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90. Jahrgang   Nr. 8 – 9/2017 Fr. 12.

Die Volkswirtschaft
Plattform für Wirtschaftspolitik

INTERVIEW BREXIT DOSSIER GESUNDHEITSÖKONOMIE


ETH-Präsident Lino Guzzella Britischer EU-Austritt betrifft 25 Jahre Schweizer Medikamentenabgabe durch
sagt, wie seine Hochschule an auch die Schweiz Mitgliedschaft bei Ärzte setzt Fehlanreize
der Spitze bleibt 45 der Weltbank 66
40 51

FOKUS
Eine bargeldlose Schweiz
ist in weiter
Wichtiger HINWEISFerne
!
Innerhalb der Schutzzone (hellblauer Rahmen) darf
kein anderes Element platziert werden!
Ebenso darf der Abstand zu Format- resp. Papierrand
die Schutzzone nicht verletzen!
Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken!
Siehe auch Handbuch
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
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Unterschiedliche Blickwinkel auf das Grundeigentum und Lösungsansätze
zu dessen Mobilisierung im Zeitalter der Innenentwicklung
Montag, 30. Oktober 2017, 17.30 Uhr, METROPOL, Freimünsterstrasse 12, 8001 Zürich

Es sprechen u.a.
Lukas Bühlmann, Direktor Schweizerische Vereinigung für Landesplanung VLP-ASPAN, Jurist und Raumplaner
Prof. Dr. Paul Cheshire, London School of Economics
Prof. Dr. Jean-David Gerber, Universität Bern
Alec von Graffenried, Stadtpräsident Bern
Dr. Maria Lezzi, Direktorin Bundesamt für Raumentwicklung

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EDITORIAL

Und die Tausendernote?


Wie bezahlen Sie in der Pizzeria oder beim Autoverleih? Bar, mit der
Debit- oder der Kreditkarte, mit dem Handy oder gar mit Bitcoin? Für die
meisten Menschen in der Schweiz ist immer noch das Bargeld das b ­ eliebteste
Zahlungsmittel – auch wenn der Anteil sinkt. Tobias Trütsch von der
Universität St. Gallen zeigt auf, dass der Bargeldanteil letztes Jahr 53 Prozent
betrug, verglichen mit 90 Prozent im Jahr 1990. Stetig Marktanteile gewon-
nen h
­ aben dabei vor allem Debit- und Kreditkarten.
Die Forderung, wonach das Bargeld abge-
schafft gehöre, damit die expansive Geld-
politik der Nationalbanken besser greife,
hat ihren Ursprung in den Negativzinsen
zahlreicher Zentralbanken. Diese Ausgabe
knüpft sozusagen an die Tiefzins-Ausga-
be vom Mai «Historisch tiefes Zinsniveau»
an.
Ein weiteres Argument – zumindest für
die Abschaffung der höchsten Stücke-
lung – liefert die Verwendung von Bar-
geld in der Schattenwirtschaft. So will die Europäische Zentralbank ab 2018
die Ausgabe der 500-Euro-Note einstellen, um damit gegen Schwarzarbeit
und illegale Aktivitäten anzukämpfen. Professor Friedrich Schneider von
der Universität Linz kommt jedoch zum Schluss, dass die Beschränkung von
Bargeld keinen nennenswerten Einfluss auf den Rückgang der Schattenwirt-
schaft und die Kriminalität bringe.
In der Schweiz hält die Schweizerische Nationalbank (SNB) an der Tausen-
dernote fest. Sie will die neue Notenserie bis spätestens 2019 in Umlauf brin-
gen. SNB-Vizepräsident Fritz Zurbrügg schreibt in seinem Beitrag, es gebe
gemäss Bundesrat keine Hinweise, dass die Tausendernote besonders für
kriminelle Aktivitäten genutzt werde.

Wir wünschen Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre.


Nicole Tesar und Susanne Blank
Chefredaktorinnen «Die Volkswirtschaft»
INHALT

Fokus

6 10 14
Bargeld abschaffen macht Bankkarten verdrängen Vom Naturaltausch zum
wenig Sinn Bargeld Buchgeld
Hans Gersbach ETH Zürich Tobias Trütsch Universität St. Gallen Ernst Baltensperger Universität Bern
Martin Hellwig Max-Planck-Institut

17 21 25
Bargeld bleibt gefragt Schattenwirtschaft: Kampf um mobiles Zahlen
Fritz Zurbrügg Ursachen statt Bargeld in der Schweiz
Schweizerische Nationalbank
bekämpfen Andreas Dietrich
Hochschule Luzern
Friedrich Schneider
Johannes Kepler Universität Linz

28 34 35
Droht der Schweiz Wie deklariert man Bitcoins AUFGEGRIFFEN

bei Bitcoins ein in der Steuererklärung? Knallhartes Soft Law


Napster-Moment? Franco Gennari Eric Scheidegger
Eidgenössische Steuerverwaltung Staatssekretariat für Wirtschaft
Patrick Comboeuf
Beratungsfirma Carpathia
INHALT

Themen
b 40
«Menschen
machen den
Unterschied»

37 45
DIE STUDIE BREXIT

Der starke Franken trifft Brexit als Herausforderung


besonders die ländliche für die Schweizer
Hotellerie Handelspolitik
Christian Stettler Im Gespräch mit Claudio Wegmüller
KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich Staatssekretariat für Wirtschaft
dem ETH-Präsidenten
Lino Guzzella DOSSIER

66 25 Jahre Schweizer
GESUNDHEITSÖKONOMIE
Mitgliedschaft bei der
Kostenanreize bei der Weltbank
Medikamentenabgabe
52
Boris Kaiser B,S,S.
Christian Schmid Die Schweiz bei der Weltbank
CSS Institut für empirische Philipp Orga
49 Gesundheitsökonomie Staatssekretariat für Wirtschaft

KONJUNKTUR
54
Die Nationalbank investiert Die Weltbank in einer
in die Bildung 68 multipolaren Welt
Carlos Lenz, Manuel Wälti Ivan Pavletic Weltbank
Schweizerische Nationalbank ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT Jörg Frieden Schweizer Botschafter

Partnerschaften mit dem


Privatsektor sind zentral 58
Christian Brändli, Tim Kaeser, Lukas Schneller
Mehr Mittel für Entwicklungsbanken
Staatssekretariat für Wirtschaft Christopher Humphrey
Universität Zürich

Spots 61
«Wenn 189 Länder
zusammenarbeiten, dann ist das
Multilateralismus pur»
Schriftliches Interview mit

i Weltbank-Präsident Jim Yong Kim

IMPRESSUM ZAHLEN INFOGRAFIK STANDPUNKTE b


Alle Informationen Wirtschaftskennzahlen Geschäftsrisiken – 63
zum Magazin gefürchtet sind Von den Versprechen
Betriebsunterbrüche ist nur wenig geblieben
Peter Niggli
ehemaliger Geschäftsführer von Alliance Sud
4 71 72
65
Stimmrechtsgruppe mit
Schweiz und Serbien
Dusan Vujovic Serbischer Finanzminister
i IMPRESSUM

Herausgeber
Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, ­Bildung
und Forschung WBF,
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern

Redaktion
Chefredaktion: Susanne Blank, Nicole Tesar
Redaktion: Käthi Gfeller, Matthias Hausherr, Christian Maillard,
Stefan Sonderegger

Redaktionsausschuss
Eric Scheidegger (Leitung), Antje Baertschi, ­Susanne Blank,
Eric Jakob, Evelyn Kobelt, Cesare Ravara, Markus Tanner,
Nicole Tesar

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(französisch: La Vie économique), 90. Jahrgang, mit Beilagen.

Druck
Jordi AG, Aemmenmattstrasse 22, 3123 Belp

Der Inhalt der Artikel widerspiegelt die Auffassung der Autorinnen


und Autoren und deckt sich nicht notwendigerweise mit der
Meinung der Redaktion.

Der Nachdruck von Artikeln ist, nach Bewilligung durch die


Redaktion, unter ­Quellenangabe gestattet; Belegexemplare
­erwünscht.

ISSN 1011-386X

App
Vogt-Schild Druck AG, Gutenbergstrasse 1, 4552 Derendingen
FOKUS

Eine bargeldlose Schweiz


ist in weiter Ferne
Bargeld kann als Zahlungsmittel oder Wertaufbewahrungsmittel
dienen. Da die Zinsen bei null liegen oder sogar negativ sind,
ist das Bargeld zu einer Alternative zum Bankkonto geworden.
Wie sieht aber der Zusammenhang zwischen Bargeld und
Schattenwirtschaft aus? Sollte man das Bargeld abschaffen?
Lesen Sie mehr dazu in unserem Fokus.

Durchschnittlicher Notenumlauf der Schweizer Banknoten (Wert in Franken; 2016 )

Mrd
.
Mrd
.
Mrd
.
Mrd
.
Mrd
.
Mrd.
0,7 0% 2,6 6% 8 2 0
1,6 3% 1,
1 ,4% 0,
1 ,2% 45, ,3%
1, 2, 3, 16 14 62

10er 20er 50er 100er 200er 1000er

Ohne 500er-Noten aus der sechsten Serie (Wertanteil 0,1%), SNB


BARGELD

Bargeld abschaffen macht wenig Sinn


Kosten, Kriminalität und Zinspolitik: Das Bargeld ist an mehreren Fronten unter Beschuss.
Ein Gutachten zuhanden der deutschen Regierung zeigt nun: Der Schaden, den eine Bargeld-
abschaffung anrichtet, wäre gross.  Hans Gersbach, Martin Hellwig

der Faszination mit neuen Entwicklungen ge-


Abstract    Der Wissenschaftliche Beirat beim deutschen Bundesministe-
triebenen Industriepolitik. Statt nur auf die Kos-
rium für Wirtschaft und Energie hat sich in einem Gutachten von Anfang
Jahr mit dem in Wissenschaft und Politik weltweit diskutierten Vorschlag ten zu achten, sollten auch die Wünsche der Be-
befasst, durch staatliche Massnahmen das Bargeld abzuschaffen oder seine troffenen berücksichtigt werden. Denn bei der
Nutzung drastisch einzuschränken. Der Beirat erörtert die oftmals vorge- Entscheidung, ob ein staatlicher Eingriff ange-
brachten Argumente für eine Abschaffung des Bargelds – Kostenreduktion bracht ist oder nicht, kommt es letztlich nicht
durch Einsatz elektronischer Technik, Eindämmung illegaler Aktivitäten darauf an, ob elektronische Zahlungen billiger
und der Schattenwirtschaft und Eliminierung der künstlichen Null-Zins-
– oder moderner – sind als Barzahlungen, und
Grenze für Zentralbanken. Diese Argumente vermögen allesamt nicht zu
überzeugen, da Bargeldzahlungen beispielsweise einem Kundenbedürfnis
auch nicht darauf, ob Schweden bei der Ver-
entsprechen und die Abschaffung des Bargeldes keine gute Antwort auf drängung von Bargeld weiter ist als Deutschland
die Null-Zins-Politik der EZB ist. Stattdessen birgt eine bargeldfreie Wirt- oder die Schweiz, sondern es kommt darauf an,
schaft neue Risiken. Deshalb empfiehlt es sich, das Bargeld weiterhin beizu- ob im Zusammenspiel von Bevölkerung, Unter-
behalten. nehmen und Banken ein erhebliches Marktver-
sagen vorliegt oder nicht. Und das ist nicht der
Fall.

S  oll das Bargeld abgeschafft werden? Mit


dieser Frage hat sich der Wissenschaftli-
che Beirat beim deutschen Bundesministerium
Gewiss gibt es auch bei den Zahlungssyste-
men Netzwerkeffekte, sodass die Kosten einer
Transaktion umso kleiner sind, je mehr Perso-
für Wirtschaft und Energie unter anderem im nen oder Institutionen sich an einem System
Gutachten «Zur Diskussion um Bargeld und die beteiligen. Jedoch unterscheiden sich diese Ef-
Null-Zins-Politik der Zentralbank» vom 9. Feb- fekte nicht wesentlich von den Netzwerkeffek-
ruar 2017 befasst.1 ten und anderen externen Effekten in anderen
Meist führen die Abschaffungsbefürwor- Wirtschaftszweigen, wo wir davon ausgehen,
ter drei Hauptargumente auf. Das erste betrifft dass die Koordination unter den Anbietern aus-
die Kosten des Zahlungsverkehrs – demnach reicht, ein mögliches Marktversagen auf ein ak-
sind elektronische Zahlungsmittel günstiger als zeptables Mass zu reduzieren. Eine derartige
Bargeld. Zweitens sollen mit der Abschaffung Koordination findet auch bei Zahlungsmitteln
von Bargeld illegale Aktivitäten und Schatten- und Zahlungssystemen statt. Es ist allenfalls vor
wirtschaft stärker eingedämmt werden. Und der Möglichkeit zu warnen, dass die bestehen-
drittens würde die Zentralbank an Handlungs- den Anbieter, zum Beispiel die Banken, die Ko-
spielraum gewinnen, da die Anleger bei Nega- ordinationsmechanismen dazu nutzen, den Zu-
tivzinsen nicht mehr auf Bargeld ausweichen tritt neuer Anbieter mit neuen Technologien zu
könnten. Der Beirat hält keines dieser Argumen- behindern: Hier ist die Wettbewerbspolitik und
te für überzeugend. nicht die Zentralbank gefordert.
Aus Sicht der Nutzer bietet Bargeld durch-
1 Der vorliegende Arti- Bedürfnisse der Konsumenten aus Vorteile: Zahlungen sind endgültig, ano-
kel basiert auf diesem nym und hängen nicht von Dritten oder von der
Gutachten. Die beiden beachten
Autoren sind Mitglie- Technik und der Stromversorgung ab. Da die-
der der Arbeitsgruppe,
die das Dokument ver-
Hinsichtlich der Kosten von Geldwesen und se Vorteile etwaige Kostennachteile zumindest
fasst hat. Zahlungsverkehr warnt der Beirat vor einer von wieder ausgleichen dürften, wie die e­ mpirische

6  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017
FOKUS

ALAMY
BARGELD

Literatur nahelegt, droht eine staatlich be- en. Der Eingriff in die Freiheit normaler Bürger
triebene Verdrängung des Bargelds die Wohl- erscheint deshalb als unverhältnismässig.
fahrt zu mindern. In diesem Zusammenhang Dagegen hält der Beirat es für legitim, wenn
ist zu berücksichtigen, dass nicht jede techni- bei der Entscheidung über die Abschaffung
sche Entwicklung am Ende auch wirtschaftlich von grossen Scheinen wie beispielsweise der
sinnvoll ist. Vielmehr können industriepolitisch 500-Euro-Note berücksichtigt wird, dass solche
motivierte Eingriffe zur Förderung bestimmter Scheine besonders häufig für Transaktionen
Entwicklungen sehr teuer sein. zweifelhafter Legalität verwandt werden. Hier
geht es nicht um Grundsatzfragen, sondern um
Staatspolitische Bedeutung Ermessensentscheidungen. Allerdings können
die normalen Zahlungsprozesse erheblich be-
Im Geldwesen ist der Staat selbst als Markt- einträchtigt werden, wenn der Wert für die ma-
teilnehmer engagiert, da er für sich selbst, be- ximale Denomination von Noten allzu niedrig
ziehungsweise für die Zentralbank, ein Mono- angesetzt wird. Das widerspräche dem Versor-
pol für die Bargeldausgabe beansprucht. Dieses gungsauftrag der Zentralbank. Für die norma-
Monopol bringt einen Versorgungsauftrag mit le Nutzung macht es aber kaum einen Unter-
sich – wobei vor allem die Wünsche und Bedürf- schied, ob die maximale Denomination 500
nisse der Nutzer von Bargeld zu berücksichti- oder 200 Euro beträgt. Eine maximale Denomi-
gen sind. Die Produktionskosten sollten dabei nation von 10 oder 20 Euro wäre hingegen pro-
nur eine geringe Rolle spielen, denn bei fast al- blematisch.
len Münzen und Noten machen sie nur einen
Bruchteil des Nennwerts aus. Im Gegenteil: Der Gefährliche Null-Zins-Politik
Geldschöpfungsgewinn, eine Folge des Geld-
schöpfungsmonopols, ist sehr gross. Schliesslich beurteilt der Beirat die geldpoliti-
Einige der Vorzüge von Bargeld sind über sche Begründung für eine Abschaffung oder Er-
den unmittelbaren Nutzen für die Verbraucher schwerung der Verwendung von Bargeld eben-
hinaus von staatspolitischer Bedeutung. Insbe- falls als problematisch. Zwar ist richtig, dass
sondere die Anonymität des Bargelds dient dem die Existenz von Bargeld die Zentralbank daran
verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der in- hindert, Zinssätze deutlich unter null durchzu-
formationellen Selbstbestimmung der Bürger. setzen. Die von etlichen Makroökonomen ver-
Demgegenüber sollte auch die Erwägung zu- tretene Vorstellung, diese Grenze sei willkür-
rückstehen, dass illegale Aktivitäten häufig mit lich und es wäre gut, wenn die Zentralbank die
Bartransaktionen einhergehen. Versuche zur Zinsen deutlich unter null senken könnte, ist je-
Bekämpfung der Schattenwirtschaft und der doch falsch. Denn in diesen Diskussionen wird
Kriminalität durch eine drastische Erschwe- die Bedeutung des Zinssatzes für das Finanzsys-
rung der Verwendung oder gar Abschaffung des tem vernachlässigt.
Bargelds sind daher unverhältnismässig und im Aus Sicht des Finanzsystems sind Zinssät-
Übrigen nur bedingt wirksam. ze von null, oder gar negative Zinssätze, aus
In diesem Sinn wendet sich der Beirat gegen zwei Gründen fragwürdig. Zum einen ist bei
die vom deutschen Finanzministerium ins Ge- solchen Zinssätzen für viele Vermögensanla-
spräch gebrachte Einführung einer Obergren- gen der sogenannte Fundamentalwert nicht
ze für Bartransaktionen. Auch wenn Bartrans- mehr definiert. Dieser ist bereits bei sehr nied-
aktionen über fünf- oder sechsstellige Beträge rigen positiven Zinssätzen sehr hoch, mit gros-
tatsächlich vor allem im Zusammenhang mit ser Unsicherheit behaftet und anfällig gegen-
Schattenwirtschaft und Kriminalität stattfin- über kleinsten Zinsänderungen. Angesichts der
den, ist zu befürchten, dass eine Obergrenze vor aktuellen Zinssituation verliert damit ein mass-
allem normale Bürger und normale Aktivitäten gebliches Instrument der Portfolio-Analyse an
betrifft. Der Grund: Kriminelle Akteure können Aussagekraft, und die Allokation der Ersparnis-
sich der Überwachung leichter entziehen, in- se der Volkswirtschaft auf verschiedene mögli-
dem sie alternative Zahlungsmethoden aufbau- che Verwendungen ist mit grossen Fehlerrisiken

8  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017
FOKUS

behaftet. Zum anderen können viele Finanzins- chen und juristischen Personen keinen Zugang
titutionen – beispielsweise Versicherungen – bei zu Zentralbankeinlagen haben, so wandelt
sehr niedrigen Zinssätzen keine Gewinne mehr sich die Schuld der Geschäftsbank gegenüber
erzielen oder ihre Verpflichtungen nicht mehr dem Kunden von der Verpflichtung zur Aus-
erfüllen. Hinzu kommen die mit einer Zins- lieferung von Bargeld in eine Verpflichtung zu
wende verbundenen Risiken für Institute, die einer wunschgemässen Überweisung auf ande-
«Fristentransformation» betreiben – also wenn re Konten bei Geschäftsbanken. Damit entfiele
Banken langfristige Kredite mit kurzfristigen aber die Möglichkeit, Mittel aus dem Geschäfts-
Einlagen finanzieren. bankensystem insgesamt abzuziehen. Bei Zwei-
Die Geldpolitik der EZB, mit welcher sie seit feln an der Bonität der eigenen Bank könnte
2014 die Kreditvergabe ankurbeln und damit die man die Mittel auf andere Banken übertragen,
Wirtschaftstätigkeit beleben will, trägt den ge- hätte dann allerdings keine Möglichkeit mehr,
nannten Risiken nicht angemessen Rechnung. sich gegenüber Solvenzproblemen des Banksys-
Denn die damit verbundene Belastung des Fi- tems zu schützen.
nanzsektors birgt das Risiko, dass die Sanierung Zwar wäre dadurch die Gefahr eines system-
dieses Sektors nicht vorankommt beziehungs- weiten Bank-Runs gebannt. Diese Gefahr würde
weise gewisse Probleme sich durch den Druck jedoch ersetzt durch drohende Solvenzproble-
auf die Gewinnmöglichkeiten der Banken noch me, die am Ende durch staatliche Einrichtun-
weiter verschärfen. Je länger eine solche Null- gen zum Schutz der Einleger zu beheben wä-
Zins-Politik andauert, desto grösser sind die Ge- ren. Denn: In solch einem bargeldlosen System
fahren für den Finanzsektor, da die Bestände an wäre die Position der Banken sowohl gegenüber
neuen Krediten mit niedrigen Zinssätzen und ihren Kunden als auch gegenüber dem Staat ge-
langer Zinsbindung ständig wachsen. stärkt, wodurch alsbald politischer Druck ent-
stünde, die Bankeinlagen insgesamt von Staa-
Datenschutzprobleme tes wegen zu garantieren. Letztlich müsste also
der Staat die Risiken der Kredite und anderer
Ein weiterer grundsätzlicher Punkt wird eben- Anlagen der Banken tragen.
falls oft vernachlässigt: Wenn Bargeld als eine Zusammenfassend ist festzuhalten: Die für
jedermann zugängliche Form des Zentralbank- eine staatlich betriebene Abschaffung des Bar-
geldes abgeschafft wird, so ist nicht mehr klar, gelds vorgebrachten Argumente überzeugen bei
was eigentlich der Inhalt von auf Geldbeträgen genauer Betrachtung nicht. Vielmehr bringt eine
lautenden Schuldverträgen ist. Worin besteht bargeldfreie Wirtschaft neue Risiken mit sich.
die Verpflichtung eines Schuldners, etwa einer
Geschäftsbank gegenüber einem Kunden, wenn
es den Gegenstand der Schuld als physisches
Objekt nicht mehr gibt?
Man könnte in diesem Zusammenhang
den Begriff der Geldschuld umdeuten, sodass
«Geld» sich auf Guthaben bei der Zentralbank
beziehen würde. Derzeit haben jedoch die meis-
ten natürlichen und juristischen Personen kei-
nen Zugang zu Zentralbankeinlagen. Dies
könnte man natürlich ändern. Allerdings wür- Hans Gersbach Martin Hellwig
de dies gravierende Datenschutzprobleme auf- Professor für Makroöko- Direktor am Max-Planck-
nomie, Innovation und Institut zur Erforschung
werfen, da sich der Zahlungsverkehr insgesamt Politik, ETH Zürich; Vorsit- von Gemeinschaftsgütern;
bei der Zentralbank konzentrierte und diese zender des Wissenschaft- Professor für Volkswirt-
lichen Beirats beim deut- schaft an der Universität
dadurch einen Einblick in sämtliche Transak-
schen Bundesministerium Bonn; federführend in der
tionen einer Person erhielte. für Wirtschaft und Energie Arbeitsgruppe zum
Belässt man es bei der Abschaffung von Bar- und Mitverfasser des Bargeld-Gutachten
Bargeld-Gutachtens
geld hingegen dabei, dass die meisten natürli-

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  9
BARGELD

Bankkarten verdrängen Bargeld


Während noch Anfang der Neunzigerjahre eine überwältigende Mehrheit in der Schweiz
bar bezahlt hat, zücken heute immer mehr Konsumenten die Debit- oder die Kreditkarte.
Exakte Messungen sind allerdings unmöglich.  Tobias Trütsch

Abstract    Bis anhin gibt es keine gefestigten Statistiken über den effek- Die Bargeldumlaufquote reagiert weniger
tiven Bargeldgebrauch in der Schweiz, da Bargeldzahlungen anonym sind. empfindlich auf Geldmarktinterventionen der
Aussagen zur Bargeldentwicklung sind folglich mit Messproblemen ver- SNB als die Bargeldquote, da das BIP weniger
bunden. Erprobte Methoden basieren auf der Bargeld- und der Bargeld- stark schwankt als die direkt beeinflussbare
umlaufquote, auf den Konsumausgaben der privaten Haushalte oder auf Geldmenge M1. Je höher die beiden Quoten, des-
Konsumentenumfragen. Diese Ansätze zeigen, dass einerseits Bargeld als to bedeutsamer ist generell das Bargeld in einer
Zahlungsmittel kontinuierlich an Bedeutung verliert und die Digitalisie-
rung des Zahlungsverkehrs, insbesondere hervorgerufen durch Debit- und
Volkswirtschaft.
Kreditkarten, voranschreitet. Andererseits ist seit 2008 die Bedeutung von
Bargeld als Wertaufbewahrungsmittel erheblich gestiegen, vor allem be- Bargeldquote seit 1990 halbiert
dingt durch eine starke Nachfrage nach Tausendernoten.
Seit 1990 ist die Bedeutung des Bargelds stark
gesunken: Während die Bargeldquote damals

I n der Schweiz existiert eine Reihe von Zah-


lungsmitteln. Diese lassen sich grob in bare
Zahlungsmittel wie Münzen, Noten und Checks
noch 26 Prozent betrug, sank sie bis Ende 2016
auf 14 Prozent (siehe Abbildung 1) Die Bargeld-
umlaufquote blieb bis Ende 2008 mit rund 7
sowie in elektronische Zahlungsmittel wie Bank- Prozent durchgehend stabil. Der Bargeldumlauf
karten unterteilen. Letztere existieren in der ging folglich Hand in Hand mit dem BIP-Wachs-
Schweiz erst seit den Fünfzigerjahren, als Kredit- tum. Von 2008 bis Ende 2016 stieg die Umlauf-
karten eingeführt wurden. Ab den Neunzigerjah- quote jedoch graduell auf 12 Prozent an. Damit
ren etablierten sich dann die Debitkarten. hat sich der Bargeldumlauf in dieser Periode
Aussagen zur Entwicklung der Bargeldzah- vom BIP-Wachstum entkoppelt – was für eine
lungen sind immer mit Messproblemen verbun- Bedeutungszunahme des Bargelds spricht.
den, da diese anonym und nicht verfolgbar sind. Woher rühren diese teils gegensätzlichen
Es gibt jedoch einige Möglichkeiten, die Bedeu- Beobachtungen? Die Bedeutungszunahme des
tung des Bargelds als Zahlungsmittel approxi- Bargelds seit 2008 lässt sich vor allem mit dem
mativ zu quantifizieren. Eine Variante ist die starken Wertanstieg des Bestands an Tausen-
Analyse der Bargeldquote und der Bargeldum- dernoten begründen, der im Verhältnis zum
laufquote. Der erste empirische Indikator misst BIP innerhalb von sechs Jahren von 4,7 auf 7,4
das Verhältnis des Noten- und Münzumlaufs Prozent zugenommen hat, während das Ver-
zum Geldmengenaggregat M1, während die Bar- hältnis der anderen Stückelungen mehr oder
geldumlaufquote den Bargeldumlauf in Relation weniger stabil blieb: Mittlerweile decken die
zum Bruttoinlandprodukt (BIP) setzt. Der Bar- Tausendernoten rund 62 Prozent des Ge-
geldumlauf umfasst einerseits den Noten- und samtwertes des Notenumlaufs ab. In der Kon-
Münzumlauf inklusive des Bargeldbestands bei sequenz hat die Bedeutung des Bargelds als
der Schweizerischen Nationalbank (SNB). An- Zahlungsmittel seit 1990 stark abgenommen,
dererseits beinhaltet er die Giroguthaben von wohingegen das Bargeld als Wertaufbewah-
Versicherungen und öffentlichen Verwaltungen rungsmittel vor allem seit 2008 zusehends an
(ohne Bund) bei der SNB sowie exklusive No- Relevanz gewonnen hat.
ten und Münzen, welche bei den Banken aufbe- Dies lässt sich eindrücklich anhand der Um-
1 SNB (2017b). wahrt werden.1 laufgeschwindigkeit des Notenumlaufs verdeut-

10  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


KEYSTONE
Noch bezahlen viele
im Tankstellenshop
lichen, die zwischen 2008 und 2016 deutlich am liebsten bar. Debitkarten vermehrt im Einsatz
gefallen ist. Mit anderen Worten: In den vergan-
genen neun Jahren wechselten die Banknoten Um diese Unschärfe zu vermeiden, verfolgte
deutlich weniger den Besitzer, woraus hervor- eine Studie der Universität St. Gallen aus dem
geht, dass Personen und Institutionen Bankno- Jahr 2011 einen alternativen Ansatz, indem ver-
ten vermehrt horteten. sucht wurde, den effektiven Bargeldgebrauch an
Sowohl der Bargeld- als auch der Bargeldum- den Verkaufspunkten in der Schweiz zu mes-
laufquote liegen die Annahme zugrunde, dass Bar- sen.2 Die Verkaufspunkte bezeichnet man üb-
geldzahlungen (flow of cash), das heisst der eigent- licherweise als Point of Sale (POS), wobei man
liche Bargeldgebrauch, in einem fixen Verhältnis zwischen stationärem und virtuellem POS
zum Bargeldbestand in Zirkulation (stock of cash) unterscheidet. An letzterem ist eine Barzahlung
sind. Bei den ausgewiesenen Geldmengenaggre- nicht möglich.
gaten der SNB handelt es sich um eine Bestands- Die von uns verwendete Methode basiert
grösse, also um eine an einem bestimmten Stich- auf den gesamtwirtschaftlichen Ausgaben der
tag gehaltene Menge an Bargeld. Somit wird aber Haushalte für den Endkonsum und den Um-
der effektive Bargeldgebrauch, das heisst der tat- satzstatistiken alternativer Zahlungsmittel. Die
sächlich mit Bargeld getätigte Umsatz, nicht akku- Vorgehensweise ist folgende: Zunächst gliedert
rat erfasst, weil einzelne Noten und Münzen je- man die Ausgaben der Haushalte für den pri-
weils mehrmals und unterschiedlich häufig als vaten Konsum in unterschiedliche Untergrup-
Zahlungsmittel verwendet werden. Beispielsweise pen.3 Dabei sind aber ausschliesslich diejenigen
werden Banknoten mit kleinerem Nennwert und Untergruppen relevant, welche hauptsächlich
Münzen tendenziell eher als Wechselgeld einge- mit Bargeld in der Schweiz stationär bezahlt
setzt, während die Tausendernote vielmehr als 2 Höppli et al. (2011).
werden können. Folglich zählen private Kon-
Wertaufbewahrungsmittel dient. 3 BFS (2017). sumausgaben für Wohnen, Gesundheitspflege,

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  11
BARGELD

Nachrichtenübermittlung, Unterrichtswesen, Abb. 1: Bargeld-, Bargeldumlaufquote und Umlaufgeschwindigkeit in


Versicherungen und Finanzdienstleistungen der Schweiz (1990–2016)
sowie sonstige Waren und Dienstleistungen
nicht dazu, weil diese meistens per Überwei-
36       In % Umlaufgeschwindigkeit (nominelles BIP / Notenumlauf)       15
sung beglichen werden. Daraus resultiert der
bereinigte Umsatz am stationären POS, wo Bar-
geld ausschliesslich als Zahlungsmittel verwen-

SNB (2017A), BERECHNUNGEN: TRÜTSCH / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


det wird. Anschliessend wird der Umsatz aller 24     12
Zahlungsmittel, welche an den stationären Ver-
kaufspunkten eingesetzt werden können, vom
bereinigten POS-Umsatz subtrahiert. Daraus
resultiert der geschätzte Wert aller Bargeldzah- 12   9  

lungen.4
Die relativen Umsatzanteile der verschie-
denen Zahlungsmittel an den stationären Ver-
0    6
kaufspunkten zeigen, dass immer häufiger mit
der Karte bezahlt wird (siehe Abbildung 2). So

6
4

8
02
90

96

10

16
94

98
92

14
12
0

0
20

20

20

20

20

20

20

20

20
19

19

19

19

ist der Umsatzanteil der Kreditkarte seit 1990 19


  Bargeldumlaufquote (in % des BIP)       Bargeldquote (Noten- und Münzumlauf in % von M1)    
von 6 Prozent auf 17 Prozent im Jahr 2016 gestie-   Umlaufgeschwindigkeit Notenumlauf (rechte Skala)
gen, während der Umsatzanteil der Debitkarten
von 0,4 Prozent auf 28 Prozent geradezu explo-
dierte. Prepaid- und Händlerkarten hatten 2016 Abb. 2: Umsatzanteile von Zahlungsmitteln an den stationären
einen bescheidenen Umsatzanteil von 2 Pro- Verkaufspunkten in der Schweiz (1990–2016)
zent (1990: 1%). Hingegen spielen Bankchecks, 100       In %
welche vor 27 Jahren noch rund 3 Prozent des

BIS (2015), BFS (2017), SNB (2017A), HÖPPLI ET AL. (2011), BERECHNUNG: TRÜTSCH / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
POS-Umsatzes ausmachten, heute keine rele-
vante Rolle mehr. Auch der Umsatz der von der
75
Schweizer Reisekasse (Reka) herausgegebenen
Reka-Checks entsprach lediglich einem POS-
Anteil von 0,4 Prozent.5
Im Jahr 2016 wurden gemäss dieser Messme- 50
thode 85 Milliarden Franken bar bezahlt. Dies
entspricht einem Umsatzanteil von knapp über
der Hälfte. Damit ist das Bargeld zwar nach wie
vor das wichtigste Zahlungsmittel – verglichen 25

mit über 90 Prozent im Jahr 1990 ist dieser re-


lative Rückgang jedoch enorm. Dieser Trend
scheint ungebrochen, wobei nebst Kreditkarten
0
vor allem Debitkarten das Bargeld als Zahlungs-
mittel zusehends substituieren.
0

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19

Bargeldaffine Deutsche   Bargeld       Kreditkarten       Debitkarten      Prepaidkarten (<0.5%)       Händlerkarten       Checks

Eine weitere Messmethode zum Bargeldge-


brauch basiert auf Konsumentenumfragen. Die Umfragen aus Kanada, Australien, Öster-
4 Datengrundlage SNB
Befragten notieren sich dazu all ihre Zahlungen (2017a) und Höppli et
reich, Frankreich, Deutschland, den Nieder-
in einem Tagebuch. Diese Methode hat den Vor- al. (2011). Für detaillier- landen und den USA deuten auf grosse Unter-
te Ausführungen siehe
teil, dass auch die Funktionsweise des Bargelds Höppli et al. (2011). schiede im Zahlungsverhalten zwischen den
erfasst werden kann – was mithilfe oben genann- 5 Reka-Checks in der einzelnen Ländern hin: Während beispiels-
Erhebung nicht
ter aggregierter Statistiken nicht möglich ist. berücksichtigt. weise in Deutschland und in Österreich noch

