«
423
62 In mai hart lieb zapfen eibe hold, London, 1965.
63 Neuwied und Berlin, 1967.
64 Ebd., S. 111.
65 Paul Valery: Notion generale de l’art, in Nouvelle Revue
Franqaise, Paris, 1935, SS. 684-6.
66 In To Teil the Truth, London, 1967.
424
Bibliographie
Anthologien
425
Texte
426
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Personenregister
430
Carnap, Rudolf, 57 f. Eich, Günter, 373
Caroll, Lewis, 392 Eliot, T. S., 11, 26, 28, 45, 48,
Celan, Paul, 376-382, 398 5T 53- 69,71, 74 f.,78 f.,81 f.,
Cendrars, Blaise, 71, 218 f., 221, 85, 118 f., 130, 137, 144-147,
228 156-158, 162, 167-180, 188,
Cernuda, Luis, 97, 131, 389 f. 194, 196, 232-234, 241, 274-
Cezanne, Paul, 135 279, 282, 287 f., 327, 341, 343,
Char, Rene, 232, 257, 362 348, 355. 370. 381
Chesterton, G. K., 204 Eluard, Paul, 71, 205, 232, 241,
Chlebnikow, Velemir, 220 *57. 265, 320E
Cocteau, Jean, 58 Emmanuel, Pierre, 241
Coleridge, Samuel Taylor, 317 Empson, William, 55, 361 f.,
Connolly, Cyril, 230 385
Corbiere, Tristan, 65-76, 79, Enright, D. J„ 24, 340
81 f., 84, 130, 173, 343, 395 f. Enzensberger, Hans Magnus,
Corman, Cid, 371 100, 244 f., 290 f., 331-333,
Cortes-Rodrigues, Armando, 35°-352. 354. 373
196
Crane, Hart, 189, 194, 271-280, Falck, Colin, 345
355 Flint, F. S., 205-207, 209, 212
Creeley, Robert, 168, 320 f., Fortini, Franco, 312-314, 337 f.
367-371 Frank, Waldo, 274
Cummings, E. E., 148 f. Fried, Erich, 374
Friedrich, Hugo, 44-46, 59, 85
Dante, 28, 166, 284 Frost, Robert, 158, 244, 246
Davie, Donald, 37-39,42,163 f., Frye, Northrop, 342
340 Füller, Roy, 339
Davies, Margaret, 213
Day Lewis, Cecil, 241, 358 Gallarati-Scotti, Herzogin
Degas, Edgar, 46 Aumelia, 136
de Gourmont, Remy, 188 Gascoyne, David, 339, 359!.
Dehmel, Richard, 356 Gautier, Theophile, 14, 128 f.
Delacroix, Eugene, 19 George, Stefan, 22, 46, 98-101,
Dewey, John, 123 rl9. 135. H8. i53> 201, 247E,
Dobree, Bonamy, 37 f., 42 349
Donne, John, 317 Gide, Andre, 22, 230 f., 292, 297
Dorn, Edward, 369 f. Goethe, J. W. von, 26, 28, 400
Dostojewski, Fedor, 118 Goll, Yvan, 202, 355
Douglas, Keith, 233-238, 240 Göngora, Luis de, 265 f.
Drummond deAndrade, Carlos, Gourmont, Remy de, 188
309-312, 314 Grass, Günter, 374
Dryden, John, 36, 174 Graves, Robert, 100 f., 114-116,
Duncan, Robert, 168, 323 f., 204
368,372 Grenfell, Julian, 201
431
Groddeck, Georg, 281 Jacob, Max, 71, 221, 228
Guillen, Jorge, 58, 97 f., 131, James, Henry, 18
D4> 263> 396 Jammes, Francis, 215
Guillevic, Eugene, 319 Jandl, Ernst, 399-401
Gunn, Thom, 340 Jarrel'l, Randall, 237 f., 240
Gustafsson, Lars, 358 Jarry, Alfred, 392
Jessenin, Sergei Alexandro-
Hall, Donald, 166, 244, 371 witsdi, 220
Hall, J. G., 233 f. Jewtuschenko, Jewgeni, 372
Hamilton, Jan, 340 Jimenez, Juan Ramon, 131-134,
H. D. (Hilda Doolittle), 388 f. 154-156, 221
Hegel, G. W. F., 243 Johannes vom Kreuz, 176 f.
Heidegger, Martin, 311, 314 f. Johnson, Samuel, 29
Heine, Heinrich, 64, 345 f. Jones, David, 204
Heißenbüttel, Helmut, 320 f., Jouve, Pierre Jean, 257
395-402 Joyce, James, 84, 251, 264, 294,
Heller, Erich, 25-29, 53, 98 ;3i4. 374
Herbert, Zbigniew, 327 f. Jozsef, Attila, 303 f.
Hernandez, Miguel 220
Kafka, Franz, 25
Heym, Georg, 214, 232, 355
Kahlau, Heinz, 338
Hikmet, Nazim, 221
Kahler, Erich von, 393 f.
Hill, Geoffrey, 198, 340
Karpowicz, Tymoteusz, 325 f.
