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Sozialismus

Klaus von Beyme

Sozialismus
Theorien des Sozialismus, Anarchis-
mus und Kommunismus im Zeitalter
der Ideologien 1789 – 1945
Klaus von Beyme
Heidelberg, Deutschland

ISBN 978-3-658-02949-4 ISBN 978-3-658-02950-0 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-02950-0

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Inhalt

I. Einleitung: Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus


als politische Ideologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1 Zur Wortgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2 Denkschulen, Bewegungen und Parteien . . . . . . . . . . . . . . 10

II. Der Frühsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19


1 Der Frühsozialismus in Frankreich: Babeuf, Saint Simon,
Fourier, Cabet, Blanc, Blanqui . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2 Der Frühsozialismus in Großbritannien: Robert Owen . . . . . . . . 63
3 Der Frühsozialismus in Deutschland: Weitling und Hess . . . . . . . 69

III. Der Anarchismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81


1 Anarchistischer Radikalismus in Großbritannien:
William Godwin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
2 Der föderalistische Anarchismus in Frankreich:
Pierre-Joseph Proudhon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
3 Der deutsche Anarchismus: Stirner, Landauer, Mühsam . . . . . . . 103
4 Der russische Anarchismus: Bakunin, Kropotkin, Tolstoj . . . . . . . 112
5 Der Syndikalismus in Frankreich: Georges Sorel . . . . . . . . . . . 144
6 Anarchismus in Italien: Errico Malatesta . . . . . . . . . . . . . . . 151

IV. Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157


1 Der Marxismus in Deutschland: Marx, Engels,
Luxemburg, Lukács, Korsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
2 Marxismus in Russland: Plechanov, Lenin und Trotzki . . . . . . . . 212
3 Ein nicht-leninistischer Kommunismus in Italien:
Antonio Gramsci . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
6 Inhalt

V. Sozialdemokratismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
1 Sozialdemokratie in Deutschland: Lassalle, Kautsky, Bernstein . . . 251
2 Die Fabier in Großbritannien: Beatrice und Sidney Webb,
Bernard Shaw, Harold Laski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
3 Reformistischer Sozialismus in Frankreich: Jean Jaurès
und Jules Guesde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
4 Der Sozialismus in Italien: Antonio Labriola
und der „Revisionismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
5 Sozialismus in Spanien: Pi y Margall, Costa . . . . . . . . . . . . . 297

VI. Sozialistische und kommunistische Parteien . . . . . . . . . . . 313


1 Varianten des Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
2 Parteinamen im sozialistischen Lager
und die „Sozialistische Internationale“ . . . . . . . . . . . . . . . 315

VII. Konklusion: Liberalismus, Konservatismus,


Sozialismus und Kommunismus in der Entwicklung
der sozialen Bewegungen und Parteien . . . . . . . . . . . . . 319
1 „Normalentwicklungen“ und „Sonderwege“
des politischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
2 Politische Theorie als Ideologisierung dreier Sonderwege:
Deutschland, Spanien und Russland . . . . . . . . . . . . . . . . 320
3 Das Ende der Sonderwegsideologien:
der parlamentarisch-demokratische Grundkonsens in Europa . . . 321
4 Rezeptionswellen und Einflussströme
des politischen Denkens in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
5 Sozial- und Berufsstruktur der Theoretiker der Politik . . . . . . . . 331
6 Politisches Engagement der Theoretiker der Politik . . . . . . . . . 337
7 Theorieentwicklung und Entwicklung der politischen Parteien . . . 343
8 Die Internationalisierung des politischen Denkens . . . . . . . . . 351
9 Das Ende der Ideologien ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
I. Einleitung: Sozialismus,
Anarchismus und Kommunismus
als politische Ideologien

1 Zur Wortgeschichte

Schon Seneca sprach von einem „animal sociale“ – in freier Übersetzung des „zoon
politikon“ bei Aristoteles, das der Erreichung eines „guten Lebens“ in der Polis zu-
geordnet war. Die christlich-universalistische Komponente des Begriffs „socialis“
wurde mit der Verbreitung des „ius sociale“ – im Deutschen meist „Naturrecht“
genannt – zunehmend säkularisiert. Pufendorf und Grotius benutzten den Aus-
druck „socialitas“ und suchten nach festen Normen für sittliches Handeln, das nur
in der Gemeinschaft möglich ist. Bei Hugo Grotius (De iure belli ac pacis (1626,
Frankfurt, 1646: 3) entstand ein Grundbegriff wie ius naturale sociale. Die societas
civilis wurde bei ihm zunehmend nicht mehr göttlicher Stiftung, sondern einem
dem Menschen zugeschriebenen „affectum sociale“ zugeschrieben. Sozialismus ist
ein zukunftsorientierter Bewegungsbegriff. Bei Samuel Pufendorf (De jure natu-
rae et gentium, 1672, 1688: 2, 3, 15; 2,4,1) kam das vorher selten nachweisbare Sub-
stantiv „socialitas“ oder „sociabilitas“ in Gebrauch, das im Gegensatz zu Grotius
eher dem individuellen Geselligkeitstrieb zugeordnet wurde.
Die deutschen Worte „Sozialist“ und „Sozialismus“ entstammen der Sprache
der Gelehrten des 18. Jahrhunderts. Gottlieb Hufeland soll in Deutschland als ers-
ter von „Socialisten“ im Sinne eines philosophischen Schulbegriffes gesprochen
haben (Schieder 1984: 924 f, 930). Saint Simon, der unter die Frühsozialisten ge-
rechnet wird (Kap. II.1), hat ein Gegenmodell gegen den Liberalismus propagiert.
Er nannte es aber nicht „Sozialismus“, sondern „industrialisme“, auch wenn er ge-
legentlich von „socialistes“ sprach. Erst 1837 verdrängte der Ausdruck „socialism“
den Terminus „Owenism“ und auch die Gegner Owens adaptierten ihn. Einige
Autoren nannten das System von Fourier „sozietär“ und reservierten den Begriff
„sozialistisch“ für Owens Schule (Müller 1967: 28 f, 70 f, 190 ff). Auch der katho-
lische Romantiker Lamennais übernahm den Sozialismus in seinem Bekenntnis