12  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


FOKUS

vier von fünf Transaktionen in bar stattfan- lungsmittelwahl werden im Unterbewusstsein


den, machten Cashzahlungen in den USA we- getroffen.
niger als die Hälfte aus. In Frankreich (52%), Da für die Schweiz entsprechende Daten
den Niederlanden (56%) und Australien (65%) fehlen, plant die Universität St. Gallen in Zu-
wurden etwas mehr als die Hälfte der Zahlun- sammenarbeit mit der Zürcher Hochschule für
gen bar abgewickelt.6 Angewandte Wissenschaften (ZHAW) erst-
Wertmässig hatten Barzahlungen in Deutsch- mals eine umfassende Umfrage zum individu-
land und in Österreich einen Anteil von 53 re- ellen Zahlungsverhalten mithilfe eines Zah-
spektive 65 Prozent. In den Niederlanden und lungstagebuchs zu erheben. Die Zahlen für die
Australien lag dieser bei ungefähr einem Drittel Schweiz dürften sich im ähnlichen Rahmen wie
und in den USA bei 23 Prozent. Wertmässig am in Deutschland bewegen, wie der oben berech- 6 Siehe Bagnall et al.
wenigsten Barzahlungen wurden in Frankreich nete Umsatzanteil des Bargelds offenbart. (2016).
mit einem Anteil von 15 Prozent gemacht.
Mögliche Gründe für den vergleichswei-
se hohen Bargeldgebrauch in Deutschland
und Österreich sind die geringe Verbreitung
von Kreditkarten und die tiefe Akzeptanz von
Bankkarten. Viele Menschen in diesen beiden
Nachbarländern tragen noch immer hohe Bar-
geldbestände auf sich. Letztendlich basiert Tobias Trütsch
das Zahlungsverhalten aber vor allem auf Ge- Dr. des. rer. publ. HSG, wissenschaftlicher Mitarbeiter,
Executive School, Universität St. Gallen
wohnheiten, und Entscheidungen zur Zah-

Literatur
Bagnall, J., Bounie, D., Huynh, K. BFS (2017). Volkswirtschaftliche Höppli, T., Jaeger, F. und Trütsch, Reka (2017). Zahlen und Fakten –
P., Kosse, A., Schmidt, T., Schuh, Gesamtrechnung – Gesamtwirt- T. (2011). Cards’11-Studie: Ent- Umsatzergebnisse von Reka.
S. und Stix, H. (2016). Consu- schaftliche Ausgaben der Haus- wicklungsperspektiven für den SNB (2017a). Datenportal der
mer Cash Usage: A Cross-Coun- halte für den Endkonsum. Schweizer Zahlungskartenmarkt, Schweizerischen Nationalbank.
try Comparison with Payment BIS (2015). Statistics on Payment, St. Gallen, Executive School of SNB (2017b). Geldmengendefi-
Diary Survey Data, Internatio- Clearing and Settlement Systems Management, Technology and nitionen.
nal Journal of Central Banking, in the CPMI Countries – Figures Law.
12(4), 1–61. for 2014, Committee on Pay-
ments and Market Infrastruc-
tures.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  13
BARGELD

Vom Naturaltausch zum Buchgeld


Ein Blick auf die Geschichte des Geldes zeigt: Bis zur Gründung des Schweizer Bundes-
staates dominierten Münzen den Zahlungsverkehr – während Banknoten eine grosse
Skepsis entgegengebracht wurde.  Ernst Baltensperger

sein. Dazu muss es über eine möglichst hohe


Abstract  Bis vor wenigen Jahrhunderten hatte das Geld in Europa fast aus-
Kaufkraftstabilität für Güter und Dienstleistun-
schliesslich die Form geprägten Metalls. In der Schweiz waren bis zur Grün-
dung des Bundesstaates Münzen unterschiedlicher Währungen und Emit- gen verfügen.
tenten in grosser Zahl im Umlauf. Papier- und Buchgeld kamen erst später Wie und wann genau im Laufe der Geschich-
auf. Denn bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dominierte die Vorstellung, te der Übergang vom Naturaltausch zur Geld-
Banknoten und Buch- oder Giralgeld seien blosse Geldsurrogate, während wirtschaft stattgefunden hat, ist umstritten.
Metallgeld das «wahre» Geld darstelle. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Sicher ist, dass bereits die griechischen Stadt-
entwickelte sich Buchgeld dann langsam, aber stetig zum quantitativ do-
staaten und das Römische Reich voll entwickel-
minanten Zahlungsmedium. Bargeld wird in Zukunft wohl nicht ausgedient
haben, denn den Vorteilen des Buchgelds stehen auch solche des Bargelds
te Geldwirtschaften waren und der Gebrauch
wie etwa der Schutz der Privatsphäre gegenüber. von Geld seit mehr als 2000 Jahren allgegen-
wärtig ist.
Bis vor wenigen Jahrhunderten hatte das
Geld in Europa fast ausschliesslich die Form ge-

N  utzen und Wesen des Geldes können an-


hand seiner Funktionen beschrieben wer-
den. Im Mittelpunkt steht die Funktion als
prägten Metalls. Münzen aus Silber, Gold und
anderen Metallen waren in grosser Zahl im Um-
lauf. Papiergeld, in China bereits im 11. Jahr-
Zahlungsmittel. Es ist offensichtlich, dass die hundert eingesetzt, kam in Europa erst viel
Verwendung eines möglichst allgemein und vor- später auf. 1661 begann die Stockholms Banco,
behaltlos akzeptierten Tauschmediums die Effi- eine private Bank, mit der Ausgabe von Bank-
zienz des Wirtschaftssystems massiv erhöht. noten, zunächst mit sehr mässigem Erfolg. Be-
Beim reinen Naturaltausch kommen wirtschaft- reits 1609 führte die Amsterdamer Wisselbank
liche Transaktionen nur unter engen Voraus- Buchgeld in der Form von Bankeinlagen und
setzungen zustande – oder in einer klassischen bargeldlosem Ausgleich von Forderungen zwi-
Metapher ausgedrückt: Der hungrige Schneider schen Konten ein. Dieses entwickelte sich aller-
muss auf den frierenden Bäcker treffen. dings erst im Laufe der letzten 150 Jahren zum
Die Einführung eines allgemein gebräuchli- ­dominanten Zahlungsmedium. Denn bis weit
chen Tauschmittels befreit die Volkswirtschaft ins 20. Jahrhundert hinein herrschte die Vor-
von dieser Fessel und setzt ökonomische Poten- stellung vor, dass Banknoten und Buch- oder
ziale frei. Die arbeitsteilige Wirtschaft, die wir ­Giralgeld blosse Geldsurrogate sind und das Me-
heute kennen, wäre ohne sie nicht möglich. tallgeld das eigentliche, «wahre» Geld darstellt.
Mit der Verwendung als Zahlungsmittel geht
fast immer auch die Rolle als systemweit ver- Durcheinander an Münzen und
wendete Recheneinheit einher: Die Geldeinheit
Währungen
dient als einheitlicher Bewertungsmassstab für
wirtschaftliche Güter und Aktivitäten. Ein sol- Eng verbunden mit der Ausgabe von Geld war
cher «Numéraire» ist für die Funktionsfähigkeit immer auch die Frage nach Monopol und Wett-
einer Volkswirtschaft von ähnlicher Bedeutung bewerb. Typischerweise stand das Recht zur
wie einheitliche Masse für Gewichte, Distan- Prägung von Münzen bestimmten Gebietsher-
zen oder Temperaturen. Schliesslich sollte Geld ren oder Gebietsherrschaften wie beispielswei-
auch als Wertaufbewahrungsmittel tauglich se Städten zu und wurde üblicherweise vom

14  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


ALAMY
Bis im 19. Jahrhun-
dert waren Münzen in
Kaiser oder König verliehen. Mit diesem Privileg Europa das häufigste auf rund 7 Prozent. Heute beträgt der Münzan-
waren Einnahmen verbunden, die aus der Dif- Zahlungsmittel. teil sogar weniger als 1 Prozent.1
ferenz zwischen dem Metallwert und der Kauf- Silbermünze aus Banknoten wurden anfänglich von Ge-
portugiesischem
kraft des geprägten Metalls oder aus Gebühren schäftsbanken im Wettbewerb miteinander
Schiffswrack.
für die Prägung des Metalls für Dritte entstan- ausgegeben. Dies erlaubte es der ausgebenden
den (die sogenannte Seigniorage). Bank, ihre umlaufenden Banknoten nur zum
Aufgrund der Zersplitterung der politischen Teil mit Metall zu unterlegen und den nicht ge-
Herrschaftsbereiche waren in Europa eine Viel- deckten Teil in zinstragende Anlagen zu in-
zahl von Währungen und Münzsorten im Um- vestieren und somit einen Gewinn zu erzielen.
lauf, die häufig miteinander im Wettbewerb Dieser Gewinn wurde allerdings durch die Kos-
standen. Auch in der Eidgenossenschaft zirku- ten der Banknotenausgabe beschränkt, die ur-
lierten im 18. und 19. Jahrhundert unzählige Sil- sprünglich beträchtlich waren, vor allem in der
ber-, Gold- und Kupfermünzen inländischer wie Form vertrauensbildender Reservehaltung.
auch ausländischer Herkunft. In der Schweiz wurden die ersten Bankno-
Mit der Bildung der Nationalstaaten in Euro- ten 1825 von der im gleichen Jahr gegründe-
pa wurde die Münzhoheit dann praktisch über- ten Deposito-Cassa der Stadt Bern ausgegeben.
all dem Zentralstaat übertragen. In der Schweiz Eine Reihe zusätzlicher «Notenbanken» kamen
erfolgte dieser Schritt mit der Bundesverfassung in den Jahrzehnten danach dazu; bis 1881 stieg
von 1848 und der anschliessenden Einführung ihre Zahl auf 36.2
des Frankens durch die Münzreform von 1850.
Papiergeld war damals auf dem europäischen Skepsis gegenüber Noten
Festland noch kaum ein Thema: In der Schweiz
dominierten die Münzen den Zahlungsverkehr Das Banknotengeschäft entwickelte sich in der
vollständig. Bis 1906 reduzierte sich ihr Anteil 1 V gl. Baltensperger und Schweiz zunächst nur zaghaft, da das Papier-
Kugler (2017), Kap. 8.
an der Geldmenge M1 gemäss neueren Schät- 2 Vgl. Baltensperger
geld lange an mangelnder Akzeptanz litt. Für
zungen dann aber massiv: Er sank sukzessive (2012). die Bevölkerung war nach wie vor Münzgeld das

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  15
BARGELD

«echte» Geld, die Banknote war blosses Substi- ten Wert von über 70 Prozent gemessen an der
tut dafür. Ab 1870 stieg dann die Verwendung Geldmenge M1. Heute liegt er bei etwa 87 Prozent.
der Banknoten stark an und erreichte bis 1890
einen geschätzten Anteil von knapp 30 Prozent. Bargeldlose Zukunft?
Anschliessend ging ihre Bedeutung anteilsmäs-
sig allerdings wieder zurück – während jene des Die Meinung ist heute weit verbreitet, dass
Buchgelds sukzessive stieg. Mit der Gründung Banknote und Münze bald einmal ausgedient
der Schweizerischen Nationalbank (SNB) wur- haben werden und unsere Zukunft bargeld-
de 1907 die Banknotenemission nationalisiert los sein wird. Ich bin davon nicht überzeugt.
und dem Wettbewerb im Banknotengeschäft Denn wir sollten nicht vergessen: Münze, Bank-
ein Ende gesetzt. note und Buchgeld sind zwar Substitute, aber
Die schleppende Entwicklung des Notenge- keine homogenen Produkte. Je nach Verwen-
schäfts in der Schweiz widerspiegelt die dama- dungszweck hat jede Geldform ihre Vor- und
ligen Verhältnisse in ganz Kontinentaleuropa. Nachteile. Effizienzvorteile bei Kleintransak-
Im Gegensatz dazu standen die Verhältnisse in tionen sowie ein stärkerer Schutz vor willkür-
Grossbritannien. Hier waren Banknoten und lichen Zugriffen des Staates, vor Bankenrisiken
ihr Gebrauch seit Längerem verbreitet. Schon und vor Verletzungen der finanziellen Privat-
gegen 1800 machten Münzen dort weniger als sphäre werden auch in Zukunft für eine Nach-
die Hälfte des gesamten Geldumlaufs aus, und frage nach Bargeld sorgen.
die Banknote wurde in der ersten Hälfte des Darüber, was effizient ist, sollten nicht Zu-
19. Jahrhunderts ihrerseits bereits von den kunftspropheten und Regulierer entscheiden,
­Depositen- oder Sichtguthaben als Zahlungs- sondern die Nutzer des Geldes am Markt. Es
mittel bedrängt.3 stimmt zwar, dass das Buchgeld anteilsmässig
quantitativ heute mit grossem Abstand domi-
Der Aufstieg des Buchgeldes niert. Aber die Nachfrage nach Bargeld ist zu-
gleich entgegen früheren Prognosen keineswegs
Neben das Geld in der Form von Münzen und verschwunden und hat sogar wieder zugenom-
Banknoten haben die Banken im Laufe der Zeit men. Wahrscheinlich wird es der bargeldlosen
mehr und mehr das Buch- oder Giralgeld in Wirtschaft ähnlich ergehen wie dem «papierlosen
der Form der Sichteinlage gestellt: Sogenannte Büro». Auch dieses wurde vor Jahrzehnten ausge-
Sichtdepositenkontrakte erlauben jederzeit den rufen  – und heute schwimmen wir im Papier. 3 Cameron (1967).
sofortigen Abzug der Einlage zum vollen Wert
und sind mit einem umfangreichen Angebot
von Leistungen im Zahlungsverkehr verbunden.
Das Buchgeld hat nur noch die Form eines Ein-
trags in einem Konto oder «Register», heute viel-
fach gar eines blossen elektronischen Zeichens.
In diesem Bereich ist die Schweiz, zusammen
mit praktisch allen anderen Ländern, bis heute
beim Wettbewerb zwischen den Banken geblieben Ernst Baltensperger
– aus guten Gründen, meine ich, denn die Dienst- Emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre,
leistungen des Zahlungsverkehrs, die ein zentra- Universität Bern

les Element dieser Kontrakte ausmachen, rufen


nach Wettbewerb und nicht nach Zentralisierung Literatur
und Monopol, wie dies derzeit beispielsweise die Ernst Baltensperger (2012). Der Schweizer Franken – eine Erfolgsge-
schichte. Die Währung der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert,
Initianten der Vollgeld-Initiative fordern. Zürich, NZZ Libro.
Im Jahr 1850 noch unbedeutend, nahm der Ernst Baltensperger und Peter Kugler (2017). Swiss Monetary History
Since the Early Nineteenth Century, New York/Cambridge,
Anteil des Buchgelds am Gesamtbestand von Cambridge University Press, erscheint im Sommer 2017.
Zahlungsmitteln in der Schweiz kontinuierlich Rondo Cameron (1967). Banking in the Early Stages of
Industrialization, New York/London/Toronto, Oxford University
zu und erreichte bis 1910 bereits einen geschätz- Press.

16  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


FOKUS

Bargeld bleibt gefragt


In der Schweiz wird weiterhin häufig bar bezahlt. Die Nationalbank stellt vertrauens-
würdige Banknoten zur Verfügung. Die Wahl zwischen baren und elektronischen Zah-
lungsmitteln überlässt sie dabei dem Publikum.  Fritz Zurbrügg

zu richten.2 Grundlage für die Erfüllung dieses


Abstract  Die Digitalisierung verleiht dem bargeldlosen Zahlungsverkehr
Schwung. Gleichwohl begann die Schweizerische Nationalbank (SNB) im Auftrags ist, dass die SNB Banknoten zur Verfü-
April 2016 mit der Emission einer neuen Banknotenserie. Die SNB erfüllt gung stellt, die das Vertrauen der Bevölkerung
damit den gesetzlichen Auftrag, die Bargeldversorgung in der Schweiz zu geniessen. Für ein hohes Vertrauen ist die Fäl-
gewährleisten. Um der Bevölkerung vertrauenswürdige Banknoten mit schungssicherheit der Noten zentral.
grösstmöglichem Schutz vor Fälschungen zur Verfügung zu stellen, sind Die Schweizer Banknoten weisen im interna-
kontinuierliche Weiterentwicklungen unerlässlich. Zugleich hat die SNB tionalen Vergleich eine der tiefsten Fälschungs-
den Auftrag, das Funktionieren der bargeldlosen Zahlungssysteme zu er-
leichtern und zu sichern. Indem sie beide Aufträge erfüllt, schafft die SNB
quoten auf. Im Laufe des Lebenszyklus einer
die Voraussetzungen, dass das Publikum jeweils das bevorzugte Zahlungs- Banknotenserie nimmt die Wahrscheinlichkeit
mittel wählen kann. Trotz vieler neuer bargeldloser Zahlungsmöglichkei- aber unweigerlich zu, dass eine Note gefälscht
ten wird Bargeld bis heute rege nachgefragt – was in absehbarer Zukunft werden kann. Für einen grösstmöglichen Schutz
wohl auch so bleiben wird. vor Fälschungen sind darum kontinuierliche
Weiterentwicklungen der Noten unabdingbar.
Dies betrifft sowohl die eingesetzte Technologie

D  ie zunehmende Digitalisierung des Alltags


macht sich auch im Zahlungsverkehr be-
merkbar. Virtuelle Währungen wie Bitcoin oder
als auch das Design. Die Noten der jüngsten Se-
rie zeigen das exemplarisch. Sie bieten eine Kom-
bination aus modernster Sicherheitstechnologie
bargeldlose Zahlverfahren wie das Bezahlen und anspruchsvoller Gestaltung. Die SNB misst
mittels Smartphone sind Beispiele dieser Ent- der Bereitstellung qualitativ hochwertiger Bank-
wicklung. Vor diesem Hintergrund mag es ana- noten also eine grosse Bedeutung zu.
chronistisch erscheinen, dass die Schweizeri- Die SNB hat aber auch den Auftrag, das
sche Nationalbank (SNB) im April 2016 mit der Funktionieren der bargeldlosen Zahlungssys-
Emission einer neuen Banknotenserie begann
(siehe Kasten).
Warum steckt die SNB trotz den Entwick- Die neue Banknotenserie
lungen im Bereich des bargeldlosen Zahlungs- Im April 2016 konnte die SNB mit der Fünfzigernote die erste
verkehrs weiterhin viele Ressourcen ins tradi- Stückelung der neunten Banknotenserie ausgeben. Im vergan-
genen Mai folgte die Zwanzigernote. Die Emission der ganzen
tionelle Bargeld? Kurz zusammengefasst: Sie Serie soll 2019 abgeschlossen sein. Das Ziel der SNB ist es, mit
erfüllt damit einen der Aufträge des Gesetzge- den neuen Banknoten ein technologisch hochstehendes und
bers. Gleichzeitig besteht weiterhin eine rege sicheres Zahlungsmittel zur Verfügung zu stellen, in das die
Bevölkerung auch in Zukunft Vertrauen haben kann.
Nachfrage nach Bargeld. Die SNB wird diesem
Die neue Serie wird auch eine Tausendernote umfassen. Die-
Bedürfnis Rechnung tragen, solange es vorhan- se wird als effizientes Zahlungsmittel für grosse Beträge und
den ist. als Wertaufbewahrungsmittel weiterhin gut genutzt. Zudem
gibt es gemäss Bundesrat keine Hinweise, dass sie besonders
für kriminelle Aktivitäten genutzt wird.
Der gesetzliche Auftrag der SNB Gemäss aktueller Gesetzgebung können alte Banknoten
nach ihrem Rückruf noch während 20 Jahren bei der SNB umge-
Der Gesetzgeber ist unmissverständlich: Die tauscht werden; danach werden sie wertlos. Im Einvernehmen
mit der Nationalbank hat der Bundesrat unlängst eine Geset-
SNB hat den Auftrag, die Bargeldversorgung in
zesänderung angestossen, damit alte Noten ihren Wert unbe-
1 N BG Art. 5 Absatz 2 der Schweiz zu gewährleisten.1 Dabei hat sie sich fristet behalten – wie es in den wichtigsten Industrieländern
Ziffer b.
2 WZG Art. 7 Absatz 1. nach den Bedürfnissen des Zahlungsverkehrs bereits übliche Praxis ist.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  17
BARGELD

SNB
Komplexe Angele-
genheit: Produktion
teme zu erleichtern und zu sichern.3 Ein jeder- der Fünfzigernote. raussetzungen, dass das Publikum im Einzelfall
zeit reibungslos und fehlerfrei funktionierendes das bevorzugte Zahlungsmittel wählen kann.
System zur Abwicklung bargeldloser Zahlungen Welches Zahlungsmittel wählt das Publi-
spielt für eine effiziente Wirtschaft eine eben- kum? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Nach
so zentrale Rolle wie vertrauenswürdiges Bar- der Gründung der SNB im Jahr 1907 ist der Bar-
geld. Der Auftrag widerspiegelt sich beispiels- geldumlauf in Franken relativ zur Wirtschafts-
weise darin, dass die SNB als Systemmanagerin leistung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs
des Zahlungssystems Swiss Interbank Clearing angestiegen (siehe Abbildung 1). Dahinter ver-
(SIC) fungiert, worüber ein Grossteil der bar- birgt sich zunächst die zunehmende Verdrän-
geldlosen Frankenzahlungen in der Schweiz ab- gung von Metallmünzen durch Banknoten in
gewickelt wird. Die SNB versorgt dieses System den Anfangsjahren der SNB. Später erklären vor
mit Liquidität, bestimmt die Funktionalitäten allem allgemeine kriegsbedingte Unsicherhei-
und Abwicklungsregeln und legt den Teilneh- ten, die Deflation Anfang der Zwanzigerjahre
merkreis fest.4 und die Weltwirtschaftskrise der Dreissigerjah-
re die steigende Notennachfrage.
Nachfrage des Publikums 3 N BG Art. 5 Absatz 2
Der Rückgang seit den Sechzigerjahren wi-
Ziffer c. derspiegelt hauptsächlich rasante technologi-
4 Der Betrieb des
Bar oder elektronisch bezahlen? Die SNB steht SIC-Systems erfolgt im sche Fortschritte im Bankensektor. Zu dieser
dieser Frage neutral gegenüber. Indem sie ihre Auftrag der SNB durch
die SIX Interbank
Zeit verbreiteten sich Magnetbänder als Daten-
gesetzlichen Aufträge erfüllt, schafft sie die Vo- Clearing AG. speicher. Diese ermöglichten eine ­einfachere,

18  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


FOKUS

schnellere und kompaktere Erfassung und Abb. 1: Verhältnis zwischen Notenumlauf und nominalem BIP in der
Übermittlung von Finanztransaktionen. Damit Schweiz (1907–2016)
konnten die Kosten von Bankkonten sowie der 30       In %
Abwicklung des Zahlungsverkehrs erheblich
reduziert werden. Es wurde für breite Bevölke- 25

rungskreise praktikabel, Bankkonten zu eröff-


20
nen. Arbeitgeber begannen, die Löhne vermehrt
aufs Konto zu überweisen und nicht mehr bar 15
auszuhändigen. Der unmittelbare Bargeldbe-

SNB, BFS / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


darf nahm dementsprechend ab. 10

5
Bargeldnachfrage steigt nach 2008
0
Seit Beginn der Neunzigerjahre hat sich die Bar-
07

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19
geldnachfrage auf einem stabilen Niveau einge-
19

20
pendelt – dies trotz der zunehmenden Verbrei-
tung von elektronischen Kartenlesegeräten, die
es ermöglichen, alltägliche Einkäufe per Kredit-
oder Debitkarte abzuwickeln. Seit 2008 ist so- Abb. 2: Banknotenumlauf: Wachstumsraten im Jahresvergleich
gar ein deutlicher Anstieg der Bargeldnachfrage
14       In %
zu verzeichnen. Wie lassen sich diese Entwick-
lungen erklären? 12

Der Anstieg seit 2008 steht im Zusammen- 10


hang mit der globalen Finanzkrise, ihren lang-
8
wierigen Nachwirkungen und der Rolle des Bar-
gelds als Wertaufbewahrungsmittel. Die Krise 6

SNB / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


führte zeitweise zu erhöhter Unsicherheit über 4
die Stabilität der Banken. In der Folge setzte das
2
Publikum vermehrt auf Bargeld, um einen Teil
seiner Ersparnisse ausserhalb des Bankensys- 0
tems zu halten (siehe Abbildung 2). Dies gilt ins- 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

besondere für den Herbst 2008, als weltweit ver-   Banknotenumlauf

schiedene Banken in Schieflage gerieten, und


für die Periode zwischen Ende 2011 und ­Mitte
2012, als die Schuldenkrise im Euroraum zu
Verunsicherung an den Finanzmärkten führte. Abb. 3: Verhältnis zwischen Umlauf der Zehner- und der Zwanzigernoten
Die gegenwärtig erhöhte Nachfrage nach und nominalem BIP
Bargeld ist zudem auch darauf zurückzuführen,
0,4       In %
dass Geld auf einem Transaktionskonto zurzeit
kaum Zinsen abwirft und die Opportunitäts-
kosten der Bargeldhaltung dementsprechend 0,3

tief sind. In der Schweiz akzentuierte die Ein-


führung des Negativzinses im Januar 2015 diese 0,2

Situation. Entsprechend nahm das Wachstum


SNB / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

der Bargeldnachfrage vorübergehend etwas zu. 0,1

Cash im Alltag stark verbreitet 0


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19

Die insgesamt stabile Bargeldnachfrage seit An-


19

fang der Neunzigerjahre lässt sich allerdings   Zehnernote       Zwanzigernote

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  19
BARGELD

nicht alleine mit der Nutzung von Bargeld als Zudem sind sie vor fehlerhaften Verbuchungen
Wertaufbewahrungsmittel erklären. Bargeld gefeit.
wird auch heute noch oft und gerne zu Zah- Ein weiteres Plus ist der Datenschutz. Bar-
lungszwecken verwendet, beispielsweise zur geld bietet Gewähr, dass die Zahlungs- und Ver-
Begleichung von Rechnungen am Postschalter mögensinformationen vor unbefugter Einsicht
oder für die Bezahlung von alltäglichen Besor- und Missbrauch geschützt sind und die finan-
gungen im Detailhandel. Ein Indiz für Letzte- zielle Privatsphäre gewährleistet ist. Dies gilt
res ist, dass auch das Verhältnis zwischen dem im Normalfall zwar auch für bargeldlose An-
Umlauf der Zehner- und der Zwanzigernote – wendungen. In deren Sicherheit wird von den
den zwei kleinsten Nennwerten – und der Wirt- Anbietern viel investiert, und die existieren-
schaftsleistung seit den Neunzigerjahren in den Systeme sind grundsätzlich als sicher ein-
etwa konstant geblieben ist (siehe Abbildung 3). zustufen. Die Verfügbarkeit von Bargeld erlaubt
Die bis heute anhaltende Bedeutung von es aber jedem Einzelnen, stets selbst darüber zu
Bargeld im Zahlungsverkehr mag auf den ers- entscheiden, als wie sicher er diese erachtet und
ten Blick erstaunen. Sie kann jedoch plausibel welchem Akteur er welche Informationen über-
erklärt werden. So nutzen wir Bargeld im Alltag lassen möchte.
manchmal aus ganz persönlichen Gründen, bei- Neben bargeldlosen Zahlungsmitteln bleibt
spielsweise aus Gewohnheit oder Bequemlich- Bargeld somit für eine effiziente Wirtschaft wei-
keit, wegen fehlender Technik-Affinität oder für terhin bedeutsam. Bare und unbare Zahlungs-
eine effektivere «Budgetkontrolle». Die Nutzung mittel ergänzen sich und stiften im Zusam-
von Bargeld ist also auch auf individuelle Vorlie- menspiel einen bedeutenden Nutzen für das
ben zurückzuführen und hat eine psychologi- Publikum. Es gibt plausible Argumente dafür,
sche Komponente. warum Bargeld trotz tiefgreifenden technolo-
gischen Entwicklungen weiterhin rege nachge-
Zuverlässigkeit und Datenschutz fragt wird. Eine Nachfrage nach Bargeld wird
daher auch in absehbarer Zukunft bestehen
Wie wird sich die Nachfrage nach Bargeld in Zu- bleiben. Um die Nachfrage gemäss Gesetzesauf-
kunft entwickeln? Die Vorlieben der Menschen trag zu befriedigen, wird die SNB auch künftig
können sich ändern. Auch werden die Möglich- fälschungssichere und qualitativ hochstehende
keiten und die Akzeptanz bargeldloser Zah- Banknoten ausgeben.
lungsmittel über die Zeit weiter zunehmen. Eine
vollständige Verdrängung des Bargelds scheint
jedoch unwahrscheinlich, denn bares und nicht
bares Geld sind unvollkommene Substitute: Bar-
geld hat Eigenschaften, die bargeldlose Zah-
lungsmittel nicht gleichermassen aufweisen
können.
Die beiden Geldtypen unterscheiden sich zu-
nächst bei der Zuverlässigkeit: Bargeldzahlun- Fritz Zurbrügg
gen sind weniger stark von einer funktionie- Dr. rer. pol., Vizepräsident des Direktoriums,
Schweizerische Nationalbank, Bern
renden technischen Infrastruktur abhängig.

20  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


FOKUS

Schattenwirtschaft:
Ursachen statt Bargeld bekämpfen
Die Schattenwirtschaft lässt sich kaum mit der Abschaffung des Bargeldes beseitigen.
Dies zeigt eine aktuelle Studie. Vielmehr sollten die Ursachen – wie etwa überhöhte Steu-
ern und Regulierungen – bekämpft werden.  Friedrich Schneider

keine amtlichen Statistiken vor. Dies hängt damit


Abstract  Die Grösse und Entwicklung der Schattenwirtschaft in europäi-
zusammen, dass es das Wesen der Schattenwirt-
schen Ländern beruht auf Schätzungen. Im Jahr 2017 liegt die Schweiz im
Vergleich zu den OECD-Ländern im unteren Drittel mit 6,2 Prozent, wäh- schaft ist, sich einer Erfassung zu entziehen. Eine
rend Länder wie Griechenland, Italien und Spanien Schattenwirtschaften Abschätzung der Schattenwirtschaft durch zu-
von 22, 20 und 18 Prozent aufweisen. Die meisten Schattenwirtschaftsak- grunde liegende Phänomene ist jedoch Voraus-
tivitäten werden bar bezahlt. Trotzdem zeigen die ersten empirischen Er- setzung für ein planvolles Vorgehen in der Politik
gebnisse eindeutig, dass die Abschaffung oder Beschränkung von Bargeld sowie für eine informierte öffentliche Diskussion.
keinen nennenswerten Einfluss auf den Rückgang der Schattenwirtschaft
In der öffentlichen Diskussion besteht viel-
und der Kriminalität mit sich bringt, da die Ursachen nicht beseitigt wer-
den. Deshalb sollten die Bürger und Steuerzahler selber über die Abschaf-
fach Unklarheit über die Abgrenzung der Schat-
fung von Bargeld entscheiden können. tenwirtschaft. Gerade im Ländervergleich be-
steht aufgrund unterschiedlicher gesetzlicher
Bestimmungen, aber auch aufgrund unter-
schiedlicher sozialer Normen ein unterschied-

1 Vgl. Feld und Schneider


E  in beträchtlicher Teil der Wertschöpfung in
den Industrie- und Schwellenländern fin-
det in der Schattenwirtschaft statt. Anders als
liches Verständnis darüber, welche Aktivitäten
zur Schattenwirtschaft zählen.1 Üblicherweise
sind mit Schattenwirtschaft alle nicht staatlich
(2010), Schneider und
Williams (2013), Wil- für die offizielle Wirtschaft liegen jedoch für die erfassten ökonomischen Aktivitäten gemeint,
liams und Schneider Wertschöpfung in der Schattenwirtschaft – be- die zur Wertschöpfung, das heisst zum offi-
(2016) und Schneider
(2017a). ziehungsweise für die Schattenarbeitsmärkte – ziellen Bruttosozialprodukt, beitragen. Gemäss

Niveau der Schattenwirtschaft in ausgewählten OECD-Ländern (2016; im Verhältnis zum BIP)

25       In %

20
SCHNEIDER (2017A) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

15

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Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  21
BARGELD

­ ieser Definition betrachtet man also ökonomi-


d ungenauen Schätzungen führt.2 Die wesentli-
sche Aktivitäten, aus denen Einkommen erzielt che Schwierigkeit bei der Erfassung der Grösse
wird, wobei staatliche Regulierung, Besteue- der Schattenwirtschaft liegt darin, dass die Be-
rung oder Erfassung vermieden werden. teiligten einen starken Anreiz haben, ihr Tun
Ferner sind Schattenwirtschaft und Schwarz- zu verheimlichen. Da sie trotzdem Spuren hin-
arbeit zu unterscheiden. Unter Schwarzarbeit terlassen, ist es möglich, Verfahren zur Mes-
sind Tätigkeiten zu verstehen, die im Prinzip sung der Schattenwirtschaft zu entwickeln.
auch legal ausgeübt werden könnten. Diese wer- Aufgrund der Analyse dieser Spuren kann man
den dem Staat jedoch absichtlich nicht gemeldet, zwischen direkten und indirekten Methoden
damit keine Steuern und Sozialversicherungs- der Erfassung der Schwarzarbeit unterschei-
beiträge bezahlt werden müssen. Demgegenüber den.
ist Schattenwirtschaft breiter gefasst. Hierzu ge- Direkte Methoden sind beispielsweise Ana-
hört auch die illegale Beschäftigung, insbesonde- lysen aufgedeckter Fälle zur Steuerhinterzie-
re illegale Arbeitnehmerüberlassung und illega- hung und andere Ansätze auf der Basis von
le Ausländerbeschäftigung. Ferner werden durch Daten aus Ermittlungsverfahren sowie Um-
den Begriff Schattenwirtschaft zum Teil auch fragen über die Schwarzarbeit oder Schatten-
kriminelle Aktivitäten wie zum Beispiel die Pros- wirtschaft. Zu den indirekten Methoden zäh-
titution oder das Glücksspiel erfasst. len sogenannte Diskrepanzansätze, monetäre
Ansätze, physikalische Inputmethoden sowie
Direkte und indirekte Methoden kausale Methoden wie das Mimic- oder das Lis-
Griechenland führt rel-Verfahren (siehe Kasten). Mithilfe solcher
Um die Grösse und Entwicklung der Schatten- die Rangliste der Modellansätze ist es möglich, anhand von be-
wirtschaft zu bestimmen, gibt es zahlreiche OECD-Staaten mit stimmten Einflussfaktoren und Indikatoren
dem grössten Anteil
Schätzverfahren. Allerdings sind diese Metho- der Schattenwirt-
auf die Grösse der Schattenwirtschaft rückzu-
den mit Problemen behaftet, was letztlich zu schaft an. ­Beleuchtete schliessen.3 Beispiele für Einflussfaktoren sind
Akropolis in Athen.

