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I.
Pasolini is me. So beginnt der Song You have killed me des britischen Rockpoeten
Morrissey, der als Sänger der britischen Band 'The Smiths' seine Karriere begonnen
hatte. Für die Fotos der Imagekampagne zur CD zog Morrissey mit seinem
Fotografen in Roms Arbeiterviertel San Lorenzo. Er suchte das wilde Fußballfeld auf,
wo Pier Paolo Pasolini einst mit den Jungs von der Peripherie kickte. Er betrachtete
die verwitterten Reste eines alten Aquädukts, unter dessen Bögen Pasolini sich mit
Prostituierten unterhalten haben soll. Accattone you'll be, fährt Morrissey im Song
fort. Accattone, das ist die Figur, die in Pasolinis Erstling ihren Namen verliert.
Vittorio, der er war, träumt, Accattone, der er ist, stürbe und er, Vittorio, sei zur
Trauer nicht zugelassen. Pasolini verwehrt seinem Protagonisten die erinnernde
Begegnung mit sich selbst. Gegenwärtige und vergangene Identität bleiben sich
fremd.
"Die höchste Form der Kritik" schreibt Oscar Wilde in der Vorrede zu Dorian Gray,
"ist eine Art der Autobiographie."2 Nun gilt dies auch für künstlerische Werke. Sie
erzählen, ohne je mit ihnen zusammenzufallen, von ihren Autoren. Sie bieten
Ansichten von Wirklichkeit und in Sätzen, Tonfolgen und Formen übertragene
Wirkungen von Begegnungen den späteren Betrachtern dar. Letztere nehmen die
ästhetischen Erscheinungen mit ihrem Wirkungsschweif erneut, oft nicht ohne
Widerstand, in ihre Erfahrungszusammenhänge auf. Im Werk liegt die Möglichkeit
der Begegnung von Künstler und Betrachter geborgen.
Möglicherweise war es der Aspekt des fehlenden erinnernden Zugangs zum
Selbst, der Morrissey veranlasst hat, seinem Hörer die Rolle des Accattone
zuzuweisen und jene des Autors selbst zu übernehmen. Im Song wohlgemerkt,
kaum wohl, trotz Morrisseys spielerisch anmutender Affinität zum Morbiden, im
Leben. Morrisseys Werk wird gleichsam zum Spiegel seiner Begegnung mit
Pasolinis Werk und vermutetem Leben. Was bleibt, ist eine unüberwindbare Distanz,
welche, es mag zunächst paradox klingen, Begegnung ermöglicht.
1
Rimbaud im Brief an Paul Demeny, 15. 5. 1871. In: Arthur Rimbaud: Seher-Briefe/Lettres
du voyant. Übers. u. hg. v. Ernst v. Koppenfeis. Mainz 1990 (exzerpta classica 7).
2
Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray. 1891. Vorrede.
1
II.
Begegnungen sind auch widerständig. Das Vertraute begegnet uns nicht. Es kann
uns nicht treffen im wörtlichen Sinne. Die echte Begegnung im
exstenzphilosophischen Sinne schließt harmonische Verschmelzung aus. In ihr
stoßen zwei Wirklichkeiten hart aufeinander. Wir erfahren die Fremdheit des
Anderen in jähem Erschrecken.
Pasolinis Anliegen war es, dem Fremden, dem in der Distanz liegenden, zur
Sprache zu verhelfen. In der Kritik zu Accattone schreibt Karsten Witte: "Pasolinis
Pathos besteht darin, nicht dem pittoresk Vertrauten Bestätigung im Bild zu geben,
sondern dem schroff Unvertrauten die aberkannte Achtung wiederzugewinnen."3
Regine Richter hat die Textpassage in eine ihrer Zeichnungen aufgenommen. Im
quadratischen Format liegt sie unter Transparentpapier halb verborgen am unteren
Rand eines wilden Feldes von Graphitstrichen. Die Zeilen unterstreichen und halten
den Einbruch des Meeres vom Betrachter fern. Unter dem Saum der Brandung liegt
– in der Zeichnung eine große Leerstelle – der geschundene, gemordete Leib
Pasolinis.
III.
3
Karsten Witte: Leidensgenossen. In: Ders.: Die Körper des Ketzers. Pier Paolo Pasolini.