K. von Beyme, Sozialismus, DOI 10.1007/978-3-658-02950-0_1,


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8 Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus als politische Ideologien

und benutzte auch den Ausdruck „Kommunismus“ (vgl. Bd. 1, Kap.III.1). Zuneh-
mend setzte sich der Sozialismus-Begriff für alle Bestrebungen durch, die auf eine
Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände drängten. Die Liberalen haben ge-
rade dieses Ziel meist abgelehnt und brauchten daher den Begriff „Sozialismus“
pejorativ. Diese Tendenz hat sich im Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts noch
verstärkt. Das Wort „sozialdemokratisch“ wurde im deutsch-sprachigen Bereich
um 1850 erstmals gesichtet, in Baden sogar als Parteiname (Müller 1967: 161).
Marx und Engels haben sich mit deutschen Frühsozialisten auseinander ge-
setzt, und ihre Wortschöpfungen wie „wahrer Sozialismus“ oder „deutsche Wis-
senschaft des Sozialismus“ – die sie als „esoterische Wissenschaft“ abqualifizierten
(MEW Bd. 3: 442) – aufs Korn genommen. Der konservative oder „Bourgeoisso-
zialismus“ und der kritisch-utopische Sozialismus und Kommunismus mit sei-
nem allgemeinen Asketismus und seiner „rohen Gleichmacherei“ sind scharf kri-
tisiert worden. Damit wurde nach ihrer Meinung im „Kommunistischen Manifest“
„die französische sozialistisch-kommunistische Literatur … förmlich entmannt“
(MEW 4: 486). In Frankreich wurde eine „Sozialdemokratie“ als Sektion der re-
publikanischen Partei gesichtet, die auch Louis Blanc vertrat – eine Richtung die
Engels in einem Zusatz zum Kommunistischen Manifest von 1890 (MEW Bd. 4:
492, Anm.) als „himmelweit verschieden von der heutigen deutschen Sozialdemo-
kratie“ einstufte.
„Die Frühsozialisten“ – es wird hier vermieden, das marxistische Etikett „uto-
pischer Sozialismus“ anzuwenden – vertraten vielfach Doktrinen, die auf einen
Kommunismus hindeuteten. Marx und Engels haben im „Kommunistischen Ma-
nifest“ 1848 jedoch die Grenzlinien für Generationen dogmatisiert. Kommunis-
mus war eine proletarische Bewegung, Sozialismus eine „bourgeoise“. Da gab es in
der Untereinteilung einen „pfäffischen Sozialismus“ als reaktionären Sozialismus,
einen kleinbürgerlichen Sozialismus, und einen deutschen oder „wahren“ Sozialis-
mus. Der konservative Bourgeoissozialismus umfasste für Marx auch den Proud-
honismus, der überwiegend unter „Anarchismus“ verbucht wird (vgl. Kap.  III.2).
Bei den „kritisch-utopischen“ Denkern mit ihrer „rohen Gleichmacherei“ von
Saint-Simon bis Owen haben die beiden Theoretiker sich selbst nicht immer klar
entschieden und von „Sozialismus und Kommunismus“ gesprochen. Sozialis-
mus und Kommunismus wurden nicht immer säuberlich geschieden. Noch gab es
nicht den Schematismus, der Kommunismus als Spätform der 5. Gesellschaftsfor-
mation „Sozialismus“ entstehen lassen sollte, wie später im sowjetischen Denken.
Sozialismus und Kommunismus wurden im Denken des 19. Jahrhunderts mit
unterschiedlichen Wertungen verbunden. Für einen relativ konservativen Den-
ker wie Lorenz von Stein (1959, Bd. 1: 118; vgl. Bd.2, Kap. V, 1) stand der Sozialis-
mus in allen seinen Formen „unendlich viel höher als der Kommunismus“, weil
sein Grundbegriff mit der Arbeit auf der Individualität beruhe. Der Frühsozia-
Zur Wortgeschichte 9

list Moses Hess (1961: 368, vgl. Kap. II, 3) hingegen überhöhte den Kommunis-
mus magisch, weil er alles, „was uns im Christentum prophetisch und phantas-
tisch in Aussicht gestellt worden“ ist, künftig nach „ewigen Gesetzen der Liebe
und Vernunft“ in Erfüllung gehen lasse. Stein hatte 1842 noch geglaubt, dass der
Kommunismus nicht von Frankreich nach Deutschland übergreifen könne. Erst
durch Johann Caspar Bluntschlis Werk: „Die Kommunisten in der Schweiz“ (1843,
1973:  21), ein amtlicher Bericht über die Verhaftung und Ausweisung Weitlings
aus der Schweiz, wurde die Kommunistenfrage in Deutschland virulent und Ar-
nold Ruge erklärte den Kommunismus nun zu einer „teutschen Angelegenheit“
(Schieder 1982: 479). Daher konnten Marx und Engels im Kommunistischen Ma-
nifest 1848 (MEW Bd. 4, 1959: 461) behaupten: „Ein Gespenst geht um in Europa –
das Gespenst des Kommunismus“.
Im 16. Jahrhundert tauchten unter reformatorischen Täufergemeinschaften,
wie der von Jakob Hutter, Termini wie „communistae“ auf. Ein moderner nicht-
christlicher Begriff „kommunistisch“ wurde in Deutschland jedoch erst in den
1840er Jahren aus dem Französischen übernommen. In Frankreich entstand er
bereits im ausgehenden Ancien Régime, vor allem bei der Diskussion um die Auf-
lösung des Gemeindelandes und bei einigen agrarischen „communistes“. Kom-
munisten kämpften für eine zukünftige Gesellschaft und bezogen sich nicht auf
eine schon bestehende Realität (Schieder 1982: 456, 463, 506). Der Begriff „Kom-
munismus“ stand bei den verschiedenen Organisationen der Arbeiterbewegung
nicht hoch im Kurs. Vielfach wurde er als demagogischer Denunziationsbegriff
benutzt. Selbst Bismarck musste sich 1881 mit dem Vorwurf des Abgeordneten
Eugen Richter auseinander setzen, als er den Entwurf zur Unfallversicherung ein-
brachte mit der Behauptung „es ist ein Kommunismus, so schlecht wie ihn noch
niemand bisher erfunden hat“ (Sten. Ber. Verh. Dt. Reichstag, 4. Leg., 4. Sess, 2. 4.
1881, Bd.1, 709). Bis zum ersten Weltkrieg fand sich der Begriff „Kommunismus“
mit positiver Bedeutung nur vereinzelt. Von den sozialdemokratischen Denkern
hat nur Kautsky erwogen, den Begriff „sozialdemokratisch“ durch „kommunis-
tisch“ zu ersetzen (Kap. V.1). In Russland kam es 1903 zur Abspaltung der „Kom-
munisten“ von den „Sozialdemokraten“. Lenin zog jedoch das Wort „Bolschewis-
ten“ (von Mehrheit abgeleitet) vor. Erst im März 1918 kam es zu dem Beschluss, die
Bezeichnung „Bolschewiki“ in Klammern hinter den Namen „Kommunistische
Partei Russlands“ zu setzen, weil sich die Sozialdemokraten in den Augen Lenins
im 1. Weltkrieg diskreditiert hatten.
10 Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus als politische Ideologien

