Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Die Volkswirtschaft
Plattform für Wirtschaftspolitik
FOKUS
Historisch tiefes Zinsniveau
Wichtiger HINWEIS !
Innerhalb der Schutzzone (hellblauer Rahmen) darf
kein anderes Element platziert werden!
Ebenso darf der Abstand zu Format- resp. Papierrand
die Schutzzone nicht verletzen!
Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken!
Siehe auch Handbuch
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
www. cdbund.admin.ch
Swiss Society of Economics and Statistics
Fokus
6 12 16
Sinkende Zinsen im Laufe Sind Tiefzinsen die neue Banking unter null
der Geschichte Normalität? Yvan Lengwiler Universität Basel
Peter Kugler Universität Basel Stefan Leist, Vincent Pochon
Staatssekretariat für Wirtschaft
28
«Wir haben
Spielraum, um die
Zinsen weiter zu
senken»
20 24
Wirken die Negativzinsen? Vorsicht vor
Jennifer Blanke Afrikanische Entwicklungsbank Negativreaktionen
Signe Krogstrup Internationaler Währungsfonds
der Sparer
Mark Cliffe, Carlo Cocuzzo
ING Bank
Spots
i
IMPRESSUM ZAHLEN INFOGRAFIK
Im Gespräch mit
Alle Informationen Wirtschaftskennzahlen Zunehmende räumliche dem SNB-Präsidenten
zum Magazin Spezialisierung Thomas Jordan
4 59 60
INHALT
Themen
34 37 50
STEUERN UNLAUTERER WETTBEWERB ARBEITSMARKT
53 55 57
AUFGEGRIFFEN ZÖLLE ZÖLLE
DOSSIER
40 45
Ein Ausbau der Jobsharing hat nicht nur
familienpolitischen Vorteile für Frauen
Massnahmen lohnt sich Nicole Baur
Gleichstellungsbeauftragte Kanton Neuenburg
Susanne Stern Infras
Monika Bütler Universität St. Gallen
43 47
Jobsharing in der Schweiz Jede zweite Rentnerin ohne
immer beliebter Pensionskassenrente
Beruf und Familie: Robert Fluder, Renate Salzgeber
Irenka Krone-Germann
Welche Anreize braucht es? We Jobshare GmbH Berner Fachhochschule
i IMPRESSUM
Herausgeber
Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung
und Forschung WBF,
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern
Redaktion
Chefredaktion: Susanne Blank, Nicole Tesar
Redaktion: Käthi Gfeller, Matthias Hausherr, Christian Maillard,
Stefan Sonderegger
Redaktionsausschuss
Eric Scheidegger (Leitung), Antje Baertschi, Susanne Blank,
Eric Jakob, Evelyn Kobelt, Cesare Ravara, Markus Tanner,
Nicole Tesar
Layout
Viviane Futterknecht, Patricia Steiner
Zeichnungen
Alina Günter, www.alinaguenter.ch
Abonnemente/Leserservice
Telefon +41 (0)58 462 29 39
Fax +41 (0)58 462 27 40
E-Mail redaktion@dievolkswirtschaft.ch
Abonnementpreise
Inland Fr. 100.–, Ausland Fr. 120.–
Für Studierende kostenlos
Druck
Jordi AG, Aemmenmattstrasse 22, 3123 Belp
ISSN 1011-386X
FOKUS
6 Die Volkswirtschaft 5 / 2017
FOKUS
Reichsteil noch über einige Jahrhunderte andau- Bei der Beurteilung der Höhe des Zinsniveaus
erte. Im Westen brachen das Reich und seine sind zwei Aspekte interessant: Erstens waren
arbeitsteilige Geldwirtschaft im Sturm der Völ- die relativ hohen Zinssätze bis ins 20. Jahrhun-
kerwanderung im Jahr 476 zusammen. dert primär real- und nicht inflationsbedingt.
Die gelegentliche Entdeckung von Edelmetall-
Sinkende Zinsen im Mittelalter vorkommen und die Verschlechterungen der
Münzlegierung führten zu Anstiegen des Preis-
Trotz der Wiederbelebung des Handels und der niveaus, aber die durchschnittliche Inflationsra-
Münzreform von Karl dem Grossen um 800 sind te war gering. Zweitens galt seit dem Konzil von
bis ins 12. Jahrhundert kaum Belege für Kredite Nicäa 325 ein universelles Zinsverbot der katho-
und Zinsen vorhanden. Erst mit den Produktivi- lischen Kirche. Diese alttestamentarisch begrün-
tätsfortschritten in der Landwirtschaft, der Bele- dete Vorschrift wurde immer wieder klerikal be-
bung des Handels und der Urbanisierung in der kräftigt, etwa von Papst Leo dem Grossen und
Periode von 1160 bis 1330 belebte sich das Kredit- von Thomas von Aquin. Doch die Unterschei-
geschäft. dung von «usura» (Wucher) und «interesse» (Ent-
In der «Kommerziellen Revolution» in Ober- schädigung für den Verzicht und die Umtriebe
italien entstanden Banken, die Depositen in des Kreditors) schuf schon im Hochmittelalter
vollwertigen Münzen entgegennahmen und eine gewisse Grauzone. Die Reformatoren hiel-
verzinsten und Forderungen und Verbindlich- ten Zinssätze zwischen 5 und 8 Prozent für an-
keiten ihrer Kunden über Buchgeld verrechne- gemessen, aber der Vatikan überliess erst Anfang
ten. Ausserdem wurde der Wechsel geschaffen: des 19. Jahrhunderts die Regulierung der Zinssät-
Ein Kredit, der etwa zum Kauf von Waren in Ge- ze dem Staat.
nua aufgenommen wurde, wurde nach Waren-
verkauf – beispielsweise in Antwerpen – mit Zins Finanzinnovationen in Amsterdam
beglichen. Schliesslich gründeten die oberita-
lienischen Kaufleute in ganz Westeuropa Nieder- Mit der Entdeckung Amerikas hat sich der wirt-
lassungen, die den internationalen Handel sowie schaftliche Schwerpunkt Europas vom Mittel-
die Stadtstaaten und Fürstentümer finanzierten. meerraum auf den Atlantik verschoben. Im frü-
Niederländische und süddeutsche Handelshäu- hen 16. Jahrhundert wurde das heute belgische
ser übernahmen diese Praktiken, die sich so im Antwerpen zum führenden Handelsplatz. Doch
Spätmittelalter in ganz Westeuropa verbreiteten. diese Position ging im Verlauf des holländischen
Auf Bankdepositen wurden Zinsen von 4 bis Unabhängigkeitskriegs (1568–1648) verloren. Die
10 Prozent entrichtet; Handelskredite wiesen spanische Herrschaft in den südlichen Nieder-
meist eine höhere Verzinsung zwischen 5 und 15 landen führte zum Niedergang von Antwerpen.
Prozent auf. Die höchsten Sätze – zwischen 80 Seine Vorreiterrolle wurde vom nördlichen Teil
und 100 Prozent – hatten Fürsten für Kredite zu der Niederlande mit seinem Zentrum Amster-
entrichten, die nicht durch zukünftige Staatsein- dam übernommen.
nahmen, beispielsweise aus Bergwerken oder aus Mit Amsterdam sind auch die wichtigsten
Steuern, abgesichert waren. Diese Risikoprämien Finanzinnovationen des 17. Jahrhunderts ver-
waren durchaus berechtigt, da Fürsten ihre Kre- bunden. Erstens entstand aus der 1602 gegrün-
dite vielfach nicht bedienten. Die ab 1262 handel- deten ostindischen Kompanie die erste Pub-
baren Prestiti – die Staatsschulden der Republik likums-Aktiengesellschaft. Zweitens wurde
Venedig – erzielten im 14. und 15. Jahrhundert ef- aufgrund der vielen Bankzusammenbrüche in
fektive Renditen zwischen 5 und 20 Prozent und der Vergangenheit 1609 die Wechselbank mit
widerspiegeln so die politischen und wirtschaft- einer hundertprozentigen Deckung der Deposi-
lichen Erfolge und Misserfolge der Markusrepu- ten gegründet. Und drittens gelang es der Hol-
blik. Generell lässt sich aber für das späte Mit- ländischen Republik, ihre Staatsschuld zu kon-
telalter zuerst in Oberitalien und später auch in solidieren und voll handelbar zu machen. Der
den Niederlanden ein sinkender Zinstrend fest- Zinssatz fiel zwischen 1600 und 1640 von 10
stellen. auf 4 Prozent und später sogar unter 3 Prozent.
8 Die Volkswirtschaft 5 / 2017
FOKUS
Damit erreichte er ein Niveau, das im Vergleich Abb. 1: Nominale und reale Rendite von fünfjährigen Bundesanleihen
zur Vergangenheit einmalig war und auch in der der Schweiz (1900–2016)
Moderne selten unterschritten wurde. Ande-
8 In %
re Länder erreichten vor der Industrialisierung
im 19. Jahrhundert keine so niedrigen Zinssätze, 6
und selbst England war dies erst im 18. Jahrhun-
2
Globale Finanzmärkte entstehen
Bis zur industriellen Revolution traten nur ein- 0
19 2
19 6
19 0
19 4
19 8
19 2
36
19 0
19 4
19 8
19 0
19 4
08
12
19 0
19 4
19 8
19 2
20 6
00
20 4
20 8
20 2
16
19 6
19 0
19 4
19 8
19 2
19 6
2
2
4
5
3
0
4
2
4
0
1
9
6
0
6
0
7
7
9
5
6
8
19
19
19
19
20
nach ein: Das Einkommenswachstum und die Nominalzins Realzins mit erwarteter zukünftiger Inflationsrate
Ersparnisbildung in breiteren Schichten führ- Die Daten von 1900 bis 1937 entsprechen den Obligationen der SBB, da keine ande-
ten zu einem Wachstum der Bankeinlagen. Die ren Daten für langfristige Bundesanleihen verfügbar sind.
erhöhte Kapitalintensität verursachte in der
Produktion eine Verschiebung von der inter-
nen zur externen Finanzierung von Firmen Abb. 2: Inflationsrate der Konsumentenpreise in der Schweiz
(1900–2016)
durch Bankkredite, Obligationen und Aktien.
Neben den Staaten traten nun auch die Firmen 40 Veränderung gegenüber Vorjahr in %
als Schuldner an internationalen Obligationen-
30
märkten auf.
In der Periode des internationalen Goldstan- 20
19 0
19 4
19 8
19 2
76
19 0
19 4
19 8
19 2
20 6
00
20 4
20 8
12
2
2
4
5
3
0
4
3
2
4
0
9
6
8
6
0
7
9
6
8
19
19
19
19
19
20
15 In %
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 9
ZINSEN
KEYSTONE
Finanzinnovationen,
wie die Entstehung
von China und anderen P lanwirtschaften wieder von Banken und te der Neunzigerjahre setzte ein kontinuierliches
wirklich globale F inanzmärkte entstanden. handelbaren Staats- Abfallen der Nominal- und Realzinsen ein, wie
schulden, haben im er historisch einzigartig ist. Generell folgte die
spätmittelalterlichen
Rückgang der Zinsen in der Schweiz schweizerische Zinsentwicklung über den gan-
Venedig die Zinsen
zen Zeitraum dem internationalen Trend. Doch
seit 1990 gesenkt.
aufgrund des Zinsbonus seit dem Ersten Welt-
In der Schweiz schwankte die Nominalrendite krieg, wegen der Eigenschaft des Frankens als
von langfristigen Bundesanleihen bis Mitte der sogenannter Safe Haven, lag das schweizerische
Neunzigerjahre zwischen 3 und 7 Prozent (sie- Zinsniveau nominal sowie real und wechselkurs-
he Abbildung 1). Dabei muss wegen gelegentli- 2 E s wurde ein AR(1)-Mo-
korrigiert meistens unter demjenigen im Aus-
cher Inflationsepisoden (siehe Abbildung 2) zwi- dell mit empirisch er- land.3
mittelten Strukturbrü-
schen Nominal- und Realrendite unterschieden chen 1949 und 1993 Wie in anderen Ländern fällt der reale Geld-
geschätzt, wobei die
werden. Die reale Rendite wurde durch Abzug Periode der beiden
marktsatz auch in der Schweiz weniger deut-
des Mittels der für die Laufzeit prognostizier- Weltkriege mit hoher lich als die realen Renditen von langfristigen
und volatiler Inflation
ten Inflationsrate2 berechnet. Die Realzinssätze nicht einbezogen wur- Staatsanleihen (siehe Abbildung 3).4 Der Real-
(mit prognostizierter Inflationsrate) lagen in der de. zinssatz für Frankendepositen am Eurowäh-
3 Vgl. hierzu Baltensper-
gleichen Zeit zwischen –1 und 6 Prozent. Ab Mit- ger und Kugler (2016). rungsmarkt (Euro-Franken-Geldmarkt) in Lon-
don, der wieder aufgrund der Inflationsprognose hen der führenden westlichen Industrieländer
aus einem Zeitreihenmodell5 berechnet wurde, generierte.
schwankt seit 1974 zwischen –4 und 4 Prozent. Diese Einschätzung impliziert, dass die heuti-
Damit widerspiegelt er bis 2002 die Gangart der ge Zinssituation langfristig nicht bestehen bleibt.
Geldpolitik. Seit 2002 ist der Realzins am Geld- Die demografischen Faktoren führen zukünftig
markt mit wenigen Ausnahmen nahe bei null mit der nun auch in China einsetzenden Über-
und in der jüngsten Finanzkrise deutlich negativ. alterung zu tendenziell steigenden realen Rendi-
Der Nominalzins am Euro-Franken-Geldmarkt ten. Zudem ist anzunehmen, dass sich die Geld- 4 S iehe Bean et al. (2015).