ALAMY

22  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


FOKUS

Indirekte Methoden zur Erfassung von


Bargeld bringt auch Nutzen
Schattenwirtschaft
Die Grösse der Schattenwirtschaft lässt sich beispielsweise In der jüngsten Zeit ist eine rege Diskussion ent-
über einen Diskrepanzansatz erfassen. Auf der makroökono- brannt, ob durch die Abschaffung oder starke
mischen Ebene wird etwa die Differenz zwischen der Verwen- Einschränkung des Bargeldes – beispielsweise
dungs- und der Verteilungsrechnung oder der Unterschied
zwischen der tatsächlichen und der offiziellen Erwerbsquote
ein Abhebungslimit von 1000 Euro pro Person
berechnet. Auf der mikroökonomischen Ebene kann man die und Tag – die Kriminalität und die Schatten-
Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben der Haushalte wirtschaft bekämpft werden können. Promi-
betrachten. Eine weitere indirekte Messmethode ist der mo-
nente Befürworter sind die US-Wissenschaftler
netäre Ansatz. Hier werden etwa der Bargeldumlauf grosser
­Banknoten sowie die Bargeldnachfrage untersucht. Die phy- Kenneth S. Rogoff und Peter Sands.4
sikalische Inputmethode wiederum misst beispielsweise den Analysiert man Bargeld, so stellt man fest,
­Elektrizitätsverbrauch. Schliesslich basieren kausale Methoden dass die Nutzung von Bargeld sowohl Vor- als
auf Modellen wie Lisrel (linear independent structure relation-
ship) und Mimic (multiple indicators multiple causes – Verfah-
auch Nachteile hat. Positiv zu vermerken ist:
ren)a , in denen Ursachen der Schwarzarbeit (Steuerbelastung Bargeld ist seit Jahrhunderten ein legales, ef-
des Faktors Arbeit, Regulierungsdichte etc.) mit Indikatoren fizientes und bewährtes Zahlungsmittel; es ist
(Verwendung von Bargeld) verbunden und analysiert werden.
anonym und funktioniert beispielsweise auch
a Vgl. Schneider (2017a). bei einem Stromausfall. Zudem ist es praktisch
und hat insbesondere auch eine erzieheri-
sche Funktion in Form des Taschengeldes. Die
Nachteile von Bargeld sind, dass es natürlich
die direkte und die indirekte Steuerbelastung, für kriminelle Zwecke und auch Schwarzarbeit
die Belastung durch staatliche sowie regulati- «missbraucht» werden kann. Schliesslich ent-
ve Einschränkungen, die Steuermoral und die stehen bei der Bargeldproduktion und bei der
Arbeitslosigkeit. Indikatorvariablen sind etwa Wartung erhebliche Kosten. Natürlich gibt es
die offizielle Erwerbsquote, das Wachstum des zu Bargeld immer mehr elektronische Substi-
offiziellen Sozialproduktes und das Bargeld im tute. Die Kredit- und Bankomatkarte ist sowohl
Nichtbankenpublikum. Substitut als auch Komplement für Bargeld,
Ein Vergleich der OECD-Staaten für 2016 und in vielen Bereichen – wie zum Beispiel im
zeigt, dass insbesondere die südeuropäischen Supermarkt – wird es immer bequemer, elekt-
EU-Staaten eine relativ grosse Schattenwirt- ronisch zu bezahlen.
schaft aufweisen (siehe Abbildung): In Grie- Die entscheidende Frage ist nun, ob durch
chenland beträgt das Verhältnis zwischen den eine Beschränkung oder gar Abschaffung des
Niveaus der Schattenwirtschaft zum Bruttoin- Bargeldes die Schattenwirtschaft beziehungs-
landprodukt (BIP) 22 Prozent; aber auch Italien weise die Kriminalität wesentlich eingeschränkt
(20%), Spanien (18%) und Portugal (17%) wei- werden kann. Schafft man als extremste Mass-
sen relativ hohe Werte auf. Im Mittelfeld liegen nahme das Bargeld ganz ab, dann steigen natür-
Deutschland und Irland mit je 11 Prozent sowie lich die Transaktionskosten, da es praktisch ist,
Kanada mit 10 Prozent. Die Schweiz befindet den Schwarzarbeiter bar zu bezahlen und dies
sich mit 6 Prozent im unteren Drittel – knapp kaum Spuren hinterlässt. In diesem Fall würden
hinter der USA. sicherlich einige Tätigkeiten nicht mehr in der
Die relativ geringe Ausprägung der Schat- Schattenwirtschaft stattfinden.
tenwirtschaft in der Schweiz ist zum Teil auf Allerdings: Solange die Ursachen für die
eine relativ geringe Besteuerung des Faktors Schattenwirtschaft, die enorme Belastung des
Arbeit zurückzuführen. Positiv auf die Steuer- Faktors Arbeit mit Steuern und Sozialabga-
2 Vgl. dazu Schneider und
moral wirken sich zudem vermutlich die föde- ben und die überhöhte Regulierung in vielen Enste (2000), Feld und
Schneider (2010) sowie
rale Struktur und die Institution der direkten OECD-Ländern, nicht beseitigt sind, wird es Schneider (2017a).
Demokratie aus, welche dazu beitragen, dass keinen nennenswerten Rückgang in der Schat- 3 Vgl. Feld und Schneider
(2010) sowie Schneider
die Bürger wesentlich mehr Mitbestimmung bei tenwirtschaft geben. Dies zeigt eine aktuelle (2017a).
staatlichen Entscheidungen haben und dadurch Studie des Autors.5 In der empirischen Unter- 4 Rogoff (2014) und
Sands (2016).
weniger politikverdrossen sind. suchung widerspiegelt Bargeld einerseits die 5 Schneider (2017b).

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  23
BARGELD

Schwarzaktivitäten. Andererseits wurde die Schattenwirtschaft und Kriminalität mit sich,


Beschränkung von Bargeld auch als Ursache da die Ursachen damit nicht beseitigt werden.
untersucht. Auf der anderen Seite hätte die Abschaffung
Demnach wäre selbst bei einer Abschaffung von Bargeld in unserer Gesellschaft gravieren-
des Bargeldes lediglich ein maximaler Rückgang de Nachteile. So würde erstens ein wichtiges
von 10 bis 15 Prozent der Schattenwirtschaft zu Zahlungsmittel entfallen. Zweitens sind wir mit
beobachten. Um die These, dass eine Abschaf- bargeldloser Zahlung gläsern und in dem Sin-
fung von Bargeld die Schattenwirtschaft we- ne überwachbar, dass Firmen, Institution und
sentlich reduziert, wurde bestmöglich versucht, Staaten feststellen können, wofür wir was aus-
die Ceteris-Paribus-Bedingungen herzustellen. geben. Und drittens funktionieren bei einem
Dabei zeigte sich kein nennenswerter Rückgang. längeren Stromausfall die bargeldlosen Zah-
Einen ähnlichen Effekt gibt es auf das Aus- lungssysteme nicht mehr, was zu erheblichen
mass von Korruption. Gerade bei kleinen Kor- weiteren Störungen in der Gesellschaft führen
ruptionsfällen spielt Bargeld häufig eine grosse kann.
Rolle. Auch hier zeigt sich: Wenn man Bargeld Es wäre daher nach meiner Meinung die
beseitigt, nimmt die Korruption vielleicht um wichtigste Schlussfolge, dass die Bürger und
10 bis 15 Prozent ab. In Bezug auf die organi- Steuerzahler selber entscheiden sollen, ob sie
sierte Kriminalität ist festzustellen, dass die- Bargeld verwenden. Sollte dereinst tatsächlich
se heute weitgehend bei der Überweisung grös- niemand mehr bar zahlen, dann kann man es
serer Zahlungsströme bargeldlos verläuft. Nur abschaffen – aber Bargeld sollte weiterhin ein
noch im «Tatort»-Krimi werden Millionen in legales Zahlungsmittel bleiben. Auf die Schat-
Koffern über die Grenze verschoben – die or- tenwirtschaft und die Kriminalität hat die Ab-
ganisierte Kriminalität hat schon längst andere schaffung von Bargeld keinen nennenswerten
Möglichkeiten mithilfe von Scheinfirmen und Einfluss.
gefälschten Transaktionen ohne Papiere gefun-
den, bargeldlos grosse Summen von A nach B zu
überweisen.

Bürger sollen entscheiden


Was wissen wir und was wissen wir nicht über
den Zusammenhang zwischen Schattenwirt-
schaft und Bargeld? Die ersten empirischen Er-
gebnisse zeigen eindeutig: Die Abschaffung Friedrich Schneider
oder Beschränkung von Bargeld bringt keinen Professor für Volkswirtschaftslehre,
Johannes Kepler Universität Linz, Österreich
nennenswerten Einfluss auf den Rückgang von

Literatur
Feld, Lars P. und Schneider, Fried- Sands, Peter (2016). Making It Schneider, F. (2017b). Restricting Schneider, F und Williams, C.C.
rich (2010). Survey on the Sha- Harder for the Bad Guys: The or Abolishing Cash: An Effective (2013). The Shadow Economy,
dow Economy and Undeclared Case for Eliminating High Deno- Instrument for Fighting the Sha- Institute of Economic Affairs IEA,
Earnings in OECD-Countries, mination Notes, Boston, Harvard dow Economy, Crime and Terro- London.
German Economic Review, 11/2, Kennedy School, M-RCBG Asso- rism?, Department of Economics, Williams, Collin C. und Schneider,
109–149. ciate Working Paper Series No. University of Linz. Friedrich (2016). Measuring the
Rogoff, Kenneth S. (2014). Costs 52, February 2016. Schneider, F. und Enste, D. (2000). Global Shadow Economy: The
and Benefits to Phasing Out Schneider, F. (2017a). Estimating a Shadow Economies: Size, Causes Prevalence of Informal Work and
Paper Currency, Washington Shadow Economy: Results, Met- and Consequences, The Jour- Labor, Cheltenham (UK), Edward
(DC), National Bureau of Eco- hods, Problems and Open Ques- nal of Economic Literature, 38/1, Elgar Publishing Company.
nomic Research NBER, Working tions, Open Economics, 1/1, 1–29. 77–114.
Paper 20/126.

24  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


FOKUS

Kampf um mobiles Zahlen


in der Schweiz
In der Schweiz ist das Bezahlen mit dem Handy noch ein Randphänomen. Dennoch ist
der Markt bereits stark umkämpft. Gut positioniert sind beispielsweise die Produkte
Twint und Apple Pay.  Andreas Dietrich

an der Ladenkasse, im Webshop und Geldüber-


Abstract  Mobiles Bezahlen ist in der Schweiz eine verhältnismässig junge
Technologieentwicklung, die in den letzten Jahren aufgrund ihres poten- weisungen an andere Personen (sogenannte
ziell disruptiven Potenzials jedoch viel mediale Aufmerksamkeit erhielt. Bis P2P-Geldtransfers). Daneben können Zusatz-
anhin hat sich noch keine Mobile-Payment-Lösung durchsetzen können, funktionen wie das Verknüpfen mit Loyalitäts-
und das Transaktionsvolumen ist derzeit noch gering. Ebenso scheint klar: programmen und das Abspeichern von Coupons
Alleine aufgrund der Hauptfunktion «mobiles Bezahlen» werden nur weni- und Rabatten oder das vereinfachte Tätigen von
ge Konsumenten ihre Gewohnheiten an der Ladenkasse umstellen. Durch Spenden in das mobile Zahlungssystem integ-
die Verknüpfung mit Loyalitätsprogrammen, der Integration von digitalen
riert werden, um den Kunden das Kernangebot
Stempelkarten oder dem Abspeichern von Coupons und Rabatten könnten
die Kunden stärker für die neue Bezahlart begeistert werden. schmackhaft zu machen.

Erste Opfer

D  ie Digitalisierung und die verbreitete Nut-


zung von Smartphones haben einschnei-
denden Einfluss auf unseren Alltag – sei es
Obwohl der Markt in der Schweiz noch jung
und wachsend ist, gab es bereits einige Exits
zu verzeichnen. Dazu zählen beispielsweise
beispielsweise beim Sondieren der optima- die Swisscom-App Tapit, die SBB-App Wally
len Zugverbindung, beim Suchen einer Adres- und die Applikation Klimpr, welche von einem
se oder beim Begleichen einer Rechnung über Zürcher Fintech-Start-up entwickelt wurde.
eine E-Banking-App. Auch im Bereich des Zah- Trotz dieser Rückzüge buhlen immer noch
lungsverkehrs hat das Smartphone mit Bezahl- zahlreiche Anbieter um die Gunst der Kun-
Apps wie Twint oder Apple Pay das langfristige den und Händler. Aktuell sind neben den Lö-
Potenzial, einen strukturellen Wandel im Be- sungen von Schweizer Banken und Start-ups
zahlverhalten auszulösen. auch grosse ausländische Technologiekonzer-
In den letzten 25 Jahren hat sich das Zah- ne im Markt aktiv. Durch die Fusion von Pay-
lungsverhalten der Schweizer Bevölkerung kon- mit und Twint zu Twint sind die Marktchan-
tinuierlich geändert: Während heute noch rund cen der Bezahllösung dank der Rückendeckung
die Hälfte des Transaktionsvolumens beim täg- der grossen Schweizer Banken, der Börsenan-
lichen Konsum mit Bargeld beglichen wird, lag bieterin SIX und der Postfinance sicherlich in-
dieser Anteil 1990 bei 90 Prozent.1 Stetig Markt- takt. Demgegenüber haben zum Beispiel die
anteile gewonnen haben vor allem Kredit- und Migros-Bank-App Mobile Pay P2P oder die
Debitkarten. Der Trend, zunehmend auch klei- Start-up-Lösungen Muume und Mobino einen
nere Beträge mit Karte – etwa über die soge- schwierigeren Stand.
nannte Kontaktlos-Funktion – zu begleichen, Hauptkonkurrenten von Twint sind vor al-
wird dabei auch für die zukünftigen Entwick- lem die internationalen Technologiekonzer-
lungen des mobilen Bezahlens per Smartphone ne. Wettbewerber wie Apple Pay, Samsung Pay
bedeutend sein. oder Alipay werden versuchen, den Schweizer
1 Ankenbrand (2015) so- Kernfunktionen von «Mobile Payment» sind Markt mitzuprägen. Des Weiteren kann auch
wie Jäger und Trütsch
(2016). insbesondere das Zahlen mit dem Smartphone davon ausgegangen werden, dass der Online-­

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  25
BARGELD

KEYSTONE
Gewichtiger
Marktteilnehmer:
Bezahldienst Paypal insbesondere beim Inter- Apple-Chef Tim Cook Zwar ist eine exakte Messung des Volumens
netshopping weiterhin eine grosse Rolle spielt. präsentiert den oder der Anzahl Transaktionen derzeit nicht
Welche Lösungen Bestand haben, wird sich Bezahldienst möglich. Basierend auf den wenigen verfügba-
Apple Pay.
erst zeigen. Klar scheint: Nur einfach zu hand- ren Zahlen, darf aber davon ausgegangen wer-
habende Systeme mit hoher Akzeptanz und den, dass in der Schweiz insgesamt nur 0,2 Pro-
Nutzungsbereitschaft von breiten Zielgruppen zent aller Transaktionen über das Smartphone
können sich auf Dauer durchsetzen. Grundsätz- bezahlt werden. Insofern sind auch die bisheri-
lich erreichen Lösungen mit vielen Projektpart- gen Erfolge von Twint oder Apple Pay an der La-
nern wie Twint oder mit einer internationalen denkasse mit Vorsicht zu geniessen, da die Re-
Reichweite wie Apple Pay eher die notwendi- levanz in absoluten Zahlen derzeit noch gering
gen Skalen- und Netzwerkeffekte, von welchen ist.
alle Nutzer profitieren. Allerdings müssen nebst Die Voraussetzungen für die Verbreitung
den Kunden auch die Händler von den neuen Be- von Mobile Payment sind in der Schweiz aber
zahllösungen überzeugt werden. durchaus gegeben, wo über drei von vier Mo-
biltelefonnutzern ein Smartphone besitzen.2
Transaktionen im Promillebereich Zudem sind die meisten Konsumenten gegen-
über Mobile Payment positiv eingestellt. Ge-
Bis anhin hat sich in der Schweiz noch kein Mo- mäss einer Untersuchung der Hochschule
bile-Payment-Anbieter durchsetzen können, Luzern aus dem Jahr 2014 kann sich eine Mehr-
und das Transaktionsvolumen ist noch gering. 2 Comparis (2016). heit der Befragten vorstellen, Mobile Payment

26  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


FOKUS

zu nutzen.3 In einer ähnlichen Befragung aus Über den zukünftigen Erfolg der mobilen
Deutschland gibt rund ein Drittel an, sich vor- Bezahlangebote entscheidet daher vor allem die
stellen zu können, das Smartphone bis in drei Entwicklung an der Ladenkasse. Zentral sind
Jahren als gelegentliche Zahlungsmethode zu dabei die erwähnten App-Zusatzfunktionen wie
verwenden. 4 Loyalitätsprogramme. Denn: Nur wenige Kon-
sumenten dürften alleine aufgrund der Funk-
Zusatzfunktionen entscheidend tion «mobiles Bezahlen» ihre Bezahlgewohnhei-
ten im Supermarkt umstellen. Der Aufbau eines
Welche Anbieter sich in der Schweiz durchset- entsprechenden Ökosystems mit Einbezug der
zen, ist schwierig abschätzbar. Langfristig über- Händler und der Mobilisierung der Kunden ist
leben wohl höchstens zwei bis drei Bezahllö- komplex und braucht Zeit. Gleichzeitig ist die
sungen. Insbesondere im stark wachsenden Grösse des Ökosystems möglicherweise ent-
3 Dietrich et al. (2014).
E-Commerce sehe ich ein grosses Potenzial für scheidend für den Erfolg des Systems. 4 Hälsig et al. (2015)
Mobile Payment, da dieses aus Kundensicht oft-
mals angenehmer und einfacher zu handhaben
ist als Bezahllösungen mit Einzahlungsscheinen
oder Kreditkarten. Auch im Bereich des ebenfalls
wachsenden P2P-Geldtransfers ist der Nutzen
für den Kunden vorhanden. Aus Sicht eines An-
bieters ist diese Funktion finanziell aber nicht at-
traktiv, da man mit dem kostenlos angebotenen
P2P-Payment kein Geld verdienen kann. Insofern Andreas Dietrich
ist diese Funktion mehr als eine Art Einstieg in Professor für Banking und Finance, Institut für
Finanzdienstleistungen Zug (IFZ), Hochschule Luzern
die Welt des Mobile Payment zu betrachten.

Literatur
Ankenbrand, T. (2015). Verdrängt Dietrich, A., Dos Santos, B., und Hälsig, F., Schwarz, N., und Selle, Jäger, F., und Trütsch, T. (2016).
Mobile Payment das Bargeld? IFZ Hasler, C. (2014). Mobile Pay- S. (2015). Untersuchung und Ent- Cards’15-Studie: Entwicklungs-
Retail Banking Blog, Hochschu- ment – sind Schweizerinnen und wicklung von integrativen Lö- perspektiven für den Schweizer
le Luzern. Schweizer bereit? IFZ Retail Ban- sungen im Mobile Commerce in Zahlungskartenmarkt. St. Gal-
Comparis (2016). Drei von vier king Studie 2014. Hochschule Deutschland. Research Pool 2014 len: Executive School of Ma-
Schweizern sind smart unter- Luzern – Wirtschaft. der Akademischen Partnerschaft. nagement, Technology and Law
wegs. (ES-HSG)

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  27
BARGELD

Droht der Schweiz bei Bitcoins ein


Napster-Moment?
Kryptowährungen wie Bitcoin haben das Potenzial, die Finanzbranche weltweit durch-
einanderzuwirbeln. Schweizer Fintech-Unternehmen könnten dabei eine Schlüsselrolle
spielen. Schlimmstenfalls droht dem hiesigen Finanzplatz das Abrutschen in die Bedeu-
tungslosigkeit.  Patrick Comboeuf

Abstract  Täglich neue Höchstkurse für Kryptowährungen wie Bitcoin, wö-


Entwicklungen gab und gibt es auch bei Krypto-
chentliche Schlagzeilen rund um die nächste Fintech-Unternehmensgrün- währungen Verbesserungspotenzial oder Prob-
dung und ein Ankündigungsreigen zu Digitalisierungsplänen der Schwei- leme zu lösen. Vordringlich zu nennen ist etwa
zer Banken – die digitale Revolution hat die Finanzwirtschaft erreicht. Die der Umgang mit den Schlüsseln, die den Besitz
auf der Blockchain-Technologie aufgebauten Kryptowährungen bergen von Bitcoins dokumentieren und auch zum Be-
disruptives Potenzial, da sie Banken dereinst beim Zahlungsverkehr über- sitzübertrag notwendig sind.
flüssig machen könnten. Noch kämpft Bitcoin zwar mit Problemen; so ist
Selbst als Ignoranz keine Option mehr war,
der Stromverbrauch noch zu hoch, und die Transaktionen dauern zu lan-
ge. Dennoch täte der Finanzplatz Schweiz gut daran, die Technologie ernst tat sich die Wirtschaft noch lange schwer, das
zu nehmen. Die Voraussetzungen wären ideal, international eine tragende disruptive Potenzial von Bitcoins und anderen
Rolle einzunehmen. Kryptowährungen angemessen zu würdigen.
Viele hochrangige Bankmanager führten einen
regelrechten Kreuzzug und brachten Bitcoins
pauschal mit Kriminalität und Terrorfinanzie-

W  eltweit feiert die Bitcoin-­ Community


den 22. Mai jeweils mit Pizza. Der An-
lass: Am 22. Mai 2010 zahlte Laszlo Hanyecz, ein
rung in Verbindung.
Heute sehen sich viele Exponenten der Fi-
nanzwelt gezwungen, ihre negative Meinung
­Bitcoin-Programmierer aus Florida, einem B ­ uddy zu Kryptowährungen zu überdenken. Bereits
aus einem Internetforum erstmals die Summe im September 2014 veröffentlichte die Bank
von 10 000 Bitcoins für zwei Pizzen von Papa of England einen Bericht, der die Blockchain-
John’s. Damals, die Technologie war gerade ein Technologie – auf welcher Kryptowährun-
wenig mehr als ein Jahr alt, entsprach diese Sum- gen basieren (siehe Kasten) – als «signifikante
me ungefähr einem Wert von 25 Dollar. Heute
hätten die beiden Teigfladen einen Wert von über
25 Millionen Dollar (siehe Abbildung). Glossar: Kryptowährungen und Blockchain
Am Anfang tat die Finanzwelt alles, um sich Indem Kryptowährungen wie Bitcoin ein Die Technologie hinter Kryptowährungen
nicht mit Internetwährungen abgeben zu müs- Währungskonzept der Zukunft zu etablie- wie Bitcoin heisst Blockchain. Der Name re-
sen. Sinnbildlich für diese Haltung sagte Alan ren versuchen, unterscheiden sie sich bei- ferenziert das Grundprinzip der Technolo-
spielsweise von digitalen Spielwährungen gie: Informationen werden in verschiedene
Greenspan, der frühere Chef der US-Noten- in Onlinecasinos. Kryptowährungen ge- Codeblöcke abgelegt und dann in einer Ket-
bank, in einem Bloomberg-Fernsehinterview nerieren sich über öffentliche Netzwerke te vereinigt. Die Daten sind dadurch dezen-
im Jahr 2013: «Es braucht schon eine schier un- durch die Community («Mining») und sind tral gespeichert. Einzige Voraussetzung ist
in der Gesamtmenge limitiert. Da der Staat eine Software, welche die einzelnen Rech-
ermessliche Vorstellungskraft, um den intrinsi- als wichtiges Herausgabe- und Überwa- ner mit dem gesamten Netzwerk verbindet.
schen Wert von Bitcoin zu erfassen. Mir gelingt chungsinstitut fehlt, müssen die regulären Nach der Überprüfung der Beteiligten wird
das nicht.» Anforderungen an ein anerkanntes Tausch- eine Transaktion unveränderlich und für
Dann versuchten die Kritiker die Technolo- und Zahlungsmittel über eine transparente jeden sichtbar gespeichert. Die Verschlüs-
technologische Alternative definiert erfüllt selung der Daten erfolgt durch Kryptotech-
gie als unsicher und unausgereift darzustellen. werden können. nologie mit persönlichen und öffentlichen
Klar ist: Wie bei allen neuen technologischen Schlüsseln.

28  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


FOKUS

Kryptowährungen
basieren auf der Block-
chain-Technologie.
KEYSTONE
BARGELD

Kursverlauf Bitcoin (in Dollar)


3000

2800

2600

2400

2200

2000

1800

1600

1400

1200

1000

800

ARIVA.DE / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


600

400

200

0
2012 2013 2014 2015 2016 2017

I­nnovation» mit weitreichenden Auswirkun- Sobald nun eine Organisation mit einer star-
gen hervorhob.1 Nur um ein paar Monate spä- ken Marke und einem etablierten Sicherheits-
ter nachzulegen: «Die Schaffung eines solchen image dem Handel und seinen Kunden einen
Systems könnte ein Protokoll hervorbringen, verlässlichen Blockchain-basierten Service zur
mit dem es im Internet möglich ist, den Be- Verfügung stellt, wird der Rest der Branche fol-
sitz von Werten und deren Transfer sicher und gen. Gerade Banken fürchten diesen sogenann-
transparent zu regeln, vergleichbar mit dem ten Napster-Moment – den Zeitpunkt, wo eine
von Sir Tim Berners-Lee am Forschungszent- etablierte Branche durch das Aufkommen einer
rum Cern publizierten Werk zu den Grundla- neuen Plattformtechnologie komplett aus den
gen des Internets.»2 Fugen gerät.
Mit den stumpfen Waffen der Vergangenheit
Banken drohen Turbulenzen ist einem solchen technologischen Umbruch
nicht beizukommen, weil das damit verbunde-
Bis zum Aufkommen der Blockchain war das ne Kundenerlebnis radikal einfacher und billi-
Internet vor allem eine grossartige Infrastruktur ger wird. Entsprechend haben die Musikplatt-
für den Zugriff auf Informationen. Im herkömm- form Napster und ihre Nachkommen iTunes,
lichen Web werden laufend Kopien der Daten er- Spotify und Netflix die Unterhaltungsbranche
zeugt, ohne dass klar ist, welche davon das Origi- innerhalb weniger Jahre umgepflügt. Ange-
nal ist. Die Blockchain ändert dies: Sie ermöglicht sichts dieses Wandels schienen die etablierten
es, den Besitz zu dokumentieren und den Trans- Medienunternehmen wie gelähmt. Sie waren
1 B ank of England, In- fer zu einem anderen Eigentümer sicher durch- unfähig, ihre eigene DNA und Kultur rasch und
novations in Payment
Technologies, and the
zuführen. Damit verlagern sich die Kernprozesse entschieden so anzupassen, um die neuen Tech-
Emergence of Digital vieler Anwendungen in die Infrastruktur. Bei- nologien als Katalysator des Wandels willkom-
Currencies, Quarterly
Bulletin 2014 Q3. spiele dafür sind der Transfer von Werten, das men zu heissen.
2 Bank of England, One
Bank Research Agenda,
Führen von Bankkonten oder Grundbüchern. Als Ähnliches droht heute der Finanzbranche.
Februar 2015. Konsequenz sinken die Kosten signifikant. Derzeit wird auf Basis der Blockchain-Techno-

30  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


FOKUS

Ein Bitcoin-Program-
mierer schrieb mit
einer Pizzabestellung
bei der US-Kette Papa
John's Geschichte.

DREAMSTIME
logie eine Vielzahl von Smartphone-Applika- Technische Mängel als Challenge
tionen entwickelt. Bald wird das Überweisen
von Geld oder Eigentum – ohne traditionelle Nebst der eigentlichen Geldüberweisung er-
Bank oder Intermediär – so einfach sein wie leichtert die Blockchain-Technologie dank
ein Swipe von links nach rechts auf dem Smart- ihrer Transparenz und Abwicklungseffizienz
phone. auch die «Verifikation» und «Authentifizie-
Bis dato hält sich die helvetische Wirtschaft rung» der Handelspartner. Die Technologie
noch vornehm damit zurück, solche Anwen- wäre deshalb geradezu prädestiniert für die
dungen auf den Markt zu bringen. Die Dämme Digitalisierung des Grundbuchs oder den Han-
sind aber bereits brüchig. Bereits über 70 000 del mit Kunst, Antiquitäten und Liebhaberob-
Onlinehändler wickeln weltweit durchschnitt- jekten wie alte Uhren oder Oldtimerfahrzeuge
lich fast 60 000 Blockchain-Transaktionen pro – vorausgesetzt, die Bitcoin-Gemeinde findet
Tag ab, und über 100 Pizzerien weltweit akzep- Lösungen für die drei gravierendsten tech-
tieren inzwischen Bitcoins.3 nischen Mängel. So ist erstens der Stromver-
Auch in der Schweiz breiten sich Bitcoins brauch noch viel zu hoch: Eine Bitcoin-Trans-
und Blockchain-basierte Lösungen aus. So kann aktion verbraucht die gleiche Menge Strom wie
sich jeder an einem SBB-Ticketautomaten Bit- zwei Schweizer Haushalte pro Tag. Zweitens
coins in sein digitales Portemonnaie laden und ist die Kapazität mit gerade mal drei Transak-
damit beispielsweise ein Bier im Sip’s Pub in Zü- tionen pro Sekunde zu gering. Und schliesslich
rich-Oerlikon kaufen oder eine Rechnung an dauert die Bestätigungszeit einer Überweisung
einem Onlineschalter des Kantons Zug beglei- bis zu zehn Minuten.
chen. Der Zentralschweizer Kanton ist beson- Noch spielt den Zögerern die leistungsfähi-
ders gut positioniert, da sich dort mehrere Start- ge und relativ günstige Payment-Infrastruktur
ups mit kryptografischer Expertise angesiedelt für Frankenüberweisungen in die Karten. Was
haben. Aus diesem «Crypto Valley» wollen sie im Binnenmarkt gut funktioniert, hat aber ge-
nun die Welt erobern. rade im grenzüberschreitenden Handel seine 3 Coinmap.org

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  31
BARGELD

Tücken, sind doch länderübergreifende Zah- Mut zur Blockchain


lungen teilweise sehr teuer. Für den Eintritt in
aufstrebende Märkte in Afrika, in Südameri- Der Schweizer Finanzplatz sieht sich seit Jahren
ka, im Mittleren Osten und in Asien könnte sich mit einem schleichenden Abstieg konfrontiert.
deshalb eine vertiefte Auseinandersetzung mit An dessen Fuss steht die Bedeutungslosigkeit.
Bitcoin als Zahlungsmethode durchaus lohnen. Das Abseitsstehen bei der ab nächstem Jahr gel-
Nicht zuletzt, weil in diesen Regionen die Ver- tenden EU-Zahlungsdirektive PSD2 oder der Ver-
breitung von Kreditkarten, aber auch von Bank- lust des Top-10-Rankings unter den Finanzplät-
konten nur bedingt gegeben ist. zen im Global Financial Centres Index4 sind nur
Eine Kombination von Handy und Krypto- die jüngsten Zeichen dafür, dass man versucht ist,
währung bietet da eine smarte Abkürzung, so- Existierendes zu halten, statt Neues zu schaffen.
wohl für Shopbetreiber als auch für die Vernet- Damit wir die ehemals anerkannte Rolle als
zung der Volkswirtschaften. Denn technisch ist Innovationsführer und Marktgestalter der Fi-
die Einbindung von Kryptowährungen für On- nanzindustrie zurückerobern können, braucht
linehändler überall auf der Welt ähnlich ein- es ein entschiedenes und orchestriertes Han-
fach. deln. Wichtige Stichworte sind Kundenrele-
Die regulatorischen Hürden sind vernach- vanz und eine Offenheit gegenüber Technolo-
lässigbar.  Solange sich die Lobbyorganisatio- gien: Nutzen wir technologische Hebel rund um
nen der etablierten Finanzmarktprotagonisten Blockchain und schaffen innovative Business-
nicht aggressiv gegen die Technologie positio- modelle, welche die Disruption der Märkte prä-
nieren, wird der Gesetzgeber kaum stark ein- gen, statt sie zu bekämpfen. Reichen wir uns die
greifen. Genau wie alle anderen müssen sich die Hand, über Branchen-, Partei- und Unterneh-
Regulatoren auch erst mit den neuen Gegeben- mensgrenzen hinweg – ein Ökosystem ist robus-
heiten vertraut machen. ter und erfolgreicher als Inside-out-Alleingänge.
Um aus der Ecke der Technikfreaks raus- Und: Nehmen wir Abschied von der helveti-
zukommen, braucht es bei der Kryptowährung schen Vollkasko-Mentalität: Let’s make Switzer-
neben Reichweite auch eine stimmige Kunden- land great again! Gelegenheiten gibt es reichlich
erfahrung. Dazu muss Blockchain als Metatech- – Infrastruktur und Mittel ebenso. Jetzt braucht
nologie derart in eine Transaktionsarchitektur es noch etwas Mut. Und Mut ist gratis. 4 GFCI 21, März 2017.
eingebunden werden, dass Ökosysteme entste-
hen: Wenn zum Beispiel die vielfach schwer-
fällige Handhabung von Sekundärwährungen
wie Airline-Meilen oder Loyalitätspunkten wie
Supercard und Cumulus mit anderen digitalen
Hebeln wie Access-Technologien oder Peer-to-
Peer-Konzepten nahtlos verbunden werden, er-
schliessen sich exponentielle Potenziale. Die
ersten Marktteilnehmer, welche in einem Öko- Patrick Comboeuf
Partner und Senior Consultant, E-Commerce-Bera-
system denken und handeln, indem sie ihre Ak- tungsfirma Carpathia, Zürich, Studiendirektor, Center
tivitäten zu Mehrwerten kombinieren, werden for Digital Business, Hochschule für Wirtschaft Zürich
(HWZI), Member of the Executive Board, Fintechrockers
daher zu den Gewinnern gehören.