2 Denkschulen, Bewegungen und Parteien

Die drei wichtigsten ideologischen Strömungen, die eine reiche Literatur zur
Theorie der Politik hervorbrachten, Liberalismus und Konservatismus und Sozia-
lismus sind in sich zu rasch ausdifferenziert worden, um auf historische Gegeben-
heiten zu antworten. Jede dieser Strömungen hat ihre radikale Variante hervorge-
bracht: der linke Liberalismus den Radikalismus, der vielfach „Republikanismus“
genannt wurde, weil der Konsens der Mehrheit und der Basis einer konstitutio-
nellen Monarchie nicht akzeptiert wurde. Der Konservatismus brachte eine stark
soziale Variante auf christlicher Basis hervor. Er wird hier als „christlich-sozial“
verbucht. „Christdemokratisch“ wäre ein zu starker Neologismus, weil die Demo-
kratie überwiegend erst spät akzeptiert worden ist. Ausnahmen, wie der späte La-
mennais, hat es freilich immer gegeben. Der Sozialismus schließlich brachte auf
der Basis des marxistischen Denkens den Zweig des Kommunismus hervor, der als
Herrschaft gewalttätiger Minderheiten für ein kurzes Jahrhundert (1917 – 1991) ge-
schichtsmächtig wurde. Auch der Anarchismus hatte seine radikalen Varianten –
verglichen am Mainstream des Proudhonismus. Er dominierte vor allem in Russ-
land, hatte aber auch insurrektionistische Zweige in Frankreich (Blanqui).
Wie beim Liberalismus und Konservatismus sind die Abgrenzungen im Be-
reich sozialistischen Denkens schwer nachzuvollziehen. Sozialismus und Anarchis-
mus lassen sich klar differenzieren, wenn man die marxistische Unterscheidung
übernimmt. In Deutschland ist sie eindeutig, nicht jedoch in den romanischen
Ländern und in Russland. Die russischen Narodniki hatten frühsozialistische und
anarchistische Elemente, die für Russland vor Lenins Dogmatisierung des „Mar-
xismus-Leninismus“ die Grenzen fließend sein ließen. Der Anarchismus hat in
Spanien höchst eigene Ausprägungen erlangt, wie bei Pi y Margall und in Russ-
land mit Tol’stoj eine pazifistische Variante hervorgebracht, die auch einige sehr
konservative Züge aufwies (vgl. Kap. III, 4 u. 5).
Dem Abgrenzungseifer von Marx und Engels muss in einer nüchternen histo-
rischen Theoriegeschichte widerstanden werden. Der Marxismus-Leninismus
wird als dritte Untergruppe des Sozialismus aufgefasst, auch wenn einzelne Den-
ker, wie Plechanov und Gramsci keine unkritischen „Leninisten“ wurden. Der So-
zialdemokratismus, der sich später gern als „demokratischer Sozialismus“ selbst
definierte, hat eine vierte Unterrubrik entwickelt. Dabei bleibt vermutlich die
Frage umstritten, ob Lassalle, Labriola in Italien oder Costa in Spanien dazu gehö-
ren. Costa als „Agrarkollektivist“ ist ohnehin fast nicht einzuordnen. Er figurierte
manchmal unter Radikalismus, manchmal unter Anarchismus, um schließlich so-
gar als Vorläufer des Falangismus vereinnahmt zu werden.
Die Dominanz, die der Marxismus-Leninismus erlangte, hat für fast hundert
Jahre die Vielfalt der sozialistischen Theorien in der Forschung wie in den politi-
Denkschulen, Bewegungen und Parteien 11

Matrix Sozialistische Ideologien und nationale Schulen der Politik

Ideologie Frankreich Großbri- Deutsch- Italien Spanien Russland


tannien land

Frühsozia- Babeuf Owen Weitling Buonarroti Herzen


lismus und St. Simon Heß Cherny-
Kommunis- Fourier shevskij
S mus Cabet Ogarëv
Considérant Lavrov
O
Blanc Michajlovskij
Z
Anarchismus Proudhon Godwin Stirner Der frühe Pi y Margall Bakunin
I und Syndika- Blanqui Wollstone- Landauer Costa Tkačëv
A lismus Sorel craft Malatesta Kropotkin
Shelley Tolstoj
L
Marxismus- Guesde Marx Labriola Iglesias Plechanov
I Leninismus Engels Gramsci Caballero Lenin
S Luxemburg Trockij
Korsch Stalin
M
„Sozialdemo- Jaurès Fabier Lassalle Turati Costa „legale
U
kratismus“ S. u. B. Kautsky Bissolati Mallada Marxisten“,
S und demo- Webb Bebel der frühe
kratischer Shaw Bernstein Struve
Sozialismus Laski Tugan-
Baranovskij

schen Bewegungen verdunkelt. Anarchismus und Frühsozialismus wurden viel-


fach in Zusammenhang gebracht, ohne dass die Forschung sich diesem Thema
unvoreingenommen genähert hätte (Lösche 1977: 110 f). Frühsozialistische Theo-
rieentwürfe hatten wie anarchistische die Vorstellung, dass die Dekomposition
der alten Gesellschaft mit ihren Zünften und Korporationen in modernen sozia-
listischen Assoziationsformen substituiert werden könnten. Die Denker beider
Schulen – mit Ausnahme von Saint-Simon und Blanc, in geringerem Maße auch
Cabet – haben überwiegend für eine agrarisch-handwerkliche Gesellschaft vorge-
dacht. Die Gesetzgebung seit dem „Loi Le Chapelier“ in Frankreich und dem „Ge-
neral Combination Act“ in England war den neuen Organisationsformen feind-
lich gesonnen. Geheime Bruderschaften sprossen in ganz Europa – vielfach noch
in einer religiös-spiritualistischen Tradition. Die Herablassung von Marx und
Engels bei der Behandlung der Frühsozialisten und die offene Feindschaft ge-
gen Anarchismus und Syndikalismus hat verdeckt, dass beim jungen Marx der
Zeit des Vormärz vielfach gemeinsame Wurzeln mit dem Frühsozialismus be-
12 Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus als politische Ideologien

standen hatten, auch wenn diese anhand der Interpretation der nicht nur negati-
ven Äußerungen in der „Deutschen Ideologie“ liebend überinterpretiert worden
sind (Weber 1989: 146 ff). Richtig bleibt, dass die feindlichen Brüder sich nicht vor
1844 auseinander entwickelten. Erst mit der Wendung zur politischen Ökonomie
wurde der moralisierende Frühsozialismus von Marx zunehmend schärfer beur-
teilt. Am Anfang hat er selbst Proudhon hoch geschätzt.
Der ältere stark kulturell geprägte Sozialismus verlor in den Niederlagen von
1848 seinen Massenappeal und hatte allenfalls im „Kultursozialismus“ zu Beginn
des 20. Jahrhunderts von Jaurès bis Gramsci und später in Marcuses Theorien ein
gewisses Fortleben. Aber in der Generalstreik-Debatte sollte sich in der II. Inter-
nationale zeigen, wie stark die Elemente des älteren moralischen „Ouvrierismus“
in vielen sozialistischen Parteien Europas geblieben sind.
Sozialismus und Kommunismus scheinen sich erst im Ersten Weltkrieg klar
voneinander geschieden zu haben. Diese Spaltungslinie hat jedoch das Interesse
an der säuberlichen Auseinanderdividierung der frühen Sozialisten gestärkt. Al-
lenfalls bei Saint-Simon und Blanc wird man klar für „Sozialismus“ optieren.
Nicht jeder, der sich als „Kommunist“ bekannte – wie Fourier – entsprach an-
dererseits dem Bild des Kommunismus, das seit dem Leninismus dogmatisiert
worden ist. Wie bei den anderen Paradigmen auch, haben einzelne Denker ver-
schiedene Phasen durchlaufen, sodass die „Einheit der Ideologie“ nicht einmal bei
einzelnen Personen gesichert ist, so etwa in Frankreich im Falle Babeufs und im
deutschen Frühsozialismus bei Moses Heß. In den politischen Bewegungen gab
es kontinuierlich noch mehr Durchdringungen der verschiedenen Ideologieange-
bote als in den hinter ihnen stehenden politischen Theorien. Nur frühe sozialisti-
sche Sekten und spätere kommunistische Staatsparteien konnten den Sozialismus
für eine Weile jeweils „mischungsfrei“ verkünden. Aber selbst bei den Staatspar-
teien war das Ende günstigstenfalls die „Sozialdemokratisierung“.