5 Es wurde ein AR(12)-
ist sehr volatil und bewegt sich zwischen –0,75 politik normalisieren wird und der Krisenmodus Modell mit empirisch
ermitteltem Struktur-
und 12 Prozent. im Anleger- und Investitionsverhalten über- bruch Mai 1993 ge-
wunden wird. Allerdings ist das diesbezügliche schätzt.
6 Vgl. hierzu auch Bean et
Steigende Zinsen in Aussicht Timing noch sehr ungewiss. al. (2015).
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 11
ZINSEN
Abstract Während negative Zinsen lange unmöglich schienen, leben wir nun schon Öffentlichkeit steht häufig der Nominalzins im Fo-
seit einiger Zeit damit. Einerseits ermöglichen die tiefen Zinsen eine günstige Kapi- kus, weil dieser bei Anlagen und Krediten jeweils
talbeschaffung, andererseits leidet die Finanzbranche unter dem tiefen Zinsniveau.
genannt wird. Doch für Ökonomen steht meist der
In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen Real- und Nominal-
zinsen von zentraler Bedeutung. Die weltweit tiefen Realzinsen hängen mit real- inflationsbereinigte, reale Zinssatz im Fokus. Es
wirtschaftlichen Faktoren zusammen wie der global starken Spartätigkeit und der ist denn auch dieser Realzins, der den Grossteil
schwächeren Wachstumsdynamik. Der Nominalzins ist ausserdem aufgrund der der wirtschaftlichen Aktivität beeinflusst. Laut
abnehmenden Inflationsraten rückläufig. Die tiefen Zinsen bergen auch Risiken: makroökonomischer Theorie wird der Realzins
etwa in Bezug auf Spekulationsblasen an den Finanz- und Immobilienmärkten oder
bezüglich der Unterdeckung von Pensionskassen. Obwohl mittlerweile zumindest
aus dem Gleichgewicht von Angebot und Nach-
in den USA eine sanfte Zinswende eingesetzt hat, sprechen die realwirtschaftlichen frage nach Kapital bestimmt (siehe Kasten).
Einflussfaktoren gegen eine rasche Rückkehr zu historischen Zinsniveaus.
KEYSTONE
Mit dem Eintritt in
die Weltwirtschaft
Die Realzinsen folgen schon seit den Neunzi- hat China grosse wie auch konjunktureller (kurz- bis mittelfristi-
gerjahren einem klar negativen Trend (siehe Ab- Währungsreserven ger) Natur. Das Aussergewöhnliche der letzten
bildung). Ausserdem haben die Zentralbanken angehäuft und so zur zwei Jahrzehnte ist, dass vor allem Einflussfakto-
Sparschwemme
in den letzten 20 Jahren die Inflationsraten auf ren, welche sich negativ auf das Niveau der Nomi-
beigetragen.
relativ tiefem Niveau stabilisieren können, was nal- und Realzinsen auswirken, aufgetreten sind.
die Inflationserwartungen und somit die in den Strukturell besteht angebotsseitig bereits seit
Nominalzinssätzen enthaltene Inflationsprämie den Neunzigerjahren eine globale «Sparschwem-
stark reduziert hat. Gemessen an den nominalen me».1 Die Fülle an Sparkapital wurde grössten-
wie auch den realen Renditen der zehnjährigen teils durch die angehäuften Währungsreserven
Staatsanleihen sind die Tiefzinsen keine schwei- von exportorientierten asiatischen Schwellen-
zerische Besonderheit, sondern widerspiegeln ländern und Öl produzierenden Golfstaaten ge-
ein internationales Phänomen. trieben. Die Sparschwemme wird ausserdem von
der anhaltenden demografischen Alterung so-
Global wirkende Kräfte wohl in den Industrieländern wie auch in wich-
tigen Schwellenländern (insbesondere in China)
Der Rückgang des Realzinses seit den Neunziger- 1 B
ernanke, B. (2005) The
getrieben.
jahren lässt sich auf eine gleichzeitige Expansion Global Saving Glut and Konjunkturelle Einflüsse wirkten im An-
the U.S. Current Ac-
des Kapitalangebots und eine Abnahme der Kapi- count Deficit, Speech schluss an die Finanzkrise. Viele Zentralbanken
talnachfrage zurückführen. Die Gründe für diese 77, Board of Governors senkten zur Unterstützung der Konjunktur ihre
of the Federal Reserve
Verschiebungen sind struktureller (langfristiger) System (U.S.). Leitzinsen und tätigten mit dem sogenannten
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 13
ZINSEN
Nominale und reale Rendite zehnjähriger Schweizer Staatsanleihen aus. Die Wirksamkeit solcher Massnahmen auf
(1991–2016) die reale Wirtschaft bleibt jedoch umstritten.
Es besteht insbesondere das Risiko, dass Liqui-
8 In % ditätsschwemmen vor allem das Auftreten von
Blasen auf den Finanz- wie Immobilienmärkten
6
begünstigen. Wenn im Falle einer Rezession nur
noch bedingt auf die Geldpolitik zurückgegrif-
fen werden kann, folgt zudem oft der Ruf nach
4
einer aktiven Fiskalpolitik. Eine solche kann
KEYSTONE
Die Babyboomer ha-
ben für ihre Pension
gleiche Vermögen zu erreichen, welches sie bei grosse Ersparnisse Bestimmungsfaktoren: Strukturelle und glo-
einem höheren Zinssatz mit geringeren Erspar- angelegt. Das lässt bale Phänomene wie die durch die demografi-
nissen erreicht hätten.5 Damit könnte die Wirt- die Zinsen sinken. sche Entwicklung induzierte Sparschwemme
schaft in eine Tiefzinsfalle geraten, weil immer oder die durch den technologischen Wandel
mehr Ersparnisse beschränkten Investitions- verstärkte Investitionsschwäche könnten die
möglichkeiten gegenüberstehen, was die Zinsen Realzinsen in den kommenden Jahren weiterhin
noch weiter drückt. drücken.
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 15
ZINSEN
inhaber können also jederzeit über ihr Gutha- dienstleistung aufbringen muss), sind kleiner als
ben verfügen. Aber die Bank hat das Geld nicht, der Zins, den sie auf der Kreditseite von ihren
sondern sie hat den grössten Teil davon den Kre- Schuldnern verdienen kann.
ditnehmern weitergegeben. Faktisch wandelt die
Bank kurzfristige, liquide Anlagen in längerfris- Geschäft mit Depositen wird
tige, illiquide Kredite um. Die Bank betreibt da-
zunehmend schwieriger
mit eine Liquiditäts- oder Fristentransformation.
Das funktioniert nur, weil die vielen Kontoinha- Dieses Geschäftsmodell ist mit der unkonventio-
ber ihr Geld nicht gleichzeitig von der Bank be- nellen Geldpolitik und den negativen Zinssätzen
ziehen wollen. Aus diesem Grund verbleibt stets arg in Schieflage geraten. Einerseits sind die Ri-
ein grosser Bodensatz an Einlagen in der Bank, sikoprämien zumindest zwischenzeitlich durch
der für die Kreditfinanzierung genutzt werden die unkonventionelle Geldpolitik deutlich ge-
kann. schrumpft. Andererseits haben Banken Schwie-
Für die Bank ist dieses traditionelle Ge- rigkeiten, die negativen Zinssätze ihren Einlegern
schäftsmodell normalerweise gewinnträchtig. weiterzugeben. Es würde bedeuten, dass einfache Ihr Fachwissen ist
Denn die Zinsen, die sie den Kontoinhabern für Bankkunden, die ein Konto bei einer Bank unter- auch in Zukunft das
wertvollste Kapital
ihre Einlage bezahlen muss (und die Kosten, die halten, einen Zins bezahlen müssen, um Geld auf der Banken: Analysten
sie für die damit verbundene Zahlungsverkehrs- dem Konto zu halten. Banken verlangen heute von im Handelsraum der
UBS in Opfikon ZH.
KEYSTONE
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 17
ZINSEN
150
100
0
2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
Swiss Performance Index (SPI TR) Bankindex der Schweizer Börse (SWX SP BANKS TR)
Der Index ist per 1. Januar 2006 auf den Wert 100 normiert.
institutionellen Investoren oder von sehr reichen marktes von grosser Bedeutung ist. Dabei stellt
Privatkunden tatsächlich einen negativen Zins, die Bank für die verschiedenen Aktien, Obliga-
aber die breite Bevölkerung wird heute (noch?) tionen und sonstigen Finanzinstrumente, die
nicht mit negativen Zinsen belastet. Allerdings an der Börse gehandelt werden, sowohl Kauf-
haben viele Banken, als Alternative zu negativen als auch Verkaufsangebote. Diese Tätigkeit er-
Zinsen, die Gebühren deutlich erhöht. möglicht es Investoren, schnell ihren Handels-
Dies bedeutet, dass die Depositen — traditio- bedarf umzusetzen. Die Bank macht damit einen
nellerweise eine der stabilsten und günstigsten Gewinn, weil sie eine Marge zwischen Kauf- und
Finanzquellen für das Bankgeschäft — tatsäch- Verkaufspreisen — den Bid-Ask-Spread — stellt.
lich relativ teuer geworden sind. Die Marge der Market-Making ermöglicht den reibungslosen
Banken ist in diesem traditionellen Bankgeschäft und schnellen Handel von Wertschriften. Für
sehr tief oder sogar negativ. die Bank ist es allerdings mit Risiken verbunden,
Diese Entwicklung hat sich negativ auf die weil sie stets einen gewissen Lagerbestand an
Profitabilität der Banken ausgewirkt. Während Wertschriften halten muss, für die sie den Markt
sich die Gesamtwirtschaft seit der grossen Fi- bewirtschaftet.
nanzkrise wieder erholt hat, sind die Bankaktien Die verschärften Vorschriften machen das
auch nach der Krise auf tiefem Niveau verharrt Market-Making für die Banken heute teurer und
(siehe Abbildung). schwieriger. Darunter leiden die Liquidität des
Marktes und die Konsistenz der Preisfindung.
Andere Geschäftsfelder Dies zeigt sich beispielsweise an der gedeckten
Zinsparität. Diese theoretische Beziehung zwi-
gewinnen an Gewicht
schen dem Zinsniveau und dem Wechselkurs
Da das traditionelle Retailgeschäft an Profitabi- zweier Länder hat bis zur Finanzkrise sehr gut
lität verliert, werden andere Geschäftsfelder in- funktioniert. Seither funktioniert sie bei Weitem
1 Sushko V., C. Borio, teressanter. Viele Banken sind beispielsweise im nicht mehr so einwandfrei.1 Weshalb das so ist, ist
R. McCauley und P.
McGuire (2016). The
Private Banking, im Asset-Management und im nicht ganz klar. Ein wahrscheinlicher Grund ist,
Failure of Covered Inte- Investment-Banking tätig. Zu Letzterem gehört dass die Arbitrage, welche die gedeckte Zinspari-
rest Parity: FX Hedging
Demand and Costly Ba- auch das sogenannte Market-Making. tät sicherstellt, mit einem gewissen Gegenpartei-
lance Sheets BIS Wor-
king Papers No 590,
Market-Making ist eine Dienstleistung, die risiko verbunden ist (und dieses Risiko wird seit
Oktober 2016. für das reibungslose Funktionieren des Finanz- der Finanzkrise viel ernster genommen). Zum
anderen ist es denkbar, dass der Devisenmarkt a uftaucht. Ein solches System ist beispielsweise
aufgrund mangelhafter Liquidität grosse Trans- Crowdfunding. Der Nachteil dieses Systems ist
aktionen nur langsam und nur mit erheblichen allerdings, dass es auf der Bereitschaft der Spa-
Bid-Ask-Spreads verarbeiten kann. rer basiert, einem Projekt Geld zu geben, von dem
sie wenig wissen und wo sie kaum Kontrolle da-
Banking ohne Kapital? rüber ausüben können, dass das Geld nicht ver-
untreut wird. Genau diese Kontrolle ist die Stär-
Banken stehen, genau wie die Börse, im Zent- ke der Banken.
rum der Verteilung von erspartem Kapital auf Eine mögliche Entwicklung des traditionel-
die verschiedenen Investitionsprojekte. Gros- len Geschäftsmodells könnte also hier liegen:
se Banken, die ungenügend kapitalisiert sind, Die Bank prüft die Kreditwürdigkeit verschie-
stellen ein grosses Risiko für die gesamte Volks- dener Projekte, fasst vielleicht mehrere Projekte
wirtschaft dar. Die Finanzkrise hat Folgendes zu einem Portfolio von Projekten zusammen und
deutlich gezeigt: Die Regierungen lassen nicht bietet den Sparern Anteile davon zum Erwerb
zu, dass systemrelevante Banken untergehen, an. Im Gegenzug erhält die Bank für ihre Dienst-
weil dies zum Schaden der gesamten Volkswirt- leistung eine Gebühr, ähnlich wie ein Auktions-
schaft wäre. Aus diesem Grund werden sie heu- haus eine Gebühr vom Verkäufer und vom Käu-
te stärker beaufsichtigt und in ihrem Geschäfts- fer erhebt. Das Kapital selber fliesst aber direkt
verhalten mehr eingeschränkt. Doch dies hat vom Investor zum Projekt und landet nicht in der
zur Folge, dass die Profitabilität der Banken Bilanz der Bank.
heute von zwei Seiten bedroht ist: einerseits, Der Vorteil dieses Systems ist, dass ein Kon-
in einem etwas geringeren Umfang, durch die kurs der Bank nicht mit dem Verlust von Einlagen
verstärkte Regulierung, andererseits vor allem verbunden ist. Denn die Einlagen sind nicht mehr
durch das geldpolitische Umfeld. Sowohl für in der Bilanz der Bank. Die Bank funktioniert in
die Volkswirtschaft als auch für die Banken sel- diesem Geschäftsmodell wie eine Partnerver-
ber ist es deshalb wichtig, eine Geschäftsform mittlung oder ein Netzwerk wie Facebook, indem
zu finden, die die positiven Funktionen dieser die Bank die Informationen der Netzwerkmit-
wichtigen Branche ermöglicht und gleichzeitig glieder verifiziert. Ausserdem betreibt die Bank
ihre Verletzlichkeit mindert. in diesem Modell keine Fristentransformation
Banking ist eigentlich eine Form der Part- und erwirtschaftet ihren Ertrag unabhängig vom
nervermittlung. Investoren werden mit Perso- Zinsniveau. Stattdessen verdient sie einen Anteil
nen zusammengebracht, die Kapital benötigen. auf den Transaktionen, die sie vermittelt.
