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KULTUR Artikel vo m 23.0 8 .

20 13, 11:10 Uhr

Elektrochemische Maschine Mensch


Wir sind m e hr als die Sum m e unse re r Hirnf unkt io ne n – o de r? Ko nst ant in Küspe rt hat de r Frage e in T he at e rst ück ge widm e t , das am 22. Se pt e m be r
Pre m ie re hat .

Vo n Claudia Bo ckho lt, Mz

Regensburg. Ho munculus und Galvanismus, Frankenstein, Perry Rho dan und „Matrix“. Seit Jahrhunderten liebäugeln
Künstler und Wissenschaftler mit der Mö glichkeit, den Menschen aus dem natürlichen Kreislauf des Lebens
herauszureißen, ihn hinwegzuheben über die naturgegebene Existenz zwischen Geburt und To d – in der er sich ja in
nichts vo n einem Regenwurm o der einer Pusteblume unterscheidet.
Früher nannte man das Science Fictio n. Do ch die Fiktio n scheint vo n der Wissenschaft in atemberaubendem Tempo
eliminiert zu werden. Der brasilianische Arzt und Neuro wissenschaftler Miguel Nico lelis hat es gerade geschafft, über
Gehirn-Co mputer-Schnittstellen Info rmatio nen vo n einem Rattenhirn zum anderen zu übertragen. Ein Tier in Brasilien tat
etwas, was Ratten laut Nico lelis gerne tun: Mit den Schnurrhaaren die Grö ße einer Öffnung ertasten – um im No tfall vo r
der Katze flüchten zu kö nnen. Alle sinnlichen Info rmatio nen, die das Tier aufnahm, wurden mit Gehirnelektro den erfasst.
Diese Impulse wurden im Co mputer aufbereitet und an das Gehirn einer Ratte in den USA weitergeleitet. Die Ratte do rt
traf in der Mehrzahl der Fälle die grö ßere, also lebensrettende Öffnung – o hne selbst die Fühler eingesetzt zu haben. Die
Gehirne ko o perierten. Hätte man die Deco der-Ratte fragen kö nnen, o b sie die Öffnung selbst erfühlt hat, hätte sie
wahrscheinlich gesagt: „Aber klar!“
Kann m an e ine n Kuss sim ulie re n?

Vielleicht ist auch das Gehirn im Tank, mit dem sich das erste Schauspielstück am Theater Regensburg in der
ko mmenden Spielzeit befasst, irgendwann kein reines philo so phisches Gedankenspiel mehr. Ko nstantin Küspert, den
Auto r vo n „mensch maschine“, beschäftigt das Thema, seit er am Go ethe-Gymnasium die 9 . Klasse besuchte.
Ke ine Ge hirnwindung, in die Wisse nschaf t Sein Vater, früher Landgerichtspräsident in Regensburg, seit 20 11 Oberlandesgerichtspräsident in Nürnberg, erzählte ihm
no ch nicht hine inge kro che n ist . Übe r vo n den Theo rien des amerikanischen Philo so phen Hilary Putnam. Im Kern geht es um die Frage: Wie kö nnen wir
Co m put e r lasse n sich be re it s Muske ln st e ue rn eigentlich wissen, dass wir in einer „Realität“ leben? Kö nnte nicht ebenso gut alles um uns herum simuliert sein? Die
– und vie lle icht irge ndwann auch die Tastatur, auf der gerade dieser Text entsteht, keine Apparatur aus Hartplastik, so ndern eine Co mputersimulatio n, die dem
m e nschliche Wahrne hm ung. Fo t o : dpa Gehirn vo rgaukelt, gerade Tasten zu sehen und sie auch zu drücken?