Sozialismus

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II. Der Frühsozialismus

1 Der Frühsozialismus in Frankreich:


Babeuf, Saint Simon, Fourier, Cabet, Blanc, Blanqui

Der Frühsozialismus lässt sich nicht als Einheit darstellen. Er umfasste alle drei
Grundtendenzen des Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus in einander
befehdenden aber auch sich ständig vermischenden Schulen. Der Frühsozialis-
mus dominierte bis 1848 und wurde durch siegreiche Bewegungen abgelöst: den
Marxismus in Deutschland, den Proudhonismus in Frankreich, den sozialen Re-
formismus in England. Russland brachte im Anarchismus und in den Narodniki
seine eigene Variante des Frühsozialismus hervor, die sich vielfach auf die franzö-
sischen Vordenker bezog.
Der Frühsozialismus litt unter dem Verdikt von Marx und Engels (MEW,
Bd. 4: 428 ff), die ihn als vorwissenschaftlichen Utopismus abtaten. Im „Kom-
munistischen Manifest“ wurden die Grenzen bereits dogmatisiert: Sozialismus
wurde zum bourgeoisen Phänomen erklärt, der Kommunismus bekam den Eh-
rentitel „proletarisch“. Der Praxisbezug, wie ihn viele Frühsozialisten mit ihren
sozialen Experimenten von Saint-Simon bis Fourier und Cabet suchten, galt als
„kurzschlüssig“ und „verfehlt“, weil er auf unzureichender Analyse des sozialen
Reifezustandes im Volk beruhte. Noch Sombart (1924) wiederholte das Verdikt
über die „gescheiterten Existenzen“: Saint-Simon verspekulierte seinen Reichtum,
Fourier verlor sein väterliches Vermögen und schlug sich als kaufmännischer An-
gestellter durch. Cabet, Babeuf, Weitling und Owen hingegen hatten durchaus re-
spektable Berufe und konnten nicht unter die „gescheiterten Existenzen“ gerech-
net werden (Ramm 1975: 131).
Gemeinsam war allen Frühsozialisten, dass sie in der Epoche einer beginnen-
den Industrialisierung lebten und ihre Konzeptionen daher noch stark vom Hand-
werk ausging. Als Träger der Bewegung galten bei Saint-Simon, Babeuf und Cabet

K. von Beyme, Sozialismus, DOI 10.1007/978-3-658-02950-0_2,


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20 Der Frühsozialismus

die Gesamtheit der Arbeitenden, bei Owen und Fourier hingegen eine Gruppe.
Gemeinsam war ihnen der Drang nach Überschaubarkeit des Lebens und der Öf-
fentlichkeit der Lebenswelt. Das traditionelle Dorf hat offensichtlich in diesen
Systemen noch als Modell gedient. Alle Frühsozialisten maßen der Erziehung
eine entscheidende Bedeutung bei. Da die Familie in Auflösung begriffen schien,
wurde die Erziehung der Kinder vielfach dem Kollektiv übertragen. Viele Frühso-
zialisten hatten ein ambivalentes Verhältnis zur französischen Revolution, Saint-
Simon war unter dem Terror-Regime im Gefängnis, Fourier wurde verhaftet, als
die Truppen der Convention das aufrührerische Lyon eroberten. Die Hoffnungen
zur Veränderung wurden nach dem Vorbild des aufgeklärten Absolutismus eher
von den Eliten als den Massen erwartet. Fast alle Frühsozialisten machten unauf-
hörlich Eingaben bei den Herrschenden. Owen ging in seiner nicht nur gespielten
Hoffnung auf Einsicht der Machthaber wohl am weitesten. Napoleon oder später
die Bourbonen wurden bei Saint-Simon zu Hoffnungsträgern. Gemeinsam war
den Frühsozialisten auch das Vertrauen in die Wissenschaft. Vielfach entwickel-
ten sie Sozialtheorien nach naturwissenschaftlichem Vorbild. In vielen Bereichen
stand der Frühsozialismus dem Anarchismus näher als dem später „Staatssozia-
lismus“ der Marxisten.

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François Noël (Gracchus) Babeuf (1760 – 1797)

Babeuf stammte aus Saint Quentin und wuchs in einfachen Verhältnissen auf.
Sein Vater war ein desertierter Soldat und später Tagelöhner, seine Mutter arbei-
tete als Näherin. Die Legende der Armut ging davon aus, dass er statt eines Schul-
besuches Lesen nur durch Blätter gelernt habe, die auf der Straße herumlagen.
Babeuf wurde Gehilfe bei einem Grundbuchkommissar, Diener unterschiedlicher
Herren und Gehilfe eines Landvermessers. Er brachte es schließlich zum Grund-
buchkommissar, der acht Gehilfen beschäftigte.
Babeufs Eintritt in die Welt der Publizistik erfolgte durch eine Korrespon-
denz mit dem Sekretär der Akademie von Arras, Dubois des Fosseux (1785 – 1788).
Nach bewährtem Vorbild Rousseaus sollte hier eine weniger spannende Preis-
frage als einst in Dijon beantwortet werden: die Möglichkeit der Bepflanzung von
Wegen im Gebiet des Artois. Er weitete die Frage zu Betrachtungen über die Ab-
schaffung des Erbrechts und des Luxus aus (PC: 64 f, 67 f). In einer Schrift zum
„Cadastre perpétuel“ (Juli – Okt. 1789) unterbreitete Babeuf Vorschläge zur Re-
Der Frühsozialismus in Frankreich 23

form des Steuerwesens. Das System sollte auf eine einzige Steuer auf Grundbe-
sitz und Einkommen reduziert werden. Bodengüte und Jahreserträge waren da-
bei zu berücksichtigen. Das richtete sich vor allem gegen die Steuerfreiheit des
Adels (PC: 88 f). Die Grundsteuer, die bisher die wirklichen Erträge nicht berück-
sichtigte, drohte zur Vernachlässigung des Anbaus zu führen. Babeufs Gedan-
ken zur Kontrolle des Eigentums sollten Missbräuchen der Grundbesitzer entge-
gensteuern und das Vermögen registrieren. Babeuf wollte es nicht mehr bei der
Selbsteinschätzung der Steuerpflichtigen belassen. Der Vorschlag hielt sich noch
an das bestehende System, und war in der Kritik der kapitalistischen Rationali-
tät der Grundbesitzer, die sich auszubreiten begann, innerhalb des Systems nicht
unbeliebt.