32  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


13. November 2017
KKL Luzern
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ve Sessions
NEU! Executi Intelligence
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unter anderen mit:

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Group CEO, VR-Präsident, Associate General Bundespräsidentin, CIO & Divisional Senior President and CEO,
UBS Group Roche Holding Counsel, eBay Inc. Vorsteherin des UVEK VP IT, Emirates Group ABB Group worldwide
BARGELD

Wie deklariert man Bitcoins in der


Steuererklärung?
Die Steuerverwaltung behandelt Bitcoins wie eine Fremdwährung. Wer Bitcoins hält,
muss diese somit beim Vermögen angeben. Ende 2016 entsprach 1 Bitcoin 978 Franken.   
Franco Gennari

D  ie zunehmende Verbreitung der Kryptowäh-


rung Bitcoin in der virtuellen Welt hat Aus-
wirkungen auf die reale Welt – nicht zuletzt auf
Personen im Privatvermögen grundsätzlich
steuerfreie Kapitalgewinne oder nicht abzugs-
fähige Kapitalverluste dar.2 Je nach Umfang, Art
den Steuerbereich: Wie soll man digitale Wäh- und Finanzierung der Transaktionen liegt kei-
rungen steuerlich behandeln? Die Antwort ist re- ne private Vermögensverwaltung, sondern eine
lativ einfach: Bitcoins werden bei in der Schweiz selbstständige Erwerbstätigkeit vor. Im zweiten
steuerpflichtigen natürlichen Personen wie her- Fall gelten die Kapitalgewinne aus der Veräusse-
kömmliche Fremdwährungen behandelt. Auch rung von Bitcoins als Devisenhandel und unter-
beim digitalen Zahlungsmittel handelt es sich liegen der Einkommenssteuer.3 Um Rechtssi-
um eine bewertbare, bewegliche Sache und somit cherheit zu gewährleisten, wurden Kriterien
um einen Vermögenswert, der steuerlich unter definiert, anhand deren im Rahmen einer Vor-
das bewegliche Kapitalvermögen zu subsumieren prüfung gewerbsmässiger Wertschriftenhandel
ist. In der Steuererklärung sind Bitcoins somit als ausgeschlossen werden kann.4
Vermögen zu deklarieren.1
Im Gegensatz zu den herkömmlichen Wäh- Bitcoin-Schürfen: Hobby oder Beruf?
rungen besteht für Bitcoins kein global einheitli-
cher Wechselkurs, was in der Praxis zu beträcht- Beim Schürfen oder Mining von Bitcoins wird im
lichen Kursdifferenzen führt. Der Grund ist der weitesten Sinne Geld geschöpft: Ein Bitcoin-Mi-
stark fragmentierte Handel an spezifischen ner stellt Bictoins her, indem er die für den Be-
Handelsplätzen im Internet. Diesem Umstand trieb des virtuellen Währungssystems erforder-
trägt die Eidgenössische Steuerverwaltung liche Rechenleistung zur Verfügung stellt. Für
(ESTV) Rechnung, indem sie für die Festlegung den Aufwand des Schürfens wird er mit Bitcoins
des Steuerwertes einen Durchschnittspreis be- entschädigt. Solche Bitcoins werden demzufol-
rechnet. Als Kurs dient das arithmetische Mittel ge nicht erworben, sondern stellen den Lohn für
von mehreren dieser Handelsplätze. das Mining dar.
Per Ende 2016 resultierte ein Durchschnitts- Die meisten Miner dürften dieses Schürfen
kurs von 978 Franken pro Bitcoin. Dieser wohl nur hobbymässig betreiben. Daneben gibt
Steuerwert ist in der offiziellen Kursliste auf es aber auch solche, die sich in Mining-Pools zu-
der Website der ESTV publiziert und stellt eine sammenschliessen und das Schürfen professio-
Empfehlung an die kantonalen Steuerbehör- nell betreiben. Es ist deshalb stets zu prüfen,
den dar, an welcher sich diese bei der Veranla- ob die Entschädigungen für das virtuelle Wäh-
1 Art. 13 Abs. 1 und Art. 14 gung der Vermögenssteuer orientieren. Auf Stu- rungs-Mining steuerlich als Hobby oder als Ein-
Abs. 1 StHG vom
14. Dezember 1990. fe Bund wird keine Vermögenssteuer erhoben. künfte aus selbstständiger Erwerbstätigkeit ein-
2 Art. 16 Abs. 3 DBG vom
14. Dezember 1990.
Auch das Kaufen und Verkaufen von Bitcoins zustufen sind.
3 Art. 18 Abs. 2 DBG. ist steuerlich den Transaktionen mit herkömm-
4 Ziffer 3, Kreisschreiben
der ESTV Nr. 36 vom lichen Währungen gleichzustellen. Die aus sol- Franco Gennari
27. Juni 2012 über den
gewerbsmässigen
chen Währungstransaktionen resultierenden Leiter Wertschriften und Finanzderivate,
Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV), Bern
Wertschriftenhandel. Gewinne oder Verluste stellen bei natürlichen

34  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


AUFGEGRIFFEN

Knallhartes Soft Law


Wie kann man gegen Grundsätze zur Einhaltung von Menschenrechten
sein? Wie lässt sich erklären, dass aufgeklärte Menschen nicht vor-
behaltlos hinter internationalen Umweltstandards stehen? Die Volks-
initiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von
Menschen und Umwelt» schliesst an solche vermeintlichen Selbstver-
ständlichkeiten an und verlangt, dass Firmen mit Sitz in der Schweiz die
international anerkannten Menschenrechte und Umweltstandards auch
im Ausland respektieren müssen. Der Bundesrat lehnt die «Konzernver-
antwortungsinitiative» mit Verweis auf bereits beschlossene Aktions-
pläne im Spannungsfeld Wirtschaft-Menschenrechte-Umwelt ab. Das
mag verwundern: Warum sollten solch wichtige Anliegen in einem demo-
kratischen Land wie der Schweiz nicht klar geregelt sein? Sowohl Grund-
und Bürgerrechte als auch Nachhaltigkeit und der Umweltschutz sind
bereits ein zentraler Bestandteil der Bundesverfassung.
Die Erklärung ist auf anderer Ebene zu suchen. Die Initiative leitet sich von
internationalen Standards mit Empfehlungscharakter ab und strebt eine
Verpflichtung der Unternehmen an, bei ihren Auslandaktivitäten lose
Menschenrechts- und Umweltschutzstandards verbindlich zu berück-
sichtigen. Sie will internationales Soft Law in «knallhartes» Schweizer
Recht überführen. Im Gegensatz zu Hard Law ist Soft Law juristisch
gesehen für Staaten und Private unverbindlich und kann etwa als De-
klaration, Absichtserklärung oder Aktionsplan vielfältige Formen an-
nehmen. Es wird beispielsweise in zwischenstaatlichen Verhandlungen
sowie durch internationale Organisationen und Nichtregierungs-
organisationen wie Vereine, Verbände, Handelskammern oder Experten-
kommissionen erzeugt. Trotz seiner Unverbindlichkeit ist Soft Law mit

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  35
der Erwartung verbunden, dass sich die Adressaten daran halten. Diese
Zwitternatur erklärt auch dessen Vor- und Nachteile.

Soft Law fördert Zusammenarbeit


Aus ökonomischer Sicht ist internationales Recht ein Mittel, um die
internationale Kooperation zu verstärken. Dies ist insbesondere dann
von Bedeutung, wenn Aktivitäten Auswirkungen auf das Wohlergehen
der Bürger in einem anderen Staat haben. Solche Externalitäten ergeben
sich bei der Klimaerwärmung oder der grenzüberschreitenden Luft- und
Wasserverschmutzung. Ohne Kooperation maximieren die Akteure in
den einzelnen Staaten ihre nationale Zielfunktion, was aus Sicht einer
länderübergreifenden Wohlfahrtsmaximierung zu «zu viel» Umwelt-
belastung führt.
«Harte», rechtsverbindliche und über Streitbeilegungsmechanismen
durchsetzbare Abkommen auszuhandeln, ist allerdings aufwendig – ins-
besondere in einem multilateralen Kontext mit weit über 100 Staaten.
Demgegenüber haben unverbindliche Erklärungen für die kooperierenden
Staaten den Vorteil, dass sie in den einzelnen Ländern keinen dornen-
reichen Ratifikationsprozess durchlaufen müssen. Regierungen können
innenpolitisch deklarieren, dass sie bestimmte Forderungen unter-
stützen, ohne sich der politischen Debatte stellen zu müssen. Dank
dieser Flexibilität sinken die Transaktionskosten von internationalen
Kooperationslösungen.
Umgekehrt hat Soft Law den Nachteil, dass die Kosten einer Verletzung
der unverbindlichen Zusagen tief sind. Im Gegensatz zu verbindlichen
Regelungen mit Sanktionsmöglichkeiten ist deshalb die Glaubwürdig-
keit der «sanften» Verpflichtungen vor allem auch über die Zeit hinweg
relativ gering. So gesehen erstaunt es nicht, dass die Befürworter von
internationalen Standards gerade in der Schweiz mit ihren direktdemo-
kratischen Möglichkeiten immer wieder versuchen, an sich respektiertes
Soft Law in verbindliches nationales Recht zu giessen.
Dabei wird übersehen, dass mit der rechtsverbindlichen Umsetzung im
Alleingang für die Sache nicht viel gewonnen ist – ausser Wettbewerbs-
verzerrungen zum Nachteil des Unternehmensstandorts Schweiz. Will
man aber eine echte Wirkung erzielen, so führt kein Weg an der inter-
nationalen Aushandlung verbindlicher Vereinbarungen vorbei.

Eric Scheidegger
Dr. rer. pol., Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik,
Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern
eric.scheidegger@seco.admin.ch

36  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


DIE STUDIE

Schweizerische Gesellschaft für Volkswirtschaft und Statistik


Société suisse d’économie et de statistique
Società svizzera di economia e di statistica
DIE STUDIE Swiss Society of Economics and Statistics

Der starke Franken trifft besonders die


ländliche Hotellerie
Gemäss einer Studie leiden vor allem die auf den Tourismus ausgerichteten Gemeinden unter
dem starken Franken. Besonders betroffen sind die Sommerferienorte. Die Städte zeigen
sich dagegen weitgehend immun. Christian Stettler

Abstract  Die Frankenstärke trifft die Schweizer Hotellerie sehr unterschiedlich. In Deutlicher Rückgang in den
stark auf den Tourismus ausgerichteten Gemeinden führt eine Aufwertung des Fran- Gemeinden
kens zu deutlich weniger Hotelübernachtungen von ausländischen Gästen. In den
Städten ist der Effekt des starken Frankens auf die Anzahl Logiernächte dagegen ge- Die Studie beruht auf sehr detaillierten
ring. Die Gründe dafür dürften im hohen Anteil von Geschäftsreisenden und in der Daten zur Anzahl der Hotelübernachtun-
kürzeren Aufenthaltsdauer der Gäste liegen. Der Wechselkurs hat insbesondere gen in Schweizer Gemeinden. Die Daten
einen stark negativen Effekt auf die Anzahl Hotelübernachtungen von Gästen aus sind dabei zusätzlich nach dem Herkunfts-
Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Dagegen reagieren die Logiernächte land der Gäste aufgegliedert. Aus Vertrau-
von Besuchern aus Italien und insbesondere Frankreich nur schwach auf Wechsel- lichkeitsgründen verwendete die Studie
kursschwankungen. nur Daten von Gemeinden, in welchen
während des Untersuchungszeitraumes
von Januar 2005 bis Dezember 2014 durch-
gehend mindestens 3 Hotels geöffnet wa-

R  und 11 von 20 Übernachtungen in


Schweizer Hotels stammen von Gäs-
ten aus dem Ausland. Wird der Schweizer
statistik eine Vollerhebung der Logier-
nächte in Schweizer Hotels durch. Mit-
tels dieser Daten haben bereits frühere
ren. Dies traf auf lediglich 141 der gut 2300
Gemeinden in der Schweiz zu. Allerdings
zählen diese 141 vorwiegend touristischen
Franken stärker, verteuert sich für diese Be- Studien einen Zusammenhang zwischen Gemeinden und Städte mehr als drei Vier-
sucher der Aufenthalt in der Schweiz. Preis- dem Wechselkurs und der Anzahl Logier- tel aller Hotelübernachtungen von Gästen
bewusste Gäste werden sich in diesem Fall nächte von ausländischen Gästen nach- aus dem Ausland.
überlegen, ob sie anstatt in die Schweiz gewiesen.1 Diese Analysen berücksich- Vergleicht man die Entwicklung des in-
woandershin fahren wollen. Der Wechsel- tigten indes nicht, dass die Hotel- und flationsbereinigten Wechselkursindexes
kurs hat daher sowohl einen beträchtli- Beherbergungsbetriebe je nach Standort mit den saisonal bereinigten Ausländerlo-
chen Einfluss auf die Tourismusindustrie als sehr unterschiedlich von Wechselkurs- giernächten in touristischen Gemeinden
Ganzes als auch auf die Hotellerie- und Be- schwankungen betroffen sind. Eine neue und Städten2, fallen grosse Unterschie-
herbergungsbetriebe im Besonderen. Das Studie des Genfer Hochschulinstituts für de auf (siehe Abbildung 1). In touristi-
trifft grundsätzlich auf jede exportorien- internationale Studien und Entwicklung schen Gemeinden haben nach dem Aus-
tierte Industrie zu, für die Tourismusindus- hat die Auswirkungen von Wechselkurs- bruch der Finanzkrise im Jahr 2008 die
trie verstärkt sich der Wechselkurseffekt änderungen auf die Anzahl Logiernächte Ausländer­ übernachtungen mit einer
jedoch durch ihre Standortgebundenheit. daher erstmals auch auf Gemeindeebene
2 Die Aufteilung der Gemeinden erfolgte gemäss der
Denn der Sektor generiert naturgemäss untersucht. Dabei zeigen sich deutliche 9-stufigen Gemeindetypologie des Bundesamtes für
nahezu die gesamte Wertschöpfung im In- Unterschiede zwischen Städten und tou- Statistik.
land. Bei einer Aufwertung des Frankens ristischen Gemeinden.
profitiert der Tourismus daher nur wenig Von der Forschung in die Politik
von günstigeren Importen aus dem Aus- Die «Volkswirtschaft» und die ­«Schweizerische
land. Zudem besteht auch nicht die Mög- Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik»
1 Vgl. Abrahamsen, Yngve, und Simmons-Süer, Banu verbessern den Wissenstransfer von der For­
lichkeit, wesentliche Teile der erbrachten (2011). Die Wechselkursabhängigkeit der Schweizer
schung in die Politik: Aktuelle wissen­schaftliche
Dienstleistungen ins Ausland auszulagern. Wirtschaft, KOF Studien, no. 24. Sowie Ferro Luzzi, Gio-
Studien mit einem starken Be­zug zur schweize-
vanni, und Flückiger, Yves (2003). An Econometric Es-
In der Schweiz führt das Bundesamt für timation of the Demand for Tourism: The Case of Swit- rischen Wirtschafts­poli­tik erscheinen in einer
Statistik im Rahmen der Beherbergungs- zerland, in: Pacific Economic Review, 8(3), S. 289–303. Kurzfassung in der «Volkswirtschaft».

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  37
DIE STUDIE

KEYSTONE
Schöne Aussicht, aber ausbleibende Touristen:
Die Frankenstärke macht Beatenberg im Berner
Oberland zu schaffen. Rückgang der Logiernächte um 14 Pro- wald. Für diese Gäste lohnt es sich daher
zent zur Folge hat. In Städten ist der Ein- eher, das Preisniveau verschiedener Des-
fluss bescheidener. Eine Aufwertung des tinationen zu vergleichen.
z­eitlichen Verzögerung zum stetig teu- Frankens um 10 Prozent führt hier ledig- Gemeinden, die auf den Sommertou-
rer werdenden Franken stark abgenom- lich zu einem Rückgang der Logiernächte rismus spezialisiert sind, wie Ascona oder
men. Dieser Rückgang endete erst mit der um rund 2 Prozent. Beatenberg, trifft der starke Franken im
Einführung des Mindestkurses durch die Durchschnitt wesentlich stärker als Win-
Schweizerische Nationalbank im Septem- Geschäftsreisende in Städten tersportorte. Eine Aufwertung des Fran-
ber 2011. Ganz anders verlief die Entwick- kens um 10 Prozent führt dort gar zu
lung in den Städten. Dort haben sich die
reagieren kaum einem Rückgang der Logiernächte um
Ausländerlogiernächte relativ unabhän- Einer der wichtigsten Gründe für den mehr als 20 Prozent. Eine Erklärung für
gig vom Wechselkurs entwickelt. unterschiedlichen Einfluss des Wechsel- diese sehr hohe Elastizität bietet mögli-
Die Resultate der empirischen Stu- kurses auf Gemeinden und Städte dürften cherweise die grosse Anzahl preisgünsti-
die bestätigen dies weitgehend. Um den die unterschiedlichen Aufenthaltsgrün- ger Sommertourismus-Destinationen im
reinen Effekt des Wechselkurses auf die de der Gäste sein. So haben mehrheitlich nahe gelegenen Ausland.
Hotel­übernachtungen zu schätzen, wur- in Städten logierende Geschäftsreisen-
den statistisch zahlreiche weitere Ein- de eine tiefere Preissensibilität, da sie die Europäer reagieren am
flussfaktoren isoliert, welche die Über- Kosten für den Aufenthalt meistens nicht
nachtungszahlen ebenfalls beeinflussen selber bezahlen müssen. Dass, umgekehrt,
sensitivsten auf Wechselkurs-
können. Dazu zählen beispielsweise Preis- Gäste in touristischen Gemeinden stärker änderungen
anpassungen durch die Hotelbetriebe, Er- auf Wechselkursschwankungen reagieren, Der stärker werdende Franken hat zu-
öffnungen und Schliessungen von Ho- dürfte an ihrer vergleichbar langen Aufent- dem je nach Herkunftsland der Gäste
tels sowie die Einkommensentwicklung haltsdauer liegen. In den Städten verbringt einen anderen Effekt. Vergleicht man
in den Herkunftsländern der Gäste. Die ein ausländischer Gast nur 1,9 Nächte wie den Euro-Franken-Wechselkurs mit
Studie kommt zum Schluss, dass in vor- etwa in Bern oder 1,8 Nächte wie in Zürich. der saisonbereinigten Entwicklung der
wiegend auf den Tourismus ausgerich- In den touristischen Gemeinden wie Zer- ­Logiernächte von Gästen aus Deutsch-
teten Gemeinden eine Aufwertung des matt sind es hingegen durchschnittlich 3,8 land, Frankreich und Italien, fällt die ra-
Schweizer Frankens um 10 Prozent einen Nächte oder 3,6 Nächte wie in Grindel- sche und starke Reaktion der Übernach-

38  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


DIE STUDIE

Abb. 1: Wechselkurs und Ausländerlogiernächte nach Städten und touristischen relle Entwicklung in den Jahren nach dem
Gemeinden in der Schweiz (2005–2014) Ausbruch der Finanzkrise in Deutschland
sehr viel besser ausfiel als in Frankreich
und Italien.
1,3       Indexpunkte (Januar 2006=1)
Ein ähnlich starker Rückgang wie aus
Deutschland zeigt sich auch bei den
1,2        Übernachtungen von Besuchern aus den
Niederlanden und Belgien. Insgesamt
nahmen die Übernachtungen aus euro-
1,1        päischen Ländern, aus denen im Ver-
hältnis zur Bevölkerung überproportio-
nal viele Gäste die Schweiz besuchen,
1,0     
am stärksten ab. Dies deutet auch auf
die unterschiedliche sozioökonomische
Komposition der Gäste hin: Die Logier-

STETTLER (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


0,9       
nächte aus Ländern, aus denen traditio-
nell eine breite Bevölkerungsschicht die
0,8      Schweiz besucht, verzeichneten dem-
nach den stärksten Rückgang.
Eine Analyse der Herkunftsländer zeigt,
0,7     
dass die Übernachtungen aus geografisch
2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 der Schweiz nahe gelegenen Ländern
stärker auf Wechselkursschwankungen
  Städte       Touristische Gemeinden      Tourismusgewichteter realer Wechselkurs
reagieren. So führt eine Aufwertung des
Schweizer Frankens um 10 Prozent zu fast
10 Prozent weniger Hotelübernachtun-
Abb. 2: Veränderung der Logiernächte nach Herkunftsland der Gäste (2005–2014) gen von Gästen aus Europa, aber nur zu
einem Rückgang von 7 Prozent aus Nord-
amerika. Noch geringer ist der Rückgang
1,2       Indexpunkte (Januar 2006=1) bei den Asiaten: Die gleiche Aufwertung
macht hier nur 5 Prozent weniger Logier-
nächte aus. Dies dürfte auch daran liegen,
1,1        dass viele Gäste aus anderen Kontinen-
ten die Schweiz als Teil einer Europarei-
se besuchen. Für diese Besucher ist daher
nicht nur der Wechselkurs zum Franken
1,0     
entscheidend, sondern auch derjenige
zum Euro.

0,9       
STETTLER (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

0,8     

0,7     

2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014


Christian Stettler
  Wechselkurs des Franken zum Euro       Deutschland      Italien      Frankreich Doktorand, KOF Konjunkturforschungs­
stelle der ETH Zürich

tungen von Gästen aus Deutschland auf Franzosen mit 1,2 Millionen Übernach-
(siehe Abbildung 2). Deutschland war 2016 tungen reagierten dagegen viel schwä-
mit 3,7 Millionen Logiernächten nach cher und erst mit beträchtlicher Zeit- Literatur
wie vor das mit Abstand wichtigste Her- verzögerung auf den teurer werdenden Stettler, C. (2017). How Do Overnight Stays React to
Exchange Rate Changes? In: Schweizerische Zeit-
kunftsland. Die Italiener mit 0,9 Millio- Franken. Umso bemerkenswerter ist dies, schrift für Volkswirtschaft und Statistik, 153(2),
nen Logiernächten und insbesondere die wenn man bedenkt, dass die konjunktu- S. 123–165.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  39
FORSCHUNG

«Das Wichtigste für mich ist, der Schweiz


zu helfen, weiterhin so erfolgreich zu
sein.» Lino Guzzella in seinem Büro an der
ETH Zürich.

CHRISTOPH BIGLER / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


INTERVIEW

«Menschen machen den Unterschied»


Der Forschungs- und Innovationsstandort Schweiz ist weltweit Spitze. Rankings belegen
dies. Was der ETH-Präsident Lino Guzzella von Ranglisten hält und was er dazu beitragen
kann, dass die ETH Zürich unter den besten Universitäten der Welt bleibt, sagt er im Ge-
spräch mit der «Volkswirtschaft». Man könne noch so viele Mittel haben – am Schluss seien
es die Menschen, die über den Erfolg entschieden.   Nicole Tesar

Herr Guzzella, wer kauft Souvenirs wie Wie lautet der Auftrag des Bundesrates Einschränken ist zu hart – aber es macht mei-
Tassen, Krawatten oder Nuggis im ETH- an die ETH? nen Job sicher nicht einfacher.
Store? Der Bundesrat will, dass wir für dieses Land
Die Studierenden, deren Eltern, Gross- etwas Nützliches tun, indem wir Spitzenfor- Im vergangenen Jahr waren von 40 neuen
eltern und Touristen – alle möglichen Leu- schung und -lehre sowie Wissens- und Tech- Professoren nur 8 Schweizer. Können Sie
te. Wenn ich ins Ausland reise, kaufe ich nologietransfer machen. Das Wichtigste für das Verhältnis aufrechterhalten unter
auch dort ein und bringe den Kollegen mich ist, der Schweiz zu helfen, weiterhin so den aktuellen und geplanten Rahmenbe­
kleine Gastgeschenke. Das tönt jetzt viel- erfolgreich zu sein. dingungen?
leicht etwas seltsam für eine Hochschule, Wir freuen uns immer, wenn sich Schweize-
aber das Ziel ist, die Marke ETH bekannter Die ETH ist stark gewachsen. Mit knapp rinnen und Schweizer in den Berufungspro-
zu machen und damit das Zusammenge- 20 000 Studierenden ist die Zahl in den zessen durchsetzen, und wir berufen diese
hörigkeitsgefühl unter Studierenden und letzten zehn Jahren um 50 Prozent ge- dann mit hervorragenden Resultaten. Aber
Mitarbeitenden zu stärken. stiegen. Leidet nicht die Qualität des wir brauchen auch den Zugang zum globalen
Unterrichtes darunter? Talentpool. Ich hoffe sehr, dass wir ­weiterhin
Die ETH Zürich ist die beste Universität Wenn sich die neusten Sparpläne unserer Eig-
Kontinentaleuropas und die beste nicht ner bewahrheiten, bekommen wir nächstes
englischsprachige Universität der Welt. Jahr weniger Mittel. Insbesondere das Betreu- Zur Person
Freut Sie das? ungsverhältnis wird schlechter werden, und Lino Guzzella ist 1957 in Zürich geboren und auf-
Ich halte nicht viel von solchen Reihenfolgen. das macht uns natürlich Sorgen. Damit wir gewachsen. Er studierte und doktorierte an der
Eine Universität ist kein Sportanlass. uns richtig verstehen: Mehr Geld im System ETH als Maschineningenieur. Anschliessend
bedeutet nicht automatisch, dass alles besser arbeitete er in der Forschung bei den beiden In-
dustrieunternehmen Sulzer und Hilti. Seit 1993
Und doch gehört die ETH zu den Top- wird. Aber wenn Sie dem System Geld entzie- ist er wieder an der ETH, erst als Assistenzpro-
Hochschulen weltweit. Welchen Einfluss hen, dann wird es schlechter. Deshalb plädie- fessor am Departement für Maschinenbau und
haben Sie als Präsident? re ich für langfristigere Budgetperioden. Wir Verfahrenstechnik und seit 1999 als ordentlicher
Professor für Thermotronik. In seiner Forschung
Ich definiere im Gespräch mit der Schullei- brauchen Planungssicherheit, damit wir uns
beschäftigte er sich unter anderem mit der Re-
tung und den Departementen die groben auch nachhaltig entwickeln können. duktion des Verbrauchs und der Schadstoffemis-
Ziele der Strategie. Wir wollen zwei Be- sionen von Antriebssystemen. Zwischen 2012
reiche noch stärker bearbeiten: den gan- Die ETH soll gemäss den bundesrätlichen und 2014 war er Rektor der ETH. In dieser Zeit
war er gleichzeitig immer noch in der Forschung
zen Bereich der Daten- und Computer- Zielen ihre Spitzenposition wahren. Dafür und der Lehre an der ETH aktiv. Seit seiner Ernen-
wissenschaften, der Informatik und der holen Sie auch die besten Professoren nung 2015 konzentriert er sich auf sein Amt als
künstlichen Intelligenz. Zum anderen den und Forscher nach Zürich. Schränken Präsident der ETH.
Gesundheitsbereich mit den Lifesciences, Sie die Rahmenbedingungen des Bundes
der Medizin und der Verbindung zur Mo- dabei ein?
lekularbiologie und dem Ingenieurwesen. Um erfolgreich zu sein, brauchen wir Auto- Finanzierung durch Drittmittel wird
Meine zweite wesentliche Aufgabe ist es, nomie, Offenheit und genügend Mittel: Wir immer wichtiger
neue Professorinnen und Professoren zu müssen autonom entscheiden können, auf Insgesamt beliefen sich die Einnahmen der ETH
berufen und dem ETH-Rat zur Wahl vorzu- welchen Gebieten wir forschen wollen, weil im Jahr 2016 auf 1,7 Milliarden Franken. Diese
setzten sich zusammen aus einem Globalbudget
schlagen. Das ist entscheidend, denn Men- wir die Experten auf diesem Gebiet sind. Wir des Bundes in der Höhe von 1247 Millionen Fran-
schen machen den Unterschied. Sie kön- brauchen Offenheit, das heisst, wir brauchen ken und Drittmitteleinnahmen von insgesamt 453
nen noch so gute Strukturen und viele den Zugang zum globalen – nicht nur zum Millionen Franken. Zu den Drittmitteln zählen Do-
nationen von Unternehmen und Privatpersonen
Mittel haben – am Schluss sind es die Men- europäischen – Talentpool. Und wir brauchen
(62 Millionen), projektorientierte Forschungsbei-
schen, die über den Erfolg entscheiden. genügend finanzielle Mittel, um im globalen träge (315 Millionen) und eigenerwirtschaftete
Schliesslich ist es auch eine Aufgabe des Wettbewerb bestehen zu können. Erträge der ETH (76 Millionen) wie beispielsweise
Präsidenten, mit der Politik und den Me- Schulgelder und Erträge aus diversen Dienstleis-
tungen. Die Drittmittel werden immer wichtiger
dien im Gespräch zu bleiben. Besonders für Schränken Sie die Kontingente für Dritt- für die ETH. Während sie im Jahr 2000 noch rund
eine öffentliche Hochschule ist die Kom- staaten und der Inländervorrang light 15 Prozent an der Gesamtfinanzierung ausmach-
munikationsaufgabe sehr wichtig. also ein? ten, sind es heute bereits 27 Prozent.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  41
FORSCHUNG

mit gleich langen Spiessen wie unsere gapur, als Kleinstaat ohne Ressourcen in einer men worden. Herzlichen Dank an die Poli-
­Konkurrenten die besten Köpfe weltweit an- vergleichbaren Situation wie die Schweiz, hat tik und an Bundesrat Schneider-Ammann,
werben können. das Budget im Bereich Forschung und Inno- der sich hier speziell eingesetzt hat. Horizon
vation um 25 Prozent gesteigert. Das ist das 2020 hat zwei grosse Bereiche: Die Projekt-
Ein umfassender Bericht des Staats- Schwierigste: Wir waren sehr gut und sind es förderung ist besonders für die Wirtschaft
sekretariats für Bildung, Forschung und immer noch, aber die anderen holen auf. wichtig. Die Personenförderung ist extrem
Innovation zu Forschung und Innovation wichtig für die ETH, denn der European Re-
gibt der Schweiz im Ländervergleich Was müssen wir also tun? search Council (ERC) spricht Stipendien und
zwar sehr gute Noten. Im Direktvergleich Wir sind in einer Konkurrenzsituation. Um an Forschungspreise aus. Und diese ERC-Awards
mit Regionen wie dem deutschen Baden- der Spitze zu bleiben, müssen wir Gas geben. sind entscheidend für uns. In der letzten Run-
Württemberg oder dem amerikanischen Ausser der Pharmaindustrie generiert kein de haben acht Forschende von uns einen
Neuengland schmilzt der Vorsprung anderer Bereich mehr grosses Wachstum in Preis gewonnen.
jedoch. Welche Schlüsse ziehen Sie Bezug auf Umsatz und Beschäftigung. Des-
daraus? halb setze ich mich persönlich ein für die Di- Und warum ist es so wichtig, dabei zu
Wir dürfen das, was wir in der Vergangen- gitalisierungsoffensive. Wir Schweizer müs- sein?
heit gut gemacht haben, nicht vergessen: sen versuchen, noch mehr in diesem Bereich Professorinnen und Wissenschaftler sind
das absolute Streben nach Qualität und nach zu investieren. über fachliche Motive angetrieben. Sie sind
höchsten Leistungen, nach Verlässlichkeit nicht primär Menschen, die über Geld mo-
und schweizerischer Präzision. Das darf nicht Die Schweiz ist seit Anfang Jahr wieder tiviert werden. Ein Wissenschaftler will auf-
untergehen, wenn wir diesen Vorsprung hal- voll bei Horizon 2020 assoziiert. Ist alles grund seiner fachlichen Spitzenleistungen in
ten wollen. Doch dieses Erfolgsrezept ist wieder im Lot? seiner Community anerkannt sein. Diese An-
heute allen klar: Investiere in Bildung, For- Zum Glück sind wir wieder im EU-For- erkennung erzielt er in erster Linie durch Prei-
schung, Wissenstransfer und Innovation. Sin- schungsprogramm Horizon 2020 aufgenom- se. Diese ERC-Awards haben ein bisschen die

42  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


INTERVIEW

Rolle eines Mini-Nobelpreises. Wenn die ETH wir haben beide profitiert. Auch die Hoch- Nestlé erkauft sich als Grossfirma ETH-
nicht mehr mitmachen könnte im ERC-Wett- schulen profitieren vom Wissen in der Wirt- Forschung und kann dann die Produkte
bewerb und bei Horizon 2020, dann würden schaft, etwa was die Praxisrelevanz der Prob- kommerziell verkaufen. Ist das nicht ver-
die Leute nicht mehr zu uns kommen. leme angeht. Natürlich gibt es auch mögliche werflich?
Interessenkonflikte. Aber die muss man ein- Nestlé erhält durch seine Schenkung Zugang
Die Zusammenarbeit zwischen Wirt- fach offen ansprechen und lösen. Und wenn zu unseren Forschenden und ist Teil eines In-
schaft und Wissenschaft ist Ihnen sie nicht lösbar sind, verzichtet man auf eine dustrienetzwerks, an dem auch Firmen wie
wichtig. Es gibt verschiedene Ansätze, Kooperation. Bühler, Migros und Coop sowie Fenaco be-
das zu sehen. Grundsätzlich: Ist es nicht teiligt sind. Die Zusammenarbeit kann mit-
eine Frage der Unabhängigkeit, dass die Mit dem World Food System Center helfen, eine der grossen Herausforderungen
Zusammenarbeit nicht zu eng sein sollte? haben Sie ein Kompetenzzentrum für unserer Zeit zu bewältigen. Wenn die Firma
Diese Frage wird mir oft gestellt, aber ich ver- Welternährung gegründet. Auch Gross- dadurch bessere Produkte entwickeln kann
stehe sie einfach nicht. Ich habe fast 20 Jah- konzerne wie Nestlé und Syngenta sind und Arbeitsplätze schafft, hilft das der gan-
re als Professor gearbeitet und intensiv mit Sponsoren. zen Schweiz. Ich kann Ihre Empörung beim
der Wirtschaft kooperiert. Es ist nur einmal Wir sprechen in diesem Zusammenhang nicht besten Willen nicht teilen.
vorgekommen, dass eine Firma versucht hat, von Sponsoring, sondern von Donationen.
Einfluss darauf zu nehmen, was wir machen. Nestlé hat mit der Schenkung die Forschung Um bei Nestlé zu bleiben: Das Unter-
Ich habe den Vertrag sofort gekündigt, das gefördert, Syngenta hat die Einrichtung einer nehmen erhält von der ETH eine
Geld zurückgegeben und nie wieder mit die- neuen Professur für nachhaltige Agrarökosys- Forschungsdienstleistung, die teilweise
ser Firma zusammengearbeitet. Alle anderen teme unterstützt. Es gibt klare Rahmenbedin- vom Bund mitfinanziert wird. Wenn
hundert Kontakte, die wir hatten, waren ab- gungen für Donationen, von denen wir nicht Nestlé das selber finanzieren müsste,
solut problemlos. Wir haben ein gemeinsa- abweichen. Wir legen all diese Verträge offen. würde sie das möglicherweise nicht
mes Interesse gehabt auf einem Gebiet, und Es gibt nichts zu verheimlichen. machen.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  43
FORSCHUNG

