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Die Volkswirtschaft
Plattform für Wirtschaftspolitik
FOKUS
Sollen die Importe in die Schweiz
Wichtiger HINWEIS !
Innerhalb der Schutzzone (hellblauer Rahmen) darf
kein anderes Element platziert werden!
erleichtert werden?
Ebenso darf der Abstand zu Format- resp. Papierrand
die Schutzzone nicht verletzen!
Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken!
Siehe auch Handbuch
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
www. cdbund.admin.ch
EFL_Frueh_2018_VW_200x280.qxp_Layout 1 23.02.18 08:20 Seite 1
www.europaforum.ch
Bundespräsident 2018,
Vorsteher des EDI
Importzölle senken?
Die Preise sind in der Schweiz deutlich höher als im Ausland. Für Gesichts
cremes und Autos bezahlen wir deutlich mehr. Der Bundesrat will dagegen
vorgehen. Im Dezember hat er angekündigt, die Importzölle auf Industrie
güter unilateral aufheben zu wollen. Ebenfalls sollen bei exotischen Agrar
produkten wie Bananen die Zölle sinken. Entsprechende Vorlagen werden
nun ausgearbeitet.
Der Bundesrat erhofft sich Effizienzge
winne in der Höhe von einer Milliarde
Franken. Studien im Auftrag des Staats
sekretariats für Wirtschaft zeigen: Kon
sumenten und Unternehmen profitieren,
indem sie weniger für Importgüter bzw.
industrielle Vorprodukte zahlen – der
Bundeskasse entgehen hingegen Zollein
nahmen in der Höhe von 490 Millionen
Franken. Lesen Sie dazu die Beiträge in
unserem Fokus.
Neue Wege braucht es auch in der Altersvorsorge: Die Ökonomieprofessorin
Monika Bütler sagt im Interview, Länder wie Holland seien diesbezüglich
besser aufgestellt als die Schweiz. Heute müssten die Leistungen für eine
längere Lebensdauer reichen, deshalb sei entweder über ein höheres Renten
alter oder eine Senkung des Leistungsniveaus pro Jahr nachzudenken.
Und in eigener Sache: Ab sofort ist die «Volkswirtschaft» auf Twitter, Linked
in und Facebook präsent. Damit wollen wir unsere Primeure, die aktuellen Bei
träge und Hintergrundinformationen breiter streuen und einem jüngeren Ziel
publikum zugänglich machen. Also: Folgen Sie uns.
Wir wünschen Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre und freuen uns auf
den Austausch mit Ihnen.
Susanne Blank und Nicole Tesar
Chefredaktorinnen «Die Volkswirtschaft»
INHALT
Fokus
6 10 12
Handelshemmnisse stützen Industriezölle hemmen Unilateraler Zollabbau bringt
hohe Preise Wirtschaftswachstum administrative Entlastung
Larissa Müller André Müller, Sarina Steinmann Harald Meier, Miriam Frey
Staatssekretariat für Wirtschaft Ecoplan B,S,S. Volkswirtschaftliche Beratung
14 19 23
Freihandelsabkommen: Kanada, Norwegen und Zölle senken, ohne der
Verhandlungsposition nur Neuseeland machen positive Schweizer Landwirtschaft
leicht betroffen Erfahrungen zu schaden
Koen Berden, Anirudh Shingal Simon Schropp, Kornel Mahlstein Jacques Chavaz
World Trade Institute Sidley Austin LLP jch-consult
Charlotte Sieber-Gasser Martin Pidoux
Universität Luzern Hochschule für Agrar-, Forst- und
Lebensmittelwissenschaften
27 31
Der hohe Preis dafür, Auf dem Holzweg?
ein bisschen anders zu sein Die Deklarationspflicht
Stefan Meyer-Lanz, Manuel Langhart für Holzprodukte
Institut für Wirtschaftsstudien Basel
Peter Moser, Andreas Nicklisch
Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur
INHALT
Themen
b
33 40 43
SOZIALE SICHERHEIT ZWEITE SÄULE AUFGEGRIFFEN
45 48 52
WHISTLEBLOWER ARBEITSLOSENVERSICHERUNG WACHSTUM
36
«Die Politik sollte
nicht die Stimmen Spots
der Bürger kaufen»
i
IMPRESSUM ZAHLEN INFOGRAFIK
Herausgeber
Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung
und Forschung WBF,
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern
Redaktion
Chefredaktion: Susanne Blank, Nicole Tesar
Redaktion: Matthias Hausherr, Jessica Kunkler, Christian Maillard,
Stefan Sonderegger
Redaktionsausschuss
Eric Scheidegger (Leitung), Antje Baertschi, Susanne Blank,
Eric Jakob, Evelyn Kobelt, Cesare Ravara, Markus Tanner,
Nicole Tesar
Layout
Patricia Steiner, Marlen von Weissenfluh
Zeichnungen
Alina Günter, www.alinaguenter.ch
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FOKUS
6 Die Volkswirtschaft 4 / 2018
SECO
IMPORTZÖLLE
einem abgeschotteten Markt einfacher, Preise über 80 Prozent des Handelsvolumens mit Län
zu differenzieren und – im Fall der Schweiz – die dern statt, mit denen die Schweiz ein Freihan
vergleichsweise hohe Kaufkraft der Konsumen delsabkommen unterzeichnet hat. Dennoch
ten abzuschöpfen. könnte bei künftigen Verhandlungen mit poten
ziellen Abkommenspartnern die Verhandlungs
Bundesrat will Industriezölle position der Schweiz beeinträchtigt sein, weil
Industriezölle als Verhandlungspfand wegfal
aufheben
len. Eine Studie des World Trade Institute (Sei-
Der Bundesrat hat sich in den letzten Jahren te 14) kommt zum Schluss: Alternative Konzes
wiederholt mit diesen Fragen beschäftigt. Am sionen sind möglich.
20. Dezember 2017 hat er ein Massnahmenpa Zudem ermöglichen Freihandelsabkommen,
ket gegen die «Hochpreisinsel» verabschiedet.3 dass die Nullzölle dem Vertragspartner explizit
Dieses enthält einen Vorschlag zur autonomen zugesichert werden. Dies zeigt das Beispiel von
Aufhebung der Industriezölle: Importzölle sol Kanada, welches nach autonomer Aufhebung
len bei allen Gütern, ausser bei Agrarprodukten, der Industriezölle weiterhin erfolgreich Frei
Lebensmitteln und Futtermitteln, wegfallen. handelsabkommen abgeschlossen hat. Weite
Darüber hinaus will der Bundesrat die techni re Fallbeispiele bestätigen die positiven volks
schen Handelshemmnisse senken. Die entspre wirtschaftlichen Effekte eines Zollabbaus (siehe
chenden Vorlagen werden nun vorbereitet. dazu die Studie von Sidley Austin, Seite 19).
Dem Bundesrat dienten mehrere Studien,
welche das Staatssekretariat für Wirtschaft Massnahmen stärken
(Seco) in Auftrag gegeben hatte, als Entschei
Cassis-de-Dijon-Prinzip
dungsgrundlage. Eine Studie des Forschungs-
und Beratungsunternehmens B,S,S. zeigt, dass Neben den Industriezöllen haben die Studien
Unternehmen bei einer unilateralen Zollauf weitere Handelshemmnisse wie Anforderun
hebung administrativ entlastet würden (sie gen an die Produktionsweise oder die Eigen
he Beitrag auf Seite 12). Dies liegt insbesondere schaften eines Produktes (beispielsweise Ener
daran, dass für Importe unter einem Freihan gieeffizienzvorschriften bei Kaffeemaschinen)
delsabkommen die Einhaltung der sogenann sowie unterschiedliche Deklarationsvorschrif
ten Ursprungsregeln entfällt. Die Unternehmen ten (beispielsweise Allergikerinformationen
profitieren also in jedem Fall: Sie müssen weder auf Lebensmittelverpackungen) und spezifi
den Ursprung der Ware deklarieren noch Zölle sche Bewilligungs- oder Zulassungsverfahren
bezahlen. analysiert. Erstere können heute dazu führen,
Eine Aufhebung der Industriezölle führt zu dass gewisse Produkte nicht importiert wer
einer Effizienzsteigerung beim Import sowie den, weil sie die entsprechenden Vorschriften
einer Produktivitätszunahme insgesamt. Dies nicht erfüllen. Dies reduziert die Produktviel
wiederum stärkt die internationale Wettbe falt und schwächt den Wettbewerb. Vorschrif
werbsfähigkeit und den Wettbewerb im Heim ten bezüglich zusätzlicher Deklarationen oder
markt. Damit resultieren neben tieferen Preisen Bewilligungen erhöht die Importkosten dieser
auch positive Impulse für die Volkswirtschaft, Produkte.
obwohl gleichzeitig die Zolleinnahmen des Gerade im Handel mit der EU wäre ein Ab
Bundes zurückgehen. Eine Studie von Ecoplan bau dieser Hindernisse wirkungsvoll, da die
schätzt die gesamtwirtschaftlichen Effekte ge Schweiz rund 70 Prozent der Einfuhren aus
messen für das Jahr 2016 auf 860 Millionen der EU bezieht. Das von der Schweiz 2010 ein
Franken (Seite 10). geführte Cassis-de-Dijon-Prinzip beabsichtigt,
Die bestehenden internationalen Verpflich technische Handelshemmnisse aufgrund von
tungen der Schweiz im Rahmen der Welt Unterschieden zwischen dem Schweizer Pro
3 Bundesrat beschliesst
Massnahmen gegen handelsorganisation (WTO) und der Freihan duktrecht und jenem der EU gering zu halten.
Hochpreisinsel,
Medienmitteilung,
delsabkommen bleiben bei einem autonomen Für mehrere Produktkategorien bestehen je
20. Dezember 2017. Zollabbau unverändert. Derzeit finden bereits doch Ausnahmen.
8 Die Volkswirtschaft 4 / 2018
FOKUS
Studien des Instituts für Wirtschaftsstu Gründe zurückzuführen ist. Eine Studie von
dien Basel (IWSB) (Seite 27) und der Hochschule jch-consult und der Hochschule für Agrar-,
für Technik und Wirtschaft Chur (Seite 31) zei Forst- und Lebensmittelwissenschaften (Sei-
gen anhand qualitativer und quantitativer Ana te 23) zeigt: Bei Landwirtschaftsgütern besteht
lysen, dass solche Handelshemmnisse durch Handlungsspielraum für Importerleichterun
die Abschottung des Schweizer Marktes und gen, ohne dass dabei die agrarpolitischen Ziele
die damit verbundene Schwächung des Wett gefährdet würden.
bewerbs einen direkten Effekt auf die Preise in Abschliessend ist darauf hinzuweisen, dass
der Schweiz haben. In Bezug auf die Deklara auch die Preise für Dienstleistungen in der
tion von Holzprodukten und von alkoholischen Schweiz durchschnittlich 60 Prozent über dem
Süssgetränken sowie auf die Energieeffizienz europäischen Niveau liegen. Diese sind zwar im
vorschriften bei Haushaltsgeräten hat der Bun Vergleich zu Industriegütern weniger einfach
desrat beschlossen, die unterschiedlichen Re handelbar, und der Produktionsfaktor Arbeit
gulierungen über die Zeit anzupassen und die spielt eine grössere Rolle – trotzdem verdeut
Ausnahmen abzuschaffen. Für Lebensmittel en licht der Services Trade Restrictiveness Index
dete kürzlich die Vernehmlassung zur Einfüh (STRI) der OECD, dass auch hier Potenzial zu
rung eines vereinfachten Meldeverfahrens an Handelserleichterungen besteht.
stelle des heutigen Bewilligungsverfahrens.
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 9
IMPORTZÖLLE
Industriezölle hemmen
Wirtschaftswachstum
Eine komplette Abschaffung der Industriezölle in der Schweiz wirkt sich positiv auf
die Volkswirtschaft aus: Das jährliche Einkommen pro Kopf würde um 40 Franken zu
nehmen. André Müller, Sarina Steinmann
Abstract Im Jahr 2016 haben die Zölle auf Industrieprodukten 480 Millio- lichen Zollbelastung von 0,32 Prozent auf dem
nen Franken betragen. Wenn die Schweiz diese Zölle unilateral abschaffen gesamten Importwert im Industriebereich. Be
würde, profitierten die heimischen Unternehmen von tieferen Preisen für reits heute fallen nur noch auf rund 23 Prozent
ihre importierten Vorleistungen und die Konsumenten von einem tieferen der importierten Industriegüter Zölle an.