Für grössere Firmen geschieht diese Vermittlung Eine Transformation der Branche, in der Ban-
auf dem relativ anonymen Finanzmarkt mithil- ken nicht mehr riesige Bilanzen führen, dafür
fe von Market-Makern. Für kleinere Firmen ist aber grosse Netzwerke von Personen bedienen,
der Transparenzaufwand, der mit einem solchen ist ein möglicher Weg in die Zukunft.
Börsengang verbunden ist, jedoch nicht tragbar.
Diese Firmen sind auf Banken angewiesen, die
ihre Kreditwürdigkeit prüfen und gegebenenfalls
für sie das Kapital beschaffen.
Interessanterweise ermöglichen es techno-
logische Innovationen zunehmend, Sparer und
Kapitalsuchende losgelöst von der Verfügung
über Kapital zu vermitteln. Das Kapital könn-
te also auch direkt vom Sparer zum Kreditneh- Yvan Lengwiler
Professor für Volkswirtschaft, Universität Basel
mer gehen, ohne dass es in der Bilanz einer Bank
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 19
ZINSEN
KEYSTONE
Die Tiefzinsen
verleiten zum Kauf
Banken geben die Strafzinsen nur von Wohneigentum. F inanzierungsstrukturen der Banken und dem je-
teilweise weiter Wohnüberbauung weiligen Wettbewerbsumfeld zusammenhängen.
in Zürich-Oerlikon. Obwohl die Weitergabe der Zinsen an die Fi-
Die Praxis zeigt, dass die Negativzinsen der Zen- nanzmärkte im Allgemeinen recht gut funk-
tralbanken, wie von der Theorie vorausgesagt, tionierte, kam es in den Volkswirtschaften mit
auch tatsächlich im Finanzsystem angekommen Negativzinsen nicht oder noch nicht zu einem
sind. Allerdings mit kleineren Ausnahmen, etwa klaren Aufschwung. Bedeutet dies, dass die Ne-
bei den Banken. Die Zinssenkungen der Zentral- gativzinsen nicht funktionieren? Nein. Denn die
banken unter die Nullgrenze haben in den ent- Zentralbanken senken ihre Zinssätze normaler-
sprechenden Volkswirtschaften zu einem Zins- weise wesentlich stärker, wenn sie einen Auf-
rückgang auf breiter Front geführt – genauso wie schwung herbeiführen wollen.
normalerweise auch Zinssenkungen im positi-
ven Bereich.2 Die Zinssätze an den Geld- und An- Zinssenkungen zu gering,
leihenmärkten sind wie erwartet gefallen, und
2 Für Details siehe Ball et um Wirkung zu zeigen
die Wechsel- und Aktienkurse haben ebenfalls al. (2016).
3 Siehe dazu Ball et al.
wie üblich reagiert. (2016) und Danthine
Die Zinssenkungen im negativen Bereich waren
Die Ausnahme bilden die Zinssätze der Ban- (2016). minim. So betrug Japans jüngste Zinssenkung von
4 Zudem besteht eine
ken, die diese Zinssenkung nur teilweise wei- Nicht-Linearität bei der 0,10 auf –0,10 Prozent nur gerade 0,20 Prozent-
tergaben. Die Reaktionen der Banken fielen da- Weitergabe von Kurz- punkte. Die Schweizerische Zentralbank wählte
fristzinsen an Lang-
bei je nach Land sehr unterschiedlich aus, wie fristzinsen im Bereich einen Satz von –0,75 Prozent. Die meisten Perso-
der Zinsuntergrenze
verschiedene Studien3 zeigen.4 Über diese län- – je nachdem, wo der nen nehmen eine Zinssenkung um 0,20 Prozent-
derspezifischen Besonderheiten ist noch we- Markt diese Unter-
grenze sieht. Siehe dazu
punkte auf ihrem Sparkonto kaum wahr. Und
nig bekannt, sie könnten aber mit anderen Grisse et al. 2016. auch ein um 0,75 Prozentpunkte günstigerer
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 21
ZINSEN
Bankkredit wird nicht scharenweise Leute dazu ren Worten: Die Medizin hilft zwar, doch für eine
bewegen, sofort ein neues Auto anzuschaffen, Heilung müsste sie wesentlich stärker dosiert
wenn gleichzeitig aufgrund einer schleppenden werden. Die Zentralbanken haben die Zinsen
Konjunktur die Aussichten auf Lohnerhöhungen nicht weiter unter null gesenkt, da Negativzinsen
nicht allzu rosig sind. Neuland bedeuteten und ungewiss war, ob sie
Normalerweise greifen die Zentralbanken wirken oder ob sie schädliche Nebenwirkungen
wesentlich beherzter ein, wenn sie eine trä- mit sich bringen. Auch die Unbeliebtheit negati-
ge Konjunktur wirklich ankurbeln wollen. Zum ver Zinssätze und Bedenken über entsprechen-
Vergleich: Während der relativ milden US-Re- de Reaktionen seitens der Öffentlichkeit und der
zession im Jahr 2001 senkte die US-Zentralbank Politik können dazu beigetragen haben. Zentral-
die Zinssätze von rund 6 auf etwa 1 Prozent. Und banken sind von Natur aus vorsichtig.
auch als Reaktion auf die globale Finanzkrise
2008 wurden die Zinssätze um 5 Prozentpunkte Negativzinsen sollen die
herabgesetzt. 2008 und 2009 hätte die Bank die
Risikobereitschaft erhöhen
Zinsschraube noch weiter gelockert, wenn nicht
bereits die Null-Prozent-Grenze erreicht worden Noch ist nicht bekannt, wie weit unter null die
wäre, die bis dahin als Untergrenze galt.5 Zinssätze sinken können, bis Einzelpersonen,
Zudem gelang es im Allgemeinen nicht, mit Unternehmen oder Finanzinstitute ihre Anlei-
dem Senken der nominalen Sätze unter null auch hen und Sparguthaben auf hohem Niveau auf-
die realen Sätze zu drücken. Der Realzins ist so- lösen und stattdessen Bargeld ohne Verzin-
wohl von den Nominalzinsen als auch von der In- sung bevorzugen. Wo diese Untergrenze liegt,
flation abhängig (siehe Kasten). Doch die meisten ist schwierig abzuschätzen. Sollte man diesen
Schritte im Minusbereich waren Reaktionen auf Punkt jedoch versehentlich erreichen, könnte
einen Rückgang der Inflation und der Inflations- dies das Vertrauen ins Finanzsystem erschüt-
erwartungen, der wesentlich ausgeprägter war tern und zur Folge haben, dass es nicht mehr rei-
als die darauf folgenden zögerlichen Zinssen- bungslos funktioniert.
kungen unter null.6 Zur Begrenzung dieses Risikos gibt es ver-
Als zum Beispiel die Schweizerische Na- schiedene Methoden und Instrumente. So kön-
tionalbank ihren Leitzins im Januar 2015 auf nen die Zentralbanken beispielsweise den Ban-
–0,75 Prozent reduzierte, ergriff sie gleichzei- ken aushelfen, die Einlagen verlieren, oder sie
tig Massnahmen, die eine Währungsaufwertung können die Ausgabe von Bargeld beschränken.
bewirkten und die Inflation kurzfristig um min- Solche Ideen sind jedoch umstritten und poli-
destens 0,75 Prozent verringerten. Die Reduktion tisch problematisch. Zumindest sollten Zentral-
der Nominalzinsen und die tiefere Inflation ho- banken aber wachsam sein, ob sich die Zinsen
ben sich gegenseitig weitgehend auf, sodass die dieser Untergrenze nähern.
realen Zinssätze mehr oder weniger unverändert Die meisten übrigen Vorbehalte betreffen
blieben. Das Unterschreiten der Nullgrenze hatte nicht die Negativzinsen an sich, sondern den
daher keinen unmittelbaren realen Effekt auf die langen Zeitraum niedriger, realer Zinssätze. Es
Rendite der Spargelder in der kurzen Frist. Trotz- wird befürchtet, dass niedrige reale Zinssätze
dem haben in der Schweiz viele das Gefühl, ihre über einen längeren Zeitraum zu Verzerrungen
Ersparnisse würden durch die Negativzinsen ge- an den Finanzmärkten führen und die Stabili-
schmälert. Dass negative nominale Zinssätze so tät des Finanzsystems gefährden. Wenn sichere
umstritten sind, liegt auch in der sogenannten Anleihen und Spareinlagen nur noch eine mini-
Geldwertillusion: Viele Leute unterscheiden nicht male Rendite abwerfen, suchen die Anleger nach
zwischen nominalen und realen Zinssätzen. besseren und möglicherweise riskanteren An-
Die Negativsätze vermochten zwar den Defla- lagemöglichkeiten. Doch das ist genau der Sinn
tionsdruck etwas zu mildern. Die winzigen Zins- dieser Geldpolitik: Sie soll die Risikobereitschaft
schritte im Minusterritorium reichten jedoch in und die Wirtschaft stimulieren. Falls die Anle-
den meisten Ländern nicht aus, um der Wirt- ger allerdings auf nicht produktive Anlagen oder 5 Siehe Krogstrup (2017).
schaft wirklich Dynamik zu verleihen. Mit ande- Immobilien setzen, können Blasen entstehen, 6 Siehe Krogstrup (2017).
die später platzen. Doch diese Gefahr besteht wenn keine weiteren Massnahmen zur Eindäm-
nicht nur bei nominalen Negativzinsen, und sie mung der allgemeinen finanziellen und wirt-
ist möglicherweise kleiner, wenn sich die Wirt- schaftlichen Risiken ergriffen werden.
schaft in einem Abschwung befindet.7 Die Geldpolitik ist bei weitem nicht die einzi-
Seit der globalen Finanzkrise gehört es zum ge Option zur Konjunkturbelebung. Bei trägem
Job der Zentralbanken, bei negativen Schocks die Wachstum, hoher Arbeitslosigkeit und hartnäckig
Finanzmarktpreise im Auge zu behalten und An- schleppender Investitionstätigkeit wollen die Ent-
zeichen für Blasen oder eine übermässige Risi- scheidungsträger vielleicht mehr unternehmen.
kobereitschaft zu erkennen. Die Zentralbanken Öffentliche Investitionsprojekte und eine Aus-
können je nach Auftrag und verfügbaren Instru- weitung der staatlichen Ausgaben im Allgemei-
menten unterschiedlich reagieren. Einige Zent- nen können Zinssenkungen wirksam ergänzen.
ralbanken können die Risikobereitschaft mit so- Gerade wenn die Zinssätze niedrig sind, können
genannten makroprudenziellen Massnahmen, Staatsausgaben als Wachstumsmotor wirken.
wie etwa erhöhten Eigenkapitalanforderungen Angebotsseitige Reformen – idealerweise kom-
oder antizyklischem Kapitalpuffer bei der Hypo- biniert mit fiskalpolitischen Massnahmen – kön-
thekenvergabe, direkt regulieren. Andere ha- nen die Wettbewerbsfähigkeit und die Produkti-
ben diese Kompetenz nicht. Eine Anhebung der vität einer Volkswirtschaft ebenfalls stimulieren.
Zinssätze, bevor eine Wirtschaft wieder auf dem Wenn dadurch die Märkte besser funktionieren,
Wachstumspfad ist, birgt jedenfalls stets die Ge- das Bildungssystem aufgewertet wird, wichti-
fahr einer verzögerten Rückkehr zum Wachstum. ge Infrastrukturen entstehen und der Unterneh-
Häufig wird argumentiert, dass Negativzin- mergeist und die Innovation gefördert werden,
sen schlecht für die finanzielle Gesundheit von erhöhen solche Massnahmen das Potenzial für
Banken, Pensionskassen und Versicherungen künftiges Wachstum. Falls die Öffentlichkeit dies
seien. Diese Risiken sind jedoch ebenfalls eher versteht und daran glaubt, könnte es auch in der
das Ergebnis niedriger realer Zinsen als der ne- heutigen Situation Vertrauen schaffen und so die 7 Ball et al. (2016).
8 Siehe etwa Sveriges
gativen nominalen Sätze an sich. Und sie hängen Ausgaben und das Wachstum ankurbeln. Riksbank (2016).
mit den Geschäftsmodellen zusammen, die diese
Institutionen anwandten, als noch von höheren
realen und nominalen Zinssätzen auszugehen
war. Diese Geschäftsmodelle wandeln sich je-
doch, und die Banken haben in Ländern mit Ne-
gativzinsen bisher im Durchschnitt nicht stärke-
re Gewinneinbussen verzeichnet als in Ländern
mit positiven Zinssätzen.8 Jennifer Blanke Signe Krogstrup
Die nominalen Zinssätze anzuheben, um die Dr. oec.,Vizepräsiden- Dr. oec., Beraterin,
Gewinne der Finanzinstitute zu schützen, wäre tin für Landwirtschaft, Forschungsabteilung,
Menschliche und Internationaler Währungs-
falsch, und es könnte sich als Bumerang erwei- Soziale Entwicklung, fonds (IWF), Washington
sen. Denn das würde tendenziell die gesamtwirt- Afrikanische Entwick-
lungsbank, Abidjan
schaftliche Nachfrage schwächen und das Wirt-
schaftswachstum hemmen und so die Phase der
Literatur
niedrigen realen Zinssätze verlängern. Dadurch
Ball, Laurence, Joseph Gagnon, Patrick Honohan and Signe
könnte die Finanzbranche noch stärker unter Krogstrup (2016). What Else Can Central Banks Do? Geneva
Reports on the World Economy 18, ICMB and CEPR.