Wir arbeiten mit Nestlé und vielen weiteren duktion von Treibhausgasen, neue Metho- ganisiert man sich, wie geht man mit Konflik-
Firmen zusammen und sind froh darüber. den zur Diagnose und Therapie von schwe- ten im Team um? Wie beschafft man Geld?
Dies entspricht unserem gesetzlichen Auf- ren Krankheiten und neue Technologien und Es ist daher kein Zufall, dass jede zweite Wo-
trag: Die Hochschulen sind angehalten, mit Spin-off-Firmen im Bereich der Digitalisie- che an der ETH eine Spin-off-Firma gegrün-
der Wirtschaft und der Industrie zusammen- rung. det wird und viele davon äusserst erfolg-
zuarbeiten. Es wird immer wieder gefordert, reich sind.
wir müssten mehr Drittmittel erwirtschaf- Sie haben im PAC-Car-Projekt beispiels-
ten, weil die Bundesmittel zurückgehen, und weise den Weltrekord im Fahren mit Die ETH hat sogenannte Exosuits ent-
wir müssten initiativer werden. einem wasserstoffbetriebenen Auto er- wickelt, die Behinderten beim Gehen
rungen. Aber der Wagen war nicht all- helfen. Das mediale Interesse beim
Wie ist es beim brasilianischen Öl- tagstauglich. Was ist eine Innovation Cybathlon im letzten Jahr war riesig. Wie
konzern Petrobras? Der unterstützt wert, welche die Marktreife nicht er- geht es weiter in diesem Bereich?
auch Forschung. Inwiefern ist die ETH reicht hat? Wir haben beschlossen, im Jahr 2020 den
mit diesem Konzern verbunden? Das Ziel des Studentenprojektes war es nächsten Cybathlon-Anlass zu organisieren.
Das war nicht in meiner Amtszeit, und des- nicht, ein Produkt zu entwickeln, das auf Zudem wollen wir mit der Rehabilitation-­
halb kenne ich keine Details dazu. Aber ich den Markt kommt. Das Ziel war es, Leute Engineering-Initiative den wichtigen Be-
möchte mit Ihnen gerne über Google spre- reich der Assistenzsysteme für behinderte
chen. Google ist sicher nicht nur wegen der Menschen an der ETH verstärken.
ETH in Zürich. Aber ich kann Ihnen garan- «Wir freuen uns
tieren: Wenn die ETH nicht hier wäre, wäre Gibt es jetzt Firmen, die diese Produkte
Google auch nicht hier. Es ist gut für unser immer, wenn sich auch verkaufen?
Land, dass Google in Zürich 2000 hochwer- Schweizerinnen und Ja, Dutzende. Spin-offs der EPFL und der
tige Arbeitsplätze geschaffen hat und im Schweizer in den Be- ETH, aber auch kleine und grosse Firmen
Hightech-Bereich das grösste Forschungsla- im In- und Ausland steigen hier ein. Selbst-
bor ausserhalb der USA betreibt. Es ist gut rufungsprozessen verständlich gibt es einen Markt dafür. Wir
für unser Land, dass Google Pläne hat, die durchsetzen. Aber wir wollen Ideen und Visionen kreieren und En-
Anzahl Arbeitsplätze auszubauen. Und es brauchen auch den thusiasmus schaffen, damit nachher ge-
ist gut für unser Land, dass wenn Google in sellschaftlicher Nutzen entsteht. Denn will
Zürich ist, auch Microsoft, Facebook, Apple Zugang zum globalen man, dass möglichst viele Menschen mit Be-
und andere IT-Firmen anfangen, sich für die- Talentpool.» hinderung davon profitieren können, muss
se Stadt zu interessieren. so ein Exosuit billiger werden. Das kann nur
über Massenfertigung und optimierte Pro-
Wie ist diese Zusammenarbeit ent- auszubilden. An diesem Projekt haben wäh- zesse geschehen.
standen? rend vier bis fünf Jahren über 100 Studieren-
Einer der führenden Mitarbeiter von ­Google, de mitgearbeitet. Und von diesen Studieren- Ist die EPFL eine Partnerin oder eine
Urs Hölzle, hat bei uns studiert. Ihm ist es den sind einige heute in der Wirtschaft tä- Konkurrentin der ETH?
zu verdanken, dass Google ein erstes Büro tig und setzen Konzepte und Ideen, die sie Wir arbeiten in vielen Gebieten sehr gut mit
in Zürich eröffnete, weil er ja als ETH-Ab- im Studium gelernt haben, in Massenpro- der EPFL zusammen, beispielsweise betrei-
solvent wusste, dass hier gut ausgebildete dukte um. Ein weiterer Zweck war es, für ben wir seit Kurzem gemeinsam das Swiss
Informatiker zu finden sind. Danach spielte die ETH Visibilität zu schaffen: Es ist nicht so Data Science Center. Aber es gibt auch Wett-
das an der ETH erarbeitete Grundlagenwis- schlecht, wenn man einen Weltrekord auf- bewerb, und das ist gut so. Es ist ein Glück
sen im Bereich Kartografie eine Rolle, weil stellt, denn dann ist man ja per Definition der für die Schweiz, dass sie über zwei hervor-
daraus eine Firma entstand, die dann von Beste der Welt. ragende technische Hochschulen verfügt.
­Google aufgekauft wurde. Beide sind enorm wichtig, damit wir als Land
Und doch muss man den Studenten bei- aus den sich bietenden Chancen des digita-
Liefert die ETH Antworten auf dringliche bringen, wie sie ein Start-up gründen len Wandels das Beste machen können.
gesellschaftliche Fragen? können?
O ja, das tut sie. Um nur drei Beispiele zu nen- In diesem komplexen Projekt über mehrere Interview: Nicole Tesar
nen: Beiträge zur Klimaforschung und zur Re- Jahre lernten die Studierenden vieles. Wie or- Chefredaktorin «Die Volkswirtschaft»

44  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


BREXIT

Brexit als Herausforderung für die


Schweizer Handelspolitik
Der Brexit betrifft auch die Schweiz. Denn die bilateralen Abkommen mit der EU werden
ihre Gültigkeit gegenüber dem Vereinigten Königreich verlieren – einem wichtigen Han-
delspartner der Schweiz. Solange allerdings Unklarheit über die britische Handelspolitik
herrscht, sind Nachfolgeregelungen kaum absehbar.   Claudio Wegmüller

der EU (siehe Abbildung 1). In Italien (42%)


Abstract  Beim Güterhandel ist das Vereinigte Königreich (UK) eng mit den anderen Deutschland (38%) und Frankreich (35%)
EU-Mitgliedsstaaten verbunden, darüber hinaus profitiert es von zahlreichen Frei-
war dieser Anteil deutlich geringer.
handelsabkommen der EU. Im Hinblick auf den Brexit muss es seine Handelsbezie-
Gleichwohl ist der Güterhandel des
hungen neu regeln. In welchem Rahmen das möglich sein wird, hängt auch davon
UK stark auf die EU ausgerichtet: Die bri-
ab, welche Wirtschaftspolitik das UK dereinst verfolgt. Diese Unabsehbarkeit der
tischen Warenimporte und -exporte im
künftigen Handelsbeziehungen mit der EU stellt die Schweiz vor Herausforderun-
Wert von 466 Milliarden Euro im Jahr 2016
gen: Unsere Handelsbeziehungen zum UK, welche massgeblich auf den bilateralen
konnten innerhalb der EU reibungslos zir-
Abkommen mit der EU basieren, gehen weiter als herkömmliche Freihandelsabkom-
kulieren. Zölle oder vergleichbare Abgaben
men. Die Schweiz nimmt teilweise am EU-Binnenmarkt teil und hat gewisse Regu-
werden keine erhoben, und es bestehen
lierungen entsprechend harmonisiert. Deshalb ist die Schweiz vom Verlauf der Ver-
handlungen zwischen dem UK und der EU abhängig. Das erklärte Ziel der Schweiz keine mengenmässigen Beschränkungen.
und des UK ist es dabei, die bestehenden Beziehungen sicherzustellen, ohne dass Auch für den Grenzübertritt dieser Waren
eine Rechtslücke entsteht. braucht es keine zollamtliche Behandlung.
Weil Produktevorschriften in der EU har-
monisiert sind, müssen im UK produzier-
te Güter derzeit keine zusätzlichen Regeln

N  achdem sich die britischen Stimm-


bürger im Juni 2016 für den Brexit
ausgesprochen hatten, löste die Regierung
staaten auf. Es erzielte etwa die Hälfte des
Handelsvolumens mit Staaten ausserhalb
erfüllen, damit sie in der EU verkauft wer-
den können. Entsprechend müssen briti-

den Austrittsprozess im vergangenen März


(nach Ermächtigung durch das Parlament) Abb. 1: EU-Binnenmarkt-Anteil des Güterhandelsvolumens nach EU-Staaten (2016)
offiziell aus. Als Folge wird das Vereinigte
Slowakei
Königreich (UK) nach einer Verhandlungs-
Tschechien
frist von zwei Jahren Ende März 2019 aus Ungarn
der EU austreten. Diese Frist kann im Ein- Luxemburg
verständnis mit allen EU-Mitgliedsstaaten Estland
Portugal
verlängert werden. Rumänien
Die Zeit für einen geordneten Austritt Polen
des UK aus der EU ist knapp: Die Beziehun- Lettland
gen mit den Mitgliedsstaaten sind eng, und Österreich
Slowenien
die wirtschaftliche Integration über den Kroatien
EU-Binnenmarkt ist umfassend. Die zahl- Belgien
EUROSTAT DS-018995, BERECHNUNGEN WEGMÜLLER / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

reichen Herausforderungen werden vorlie- Zypern


gend am Beispiel des Güterhandels thema- Bulgarien
Finnland
tisiert. In diesem Bereich ist auch die Integ- Dänemark
ration der Schweiz mit der EU und damit mit Litauen
dem UK weit fortgeschritten. Schweden
Frankreich
Im Abstimmungskampf argumentierten
Spanien
viele Brexit-Befürworter, das UK gehöre Niederlande
wegen seiner geografischen Lage gar nicht Deutschland
richtig zur EU. Die Handelsausrichtung sei Italien
Irland
zu diversifiziert, als dass man sich einzig
Griechenland
Richtung EU orientieren könne. Es stimmt Malta
zwar: Beim Güterhandel wies das UK ver- Grossbritannien
gangenes Jahr die stärkere Diversifizierung In % 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
seines Aussenhandels als andere Mitglieds-   Intra-EU       Extra-EU

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  45
BREXIT

KEYSTONE
Wie sieht die britische Handelspolitik in Zukunft
aus? Premierministerin Theresa May hat noch
keine klare Antwort geliefert. Das Volumen mit China betrug 7 Prozent, den Marktzugang zu Staaten wie beispiels-
mit Kanada 2 Prozent und mit Indien 1 Pro- weise den USA, China, Indien oder Austra-
zent. Mit den Nachbarn Irland und Frank- lien zu verbessern. Die zukünftige Ausrich-
sche Produzenten für ihre Exporte in die reich betrug das Volumen 4 respektive tung der britischen Wirtschaftspolitik ist
EU keine speziellen Produktelinien herstel- 6 Prozent. Das vergleichsweise grosse Vo- allerdings noch unklar. Die Unterhauswah-
len und zusätzlichen Zertifizierungen be- lumen der Schweiz ist allerdings zu relati- len von Anfang Juni haben keine Klarheit
antragen. vieren, denn die Schweiz und das UK sind geschaffen. Im Gegenteil: Premierministe-
Als EU-Mitglied profitiert das UK nicht wichtige Goldhandelsplätze. Entsprechend rin Theresa May hat die absolute Mehrheit
nur vom Zugang zu einem der grössten ist der Goldhandel zwischen diesen bei- der Sitze verloren, und sie ist auf die Unter-
Märkte der Welt, sondern auch von den den Partnern gross. Sein Anteil am Gesamt- stützung einer nordirischen Kleinpartei an-
vertraglich geregelten Handelsbeziehungen güterhandel betrug im Jahr 2016 beinahe gewiesen.
der EU mit Drittstaaten. Zu Letzteren ge- 60 Prozent. Wird vom Goldhandel abgese- Zwar hat May wiederholt betont: «­Brexit
hören die Zollunion mit der Türkei, der ge- hen, so waren Chemie- und Pharmaproduk- means Brexit.» Was darunter genau zu ver-
meinsame Wirtschaftsraum mit den EWR/ te (47%), Präzisionsinstrumente, Uhren und stehen ist – ausser der Bestätigung des Aus-
Efta-Staaten, die zahlreichen Freihandels- Bijouterie (22%) sowie Maschinen, Appara- trittswillens –, bleibt jedoch weitgehend
abkommen – und nicht zuletzt die bilate- te, Elektronik und Fahrzeuge (19%) die zent- unbeantwortet (siehe Kasten 1). Einzig be-
ralen Beziehungen zur Schweiz. Insgesamt ralen Handelsgüter. treffend Personenfreizügigkeit und Recht-
fallen zwei Drittel des britischen Handels- sprechung des Gerichtshofs der EU hat die
volumens auf die EU-Länder sowie auf Staa- Britische Position noch vage britische Regierung eine Leitlinie festgelegt:
ten mit präferenziellem Marktzugang (siehe Beides soll nicht mehr gelten – weshalb ein
Abbildung 2). Addiert man den Güterhandel Für die bestehenden Handelsbeziehungen Austritt aus dem Binnenmarkt notwendig
mit Staaten, die derzeit mit der EU in Ver- müssen nun Nachfolgeregelungen gefun- wird. Stattdessen soll dereinst ein umfas-
handlung über ein Freihandelsabkommen den werden. Dies gilt nicht nur für die Han- sendes Freihandelsabkommen die Handels-
stehen, sind sogar über vier Fünftel des bri- delsbeziehungen zwischen dem UK und der beziehungen mit der EU regeln.
tischen Handelsvolumens betroffen. EU, sondern auch für die Beziehungen zu al- Für gewisse Bereiche – namentlich ge-
Mit einem Handelsvolumen im Jahr 2016 len Freihandelspartnern der EU. Um Einbus- nannt wurden die Automobil- und die Fi-
von 5 Prozent ist die Schweiz ein wichtiger sen beim Zugang zum Binnenmarkt der EU nanzindustrie – wird die Fortführung der
Handelspartner der Briten. Zum ­Vergleich: wettzumachen, sind die Briten gezwungen, Harmonisierung von Produktevorschriften

46  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


BREXIT

ein weitreichender Schutz der heimischen


Abb. 2: Gesamtvolumen des britischen Güterhandels nach Partnern (2016)
Fleischproduktion umfassende Freihandels-
abkommen mit Partnern wie den USA oder
Weitere Staaten 5% Australien erschweren.
Deutschland 12%
Russland 1% Darüber hinaus hängen die Möglichkei-
Australien 1%
Hongkong 2% ten für eine neue Positionierung des UK in
der Weltwirtschaft auch von den Positionen

HM REVENUE UND CUSTOMS (HMRC), OVERSEAS TRADE STATISTICS (OTS) OF THE UK; BERECHNUNGEN WEGMÜLLER / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
China 7% der einzelnen Handelspartner ab. So dürf-
Niederlande 7%
ten die USA – trotz der viel zitierten «­special
Weitere Staaten in relationship» – ein grösseres Interesse an
FHA-Verhandlungen 3%
einem umfassenden Freihandelsabkommen
Indien 1% mit der EU als an einem entsprechenden
Frankreich 6% Vertrag mit dem UK haben.
Japan 2%

Brexit betrifft auch die Schweiz


Belgien 4%
USA 11% Das UK war 2016 hinter Deutschland, den
USA, Frankreich und Italien der weltweit
Irland 4% fünftwichtigste Absatzmarkt für Schwei-
zer Güter (ohne Gold). Die derzeitigen Han-
Weitere
Italien 3% delsbeziehungen sind dabei massgeblich
FHA-Partner 4% über die bilateralen Abkommen zwischen
Spanien 3%
der Schweiz und der EU geregelt und basie-
Ka rea 1%
da %
o a

ren in zentralen Bereichen auf Rechtshar-


dk rik
1
2%
Sü daf

Weitere EU-Staaten 9% monisierung. Damit hat die Schweiz einen


na

5%

weit umfangreicheren Marktzugang, als


2%
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mit einem herkömmlichen Freihandelsab-


Sc

r

kommen möglich wäre.2 Insbesondere har-


  EU (49%)       Präferenzieller Marktzugang (17%)   
monisierte Produktevorschriften für Indus-
  Mit der EU in Verhandlung über Freihandelsabkommen (FHA, 18%)       Ohne Abkommen (16%) trie- und Agrargüter oder die gegenseitige
Anerkennung von Zertifizierungsverfahren
erleichtern den Güterhandel zwischen der
Kasten 1: «Brexit means Breakfast» Schweiz und der EU.
Weil die Schweizer Industrie ein Interes-
Der Vorsitzende der Konservativen in der Wali- in Grossbritannien in Bezug auf die Frage, was ein
sischen Nationalversammlung, Andrew R. T. Da- Frühstück beinhaltet, stark auseinander: Je nach
se an gleichen Produkteanforderungen hat
vies, hat an einer Parteiversammlung unbeabsich- Hotel bedeutet «Breakfast», dass man einen Kaf- – damit für den einheimischen Markt und
tigt auf sich aufmerksam gemacht. Als er auf die fee und ein Brötchen serviert bekommt oder eine den wichtigsten Exportmarkt nicht unter-
Bekundung der Premierministerin Theresa May grosse Auswahl an Spezialitäten in Form eines Buf- schiedliche Produktelinien produziert wer-
«­Brexit means Brexit» verweisen wollte, sagte er fets zur Verfügung steht. Analog kann der Brexit
irrtümlicherweise «Brexit means Breakfast». in Bezug auf die zukünftigen Beziehungen mit der den müssen –, waren die Schweizer Pro-
Der Versprecher wurde von verschiedenen Me- EU für den Handelsbereich unterschiedlich vollzo- duktevorschriften auch schon vor den bila-
dien aufgenommen, um zu zeigen, wie unklar die gen werden, von einem einfachen Freihandelsab- teralen Abkommen weitgehend mit der EU
derzeitige Situation ist. So gehen die Meinungen kommen bis hin zum Verbleib in der Zollunion. harmonisiert. Ob der Marktzugang hier über
den Brexit hinaus aufrechterhalten werden
kann, hängt nun davon ab, inwiefern das
nicht ausgeschlossen.1 Das zeigt, dass die Handelsvolumen mit der EU 52 Prozent be- UK weiterhin seine Produktevorschriften
britische Regierung eine Fortführung der ziehungsweise 64 Prozent aus. Die Mög- mit der EU harmonisiert; beziehungsweise,
Harmonisierung mit der EU nicht komplett lichkeiten für neue Regelungen mit ande- ob die Schweiz und das UK bereit sind, Pro-
ablehnt. Je umfassender die Harmonisie- ren Staaten dürften entsprechend begrenzt dukte, die von den einheimischen Vorschrif-
rung ausfällt, desto kleiner ist jedoch der sein. ten abweichende Standards erfüllen, in ihren
Handlungsspielraum für eine Orientierung Gleichzeitig zeigt die explizite Erwäh- Märkten zuzulassen.
zu anderen Handelspartnern. Angesichts nung der Automobil- und der Finanzbran- Doch die Situation ist noch komplexer:
der derzeitigen Güterhandelsausrichtung che, dass die britische Regierung bei ihrer Werden im UK zertifizierte Zwischenpro-
wird die EU wohl für zahlreiche Branchen Neuorientierung Partikularinteressen ein- dukte in der Schweiz weiterverarbeitet und
der wichtigste Handelspartner bleiben. In zelner Wirtschaftszweige mit zu berück- das Endprodukt in die EU exportiert, so ist
den zwei bedeutendsten Exportbranchen sichtigen hat. Auch hier gilt: Je stärker sol- wiederum die Anerkennung der Gleichwer-
des UK – Maschinen und Beförderungsmit- chen Interessen Gehör geschenkt wird, tigkeit des Zwischenprodukts durch die EU
tel sowie Chemieerzeugnisse – macht das desto schwieriger wird es, neue weitrei- notwendig. Wird die Gleichwertigkeit der
chende Freihandelsabkommen abzuschlies-
1 Vgl. Grundsatzrede von T. May vom 17. Januar 2017 im
Lancaster House oder das «Brexit White Paper» der
sen. Dies trifft insbesondere auf die zukünf- 2 Vgl. Bericht des Bundesrats vom 5. Juni 2015 in
Regierung vom 2. Februar 2017. tige Agrarpolitik zu. Beispielsweise könnte Erfüllung des Postulats Keller-Sutter.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  47
BREXIT

Kasten 2: Gegenseitige Anerkennung ten Produktevorschriften, sondern bei- spielsweise im Finanzbereich oder alterna-
entscheidend: Beispiel Biozertifikate spielsweise auch für Kontrollen und Forma- tive Ansätze gegebenenfalls aufgenommen
litäten im Verkehr mit Industriegütern oder werden können.
Die Schweiz und die EU anerkennen aufgrund des
tierischen Produkten, die mit der Schaffung Wahrscheinlich wird die zur Verfügung
Agrarabkommens ihre Biozertifikate gegenseitig.
Als die EU und die USA im Sommer 2012 eben- des gemeinsamen Zollsicherheitsraums be- stehende Zeit zur Aushandlung einer kom-
falls ihre Biozertifikate anerkannten, schuf dies ziehungsweise des gemeinsamen Veteri- pletten Abkopplung des UK von der EU nicht
Probleme für Schweizer Bioexporteure, die Roh- närraums zwischen der Schweiz und der EU ausreichen. Deshalb werden bereits heu-
stoffe aus der EU für Endprodukte mit Zielmarkt
USA verwendet haben. Der Grund: Der Bioroh-
vereinfacht werden konnten. te Übergangsregelungen im gegenseitigen
stoff – beispielsweise Haferflocken aus der EU für Die bilateralen Abkommen zwischen der Verhältnis angedacht. In diesem Fall würde
ein Schweizer Müsli – benötigte für den späteren Schweiz und der EU gehen aber über den der Status quo für eine bestimmte Zeit auf-
Export des Endprodukts in die USA ein Zertifikat Güterhandel hinaus. Sie regeln beispiels- rechterhalten, was die Ausgangslage für die
des U. S. National Organic Program (NOP).
Mit dem Äquivalenzabkommen zwischen der
weise die Rechte von 34 000 im UK wohn- Schweiz im kurzfristigen Vertragsverhältnis
EU und den USA liessen sich jedoch immer weni- haften Schweizer Staatsangehörigen oder vereinfachen könnte. Gleichzeitig würden
ger EU-Produzenten NOP-zertifizieren, da die- sind die Grundlage für die rund 150 täg- damit aber die Möglichkeiten beschränkt,
ses Zertifikat für ihre Exporte in die USA nicht lichen Flugbewegungen zwischen der zum jetzigen Zeitpunkt langfristige Nach-
mehr nötig war. Entsprechend schränkte sich die
Auswahl an Lieferanten von zertifizierten Bio- Schweiz und dem UK. Im Auftrag des Bun- folgeregelungen auszuarbeiten.
rohstoffen für Schweizer Produzenten ein. Er- desrates haben deshalb die zuständigen Die Schweiz will nicht nur Rechts­
leichterung brachte schliesslich ein Äquivalenz- Experten Kontakt mit ihren britischen An- sicherheit im Hinblick auf den dereinsti-
abkommen zwischen der Schweiz und den USA sprechpartnern aufgenommen und ers- gen ­Brexit schaffen, sondern darüber hin-
im Sommer 2015. Das Beispiel zeigt: Für einen
reibungslosen Handel von Produkten und insbe- te exploratorische Gespräche geführt. Da- aus die Grundlagen für bestmögliche und
sondere von Zwischenprodukten zwischen meh- bei sind sich die Schweiz und das UK einig, mindestens mit der EU gleichwertige lang-
reren Partnern ist nicht nur die Gleichwertigkeit dass die gegenseitigen Rechte und Pflich- fristige Regelungen legen. So ist nicht aus-
der Produktevorschriften eine Voraussetzung,
ten über den Zeitpunkt des Brexit hinaus zuschliessen, dass für die künftigen Bezie-
sondern auch die gegenseitige Anerkennung die-
ser Gleichwertigkeit durch alle Partner. ­sicherzustellen und Rechtslücken im bila- hungen zum UK je nach Zeithorizont unter-
teralen Verhältnis zu vermeiden sind. Diese schiedliche Lösungen vereinbart werden.
Strategie wird in der Schweiz mit «Mind the Ziel bleibt kurz- wie langfristig, den heuti-
in den bilateralen Abkommen zwischen Gap» umschrieben. gen Marktzugang für Schweizer Unterneh-
der Schweiz und der EU abgedeckten Pro- Im Handelsbereich konnte ein vertiefter men zum fünftwichtigsten Exportmarkt
dukte zukünftig nicht von allen Partnern Dialog etabliert werden. Dieser ermöglicht mindestens so umfassend wie heute zu hal-
anerkannt, würde dies zu Problemen für in einem ersten Schritt eine Diskussion zu ten.
Schweizer Produzenten führen, die britische Themen, die unabhängig von zukünftigen
Zwischenprodukte verarbeiten. Sie müssten Regelungen zwischen dem UK und der EU
auf andere Zulieferer aus der EU ausweichen angegangen werden können, sowie einen
oder die Zwischenprodukte zusätzlich zerti- stetigen Informationsfluss über den aktuel-
fizieren lassen (siehe Kasten 2). len Verlauf der Verhandlungen mit der EU.
Darauf aufbauend, können in einem zwei-
«Mind the Gap»-Strategie ten Schritt gemeinsame Lösungen für alle
übrigen handelspolitischen Bereiche, die
Um zeitgerecht bilaterale Lösungen mit dem auf Rechtsharmonisierung mit der EU ba-
UK zu finden, ist es für die Schweiz deshalb sieren, ausgearbeitet werden. Diese Vorge-
wichtig, stets über die wirtschaftspoliti- hensweise soll es erlauben, möglichst um-
sche Positionierung der Briten und den Ver- fassende Lösungen für die bestehenden Claudio Wegmüller
lauf der Verhandlungen mit der EU im Bilde Beziehungen zu finden und gleichzeitig Fle- EU-Koordinator, Direktionsbereich, Staats-
sekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern
zu sein. Dies gilt nicht nur für die erwähn- xibilität zu wahren, damit neue Themen bei-

48  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


KONJUNKTUR

Die Nationalbank investiert in die Bildung


Mit dem Bildungsprogramm Iconomix will die Schweizerische Nationalbank (SNB) das
Verständnis für volkswirtschaftliche Zusammenhänge in der Schweiz fördern. Zehn Jahre
nach der Lancierung erreicht das Programm 40 Prozent des Zielpublikums.   Carlos Lenz,
Manuel Wälti

Abstract    Mit dem vor zehn Jahren lancierten Bildungsprogramm Iconomix will die Lernende – beschreiten einen dieser Wege.
Schweizerische Nationalbank (SNB) das Verständnis für wirtschaftliche Zusammen- Insgesamt unterrichten auf Sekundarstufe II
hänge in der Bevölkerung stärken. Das Programm ist auf die Sekundarstufe II ausge- rund 4000 Lehrpersonen Wirtschafts- und
richtet – das heisst auf die berufliche Grundbildung und auf die Mittelschulen –, da auf Gesellschaftsfächer.
dieser Stufe bereits Wirtschaft unterrichtet wird. Interessierte Lehrpersonen kön-
nen die Lehr- und Lernressourcen kostenlos von der Iconomix-Website herunterladen Website im Zentrum
und bestellen. Das fachlich fundierte und didaktisch professionell aufbereitete Unter-
richtsmaterial wird regelmässig überarbeitet und aktualisiert. Das Angebot von Icono- Kernprodukt von Iconomix ist die Web-
mix ergänzt die bestehenden Lehrmittel. site Iconomix.ch mit Unterrichtsmaterial auf
Deutsch, Französisch, Italienisch und Eng-
lisch – aufgegliedert in Unterrichtsmodule.

D  ie Entscheidungen von Zentralban-


ken haben weitreichende Konsequen-
zen für die Bevölkerung. Aus wirtschaftspoli-
Fakten zu Iconomix (für das Jahr 2016)
91
Ein Modul besteht zum Beispiel aus einer Fall-
studie, einer browsergestützten Simulation,
einem Fachtext oder einem Lernspiel. Hinzu
Unterrichtsmodule in drei
tischer Sicht ist es daher von Vorteil, wenn kommen Begleitmaterialien wie Hilfestellun-
Landessprachen und Englisch
möglichst viele Menschen die Überlegun- gen oder Foliensätze für die Lehrperson, ein
gen und Entscheidungen der Zentralbanken 136 oder mehrere Aufgabensets samt Lösungs-
nachvollziehen können und die grundlegen- publizierte Blogartikel auf hinweisen sowie Videos zum Thema.
Deutsch und Französisch
den wirtschaftlichen Zusammenhänge ver- Neben dem Unterrichtsmaterial bietet
stehen. In der Schweiz, wo die Bürger auf al- 114 000 Iconomix eine ausgewählte Linksammlung
len Staatsebenen regelmässig über komplexe einzelne Besuche auf der Website und einen Wirtschaftsblog. Zudem können
ökonomische Sachfragen abstimmen, ist ein 80 000 Lehrpersonen mit Aus- und Weiterbildungs-
Grundwissen über die wirtschaftlichen Zu- Downloads von Unterrichtsmaterial anlässen im Rahmen von Iconomix ihr Fach-
sammenhänge besonders wichtig. wissen auffrischen. Die Anlässe dienen dazu,
Die Schweizerische Nationalbank (SNB)
666 die Aneignung des Unterrichtsmaterials zu
Lehrmaterialien im Klassensatz bestellt
ist bestrebt, einen Beitrag zur Vermittlung unterstützen und konkrete Einsatzmöglich-
dieses Grundwissens zu leisten. Zu diesem 18 keiten aufzuzeigen. Wichtig ist, dass sich die
Zweck hat sie vor zehn Jahren das Iconomix- Anlässe für Lehrpersonen mit insgesamt rund Lehrpersonen mit den Materialien vertraut
400 Teilnehmenden
Programm ins Leben gerufen. Iconomix steht machen und diese an den eigenen Unterricht
als Teil eines nachhaltig orientierten Engage- Mehr Informationen unter Iconomix.ch und die Bedürfnisse der Lernenden anpassen.
ments der SNB für die ökonomische Bildung Letztlich muss die Lehrperson den Mut auf-
in einer längeren Tradition. Diese nahm be- bringen, die neuen Lehr- und Lernressourcen
reits 1984 mit der Schaffung des Studienzen- im Unterricht auch tatsächlich einzusetzen.
trums Gerzensee ihren Anfang. Die Praxis-Workshops von Iconomix helfen,
Angebot für Lehrpersonen
In erster Linie will Iconomix die Lehrper- die damit verbundenen Herausforderungen
sonen auf der Sekundarstufe II bei der Ver- zu meistern.
Aus- und
mittlung von Kompetenzen zum Verständnis Weiterbildung Auch zehn Jahre nach seiner Lancierung
ökonomischer Vorgänge unterstützen. Darü- Praxis-Workshops befindet sich Iconomix in einem stetigen
ber hinaus fördert das Programm im Rahmen Website Lernprozess. Der regelmässige Austausch mit
von Aus- und Weiterbildungsanlässen das Content-Hub und den Anwendern bringt dabei wertvolle Er-
Servicecenter
Fachwissen der Lehrerschaft. Und nicht zu- kenntnisse zur Verbesserung und Weiterent-
letzt will es Impulse geben für einen moder- wicklung des Angebots. Dieser Ansatz schafft
nen und attraktiven Wirtschaftsunterricht. zwei wesentliche Voraussetzungen für quali-
Wichtige Ausbildungsinstitutionen auf tativ hochwertige Lehr- und Lernressourcen:
Unterrichtsmaterial
der Sekundarstufe II sind Gymnasien, Fach- Module Zum einen stellt er die Anpassungs- und Ent-
mittelschulen, Berufsmaturitätsschulen und wicklungsfähigkeit dieser Ressourcen über
ICONOMIX

Berufsfachschulen. Rund 95 Prozent aller Ju- die Zeit sicher, zum anderen bezieht er die
gendlichen in der Schweiz – rund 330 000 Zielgruppe in die Weiterentwicklung ein.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  49
KONJUNKTUR

ICONOMIX
Das Iconomix-Modul «Allmendegüter» ver-
mittelt die Problematik von frei zugänglichen
Ressourcen auf spielerische Art. lionen Franken. Das Team konzentriert sich Wer über die Jahre in ein Programm inves-
auf den Betrieb der Website, die Programm- tiert, will auch wissen, ob es etwas bringt. Die
leitung, die Kundenbetreuung und die Qua- Erfolgsmessung ist daher zentral. Entspre-
Über 90 Lernmodule litätssicherung. Für alle anderen Leistungen chend misst Iconomix die Verbreitung, Nut-
Die Sekundarstufe II setzt sich aus verschie- wird mit qualifizierten externen Fachperso- zung und Wirkung der Angebote und erhebt
denen Schul- und Fächertypen zusammen, nen wie Autoren, Lehrpersonen, Gestaltern eine Reihe von Leistungskennzahlen (siehe
welche sich in Bezug auf Methodik, Anfor- (Print, Web), Informatikern und Lektoren zu- Kasten). Ein Teil davon wird auf der Website
derungsniveau und Stundenaufteilung stark sammengearbeitet. Im Lauf der Zeit ist so ein und im Angebotskatalog, der jeweils im Juni
unterscheiden. Hinzu kommen die drei Lan- eingespieltes, effizient arbeitendes Netzwerk erscheint, publiziert.
desteile mit ihren spezifischen Ansprüchen entstanden.
und Eigenheiten, nicht zuletzt natürlich in Iconomix pflegt den Kontakt zu Unterneh-
sprachlicher Hinsicht. Diese Kontraste ver- men, Verlagen und Bildungsinstitutionen, da-
langen nach einem vielfältigen Angebot. Da- runter Universitäten, Fachhochschulen, Be-
her deckt Iconomix ein breites Spektrum an rufsschulen und Gymnasien. Diese Zusam-
Themen, methodisch-didaktischen Ansätzen menarbeit trägt viel zur breiten Akzeptanz
und Leistungsniveaus ab. und zur Verankerung von Iconomix in der
Auf der einen Seite des Spektrums fin- schweizerischen Bildungslandschaft bei.
den sich Module, für die es nur wenig Vor-
wissen braucht. So werden beispielsweise im Zielgruppe erreicht Carlos Lenz
Modul «Leasing» anhand eines Fallbeispiels Dr. rer. pol., Leiter Volkswirtschaft,
Schweizerische Nationalbank (SNB), Zürich
und eines Aufgabensets die Grundlagen die- Von Beginn an war klar, dass Iconomix nur
ser Finanzierungsmethode vermittelt. Auf erfolgreich sein kann, wenn das Angebot im
der anderen Seite behandeln Angebote wie Unterricht auch ankommt. Ende 2016 nutz-
etwa das Modul zur Geldpolitik ein Thema ten rund 1500 Lehrpersonen der Sekundar-
auf einem eher abstrakten, wissenschaftsna- stufe II die Iconomix-Website aktiv.1 Bezogen
hen Niveau. Insgesamt stehen über 90 Unter- auf die Zielgruppe von rund 4000 Lehrper-
richtsmodule in vier Sprachen zur Auswahl. sonen, die auf Sekundarstufe II Wirtschafts-
und Gesellschaftsfächer unterrichten, ist dies
Professionelle Betreuung ein Anteil von knapp 40 Prozent. Verbreitung
und Nutzung sind in allen drei Landesteilen Manuel Wälti
Das Angebot von Iconomix wird durch ein ähnlich gut. Dr. rer. oec., stv. Leiter Forschungskoordi-
kleines Team von Mitarbeitenden der SNB in nation und Ökonomische Bildung, Leiter
Zürich und Lausanne betreut. Das operative Iconomix.ch, Schweizerische Nationalbank
1 Aktive User sind solche, die ihren Account 2016 min- (SNB), Zürich
Jahresbudget (Sachaufwand) beträgt 0,7 Mil- destens einmal genutzt haben.

50  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


DOSSIER

ALAMY
25 Jahre Schweizer
Mitgliedschaft bei der Weltbank
Im Jahr 1992 hat das Schweizer Stimmvolk dem Beitritt zu den beiden
Bretton-Woods-Institutionen Weltbank und Internationaler Währungs-
fonds (IWF) zugestimmt. Das vorliegende Dossier fokussiert sich auf die
Weltbank. 1944 gegründet, um den Wiederaufbau nach dem Zweiten
Weltkrieg voranzutreiben, hat sie sich im Laufe der Zeit neu aus-
gerichtet. Heute ist ihr Hauptziel, die weltweite Armut und Ungleichheit
zu ­verringern. Zudem widmet sie sich Fragen mit globaler Relevanz wie
Klimawandel, Wasserversorgung und Gesundheit. Um die UNO-Nach-
haltigkeitsziele zu erreichen und in einer multipolaren Welt weiterhin eine
führende Rolle zu spielen, braucht es neue Lösungsansätze. Wie die
Weltbank den Entwicklungsländern zusätzliche Mittel sowie die be-
nötigten Beratungsdienstleistungen zur Verfügung stellen kann und
welche Reformen sie angehen sollte, lesen Sie in diesem Dossier.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  51
WELTBANKMITGLIED SCHWEIZ

Die Schweiz bei der Weltbank

Mrd.
,2
$ 64ltbankgrupZpueschüssea,n
2016
e ,
ie W edite ntien
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we u va
welt ligungen und Pri en
i r h
Bete erlände gesproc
t n n
Par nehme

Internationale Bank Internationale Internationale Multilaterale Internationales Zentrum


für Wiederaufbau Entwicklungs- Finanz- Investitions- zur Beilegung von
und Entwicklung organisation Corporation garantie-Agentur Investitionsstreitigkeiten
Lateinamerika
und Karibik

4
$ 11, .
Mrd
Unterstützt Vergibt zinslose Fördert Privat- Bietet Investoren Stellt inter-
Länder mittleren Kredite sowie investitionen Garantien gegen nationale
Einkommens mit Zuschüsse an die in den Ent- die nicht Vergleichs- und
Krediten und ärmsten Länder wicklungsländern kommerziellen Schiedsein-
Beratungs- über die Vergabe Risiken in richtungen zur
leistungen von Darlehen, Entwicklungs- Beilegung von
Eigenkapital- ländern Investitions-
beteiligungen und streitigkeiten zur
Beratungsdienst- Verfügung
leistungen

Abb. 1: Die Organisationen der Weltbankgruppe

Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF)


wurden 1944 im amerikanischen Bretton Woods gegründet.
Zusammen bilden sie die Bretton-Woods-Institutionen.

