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91. Jahrgang   Nr. 1 –2 / 2018 Fr. 12.

Die Volkswirtschaft
Plattform für Wirtschaftspolitik

INTERVIEW INDUSTRIE ÄLTERE ARBEITNEHMENDE UNTERNEHMENSKREDITE


Ökonom David Dorn sieht Hälfte der Firmen denkt über Motivation im Beruf sinkt Banken lehnen kaum Kredit-
keine Beschleunigung des Verlagerung ins Ausland nach 58 anträge von KMU ab
technologischen Wandels 55 61
46

FOKUS
Wie die Digitalisierung
die Arbeitswelt
­verändert

Wichtiger HINWEIS !
Innerhalb der Schutzzone (hellblauer Rahmen) darf
kein anderes Element platziert werden!
Ebenso darf der Abstand zu Format- resp. Papierrand
die Schutzzone nicht verletzen!
Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken!
Siehe auch Handbuch
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
www. cdbund.admin.ch
EDITORIAL

Übernimmt der Roboter meinen Job?


Gesprächsthema einer Kaffeepause unserer Redaktion: Wie sähe die Auto-
matisierung bei uns aus? Der Job des Übersetzers wird von einer intelligen-
ten Software übernommen, und auch die Arbeit der Layouter kann auto-
matisiert werden. Braucht es die Chefredaktion für das Festlegen, das
Recherchieren und das Zusammenstellen von Themenschwerpunkten – oder
macht dies ein Algorithmus besser und günstiger?
Auf die Gesamtwirtschaft übertragen,
heisst das: Das mittlere Kader kann weg-
gespart werden, da es in Zukunft viel ein-
facher wird, sich über Plattformen zu or-
ganisieren. Ist das Verständnis, was Arbeit
umfasst, noch aktuell? Sollte Arbeit brei-
ter definiert werden als nur über Arbeits-
stunden und Lohn?
Im Gegensatz zu solchen Gedankenspie-
len sind Roboter heute schon Realität. Sie
finden sich beispielsweise in der Fabrik-
halle, im Operationssaal, in der Hotelküche und in der Lagerhalle. Doch zahl-
reiche juristische Fragen wie etwa die Haftung im Zusammenhang mit Robo-
terunfällen sind nicht geklärt.
Angesichts des rasanten Wandels sind Bildung und Weiterbildung zentral:
Gradlinige Lebensläufe und unveränderte Anforderungsprofile gehören der
Vergangenheit an. Selbst wenn wir gut ausgebildet und bei einem etablierten
Unternehmen angestellt sind, müssen wir uns auf mehr Jobunsicherheit ein-
stellen.
Wirtschaftsprofessor David Dorn rät zu Gelassenheit: Zwar hätten sich die
Mobilfunk- oder die Computertechnologie in den vergangenen Jahren enorm
entwickelt, aber in vielen anderen Bereichen wie im Flugzeugbau habe sich
der technologische Fortschritt verlangsamt, sagt er im Interview.

Wir wünschen Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre.


Nicole Tesar und Susanne Blank
Chefredaktorinnen «Die Volkswirtschaft»
INHALT

Fokus

6 11 16
Arbeitskräfte auf den Schweizer Arbeitsmarkt gut Wissensintensive Branchen
Wandel ­vorbereiten aufgestellt schaffen Stellen
Duncan MacDonald Katharina Degen, Ursina Jud Huwiler Carsten Nathani, Corina Rieser, Pino Hellmüller
OECD Staatssekretariat für Wirtschaft Rütter Soceco

20 24 27
Berufe passen sich der Anteil der «atypischen- Das Bildungssystem
Digitalisierung an prekären» Jobs bleibt stabil entwickelt sich mit der
Jürg Schweri Michael Mattmann, Ursula Walther, Julian Frank, Digitalisierung
Eidgenössisches Hochschulinstitut für Michael Marti
Berufsbildung Ecoplan Johannes Mure, Barbara Montereale
Staatssekretariat für Bildung, Forschung und
Rolf Iten Innovation
Infras

29 33 36
Unternehmen setzen auf Roboter wirbeln Wirtschaft Die Fabrik der Zukunft
qualifizierte Arbeitskräfte und Recht auf Steven Wyatt
ABB
Spyros Arvanitis Isabelle Wildhaber, Melinda Lohmann
KOF Konjunkturforschungsstelle Universität St. Gallen
Gudela Grote
ETH Zürich
Toni Wäfler
Fachhochschule Nordwestschweiz
Martin Wörter
KOF Konjunkturforschungsstelle
INHALT

Themen
b
53
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT

Warenhandel mit
Entwicklungsländern wird
einfacher
Raphael Jenny
Staatssekretariat für Wirtschaft
40 51
Eine Robotersteuer ist keine AUFGEGRIFFEN

gute Idee Wann ist nach der Krise


Simon Schnyder
Eidgenössische Steuerverwaltung
vor der Krise?
Eric Scheidegger
Staatssekretariat für Wirtschaft

b
STANDPUNKTE
55 58
43 INDUSTRIE ÄLTERE ARBEITNEHMENDE
Chancen der Digitalisierung Jedes zweite Ältere Mitarbeitende suchen
nicht im Keim e­ rsticken Produktionsunternehmen Erfüllung ausserhalb des
Roland A. Müller
Schweizerischer Arbeitgeberverband
erwägt Verlagerung ins Berufs
Ausland Monika Engler
Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur
Thomas Friedli, Christoph Benninghaus,
44 Christian Elbe
Elisa Streuli
Zürcher Hochschule für Angewandte
Universität St. Gallen
Digitalisierung muss Wissenschaften

­Berufstätigen nützen
Daniel Lampart
Schweizerischer Gewerkschaftsbund

61
45 UNTERNEHMENSKREDITE

Digitale Cluster für die Der Zugang der KMU


Schweiz zu Bankkrediten ist
Joël Luc Cachelin Wissensfabrik gewährleistet
Andreas Dietrich, Reto Wernli
Hochschule Luzern

46
«Die technologische
Entwicklung Spots
verliert an Tempo»
i
IMPRESSUM ZAHLEN INFOGRAFIK

Informationen Wirtschaftskennzahlen Durchzogene Bilanz beim


zum Magazin CO2-Ausstoss
Im Gespräch
mit dem 4 63 64
Ökonomieprofessor
David Dorn
i IMPRESSUM

Herausgeber
Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, ­Bildung
und Forschung WBF,
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern

Redaktion
Chefredaktion: Susanne Blank, Nicole Tesar
Redaktion: Käthi Gfeller, Matthias Hausherr, Jessica Kunkler,
Christian Maillard, Stefan Sonderegger

Redaktionsausschuss
Eric Scheidegger (Leitung), Antje Baertschi, ­Susanne Blank,
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(französisch: La Vie économique), 91. Jahrgang, mit Beilagen.

Druck
Jordi AG, Aemmenmattstrasse 22, 3123 Belp

Der Inhalt der Artikel widerspiegelt die Auffassung der Autorinnen


und Autoren und deckt sich nicht notwendigerweise mit der
Meinung der Redaktion.

Der Nachdruck von Artikeln ist, nach Bewilligung durch die


Redaktion, unter ­Quellenangabe gestattet; Belegexemplare
­erwünscht.

ISSN 1011-386X

App
Vogt-Schild Druck AG, Gutenbergstrasse 1, 4552 Derendingen
FOKUS

Wie die Digitalisierung


die Arbeitswelt verändert
Die Digitalisierung wirbelt die Arbeitswelt durcheinander.
Angesichts des Strukturwandels geben sich Politiker besorgt.
Nehmen uns Roboter die Jobs weg? Welche Branchen sind
besonders gefährdet? Unser Fokus zeigt: Nebst Risiken bringt die
Digitalisierung für die Schweiz vor allem Chancen – diese gilt
es nun zu nutzen.
DIGITALISIERUNG

Arbeitskräfte auf den Wandel


­vorbereiten
Die Digitalisierung verlangt von den Arbeitskräften höhere Qualifikationen und mehr Fle-
xibilität – gleichzeitig steigt die Einkommensungleichheit. Die Regierungen tun gut da-
ran, den Arbeitsmarkt auf diese Herausforderungen vorzubereiten.  Duncan MacDonald

Abstract    Die Verbreitung von künstlicher Intelligenz und von anderen die Verbreitung von Robotern und künstlicher
Technologien wird sich tiefgreifend auf die Arbeitswelt auswirken. Wäh- Intelligenz wird voraussichtlich den gleichen Ef-
rend der Bedarf an hoch qualifizierten Jobs steigt, sind Routinetätigkeiten fekt haben. Die Siri-Schnittstelle von Apple und
in der Produktion und im Büro besonders vom Abbau bedroht. Gut positio- die Gameshow-Dominanz der IBM-Software
niert sind Techniker und Informatiker. Dank Internetplattformen wie Uber Watson zeugen vom Tempo der Fortschritte der
oder Mechanical Turk steigt die Flexibilität der Arbeitskräfte. Gleichzeitig
künstlichen Intelligenz.
nimmt in den OECD-Staaten die Einkommensungleichheit zu. Damit die
Beschäftigten diesen Wandel möglichst problemlos bewältigen können,
müssen die Regierungen gewährleisten, dass die Arbeitskräfte auf diese Mehr hoch qualifizierte Jobs
Entwicklungen gut vorbereitet sind. Dazu müssen die Staaten die erfor-
derlichen Instrumente und Mechanismen zur Verfügung stellen. Entschei- Jüngste technologische Fortschritte wirken sich
dend sind dabei insbesondere die Kompetenzen, die für die neuen Tätig- bereits auf den Arbeitsmarkt aus: Stellen mit
keiten benötigt werden. mittleren Qualifikationsanforderungen, die
einen grossen Anteil von Routineaufgaben be-
inhalten, fallen zusehends weg. Hingegen steigt

N  eue Technologien verändern unsere Ge-


sellschaft. Entsprechend müssen sich die
Arbeitskräfte an die Anforderungen anpassen,
der Bedarf an hoch qualifizierten Jobs (siehe Ab-
bildung 1). Die Folgen dieser Verlagerungen sind
noch ungewiss – insbesondere, weil sie im Zu-
die mit den rasanten Fortschritten in der Com- sammenhang mit anderen Megatrends wie bei-
putertechnologie verbunden sind. Dazu gehö- spielsweise der zunehmenden Globalisierung
ren beispielsweise die künstliche Intelligenz, und dem demografischen Wandel aufgrund
die Robotertechnik, das Internet der Dinge einer alternden Erwerbsbevölkerung auftreten.
sowie Onlineplattformen. All diese Verände- Besonders bedroht sind Routinearbeiten in der
rungen haben die Diskussion über eine dro- Produktion und im Büro.2 Die klar definierten
hende «technologisch bedingte Arbeitslosig- Aufgaben dieser Arbeitskräfte können prob-
keit» entfacht: Vernichtet Spitzentechnologie lemlos von modernen Automaten übernom-
Arbeitsplätze, ohne dass neue Stellen geschaf- men werden, da sie weder komplexe Problem-
fen werden? lösungskompetenzen noch soziale Fähigkeiten
Die Debatte ist nicht neu.1 In der Vergangen- verlangen – wie dies beispielsweise bei Mana-
heit haben technologische Veränderungen bis- gern oder Pflegefachpersonen der Fall ist.
lang stets neue Arbeitsformen und zusätzliche Die bisherige Forschung hat versucht, die
Arbeitsplätze geschaffen. Zwar löste der Bau Auswirkungen neuer Technologien auf das
von Fabriken während der industriellen Revo- Automatisierungsrisiko zu quantifizieren, um
lution in England Unruhen aus, da dadurch die die am stärksten betroffenen Bereiche zu be-
Arbeitsplätze vieler Weber und anderer Hand- stimmen. Eine Studie der Universität Oxford
werker vernichtet wurden – doch gleichzeitig schätzt, dass in den USA in den nächsten 20 Jah-
1 Autor (2015). wurden neue Stellen für Fabrikarbeiter, Buch- ren beinahe die Hälfte aller Arbeitsplätze auto-
2 Goos et al. (2014). halter und Mechaniker geschaffen. Solche Inno- matisiert werden kann.3 Diese Schätzungen sind
3 Frey und Osborne
(2013). vationsschübe haben die Arbeit verändert, und alarmierend und deuten darauf hin, dass bald

6  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018
Arbeit in der virtuellen Realität:
­Industrial-Design-Studentin in Zürich.

KEYSTONE
DIGITALISIERUNG

auch Tätigkeiten im Dienstleistungssektor von gen t­ iefer als frühere Prognosen liegen, sagen sie
der Roboterisierung tangiert sein werden, nach- ebenfalls grosse Herausforderungen voraus, da
dem diese von den negativen Auswirkungen bei rund einem Drittel der Stellen ein «signifikan-
der Automatisierung lange verschont geblieben tes Risiko» von Veränderungen besteht.
sind. Das Risiko eines Jobverlusts durch Auto-
Doch es sind nicht alle Arbeitsplätze gleicher- matisierung hängt stark von der Ausbildung
massen betroffen. Entsprechend variiert das Ri- und von der technologischen Kompetenz ab.
siko, die Stelle an einen Roboter zu verlieren, je Am stärksten gefährdet sind Arbeitnehmende
nach Aufgaben und Kompetenzen. Im Rahmen mit einer verhältnismässig geringen Qualifika-
neuerer Forschungsarbeiten der OECD, die auf tion. Eine bessere Ausbildung ist zwar kein Ga-
der erwähnten Oxford-Studie beruhen, wurde rant für eine Arbeitsstelle, doch sie erhöht die
untersucht, wie individuelle Unterschiede gege- Chance, einen Job zu finden.5 Dabei spielt die
benenfalls das Automatisierungsrisiko verrin- Art der Ausbildung eine wesentliche Rolle. So
4 Arntz et al. (2016); gern.4 Im Vergleich zur Oxford-Studie sind die sind Arbeitskräfte mit einem Abschluss in den
OECD (2017d).
5 OECD (2017c). Ergebnisse dieser neusten Untersuchung weni- sogenannten Mint-Fächern Mathematik, Infor-
6 Remus und Levy (2016).
7 Autor und Salmons ger dramatisch: Bei 14 Prozent der Arbeitsplätze matik, Naturwissenschaft und Technik weniger
(2017). in den OECD-Ländern besteht ein «hohes Auto- von einem Stellenverlust bedroht als beispiels-
8 Acemoglu und Restre-
po (2017). matisierungsrisiko». Obwohl diese Schätzun- weise Rechtsanwälte – denn auch in diesem
prestigeträchtigen Beruf können die Vorarbei-
ten für Klagen, für die bislang Nachwuchskräfte
Abb. 1. Veränderung der Anteile von hoch, mittel und tief quali- zuständig waren, ebenso gut von maschinellen
fizierten Arbeitsplätzen in der Schweiz, in Deutschland und der Lernalgorithmen durchgeführt werden.6
OECD (1995 bis 2015, in Prozentpunkten)
20   in Prozentpunkten
Technologiebedingte Arbeitslosig-
keit nicht zwingend
10
Bei neuen Technologien können Spill-over-Ef-
fekte auftreten. Während in einer Abteilung
OECD 2017A / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

0
der Bedarf an Arbeitnehmenden sinkt, benö-
tigt eine andere Abteilung mehr Arbeitskräf-
–10
te.7 So kann eine technologiebedingte Pro-
duktivitätssteigerung – welche es ermöglicht,
–20 Waren und Dienstleistungen mit Arbeitskräf-
Schweiz OECD Deutschland
ten kostengünstiger herzustellen – den An-
  Hoch qualifiziert           Mittel qualifiziert           Gering qualifiziert reiz verringern, auch die verbliebenen Stel-
len von anderen Arbeitern zu automatisieren.8
Das Phänomen ist in der Ökonomie als Jevons’
Abb. 2.  Befragung zu Robotern am Arbeitsplatz (EU-28, 2017)
Paradoxon bekannt: Durch die technische Effi-
zienz verringern sich die Produktionskosten,
60    in %
wodurch sich wiederum die Nachfrage erhöht.
EUROBAROMETER (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

Allgemein führen solche indirekten Nachfra-


40 geeffekte zur Schaffung zusätzlicher Stellen
mit hohen Qualifikationsanforderungen. Mit
20 anderen Worten: Der zunehmende Fortschritt
erhöht die Nachfrage nach qualifizierten An-
gestellten.
0
Bis das Potenzial einer neuen Technologie
Ein Roboter führt bei Ihnen Ein Roboter unterstützt Sie Ein Roboter erbringt Dienst-
einen medizinischen Eingriff bei der Arbeit leistungen für Sie und leistet erkannt wird, können Jahre verstreichen. Die
durch Ihnen Gesellschaft bei Pflege- Akzeptanz einer technologischen Neuerung
bedürftigkeit oder im Alter
  Unwohl           Kein Problem dauert manchmal noch länger. So sehen die

8  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018
FOKUS

Europäer beispielsweise die Zusammenarbeit Ungleichheit nimmt zu


von Robotern und Menschen positiv, oder sie
sprechen sich zumindest nicht dagegen aus. Während der Anteil der Arbeit am Einkommen
Doch den meisten Europäern ist es nach wie sinkt, steigt der Einfluss der Kapitaleigentümer.
vor unwohl beim Gedanken, dass ein Roboter Damit verbunden ist das Risiko, dass die Ein-
selbstständig bestimmte Aufgaben ausführt – kommensungleichheit weiter zunimmt. Dies ist
wie zum Beispiel einen medizinischen Eingriff in vielen OECD-Ländern bereits der Fall.10
(siehe Abbildung 2). Solange in der Bevölkerung Zwar ist die zunehmende Nachfrage nach
solche Widerstände bestehen, wird es in eini- hoch qualifizierten Arbeitskräften für ent-
gen Bereichen schwierig sein, genügend Ak- sprechend ausgebildete Erwerbstätige positiv.
zeptanz für den Einsatz von Robotern zu fin- Gleichzeitig hat das mangelnde Wachstum bei
den. den Stellen mit mittleren Qualifikationsanfor-
derungen zu einem härteren Wettbewerb um
Arbeitsplattformen erhöhen die Stellen für gering qualifizierte Arbeitskräfte
geführt. Dies wiederum verringert den Lohnzu-
Flexibilität
wachs an diesem Ende des Spektrums. Wenn im
Die Innovationen verändern nicht nur die Zahl weiteren Verlauf kein markanter Kurswechsel
der Arbeitsplätze, sondern auch deren Struk- vorgenommen wird, werden deshalb in erster
tur. Internetplattformen wie Uber, Lyft, Me- Linie die Kapitaleigner – seien dies natürliche
chanical Turk und Task Rabbit, welche Auf- oder juristische Personen – von der technologi-
träge («Gigs») vermitteln, geben dank einer schen Entwicklung profitieren.
effizienteren Abstimmung von Angebot und Entscheidend ist, dass die künftigen Arbeits-
Nachfrage gewissen Arbeitskräften die Mög- kräfte über die notwendigen Kompetenzen ver-
lichkeit, entweder ihr Einkommen zu steigern fügen, einschliesslich der richtigen Ausbildung.
oder flexibler zu arbeiten. Diese neuen Jobs der Diesbezüglich ist die Ausgangslage in vielen
Plattformökonomie sind mittlerweile weitver- Ländern derzeit alles andere als gut. Über die
breitet. Gemäss einer US-Untersuchung hat Hälfte der Erwachsenen in den OECD-Staaten
die Zahl der «Gig Worker» von 2010 bis 2014 verfügt in Bezug auf Informations- und Kom-
um 48 Prozent zugenommen. In den Bereichen munikationstechnologien nicht über die grund-
Fahrdienstleistungen und Zimmervermietung legenden Kompetenzen, die für elementare
erhöhte sich das Volumen im gleichen Zeit- Aufgaben, wie beispielsweise die Informations-
raum um 10 Prozent.9 suche auf einer Website, erforderlich sind.11 Wei-
Arbeitsplätze innerhalb der Plattformökono- tere 14 Prozent verfügen über gar keine Compu-
mie beruhen mehr auf atypischer Arbeit als tra- tererfahrung.
ditionelle Stellen. Beispielsweise ermöglichen Mit einer angemessenen Arbeitsmarktpoli-
sie den Erwerbstätigen stückweises Arbeiten. tik muss sichergestellt werden, dass Arbeits-
Während Aufgaben früher zu einer Arbeitsstel- kräfte, die aufgrund der technologischen Ent-
le für einen Erwerbstätigen zusammengefasst wicklung ihre Stelle verlieren, problemlos einen
wurden, können sie nun aufgeteilt und an meh- neuen Arbeitsplatz finden und nicht in die Ar-
rere Personen vergeben werden. Dies bedeu- mut abgleiten. Möglicherweise ist die heutige
tet mehr Flexibilität für Arbeitgebende und Arbeitsmarktpolitik grundsätzlich ausreichend
Arbeitnehmende, lässt aber auch Bedenken zur und bedarf lediglich einiger geringfügiger An-
Arbeitsplatzqualität aufkommen. Vor allem ist passungen. Vielleicht ist aber auch eine um-
nicht in allen Fällen klar, wie solche Erwerbstä- fassende Überarbeitung erforderlich. Einzelne
tige einzustufen sind: Zählen sie als Selbststän- Länder haben jüngst nach neuen Lösungsansät-
digerwerbende oder als Angestellte? Zudem ist zen gesucht. Beispielsweise haben Finnland so-
teilweise unklar, wie der Schutz und die Rechte, wie einige subnationale Gebietskörperschaften
die normalen abhängigen Beschäftigten einge- in Kanada und in den Niederlanden mit einer 9 Hathaway und Murno
räumt werden, auf Plattform-Arbeitskräfte er- Art Grundeinkommen experimentiert. Aller- (2016).
10 Keeley (2015).
weitert werden können. dings gibt es noch offene Fragen zu den Kosten 11 OECD (2013).

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  9
DIGITALISIERUNG

des Programms und zur Möglichkeit, die Unter- mensbeihilfe für Arbeitslose und einem Fokus
stützungsleistungen den am stärksten benach- auf das lebenslange Lernen kombiniert werden,
teiligten Bevölkerungsgruppen zukommen zu tragen sie möglicherweise dazu bei, die Arbeit
lassen.12 Frankreich, wiederum, hat ein «Er- reibungslos den am besten geeigneten Berei-
werbstätigkeitskonto» eingeführt, in welchem chen zuzuweisen.
Arbeitskräfte während ihrer beruflichen Lauf- Diese politischen Massnahmen lassen sich
bahn – unabhängig vom Arbeitgeber – Fortbil- nicht als Einheitslösung umsetzen. In jedem
dungsanrechte sammeln können. Land müssen die politischen Entscheidungsträ-
ger die Bereitschaft der Bürger beurteilen. Sie
Fairer Arbeitsmarkt müssen sich fragen: Wo stehen wir? Wo liegt
das Ziel? Die Antworten werden unterschiedlich
Auch für jene Staaten, die keine Experimente ausfallen und dazu beitragen, einen Plan für die
wünschen, sind wirtschaftspolitische Lösun- erforderliche Entwicklung zu erarbeiten. Letzt-
gen vorhanden. Regierungen können beispiels- lich gibt es keine unvermeidlichen Ergebnisse:
weise den Arbeitsmarkt ausgewogener gestal- Wir entscheiden selber, wie wir unsere künftige
ten, indem sie den sozialen Dialog fördern sowie Arbeitswelt gestalten wollen. 12 OECD (2017b).
die Rechte und den Schutz für alle Erwerbstäti-
gen ausbauen. Um einen flexiblen Stellenmarkt
zu gewährleisten, können die politischen Ent-
scheidungsträger die Unterschiede bei den Ent-
lassungskosten zwischen den verschiedenen
Vertragsarten reduzieren und die Steuerbelas-
tung von den Lohnsteuern zu den Ertrags- oder
Konsumsteuern verlagern. Wenn diese politi- Duncan MacDonald
schen Massnahmen mit einer wirksamen Akti- Statistiker, Direktion Beschäftigung,
Arbeit und Sozialfragen, OECD, Paris
vierungspolitik, einer angemessenen Einkom-

Literatur
Acemoglu, D. und Restrepo, P. (2017). The Race Eurobarometer (2017). Attitudes Towards the OECD (2013). OECD Skills Outlook 2013: First Re-
Between Man and Machine: Implications of Impact of Digitisation and Automation on sults from the Survey of Adult Skills.
Technology for Growth, Factor Shares and Daily Life. OECD (2017a). OECD Employment Outlook
Employment, NBER Working Paper #22252. Frey, C. und M. Osborne (2013). The Future of 2017, Paris.
Arntz, M., T. Gregory und U. Zierahn (2016). The Employment: How Susceptible Are Jobs to OECD (2017b). Basic Income as a policy option:
Risk of Automation for Jobs in OECD Count- Computerisation? Oxford Martin School Wor- Can It Add Up?, Paris.
ries: A Comparative Analysis, OECD Social, king Paper. OECD (2017c). Getting Skills Right: Good Practi-
Employment and Migration Working Papers, Goos, M., Manning, A. und Salomons, A. (2014). ce in Adapting to Changing Skill Needs?, Paris.
Nr. 189, OECD Publishing, Paris. Explaining Job Polarization: Routine-biased OECD (2017d). Automation, Skills Use, and Trai-
Autor, D. (2015). Why Are There Still So Many Technological Change and Offshoring, Ameri- ning, Paris. Erscheint demnächst.
Jobs? The History and Future of Workplace can Economic Review, 104/8: 2509–2526. Remus, D. und Levy, F. S. (2016). Can Robots Be
Automation, in: Journal of Economic Perspec- Hathaway, I. und Murno, M. (2016). Tracking Lawyers? Computers, Lawyers, and the Prac-
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Autor, D. und Salomons, A. (2017). Robo­calypse Institute.
Now – Does Productivity Growth Threaten Keeley, B. (2015). Income Inequality: The Gap Bet-
Employment? NBER. ween Rich and Poor, OECD Publishing, Paris.

10  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

Schweizer Arbeitsmarkt gut aufgestellt


Die Digitalisierung bringt Chancen für den Schweizer Arbeitsmarkt. Damit der Struk-
turwandel möglichst reibungslos stattfindet, sind Anpassungen bei der Bildung nötig.   
Katharina Degen, Ursina Jud Huwiler

kungen der Digitalisierung auf den Arbeits-


Abstract  Der Bundesrat hat sich in einem Bericht vom 8. November 2017
mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt und den markt und den daraus entstehenden Heraus-
daraus entstehenden Herausforderungen für den Staat beschäftigt. Die forderungen für den Staat beschäftigt.1
Ausgangslage ist gut: Der Schweiz ist es bisher stets gelungen, den struk­ Obwohl sich die technischen Möglichkeiten
turellen Wandel zu ihren Gunsten zu nutzen. Die Beschäftigung ist in den der Automatisierung fortlaufend erweitern,
vergangenen zwanzig Jahren netto um über 860 000 Stellen gewachsen. ist nicht davon auszugehen, dass die Gesamt-
Zur Bewältigung der im Bildungsbereich identifizierten Herausforderun­ beschäftigung sinkt. Vielmehr hat der techno-
gen hat der Bundesrat gezielte Massnahmen beschlossen. Ferner ist zu
logische Fortschritt in der Schweiz jeweils zu
prüfen, inwieweit die neu entstandenen plattformbasierten Geschäfts­
modelle eine Anpassung der Rahmenbedingungen erfordern. einem robusten Beschäftigungswachstum bei-
getragen. Mit der Einführung neuer Technolo-
gien fielen in gewissen Bereichen zwar jeweils

D  ie Digitalisierung verändert zusam-


men mit anderen Trends die Arbeitswelt
grundlegend. Aktuell steht insbesondere die
Stellen weg, allerdings wurden diese durch
neu geschaffene Arbeitsplätze in anderen Tä-
tigkeitsfeldern stets überkompensiert. In den
Frage im Zentrum, wie sich die Digitalisierung letzten beiden Jahrzehnten entstanden auf
auf das Beschäftigungsniveau, die Beschäfti- diese Weise netto über 860 000 neue Jobs. Auf
gungsstruktur und die Arbeitsbedingungen Basis des aktuellen Wissens ist davon auszu-
auswirkt. Verschiedentlich wird befürchtet, gehen, dass die Digitalisierung ähnlich wie die
dass Maschinen und Roboter die menschli- bisherigen technologischen Basisinnovationen
che Arbeit zu grossen Teilen ersetzen werden. das gesamtwirtschaftliche Beschäftigungs-
In einem kürzlich veröffentlichten Bericht hat wachstum positiv beeinflussen wird.
sich der Bundesrat deshalb mit den Auswir-
Neue Tätigkeitsprofile und Arbeits-
Beschäftigungsanteile nach Tätigkeitsprofilen (1996 und 2015)
bedingungen
35    in % In den letzten Jahren hat sich die Beschäfti-
gung in der Schweiz in technologieorientier-
te und wissensintensive Bereiche verlagert.
BFS/SAKE, BESTA, BERECHNUNGEN RÜTTER SOCECO / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

30
Dies betrifft vor allem Tätigkeiten, in denen
25 die Technologien mehrheitlich komplementär
zur menschlichen Arbeit eingesetzt werden.
20 Fortschritte in der Robotik oder der Sensorik
oder die zunehmenden digitalen Vernetzungs-
15 möglichkeiten unter dem Stichwort «Internet
der Dinge» ermöglichen die Entstehung neuer
10 ­Tätigkeitsfelder und interdisziplinärer Berufe
wie beispielsweise «Datenarchitekt» und «Bio-
5 informatiker».
Nicht-Routine: Nicht-Routine: Routine: Routine: Nicht-Routine: Nicht-Routine: Noch ausgeprägter als die Verschiebungen
analytisch interaktiv ­kognitiv ­manuell manuell Service
zwischen den Berufen und Branchen waren die
  1996         2015       Veränderungen innerhalb der Berufe. So hatte