Preisniveau. Die günstigere Vorleistungsbeschaffung würde die internatio- Der autonome Abbau der Einfuhrzölle führt
nale Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Industrie verbessern. Hauptver- zu administrativen Einsparungen bei den Im
antwortlich für die positiven volkswirtschaftlichen Auswirkungen eines
porteuren im Inland, der Zollverwaltung und
Abbaus der Industriezölle wäre aber nicht der Zollabbau an sich, sondern
die damit verbundenen administrativen Einsparungen, welche die Handels- den ausländischen Exporteuren. Administra
beziehungen effizienter machen. Das Forschungs- und Beratungsunter- tive Einsparungen entstehen vor allem dann,
nehmen Ecoplan rechnet bei einem Abbau der Industriezölle mit einer Zu- wenn für eine Ware aufgrund des Zollabbaus
nahme des Bruttoinlandprodukts um 0,13 Prozent und mit einer Erhöhung der Ursprung nicht mehr mittels eines Nach
des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens um 40 Franken. weises belegt werden muss. Dies ist jeweils
für die Nutzung eines Freihandelsabkommens
notwendig. Betroffen ist rund ein Drittel der
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 11
IMPORTZÖLLE
Abstract Zollformalitäten verursachen Schweizer Importeuren von Indus- Schätzungsweise verursacht der Import von
triegütern einen administrativen Aufwand von rund einer halben Milliarde Industriegütern den Unternehmen einen admi
Franken pro Jahr. Rechnet man die Zölle und Gebühren hinzu, liegt die fi- nistrativen Aufwand von 515 Millionen Fran
nanzielle Belastung für Unternehmen bei insgesamt einer Milliarde Fran- ken pro Jahr. Diesen sogenannten Personal- und
ken. Eine Studie des Basler Beratungsunternehmens B,S,S. im Auftrag des Sachaufwand schätzten wir auf der Basis von
Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zeigt: Bei einem unilateralen Zoll- rund 13 Millionen Einfuhrzollanmeldungen, die
abbau auf Industrieprodukte könnten die Firmen administrative Kosten im
im Jahr 2016 verarbeitet wurden. Berücksichtigt
Umfang von rund 100 Millionen Franken sowie Zölle und Gebühren im Um-
fang von rund 500 Millionen Franken sparen. Die verbleibenden 400 Mil- man zusätzlich den finanziellen Aufwand – die
lionen Franken sind auf weiterhin notwendige Zollveranlagungen zurück- Zölle und Gebühren – von 480 Millionen Fran
zuführen. ken, liegt die Belastung der Unternehmen bei
insgesamt rund 1 Milliarde Franken pro Jahr.
Vergleichsweise stark schlagen beim admi
KEYSTONE
Ein Zollabbau
vereinfacht den grenz
primär aus Vereinfachungen in Zusammen überschreitenden Nebst der Entlastung auf Unternehmens
hang mit der Präferenzabfertigung und ent Handel. ebene ist auch mit einer administrativen Ent
spricht etwa einem Fünftel des aktuellen admi lastung aufseiten des Bundes zu rechnen,
nistrativen Aufwands. beispielsweise durch Erleichterungen der for
Die relativ geringe Zahl dieser direkten Nut mellen und materiellen Kontrolle anlässlich
zen und Kosten eines autonomen Zollabbaus im der Wareneinfuhr oder der nachträglichen
Vergleich zu den wegfallenden Zöllen mag auf Kontrolle der Ursprungszeugnisse. Gemäss
den ersten Blick überraschen, erklärt sich bei Schätzungen der Eidgenössischen Zollverwal
näherer Betrachtung aber vor allem aus zwei tung würden insgesamt Entlastungen im Um
Gründen: Einerseits bleibt die Notwendigkeit fang von 7 Millionen Franken pro Jahr resul
zur Zollveranlagung auch bei einem unilatera tieren.
len Zollabbau bestehen – es fällt also nur der
Mehraufwand für spezifische Verfahren der
Zollveranlagung weg. Andererseits ist das Er
gebnis auf den Umstand zurückzuführen, dass
bei importierten Gütern, die verarbeitet oder un
verarbeitet als Ware ohne Schweizer Ursprung
wieder exportiert werden, der Ursprungsnach
weis weiterhin benötigt wird. Dies ist in schät
Harald Meier Miriam Frey
zungsweise einem Viertel aller Wareneinfuhren
Jurist, Senior Projektleiter Ökonomin, Senior Projekt-
der Fall. Da die Präferenzabfertigung nicht nur bei B,S,S. Volkswirtschaft- leiterin bei B,S,S. Volks-
vergleichsweise teuer ist, sondern auch häufig liche Beratung, Basel wirtschaftliche Beratung,
Basel
vorkommt, fällt dies entsprechend ins Gewicht.
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 13
IMPORTZÖLLE
Freihandelsabkommen: Verhandlungs-
position nur leicht betroffen
Eine einseitige Zollaufhebung für Industriegüter kann die Position der Schweiz in künf
tigen Verhandlungen über Freihandelsabkommen schwächen. Da die Schweiz bereits
über ein grosses Netz an Freihandelsabkommen verfügt und sich alternative Verhand
lungstaktiken anbieten, ist der Effekt jedoch gering. Koen Berden, Anirudh Shingal,
Charlotte Sieber-Gasser
Abstract Eine Studie des World Trade Institute der Universität Bern hat im
den, um in Verhandlungen andere Zugeständ
Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) untersucht, wie sich nisse einzufordern, weist eine neuere Studie
ein unilateraler Abbau der Importzölle für Industriegüter der Schweiz auf über den schrittweisen Abbau der Importzöl
die Verhandlung zukünftiger Freihandelsabkommen auswirken würde. Ak- le für Industriegüter in Kanada (ab 2009) auf
tuell finden 84 Prozent des Schweizer Güterhandels mit Staaten statt, mit einen anderen Aspekt hin:2 Neue Freihandels
welchen bereits ein FHA besteht, und die Industriezölle sind bereits sehr abkommen erlauben es Kanada, den Partnern
tief. Aufgrund der derzeit hohen Textil- und Bekleidungszölle sowie der
die Nullzölle vertraglich zuzusichern. Zusam
wenigen Spitzenzölle im Luxussegment könnte die Verhandlungsposition
der Schweiz mit Staaten wie Indien, Brasilien und Russland geschwächt men mit potenziellen Konzessionen in der
werden. Gleichzeitig dürften andere Bereiche als alternative Zugeständ- Landwirtschaft und in zusätzlichen Handels
nisse an Bedeutung gewinnen. bereichen ermöglicht dies Kanada weiterhin,
attraktive Abkommen abzuschliessen.
KEYSTONE
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IMPORTZÖLLE
KEYSTONE
Bei einigen poten-
ziellen Freihandels-
Vorschriften und Sicherheits standards partnern der Schweiz –– Efta-Plattform: Die Schweiz verhandelt den
– für Produkte immer noch hoch sind und dominiert die Land- Grossteil ihrer FHA im Rahmen der Efta. Das
auch nach einem autonomen Zollabbau wirtschaft. Reisanbau Gewicht der Efta-Länder insgesamt könnte
in Myanmar.
den Marktzugang noch erheblich erschwe theoretisch in den Verhandlungen zukünf
ren oder de facto sogar behindern kön tiger FHA die wegfallende Verhandlungs
nen. Auch Zugeständnisse beim Zugang für masse aufgrund der abgeschafften Indus
Dienstleistungen und Investitionen bilden triezölle kompensieren. Allerdings konnten
attraktive Verhandlungselemente. wir keine Hinweise auf gegenseitige Zuge
–– Ursprungsregeln: Ursprungsregeln sind fes ständnisse zwischen Efta-Mitgliedsstaaten
ter Bestandteil von FHA. Sie legen für jede bei Verhandlungen finden, womit auch die
Warengruppe fest, ab wann diese als Ur ses Element keinen alternativen Verhand
sprungsware eines bestimmten Landes de lungstrumpf darstellt.
klariert werden kann. Die Forschung zeigt,
dass Ursprungsregeln im Zusammenhang Textilzölle für einige Länder
mit präferenziellen Zöllen ein bedeuten
relevant
des Handelshemmnis darstellen. Bei einer
einseitigen Zollaufhebung werden die Ur Insgesamt zeigt die Studie, dass eine Abschaf
sprungsregeln für den Import in die Schweiz fung der verbleibenden Industriezölle die Posi
weniger wichtig, und die damit verbundenen tion der Schweiz nur in geringem oder sogar
regulatorischen Anforderungen für Unter vernachlässigbarem Ausmass schwächen wür
nehmen entfallen teilweise oder ganz. Ur de. 84 Prozent des Güterhandels finden mit
sprungsregeln sind somit kein alternatives Staaten statt, mit welchen die Schweiz b
ereits
Verhandlungselement. über ein FHA verfügt (siehe Abbildung 2), und
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IMPORTZÖLLE
Japan übrige
Staaten
Südkorea Mexiko
Malaysia Vietnam
Brasilien
Vereinigte Ara-
bische Emirate
übrige
Wirt-
schafts-
Efta union
die Industriezölle sind bereits sehr tief. Rele der gebundenen Zölle und das gesamte Port
vant wäre ein autonomer Zollabbau hingegen folio an Zugeständnissen können für die
für Verhandlungen mit Ländern, deren Haupt Schweiz eine nützliche alternative Verhand
interesse auf dem Textil- und Bekleidungs lungsmasse darstellen.
sektor oder den einzelnen Spitzenzöllen liegt
– insbesondere aus wirtschaftspolitischer
Sicht und unter Berücksichtigung der globalen
Wertschöpfungsketten.
Potenzielle zukünftige Handelspartner
mit mittlerer bis hoher Sensitivität gegenüber
einem einseitigen Zollabbau der Schweiz sind
Indien, Brasilien, Malaysia, Vietnam, die Eu
Koen Berden Anirudh Shingal Charlotte Sieber-Gasser
rasische Wirtschaftsunion (EAWU) mit Russ PhD in Economics, PhD in Economics, PhD in Law, Senior Research
land als grösstem Staat und eine kleine Rest Director of Outreach, Senior Research Fellow, Fellow und Dozentin,
gruppe (u. a. mit der Mongolei, Pakistan, dem World Trade Institute, World Trade Institute, Universität Luzern und
Universität Bern Bern Universität St. Gallen
Iran, Moldawien und Indonesien). Die Rolle
Literatur
Berden, K., et al. (2017). Significance of Ciuriak, D., und Xiao, J. (2014). Should Cana- Davis, C. L. (2004). International Institutions Limão, N. (2007). Are Preferential Trade
Autonomous Tariff Dismantling for Future da Unilaterally Adopt Global Free Trade? and Issue Linkage: Building Support for Agreements with Non-trade Objectives a
Negotiations of Free Trade Agreements, Commissioned Study, Canadian Council of Agricultural Trade Liberalization, in: Ameri- Stumbling Block for Multilateral Liberali-
Studie im Auftrag des Seco. Chief Executives. can Political Science Review, 98(1), 153–169. zation?, in: The Review of Economic Stu-
Keohane, R. O. (1986). Reciprocity in Interna- dies, 74(3), 821–855.
tional Relations, in: International Organi-
zation,40(1), 1–27.
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Agrar- und Konsumgüter blieben hingegen un
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angetastet. Da viele Zolltarife bereits vor der Re
form niedrig waren, war die Regierung bestrebt,
vor allem sogenannte Nuisance Tariffs zu elimi Kanada
nieren. Damit sind tiefe Zollsätze gemeint, deren 0,2 Exportwachstum (im Vergleich zum Vorjahresquartal), in %
Administration mehr kostet, als die Zölle ein Beginn der Beginn der Schätzperiode
Zollabbau-
bringen. Ende 2016 waren 74 Prozent aller ent massnahmen
0,1
sprechenden Zolltarife gänzlich eliminiert, und
lediglich knapp 7 Prozent der Zölle – vornehm
OECD; BERECHNUNGEN SIDLEY AUSTIN LLP BASIEREND AUF EINER AUTOREGRESSIVE DISTRIBUTED LAG (ARDL) EVENTANALYSE / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
lich auf Textilien und Schuhwaren – verblieben 0
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IMPORTZÖLLE
Importzölle für
Bananen abschaffen?
KEYSTONE
Verteilzentrum der
Migros in Dierikon LU.
der Produktpreis bei der Zollabfertigung min lässt sich kaum mit den Prinzipien vereinbaren,
destens verdoppelt. Da sich insbesondere bei die unserer Wirtschaftspolitik zugrunde liegen.
Milch, Fleisch, Ölen und Fetten sowie Gemüse Ausserdem schränkt er den Marktzugang von
zahlreiche Zollspitzen finden, wurden diese Be Entwicklungsländern ein.
reiche genauer analysiert. In bestimmten Fällen sieht das schweizeri
Die Kontingente wurden anhand mehre sche Recht den Industrieschutz explizit vor –
rer Kriterien überprüft. Wie sich zeigt, besteht beispielsweise bei Müllereierzeugnissen: Beim
ein Vereinfachungspotenzial bei jenen Kontin Mehl beträgt dieser Schutz 20 Franken pro
genten, die nicht bewirtschaftet sind (z. B. eini 100 Kilogramm. Auch bei Nahrungsmitteln
ge Milchprodukte, Eiprodukte, Traubensaft und der zweiten Verarbeitungsstufe7 wie Speiseeis,
Hartweizen). Nicht ausgeschöpft sind die Kon Schokolade, Kleingebäck, Konfitüren und Rös
tingente bei Zuchtschweinen, bei Obst zu Most- ti etc. reicht er bis zu 120 Franken pro 100 Ki
und Brennzwecken sowie beim Wein. Hier ist logramm: Hier könnte der Schutz angesichts
es grundsätzlich möglich, den Zollschutz abzu der Zugeständnisse, die im Protokoll Nr. 2 des 7 Die zweite Verarbei-
tungsstufe wird in
bauen. Freihandelsabkommens von 1972 zwischen der Abgrenzung zur ers-
ten Verarbeitungsstu-
Die meisten Kontingente sind ausgeschöpft Schweiz und der EU und in anderen Handelsab fe definiert, welche die
und müssen entsprechend differenziert analy kommen eingeräumt wurden, systematisch auf Erstverarbeitung von
Agrarrohstoffen um-
siert werden. In diesen Fällen beeinflussen das gehoben werden, ohne dass sich dies negativ auf fasst, z. B. die Herstel-
lung von Butter, Käse,
Kontingentsvolumen und der Kontingentszoll die landwirtschaftliche Produktion auswirken Mehl, Öl, entbeintem
ansatz die Preisbildung im Schweizer Markt – würde. Fleisch.