Aus dem Nachlass herausgegeben von Rainer Herrn. Berlin (Vorwerk) 1998, S. 42.
4
Arthur Rimbaud: Das trunkene Schiff.
2
zusammengefügt aus vielen, lasierend aufgetragenen Schichten. Sie zeichnet es
rasch und grob mit dickem Pinselstrich, einmal die Augen verborgen hinter dicken
Brillengläsern, einmal hinter Transparentpapier. Auf dessen Rückseite hat sie
seinen Namen gedruckt wie ein Zeichen, dem Papier zugewandt. Gesicht und
Name sind einander zugeneigt, sie begegnen sich, während wir, von der
transparenten Schicht auf Distanz gehalten, das Gesicht halb verborgen sehen
unter dem spiegelverkehrten Namen. Figuren aus Pasolinis Filmen bewegen sich in
vagen, halb im Dunkel versinkenden Szenerien. Ein Widderkopf erscheint. Kreuze
im Licht. Immer wieder malt und zeichnet Regine Richter Wellen, halb gezähmt die
aufbrandenden heftigen Striche von grauweißen Lasuren. Und sie füllt die Leerstelle
mit einer Andeutung von Pasolinis Körper am Strand nur halb: Ostia 2. November
1975.
IV.
5
Otto Friedrich Bollnow: Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige
Formen der Erziehung. Stuttgart (Kohlhammer) 1959, S. 99.
3
aus spricht. "Trotzdem", meint Bollnow, "gibt es auch hier einen echten
existentiellen Bezug, durch den der Mensch in seinen Tiefen erschüttert wird." 6
V.
Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Es ist wesentlich, dass im
existenziellen Sinne der Dialog zwischen Kunstwerk und Betrachter nicht einseitig
sein kann. In unwiederholbarer Deutlichkeit hat Rilke das Wesen solcher
Begegnungen im Archaischen Torso Apollos ausgedrückt: Du mußt dein Leben
ändern. Existenzphilosophisch gefasst, ermöglicht erst die schicksalhafte, alle
bisherigen Sicherheiten vernichtende Begegnung, dass der Mensch zu sich kommt.
Damit einher geht eine veränderte innere Verfasstheit, welche mit 'Konzentration
aufs Wesentliche' vielleicht am besten umschrieben ist. Solche konzentrierte
Reduktion finden wir in Regine Richters Bildern. Wenn etwa sich auf zwei Tafeln
eine rot leuchtende Fläche und das sorgfältig aus Schichten zusammengefügte
Gesicht Pasolinis begegnen, verstehen wir besser, inwiefern Begegnungen
widerständig gedacht werden können.
Die rote Farbtafel und das gezeichnete Gesicht stoßen hart aneinander. Es gibt
keinen Übergang. Begegnungen schlagen ein wie Blitze, und sie sind insofern von
Beginn an zeitlos. Dass Begegnungen echt sind heißt auch, dass kein Ende
absehbar ist. Das Auge kann unendlich zwischen Tafel und Zeichnung wandern und
wird doch nicht die beiden Teile zu einer Einheit zwingen. Im Gegenteil wird das
Nachbild der leuchtenden Farbfläche die Perzeption der Zeichnung beeinflussen
und irritieren. Mit solchen Begegnungen werden wir nicht fertig. Es gibt keine
vermittelnde Instanz zwischen dem inneren Bild, gegeben in der roten Tafel, und
dem äußeren Bild, wie es sich in der Portraitierung Pasolinis, des Autors der
janusköpfigen Gestalt Accattone/Vittorio, niedergeschlagen hat.
An ihrem Grund umfassen Begegnungen alles: alles Leben und allen Tod. Als
Accattone stirbt sagt er: "Endlich fühle ich mich wohl". Die widerständige
Begegnung hat ihr Ende gefunden. Im Tod erst, in der Auflösung von Identität,
könnte man interpretieren, finden Accattone und Vittorio zueinander. Im Lebensfluss
gibt es solche Symbiose auf Dauer nicht.
6
Bollnow, 1959, S. 102.
4
VI.