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  11
DIGITALISIERUNG

die fortschreitende Automatisierung insbeson- bereich. Wer auch in Zukunft auf dem Arbeits-
dere in der Industrie sowie im kaufmännischen markt gefragt sein will, muss die nachgefragten
und administrativen Bereich zur Folge, dass sich Kompetenzen vorweisen können. Dies bedeutet:
die Aufgabenbereiche der Beschäftigten zuneh- Die wirksamste Prävention  gegen Arbeitslosig-
mend in Richtung kognitive und interaktive keit liegt in der auf die Arbeitsmarktbedürfnisse
Nichtroutineaufgaben verschoben haben. Ent- ausgerichteten Bildung.3 Neben der Anpassung
sprechend gewannen beispielsweise Tätigkeiten des obligatorischen Schulstoffs und der an-
im Bereich Kommunikation, Führung, Planung schliessenden Bildungsgänge werden die Wei-
oder Beratung an Bedeutung, während repetiti- terbildung und das lebenslange Lernen an Be-
ve Aufgaben, die nach einem wiederkehrenden deutung gewinnen.
Schema erledigt werden können, zunehmend in Die Bestandsaufnahme zeigt, dass die
den Hintergrund traten (siehe Abbildung). Die- Schweiz auch hier gut gerüstet ist. Im Grund-
se Entwicklung dürfte sich in Zukunft fortset- satz liegt die Verantwortung für die voraus-
zen. Mit den veränderten Tätigkeitsprofilen war schauende und zielgerichtete Weiterbildung in
auch eine erhöhte Nachfrage nach qualifizier- der Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Darü-
ten Fachkräften auf Sekundär- und Tertiärstu- ber hinaus sind auch die Sozialpartner und der
fe verbunden. Staat gefordert, ihren Beitrag zu leisten. So hat
Die technischen Möglichkeiten der Digita- der Bundesrat kürzlich ein Konzept zur Förde-
lisierung verändern nicht nur die Produktions- rung von Grundkompetenzen am Arbeitsplatz
und Vertriebsprozesse, sondern erlauben eine für gering qualifizierte und ältere Arbeitneh-
zunehmende Flexibilisierung der Arbeitsbe- mende verabschiedet.
dingungen  – sowohl in zeitlicher wie auch ört-
licher Hinsicht. So sind Homeoffice und flexible Regulierung genügt grundsätzlich
Arbeitszeiten bereits in vielen Betrieben etabliert.
Daneben ermöglichen die neuen Technolo- Die aktuelle Dynamik am Arbeitsmarkt stellt
gien auch die Entstehung neuer Geschäftsmo- auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen auf
delle. Beispielsweise erleichtern internetbasier- den Prüfstand. Ermöglichen diese eine zufrie-
te Plattformen wie Upwork, Uber und Airbnb die denstellende Regelung von innovativen Arbeits-
Auslagerung und Vernetzung von Tätigkeiten. formen mit Wachstumspotenzial, und sind sie
Die Verbreitung dieser plattformbasierten Be- weiterhin in der Lage, eine gleichbleibend hohe
schäftigungsmöglichkeiten ist in der Schweiz  – Qualität der Arbeit zu gewährleisten? Grund-
ähnlich wie in den benachbarten Ländern – noch sätzlich zeichnet sich die Arbeitsmarktregu-
gering. Es liegen auch keine Hinweise vor, dass lierung in der Schweiz durch eine hohe Anpas-
sie zu einem Anstieg von «atypisch-prekären» sungsfähigkeit aus. Die aktuelle Regulierung
Arbeitsverhältnissen geführt haben.2 Ferner erleichterte bisher die Bewältigung von ver-
ist die Lohn- und Einkommensentwicklung im schiedensten Herausforderungen. So lässt sich
internationalen Vergleich weiterhin ausgewogen. beispielsweise das vergleichsweise junge Phä-
nomen der Telearbeit innerhalb des bestehen-
Bildung steht im Zentrum den Rahmens regeln.
Mit Blick auf die aktuelle Dynamik kann bei-
1 Auswirkungen der Digi- Die Entwicklungen im Zusammenhang mit der spielhaft erwähnt werden, dass das Arbeits-
talisierung auf Beschäf-
tigung und Arbeitsbe- Digitalisierung bergen neben Chancen auch Risi- recht verschiedene Arten von flexiblen Arbeits-
dingungen – Chancen
und Risiken, Bericht des
ken. Da es sich um einen laufenden Prozess han- einsätzen mit einem entsprechend abgestuften
Bundesrates vom 8. No- delt, sind die Auswirkungen der Digitalisierung Schutz ermöglicht. Gleichzeitig besteht etwa im
vember 2017.
2 Siehe dazu den Beitrag auf den Arbeitsmarkt noch nicht abschliessend Gesundheitsschutz und bei der Bekämpfung der
von Michael Mattmann, absehbar. Deshalb ist es wichtig, die Risiken im Schwarzarbeit ein zielgerichtetes Instrumen-
Ursula Walther, Ju-
lian Frank und Michael Blick zu halten und bei Bedarf gezielt anzugehen. tarium. Zudem wird mit der aktuellen Revision
­Marti auf Seite 24.
3 Siehe dazu den Beitrag Im Zusammenhang mit den sich verändern- des Datenschutzgesetzes der gestiegenen Be-
von Johannes Mure und den Kompetenzanforderungen bestehen in deutung des Schutzes von Arbeitnehmer- und
Barbara Montereale auf
Seite 27. erster Linie Herausforderungen im Bildungs- Arbeitgeberdaten Rechnung getragen. Ferner

12  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

wird im Parlament derzeit diskutiert, inwiefern zung zwischen selbstständiger und unselbst-
das Arbeitsgesetz an die flexibilisierte Arbeits- ständiger Erwerbstätigkeit. Abgesehen von den
welt anzupassen ist. laufenden Verfahren, die diesbezüglich bei den
Eine Schlüsselrolle im Gefüge der Arbeits- Gerichten hängig sind, lohnt es sich, grundsätz-
marktregulierung spielen die Sozialpartner, liche Überlegungen anzustellen. International
die heute in allen zentralen arbeitsmarktlichen wird derzeit breit diskutiert, inwieweit die star-
Gebieten institutionell eingebunden sind. So re Unterscheidung zwischen selbstständiger
bestehen tripartite Gremien zur Definition von und unselbstständiger Erwerbstätigkeit noch
Bildungsinhalten in der Berufsbildung und zu gerechtfertigt oder weiterzuentwickeln ist. Es
Fragen der Arbeitszeitgestaltung, der Arbeits- ist zu prüfen, wie die heutigen Regelungen etwa
losenversicherung und der Arbeitsmarktbeob- im Sozialversicherungsrecht im Interesse der
achtung. Diese Rolle sollen die Sozialpartner Entstehung von neuen Arbeitsformen flexibili-
gemäss dem Bundesrat auch in Zukunft wahr- siert werden können, ohne dass damit eine Pre-
nehmen. Sollte sich die Plattformbeschäfti- karisierung und eine Lastenverschiebung auf
gung mit den eher kurzen und insofern eher die Allgemeinheit einhergehen.
losen Arbeitsverhältnissen flächendeckend
durchsetzen, wäre deshalb beispielsweise zu Herausforderungen für die Sozial-
klären, ob es für die Sicherstellung der Arbeit-
versicherungen?
nehmerinteressen gewisse rechtliche Anpas-
sungen braucht. Vor dem Hintergrund neuer Automatisierungs-
Darüber hinaus stellen sich im Sozialversi- möglichkeiten und einer veränderten Art der Lernen, lernen, lernen.
cherungs- und Arbeitsrecht Fragen zur Abgren- Arbeitserbringung rückt auch die Frage in Eine gute Ausbildung
hilft bei der Jobsuche.

ISTOCK

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  13
DIGITALISIERUNG

den Vordergrund, welche Auswirkungen der Insgesamt befindet sich die Schweiz in einer
Strukturwandel im Zusammenhang mit der ausserordentlich guten Ausgangslage, um auch
Digitalisierung auf das System der sozialen die Herausforderungen des aktuellen Struktur-
Sicherheit hat. Aktuelle Analysen zeigen, dass wandels erfolgreich zu bewältigen. Aktuell zeigt
die zentralen Herausforderungen für die So- sich auf gesetzgeberischer Ebene kein grundle-
zialversicherungen, insbesondere die Alters- gender Handlungsbedarf. Im Zentrum stehen
vorsorge, in der demografischen Alterung und vielmehr die Anpassung der Bildungsinhalte an
nicht in der technologischen Entwicklung lie- die neuen Anforderungen sowie eine punktuel-
gen. le Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen.
Es lassen sich derzeit keine negativen Aus- Darüber hinaus ist die Entwicklung der Arbeits-
wirkungen der Digitalisierung auf das System verhältnisse und der Arbeitsbedingungen eng
der sozialen Sicherheit erkennen. Weder die zu verfolgen, und es ist laufend zu prüfen, ob die
Entwicklung der Erwerbslosigkeit noch jene geltenden gesetzlichen Regelungen weiterhin
der Sozialhilfebezüger legen nahe, dass die den konkreten Bedürfnissen entsprechen.
Sozialwerke infolge des aktuellen Struktur-
wandels stärker belastet werden. Eher trifft
das Gegenteil zu, zumal das Beschäftigungs-
und Lohnwachstum der letzten Jahrzehn-
te auch zu höheren Beiträgen zuhanden der
sozialen Sicherheit geführt hat. Wie sich die
Digitalisierung und die weiteren Treiber des
Strukturwandels in Zukunft auf das System
Katharina Degen Ursina Jud Huwiler
der sozialen Sicherheit auswirken werden, PhD in Economics, wis- Dr. phil., stv. Leiterin
ist  –  ähnlich wie die Beschäftigungsentwick- senschaftliche Mitarbei- Leistungsbereich
lung – nicht im Detail absehbar. Entscheidend terin, Ressort Arbeits- Personenfreizügigkeit
marktanalyse und und Arbeitsbeziehungen,
ist auch in diesem Kontext, dass das ausdiffe- Sozialpolitik, Staatsse- Staatssekretariat für
renzierte Sozialversicherungssystem sich bis- kretariat für Wirtschaft Wirtschaft (Seco), Bern
(Seco), Bern
her als sehr anpassungsfähig erwiesen hat.

14  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


DIGITALISIERUNG

Wissensintensive Branchen
schaffen Stellen
Seit Mitte der Neunzigerjahre hat die Zahl der Beschäftigten in der Schweiz um ein
Fünftel zugenommen. Im Zuge der Digitalisierung wurden zahlreiche Jobs in wissens-
intensiven Branchen geschaffen, während Routinetätigkeiten zurückgegangen sind.   
Carsten Nathani, Corina Rieser, Pino Hellmüller

Abstract    Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um die Aus- faktoren sowie auf Literaturrecherchen und
wirkungen der Digitalisierung und Automatisierung auf die Beschäfti- Unternehmensfallstudien.
gung in der Schweiz hat das Forschungsunternehmen Rütter Soceco im
Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) untersucht, wie
der Strukturwandel in den letzten zwanzig Jahren verlaufen ist, welches Dienstleistungssektor wächst
die wesentlichen Treiber waren und welche Auswirkungen dies auf den
Zwischen 1996 und 2015 ist die Beschäftigung
Arbeitsmarkt hatte. Die Studienergebnisse zeigen, dass sich sowohl die
Branchenstruktur als auch Qualifikation und berufliche Tätigkeiten der in der Schweiz um 19 Prozent auf knapp 4 Mil-
Beschäftigten stark verändert haben. Der Anteil der Beschäftigten mit lionen Vollzeitäquivalente gestiegen, wobei
hoher Qualifikation und Tätigkeiten mit geringer Routineintensität ist das Wachstum ausschliesslich auf den Dienst-
deutlich gewachsen. Die wesentlichen Ursachen waren der technische leistungssektor zurückzuführen ist. Während
Wandel und in geringerem Umfang Globalisierung und Veränderungen der Industriesektor die Zahl der Beschäftigten
der Güternachfrage. Infolge eines sehr guten Bildungssystems, eines
knapp halten konnte, verzeichnete der Primär-
flexiblen und durchlässigen Arbeitsmarktes und des Zugangs zu spezia-
lisierten Arbeitskräften im Ausland konnte die Schweiz die Folgen des
sektor einen Rückgang von 30 Prozent.
Strukturwandels insgesamt gut bewältigen. Im Jahr 2015 stellte der Dienstleistungssek-
tor fast drei Viertel aller Beschäftigten. Seit Mit-
te der Neunzigerjahre haben einerseits staats-

W   ie in den meisten Industriestaaten ist


der Arbeitsmarkt auch in der Schweiz
durch einen Strukturwandel hin zur Dienst-
nahe Branchen wie das Gesundheits- und
Sozialwesen, das Bildungswesen und die öffent-
liche Verwaltung ihre Beschäftigung deutlich
leistungsgesellschaft geprägt. Angesichts der ausgeweitet. Andererseits legten auch die wis-
raschen Fortschritte im Zuge der Digitalisie- sensintensiven Dienstleistungsbranchen stark
rung – beispielsweise bei der künstlichen Intel- zu (siehe Abbildung 1). Einige Branchen wie die
ligenz, bei Big Data oder in der Robotik – wird IT-Dienstleistungen profitierten dabei direkt
intensiv diskutiert, ob in Zukunft ein erhebli- von der Digitalisierung.
cher Teil der Arbeit durch Maschinen ausge- Im Vergleich zur übrigen OECD sticht in
führt werden könnte und welche Auswirkun- der Schweiz die konstante Entwicklung des In-
gen dies auf den Arbeitsmarkt hätte. dustriesektors positiv hervor. Innerhalb die-
Vor diesem Hintergrund haben wir im Auf- ses Sektors wuchs die Beschäftigung seit 1996
trag des Staatssekretariats für Wirtschaft im Baugewerbe, während sie im verarbeiten-
(Seco) untersucht, wie der Strukturwandel im den Gewerbe zurückging. Besonders ausge-
Schweizer Arbeitsmarkt zwischen 1996 und prägt war der Rückgang in Lowtech-Branchen
2015 verlaufen ist.1 Die Ergebnisse basieren wie der Textil- und Bekleidungsindustrie oder
auf Längsschnittanalysen diverser Beschäf- der Holz-, Papier- und Druckindustrie. In High-
1 Nathani et al. (2017). tigungsstatistiken, auf der Schweizerischen tech-Branchen wie der Pharmaindustrie und
2 Vgl. auch Bouchiba- Arbeitskräfteerhebung (Sake), auf einer Kom- der Sparte «Elektronik, Optik, Uhren» stieg die
Schaer und Weber
(2017). ponentenzerlegung zur Analyse der Einfluss- Zahl der Stellen hingegen.

16  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

Anforderungsniveau steigt beim Rückgang der handwerklichen und ma-


schinennahen Berufe spielten wahrscheinlich
Der Strukturwandel zeigt sich auch bei den Be- der technische Wandel, insbesondere die Auto-
rufen. So nahm der Beschäftigungsanteil von matisierung, sowie in kleinerem Ausmass auch
Berufen mit hohen Anforderungsniveaus seit die Globalisierung eine Rolle.
Mitte der Neunzigerjahre deutlich zu, wäh- Um den direkten Beitrag des technischen
rend er bei Berufen mit mittleren Anforderun- Wandels besser zu erfassen, haben wir die Beru-
gen sank und bei Berufen mit geringen Anforde- fe gemäss ihrer Routineintensität klassifiziert.
rungen konstant blieb.2 Mit den Anforderungen Zu den Routinetätigkeiten zählen Aufgaben, die
stieg auch die Qualifikation: Der Anteil der hoch einem vorgegebenen Ablauf folgen und deshalb
qualifizierten Arbeitskräfte hat deutlich zuge- besser für Maschinen kodifizierbar sind.
nommen, während er bei gering und mittel qua- Die Analyse zeigt: In Berufen mit einer ho-
lifizierten gesunken ist. hen Routineintensität hat sich die Beschäfti-
Diese Trends sind grundsätzlich auch in den gung in den beiden letzten Jahrzehnten unter-
einzelnen Branchen zu beobachten. Allerdings durchschnittlich entwickelt. Ihr Anteil an der
gibt es eine grosse Bandbreite zwischen Bran- Gesamtbeschäftigung sank von 36 Prozent im
chen mit geringen Veränderungen – wie bei- Jahr 1996 auf 24 Prozent im Jahr 2015. Stark zu-
spielsweise dem Baugewerbe – und solchen mit genommen hat hingegen der Anteil der Beschäf-
erheblichen brancheninternen Verschiebun- tigten in hoch qualifizierten Berufen mit gerin-
gen wie dem Finanzsektor. Der starke Rückgang ger Routineintensität, bei denen überwiegend
von Bürokräften kann direkt mit der Compute- Software-Spezia-
analytische oder interaktive Tätigkeiten ausge-
risierung in Verbindung gebracht werden. Auch listen sind gefragte übt werden. Ihr Anteil stieg von 38 Prozent auf
Arbeitskräfte.

SHUTTERSTOCK

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  17
DIGITALISIERUNG

50 Prozent. Bei eher gering qualifizierten Be- Bei den Niveaueffekten zeigt sich, dass die-
rufen mit geringer Routineintensität wie bei- se in allen untersuchten Berufsgruppen die Be-
spielsweise Gebäudeelektrikern und Kellnern, schäftigung gesteigert haben, wobei das Nach-
bei denen manuelle oder serviceorientierte Tä- fragewachstum pro Kopf wichtiger war als das
tigkeiten charakteristisch sind, stagnierte der Bevölkerungswachstum (siehe Abbildung 2). Die
Beschäftigungsanteil bei 26 Prozent. verschiedenen branchenübergreifenden Struk-
tureffekte waren hingegen in allen Gruppen
Niveau-, Struktur- und Branchen­ beschäftigungsmindernd. Dies gilt besonders
stark für manuelle Routineberufe. Ausschlag-
effekte
gebend war dabei vor allem, dass sich die Gü-
Hinweise auf mögliche Ursachen dieser Ent- ternachfrage zu Produkten verschoben hat, für
wicklungen gibt eine sogenannte Komponen- die weniger manuelle Routinetätigkeiten benö-
tenzerlegung. Dazu haben wir die Veränderung tigt werden. Die gestiegene Arbeitsproduktivität
der Beschäftigung zwischen 1997 und 2014 zu hat naturgemäss zu einem Beschäftigungsrück-
den drei Faktorgruppen Niveaueffekte, bran- gang in allen Gruppen geführt – besonders aus-
chenübergreifende Struktureffekte und bran- geprägt war dieser in Routineberufen und ser-
cheninterne Effekte zusammengefasst. viceorientierten Nichtroutineberufen. Bei den
Die Niveaueffekte beinhalten das Wachs- brancheninternen Effekten zeigten sich ausser-
tum der Bevölkerung und der Güternachfrage dem deutliche Verlagerungen von routineinten-
pro Kopf. Branchenübergreifende Strukturef- siven Berufen zu interaktiven Berufen mit ge-
fekte umfassen die Veränderung der Zusam- ringer Routineintensität.
mensetzung der in der Volkswirtschaft nach-
gefragten Güter, der Importanteile in den Technischer Wandel als Treiber
einzelnen Gütergruppen und der Wertschöp-
fungstiefe der Branchen. Zu den branchen- Insgesamt hat die Beschäftigung zwischen 1997
internen Effekten gehören schliesslich die Ver- und 2014 deutlich zugenommen, und zwar auch
änderung der Arbeitsproduktivität sowie die wenn man das Bevölkerungswachstum aus-
der Beschäftigungsanteile von Berufsgruppen klammert. Allerdings wäre die Beschäftigung
mit unterschiedlichem Routineprofil innerhalb bei den Routineberufen ohne den Bevölke-
der Branchen. rungsanstieg deutlich stärker zurückgegangen.
Wichtige Treiber für die oben beschriebenen
Entwicklungen waren der technische Wandel,
Abb. 1: Beschäftigungsentwicklung nach Technologieorientierung und insbesondere die Digitalisierung und die Auto-
Wissensintensität (1996–2015) matisierung, sowie in geringerem Umfang die
175    Index (1996=100)
Globalisierung und die Veränderungen der Gü-
ternachfrage infolge des demografischen Wan-
BFS: BESTA, BZ, STATENT; BERECHNUNG: RÜTTER SOCECO / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

dels und veränderter Konsumpräferenzen. Der


150
technische Wandel und die Globalisierung wir-
ken dabei über verschiedene Einflusskanäle. So
125 führt der technische Wandel zu einer Abnahme
von routineintensiven Berufen, da solche Tätig-
100 keiten von Maschinen übernommen werden.
Gleichzeitig nehmen Nichtroutineberufe zu, da
75 hier die Technologien ergänzend wirken.
Über die Steigerung der Arbeitsproduktivi-
tät und die Verlagerung von arbeitsintensiven
50
1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Tätigkeiten ins Ausland wirken der technische
Wandel und die Globalisierung einerseits zwar
Verarbeitendes Gewerbe:     Lowtech       Mediumtech       Hightech     beschäftigungssenkend. Andererseits sorgen
Dienstleistungen:     nicht wissensintensiv       wissensintensiv sie indirekt aber für beschäftigungssteigern-

18  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

Abb. 2: Beschäftigungsveränderung nach Einflussfaktoren und Tätigkeitsprofil (1997–2014)


500     Beschäftigte (in 1000 Vollzeitäquivalenten)
Lesebeispiel: Die Be-
schäftigtenzahl in Beru-
400 fen mit dem Tätigkeits-
profil «Nicht-Routine:
300 analytisch» ist zwi-
schen 1997 und 2014 um
200 193 000 gestiegen. Das
Bevölkerungswachstum
hat dazu einen Beitrag
100
von 91 000 Beschäftig-

BFS, SAKE; BERECHNUNG RÜTTER SOCECO


ten geleistet. Die mit
0 dem Wirtschaftswachs-
tum gestiegene Güter-
–100 nachfrage pro Kopf hat
zu einem Zuwachs um
–200 139 000 Beschäftig-
Gesamtveränderung Bevölkerung Güternachfrage Struktureffekte Arbeitsproduktivi- Tätigkeitsanteil te geführt. Wegen der
(Niveaueffekte) (Niveaueffekte) tät (brancheninterne (brancheninterne gestiegenen Arbeits-
Effekte) Effekte) produktivität ist die
Tätigkeitsprofil der Berufe Zahl der Beschäftigten
Nicht-Routine:     analytisch (z. B. Chemiker)       interaktiv (z. B. Führungskräfte)       manuell (z. B. Gebäudeelektriker)       Service (z. B. Kellner) in dieser Gruppe um
Routine:     kognitiv (z. B. Schreibkräfte)       manuell (z. B. Maschinenschlosser) 19 000 gesunken.

de Wachstumsimpulse. Denn sowohl die Stei- wandels wurde auch dadurch erleichtert, dass
gerung der Arbeitsproduktivität infolge des die berufliche Mobilität zwischen Branchen
technischen Wandels als auch das Offshoring und zwischen Berufen relativ ausgeprägt ist.
im Rahmen der Globalisierung führen zu einer Allerdings bleibt der Fachkräftemangel, ins-
besseren Wettbewerbsfähigkeit von Schweizer besondere in technischen und naturwissen-
Unternehmen und zu steigenden Realeinkom- schaftlichen Berufen, im Management und im
men der privaten Haushalte. Dadurch wächst Gesundheits- und Sozialwesen, eine anhalten-
die Wirtschaft. de Herausforderung für Wirtschaft und Poli-
Insgesamt verlief der Strukturwandel tik.
mit einer Geschwindigkeit, die eine Anpas-
sung durch Unternehmen und Arbeitskräf-
te möglich machte. Zudem erfolgte der Struk-
turwandel bei wachsender Bevölkerung und
Wirtschaft, was die Bewältigung ebenfalls er-
leichterte, da der Rückgang von Branchen, Be-
rufen und Qualifikationen im wachsenden
Umfeld abgefedert wurde.
Zur erfolgreichen Bewältigung des Struk- Carsten Nathani Corina Rieser Pino Hellmüller
turwandels hat unter anderem das sehr gute Dr. rer. pol., Mitglied der Projektleiterin, Wissenschaftlicher
Geschäftsleitung, Rütter Rütter Soceco, Rüschlikon Mitarbeiter, Rütter
Aus- und Weiterbildungssystem beigetra- Soceco, Rüschlikon ­Soceco, Rüschlikon
gen, indem es die Qualifikationsstruktur der
Arbeitskräfte verbesserte. Hilfreich waren
Literatur
zudem die Innovationskraft und die Wettbe-
Bouchiba-Schaer, S., Weber, B. (2017). Struktur- Nathani, C., Hellmüller, P., Rieser, C., Hoff, O.,
werbsfähigkeit der Schweizer Unternehmen wandel dank hoch qualifizierten Arbeitskräf- Nesarajah, S. (2017). Ursachen und Auswir-
ten gut gemeistert, in: Die Volkswirtschaft, kungen des Strukturwandels im Schweizer
sowie die guten wirtschaftlichen Rahmen- 10/2017: 49–51. Arbeitsmarkt, Schlussbericht an das Staatsse-
bedingungen. Die Bewältigung des Struktur- kretariat für Wirtschaft.

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  19
DIGITALISIERUNG

Berufe passen sich der Digitalisierung an


Der Schweizer Arbeitsmarkt reagiert auf die Digitalisierung. So wird beispielsweise in
der Berufslehre mehr Wert auf Sozial- und Fachkompetenzen gelegt. Exemplarisch zeigt
sich dies bei Gebäudetechnikplanern und Hotelfachleuten.  Jürg Schweri, Rolf Iten

Lernenden einen Excel-Kurs, um in der Anwen-


Abstract  Der Schweizer Arbeitsmarkt und das Bildungssystem haben den
Strukturwandel in den vergangenen zehn Jahren gut bewältigt, wie eine dung des Tools und im Umgang mit Makros si-
Studie des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung (EHB) cher zu sein.
und des Forschungs- und Beratungsunternehmens Infras im Auftrag des Da Bauwerksdaten heute mit einer «Building
Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zeigt. Im Prozess der Anpassung Information Modeling»-Software allen am Bau
an neue digitale Technologien gewinnen sowohl übergreifende Kompe- und Unterhalt beteiligten Akteuren zur Verfü-
tenzen als auch berufliche Fachkompetenzen an Bedeutung. Exempla- gung gestellt werden können, haben sich beispiels-
risch lässt sich dies bei den Berufen Gebäudetechnikplaner mit Fachrich-
weise der Austausch der Gebäudetechnikplaner
tung Heizung sowie bei Hotelfachleuten beobachten. Bei beiden Berufen
ist die Bedeutung von kommunikativen und sozialen Kompetenzen gestie- aller Fachrichtungen sowie die Kommunikation
gen: Während bei Gebäudetechnikplanern die Zusammenarbeit mit ande- mit anderen Technikern wie beispielsweise Elek-
ren Technikern immer wichtiger wird, verlangen unter anderem Internet- troplanern verbessert. Für die Gebäudetechnik-
bewertungen nach einem kompetenten Umgang des Hotelpersonals mit planer ist weiter das Fachwissen in der Mess- und
den Gästen. Gleichzeitig sind aufgrund von neuen Geräten und Applikatio- Regeltechnik sowie bei der «Gebäudeleitautoma-
nen Fachkompetenzen verlangt. tion» wichtiger geworden. Die Einführung von
intelligenten Stromnetzen, sogenannten Smart
Grids, bedeutet die kommunikative Vernetzung

G  emäss einigen Studien könnte die Digitali-


sierung zu disruptiven Umwälzungen und
dem Verlust einer grossen Anzahl von Stellen
und Steuerung von Stromerzeugern, Speichern,
elektrischen Verbrauchern und Netzbetriebsmit-
teln. Auch hierzu mussten sich die Gebäudetech-
und Berufen auf dem Arbeitsmarkt führen. Auf nikplaner in den letzten Jahren neues Fachwissen
dem Schweizer Arbeitsmarkt fand der Wandel aneignen. Schliesslich haben sich die Sitzungsfor-
in den vergangenen zehn Jahren indes kontinu- men verändert: Heute werden für Sitzungen Tab-
ierlich statt, wie unsere Studie (siehe Kasten) im lets, Laptops etc. eingesetzt, und die Zusammen-
Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft arbeit kann über Clouds erfolgen, was gewisse
(Seco) zeigt. Berufsbilder wie Beschäftigte ha- IT-Kompetenzen voraussetzt.
ben sich dem Wandel laufend angepasst, so-
dass auf dem Arbeitsmarkt kaum Friktionen er- Hotelfachleute müssen Social
kennbar sind. Die Veränderungen lassen sich
Media beherrschen
exemplarisch bei den zwei Berufen Gebäude-
technikplaner mit Fachrichtung Heizung1 sowie Weitere technologische Entwicklungen zeich-
Hotelfachleute2 beobachten, die wir in einem nen sich für die Zukunft ab, auch wenn noch
Expertenworkshop analysiert haben. nicht feststeht, ob sie sich durchsetzen werden:
In den letzten zehn Jahren hat sich der Beruf Mögliche Zukunftstechnologien sind Scanner
der Gebäudetechnikplaner mit Fachrichtung zum digitalen Erfassen von Räumen oder Ap-
Heizung stark verändert. Informatikkompeten- plikationen, mit denen geplante Gebäude in der
zen sind wichtiger geworden: Während Pläne Planungsphase virtuell begangen werden kön-
früher von Hand gezeichnet wurden, sind heu- nen. Die Zusammenarbeit mit anderen Fach-
te mit Computer-Aided-Design-Programmen leuten – beispielsweise bei der Energieoptimie-
1 G ebäudetechnik­ (CAD) erstellte Modelle aus dem Berufsalltag rung – dürfte sich dabei weiter vertiefen.
planer/-in Heizung EFZ.
2 Hotelfachfrau/-mann
nicht mehr wegzudenken. Ein Experte berichte- Die Digitalisierung beeinflusst auch die Arbeit
EFZ. te im Workshop, in seiner Firma besuchten alle von Hotelfachleuten, welche unter ­ anderem

20  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

ALAMY
Zufrieden mit dem
­Hotelbesuch? Der
­ äste empfangen und bedienen sowie Gäste-
G Auftritt des P­ ersonals ­ udem müssen sie digitale Zahlungsmöglich-
Z
zimmer und Aufenthaltsräume unterhalten. So ­beeinflusst die Gäste­ keiten kennen und sich der Sicherheitsrisiken
werden Checklisten, Zimmerstände und Bestel- bewertungen im bewusst sein. Mögliche Zukunftsperspektiven
­Internet.
lungen heute in der Regel digital bewirtschaftet. sind laut den Experten am Workshop der Ein-
Die Interaktion und die Kommunikation mit den satz von Robotern in der Küche und am Emp-
Gästen wirken sich auf die Onlinebewertung des fang. In den Hotelzimmern regulieren intelli-
Betriebs aus: Ein Fehler des Personals kann sofort gente Systeme anhand der Körpertemperatur
zu einer schlechten Bewertung führen. Deshalb und anderer Indikatoren die Raumtempera-
wird heute von den Hotelfachleuten einerseits tur, die Beleuchtung etc. automatisch. Dank der
mehr Empathie, andererseits auch Know-how im technologischen Unterstützung werden für die
Umgang mit Social Media und Buchungsplatt- Hotelfachleute mehr Kapazitäten für die Betreu-
formen gefordert. Solche Herausforderungen ung der Gäste frei, um deren Hotelaufenthalt zu
nimmt der neu geschaffene Beruf «Hotel-Kom- einem individuellen und unvergesslichen Erleb-
munikationsfachfrau/-mann» auf, bei dem ver- nis werden zu lassen.
tiefte Sprachkenntnisse, Social-Media-Kompe-
tenz und individualisierte Gästekommunikation Spezifische und fachübergreifende
verlangt sind.
Kompetenzen
Hotelfachleute müssen den Umgang mit
komplexen Reinigungsmaschinen und Gerä- Sowohl bei Gebäudetechnikplanern als auch
ten wie Tablets beherrschen, die für die G ­ äste bei Hotelfachleuten zeigt sich die zunehmende
in den Hotelzimmern zur Verfügung stehen. Bedeutung von kommunikativen und sozialen

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  21
DIGITALISIERUNG

Kompetenzen. Sowohl die Kooperation mit an- verändern sich mit der Technologie die Anwen-
deren Fachleuten wie auch die Kommunikation dungssituationen, in denen sowohl übergreifen-
mit Kunden gewinnt laut den Experten an Be- de wie Fachkompetenzen kombiniert eingesetzt
deutung. Für solche Aufgaben bleibt mehr Zeit, werden müssen.
weil die klassischen Arbeitsschritte (Planung,
Reinigung usw.) durch neue Technologien ra- Technologische Entwicklungen
scher und effizienter erledigt werden können.
schaffen neue Arbeitsplätze
Während soziale Kompetenzen zu den fach-
übergreifenden Kompetenzen gehören, zeigt sich In Bezug auf die Veränderung der Stellenzahl
zugleich, dass sich auch spezifische Fachkompe- in einem Beruf ist entscheidend, ob die digi-
tenzen verändern. Der allgemeine Umgang mit talen Technologien die menschliche Arbeits-
Software wie Excel und Hardware wie Tablets kraft eher ersetzen oder ergänzen. Erfahrun-
ist in vielen Berufen wichtig, jedoch finden sich gen aus Umbrüchen im 20. Jahrhundert zeigen,
auch viele Beispiele für spezifische digitale An- dass technologische Entwicklungen bislang net-
wendungen wie CAD-Programme und Buchungs- to mehr Arbeitsplätze geschaffen als vernichtet
plattformen, die in den berufstypischen Situatio- haben.3 Offen ist natürlich, ob diese Erfahrun-
nen kompetent eingesetzt werden müssen. gen weiterhin Gültigkeit besitzen. Bisher lässt
3 A
utor (2015) diskutiert
die einschlägige Lite- Die Digitalisierung führt somit nicht zu einer sich sagen: In den letzten zehn Jahren ist die Be-
ratur und präsentiert
Daten insbesondere zu
Entwertung von Fachkompetenzen zugunsten schäftigung in der Schweiz angestiegen und die
den Jahrzehnten. von übergreifenden Kompetenzen. Stattdessen Arbeitslosigkeit ungefähr konstant geblieben.