8 Der Zollsatz für land-
und weniger der Ausserkontingentszollansatz. Zusätzlich zum expliziten Industrieschutz wirtschaftliche Ver-
arbeitungsprodukte
Das Analyseraster zeigt sogar in sensiblen Be weist die Zollstruktur auch einen weiter ver setzt sich aus einem
reichen wie beispielsweise Rindfleisch, Geflügel breiteten impliziten Industrieschutz auf. Die beweglichen Teilbe-
trag (=Agrarschutz-
und Kartoffeln, dass eine Reduktion von Zöllen ser wurde mithilfe von Indikatoren ermittelt. element), der von den
Beispielsweise beträgt der implizite Industrie Preisunterschieden der
ohne negative Auswirkungen auf die inländi Grundstoffe zwischen
sche Produktion möglich ist. schutzanteil bei Butter 53 Prozent am beweg der Schweiz und der EU
bzw. der übrigen Welt
Aus der Analyse der speziellen saisonalen lichen Teilbetrag des Zollsatzes für Verarbei abhängt, und einem
Regelung für Früchte und Gemüse geht hervor, tungsprodukte8, die Butter enthalten (siehe fixen, expliziten In-
dustrieschutzelement
dass die Kontingentszollansätze (einschliesslich Tabelle). zusammen.
während der nicht bewirtschafteten Periode)
ohne Auswirkungen auf die Produktion in der
Einseitige oder gegenseitige Massnahmen?
Schweiz aufgehoben werden könnten. Dies wür
Ein einseitiger Abbau von Zöllen kann auch schutzes für verarbeitete Agrarprodukte
de die Arbeit der Marktteilnehmer erleichtern, Auswirkungen auf die Verhandlung von ein substanzieller Spielraum beim Abbau
hätte aber nur einen geringen Effekt auf die De künftigen Freihandelsabkommen (FHA) der der beweglichen Teilbeträge, insbesondere
tailhandelspreise. Zudem besteht bei Früchten Schweiz haben, da mögliche Zugeständnis- bezüglich Butter und Milchpulver, aber auch
se als Verhandlungspfand wegfallen. Dies- bei Getreide. Drittens werden in diesem Bei-
und Gemüse ein gewisser Spielraum, die prohi
bezüglich sind jedoch drei Bemerkungen trag vielfältige Stossrichtungen zur Frage
bitivsten Ausserkontingentszollansätze zu sen anzubringen: Erstens würde eine selbst- aufgezeigt, die sich sowohl als selbststän-
ken. Mit einer weiter gehenden Reduktion des ständige «Bereinigung» gewisser Mängel dige Massnahmen als auch als bilaterale Zu-
Grenzschutzes könnte die Einfuhrregelung ver oder veralteter Elemente der Zolltarife die geständnisse ohne negative Auswirkungen
Position der Schweiz bei der Aushandlung auf die Schweizer Agrarproduktion realisie-
einfacht und die Vorhersehbarkeit verbessert eines FHA nicht schwächen. Zweitens be- ren lassen.
werden. Gleichzeitig könnte man in qualitati steht bei einer Aufhebung des Industrie-
ver Hinsicht besser auf die sich differenzierende
Nachfrage eingehen.
Impliziter Industrieschutz bei Vollmilchpulver und Butter in
Verarbeitungsprodukten
Komplexer Industrieschutz
EZV, BLW, SECO; SCHÄTZUNG DER
AUTOREN / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 25
IMPORTZÖLLE
Die beweglichen Teilbeträge könnten im Prin unterstreicht, dass auch bei als empfindlich gel
zip ohne Auswirkungen auf den Milchpreis um tenden Landwirtschaftsprodukten wie Milch,
40 bis 50 Prozent gesenkt werden. Dadurch wür Rindfleisch und Geflügel, Kartoffeln, Gemü
den die Vorleistungskosten der Branchen, die se sowie Wein ein gewisser Spielraum für Zoll
diese Produkte verwenden, und die Preise von senkungen besteht. Getreide, Ölsaaten und der
Milchschokolade und Speiseeis für die Konsu Obstanbau würden dagegen rascher auf einen
menten signifikant sinken. Insgesamt könnte der Abbau des Zollschutzes reagieren.
Industrieschutz bei rund 600 Zolltarifpositionen Auf der ersten Verarbeitungsstufe sind die
vermindert werden. Das tatsächliche Potenzial im internationalen Vergleich hohen Bruttomar
ist womöglich noch grösser, da die verfügbaren gen bei der Verarbeitung sowohl auf den Indus
Daten keine umfassende Analyse ermöglichen. trieschutz als auch auf den mangelnden Wett
bewerb zurückzuführen. Dies gilt insbesondere
Konsumenten profitieren für Ölwerke und die Butter- und Milchpulverher
stellung. In diesen Sektoren hätte ein Abbau des
Die Modellierung von einseitigen, linearen Re Industrieschutzes wahrscheinlich strukturel
duktionen von Zöllen mithilfe des Agrarsektor le Auswirkungen, wobei sich zumindest mit der
modells Capri zeigt grosse Sensitivitätsunter Zeit ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern wür
schiede zwischen den landwirtschaftlichen de. Profitieren würden hingegen die Unterneh
Teilbereichen. Nach ersten Tests mit linearen men der zweiten Verarbeitungsstufe, da sie die
Zollreduktionen konnten zwei unterschiedliche Grundstoffe zu günstigeren Preisen beschaffen
Szenarien definiert werden: Bei einer Senkung könnten.
der Zollbelastung auf Kartoffeln, Rindfleisch, Angesichts der Einschränkung der zu ana
Geflügel, Rohmilch und Butter um 25 Prozent lysierenden Massnahmen ist klar: Insgesamt
sowie bei einer Senkung der Zölle auf Tomaten, sind keine spektakulären Auswirkungen für die
Wein, Frischmilchprodukten, Rahm und Milch Konsumenten und den gesamten Wohlstand zu
pulver um 50 Prozent zeigt das Modell kleine erwarten. Dennoch können ein Abbau des In
Auswirkungen. Die Effekte liegen bei den Prei dustrieschutzes und die Aufhebung des Schut
sen zwischen 0 und –2 Prozent sowie zwischen zes von Produkten, bei denen kein Bezug zur
0 und –1 Prozent bei den Produktionsvolumen. Schweizer Landwirtschaft besteht, positive
Das zweite Szenario, bei dem die Zölle auf Auswirkungen haben. In Anbetracht der Prob
bestimmten Produkten um 75 bis 100 Prozent leme, die durch den komplexen und uneinheitli
gesenkt werden, führt – abgesehen von Ölsaa chen Zollschutz im Agrar- und Lebensmittelbe
ten und Mais (–5 und –7%) – ebenfalls nicht zu reich verursacht werden, könnte mit mehreren
einem deutlichen Rückgang der Agrarproduk kleinen Schritten getestet werden, wie das kom
tion. Die Wohlstandsanalyse zeigt je nach Sze plizierte und vielfach eher intransparente Inst
nario, dass sich die Konsumentenrente um 80 rumentarium zu vereinfachen wäre.
und 325 Millionen Franken erhöht. Demgegen
über sinken die Gewinne der Landwirtschaft
um 23 und 81 Millionen Franken.
Abstract Mit der unilateralen Übernahme des Cassis-de-Dijon-Prinzips ten mit sich. Teilweise fallen fixe Kosten durch
waren grosse Hoffnungen für Wettbewerb und Preisniveau in der Schweiz spezifische Investitionen an, indem etwa eine
verbunden. In vielen Produktbereichen existieren heute allerdings vom Kühlschrank-Sonderserie mit höherer Energie
Bundesrat festgelegte Ausnahmen, welche im Verdacht stehen, diese Ef- effizienz entwickelt werden muss. Zudem ent
fekte zu bremsen. Für die Branchen der Lebensmittel und Haushaltswaren stehen auch wiederkehrende Kosten wie etwa
hat das Institut für Wirtschaftsstudien Basel (IWSB) zusammen mit dem St.
die zusätzliche Etikettierung bei Lebensmitteln.
Galler Wirtschaftsprofessor Reto Föllmi und dem Industrieökonomen Mar-
kus Saurer in einer Studie untersucht, welche Auswirkungen eine Aufhe-
Diese Regelungen beeinflussen die Marktsi
bung der branchenspezifischen Ausnahmen brächte. Mittels quantitativer tuation in der Schweiz. Denn: Wird ein Produkt
Analysen und Experteninterviews zeigen die Autoren, dass die Fixkosten vom Cassis-de-Dijon-Prinzip ausgenommen,
für die Entwicklung einer Schweiz-spezifischen Lösung sowie die erhöhten stellt sich für einen EU-Hersteller die Frage, ob
laufenden Aufwendungen für die Etikettierung substanziell sind und die er überhaupt noch in die Schweiz exportieren
Produktvielfalt sowie den Wettbewerb negativ beeinträchtigen. Hingegen und den strengeren Vorschriften nachkommen
bringen die Ausnahmen vom Cassis-de-Dijon-Prinzip für den Konsumen-
will. Nur wenn der Markt genug Ertragspoten
tenschutz oder die Umwelt wenig, weil die Angleichung der Rechtssysteme
der Schweiz und der EU bereits weit fortgeschritten ist. zial verspricht, wird er dies tun. Kann er die Zu
satzkosten auf Vertriebspartner und Endver
braucher abwälzen, manifestiert sich dies direkt
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 27
IMPORTZÖLLE
Bewilligungspflicht für Lebensmittel doch keine weiteren Stoffe enthalten darf, wur
de die Einfuhr bewilligungspflichtig, obwohl der
Bei den Nahrungsmitteln existieren einerseits ex Käse bereits rechtmässig in Deutschland in Ver
plizite Ausnahmen. So müssen beispielsweise in kehr war. Das Bundesamt für Lebensmittelsicher
der Schweiz alkoholische Süssgetränke nebst der heit und Veterinärwesen (BLV) bewilligte den ge
Angabe des Alkoholgehalts in Volumenprozent riebenen Mozzarella schliesslich nach deutschem
zusätzlich mit «Alkoholhaltiges Süssgetränk» ge Recht – trotz den abweichenden Schweizer Vor
kennzeichnet sein, während in der EU eine An schriften.
gabe des Alkoholgehalts ausreicht. Auch bei der
unbeabsichtigten Vermischung von Allergenen Importe erschwert
wird in der Schweiz ein entsprechender Hinweis
wie zum Beispiel «Kann Spuren von Nüssen ent Die Bewilligungspflicht und die Pflicht zur Anga
halten» verlangt, während in der EU nur die ab be des Herstellungslands sowie zur Produktbe
sichtlich zugesetzten Allergene einer Deklara schreibung in einer Landessprache verhindern
tionspflicht unterstehen. Anderseits besteht eine eine starke Importkonkurrenz. Ein dämpfender
allgemeine Bewilligungspflicht für sämtliche EU- Effekt auf die Preise, welcher aufgrund eines in
Lebensmittel, welche die Schweizer Vorschriften tensiveren Wettbewerbs ausgelöst wird, kann so
nicht vollständig erfüllen und hier in Verkehr ge mit kaum entstehen.
bracht werden. Nachdem das Bewilligungsverfahren zu Be
Ein Beispiel für die allgemeine Bewilligungs ginn rege genutzt worden ist, beurteilt das BLV
pflicht ist geriebener Mozzarella aus Deutschland: seit 2014 jährlich lediglich noch rund zehn Gesu
Damit dieser nicht zusammenklebt, wird dem che (siehe Abbildung 1). Diese bescheidene Nut
Mozzarella (maximal 3 Prozent) Kartoffel- oder zung könnte das Resultat eines geringen Bedarfs
Maisstärke zugeführt. Da Käse in der Schweiz je für neue Produkte sein oder auch in der Tatsache
Die Energievor-
schriften sind in der
Schweiz teilweise
strenger als in der
EU. Etikett auf einem
Tiefkühlschrank.
KEYSTONE
begründet liegen, dass viele neue Produkte aus Abb. 1 Bewilligungsverfahren bei Lebensmitteln (2010 bis 2016)
der EU die nationalen Normen für die Inverkehr 80 Anzahl Entscheide
bringung in der Schweiz bereits erfüllen.
Die Interviews mit Branchenvertretern haben
zudem gezeigt, dass die direkten und indirekten 60
IWSB / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Den kleinen Abweichungen stehen hohe Kos
ten gegenüber. Laut Experten beeinflussen die
Ausnahmen die Produktvielfalt indirekt. Dem Marktgrösse
nach bringen Weisswarenhersteller mitunter Pro schwach
duktinnovationen auf den EU-Markt, welche die schwach Einfluss auf Menge/Preis stark
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 29
IMPORTZÖLLE
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Abstract Die Schweizer Verordnung über die Deklaration von Holz und Pflicht zur Herkunftsdeklaration gegenüber dem
Holzprodukten unterscheidet sich von der entsprechenden EU-Verord- Konsumenten besteht nicht.2
nung. Der Unterschied führt zu deutlichen Mehrkosten bei Importmö- Dieser konzeptionelle Unterschied klingt
beln. Gemäss einer Analyse von identischen Möbeln in der Schweiz und in gering, entfaltet möglicherweise aber erheb
Deutschland liegt der Preisaufschlag bei deklarierten Möbeln 14 Prozent- liche Handelshemmnisse. Um dies zu prüfen,
punkte über demjenigen von nicht deklarationspflichtigen oder ungenau haben wir eine Zufallsauswahl von Preisen
deklarierten Möbeln. Die Kosten entstehen möglicherweise dadurch, dass
für von der Deklarationspflicht betroffene und
die Schweizer Regelung einen Wechsel von Vorproduktlieferanten syste-
matisch erschwert. nicht betroffene Holzprodukte in der Schweiz
und in Deutschland verglichen (für Holzpel
lets siehe Kasten).3 Wir erfassten nur Import
1 Eidgenössisches Büro
für Konsumentenfragen
BFK: Holzdeklaration.