Der erste Paradigmawechsel: radikale Egalisierungspolitik

Der Revolution wurde von Babeuf erst vorgegriffen, als die Kirchengüter als Ma-
növriermasse für Armenpolitik ins Visier gerieten. Babeuf wollte sie nicht ver-
kaufen – was zu Spekulationsgewinnen führen sollte, kein geringerer als Saint-
Simon hat daran vorübergehend verdient – sondern sie sollten als Grundstock für
einen Nationalfonds dienen. Die Vorschläge für eine staatliche Armenfürsorge
mit unentgeltlicher Verpflegung und Erziehung der Ärmsten enthielt in nuce sein
Projekt für eine radikale Egalisierungspolitik. Die Ungerechtigkeit der bestehen-
den Sozialordnung sah er einmal in der ungerechten Bewertung des Lohnes ver-
schiedener Berufe und in den Vorurteilen, welche durch eine umfassende Erzie-
hung abgebaut werden könnten. Je mehr Babeuf sich mit der Theorie befasste und
von seinem Metier der Egalisierungspolitik en détail entfernte, umso unorigineller
wurden seine Erörterungen im Rahmen von Gesellschaftsvertrag, Naturrecht und
Menschenrechten (PC: 99 ff). Eine gewisse Eigenständigkeit gewannen Babeufs
Ansichten erst, als er die Forderungen nicht mehr aus der „Natur des Menschen“,
sondern aus der „Natur“ und der Begrenztheit ihrer Ressourcen abzuleiten be-
gann. Diese Idee hat den späteren Öko-Kommunismus stark inspiriert (Harich
1975). Die Erkenntnis der Ordnung der Natur führte aus anderen Gründen als bei
Rousseau zu einer Theorie der Frugalität und des einfachen Lebens. Natürliche
Rechte lehnte Babeuf in dieser Phase ab, weil die Natur kein Recht auf Eigentum
verleihe. Das Oszillieren zwischen abstrakten Deklarationen und sehr pingeligen
Details der Steuergesetzgebung und des „ewigen Grundbuchs“, für die er Fach-
mann war, hat den Erfolg seiner Frühschriften stark beeinträchtigt. Babeuf hat
in dieser Epoche weder die Zeit reif für eine kommunistische Gemeinschaftspro-
duktion gehalten, noch wollte er das Land aufteilen. Er war zu sehr Experte, um
nicht zu sehen, dass eine kleine Subsistenzlandwirtschaft den Bauern nicht helfen
würde (O I: 114).
24 Der Frühsozialismus

Bei Ausbruch der Revolution war Babeuf selbst in finanziellen Schwierigkei-


ten. Versuche in Paris Fuß zu fassen und eine journalistische Karriere zu begin-
nen, scheiterten zunächst. Er gab sich den Vornamen „Camillus“ und 1793 ra-
dikalisierte er die Identitätssuche mit dem Namen „Gracchus“. Babeuf hat diese
Namenswahl gemeinsam mit der Umbenennung seines Journals später begrün-
det. Er sah damit keinen Anspruch auf eine Analogie zum alten Rom verbunden,
schon eher einen Hinweis auf Mably. Aber die Einrichtung des Volkstribuns im
römischen System hatte ihm Eindruck gemacht und verlangte nach einem funk-
tionalen Äquivalent (PC: 169). Auch Saint-Simon hat sich mehrfach umbenannt –
ungewöhnlich war das Verfahren in jenen turbulenten Zeiten nicht. Babeuf grün-
dete das „Journal de la Confédération“, das sich jedoch nur drei Nummern lang
halten konnte. 1790/91 brachte er den „Correspondant Picard“ heraus. In Ermah-
nungen an die „Gesetzgeber“ wurden die Schwierigkeiten angeprangert, die sich
bei der Durchführung der Gleichheit nach der Revolution ergaben (PC: 114),
wenn man mit dem „System der allgemeinen Gleichheit“ ernst zu machen versu-
che. Noch blieb sein Ton appellativ: „Die Egalisierung wird im Ganzen die besten
Resultate zeitigen“ (PC: 115) und er schilderte die Vorteile der Gleichheit für alle
Bereiche bis hin zum Militär.
Das einfache Volk sah in Babeuf seinen Anwalt und er wurde in die Verwal-
tung des Departements gewählt. Eine Urkundenfälschung im Amt brachte ihn ins
Gefängnis, er kam jedoch durch Fürsprache wieder frei. Der Prozess wurde nie-
mals abgeschlossen. Es drängte sich der Verdacht auf, dass mit juristischen Mit-
teln gegen einen lästigen Mahner vorgegangen worden ist. Im Juli 1794 wandte
er sich mit Pamphleten gegen die gestürzten Jakobiner und forderte Pressefrei-
heit ein: „Die Revolution liegt im Volk und nicht im Renommée einiger Perso-
nen“ (PC: 164). Vielleicht spielte in der Kritik auch die Enttäuschung eine Rolle,
dass Robespierre seine weitreichenden Egalisierungsvorstellung im sozialen Be-
reich keineswegs unterstützte.

Der zweite Paradigmawechsel: kommunistische Gütergemeinschaft

Als Babeuf aus dem Gefängnis entlassen wurde, hatte sich ein politischer Kli-
mawechsel vollzogen. Das Volk hatte die gemäßigte Verfassung von 1795 ange-
nommen, während die Babouvisten die radikale Verfassung von 1793 forderten.
Einzelne alte Mitkämpfer, wie Fouché, machten ihren Frieden mit den neuen Ver-
hältnissen. Babeuf hat „seinem Mentor“ einen bewegenden Brief geschrieben,
wohl ahnend, dass er ihn nicht mehr umstimmen könne (PC: 241 ff). In der Zeit
eines zweiten Paradigmawandels bekannte sich Babeuf zum Klassenkampf. Er
sah die Revolution verraten: „Ein erklärter Krieg zwischen Patriziern und Plebe-
jern, zwischen Reichen und Armen“ stellte für ihn nun die Französische Revolu-
Der Frühsozialismus in Frankreich 25