Ihr Auftrag war es, nach dem Zweiten Weltkrieg den Wie-
deraufbau Europas voranzutreiben und stabile Währungen
zu schaffen. Im Laufe der Zeit weitete sich das Tätigkeits-
feld der Weltbank auf Entwicklungs- und Schwellenländer
aus. Heute besteht sie aus fünf Unterorganisationen, die
zusammen die Weltbankgruppe bilden (siehe Abbildung 1).

Die Weltbankgruppe wie auch der IWF sind Sonderorga-


nisationen der Vereinten Nationen und bestehen aus 189
Mitgliedsländern. Ihr Hauptsitz ist in Washington D.C.
Das Hauptziel der Weltbankgruppe ist die Bekämpfung der
weltweiten Armut und Ungleichheit. Bis ins Jahr 2030 soll
die extreme Armut auf 3 Prozent reduziert und der Wohl-
stand der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung erhöht
Philipp Orga werden. Die Weltbankgruppe unterstützt Entwicklungs-
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ressort länder in nahezu jedem Arbeitsbereich, indem sie ihnen
Multilaterale Zusammenarbeit, Staatsse-
günstige Kredite gewährt und technische Hilfe anbie-
kretariat für Wirtschaft (Seco), Bern
tet. Sie verpflichtet jährlich rund 60 Milliarden Dollar und

52  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


DOSSIER

Ostasien und Pazifik


Europa und Zentralasien
4
$ 11, .
$ 10
,3 Mrd
.
Mrd
Südasien

3
$ 11, .
Mrd

Subsahara
3
$ 6, .
Mrd
,3
$ 13 .
Mrd Naher Osten
und Nordafrika

WELTBANK JAHRESBERICHT 2016


Abb. 2: Die Verpflichtungen der Weltbankgruppe nach Weltregion (2016)

trägt so als eine der weltweit grössten Geldgeberinnen Jim Yong Kim und 25 Exekutivdirektoren, zuständig. Die
für Projekte in der Entwicklungszusammenarbeit zur Er- grössten Aktionäre stellen jeweils einen eigenen Direk-
reichung der internationalen Entwicklungsziele bei (sie- tor – derzeit sind das die USA, Japan, China, Deutschland,
he Abbildung 2). Grossbritannien und Frankreich. Die anderen Direktoren
vertreten die restlichen Mitglieder, die sich zu Stimm-
Die Weltbankgruppe ist eine der wichtigsten Akteure der rechtsgruppen zusammenschliessen.
internationalen Entwicklungspolitik. Seit ihrer Gründung
hat sie sich von einer Finanzierungsinstitution zuneh- Die Schweiz ist seit 1992 Aktionärin der Weltbankgrup-
mend zu einer Wissensorganisation entwickelt. Ihre Re- pe. Mit rund 700 Millionen Franken Beitrag an die IDA ,
levanz beruht heute nicht mehr allein auf der finanziel- dem Fonds für die ärmsten Länder, ist die Schweiz neunt-
len Unterstützung, sondern auch auf der Vermittlung und grösste Geldgeberin und damit eine gewichtige Partne-
dem Aufbau von Know-how in den Entwicklungsländern. rin der Weltbankgruppe. Sie unterstützt zudem durch
Kofinanzierungen ausgewählte Entwicklungsprojek-
Oberstes Aufsichts- und Gestaltungsorgan der Welt- te der Organisation. Die bedeutende Rolle der Schweiz
bankgruppe ist der Gouverneursrat, der zweimal jährlich innerhalb der WBG widerspiegelt sich auch in der Lei-
tagt und über die strategische Ausrichtung der Organi- tung einer der 25 Stimmrechtsgruppen, zu der nebst der
sation entscheidet. Darin wird die Schweiz vom Vorste- Schweiz die acht Länder Aserbaidschan, Kasachstan, Kir-
her des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, gisische Republik, Polen, Serbien, Tadschikistan, Turk-
Bildung und Forschung, Johann N. Schneider-Ammann, menistan und Usbekistan gehören. Der Einsitz in den Ver-
vertreten. Für das Tagesgeschäft, zu welchem etwa Kre- waltungsgremien erlaubt es der Schweiz, aktiv den Kurs
ditvergaben, Finanzfragen und Projekte gehören, ist das der Weltbankgruppe mitzubestimmen, und gibt ihr hohe
Exekutivdirektorium, bestehend aus dem Präsidenten Visibilität.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  53
WELTBANKMITGLIED SCHWEIZ

Die Weltbank – Grundpfeiler der inter-


nationalen Entwicklungszusammenarbeit
Die tiefgreifenden sozialen und wirtschaftspolitischen Veränderungen, die mit der
Globalisierung einhergehen, stellen die Weltbank vor neue Herausforderungen. Will die
Organisation ihre Wirksamkeit und ihre globale Bedeutung auch in Zukunft sichern, muss sie
sich laufend an die neuen Rahmenbedingungen anpassen.   Ivan Pavletic, Jörg Frieden

oder mangelhaft umgesetzte Infrastruktur-


Abstract  Bezüglich Wirksamkeit, Effizienz und politischen Einflusses gehört die Welt- projekte der Weltbank, die Skepsis gegenüber
bank weltweit zu den führenden Entwicklungshilfeorganisationen. Aufgrund der tief-
den Strukturanpassungsprogrammen der
greifenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der vergangenen 25 Jahre
Reagan-Thatcher-Ära sowie die wachsende
muss sie ihre Rolle in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit neu definieren.
Erkenntnis, Nachhaltigkeitsaspekte besser in
Eine klare Prioritätensetzung ist zwingend. Dazu gehört neben der Armutsbe-
die Planung von Entwicklungsprogrammen
kämpfung und der Förderung eines nachhaltigen Wachstums auch die Bereitstellung
integrieren zu müssen. Darüber hinaus wurde
globaler öffentlicher Güter. Weil für diese Aufgaben die finanziellen Mittel knapp sind,
die Armut zunehmend als multidimensionales
ist auch die Mobilisierung des Privatsektors zentral.
Problem erkannt, zu dessen Lösung Mass-
nahmen auf institutioneller, wirtschafts-
politischer, gesellschaftlicher und verhaltens-

G  emessen an ihren Vermögenswerten


von rund 644 Milliarden Dollar und ihren
jährlichen Kreditverpflichtungen im Umfang
auszuarbeiten und diese auf lokaler, regionaler
und zunehmend auch auf globaler Ebene um-
zusetzen.
ökonomischer Ebene nötig sind. Themen
wie Bildung und Gesundheit, Geschlechter-
gleichstellung und gute Regierungsführung
von etwa 64 Milliarden Dollar ist die Weltbank gewannen dadurch immer stärker an Auf-
im heutigen internationalen Finanzsystem Die Weltbank im Wandel merksamkeit. Gleichzeitig hat die Weltbank
ein mittelgrosser Player. Das war nicht immer ihre Sozial- und Umweltstandards verschärft
so. In der Nachkriegszeit gehörte sie zu den Seit dem Beitritt der Schweiz vor 25 Jah- und ausgeweitet.
zehn grössten Finanzinstituten weltweit. Die ren hat sich die Weltbank stetig weiterent- Die Ausarbeitung eines holistischen Ent-
Liberalisierung der internationalen Kapital- wickelt, um angemessen auf die sich verän- wicklungshilfeansatzes war weder linear
märkte in den Siebzigerjahren eröffnete den dernden globalen Rahmenbedingungen und noch einfach. Der Prozess war begleitet von
Entwicklungsländern den Zugang zu neuen, Kundenbedürfnisse reagieren zu können. einer intensiven Auseinandersetzung mit der
vornehmlich privaten Finanzierungsquellen. Entsprechend hat sich auch ihr Ansatz der Rolle, welche die Weltbank in einer sich rasant
Das hatte zur Folge, dass die relative Nach- Entwicklungshilfe verändert. Konzentrierte verändernden Welt zu spielen hat, den Zielen,
frage nach Weltbank-Krediten nachliess. sie sich ursprünglich vor allem auf die Finan- die sie erreichen soll, sowie den Ressourcen
Diese Entwicklung reflektiert die allgemein zierung von Infrastrukturprojekten, weitete und Instrumenten, die ihr hierfür zur Ver-
nachlassende Bedeutung der öffentlichen sich ihr Tätigkeitsfeld in den Achtzigerjahren fügung stehen. Bilaterale Entwicklungs-
Entwicklungshilfe in Bezug auf die gesamten zunehmend auf politische Reformen und die partner, Nicht­regierungsorganisationen, die
Kapitalflüsse in die Entwicklungsländer. Stärkung von institutionellen Rahmenbedin- Zivilgesellschaft und der Privatsektor haben
Es wäre allerdings verfehlt, die Relevanz gungen aus. Hier beschränkte sich die Welt- sich an dieser Auseinandersetzung be-
der Weltbank auf ihre finanzielle Rolle zu bank mit dem sogenannten Washington Con- teiligt und so den Prozess massgeblich mit-
reduzieren. Die Globalisierung hat die ge- sensus zunächst auf eine begrenzte Anzahl an geprägt. So durchlief die Weltbank in den
sellschaftlichen, wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Massnahmen zur För- letzten 25 Jahren mehrere institutionelle
politischen Rahmenbedingungen grund- derung des Wachstums. Im Laufe der Zeit Umstrukturierungen und Reformen, um ihre
legend verändert. Die nationalstaatliche wurde dieser Ansatz jedoch um die Schwer- Wirksamkeit und Effizienz zu verbessern.
Politik sieht sich zunehmend mit trans- punkte der Bekämpfung der extremen Armut Gleichzeitig baute sie ihren Leistungskatalog
nationalen Problemen konfrontiert, deren und Ungleichheit sowie der Förderung der und ihren Personalbestand stark aus.
Lösung die finanziellen und technischen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Diese Bemühungen mündeten 2013 in
Möglichkeiten einzelner Länder oftmals über- Nachhaltigkeit ergänzt. der Formulierung des ersten gemeinsamen
steigt. Die Bedeutung der Weltbank muss im Diese Entwicklung war das Ergebnis eines Mandats für die gesamte Weltbank-
Kontext dieser globalen Verflechtung ver- langjährigen institutionellen und weitgehend gruppe, bestehend aus der Internationalen
standen werden. Sie unterstützt die Welt- eklektischen Lernprozesses, der durch eine Bank für Wiederaufbau und Entwicklung
gemeinschaft, die entwicklungsrelevanten Vielzahl von Faktoren geprägt wurde. Dazu (IBRD), der Internationalen Entwicklungs-
Herausforderungen ihrer Mitglieder zu er- gehören unter anderem die öffentlich ge- organisation (IDA), der Internationalen
fassen, lösungsorientierte Handlungsansätze führten Diskussionen über gescheiterte Finanz-Corporation (IFC), der Multilateralen

54  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


DOSSIER

Die Bereitstellung globaler öffentlicher Güter


wie Gesundheitsversorgung nützt allen Ländern.
STEPHAN GLADIEU / WELTBANK

Eine Krankenschwester auf einer Gesundheits-


station in Benin.
WELTBANKMITGLIED SCHWEIZ

I­ nvestitions-­Garantie-Agentur (MIGA) und ihrer Reformempfehlungen massgeblich er- oftmals politisch delikate Güterabwägung.
dem Internationalen Zentrum zur Beilegung höht. Ein Beispiel ist der «Doing Business»- Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass sich bi-
von Investitionsstreitigkeiten (ICSID).1 Darin Bericht, der jährlich international vergleich- laterale und multilaterale Entwicklungsak-
setzt sich die Weltbank zum Ziel, in ihren Mit- bare Indikatoren zur Regulierungsdichte auf teure auf ihre Kernkompetenzen konzent-
gliedsländern die extreme Armut bis 2030 Länderebene vorlegt. Er hat viele Regierungen rieren und eine effiziente Aufgabenteilung
auf 3 Prozent zu reduzieren und den Wohl- dazu veranlasst, ihre regulatorischen Rahmen- untereinander sicherstellen. Entsprechend
stand der armen Bevölkerung auf nachhaltige bedingungen zu überdenken und, wo nötig, sollte die Weltbank neue Prioritäten mit Be-
Weise zu fördern. Dieses Mandat wurde kürz- zu optimieren. Bezüglich Kosteneffizienz, dacht auswählen, auch wenn dies manchmal
lich überprüft und mit den Zielen der Agenda Leistungsfähigkeit und politischen Einflusses den Wünschen und Interessen einzelner Mit-
2030 für Nachhaltige Entwicklung und dem gehört die Weltbank gemäss unabhängigen glieder entgegenläuft.
Pariser Klimaschutzabkommen in Einklang Evaluationen zu den wirksamsten Ent-
gebracht. wicklungsorganisationen weltweit. All diese Förderung des Privatsektors
Faktoren tragen dazu bei, dass sie heute als zu- Die Weltbank unterstützt ihre Partnerländer
Der Nutzen der Weltbank für ihre verlässiger Partner geschätzt wird, was sich dabei, durch die gezielte Förderung des Pri-
wiederum in der jüngst gestiegenen Nach- vatsektors neue Wachstums- und Entwick-
Mitglieder frage nach ihren Dienstleistungen wider- lungsimpulse zu setzen. In den vergange-
Auch heute noch werden bisweilen Zweifel an spiegelt. nen 25 Jahren haben die IFC und die MIGA –
der Wirksamkeit und Effizienz der Weltbank die zwei auf die Förderung des Privatsektors
laut. Relativ unbestritten ist dagegen die Tat- Die zukünftige Relevanz der spezialisierten Unterorganisationen der Welt-
sache, dass die Weltbank als globale Wissens- bank – ihre Aktivitäten in Entwicklungslän-
und Austauschplattform für nahezu alle ent-
Weltbank dern stark ausgebaut. Das zeigt der kürzlich
wicklungsrelevanten Fragen ihresgleichen Ob die Weltbank auch in Zukunft relevant lancierte Kaskadenansatz2. Er hat zum Ziel,
sucht. Für die internationale Gemeinschaft bleibt, wird von ihrer Fähigkeit abhängen, Weltbank-Projekte zunehmend aus kommer-
ist sie eine äusserst wertvolle Wissensquelle intelligente Lösungen zur Bewältigung der ziellen Quellen zu finanzieren und die be-
und ein wahrhaftig globales öffentliches Gut. komplexen Entwicklungsprobleme zu finden, grenzten konzessionellen Mittel der Weltbank
Akteure der bilateralen Entwicklungszusam- mit denen ihre Partnerländer konfrontiert dort einzusetzen, wo sie am dringendsten be-
menarbeit in der Schweiz, wie das Staatsse- werden. Dabei steht sie folgenden sechs Her- nötigt werden und die höchste Wirkung er-
kretariat für Wirtschaft (Seco) und die Direk- ausforderungen gegenüber. zielen. Zusammen mit dem Privatsektorfens-
tion für Entwicklung und Zusammenarbeit ter der IDA – des Fonds für die ärmsten Länder
(Deza), können die Hebelwirkung ihrer Aktivi- Klare Prioritätensetzung der Welt – zielt der Kaskadenansatz darauf ab,
täten massgeblich erhöhen, indem sie ihre re- Die Weltbank braucht klare Ziele und Prioritä- die Komplementarität der Aktivitäten der IFC
lativ begrenzten Finanzmittel an multilaterale ten. Das ist leichter gesagt als getan. Die Viel- und der MIGA im Privatsektor mit denjenigen
Initiativen der Weltbank knüpfen, die ähnliche falt an entwicklungsrelevanten Herausforde- der IBRD und der IDA im öffentlichen Sektor
Ziele wie die Schweizer Entwicklungspolitik rungen, ihre dynamische Veränderung über zu erhöhen. Gemeinsam wollen sie die Schaf-
verfolgen. Dazu gehören zum Beispiel die Stär- die Zeit sowie unterschiedliche Ansichten fung eines unternehmerfreundlichen Um-
kung der öffentlichen Finanzen, die Entwick- zu ihrer Lösung erschweren eine klare Prio- felds fördern, neue Märkte erschliessen und
lung des Privatsektors, die Konfliktpräven- ritätensetzung. Selektivität ist allerdings un- zusätzliche Mittel aus dem Privatsektor mo-
tion und die Bekämpfung des Klimawandels. abdingbar, um eine Verwässerung der knap- bilisieren – auch in den ärmsten Ländern so-
Da die Bank ihre Kredite oft an die Umsetzung pen Ressourcen der Weltbank zu vermeiden wie in fragilen Staaten. Als eine der grössten
von politischen und institutionellen Reformen und die Qualität und Wirksamkeit ihrer Akti- Geldgeberinnen für IFC-Beratungsdienstleis-
knüpft, können bilaterale Geber am zugehöri- vitäten zu gewährleisten. Gleichzeitig darf sie tungen für Unternehmen in Entwicklungslän-
gen politischen Dialog teilnehmen und wichti- sich den neu auftretenden Bedürfnissen ihrer
2 Mehr Informationen zum Kaskadenansatz finden Sie
ge Erkenntnisse für ihre Arbeit gewinnen. Mitglieder nicht verschliessen. Diese Grat- im Artikel von Christian Brändli, Tim Kaeser und Lukas
Bisher wusste die Weltbank ihr relativ be- wanderung erfordert eine regelmässige und Schneller auf Seite 68.
scheidenes Kapital sehr erfolgreich einzu-
setzen. Seit ihrer Gründung konnte sie mit einer
Kapitalausstattung von 18 Milliarden Dollar – Pandemic Emergency Facility
und unter Beibehaltung ihres AAA-Ratings – Im Jahr 2014 hat der Ausbruch des Ebolafiebers in deckung wird eine neue Gattung von Schuld-
rund 900 Milliarden Dollar an interner und ex- Westafrika deutlich gemacht, dass die Welt- scheinen, sogenannte Pandemie-Anleihen, im
gemeinschaft nur unzureichend auf ein solches Umfang von 320 Millionen Dollar herausgegeben.
terner Entwicklungsfinanzierung generieren.
Ereignis vorbereitet ist. Die Weltbank hat deshalb Die Pandemie-Anleihen funktionieren nach dem
Die Rolle der Weltbank beschränkt sich aber zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation gleichen Prinzip wie Katastrophen-Anleihen:
nicht ausschliesslich auf die finanzielle Unter- (WHO), der Swiss Re und der Munich Re die Tritt eine vordefinierte Katastrophe ein, müssen
stützung ihrer Partnerländer. Dank ihrer Pandemic Emergency Financing Facility (PEF) die Zeichner der Schuldscheine mit einem Verlust
entwickelt. Die Fazilität stellt sicher, dass Be- ihrer Investition rechnen. Dieses Risiko wird mit
globalen Präsenz trägt sie wesentlich zum hörden und Hilfsorganisationen in den ärmsten einer Rendite abgegolten.
Austausch von Erfahrungen und technischem Ländern der Welt bei einem Ausbruch einer Am 30. Juni 2017 wurde die erste Anleihe mit
Fachwissen unter den Partnerländern bei. Epidemie umgehend über die nötigen finanziellen dreijähriger Laufzeit erfolgreich emittiert. Damit
Diese Süd-Süd-Kooperation hat die Akzeptanz Mittel verfügen, um eine Ausbreitung zu ver- erhofft sich die Weltbank, einen neuen Markt
hindern. Die Schweiz hat sich an der Entwicklung schaffen zu können. Bei den Katastrophen-An-
1 Der Einfachheit halber wird in diesem Artikel die des Instruments finanziell beteiligt. leihen ist ihr dies schon einmal gelungen: So
Bezeichnung Weltbank anstatt Weltbankgruppe ver- Die PEF verfügt über ein Volumen von 500 konnte sie inzwischen Schuldscheine im Wert von
wendet. Millionen Dollar. Neben einer Versicherungs- 1,6 Milliarden Dollar platzieren.

56  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


DOSSIER

dern unterstützt die Schweiz diese Bemühun- Weltbank stark, die alle Mitglieder unter- Mitgliedsländer in den Entscheidungsgre-
gen vollumfänglich. stützt, nicht nur die ärmsten. mien der Weltbank entsprechen nicht mehr
den tatsächlichen Kräfteverhältnissen in der
Bereitstellung globaler öffentlicher Güter Engagement in fragilen und konflikt- Weltwirtschaft. Das untergräbt die Glaub-
Globale Herausforderungen wie internatio- betroffenen Ländern würdigkeit und die Legitimität der Weltbank
nale Wirtschafts- und Finanzkrisen, Klima- Etwa zwei Milliarden Menschen leben heute als globale Institution. Zudem sind die über-
wandel, Migration, Fragilität, Konflikte und in fragilen und konfliktbetroffenen Ländern. vertretenen, vornehmlich westlichen Länder
humanitäre Katastrophen gefährden das glo- Schwache Institutionen, politische Spannun- nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Orga-
bale Wirtschaftswachstum und verschärfen gen und Gewalt stürzen nicht nur die Men- nisation mit ausreichend Kapital auszustatten,
die Krisenanfälligkeit aller Menschen, nicht schen in den betroffenen Ländern ins Elend, was ihre derzeitige Übervertretung zumindest
nur in Entwicklungsländern. Die Armen sind sondern beeinträchtigen gleichzeitig die glo- teilweise rechtfertigen würde. Die aufstreben-
dabei oft am stärksten betroffen. Aufgrund bale Sicherheit. Ohne ein aktives Engagement den Wirtschaftsmächte werden ihr finanzielles
ihrer Expertise und ihrer globalen Präsenz der Entwicklungsbanken sind die Vereinten Engagement aber nur dann erhöhen, wenn sie
ist die Weltbank in der Lage, die Natur und Nationen heute nicht in der Lage, ihr Mandat im Gegenzug mehr Mitspracherecht erhalten.
die Komplexität dieser globalen Phänomene zur Friedensförderung erfolgreich umzuset- Will die Weltbank ihre Legitimität auch in
schnell zu erfassen und geeignete Lösungs- zen. Auch die aktuellen Flüchtlingskrisen in Zukunft sichern, muss ihre Organisations-
ansätze anzubieten. Sie hat gezeigt, dass sich Afrika, dem Nahen Osten und Europa verlan- struktur die Entwicklung der Kräftever-
die rechtzeitige Bereitstellung von globa- gen nach einer nachhaltigen Entwicklungslö- hältnisse in der multipolaren Welt besser
len öffentlichen Gütern positiv auf die Armut sung. Mitunter auch dank der langjährigen fi- reflektieren. Insbesondere die USA und
und die Ungleichheit auswirken kann, wie die nanziellen Unterstützung der Schweiz ist die China werden ihre Finanzierungsbereit-
kürzlich ins Leben gerufene Pandemic Emer- Weltbank heute in der Lage, fragile Länder in schaft an ihre jeweiligen wirtschafts- und
gency Facility verdeutlicht (siehe Kasten). Die ihren Entwicklungsbemühungen zu unter- aussenpolitischen Ambitionen anpassen
Länderstrategien der Weltbank, welche je- stützen. Dank der 18. Wiederauffüllung der müssen. Erste Schritte wurden eingeleitet,
weils zusammen mit den Partnerländern aus- IDA, welche im Dezember 2016 mit einem Re- um die Gouvernanzstruktur der Weltbank
gearbeitet werden, messen diesen regionalen kordergebnis von 75 Milliarden Dollar abge- mit der wirtschaftlichen Bedeutung und
und globalen Entwicklungsherausforderun- schlossen wurde, wird die Weltbank dieses den finanziellen Beiträgen ihrer Mitglieder in
gen eine zunehmend hohe Bedeutung bei. Engagement weiter ausbauen können. Einklang zu bringen. Weitere Massnahmen
Ein alleiniger Fokus auf Entwicklungs- sind notwendig, um diesem Ziel näher zu
länder macht aufgrund der grenzüber- Sicherstellung der finanziellen Nach- kommen. Als aktives Mitglied des Exekutiv-
schreitenden Natur vieler Entwicklungs- haltigkeit direktoriums und neuntgrösste Geldgeberin
probleme heute kaum mehr Sinn. Ausserdem Die Weltbank muss über angemessene fi- der IDA wird sich die Schweiz auch in Zukunft
hat die Weltbank bewiesen, dass sie auch in nanzielle Ressourcen verfügen, will sie ihrer für eine Gouvernanzstruktur einsetzen,
entwickelten Ländern wie Polen, Griechen- Rolle als globale Entwicklungspartnerin ge- welche die Beiträge der Mitgliedsländer an
land oder Bahrain einen relevanten Bei- recht werden. Hierfür ist sie auf die finanziel- das Entwicklungsmandat der Weltbank an-
trag leisten kann. Ein starkes Engagement le Unterstützung ihrer Aktionäre angewiesen. gemessen berücksichtigt.
in Ländern mittleren Einkommens bleibt auf Dank einer grosszügigen Kapitaldeckung und
jeden Fall zentral, denn sie beherbergen den einem neuen Finanzierungsmodell, das ihr die
Grossteil der armen Weltbevölkerung. Ihre Emission von Schuldscheinen auf den inter-
Volkswirtschaften sind krisenanfälliger und nationalen Kapitalmärkten ermöglicht, steht
schöpfen ihr Wachstumspotenzial oft nicht die IDA heute finanziell auf einer soliden Basis.
optimal aus. Angesichts ihres hohen An- Das wird es ihr in den nächsten Jahren ermög-
teils an der Weltwirtschaft und der Welt- lichen, den ärmsten Ländern der Welt deutlich
bevölkerung spielen sie auch bei der Bereit- mehr finanzielle Mittel zur Verfügung zu stel-
stellung globaler öffentlicher Güter eine ent- len. Im Gegensatz dazu haben die IBRD und die Ivan Pavletic
scheidende Rolle. Globale Probleme wie der IFC ihre finanziellen Mittel weitgehend ausge- Dr. sc., Senior Advisor, Büro des Schweizer
Klimawandel können nicht ohne ihre aktive schöpft. Wollen sie ihre Bonität und ihre Ka- Exekutivdirektors bei der Weltbank,
Teilnahme gelöst werden. Das trifft auch auf pitaldeckung nicht gefährden, müssen sie ihr Washington D.C.
die Länder der mittleren Einkommenskate- Kapital über kurz oder lang aufstocken. Ohne
gorie in der Schweizer Stimmrechtsgruppe eine Kapitalaufstockung laufen sie Gefahr, in
bei der Weltbank zu. Länder wie Kasachstan Zukunft an Bedeutung zu verlieren. Andere In-
und Usbekistan befinden sich nach wie vor in stitutionen, wie zum Beispiel die kürzlich ge-
einem politischen und wirtschaftlichen Trans- schaffene Asiatische Infrastruktur-Investi-
formationsprozess und ziehen einen direkten tionsbank, könnten im Prinzip die entstehen-
Nutzen aus der finanziellen und technischen de Lücke schliessen. Es wird allerdings Zeit in
Unterstützung der Weltbank, insbesondere Anspruch nehmen, bis sie sich als glaubwürdi-
auch zur Bewältigung grenzüberschreitender ge und zuverlässige Entwicklungspartner vom Jörg Frieden
Probleme. Dieses Engagement kommt auch Schlage der Weltbank etablieren können. Dr. rer. pol., ehemaliger Schweizer
Kirgisistan und Tadschikistan – den ärmsten ­E xekutivdirektor bei der Weltbank (2011 bis
Ländern der Region – zugute. Aus diesen Anpassung der Gouvernanzstrukturen 2016) und heutiger Schweizer Botschafter
in Kathmandu
Gründen macht sich die Schweiz für eine Die Anteilsverhältnisse und Vertretung der

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  57
WELTBANKMITGLIED SCHWEIZ

Mehr Mittel für Entwicklungsbanken


Die UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung und anstehende Infrastrukturprojekte fordern
die Finanzen der Weltbank und der regionalen Entwicklungsbanken. Sechs mögliche
Lösungen, um ihre Finanzkraft zu stärken.   Christopher Humphrey

Abstract    Die Weltbank und andere grosse multilaterale Entwicklungsbanken sind Entwicklungsbanken sind äusserst effizient,
äusserst leistungsfähige Instrumente, um den Entwicklungsländern finanzielle und wenn es darum geht, private Anlagegelder in
technische Hilfe zur Wachstumssteigerung und zur Armutsbekämpfung bereitzu- Entwicklungsprojekte zu leiten, die für die An-
stellen. Sie stossen jedoch immer öfter an ihre Grenzen, wenn es um die Einhaltung der teilseigner sehr vorteilhaft sind. Ein Beispiel:
Kapitalunterlegungsvorschriften geht. Um die UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung In den letzten rund 70 Jahren haben die Mit-
zu erreichen und die für das Wirtschaftswachstum notwendigen Infrastruktur- gliedsländer insgesamt 15,8 Milliarden Dollar
investitionen zu tätigen, müssen die multilateralen Entwicklungsbanken ihre Finanz- in die IBRD investiert. Damit hat die IBRD
kraft erhöhen. Eine allgemeine Kapitalerhöhung, die dafür am zielführendsten wäre, mindestens 658 Milliarden Dollar an Darlehen
scheint wegen der Opposition der USA in der kurzen Frist nicht realistisch. Andere gewährt und mehrere Milliarden aus den
Massnahmen, wie die Entwicklungsbanken ihre Kreditvolumen erhöhen können, be- Gewinnen verteilt, um den ärmsten Ländern
nötigen die politische und finanzielle Unterstützung der Mitgliedsländer, zu denen zu helfen.
auch die Schweiz zählt.
Eigenkapitalanforderungen
reformieren
D  ie Weltbank und die grossen regio­
nalen multilateralen Entwicklungs-
banken sind noch immer sehr leistungsfähige
kleiner: Viele Unterorganisationen der Welt-
bank, wie etwa die Internationale Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD) –
Auch über eine Lockerung der Eigenkapital-
anforderungen liesse sich die Finanzkraft der
Instrumente, um Ressourcen und Fach- ihre wichtigste Finanzierungseinrichtung –, multilateralen Entwicklungsbanken stärken.
wissen so zu kanalisieren, dass sich Fehlent- werden bei der Kapitalunterlegung in Kürze Dadurch dürften mit dem bereits vorhande-
wicklungen am Markt ausgleichen lassen.1 an ihre Grenzen stossen. Ebenso ergeht es nen Kapital mehr Darlehen gewährt werden,
Denn solche Fehlentwicklungen können zu den grossen regionalen multilateralen Ent- und so würden Hunderte Milliarden von Dol-
geringem Wirtschaftswachstum und sozialer wicklungsbanken: der Afrikanischen, der lar für zusätzliche Kredite freigesetzt. Die fi-
Ungleichheit führen und verursachen letzt- Asiatischen und der Interamerikanischen Ent- nanzielle Stabilität der Entwicklungsbanken
lich auch Instabilität und Migration. Die wicklungsbank sowie der Europäischen Bank wäre deshalb nicht gefährdet. Denn das Fi-
multilateralen Entwicklungsbanken sind für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). nanzmanagement der Entwicklungsban-
hierfür eine extrem kostengünstige Form, In diesem Artikel sollen sechs Möglichkeiten ken agiert sehr konservativ, trotz der ausge-
da sich ihr potentes Finanzierungsmodell evaluiert werden, die momentan zur Lösung zeichneten Performance ihres Kreditportfo-
vor allem auf die Anleihenmärkte abstützt. dieses Problems diskutiert werden. lios.
Die Unterstützung durch die Mitglieds- Als wichtigste Kennziffer zur Beurteilung
länder – in Form von Kapitalerhöhungen Allgemeine Kapitalerhöhung ihrer Kreditfähigkeit verwenden die multi-
oder politischen Reformen zur Stärkung der lateralen Entwicklungsbanken das soge­
Kapitaladäquanz der Entwicklungsbanken –
vorantreiben nannte Einlagen-Kredit-Verhältnis. Es zeigt
ist eine effiziente Art, um auf der ganzen Welt Oberste Priorität ist es, die Anteilseigner den Anteil der Einlagen der Anteilseigner an
das Wirtschaftswachstum zu fördern und die der Entwicklungsbanken davon zu überzeu- den ausstehenden Krediten im Portfolio. Im
Lebensstandards zu verbessern. gen, zusätzliches Kapital zur Verfügung zu Vergleich zu privaten Finanzinstituten, bei
In den letzten Jahren haben die multi- stellen. Durch eine allgemeine Kapitalerhö- denen dieses Verhältnis zwischen 10 und 15
lateralen Entwicklungsbanken auf Drängen hung liessen sich die benötigten Ressourcen Prozent liegt, sind die multilateralen Ent-
ihrer Mitgliedsländer mehr Kredite ver- so direkt und zielführend wie möglich stei- wicklungsbanken sehr gut kapitalisiert (siehe
geben, um die UNO-Ziele für nachhaltige gern. Zudem würden die multilateralen Ent- Abbildung 1). Eine Senkung dieses Verhält-
Entwicklung zu erreichen, und nachhaltige wicklungsbanken dadurch auch von den In- nisses auf die bei der IBRD üblichen 20 Pro-
Infrastrukturinvestitionen getätigt, die es vestoren, von denen sie für die operationel- zent würde einen zusätzlichen Kreditrahmen
braucht, um mit dem Wirtschaftswachstum le Kapitalbeschaffung abhängig sind, besser von 200 Milliarden Dollar bedeuten. Ein
Schritt zu halten. wahrgenommen werden. Zumindest in der weiteres Absenken auf immer noch relativ
Wie bei allen Finanzinstitutionen ist das kurzen Frist stehen die Chancen für eine all- konservative 15 Prozent würde zusätzliche
Kreditvolumen auch bei den Entwicklungs- gemeine Kapitalerhöhung aber alles andere 380 Milliarden Dollar verfügbar machen.
banken vom Eigenkapital abhängig. Doch als gut. Denn insbesondere die USA werden Ein Grund für das konservative Einlagen-
dieser Handlungsspielraum wird immer sich wahrscheinlich dagegenstellen. Kredit-Verhältnis bei den multilateralen Ent-
Trotz der USA sollten andere Mitglieds- wicklungsbanken sind die übertrieben
1 Eine ausführlichere Version dieses Artikels ist auf länder sich aber um eine allgemeine Kapital- strengen Methoden zur Beurteilung der
Englisch verfügbar unter Odi.org. erhöhung bemühen. Denn die multilateralen Kreditfähigkeit, wie sie die Ratingagenturen –