Veränderung der Vollzeitäquivalente nach Tätigkeitsdimension in der Schweiz (2006–2015)

140     Gearbeitete Vollzeitäquivalente (2006=100)

SAKE, DMP (^), BERECHNUNGEN AEPLI ET AL. (2017)


120

100

80
2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

Nicht-Routine:     analytisch       interaktiv       manuell


Routine:     kognitiv       manuell   

Die vier Bausteine der Studie


Im Auftrag des Staatssekretariats für änderungen von Berufen, Tätigkeiten und einerseits um Personen mit Überblicks-
Wirtschaft (Seco) haben das Eidgenös- Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt von wissen zum ausgewählten Beruf. An-
sische Hochschulinstitut für Berufsbil- 2006 bis 2015. Drittens Experteninter- dererseits sind es Personen, welche die
dung (EHB) und das Forschungs- und Be- views zu den beobachteten Änderun- Trägerschaft bzw. die Organisation der
ratungsunternehmen Infras gemeinsam gen der Kompetenzanforderungen. Und Arbeitswelt des ausgewählten Berufs ver-
untersucht, wie sich die Anforderungen viertens wurden in einem Expertenwork- treten, sowie Personen, die selbst im aus-
an die Kompetenzen auf dem schweize- shop die Veränderungen der Kompetenz- gewählten Beruf tätig sind.
rischen Arbeitsmarkt im Zuge der Digi- anforderungen anhand von fünf Berufen a Aepli, M., Angst, V., Iten, R., Kaiser, H.,
talisierung entwickelt haben.a Die Stu- exemplarisch vertieft. Hierfür wurden ­Lüthi, I. und Schweri, J. (2017). Die Entwick-
die umfasst vier Bausteine: erstens eine fünf Berufe ausgewählt, in denen sich ge- lung der Kompetenzanforderungen auf
dem Arbeitsmarkt im Zuge der Digitalisie-
Literaturanalyse zu den Auswirkungen mäss Erfahrungswissen des Zentrums für
rung, Studie im Auftrag des Seco (Arbeits-
der Digitalisierung auf dem Arbeitsmarkt Berufsentwicklung am EHB in den letzten marktpolitik No 47).
international und in der Schweiz. Zwei- Jahren deutliche Entwicklungen gezeigt
tens eine statistische Analyse zu den Ver- haben. Bei den Experten handelt es sich

22  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

Um zu untersuchen, wie und warum sich gewachsen sind die kognitiven Routinetätigkei-
die Berufe insgesamt verändern, eignet sich ten («Rechnungen überprüfen»), während die
ein tätigkeitsbasierter Ansatz.4 Berufe werden manuellen Routinetätigkeiten («Produkte ver-
dabei als Bündel von Tätigkeiten verstanden, packen») rückläufig waren.
die von der Digitalisierung ganz verschieden Die stetige Entwicklung zeigt, wie die tech-
betroffen sein können. Da keine schweizeri- nologische Entwicklung laufend die Bedeutung
schen Daten vorliegen, verwendeten wir für die verschiedener Tätigkeiten auf dem Arbeits-
­Analyse detaillierte ­Tätigkeitsbeschreibungen markt beeinflusst. Vertiefende Analysen be-
aus Deutschland und übertrugen sie auf die stätigen, dass sich sowohl die Tätigkeiten in-
Schweiz.5 Experten haben diese pro Beruf in nerhalb der Berufe verändern wie auch die
die Kategorie Routinetätigkeiten oder Nicht- Beschäftigungsanteile zwischen den Berufen
Routinetätigkeiten eingeteilt: Während Routi- verschieben, in Abhängigkeit von den Tätigkei- 4 A utor (2013).
netätigkeiten automatisierbar sind, ist dies bei ten, die den Beruf ausmachen. 5 Dengler et al. (2014).
Nicht-Routinetätigkeiten gemäss dem aktuellen
Stand der Technik nicht möglich. Diese Unter-
scheidung erlaubt eine direkte Aussage darüber,
ob die entsprechende Tätigkeit durch digitale
Technologien statt durch den Menschen ausge-
übt werden kann.
In den letzten zehn Jahren ist die Beschäf-
tigung bei den analytischen und interaktiven
Jürg Schweri Rolf Iten
Nicht-Routinetätigkeiten in der Schweiz am Prof. Dr. rer. oec., Dr. oec. publ., Geschäfts-
stärksten gestiegen (siehe Abbildung). Dazu ge- Co-Leiter Forschungs- leiter und Partner Infras,
schwerpunkt Steuerung Zürich
hören Tätigkeiten wie  «Kunden beraten» oder
der Berufsbildung, Eid-
den «Betriebsmitteleinsatz planen». Weniger genössisches Hochschul-
stark legten die manuellen Nicht-Routinetätig- institut für Berufsbildung
(EHB), Zollikofen
keiten (z. B. «Maschinen warten») zu. Ebenfalls

Literatur
Autor, D. (2013). The «Task Approach» to Labor Autor, D. (2015). Why Are There Still So Many Dengler, K., Matthes, B. und Paulus, W. (2014).
Markets: An Overview, in: Journal of Labour Jobs? The History and Future of Workplace Berufliche Tasks auf dem deutschen Arbeits-
Market Research, 46(3): 185–199. Automation, in: Journal of Economic Perspec- markt. Eine alternative Messung auf Basis
tives, 29(3): 3–30. einer Expertendatenbank, FDZ-Methoden-
report Nr. 12. Nürnberg: Bundesagentur für
Arbeit.

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  23
DIGITALISIERUNG

Anteil der «atypischen-prekären»


Jobs bleibt stabil
Arbeit auf Abruf, befristete Verträge und Praktika: Rund 2,5 Prozent der Erwerbstäti-
gen in der Schweiz arbeiten in einem sogenannten atypisch-prekären Arbeitsverhält-
nis. In den letzten Jahren blieb diese Quote stabil.  Michael Mattmann, Ursula Walther,
Julian Frank, Michael Marti

des Arbeitnehmers unfreiwillig in Kauf genom-


Abstract  Vor dem Hintergrund des sich verändernden Arbeitsmarktes in-
men wird, spricht man von einem sogenannten
teressiert die Entwicklung der atypisch-prekären Arbeitsverhältnisse in
der Schweiz. Ein Arbeitsverhältnis definieren wir dann als atypisch-prekär, atypisch-prekären Arbeitsverhältnis. Prekär sind
wenn relative Unsicherheit vorhanden ist, die nur unfreiwillig in Kauf ge- die Arbeitsverhältnisse gemäss der hier verwen-
nommen wird. Vergangenes Jahr waren in der Schweiz 113 000 Personen in deten Definition (siehe Kasten), wenn die Unsi-
einem atypisch-prekären Arbeitsverhältnis tätig, was 2,5 Prozent aller Er- cherheiten monetär nicht abgegolten werden.1
werbstätigen entspricht. Seit 2010 hat sich dieser Anteil nur geringfügig Im Jahr 2016 waren in der Schweiz unge-
erhöht, wobei die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse zugenommen
fähr 113 000 Personen in einem atypisch-pre-
hat. Betroffen sind vor allem junge, niedrig qualifizierte, weibliche und aus-
ländische Erwerbstätige. Auch der Anteil der Solo-Selbstständigen, deren
kären Arbeitsverhältnis beschäftigt. Dies ent-
Situation teilweise vergleichbar ist, war in der Schweiz in den vergangenen spricht 2,5 Prozent aller Erwerbstätigen (siehe
Jahren stabil. Angesichts der zunehmenden Digitalisierung ist in diesem Abbildung 1). Der Anteil dieser Arbeitsverhält-
Zusammenhang zudem die sogenannte Plattformökonomie von Interesse. nisse blieb im laufenden Jahrzehnt relativ sta-
Aufgrund einer derzeit unzureichenden Datengrundlage kann deren Be- bil: Seit 2010 verharrte er zwischen 2,2 und 2,5
deutung nicht zuverlässig geschätzt werden. Prozent. Nachdem von 2010 bis 2013 eine leich-
te Abnahme zu beobachten gewesen war, fand
von 2013 bis 2015 wieder ein gewisses Wachs-
1 D ieser Beitrag basiert
auf: Ecoplan (2017), Die
Entwicklung atypisch-
D  er Arbeitsmarkt verändert sich: Die Bedeu-
tung der klassischen Vollzeitarbeit hat in
den vergangenen Jahrzehnten abgenommen. Im
tum statt.
In den Jahren 2004 bis 2009 liess sich eine
Zunahme der atypisch-prekären Arbeitsverhält-
prekärer Arbeitsverhält-
nisse in der Schweiz, Gegenzug haben flexiblere Formen wie Teilzeit- nisse feststellen. Aufgrund des Strukturbruchs
Studie im Auftrag des
Seco. arbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Arbeit auf in der Datengrundlage2 können die Anteile vor
2 Schweizerische Abruf, Temporärarbeit und Praktika an Bedeu- und nach 2010 jedoch nicht miteinander vergli-
Arbeitskräfteerhebung
(Sake). tung gewonnen. Wenn die Flexibilität aus Sicht chen werden.

Was ist ein atypisch-prekäres Arbeitsverhältnis?


Wir definieren ein Arbeitsverhältnis dann Operationalisierung von «unfreiwillig» zeitliche Unsicherheit. Damit ist Unsicher-
als atypisch-prekär, wenn relative Un- erfolgt über das Einkommen. Dabei wird heit aufgrund befristeter Anstellung oder
sicherheit vorhanden ist, die nur unfrei- davon ausgegangen, dass Arbeitnehmen- unsicherer Einsatzplanung gemeint. Kon-
willig in Kauf genommen wird. Um die de die Unsicherheit ab einem bestimmten kret sind das Temporärarbeit oder befris-
Entwicklung atypisch-prekärer Arbeits- Einkommen akzeptieren. Konkret wird tete Arbeitsverhältnisse. Zweitens gibt
verhältnisse messen zu können, müssen ein Arbeitsverhältnis in der vorliegenden es die ökonomische Unsicherheit: Hierzu
diese entsprechend operationalisiert wer- Studie dann als atypisch-prekär identi- zählen unsichere Einkommen aufgrund
den. Dabei wird auf das bereits 2003 und fiziert, wenn es eine Form von Unsicher- von Unterbeschäftigung oder variablen
2010 von Ecoplan entwickelte Konzept heit aufweist und das Einkommen kleiner Löhnen, z. B. aufgrund nicht gesicherter
der Hauptunsicherheiten atypisch-pre- ist als 60 Prozent des Medianlohns oder Arbeitsvolumen. Konkret sind dies Arbeit
kärer Arbeitsverhältnisse zurückgegrif- wenn es zwei Formen von Unsicherhei- auf Abruf, Heimarbeit sowie Unterbe-
fen. Die Unsicherheiten werden über die ten aufweist und das Einkommen unter schäftigung mit Stellensuche im letzten
verschiedenen Formen von atypischen dem Medianlohn liegt. In der empirischen Monat.
Arbeitsverhältnissen definiert, und die Analyse unterscheiden wir erstens die

24  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


KEYSTONE
Taxifahrer protes-
tieren in Bern gegen
Befristete Arbeitsverhältnisse auf den Landesteilen in den letzten Jahren ver- Uber. Web-Plattfor-
dem Vormarsch stärkt haben. men haben eine
Aus dem Vergleich der Beschäftigungssitu- Debatte über Arbeits-
verhältnisse ausge-
Die atypisch-prekären Arbeitsverhältnisse wei- ation vor bzw. nach einem atypisch-prekären löst.
sen mit ungefähr gleicher Häufigkeit zeitliche Arbeitsverhältnis geht hervor, dass viele Per-
wie ökonomische Unsicherheiten auf. Erstere sonen nur kurze Zeit in einem atypisch-prekä-
werden vorwiegend durch befristete Arbeits- ren Arbeitsverhältnis verweilen. Nur 15 Prozent
verhältnisse hervorgerufen, welche seit 2010 der Betroffenen arbeiten länger als zwei Jahre in
zugenommen haben (siehe Abbildung 2). Knapp einer solchen Situation. Viele Personen wech-
die Hälfte dieses Zuwachses fand bei Praktika seln von einem anderen Arbeitsverhältnis in ein
statt. Bei den ökonomischen Unsicherheiten do- atypisch-prekäres Arbeitsverhältnis und wieder
miniert die weitverbreitete Arbeit auf Abruf. zurück. Wie sich zeigt, wechseln mehr Personen
Atypisch-prekäre Arbeitsverhältnisse fin- aus der Erwerbslosigkeit oder Nichterwerbstä-
den sich vor allem im Dienstleistungssektor. tigkeit in ein atypisch-prekäres Arbeitsverhält-
Davon sind überdurchschnittlich viele Frauen, nis als umgekehrt.
jüngere Erwerbstätige und Personen mit tie-
fem Bildungsniveau betroffen. Unter Männern Anteil Solo-Selbstständiger stabil
und Personen mit einem hohen Bildungsniveau
sind atypisch-prekäre Arbeitsverhältnisse hin- Vor ähnlichen Herausforderungen wie Men-
gegen seltener. Die regionale Verteilung wiede- schen, die in einem atypisch-prekären Arbeits-
rum zeigt eine stärkere Verbreitung in der la- verhältnis angestellt sind, stehen viele Solo-
teinischen Schweiz, besonders im Tessin, aber Selbstständige. Auch sie verfügen oft über eine
auch im Grossraum Genf. Im Tessin dürfte ein unterdurchschnittliche sozialstaatliche Absi-
Grund dafür ein generell tieferes Lohnniveau cherung. Zwischen 2004 und 2016 verharrte ihr
sein. Die zwischen 2013 und 2015 beobachte- Anteil ausserhalb der Landwirtschaft bei rund
te Zunahme fand ebenfalls in der lateinischen 6,5 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Schweiz, nicht aber in der Deutschschweiz Solo-Selbstständige finden sich ebenfalls
statt, sodass sich die Unterschiede zwischen häufiger im Dienstleistungssektor und in der

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  25
DIGITALISIERUNG

Abb. 1: Anteil Personen in atypisch-prekären Arbeitsverhältnissen an l­ateinischen Schweiz. Entgegen den Ergebnis-
allen Erwerbstätigen (2004 bis 2016) sen bei den atypisch-prekären Arbeitsverhält-
4    Anteil Erwerbstätige, in % nissen zeigt sich hier, dass ihre Zahl mit zuneh-
mendem Alter steigt, bei Personen mit tiefer
Ausbildung unterdurchschnittlich ist und bei

BFS (SAKE), BERECHNUNGEN: ECOPLAN / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


3 Schweizern häufiger vorkommt als bei Auslän-
dern.
2
Einfluss von Uber, Airbnb & Co.
1
noch ungewiss
Mit dem technologischen Fortschritt und der
damit einhergehenden Digitalisierung haben
0
sich verschiedenste Plattformen und Kommu-
5

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11

16
4

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10

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nikationskanäle entwickelt, die es erlauben,


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br
ur

Arbeits- oder Dienstleistungen unabhängig


kt
tru
-S
ke

von räumlicher Entfernung zwischen Arbeit-


Sa

  <60% des Medianlohns, mind. 1 Hauptunsicherheit    


geber, Arbeitnehmer und Kunden zu erbringen.
  60–100% des Medianlohns, mind. 2 Hauptunsicherheiten 
  Ohne Lohnangabe, mind. 1 Hauptunsicherheit (proportional verteilt)
Mit dem Aufkommen der sogenannten Platt-
formökonomie sind so neue Arbeitsformen
Im Jahr 2010 änderte die Befragungsmethode der Schweizerischen Arbeitskräf-
entstanden. Bekannte Beispiele sind die Platt-
teerhebung (Sake). Dies ist in der Abbildung als Strukturbruch gekennzeichnet.
Hauptunsicherheiten entsprechen den beiden im Kasten beschriebenen «öko- formen des Fahrdienstleisters Uber, des Unter-
nomischen» und «zeitlichen» Unsicherheiten, wobei in einem Arbeitsverhältnis kunftanbieters Airbnb sowie des Arbeitsver-
auch beide auftreten können. mittlers Upwork, welche sich allerdings stark
bezüglich Arbeitsbedingungen unterscheiden.
Abb. 2: Anzahl Personen in atypisch-prekären Arbeitsverhältnissen Allen Arbeitsverhältnissen in der Plattform-
2004 bis 2016 nach Ausprägung (inkl. Doppelzählungen) ökonomie gemeinsam ist, dass sie einen atypi-
70 000    Anzahl Personen schen Charakter haben und damit nicht einem
Normalarbeitsverhältnis entsprechen. Die Be-
60 000
deutung der Plattformökonomie international
BFS (SAKE), BERECHNUNGEN DER AUTOREN / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

50 000 abzuschätzen, ist sehr schwierig. Verschiedene


Studien kommen zum Schluss, dass die Platt-
40 000
formökonomie gesamtwirtschaftlich im Mo-
30 000
ment noch eine sehr kleine Rolle einnimmt.
In der Schweiz kann auf Basis der verfügbaren
20 000 Daten der Schweizerischen Arbeitskräfteer-
hebung (Sake) noch keine empirische Evidenz
10 000
für eine wachsende gesamtwirtschaftliche Be-
0 deutung der Plattformökonomie als Haupter-
werbstätigkeit festgestellt werden.
4

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br
ur
kt
t ru

Michael Mattmann
-S
ke

Ökonom, Ecoplan, Bern


Sa

  Temporärarbeit       Befristete Beschäftigte       Arbeit auf Abruf       Heimarbeit     Ursula Walther


  Unterbeschäftigung mit Arbeitssuche Politologin, Ecoplan, Bern
Im Jahr 2010 änderte die Befragungsmethode der Schweizerischen Arbeitskräfte- Julian Frank
erhebung (Sake). Dies ist in der Abbildung als Strukturbruch gekennzeichnet. Heim- Ökonom, Ecoplan, Bern
arbeit in den Jahren 2004, 2005, 2007, 2013: Extrapolation aufgrund von weniger Michael Marti
als 50 Beobachtungen. Diese Resultate sind mit grosser Vorsicht zu interpretieren. Dr. rer. pol., Ökonom, Partner, Ecoplan, Bern

26  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

Das Bildungssystem entwickelt sich


mit der Digitalisierung
Das Schweizer Bildungssystem ist angesichts der Digitalisierung gut gerüstet. Damit die
Schweiz bei der Entwicklung und Nutzung digitaler Technologien weiterhin ganz vor-
ne mithalten kann, müssen die Anstrengungen aber verstärkt werden.  Johannes Mure,
Barbara Montereale

Abstract    In einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft ist es unab-


Die Digitalisierung verändert die vom
dingbar geworden, dass die Bevölkerung über die Technologien der In- Arbeitsmarkt nachgefragten Kompetenzen
formations- und Kommunikationstechnik (ICT) Bescheid weiss und und Qualifikationen. In praktisch allen Bran-
Querschnittkompetenzen besitzt. Indem das Bildungssystem rasch auf chen sind vermehrt digitale Skills verlangt  –
solche Veränderungen reagiert, nutzt es die damit verbundenen Chan- gleichzeitig entstehen vollkommen neue Be-
cen. Gleichzeitig sorgt es dafür, dass auch in Zukunft genügend Fachkräf- rufe. Die am Arbeitsmarkt angebotenen
te bereitstehen. Auch wenn die Schweiz aktuell über eine grosse Anzahl
Qualifikationen sollten auch in Zukunft mög-
ICT-Spezialisten verfügt, zeichnet sich zunehmend ein Fachkräfteman-
gel ab. Das Bildungssystem hat hierbei einen doppelten Auftrag zu erfül- lichst gut auf die Nachfrage abgestimmt sein.
len: Es muss einerseits die erforderlichen Fachleute ausbilden und ande- Die Herausforderung besteht darin, dass
rerseits aktuelle Bildungsangebote bereitstellen. Um vermehrt von den Kinder, Jugendliche und Erwachsene ICT- und
Vorteilen der Digitalisierung in den Bereichen Lehren und Lernen zu pro- Querschnittkompetenzen erwerben, um er-
fitieren, müssen gute Rahmenbedingungen bestehen. IT-Daten müssen folgreich am wirtschaftlichen wie auch am so-
für die Fachleute zugänglich sein, gleichzeitig aber vor externen Zugrif- zialen, politischen und kulturellen Leben teil-
fen geschützt werden.
haben zu können. Sehr wichtig ist auch die
Sensibilisierung für die Risiken im Zusam-
menhang mit der Nutzung der neuen Techno-

D  ie digitalen Technologien stellen das Bil-


dungssystem auf die Probe: Die Kom-
petenzen der Bevölkerung müssen kontinu-
logien. Das Bildungssystem sollte diese Kom-
petenzen alters- und zielgruppenadäquat auf
allen Bildungsstufen und in allen Bildungsgän-
ierlich weiterentwickelt werden, wenn die gen vermitteln.
Schweiz bei der Entwicklung und der Nutzung Im internationalen Vergleich schneiden die
von Informations- und Kommunikationstech- Schweizer ICT-Fachkräfte sowohl in Bezug auf
nik (ICT) weiterhin zu den leistungsfähigsten das Angebot als auch auf ihre Qualifikation
Ländern gehören will. Vor diesem Hintergrund gut ab. Allerdings deutet eine steigende Nach-
hat der Bundesrat am 5. Juli 2017 den vom Eid- frage auf einen zunehmenden Fachkräfteman-
genössischen Departement für Wirtschaft, Bil- gel hin. Hier muss das Bildungssystem mithel-
dung und Forschung (WBF) erarbeiteten «Ak- fen, den benötigten Nachwuchs zu sichern.
tionsplan Digitalisierung im BFI-Bereich in Entscheidend ist, das Interesse der Kinder und
den Jahren 2019 und 2020» zur Kenntnis ge- Jugendlichen an den sogenannten Mint-Fä-
nommen. Wie der Bericht zeigt, ist es bisher chern (Mathematik, Informatik, Naturwissen-
dank des differenzierten, komplementären schaften, Technik) früh genug zu wecken. Da-
und durchlässigen Bildungssystems gelungen, bei braucht es aber nicht nur ICT-Spezialisten,
die Herausforderungen des digitalen Wandels denn die Digitalisierung wirkt sich auf fast alle
erfolgreich zu bewältigen und die Anforderun- Berufe aus.
gen des Arbeitsmarktes zu erfüllen. Diese An- Der Berufsbildung ist es bisher dank dem
strengungen sollten fortgesetzt und intensi- engen Bezug zum Arbeitsmarkt gelungen, den
viert werden. digitalen Wandel zu bewältigen. Die Stärke

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  27
DIGITALISIERUNG

des Systems liegt darin, dass die Wirtschaft eine verstärkte Koordination zwischen den ver-
die erforderlichen Kompetenzen für einen Be- schiedenen Bildungsstufen und den beteiligten
ruf definiert und kontinuierlich weiterentwi- ­Akteuren voraus.
ckelt.
Eine zentrale Rolle spielt auch die Weiter- Persönliche Daten schützen
bildung. Seit dem Inkrafttreten des Weiter-
bildungsgesetzes Anfang  2017 kann der Bund Während des Lehr- und Lernprozesses wird
künftig die Eigeninitiative von Privatpersonen eine enorme Datenmenge produziert. Lehrper-
unterstützen – etwa im Bereich der Förderung sonen, Schulleiter, Behörden, aber auch For-
der Grundkompetenzen. Im November 2017 scher sollten darauf Zugriff haben, um etwa die
hat der Bundesrat zudem Massnahmen verab- Lehrmethoden und die Lernbegleitung stetig
schiedet, mit denen die Kompetenzen gering zu verbessern. Mit den digitalen Daten sind je-
qualifizierter und insbesondere älterer Arbeit- doch auch Sicherheits- und Datenschutzrisiken
nehmender gefördert werden sollen. verbunden. So könnten Daten etwa völlig unbe-
merkt abgezweigt oder manipuliert werden.
Vorteile der Digitalisierung Besonders gross ist die Gefahr, wenn Soft-
ware und Server persönliche Daten zur Identi-
­ausschöpfen
fikation der Nutzer verlangen. Hier muss der
Die Digitalisierung verändert den Kontext des Datenschutz wasserdicht sein: Persönliche
Lehrens und Lernens von Grund auf. Die digi- Daten müssen sowohl bei der Erhebung, der Be-
talen Medien bieten den Lernenden vielfältige arbeitung, der Nutzung als auch bei der Aufbe-
Entwicklungsmöglichkeiten. Um die Vorteile wahrung sicher und vor Missbrauch geschützt
der ICT bestmöglich zu nutzen, braucht es gute sein.
Rahmenbedingungen.
Die Schweizer Schulen sind in digitaler Hin-
sicht gut ausgerüstet. Aber die vorhandene Inf-
rastruktur könnte noch besser genutzt werden:
Es genügt heute nicht mehr, Geräte zur Verfü-
gung zu stellen und einen Internetanschluss
einzurichten. Zwingend sind auch eine stabile,
schnelle und sichere Verbindung sowie der ga-
Johannes Mure Barbara Montereale
rantierte Zugang zu digitalen Diensten. Ausser- Dr. oec. publ., Leiter Res- Projektverantwortliche,
dem müssen die Lehr- und Lernressourcen an sort Bildungssteuerung Ressort Bildungssteue-
und Bildungsforschung, rung und Bildungsfor-
die Herausforderungen der Digitalisierung an-
Staatssekretariat für schung, Staatssekretariat
gepasst sein. Schliesslich gilt es auch die Lehr- Bildung, Forschung und für Bildung, Forschung
personen zu schulen, damit sie über die not- Innovation (SBFI), Bern und Innovation (SBFI),
Bern
wendigen Kompetenzen verfügen. All dies setzt

28  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

Unternehmen setzen auf


qualifizierte Arbeitskräfte
Die Digitalisierung der Wirtschaft hat bislang in der Schweiz zu geringen Beschäfti-
gungseffekten geführt, wie eine Unternehmensbefragung zeigt. Verschiebungen zei-
gen sich indes beim Ausbildungsniveau: Während die Nachfrage nach gut qualifiziertem
Personal steigt, sinkt die Nachfrage nach Ungelernten.  Spyros Arvanitis, Gudela Grote,
Toni Wäfler, Martin Wörter

Informationserfassung und -verarbeitung im Ge-


Abstract  Im Herbst 2016 haben die KOF Konjunkturforschungsstelle der
samtunternehmen oder in bestimmten Unter-
ETH Zürich, die Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie der
ETH Zürich und die Hochschule für Angewandte Psychologie an der Fach- nehmensbereichen (siehe Tabelle 1). Ebenfalls
hochschule Nordwestschweiz (FHNW) rund 1200 Schweizer Unterneh- häufig anzutreffen sind Technologien, die sich
men zur Digitalisierung befragt. Nach Ausbildungsniveaus betrachtet, auf den firmeninternen bzw. -externen Infor-
stieg die Anzahl der Firmen, die Absolventen von Universitäten, Fach- mationsaustausch beziehen. Beispiele dafür sind
hochschulen und Fachschulen sowie Personen mit abgeschlossener Be- ­E-Beschaffung, Social Media und Telearbeit.
rufslehre nachfragten. Geringere Nachfrage zeigt sich nur bei den An- und
Komplexere Technologien sind seltener. Auf
Ungelernten. Die gemeldeten Beschäftigungszuwächse für die Berufs-
lehrabsolventen sind etwa gleich hoch in allen Sektoren, ebenfalls die Zu-
der einen Seite sind dies beispielsweise Roboter
wächse für Auszubildende. Das unterstreicht die Bedeutung einer guten, oder Technologien wie Radio Frequency Identi-
formalen Ausbildung und kann als Hinweis interpretiert werden, dass das fication und Rapid Prototyping, die primär in In-
duale Ausbildungssystem von der Digitalisierung – jedenfalls zurzeit – dustrieunternehmen bei der Güterproduktion
nicht gefährdet wird. Allerdings sind neue zukunftsorientierte Technolo- eingesetzt werden. Auf der anderen Seite gehö-
gien mit zum Teil experimentellem Charakter noch schwach vertreten. ren zukunftsorientiertere Technologien wie 3-D-
Printing und Internet of Things dazu, die zum
Teil noch experimentellen Charakter aufweisen.