tion dar (PC: 236). Der Klassenkampf existierte nicht erst seit er deklariert wurde,
sondern „währet ewig“. Das Marxsche Echo lautete später etwas akademischer:
„Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen.“ Eine Partei hatte nach
Babeuf die „bourgeoise und aristokratische Republik“ verwirklicht, in der eine
Million über vierundzwanzig Millionen Franzosen herrsche. Die andere forderte
die wahre „république toute populaire et démocratique“.
In einem Brief an seinen Sohn schwärmte er von einem Plan „zu einer voll-
ständigen Gleichheit“ (PC: 158). Eine Zeitschrift wurde nach 23 Nummern in „Tri-
bun du Peuple“ umbenannt, und erschien bis April 1796. Seine Meinung über
Robespierre begann sich zum Positiven zu wenden. Er sah seinen Sturz nunmehr
als einen Rückschlag der Bewegung an (PC: 185 f). Seine Erklärung der Menschen-
rechte nannte er „sublime“ – wenn auch noch ergänzungsbedürftig. Der Sturz der
Robespierres im Juli 1794 führte dazu, dass der Einfluss der Jakobiner zurückge-
drängt wurde. Sie hatten sich in einer Zeit innerer und äußerer Bedrängnis den
radikalen Sansculotten zu sehr angepasst und sich von ihrer bürgerlichen Basis
entfernt (Bambach 1991: 46) Babeuf hat diese Entwicklung mit Radikalisierung
beantwortet. Umverteilungsmaßnahmen, die er in einem „Ackergesetz“ vorge-
schlagen hatte – das den bürgerlichen Kräften schon entschieden zu weit ging –
schienen keinen Erfolg mehr zu versprechen. Babeuf vollzog einen zweiten Pa-
radigmawechsel und plädierte für eine kommunistische Gütergemeinschaft und
revolutionäre Gewalt. Das Ausmaß der erlaubten Gewaltanwendung blieb un-
klar. Jedenfalls scheint er die Ablehnung von Gewalt, die er zu Beginn der Revo-
lution vertreten hatte (PC: 74) aufgegeben zu haben. Immerhin war er auch unter
dem Terror-Regime gegen die demütigende Volksfeststimmung bei öffentlichen
Guillotinierungen aufgetreten. In einem Brief an den Bürger Bodson wandelte
sich Babeufs Haltung zur Diktatur. Camillus – nachdem er seinen ersten „poli-
tischen Künstlernamen“ gewählt hatte – war schließlich auch Diktator gewesen.
Einst schien ihm die Terrordiktatur Robespierres Ausfluss einer falschen Theo-
rie gewesen zu sein. Nun wurde der „Robespierrismus“ als die „ganze Republik“
und „die Demokratie“ erklärt (PC: 286) Im Verschwörungsprogramm der Glei-
chen wurde gleichwohl dem Terror eine Absage erteilt. Man hat aus diesem Wi-
derspruch geschlossen, dass die nichtprogrammatischen Äußerungen – gleichsam
„off the record“ – nur taktisch gemeint gewesen seien, um die Gegner einzu-
schüchtern (Ramm 1956: 171). Babeuf ist gelegentlich durch die Brille der rein
aufstandstheoretischen Instruktionen seines Schülers Blanqui interpretiert wor-
den – zu Unrecht. Er hat den gelungenen Aufstand immer nur für den Anfang
der wahren Revolution mit einer völligen Umgestaltung der Gesellschaft gehalten
(Bambach 1984: 353).
Babeufs Adlatus Buonarroti (1957 I: 161 ff) fasste die Gütergemeinschaft spä-
ter in einer Skizze der „économie sociale“ zusammen, und publizierte das Frag-
26 Der Frühsozialismus

ment eines Projekts zu einem Polizeidekret, sowie eines Wirtschaftsdekrets. Die


Produktionsmittel gehörten nach dieser Konzeption der Republik. Wer nichts
fürs Vaterland leistet, hat keine politischen Rechte. Als nützliche Arbeiten wurden
die Landwirtschaft und Seefahrt, die Handwerke, der Einzelhandel, das Trans-
port- und Kriegswesen, sowie die Erziehungsberufe festgelegt (Art. 3). Im Wirt-
schaftsdekret wurde das Erbrecht für abgeschafft erklärt (Art. I. 3). Es wurde eine
Arbeitspflicht dekrediert. Handel mit dem Ausland war verboten und die Repu-
blik verpflichtete sich, kein Geld mehr zu münzen (Buonarroti II: 201 – 214). Kos-
tenfreie Erziehung sollte garantiert werden. Vorrang hatte das öffentliche Wohl –
notfalls auch bei der Berufswahl und der Zuweisung von Arbeitsplätzen. Weniger
radikal waren die Vorstellungen der Verschwörung im politischen Bereich. Eine
direkte Demokratie wurde nicht gefordert, weil man die Verführbarkeit der Mas-
sen fürchtete. Die gesellschaftliche Umwälzung sollte diktatorisch-elitär „für das
Volk“ aber nicht „durch das Volk“ in einer Generation erreicht werden, jeden-
falls nach dem erklärten Willen einiger Verschwörer wie Darthé (Buonarroti I:
113). Babeufs Vergesellschaftungsvorstellungen blieben vage. Offenbar sollten sie
je nach Produktionszweig unterschiedlich aussehen. Sehr prononciert aber wurde
die Unterdrückung des Außenhandels gefordert, weil mit ihm auch der Handel
der Einzelhändler sich wieder etablieren würde (PC: 216). Die Konsumgüter soll-
ten egalitär verteilt werden. Voraussetzung dazu war eine Erfindung, die erst das
Sowjetsystem realisieren sollte: der Ablieferungszwang.
Die radikalisierten Prinzipien mussten Babeuf in offenen Konflikt mit der ge-
hobenen Bourgeoisie des Direktoriums bringen. Er wurde erneut verhaftet. Im
Gefängnis kam er in Kontakt mit Filippo Buonarroti (1761 – 1837), einem Floren-
tiner, der sich in den Dienst der Französischen Revolution gestellt hatte und 1793
naturalisiert worden war. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis organisierte
er ein Bündnis mit den Jakobinern in Buonarrotis „Société du Panthéon“ (später:
Société de la réunion des amis de la République), die revolutionäre „Kader“ – wie
man das im späteren Kommunismus nannte – vorbereitete. Diese damals größte
revolutionäre Vereinigung der Zeit wurde im Direktorium 1796 verboten. Im
März 1796 gründete Babeuf daher ein „Geheimes Direktorium des öffentlichen
Wohls“, dem Buonarroti und fünf weitere Verschwörer angehörten. Durch Ver-
rat kam es zur Verhaftung von 63 Angeklagten. Babeuf versuchte im Gefängnis
noch zu taktieren, und dem Direktorium ein Bündnis gegenüber dem drohen-
den Royalismus vorzuschlagen. Darin kam jedoch eine Potenzphantasie zum Aus-
druck, die nicht mehr gerechtfertigt war. Der Inhaftierte konnte nicht mehr wie
unter gleichen Partnern verhandeln. Babeuf und Darthé wurden zum Tode ver-
urteilt und guillotiniert. Das Urteil war eine Maßnahme zur Aufrechterhaltung
der öffentlichen Ordnung, die unproportioniert gewesen ist. Man vergleiche die-
ses gemäßigte Regime mit der russischen Autokratie. Letztere hat selbst Bakunin
Der Frühsozialismus in Frankreich 27