Druck geraten. Blanke, Jennifer und Signe Krogstrup (2016). Negative Interest
Rates: Absolutely Everything You Need to Know. Artikel auf der
Global Agenda Homepage des World Economic Forum.
Begleitende Reformen und Investitio- Danthine, Jean-Pierre (2016). The Interest Rate Unbound? Hutchins
Center Working Paper Nr. 19, Brookings Institution.
nen können die Konjunktur beleben Grisse, Christian, Signe Krogstrup und Silvio Schumacher (2017).
Lower Bound Beliefs and Long-Term Interest Rates. Forthcoming,
in: International Journal of Central Banking.
Die Wirkung der Negativzinsen ist grundsätz- Krogstrup, Signe (2017). Monetary Policy Accommodation with Low
lich als Erfolg zu werten. Allerdings gibt es beim Interest Rates. Veröffentlichung bevorstehend, in: Business Economics.
Sveriges Riksbank (2016). How Do Low and Negative Interest Rates
Senken der Zinssätze im Minusbereich Grenzen, Affect Banks’ Profitability? In: Monetary Policy Report, April 2016.
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 23
ZINSEN
Konsum bescheiden.
ZINSEN
Abb. 1: Entwicklung der Negativzinsen und der Sparguthaben bei die s timulierende W
irkung, welche die Zentral-
Banken in der Schweiz (2009–2016) banken mit ihrer Zinssenkung anstreben, zu-
sätzlich abgeschwächt. Doch zumindest in der
0,75 In % In Mio. Franken 18 000
Schweiz haben die Privatkunden auf die Nega-
DIE VOLKSWIRTSCHAFT
0,15 -6000
oder ob sie einfach nur Bargeld horten.
0 -12 000
2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Die meisten Kunden würden
Durchschnittlicher Zinssatz auf Girokonten Veränderung Sparguthaben pro Jahr (rechte Skala)
ihr Geld abheben
Um den Effekt der Negativzinsen auf die Kunden
Abb. 2: Was die Befragten mit dem abgehobenen Geld machen würden
60 In %
zu untersuchen, beauftragte das niederländi-
ING INTERNATIONAL SURVEY / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
en
n
ic h
Fr ien
xe n
e d rg
de
ch n
en
Ru en
ie n
hs i
tt
an
ie
ie
D e re i c
US
ni
D u ür k
u
ni
hi
lan
l
r re
l
lg
an
än
Po
b
ch
ra
It a
hl
an
ec
m
Be
T
k
m
Sp
er
st
sc
te
an
r it
Au
rc
Lu
sb
Ts
Ni
os
Gr
en
n
ic h
Fr ien
xe n
e d rg
de
ch n
en
Ru en
ie n
hs i
tt
e
lie
an
ie
ie
D e re i c
US
ni
D u ür k
u
ni
hi
la n
l
r re
l
lg
an
än
Po
b
ch
ra
It a
hl
an
ec
m
Be
T
k
m
Sp
er
st
sc
te
an
r it
ut
Ös
rc
Lu
sb
Ts
Ni
os
Gr
Geld vom Sparkonto abheben Mehr sparen, um Sparziele zu erreichen Nichts unternehmen relle Faktoren. Viele empfinden Negativzinsen
Gewichtet nach Land, Alter, Geschlecht und Region. Alle Antworten sind auf dem
als eine unfaire «Besteuerung» von Kleinan-
95-Prozent-Niveau signifikant. Da Mehrfachantworten möglich waren, kann das legern. Das gilt insbesondere für Kulturen, in
jeweilige Landestotal 100 Prozent übersteigen. denen Sparsamkeit als Tugend gilt. Im Durch-
Literatur
Akerlof, G. und R. Shiller (2009). Animal Spirits: Hannoun, H. (2015). Ultra-Low or Negative Inter- White, W. (2012). Ultra Easy Monetary Policy and
How Human Psychology Drives the Econo- est Rates: What They Mean for Financial Stabi- the Law of Unintended Consequences, Federal
my, and Why It Matters for Global Capitalism, lity and Growth, Diskussionsbeiträge am Eurofi Reserve Bank of Dallas, Globalization and Mo-
Princeton University Press. High-Level Seminar, Riga. netary Policy Institute Working Paper Nr. 126.
Haldane, A. (2015). How Low Can You Go?, Rede ING (2015). Negative Rates, Negative Reactions Heitmann, S. und J. Gautier (2016). Negativzinsen
vor der Handelskammer von Portadown, vom ING Economic and Financial Analysis. auf Sparkonten: Jeder vierte Schweizer würde
18. September 2015. sein Geld abheben, Money Park.
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 27
VIVIANE FUTTERKNECHT / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 29
ZINSEN
funktioniert und dass die Zinsen deshalb in der weil die exportierten Güter teurer und die im-
Schweiz historisch tiefer sind als in anderen portierten Güter billiger werden. Eine weitere
Ländern. Aufwertung hätte die wirtschaftliche Situation
verschlechtert. Das war ein wichtiger Grund für
Das Federal Reserve hat Mitte März entschieden, die Nationalbank zu handeln.
den Leitzins zu erhöhen. Ist eine längerfristige
Zinswende in Sicht, die vielleicht auch die Euro- Erzeugen die Negativzinsen die beabsichtigte
päische Zentralbank vollziehen könnte? geldpolitische Wirkung?
In Amerika zeichnet sich jetzt eine Normalisie- Ja, die beabsichtigte Wirkung ist eingetreten. Das
rung der Geldpolitik ab. Das Fed hat angekün- heisst aber nicht, dass jeder Druck, der auf den
digt, dass bei guter Entwicklung weitere Zins- Franken entstehen kann, alleine durch diese Ne-
schritte geplant sind. Das ist gativzinsen aufgefangen werden kann. Bei grös-
«Der Bargeldumlauf ein sehr positives Zeichen. Ein seren Störungen – etwa wenn politische Verunsi-
wichtiger Teil der Weltwirt- cherung in der Eurozone oder in Europa auftritt
ist nicht übermässig schaft ist demnach so robust, – haben wir das andere geldpolitische Standbein:
gestiegen.» dass dort höhere Zinsen mög- die Bereitschaft, auf dem Devisenmarkt zu inter-
lich sind. In Europa ist die wirt- venieren.
schaftliche Erholung zwar im Gange, aber noch
nicht so kräftig wie in den USA. Auch die Infla- Diese Interventionen werden kritisch angese-
tion ist noch nicht so stark und nachhaltig ange- hen. Die Bilanzsumme ist stark angestiegen auf
stiegen, als dass die EZB die Zinsen schon hätte über 700 Milliarden Franken. Welche Risiken sind
anheben können. Wir sind aber zuversichtlich, damit verbunden?
dass wir allmählich auch in Europa einer Norma- Es stimmt, unsere Bilanz ist im Verlauf der Krise
lisierung entgegensehen können. sehr gross geworden. Sie widerspiegelt letztlich
den Einsatz der Nationalbank im Interesse des
Was wäre passiert, wenn Sie im Dezember 2014 Landes zur Krisenbewältigung. Die Aktiven hal-
die Negativzinsen auf Sichtguthaben nicht ein- ten wir mehrheitlich in Fremdwährungen, und
geführt hätten? dadurch sind sie Bewertungsschwankungen aus-
Der Negativzins ist eine wichtige Säule unserer gesetzt. Solche Bewertungsschwankungen ha-
Geldpolitik. Die Eurozinsen waren vor Einfüh- ben jedoch keinen Einfluss auf unsere geldpoli-
rung des Negativzinses teilweise sogar tiefer als tischen Handlungsmöglichkeiten. Aber es kann
die Frankenzinsen. Dadurch ist die übliche Zins- natürlich dazu führen, dass der Gewinn unter
differenz invertiert worden, was natürlich zu Umständen nicht gross genug ist, um eine Aus-
starken Zuflüssen in den Franken geführt hat. schüttung an Bund und Kantone vorzunehmen.
Mit der Einführung des Negativzinses war es Das war beispielsweise für das Geschäftsjahr
möglich, die verloren gegangene Zinsdifferenz 2013 der Fall.
teilweise wiederherzustellen, sodass Anlagen in
Schweizer Franken wieder tiefer verzinst wer- Gibt es einen Höchstwert dieser Bilanzsumme,
den als Anlagen in Euro. Das hat wiederum den den man nicht überschreiten sollte?
Druck auf den Franken reduziert. Hätten wir das Nein, einen ökonomisch fundierten Grenzwert
nicht gemacht, hätte man mit Frankenanlagen gibt es nicht. Wir wägen aber immer ab, ob eine
mehr verdient als mit Euroanlagen, und das Inte- Intervention und damit eine Ausdehnung der Bi-
resse am Franken wäre zusätzlich gestiegen. lanz gerechtfertigt ist. Wir wollen die Bilanz dann
ausdehnen, wenn dies geldpolitisch sinnvoll ist.
Hätte das bedeutet, dass unsere Exportindustrie
nicht mehr wettbewerbsfähig gewesen wäre und Sie sprechen von einer Überbewertung des Fran-
die Arbeitslosigkeit hochgeschnellt wäre? kens – können Sie sagen, was der faire Kurs
Genau. Jede Aufwertung des Frankens hat auto- gegenüber dem Euro wäre?
matisch Auswirkungen auf die Exportmöglich- Man kann keinen exakten Wert angeben, und
keiten und auf das Preisniveau in der Schweiz, wir hüten uns deshalb davor, eine Zahl zu nen-
nen. Aber alle Indikatoren und Modelle deuten Sie schliessen es also nicht aus.
darauf hin, dass der Franken immer noch deut- Nein, wir schliessen es nicht aus.
lich überbewertet ist, insbesondere gegenüber
dem Euro. Gewisse Kreise wollen mit keynesianischen Re-
zepten die Wirtschaft stimulieren – was halten
Gemäss dem Internationalen Währungsfonds ist Sie davon?
die Negativzinspolitik der SNB erfolgreich. Ge- Wir sollten etwas aufpassen mit der Verwen-
wisse Stimmen sagen, man könnte die Zinsen so- dung von solchen Schlagworten. Für die wirt-
gar noch stärker in den Minusbereich senken – schaftspolitische Diskussion ist es sehr wichtig,
was halten Sie davon? dass wir die Ausgangslage genau analysieren
Wir sind schon ziemlich weit gegangen mit Zin- und schauen, welche wirtschaftspolitischen
sen von –0,75 Prozent. Dennoch: Wir haben Instrumente in der jeweiligen Situation Sinn
noch Spielraum, um die Zinsen weiter zu sen- machen. Ob diese Massnahmen dann unter ein
ken. Aber wir wägen immer ab, ob eine weitere Label wie das des Keynesianismus oder ein an-
Absenkung unter Berücksichtigung der damit deres passen oder nicht, ist zweitrangig und un-
verbundenen Nebenwirkungen gerechtfertigt wichtig. Für viele Länder sind heute vor allem
ist und Sinn macht. Strukturreformen nötig, denn das Potenzial-
wachstum von Volkswirtschaften ist vielerorts
zu tief.
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 31
ZINSEN
Haben Sie ein Beispiel eines Landes, welches das waltung. Ich glaube, das ist eine gute Ausgangs-
gut bewältigt hat? lage. Aber es braucht auch das Bewusstsein, wie
In Europa haben einige Länder, wie beispiels- wichtig diese Rahmenbedingungen sind, um das
weise Spanien, Griechenland und Frankreich, hohe Lohnniveau und den Wohlstand auch in
Strukturreformen durchgeführt. Diese Refor- Zukunft zu wahren. Unsere gute Situation darf
men greifen aber noch nicht, oder sie haben vor nicht als selbstverständlich angesehen werden.
dem Hintergrund der grossen aktuellen Proble- Im globalen Wettbewerb braucht es nicht viel,
me ihre Wirkung noch nicht voll entfaltet. Doch um bei den Rahmenbedingungen plötzlich an
Regierungen, die den Mut haben, diese Struktur- Vorsprung zu verlieren.
reformen in Angriff zu nehmen, können in den
nächsten Wahlen von den Wählern abgestraft Meinen Sie damit beispielsweise die Ablehnung
und abgewählt werden. Das reduziert selbstver- der Unternehmenssteuerreform III, das ungewis-
ständlich den Appetit, diese Strukturreformen in se Verhältnis zu Europa und die zunehmende Re-
Angriff zu nehmen. Aber weitsichtige Politik ver- gulierungsdichte?
langt, dass man grundlegende Probleme irgend- Das sind alles ganz wichtige Fragen. Als National-
einmal auch löst. bank halten wir uns aber hier zurück und mischen
uns nicht in die politische Diskussion im Detail ein.
Wo gibt es in der Schweiz Handlungsbedarf für
Strukturreformen? Die Vorsorgewerke sind stark von den Negativ-
Wir dürfen feststellen, dass die Schweiz bei den zinsen und von der demografischen Alterung be-
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gut da- troffen. Was können die Pensionskassen tun, da-
steht. Im Vergleich zum Ausland haben wir einen mit sie ihren Renditeverpflichtungen trotzdem
flexiblen Arbeitsmarkt und eine effiziente Ver- nachkommen können?
