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VL: Sprache und Kultur des Nahen und

Mittleren Ostens

Modul F3: Der Nahe und Mittlere Osten in


der Gegenwart
4.6.2018
Prof. Dr. Stefan Weninger
Bisher ...

• (Grundbegriffe)
• Sprachen verändern sich durch permanenten Sprachwandel.
Dialekte entwickeln sich auseinander; neue Sprachen entstehen
und bilden Sprachfamilien.
• Sprachen, die im Kontakt stehen, können Merkmale voneinander
übernehmen (einzelne Wörter, syntaktische Strukturen, semantische
Strukturen, ...); Sprachen gleichen sich an und werden einander
ähnlicher (Konvergenz)
• Sprache und Schrift
• Wortschatz und Kulturgeschichte
• Sprachpolitik und Sprachregelung

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Heute ...

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Thema heute:

SPRACHPFLEGE: DIE
INDIGENEN TRADITIONEN
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Sprachpflege

• Definition bei H. Glück (Metzler Lexikon Sprache):


• Sprachpflege Förderung des korrekten Sprachgebrauchs i.S. der
Beachtung der geltenden Sprachnormen und Erziehung zu einem
reflektierten Umgang mit der Spr. S. läuft oft Gefahr, der
Sprachentwicklung hinterherzulaufen und altertüml. oder elitäre
Formen zu konservieren. Anstelle einer wiss. Fundierung ist
Sprachpflege oft von subjektiven Urteilen ihrer Autoren geprägt, die
mit Vorliebe ‚Ratgeber‘ verfassen.

• [Bezug vor allem auf die europ. Situation]

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Sprachpflege

• Die arabische Grammatiktradition


• Die arabische lexikalische Tradition
• Die hebräische Grammatiktradition
• Die syrischen Grammatiker

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Die arabische Grammatiktradition

• ‫ نحو‬naḥw ‚die Grammatik‘ (im engeren Sinn: Syntax; Morphologie ist


dann ‫ صرف‬ṣarf)
• Ziel der arabischen Grammatik, wie von ar-Rummānī (gest. 384 /
994) formuliert:
• ‫ تبيين صواب الكالم من خطائه على مذھب العرب بطريق القياس‬tabyīn ṣawāb al-kalām
min ḫaṭāʾihī ʿalā maḏhab al-ʿArab bi-ṭarīq al-qiyās ‚Unterscheidung
der richtigen Rede von der falschen nach der Lehre der Araber auf
dem Weg der Schlussfolgerung‘
– Präskriptive Grammatik
– Überlieferungsbasiert
– Rationale Vorgehensweise

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• Grammatik auch Hilfswissenschaft für
– Koranexegese (tafsīr)
– Recht (fiqh)
– Wissenschaft von den Koranlesarten (qirāʾāt)
– Auslegung der Tradition (ḥadīṯ)

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Der Beginn der arabischen Grammatik

• Erste Anfänge im 2./8. Jh. schwer fassbar.


• ‫ كتاب سيبويه‬Kitāb Sībawayh ‚Sībawayhs Buch‘
• Abū Bišr ʿAmr b. ʿUṯmān b. Qanbar Sībawayh (gest. um 180/793)
• Aufbau: 574 Abschnitte
– Syntax (vor allem Probleme des Akkusativs)
– Morphologie ( ‫ أبنية‬ʾabniya ‚Schemata‘; das Wurzel-Schema-
Prinzip ist vollkommen korrekt erkannt)
– Phonetik (Vokalfärbungen; Assimilationen etc.)
• Häufig Belege (‫ شواھد‬šawāhid, wö. ‚Zeugen‘) in Form von Zitaten
aus Dichtung und Koran

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Der Beginn der arabischen Grammatik

• Probleme:
– Terminologie noch nicht fest
– Objektsprache und Metasprache nicht klar getrennt (z.B. fiʿl
‚Verb‘ oder ‚Handlung‘; ḥāl ‚Zustandsakkusativ‘ oder ‚Zustand‘
– Verschiedene Begriffe für das gleiche Phänomen (‚Pronomen‘
= ‫ عالمة المضمر‬ʿalāmat al-muḍmar, ‫ إضمار‬ʾiḍmār, ‫ ضمير‬ḍamīr, ‫اسم‬
‫ مضمر‬ism muḍmar)
• Maßstab: ‚Reine‘ Sprache der Beduinen
• Synchroner Ansatz (Beschreibung eines Sprachsystems)
• Aber auch dialektales Material verwendet (teilw. deskriptiver
Ansatz!)