D  ie Digitalisierung der Wirtschaft in der


Schweiz steckt bezüglich der neuesten
technologischen Entwicklungen noch in den
Auswirkungen auf die Beschäfti-
gung insgesamt
Anfängen und hat bislang nur zu geringen Be-
schäftigungseffekten geführt. Das sind Haupt- Rund drei Viertel der befragten Unternehmen
ergebnisse einer repräsentativen Umfrage bei melden keine Änderung der Gesamtbeschäf-
1183 Schweizer Firmen zur Digitalisierung für tigung als Folge der Digitalisierung: Abnahme
den Zeitraum 2013 bis 2015. Die Erhebung wur- und Zunahme halten sich mit 12 und 11 Prozent
de im Herbst 2016 von der KOF Konjunktur- die Waage (siehe Abbildung 1).2 Für die Industrie
1 Zur Umfrage siehe Ar-
vanitis et al. (2017). Ins-
forschungsstelle gemeinsam mit der Professur und im Dienstleistungssektor sind diese Werte
gesamt wurden 3931 für Arbeits- und Organisationspsychologie der ähnlich. Es bestehen auch keine nennenswerten
Firmen kontaktiert
(Rücklaufquote von ETH Zürich und der Hochschule für Angewand- Unterschiede zwischen den Teilsektoren sowohl
30%). Die Umfrage
wurde von der MTEC-
te Psychologie der Fachhochschule Nordwest- in der Industrie als auch im Dienst­leistungssektor.
Foundation der ETH schweiz (FHNW) durchgeführt.1 Besonders wenig betroffen von der Digitalisie-
Zürich gefördert; die
Datenauswertung und Die Firmen wurden unter anderem befragt, rung ist die Baubranche, wo 92 Prozent der Fir-
die Verfassung des Be- wie sie 24 ausgewählte Technologien bzw. Tech- men keine Änderung der Stellenzahl melden.
richts wurden vom SBFI
unterstützt. nologieelemente einsetzen. Wie sich zeigt, sind Relativ starke Beschäftigungseffekte gibt
2 Die Anteile addieren
sich nicht immer zu Softwareapplikationen wie «Enterprise R­ esource es bei den grossen Unternehmen, wo die di-
100%, da einzelne Fir-
men keine Angaben ge-
Planning» und «Customer Relationship Manage- gitalisierungsbedingte Zunahme 19 Prozent
liefert haben. ment» am stärksten verbreitet. Diese dienen der und die Abnahme 17 Prozent beträgt  (siehe

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  29
DIGITALISIERUNG

In Grossunterneh-
men beeinflusst die

KEYSTONE
Digitalisierung die
Beschäftigung stark.

­ bbildung  2). Netto sind diese Änderungen


A leistungssektor als auch in der Baubranche an-
aller­d ings kaum mehr sichtbar.3 zutreffen, wenn auch in unterschiedlichem
Ausmass. So ist die Zunahme bei den Absol-
Ungelernte als Verlierer venten von Fachhochschulen und Fachschulen
merklich stärker im Industrie- als im Dienstleis-
Aufschlussreich ist eine Betrachtung nach dem tungsbereich. In der Baubranche ist sie etwas
höchsten Berufsabschluss. Dazu wurden die Be- schwächer als in den anderen zwei Sektoren. Die
schäftigten in die Personalkategorien Universi- Effekte für Universitätsabsolventen, wiederum,
täts-, Fachhochschul-, Fachschul-, Berufslehrab- sind in der Industrie und im Dienstleistungssek-
solventen, An- und Ungelernte sowie Lehrlinge tor ähnlich; der Bau meldet keinen zusätzlichen
eingeteilt (siehe Tabelle 2). Obwohl auch hier die Bedarf nach Akademikern.
meisten Befragten keine Änderungen aufgrund Auffallend hoch sind die Zuwächse für die
der Digitalisierung melden, ist die Richtung der Kategorien Fachhochschulen/Fachschulen in
Veränderung vermutlich wegweisend für die zu- allen drei Sektoren. Auch die gemeldeten Zu-
künftige Entwicklung der Beschäftigung nach wächse für die Berufslehrabsolventen sowie die
Ausbildungskategorien. So überwiegt die An- Zuwächse bei den Lehrlingen sind etwa gleich
zahl der positiven Nennungen bei den Absolven- hoch. Beide Effekte zusammengenommen, deu-
ten von Fachhochschulen, Fachschulen und Per- ten darauf hin, dass das duale Ausbildungs-
sonen mit einer abgeschlossenen Berufsschule system von der Digitalisierung derzeit nicht
deutlich. Auch Akademiker sind angesichts gefährdet wird. Bedroht scheint jedoch die Be-
3 Es wurde gefragt, ob der Digitalisierung gefragter. Bei der Beschäfti- schäftigung von An- und Ungelernten – und
eine Unternehmung
aufgrund der Digitali-
gung von Lehrlingen sind leicht häufiger posi- zwar in ähnlichem Ausmass in allen Sektoren.
sierung Beschäftigung tive Nennungen zu verzeichnen. Einzig bei den
aufgebaut bzw. ab-
gebaut hat. Es wurde An- und Ungelernten bewirkt die Digitalisierung Grossunternehmen reagieren am
nicht gefragt, wie viele einen negativen Nettoeffekt: 15 Prozent aller Fir-
Stellen auf- oder ab- stärksten
gebaut worden sind. men melden hier eine Beschäftigungsabnahme,
Somit bezieht sich die
Nettoveränderung auf 5 Prozent eine Zunahme. Je nach Unternehmensgrösse wirkt sich die Di-
die Anteile der Unter- Die positiven Effekte für die vier ersten Kate- gitalisierung auf die Beschäftigung in den ver-
nehmen mit der ent-
sprechenden Nennung. gorien sind sowohl im Industrie- und im Dienst- schiedenen Personalkategorien u ­ nterschiedlich

30  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

Abb. 1: Auswirkung der Digitalisierung auf die Beschäftigung im Industrie-, Bau- und Dienstleistungs-
sektor (Anzahl Nennungen in % der Firmen)
Industrie

Industrie: Hightech

Industrie: Lowtech

Bau

ARVANITIS ET AL. (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


Dienstleistungen

Dienstleistungen: Modern

Dienstleistungen: Traditionell

Total

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
  Zunahme          Abnahme          Unverändert

Prozentualer Anteil der Unternehmen des jeweiligen Aggregats;

Abb. 2: Auswirkung auf die Beschäftigung nach Firmengrösse (Anzahl Nennungen in % der Firmen)
Klein <50 Beschäftigte in
Vollzeitäquivalenten)

ARVANITIS ET AL. (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


Mittel (50–249 Beschäftigte)

Gross (>249 Beschäftigte)

Total

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
  Zunahme          Abnahme          Unverändert

Prozentualer Anteil der Unternehmen des jeweiligen Aggregats;

Tabelle 1: Einsatz von ausgewählten Technologien in Schweizer Unternehmen (Anzahl Nennungen in %


der Firmen)
Rang Technologie Total Erstmals vor Erstmals Kleine Unter- Mittlere Grossunter-
2013 2013 bis 2015 nehmen Unternehmen nehmen
1. ERP (Enterprise Resource 60 48 12 50 73 92
Planning
2. E-Beschaffung 57 35 22 58 54 72
3. CRM (Customer Relationship 47 30 17 42 52 65
Management)
4. Social Media - extern 45 15 30 42 47 65
5. Telearbeit 42 25 17 32 54 78
(…)
ARVANITIS ET AL. (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

20. Internet of Things 12 5 7 12 11 17


21. Roboter 9 6 3 5 13 28
22. RFID (Radio Frequency 7 2 5 3 10 23
Identification)
23. 3-D-Printing 5 2 3 4 7 15
24. Rapid Prototyping, Simulation 4 3 1 3 5 11

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  31
DIGITALISIERUNG

aus. Die grössenbedingten Unterschiede sind Für die drei Personalkategorien mit höherer
dabei stärker als die sektorbedingten Differen- Qualifikation (Universitäts-, Fachhochschul- und
zen. Relativ stark betroffen sind die grossen Fachschulabsolventen) melden auch die kleinen
Unternehmen: 20 Prozent dieser Firmen melden und die mittelgrossen Unternehmen (KMU) Zu-
eine Zunahme der Beschäftigung bei den Uni- wächse, wenn auch in geringerem Ausmass als die
versitätsabsolventen, 31 Prozent eine Zunah- grossen Firmen. Im Gegensatz zu den grossen Fir-
me bei den Fachhochschulabsolventen und 29 men melden die KMU, insbesondere die kleinen
Prozent eine Zunahme bei den Fachschulabsol- Firmen, eine Nettozunahme der Beschäftigung
venten. Für die Gelernten wird bei den grossen für Gelernte. Die kleinen Unternehmen melden
Firmen eine – wenn auch geringe – Nettoabnah- auch bei den Auszubildenden eine etwas stärkere
me der Beschäftigung gemeldet. Bei den Ausbil- Zunahme der Beschäftigung als mittelgrosse und
4 Michaels et al. (2013) denden wiederum ist netto ein kleiner positiver grosse Firmen. Bei allen drei Grössenklassen sind
und Autor (2006). Zur Effekt zu verzeichnen. Stark negativ ist der Be- negative Beschäftigungseffekte für An- und Unge-
Situation in der Schweiz
vgl. auch Arvanitis/Lou- schäftigungseffekt allerdings bei den An- und lernte zu verzeichnen.
kis (2015), basierend auf
Daten von 2004, und Ungelernten: Ein Viertel der grossen Firmen Für die Schweiz scheint somit die internatio-
Arvanitis (2005), ba- meldet eine Abnahme der Beschäftigung bei die- nal oftmals vorgebrachte «Polarisierungsthese»
sierend auf Daten von
1999. ser Kategorie. insgesamt ungültig.4 Laut dieser These bewirkt
der technologische Wandel sowohl eine steigende
Nachfrage nach Beschäftigten mit tertiärer Aus-
Tabelle 2: Auswirkung der Digitalisierung auf die Beschäftigung nach bildung als auch nach Ungelernten – gleichzeitig
Ausbildungskategorien und Firmengrössen (Anzahl Nennungen in % der sinkt der Bedarf an Beschäftigten mit mittleren
Firmen) Qualifikationen. Allerdings gibt es für die Schweiz
Klein Mittel Gross Total Hinweise auf die Substitution wenig qualifizierter
<50 Beschäftigte 50–249 Beschäf­ >249 ­Beschäftigte Arbeit.
in Vollzeit­ tigte
äquivalenten

Universitäten Spyros Arvanitis


Zunahme 4 12 20 8 Dr. oec. publ., höherer wissenschaftlicher Mitarbeiter,
KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich
Abnahme 1 0 1 1
Unverändert 94 88 79 91 Gudela Grote
Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie,
Fachhochschulen Departement Management, Technologie und Ökono-
Zunahme 13 21 31 17 mie, ETH Zürich
Abnahme 1 2 1 1
Toni Wäfler
Unverändert 85 77 68 82 Professor für Angewandte Psychologie, Fachhochschule
Fachschulen Nordwestschweiz (FHNW), Olten
Zunahme 14 18 29 16
Martin Wörter
Abnahme 1 3 7 2 PD Dr. rer. soc. oec., Leiter der Sektion Innovationsöko-
Unverändert 85 79 64 81 nomik, KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich

Berufslehre
Zunahme 22 8 8 16 Literatur
Abnahme 6 6 12 6 Arvanitis, S. (2005). Information Technology, Workplace Organization
and the Demand for Labour of Different Skills: Firm-level Evidence for
Unverändert 72 85 80 77 the Swiss Economy, in: H. Kriesi, P. Farago, M. Kohli and M. Zarin-Neja-
dan (eds.), Contemporary Switzerland: Revisiting the Special Case, Pal-
An- und Ungelernte grave Macmillan, New York and Houndmills, 135–162.
ARVANITIS ET AL. (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

Zunahme 7 2 2 5 Arvanitis, S. and E. Loukis (2015). Employee Education, Information and


Communication Technology, Workplace Organization and Trade: A
Abnahme 14 15 25 15 Comparative Analysis of Greek and Swiss Enterprises, Industrial and
Unverändert 79 82 73 80 Corporate Change, 24(6): 1417–1442.
Arvanitis, S., Grote, G., Spescha, A., Wäfler, T. und M. Wörter (2017).
In Ausbildung (Lehrlinge) Digitalisierung in der Schweizer Wirtschaft: Ergebnisse der Umfrage
2016 – eine Teilauswertung im Auftrag des SBFI, KOF Studien Nr. 93,
Zunahme 11 4 8 8 Zürich.
Abnahme 3 1 3 2 Autor, D.H., Katz, L.F. and M.S. Kearney (2006). The Polarisation of the
U.S. Labor Market, American Economic Review, Papers and Procee-
Unverändert 87 95 89 90 dings, 96(2): 189–194.
Michaels, G., Natraj, A. and J. Van Reenen (2013). Has ICT Polarized Skill
Demand? Evidence from Seven Countries over 25 Years, Review of Eco-
Prozentualer Anteil der Unternehmen des jeweiligen Aggregats. nomics and Statistics, 96: 60–77.

32  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

Roboter wirbeln Wirtschaft


und Recht auf
Der zunehmende Einsatz von automatisierten Fahrzeugen, zivilen Drohnen oder kolla-
borierenden Industrierobotern wirft rechtliche Fragen auf: Wer haftet zum Beispiel für
einen Unfall mit Robotern? Laut Experten könnte die sogenannte E-Personhood eine
­Lösung bieten.  Isabelle Wildhaber, Melinda Lohmann

Abstract    Die technische und wirtschaftliche Bedeutung von Robotern che Behandlung roboterbezogener Sachverhal-
nimmt im Rahmen der vierten industriellen Revolution (Industrie 4.0) te zum Gegenstand.
weltweit zu. Diese Entwicklung wirft zahlreiche neue Rechtsfragen auf.
Deshalb setzen sich immer mehr Rechtswissenschaftler mit den recht-
lichen Konsequenzen des Einsatzes von Robotern, dem Roboterrecht,
Roboter in der Industrie 4.0
auseinander. Rechtliche Fragen stellen sich etwa bei der Zulassung von In der Industrie kommen etwa Roboter wie Yumi
selbstfahrenden Fahrzeugen oder Drohnen. Sind Roboter erst mal zuge-
von ABB zum Einsatz. Yumi ist ein erschwingli-
lassen, so will man wissen, wer für Unfälle mit Robotern haftet. Auch am
Arbeitsplatz muss klar sein, wer für Entscheide und Weisungen von ro- cher Vielzweckroboter für den Produktionsbe-
botischen Chefs einsteht. Die Einführung eines Rechtsstatus für Robo- reich, der freundlich zu Menschen ist und sich
ter, der sogenannten E-Personhood, ist einer von vielen Lösungsansätzen beispielsweise leicht für die Mitarbeit am Fliess-
für die Haftungsfrage. Nicht nur am Arbeitsplatz, sondern in sämtlichen band programmieren lässt. Auch in der Logis-
Lebensbereichen sind sensorgetriebene Roboter eine Herausforderung tik- und Transportbranche spielen Roboter be-
für Datenschutz und Privatsphäre. Dieser Herausforderung wird denn reits heute eine wichtige Rolle. Ein Beispiel ist
auch zu Recht viel Forschung gewidmet.
das Logistikzentrum Yellow Cube der Schwei-
zerischen Post in Oftringen. Dieses nimmt On-
linehändlern etwa im Bereich Modehandel die

R  oboter sind in sämtlichen Lebensberei-


chen auf dem Vormarsch. Sie existieren
als Industrieroboter, Drohnen, automatisierte
gesamte Logistik von der Lagerung über die
Verpackung und den Versand bis zum Retou-
renmanagement ab. Pakete könnten künftig
Fahrzeuge, persönliche Assistenzroboter, Ope- auch durch Drohnen ausgeliefert werden. In der
rationsroboter und in vielen anderen Ausprä- Schweiz sind derzeit bereits rund 20’000 zivile
gungen. Gemäss gängiger Definition sind Robo- Drohnen in Betrieb. Auch selbstfahrende Fahr-
ter mechanische Objekte mit drei wesentlichen zeuge werden neben dem Personenverkehr den
Eigenschaften: Gütertransport revolutionieren.
–– Sie können die Welt um sich herum wahr- Im Dienstleistungssektor werden vermehrt
nehmen (sense). Roboter in Hotels und Restaurants oder im
–– Sie können die Wahrnehmung mittels Daten- Einzelhandel den Menschen assistieren. Im-
analyse prozessieren (think). mer häufiger sind Roboter auch im Gesund-
–– Sie können als körperliches Objekt mit phy- heitssektor im Einsatz, um die Folgen der de-
sischem Einfluss Funktionen ausüben (act). mografischen Entwicklung abzufedern. Eine
bedeutende Anwendung ist etwa das soge-
Reine Software ohne physischen Einfluss nannte Exoskelett, bei dem ein körperanlie-
ist deshalb keine Robotik, auch wenn beson- gendes Skelett den Menschen bei dessen Bewe-
ders die englischsprachigen Medien oft von gungen unterstützt oder gar seine Bewegungen
Robotern sprechen und Software meinen. Die übernimmt. Mit einem solchen Roboteranzug
Rechtswissenschaft befasst sich zunehmend kann der Mensch schwerer heben, ausdauern-
mit Robotern. Das Roboterrecht hat die rechtli- der oder trotz Rückenmarksverletzung gehen.

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  33
DIGITALISIERUNG

­ xoskelette sind auch für industrielle Anwen-


E dungsfähigkeit der Roboter macht die Zurech-
dungen, beispielsweise auf Baustellen, einsetz- nung von Schäden schwierig. Deshalb sind neue
bar. Modelle zur Regelung der Verantwortlichkeit
erforderlich. Denkbar sind unter anderem Haf-
Überholte Rechtskonzepte? tungsanalogien, die Einführung einer Gefähr-
dungshaftung und/oder Versicherungsmodelle.
Man kann sich über die Vor- und Nachteile die- Zunehmend wird die Einführung eines Rechts-
ser technologischen Revolution streiten. Dass status für Roboter, einer sogenannten E-Per-
eine rechtliche Begleitforschung unerlässlich sonhood, diskutiert. Mit der Einführung einer
ist, steht jedoch fest. Es stellen sich zahlreiche solchen Rechts- und Handlungsfähigkeit für Ro-
Fragen in den verschiedensten Rechtsberei- boter würden diese selber Träger von Rechten
chen. und Pflichten. In der Folge könnten sie mit ihrem
Das öffentlich-rechtliche Zulassungsrecht eigenen Vermögen haften und wären auch vor
ist betroffen, wenn hochgradig automatisier- Gericht zu verklagen. Die einzelnen E-Personen
te Fahrzeuge eingeführt werden sollen: Hoch- müssten in einem Roboterregister aufgeführt
und vollautomatisierte Fahrzeuge widerspre- werden. So könnten Interessierte beispielswei-
chen dem im Völkerrecht se Einsicht in die Höhe der Haftungsmasse des
und im nationalen Recht ver- Roboters nehmen. An die Registrierungspflicht
ankerten Leitbild eines auf- könnte sodann eine Versicherungspflicht ge-
Nach der derzeitigen
merksamen und engagierten koppelt werden. Bei der konkreten Ausgestal-
Rechtslage kann ein Lenkers und sind bis anhin tung stellen sich natürlich einige Fragen, zum
Roboter als Vorgesetzter nicht zulassungsfähig. Die Beispiel, ab welchem Grad an Eigenständigkeit
noch keine Kündigung Revision des Wiener Über- ein Roboter als E-Person qualifiziert ist und wie
einkommens über den Stras- der Roboter Vermögen schaffen soll. Noch ist
aussprechen.
senverkehr von 1968 könnte diese Diskussion Zukunftsmusik, doch könnte
je nach Auslegung diesen Wi- sie mit zunehmendem technischem Fortschritt
derspruch auflösen und der Fahrzeugautomati- relevant werden.
sierung zum Durchbruch verhelfen. Auch beim Auf europäischer Ebene hat das EU-Par-
Einsatz ziviler Drohnen muss die luftrechtliche lament im Februar 2017 Empfehlungen zu zi-
Regulierung konsultiert und revidiert werden. vilrechtlichen Regelungen im Bereich Robotik
Mit der Zulassung automatisierter Fahr- ausgesprochen und die EU-Kommission aufge-
zeuge zum Strassenverkehr stellen sich weite- fordert, einen Legislativvorschlag zu zivilrecht-
re rechtliche Fragen, etwa nach der strafrecht- lichen Haftungsfragen auszuarbeiten. Als Lö-
lichen Haftung beim Einsatz der Systeme. Wer sungsansätze hat das EU-Parlament die soeben
haftet, wenn etwas schiefläuft? Wen soll man erwähnten Konzepte und besonders auch die
bestrafen, wenn ein vollautomatisiertes Fahr- Einführung einer E-Personhood vorgeschlagen.
zeug ein Kind überfährt? Das fahrerzentrier- Bis eine europäische Roboter-Richtlinie verab-
te Rechtskonzept stösst hier an seine Grenzen, schiedet wird, dürfte allerdings noch einige Zeit
denn die Maschine selbst ist nicht schuldfähig. vergehen.
Der Mensch lenkt nicht mehr, sodass ihm auch
kein Vorwurf für den Unfall gemacht werden Missbrauchspotenzial beim
kann. Hier ist grundlegend zu klären, ob und
­Datenschutz
allenfalls wie bei einem tödlichen Unfall das
Strafbedürfnis der Gesellschaft befriedigt wer- Eine zentrale Herausforderung im Zusammen-
den kann. hang mit Robotern ist auch der Datenschutz.
Beim Einsatz von lern- und entscheidungs- Ängste rund um den Verlust der Privatsphäre
fähigen Robotern sind zivilrechtliche Haf- sind nicht neu, sie erhalten aber bei Robotern
tungsfragen unumgänglich: Wer haftet, wenn eine neue Dimension. Denn Roboter verfügen
der Roboter fehlerhaft lernt oder eine falsche über verschiedenste Sensoren, die sämtliche
Entscheidung trifft? Die Lern- und Entschei- Daten aufnehmen, speichern und dank ihrer

34  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

Vernetzung im Rahmen des Internets der Din- wälzen. Beim Einsatz von Robotern am Arbeits-
ge verbreiten können. Dabei kann ein besonders platz ist ausserdem die Arbeitsplatzsicherheit
menschen- oder tierähnliches Aussehen der Ro- entscheidend: Es geht darum, Berufsunfälle und
boter den Aufbau einer Beziehung erleichtern, entsprechend Haftungsfälle zu verhindern. Zu
sodass Roboter Zugang zu intimsten Sphären diesem Zweck werden neue Normen auf natio-
erhalten und dank ihrer Mobilität ungestört he- naler Ebene (z. B. Schweizerische Normen-Ver-
rumschnüffeln können. Das Missbrauchspoten- einigung SNV) und auf internationaler Ebene
zial ist erheblich. Bereits das nicht missbräuch- (z. B. ISO) erarbeitet.
liche, funktionsinhärente Sammeln von Daten Der Einzug von Robotern – im Rahmen der
wie etwa bei selbstfahrenden Fahrzeugen stellt Industrie 4.0 und darüber hinaus – wirft zahl-
ein Datenschutzrisiko dar. Sowohl das europäi- reiche, spannende Rechtsfragen auf. Mit zuneh-
sche wie auch das schweizerische Datenschutz- mendem technologischem Fortschritt kommen
recht werden momentan revidiert. Die Bedenken laufend neue rechtliche Herausforderungen
um die Privatsphäre beim Einsatz von Big Data, hinzu. Der Gesetzgeber wird sich überlegen
Robotik und künstlicher Intelligenz kommen in müssen, ob rechtliche Grundlagen angepasst
den Revisionsbestrebungen zum Ausdruck und werden müssen oder ob es gar ganz neue Rege-
sind darüber hinaus Gegenstand der Forschung, lungen braucht. Diesbezüglich sollte man jedoch
so z. B. im Rahmen unseres SNF-Forschungspro- zurückhaltend sein, bis klar wird, dass neue Ge-
jekts «Big Brother in Schweizer Unternehmen? setze und Regulierungen wirklich nötig sind. Di-
Daten, Privatsphäre und Vertrauen am Arbeits- gitalisierung und Robotik bringen nämlich auch
platz» im Rahmen des Nationalen Forschungs- immense Chancen. Eines ist aber klar: Über die
programms «Big Data». angesprochenen Fragen müssen wir uns bereits
Auch in der Arbeitswelt sind Roboter be- heute ernsthafte Gedanken machen. Denn die
reits heute omnipräsent: Im Personalwesen gibt Brisanz der Fragen wird zunehmen, je intelli-
es von der Einstellung bis zur Beendigung von genter Roboter werden.
Arbeitsverhältnissen vielfältige Einsatzmög-
lichkeiten für Roboter. Roboter können als Vor-
gesetzte ihren Arbeitnehmern auch Weisungen
erteilen. Nach der derzeitigen Rechtslage kann
ein Roboter als Vorgesetzter mangels Rechts-
und Handlungsfähigkeit noch keine Kündi-
gung aussprechen. Im Unternehmen muss der-
zeit mangels Handlungsfähigkeit des Roboters Isabelle Wildhaber Melinda Lohmann
ein Mensch für den Einsatz und die Anweisun- Professorin für Privat- und Assistenzprofessorin für
gen des Roboters Verantwortung übernehmen. Wirtschaftsrecht, Direk- Wirtschaftsrecht, Direk-
torin des Forschungs- torin der Forschungs­s telle
Diese Verantwortung des Arbeitgebers kann die instituts für Arbeit und für Informationsrecht,
Geschäftsführung höchstens mittels eines Re- Arbeitswelten, Universität Universität St. Gallen
St. Gallen
gresses auf die Programmierer des Roboters ab-

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  35
DIGITALISIERUNG

Die Fabrik der Zukunft


Die Konsumenten verlangen heute verstärkt nach personalisierten Produkten. Die tech-
nischen Möglichkeiten für eine solche individuelle Massenproduktion existieren be-
reits.  Steven Wyatt

Abstract    Durch die Produktion grosser Mengen Skalenvorteile zu Individuelle Kundenwünsche


nutzen, ist nicht mehr für jedes Produkt zeitgemäss. Die Konsumenten
wollen nicht mehr grosse Mengen und wenig Varianten, sondern kleine Die Fabrik der Zukunft unterscheidet sich deut-
Mengen und viele Varianten in immer kürzeren Abständen. Die Unter- lich von der bisherigen Produktion. Als Richard
nehmen müssen sich danach ausrichten. Die immer grösseren Daten- Arkwright Ende des 18. Jahrhunderts seine Fab-
mengen, das Internet der Dinge und vernetzte Maschinen machen eine rik in England baute, ging es ihm vor allem da-
solche Produktion heute schon möglich – und für Konsumenten er- rum, Skalenvorteile zu nutzen. Mittels Wasser-
schwinglich. Denn durch Früherkennung und Vermeidung von Fehlern
kraft entwickelte er ein neuartiges Verfahren
und Produktionsunterbrüchen wird die Herstellung immer effizienter.
Eine Anpassung verlangt dieser Wandel letztlich auch von den Arbei- zum Spinnen von Baumwolle. Zuletzt zählte die
tern: Die Zusammenarbeit mit Robotern wird in Zukunft immer enger. Fabrik mehrere Spinnmaschinen, an denen 1000
Bisher können Roboter aber nur ausführen, was wir programmieren. Arbeiter in zwei 12-Stunden-Schichten rund um
Um noch effizienter zu werden, müssen die Roboter selber lernen kön- die Uhr tätig waren. Durch die Herstellung gros-
nen. ser Stückzahlen eines Produkts über einen lan-
gen Zeitraum sollten die Kosten gesenkt und die
Margen erhöht werden. Denn die Investitions-

P  rognosen zufolge wird es im Jahr 2020


weltweit schätzungsweise 34 Milliarden
Geräte geben, die über das Internet der Dinge
kosten waren fix und hoch, die variablen Kosten
niedrig. Heute haben viele Branchen ein anderes
Ziel: Nicht mehr grosse Mengen und wenig Va-
mit anderen Geräten «kommunizieren» kön- rianten, sondern kleine Mengen, viele Varian-
nen. Nur 10  Milliarden davon werden Com- ten und wesentlich kürzere Zyklen werden an-
puter im herkömmlichen Sinn sowie Smart- gestrebt.
phones, Smartwatches etc. sein. Der Rest sind Denn heute wünschen sich die Verbraucher
Roboter, Förderbänder oder Elektrogeräte wie personalisierte Produkte und stets das Neueste,
Waschmaschinen, Drucker etc. Viele dieser ganz gleich, ob es sich um Bekleidung, Elektro-
Geräte werden sich in Fabriken befinden. geräte oder Nahrungsmittel handelt. Die Auto-
Da diese Maschinen miteinander, mit matisierung muss daher flexibel genug sein,
ihren Bedienern und mit zentralen Systemen um dem neuen Kaufverhalten gerecht zu wer-
kommunizieren können, können sie optimal den – mit einer grösseren Vielfalt an Produk-
auf Fehler achten und diese besser beheben. ten und Verpackungen und wesentlich kürzeren
Dadurch wird die Fabrik der Zukunft effizi- Lebenszyklen, die sich manchmal nur über we-
enter, zuverlässiger und flexibler und kann so nige Monate erstrecken. Die neue Fabrik muss
den Ansprüchen der Kunden gerecht werden die kundenindividuelle Massenproduktion er-
(siehe Kasten 1). Das frustrierende Argument, möglichen: Jedes Produkt wird dem Wunsch des
dass die Nachfrage nicht ausreiche, um dem Kunden entsprechend angepasst, aber mit Mas-
Produktionswunsch eines Kunden zu ent- senfertigungsverfahren hergestellt.
sprechen, dürfte dann weitgehend der Ver-
gangenheit angehören. Arbeitskollege: Roboter
Solche Fabriken sind teilweise bereits Rea-
lität. Wir nennen sie zwar «Fabriken der Zu- Dieser Wandel verlangt nach Anpassungen in
kunft», doch sie werden von ABB schon ge- der Fertigung. Aufgrund des wachsenden Pro-
baut. duktmixes werden Mitarbeitende in Zukunft