Ganz grundsätzlich sind es vor allem die tiefen in der Schweiz sind dank vernünftiger Regulie-
Renditen auf dem gesamten Anlagevermögen, rung recht gut kapitalisiert.
welche die Vorsorgewerke vor Probleme stellen.
Dauert eine solche Durststrecke mit Tiefzinsen Ist es heute bereits der Fall, dass man vermehrt in
nur ein paar Jahre, ist das weniger gravierend. riskante Anlageformen investiert?
Wenn das Zinsniveau aber langfristig tief bleibt, In der Schweiz ist beispielsweise der Immobilien-
dann wird die Situation für das Vorsorgesys- markt, der normalerweise sehr anfällig ist, nach
tem deutlich schwieriger, weil es unter der An- Beginn der Finanzkrise stark gewachsen. Wir
nahme von deutlich höheren Erträgen eingerich- verzeichneten einen starken Anstieg beim Hypo-
tet wurde. Dann bleiben eigentlich keine grossen thekarvolumen und bei den Im-
anderen Möglichkeiten, als Anpassungen bei den mobilienpreisen. Seit zwei bis
Umwandlungssätzen oder bei den technischen drei Jahren verflacht sich die- «Die Schweizer Banken
Zinssätzen vorzunehmen. Das wiederum hat Aus- ses Wachstum aber allmählich. sind dank vernünftiger
wirkungen auf die Beiträge und die Leistungen. In einigen Segmenten sind die
Preise sogar leicht rückläufig.
Regulierung recht gut
Stimmt es, dass die Negativzinsen der National- Das heisst, die Massnahmen, kapitalisiert.»
bank die inländischen Banken jährlich über eine die die Behörden ergriffen ha-
Milliarde Franken kosten? ben, wie etwa die Einführung des antizyklischen
Die Erträge auf den Sichtguthaben der National- Kapitalpuffers, wirken. Wir haben also trotz der
bank 2016 lagen in der Grössenordnung von 1,5 Negativzinsen keine Zunahme der Dynamik am
Milliarden Franken. Trotz Negativzinsen hat das Immobilienmarkt gehabt. Sowohl das Hypothe-
Bankensystem die letzten zwei Jahre insgesamt karwachstum als auch die Immobilienpreise ver-
recht gut bewältigt. Viele Banken konnten sich harren jedoch auf hohen Niveaus.
dem Umfeld anpassen und haben keinen Ein-
bruch bei den Gewinnen gehabt. Die Zinsen auf den Sparkonten schwinden, und
die Kontogebühren werden erhöht. Stellen Sie
Trotzdem ist das Geschäftsmodell der Banken in fest, dass die Leute ihr Erspartes abheben und
Gefahr. vermehrt horten?
Für die Banken stellt die gegenwärtige Situa- Nein, das stellen wir nicht fest. Wir sehen zwar,
tion eine grosse Herausforderung dar. Die Zin- dass der Bargeldumlauf gestiegen ist, aber nicht
sen für Hypothekarkredite sind stärker gefallen übermässig. Das Wachstum hat mit dem Umfeld
als die Zinsen auf Sicht- und Spareinlagen. Das zu tun: Aus Angst vor Krisen erhöhen die Sparer
führt dazu, dass die Zinsmarge kleiner geworden in der Regel ihre Bargeldbestände.
ist. Bis jetzt konnten die meisten Banken relativ
gut mit dieser Situation umgehen. Sie haben bei- Ziehen die Sparer das Geld von der Bank ab?
spielsweise mehr längerfristige Hypotheken ver- Nicht wegen unseres Negativzinses, denn es gibt
geben, wo die Renditen noch etwas höher sind, praktisch keine Bank, die Kleinsparer effektiv
als wenn man eine Libor-Hypothek vergibt. Da- mit Negativzinsen belastet. Zudem ist das Ab-
durch sind die Einnahmen hoch geblieben. Aber ziehen von Bargeld bei der Bank mit hohen Risi-
andererseits sind dadurch auch die Risiken ge- ken verbunden: Sparer können Bargeld verlieren,
stiegen, weil eine fixe Hypothek mit einer langen oder es kann gestohlen werden – und dann ist der
Laufzeit für eine Bank zum Verlustgeschäft wer- Ertrag auf Bargeld stark negativ und damit tiefer
den kann, wenn die Zinsen wieder steigen. als der Nullzins bei der Bank. Aber für die Sparer
ist es auch wichtig, dass wir in der Schweiz eine
Und wie kann sich das auf die Finanzstabilität sehr tiefe Inflation haben und dadurch die Kauf-
dieser Banken auswirken? kraft ihrer Ersparnisse gut erhalten bleibt.
Falls es in der Zukunft beispielsweise bei Zins-
änderungen zu Verlusten kommen sollte, ist es
wichtig, dass das Bankensystem gut kapitalisiert Interview: Susanne Blank, Chefredaktorin
ist, damit es diese absorbieren kann. Die Banken «Die Volkswirtschaft»
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 33
STEUERN
KEYSTONE
auf sie reagieren. Zudem ist eine Steuer schwach auf Vermögenssteuerunterschie-
Vermögenssteuern in ausgewählten
umso schädlicher, je stärker solche Reak- de. Da der Löwenanteil der Einkommen in
OECD-Ländern (in % der gesamten
tionen nicht nur buchhalterischer Art sind, der Schweiz Arbeitseinkommen sind, be-
Steuereinnahmen)
sondern die tatsächliche wirtschaftliche deutet dies, dass Vermögenssteuern das
Leistung beeinflussen. Wir gehen daher 1995 2005 2015 reale Arbeitsangebot offenbar nicht we-
in einer aktuellen Studie mittels Schweizer Schweiz 2,87 3,40 3,62 sentlich beeinflussen. Auch die ausge-
Daten der Frage nach, welche Reaktionen Luxemburg 1,59 1,45 2,00 wiesenen Immobilienvermögen reagieren
Vermögenssteuern auslösen.4 verhältnismässig schwach auf Vermögens-
Norwegen 1,31 1,02 1,01
steuern.
Island 1,16 0,00 0,00
Hohe Steuerelastizität der Die grossen Elastizitäten der gesam-
Niederlande 0,54 0,02 0,00 ten Vermögen rühren hingegen zumindest
Privatvermögen Spanien 0,44 0,42 0,32 kurzfristig in erster Linie von der starken
Unser Kernanliegen ist es, zu schätzen, wie Schweden 0,41 0,36 0,00 Reaktion der Finanzvermögen her, welche
stark die steuerlich deklarierten Vermögen Deutschland 0,26 0,01 0,00 in unseren Daten 43 Prozent der gesamten
auf Veränderungen bei der Vermögens- Frankreich 0,25 0,40 0,52
Vermögen ausmachen.
steuerbelastung reagieren. Dazu haben wir Zudem stellen wir eine statistisch klar
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 35
STEUERN
Literatur
Brülhart, M., Gruber, J., Krapf, M. und Brülhart, Marius and Raphaël Parchet Piketty, Thomas, Emmanuel Saez and Salvi, Marco und Luc Zobrist (2013).
Schmidheiny, K. (2017). The Elasticity (2014). Alleged Tax Competition: The Gabriel Zucman (2013). Rethinking Capital Zwischen Last und Leistung: Ein Steuer-
of Taxable Wealth: Evidence from Mysterious Death of Inheritance Taxes in and Wealth Taxation. Arbeitspapier, Paris kompass für die Schweiz. Avenir Suisse
Switzerland. Arbeitspapier, Universität Switzerland. Journal of Public Economics, School of Economics, UC Berkeley und und Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich.
Lausanne, Massachusetts Institute of 111: 63–78. London School of Economics. Zoutman, Floris T. (2015) The Effect of
Technology und Universität Basel. Piketty, Thomas (2014). Capital in the 21st Seim, David (2017). Behavioral Responses Capital Taxation on Household Savings.
Century. Harvard University Press. to Wealth Taxes: Evidence from Sweden. Arbeitspapier, Norwegian School of
American Economic Journal: Economic Economics (NHH), Bergen.
Policy, im Druck.
D
25
as Staatssekretariat für Wirtschaft
(Seco) hat im Jahr 2016 insgesamt
875 Beschwerden wegen unlauteren
Abb. 1: Beschwerden nach Konsumenten und Unternehmen
40 000
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 37
UNLAUTERER WETTBEWERB
Aggressive Verkaufsmethoden 5
Esoterik 3
Gesundheit 3
Total 25 875
SHUTTERSTOCK
Irreführung (inkl. aggressiver Verkaufs- 29
methoden)
SECO / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Werbeanrufe 4
Auf dem Handy lassen sich Callcenter-
Adressbuchschwindel 3 Nummern blockieren.
Werbefaxe 1
fahrten und Schneeballsysteme (je 2) sowie
Werbefaxe und Privatbestechung (je 1).
Total 76
Die Zahl der Beschwerden zu Werbe- Insgesamt führten 19 Strafverfahren zu
fahrten hat sich 2016 mit 17 Reklamatio- Verurteilungen (siehe Tabelle 4). Davon ent-
Tabelle 3: Strafklagen nach Bereichen nen auf tiefem Niveau stabilisiert. In die- fielen 7 Strafbefehle auf Werbeanrufe; bei
(2016) sen sogenannten Kaffeefahrten werden den irreführenden Geschäftspraktiken gab
Irreführung 15 vornehmlich ältere Personen dazu verlei- es 6 Strafurteile und Entscheide.
(inkl. aggressiver Verkaufsmethoden) tet, an einem fremden Ort überhöhte Prei- In 3 Fällen kam es zu Freisprüchen, und
Werbeanrufe 6 se für ein Produkt zu bezahlen. Die vom in einem Fall wurde das letztinstanzliche
Werbefahrten 2
Seco initiierten Strafverfahren haben hier kantonale Urteil durch das Bundesgericht
in den letzten fünf Jahren zu einer Reduk- aufgehoben. Ferner ist es im vergangenen
SECO / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Werbefaxe 1
tion der Anzahl Beschwerden geführt. Im Jahr in 18 Fällen zu Nichtanhandnahme-,
Schneeballsysteme 2 Jahr 2012 waren noch 564 Beschwerden Einstellungs- und Sistierungsverfügungen
Privatbestechung 1 eingegangen. gekommen.
Total 27
Seco reicht 27 Strafklagen ein
Tabelle 4: Strafbefehle, Entscheide,
Urteile Im Jahr 2016 hat das Seco insgesamt 76
Unternehmen mit Warnschreiben abge-
Werbeanrufe 7 mahnt (siehe Tabelle 2) und in 27 Fällen
SECO / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
ALAMY
In der Schweiz entscheiden sich die meisten Familien für eine traditionelle
Aufteilung zwischen Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung: Der Mann
arbeitet 100 Prozent, während die Frau ihr Pensum reduziert.
Gesamtwirtschaftlich verschlechtert die tiefere Arbeitsmarktbeteiligung
der Frauen die Karrierechancen und mindert die Rente. Unser Dossier
zeigt: Nebst Wertvorstellungen beeinflussen steuerliche Fehlanreize
sowie ein fehlendes Betreuungsangebot die Wahl eines Familienmodells.
Jobsharing oder auf Kaderebene «Topsharing» können dabei helfen,
Beruf und Familie besser zu vereinbaren. Damit sich die Chancen
gleichheit zwischen den Geschlechtern effektiv verbessert, müssten sich
aber vermehrt auch Männer für diese Arbeitsform entscheiden.
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 39
BERUF UND FAMILIE
4 670 bildung).
4 000
3 890
Wirtschaft profitiert von
3 000
2 740 Betreuungsausbau
2 000 Den hier ausgewiesenen Kosten steht ein
beträchtlicher Nutzen gegenüber. Na-
DIE VOLKSWIRTSCHAFT
KEYSTONE
Wenn ein Kind eine Kita besucht, können beide
Eltern arbeiten – davon profitiert die Wirtschaft.
gebots die Arbeitsmarktpartizipation von ausschlaggebend für die Betreuungsquali-
Frauen wirksam erhöht. Dies wiederum tät: Sie beeinflussen beispielsweise die
wirkt sich positiv auf die Unternehmen aus, Möglichkeiten des Personals, individuelle Im Bereich der familienfreundlichen
welche in Zeiten des Fachkräftemangels Bedürfnisse der Kinder zu erkennen und Arbeitsbedingungen entstehen den
einen direkten Nutzen aus dem grösseren zu berücksichtigen. Zusätzlich entscheidet Unternehmen zwar Kosten für die Bereit-
inländischen Arbeitskräfteangebot ziehen. das Betreuungsverhältnis über die Zeit, stellung von flexiblen Teilzeitarbeits-
Auch die öffentliche Hand profitiert dank welche für die individuelle Betreuung eines plätzen. Diese Kosten werden durch den
zusätzlicher Steuereinnahmen und Einspa- Kindes zur Verfügung steht. Mit anderen direkten Effekt der vermehrten Rückkehr
rungen im Bereich der sozialen Sicherheit. Worten leidet bei diesbezüglichen Kosten- von Müttern an den Arbeitsplatz und den
Neben dem direkten Nutzen wirken einsparungen die Qualität. damit verbundenen Einsparungen bei
sich die untersuchten Betreuungs- und Eine Studie des Berner Beratungs- und der Personalwiederbeschaffung jedoch
Förderangebote auch auf die kognitiven Forschungsunternehmens Ecoplan aus dem wieder aufgewogen. Deshalb fallen hier
und nicht kognitiven Fähigkeiten der Jahr 2016 ortet ein moderates Optimierungs- vor allem die Kosten des in den Ausbau-
Kinder mehrheitlich positiv aus, wie ver- potenzial bei den Regulierungen in der szenarien berücksichtigten Elternurlaubs
schiedene Studien zeigen. Die stärkste Eröffnungsphase einer Kinderkrippe. ins Gewicht.