58  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


DOSSIER

insbesondere Standard and Poor’s – verwenden. Dabei bliebe die konzessionäre Struktur aber werden. Auch Einsparungen bei den Ver-
Um die Ängste vor einer Herabstufung zu zer- weiterhin für die Bedürfnisse der ärmsten waltungskosten wären denkbar (siehe Ab-
streuen, könnte zusätzlich auch die Bank Länder zuständig. bildung 3): etwa bei der Forschung, die keinen
für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) direkten entwicklungspolitischen Mehrwert
die Kapitaladäquanz der multilateralen Ent- Zweckgebundene Zuweisungen hat, oder beim administrativen Aufwand. So
wicklungsbanken beurteilen. Neben den Be- ist beispielsweise der Entwicklungsnutzen
urteilungen der Entwicklungsbank-Mit-
reduzieren des ständigen Verwaltungsrates bei der
arbeitenden und der Ratingagenturen würde Ohne Kapitalerhöhung können die multi- Weltbank und den regionalen Entwicklungs-
so eine weitere Referenz für die Anteilseigner lateralen Entwicklungsbanken ihre Eigen- banken äusserst fraglich, und trotzdem
hinzukommen. Zudem würde es die Rating- mittel nur dann stärken, wenn ein Teil ihrer werden jährlich Hunderte Millionen Dollar
agenturen unter Umständen dazu veranlassen, jährlichen Nettoeinnahmen in ihre Reserven dafür ausgegeben.
ihre Methoden zu überdenken. fliesst. Deshalb sollten sie weitere Reserven
aufbauen, indem sie pro Jahr weniger Netto- Bilanzoptimierung
Bilanzen zusammenführen einnahmen zweckgebunden einsetzen und
durch höhere Einkünfte und Budgetrestrik- Die Afrikanische und die Interamerikanische
Eine neuere Initiative zur Maximierung der Fi- tionen Mehreinnahmen generieren. Entwicklungsbank sowie die Weltbank ha-
nanzkraft von multilateralen Entwicklungs- Die zweckgebundenen Zuweisungen der ben kürzlich mit einer kreativen finanztech-
banken besteht darin, die konzessionären Entwicklungsbanken sind teilweise erheb- nischen Massnahme ihre Bilanzen optimiert,
und die nicht konzessionären Kreditfens- lich (siehe Abbildung 2). Insbesondere die An- um eine Abstrafung durch die Ratingagentur
ter zusammenzuführen. Konzessionäre Kre- teilseigner aus Ländern, die keine Kredite auf- Standard and Poor’s (S&P) für Portfoliokon-
ditfenster sind grosse Treuhandfonds für die nehmen, setzen grosse Summen der Netto- zentrationen zu umgehen. Im Dezember 2015
ärmsten Länder, die nicht über die Ausgabe einnahmen für bestimmte Zwecke ein, anstatt tauschten diese drei Entwicklungsbanken
von Anleihen, sondern über die Zahlungen sie aus ihrem eigenen Haushaltsbudget zu ihre Kreditengagements so untereinander
von reichen Ländern finanziert werden. Führt finanzieren. Wären diese Mittel stattdessen in aus, dass die Gesamtverpflichtungen zwar
man sie mit den wichtigsten Kreditfenstern die Reserven geflossen, wäre die Finanzkraft gleich blieben, die Länderkonzentrationen
der Entwicklungsbanken zusammen, profi- der Entwicklungsbanken deutlich höher. Die bei der AfDB und der IADB dadurch aber deut-
tieren sie auf den Anleihenmärkten von so- Anteilseigner sollten diese Programme des- lich reduziert wurden. Die bessere Beurtei-
genannten Leverage-Effekten. Im Januar 2017 halb besser aus ihrer eigenen Staatskasse be- lung durch S&P, hat bei beiden Banken meh-
wurde die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) zahlen und die Nettoeinnahmen zum Aufbau rere Milliarden für zusätzliche Kredite freige-
mit ihrem konzessionären Fonds fusioniert der Eigenkapitalreserven der Entwicklungs- setzt. Trotzdem: Weitere solche Zugewinne
und konnte ihr Eigenkapital so auf 53 Milliar- banken nutzen. sind aus rechtlichen wie auch aus finanziellen
den Dollar verdreifachen. Das ist eine massi- Zur Steigerung der Nettoeinnahmen Gründen eher beschränkt.
ve Eigenkapitalsteigerung ohne zusätzliche könnten beispielsweise die Kreditgebühren,
Kosten für die Anteilseigner. Auch die Inter- insbesondere für rasch auszahlbare Darlehen Die Entwicklungsbanken haben in den letzten
amerikanische Entwicklungsbank (IADB) wur- oder Kredite mit längeren Laufzeiten, erhöht Jahren viele Kredite für Infrastrukturprojekte
de mit ihrem konzessionären Kreditfenster vergeben. Strassenbau in Sri Lanka.
zusammengeführt. Da dieser Fonds jedoch
deutlich kleiner war, war auch die Wirkung
entsprechend klein.
Am grössten wäre das finanzielle Potenzial
wohl bei einer Zusammenführung der Bilanzen
der Internationalen Entwicklungsorganisation
(IDA) der Weltbank mit derjenigen der IBRD.
Denn die IDA verfügt bereits alleine über ein
Eigenkapital von 154,7 Milliarden Dollar. Da
die IDA und die IBRD rechtlich getrennte Ein-
heiten sind, wäre eine solche Zusammen-
führung allerdings relativ kompliziert. Zu-
dem bedient die IDA vor allem in Afrika immer
noch viele grosse und einkommensschwache
Länder. In einer ähnlichen Lage befindet sich
auch der Afrikanische Entwicklungsfonds
(ADF) der Afrikanischen Entwicklungsbank
(AfDB). Angesichts des enormen finanziellen
Potenzials sollten die Weltbank und die AfDB
DESHAN TENNEKOON/ WELTBANK 

eine Zusammenführung aber dennoch in


Erwägung ziehen. Möglich wäre eine teil-
weise Zusammenführung, bei der ein Teil der
Kredite der konzessionären Struktur an die
nicht konzessionäre Struktur übertragen wird.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  59
WELTBANKMITGLIED SCHWEIZ

Abb. 1: Einlagen-Kredit-Verhältnis der Entwicklungsbanken (2005–2016) Eine weitere neue Idee der Entwicklungs-
banken sind Portfoliogarantien. 2016 bot
100       In %
Schweden der ADB erstmals eine solche

JAHRESABSCHLÜSSE DER MULTILATERALEN ENTWICKLUNGSBANKEN


Garantie zur Absicherung einer Kredit-

2005–2016, BERECHNUNGEN HUMPHREY / DIE VOLKSWIRTSCHAFT.


80 summe von 155 Millionen Dollar an. Dadurch
wurden in der Bilanz der ADB zusätzliche
60 500 Millionen Dollar für die Kreditvergabe
frei. Ein ähnliches Geschäft führte die Welt-
bank Ende 2016 durch, um mit Garantien von
40
Kanada und Grossbritannien Darlehen an
den Irak abzusichern. Wahrscheinlich wird es
20 auch in Zukunft noch mehr solcher Portfolio-
garantien geben, doch die Bereitschaft der
0 Geberländer ist beschränkt. Deshalb wird
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 auch dieser Weg nicht ausreichen, um den
zusätzlichen Kapitalbedarf der Entwicklungs-
  Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung       Afrikanische Entwicklungsbank     banken nachhaltig zu decken.
  Asiatische Entwicklungsbank       Interamerikanische Entwicklungsbank    
  Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung 
Abrufbares Kapital besser nutzen
Eine Finanzquelle, die von den Entwicklungs-
Abb. 2: Zweckgebundene Zuweisungen der Nettoeinnahmen (2005–2015) banken noch viel zu wenig genutzt wird, ist
das sogenannte abrufbare Kapital, das eine
10       in Milliarden Dollar
Art Garantie der Anteilseigner ist. Bei der IBRD
JAHRESABSCHLÜSSE DER MULTILATERALEN ENTWICKLUNGSBANKEN 2005–2016 beträgt dieses 247,5 Milliarden Dollar, und
8 7,8 bei den vier regionalen multilateralen Ent-
wicklungsbanken sind es zusammen weite-
6
re 420 Milliarden. Anders als bei den meis-
ten Finanzgarantien wird dieses Kapital nicht
automatisch beim Eintreten einer bestimm-
4 ten Situation abgerufen. Der Abruf muss von
3,2 den Anteilseignern, die dafür bezahlen müs-
/ DIE VOLKSWIRTSCHAFT

2
2,3 sen, beschlossen werden. Ausserdem sind der
1,7 1,6
Zeitrahmen der Rückzahlung und das genaue
0,5
Verfahren zur Auszahlung nicht klar definiert.
0
Darum messen Investoren und Ratingagen-
Afrikanische Ent- Internationale Inter- Asiatische Ent- Europäische Bank Internationale
wicklungsbank Bank für Wieder- amerikanische wicklungsbank für Wiederaufbau Finanz- turen dem abrufbaren Kapital keinen hohen
aufbau und Entwicklungsbank und Entwicklung Corporation Stellenwert bei.
Entwicklung
Die Anteilseigner sollten deshalb das Ver-
fahren zum Abruf dieses Kapitals präzise
definieren, um es stärker zu automatisieren
und transparenter zu machen. Das bietet den
Abb. 3: Verwaltungskosten der multilateralen Entwicklungsbanken pro 1 Million Investoren mehr Sicherheit. Trotz politischer
Dollar ausstehender Kredite (2005–2015) und finanzieller Hürden würde sich eine
15 000       in Dollar solche Reform lohnen: Denn das abruf-
JAHRESABSCHLÜSSE DER MULTILATERALEN ENTWICKLUNGSBANKEN 2005–

bare Kapital könnte die Finanzkraft der Ent-


12 500 wicklungsbanken deutlich stärken.
2016, BERECHNUNGEN HUMPHREY / DIE VOLKSWIRTSCHAFT.

10 000

7 500

5 000

2 500
Christopher Humphrey
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
Forscher und Gastdozent für Entwicklungs-
ökonomie an der Universität Zürich und
  Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung       Interamerikanische Entwicklungsbank    
der ETH
  Afrikanische Entwicklungsbank       Asiatische Entwicklungsbank

60  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


DOSSIER

«Wenn 189 Länder zusammenarbeiten,


dann ist das Multilateralismus pur»
Im schriftlichen Interview mit der «Volkswirtschaft» spricht der Weltbank-Präsident Jim
Yong Kim über die aktuellen Herausforderungen der Institution und ihre Rolle in der globalen
Entwicklungsfinanzierung. Für die Zukunft des multilateralen Weges bleibt er zuversichtlich.  

Die Weltbankgruppe ist eine der grössten Wohlstand der ärmsten 40 Prozent zu stei- schnellsten gewachsen. Diese Länder wur-
Institutionen für die Entwicklungsfi­ nan­ gern. Dabei unterstützen wir Empfänger- den auch zunehmend in den weltweiten

ierung und die Wissensvermittlung in länder bei der Implementierung der Agenda Handel und in die globale Finanzwelt in-
ärmeren Ländern. Wie hat sich ihre Rolle in 2030, indem wir ihnen Finanzierungsinstru- tegriert. Die Entwicklung in diesen Län-
den letzten 25 Jahren verändert? mente zur Verfügung stellen und sie mit Ana- dern betrifft also die gesamte globale Wirt-
Die Weltbank wurde ursprünglich für den lysen und Beratung unterstützen. schaft.
Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zer- Der aktuelle Aufschwung der globalen
störten Staaten gegründet. Im Laufe der Jahr- Wie kann die Weltbankgruppe wirkungsvoll Wirtschaft ist schwach, und es gibt viele Ri-
zehnte hat sich unser Auftrag jedoch verän- globale Gemeinschaftsgüter in Bereichen siken: erhöhter Protektionismus, hohe Un-
dert. Heute arbeiten wir in fast allen Bereichen wie Klimawandel oder Fragilität bereit- sicherheit bezüglich der Wirtschaftspolitik,
der Armutsbekämpfung, um eine nachhalti- stellen, wenn gleichzeitig die Euphorie für Turbulenzen am Finanzmarkt und schwa-
ge und bessere Lebensqualität der Menschen den Multilateralismus in vielen westlichen ches Langzeitwachstum. Das alles beein-
zu sichern: Wir unterstützen inklusives Wirt- Ländern nachlässt? flusst unseren Auftrag, die Armut zu bekämp-
schaftswachstum, investieren in Menschen Wenn 189 Länder zusammenarbeiten, dann fen und einen gerecht verteilten Wohlstand
und stärken die Widerstandsfähigkeit gegen ist das Multilateralismus pur. Die Weltbank- zu fördern. Dies wirkt sich auch auf unsere
Bedrohungen wie Klimawandel, Pandemien, gruppe leistet heute weltweit die meisten Kli- Bemühungen aus, den Privatsektor für Inves-
Flucht und Zwangsvertreibung. mainvestitionen, und wir haben den ersten titionen in den Entwicklungsländern zu mo-
In diesen kritischen Themen haben wir Versicherungsschutz gegen Pandemien kre- bilisieren.
mit unseren 189 Mitgliedsländern und einer iert. Wir arbeiten mit betroffenen Ländern Unsere Mitglieder sind sowohl entwi-
grossen Vielfalt von Partnern eine führen- und Partnern zusammen, um Hungersnöte ckelte Staaten wie auch Entwicklungsländer,
de Rolle. Wir können Krisen bewältigen und zu beenden, und benutzen jedes uns zur Ver- und wir schätzen die starke Partnerschaft
gleichzeitig das Fundament für eine länger- fügung stehende Instrument, um auch in Zu- mit allen. Die Beteiligungsstruktur muss die
fristige, nachhaltige Entwicklung legen. kunft Hungersnöte zu vermeiden. globale Wirtschaft und die Bemühungen
Nirgends sieht man die Veränderung Zudem führen wir unsere Arbeit in der glo- der Länder in der Umsetzung des Auftrags
deutlicher als in der Vielfalt unserer Ange- balen Flüchtlingskrise weiter: Die Internatio- der Weltbankgruppe widerspiegeln. Für die
stellten: Bei der Weltbankgruppe arbeiten nale Entwicklungsorganisation (IDA) – der Überprüfung der Stimmrechts- und Betei-
Ökonominnen, Sozialwissenschaftler so- Fonds für die ärmsten Länder – stellt 2 Mil- ligungsstruktur ist der Gouverneursrat ver-
wie Experten und Expertinnen in Politikwis- liarden Dollar für Länder mit niedrigem Ein- antwortlich. Und die Gouverneure sind sich
senschaft und anderen Fachthemen aus 170 kommen, die Flüchtlinge aufnehmen, zur bewusst, wie wichtig es ist, dass die Füh-
Ländern. Mehr als ein Drittel der Angestell- Verfügung. Ausserdem erhalten zum ersten rungsstruktur der Institution die Rolle der
ten arbeitet in einem der weltweit 120 Län- Mal auch Länder mittleren Einkommens wie Schwellenländer berücksichtigt und ad-
derbüros. Jordanien und Libanon, die syrische Flüchtlin- äquat reflektiert.
ge aufnehmen, vergünstigte Mittel der Global
Die Weltgemeinschaft hat 2015 die Agenda Concessional Financial Facility.
2030 für Nachhaltige Entwicklung ver-
abschiedet. Wie trägt die Weltbankgruppe Viele Schwellenländer, die im vergangenen
zur Umsetzung dieser wichtigen Agenda Jahrzehnt die treibende Kraft der Weltwirt- Zur Person
bei? schaft waren, sind heute mit schleppendem Jim Yong Kim ist seit 2012 Präsident der
Mit dem Jahr 2030 hat sich die Weltgemein- Wachstum sowie nationalen, politischen Weltbankgruppe. Diesen Juli hat er eine
schaft erstmals eine Frist gesetzt, um die ex- und wirtschaftlichen Herausforderungen weitere fünfjährige Amtsperiode angetreten.
Der gebürtige Südkoreaner ist in den USA
treme Armut zu beenden. Die Bekämpfung konfrontiert. Wie schätzen Sie die künftige
aufgewachsen und promovierte dort in
der Armut ist das erste der 17 UNO-Ziele für Entwicklung dieser Länder ein, und welche Medizin. Vor seiner Weltbank-Tätigkeit war
nachhaltige Entwicklung. Auch für die Welt- Auswirkung wird das auf ihre Rolle in der Kim Präsident des Darthmouth College und
bankgruppe ist dies das oberste Ziel. multilateralen Arena und insbesondere Professor an der Medical School sowie an der
School of Public Health in Harvard.  Zuvor
Die UNO-Nachhaltigkeitsziele stehen im innerhalb der Weltbankgruppe haben?
war er Berater für die Weltgesundheits-
Einklang mit unserem Doppelziel, die ext- In den vergangenen Jahrzehnten ist die organisation (WHO) und Direktor der WHO-
reme Armut bis 2030 zu beenden und den Wirtschaft in den Schwellenländern am Abteilung  HIV/Aids.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  61
WELTBANKMITGLIED SCHWEIZ

WELTBANK
Weltbankpräsident Jim Yong Kim:
«Die Weltbankgruppe leistet heute weltweit die
meisten Klimainvestitionen.» Wenn multilaterale Entwicklungsbanken Wie würden Sie die Rolle der Schweiz be-
zusammenarbeiten und die heutigen Heraus- schreiben, und wie kann die Schweiz die
forderungen anpacken, können wir alle – aber Weltbankgruppe in den nächsten 25 Jahren
Stehen neue multilaterale Entwicklungs- insbesondere die Armen und die verwund- am besten unterstützen?
banken wie die Asiatische Infrastruktur-In- barsten Menschen – davon profitieren. Die Schweiz hat in den vergangenen 25 Jahren
vestitionsbank – die AIIB – oder die New die Weltbankgruppe und die Entwicklungs-
Development Bank, deren oberstes Ziel Die Weltbank hat seit Sommer 2016 mit agenda im Allgemeinen massgeblich geprägt.
nicht unbedingt die Reduktion von Armut dem sogenannten Environmental and Wir schätzen die konstruktive, kritische Stim-
ist, mit dem Auftrag der Weltbankgruppe in Social Framework neue Umwelt- und Sozial- me der Schweiz sehr. Aber auch ihr Engage-
Konflikt? standards. Wie können diese Standards der ment für Effizienz, Wirksamkeit und Quali-
Multilaterale Entwicklungsbanken spielen bei Bank helfen, ihre Tätigkeit den Bedürfnissen tät sowie ihre Unterstützung für eine starke
der Bekämpfung von Armut und der Unter- der Länder anzupassen und ihre Eigenver- Weltbankgruppe.
stützung nachhaltiger Entwicklung eine zen- antwortung zu fördern? Wir sind der Schweiz auch für ihre finan-
trale Rolle, insbesondere beim Schliessen von Das neue Environmental and Social Frame- ziellen Beiträge, insbesondere an die Interna-
Lücken in der Finanzierung von Infrastruktur- work, das 2018 in Kraft treten soll, ist eine tionale Entwicklungsorganisation (IDA), zu-
vorhaben in Entwicklungsländern. Rund 5 bis von mehreren neuen Weltbank-Initiativen zur tiefst dankbar. Dadurch konnten Millionen
10 Prozent der jährlichen Ausgaben für Infra- Verbesserung von Entwicklungsergebnissen. Menschen der Armut entgehen. Wir arbei-
struktur werden von Entwicklungsbanken fi- Diese neuen Standards erhöhen den Schutz ten in vielen wichtigen Bereichen eng zusam-
nanziert. vor potenziell nachteiligen Auswirkungen men: insbesondere in der Privatsektorförde-
Seit ihrer Gründung arbeiten wir eng mit bankenfinanzierter Projekte und fördern die rung, bei der Schaffung von Arbeitsplätzen
der AIIB zusammen und sind in ganz Asien nachhaltige Entwicklung. Mit den neuen und bei Themen wie Wasserversorgung, Um-
tätig, um den riesigen Infrastrukturbedarf Standards werden Transparenz, Nichtdiskri- welt, Klimawandel, Fragilität, Konflikten und
in den Ländern zu decken. Schon Anfang minierung, soziale Inklusion, öffentliche Par- Gewalt. Wir freuen uns darauf, diese enge Zu-
2014 arbeiteten wir mit dem Multilateralen tizipation und Rechenschaftslegung erhöht. sammenarbeit mit der Schweiz in den nächs-
Interimssekretariat der AIIB zusammen und Die Standards unterstützen die Empfänger- ten 25 Jahren fortzusetzen.
unterstützten es in Bereichen wie Gouver- länder, ihre eigenen Kompetenzen für Um-
nanz, Organisationsstruktur, Umwelt- und welt- und Sozialthemen zu erhöhen und diese
Sozialstandards sowie Beschaffungsabläufe. komplexen Fragen selbstständig anzugehen. Aufgezeichnet: Seco / Die Volkswirtschaft

62  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


DER STANDPUNKT

nicht günstiger sein: Der Zusammenbruch des so-


wjetischen Imperiums brachte eine Reihe von Län-
Peter Niggli dern hervor, die Mitglieder von IWF und Weltbank
Journalist, Publizist und ehemaliger Geschäftsführer werden wollten und potenziell für eine Schweizer
von Alliance Sud (1998 bis 2015), Zürich Stimmrechtsgruppe gewonnen werden konnten.
Zudem war im IWF eine Stimmrechtsreform hän-
gig, welche im Herbst 1992 abgeschlossen werden
Von den Versprechen ist nur sollte und Raum für Verhandlungen bot. Dass das
Ziel erreicht werden konnte, war den zuständigen
wenig geblieben Diplomaten und dem Finanzminister Otto Stich
zu verdanken, der es innenpolitisch hartnäckig
verteidigte. Nützlich war auch, dass die Schweiz
Nur unter Zusagen haben die Hilfswerke 1992 den Beitritt gleichzeitig an einem grösseren aussenpolitischen
zu IWF und Weltbank befürwortet. Doch davon ist kaum Brocken kaute, nämlich am Verhältnis zur Europäi-
schen Union. Dieses zog fast alle politischen Lei-
etwas geblieben. Die Reformunwilligkeit der westlichen denschaften auf sich – für die Bretton-Woods-In-
IWF- und Weltbank-Mitglieder und der Schweiz spielt heute stitutionen fielen nur Brosamen ab.
China in die Hände. 
Hilfswerke mit Zusagen besänftigt
 Als der Bundesrat im Dezember 1989 beschloss, den Beitritt zum Entwicklungsorganisationen und SP-Exponenten machten ihre
Internationalen Währungsfonds (IWF) und zur Weltbank einzu- Zustimmung zu einem IWF- und Weltbank-Beitritt von Bedingun-
leiten, reagierte die Öffentlichkeit skeptisch. Nur drei Jahre zuvor gen abhängig. Erstens sollte sich die Schweiz im Exekutivdirekto-
hatte die Regierung eine aussenpolitische Kanterniederlage ein- rium an den Zielen ihrer eigenen Entwicklungspolitik orientieren.
stecken müssen, als der UNO-Beitritt mit 75 Prozent Nein-Stim- Zweitens sollte sie auf die soziale und ökologische Verträglichkeit
men abgeschmettert worden war. Der Anführer der UNO-Gegner, der Strukturanpassungsprogramme pochen und ein soziales Mi-
Christoph Blocher, verlangte damals vom Bundesrat, auf den ge- nimum verlangen, das der Schuldendienst nicht antasten dürfe.
planten Beitritt zu den Bretton-Woods-Institutionen zu verzich- Weiter sollte sie sich für einen internationalen Insolvenzmecha-
ten. Seine Aktion für eine neutrale und unabhängige Schweiz nismus und für eine Stimmrechtsreform einsetzen, welche den
(Auns) nahm den Kampf dagegen sogar in die Gründungserklä- Entwicklungsländern mehr Gewicht verschafft, Rechtshilfe bei
rung auf. Kapitalflucht gewähren und volle Transpa-
Auch Hilfswerke und Drittwelt-Solidari- renz über ihr Wirken herstellen. Und zu guter
tätsgruppen, die den UNO-Beitritt befür- In der Botschaft Letzt: ihr Entwicklungsbudget erhöhen, damit
wortet hatten, äusserten sich kritisch. Ging versprach der der Beitritt nicht zulasten der bilateralen Ent-
es der Auns darum, kein Geld ins Ausland ab- wicklungshilfe gehe.
fliessen zu lassen und die volle Souveränität
Bundesrat, sich für Der Bundesrat ging in Gesetz und Bot-
der Schweiz zu bewahren, verlautete aus Ent- eine sozial- und schaft von 1991 teilweise darauf ein, um der
wicklungskreisen fundamentale Kritik an IWF umweltverträgliche Opposition aus Entwicklungskreisen den
und Weltbank. Deren Auflagen zur Struktur- Wind aus den Segeln zu nehmen. Artikel 6
anpassung würden den Entwicklungsländern Ausgestaltung der An- des Bundesgesetzes über die Mitwirkung der
mehr schaden als nützen. passungsprogramme Schweiz im IWF und der Weltbank hält fest,
dass die Schweiz in Fragen, welche die Ent-
einzusetzen. wicklungsländer betreffen, «die Grundsätze
Ein ambitioniertes Ziel
und Ziele der schweizerischen Entwicklungs-
Ohne Mitglied zu sein, hatte sich die Schweiz mehr als 30 Jahre politik» berücksichtigen werde.1 In der Botschaft versprach er, sich
lang finanziell an IWF und Weltbank beteiligt und die Regeln des für eine sozial- und umweltverträgliche Ausgestaltung der Anpas-
IWF befolgt. Es galt die gleiche Devise wie bei der UNO: aus neut- sungsprogramme einzusetzen und eine Erhöhung des Entwick-
ralitätspolitischen Gründen nicht beitreten, um politischen Posi- lungsbudgets bis in die zweite Hälfte der Neunzigerjahre auf 0,4
tionsbezügen auszuweichen – aber technisch mitzuarbeiten und Prozent zu beantragen. Schliesslich wollte sich der Bundesrat für
finanziell solidarisch zu sein, um die Isolation zu lockern. Das Gan- entwicklungspolitisch relevante Fragen auch ausserparlamenta-
ze jedoch ohne Mitbestimmungsrecht. Dieser Souveränitätsver- risch2 beraten lassen.
lust hat die Auns nie gestört, aber der Bundesrat wollte ihn nicht
mehr hinnehmen. Er strebte mit dem Beitritt auch einen Sitz im 1 Siehe Bundesgesetz über die Mitwirkung der Schweiz an den Institutionen von Bretton
Exekutivdirektorium von IWF und Weltbank an. Woods vom 4. Oktober 1991 (SR 979.1).
Das Ziel war ambitioniert. Es zu erreichen, hing vom Entgegen- 2 Die Hilfswerke wollten eine Beratende Kommission für IWF und Weltbank. Das Parla-
ment verwarf die Forderung und verwies die entsprechenden Geschäfte an die Bera-
kommen der Mitgliedsländer ab. Der Zeitpunkt konnte jedoch tende Kommission für internationale Zusammenarbeit.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  63


WELTBANKMITGLIED SCHWEIZ

WELTBANK
Das Development Committee von Weltbank und Internationalem Währungs-
fonds. Die Industrieländer haben weiterhin die Mehrheit der Stimmen.

haben bis heute nur das Gesetz und die Verpflichtung auf die
Kritik von links und rechts entwicklungspolitischen Ziele der Schweiz. Diese zu interpre-
tieren, bleibt aber der Regierung und ihren Vertretern in IWF
So gelang es, die linke Gegnerschaft auseinanderzudividieren. und Weltbank überlassen. Die Erhöhung des Entwicklungs-
Die grossen Hilfswerke im Dachverband Alliance Sud zeigten budgets auf 0,4 Prozent wurde seinerzeit zwar in den Finanz-
sich teilweise befriedigt. Im Vorlauf zur parlamentarischen Be- plan aufgenommen, aber in den Sparpaketen der Neunziger-
handlung der Vorlage gaben sie ihren Verzicht aufs Referen- jahre wieder herausgestrichen. 2016 erreichte die Schweiz eine
dum bekannt, sofern die Verpflichtung auf die eigenen entwick- Quote von 0,39 Prozent, wenn man die Kostenblöcke – etwa für
lungspolitischen Ziele aufrechterhalten, Transparenz mit einer Asylsuchende – abzieht, die keine Entwicklungshilfe sind, aber
eigenen beratenden Kommission hergestellt und das Entwick- als solche ausgegeben werden. Das heisst, erst der Entscheid
lungsbudget erhöht werde. Das Parlament verabschiedete die des Parlaments 2010, die Entwicklungshilfe auf 0,5 Prozent an-
Vorlage fast unverändert. Daraufhin lancierten die Deutsch- zuheben, liess das versprochene 0,4-Prozent-Ziel erreichen.
schweizer Sektion der Erklärung von Bern und die Aktion Fi- Aus Sicht der Entwicklungsorganisationen bleibt ein ein-
nanzplatz Schweiz das Referendum, sammelten über 50 000 ziger, aber wesentlicher Vorteil des Beitrittsentscheids: Wa-
Unterschriften und waren deshalb nicht auf die Unterstützung ren Forderungen an Weltbank und IWF bis dahin politisch be-
der Auns angewiesen. Diese hatte das Referendum ebenfalls er- deutungslos, da die Schweiz dort nichts zu sagen hatte, sind
griffen, aber wenig Effort hineingesteckt, weil sie sich auf den sie heute – wenn auch spärlich – Gegenstand innenpolitischer
Abstimmungskampf gegen den Europäischen Wirtschaftsraum Auseinandersetzungen und können gegebenenfalls ihre Poli-
(EWR) konzentrierte. tik beeinflussen.
Im Mai 1992 stimmten fast 56 Prozent der Stimmenden dem Andere der 1992 erhobenen Forderungen sind auch heute
Beitritt der Schweiz zu den Bretton-Woods-Institutionen zu. Alli- noch aktuell. Beispielsweise gibt es noch immer keinen inter-
ance Sud hatte eine Ja-Parole empfohlen, die SP und der Gewerk- nationalen Insolvenzmechanismus. Die Schweiz hat ein solches
schaftsbund erteilten Stimmfreigabe. Nein-Parolen kamen von Anliegen unterstützt, als die amerikanische IWF-Vizedirekto-
den Referendumsführern, den Grünen und dem rechten Rand rin Anne Kruger es vergeblich voranzubringen versuchte. Seit-
von SVP, Auto-Partei, Schweizer Demokraten und Gewerbever- her bleibt die Schweiz passiv. Die Auflagen an die Schuldnerlän-
band. Ein euphorisierter Bundesrat beschloss gleich am Montag der sind überarbeitet und verfeinert worden, und die Weltbank
nach der Abstimmung, der EU ein Beitrittsgesuch einzureichen. übte sogar etwas Selbstkritik an ihrer Strukturanpassungspoli-
Die Ernüchterung folgte im Dezember: Das Stimmvolk lehnte den tik. Schliesslich sind auch die Stimmrechte minimal zugunsten
Beitritt zum EWR mit einem hauchdünnen Volksmehr, aber zwei der Entwicklungsländer verschoben worden, ohne die Mehr-
Dritteln der Stände ab. heit der Industrieländer anzutasten. Viele Entwicklungslän-
der zogen daraus den Schluss, lieber auf eigene Entwicklungs-
Entwicklungsländer suchen neue Wege banken und Währungsmechanismen zu setzen. Heute gibt es,
nicht zuletzt gestützt auf die Finanzkraft Chinas, mehrere sol-
Die kleinen Konzessionen, welche die Opposition aus Entwick- cher Entwicklungsbanken. Kurz: Das Monopol des Bretton-
lungskreisen gewonnen hatte, verflüchtigten sich bald. Bestand Woods-Systems ist am Bröckeln.

64  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


DER STANDPUNKT

wortlich für das riesige Portfolio von IBRD und


Dusan Vujovic Internationaler Entwicklungsorganisation (IDA).
Früherer Mitarbeiter im Schweizer Exekutivbüro Zudem formulierten wir auch Stellungnahmen
bei der Weltbank und seit 2014 serbischer Finanz- der Stimmrechtsgruppe zu neuen und oft kom-
minister plexen Initiativen wie dem damals noch jungen
Kampf gegen Geldwäscherei und Terrorismusfi-
nanzierung. Ich beteiligte mich auch gerne da-
Schweizerisch-serbische ran, den Schweizer Vorsitz im Exekutivrat zu
vertreten und mündliche Stellungnahmen abzu-
Freundschaft in der geben.