36  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

GUSTAV LIND
Technologischer
Vorreiter: Die ­Fabrik
enger mit Robotern zusammenarbeiten müs- des Lastwagenher- fünf Prozent der Industrieroboter auf irgendei-
sen – sei es, um neues Material zu bringen, Pro- stellers Scania in ne Weise vernetzt. Dadurch gehen den Fabriken
gramme zu ändern oder neue Prozesse zu prü- Schweden ist mit 283 sehr hilfreiche Informationen verloren, welche
Hightech-Robotern
fen. Heute müssen viele Industrieroboter ihre die Leistung steigern und den menschlichen Be-
ausgerüstet.
Arbeit aus Sicherheitsgründen hinter Schutz- dienern die Entscheidungsfindung erleichtern
zäunen verrichten und ausgeschaltet werden, könnten. Hier schlummern gewaltige Potenziale.
sobald ein Mensch sich nähert. Jedes Mal die Dank der Verfügbarkeit und Konnektivi-
Produktion zu stoppen, wenn ein Mensch einem tät kostengünstiger Sensoren liegen heute viel
bestimmten Prozess nahe kommt, ist heute je- mehr Informationen in digitaler Form vor. Diese
doch nicht mehr zielführend. Informationen können beispielsweise genutzt
Darüber hinaus sind viele der 1,7  Millionen werden, um die Maschinen vorausschauend zu
weltweit betriebenen Industrieroboter nicht ans warten, auf ein verändertes Bestellverhalten zu
sogenannte Industrial Internet angebunden. reagieren oder Unfälle zu verhüten.
Dieses verbindet physikalische Maschinen mit Alle diese Veränderungen beeinflussen letzt-
Sensoren und Software. Bisher sind nur rund endlich auch die Kostenstruktur. So erfordern

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  37
DIGITALISIERUNG

die kleineren Stückzahlen und der grössere Pro- Kasten 1: Neuerungen entlang der gesamten
duktmix mehr kostspielige Entwicklungszeit Produktionskette
und mehr Unterbrechungen im Fertigungsbe-
Neue Arbeitsweisen werden die gesamte Produktionskette
reich. Zudem erhöhen kürzere Produktzyklen betreffen.
die Kosten ungeplanter Stillstandszeiten, so-
dass auch kurze Ausfälle ins Gewicht fallen.
Und wer die Produktion näher beim Kunden
ansiedeln will, findet sich vielleicht in einer Re-
gion mit ausgeprägtem Fachkräftemangel wie- Entwicklung
der (siehe Kasten 2). Von der ersten Planung an gilt das Konzept der integrierten
Fabrik. Beispielsweise wird während der Entwicklung eines
Produktes bereits auf die verwendeten Materialien und deren
Die Instrumente sind vorhanden Fähigkeit zum einfachen Recyceln geachtet. Ebenso werden
die Entscheidungen für Optionen, die der Kunde später wählen
kann, ganz zu Beginn der Planung festgelegt. Spätere Änderun-
Die Fabrik der Zukunft muss diese Probleme lö-
gen sind nur mit grossem Aufwand zu realisieren.
sen – und das nötige Werkzeug ist schon vor-
handen. So macht die virtuelle Inbetriebnah-
me es möglich, Tests und Fehlerbehebungen
bereits vor der Installation eines neuen Pro-
dukts durchzuführen, was die Einführung be-
schleunigt. Cloudbasierte Systeme können die
Betriebsdaten aller Maschinen eines Typs zu-
sammenführen, sodass diese Maschinen von-
einander und die Bediener von den Maschinen
Inbetriebnahme
lernen können, welche Warnsignale auf eine
Werkzeuge wie Virtual Reality machen es möglich, schon vor
mögliche zukünftige Störung hindeuten. der Installation eines neuen Systems Fehler zu beheben und
Unterbrechungen des Produktionsbetriebs Mitarbeitende offline zu schulen.
können durch lernfähige Maschinen auf ein Mi-
nimum reduziert werden, beispielsweise durch
sogenanntes Lead-Through Programming. Da-
bei wird der Roboter schrittweise durch den
Prozess geführt, der unmittelbar von einer Soft-
ware aufgezeichnet und gespeichert wird. Das
Schreiben von Programmzeilen durch einen Ex-
perten entfällt dabei, und die Programmierung
nimmt statt vieler Stunden nur noch einige Mi- Betrieb
nuten in Anspruch. Intuitive Dashboards – vergleichbar mit dem Armaturenbrett im
In der Fabrik der Zukunft werden verschie- Auto – werden bessere Entscheidungen ermöglichen, und das
gesamte Fertigungssystem wird bessere Daten liefern.
dene Arten von Robotern tätig sein, die in unter-
schiedlichem Mass mit dem Menschen kollabo-
rieren. Teilweise wird es sich um traditionelle
Roboter handeln, deren Geschwindigkeit und
Position von intelligenter Software so gesteu-
ert wird, dass sich Menschen – ohne Unter-
brechung der Produktion – in der Nähe dieser
SHUTTERSTOCK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

Roboter betätigen können. In anderen Fällen


werden Menschen und Roboter Hand in Hand
an derselben Aufgabe arbeiten, beispielswei- Wartung
Geräte werden sich im Industrial Internet – im Zusammen-
se bei der Montage von elektronischen Klein-
spiel mit anderen Geräten – selbst überwachen und nur eine
geräten mit vielen verschiedenen, vom Kunden Wartung anfordern, wenn dies zur Vermeidung von Störungen
wählbaren Optionen. wirklich notwendig ist.

38  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

Kasten 2: Zunehmender Arbeitermangel


Weltweit wird es immer schwieriger, Men- wie der Schweiz, das für seine Berufsaus- brauchen die Fabrikarbeiter von morgen
schen zu finden, die sogenannte 4-D-Jobs bildung berühmt ist. Dieser Fachkräfte- keine hohen akademischen Grade.
(von englisch Dirty = schmutzig, Dull = mangel liefert ein gutes Argument für Sicher ist, dass sich auch die Art der
uninteressant, Dangerous = gefährlich eine stärkere digitale Automatisierung. Arbeit in Zukunft ändern wird: Ein Gross-
und Delicate = knifflig) verrichten wollen. Ein weiterer Grund ist die neue Gene- teil heutiger Schulanfänger wird Arbeiten
Dasselbe gilt auch für qualifizierte Fabrik- ration der «Digital Natives», sie sind mit verrichten, die es heute noch gar nicht
arbeiter. Der Trend, anstelle einer Lehre dem Internet aufgewachsen und wün- gibt. Die Fabrik der Zukunft wird also zur
lieber ein Studium zu absolvieren, hat zu schen sich geistig anregende Herausfor- Arbeit der Zukunft führen. Doch niemand
einem Mangel an qualifizierten Industrie- derungen, keine Knochenarbeit. Da Ro- kann heute schon sagen, wie diese aus-
arbeitern geführt, selbst in einem Land boter immer einfacher zu bedienen sind, sehen wird.

Wenn bei kollaborativen Robotern kei- entwickeln, der mit weniger menschlichen Ein-
ne Schutzgitter mehr gebraucht werden, kön- griffen Besseres leistet.
nen Hersteller ihre Produktionsabläufe flexi- Einen wichtigen Schritt auf diesem Weg
bel an Kundenanforderungen anpassen, ohne stellt die Umstellung von Roboterprogrammie-
durch fest installierte Schutzvorrichtungen rung auf das «Unterrichten» von Robotern durch
eingeschränkt zu sein. So kann ein kollabora- das Lead-Through Programming. Das ist heu-
tiver Roboter beispielsweise in der Frühschicht te schon möglich. In Zukunft werden Roboter
USB-Sticks kleben und die fertigen Produkte am eine neue Aufgabe wie das Greifen unvertrauter
Nachmittag in eine Lasergravurstation legen. Gegenstände von anderen Robotern lernen kön-
All diese Roboter werden zu Wartungszwe- nen. Möglicherweise können Roboter sich mit-
cken über das Industrial Internet an die zent- hilfe des maschinellen Lernens eines Tages auch
ralen Steuerungssysteme angeschlossen und selbst optimieren. Wie wäre es, wenn alle Robo-
darüber hinaus mit den unternehmensweiten ter, die weltweit dieselbe Aufgabe ausführen, bei
Bestell-, Einkaufs- und Versandsystemen ver- Schichtende zusammenkommen und analysie-
bunden sein. Bei einem Grossauftrag wird dann ren, was gut gelaufen ist und was sie am nächsten
automatisch sichergestellt, dass ausreichend Tag besser machen könnten?
Produktionsmaterial vorhanden ist und für die Es ist schwer zu sagen, was Richard Arkwright
Auslieferung der Produkte genügend LKW be- wohl gehalten hätte von kundenindividueller
reitstehen. Bestenfalls weiss das System sogar, Massenproduktion, enger Zusammenarbeit von
dass eine neue Werbekampagne die Nachfrage Mensch und Roboter oder von vernetzten Ro-
in der nächsten Woche steigern dürfte. botern, die lernen und nützliche Informationen
austauschen können. Eins ist jedoch klar: Her-
Der selbstlernende Roboter der steller, die heute in diese Lösungen für mehr Fle-
xibilität, Effizienz und Leistung investieren, wer-
Zukunft
den die Zukunft massgeblich mitprägen.
Heute sind Roboter darauf beschränkt, exakt
die Aufgaben zu erledigen, für die sie program-
miert wurden. Sie können noch nicht wie Men-
schen auf Änderungen in ihrem Umfeld oder an
ihren Aufgaben reagieren. Der nächste Schritt
wird deshalb die Weiterentwicklung des ma-
schinellen Lernens betreffen, eine Anwendung
künstlicher Intelligenz, die weitgehend auf der Steven Wyatt
Mustererkennung beruht. Das oberste Ziel ist Leiter Marketing und Vertrieb, Business Unit Robotics,
ABB, Zürich
es, einen bedienungsfreundlicheren Roboter zu

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  39
DIGITALISIERUNG

Eine Robotersteuer ist keine gute Idee


Die Robotersteuer wurde in letzter Zeit heftig diskutiert. Bevor man aber eine voreili-
ge Entscheidung fällt, sollte man die wirtschaftlichen und sozialen Folgen einer solchen
Steuer überdenken.  Simon Schnyder

Abstract  Die Arbeitswelt unterliegt einem tiefgreifenden Wandel. Die Auto-


wird vor allem die Ausgestaltung und Anwen-
matisierung der Wirtschaft weckt die Angst vor Arbeitsplatzverlust und zu- dung einer solchen Steuer kontrovers diskutiert.
nehmenden Ungleichheiten. Deshalb fordern einige eine Robotersteuer, Andere wichtige Fragen gehen dabei fast unter.
damit sich die Gesellschaft an die Veränderungen anpassen kann. Doch da- Beispielsweise: Um was für eine Art von Steuer
raus ergeben sich Probleme. Denn eine Robotersteuer ist eine Besteuerung würde es sich handeln? Was wären die mögli-
von Produktivkapital und bremst Investitionen und Wachstum. Ausserdem chen Auswirkungen? Und eignet sich eine Robo-
müsste definiert werden, was besteuert wird – und das könnte zu Diskri-
tersteuer angesichts anderer, bereits bestehen-
minierungen beim Produktionsapparat führen. Die wirtschaftlichen Kos-
ten dieser Verzerrungen würden teilweise auf die Arbeitnehmenden und die der Steuern überhaupt?
Konsumenten überwälzt. Die Robotisierung kann für die Schweiz aber auch
eine Chance sein: Wenn gewisse Industriezweige dank Robotern wieder Besteuerung von Produktivkapital
wettbewerbsfähig werden, käme es zu weniger Produktionsverlagerungen
ins Ausland. Schliesslich soll aber auch unser Steuersystem attraktiv bleiben. Die Einführung einer Robotersteuer käme einer
Mit einer Robotersteuer wäre das nicht mehr der Fall. Besteuerung von Produktivkapital gleich. Aus
wirtschaftlicher Sicht ist sie deshalb weniger
sinnvoll als die Besteuerung von Einkommen

D  ie Entwicklung von Robotern und künst-


licher Intelligenz lässt erahnen, welch
tiefgreifender Wandel dem Arbeitsmarkt in
oder Konsum. Denn sie verteuert Investitionen
und mindert den Anreiz zu investieren. Die Bil-
dung von Produktivkapital und das Wirtschafts-
den nächsten Jahrzehnten bevorsteht. Bereits wachstum würden dadurch gebremst. Doch das
werden Szenarien wie das Verschwinden von ist nicht das einzige Problem: Hinzu kommen die
Arbeitsplätzen oder die Zunahme der Einkom- steuerlichen und die administrativen Kosten. Da-
mensungleichheit skizziert. Entsprechend sind mit die wirtschaftliche Zusatzbelastung einer
neue wirtschaftspolitische Massnahmen ge- Steuer möglichst gering ist, muss die Steuer neu-
fragt. Einige Kreise fordern deshalb eine Ro- tral sein und darf die Entscheidungen der Steuer-
botersteuer für die mit künstlicher Intelligenz pflichtigen nicht beeinflussen. Das bedeutet,
ausgestatteten Roboter der neuen Generation. dass Unternehmen nicht aufgrund einer Steuer
Dies soll in erster Linie die Verbreitung dieser entscheiden sollten, welche juristische Form sie
Roboter verlangsamen, sodass sich die Gesell- wählen, in welche Projekte sie investieren und
schaft an die zu erwartenden Veränderungen wie sie sich finanzieren. Andernfalls führt die
anpassen kann. Da eine solche Steuer Roboter- Steuer zu Verzerrungen, da die Steuerpflichtigen
technologien verteuert, soll menschliche Arbeit ihre Situation zu optimieren versuchen. Die Ver-
wettbewerbsfähig bleiben. Ausserdem will man teilung der Ressourcen hängt dann nicht mehr
damit Steuerausfälle ausgleichen, die durch das nur von wirtschaftlichen Kriterien, sondern auch
Verschwinden von Arbeitsplätzen entstehen.1 von Steueranreizen ab.
Die Diskussion über die Form und das Aus- Aber zuallererst müsste definiert werden,
mass der befürchteten Arbeitsmarktverände- was aus steuerlicher Sicht ein Roboter ist. Das
1 Gates (2017), Abbot und
Bogenschneider (2017)
rung ist vielfältig und widersprüchlich.2 Dieser heisst: Es müsste unterschieden werden, für wel-
sowie Oberson (2017). Artikel soll weder zu dieser Debatte beitragen che Kategorien von Produktivkapital eine Steuer
2 Siehe Bundesrat (2017)
für eine Zusammen- noch eine Zusammenfassung davon bieten. anfällt und für welche nicht. Unternehmen, die
fassung.
3 Guerreiro, Rebelo und
Stattdessen soll untersucht werden, ob sich eine die gleichen Waren produzieren, würden dann
Teles (2017). Robotersteuer überhaupt eignet. Momentan aber aufgrund ihrer Produktionstechnologien

40  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

unterschiedlich besteuert. Das würde sie dazu werbsfähigkeit der Arbeitnehmenden steigern
bewegen, in die am geringsten besteuerten an- und deren Löhne stützen würden. Um die sozia-
statt in die effektivsten Technologien zu inves- len Vorteile einer solchen Politik zu beurteilen,
tieren. Die Folge wäre ein Produktivitätsverlust, müssen sie allerdings mit den entgangenen Ef-
der sich negativ auf das Steuersubstrat auswirk- fizienzgewinnen in Verhältnis gesetzt werden.
te. Zu Steuerausfällen käme es auch, wenn sich Zudem müssen sie mit den Kosten und Vortei-
die Unternehmen wegen der neuen Steuer zu len anderer fiskalischer Instrumente verglichen
stark eingeschränkt fühlten und deshalb lieber werden, mit denen das gleiche Resultat hätte
im Ausland investierten. erreicht werden können. Eine kürzlich in den
USA durchgeführte Studie3 hat untersucht, ob
Zu Lasten der Arbeitnehmenden eine Robotersteuer zur Verringerung der Ein-
kommensungleichheit wirksam ist. Die Studie
Über Steuern lassen sich das Verhalten und zeigt, dass der Nutzen gering wäre. Die Einbus-
die Entscheidungen von Unternehmen beein- sen bei der Wirtschaftseffizienz wären dagegen
flussen. Bei unternehmerischen Entscheidun- massiv. Die aufgrund der Robotisierung ent-
gen, deren externe Effekte für die Gesellschaft stehenden Ungleichheiten liessen sich kosten-
zu schwer wiegen, kann das sinnvoll sein. Mit günstiger verringern: durch eine angepasste
einer Robotersteuer liesse sich womöglich die Einkommensbesteuerung oder durch direkte
Einkommensungleichheit verringern, die durch Zahlungen an gewisse Arbeitnehmende. Doch Freund oder Feind?
den Einsatz von Robotern zunehmen könnte. die Gesamtkosten einer Steuer zu analysieren, Die Kommunikations-
chefin des Herstellers
Denn durch die Steuer entstehen Zusatzkos- reicht nicht. Es muss auch untersucht werden, Aldebaran umarmt
ten für diese Technologie, welche die Wettbe- wer diese letztlich trägt. den Informations­
roboter Pepper.

KEYSTONE

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  41
DIGITALISIERUNG

Im Allgemeinen wird vor allem befürch- internationale Fragmentierung der Produktion


tet, dass viele Arbeitsplätze verschwinden wer- an Attraktivität einbüssen.6 Ein immer grösse-
den. Aber die Automatisierung scheint in ers- rer Teil der Zwischen- und Endprodukte würde
ter Linie die Tätigkeiten an sich zu betreffen.4 dann im Inland produziert, sodass die Indust-
Der Grossteil der Arbeitsplätze wird vermutlich rieprodukte aus entwickelten Volkswirtschaf-
nicht verschwinden, lediglich die Tätigkeiten ten wieder wettbewerbsfähiger würden und es
werden sich verändern. Die Roboter spielten im zu weniger Produktionsverlagerungen ins Aus-
Produktionsprozess somit vielmehr eine ergän- land käme. Diesen Aspekt gilt es aufmerksam zu
zende Rolle. Beschränkt man ihre Zahl, würde prüfen, bevor die Einführung neuer Technolo-
dies auch das Wachstum der Arbeitsprodukti- gien gebremst wird.
vität bremsen. Da die Lohnentwicklung aber an Früher oder später wird es infolge des ra-
die Arbeitsproduktivität gekoppelt ist,5 würde schen technologischen Wandels zu strukturel-
ein Teil der wirtschaftlichen Kosten der Robo- len Veränderungen kommen. Das gilt sowohl
tersteuer somit zulasten der Arbeitnehmenden für die Produktion an sich als auch für die Pro-
gehen. Geringere Produktivitätsgewinne führen duktionstechniken und die weltweite Organi-
ausserdem dazu, dass Preissenkungen, die den sation. Dadurch sind bedeutende Produktivi-
Konsumenten zugutekommen, langsamer erfol- tätsgewinne möglich, aber es entstehen auch
gen. Die Konsumenten müssten die Zeche für wirtschaftliche und soziale Übergangskos-
die Steuer also indirekt mitbezahlen. ten. Deshalb braucht es wirksame und kon-
kurrenzfähige fiskalische Instrumente, sodass
Die Schweiz nicht benachteiligen die Schweiz von den neuen Möglichkeiten pro-
4 OECD (2016).
fitieren kann und die Dynamik unseres Wirt- 5 Meager und Speck­esser
Die jüngsten Entwicklungen betreffen auch den schaftsstandortes sowie der Wohlstand des (2011).
6 De Backer und Flaig
internationalen Steuerwettbewerb. Dieser dürf- Landes bewahrt werden. (2017).
te durch die Digitalisierung noch stärker wer-
den. Eine attraktive Unternehmensbesteuerung
ist für die Schweiz als kleine, offene Volkswirt-
schaft von grosser Bedeutung. Vor allem in den
besonders mobilen Wirtschaftssektoren muss
die effektive Gesamtsteuerlast deshalb niedrig
gehalten werden.
Ausserdem dürfte die fortschreitende Robo-
tisierung und Digitalisierung die globalen Wert-
Simon Schnyder
schöpfungsketten beeinflussen. Die Schweiz Dr. rer. pol., Ökonom, Abteilung Volkswirtschaft und
ist in diese Wertschöpfungsketten gut integ- Steuerstatistik, Eidgenössische Steuerverwaltung
(ESTV), Bern
riert. Durch die neuen Technologien könnte die

Literatur
Abbot, R. und B. Bogenschneider (2017). Should De Backer, K. und D. Flaig (2017). The Future of Oberson, Xavier (2017). Taxing Robots? From
Robots Pay Taxes? Tax Policy in the Age of Au- Global Value Chains: Business as Usual or ’a the Emergence of an Electronic Ability to Pay
tomation?, in: Harvard Law & Policy Review. New Normal’? Direktorat für Wissenschaft, to a Tax on Robots or the Use of Robots, in:
Guerreiro, J., S. Rebelo und P. Teles (2017). Technologie und Innovation, Dokument World Tax Journal, No. 2, Mai.
Should Robots Be Taxed? NBER Working Nr. 41, OECD-Publikationen, Paris. OECD (2016). Automation and Independent
Papers No. 23806, National Bureau of Econo- Gates, Bill (2017). The Robot That Takes Your Work in a Digital Economy, Policy Brief on the
mic Research. Job Should Pay Taxes, in: Quartz-Magazin, Future of Work, OECD-Publikationen, Paris.
Bundesrat (2017). Auswirkungen der Digita- 17. Februar.
lisierung auf Beschäftigung und Arbeitsbe- Meager N. und S. Speckesser (2011). Wages,
dingungen − Chancen und Risiken. Bericht Productivity and Employment: A Review of
des Bundesrates in Erfüllung der Postu- Theory and International Data, European Em-
late 15.3854 Reynard vom 16.09.2015 und ployment Observatory, Thematic Expert Ad-
17.3222 Derder vom 17.03.2017, Bern, 8. No- hoc Paper.
vember.

42  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


DER STANDPUNKT

Roland A. Müller wirtschaft kam es im öffentlichen


Prof. Dr. iur., Direktor des Schweizerischen Arbeitgeber­ Sektor und in staatsnahen Branchen
verbandes, Zürich wegen einer unterdurchschnittlichen
Produktivitätsentwicklung zu einem
stark überdurchschnittlichen Beschäf-

Chancen der Digitalisierung tigungswachstum. So stieg die Anzahl


Stellen im Gesundheits- und Sozialwe-

nicht im Keim ­ersticken sen, in der Verwaltung sowie in den Be-


reichen Erziehung und Bildung.1

Auf dem Arbeitsmarkt steigt angesichts der Digitalisie­ Qualifizierte Arbeitskräfte


rung die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften.
Das starke Stellenwachstum der ver-
Sämtliche Ausbildungsstätten müssen sich konsequent gangenen Jahre legt den Schluss nahe,
auf diese neuen Anforderungen ausrichten. Regulierun­ dass der Schweiz in den nächsten Jah-
gen auf Vorrat sind hingegen kontraproduktiv. ren die Arbeitsplätze nicht wegbre-
chen werden. Handlungsbedarf dürf-
te hingegen bei der Qualifizierung der
Die Auswirkungen der Digitalisierung sorgen weltweit für Arbeitnehmenden entstehen. Denn der Strukturwandel
Schlagzeilen. Insbesondere die Debatte über die technolo- führt dazu, dass zunehmend Arbeitskräfte für bildungsin-
gisch bedingte Veränderung von Wirtschaft und Gesell- tensive Tätigkeiten nachgefragt werden.
schaft wird kontrovers geführt und verunsichert weite Um diesen Wandel möglichst reibungslos zu vollziehen,
Teile der Bevölkerung. Um die Auswirkungen der Digi- wird es entscheidend sein, die Aus- und Weiterbildungs-
talisierung auf den Arbeitsmarkt abschätzen zu können, angebote rasch an die Herausforderungen der Digitalisie-
muss man die Entwicklungen aus zwei Blickwinkeln be- rung anzupassen. Auf diese Aufgabe ist die Schweiz auch
trachten: Während in einer quantitativen Analyse die dank ihren angesehenen Hochschulen und dem dualen
Nachfrage nach Arbeitskräften insgesamt stark vom Auto- Bildungssystem hervorragend vorbereitet. Das hiesige
matisierungspotenzial der Stellen abhängt, sind die neuen Bildungssystem erlaubt eine berufsnahe Ausbildung und
Anforderungen an die Arbeitnehmenden Spezialisierung und deshalb eine
qualitativer Natur. breite Eingliederung in den Arbeits-
Beide Fragestellungen können grössten- In den nächsten Jahren markt. Die Schwierigkeit wird jedoch
teils voneinander unabhängig analysiert werden die Stellen darin bestehen, die Ausbildungsin-
werden. Dabei darf nicht ausser Acht ge- halte sowohl der Bildungsinstitutio-
lassen werden, dass die Digitalisierung ein
in der Schweiz nicht nen als auch der Lehrbetriebe den
stetiger Prozess ist, der die Struktur des wegbrechen. sich schnell verändernden Erforder-
Arbeitsmarkts bereits in der Vergangen- nissen der Wirtschaft anzupassen.
heit stark verändert hat. Die Arbeitgeber schulen ihre Mit- Die Digitalisierung stellt die Wirtschaft zweifellos vor
arbeitenden in den meisten Fällen «on the job», damit sie neue Herausforderungen, namentlich im Bereich der Qua-
mit den neuen Technologien Schritt halten können. lifizierung und Weiterbildung von Arbeitskräften. Un-
In entwickelten Volkswirtschaften fördern neue Tech- gleich grösser sind jedoch die Vorteile, die sich durch die
nologien die Verlagerung der Arbeit in jene Branchen, die Digitalisierung für das Land ergeben, sofern sie nicht vor-
nur beschränkt zur Steigerung der Produktivität beitra- zeitig durch unkluge und schwerfällige Regulierungen im
gen. Entsprechend kam es in den letzten Jahrzehnten zu Keim erstickt werden. Will die Schweiz im internationa-
einem beschleunigten Strukturwandel, wodurch zahlrei- len Standortwettbewerb erfolgreich bleiben, muss sie die
che Arbeitsplätze im zweiten Sektor ab- und im dritten Sek- Chance nutzen, ihre Attraktivität für Arbeitskräfte und
tor aufgebaut wurden. Gemäss dem Bundesamt für Statistik Unternehmen weiter zu erhöhen.
entstanden in den letzten 25 Jahren in der Schweiz beina-
1 Vgl. P. Zenhäusern und S. Vaterlaus (2017): Digitalisierung und Arbeitsmarktfolgen,
he 950 000 zusätzliche Stellen. Anders als in der Privat­ Fondation CH2048.

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  43
DER STANDPUNKT

Daniel Lampart lenwachstum sowie auf gute Früh-


Dr. phil. I und lic. oec., Sekretariatsleiter und Chefökonom, pensionierungslösungen für ältere
Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB), Bern Mitarbeitende zurückzuführen.

Gesamtarbeitsverträge und
Digitalisierung muss Weiterbildung

­Berufstätigen nützen Heute ist die Situation schwieriger.


Die Beschäftigung stagniert weitge-
hend, und die Leistungen der zwei-
Ein Strukturwandel wie die Digitalisierung birgt Gefahren ten Säule sind im Krebsgang. Die
für Löhne, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen. Damit Führungsetagen der Firmen sind
rücksichtsloser geworden. Auch aus
alle Berufstätigen von den technologischen Neuerungen
Organisationen wie dem Gewerbe-
profitieren, braucht es einen besseren Arbeitnehmer­ verband kommen Kampfparolen, die
schutz und zusätzliche Weiterbildungsmöglichkeiten. Arbeitszeiten zu erhöhen und so die
Berufstätigen erstmals in der Wirt-
schaftsgeschichte nicht mehr an den
Die Digitalisierung ist schon lange im Gang. Bereits zu Früchten der Produktivitätssteigerungen zu beteiligen.
Beginn der Neunzigerjahre gab es in der Schweiz eine Das alles zeigt: Es braucht ein stärkeres wirtschaftspoli-
Million Bildschirmarbeitsplätze. Seither sind Computer tisches Engagement, um negative Entwicklungen der Di-
und die Verarbeitung grosser Mengen von Daten in Bran- gitalisierung zu verhindern.
chen wie Banken, Versicherungen, Kommunikation und Für die Gewerkschaften ist klar: Die Digitalisierung
Logistik selbstverständlich. muss den Berufstätigen nützen. Sie fordern deshalb unter
Beim Wort «Digitalisierung» denken die meisten Men- anderem:
schen vor allem an den verstärkten Einsatz von Compu- –– Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen im
tern und Robotern in den Firmen. Und an die Vergabe Einklang mit der Produktivitätsentwicklung, Gesamt-
von Jobs und Aufträgen über Internetplattformen («Ube- arbeitsverträge mit Mindestlöhnen sowie Aus- und
risierung», «Crowdworking»). Tatsächlich sind aber die Weiterbildungsmöglichkeiten in gefährdeten Bran-
Verlagerung von Büroarbeitsplätzen ins Ausland, das chen wie Detailhandel, Journalismus, Taxigewerbe so-
Wachstum des Internethandels oder die Verschiebung wie Versicherung und Banken;
von Geschäften ins Internet ebenso bedeutend. Ein Bei- –– Arbeitsplatzgarantien bei Stellenverlusten, aktive
spiel dafür ist die verstärkte Onlinewerbung. Auch dro- Unterstützung bei der Stellensuche, einen besseren
hen sich Arbeit und Freizeit zu vermischen, und die Kündigungsschutz für langjährige ältere Arbeitneh-
Arbeit wird dichter. Mehr Stress entsteht. mende und Frühpensionierungen zu guten Bedingun-
In der Wirtschaftsgeschichte gab es immer grösse- gen;
re technologische Veränderungen. Dieser Wandel ver- –– eine Kontrolloffensive gegen digitale Schwarzarbeit
lief für die Mehrheit der Arbeitnehmenden positiv. Weil und arbeitsrechtliche Missbräuche, Regelungen fürs
sie sich organisiert und für gute Löhne und Arbeitsbe- Homeoffice, wo Gesetzeslücken im Arbeitnehmer-
dingungen gekämpft haben. Weil gute Aus- und Weiter- schutz bestehen, z. B. in den Bereichen Gesundheit und
bildungsmöglichkeiten entstanden sind. Und weil viele Materialkosten sowie bei Haftungsfragen.
Arbeitgeber ihre soziale Verantwortung wahrgenom-
men haben. Doch für die unmittelbar Betroffenen war Um den Herausforderungen der Digitalisierung ge-
der Wandel teilweise hart. In der Digitalisierungswelle wachsen zu sein, braucht es eine weitere Offensive bei der
in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre gab es trauri- Aus- und Weiterbildung. Die Kantone und die Arbeitge-
ge Schicksale von älteren Büroangestellten, die dauer- ber sollen endlich ausreichend Angebote für Erwachsene
haft arbeitslos wurden. Dass die Arbeitslosigkeit ab 1997 schaffen (Validation, Nachholbildung usw.) und mitfinan-
insgesamt aber spürbar zurückging, war auf den Kon- zieren. Finanziert werden kann diese Bildungsoffensive
junkturaufschwung und das damit verbundene Stel- mit ausreichend hohen Gewinnsteuern der Firmen.