Evidenz besteht dabei für Kinder aus Allerdings dürfte die Realisierung dieser Aufgrund ausländischer Studien kann
sozial benachteiligten Familien: Indem Potenziale die laufenden Betriebskosten vermutet werden, dass sich der Eltern-
Krippen und Spielgruppen diesen Kindern nur unwesentlich beeinflussen. urlaub tendenziell positiv auf die Arbeits-
ein gutes Umfeld bieten und sie auf den marktpartizipation von Müttern aus-
Kindergarten vorbereiten, verbessern sich Grosser Nutzen für Risikofamilien wirkt. Der Effekt hängt jedoch stark von
deren Bildungschancen. der konkreten Ausgestaltung ab; zu-
Sparpotenzial besteht hier relativ Kinder aus sozial benachteiligten Familien dem sind die ausländischen Erfahrungen
wenig, denn die Kosten eines Krippen- nutzen Kitas oder Spielgruppen seltener, nur bedingt auf die Schweiz übertragbar.
platzes in der Schweiz sind kaufkraft- obwohl sie am stärksten davon profitieren Trotzdem ist anzunehmen, dass ein Aus-
bereinigt nicht höher als im benachbarten würden – wie verschiedene Studien zei- bau der Elternzeit den Bedarf für familien-
Ausland. Die Löhne des Betreuungs- gen. Gezielte Massnahmen zur Unterstüt- ergänzende Kinderbetreuung im ersten
personals als wichtigster Kostenfaktor zung von Risikofamilien und Familien mit Lebensjahr leicht reduziert und somit im
sind im Vergleich zu anderen Berufs- Migrationshintergrund sind deshalb ein Bereich der Kitas etwas geringere Kosten
gruppen in der Schweiz eher tief.3 weiterer wichtiger Pfeiler einer Politik der anfallen.
Wichtige Determinanten der Vollkosten frühen Kindheit. Im Rahmen von Hausbe- Grundsätzlich sind die beiden Hand-
sind das Betreuungsverhältnis – das heisst suchsprogrammen beispielsweise können lungsfelder – Betreuungsangebote auf der
die Anzahl Kinder pro Betreuungsperson – Eltern in der Erziehung gezielt unterstützt einen und familienfreundliche Arbeits-
und der Anteil an qualifiziertem Personal. und motiviert werden, ihr Kind in eine Kita bedingungen auf der anderen Seite –
Gleichzeitig sind das Betreuungsverhält- oder eine Spielgruppe zu schicken. Mit ver- stark miteinander verzahnt. Für das Ge-
nis und der Anteil an qualifiziertem Personal gleichsweise geringem Aufwand kann hier lingen der Vereinbarkeit von Familie und
eine relativ grosse Wirkung erzielt werden. Beruf braucht es beides: ein qualitativ
3 Infras / Universität St. Gallen (2015).
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 41
BERUF UND FAMILIE
hochstehendes familienergänzendes Be- Kita ist die Belastung je nach Einkommen hohe finanzielle Belastung der Haushalte
treuungsangebot und familienfreund- sogar noch höher; sie beträgt bei Haushal- schränkt den Zugang für Familien mit ge-
liche Rahmenbedingungen am Arbeits- ten mit tiefen Einkommen bis zu 44 Pro- ringem Einkommen zu den Betreuungsan-
platz. Ohne Kitas und Spielgruppen ist zent des Bruttoeinkommens. Die starke geboten ein und stellt insbesondere ein
eine erhöhte Arbeitsmarktpartizipation der finanzielle Belastung führt wiederum zu Hindernis für die Integration von Müttern
Frauen kaum erreichbar – doch ein Aus- geringen oder gar negativen Erwerbsan- in den Arbeitsmarkt dar.
bau der familienergänzenden Betreuung reizen: Zumindest in der kurzen Frist lohnt Im Gegensatz dazu sind die Ausgaben
allein genügt nicht, denn die meisten Eltern es sich für einen Haushalt nicht, dass bei- der öffentlichen Hand für die Politik der
wollen ihre Kinder nach wie vor zu einem de Elternteile beruflich tätig sind. frühen Kindheit im internationalen Ver-
grossen Teil selber betreuen. Verschiedene Angebote der Politik der gleich eher tief. Eine Diskussion über die
Durch die Summe der Humankapital- frühen Kindheit werden via allgemeine künftige Finanzierung der Politik der frühen
effekte bei Müttern und Kindern stärkt Steuermittel mitfinanziert. Der grösste Kindheit scheint deshalb empfehlenswert.
die Politik der frühen Kindheit die Wett- Ausgabenposten der öffentlichen Hand
bewerbsfähigkeit und die Produktivität ist die Mitfinanzierung der Betreuung in
der Wirtschaft. Zudem tragen die unter- Kitas, Spielgruppen und Tagesfamilien.
suchten Massnahmen zu einer gerechteren Dazu kommen die Ausgaben im Bereich
Verteilung von Bildung und Einkommen der Unterstützungsangebote für Risiko-
und damit zur Armutsprävention bei. Des- familien und Familien mit Migrations-
halb dürften sich Investitionen in die hintergrund. Insgesamt schätzen wir die
Politik der frühen Kindheit zumindest in Ausgaben von Bund, Kantonen und Ge-
der mittleren und längeren Frist auszahlen. meinden für die Politik der frühen Kind-
Um den Return on Investment genauer heit auf rund 600 Millionen Franken pro Susanne Stern
zu beziffern, wären allerdings zusätzliche Jahr. Dies entspricht einem Wert von Sozialgeografin, Bereichsleiterin und
empirische Studien für die Schweiz nötig 0,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Partnerin Forschungs- und Beratungsbüro
Infras, Zürich
– insbesondere zu den mittel- und länger- Im Vergleich mit anderen Industrie-
fristigen Wirkungen der Programme und staaten sind die Ausgaben der öffentlichen
Massnahmen. Hand relativ tief: Alleine die öffentlichen
Ausgaben für die familienergänzende
Hohe Elternbeiträge setzen Kinderbetreuung im Vorschulbereich be-
laufen sich im OECD-Schnitt auf 0,3 Pro-
Fehlanreize zent des BIP.4
Ein beträchtlicher Teil der Kosten der Poli- Auch die Arbeitgeber beteiligen sich
tik der frühen Kindheit wird heute von an der Finanzierung der Politik der frühen
den privaten Haushalten getragen. Kitas, Kindheit, und zwar in dreierlei Hin- Monika Bütler
Spielgruppen und Tagesfamilien werden sicht: erstens über direkte Beiträge zur Professorin für Volkswirtschaftslehre,
mehrheitlich über Elternbeiträge finan- Finanzierung von Kitas und Tagesfamilien. Schweizerisches Institut für Empirische
ziert – im Durchschnitt beträgt der Eltern- Zweitens über Arbeitgeberbeiträge an die Wirtschaftsforschung (SEW-HSG),
Universität St. Gallen
anteil bei den Kitas je nach Kanton und Ge- Erwerbsersatzkasse und drittens über die
meinde rund zwei Drittel der Vollkosten; Bereitstellung von familienfreundlichen
bei den Spielgruppen sind es sogar bis zu Teilzeitarbeitsplätzen. Literatur
drei Viertel. Im internationalen Vergleich Ecoplan (2016). Regulierungen für die Eröffnung
einer Einrichtung der familienergänzenden Kinder-
sind Schweizer Familien damit überdurch- Über die Finanzierung sprechen betreuung, Wissenschaftlicher Bericht im Auftrag
schnittlich stark durch Ausgaben für die des Bundesamts für Sozialversicherungen, Bern.
Infras / Universität St. Gallen (2015). Analyse der Voll-
familienergänzende Betreuung belastet. Die Kosten-Nutzen-Bilanz zeigt, dass die kosten und der Finanzierung von Krippenplätzen in
Die in der Studie betrachteten Haushalts- Politik der frühen Kindheit beträchtliche Deutschland, Frankreich und Österreich im Vergleich
zur Schweiz. In: Beiträge zur Sozialen Sicherheit,
typen geben bis zu ein Viertel ihres jähr- Investitionen erfordert, die aber mittel- Forschungsbericht 3/15. Bundesamt für Sozialver-
lichen Bruttoeinkommens für die Betreu- und langfristig amortisiert werden. Die sicherungen (Hrsg).
Infras / Universität St. Gallen (2016). Whitepaper
ung ihrer Kinder in einer subventionierten zu den Kosten und Nutzen einer Politik der frühen
Kita aus. Bei einer nicht subventionierten 4 OECD Family Database (2012), OECD-33. Kindheit. Jacobs Foundation.
Unternehmen)
Modells ist simpel: Zwei (oder mehr)
Vermittlung von Erfahrung von Seniors
Arbeitnehmende teilen sich eine Vollzeit- an Jüngere (z.B. intergenerationelles
stelle mit verschiedenen, voneinander ab- Jobsharing)
hängigen Aufgaben und gemeinsamer
Weitere Gründe
Verantwortung. Die beiden Personen
treten beruflich als Einheit auf und können
0 10 20 30 40 50 60 70
sich gegenseitig vertreten − beurteilt
In %
wird letztlich das gemeinsame Ergebnis. Mehrfachnennungen möglich.
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 43
BERUF UND FAMILIE
Jobsharing: Sammelband und nicht Vollzeit arbeiten zu müssen. So Wissen, was für die Wettbewerbsfähigkeit
Informationen im Internet arbeiten heute über 60 Prozent aller des Unternehmens entscheidend ist. Die
Frauen mit einem Hochschulabschluss beiden Gründe zeigen: Massnahmen zur
Der Verein Part Time Optimisation (PTO) hat und mindestens einem Kind Teilzeit.4 Auch Erhaltung qualifizierter Arbeitskräfte im
die Initiative Go-for-jobsharing lanciert und
unter der Leitung der Co-Gründerin von PTO, auf Führungspositionen ist es von Vor- Unternehmen werden immer wichtiger,
Irenka Krone-Germann, und von Alain Max teil, auf ein Duo zu setzen, zumal dieses insbesondere angesichts des Fachkräfte-
Guénette, Professor an der Westschweizer im Vergleich zu einer einzigen Person mit mangels. Der am dritthäufigsten genannte
Fachhochschule ARC, den mehrsprachigen
einer Teilzeitstelle eine höhere Präsenz im Grund war die Ermöglichung besserer
Sammelband Le partage d’emploi – Jobsharing
Neue Chancen und Herausforderungen der Arbeit Unternehmen aufweist. Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen.
(Ed. L’Harmattan) mit Beiträgen von 34 Autoren Diese Ziele gewinnen zusehends an
aus fünf Ländern veröffentlicht. Unterstützt Bedeutung: Zahlreiche Mitarbeitende
wird PTO vom Eidgenössischen Büro für die Qualifizierte Mitarbeitende halten
Gleichstellung von Frau und Mann sowie von
sehen in einem flexiblen und innovations-
diversen privaten Sponsoren. Der Verein betreut HR-Verantwortliche und die Unterneh- freundlichen Arbeitsumfeld eine Chance,
Tandems, die an Jobsharing interessiert sind, mensleitung müssen alles daransetzen, sich auch in anderen Berufsfeldern zu be-
und organisiert «Jobsharing Meet-ups» in ver- kompetente Mitarbeitende im Betrieb zu tätigen oder sich daneben sogar selbst-
schiedenen Schweizer Städten. Des Weiteren
führt er Workshops in Unternehmen durch,
halten. Eine hoch qualifizierte Frau, die ständig zu machen. Und: Immer mehr
die sich an Führungskräfte, HR-Fachleute und nach zehn Jahren im Berufsleben ihr ers- Menschen gehen heutzutage freiwillig
potenzielle Jobsharing-Kandidaten richten. Am tes Kind erwartet, möchte nach der Ge- mehreren Berufstätigkeiten nach. Die
6. November 2017 organisiert PTO zusammen burt vielleicht nur noch Teilzeit arbeiten. US-Forscherin Marci Alboher hat solche
mit seinen Partnern in Basel das zweite inter-
nationale Kolloquium zum Thema Job- und Lässt ihre Kaderposition dies nicht zu, wird Doppel- oder Parallelkarrieren 2007 als
Topsharing. das Unternehmen sie unter Umständen für «Slash Careers» bezeichnet.
Plattformen wie Wejobshare.ch und immer verlieren. Dank Job- oder Topsha-
Tandemploy.com erleichtern die Suche nach ring bleibt die Firma im Vergleich zur Kon-
einer passenden Person für ein Jobsharing. Für Suchen, finden – starten
praktische Fragen ist die Website Go-for-job- kurrenz attraktiv. Gleichzeitig bleibt dem
sharing.ch empfehlenswert, welche sich sowohl Unternehmen das Know-how der Mit- Die Grundvoraussetzung für ein effizien-
an Arbeitgeber und HR‑Fachleute als auch an arbeitenden erhalten – sein wertvollstes tes Jobsharing ist nach wie vor, dass sich
Arbeitnehmende richtet.