2 EU-Kommission (2013). 20
Europäische Holzver-
ordnung.
3 Moser und Nicklisch
(2017). Holzmärkte: 10
Ökonomische Kosten
der Ausnahmen vom
Cassis-de-Dijon-Prin- 0
zip, Studie im Auftrag
des Staatssekretariats kein Vollholz ungenau deklariert genau deklariert
für Wirtschaft (Seco). Grundgesamtheit sind 58 Preisdifferenzen für Möbel. «p» bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, dass die durchschnittlichen
4 Preisaufschlag =
(PreisCH – PreisD) / Preisaufschläge sich nicht voneinander unterscheiden (berechnet anhand eines einseitigen Wilcoxon-Mann-Whitney-
PreisD. Tests). Je kleiner der p-Wert, desto höher die Signifikanz.
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 31
IMPORTZÖLLE
KEYSTONE
Woher stammt das
Holz dieses Stuhls?
ist ein Spanplattentisch nicht deklarations Konsumenten in der er in der Schweiz 28 Franken teurer – wovon
pflichtig, da er nicht aus «Vollholz» besteht. Zu Schweiz müssen über knapp die Hälfte statistisch der Deklarations
sätzlich sind einige Möbel ungenau deklariert. die Holzart und das pflicht geschuldet ist.
Herkunftsland infor-
Dies ist etwa der Fall, wenn bei der Herkunft Was also mit guten Absichten startete,
miert werden.
beispielsweise lediglich «Asien» steht und das kommt die Konsumenten teuer zu stehen: De
genaue Land fehlt. klarierte Möbel sind teurer, vermutlich, da für
sie weniger «Freiheitsgrade» in der Produktion
Signifikanter Preisaufschlag existieren. So können Wechsel bei Holzliefe
ranten für den Schweizer Markt eine Änderung
Unsere Analyse deutet auf einen signifikan der Deklaration nach sich ziehen, wenn sich das
ten und systematischen Mehrpreis hin: Der Herkunftsland ändert, während für den EU-
relative Schweizer Preisaufschlag ist bei de Markt keine Anpassungen notwendig sind. Es
klarierten Möbeln 14 Prozentpunkte höher scheint also an der Zeit, eine Anpassung der hie
als bei nicht deklarierten und bei ungenau 5 Zurzeit sind diesbezüg- sigen Norm zu bedenken.5
deklarierten Möbeln (siehe Abbildung). Blei lich zwei Motionen im
Ständerat und im Na-
ben wir beim Buchenholzstuhl: Kostet dieser tionalrat hängig (17.3843
Flückiger-Bäni und
in Deutschland umgerechnet 100 Franken, ist 17.3855 Föhn, Gleich lan-
ge Spiesse für Schweizer
Holzexporteure gegen-
über ihrer europäischen
Holzpellets in der Schweiz teurer Konkurrenz). Sie fordern
die Übernahme der Re-
Neben der Holzdeklarationspflicht untersuchten wir mögli- gelung in der EU, welche
che Importrestriktionen für naturbelassene Holzpellets. Die- die Inverkehrsetzung
se meist stäbchenförmigen Sägenebenprodukte werden als von illegal geerntetem Peter Moser Andreas Nicklisch
Holz verhindern soll.
Brennstoff genutzt. Hier liegen die Schweizer Preise 30 Prozent Der Bundesrat hat am Professor für Volkswirt- Professor für Volkswirt-
über denen der Nachbarstaaten, obwohl man europaweit aus- 20. Dezember 2017 ent- schaftslehre und Statistik, schaftslehre und Statistik,
schliesslich Pellets handelt, die keiner Restriktion unterliegen. schieden, bei Annahme Zentrum für wirtschafts- Zentrum für wirtschafts-
Hinweise legen nahe, dass der Mehrwertsteuerausgleich und eines solchen Vorstos- politische Forschung, politische Forschung,
ses die heutige Dekla- Hochschule für Technik Hochschule für Technik
Grenzformalitäten stärkere Importe und eine Angleichung an rationsvorschrift aufzu-
und Wirtschaft Chur und Wirtschaft Chur
das internationale Niveau erschweren. heben.
Abstract Eine Studie der Universität Luzern untersuchte im Auftrag des Staats Wie reagiert das Arbeitsangebot?
sekretariats für Wirtschaft zwölf bestehende Sozialwerke hinsichtlich ihrer Auswir-
Fehlende Arbeitsanreize sind typischerweise
kungen auf das Arbeitsangebot. Für verschiedene Einkommensgruppen sowie Ju-
in tieferen Einkommensklassen ein Problem.
gendliche, Zweitverdiener und Familien wird aufgezeigt, wo die Arbeitsanreize im
Denn der Staat garantiert mit unterschied-
Zusammenspiel der unterschiedlichen Sozialwerke beeinträchtigt werden und wie
lichen Sozialtransfers wie Sozialhilfe oder
Korrekturmassnahmen aussehen könnten. Dabei zeigt sich, dass bei verschiedenen
Arbeitslosenentschädigung in jeder Lebens-
Sozialwerken Fehlanreize bestehen: So begünstigt die Altersvorsorge beispielswei-
situation ein Existenzminimum. Dadurch er-
se Frühpensionierungen und erschwert die Erwerbstätigkeit nach der Pensionierung.
höht sich der sogenannte Reservationslohn
Einer Flexibilisierung des Rentenalters zur Erhöhung des effektiven Renteneintritts-
– d. h. die minimale Lohnschwelle, unter der
alters stehen die Autoren allerdings kritisch gegenüber. Zudem sind in der IV die fi-
nanziellen Anreize für eine berufliche Wiedereingliederung gering. Denn zusätzlich eine Person nicht bereit ist, eine Beschäfti-
besteht oftmals Anspruch auf Leistungen anderer Sozialversicherungen. Um die dorti- gung aufzunehmen. Ebenso kann die indivi-
gen Arbeitsanreize zu verbessern, sollten deshalb weitere Reformen geprüft werden. duelle Wahl des Arbeitsangebots durch hö-
here Lohnbeiträge negativ beeinflusst wer-
den, da diese zu tieferen Nettolöhnen führen.
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 33
SOZIALE SICHERHEIT
troffenen immer schwieriger wird, aus der Auch nach Erreichen des ordentlichen Pen- dank grosszügigen überobligatorischen Vor-
Armut herauszukommen. Das extensive sionsalters bestehen negative Arbeitsanrei- sorgelösungen von hohen Ersatzraten, wel-
Arbeitsangebot beschreibt eine Veränderung ze: Dann erschweren hohe Grenzsteuersätze che das extensive Arbeitsangebot einschrän-
der Arbeitsmarktpartizipation. Hier geht es (u. a. aufgrund der AHV-Beitragspflicht) eine ken. Angebracht wäre hier die Reduktion der
darum, herauszufinden, inwiefern die Sozial- Verbesserung des verfügbaren Einkommens IV-Kinderrenten. Denn das Vorrenteneinkom-
werke die Entscheidung zur Aufnahme oder durch Erwerbsarbeit. Die in der Revision der men kann insbesondere in Haushalten mit
vollständigen Aufgabe einer Erwerbstätigkeit Altersvorsorge unter dem Stichwort Flexi- Kindern übertroffen werden.
beeinflussen. Sogenannte Arbeitslosigkeits- bilisierung beworbenen finanziellen Anreize
fallen sind oft auf hohe Partizipationssteuer- Einkommensschwache Personen
sätze zurückzuführen. Für die Beurteilung der Vor dem Erreichen des ordentlichen Ren-
Arbeitsanreize in den Sozialversicherungen tenalters werden die Erwerbsanreize ein-
ist letztendlich der Gesamteffekt auf das in-
Bestrebungen zur kommensschwacher Personen, die einen
tensive und extensive Arbeitsangebot ent- Flexibilisierung des Anspruch auf Ergänzungsleistungen zu AHV
scheidend. Rentenalters sind aus und IV (EL) haben, gemindert. Die Kom-
Arbeitsanreize lassen sich überdies ge- pensationsfunktion der EL setzt Anreize
mäss ihrer Ausprägung kategorisieren: Posi- Anreizsicht kritisch zum Rentenvorbezug und zum Kapitalbe-
tive Arbeitsanreize bestehen, wenn sich zu betrachten. zug aus der beruflichen Vorsorge. Dies lies-
zusätzliche Erwerbstätigkeit positiv im se sich unterbinden, wenn der Bezug von EL
Nettoeinkommen niederschlägt. Der Partizi- zur AHV an das ordentliche Rentenalter ge-
pationssteuersatz bzw. der effektive Grenz- (Rentenzu- und -abschläge bei Abweichung knüpft würde. Für den Pensionierungsent-
steuersatz liegt dann unter 100 Prozent. Liegt vom ordentlichen Rentenalter) wirken des- scheid von Personen mit tiefen Einkommen
er über 100 Prozent, spricht man von nega- halb nur eingeschränkt. Einen grösseren Ein- ist vornehmlich das ordentliche Rentenalter
tiven Arbeitsanreizen. Positive Arbeitsanrei- fluss auf die Ruhestandsentscheidung geht massgeblich. Es wirkt ein sogenannter De-
ze alleine reichen jedoch nicht in jedem Fall, indes vom ordentlichen und vom frühest- fault-Effekt. Das bedeutet, dass die Rente
um eine Arbeitsaufnahme oder eine Erhö- möglichen Rentenalter aus. 3 oft exakt beim Erreichen des Rentenalters
hung des Arbeitsangebots attraktiv zu ma- Die Arbeitsanreize während des Erwerbs- bezogen wird, ohne innerhalb der vorhan-
chen. Grund dafür sind unter anderem mit lebens sind für einkommensstarke Perso- denen Möglichkeiten gemäss den eigenen
der Arbeit verbundene zusätzliche Kosten, nen etwa durch den partiellen Steuercharak- Präferenzen zu optimieren.4 Eine Erhöhung
wie die Ausgaben für die Kinderbetreuung ter der Beiträge für die erste und die zweite des effektiven Rentenalters dürfte folglich
oder für den Arbeitsweg. Zwar positive, aber Säule beeinträchtigt. In der beruflichen Vor- eher durch eine Anhebung des ordentlichen
geringe Arbeitsanreize können deshalb eben- sorge sollten dieser und die damit verbunde- Rentenalters zu erreichen sein. Bestrebun-
falls Hürden darstellen. ne Umverteilung von Jung zu Alt eliminiert gen zur Flexibilisierung sind aus Anreizsicht
werden. Dazu sollte der Mindestumwand- kritisch zu betrachten. Von den rentenbil-
Eine zielgruppenspezifische Sicht lungssatz wenigstens gesenkt und im Ideal- denden AHV-Beiträgen bei Erwerbsarbeit
fall entpolitisiert werden. Einkommensstar- im Rentenalter wäre ein zusätzlicher, posi-
Um die Arbeitsanreize zu analysieren und den ke Bezüger einer IV-Rente profitieren ferner tiver Einfluss auf das Arbeitsangebot zu er-
Optimierungsbedarf zu identifizieren, haben warten.
wir uns für eine zielgruppenspezifische Sicht 3 Z. B. Coile (2015) für eine Übersicht zur internationalen
entschieden. Denn bei der Vielfalt an Anrei- Literatur und Lalive et al. (2017) zur Schweiz. 4 Siehe Lalive et al. (2017).
zen ist eine Gesamtaussage für alle auf dem
Arbeitsmarkt tätigen Personen weder mög-
lich noch relevant. Im Fokus stehen fünf Ziel- Kasten 2: Glossar
gruppen, die in unterschiedlichem Ausmass Die Ersatzrate entspricht dem verfügbaren bestehen, wenn eine geringe Erhöhung des
und in unterschiedlichen Lebensphasen – im Renteneinkommen in Prozent des letzten ver- Arbeitseinkommens zu einem überpropor-
Erwerbsleben sowie kurz vor und nach der fügbaren Erwerbseinkommens. tional hohen Rückgang des verfügbaren Ein-
Pensionierung – von den Anreizwirkungen Der effektive Grenzsteuersatz ermittelt den An- kommens führt (der effektive Grenzsteuersatz
teil des zusätzlichen Erwerbseinkommens, der liegt dann weit über 100%). Schwelleneffekte
der zwölf untersuchten Sozialwerke betrof- nach Erhöhung des Arbeitspensums durch Steu- entstehen etwa, wenn eine Anspruchsberech-
fen sind (siehe Kasten 1). ern, Lohnabgaben und niedrigere Transferleis- tigung auf Bedarfsleistungen (z. B. Sozialhilfe)
tungen verloren geht. Ein effektiver Grenzsteuer- endet oder Transferleistungen stufenweise re-
Einkommensstarke Personen satz von 100 Prozent bedeutet, dass das erhöhte duziert werden (z. B. Invalidenversicherung).