Falls ich zurückkomme. In einer Reihe der neuen Bilder arbeitet Regine Richter
über eine Performance Pasolinis, in welcher der Regisseur die Begegnung von
Werk und Autor inszeniert hat. Er projiziert Szenen aus dem Matthäus Evangelium –
sie entstammen seinem Film Il vongole secondo Matteo – auf seinen Körper.
Regine Richters Zeichnung zeigt im weißen Quadrat eine schattenhafte Figur, auf
deren Brustkorb eine helle, aus vielfachen Übermalungen entstandene grau und
zart strukturierte Fläche liegt, gleich einem dem Betrachter zugewandten, offenen,
aber nun leeren Buch. Regine Richter bietet ihren Betrachtern Pasolinis Leben als
Leerstelle an, die sie mit nichts als sich selbst füllen können.
… habe ich andere Dinge gesehn. Die Figur, nun nicht mehr isoliert von ihrem
Umfeld, trägt ein Grab an der Stelle des hellen Feldes vor der Brust. Begegnungen,
die das Sehen "anderer Dinge" ermöglichen, tragen stets ein krisenhaftes Moment
in sich. Der Ausgang ist unabwägbar. Dem Sehen geht Blindheit voraus. Die leere
Projektionsfläche und die Isoliertheit der Figur erinnern an das Moment der Krisis,
wie wir es am besten wohl aus Krankheitsverläufen kennen, wenn eine rasche
Aufgipfelung zur Wendung des gesamten Verlaufes entweder zur Heilung oder zum
Tode hin führt.
Es charakterisiert die Krise, dass sie als plötzliches und intensives Ereignis den
Lauf des Lebens abbricht. Sie unterbricht ihn nicht nur, sondern mit der Krise
geschieht "ein wirklicher Einbruch eines ganz Andersartigen, das im stetigen
Lebensverlauf gar keinen Platz hat und darum nach Beendigung der Krise auch
notwendig wieder verloren geht."7
Aber wenn ich zurückkomme … Regine Richter beginnt die Reihe mit
verschachtelten, grau schraffierten Flächen, in die von rechts unten verhalten ein
helles Feld eindringt. Es ist weder Zufall noch Widerspruch, dass sich der Zustand
vor und nach der Krise formal ähneln: Hier wie dort ist die zentrale Figur umgeben
von Feldern aus reichem Grau. Das Moment der Krisis hingegen zeichnet sich
durch Klarheit aus. Im existenzphilosophischen Jargon ist die Figur nur hier, in der
äußersten Gefährdung, in der vollkommenen Blindheit hellsichtig, im existenziellen
Zustand der Eigentlichkeit gegeben. Im alltäglich vertrauten – existenzphilosophisch
gesprochen uneigentlichen - Dasein stehen wir in unserem Leben wie
selbstverständlich. Kaum, dass wir je an das Verfließen der Zeit, unserer eigenen
und einzigen Lebenszeit denken. Von hier aus drängt es uns in Krisen, dort geraten
wir wieder hin. Manchmal ohne rechte Erinnerung an den herausgehobenen
Augenblick, der dennoch fortan als vollzogene Erfahrung unser Leben in eine neue
Richtung lenkt. Sei es, dass wir neue Gewohnheiten annehmen, sei es, dass wir
neue Ausdrucksmöglichkeiten erwerben.
7
Bollnow, 1959, S. 31.
5
VII.
veröffentlicht in:
Regine Richter: Begegnungen. Katalog. Stuttgart, 2007.
6
Liebe Regine,
ich habe offenbar eine andere Übersetzung von Wilde als Du. Bei mir heißt es so:
(Haut statt Oberfläche). Ich wollte das eigentlich einbauen, im Zusammenhang mit
diesem Pasolini-Zitat
Da ich sie nun auch zitiere würde ich vorschlagen, die Witte-Stelle (Pasolinis
Pathos …) im Katalog (S. 19) wegzulassen, denn sonst taucht es drei mal auf, und
das finde ich zu viel.
Ich habe die Bilder, die ich anspreche, jetzt mal als kleine thumbnails eingefügt,
ein Layout ist das natürlich noch nicht. Dazu hätte ich die genauen Maße wissen
müssen. Aber das könnte ihr ja vielleicht auch selbst machen.
Herzliche Grüße
Gabi
8
Vorrede zu: Das Bildnis des Dorian Gray (1891).
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Wunschtitel des letzten Interviews
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