Kapital. Durch ein generationenübergrei- zwei passende Personen finden. Zuerst
fendes Jobsharing lässt sich das Fachwis- muss man jemanden suchen, mit dem man
sen zudem von den älteren Mitarbeitenden gewisse Werte teilt. Danach gilt es, sich
ten können heute am gleichen Ort oder an die jüngeren weitergeben. gegenseitig kennen zu lernen und auszu-
auch an verschiedenen Orten gleichzeitig Im Jahr 2014 befragte die Fachhoch- probieren, ob eine Zusammenarbeit funk-
ausgeübt werden. schule Nordwestschweiz (FHNW) landes- tioniert. Erst dann kommt eine gemeinsa-
Für die Rekrutierung und die Suche weit 382 Unternehmen mit insgesamt me Kandidatur infrage (siehe Kasten).
nach potenziellen Jobsharing-Partnern 180 000 Mitarbeitenden zu Jobsharing
set
zen die entsprechenden Plattformen (siehe Abbildung).5 Als wichtigsten Grund
auf Big Data. Algorithmen erleichtern es für die Einführung von Jobsharing auf den
Interessierten, berufliche Kontakte zu oberen Hierarchiestufen nannten die be-
knüpfen, aus welchen Jobsharing-Tandems fragten Führungskräfte die Motivations-
entstehen können. steigerung von qualifizierten Mitarbeitern
Da der Anteil an Teilzeitmitarbeitenden (Talentbindung). Am zweitwichtigsten
stetig zunimmt, zeigen immer mehr Unter- war die Erhaltung und Vermittlung von
nehmen Interesse am Modell. Mehr als ein
Drittel aller Beschäftigten in der Schweiz 4 BFS (2015). Irenka Krone-Germann
arbeiten Teilzeit. Ein Grund dafür sind die 5 Krone-Germann Irenka, De Chambrier Anne Aymone Dr. oec., Co-Gründerin und Geschäftsfüh-
und Amstutz Nathalie (2014), Nationale Befragung und rerin des Vereins Part Time Optimisation
generell hohen Löhne, welche es Personen Informationsplattform zum Jobsharing in der Schweiz, (PTO), Co-Gründerin We Jobshare GmbH
mit einer guten Ausbildung erlauben, Die Volkswirtschaft, 6–2014, 22−23.
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 45
BERUF UND FAMILIE
KEYSTONE
In den meisten Familien bleiben die Mütter öfter
zu Hause als die Väter.
sie als minderwertige Arbeitsform be- nehmen sie grosse wirtschaftliche Risiken
trachtet wird – als Besonderheit, die auf auf sich, insbesondere bei einer Scheidung
ngebot im Bereich der Betreuungsstruk-
A eine traditionelle Rollenverteilung zurück- und bei der Pensionierung.
turen ab. zuführen ist. Die Teilzeitarbeit zementiert Ebenfalls nicht infrage gestellt wird die
Die Übervertretung von Männern bei diese stereotype Aufgabenteilung, indem hauptsächlich private Finanzierung der
den Vollzeitstellen und von Frauen bei die Teilzeitarbeit als etwas betrachtet familienergänzenden Kinderbetreuung –
der Teilzeitarbeit lässt sich in allen Alters- wird, was in erster Linie Frauen betrifft. was die Nachteile verstärkt. Selbst wenn
gruppen feststellen. Die Unterschiede Wenn also Frauen weiterhin haupt- zwei Frauen die Aufgaben einer Kader-
beim beruflichen Werdegang zwischen sächlich für die Hausarbeit zuständig sind, stelle unter sich aufteilen, bringen sie
Vätern und Müttern sind der Grund während die Männer weiterhin zwei Drittel mit ihrem Entscheid für die Teilzeitarbeit
dafür, dass sich hauptsächlich Frauen zum Familieneinkommen beisteuern, ist zu zum Ausdruck, dass sie den wesentlichen
für ein Arbeitsmodell wie das Jobsharing befürchten, dass die Ungleichheit weiter Teil der Haus- und Familienarbeit über-
interessieren. Je nach sozialer Schicht zunimmt oder dass sie zumindest bei- nehmen. Erst wenn gleich viele Väter wie
fällt der «Entscheid» für die Teilzeitarbeit behalten wird. Männer und Frauen werden Mütter Teilzeit arbeiten, wird die mit dieser
allerdings unterschiedlich aus. So ziehen dadurch auch in Zukunft nicht im gleichen Arbeitsform verbundene Symbolik neu
sich Frauen mit einem höheren sozio- Umfang in die berufliche Vorsorge ein- definiert.
ökonomischen Status nach der Geburt zahlen, und sie werden nicht die gleichen
ihrer Kinder weniger häufig vom Arbeits- Karrierechancen haben.
markt zurück. Es ist davon auszugehen, Zweifellos vermögen Job- oder Top-
dass diese gut ausgebildeten Frauen am sharing die Nachteile, welche die Teil-
ehesten ein Jobsharing oder ein Top- zeitarbeit mit sich bringt, am besten zu
sharing für sich in Anspruch nehmen. kompensieren. Aber: Das heutige bürger-
Wäre die Reduktion des Be- liche Familienmodell – der Mann arbeitet
schäftigungsgrads gleichmässig auf zu 100 Prozent und die Frau zu 50 Pro-
beide Partner verteilt, würde sie die Un- zent – wird nicht infrage gestellt. Indem
gleichheit zwischen den Geschlechtern die Frauen weiterhin den wesentlichen Teil
nicht verstärken. Bleibt hingegen die Teil- der Kinderbetreuung leisten, gefährden Nicole Baur
zeitarbeit hauptsächlich eine Sache der sie ihre Chancen auf berufliches Weiter- Gleichstellungsbeauftragte des Kantons
Neuenburg
Frauen, besteht weiterhin die Gefahr, dass kommen und Lohnerhöhungen. Damit
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 47
BERUF UND FAMILIE
123RF
Die Renten von Frauen sind durchschnittlich fast
40 Prozent tiefer als diejenigen von Männern.
Erwerbsunterbrüche, der Rückzug aus Pensionskassenrente (siehe Tabelle). Leis-
dem Arbeitsmarkt, Teilzeitarbeit und An- tungen aus der dritten Säule haben bei den
stellung im Tieflohnbereich. Im Gegensatz untersuchten Rentnergenerationen ledig- Im Unterschied zur AHV kommt es
zu den verheirateten, den geschiedenen lich 14 Prozent der Frauen und 28 Prozent bei der beruflichen Vorsorge zu keinem
und den verwitweten Frauen war der aus- der Männer. Splitting der Rentenansprüche. Nur bei
gewiesene Einkommensunterschied bei Der sogenannte Gender Pension Gap einer Scheidung werden die während der
den Ledigen relativ gering. Vermutlich (GPG) zeigt auf, um wie viel Prozent die Ehe erworbenen Ansprüche der beruf-
auch deshalb, weil diese – unabhängig Renten der Frauen im Durchschnitt tiefer lichen Vorsorge aufgeteilt. Auch im
vom Geschlecht – oft vollzeitlich oder sind als jene der Männer. Insgesamt be- Todesfall des Mannes erhalten Frauen
zu einem hohen Beschäftigungsgrad er- trägt der Unterschied der Renten von eine Witwenrente.
werbstätig waren. Frauen und Männern 37 Prozent. Dabei Wird der GPG ohne die verheirateten
ist zu beachten, dass die AHV-Renten der Personen berechnet, beträgt der Renten-
Renten der Frauen 37 Prozent Frauen und Männer praktisch gleich hoch unterschied noch 21 Prozent. Dieser
sind. Betrachtet man lediglich die Renten Wert ist vermutlich aussagekräftiger, da
tiefer aus der beruflichen Vorsorge, sind die bei Verheirateten von einer Haushalts-
Wie gross sind die geschlechtsspezifischen Renten der Frauen im Durchschnitt sogar gemeinschaft ausgegangen werden kann
Unterschiede bei den Bezugsquoten aus 63 Prozent tiefer. Bei der dritten Säule und es deshalb nicht so zentral ist, an wen
den drei Säulen der Altersvorsorge? Wäh- beträgt der Rentenunterschied 54 Pro- die Pensionskassenrente ausbezahlt wird.
rend beinahe die gesamte Bevölkerung An- zent. Somit ist das grosse Rentengefälle
spruch auf eine AHV-Rente hat, erhalten zwischen Männern und Frauen haupt- Ursachen des Gender Pension Gap
fast die Hälfte der Frauen keine Rente aus sächlich durch die viel geringeren Renten
der beruflichen Vorsorge. Dagegen bezie- aus der beruflichen Vorsorge bei Frauen Auch heute noch dominiert bei den Frau-
hen mehr als drei Viertel der Männer eine bedingt. en die Teilzeitarbeit: Während im Jahr
Aufgrund der traditionellen Rollen- 2013 nur 29 Prozent der Frauen zwischen
teilung bei der heutigen Rentnergeneration 20 und 65 Jahren Vollzeit arbeiteten, wa-
Datengrundlage haben die Männer den grösseren Teil zum ren es bei den Männern 76 Prozent.2 Eine
Haushaltseinkommen beigetragen. Da der Modellrechnung für die Bestimmung der
Die Unterschiede der Altersrenten von Männern
und Frauen (Gender Pension Gap) in der Schweiz Aufbau der beruflichen Vorsorge unmittel- relevanten Einflussfaktoren zeigt, dass
werden anhand des Sake/Sesam-Datensatzes bar mit der Erwerbstätigkeit zusammen- Nichtverheiratete, Kinderlose und Perso-
des Jahres 2012 und dessen Modul «Soziale hängt, konnten verheiratete Männer viel nen ohne Erwerbsunterbrüche über er-
Sicherheit» des Bundesamtes für Statistik (BFS)
ausgewiesen. Untersucht wurden AHV-Rentner,
öfter und in einem höheren Ausmass eine heblich höhere Pensionskassenrenten
welche im Jahr 2012 zwischen 64/65 und 75 Jahre berufliche Vorsorge aufbauen als ver-
alt waren (N=4277). heiratete Frauen. 2 Hofmann (2016).
Abb. 1: Anteile der drei Säulen an der Gesamtrente von Pensionierten Bewusstsein der Auswirkungen
100 In % fehlt
75
50
25
Robert Fluder
0
Dr. phil. I, Dozent und Projektleiter,
Berner Fachhochschule, Soziale Arbeit
g
en
et
er
al
de
te
ig
ig
ig
ig
di
t
ei z
tw
ed
To
ir a
hr
hr
Le
Jäh
Jäh
slä
wi
hw
hi
-Jä
-Jä
he
sc
6-
2-
r
Au
Sc
75
69
Ve
r
Ve
Ge
s7
s6
is
is
bi
bi
-b
-b
-
5-
73
70
67
-/6
64
AHV-Rentner zwischen 64/65 und 75 Jahren; N=4277, gewichtet gemäss BFS. Das mittlere Einkommen wurde
anhand der Einkommen aus den individuellen Konten der AHV (IK-Daten) der Jahre 1982 bis 2012 erfasst.
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 49
ARBEITSMARKT
KEYSTONE
DIE VOLKSWIRTSCHAFT
die, wie stark unterschiedliche Regio-
nen in der Schweiz vom Strukturwan- Dicht besiedeltes
del betroffen sind. Als Informationsbasis Gebiet
dient die vom Bundesamt für Statistik
(BFS) durchgeführte Arbeitskräfteerhe- 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
In %
bung von 2015, in welcher landesweit
über 40 000 Erwerbstätige befragt wor-
den sind. Indem wir diese Daten mit den Obligatorische Schule Allgemeinbildende Schule
Berufsbildung Höhere Berufsbildung Akademische Ausbildung
Wahrscheinlichkeitswerten von Frey und
Osborne verknüpften, konnten wir regio-
nale Unterschiede in der Intensität des
Strukturwandels abschätzen. Abb. 2: Berufsabschlüsse: Verteilung und Gefährdungsgrad
50 Anteil Erwerbstätige, in % Anteil gef. Arbeitsplätze, in % 75
Akademiker wohnen in der Stadt
SAKE (BFS), FREY UND OSBORNE (2013), BERECHNUNGEN WILLIMANN UND KÄPPELI
Bezüglich des Gefährdungspotenzials von 40 60
Arbeitsplätzen zeigt sich ein Stadt-Land-
Graben: Die Arbeitsplätze von Personen, die
30 45
in dünn besiedelten Gebieten wohnen, sind
mit rund 57 Prozent stärker gefährdet als
jene in städtischen Räumen (46%). Der lan- 20 30
desweite Durchschnitt liegt bei 51 Prozent.
Ein wesentlicher Grund für diese Dif-
10 15
ferenz zwischen Stadt und Land ist das
unterschiedliche Bildungsniveau der Er-
werbstätigen (siehe Abbildung 1). Beson- 0 0
ders ausgeprägt ist das Phänomen bei der Obligatorische Allgemeinbildende Berufsbildung Höhere Akademische
akademischen Ausbildung: Von den Er- Schule Schule Berufsbildung Ausbildung
werbstätigen, die im dicht besiedelten Ge-
Erwerbstätige 2015 Gefährdete Arbeitsplätze (rechte Skala)
biet wohnen, haben fast 40 Prozent einen
Universitätsabschluss, in dünn besiedel-
ten Gebieten sind es hingegen lediglich
17 Prozent. Dafür ist die Berufsbildung im Abb. 3: Anteil gefährdeter Arbeitsplätze der erwerbstätigen Wohnbevölkerung nach
ländlichen Raum um 20 Prozentpunkte Regionen
stärker vertreten.
Die durchschnittliche Arbeitsplatz-
gefährdung variiert je nach Bildungsab-
schluss erheblich – was sich insbesonde-
SAKE (BFS), FREY UND OSBORNE (2013), BERECHNUNGEN WILLIMANN UND KÄPPELI
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 51
ARBEITSMARKT
KEYSTONE
Arbeitsplätze auf dem Land sind angesichts des
digitalen Wandels besonders gefährdet. Ein
Bauer in der Leventina. sanne unter 50 Prozent (siehe Abbildung 3). besteht die Gefahr, dass der Wandel in der
In stark ländlich geprägten, peripher gele- Arbeitswelt das Wohlstandsgefälle sowohl
genen Regionen steigen die Werte hin- zwischen Regionen wie auch in der Bevöl-
raussetzung, um auf dem Arbeitsmarkt gegen auf teilweise über 60 Prozent. Für kerung vergrössert.
bestehen zu können. Dies muss als eine einige einwohnermässig kleinere Regio-
Herausforderung nicht nur für die Arbeits- nen ist die Aussagekraft aufgrund der ge-
kräfte, sondern auch für die Bildungsinsti- ringen Stichprobenzahl allerdings einge-
tutionen gesehen werden. schränkt.