Arbeitspensum zu keinem Anstieg des verfügba- Von (partiellem) Steuercharakter der Sozial-
Einkommensstarke Personen sind insbeson- ren Einkommens führt. versicherungsbeiträge spricht man, wenn Bei-
dere bei ihrer Ruhestandsentscheidung mit Der Partizipationssteuersatz misst den Anteil trag und Leistung nicht oder (teilweise) ver-
beeinträchtigten Erwerbsanreizen konfron- des Erwerbseinkommens, der nach Aufnahme knüpft sind. So sind Einkommen oberhalb von
einer Erwerbstätigkeit durch Steuern, Lohnab- 84 600 Franken in der AHV nicht mehr renten-
tiert. Hohe Ersatzraten – akzentuiert durch
gaben und niedrigere Transferleistungen ver- bildend, das heisst, die AHV-Rente erhöht sich
das tiefe Mindestrücktrittsalter in der zwei- loren geht. Ein Partizipationssteuersatz von mit zunehmendem Einkommen nicht mehr.
ten Säule von 58 Jahren – erhöhen die At- 100 Prozent bedeutet demnach, dass eine bis- Dennoch besteht eine Beitragspflicht. Der
traktivität von (Teil-)Pensionierungen vor her nicht erwerbstätige Person nach Arbeits- Steuercharakter kann wie in der ersten Säule
aufnahme das gleiche verfügbare Einkommen gewollt oder wie in der zweiten Säule – auf-
Erreichen des ordentlichen Rentenalters.2 wie ohne Arbeitseinsatz aufweist. grund des überhöhten Mindestumwandlungs-
Schwelleneffekte stellen besonders gra- satzes – systembedingt sein.
2 Bütler et al. (2004). Dorn und Sousa-Poza (2005). vierende negative Arbeitsanreize dar: Sie
Im Erwerbsalter existieren für einkom- nig attraktiv macht. Zusätzlich zu den Kinder-
mensschwache Personen Fehlanreize bei der renten der IV und der beruflichen Vorsor-
Kombination von IV-Rente mit EL. Die EL er- ge richten auch die EL bei Bedarf steuerfreie
möglichen die Fortführung des bisherigen Kinder- und Zusatzleistungen aus. Bei den
Lebensstandards weitgehend ohne Abstri- Transferleistungen für Kinder besteht in die-
che. Das mindert den Anreiz zur Wiederein- sen Sozialwerken Spielraum für Leistungsan-
gliederung. Hinzu kommt ein Schwellenef- passungen. Um die Erwerbsanreize beim So-
fekt beim Ausstieg. Ausserdem bewirken zialhilfebezug zu stärken, müssen die wenig
auch die Rentenstufen innerhalb der IV Fehl- übersichtlichen, situationsbedingten Leis- Christoph A. Schaltegger
Professor für Politische Ökonomie an der
anreize. Hier bedarf es einer Reihe von Kor- tungen für Familien überprüft werden. Die Universität Luzern und Direktor des Insti-
rekturen: Solange die Höhe des EL-Grundbe- Besserstellung von kinderreichen Familien tuts für Finanzwissenschaft und Finanz-
darfs nicht diskutiert, keine höheren Einkom- mit Sozialhilfeunterstützung gegenüber an- recht der Universität St. Gallen
mensfreibeiträge gewährt werden und sich deren Haushalten in bescheidenen Verhält-
die Einführung eines stufenlosen IV-Systems nissen gilt es zu korrigieren.
weiter verzögert, wird sich die Erhöhung der
Erwerbsarbeit für viele IV-Rentenbezüger Zweitverdiener
kaum lohnen. Die stark eingeschränkten Erwerbsanrei-
ze für Zweitverdiener, meist Mütter, durch
Jugendliche und junge Erwachsene die Steuerprogression sind hinlänglich be-
Aus Anreizsicht sind Transferleistungen für kannt.5 Ausserdem bestehen ungünsti-
junge Erwachsene in zweierlei Hinsicht pro- ge Anreizwirkungen auch in der AHV: So
blematisch: Erstens schaffen sie frühzeitige sind nicht erwerbstätige Ehegatten von der
Lukas A. Schmid
Abhängigkeiten, an die sich die Hilfebezie- Beitragspflicht befreit, das Einkommens-
Wissenschaftlicher Assistent,
henden gewöhnen. Leistungen der IV, unter splitting setzt die für Ehepaare erreichbare Universität Luzern
Umständen in Kombination mit EL, stel- AHV-Rente auf höchstens 150 Prozent der
len eine bedeutende Einkommensalterna- Maximalrente fest, und die Erziehungsgut-
tive dar. Zweitens hat die Abhängigkeit von schriften werden unabhängig von der Kin-
Transferleistungen negative Auswirkungen derzahl ausbezahlt. Eine zukünftige AHV-
auf ihre Erwerbskarrieren, da sich die Wie- Reform könnte deshalb das Splitting auf
dereingliederung in den Arbeitsmarkt auf- Paare mit Kindern beschränken und die Er-
grund von IV-Rentenstufen und Schwel- ziehungsgutschriften gemäss Kinderzahl
leneffekten beim Austritt nicht lohnt. Dies- abstufen. Ebenso denkbar wären in der län-
bezüglich ist die Idee weiterzuverfolgen, geren Frist die Einführung einer zivilstands-
IV-Renten für unter 30-Jährige durch ver- unabhängigen AHV sowie eine grundlegen-
stärkte Betreuungs- und Eingliederungs- de Reform des Kinder- und Familiensubven- Patrick Leisibach
massnahmen zu ersetzen. tionssystems zur besseren Vereinbarkeit von Wissenschaftlicher Assistent,
Universität Luzern
Bei den EL und in geringerem Ausmass Beruf und Familie.
auch in der Sozialhilfe müsste zur Stärkung Berechtigterweise würde heute kaum je-
der Erwerbsanreize eine Senkung des Grund- mand die geschaffenen Sozialwerke infra-
Literatur
bedarfs ins Auge gefasst werden. Ausserdem ge stellen. Es gilt jedoch, die damit verbun- Bütler, M. (2007). Arbeiten lohnt sich nicht – ein
sollte man ein nach Bezugstyp differenziertes denen Anreizwirkungen im Auge zu behal- zweites Kind noch weniger. Zu den Auswirkungen
einkommensabhängiger Tarife auf das (Arbeitsmarkt-)
Sozialhilfesystem diskutieren, bei dem der ten. Bestehende Anreize, die vom Eintritt in Verhalten der Frauen, in: Perspektiven der Wirtschafts-
Grundbedarf für kinderlose junge Erwachse- den Arbeitsmarkt oder von Zusatzverdiens- politik 8(1): 1–19.
ne geringer ist als der von älteren Leistungs- ten abhalten, sind idealerweise zu korrigie- Bütler, M., Huguenin, O. und Teppa, F. (2004). What
Triggers Early Retirement? Results from Swiss Pension
beziehenden. Im Gegenzug könnten höhe- ren. Wie unsere Übersichtsstudie zeigt, gibt Funds. Working Paper. University of Lausanne.
re Integrationszulagen für erfolgreiche An- es diesbezüglich durchaus Potenzial. Doch Coile, C. C. (2015). Economic Determinants of Workers’
Retirement Decisions, in: Journal of Economic Surveys
strengungen zur beruflichen Integration die Realisierung bewegt sich oft in einem so- 29(4): 830–853.
ausgerichtet werden. zialpolitischen Trilemma: Will man mit ver- Dorn, D. und Sousa-Poza, A. (2005). The Determinants
of Early Retirement in Switzerland, in: Swiss Journal of
tretbarem Mitteleinsatz sowohl Arbeitsanrei- Economics and Statistics 141(2): 247–283.
Einkommensschwache Familien ze schaffen als auch Schwelleneffekte min- Lalive, R., Magesan, A. und Staubli, S. (2017). Raising
the Full Retirement Age: Defaults vs. Incentives.
Einkommensschwachen Familien wird beim dern, führt meist kein Weg an einem tieferen Working Paper.
IV-Bezug eines Elternteils eine umfangrei- Niveau der sozialen Sicherheit vorbei. Leisibach, P., Schaltegger, C.A. und Schmid, L. A.
(2018). Arbeitsanreize in der sozialen Sicherheit.
che finanzielle Absicherung gewährleistet, Überblicksstudie im Auftrag des Staatssekretariats
die eine Rückkehr in die Erwerbstätigkeit we- 5 Z. B. Bütler (2007). für Wirtschaft SECO.
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 35
«Im politischen Prozess bin ich durchaus
für Frauenquoten.» Monika Bütler vor ihrem
Büro an der Uni St. Gallen.
Frau Bütler, in welchem Alter hören Sie mit Die Finanzierung der längeren Lebensdauer Man will das Rentenalter zwischen 62 und
der Erwerbstätigkeit auf? ist damit allerdings noch immer nicht gelöst. 70 Jahren flexibilisieren. Kann das unser
(lacht) Ich werde wahrscheinlich nie ganz Wir haben nach wie vor eine Umverteilung Arbeitsmarkt überhaupt aufnehmen?
aufhören. Vielleicht werde ich später nichts zuungunsten der Jungen. Bisher profitierten Alle bisherigen Untersuchungen haben ge-
mehr verdienen, aber ich bin gerne aktiv. Al- immer nur die Alten von höheren Renditen. zeigt, dass der Arbeitsmarkt eine Erhöhung
lerdings habe ich bereits ein bisschen redu- Es wäre besser, die Umwandlungssätze her- des Rentenalters absorbieren kann. Das hat
ziert und bin nur noch zu 50 Prozent an der abzusetzen und dafür Mechanismen einzu- auch für die Schweiz gegolten, als sie 1997
HSG. Ich habe gemerkt, dass es nicht gesund führen, damit Jung und Alt von guten finan- das Rentenalter der Frauen von 62 auf 64 er-
ist, mit Mitte fünfzig jede Woche 70 Stunden ziellen Verhältnissen der Kasse profitieren. höht hat. Je mehr Erwerbsjahre verbleiben,
zu arbeiten. desto einfacher ist es, eine Stelle zu finden.
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 37
SOZIALPOLITIK
Ohne direkte Demokratie ist es natürlich viel Die Kosten sind in den letzten 15 Jahren ex- Wer ist es dann?
einfacher, ein höheres Rentenalter durchzu- plodiert. Was lief schief? Teuer sind diejenigen in der Mitte, die sich
setzen. Gute Beispiele sind die nordischen Die Ergänzungsleistungen sind faktisch zu eigentlich selber finanzieren könnten, es aber
Länder. Politischen Druck gibt es allerdings einer Pflegeversicherung mutiert. Das ist eine nicht tun. Wer Gelder aus der zweiten Säu-
immer. So ist Deutschland wieder einen Möglichkeit, um die Pflege zu finanzieren – le bezogen hat, sollte daher die ganzen Er-
Schritt zurückgegangen. Das effektive Ren- und vielleicht nicht einmal die allerdümm- sparnisse aufbrauchen müssen, bevor er Er-
tenalter ist in den meisten Ländern wegen ste. Zudem werden immer mehr Leute pen- gänzungsleistungen beziehen kann. Gemäss
der stark reduzierten Leistungen für Früh- sioniert, die Unterbrüche in ihrer Karriere unseren Berechnungen würde diese Mass-
pensionierungen gestiegen. In vielen euro- hatten, später in die Schweiz gekommen sind nahme die Kosten für diese Art von Ergän-
päischen Ländern wie Italien oder Deutsch- oder längere Zeit im Ausland waren. Letztlich zungsleistungen bereits halbieren.
land stieg durch die Reformen auch die Al- bin ich mit Herrn Berset bis zu einem gewis-
tersarmut. In der Schweiz existiert ein relativ sen Grad einverstanden, dass die Anreize in Der sogenannte Pension Gender Gap –
starker Konsens, dass wir Altersarmut in Zu- der zweiten Säule, das Kapital zu beziehen, zu der geschlechterspezifische Unterschied
kunft vermeiden möchten. mehr Ergänzungsleistungen führen. zwischen den Altersrenten – ist in der
Schweiz sehr hoch. Warum hält sich das
Wie stehen andere Länder bezüglich der klassische Rollenmodell in der Schweiz so
Altersvorsorge da? hartnäckig?
Einige Länder sind inzwischen besser auf- «Eine generelle Quote Beim Gender Gap muss man unterscheiden:
gestellt als die Schweiz. In Holland hat man lehne ich ab.» Frauen aus dem Mittelstand, die ihr ganzes
sogar die laufenden Renten in der berufli- Leben verheiratet waren, geht es im Ruhe-
chen Vorsorge gesenkt. Es gibt dort einen stand besser als allen anderen – selbst wenn
ganz klaren Anpassungsmechanismus: Diese Möglichkeit muss also eingeschränkt sie keine Kinder hatten und nicht gearbei-
Wenn der Deckungsgrad unter eine be- werden? tet haben. Sie haben die höchste AHV-Rente
stimmte Grenze fällt, dann werden die Bei- Je mehr ich darüber forsche, desto weniger und erhalten ab dem Alter von 45 Jahren und
träge erhöht und die Leistungen gekürzt. befürworte ich eine Einschränkung. Denn nach mindestens 5 Ehejahren eine volle Ren-
Es gilt dort Opfersymmetrie, das heisst, es sie trifft die Ärmsten am meisten: Es trifft die te aus beiden Säulen, ohne noch arbeiten zu
müssen beide Seiten zur Sanierung beitra- Kranken mit einer kürzeren Lebenserwartung müssen. Auf der anderen Seite fahren allein-
gen. und Leute, die nur 100 000 oder 200 000 erziehende oder geschiedene Frauen, die er-
Franken Pensionskassenkapital haben und werbstätig waren, oft schlechter. Teilweise
Das eidgenössische Parlament wird die sich zum ersten Mal etwas leisten könnten. gilt das auch für alleinstehende Männer. Das
Revision der Ergänzungsleistungen beraten. Die sind nicht die teuersten. hängt mit dem Familienmodell zusammen:
Wir versichern heute in den Sozialversiche- zwischen Frauen- und Männerlöhnen be- stehen Quoten von 30 Prozent im Ver-
rungen Ehe statt Betreuungsarbeit und Er- trägt laut Bundesamt für Statistik 7,4 Pro- waltungsrat und 20 Prozent für die Ge-
werbstätigkeit. Das muss sich ändern. zent. Der Bundesrat schlägt vor, dass Unter- schäftsleitung. Diese Regelung soll befristet
nehmen mit 50 oder mehr Angestellten alle werden. Was sind die Erfolgsaussichten?