Stimmrechtsgruppe Kompetentes Engagement


In jenen Jahren konnte Serbien seine Beziehun-
gen mit der Weltbank festigen, ein ausgewoge-
Seit ihrem Beitritt 1992 stellt die Schweiz einen Exekutiv- nes Programm erstellen und einige interessante
direktor im Verwaltungsrat der Weltbank. Die Stimmrechts- Projekte erarbeiten, welche die dringenden Be-
dürfnisse beim späten Start in die Übergangspha-
gruppenländer sind über ihre Berater in die Arbeiten im se zur Marktwirtschaft deckten. Serbien vertiefte
Schweizer Exekutivbüro eingebunden. Von 2001 bis 2003 auch seine Beziehung zu anderen internationalen
war auch Dusan Vujovic, der amtierende Finanzminister Finanzinstituten und Ländern, die im Übergang
zu einer Marktwirtschaft mit gleichen oder ähn-
Serbiens, in diesem Büro als Berater tätig. Ein Rückblick.  lichen Herausforderungen konfrontiert waren.
Der tägliche Austausch mit den kompetenten
und engagierten Berufsleuten im Washingtoner
 Im Jahr 2001 trat Serbien wieder1 der Weltbank bei und wurde herz- Büro sowie Anregungen von Institutionen in der Schweiz – bei-
lich eingeladen, Teil der Schweizer Stimmrechtsgruppe zu werden, spielsweise des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) oder des
der jüngsten Gruppe der Bretton-Woods-Institutionen. Auf Einla- Wirtschafts- oder Finanzdepartements – trugen zum Erfolg die-
dung des damaligen Premierministers Zoran Djindjic und des Vi- ser Arbeit bei. Die direkte, kollegiale und professionelle Zusam-
zepremiers Miroljub Labus hatte ich die grosse Ehre, Serbien von menarbeit mit dem ganzen Schweizer Team habe ich immer ge-
2001 bis 2003 als Chefberater zu vertreten. schätzt. Sie zeigte, dass dank eines stetigen
und gut geplanten Arbeitseinsatzes und ohne
Serbien international vernetzen Die direkte, kollegiale unproduktive Hektik hohe Qualität und gute
zwischenmenschliche Beziehungen geschaf-
Während jener Zeit beabsichtigte ich zu- und professionelle fen und Spannungen minimiert werden kön-
nächst, Serbien wieder zu einem wirkungs- Zusammenarbeit mit nen.
vollen Mitglied der Weltbank zu machen. Durch unglückliche Umstände wurde
Dazu gehörten die Umwandlung der Schul-
dem ganzen Schweizer mein Einsatz beim Schweizer Vorsitz leider
den in ein Konsolidierungsdarlehen und die Team habe ich immer abgekürzt. Nach der Ermordung von Pre-
Ausarbeitung eines Entwurfs für eine Über- geschätzt. mierminister Zoran Djindjic im Jahr 2003
gangs- und Standard-Rahmenpartnerschaft und dem darauf folgenden Regierungswech-
mit der Internationalen Bank für Wieder- sel veränderte sich der Aufgabenbereich der
aufbau und Entwicklung (IBRD) und der Internationalen Finanz- Stelle. Im Juni 2003 entschloss ich mich, zum operativen Teil der
Corporation (IFC). Parallel dazu arbeitete ich hart daran, durch Weltbank zurückzukehren.
Verhandlungen mit dem Pariser Club und dem Londoner Club Die Zusammenarbeit mit den Schweizer Kollegen war eine
Serbiens Beziehungen mit der internationalen Finanzwelt zu re- wertvolle berufliche und persönliche Erfahrung. In der Schwei-
parieren. Während dieser Herausforderung verliess ich mich voll zer Stimmrechtsgruppe, wo ich Serbien heute als Finanzminis-
auf die Unterstützung der damaligen Schweizer Exekutivdirek- ter vertreten darf, pflegen wir noch immer gute Beziehungen.
toren Matthias Meyer und Pietro Veglio. Die Arbeit in der Schweizer Stimmrechtsgruppe ähnelt sehr dem
Bald wurde ich volles Mitglied des Washingtoner Teams in der Schweizer Nationalgericht Fondue, bei dem verschiedene Käse-
Schweizer Stimmrechtsgruppe. Gemeinsam waren wir verant- sorten zusammen verschmelzen. In der Stimmrechtsgruppe sind
es die traditionellen französischen, deutschen und italienischen
1 Wegen der Balkan-Kriege und nicht bedienter Schulden ist die ehemalige sozialistische
Grundzutaten, die mit anderen Kulturen, etwa der serbischen,
Republik Jugoslawien 1993 ausgeschlossen worden. angereichert werden – aus meiner Sicht das beste Rezept.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  65


GESUNDHEITSÖKONOMIE

Kostenanreize im Gesundheitswesen:
Das Beispiel der Medikamentenabgabe
Die Medikamentenabgabe durch Spezialisten verursacht jährliche Mehrkosten von bis zu
100 Franken pro Patient. Dies zeigt eine aktuelle Studie zu den Kostenanreizen der Selbstdis-
pensation in der Deutschschweiz.   Boris Kaiser, Christian Schmid

Die kantonal unterschiedlichen Regimes


Abstract  Neben medizinischem Fortschritt, steigenden Einkommen und dem demo-
sind meist historisch gewachsen und be-
grafischen Wandel, haben auch Regulierungen und die damit verbundenen Anreizwir-
kungen einen massgeblichen Einfluss auf die Kosten im Gesundheitswesen. Eine Ana- stehen in einigen Fällen seit dem 19. Jahrhun-
lyse der Medikamentenabgabe durch Ärzte (Selbstdispensation) zeigt, dass selbst dert.3 Der Umstand, dass in der Schweiz bei-
dispensierende Spezialisten bis über ein Drittel höhere Medikamentenkosten pro Pa- de Regulierungsformen nebeneinander ko-
tient und Jahr verursachen als Spezialisten, die keine Medikamente abgeben dürfen. existieren, erlaubt es, die kausale Wirkung
Diese Reaktion auf die finanziellen Anreize der Selbstdispensation zeigt exemplarisch, der Selbstdispensation auf die Medikamen-
wie die institutionellen Rahmenbedingungen die Kosten beeinflussen können. tenkosten mit geeigneten statistischen Me-
thoden zu analysieren.
Für die Analyse haben wir detaillierte In-

S  eit 1996 sind die Kosten in der obligatori-


schen Krankenpflegeversicherung (OKP)
in der Schweiz jährlich im Durchschnitt um 4
lematischen Anreizwirkungen und damit zu
höheren Kosten führen können, ist der Ver-
kauf von rezeptpflichtigen Medikamenten in
formationen von rund 3400 Arztpraxen aus
dem Datenpool der Krankenversicherer ver-
wendet. Diese wurden durch frei verfügba-
Prozent gestiegen. Das stärkste Wachstum der Arztpraxis – die sogenannte Selbstdis- re Daten des Medizinalberuferegisters und
verzeichneten in den letzten Jahren die Spi- pensation. Ist die Medikamentenabgabe ver- des Bundesamts für Statistik ergänzt. Die
talambulatorien sowie die frei praktizieren- boten, stellt der Arzt ein Rezept für den Kauf verwendete Regressionsmethode erlaubt
den Spezialisten.1 in einer Apotheke aus. Da eine Arztpraxis eine es, den Effekt der Selbstdispensation auf die
Dafür gibt es verschiedene Ursachen: Marge beim Medikamentenverkauf hat, setzt Kosten von anderen Einflussfaktoren, wie der
Einerseits tragen der medizinische Fort- die Selbstdispensation unweigerlich finan- Patientenstruktur, zu trennen. Vereinfacht
schritt, steigende Einkommen und der de- zielle Anreize für selbstständig tätige Ärzte, gesagt, werden Arztpraxen mit und ohne
mografische Wandel zum Kostenanstieg bei. mehr und teurere Medikamente an Patienten Selbstdispensation aber mit sonst gleichen
Andererseits spielt die regulatorische Aus- zu verschreiben, als sie es sonst tun würden. Eigenschaften miteinander verglichen. (sie-
gestaltung des Gesundheitswesens eine In einer wissenschaftlichen Studie haben he Kasten)
bedeutende Rolle. Denn: Die institutionel- wir untersucht, wie sich die Selbstdispen-
len Rahmenbedingungen für Leistungser- sation auf die Kosten von frei praktizieren- Mehrkosten von bis zu
bringer, Patienten und Versicherer bestim- den Spezialisten in der Deutschschweiz aus-
men die (In-)Effizienz, mit der die finanziellen wirkt.2 Die Einschränkung der Studie auf die
100 Franken pro Patient
Ressourcen eingesetzt werden. Die gesund- Deutschschweiz war notwendig, weil nur in Die Studie zeigt: Eine selbst dispensierende
heitsökonomische Forschung kann in dieser dieser Sprachregion unterschiedliche Rege- Arztpraxis verursacht rund 90 bis 100 Fran-
Hinsicht einen wichtigen Beitrag leisten, in- lungen existieren (siehe Abbildung); in der la- ken mehr Medikamentenkosten zulasten
dem sie die Anreizwirkung von Regulierun- teinischen Schweiz ist die Selbstdispensation der obligatorischen Krankenpflegeversiche-
gen mit wissenschaftlichen Methoden unter- durchgehend verboten. Die Einflüsse von rung pro Patient und Jahr als eine vergleich-
sucht und die Ergebnisse in den politischen (sprach-)kulturellen Unterschieden werden bare Praxis, die keine Medikamente abgeben
Diskurs einbringt. somit ausgeschlossen. darf. Bei Medikamentenkosten von rund 280
Ein exemplarisches Beispiel dafür, wie Re- Franken pro Patient und Jahr entspricht dies
gulierungen im Gesundheitswesen zu prob- 2 Kaiser und Schmid (2016). Die Autoren wurden für die- einem Effekt von rund 32 bis 35 Prozent. Die-
sen Beitrag mit dem Wissenschaftspreis der Deutschen
Gesellschaft für Gesundheitsökonomie des Jahres 2017
ses Ergebnis ist robust in Bezug auf die Wahl
1 Strupler (2017). ausgezeichnet. des ökonometrischen Schätzverfahrens.
Weiter wurde festgestellt, dass die Selbst-
dispensation auch bei den direkten Behand-
Regressionsanalyse lungsleistungen höhere Kosten verursacht,
Ein einfacher Vergleich der Durchschnittskosten Facharzttitel sowie Merkmale des Praxisstandorts
was womöglich mit einem höheren zeitlichen
zwischen Praxen mit und ohne Selbstdispensation – so spielt es zum Beispiel eine Rolle, ob sich eine Gesamtaufwand für Behandlungen im Zu-
ist methodisch unzulässig, um den kausalen Effekt Praxis auf dem Land oder in der Stadt befindet. Um sammenhang stehen könnte. Der Effekt ist
der Selbstdispensation zu identifizieren. Denn die die Einflüsse solcher Variablen möglichst effektiv hier relativ gesehen jedoch kleiner als bei den
Arztpraxen können sich auch in zahlreichen an- zu kontrollieren, verwendeten wir eine speziell ge-
deren kostenrelevanten Faktoren unterscheiden: wichtete Regressionsanalyse (Doubly Robust Re-
Medikamentenkosten.
Dazu gehören die Patientenstruktur wie beispiels- gression).
weise Alter und Geschlecht, Ärztemerkmale wie 3 Siehe Anhang A.1 in Kaiser und Schmid (2016).

66  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


GESUNDHEITSÖKONOMIE

Medikamentenabgabe durch Ärzte nach Kanton (Stand: 2010) finanziellen Anreize reagieren und eine
Mengenausweitung stattfindet, womit die
Selbstdispensation zu höheren Medika-
mentenkosten führt. Aus reiner Kostensicht
müsste die Selbstdispensation somit in al-
len Kantonen abgeschafft werden. Mit Blick
auf die Medikamentenkosten kann man an-
hand unserer Studie überschlagsmässig be-

KAISER UND SCHMID (2016) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT / SHUTTERSTOCK


rechnen, dass bei den Spezialisten so rund
120 bis 145 Millionen Franken pro Jahr einge-
spart werden könnten. Das entspricht aller-
dings nur etwas mehr als einem halben Pro-
zent der Gesamtkosten der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung. Das Einspar-
potenzial ist, relativ gesehen, also eher ge-
ring. Bei der Beurteilung der Selbstdispensa-
tion sind zudem weitere Gesichtspunkte wie
beispielsweise die Medikamentenverfüg-
barkeit und die Präferenzen der Patienten zu
  Verboten       Erlaubt       Je nach Gemeinde erlaubt oder verboten berücksichtigen.

Die Karte bezieht sich auf die Jahre 2008 bis 2010. Seit 2012 ist die Selbstdispensation in allen Zürcher
Gemeinden erlaubt; der Kanton Schaffhausen folgt 2018.

Weitere Studien zum Ärzteverhalten im auf die Gesamtkosten zu, da sie sich jeweils auf
Zusammenhang mit der Selbstdispensation bestimmte Medikamente beziehen.
in der Schweiz zeigen qualitativ übereinstim- Betrachtet man den Gesamtmarkt, so
mende Ergebnisse.4 Sie liefern zudem Hinwei- zeigt eine weitere Studie, dass die Selbstdis-
se darauf, weshalb die Medikamentenkosten pensation die Medikamentenkosten vor al-
aufgrund der Selbstdispensation höher sind. lem durch eine Mengenausweitung erhöht.7 Boris Kaiser
So zeigt sich beispielsweise, dass in Gebieten Der durchschnittliche Preis von dispensier- Dr. rer. oec., Ökonom, B,S,S. Volkswirt-
schaftliche Beratung, Basel
mit vielen dispensierenden Ärzten häufiger ten Medikamenten scheint hingegen – ver-
Antibiotika angewendet werden.5 glichen mit verschriebenen Medikamen-
Ferner gibt es einen positiven Zusammen- ten – sogar etwas tiefer. Somit dominiert der
hang zwischen der Selbstdispensation und der Mengeneffekt empirisch den Preiseffekt sehr
Verwendung von Generika, aber Ärzte schei- deutlich. Dies trifft sowohl auf Grundversor-
nen gleichzeitig ihre Marge auf dispensierten ger wie auch auf Spezialisten zu.
Medikamenten zu optimieren.6 Allerdings las-
sen diese Studien keine direkten Rückschlüsse Kosteneinsparungen möglich
4 Eine Ausnahme hiervon ist Trottmann et al. (2016). Aller- Zusammenfassend deutet die empirische Christian Schmid
dings lässt diese Studie keine Rückschlüsse auf das Ver- Evidenz klar darauf hin, dass Ärzte auf die Dr. rer. oec., wissenschaftlicher Mitarbeiter,
schreibungsverhalten der Ärzte zu. CSS Institut für empirische
5 Filippini et al. (2014). Gesundheitsökonomie, Luzern
6 Rischatsch et al. (2013) sowie Rischatsch (2014). 7 Burkhard et al. (2017).

Literatur
Burkhard, D., C. Schmid, K. Wüthrich Kaiser, B., C. Schmid (2016). Does Physician Rischatsch, M. (2014). Lead Me not into Trottmann, M., M. Früh, H. Telser, O.
(2015). Financial Incentives and Physician Dispensing Increase Drug Expenditures? Temptation: Drug Price Regulation and Reich (2016). Physician Drug Dispensing
Prescription Behavior: Evidence from Empirical Evidence from Switzerland, Dispensing Physicians in Switzerland, in Switzerland: Association on Health
Dispensing Regulations, University Health Economics, 25: 71–90. European Journal of Health Economics, Care Expenditures and Utilization, BMC
of Bern, Department of Economics, Rischatsch, M., M. Trottmann, P. Zweifel 15: 697–708. Health Services Research, 16.
Discussion Paper dp1511. (2013). Generic Substitution, Financial Strupler, P. (2017). Kosten des Gesund-
Filippini, M., F. Heimsch, G. Masiero (2014). Interests, and Imperfect Agency, Inter- heitssystems steigen stärker als in den
Antibiotic Consumption and the Role of national Journal of Health Care Finance Nachbarländern, Die Volkswirtschaft,
Dispensing Physicians, Regional Science and Economics, 13: 115–38. 3/2017: 6–10.
and Urban Economics, 49: 242–51.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  67
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT

Partnerschaften mit dem Privatsektor


sind zentral
Öffentlich-private Partnerschaften werden in der Entwicklungszusammenarbeit immer
wichtiger. Nur: Nach welchem Rezept sollen öffentlich-private Partnerschaften gestaltet
sein? Vielversprechende Ansätze sind beispielsweise das sogenannte Impact Investment
oder das «Blending».   Christian Brändli, Tim Kaeser, Lukas Schneller

Die öffentliche Entwicklungshilfe muss


Abstract  Bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsagenda der Vereinten Nationen (SDGs)
deshalb verstärkt im Zusammenspiel mit
soll der Privatsektor eine grössere Rolle spielen. Deshalb erhalten folgende Fragen neu-
privaten Finanzflüssen wirkungsvoll einge-
en Auftrieb: Wie multipliziert man einen Entwicklungsfranken? Welche Instrumente
setzt werden. Eines der 17 Ziele der UNO-
und Rezepte eignen sich für eine erfolgreiche Partnerschaft? Der Artikel präsentiert
Nachhaltigkeitsagenda ist deshalb explizit
verschiedene Praxisbeispiele aus der Entwicklungszusammenarbeit und kommt zum
öffentlich-privaten Partnerschaften gewid-
Schluss: Partnerschaften mit dem Privatsektor sind eine Chance, um die Finanzierungs-
met.1
lücke für die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele zu schliessen. Eine klare Rollenteilung
und eine disziplinierte Anwendung von bewährten Prinzipien sind jedoch zentral, damit Das Konzept der öffentlich-privaten Part-
diese Partnerschaften zielgerichtet und glaubwürdig ausgestaltet sind. nerschaft ist nicht neu. So existieren bei-
spielsweise bereits seit der Jahrtausendwen-
de sogenannte Impact Investments. Damit
sind Investitionen gemeint, die sowohl eine

W  ie macht man aus einem Entwick-


lungsfranken zwei oder gar noch
mehr? Angesichts des massiven Finanzie-
se Frage bei der Entwicklungszusammenarbeit
immer stärker ins Zentrum. Schätzungsweise
werden jährlich zusätzliche Mittel im Trillio-
finanzielle als auch eine soziale und ökologi-
sche Rendite erzielen. Die Marktgrösse liegt
hier schätzungsweise zwischen 60 und 109
rungsbedarfs, der durch die UNO-Ziele für nenbereich benötigt, um diese Ziele zu errei- Milliarden Dollar, wobei weiterhin grosses
nachhaltige Entwicklung (SDGs) und das Pari- chen. Weil die öffentlichen Entwicklungsmittel Potenzial besteht.2
ser Klimaabkommen entstanden ist, rückt die- dazu nicht ausreichen, muss der Privatsektor 1 Ziel 17: Umsetzungsmittel stärken und die Globale Part-
eingebunden werden (siehe Abbildung 1). Dies nerschaft für nachhaltige Entwicklung mit neuem Le-
gilt umso mehr, da die relative Grösse der öf- ben erfüllen.
In Schwellenländern bieten öffentlich-private 2 Vgl. Julia Balandina Jaquier (2016), Catalyzing Wealth for
Partnerschaften mehr Sicherheit für Investoren. fentlichen Entwicklungshilfe abnimmt. Change, Guide to Impact Investing.
Möbelfabrik in Vietnam.

SÉBASTIEN LÖFFLER, NOI PICTURES

68  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT

Zu den Impact Investments gehören etwa Abb. 1: Mittelzufluss in Entwicklungsländern nach Quelle (1990–2014)
«Mikrofinanzanlagen». Solche Gelder kom-
men lokalen Finanzdienstleistern zugute, 800     in Milliarden Dollar
welche beispielsweise Kredite für Saatgut

WORLD DEVELOPMENT INDICATORS, OECD, BERECHNUNGEN WELTBANK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


oder eine Nähmaschine verleihen. Schweizer 700
Anbieter haben beim Aufbau dieses Marktes
Pionierarbeit geleistet. Zusammen mit pri- 600
vaten Investoren hat das Staatssekretariat
für Wirtschaft (Seco) nach der Jahrtausend- 500
wende mitgeholfen, den ersten Publikums-
fonds für Mikrofinanzierungen in der Schweiz 400

zu lancieren. Der Fonds ist mittlerweile über


300
eine Milliarde Dollar gross und investiert in
90 Länder. Seither wächst der Markt welt-
200
weit und ist oftmals nicht mehr auf öffentli-
che Gelder angewiesen.
100
Der Schweizer Finanzplatz betreut ein

a Schätzung
Drittel des weltweiten Volumens an Mikrofi-
0
nanzinvestitionen. Die Nachfrage nach nach-

14 a
90

92

94

96

98

02

10

12
haltigen Anlagen sowie die Marktchancen

0
0

0
0

20
20
19

19
19

20
19

20
19

20

20
20
20
der Schweizer Anbieter sind gross. Um den
  Ausländische Direktinvestitionen        Geldüberweisungen von Migranten     
Finanzplatz im Bereich nachhaltige Anlagen   Private Verschuldung und Beteiligungsportfolio        Öffentliche Entwicklungshilfe
stärker zu positionieren, wurde Swiss Sustai-
nable Finance (SSF) als Schirmorganisation
gegründet, welche die Finanzakteure im Be-
reich nachhaltige Finanzierung zusammen- Abb. 2: Kaskadenansatz der Weltbankgruppe
bringt. Das Seco hat den SSF mit einer An- Kann eine kommerzielle Finanzierung kosteneffizient für eine nachhaltige
schubfinanzierung unterstützt. Der SSF will 1 Kommerzielle Finanzierung:
Investition mobilisiert werden? Falls nicht…
die Berücksichtigung sozialer und umwelt-
bezogener Anliegen im Anlage- und Finan- Können vorgelagerte Reformen umgesetzt werden, um das
zierungsgeschäft fördern. Dabei werden vor- 2 Vorgelagerte Reformen und Behebung Marktversagen zu beheben? Falls nicht…
von Marktversagen:
handene Stärken des Finanzplatzes genutzt, • Länder- und Sektorpolitiken
und die Schweiz kann sich international als • Regulierung und Preisbildung
• Institutionen und lokale Kapazitäten
Erbringerin nachhaltiger Finanzdienstleistun- Können Risikomitigationsinstrumente
verbleibende Risiken kosteneffizient decken?
gen profilieren.
3 Öffentliche und konzessionelle Ressourcen für Falls nicht…
Risikomitigation:
«Blending»: Mittel gemischt • Garantien
• Risikopuffer («First-Loss»)

Ein vielversprechender Ansatz bei öffent-

IFC / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
4 Öffentliche und konzessionelle Finanzierung: Können Nachhaltigkeitsziele
lich-privaten Investitionen ist das sogenann- • Öffentliche Finanzierung (z. B. öffentlicher Haushalt, Staatsfonds, mit knappen öffentlichen
te Blending – das Mischen von öffentlichen nationale Entwicklungsbanken) Mitteln finanziert werden?
• Multilaterale Entwicklungsbanken (z. B. Weltbank), Entwicklungs-
und privaten Mitteln. Blending führt im Ideal- finanzierungsinstitutionen (z. B. Sifem, FMO)
fall dazu, dass private Geldgeber in Ländern
Investitionen tätigen, wo sie sonst nicht hin-
gehen würden. So verhilft es beispielsweise
einem KMU in Kirgistan zu Geldmitteln. Die Schwierigkeit liegt darin, mit den öffentli- sich diese nicht, ist die Wirkung begrenzt
Wie soll das Mischverhältnis von privaten chen Geldern nur so viel Risiko zu reduzieren, und, im schlechten Fall, sogar kontrapro-
zu öffentlichen Geldern konkret aussehen? wie nötig ist, um private Investoren an Bord duktiv. An der Schaffung von Vertrauen in
Soll es eine permanente oder eine zeitlich zu holen. Und das hängt stark vom Sektor, den Zielländern führt deshalb kein Weg vor-
begrenzte Mischung sein? Über diese Punk- vom Länderkontext und von den involvierten bei: Stabile politische und wirtschaftliche
te herrscht international noch kein Konsens. Akteuren ab. Rahmenbedingungen wie auch ein funktio-
Sie führen derzeit in der OECD-Arbeitsgrup- nierendes Staatswesen bleiben entschei-
pe Blending Finance for Sustainable Develop- Selektiv, subsidiär und zeitlich dende Faktoren. Hier bleibt das Seco stark
ment zu angeregten Diskussionen. Wäh- engagiert.
rend einige in erster Linie Gelder mobilisie-
begrenzt Für Geber eröffnen sich durch Blending
ren wollen, ist für andere die Schaffung eines Ob der ganzen Aufmerksamkeit sollte nicht aber durchaus Chancen, die Wirkung von be-
Marktes zentral, weshalb Letztere eine zeit- vergessen gehen: Blending kann gesamt- grenzten, öffentlichen Mitteln zu verstärken.
lich begrenzte Partnerschaft befürworten. heitliche Reformen nicht ersetzen. Auch bei Entscheidend ist aus unserer Sicht, dass Blen-
Doch oftmals ist es ein schmaler Grat zwi- Blending muss die Risikowahrnehmung auf ding selektiv, subsidiär zum Markt und zeit-
schen Marktverzerrung und Marktbildung. Fundamentaldaten beruhen. Verbessern lich begrenzt angewendet wird.

Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017  69
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT

Bevor man zum Blending-Ansatz greift, dern, um die Kapitalkosten für grüne Investi- laubt ein SIB die Suche nach innovativen Lö-
muss man sich zwingend fragen: Warum hat tionen zu reduzieren. sungen beim Leistungserbringer, einen Ri-
der Privatsektor nicht von sich aus investiert? sikotransfer an Dritte und eine Koppelung
Antworten darauf liefert der Kaskadenan- Beispiel 2: First-Loss-Kapital von Zahlungen an Resultate. Die Strukturie-
satz der Weltbankgruppe (siehe Abbildung 2). rung ist komplex und ist auf eine gute Daten-
Grundsätzlich gilt: Erst wenn Massnahmen Als effiziente Mobilisierungslösungen bei öf- basis angewiesen. Inwiefern sich dieses Inst-
wie regulatorische Reformen nicht greifen, fentlich-privaten Partnerschaften haben sich rument im grossen Stil anwenden lässt, wird
kann Blending zur Risikoverminderung in Be- Investitionsfonds erwiesen, welche auf First- sich noch weisen müssen.
tracht gezogen werden. Je nach Länderkon- Loss-Kapital aufbauen: Das öffentlich finan- Abschliessend lässt sich sagen: Um öf-
text gibt es zudem politische Präferenzen, ob zierte First-Loss-Kapital fungiert dabei als Ri- fentlich-private Partnerschaften zielgerich-
und allenfalls inwiefern öffentliche Dienst- sikopuffer und schützt private Investoren zu tet und glaubwürdig zu gestalten, sind der
leistungen in Zusammenarbeit mit Privaten einem Teil vor möglichen Verlusten. Auf die- Lernprozess, eine klare Rollenteilung und
erbracht werden sollen. sem Gebiet tätig ist beispielsweise der Loans eine disziplinierte Anwendung von bewähr-
Nachfolgend beleuchten wir drei Pro- for Growth Fund, welcher vom Seco unter- ten Prinzipien zentral. Dabei sollte nicht ver-
jektbeispiele des Seco, bei denen öffentliche stützt wird und vom Genfer Vermögensver- gessen werden: Die öffentliche Entwick-
Gelder zusammen mit privaten Geldern ein- walter Symbiotics verwaltet wird. Zusammen lungsfinanzierung bleibt wichtig. Dies gilt
gesetzt werden. Allen drei Beispielen ist ge- mit der UBS hat das Seco eine minimale First- insbesondere für die ärmsten Länder, wo die
meinsam, dass eine rein kommerzielle Finan- Loss-Einlage von je 2,5 Millionen Dollar ge- Hürden, privates Kapital anzuziehen, weiter-
zierung für Investoren zu wenig attraktiv ge- teilt und so 45 Millionen Dollar an privaten hin hoch sind.
wesen wäre (siehe erste Stufe in Abbildung Geldern mobilisiert.
2). Dank des Zusammenspiels öffentlicher Das First-Loss-Kapital wird dabei via loka-
Gelder mit privaten Investitionen konnte die le Banken – beispielsweise in Peru oder Geor-
Wirkung insgesamt verstärkt werden. gien – an wachstumsstarke KMU verliehen.
Die zugrunde liegende These beim Loans
Beispiel 1: Grüne Anleihen for Growth Fund ist, dass die effektiven Risi-
ken kleiner als die wahrgenommenen Risiken
Geldgeber knüpfen die Bereitstellung von sind. Ist dieser Beweis erbracht, soll sich der
günstigem Kapital an Bedingungen, um die Gebrauch von First-Loss-Mitteln sukzessive
Risiken zu mindern. So spielen beispielsweise verkleinern. Die Laufzeit des Fonds ist zeit-
bei sogenannten Green Bonds internationa- lich begrenzt, da der Demonstrationseffekt
le Standards eine zentrale Rolle. Dies aus drei im Vordergrund steht. Christian Brändli
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ressort
Gründen: erstens um die Transparenz und die Privatsektorförderung, Staatssekretariat
Glaubwürdigkeit zu erhöhen und um «green- Beispiel 3: Social Impact Bonds für Wirtschaft (Seco), Bern
washing» zu verhindern. Zweitens reduzieren
sie die Transaktionskosten beim Handel der Partnerschaften zwischen öffentlichen und
grünen Anleihen. Und drittens, um das Vo- privaten Geldgebern können auch gebildet
lumen der Klimafinanzierung zu vergrössern. werden, um bestehende Mittel effizienter zu
Wichtig bei der Definition von Standards nutzen. Ein möglicher Weg dazu sind Social
ist die Organisation Climate Bonds Initiative Impact Bonds (SIBs). In Zusammenarbeit mit
(CBI). Gemeinsam mit wissenschaftlichen Ex- dem Multilateralen Investment Fonds (MIF)
perten und Personen aus der Praxis erarbei- der Interamerikanischen Entwicklungsbank
tet sie freiwillige Standards für grüne Anlei- und der kolumbianischen Regierung pilotiert
Tim Kaeser
hen. Eine öffentlich-private Partnerschaft si- das Seco die Strukturierung von SIBs für die Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ressort
chert die Unabhängigkeit der CBI, fördert Arbeitsmarktintegration von armen Bevölke- Privatsektorförderung, Staatssekretariat
datenbasierte Standards und erlaubt es, die- rungsschichten.3 für Wirtschaft (Seco), Bern
se international anzuwenden. Die Schweiz Das Prinzip ist Folgendes: Eine Investoren-
unterstützt die CBI zusammen mit Finanzins- gruppe – in diesem Fall eine Gruppe von Stif-
titutionen wie der Credit Suisse. Die Schweiz tungen – finanziert ein Projekt vor. Werden
war die erste Regierung, die die CBI unter- die Ziele erreicht, erfolgt die Rückzahlung
stützt hat. durch die kolumbianische Regierung und das
Initiativen der Interamerikanischen Ent- Seco. Werden die Ziele unterschritten, wird
wicklungsbank (IDB) und der Internatio- die Zahlung reduziert. Werden sie überschrit-
nal Finance Corporation (IFC), welche eben- ten, können sie belohnt werden. Im Kern er-
falls vom Seco unterstützt werden, zielen in Lukas Schneller
eine ähnliche Richtung. Mittels technischer 3 Emily Gustafsson-Wright and Izzy Boggild-Jones (2017): Stellvertretender Ressortleiter, Ressort
Unterstützung wollen sie die Emission von Colombia Leads the Developing World in Signing the Privatsektorförderung, Staatssekretariat
First Social Impact Bond Contracts, Brookings, für Wirtschaft (Seco), Bern
grünen Anleihen in Entwicklungsländern för- 31. März 2017.

70  Die Volkswirtschaft  8–9 / 2017


ZAHLEN

Wirtschaftskennzahlen
Auf einen Blick finden Sie hier die Kennzahlen Bruttoinlandprodukt, Erwerbslosenquote und Inflation von acht Ländern, der EU und
der OECD. Zahlenreihen zu diesen Wirtschaftszahlen sind auf Dievolkswirtschaft.ch aufgeschaltet.

Bruttoinlandprodukt: Bruttoinlandprodukt:
Reale Veränderung in % gegenüber dem Reale Veränderung in % gegenüber dem Vorquartal1
Vorjahr
2016 1/2017 4/2016 3/2016 2/2016
Schweiz 1,3 Schweiz 0,3 0,1 0,1 0,6
Deutschland 1,9 Deutschland 0,6 0,4 0,2 0,5
Frankreich 1,2 Frankreich 0,3 0,5 0,2 –0,1
Italien 0,9 Italien 0,2 0,2 0,3 0,1
Grossbritannien 1,8 Grossbritannien 0,2 0,7 0,5 0,6
EU 1,9 EU 0,5 0,6 0,4 0,4
USA 1,6 USA 0,3 0,5 0,9 0,4
Japan 1,0 Japan 0,5 0,3 0,2 0,4
China 6,7 China 1,3 1,7 1,8 1,9
OECD 1,7 OECD 0,4 0,7 0,5 0,4

Bruttoinlandprodukt: Erwerbslosenquote:3 Erwerbslosenquote:3


In Dollar pro Einwohner 2015 (PPP2) in % der Erwerbspersonen, Jahreswert in % der Erwerbspersonen, Quartalswert
2016 2016 1/2017
Schweiz 63 616 Schweiz 4,6 Schweiz 5,3
Deutschland 49 077 Deutschland 4,1 Deutschland 3,9
Frankreich 41 945 Frankreich 9,9 Frankreich 10,1
Italien 37 964 Italien 11,7 Italien 11,7
Grossbritannien 42 898 Grossbritannien 4,8 Grossbritannien –
EU 38 918 EU 8,6 EU 8,1
USA 57 325 USA 4,9 USA 4,7
Japan 41 694 Japan 3,1 Japan 2,9
China – China – China –
OECD 42 096 OECD 6,3 OECD 6,1

Inflation: Inflation:
Veränderung in % gegenüber dem Veränderung in % gegenüber dem
Vorjahr ­Vorjahresmonat
2016 Mai 2017
Schweiz 0,0 Schweiz 0,5
Deutschland 0,5 Deutschland 1,5
Frankreich 0,2 Frankreich 0,8
Italien –0,1 Italien 1,4
Grossbritannien 0,7 Grossbritannien 2,9
EU 0,3 EU 1,6
SECO, BFS, OECD

USA 1,3 USA 1,9


Japan –0,1 Japan –
China 2,0 China 1,5
Weitere Zahlenreihen
OECD 1,1 OECD –
1 Saisonbereinigt und arbeitstäglich bereinigte Daten.
www.dievolkswirtschaft.ch d Zahlen
2 Kaufkraftbereinigt.
3 Gemäss ILO (Internationale Arbeitsorganisation).

71  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


Geschäftsrisiken – gefürchtet sind Betriebsunterbrüche
Unternehmen müssen ihre Geschäftsrisiken kennen, nur so können sie sich auf dem Markt behaupten
und sich gegen einen Konkurs wappnen. In der Schweiz schreibt das Gesetz vor, dass die Unternehmensführung
ein Risikomanagement erstellt. Global betrachtet sind Betriebsunterbrüche und Marktentwicklungen
die grössten Bedrohungen, doch die Angst vor Cybervorfällen nimmt immer stärker zu.

1
2
4 3

ALLIANZ RISK BAROMETER 2017


5
Die 10 wichtigsten
6
globalen Geschäftsrisiken
im Jahr 2017 8 7
1. Betriebsunterbrüche
2. Marktentwicklung
3. Cybervorfälle 9
4. Naturkatastrophen
5. Rechtliche Veränderungen 10
6. Makroökonomische Entwicklungen
7. Feuer, Explosionen
8. Politische Risiken
9. Reputationsverlust
10. Neue Technologien

Die 10 wichtigsten Geschäftsrisiken nach Weltregionen

1 1 1 2
3 3 2 6 n

1
ione zess
e
plos
Afrika und Mittlerer Osten

d Ex phen lanke Pro


2 4 4 8 F e ue
1. turka
r un
t a s t ro
a ll, sc h
ausf
5 2 3 5 2. Na feranten e
Asien-Pazifik

ll
3. Lie ervorfä
5 6 3
Amerika

6 b
Europa

4. Cy
4 7 7 1 unge
n

3
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iff rheitsve er
8 6 5 4 . H a
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7 9 9 7
1
ten-
u
er an
2. Da lware od äuschu
a T
d
ng d
u

10 10 3. M ler oder
9 NEU NEU 11 4. Fe
h
10 11 12 NEU 9 NEU

NEU = seit 2017 neu im TopTen Ranking Die Ursachen von Betriebsunterbrüchen
11. Diebstahl, Betrug, Korruption und Cybervorfällen im Fokus
12. Menschliches Versagen

72  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


VORSCHAU

FOKUS

Ökonomische Perspektiven der


Berggebiete
Die Schweiz ist ein Alpenland. Die Berge prägen das Bild unseres Landes im Inland wie im Ausland. Doch
die Bergregionen stehen wirtschaftlich unter Druck. Der starke Franken und die Klimaerwärmung setzen
dem traditionellen Tourismussektor zu. Hinzu kommen die in Zukunft unsicheren Einnahmen aus den
Wasserzinsen. Und die Zweitwohnungsinitiative bremst die Bautätigkeit im Bausektor. Viele Junge wandern
in die Städte ab. Was können die Bergregionen dagegen tun? Lesen Sie in unserer nächsten Ausgabe, mit
welchen Strategien die Bergregionen ihre Zukunft gestalten können und wie der Bund sie dabei unterstützt.

Der Bund muss seine Berggebietsförderung überprüfen


Annette Spoerri und Valérie Donzel, Staatssekretariat für Wirtschaft

Alpenweite Zusammenarbeit: Netzwerke für die Zukunft


Silvia Jost, Bundesamt für Raumentwicklung

Strukturwandel im Schweizer Berggebiet


Daniel Müller-Jentsch, Avenir Suisse

Gebirgskantone – so wird die Strategie umgesetzt


Christian Vitta, Präsident Regierungskonferenz der Gebirgskantone

Kohärente Raumentwicklung als Erfolgsfaktor


Roger Michlig, Esther Schlumpf, Regionalentwicklung Oberwallis

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