Hoddis, Jakob von, 71, 214, 355
Kavafis, K. P., 129, 327
Hofmannsthal, Hugo von, 22,
Keats, John, 13, 43, 57, 68, 75,
62, 85 f., 87, 89 f., 100, 104,
190, 227, 406
n8f., 121, 126-128, 132,
Kenner, Hugh, 166, 172
J3S-I39. I44f? H3. 33°
Kermode, Frank, 29, 121-123,
Hölderlin, Friedrich, 28, 40, 202,
2I4> 3°3> 331> 375. 4°° , 133
Keyes, Sidney, 233 f.
Hopkins, Gerard Manley, 177,
Kierkegaard, Sören, 28
255, 317, 321
Kipling, Rudyard, 204, 250
Horaz, 336
Klopstock, F. G., 375
Housmann, A. E., 34, 37 f.
Kolmar, Gertrud, 221
Hüchel, Peter, 335-338
Kraus, Karl, 60
Hughes, Ted, 317, 340, 363-365,
Kunert, Günter, 338 f., 350
383
Hugo, Victor, 12, 75, 223, 227 Laforgue, Jules, 65, 69, 73-84,
Hulme, T.E., 190, 202, 213, 320 93, 130, 172E, 195, 275, 343
Langer, Susanne K., 40 f., 53,
Illyes, Gyula, 390 153 f.
Ionesco, Eugene, 196 Larkin, Philip, 45, 339-341,
358 f.
Jaccottet, Philippe, 319, 321 f., Lautreamont, Comte de (Isidore
362 f., 375 Ducasse), 21
432
Lawrence, D. H., 134, 136, 182, Milton, John, 104, 165 f., 174,
215, 217, 280 277
Lear, Edward, 82, 392 Mon, Franz, 401 f.
Leavis, F. R., 404 Montaigne, M. E. de, 126
Lehmann, Wilhelm, 360 f. Montale, Eugenio, 246, 280-288
Leopardi, Giacomo, 63, 289 Moore, Henry, 244
Levertov, Denise, 371 Moore, Marianne, 304-309, 329
Lewis, Alun, 234 Morgenstern, Christian, 392
Lewis, Percy Wyndham, 203 Muir, Edwin, 24, 354-356, 361,
Leyris, Pierre 381 392
Lichtenstein, Alfred, 71, 213!., Munson, Gorham, 272 f.
355» 358
Loerke, Oskar, 360 f. Neruda, Pablo, 265, 271, 289 bis
Lorca, Frederico Garcia, 85, 97, 299» 3°3^
131, 210, 220 f., 265-272,275, Nerval, Gerard de, 16, 229
278-280, 320 f. Newbolt, Sir Henry, 204
Lowell, Robert, 364, 376 Nietzsche, 22, 42, 84, 98, 102 f.,
Luther, Martin, 250 105 f., 110, 118, 181, 187L,
190, 192 f., 200, 352, 360
MacDiarmid, Hugh, 294 Nordau, Max, 22
Machado, Antonio, 131, 221 Novalis (Friedrich von Harden¬
MacLeish, Archibald, 53, 59 berg), 48
MacNeice, Louis, 358
Majakowski, Wladimir, 154, O’Brien, Conor Cruise, 119-122
220, 246, 372 Olson, Charles, 168, 367-370,
Mallarme, Stephane, 18-20, 22, 396
Ortega y Gasset, Jose, 97
26, 36» 39_42> 46, 48 f-, 53»
Orwell, George, 172
55» 57-60» 63» 69» 73» 82-84,
Otero, Blas de, 314
92, 96, 98-100, 103, 108 f.,
Owen, Wilfred, 82 f., 110, 200,
195, 248, 273, 308, 343, 349,
205, 210, 231, 239
380
Mandelstam, Osip, 220
Palmer, Samuel, 104
Mann, Thomas, 106, 116, 332
Parra, Nicanor, 290
Marc, Franz, 211 f. Pascal, Blaise, 28, 70
Marinetti, F. T., 118, 189, 220, Pasternak, Boris, 246, 256, 372
347 Pavlovic, Miodrag, 328 f.
Medawar, P. B., 391 f. Paz, Octavio, 61 f.
Merwin, W. S., 320, 371 Peguy, Charles, 215
Meynell, Alice, 204 Pessoa, Fernando, 85,168, 188 f
Michaux, Henri, 257, 312, 385 191-198, 199, 222, 227 f.
Mickel, Karl, 338 Peyre, Henri, 10
! Middleton, Christopher, 198, Picasso, Pablo, 228, 244
34i f-> 374 Platen, August von, ico
433
Plath, Sylvia, 364, 376 Rolland, Romain, 22, 136, 202
Plato, 19, 43, 274 Romains, Jules, 202 f.
Poe, Edgar Allan, 18 f., 97, 100, Ronsard, Pierre de, 71, 222
130, 278, 349 Rosenberg, Isaac, 200, 210, 231,
Polanyi, Midiael, 117 233 f.