Wie soll das geschehen? vier Jahre die Lohngleichheit prüfen und die Quoten, die sich ein Unternehmen selbst
Beispielsweise sollte man den Koordinations- Resultate der Belegschaft bekannt machen setzt: unbedingt! Das gilt natürlich auch für
abzug proportional zur Arbeitstätigkeit aus- müssen. Was halten Sie davon? die Bundesverwaltung. Eine generelle Quote
gestalten oder sogar ganz streichen. Die spä- Ich bin da skeptisch. Bereits ein Teil der er- lehne ich ab, weil dadurch die Vertragsfreiheit
teren Renten sollten an die Betreuungsarbeit klärbaren Lohnunterschiede geht auf unter- verletzt wird.
und die Erwerbstätigkeit geknüpft werden schiedliche Chancen zurück. Zum Beispiel:
und nicht an den Ehestand. Wenn eine Frau in einem Betrieb keine Wei- Es wird argumentiert, dass Frauen die
terbildung erhält, hat sie nachher weniger Kultur in Entscheidungsgremien verändern.
Lohn als ein gleich qualifizierter Mann, der in Das sehe ich auch so. Allerdings bedeuten
«Wir versichern heute der Weiterbildung war. Das gilt dann als er- Quoten alleine noch keine steigende Diver-
klärbare Differenz. Lohnkontrollen führen sität. Frauen, die durch Quoten in die Gre-
Ehe statt Betreuungs zwar dazu, dass man bei den unerklärbaren mien kommen, unterscheiden sich in ihren
arbeit und Erwerbs Differenzen etwas hellhöriger wird. Gleich- Wesensmerkmalen oft stärker von den Frau-
tätigkeit.» zeitig sind aber damit die aus meiner Sicht en in der Bevölkerung als von den Männern in
ebenso wichtigen, aber «erklärbaren» Lohn- den Gremien. Quoten sind zudem ein Feigen-
unterschiede vom Tisch. blatt: Eine Firma mit zwei bis drei Frauen in
Hält sich das traditionelle Familienmodell unwichtigen Positionen in der Geschäftslei-
auch deshalb, weil die Kinderbetreuungs- Das tangiert die Chancengleichheit? tung steht formal besser da als eine, die sich
möglichkeiten nicht genügen? Genau. Dennoch: Transparenz bei den Löh- wirklich um die Gleichstellung kümmert, die
Ich denke, die heutigen Kinderbetreuungs- nen führt dazu, dass die Personalverant- Quote aber noch nicht erreicht hat.
möglichkeiten sind nicht Ursache, sondern wortlichen tatsächlich etwas besser hin-
Spiegel unseres Familienmodells. Schliesslich schauen. Das habe ich selber erlebt. Durch Es geht sehr langsam vorwärts.
entscheiden sich auch Leute für das traditio- die Lohnkontrollen entsteht allerdings zu- Diskussionen bringen am meisten. Im poli-
nelle Modell, die keine Mühe hätten, die Krip- sätzliche Bürokratie. Wenn das Lohnrepor- tischen Prozess bin ich durchaus für Quo-
penkosten zu bezahlen. ting einfach durchführbar und somit auch ten. Denn die Politik sollte die Bevölkerung
für die Firmen hilfreich ist, könnte ich da- abbilden. Und hier sind die Erfahrungen mit
Typische Frauenberufe werden immer noch mit leben. Quoten gut. Es gibt Studien aus Italien und
schlechter entlohnt als typische Männer- Schweden, wo die Parteien gezwungen wa-
berufe. Warum wählen Mädchen solche Viele Länder haben eine Frauenquote ein- ren, jedem Geschlecht mindestens 40 Pro-
Berufe? geführt. Was sind die Erkenntnisse daraus? zent der Listenplätze zu gewähren. Da-
Die Präferenzen sind tatsächlich unterschied- Sie sind ernüchternd. In Norwegen hat die durch ist nicht nur die Anzahl der Frauen
lich. Das bisherige Frauen- und Familienbild Frauenquote zwar mehr Frauen in Verwal- gestiegen, sondern auch die durchschnittli-
führt dazu, dass Entlohnung und Aufstiegs- tungsräte gebracht, aber nicht mehr Lohn- che Qualifikation der gewählten Personen –
möglichkeiten bei der Berufswahl der Mäd- gleichheit, keine besseren Beförderungs- Männer und Frauen.
chen tendenziell die kleinere Rolle spielen als möglichkeiten und keine Chancengleichheit.
bei den Buben. Vielleicht weil sie sich eher als
Zweitverdienerinnen sehen. Das Parlament debattiert in diesem Jahr
auch über eine Quote für börsenkotierte
Die Lohngleichheit steht seit 1981 in der Gesellschaften mit mehr als 250 Mit- Interview: Susanne Blank,
Verfassung. Die nicht erklärbare Differenz arbeitenden in der Schweiz. Zur Diskussion Co-Chefredaktorin «Die Volkswirtschaft»
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 39
ZWEITE SÄULE
Abstract Die sozialdemografischen Perspektiven sowie die Zinssituation an den Ka- sorgeeinrichtungen aufgrund der derzeitigen
pitalmärkten erschweren es den Vorsorgeeinrichtungen seit Jahren, ihre Leistun- Zinssituation und des demografischen Um-
gen im obligatorischen Teil zu finanzieren. Dieser Teil, der durch das Bundesgesetz felds nicht längerfristig gewähren können. Die
über die Berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) definiert ist, am 24. September 2017 von den Stimmbür-
enthält verschiedene regulatorische Auflagen, die mit der Realität nicht mehr über- gern abgelehnte Altersreform 2020 wollte die-
einstimmen. Mit der Ablehnung der Altersreform 2020 konnte das Problem nicht sem Umstand entgegenwirken: Was sind die
entschärft werden. Daher besteht ein mögliches Umverteilungsrisiko vom nicht re- Konsequenzen für die zukünftigen Renten?
gulierten Teil der Vorsorge zugunsten der BVG-Renten. Eine Datenauswertung des Es kann vermutet werden, dass die Aus-
Schweizer Haushalt-Panels (SHP) zeigt erstmals, dass in der Vergangenheit keine Um- wirkungen nicht für alle Versicherten gleich
verteilungseffekte stattgefunden haben. Das Potenzial dazu ist allerdings hoch. Die gross sind. Ein Grund dafür liegt darin, dass
Ergebnisse zeigen ferner, dass das sozialpolitisch angestrebte Renteneinkommen das BVG nur einen Teilbereich der Erwerbs-
(AHV plus berufliche Vorsorge) von 60 Prozent des letzten Lohns in der Vergangen- einkommen der Arbeitnehmenden abdeckt.
heit ziemlich gut erfüllt war. Viele Unternehmen bieten freiwillige Vorsor-
gelösungen an, die über das BVG-Minimum
hinausgehen. In diesem Bereich sind sie an
BVG-Obligatorium Überobligatorium BVG-Obligatorium Überobligatorium zur Folge, dass jemand mit einem Lohn über
Mittelwert 80% 77% 70% 56% 84 600 Franken eine Rente erhalten würde,
Median 56% 37% 26% 29% welche in Relation zu seinem letzten Einkom-
men tiefer liegt als die Rente von jemandem
AUTOREN
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 41
ZWEITE SÄULE
s icherzustellen.4 Die Auswirkungen einer sol- Noch keine Umverteilungs Die Analyse führt zur Schlussfolgerung,
chen Umverteilung würden sich darin äus- effekte sichtbar dass die Vorsorgeeinrichtungen bisher noch
sern, dass BVG-Versicherte eine höhere Rente keine Umverteilung vom Überobligatorium
im Verhältnis zu ihrem letzten Lohn aufwei- Wie die Analyse zeigt, finden sich rund ins BVG vorgenommen haben. Ein möglicher
sen als solche im Überobligatorium. 70 Prozent aller Gelder im Überobligatorium Grund könnten das Abwarten der Abstim-
und 30 Prozent im BVG (siehe Abbildung 1). mung zur Altersreform 2020 sein oder die pa-
Analyse mit Haushalt-Panel Im Durchschnitt der Jahre 2002 bis 2015 blieb ritätische Vertretung von Arbeitnehmenden
dieses Verhältnis ziemlich konstant. Das und -gebenden im verantwortlichen Gre-
Um schätzen zu können, wie hoch das Risiko Potenzial für mögliche Umverteilungen ist mium der Vorsorgeeinrichtung.
einer Umverteilung vom Überobligatorium ins somit enorm. Da die Zahl der Arbeitnehmen- Da aus politischer Sicht in näherer Zu-
BVG ausfällt, muss der Anteil der Erwerbsein- den im BVG und im Überobligatorium etwa kunft eine drastische Senkung von Umwand-
kommen im BVG respektive im Überobligato- gleich gross ist, wäre etwa die Hälfte aller lungs- und Mindestzinssatz wohl kein Thema
rium bekannt sein. Zudem muss man den An- Versicherten von möglichen Umverteilungs- mehr sein wird, könnten die Vorsorgeeinrich-
teil der Arbeitnehmenden kennen, die ihre effekten negativ tangiert (siehe Abbildung 2). tungen versucht sein, solche Umverteilun-
Löhne ausschliesslich im BVG bzw. zusätzlich Wie hoch ist die Rente im Vergleich zum gen in Betracht zu ziehen. Wie gezeigt, ist das
im überobligatorischen Bereich verdienen. Da- Lohn vor der Pensionierung? Die Verteilung Potenzial dafür hoch.
raus kann man ableiten, welcher Anteil an Er- der Rentenhöhe zum letzten Lohn vor der
werbseinkommen direkt von politischen Ent- Pensionierung haben wir für die Jahre 2002
scheidungen abhängig ist. Leider liefern die bis 2015 zunächst unter Einbezug der AHV-
Pensionskassenstatistik und andere öffentlich Rente berechnet.6 Dabei zeigt sich: Im Me-
verfügbare Quellen dazu keine Informationen. dian beträgt das Verhältnis 56 Prozent, so-
Ebenfalls unbekannt ist, wie hoch das mit konnten die sozialpolitisch angestrebten
Renteneinkommen im Verhältnis zum letzten 60 Prozent des BVG beinahe erreicht werden
Erwerbslohn ausfällt und wie gross die Unter- (siehe Tabelle). Hingegen kommen Personen,
schiede zwischen jenen Personen sind, deren die mit ihren Löhnen im Überobligatorium
Löhne im Überobligatorium respektive im liegen, generell weniger gut weg als die BVG- Yvonne Seiler Zimmermann
BVG liegen. Eine Datenanalyse des Schweizer Versicherten. Dies bestätigt sich auch sta- Professorin für Banking und Finance,
Haushalt-Panels (SHP) liefert erstmals Ant- tistisch anhand des sogenannten Wilcoxon- Institut für Finanzdienstleistungen IFZ,
Hochschule Luzern
worten auf diese Fragen.5 Das Panel beruht Mann-Whitney-Tests.
auf einer zufallsgezogenen Stichprobe von Betrachtet man nur das Verhältnis zwi-
Haushalten in der Schweiz, welche jährlich schen Renten aus der beruflichen Vorsor-
über ihre Einkommenssituation und andere ge mit dem letzten Lohn – also ohne AHV –,
soziale Faktoren befragt werden. Die Unter- so findet sich kein signifikanter Unterschied
suchung beschränkt sich auf die Jahre 2002 zwischen den Verteilungen. Somit ist das
bis 2015, wobei nur Arbeitnehmende berück- Renten-Lohn-Verhältnis jener Personen, die
sichtigt wurden. Pro Jahr liegen durchschnitt- einen Lohn im Überobligatorium verdienen,
lich rund 3000 Beobachtungen vor. etwa gleich hoch wie bei denjenigen Perso-
nen, deren Lohn tiefer oder beim BVG-Maxi-
mum liegt. Heinz Zimmermann
4 Bei einer Unterdeckung ist gemäss BVG eine Sanierung Professor für Finanzmarkttheorie,
unausweichlich. 6 Hier sind nur diejenigen Arbeitnehmenden einbezogen, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät
5 Die Daten werden vom Schweizer Kompetenzzentrum welche in einem Folgejahr in Rente gingen (357 Perso- (WWZ), Universität Basel
Sozialwissenschaften (Fors) veröffentlicht. nen).
Künstliche Intelligenz:
Viele Hürden sind zu nehmen
Gesichtserkennung, maschinelle Übersetzung, fahrerlose Fahrzeuge, musizierende
Roboter, lernfähige und fühlende Androiden: Medienberichte zur künstlichen
Intelligenz (KI) suggerieren oft, bei vielen Anwendungen stehe ein Durchbruch
kurz bevor. Kein Wunder, wird es manchen Menschen angst und bange angesichts
von Meldungen wie «Fortschritt in noch nie gekanntem Tempo» und «Globale Um
wälzungen».
Es ist unbestritten: KI hat das Potenzial einer sogenannten Basisinnovation.
Darunter versteht man bahnbrechende Entwicklungen, welche ganze
Branchen und Volkswirtschaften durchdringen und die gesamtwirtschaft
liche Produktivität wesentlich beeinflussen. Typische Beispiele sind die
Dampfmaschine, die Elektrifizierung, Computer und Informations- und Tele
kommunikationstechnologien (ICT). Trotzdem dürften breitenwirksame
Durchbrüche bei der künstlichen Intelligenz noch in weiter Zukunft liegen.