44  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


DER STANDPUNKT

und Plattformwirtschaft. Es dürf-


Joël Luc Cachelin te sich ein Szenario der Ökosysteme
Dr. oec. HSG, Wissensfabrik, Dulliken durchsetzen, das sich gleichermas-
sen aus globalen Konzernen wie ni-
schenorientierten und flexiblen Mi-

Digitale Cluster für die ni-Unternehmen zusammensetzt. Die


Re-Organisation bewirkt – positiv be-

Schweiz trachtet – eine Befreiung der Arbeit


aus administrativen Strukturen. Dem-
gegenüber argumentieren Kritiker mit
In welchen Branchen schafft die Digitalisierung neue einer «Uberisierung» beziehungswei-
se mit einer Zunahme von temporären
Arbeitsplätze? Eine vorausschauende Wirtschaftspolitik Arbeitsverhältnissen. Sie verweisen
orientiert sich an den Clustern der Zukunft. auf fehlende Arbeitsplatzsicherheit
und abnehmende Solidarität. Gera-
de für Mitarbeitende im wegfallenden
Wirtschaftspolitik sollte nicht nur antizipieren, wo Arbeit mittleren Management wird dieser Strukturwandel eine
durch digitale Prozesse, den Einsatz von Robotern, die Neudefinition ihrer Rolle bedingen. Netzwerkorganisatio-
Auslagerung von Tätigkeiten an Kunden oder künstliche nen setzten auf Selbstorganisation statt Hierarchien und
Intelligenz wegfallen könnte. Vielleicht ist es gerade für Abteilungen.
den Arbeitsmarkt der Hochqualifizierten noch wichtiger,
zu reflektieren, wo neue Arbeit entsteht. Service public für die digitale Zukunft
Das ermöglicht es, gezielt in die dafür nötige Infrastruk-
tur und Forschung sowie die künftig benötigten Fähigkei- In Zukunft wird das Spiel der Kombinatorik noch präsen-
ten zu investieren. Banken, Versicherungen und die Phar- ter: Diejenigen Unternehmen und Volkswirtschaften wer-
maindustrie dürften infolge der Digitalisierung weniger den gewinnen, denen es am besten gelingt, die Fähigkeiten
Hochqualifizierte als heute beschäftigen. Aufgrund der der Menschen und Maschinen miteinander zu kombinie-
heutigen Kompetenzen könnten fol- ren. Um weiterhin zu den weltführen-
gende Themen für die Schweiz wichti- den Volkswirtschaften zu gehören, wird
ger werden: Datenspeicher, Verschlüs- Wichtiger als ein es nötig sein, in unsere bisherigen Stär-
selung, Robotik, künstliche Intelligenz, ­flächendeckendes Post- ken zu investieren: die politische Stabi-
biologische Speicher – zum Beispiel auf lität, die Infrastruktur, die Bildung und
netz wird ein Daten­
der Haut – oder Recycling. die Diversität der Einwohner.
Auch im Arbeitsmarkt für Weniger- tresor sein. Dazu braucht es in einem Kontext
qualifizierte kommt es zu Verlagerun- der steigenden Vernetzung einen neu-
gen. Bereits heute ist sichtbar, dass es weniger Arbeit an en Service public, der sich an den Herausforderungen
Schaltern und im Verkauf geben wird. Doch auch in der und Gegebenheiten eines digitalen Zeitalters ausrichtet.
Sachbearbeitung, in Callcentern und im Transport dürf- Wichtiger als das Fernsehen werden global erfolgreiche
ten durch künstliche Intelligenz beziehungsweise selbst- Serien sein, wichtiger als ein flächendeckendes Postnetz
fahrende Fahrzeuge Arbeitsplätze wegfallen. Ohne Zweifel ein Datentresor, mit dessen Hilfe wir unsere Daten ver-
wird es aber im Handwerk, in der Pflege, in der Reinigung walten und verkaufen können. Ebenfalls an Bedeutung
auch in Zukunft Arbeit geben. Bekennt sich eine Volks- gewinnt der Zugang zu künstlicher Intelligenz. Weiter
wirtschaft zudem zur Kreativität, ist es nichts als konse- sind neue Mobilitätslösungen wie «Cargo Sous Terrain»
quent, mehr Menschen als heute zu erlauben, durch Kunst oder «Swissloop» gefragt. Schliesslich sollte sich das Bil-
und kritische Reflexion ihr Leben zu finanzieren. dungssystem ganz an den Fähigkeiten der Zukunft, ins-
Neben inhaltlichen Verschiebungen verändern sich besondere der Kreativität und der Selbstkompetenz, aus-
die Strukturen. Schlagwörter sind Sharing-Economy richten.

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  45
DIGITALISIERUNG

«In vielen Bereichen ist das


Innovations­potenzial zunehmend
­ausgereizt.» David Dorn in seinem
Büro an der Universität Zürich.
MARLEN VON WEISSENFLUH / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

46  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

«Die technologische Entwicklung


verliert an Tempo»
Der Zürcher Ökonomieprofessor David Dorn plädiert für kühleren Verstand bei der Dis-
kussion um die Digitalisierung. Technologischer Wandel sei nicht immer gradlinig und
führe nicht zwingend zu Massenarbeitslosigkeit, sagt er im Interview. Zudem über­
schätze man die aktuellen Fortschritte.  Susanne Blank

Herr Dorn, Sie forschen zum digitalen Wandel. Google-Software erkennt bereits Bilder von
Wie verändert die Digitalisierung Ihre eigene Gegenständen. Szenarien gehen davon aus, dass
Arbeit als Wissenschaftler? in einigen Jahren Lastwagenfahrer und schliess-
Sehr stark. Sie ermöglicht uns, in viel grösse- lich auch Chirurgen durch Roboter ersetzt wer-
rem Ausmass empirische Forschung zu betrei- den können. Verschwinden diese Berufe?
ben. Wir haben besseren Zugang zu den Daten, Nein. Die mögliche Automatisierung eines be-
die heute an vielen Orten digital erfasst und zu- stimmten Ablaufs führt nicht zwingend zum
gänglich sind. Dank leistungsfähigeren Compu- Aussterben eines ganzen Berufes. Ein Beispiel:
tern haben wir zudem die Möglichkeit, solche Die amerikanische Luftwaffe liess bereits 1947
Daten systematisch auszuwerten. Vor 20 bis 30 ein unbemanntes Flugzeug über den Atlantik
Jahren war die Ökonomik noch mathematisch- fliegen. Trotzdem ist die Beschäftigung von Pilo-
theoretisch orientiert, heute beschäftigt sie sich ten seither massiv angestiegen. Wir unterschät-
vorwiegend mit der Datenanalyse. zen hier häufig das Tätigkeitsspektrum eines Be-
rufes: Ein Lastwagenfahrer lenkt nicht nur, er
Mit der Einführung des PC zu Beginn der Achtzi- beschäftigt sich auch mit dem Beladen und Ent-
gerjahre hat sich die Digitalisierung auch auf die laden des Lastwagens und mit der Papier- und
Bürotätigkeiten ausgeweitet. Welche Tätigkei- Registrationsarbeit. Zudem kann er auf unvor-
ten hielten bisher der Automatisierung stand? hergesehene Situationen wie komplizierte Stras-
Das grundsätzliche Muster der Automatisierung senverhältnisse oder Baustellen reagieren. Diese
ist bei Büroaufgaben ähnlich wie in der indus- Dinge sind nur schwer oder gar nicht von einer
triellen Produktion: Tätigkeiten, die genauen Maschine zu bewältigen.
Arbeitsmustern folgen, werden automatisiert.
Weniger betroffen sind Tätigkeiten, in denen
Kreativität, Interaktionen mit Menschen, Prob- David Dorn
lemlösungen und Strategieentwicklung wichtig Der 38-jährige David Dorn ist Professor für Arbeitsökonomie
sind. Auch Berufe, in denen ganz grundsätzliche und internationalen Handel am UBS Center of Economics in So-
menschliche Eigenschaften wie das Erkennen ciety an der Universität Zürich. Zuvor lehrte er am Center for
Monetary and Financial Studies (CEMFI) in Madrid sowie an der
von Gegenständen, feinmotorische Bewegun-
Harvard-Universität in Boston. In seiner Forschung untersucht
gen oder räumliche Orientierung gefragt sind, er unter anderem die Auswirkungen der Globalisierung und des
bleiben bestehen. technologischen Wandels auf den Arbeitsmarkt.

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  47
DIGITALISIERUNG

Bis man sich vom Lastwagenfahrer trennt, dau- Eine viel beachtete Studie der Universität Ox-
ert es also noch. ford aus dem Jahr 2013 sagt voraus, dass in den
Hier spielt auch die gesellschaftliche Akzeptanz USA bis 2050 durch die Automatisierung rund
hinein. Wären die Gäste einer Fluggesellschaft die Hälfte aller Jobs wegfallen. Wie schätzen Sie
bereit, mit einem führerlosen Flugzeug zu rei- diese Studie als Wissenschaftler ein?
sen? Technisch ist es möglich und wird in mili- Diese Studie basiert nicht auf den aktuellsten Er-
tärischen Anwendungen auch gemacht, aber im kenntnissen. Sie sagt das baldige Verschwinden
Personenverkehr hat es nicht Einzug gehalten. vieler Berufe voraus, in denen wir trotz zuneh-
mender Verwendung von Robotern ein bestän-
Wir haben trotz zunehmen- diges Ansteigen der Beschäftigung beobachten.
«Die Einkommen sind der Automatisierung in der
zunehmend ungleicher Schweiz momentan eine tiefe Wie viele Jobs fallen Ihrer Meinung nach weg?
Arbeitslosenquote von rund 3 Im verarbeitenden Gewerbe und in bestimm-
verteilt.» Prozent. Ist also alles bestens? ten Bürotätigkeiten gibt es einen Rückgang der
Wir wissen aus den Erfah- Beschäftigung. Dieser dürfte sich auch in Zu-
rungen von mehreren Jahrhunderten des tech- kunft fortsetzen. In anderen Bereichen werden
nischen Fortschritts, dass das Ersetzen von dagegen neue Arbeitsstellen geschaffen. Das gilt
menschlicher Arbeit durch arbeitssparende nicht nur für hoch qualifizierte Jobs, sondern
Technologien langfristig keinen Anstieg der auch für niedrig qualifizierte etwa im Gesund-
Arbeitslosigkeit zur Folge hat. heitssektor und in der Altenpflege.

Die Weltbevölkerung war noch nie so zahlreich. Sind also die tief qualifizierten Berufe nicht
Es braucht zusätzliche Stellen. unter Druck?
Mehr Menschen konsumieren mehr. Wir benö- Zu einem Anstieg des Beschäftigtenanteils
tigen somit mehr Leute, die Güter und Dienst- kommt es laut den Daten sowohl in den bestqua-
leistungen herstellen und anbieten. Innerhalb lifizierten Berufen mit den höchsten Löhnen
der letzten 150 Jahre haben wir die Wirtschafts- wie bei Managern, Ingenieuren oder Naturwis-
struktur komplett auf den Kopf gestellt: Wir sind senschaftlern als auch bei den sehr niedrig qua-
von einer Agrargesellschaft über die Industria- lifizierten, tief bezahlten Dienstleistungsberu-
lisierung zu einer Dienstleistungsgesellschaft fen in Restaurants, im Reinigungsgewerbe und
übergegangen und haben immer wieder zusätz- in der Kinderbetreuung. Bei Letzteren handelt
liche, neue Arbeitsfelder erschaffen. Man denke es sich um Tätigkeiten, die von Menschen mit
etwa an den Zuwachs an Programmierern und geringer schulischer Qualifikation relativ leicht
Beschäftigten in diversen anderen IT-Berufen. auszuüben sind, die jedoch Maschinen immer
noch grösste Probleme bereiten.
Schaffen wir damit genügend Stellen?
Noch viel wichtiger ist ein anderer Wirkungs- Haben Sie ein Beispiel?
kanal: Durch den Einsatz von günstigen Pro- Es gibt schon seit Jahrzehnten grosse Bestre-
duktionstechnologien haben sich die Preise der bungen in der Roboterindustrie, gute Putzro-
Produkte wesentlich verringert. Die industrielle boter für Reinigungsarbeiten zu erschaffen.
Revolution hat in der Textilproduktion aufwen- Auch nach langer Forschungszeit ist man bis-
dige Handarbeit durch neuartige Maschinen her kaum weitergekommen. Sobald es darum
ersetzt und konnte so die Preise der erzeugten geht, die Möbel in einer Wohnung abzustau-
Kleider massiv senken. Dies ermöglichte den ben, und man die Intuition haben muss, mit
Konsumenten, einen grösseren Teil ihres Ein- welchen Bewegungen und wie viel Druck man
kommens auf andere Güter und Dienstleistun- diese anfassen sollte – da ist ein Roboter kom-
gen zu verwenden, etwa für Aktivitäten wie Fe- plett überfordert.
rienreisen und Freizeitunterhaltung. In diesen
Branchen wurden dementsprechend viele Stel- Sind also vor allem Berufe gefährdet, die eine
len geschaffen. mittlere Qualifikation erfordern?

48  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


FOKUS

Genau. Der Stellenverlust bei Produktions- und Es gibt ja nicht nur die Lohneinkommen.
Bürotätigkeiten betrifft häufig mittlere Quali- Seit etwa drei Jahrzehnten sehen wir in vielen
fikations- und Einkommensgruppen. Dadurch Ländern einen Rückgang beim Anteil der Arbeit-
entsteht eine Polarisierung der Beschäftigung, nehmer am Gesamteinkommen der Volkswirt-
die sich zunehmend in den höchst- und nie- schaft. Währenddessen steigt der Anteil des
drigstbezahlten Berufen konzentriert. In der Kapitaleinkommens. Wenn eine solche Ver-
Schweiz zeigt sich das sehr ausgeprägt. Das be- teilungssituation weiter fortschreitet, gewinnt
deutet nicht, dass durch die technologische Ent- auch eine Umverteilung von Kapitaleinkünften
wicklung Massenarbeitslosigkeit entsteht. Aber hin zur breiten Bevölkerung an Bedeutung.
die Einkommen sind zunehmend ungleicher
verteilt. Was braucht es für zusätzliche Massnahmen?
Es ist wichtig, dass die Menschen auch in Zu-
Führt das zu sozialen Spannungen? kunft den Eindruck haben, dass sie im Arbeits-
In manchen Ländern wie den USA sind bereits markt durch eigene Leistung eine wirtschaft-
Probleme aufgetreten: Einerseits wachsen dort liche Verbesserung erzielen können oder dass
die Einkommen der Bestbezahlten im Arbeits- zumindest die Generation ihrer Kinder bessere
markt, aber gleichzeitig haben grosse Segmente Perspektiven hat.
der Beschäftigten seit Jahrzehnten keinen An-
stieg der Reallöhne mehr erlebt. Damit sprechen Sie die Bildung an. Der Bundes-
rat genehmigte jüngst einen Zusatzkredit für
Was ist zu tun? Bildung und Weiterbildung, damit die Beschäf-
Die meisten westlichen Staaten haben heutzu- tigten den Anforderungen der Digitalisierung
tage progressive Steuersysteme. Das heisst, es gewachsen sind. Ist dies die Lösung?
gibt bereits eine automatische Stabilisierung: Es ist wichtig, in die Bildung der neuen Gene-
Wenn die Einkommen ungleicher werden, wird ration zu investieren. Die Digitalisierung im
stärker umverteilt. Arbeitsmarkt zeigt sich besonders stark bei den

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  49
DIGITALISIERUNG

jungen Generationen. Wenn weniger Produkti- Zweiten Weltkrieg. Das schwächere Produktivi-
ons- oder Buchhaltungsberufe gefragt sind, tre- tätswachstum weist darauf hin, dass die tech-
ten die Jungen nicht mehr in diese Berufe ein. nologischen Verbesserungen in der Herstellung
Sie wählen Berufe wie Programmierer oder wei- von Gütern und Dienstleistungen nicht mehr so
chen in Berufe mit niedrigen Qualifikationsan- schnell erfolgen wie früher. Bei Computern und
forderungen aus, wo es noch Beschäftigungs- in der Mobilfunktechnologie war die techno-
möglichkeiten gibt. logische Entwicklung in den letzten Jahrzehn-
ten zwar rasend schnell, aber in vielen anderen
Welche Reformen braucht Technologiebereichen war sie deutlich langsa-
«Es ist nicht erfolg- unser Bildungssystem, damit mer.
versprechend, wenn wir künftig viele gut qualifi-
zierte Leute haben? Wo beispielsweise?
man Kinder zu kleinen Wir müssen realisieren, dass Etwa in der Medizin. Gemessen an den enor-
Computern ausbildet.» wir die Computer auf ihrem men Investitionen in die Forschung, stellt sich
eigenen Territorium nicht die Frage, ob wir noch im gleichen Ausmass er-
mehr übertreffen können. Es ist heute nicht folgreich Medikamente entwickeln wie früher.
mehr erfolgversprechend, wenn man Kinder zu Es gibt auch Beispiele aus der Transporttech-
kleinen Computern ausbildet, die eine unglaub- nologie: Wir haben heute Flugzeuge, die noch
liche Merkfähigkeit haben oder ganz schnell sehr ähnlich aussehen wie in den Siebziger-
rechnen können. Wir müssen dort investieren, jahren, während sich neue Technologien wie
wo die Menschen auch in Zukunft den Maschi- Überschallflugzeuge im Personenverkehr nicht
nen überlegen sind – also in Problemlösung, durchsetzen konnten.
Kreativität und Kommunikation.
Woran liegt das?
Sie plädieren für andere Grundkompetenzen? Möglicherweise ist in vielen Bereichen das Inno-
Das haben viele Schulen mittlerweile erkannt vationspotenzial zunehmend ausgereizt. Auch
und fördern stärker Projekt- und Gruppenarbei- hier ist unsere Wahrnehmung häufig verzerrt.
ten. Die Schweiz ist im internationalen Vergleich Wir haben erlebt, wie sich die Mobilfunktech-
gut aufgestellt, weil in unserem Berufsbildungs- nologie unglaublich weiterentwickelt hat, und
system die Rückkoppelung von Marktanforde- denken deshalb, das sei die grösste und schnells-
rungen an die Ausbildung relativ schnell erfolgt. te Entwicklung, die es jemals gegeben hat. Aber
In Ländern, wo ein grösserer Teil der Ausbil- dabei vergessen wir, dass im 19. Jahrhundert in-
dung über das Schulbildungssystem funktio- nerhalb eines Jahres der Verbrennungsmotor,
niert, ist diese Anpassung hingegen eher träge. die drahtlose Datenübermittlung und das elekt-
rische Licht erfunden wurden. Jede dieser Tech-
Werden sich die Berufsprofile immer schneller nologien hat einen unglaublichen Schub von
verändern? weiteren Erfindungen ausgelöst. Die Compu-
Es gibt nur wenig Evidenz dafür, dass sich der tertechnologie stellt dagegen nur einen relativ
technologische Wandel beschleunigt. Im Gegen- schmalen Ausschnitt der Technologien dar, die
teil, wie es scheint, verliert die technologische wir heute zur Verfügung haben.
Entwicklung an Tempo. In den letzten drei Jahr-
zehnten hatten wir in den westlichen Ländern
ein wesentlich schwächeres Wirtschaftswachs- Interview: Susanne Blank, Chefredaktorin
tum als noch in den drei Jahrzehnten nach dem «Die Volkswirtschaft».

50  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


AUFGEGRIFFEN

Wann ist nach der Krise


vor der Krise?
Seit dem Ausbruch der Finanzkrise vor zehn Jahren hat man weltweit Vor-
kehrungen getroffen, um ein ähnliches Krisendesaster zu vermeiden.
Wichtige Lehren aus der Erkenntnis, dass systemrelevante Finanzunter-
nehmen im Extremfall ganze Volkswirtschaften in Schieflage bringen
können, wurden gezogen. «Too big to fail» wurde zum geflügelten Begriff.
Rund um den Globus wurde die Aufsicht über die Finanzindustrie unter
Inkaufnahme einer weiteren Regulierungswelle verstärkt. Die system-
relevanten Finanzunternehmen sind bezüglich ihrer Krisenresistenz dank
Kapitalstärkung und verstärkter Aufsicht internationaler Standards grund-
sätzlich besser aufgestellt. Ende gut, alles gut?
«This time is different» gehört offenbar zu den wiederkehrenden Fehl-
schlüssen unserer Beobachtungsgabe, wie die Ökonomen Carmen M. Rein-
hart und Kenneth S. Rogoff in ihrer bahnbrechenden Untersuchung der
Geschichte von Krisen aus dem Jahr 2009 zeigen. Diese Erkenntnis sollten
sich insbesondere Investoren und Händler an den Finanzmärkten hinter die
Ohren schreiben.
Denn Zweifel, dass dieses Mal alles anders ist, sind angebracht. Die Ver-
schuldung des öffentlichen Sektors, der Unternehmen (ausserhalb des
Finanzsektors) und der Privathaushalte hat in den G-20-Ländern auch nach
der Überwindungen der Finanzkrise stetig zugenommen. In dieser Länder-
gruppe erreichte der Schuldenberg (brutto) gemessen an ihrem Brutto-
inlandprodukt mittlerweile einen historischen Stand von 235 Prozent. Mög-
licherweise in der breiteren Öffentlichkeit wenig bemerkt, ist das ungestüme
Schuldenwachstum in den letzten Jahren vor allem auch vom zunehmenden
Kredithunger des Privatsektors getrieben. Historisch tiefe Zinsen und die

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  51
fortwährende «Jagd nach Rendite» haben mit Ausnahme von Deutschland,
Japan, Grossbritannien und Argentinien in allen G-20-Ländern zu einer
deutlichen Zunahme der Unternehmensverschuldung geführt. Die Schweiz
fällt als Nichtmitglied dieses Clubs vor allem durch die weltweit höchste Ver-
schuldung der Privathaushalte auf.

Zinsanstieg als Risikoquelle


Solange die internationale Börsen- und Bondmarktrally ihren Schwung bei-
behält und die wichtigsten Zentralbanken ihre ausserordentlich lockere
Geldpolitik weiterführen, kann die Rechnung an den Händlerringen der
Finanzmärkte noch eine Zeit lang aufgehen. Ein erhebliches Risiko dürfte
jedoch schon allein von einer unerwartet raschen Zinswende ausgehen. Die
finanzielle Tragbarkeitsrechnung sähe dann für Staatshaushalte und viele
private Schuldner wegen der zunehmenden Zins- und damit Schuldenlast
schlagartig anders aus. Aus diesem Grund warnen seit einigen Quartalen
grosse internationale Organisationen wie der IMF, die OECD oder die Bank
für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) vor der erheblichen Verwund-
barkeit der grossen Wirtschaftsräume gegenüber starken Zinsanstiegen:
Viele OECD-Länder seien wegen ihrer schon ausserordentlich hohen Staats-
schulden kaum noch in der Lage, eine neuerliche Krise mit staatlichen
Stützungs- und Rettungsmassnahmen in Milliardenhöhe abzufedern. Sie
haben es verpasst, nach 2009 den Spielraum durch Budgetüberschüsse zu
erweitern.
Weltweit sind die Marktakteure und Regierungen unmissverständlich vor-
gewarnt. Nach der Krise ist vor der Krise. Unglücklicherweise zeigt die Kultur-
geschichte von Wirtschaftskrisen eine weitere Gesetzmässigkeit auf. Der
Zeitpunkt und das Szenario der nächsten Krise sind kaum vorhersehbar. Des-
halb betonen die Politikempfehlungen gegenwärtig vor allem grundlegende
Prinzipien der Vorsorge: vorhersehbare, schrittweise Normalisierung der
Geldpolitik, Vermeidung sorgloser Kreditvergabe im Privatsektor, Sicherung
der Finanzierbarkeit der Altersvorsorge, Vermeiden struktureller Defizite im
öffentlichen Sektor. In der Schweiz von besonderer Bedeutung ist die träge
politische Debatte um eine Korrektur falscher Verschuldungsanreize im
Steuersystem. Die erwähnte hohe Verschuldung der Schweizer Haushalte geht
auf steuerliche Anreize zur Hypothekarkreditaufnahme zurück. «Häusle-
bauer» zu fördern, ist schön und gut. Im aktuellen Risikoumfeld kann dies
jedoch zum Einfallstor der neuen Krise nach der Krise werden.

Eric Scheidegger
Dr. rer. pol., Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik,
Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern
eric.scheidegger@seco.admin.ch

52  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT

Warenhandel mit Entwicklungsländern


wird einfacher
Exporteure aus Entwicklungsländern profitieren bei der Einfuhr in die Schweiz von Zollerleich­
terungen. Um den administrativen Ursprungsnachweis zu erleichtern, steht neu ein elektroni­
sches System bereit. Es könnte auch bei zukünftigen Handelsabkommen hilfreich sein. 
Raphael Jenny
die Schweiz im Rahmen des APS keine Zöl-
Abstract  Entwicklungsländer gewinnen im internationalen Handel stetig an Bedeu- le erhebt, sind Industriegüter wie Apparate,
tung. Um ihr Exportpotenzial auch ausschöpfen zu können, sind sie auf erleichter- Elektronikartikel oder Spielzeug sowie ande-
ten Marktzugang angewiesen. Sonderbestimmungen der Welthandelsorganisation re Erzeugnisse, die zur Herstellung weiter-
(WTO) sehen vor, dass beim Handel mit Entwicklungsländern vom Meistbegüns- führender Produkte dienen können. Für Ag-
tigungsgrundsatz abgesehen werden darf. Dadurch können den Entwicklungslän-
rarprodukte und Lebensmittel werden punk-
dern einseitige Zollerleichterungen gewährt werden. In diesem Rahmen gewährt die
tuell Ausnahmen gewährt. Die wirtschaftlich
Schweiz auf Erzeugnisse mit Ursprung in einem Entwicklungsland bei der Einfuhr Zoll-
am wenigsten entwickelten Länder können
vergünstigungen oder sogar Zollfreiheit. Ein im Jahr 2017 eingeführter Systemwechsel
ohne mengenmässige Beschränkung zollfrei
zum Nachweis des Warenursprungs soll dabei den Warenverkehr aus und in Entwick-
in die Schweiz exportieren. Aktuell betrifft
lungsländer weiter vereinfachen.
dies 47 Staaten. Bei der Wareneinfuhr zwin-
gend zu beachten sind auch nicht tarifäre
Handelsvorschriften wie gesundheitspolizei-

E  ntwicklungsländer spielen eine zuneh-


mend wichtigere Rolle im Welthandel.
Das ist erfreulich, denn mehr internationaler
Die Zollpräferenzen für Entwicklungsländer
gehen zurück auf einen Beschluss der UNO-
Konferenz für Handel und Entwicklung von
liche, pflanzenschutzrechtliche sowie techni-
sche Anforderungen.
Um zu definieren, welche Staaten gemäss
Handel verspricht mehr Arbeit und Chancen- 1968. Mit den Allgemeinen Präferenzensyste- APS als Entwicklungsland gelten, hat die
gleichheit für Entwicklungsländer. Das Staats- men haben sich verschiedene Industriestaaten Schweiz Kriterien aufgestellt. Demnach wer-
sekretariat für Wirtschaft (Seco) setzt sich damals darauf geeinigt, ein System einseitiger den nur Länder begünstigt, welche entweder
deshalb für Massnahmen und Instrumente Zollerleichterungen für Entwicklungsländer auf der Liste des Entwicklungsausschusses
ein, welche möglichst viele Produzenten und einzuführen. Zollpräferenzen werden von den der OECD (DAC) oder des Wirtschafts- und
KMU aus Entwicklungsländern an den posi- Geberländern unilateral gewährt und beruhen Sozialkomitees der UNO (Ecosoc) aufgeführt
tiven Aspekten der Globalisierung teilhaben nicht auf vertraglichen Abmachungen mit den sind. Das Ecosoc definiert, welche Staa-
lassen. Dabei geht es in erster Linie um die Entwicklungsländern. Dieses Entgegenkom- ten zu den am wenigsten entwickelten Län-
weitere Marktöffnung und die Internationali- men soll die Handelspolitik mit den Zielen der dern zählen. In die Schweizer APS-Liste auf-
sierung der Wertschöpfungsketten. Die Stei- Entwicklungspolitik in Einklang bringen. Das genommen werden zudem auch Staaten, die
gerung der Wettbewerbsfähigkeit von Unter- Ziel ist es, Entwicklungsländern die Teilnahme sich einer internationalen Entschuldungsini-
nehmen und ein erleichterter Marktzugang am Welthandel zu erleichtern. tiative angeschlossen haben.
sind dabei die Schlüssel zum Erfolg. Sonderbestimmungen der Welthandels- Insgesamt profitieren heute über 130 Län-
organisation (WTO) erlauben es den Staa- der von den Zollvergünstigungen der Schweiz
Erleichterungen für Exporteure ten, vom üblichen Grundsatz der Meistbe- im Rahmen des APS.2 2016 wurden mit diesem
günstigung abzuweichen. Demnach müs- Instrument insgesamt Waren in der Höhe von
Das wachstumsfördernde Potenzial in Ent- sen Handelsprivilegien, welche einem 1,75 Milliarden Franken in die Schweiz ein-
wicklungsländern wird nach wie vor durch Vertragspartner der WTO gewährt werden, geführt. Dies entspricht 5,7 Prozent des Ge-
die Erhebung von Zöllen beeinträchtigt. Sie nicht zwingend auch allen anderen Ver- samtvolumens von Waren, die 2016 aus Ent-
sind ein wichtiger Kostenfaktor für Expor- tragspartnern zugestanden werden. Heute wicklungsländern importiert wurden.
teure aus diesen Ländern. Zollpräferenzen, gewähren die EU sowie 12 weitere Staaten1
welche einem Entwicklungsland Zollver- solche einseitigen Zollpräferenzen zuguns- Neue Ursprungsnachweise
günstigungen oder gar Zollfreiheit gewäh- ten der Entwicklungsländer.
ren, können einen Teil dieser Kostenlast re- Damit Erzeugnisse aus einem Entwicklungs-
duzieren. Auch die Schweiz gewährt solche Zollfreier Export land bei der Einfuhr in die Schweiz von Zoller-
Zollpräferenzen. Im Rahmen des Allgemei- mässigungen profitieren können, müssen be-
nen Präferenzensystems (APS) erhalten Er- Die Schweiz gewährt seit 1982 Zollpräferen- stimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Ent-
zeugnisse aus einem Entwicklungsland bei zen. Ein Grossteil der Produkte, bei denen scheidend ist dabei der Nachweis, dass die
der Einfuhr gewisse Erleichterungen. So will
1 Australien, Weissrussland, Island, Japan, Kanada,
man den Exporterfolg von Unternehmen aus ­Kasachstan, Neuseeland, Norwegen, Russland, die 2 Verordnung über die Präferenz-Zollansätze zugunsten
Entwicklungsländern steigern. Schweiz, die Türkei und die USA. der Entwicklungsländer (SR 632.911).