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Entwicklung der arabischen Grammatik

• Kitāb Sībawayh sehr einflussreich auf die weitere


Grammatikschreibung
• Zwei angebliche „Schulen“ von Grammatikern:
– Basra: Systematisch orientiert, qiyās ‚Analogie;
Schlussfolgerung‘ im Vordergrund‘
– Kufa: An Normabweichungen interessiert; eher mit der Lösung
von Einzelfragen beschäftigt
– Der Gegensatz Basra-Kufa ist von der späteren
Geschichtsschreibung stark übertrieben worden.
• Grammatik auch quantitativ ein großer Teil des arabischen
wissenschaftlichen Schrifttums
– Z.B.: Bei F. Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums
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nimmt die Grammatik einen ganzen Band ein (Bd. IX)
Arabische Grammatik - Rezeption

• Grammatik wird in der arabischen Welt auch heute in sehr


traditioneller Weise betrieben.
• Abteilungen für Arabisch sind an arabischen Universitäten i.d.R.
sehr konservativ und kaum international.
• Arabische grammatische Lehrbücher wie die ʾĀǧurrūmīya waren
auch Quellen für europäische Arabisten des 16./17. Jh.

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Literatur zur arabischen Grammatik

• C.H.M. Versteegh: „Die arabische Sprachwissenschaft“, in:


Grundriss der arabischen Philologie II, ed. H. Gätje (1987), 147-176.
• F. Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums IX (1984). –
Nachschlagewerk.

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Die Lexika der Araber

• Die indigene arabische Lexikontradition überragt an Umfang und


Qualität alle anderen vormodernen lexikalischen Traditionen.
• Erstes Lexikon: al-Ḫalīl ibn ʾAḥmad (gest. um 791): Kitāb al-ʿAyn

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Die Lexika der Araber

• Einige der großen arabischen Lexika:


– al-ʾAzharī (gest. 980): Tahḏīb al-luġa (16 Bd.)
– aṣ-Ṣāḥib ibn ʿAbbād (gest. 995): al-Muḥīṭ fī l-luġa (11 Bd.)
– Ibn Sīda (gest. 1066): al-Muḥkam (12 Bd.)
– Ibn Sīda: al-Muḫaṣṣaṣ (17 Bd.)
– aṣ-Ṣaġānī (gest. 1252): at-Takmila wa-ḏ-ḏayl wa-ṣ-ṣila (6 Bd.)
– aṣ-Ṣaġānī: al-ʿUbāb az-zāḫir wa-l-lubāb al-fāḫir (geplante
Edition mit 28 Bd.en, unvollständig)
– Ibn Manẓūr (d. 1311): Lisān al-ʿarab (15 Bde., Beiruter Ausgabe
ed.)
– al-Murtaḍā az-Zabīdī (d. 1790): Tāǧ al-ʿarūs (40 vols., Kuwaiter
Ausgabe)
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Weitere Lexikontypen

• Lexikalische Monographien zu bestimmten semantischen Feldern


und Themen:
– Kamele (Kitāb al-ʾIbil)
– Pferde (Kitāb al-Ḫayl)
– Palmen (Kitāb an-Naḫl)
– Schafe (Kitāb aš-Šāt)
– Pflanzen (Kitāb aš-Šaǧar wa-n-nabāt)
– Vögel (Kitāb aṭ-Ṭayr)
– Körperteile des Menschen (Kitāb Ḫalq al-ʾinsān)
– Unglücksfälle (Kitāb ad-Dawāhī)
• Monographien über Wörter mit Gegensinn (Kitāb al-ʾAḍdād)

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Weitere Lexikontypen

• Sprachfehler (Kitāb al-Laḥn)


• Seltene Wörter (Kitāb an-Nawādir)
• Spezialwörterbücher (Ġarīb al-Ḥadīṯ, Ġarīb al-Qurʾān)
• Über Dual und Plural (Kitāb at-Taṯniya wa-l-ǧamʿ)

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Rezeption der arabischen Lexikographie in Europa

• Lexika der europäischen Orientalisten basierten stark, z.B. fast


ausschließlich auf den arabisch-arabischen Lexika:
• J. Golius: Lexicon Arabico-Latinum (1653)
• J. Wilmet: Lexicon Linguae Arabica (1784) – mit eigener Textarbeit
• G. W. Freytag: Lexicon Arabico-Latinum (1830-1837)
• E.W. Lane: An Arabic-English Lexicon (1863-1893)

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Die arabischen Lexika

• Vorzüge der arabischen Lexika:


– Große Literatur- und Sachkenntnis der Lexikographen
– Zahlreiche šawāhid aus Poesie, Sprichwörtern, Koran und Ḥadīṯ
– Liebe zum Detail
• Nachteile der arabischen Lexika
– Mittelalterliche Methodik, keine moderne Semantik
– Keine Unterscheidung zwischen usueller und aktueller
Bedeutung
– Normatives Idealbild einer ewigen, unwandelbaren ʿArabīya
(unrealistische Deskription)
– Keine Unterscheidung von Registern oder Textsorten

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Die arabischen Lexika

– Kein nach-omayyadisches Belegmaterial


– Prosatexte kaum berücksichtigt
– Zahlreiche Ghostwords

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Die arabischen Lexika

• Konsequenz für die moderne Arabistik:


• Die unverzichtbaren Wörterbücher von Lane und Freytag, sind zwar
überholt, aber nicht ersetzt sind, beruhen auf letztlich
mittelalterlicher Methode.

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Literatur zur arabischen Lexikographie

• R. Baalbaki: The Arabic Lexicographical Tradition (2014)


• F. Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums VIII (1982) [vor
allem als Nachschlagewerk]
• S. Wild: „Arabische Lexikographie“, in: Grundriss der arabischen
Philologie II, ed. H. Gätje (1987), 136-147.

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Weitere Gebiete der arabischen Sprachpflege

• Rhetorik (balāġa)
• Metrik (ʿarūḍ)
• Reimlehre (qawāfī)

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Die hebräische Grammatik

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Die hebräische Grammatik

• Die hebräische Grammatik ist im arabischen Raum entstanden und


hat hier ihre entscheidende Entwicklung durchgemacht.
• Hebräische Grammatik in Frankreich, Byzanz oder Mitteleuropa ist
davon beeinflusst.
• „Hebräisch“ ist für die indigene Grammatikschreibung biblisches
Hebräisch.

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Die hebräische Grammatik

• Vier Phasen der Entwicklung (nach Dan Becker in EHLL)


– Inititale Periode (900-1000.): Wenig arab. Einfluss; Saadia
Gaon; Begriff der Wurzel ( ‫ أصل‬ʾaṣl ) anders aufgefasst (allg.
zugrunde liegende Form)
– Kreative Periode (1000-1150): Massiver arabischer Einfluss;
Jehuda Ḥayyūǧ; Yona ibn Ǧanāḥ; Übernahme zahlreicher
Konzepte aus der arab. Grammatik
– Periode der Verbreitung (1150-1250)
– Periode der Stagnation (1250-1500)

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Die hebräische Grammatik

• D. Becker führt 29 Bereiche auf, in denen die arab. Grammatik die


hebräische Grammatik beeinflusst, z.B.
– ‫ مخارج‬maḫāriǧ: ‚Artikulationsorte‘ der Konsonanten:
Beschreibung direkt wie bei al-Mubarrad: al-Muqtaḍab
– Begriff der ‚Wurzel‘ ( ‫ أصل‬ʾaṣl)
– Schema ( ‫ وزن‬wazn);

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Literatur

• Dan Becker: „Grammatical Thought: Influence of the Medieval


Arabic Grammatical Tradition“, in: Encyclopedia of Hebrew
Language and Linguistics II (Leiden: Brill, 2013), 113-128

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Die syrische Grammatik

• Möglicher Anstoß: Syrische Üb. der Grammatik des griech.


Grammatik des Dionysius Thrax (2. Jh. v. Chr.) lag im 5. Jh. bereits
vor.
• Wichtige Motivation: Zahlreiche Homographen in der syrischen
Schrift

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Die syrische Grammatik

• Möglicher Anstoß: Syrische Üb. der Grammatik des griech.


Grammatik des Dionysius Thrax (2. Jh. v. Chr.) lag im 5. Jh. bereits
vor.
• Wichtige Motivation: Zahlreiche Homographen in der syrischen
Schrift
– [Anm.: Homographen (analog zu Homonym): Wörter, die in der
Konsonantenorthographie gleich geschrieben werden, die aber
unterschiedlich gesprochen werden, und unterschiedliches
bedeuten]

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Die syrische Grammatik

• Möglicher Anstoß: Syrische Üb. der Grammatik des griech.


Grammatik des Dionysius Thrax (2. Jh. v. Chr.) lag im 5. Jh. bereits
vor.
• Wichtige Motivation: Zahlreiche Homographen in der syrischen
Schrift
– [Anm.: Homographen (analog zu Homonym): Wörter, die in der
Konsonantenorthographie gleich geschrieben werden, die aber
unterschiedlich gesprochen werden, und unterschiedliches
bedeuten]
• Ab 10. Jh. Rezeption der arabischen Grammatik; Grammatiken
nach arab. Vorbild.

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