Ponge, Francis, 47 f., 50 f., 58, Roux, Saint-Pol, 43
133, 311 f-, 316, 319 Rozewicz, Tadeusz, 323-328,
Pope, Alexander, 174 33i f-373
Pound, Ezra, 11, 53, 60f., 69, Rückert, Friedrich, 100
71, 78, 85, 118, 124, 136, 145, Ryuichi, Tamura, 320
147, 154, 156-173, 176-178,
188, 190, 199, 202, 205, 212, Sachs, Nelly, 376
244, 252, 278, 304, 307, 327, Sainte-Beuve, C.-A., 12
341, 370, 396 Saint-John Perse, 148, 150, 384,
Prada, Manuel Gonzales, 300 390
Prevert, Jacques, 257 Salinas, Pedro, 97, 261-264
Sappho, 322
Quasimodo, Salvatore, 265, Sassoon, Siegfried, 200, 210, 231
288 f. Sartre, Jean-Paul, 12 f., 47
Schickele, Rene 202
Racine, Jean Baptiste, 174 Schiller, Friedrich von, 19
Radnoti, Miklös, 220 f. Schönborn, Joseph, 22
Raine, Kathleen, 148, 361-363 Schopenhauer, Arthur, 84, 187
Read, Herbert, 117, 202, 204, Schrödinger, Erwin, 368
207, 232 f., 240, 307 Schwitters, Kurt, 82, 257, 392,
Reid, Alastair, 294 400
Reis, Ricardo, 188 f., 196 f. Seferis, Giorgos, 129 f.
Rembrandt, 185 Sernet, 320
Reverdy, Pierre, 58 f., 71, 257 Sewell, Elizabeth, 39 f., 43, 96
Richard, I. A., 29, 37 Sexton, Anne, 364
Riding, Laura, 100 f., 114, 397 f. Shakespeare, 22, 28, 5 5 f., 107,
Rilke, Rainer Maria, 25-28, 34, 120, 185, 216, 314
46, 48 f., 53, 77, 79, 98, 100, Shelley, 104, 227, 250
118, 133-147. 149 f » H2» 157» Silkin, Jon, 340, 364 f.
177» 19I> i99-202» 234> 247» Simpson, Louis, 366, 371
292> 297> 3H» 331» 38°f- Sitwell, Edith, 82, 152, 392, 404
Rimbaud, Arthur, 10, 20 f., 45 f., Snyder, Gary, 366-369
63—65, 67, 69, 75 f., 81 f., 84, Sorley, Charles, 202, 204
210, 273, 275, 348 Spender, Stephen, 241, 358, 366
Ringelnatz, Joachim, 392 Spire, Andre, 203
Roche, Paul, 406 Stadler, Ernst, 202, 213-218,
Rodin, Auguste, 135 280, 355
Roethke, Theodore, 365 f. Stauffenberg, Claus von, 119
Rojas, Soto de, 265 Stein, Gertrude, 392, 397
434
Stevens, Wallace, 46, 52 f., 57 f., Villiers de lTsle-Adam, Jean-
98, 118, 136, 140, 142-152, Marie, 18, 20, 31, 83, 130, 349
155, 177, 273, 304, 344 Villon, Franjois, 69, 71, 174,
Stramm, August, 200, 210-212, 221 f., 250
218, 400 Vordtriede, Werner, 47 f.
Strawinsky, Igor, 244
Supervielle, Jules, 135, 385-388 Waley, Arthur, 250
Swabey, Henry, 166 Wellesley, Dorothy, ioj, 110
Swenson, May, 391 Werfel, Franz, 204, 247
Swinburne, Algernon Charles, White, Kenneth, 381-383
17 Whitehead, Alfred North, 368
Whitman, Walt, 104, 170, 272,
Thomas, Dylan, 244, 246, 339, 278, 370
Wieners, John, 320
374
Thomas, Edward, 201, 234 Wilde, Oscar, 85, 349
Toller, Ernst, 205 Williams, William Carlos, xi,
Tolstoi, Leo, 22 f., 25, 35 45, 50-53. 55. 133. 254-256,
Tomlinson, Charles, 45, 340, 260, 267, 272, 279, 329-331,
34i. 344, 37°
342
Trakl, Georg, 200, 205, 209 f., Wilson, Edmund, 267
213 {., 355 f. Wittgenstein, Ludwig, 311, 314
Tschechow, Anton, 106 Wordsworth, William, 55, 75,
96, 227, 250
Wosnessenski, Andrei, 332-334
Unamuno, Miguel de, 266 Wright, David, 350
Ungaretti, Giuseppe, 200, 208 f.,
Wright, James, 371
246, 283
Yeats, W. B., 22, 35, 38, 41, 85,
Valery, Paul, 10, 39, 59, 84 f., 87, 100-116, 118-126, 131 f.,
87-98, 100 f., 126-128, 130, 134, 136, 138, 145, 150, 152,
132, 135, 138, 181, 265, 402 f. 155 f., 200 f., 218, 234, 319,
Vallejo, Cesar, 298-303 349
Verlaine, Paul, 21, 71, 75, 100
Vildrac, Charles, 201, 203, 205 Zukofsky, Louis, 168, 369
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