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In „mensch maschine“ entführen Wissenschaftler einen Menschen, sägen ihm den Schädel auf, nehmen das Gehirn
heraus und schließen es an Sauersto ffverso rgung und Ho chleistungsrechner an. Das Gehirn liegt im Tank, der Rest des
Kö rpers wird diskret entso rgt. Die Wissenschaftler werden nicht etwa kriminell, weil sie vo n unstillbarem Fo rscherdrang
beseelt sind. Sie haben Kundschaft, der sie ihre Entwicklung verkaufen wo llen. Also eine ko mmerzielle Nutzung
künstlicher Intelligenz, die ein Menschenleben simulieren kann.
Fast jedenfalls. Denn die Maschine stö ßt zunächst do rt an ihre Grenzen, wo die Individualität ins Spiel ko mmt. Eine Fahrt
im Bus kö nnen die Rechner nachstellen, aber den Geschmack des mo rgendlichen Lieblingskaffees? Den Kuss eines
Menschen, den man liebt? Das Gehirn des Menschen fo lgt keinem simplen Ursache-Wirkung-Schema. Jede der rund 10 0
Milliarden Nervenzellen kann mit bis zu 10 0 0 0 anderen Nervenzellen in Verbindung stehen. Eine schier unendliche
Vielzahl vo n Verknüpfungen ist mö glich. Das Gehirn asso ziiert, führt Erinnerungen, Erfahrungen, Gefühle, Gedanken,
Wahrnehmungen zusammen. Eine gewaltige Ko mplexität und Ko nnexität, die – no ch – keine So ftware beherrscht.
Re ichlich m e dizinische r Fachjargo n
Ko nstantin Küsperts Theaterstück liest sich wie vo n einem Mediziner verfasst. Er hantiert ganz selbstverständlich – und
laut ärztlichem Gutachten auch vö llig ko rrekt – mit „Canalis Vertebralis“ und „Nervus vestibulo co chlearis“. Wie kriegt man
das hin, wenn man eigentlich Theaterwissenschaft, Philo so phie, Po litik und Germanistik studiert hat. „Kein Hexenwerk“,
sagt der 31-Jährige. „Wikipedia und anato mische Schautafeln“. Er gibt aber zu, dass er dazu neigt, sich in Themen
hineinzugraben. „Die Recherche hat Spaß gemacht.“
Dass seine erste Uraufführung do rt stattfindet, wo er aufgewachsen ist, das freut Küspert natürlich, ist aber auch irgendwie
Zufall. Denn der Ko ntakt zu Schauspieldirekto rin Stephanie Junge bestand scho n, bevo r sie nach Regensburg kam. Seit
De r 31-jährige T he at e raut o r Ko nst ant in Ende Juni wird für „mensch maschine“ unter der Regie vo n Sahar Amini – sie zeichnete in dieser Spielzeit scho n für
Küspe rt ist in Re ge nsburg auf ge wachse n und „Frau Müller muss weg“ verantwo rtlich – gepro bt. Premiere ist am 22. September.
arbe it e t am St aat st he at e r Karlsruhe als
Dram at urg.

Dann wird Küspert bereits am Badischen Staatstheater Karlsruhe als Dramaturg arbeiten. Do rt entsteht bis Ende März unter anderem das Pro jekt „Rechtsmaterial“ zur NSU, eine
„Annäherung an ein unfassbares Phäno men“, das Küspert gemeinsam mit Regisseur Jan-Christo ph Go ckel entwickelt. Nachdem Küspert ein abgeschlo ssenes Studium
Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin vo rzuweisen hat – und mit einem Vertrag bei Suhrkamp den Ritterschlag erhalten hat – will er auch weiterhin Stücke
verfassen. Allerdings nicht als „einsamer Auto r, der sich am Schreibtisch Genialisches aus der Gro ßhirnrinde kratzt“. Mit Regie und Schauspiel ist Küspert ebenfalls vertraut. Das
begann beim Theaterjugendclub in Regensburg, führte zur Mitgründung des Germanistentheaters an der Uni Regensburg und später unter anderem zu Claudia Bo sses
Theaterco mbinat in Wien. „Diese Zeit war extrem prägend für meine Vo rstellung vo n Theater“, sagt Küspert. Do ch sein Fazit lautet auch: „Regie ist nicht meins. Ich will kein
ko mmunikatives Zentrum sein“.
Die Zukunftsvisio n des Brasilianers Miguel Nico lelis dürfte Küspert nicht gefallen. In einem Video zu seinem erfo lgreichen Rattenexperiment blickt der Wissenschaftler in eine
ferne Zukunft, in der die Menschen das Internet hinter sich lassen und durch das „Brainnet“, direkt über ihre Gehirne, miteinander vernetzt sind.

Blo ß nicht so wicht ig ne hm e n


„Wir so llten uns nicht so wichtig nehmen“, sagt der 31-jährige Ko nstantin Küspert mit einiger Abgeklärtheit. „Die Frage, wer wir sind, ist nicht abschließend zu klären. Das spielt
aber keine Ro lle. Auch wenn es kitschig klingt: Die Erkenntnis, dass wir elektro chemische Maschinen sind, bedeutet nicht, dass es weniger wunderbar ist, eine Katze zu streicheln
o der an einer Blume zu riechen.“
Se rvice
„mensch maschine“ wird am 22. September im Theater am Haidplatz in Regensburg uraufgeführt. Inszeniert wird das Stück vo n Sahar Amini, für die Ausstattung ist Anna Schurau
verantwo rtlich. Beim Theaterfest am So nntag, 15. September, wird Ko nstantin Küspert sein Stück in einer Matinee vo rstellen. Öffentlich vo rgestellt wurde das Stück, in einer
gekürzten Werkstattinszenbierung, bislang beim „Wildwuchs“-Festival für zeitgenö ssische Dramatik in Po tsdam. Zudem hat Küspert 20 13 eine Einladung zum Heidelberger
Stückemarkt erhalten – auch o hne den Preis der Jury bereits eine gro ße Auszeichnung.

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URL: http://www.mittelbayerische.de/index.cfm?pid=10 0 22&lid=0 &cid=0 &tid=0 &pk=9 53179

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