Aufgrund der bisherigen Forschungs-
Risiko in Randgebieten am ergebnisse lässt sich sagen: Die «Schwä-
cheren» sind stärker vom Wandel in der
grössten Arbeitswelt betroffen. Dies bezieht sich
Die Auswertung nach geografischen Re- sowohl auf die strukturschwachen, peri-
gionen zeigt eine leicht erhöhte Arbeits- pheren Regionen wie auch auf Personen Ivo Willimann
platzgefährdung im Bernbiet sowie in der mit tieferem Bildungsniveau. Die Frage Dozent, Institut für Betriebs- und Regional-
ökonomie, Hochschule Luzern – Wirtschaft
Ost- und in der Zentralschweiz, wo das Ri- stellt sich, wie gut sich diese stärker be-
siko jeweils 53 Prozent entspricht. Dies sind troffenen Erwerbstätigen in einer verän-
jene Regionen, die im landesweiten Ver- derten Arbeitswelt zurechtfinden werden
hältnis etwas weniger dicht besiedelt sind. und wie die stärker betroffenen Regionen
Demgegenüber weist der dicht besiedelte mit dem Strukturwandel umgehen. Hier-
Grossraum Zürich einen tieferen Anteil ge- für mitentscheidend ist, welche neuen
fährdeter Arbeitsplätze von 47 Prozent auf. Arbeitsplätze geschaffen werden, welche
Die kleinräumigere regionale Auswer- Qualifikationen diese Jobs erfordern und
tung bestätigt dieses Bild: Nebst dem wo diese Arbeitsplätze entstehen. Dies
Grossraum Zürich liegt der Anteil gefähr- wird wesentlich von der Anpassungsfähig- Stephan Käppeli
deter Arbeitsplätze auch in den Stadtre- keit der Erwerbstätigen sowie der Wand- Dozent, Institut für Betriebs- und Regional-
ökonomie, Hochschule Luzern – Wirtschaft
gionen Basel, Bern, Lugano, Genf und Lau- lungsfähigkeit der Regionen abhängen. Es
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 53
Roboter und Mensch ergänzen sich
Leider basieren diese hehren Absichten auf ökonomisch zweifelhaften An-
nahmen. Beginnen wir mit der erwähnten «ausserordentlichen Knappheit» an
Arbeitskräften beispielsweise im Sozial- und Bildungsbereich: Sollte die Nach-
frage nach entsprechenden Dienstleistungen tatsächlich weiter stark zunehmen,
ist nicht nachvollziehbar, warum das Arbeitsangebot, aber auch der Einsatz
digitaler Technologien nicht auf dieses Bedürfnis reagieren sollte.
Weiter scheint der Unternehmer von einer Robotersteuer zu erwarten, dass diese
wie eine Art Lenkungsabgabe die Verbreitung von menschlichen Automaten
bremst. Auch diese Erwägung ist falsch. Denn Roboter verdrängen als besondere
Form des Kapitaleinsatzes den Menschen nicht zwingend vom Arbeitsplatz.
Aktuelle Forschungsprojekte zeigen im Gegenteil das grosse Potenzial an Auto-
maten, welche die Arbeit gerade im Pflege- und Gesundheitsbereich erleichtern.
Der Maschinenmensch trägt somit zum Abbau des Fachkräftemangels bei.
Aber noch wichtiger: Auch die nächste Welle der Automatisierung wird die
Arbeitsproduktivität der Menschen, das heisst die Wertschöpfung pro Arbeits-
stunde, in allen Branchen erhöhen und damit künftige Reallohnerhöhungen
und/oder tiefere Güter- und Dienstleistungspreise ermöglichen. Umgekehrt
verringerte eine fiskalische Belastung von Maschinen die Investitionsneigung
von Unternehmen. Weniger Roboter bedeuteten deshalb nicht automatisch
mehr Arbeit, sondern letztlich weniger Produktivität, weniger Wohlstand und
im schlimmsten Fall weniger Arbeit. Und schliesslich unterliegt der Vorschlag
der ewigen Illusion der Inzidenz: Würde eine solche neue Steuer eingeführt, be-
lastete diese die Kapitaleigner – sie lastete sicherlich nicht auf den Schultern von
Robotern.
Eric Scheidegger
Dr. rer. pol., Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik,
Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern
eric.scheidegger@seco.admin.ch
EZV
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 55
ZÖLLE
EZV stossen in mehrfacher Hinsicht an ihre Parlaments soll alle sechs Monate über den
Einmalige Projektaufwendungen Reserve
Grenzen. So ist die ICT-Infrastruktur über Fortschritt von «DaziT» informiert werden.
Hardware, Software, Lizenzen
Personalkosten (davon Externe: 45%)
mehrere Jahrzehnte gewachsen und um- Die mit dem Programm «DaziT» beab-
Betriebsaufwand
fasst mittlerweile rund 80 Fachanwendun- sichtigte systematische Digitalisierung
gen. Viele dieser in die Jahre gekommenen ist ein hochkomplexes Vorhaben, das mit
Total: 393 Mio. Fr. Anwendungen sind sogenannte Insellö- vielen Unsicherheiten und Risiken behaf-
sungen, die Redundanzen und Medien- tet ist. Bei einer erfolgreichen Umsetzung
brüche generieren. Homogene Technolo- bringt die digitale Gesamterneuerung der
Die sieben Projekte von «DaziT» gie- und Architekturprinzipien hingegen EZV jedoch eine nachhaltige Verbesserung
Das Programm «DaziT» besteht aus den folgenden fehlen. Diese technischen Grenzen verhin- für alle betroffenen Kreise.
sieben Projekten, die auf strategische Ziele ausge- dern vielfach Optimierungen zur Verbes- Offiziell startet das Programm «DaziT»
richtet sind und den Anknüpfungspunkt für die serung der Effizienz und Weiterentwick- im Jahr 2018 und dauert bis 2026. Doch
finanzielle Steuerung bilden:
Das Projekt Steuerung und Transformation umfasst
lungen. Mit anderen Worten: Es besteht bereits im laufenden Jahr werden wich-
die gesamte Programmsteuerung und enthält das dringender Handlungsbedarf. tige Aufbau- und Grundlagenarbeiten an
Transformationsmanagement, das u. a. den Rahmen Eine 2015 durchgeführte Studie führte die Hand genommen. Nachdem der Bun-
für die Umsetzung der organisationsrelevanten Inhal- zur Erkenntnis, dass der angestrebte Effi- desrat am 15. Februar die Botschaft zur Fi-
te in den fachlichen Projekten definiert. ICT Grundla-
gen legt die technischen Grundpfeiler und damit das
zienzgewinn sowie die geforderten Ver- nanzierung von «DaziT» verabschiedet hat,
Fundament für die neue Anwendungslandschaft. besserungen für die Anspruchsgruppen liegt das Geschäft nun beim Parlament, das
Portal und Kunde beinhaltet den Aufbau des nur durch eine serviceorientierte Gesamt- über die Freigabe des beantragten Sonder-
E-Portals. Damit wird es Kunden möglich sein, zeit- erneuerung und eine Modernisierung der kredits von rund 400 Millionen Franken
und ortsunabhängig auf sämtliche Dienstleistun-
gen der EZV digital, sicher und einfach zuzugreifen. Systemlandschaft realisiert werden kön- entscheidet. Voraussichtlich im Sommer
Das Projekt Redesign Fracht umfasst eine einheitliche nen. Die bestehenden Insellösungen müs- kommt die Vorlage in den Nationalrat.
Fachanwendung zur Verzollung von Waren (Fracht) sen in eine völlig neue ICT-Architektur
und die vollständige Digitalisierung der Prozesse für übergeführt werden. Entsprechend wer-
die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Waren. Redesign Ab-
gaben beinhaltet die Erneuerungen und Modernisie- den die Fachanwendungen auf ihre Kern-
rungen in den Bereichen Strassenverkehrsabgaben aufgaben reduziert, zusammengefasst
und Verbrauchssteuern. Shared Services umfasst die und, wo nötig, funktional erweitert.
Vereinheitlichung und Digitalisierung von verwal-
Da sich effiziente Prozesse mit einer
tungsinternen, bereichsübergreifenden Prozessen
(z. B. Bewilligungsverfahren oder Ressourcenma- optimalen technischen Systemunterstüt-
nagement). Und schliesslich führt das Projekt Kontrol- zung nur durch eine ganzheitliche Vorge-
le und Befund zu einer funktionalen Verbesserung der hensweise erreichen lassen, werden bei Isabelle Emmenegger
Anwendungen zur Steuerung der Einsätze des Grenz-
personals (z. B. Einsatzleitsystem) sowie zur zentra-
«DaziT» die sieben Projekte über ein ge- Programmleiterin «DaziT» und Mitglied
meinsames Steuerungsdach geführt und der Geschäftsleitung, Eidgenössische
len, gemeinsamen und einheitlichen Dokumentation Zollverwaltung (EZV), Bern
der Kontrollaktivitäten und -ergebnisse. koordiniert (siehe Kasten).
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 57
ZÖLLE
Wirtschaftskennzahlen
Auf einen Blick finden Sie hier die Kennzahlen Bruttoinlandprodukt, Erwerbslosenquote und Inflation von acht Ländern, der EU und
der OECD. Zahlenreihen zu diesen Wirtschaftszahlen sind auf Dievolkswirtschaft.ch aufgeschaltet.
Bruttoinlandprodukt: Bruttoinlandprodukt:
Reale Veränderung in % gegenüber dem Reale Veränderung in % gegenüber dem Vorquartal1
Vorjahr
2016 4/2016 3/2016 2/2016 1/2016
Schweiz 1,3 Schweiz 0,1 0,1 0,6 0,3
Deutschland 1,9 Deutschland 0,4 0,1 0,5 0,7
Frankreich 1,2 Frankreich 0,4 0,2 –0,1 0,7
Italien 0,9 Italien 0,2 0,3 0,1 0,4
Grossbritannien 1,8 Grossbritannien 0,7 0,6 0,6 0,2
EU 1,9 EU 0,5 0,5 0,4 0,5
USA 1,6 USA 0,5 0,9 0,4 0,2
Japan 1,0 Japan 0,2 0,3 0,4 0,6
China 6,7 China 1,7 1,8 1,9 1,3
OECD 1,7 OECD 0,4 0,5 0,4 0,4
Inflation: Inflation:
Veränderung in % gegenüber dem Veränderung in % gegenüber dem
Vorjahr Vorjahresmonat
2016 Februar 2017
Schweiz 0,0 Schweiz 0,6
Deutschland 0,5 Deutschland 2,2
Frankreich 0,2 Frankreich 1,2
Italien –0,1 Italien 1,6
Grossbritannien 0,7 Grossbritannien 2,3
EU 0,3 EU 1,9
SECO, BFS, OECD
Die Volkswirtschaft 5 / 2017 59
Zunehmende räumliche Spezialisierung
Beim Anteil der Arbeitsplätze pro Branche zeigt sich eine zunehmende Spezialisierung zwischen den Landschaftsräumen:
Während sich die urbanen Gebiete tendenziell deindustrialisieren – mit Ausnahme der Spitzenindustrie in den Metropolräumen –
wächst der industrielle Anteil im peripheren ländlichen Raum weiter. Umgekehrt wächst in den Metropolräumen der Anteil
der Arbeitsplätze in den wissensintensiven Dienstleistungen stark und auf hohem Niveau – aber die Agglomerationen und
periurbanen ländlichen Räume holen auf. Das Wachstum im Tourismus konzentriert sich auf die Städte und die Tourismuszentren.
Bülach ZH
periurbaner
Wattwil SG
periurbaner
Biel BE 0
periurbaner
peripherer
0
peripherer
0
Leysin VD
0
Onsernone TI
peripherer Agglomerationen
und übrige städtische
Peripherer agglo
Gemeinden
ländlicher
0 Raum
Periurbaner
0
agglo 0
Alpine +3,0%
ländlicher Raum
+2,3% -0,6%
Tourismuszentren
0
+7,9% +3,0%
-3,3%
QUELLE: REGIOSUISSE, MONITORINGBERICHT (2017); BFS, STATENT, THEMAKART (2016) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Wissensintensive Dienstleistungen
metroplo
100 000 – 999 999
-5,9%
0 +5,4%
Tourismus > 1 000 000
+0,6%
0
metroplo
0
60 Die Volkswirtschaft 5 / 2017
agglo
0
VORSCHAU
88e année N°5 /2017
90. Jahrgang Nr. 5 /2015 sFr.
Frs.12.–
12.–
La
DieVie économique
Volkswirtschaft
Plattformdefür Wirtschaftspolitik
Plateforme politique économique
FOKUS
Freihandel versus
Protektionismus
Die Dynamik des Welthandels hat in den vergangenen Jahren nachgelassen. Ein Grund dafür ist die kon-
junkturelle Abschwächung nach der Weltwirtschaftskrise. Aber auch zunehmende protektionistische
Massnahmen einzelner Staaten tragen das Ihre bei. Laut der Welthandelsorganisation (WTO) ist die Zahl
der Handelshemmnisse zwischen 2015 und 2016 stark angestiegen: Globalisierungskritik ist salonfähig ge-
worden. Was bedeutet dies für die Schweiz? Schliesslich sind Freihandelsabkommen ein wichtiger Bestand-
teil unserer Aussenwirtschaftspolitik. Welche Auswirkungen die Abschottungstendenzen haben, lesen Sie
in der kommenden Ausgabe.
Globalisierungskritik und der Einfluss auf Abstimmungs- und Wahlresultate in der Schweiz
Pascal Sciarini, Universität Genf