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  53
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT

KEYSTONE
Hersteller aus den ärmsten Ländern können zoll-
frei in die Schweiz exportieren. Ein afghanischer
Importware ihren Ursprung auch tatsächlich trierte Exporteure den Ursprung ihrer Ware Granatapfelproduzent bei der Ernte.
in diesem Entwicklungsland hat.3 Dazu muss selbst auf einem Handelspapier, zum Beispiel
ein Erzeugnis im Entwicklungsland entweder auf einer Rechnung, deklarieren. Das bisheri-
vollständig gewonnen werden – wie etwa vor ge Ausstellen des Standard-Ursprungszeug- dehnung dieses Systems ist auch auf Freihan-
Ort geerntetes Obst oder Gemüse – oder aus- nisses – des sogenannten Form A – durch die delsabkommen denkbar. Die EU hat beispiels-
reichend verarbeitet werden, wie etwa beim Behörden im Ausfuhrland entfällt somit. Das weise die Selbstdeklarationspflicht für regist-
Zusammennähen von textilen Zuschnitten zu spart wertvolle Zeit. Darüber hinaus leistet die rierte Ausführer als integralen Bestandteil im
einem Kleidungsstück. Die Herkunft der Ware Einführung von REX einen wichtigen Beitrag Freihandelsabkommen mit Kanada verankert.
belegt ein sogenanntes Ursprungszeugnis, das zur Digitalisierung der Zollprozesse – einem Dieses Abkommen wird seit dem 21. Septem-
von den verantwortlichen Behörden im Aus- zentralen Thema in der wirtschaftlichen Ent- ber 2017 vorläufig angewendet. Die EU plant,
fuhrland ausgestellt wird. Sind alle Angaben wicklungszusammenarbeit. Für die Umstel- REX auch bei weiteren Freihandelsabkom-
korrekt, und sind die in der Ursprungsregeln- lung auf die neuen Ursprungsnachweise ist men einzuführen. Für die Schweiz steht die
verordnung aufgeführten Bedingungen er- eine Übergangsfrist bis zum 30. Juni 2020 Umstellung auf die neuen Ursprungsnach-
füllt, gewährt der Schweizer Zoll die entspre- vorgesehen. Die verantwortlichen Behörden weise im Rahmen des Allgemeinen Präferen-
chende Zollermässigung. in den Entwicklungsländern werden von der zensystems mit seinen über 130 begünstigten
Seit dem 1. Januar 2017 müssen Exporteu- Schweiz bei dieser Umstellung unterstützt. Ländern zurzeit noch im Vordergrund. Doch
re im Warenverkehr zwischen der Schweiz Mit der Einführung von REX wurden auch auch sie prüft die Möglichkeit einer erweiter-
und einem Entwicklungsland neue Ursprungs- die Beförderungsbedingungen im APS ange- ten Anwendung.
nachweise erbringen. Dazu müssen sie sich passt: Musste eine Sendung früher direkt von
einmalig auf der eigens dafür kreierten Daten- einem Entwicklungsland in die Schweiz trans-
bank registrieren. Dieses elektronische System portiert werden, kann sie heute an einem
für registrierte Ausführer (Registered Exporter internationalen Handelsknoten – unter Zoll-
System, REX) ist im Rahmen des APS der Euro- kontrolle – aufgeteilt und gestückelt in die
päischen Union (EU) eingeführt worden. Auch Schweiz transportiert werden. Damit ent-
die Schweiz und Norwegen beteiligen sich da- spricht das APS den heutigen Anforderungen
ran. Mit REX müssen Exporteure weniger For- international integrierter Wertschöpfungsket-
malitäten erledigen und sind von den Behör- ten, die ein schnelles und unkompliziertes Ver-
den unabhängiger. Denn neu können regis- senden von Waren erfordern. Raphael Jenny
Die Anwendung von REX im Rahmen des Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ressort
3 Die entsprechenden Bestimmungen dazu sind in der Ver- Handelsförderung, Staatssekretariat für
ordnung über die Ursprungsregeln für Zollpräferenzen
Allgemeinen Präferenzensystems ist nicht auf
Wirtschaft (Seco), Bern
zugunsten der Entwicklungsländer (SR 946.39) geregelt. Entwicklungsländer beschränkt. Eine Aus-

54  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


INDUSTRIE

Jedes zweite Produktionsunternehmen


erwägt Verlagerung ins Ausland
Eine Umfrage zeigt, dass rund die Hälfte der befragten Unternehmer des produzierenden
Gewerbes über eine Verlagerung oder eine Auslagerung ins Ausland nachdenkt. Hauptgrund
dafür sind die hohen Kosten in der Schweiz.   Thomas Friedli, Christoph Benninghaus,
Christian Elbe
res Merkmal des Standorts Schweiz sehen –
Abstract    Die neusten Ergebnisse des «Swiss Manufacturing Survey 2017» – einer entgegen dem Ruf der Schweiz, eine sehr wirt-
Umfrage der Universität St. Gallen bei 247 Produktionsunternehmen in der Schweiz –
schaftsfreundliche Verwaltung zu haben.
zeigen die Gefahr der Abwanderung des produzierenden Gewerbes aus der Schweiz.
Insbesondere die hohen Lohnkosten und der ungünstige Wechselkurs gelten als
Haupthindernis für die hiesige Produktion. Mit 46 Prozent entsprechend hoch ist die Unterschiedlich wichtige
Zahl der untersuchten Schweizer Unternehmen, die in den nächsten drei Jahren eine ­Standortfaktoren
Verlagerung ins Ausland erwägen. Doch der Produktionsstandort Schweiz hat auch
Die genannten Hürden haben einen erhebli-
Stärken: Diese liegen in den frühen Phasen des Produktlebenszyklus und im Aufbau
chen Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit
von strategisch wichtigem Wissen. Das Ziel muss es sein, diese Fähigkeiten und Stand-
der Schweizer Unternehmen. Diese hängt ins-
ortvorteile der Schweiz weiter zu stärken. Die im Rahmen der Studie identifizierten
Schwächen zeigen wichtige Stellhebel, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts besondere von Standortfaktoren, wie bei-
Schweiz zu verbessern und eine Abwanderung der Produktion zu verhindern. spielsweise den Kosten und dem regulatori-
schen Umfeld, ab. Während in der Theorie die
Standortfaktoren häufig nur in «Marktnähe»,
«Zugang zu niedrigen Fertigungskosten» so-

D  ie Schweiz ist weltweit bekannt für In-


novation und Zuverlässigkeit. Vie-
le Schweizer Produkte sind hoch angesehen
sehen, besonders von grossen Unternehmen
mit mehr als 250 Mitarbeitern in der Schweiz.
Mangelnde Aufträge und Budgeteinschrän-
wie «Zugang zu Wissen» klassifiziert werden2,
nennen produzierende Unternehmen oft wei-
tere Faktoren wie die Nähe zu den Lieferan-
und haben Qualitätsmassstäbe gesetzt. Ob kungen betreffen eher KMU mit weniger als ten, lokale Technologien, Transport- und Lo-
es sich dabei um Nahrungsmittel, Messer, 250 Mitarbeitern, grosse Firmen scheinen da- gistikkosten, den Zugang zu günstiger Ener-
hochmoderne Anlagen und Maschinen oder mit weniger Probleme zu haben. Interessant gieversorgung, die Überwindung zoll- und
Luxusuhren handelt – Kunden aus allen Län- ist zudem, dass die Unternehmen die geringen
dern vertrauen auf die Hochwertigkeit von Bürokratieaufwendungen nicht als besonde- 2 Siehe Ferdows (1997).
Schweizer Produkten.
Im Rahmen des «Swiss Manufacturing
Survey»1 hat die Universität St. Gallen im Abb. 1: Mögliche Gründe für eine Produktionsverlagerung ins Ausland, nach
Frühjahr 2017 247 Unternehmen des produ- Wichtigkeit
zierenden Gewerbes zu Aspekten der Schwei- Senkung der Produktionskosten
zer Produktion befragt (siehe Kasten). Die
Umfrage zeigt: Während die Mehrheit der Zugang zu Kunden (Marktnähe)
produzierenden Unternehmen den Schwei- Senkung der Logistikkosten
zer Standort festigen will, steht fast die Hälf-
te vor der Entscheidung, die Schweiz zu ver- Entwicklung des Zielmarktes
lassen. 46 Prozent der befragten Schwei- Verfügbarkeit von qualifizierten
FRIEDLI, BENNINGHAUS UND ELBE (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

zer Unternehmen ziehen in den nächsten Arbeitskräften


Rechtliche und politische Rahmen-
drei Jahren Verlagerungen und Outsourcing bedingungen
der Produktion ins Ausland in Erwägung. Als
Steigerung der Liefergeschwindigkeit
mögliche Zielregionen werden vor allem Ost-
europa, China und Westeuropa genannt. Verbesserung der Prozessqualität
Die Gründe für eine Abwanderung sind
Verbesserung der Liefertreue
vielfältig. Wie erwartet stellen die hohen Per-
sonalkosten in der Schweiz die grösste Hürde Verbesserung der Produktqualität
für die Studienteilnehmer dar, wenn es darum
Bessere Infrastruktur im Zielland
geht, in der Schweiz zu produzieren. Auch der
Wechselkurs wird als grosses Hindernis ange- 1 2 3 4 5 6 7
  Gesamt       KMU       Grossunternehmen
1 Siehe Friedli, Benninghaus und Elbe (2017). Durchschnittliche Bewertung. 1 = sehr unwichtig, 7 = sehr wichtig. Anzahl befragter Unternehmen: 106.

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  55
INDUSTRIE

Abb. 2: So beurteilen Unternehmen die Rolle von Schweizer Produktionsstandorten

Der Schweizer Standort ist beim Engineering innerhalb des Produktionsverbundes federführend

Der Schweizer Standort baut strategisch bedeutendes Know-how für den gesamten Produktions-
verbund auf und transferiert dieses an Produktionsstandorte weltweit

Wir produzieren komplexe und strategisch relevante Produkte und Komponenten nur am
Schweizer Standort

Der Schweizer Standort ist im ganzen Produktionsverbund die zentrale Schnittstelle zwischen
Kunde und Produktion

FRIEDLI, BENNINGHAUS UND ELBE (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


Der Schweizer Standort verantwortet den weltweiten Service und erarbeitet entsprechende
Servicekonzepte für die anderen Standorte

Der Schweizer Standort steuert die globale Logistik

Der Schweizer Standort verantwortet den globalen Einkauf

Wir führen unsere Produkte zunächst am Schweizer Standort ein, bevor wir die Produktion an
anderen Standorten hochfahren

Ausschliesslich der Schweizer Standort wird für die Endmontage unserer Produkte eingesetzt

1 2 3 4 5 6 7
  Gesamt       KMU       Grossunternehmen

Durchschnittliche Bewertung. 1 = trifft gar nicht zu, 7 = trifft sehr zu. Anzahl befragter Unternehmen: 102.

nicht tarifärer Barrieren oder die Nutzung von Schritt dar, wenn es darum geht, den Unter- ten drei Jahren Verlagerungen ins Ausland
Wechselkurseffekten.3 Eine Priorisierung der nehmensstandort zu ändern. Denn bei einer vorzunehmen. Auch hier stehen Einsparun-
Standortfaktoren ist allerdings nicht mög- Verlagerung gehen nicht nur Arbeitsplät- gen bei den Produktionskosten an erster
lich, da diese entweder von Unternehmen zu ze am alten Standort verloren, sondern auch Stelle (siehe Abbildung 1). Ein weiteres kos-
Unternehmen oder sogar von Produktions- Know-how, das zum Teil über weite Stre- tengetriebenes Motiv, die Senkung der Lo-
werk zu Produktionswerk variiert. Ist bei- cken transferiert werden muss und somit in gistikkosten, kommt bereits an dritter Stel-
spielsweise für den einen Werkplatz die Kun- der Schweiz teilweise verschwindet. Deshalb le. Schweizer Produktionsstätten sind denn
dennähe ein dominierender Aspekt, so ist er müssen Unternehmen gute Gründe haben, auch bei den Studienteilnehmern im Durch-
für andere Standorte, an denen nur Zwischen- um einen solchen Schritt zu gehen. schnitt 37 Prozent teurer als ausländische.
produkte hergestellt werden, kaum rele- Als wichtigsten Grund nennen Unterneh- Bei den Grossunternehmen liegen sie durch-
vant. Allerdings kann sich die Bedeutung von men, die in den letzten drei Jahren eine Pro- schnittlich 20 Prozent höher, bei den KMU
Standortfaktoren im Laufe der Zeit ändern. Ei- duktionsstätte ins Ausland verlagert haben, sind es 43 Prozent. Dieses Ergebnis zeigt er-
nige Unternehmen berichten beispielsweise, die Einsparung von Produktionskosten. Zum neut, wie drängend das Problem der hohen
dass Standorte, die ursprünglich noch wegen selben Ergebnis gelangen auch internationa- Kosten für Schweizer Produktionsunterneh-
Kostenvorteilen gewählt wurden, heutzutage le Studien.5 Die Einsparung von Logistikkos- men ist.
potenzielle Wissens- und Lernquellen sind.4 ten ist, mit viel Abstand und im Durchschnitt Motive zur Fokussierung auf heutige und
Nationale Differenzen hinsichtlich die- beinahe neutral bewertet, der zweitwich- zukünftige Kunden folgen erst an zweiter und
ser Faktoren veranlassen Unternehmen gele- tigste Grund. Für Grossunternehmen ist die- vierter Stelle. Die Nähe zu den bestehenden
gentlich zur Verlagerungen ihrer Wertschöp- ser Punkt jedoch wichtiger als für KMU. Das- Kunden wird dabei als etwas wichtiger an-
fungsaktivitäten an Standorte mit vorteil- selbe gilt für die Verbesserung der Lieferge- gesehen als die Erschliessung neuer Märkte.
hafteren Bedingungen. Der aktuelle «Swiss schwindigkeit und -pünktlichkeit, auch sie Aber beide werden von den befragten Unter-
Manufacturing Survey» zeigt, dass bereits ist für Grossunternehmen wichtiger. Quali- nehmen im Mittel als eher neutral bewertet.
eine Vielzahl von Schweizer Unternehmen tätsverbesserungen, ein besseres juristisches Auch hier zeigt sich ein Grössenunterschied:
in den vergangenen drei Jahren Veränderun- und politisches Umfeld oder eine bessere Inf- Für grosse Unternehmen ist die Expansion in
gen bei der geografischen Konfiguration ihrer rastruktur sind dagegen kaum ein Grund, die neue Märkte wichtiger als für kleine Betrie-
Produktionsstätten vorgenommen hat. Schweiz zu verlassen. Auch die Verfügbar- be. Qualitäts- und Infrastrukturfaktoren sind,
keit von qualifizierten Arbeitskräften ist ins- wie auch bei den Faktoren bereits durchge-
Hohe Kosten vertreiben Firmen gesamt eher unwichtig – dennoch ist sie aber führter Verlagerungen, eher unwichtig. Das
für KMU wichtiger als für Grossunternehmen. zeigt, wie fortschrittlich die Rahmenbedin-
Im Vergleich zum Outsourcing, bei dem ein- gungen in der Schweizer Produktionsland-
zelne Wertschöpfungsaktivitäten des eige- Kostensenkung auch in Zukunft schaft sind.
nen Unternehmens an Dritte ausgelagert Ob das stabile politische Umfeld und die
werden, stellt eine Verlagerung des Produk-
Hauptmotiv gute Infrastruktur in der Schweiz die höheren
tionsstandortes einen ungleich grösseren Ähnlich sieht es bei den Motiven aus, die Fir- Kosten aufwiegen können, muss jedes Unter-
men dazu bringen könnten, in den nächs- nehmen letztendlich für sich entscheiden. Al-
3 Siehe Abele et al (2008), Ellram et al (2013) sowie
Ketokivi et al (2017). lerdings fällt auf, dass KMU offenbar stärker
4 Siehe Meijboom und Vos (1997). 5 Siehe Jacob und Strube (2008). an den Standort Schweiz gebunden sind als

56  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


INDUSTRIE

Swiss Manufacturing Survey Rolle im Bereich Engineering einnimmt (sie-


he Abbildung 2). Auch der Aufbau und Trans-
Der vom Institut für Technologie-Management
fer von strategisch wichtigem Know-how im
der Universität St. Gallen ins Leben gerufene
jährliche «Swiss Manufacturing Survey» unter- Produktionsnetzwerk wird als bedeutend an-
sucht objektiv die aktuelle Situation und die zu- gesehen. Diese beiden Punkte treffen beson-
künftigen Entwicklungen des produzierenden ders auf Grossunternehmen zu. Viele Unter-
Gewerbes in der Schweiz. Mit aktuell 20 Prozent
der gesamten Erwerbstätigen und 25,5 Prozent
nehmen gaben an, dass komplexe und strate-
Anteil am BIP hat der sekundäre Sektor immer gisch wichtige Produkte oder Komponenten
noch einen erheblichen Anteil an der Wirt- nur in der Schweiz produziert werden. Die Thomas Friedli
schaftsleistung der Schweiz.a Die Unterneh- Titularprofessor für Betriebswirtschafts­
Endmontage findet jedoch in den seltensten lehre, Direktor des Instituts für Techno­
men werden beispielsweise zu ihren Standort-
entscheidungen, der Innovationsfähigkeit, der
Fällen ausschliesslich in der Schweiz statt. Die logiemanagement, Universität St. Gallen
Bedeutung von Marktnähe sowie den Stärken restlichen Aussagen zum Standort Schweiz
des Schweizer Werkplatzes befragt. Die Studie werden im Mittel eher neutral bewertet.
dient als Grundlage für Entscheidungsträger in Die Schweiz ist als Produktionsstand-
Unternehmen, Verbänden, Politik und Wissen-
schaft. Die Teilnahme ist kostenlos, und jedes ort immer noch wichtig, besonders in den
teilnehmende Unternehmen erhält eine perso- frühen Phasen des Produktlebenszyklus.
nalisierte Auswertung, welche einen Vergleich Das zeigt sich nicht nur in der besonders
mit der eigenen Branche und allen Teilnehmern für Grossunternehmen wichtigen Aussa-
ermöglicht. Mehr Informationen zur Teilnahme
auf Tectem.ch. ge, dass das Anfahren neuer Produkte in der
Schweiz stattfindet, bevor diese an auslän-
a Bundesamt für Statistik (2017).
dischen Standorten hergestellt werden. Als Christoph Benninghaus
in der Schweiz verbleibende Produktionstä- Wissenschaftlicher Mitarbeiter,
Institut für Technologiemanagement,
tigkeiten wurden darüber hinaus überdurch-
Universität St. Gallen
Grossunternehmen. Die Gründe dafür kön- schnittlich oft Produktentwicklung und Null-
nen einerseits persönlich sein, wie das Bei- serie genannt. Insgesamt werden bei den teil-
spiel des CEO eines Herstellers industrieller nehmenden Firmen mehr als 80 Prozent der
Schutztechnik zeigt, der sich selbst als Ver- Produktinnovationen in der Schweiz entwi-
fechter des Produktionsstandorts Schweiz ckelt, hingegen «nur» etwa 60 Prozent auch
bezeichnet. Andererseits sind Verlagerungen dort produziert.
für KMU manchmal auch schwieriger umzu- Zwischen Schweizer und ausländischen
setzen. So antwortete der CEO eines KMU Standorten zeigen sich auch Unterschiede im
aus der metallverarbeitenden Industrie bei- Bereich der Firmenkultur. So werden der Wei-
spielsweise, dass ein Grossteil der Schweizer terbildungsgrad und das Sicherheitsniveau Christian Elbe
Unternehmen so klein sei, dass eine Auslage- in der Schweiz als deutlich höher eingestuft Wissenschaftlicher Mitarbeiter,
rung der Produktion ins Ausland schon alleine im Vergleich zum Ausland. Mitarbeiterfluktu- Institut für Technologiemanagement,
aufgrund fehlender Fremdsprachenkenntnis- ation und Abwesenheiten bei Krankheit sind Universität St. Gallen
se schlicht unmöglich wäre. in der Schweiz deutlich tiefer als an auslän-
Erwartungsgemäss werden einmal ver- dischen Standorten. Diese Tatsachen kön- Literatur
lagerte Produktions- oder F&E-Tätigkeiten nen dabei helfen, in der Schweiz Kosten ein- Abele, E., T. Meyer, U. Näher, G. Strube and R. Sykes
eher selten zurückverlagert. Nur einer der zusparen. (2008). Global Production. Berlin, Heidelberg:
Springer.
Umfrageteilnehmer hat in den letzten drei Die Studie zeigt, dass es eine Tendenz zur Cohen, S. S. and J. Zysman (1987). Manufacturing Mat-
Jahren eine Rückverlagerung in die Schweiz Verlagerung ins Ausland gibt, vor allem um ters: The Myth of the Post-industrial Economy. New
York, NY: Basic Books.
vorgenommen, wegen Qualitätsmängeln im Kostenvorteile zu erschliessen. Demgegen- Ellram, L. M., W. L. Tate, and K. J. Petersen (2013). Off-
Ausland. Um weitere Werksschliessungen über stehen die oben genannten Vorteile der shoring and Reshoring: an Update on the Manufac-
turing Location Decision, in: Journal of Supply Chain
und Produktionsabwanderungen zu verhin- Schweizer Produktionslandschaft. Ein Verla- Management, vol. 49, no. 2, pp. 14–22, Apr. 2013.
dern, müssen die Schweizer Produktions- gerungsschritt sollte also gut überlegt sein. Ferdows, K. (1997). Making the Most of Foreign
Factories, in: Harvard Business Review, vol. 75, no. 2,
standorte sich gegenüber Konkurrenzunter- Auch Wissenschaftler sind sich einig, dass pp. 73–88.
nehmen und im internen Wettbewerb in- Fertigungsaktivitäten in Hochlohnländern Friedli, T., C. Benninghaus and C. Elbe (2017). Swiss Ma-
nerhalb des eigenen Produktionsverbunds nicht einfach verschwinden, sondern in der nufacturing Survey – A National Study, Final Report.
University of St. Gallen, St. Gallen.
strategisch neu positionieren. Regel neue Formen annehmen.6 Dadurch bie- Jacob F. and G. Strube (2008). Why Go Global? The
tet sich produzierenden Schweizer Unterneh- Multinational Imperative, in: Global Production, E.
Abele, T. Meyer, U. Näher, G. Strube, and R. Sykes
Komplexe Produktionsschritte men eine grosse Chance, sich gezielt als Wis- (Eds). Berlin, Heidelberg: Springer, pp. 2–33.
sens- und Innovationsstandort zu positionie- Ketokivi, M., V. Turkulainen, T. Seppälä, P. Rouvinen,
bleiben in der Schweiz ren und technologische Massstäbe zu setzen
and J. Ali-Yrkkö (2017). Why Locate Manufacturing in
a High-cost Country? A Case Study of 35 Production
In der Studie wurden die Unternehmen – insbesondere im Hinblick auf das wichtige Location Decisions, in: Journal of Operations
Management, vol. 49–51, pp. 20–30.
auch nach der Rolle der Schweizer Standor- Zukunftsthema «Digitalisierung der Produk- Meijboom, B. and B. Vos (1997). International Manufac-
te in ihrem Produktionsnetzwerk gefragt. Die tion». turing and Location Decisions: Balancing Configu-
ration and Co-ordination Aspects, in: International
meisten Unternehmen stimmen der Aussage Journal of Operations & Production Management,
zu, dass die Schweiz bei ihnen eine führende 6 Siehe Cohen und Zysman (1987). vol. 17, no. 8, pp. 790–805.

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  57
ÄLTERE ARBEITNEHMENDE

Ältere Mitarbeitende suchen Erfüllung


ausserhalb des Berufs
Bei älteren Mitarbeitenden sinkt vielfach die Motivation im Beruf. Innere Befriedigung und
Wertschätzung suchen viele bei ausserberuflichen Aktivitäten wie Vereinsarbeit, Pflege von
Angehörigen und Fortbildungen.   Monika Engler, Elisa Streuli

finanzielle Einbussen zugunsten von mehr


Abstract  Der längere Verbleib der älteren Erwerbstätigen im Beruf hängt auch von frei verfügbarer Zeit in Kauf zu nehmen. Da-
Umfang und Attraktivität ausserberuflicher Betätigungen ab. Erwerbstätige über 50
her muss sich die Berufstätigkeit zusehends
sind neben dem Beruf stark engagiert, wie eine Umfrage bei den Unternehmen No-
in inhaltlicher Hinsicht gegen alternative Be-
vartis und SBB vom vergangenen Jahr zeigt. Zugleich zeigt der Vergleich von berufli-
tätigungsmöglichkeiten behaupten.
chen und ausserberuflichen Tätigkeiten, dass die Berufstätigkeit in Bezug auf die in-
Die Untersuchungsergebnisse zu den bei-
nere Motivation wenig attraktiv ist. Damit die Erwerbstätigkeit für ältere Berufsleute
den Grossunternehmen decken sich diesbe-
wieder interessanter wird, müssen insbesondere Ansätze gefunden werden, die den
züglich mit früheren Studien, welche innere
vielfältigen Einsatz und die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten zulassen. Des
Motivationsquellen und nicht monetäre An-
Weiteren muss die zeitliche Autonomie der Erwerbstätigen erhöht werden, sodass be-
reize als primäre Bedingung für die Erwerbs-
rufliche und ausserberufliche Lebensbereiche besser vereinbar werden.
tätigkeit in den späteren Berufsjahren iden-
tifiziert haben.3 Neu zeigt sich jedoch, dass

D  ie Diskussion um den Umgang mit der


alternden Erwerbsbevölkerung gewinnt
an Fahrt. Angesichts der anstehenden Pensio-
gungen nach, sondern widmen sich vor allem
auch unbezahlten Arbeiten. Drei von vier Per-
sonen dieser Altersgruppe leisten regelmäs-
die Berufstätigkeit gerade in inhaltlicher Hin-
sicht stark durch ausserberufliche Betätigun-
gen konkurrenziert wird, welche mehr intrin-
nierung der Babyboomer-Generation richtet sig Unterstützung für Familienangehörige, sisch motivieren.
sich das Interesse nicht nur der Politik, son- Freunde oder Nachbarn und übernehmen da-
dern auch der Unternehmensleitungen zu- bei in jedem dritten Fall Pflegeaufgaben. Jeder Vier Motivationsdimensionen
nehmend auf die älteren Arbeitskräfte. Damit Zweite engagiert sich in Vereinen bzw. nimmt
der Fachkräftebedarf in den nächsten Jahren an Fort- und Weiterbildungskursen teil, und Die inhaltliche Attraktivität einer Tätig-
gedeckt werden kann, gilt es, erfahrene Be- knapp ein Viertel arbeitet unentgeltlich für keit lässt sich mithilfe bekannter Bedürf-
rufsleute im Erwerbsleben zu halten. Dadurch gemeinnützige Organisationen. Insgesamt nis- und Motivationstheorien in die Dimen-
sichern sich die Betriebe zudem deren über sind neun von zehn Personen in irgendeiner sionen Being, Belonging, Becoming und Be-
Jahre angesammeltes, aber nicht immer ex- Form regelmässig ausserberuflich tätig. lieving einteilen.4 In der Being-Dimension ist
plizit festgehaltenes Wissen und Know-how. Mit dem Nahen des Pensionierungsalters
Im Kontrast dazu steht der Wunsch vieler tritt für viele die wirtschaftliche Notwendig- 3 Vgl. Trageser, Hammer und Fliedner (2012) sowie
Balthasar et al. (2003).
Erwerbstätiger nach einer vorzeitigen Pen- keit der Erwerbstätigkeit in den Hintergrund, 4 Vgl. Pink (2011), Nohria, Lawrence und Wilson (2001)
sionierung. Gemäss einer breit angelegten während gleichzeitig die Bereitschaft steigt, sowie Alderfer (1967).
Untersuchung der Hochschule für Technik
und Wirtschaft Chur (HTW) und der Zürcher
Hochschule für Angewandte Wissenschaf- Grad der Unzufriedenheit: Soll-Ist-Differenzen nach Altersgruppen
ten (ZHAW) bei den Schweizer Grossunter-
<30
nehmen Novartis und SBB aus dem Jahr 2016
gab über die Hälfte der über 50-Jährigen an,
sich vorzeitig pensionieren lassen zu wol- 30-39
ENGLER ET AL. 2016 / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Altergruppen

len.1 Bereits die Analyse der Schweizerischen


Arbeitskräfteerhebung (Sake) vor zehn Jahren 40-49
hatte gezeigt: Wer es sich finanziell leisten
kann, lässt sich häufiger frühpensionieren.2 50-59
Ein zentraler Grund für eine Frühpensio-
nierung ist der Wunsch nach mehr Zeit für 60+
andere Tätigkeiten: Die meisten über 50-Jäh-
0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5
rigen sind neben dem Beruf stark engagiert.
Soll-Ist-Differenz
Dabei gehen sie nicht nur Freizeitbeschäfti-
  Fähigkeiten einsetzen       Neues lernen, sich weiterentwicklen
1 Die Untersuchung war Teil des von der Kommission für Die Soll-Ist-Differenzen zeigen die durchschnittliche Abweichung zwischen den Angaben zur Wichtigkeit
Technologie und Innovation (KTI) unterstützten Pro- und Erfüllung auf einer Skala von –2 (maximaler Erfüllungsgrad, hohe Zufriedenheit) bis +2 (minimaler
jekts «Das Potenzial der Ageing Workforce mobilisie-
ren». Für Teilergebnisse vgl. Engler et al. (2016).
Erfüllungsgrad, niedrige Zufriedenheit). Die Unterschiede nach Altersgruppen sind statistisch signifikant
2 BFS (2007). (Kruskal-Wallis-Test mit p<0.05).