und Nečaev nur zu lebenslanger Haft verurteilt (vgl. Kap. III. 4). Die Geschwore-
nen, die auf Seiten der Angeklagten standen, scheinen dies auch so empfunden zu
haben, zumal die Angeklagten zwar ihre Putschabsicht, nicht aber ihre Ziele ver-
leugneten. Einige Angeklagte verteidigten aber die „Legitimität der Konspiration“
(Buonarroti II: 38). Das Urteil ging schließlich nicht von einer Verschwörung aus.
Das Todesurteil erfolgte aufgrund eines befristeten Gesetzes, das bei der Urteils-
verkündung nicht mehr in Kraft war (Ramm 1955: 173). Babeuf hat sein Testament
in Form des Briefes an einen Freund geschrieben. Sein Abschiedsbrief an Frau
und Kinder war vom gleichen Tenor getragen: voller Würde und voller Glaubens,
sich nichts vorzuwerfen zu haben und in brennender Sorge um die Revolution,
die er von einer Konterrevolution bedroht sah. Das Sendungsbewusstsein schien
ungebrochen, obwohl er seinen Misserfolg eingestand: „Ich bin gescheitert, ich
habe mich geopfert, auch für Euch sterbe ich“ (PC: 312). Augenzeugen berichteten,
dass der nach einem Selbstmordversuch geschwächte Babeuf völlig gleichmütig in
den Tod gegangen sei. Die vom System befürchteten Unruhen des Volkes blieben
aus. Das Militäraufgebot, das die Hinrichtung absichern sollte, war so groß, als
ob 50 000 Österreicher vor den Toren der Stadt stünden, berichtete das „Journal
des Hommes libres“ (zit: Bergmann 1965: 487). Buonarroti und andere wurden le-
benslang deportiert. 1806 jedoch kam Buonarroti wieder frei und organisierte von
Genf und Brüssel aus weiter Geheimgesellschaften. 1828 erschien seine Geschichte
der „Verschwörung für die Gleichheit“. Die babouvistische Lehre wurde darin ein
wenig idyllisiert und der tugendhafte Bürger nahm wieder stärker Rousseausche
Züge an in seiner „rustikalen Einfachheit“ (Buonarroti I: 206). Der Ökokommu-
nismus gewann jedoch erst später wieder Anhänger, als die Folgen der Industria-
lisierung sich bis zum Exzess bemerkbar gemacht hatten.

Quellen
Babeuf: Oeuvres de Babeuf (Hrsg.: V. Daline u. a.). Bd. 1. Babeuf avant la révolution.
Paris, Bibliothèque Nationale, 1977 (zit: O).
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Babeuf: Textes choisis. Paris, Éditions sociales, 1965.
Babeuf: Ausgewählte Schriften. Berlin, Rütten & Loening, 1956.
Babeuf: Verschwörung für die Gleichheit. Stuttgart 1909, Hamburg, Junius, 1988
(mit Essays von H. Marcuse und A. Souboul).
Ph. Buonarroti: Conspiration pour l’égalité, dite de Babeuf. Paris, Éditions sociales,
1957, 2 Bde.
M. Dommanget (Hrsg.): Pages choisies de Babeuf. Paris, Colin, 1935 (zit: PC).
28 Der Frühsozialismus

Literatur
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1984: 52 – 99, 270 – 289, 350 – 355.
R. Bambach: Gracchus Babeuf. In: W. Euchner (Hrsg.): Klassiker des Sozialismus.
München, Beck, 1991, Bd. 1: 37 – 49
K. H. Bergmann: Gleich und Ungleich. Köln, Westdeutscher Verlag, 1965.
V. M. Dalin: Babeuf-Studien. Berlin, Adademie Verlag, 1961.
M. Dommanget: Sur Babeuf et la conjuration des égaux. Paris, Maspéro, 1970.
G. A. Garrone: Filippo Buonarroti e i rivoluzionari dell’ottocento. Turin, Einaudi, 1951,
1972, 2. Aufl.
W. Harich: Kommunismus ohne Wachstum ? Babeuf und der Club of Rome. Reinbek,
Rowohlt, 1975.
R. Legrand: Babeuf et ses compagnons de route. Paris, Societé des Études
Robespierristes, 1981
C. Lévi-Strauss: Gracchus Babeuf et le communisme. Brüssel, 1926.
K. u. M. Middell: François Noël Babeuf. Märtyrer der Gleichheit. Biografie. Berlin,
Verlag Neues Leben, 1988.
Th. Ramm: Die großen Sozialisten. Bd. 1, Stuttgart, G. Fischer,1955: 131 – 209.
R. B. Rose: Gracchus Babeuf. The First Revolutionary Communist. Stanford, Stanford
University Press, 1978.
A. Saitta: Ricerche storiografiche su Buonarroti e Babeuf. Rom, Istituto storico
italiano per l’età moderna e contemporanea, 1986.
J. L. Talmon: The Babouvist Crystallization. In: Ders: The Origins of Totalitarian
Democracy. New York, Praeger, 1960: 167 – 247.

Claude-Henri Comte de Saint-Simon (1760 – 1825)

Saint-Simon hatte zunächst eine militärische Karriere eingeschlagen. Er war stolz


auf seine Teilnahme am amerikanischen Freiheitskampf. Auf den Antillen, wo
Saint-Simon stationiert war, wurden damals weniger amerikanische Freiheitsin-
teressen als französische Kolonialinteressen verteidigt. Saint-Simon brachte es bis
zum Oberst. Das Projektemachen erfasste selbst den Offizier. 1783 schlug er dem
Vizekönig von Mexiko den Bau eines Kanals vor, der Atlantik und Pazifik verbin-
den sollte. Da Saint-Simon an der Belagerung von New York teilgenommen hatte,
deklarierte er sich im Rückblick zu einem der Gründer der Freiheit der Vereinig-
ten Staaten (O I,2: 140). In einem zweiten Brief an einen Amerikaner (O I, 2: 148)
stellte er klar, dass es ihm nicht um die Beanspruchung von Kriegsruhm ging.
Der Krieg hatte ihn wenig interessiert, aber das Ziel des Krieges nahm seine Auf-
merksamkeit gefangen: „Monsieur, ich habe mich sehr viel mehr mit der politi-
Der Frühsozialismus in Frankreich 29