Denn eine technische Möglichkeit zur Automatisierung von Arbeitsschritten
bedeutet nicht, dass der Arbeitsprozess tatsächlich automatisiert wird. Schon
immer setzten gesellschaftliche, betriebswirtschaftliche und rechtliche Über
legungen dem technisch Machbaren Grenzen.
Hinter vielversprechenden Umbrüchen steht zunächst knochenharte Grund
lagenforschung. Dabei birgt das Prinzip von «Versuch und Irrtum» immer
auch das Risiko des Scheiterns. Damit eine auf Grundlagenforschung fussende
Technologie Verbreitung findet, ist ergänzend angewandte Forschung und
damit die Entwicklung von kommerzialisierbaren Anwendungslösungen er
forderlich. Diese Prozesse setzen unternehmerische Risikobereitschaft voraus
und sind zeitaufwendig. Es gibt Experten, die beispielsweise davon ausgehen,
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 43
dass bis zum flächendeckenden Durchbruch von selbstfahrenden Fahrzeugen
noch Jahrzehnte verstreichen werden.
Dies kann nicht erstaunen. Die Adaptierung und der Einsatz von neuen Techno
logien setzen einen erheblichen Kapitaleinsatz in physische Infrastruktur wie
Produktionsanlagen, Geräte und Laboratorien voraus. Zudem muss auch in
Humankapital (Forschung, Engineering, Ausbildung) und in immaterielle Be
reiche wie Organisationsentwicklung und Marketing investiert werden. Des
halb hängt die Entscheidung, ob ein Betrieb eine neue Technologie einführt,
stets auch von deren Anschaffungs- und Unterhaltskosten im Vergleich zum
Abschreibungsbedarf bestehender Anlagen ab. Ein Unternehmen wird sich
nur für die neue Technologie entscheiden, wenn sich die Investition betriebs
wirtschaftlich rechnet. Dies ist von Firma zu Firma, von Branche zu Branche
und von Land zu Land sehr unterschiedlich – je nach aktueller technologischer
Ausstattung und regulativem Umfeld.
Ein weiterer Faktor, der die Breitenwirkung von neuen Technologien beein
flusst, sind gesellschaftliche Werte und rechtliche Hürden. Dabei geht es nicht
nur um Sicherheits- und Haftungsfragen, sondern auch um Datenschutz,
die Fachkräftesituation, soziale und ethische Normen sowie individuelle
Präferenzen. So sind beispielsweise Pflegeroboter in japanischen Spitälern
willkommen, während man bei uns darüber noch die Nase rümpft.
Eric Scheidegger
Dr. rer. pol., Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik,
Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern
eric.scheidegger@seco.admin.ch
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 45
WHISTLEBLOWER
BARRY CALLEBAUT
Prozent der eingehenden Meldungen rele-
vant und gehaltvoll sind. Mit anderen Wor-
ten: Über die Hälfte der Meldungen spricht
einen Compliance-relevanten Missstand
Schweizer Grossunternehmen verfügen mehr-
oder ein Fehlverhalten an (siehe Abbildung heitlich über eine Meldestelle für Whistle-
2). Demgegenüber erweisen sich 46 Prozent dungen erweisen sich für den Betrieb der blower. Mitarbeiter des Schokladenherstellers
der Meldungen als nicht relevant. Darunter Meldestelle in der Regel als unproblematisch Barry Callebaut mit Sitz in Zürich.
fallen all diejenigen Hinweise, die zwar ohne und können mit begrenztem Aufwand an die
missbräuchliche Absicht abgegeben wer- zuständige Kontaktstelle (beispielsweise an
den, aber von ihrer Thematik bei der Melde- die Personalabteilung oder den technischen ist – breiter Adressatenkreis, viele Melde-
stelle an der falschen Adresse sind. Beispiele Unterhalt) weitergeleitet werden. kanäle –, desto höher ist der Anteil rele-
dafür sind Beschwerden bezüglich des Füh- Wie können Unternehmen die Zahl der vanter Meldungen. Darüber hinaus können
rungsstils eines Vorgesetzten oder Hinwei- relevanten Meldungen erhöhen? Die ver- Unternehmen den Anteil an relevanten In-
se auf technische Betriebsprobleme. Solche tiefenden Analysen zeigen auch hier: Je nie- formationen steigern, indem sie offen und
aus Compliance-Sicht nicht relevanten Mel- derschwelliger eine Meldestelle konzipiert breit über die Meldestelle kommunizieren.
Abb. 2: Relevante und missbräuchliche Schutz bei Meldung von Missständen am Arbeitsplatz
Meldungen In einigen Staaten sind ge- schützt Whistleblower vor Dis- Regulierung ab. Vorgesehen ist
wisse Unternehmen gesetz- kriminierung und Kündigung und ein dreistufiges Kaskadenprinzip,
3,2% lich dazu verpflichtet, interne unterstützt durch eine Stufen- wonach Arbeitnehmende ver-
Meldestellen anzubieten – so regelung insbesondere internes pflichtet sind, Unregelmässig-
BLUMER ET AL. (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Es empfiehlt sich, auch über die öffentliche gegen der weitverbreiteten Befürchtung zeitnah abgeschlossen würden. Dies wür-
Firmenwebsite auf die Meldestelle aufmerk- führt die Zusicherung von Anonymität zu de sowohl für die Unternehmen als auch die
sam zu machen. keinem Anstieg an missbräuchlichen Mel- potenziellen Whistleblower die Rechtssi-
dungen: Mehr als die Hälfte der Grossunter- cherheit erhöhen. Wichtig ist hierbei, dass
Aussage 4: «Meldestellen werden für nehmen bietet ihren Hinweisgebenden die eine Lösung gefunden wird, die auch für
gezieltes Anschwärzen missbraucht» Möglichkeit, ihre Meldungen anonym ein- KMU umsetzbar ist.
Der wohl am häufigsten geäusserte Vor- zureichen; bei den KMU ist dies bei gut
behalt gegenüber Meldestellen ist die Be- einem Drittel der Fall.
fürchtung, Whistleblower könnten das Ins-
trument missbräuchlich verwenden – etwa Firmen sind der Politik voraus
für falsche oder verleumderische Meldun-
gen, die einzelnen Mitarbeitenden oder Während in der Schweiz weiterhin um ein
dem Unternehmen gezielt schaden sollen. Whistleblowing-Gesetz gerungen wird,
Die Ergebnisse der Befragung zeigen je- haben die Unternehmen in den vergange-
doch: Nur 3 Prozent der Meldungen können nen Jahren bereits konkrete Schritte unter-
als missbräuchlich eingestuft werden. So- nommen. Mit über der Hälfte relevanter Helene Blumer
mit fördert die Einrichtung einer Meldestel- Meldungen und nur einem geringen An- Wissenschaftliche Mitarbeiterin,
Schweizerisches Institut für Entrepreneur-
le keine «Kultur des Denunzierens». teil missbräuchlicher Meldungen erweisen ship, Hochschule für Technik und Wirt-
Wie können Unternehmen die Zahl der sich Meldestellen für Unternehmen als ein schaft Chur
missbräuchlichen Meldungen verringern? effektives Instrument zur Aufdeckung und
Die statistischen Auswertungen zeigen, Prävention von Missständen. Darüber hi-
dass die Meldestelle weniger häufig miss- naus werden viele der gegen Meldestellen
braucht wird, wenn Unternehmen deutlich geäusserten Bedenken in der unternehme-
kommunizieren, dass und auf welche Wei- rischen Praxis nicht bestätigt.
se die Whistleblower vor Repressalien ge- Damit das Instrument seine Wirksamkeit
schützt werden. Es ist zu vermuten, dass noch besser entfalten kann, wäre es wün-
dieser Schutz vor Repressalien als Quali- schenswert, dass die seit nunmehr 15 Jahren
tätsmerkmal einer Meldestelle wirkt. Ent- laufenden gesetzgeberischen Bemühungen
Christian Hauser
Literatur Professor für Allgemeine Betriebs-
ACFE (2016). 2016 Global Fraud Study. PWC (2017). Global Economic Crime Survey 2016. wirtschaftslehre und Internationales
Blumer, H., Dahinden, U., Francolino, V., Hauser, C. Schweizer Parlament (2013). Entwurf zur Änderung Management am Schweizerischen Institut
und Nieffer, R. (2017). Whistleblowing Report 2018, des Art. 321a OR. Schutz bei Meldung von für Entrepreneurship der Hochschule für
Meldestellen in Schweizer Unternehmen, Chur. Unrechtmässigkeiten am Arbeitsplatz, Nr. 13.094, Technik und Wirtschaft Chur
20.November 2013.
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Die Volkswirtschaft 4 / 2018 47
ARBEITSLOSENVERSICHERUNG
DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Jobs für Hochqualifizierte 0,06
DIE VOLKSWIRTSCHAFT
0,05
von konjunkturellen Schwankungen betrof-
fen: Bei einer regionalen Wirtschaftsflaute
werden Personen ohne Ausbildung häufig zu- 0,025
erst entlassen. Falls dann Unternehmen in an- 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014
deren Regionen gleichzeitig neue Stellen für
Keine überobligatorische Ausbildung Berufliche Grundbildung Höhere Berufsbildung Hochschule
diese Gruppe schaffen, steigt der regionale
Mismatch.
Am stärksten vom regionalen Mismatch
sind Hochschulabsolventen betroffen. Dies
hat mit einem geografischen Faktor bei An- Abb. 3: Beruflicher Mismatch nach Bildungsgruppen (2006–2014)
gebot und Nachfrage tun: Während sich die
0,25 Mismatch (Jackman-Index)*
Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeits-
kräften auf die wirtschaftlichen und adminis-
trativen Zentren konzentriert, sind arbeits-
AVAM, SMM, SAKE; SIEHE BUCHS UND BUCHMANN (2017) /
0,2
lose Personen aus dieser Gruppe gleichmäs-
siger über die Regionen verteilt. Allerdings
dürften Hochqualifizierte aufgrund der ho- 0,15
hen Ausbildungsinvestitionen mehr als an-
dere Bildungsgruppen bereit sein, einen lan-
DIE VOLKSWIRTSCHAFT
funktioniert
Wie beim regionalen Mismatch ist auch der * Der verwendete Mismatch-Index (Jackman und Roper, 1987) misst den auf einen Mismatch zurück-
zuführenden Anteil der Arbeitslosen. Er zeigt, wie stark die Verteilung von Arbeitslosen von jener der
berufliche Mismatch am geringsten bei Per- Vakanzen abweicht. Bei einem totalen Mismatch (Indexwert = 1) sind alle Arbeitslosen anderen Teilarbeits-
sonen mit einer beruflichen Grundbildung märkten zugeordnet als die Vakanzen. Stimmen die Eigenschaften von Arbeitslosen und Vakanzen genau
und einer höheren Berufsbildung (siehe Ab- überein, gibt es keinen Mismatch (0).
bildung 3). Ihre beruflichen Qualifikationen Berufsprofile dieser Gruppe noch über- che an neues Personal. Um diese und andere
passen am besten zu den nachgefragten Be- durchschnittlich stark von den am Arbeits- mögliche Ursachen zu eruieren, braucht es
rufsprofilen. Mit anderen Worten: Das be- markt nachgefragten Qualifikationen ab. weitere Forschung.
rufliche Bildungssystem ist weitgehend in Acht Jahre später ist der berufliche Mis-
der Lage, jene Qualifikationen bereitzustel- match wesentlich tiefer. Diese Entwicklung
len, die auf dem Arbeitsmarkt benötigt wer- könnte mit dem Aufkommen von im Ver-
den. Zudem können die vermittelten Quali- gleich zu Universitäten meist stärker auf
fikationen anscheinend auch zwischen den die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts ausge-
Berufen transferiert werden, oder sie erlau- richteten Fachhochschulen zusammenhän-
ben es den Stellensuchenden zumindest, gen. Auch Verschiebungen von Angebot
sich der wandelnden beruflichen Nachfrage und Nachfrage in Richtung Tertiärbildung
anzupassen. dürften zu diesem Ergebnis beigetragen Helen Buchs
Relativ gross ist der berufliche Mismatch haben. Wissenschaftliche Mitarbeiterin
bei Stellensuchenden ohne überobligatori- Insgesamt zeigt die Studie, dass sich das Stellenmarkt-Monitor Schweiz,
sche Ausbildung, und dieser ist auch stär- Ausmass des arbeitsmarktlichen Mismatch Soziologisches Institut, Universität Zürich
ker von wirtschaftlichen Schwankungen ge- nach Bildungsgruppen unterscheidet. Ins-
prägt als bei Personen mit einer beruflichen gesamt ist der regionale und berufliche Mis-
Ausbildung. Vermutlich werden in einer Re- match aber nicht für die gleichzeitige Zu-
zession viele Stellen dieser Bildungsgruppe nahme von Arbeitslosenzahlen und offenen
abgebaut. Die bei einem Aufschwung neu Stellen verantwortlich. Die Ursachen lie-
geschaffenen Stellen dürften aber aufgrund gen somit anderswo. Beispielsweise könn-
struktureller Veränderungen häufig in ande- te ein Missverhältnis zwischen Angebot und
ren Berufsfeldern angesiedelt sein als die ab- Nachfrage deshalb entstanden sein, weil Fir-
gebauten. men vermehrt Personen mit einer IT-Qualifi-
Bemerkenswert ist die Entwicklung bei kation suchen oder weil immer mehr Arbeit- Marlis Buchmann
den Hochschulabsolventen: Zu Beginn der nehmende Teilzeit arbeiten wollen. Oder die Professorin für Soziologie, Leiterin Stellen-
markt-Monitor Schweiz, Universität Zürich
Analyseperiode im Jahr 2006 wichen die Unternehmen haben immer höhere Ansprü-
Literatur
Bauer, A. und Gartner, H. (2014). Buchs, H. und Buchmann, M. (2017). Duration. Studie im Auftrag der Auf- Jackman, R. und Roper, S. (1987). Structural
Mismatch-Arbeitslosigkeit. Wie Arbeits- Job Vacancies and Unemployment in sichtskommission für den Ausgleichs- Unemployment. Oxford Bulletin of
lose und offene Stellen zusammen- Switzerland 2006–2014: Labor Market fonds der Arbeitslosenversicherung. Economics and Statistics, 49(1): 9–36.
passen. IAB-Kurzbericht 5/2014. Mismatch and the Significance of Labor Zürich: Stellenmarkt-Monitor Schweiz.