58  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


ÄLTERE ARBEITNEHMENDE

KEYSTONE
Ältere Mitarbeitende leisten häufig Freiwilligen-
arbeit. Putzequipe im Tessiner Bavonatal.
eine T
­ ätigkeit umso attraktiver, je stärker In- vitäten teils deutlich zurück. Besonders gross
dividuen die eigenen Kompetenzen einset- sind die Attraktivitätsunterschiede bei der
zen können, Wertschätzung erfahren, auto- Kameradschaftlichkeit, der Beeinflussbar- Die Abweichung zwischen dem Ist- und dem
nom sind und eine gesicherte Zukunft haben. keit der Tätigkeit und der Ausrichtung auf die Sollzustand ist ein Gradmesser für die wahr-
In der Belonging-Dimension ist sie umso at- eigenen Interessen: Hier sehen über 40 Pro- genommene Unzufriedenheit: je höher die
traktiver, je stärker das Zugehörigkeitsgefühl, zent der Befragten die ausserberuflichen Be- Diskrepanz, desto grösser die Unzufriedenheit
die Unterstützung durch den Vorgesetzten tätigungen im Vorteil, während nur eine Min- bzw. desto geringer die Motivation.
und das Team ausfallen. Beim Becoming ste- derheit die Berufstätigkeit besser einschätzt. In der Untersuchung wurden die Soll-Ist-
hen das Sammeln neuer Erfahrungen sowie Im Rückstand ist die Berufstätigkeit auch Differenzen für die Berufstätigkeit erfragt. Die
das Lernen von Neuem und das Ausprobieren in der Believing-Dimension. Auch hier sind die grössten Diskrepanzen zeigten sich bei der
im Vordergrund. Und beim Believing gewinnt ausserberuflichen Betätigungen im Vorteil, Wertschätzung. Auch der Fähigkeiteneinsatz
eine Tätigkeit an Attraktivität, je stärker man bei denen die Befragten häufiger die Mög- und die Entwicklungsmöglichkeiten lagen
die Sinnhaftigkeit im Handeln erfahren, einen lichkeit sehen, etwas Sinnvolles leisten und hinter den Erwartungen zurück.
Beitrag leisten, Begründungen nachvollzie- innerliche Befriedigung erfahren zu können. Insgesamt nehmen die Soll-Ist-Differen-
hen und wertorientiert handeln kann. Einzig in der Becoming-Dimension sind zen mit steigendem Alter ab, da tenden-
Aufschlussreich ist ein Vergleich der Be- die Diskrepanzen weniger gross. Insbeson- ziell die Wichtigkeit sinkt und der Erfüllungs-
rufstätigkeit mit ausserberuflichen Tätigkei- dere jüngere Befragte sehen im Beruf mehr grad steigt. Allerdings ist die Abnahme nicht
ten in Bezug auf verschiedene Aspekte dieser Möglichkeiten zur persönlichen Weiterent- gleichmässig (siehe Abbildungen). So zeigt
Dimensionen. Zu den ausserberuflichen Tä- wicklung und Verantwortungsübernahme sich in Bezug auf den Einsatz der eigenen Fä-
tigkeiten zählen beispielsweise, wie erwähnt, als in der Freizeit. Bei den älteren Befragten higkeiten ein Rückgang der Soll-Ist-Differenz
Pflegeaufgaben oder Vereinsarbeit – Freizeit- schneiden ausserberufliche und berufliche zwischen 30 und 50 Jahren – das heisst, Jün-
beschäftigungen wie Hobbys oder Reisen ge- Tätigkeiten etwa gleich ab. gere haben häufiger das Gefühl, ihre Fähigkei-
hören jedoch nicht dazu. Dabei schneiden ten nicht in dem Ausmass einsetzen zu kön-
die ausserberuflichen Aktivitäten insgesamt Wunsch und Realität klaffen nen, wie sie dies möchten. Bis 50 nimmt die
deutlich besser ab als die beruflichen Aktivi- Soll-Ist-Lücke relativ ab, um dann erneut an-
täten (siehe Tabelle).
auseinander zusteigen. Ab 60 sinkt sie dann wieder. Ein
In den Dimensionen Being und Belon- Für die Motivation bzw. die Zufriedenheit oder ähnliches Bild zeigt sich in Bezug auf die Mög-
ging vermag die Berufswelt sowohl bei älte- Unzufriedenheit ist nicht nur wichtig, wie lichkeit, etwas Neues zu lernen: Hier nimmt
ren wie auch bei jüngeren Mitarbeitenden stark ein Merkmal – beispielsweise die Wert- die Soll-Ist-Diskrepanz ab 40 deutlich ab und
nur hinsichtlich der Ausrichtung auf die eige- schätzung im Unternehmen – ausgeprägt ist, stagniert um die 50, bevor sie ab 60 Jahren
nen Kompetenzen und Fähigkeiten zu punk- sondern auch, wie wichtig dieses Merkmal nochmals deutlich zurückgeht.
ten. Bei den vier weiteren Kriterien dieser bei- eingeschätzt wird (Soll) und wie hoch der Er- Insgesamt scheint also um das 50. Lebens-
den Dimensionen liegen die beruflichen Akti- füllungsgrad (Ist) aus Sicht der Befragten ist. jahr die grundlegende Tendenz der sinkenden

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  59
ÄLTERE ARBEITNEHMENDE

te gefragt, sondern vor allem individuell zuge-


Berufliche und ausserberufliche Tätigkeiten im Vergleich
schnittene Entwicklungsmöglichkeiten nahe
Einschätzung der unter 50-Jährigen Einschätzung der über 50-Jährigen am Berufsalltag. Diese werden im Idealfall im
Dimensionen und Ausserberufliche Berufliche Tätig- Ausserberufliche Berufliche Tätig­ Austausch mit dem Vorgesetzten erarbeitet
Kategorien Tätigkeiten keiten schneiden Tätigkeiten keiten schneiden und zielen auf mögliche Aufgabenerweiterun-
schneiden besser besser ab schneiden besser besser ab gen oder neue Funktionen, in denen auf die Er-
ab ab
fahrung und den vorhandenen Kompetenzen
Being und Belonging
aufgebaut werden kann.
Ausrichtung auf eigene 19% 32% 17% 28% Anderseits ist dafür zu sorgen, dass die zeit-
Kompetenzen und liche Autonomie der Erwerbstätigen erhöht
Fähigkeiten
und berufliche und ausserberufliche Lebens-
Wertschätzung des 34% 16% 35% 13%
Engagements
bereiche über flexible Arbeitsmodelle best-
Ausrichtung auf eigene 46% 11% 41% 9%
möglich miteinander vereinbart werden kön-
Interessen nen. Denn auch wenn es gelingen sollte, die
Beeinflussbarkeit der 45% 15% 43% 8% beruflichen Möglichkeiten attraktiver zu ge-
Tätigkeit stalten: Gegenüber ausserberuflichen Aktivi-
Kameradschaftlichkeit 43% 8% 43% 7% täten, die oft mehr Freiräume und Sinnstiftung
bieten, werden die beruflichen Möglichkeiten
Becoming
weiterhin zurückbleiben. Entsprechend gilt es
Möglichkeit, sich wei­ 22% 35% 23% 26% ein Nebeneinander von Beruf und Nichtberuf
terzuentwickeln
zu ermöglichen und darauf hinzuwirken, dass
Möglichkeit, Verant­ 24% 37% 28% 21%

ENGLER ET AL. 2016 / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


wortung oder Führung
sich die ausserhalb des Berufsalltags erfahre-
zu übernehmen ne Motivation auf die berufliche Umgebung
überträgt.
Believing
Möglichkeit, etwas 33% 14% 28% 11%
Sinnvolles zu leisten
Innere Befriedigung 45% 10% 38% 6%

Mitarbeitende ohne Führungsfunktion, N≥1076. Die Frage in der Umfrage lautete: «Bitte vergleichen Sie die […]
nicht beruflichen Tätigkeiten mit Ihrer beruflichen Tätigkeit. Bei welcher Tätigkeit sind die folgenden Aspekte
besser erfüllt?» In der Tabelle nicht dargestellt ist die dritte Antwortmöglichkeit «kein Unterschied»; zusammen
mit den aufgeführten zwei Antwortmöglichkeiten summiert sie sich pro Alterskategorie auf 100 Prozent.

Monika Engler
Soll-Ist-Diskrepanzen unterbrochen zu wer- Attraktive Inhalte und Freiräume Dr. oec., Dozentin für Volkswirtschaftsleh­
den – was sich entsprechend negativ auf die re, Zentrum für wirtschaftspolitische
Motivation in Bezug auf den Einsatz der Fähig- Das Ausmass an Zeit und Ressourcen, wel- Forschung, Hochschule für Technik und
Wirtschaft (HTW), Chur
keiten bzw. deren Entwicklung auswirkt. Die- che ältere Berufsleute für die Erwerbstätigkeit
se Beobachtung deckt sich mit Interviewaus- aufwenden können und wollen, hängt immer
sagen älterer Mitarbeitender, wonach sie sich auch von den ausserberuflichen Verpflichtun-
im Unternehmen vergleichsweise schwach ge- gen und Interessen ab. Um mehr Arbeitskräf-
fördert fühlen und ihre Chancen, eine Weiter- te zu einem längeren Erwerbsverbleib zu mo-
bildung zu absolvieren oder in andere Aufga- tivieren, muss deshalb einerseits die Attrakti-
ben und Funktionen zu wechseln, vermindert vität im Vergleich zu alternativen Tätigkeiten
sehen. Ebenso nehmen mit zunehmendem Al- gesteigert werden. Hierfür sind Ansätze zu
ter die mitarbeiterseitigen Bemühungen ab, die entwickeln, die dafür sorgen, dass die Er-
Aufgaben und Fähigkeiten aufeinander aus- werbstätigkeit interessant bleibt und den viel- Elisa Streuli
zurichten. Beides trägt im Endeffekt zu einem fältigen Einsatz und die Entwicklung der in- Dr. phil., Dozentin und Beraterin,
demotivierenden «Mismatch» zwischen mit- dividuellen Fähigkeiten zulässt. Wie aus den Institut für Angewandte Psychologie,
arbeiterseitig vorhandenen und unterneh- Umfrageergebnissen hervorgeht, sind dabei Zürcher Hochschule für Angewandte
Wissenschaften (ZHAW), Zürich
mensseitig verwendeten Ressourcen bei. nicht so sehr formelle Weiterbildungsangebo-

Literatur
Alderfer, C. P. (1967). Convergent and zur längerfristigen Zukunft der Alters- Engler, M., Eich-Stierli, B., Passalacqua, Trageser, J., Hammer, S. und Fliedner, J.
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Balthasar, A., Bieri, O., Grau, P., Künzi, K. der Vorsorgesituation der Personen rund (2001). Driven: How Human Nature versicherung, Bern.
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in den Ruhestand – Wege, Einfluss- Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung Pink, D. H. (2011). Drive: the Surprising
faktoren und Konsequenzen, Bericht (Sake) 2002 und 2005, Neuenburg. Truth About What Motivates Us.
im Rahmen des Forschungsprogramms

60  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


UNTERNEHMENSKREDITE

Der Zugang der KMU zu Bankkrediten ist


gewährleistet
Eine Mehrheit der KMU in der Schweiz erachtet den Zugang zu Bankkrediten als gut. Dies
zeigt eine aktuelle Umfrage. Allerdings gibt es viele Kleinstunternehmen, die den Weg zur
Bank scheuen.   Andreas Dietrich, Reto Wernli

Abstract  Das Institut für Finanzdienstleistungen Zug (IFZ) untersuchte im Auftrag Die wichtigsten Finanzierungsformen für
des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) die Situation der kleinen und mittleren KMU mit Fremdkapital sind Hypotheken und
Unternehmen (KMU) in der Schweiz bezüglich Zugang zu Bankkrediten und der Ent- Kontokorrentkredite. Des Weiteren haben
wicklung ihrer Finanzierungsbedürfnisse. Die repräsentative Umfrage zeigt, dass nur auch private Darlehen von Familien, Freun-
wenige Kreditanträge abgelehnt werden. Es gibt jedoch überraschend viele Mikro- den, Aktionären oder Partnerunternehmen
unternehmen, welche trotz eines Finanzierungsbedarfs auf einen Kreditantrag ver- eine gewisse Bedeutung.
zichten. Häufige Gründe dafür sind eine erwartete Ablehnung des Antrags, administ- Im umliegenden Ausland sind Bankfinan-
rative Hürden und ein Mangel an verfügbaren Sicherheiten. zierungen unter KMU deutlich verbreiteter,
wie ein Vergleich mit einer Umfrage der Euro-
päischen Zentralbank zeigt.4 Während in der
Schweiz lediglich 32 Prozent der KMU davon

I  n der Schweiz sind kleine und mittlere


Unternehmen (KMU) wichtige Arbeitge-
ber: Rund 70 Prozent der insgesamt 4,5 Mil-
Netto­beanspruchung von inländischen Emit-
tenten (nicht nur KMU) im Franken-Anleihen-
markt kumuliert auf mehr als 33 Milliarden
Gebrauch machen, sind es in Deutschland 45
Prozent, in Österreich 48 Prozent und in Ita-
lien 52 Prozent. Auffallend ist, dass Mikro-
lionen Beschäftigten von marktwirtschaftli- Franken.3 Zum Vergleich: Der Markt für Bank- unternehmen im Durchschnitt deutlich weni-
chen Unternehmen arbeiten in Unternehmen kredite an KMU in der Schweiz hatte per Ende ger häufig über eine Bankfinanzierung verfü-
mit weniger als 250 Beschäftigten.1 Über ein 2016 insgesamt ein Volumen von 295 Milliar- gen als KMU mit 10 oder mehr Mitarbeitern.
Viertel aller Angestellten sind dabei in einem den Franken. In der Schweiz hatten nur rund 28 Pro-
Mikrounternehmen mit weniger als zehn Mit- zent aller Mikrounternehmen einen Bank-
arbeitenden tätig. Bankkredite in Nachbarländern kredit – dies sind rund 14 Prozentpunkte we-
Angesichts der volkswirtschaftlichen Be- niger als bei den übrigen KMU. In der Euro-
deutung der KMU ist deren finanzielle Situa-
verbreiteter zone liegt der Wert für Mikrounternehmen
tion von Interesse. Wie eine Studie des Insti- Beinahe zwei Drittel der befragten KMU sind mit 40 Prozent zwar höher. Es zeigt sich je-
tuts für Finanzdienstleistungen Zug (IFZ) im ausschliesslich über Eigenkapital finanziert. doch auch dort ein deutlicher Unterschied
Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft
3 Versorgungsunternehmen, übrige Emittenten,
(Seco) zur finanziellen Situation von KMU Industrie und übrige Dienstleistungen; SNB (2017). 4 EZB (2016).
zeigt, sind Bankkredite weiterhin die zentra-
le Finanzierungsform.2
Valable Alternativen zu Bankkrediten Anteil KMU mit Bankfinanzierung nach Grösse und Gründungsjahr
sind für KMU nur in einem beschränkten 60    in %
Mass verfügbar. Beispielsweise haben ledig-
lich eine Handvoll Firmen angegeben, auf
Crowdfunding, Factoring (Übertragung von
Geldforderungen aus Warenlieferungen und
Dienstleistungen) oder Private Equity zurück- 40
DIETRICH, WERNLI, DUSS (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

gegriffen zu haben. Dasselbe gilt auch für An-


leihen, da nur die wenigsten KMU die kriti-
sche Grösse für die Emission von Anleihen
aufweisen. Demgegenüber scheinen grösse- 20
re Firmen nach Ausbruch der Finanzkrise von
dieser Finanzierungsquelle rege Gebrauch
gemacht zu haben. Seit 2009 belief sich die

0
1 Als KMU werden Unternehmen mit weniger als 250
Mitarbeitern gezählt; BFS (2017). Die Studie konzent- Vor 1980 1980–1989 1990–1999 2000–2004 2005–2009 Seit 2010
rierte sich auf jene KMU mit mehr als 2 Beschäftigten
(in Vollzeitäquivalenten).   Mikrounternehmen (2–9 Vollzeitäquivalente)       Kleine Unternehmen (10–49 Vollzeitäquivalente)    
2 Dietrich, Wernli, Duss (2017).   Mittlere Unternehmen (50–249 Vollzeitäquivalente)

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  61
UNTERNEHMENSKREDITE

g­ egenüber KMU mit mehr als 10 Beschäf- verfügbaren Sicherheiten zu scheitern. Hier
Die wichtigsten Herausforderungen
tigten, von denen mehr als die Hälfte einen könnte möglicherweise eine bessere Be-
von KMU
Bankkredit hat. kanntheit des vom Bund aktiv unterstützten
Rang Herausforderung Durchschnittswert Bürgschaftswesens teilweise Abhilfe leisten.
Jungunternehmen mit (1–10 Punkte) Derzeit ist diese Option nur wenigen KMU
bekannt: Über alle Branchen haben lediglich
Finanzierungsschwierigkeiten 1. Wettbewerb 4,69
14 Prozent davon gehört. Am grössten ist der
2. Kundschaft 4,57
Doch nicht nur bei der Grösse, sondern auch Bekanntheitsgrad mit 21 Prozent in der Indus-
­generieren
beim Firmenalter gibt es deutliche Zusam- trie.
menhänge mit der Finanzierungsstruktur 3. Kosten/Löhne 4,04 Es lässt sich zudem vermuten: Viele der
(siehe Abbildung). Tendenziell steigt die Häu- 4. Qualifiziertes 3,87 entmutigten KMU hätten vermutlich einen
figkeit von Bankfinanzierungen mit zuneh- Personal Bankkredit erhalten, wenn sie einen solchen
mendem Firmenalter. Ein Grund dafür ist, 5. Regulierung 3,51 beantragt hätten. Eine Studie dazu über KMU
dass KMU mit der Zeit wachsen. Zudem kann, 6. Zugang zu exter­ 2,85
aus den USA schätzte diesen Anteil auf zwi-
unabhängig von der Unternehmensgrös- nen Finanz­ schen 21 und 55 Prozent. Da die Gruppe der

DIETRICH, WERNLI, DUSS (2017).


se, ein potenzieller Kreditgeber die finanziel- mitteln Entmutigten in der Schweiz bis anhin nur am
le Situation von älteren Unternehmen bes- 7. Andere 2,69 Rande untersucht wurde, sollte in künftigen
ser einschätzen – entsprechend gaben KMU Untersuchungen ein grösseres Augenmerk
Gesamtdurch- 3,75
mit einem Gründungsjahr vor dem Jahr 2000 schnitt auf sie gelegt werden.
in der Befragung doppelt so häufig an, über
einen Bankkredit zu verfügen, wie jene, wel-
che danach gegründet wurden.
Am deutlichsten ist der Trend bei den Mi- deutung hat. Mit einem Durchschnittswert
krounternehmen, während er bei den kleinen von 2,85 von maximal 10 Punkten ist die ex-
und mittleren Unternehmen nicht eindeutig terne Finanzierung die unbedeutendste He-
ist.5 Dies lässt vermuten, dass insbesondere rausforderung aus Sicht der Unternehmen
bei KMU mit weniger als 10 Mitarbeitern der (siehe Tabelle). Lediglich 7 Prozent der Be-
Altersfaktor für Finanzierungsschwierigkei- fragten bezeichnen dies als eine grosse He-
ten verantwortlich ist. rausforderung (Werte 8–10). Viel wichtiger Andreas Dietrich
Um die aktuelle Lage des Kreditmark- sind die Aspekte «Wettbewerb» und «Kund- Professor für Banking und Finance, Institut
tes besser beurteilen zu können, wurden die schaft generieren». für Finanzdienstleistungen Zug (IFZ),
Hochschule Luzern
KMU nach ihren Finanzierungsbedürfnissen
in den vergangenen zwölf Monaten befragt. «Entmutigte» Kleinstfirmen
Jedes fünfte KMU wies dabei einen Finanzie-
rungsbedarf in Form von Verlängerungen be- Eine genauere Betrachtung zeigt allerdings,
stehender Kreditlinien oder in Form von Neu- dass überraschend viele KMU gar nicht erst
beantragungen auf. Wer in diesem Zeitraum einen Kreditantrag stellten, obwohl sie in den
einen Kreditantrag stellte, erhielt in der Regel vergangenen zwölf Monaten einen Finanzie-
einen positiven Bescheid von der Bank. Ab- rungsbedarf aufwiesen. Diese «entmutig-
gelehnt wurden lediglich 6 Prozent aller An- ten» KMU entsprechen 6 Prozent aller KMU
träge – was knapp 1 Prozent aller KMU ent- beziehungsweise 29 Prozent der KMU mit Fi-
spricht. Diese Werte sind im internationalen nanzierungsbedarf. Auch hier gibt es deutli- Reto Wernli
Vergleich tief und decken sich entsprechend che Unterschiede in Bezug auf die Unterneh- Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für
nicht mit Vermutungen, dass Banken äusserst mensgrösse: Während von den mittelgros- Finanzdienstleistungen Zug (IFZ),
Hochschule Luzern
restriktiv in ihrer Kreditvergabepolitik sind. sen Unternehmen dieser Kategorie lediglich 5
Wenn man die Herausforderungen der Prozent als entmutigt eingestuft werden, ge-
KMU in einem grösseren Kontext betrachtet, hört jedes dritte Mikrounternehmen in diese Literatur
wird ersichtlich, dass der «Zugang zu exter- Kategorie. Dietrich, A., Wernli, R., Duss, C. (2017). Studie zur
Finanzierung der KMU in der Schweiz 2016, 
nen Finanzmittel» für die meisten Unterneh- Viele KMU scheuen den Gang zur Bank, da im Auftrag des Seco.
men in der Schweiz derzeit keine zentrale Be- sie mit zu hohen Kreditkosten rechnen. Wei- BFS (2017). Statistik der Unternehmensstruktur
(Statent), provisorische Zahlen für 2015.
tere Gründe sind der «mühsame» Kreditpro- EZB (2016). Survey on the Access to Finance of
5 Bei den mittleren Unternehmen sind die Aussagen nur zess sowie eine erwartete Ablehnung des Enterprises in the Euro Area - October 2015 to
beschränkt aussagekräftig, da die Standardabweichung March 2016.
der Schätzung aufgrund des kleineren Stichprobenum-
Kreditantrags. Klar am häufigsten scheint je- SNB (2017). Kapitalmarktbeanspruchung durch
fangs höher liegt. doch der Kreditantrag an einem Mangel an CHF-Anleihen.

62  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


ZAHLEN

Wirtschaftskennzahlen
Auf einen Blick finden Sie hier die Kennzahlen Bruttoinlandprodukt, Erwerbslosenquote und Inflation von acht Ländern, der EU und
der OECD. Zahlenreihen zu diesen Wirtschaftszahlen sind auf Dievolkswirtschaft.ch aufgeschaltet.

Bruttoinlandprodukt: Bruttoinlandprodukt:
Reale Veränderung in % gegenüber dem Reale Veränderung in % gegenüber dem Vorquartal1
Vorjahr
2016 3/2017 2/2017 1/2017 4/2016
Schweiz 1,3 Schweiz 0,6 0,3 0,3 0,1
Deutschland 1,9 Deutschland 0,8 0,6 0,7 0,4
Frankreich 1,2 Frankreich 0,5 0,5 0,5 0,5
Italien 0,9 Italien 0,5 0,4 0,4 0,2
Grossbritannien 1,8 Grossbritannien 0,4 0,3 0,2 0,7
EU 1,9 EU 0,6 0,6 0,5 0,6
USA 1,6 USA 0,8 0,8 0,3 0,5
Japan 1,0 Japan 0,3 1,0 0,4 0,3
China 6,7 China 1,7 1,7 1,3 1,7
OECD 1,7 OECD 0,6 0,7 0,5 0,7

Bruttoinlandprodukt: Erwerbslosenquote:3 Erwerbslosenquote:3


In Dollar pro Einwohner 2016 (PPP2) in % der Erwerbspersonen, Jahreswert in % der Erwerbspersonen, Quartalswert
2016 2016 3/2017
Schweiz 63 616 Schweiz 4,6 Schweiz 5,0
Deutschland 49 077 Deutschland 4,1 Deutschland 3,6
Frankreich 41 945 Frankreich 9,9 Frankreich 9,7
Italien 37 964 Italien 11,7 Italien 11,2
Grossbritannien 42 898 Grossbritannien 4,8 Grossbritannien –
EU 38 918 EU 8,6 EU 7,5
USA 57 325 USA 4,9 USA 4,3
Japan 41 694 Japan 3,1 Japan 2,8
China – China – China –
OECD 42 096 OECD 6,3 OECD 5,7

Inflation: Inflation:
Veränderung in % gegenüber dem Vor- Veränderung in % gegenüber dem
jahr ­Vorjahresmonat
2016 Oktober 2017
Schweiz 0,0 Schweiz 0,7
Deutschland 0,5 Deutschland 1,6
Frankreich 0,2 Frankreich 1,1
Italien –0,1 Italien 1,0
Grossbritannien 0,7 Grossbritannien 3,0
EU 0,3 EU 1,7
SECO, BFS, OECD

USA 1,3 USA 2,0


Japan –0,1 Japan –
China 2,0 China 1,9
Weitere Zahlenreihen
OECD 1,1 OECD –
1 Saisonbereinigt und arbeitstäglich bereinigte Daten.
www.dievolkswirtschaft.ch d Zahlen
2 Kaufkraftbereinigt.
3 Gemäss ILO (Internationale Arbeitsorganisation).

Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018  63
Durchzogene Bilanz beim CO2-Ausstoss
Die Schweizer Wirtschaft produziert mit relativ wenig CO2-Emissionen ein hohes Bruttoinlandprodukt (BIP). Gründe dafür
sind die emissionsarme Stromerzeugung sowie ein grosser Dienstleistungssektor. Seit 1990 hat sich die CO2-Effizienz des
BIP stetig verbessert. Heute liegt die Schweiz deutlich unter dem Weltdurchschnitt. Anders beim Ausstoss pro Kopf: Die
Schweiz schneidet hier schlechter als der Weltdurchschnitt ab. Schweden und Franzosen verursachen weniger CO2. China, der
­weltweit grösste Emittent, steht beim Pro-Kopf-Ausstoss auf einmal besser da als Deutschland.

0,5
CO2-effiziente Schweizer Wirtschaft
Kaufkraftbereinigt, in Kilogramm CO2 pro Dollar des BIP, 2015

0,3 0,31

0,21

0,12
0,08 0,09

Schweiz Schweden Frankreich Deutschland USA Ø global China

Grosser Industriesektor,
Grosser Dienst- Grossteil der Strom-
Grossteil der Strom-
leistungssektor. CO2- produktion aus fossiler
produktion aus fossiler
arme Stromproduktion Energie
Energie

INTERNATIONAL ENERGY AGENCY (2017), KEY WORLD ENERGY STATISTICS 2017, SHUTTERSTOCK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

Hoher Ausstoss pro Kopf


In Tonnen CO2 pro Kopf, 2015 (nur CO2 aus der Verbrennung von
Treib- und Kraftstoffen im Inland berücksichtigt).

15,53
6,59 8,93
3,78 4,37 4,4 4,51

Schweden Frankreich Ø global Schweiz China Deutschland USA

64  Die Volkswirtschaft  1–2 / 2018


VORSCHAU

88e année   N°
90. Jahrgang   Nr. 5 /2015 sFr.
1-2 /2018 Frs.12.–
12.–

La
DieVie économique
Volkswirtschaft
Plattformdefür Wirtschaftspolitik
Plateforme politique économique

FOKUS

Sinnhaftigkeit von BIP-Zahlen


Alles, was wir in der Schweiz herstellen an Produkten und Dienstleistungen, fassen wir im Bruttoinland-
produkt (BIP) als Gesamtwert zusammen. Dieser misst den Wohlstand, den eine Volkswirtschaft im In-
land schafft. Das BIP ist hingegen kein Indikator für die Wohlfahrt einer Gesellschaft. Deshalb steht es
seit Jahrzehnten in der Kritik. Zudem wird beanstandet, dass das BIP im Zuge der Digitalisierung einen
Teil der Wertschöpfung nicht abbilde. Ist diese Kritik berechtigt? Wozu braucht es die BIP-Zahlen über-
haupt? Und wer braucht sie? Kann ein solches Konzept sinnvoll sein, das beispielsweise einen Verkehrs-
unfall als wohlstandssteigernd betrachtet? Auch die Messung des BIP wird immer schwieriger. Denn
mit dem gestiegenen Anteil der Dienstleistungen sind Qualitätssteigerungen und Preisentwicklungen
schwieriger messbar. Was Experten zu diesem Thema meinen, erfahren Sie in der nächsten Ausgabe.

Kritik an den BIP-Zahlen im Zusammenhang mit der Digitalisierung


Professor Thomas Straubhaar, Universität Hamburg

Entstehungsgeschichte und Aussagekraft der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung


in der Schweiz
Philippe Küttel, Bundesamt für Statistik, und Ronald Indergand, Staatssekretariat für Wirtschaft

Wie funktioniert die BIP-Quartalsschätzung?


Andreas Bachmann und Ronald Indergand, Staatssekretariat für Wirtschaft

BIP-Analyse als Grundlage der Wirtschaftspolitik


Eric Scheidegger, Staatssekretariat für Wirtschaft

Wie wirken Wachstumsprognosen auf die Geldpolitik?


Attilio Zanetti und Carlos Lenz, Schweizerische Nationalbank

Wie fliessen BIP-Zahlen in die Budgetplanung ein?


Adrian Martinez und Christian Müller, Eidgenössische Finanzverwaltung

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