Market Tightness for Unemployment
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 51
WACHSTUM
Abstract Bis anhin wurde meist davon ausgegangen, dass kleine Länder eher Kon- weise auf einen systematischen Lead oder
junkturnehmer sind und entsprechend nachgelagert auf Konjunkturimpulse grösserer Lag der im internationalen Vergleich eben-
Staaten reagieren. Eine ökonometrische Studie des Liechtenstein-Instituts fand nun falls kleinen Schweiz gegenüber anderen
einen statistisch signifikanten Konjunkturvorlauf der Kleinstvolkswirtschaft Liech- Staaten. Bisher wurde aber Liechtenstein
tenstein gegenüber ihrem grösseren Nachbarn Schweiz, mit dem der Kleinststaat nicht im Sample berücksichtigt. Die hier vor-
wirtschaftlich und politisch eng verbunden ist. Der liechtensteinische Vorlauf ist pro- gestellte Studie betrachtet in einem ersten
duktionsseitig bestimmt und wird von der internationalen Nachfrage getrieben – vor Schritt Liechtensteins jährliches reales Brut-
allem aus den USA. Die Ergebnisse liefern den konjunkturanalytischen Hinweis, dass toinlandprodukt (BIP) seit 1972 und jenes der
sehr kleine Staaten nicht nur stärker auf Konjunktureinflüsse reagieren, sondern mög- beiden Nachbarstaaten Schweiz und Öster-
licherweise auch früher. Darüber hinaus weisen sie auf eine Nützlichkeit der liechten- reich sowie des etwa 40 Kilometer entfernten
steinischen Daten für Schweizer Konjunkturprognosen hin. Deutschland.
Die grafische Analyse zeigt, dass die liech-
tensteinische Konjunktur – verglichen mit der
staats Liechtenstein einen direkten Einfluss zeitreihenanalytische Untersuchungen erste über der Schweiz sichtbar – was mit den
auf die Schweiz ausübt. Vielmehr scheint es Hinweise auf die Determinanten von Liech- engen wirtschaftlichen Beziehungen der
plausibel, dass Liechtenstein im Vergleich zur tensteins Konjunkturvorlauf. So zeigt sich beiden Länder zu tun hat. Ab Mitte der
Schweiz internationale Konjunktureinflüsse, nicht nur für das jährliche BIP ein signifikanter Neunzigerjahre zeichnet sich der konjunk-
welche auf beide Nationen ähnlich wirken, Lead Liechtensteins gegenüber der Schweiz turelle Lead Liechtensteins auch gegenüber
einfach früher aufnimmt. (Vorlauf von einem Jahr), sondern auch für Österreich und Deutschland ab. Ein Grund
Kleine Staaten reagieren also nicht nur die vierteljährlichen, saisonbereinigten rea- dafür könnte im EWR-Beitritt des Fürsten-
stärker, sondern möglicherweise auch früher len Wachstumsraten der Güterexporte (Vor- tums im Jahr 1995 und der sich intensivie-
auf Konjunkturimpulse. Gründe dafür könn- lauf von drei bis vier Quartalen) und auch für renden wirtschaftlichen Integration Europas
ten die erwähnte hohe internationale Ver- die jährliche Wertschöpfung im Wirtschafts- liegen. Hinzu kommt, dass sich internatio-
netzung von kleinen Staaten (übergeordnete bereich Industrie und warenproduzierendes nale Konjunkturzyklen generell zunehmend
Bedeutung internationalen Handels gegen- Gewerbe (Vorlauf von einem Jahr). synchronisieren.
über Binnenwirtschaft) oder je nach Nischen- Es handelt sich somit um einen langen
spezialisierung die Art der produzierten Gü- und von der internationalen Nachfrage ge- Vorlaufindikator für Schweizer
ter sein. Im Falle Liechtensteins haben Bau- triebenen Produktionsvorlauf (Güterexpor-
und Investitionsgüter einen hohen Anteil an te und Wertschöpfung Industrie), während
Prognosen
der Güterproduktion. Um diese Argumenta- sich von der Finanzdienstleistungs- (Wert- Aus dem statistischen Vorlauf Liechtensteins
tionslinie zu untersuchen, werden in der Stu- schöpfung Finanzdienstleistungssektor), Im- zur Schweiz ergeben sich nicht nur konjunk-
die neben dem BIP weitere Zeitreihen unter- port- (Güterimporte) und Einkommenssei- turanalytische Einsichten, sondern auch
sucht. te (Volkseinkommen) her kein statistischer Möglichkeiten zur Prognose der schweizeri-
Vorlauf abzeichnet. Hierbei spielt die «Kon- schen Konjunktur. Leider verhindert die Pu-
US-Impulse wirken früher junkturlokomotive» USA eine wichtige Rol- blikationsverzögerung der Zahlen der jährli-
le, denn Liechtenstein nimmt konjunkturelle chen liechtensteinischen Volkswirtschaftli-
Obwohl die Verfügbarkeit von Daten zu Nachfrageimpulse aus den USA früher auf als chen Gesamtrechnung von 23 Monaten die
Liechtensteins Volkswirtschaft erheblichen die Schweiz. Darauf deuten jene Regressio- Verwendung des liechtensteinischen BIP als
Einschränkungen unterliegt, geben weitere nen hin, welche speziell auf die Länder Liech- Vorlaufindikator für die Schweiz.
tenstein, Schweiz und USA fokussieren. Während die amtliche Schnellschätzung
Das Fürstentum Liechtenstein verfügt über
Bis Mitte der Neunzigerjahre sind Liech- des liechtensteinischen BIP immer noch eine
einen ausgeprägten Industriesektor. Produktions- tensteins Vorlaufeigenschaften nur gegen- Publikationsverzögerung von 14 Monaten
gebäude des Oerlikon-Konzerns in Balzers.
KEYSTONE
Die Volkswirtschaft 4 / 2018 53
WACHSTUM
75
77
79
81
83
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87
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staaten gegenüber ihren engen Nachbarn ein
Schweiz Liechtenstein
Konjunkturvorlauf vorliegt. So könnte man
Vorzeichenwechsel bei der realen BIP-Wachstumsrate vollzogen sich in Liechtenstein in den Jahren
1976, 1981, 1990, 2001 und 2008 bereits ein Jahr vor der Schweiz, häufig wurden auch die Extrema der
beispielsweise untersuchen, ob sich ähnliche
Wachstumsraten vorweggenommen. Liechtenstein ohne 2015 (vgl. Fussnote 5). Zusammenhänge auch zwischen Luxemburg
und den Niederlanden/Belgien sowie zwi-
schen Andorra und Frankreich/Spanien sowie
Abb. 2: Produktionslücken von Liechtenstein und der Schweiz seit 1972
zwischen Monaco und Frankreich zeigen.
(BIP-Trendabweichung in %)
15 In %
FÜR DATENQUELLEN SIEHE BRUNHART (2017), S. 45–49 / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
10
Andreas Brunhart
PhD in Economics, Forschungsbeauftrag-
–5 ter, Fachbereich Wirtschaft, Liechtenstein-
Institut, Bendern, Fürstentum Liechtenstein
–10
78
72
74
76
80
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Literatur
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20
Wirtschaftskennzahlen
Auf einen Blick finden Sie hier die Kennzahlen Bruttoinlandprodukt, Erwerbslosenquote und Inflation von acht Ländern, der EU und
der OECD. Zahlenreihen zu diesen Wirtschaftszahlen sind auf Dievolkswirtschaft.ch aufgeschaltet.
Bruttoinlandprodukt: Bruttoinlandprodukt:
Reale Veränderung in % gegenüber dem Reale Veränderung in % gegenüber dem Vorquartal1
Vorjahr
2017 4/2017 3/2017 2/2017 1/2017
Schweiz 1,0 Schweiz 0,6 0,6 0,3 0,3
Deutschland 2,2 Deutschland 0,6 0,8 0,6 0,7
Frankreich 1,8 Frankreich 0,6 0,5 0,5 0,5
Italien 1,5 Italien 0,3 0,5 0,4 0,4
Grossbritannien 1,7 Grossbritannien 0,4 0,4 0,3 0,2
EU – EU 0,6 0,6 0,6 0,5
USA 2,3 USA 0,6 0,8 0,8 0,3
Japan 1,6 Japan 0,1 0,3 1,0 0,4
China 6,8 China 1,6 1,7 1,7 1,3
OECD 2,5 OECD 0,6 0,6 0,7 0,5
Inflation: Inflation:
Veränderung in % gegenüber dem Vor- Veränderung in % gegenüber dem
jahr Vorjahresmonat
2017 Januar 2018
Schweiz 0,5 Schweiz 0,7
Deutschland 1,7 Deutschland 1,6
Frankreich 1,0 Frankreich 1,3
Italien 1,2 Italien 0,9
Grossbritannien 2,7 Grossbritannien 3,0
EU 1,7 EU 1,6
SECO, BFS, OECD
Die Volkswirtschaf 4 / 2018 55
Schulbank anstatt Werkbank? Jugendliche Arbeitslose in Europa
Die Wirtschafts- und Eurokrise hat die Staaten Südeuropas hart getroffen. Laut einer These des US-Ökonomen Gary
Becker gehen bei schlechter Wirtschaftslage mehr Jugendliche den schulischen Weg weiter. In der Hoffnung, bei besserer
Arbeitsmarktlage bessere Anstellungschancen zu haben. Eine Analyse der Konjunkturforschungsstelle KOF hat diesen
positiven Zusammenhang zwischen Bildungsrate und Jugendarbeitslosenrate für die meisten Länder nachgewiesen.
Allerdings: Wenn der Anstieg in der Bildungsrate den Anstieg in der Arbeitslosigkeit nicht vollständig kompensiert, dann
steigt der Anteil inaktiver Jugendlicher, die weder beschäftigt noch in Ausbildung sind. Die Studie zeigt, dass auch dieser
Anteil hinzugezogen werden muss, um die Situation der Jugendlichen umfassend einzuschätzen.
IS
SE
Jugendarbeitslosenraten FI
(nach ILO, 2015)
0–10% 10–20% 20–30% 30–40% 40–50% >70% NO
PUSTERLA FILIPPO (2017). HOW ACTIVE ARE YOUTH? THE INTERPLAY BETWEEN EDUCATION, YOUTH, UNEMPLOYMENT, AND INACTIVITY. KOF STUDIES, NO. 97. / KOF JUGENDARBEITSMARKTINDEX / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
= kein oder unklarer Zusammenhang
– negativer Zusammenhang
* keine Auswertung DK LT
IE
BY
GB NL
PL
BE DE
LU CZ Schweiz
In der Schweiz ist infolge der
SK Wirtschaftskrise die Jugend-
arbeitslosenrate leicht
FR CH AT HU angestiegen. Auch wenn die
Bildungsrate sich etwas erholt
SI HR hat, ist der Anteil inaktiver
RS Jugendlicher leicht gestiegen.
IT BA RO
PT MNE BG
SP
MK
AL
GR
Spanien und Portugal Mögliche Gründe für
In Spanien hat während der negativen Zusammenhang
Wirtschaftskrise die Jugend- • Schülerdemografie: Ab- CY
arbeitslosenrate zugenommen. nehmende Kohortengrösse
Da aber auch die Bildungsrate verbessert die Arbeitsmarkt-
stark gestiegen ist, ist der Anteil chancen der Jugendlichen.
inaktiver Jugendlicher praktisch • In Ländern mit hoher Staats-
konstant geblieben. Ähnlich ist verschuldung kann sich das Italien und Griechenland:
es in Portugal. Seit 2013 nimmt Bildungsangebot nur langsam In beiden Ländern hat die Jugend-
die Jugendarbeitslosenquote in erholen. arbeitslosenrate infolge der Wirt-
beiden Ländern ab. • Zeitliche Verzögerungen bei schaftskrise stark zugenommen.
der Wirkung politischer Mass- Die Bildungsraten sind hingegen
nahmen konstant geblieben. Folglich ist
• Arbeitsmarktregulierungen, der Anteil inaktiver Jugendlicher
die das Alter des Eintritts in den stark gestiegen.
Arbeitsmarkt oder in gewisse
berufliche Tätigkeiten be-
56 Die Volkswirtschaft 4 /2018 schränken.
VORSCHAU
FOKUS
Staatsbetriebe im Wettbewerb
mit Privaten
Staatsnahe Unternehmen sind vermehrt in Märkten tätig, die nicht zur politisch definierten Grund
versorgung gehören. Deshalb stehen staatsnahe und private Betriebe in immer mehr Märkten im Wett
bewerb. Der Bericht des Bundesrates zu «Staat und Wettbewerb» bildet den Ausgangspunkt für diesen
Fokus. Mit welchen Massnahmen stellt der Staat sicher, dass der Wettbewerb nicht verfälscht wird?
Mehr zum Thema lesen Sie in der nächsten Ausgabe.