schen Wissenschaft („science politique“ im Singular war außer bei Tocqueville in


der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein rarer Terminus !) als für die militärische
Taktik interessiert.“ In der Öde des Kriegsgeschäfts erkannte Saint-Simon seine
eigentliche Berufung: „Den Gang des menschlichen Geistes zu erforschen und an
der Vervollkommnung der Zivilisation zu arbeiten“. Auch wenn solche Rückblicke
eine gewisse Beschönigung der eigenen geistigen Kontinuität enthielten, so war
die amerikanische Revolution sicher ein einschneidendes Ereignis, dass ihn zur
raschen Anpassung an eine Revolution im eigenen Lande fähig machte.
Ende 1789 kehrte Saint-Simon aus Spanien auf sein Gut Falvy in der Picardie
zurück. Wie andere Adlige ließ er sich hinreißen, in seiner Region auf die feuda-
len Privilegien feierlich zu verzichten. Im Rückblick hat er sich nicht als großen
Revolutionär portraitiert. Er erklärte, dass er sich nicht habe einmischen wollen.
Er war weder für die Verlängerung des „Ancien régime“, noch für seine De-
struktion. Die Polarisierung der Lager war aber soweit fortgeschritten, dass man
sich nur der „Hofpartei“ oder der „revolutionären Partei“ anschließen konnte
(O I,1: 66). Gleichwohl hat er teils aus Überzeugung, teils als Nutznießer der Re-
volution in seiner Eigenschaft als spekulierender Glücksritter zu der Revolution
Stellung genommen. Er verzichtete auch auf den Grafentitel, den er später je-
doch nach Bedarf wieder benutzte. In der Zeit des Terrors nannte er sich Claude
Henri Bonhomme (Bonhomme = der Biedermann, der Landser, der einfache
Kerl). Über Mittelsmänner machte er ein Vermögen mit dem Aufkauf nationa-
lisierter Kirchengüter, die von der Revolutionsregierung in ihrer Finanznot weit
unter Wert verkauft wurden. Sogar der Wohlfahrtsausschuss hat sich mit seinen
Affären befasst und ihn vorübergehend in Haft genommen. Saint-Simon wollte
aber auch als Geschäftsmann das Geld nicht um seiner selbst willen, sondern
strebte Investitionen in die Wissenschaft an, um zur Verbesserung der sozialen
Lage der Menschheit beizutragen. Durch Fehlkalkulationen und durch die Über-
vorteilung durch seinen Geschäftspartner hat Saint-Simon sich jedoch finanziell
ruiniert. Ein aufwendiger Lebensstil hatte dazu beigetragen. Kein Biograph lässt
sich die Anekdote entgehen, dass er sich vom Diener jeden Morgen mit den Wor-
ten wecken ließ: „Erheben Sie sich, Monsieur le Comte, Sie haben noch große
Dinge zu vollbringen“. An Sendungsbewusstsein hat es Saint-Simon nie gefehlt,
auch als er sich als Schreiber in einem Pfandhaus verdingen musste und von Gön-
nern abhängig wurde. Seine Projektwut ließ Saint-Simon keine Chance, das Geld
seriös anzulegen. Selbst die Kathedrale von Notre Dame hat er angeblich zu kau-
fen versucht (Emge 1987: 60). Nach kurzer Konveninenzehe hat Saint-Simon nach
der Legende Germaine de Staël einen Heiratsantrag gemacht. Erwiesen ist ledig-
lich, dass er sie von Genf aus besuchte. In wachsendem Größenwahn empfand
er sich als den bedeutendsten Mann der Welt, für den nur Madame de Staël eine
ebenbürtige Partnerin sei. Noch ist umstritten, ob er Äußerungen in diese Rich-
30 Der Frühsozialismus

tung ernst gemeint hat. Humor war eigentlich nicht seine starke Seite. Immerhin
war er der beißenden Satire fähig, wie seine skandalerregenden Äußerungen über
die französische Elite im „Organisateur“ erweisen sollten. Von Genf aus besuchte
Saint-Simon auch Teile Deutschlands. Er hielt das Land noch für zu „metaphy-
sisch“ und wenig „wissenschaftlich“ orientiert, attestierte aber, dass die Deutschen
eine passionierte Neigung entwickelten, in Richtung „Wissenschaft“ fortzuschrei-
ten (O I,1: 70).

Planung in scientistischen Projekten

Saint-Simon glänzte immer wieder durch theatralische Aufrufe, wie in dem „Brief
eines Einwohners von Genf an seine Zeitgenossen“ (1803). Am Grabe Newtons
empfahl er ein Projekt auf Subskription zu gründen. Jeder Teilnehmer sollte je
drei Mathematiker, Chemiker, Physiologen, Literaten, Maler und Musiker benen-
nen. Die Stimmgewinner in jeder Sparte sollten durch jährliche Erneuerung der
Subskription als „hommes de génie“ unterstützt werden (O I: 12). Als verarm-
ter Schreiber in einem Pfandhaus hat er nachts seine „Einführung in das wissen-
schaftliche Arbeiten des 19. Jahrhunderts“ geschrieben (1807). Ein Plan zu einer
neuen Enzyklopädie wurde darin proklamiert. Die wissenschaftliche sollte der po-
litischen Revolution folgen. In Bewunderung von Denkern wie Bacon, Descar-
tes, Locke oder Newton wollte er deren „methodischen Geist“ in die Sozialwis-
senschaften tragen (O VI: 11 f). En passant bot er in dieser Schrift eine Skizze der
Geschichte, in der Idee gipfelnd, dass einzelne Völker jeweils an der Spitze der
europäischen Gesellschaft gestanden hätten, die einst von Karl dem Großen orga-
nisiert worden sei. Am Anfang waren das die Deutschen in der Nachfolge Karls,
später war es Italien mit Hilfe des venezianischen Handels, es folgten Spanier und
Portugiesen mit Seefahrt und Kolonialisierung und schließlich die Franzosen un-
ter Ludwig XIV. England wurde vor allem als Rivale genannt. Das Genie der Fran-
zosen hatte sich nach seiner Ansicht im Kampf mit Großbritannien um die Reor-
ganisation der Föderation bewährt (O VI: 210 f).
Saint-Simon (O I, 1: 74) wurde nach eigenem Bekenntnis von seinem frühe-
ren Diener Diard aus der Geldnot befreit. Er benutzte das Geld hauptsächlich, um
seine Werke zu veröffentlichen. Diesen Werken, wie der „Einleitung in die wis-
senschaftlichen Arbeiten des XIX Jahrhunderts“ (1807/08), war kein großer Erfolg
beschieden, obwohl er im Empire allerlei geistige Verbeugungen vor Napoleon
gemacht hat. Nach dem Tod Diards war er wieder mittellos und vegetierte unter-
halb des Existenzminimums dahin. Die Schrift war methodisch interessant, weil
Saint-Simon sein Bekenntnis zur Einheit der Wissenschaften ablegte. Für ihn gab
es nicht zwei Ordnungen der Dinge, sondern nur eine, die physische (O VI: 131).
Selbst Newton habe diese Einheit nicht hinreichend erkannt. Der Mensch ist Teil
Der Frühsozialismus in Frankreich 31

der allgemeinen Ordnung, und unterliegt den gleichen Gesetzen wie das ganze
Universum. Einer Metaphysik bedarf es daher nicht.

Parlamentarismus, Föderalismus und die europäische Friedensordnung

Napoleon, den Saint-Simon wie so viele anfangs bewunderte, hat ihn enttäuscht.
Aber auch die Restauration war eigentlich nicht nach seinem Sinn. Dennoch hat
Saint-Simon das System der Charte und die Rückkehr der Bourbonen begrüßt,
wollte das System jedoch „anglisieren“. Mit seinem Schüler, dem später berühmt
gewordenen Historiker Augustin Thierry, verfasste er die Schrift: „De la réorga-
nisation de la société européenne“ als ein Modell für eine Friedensorganisation
in Europa. Das Buch wurde dem Zaren Alexander I gewidmet. Erstmals wurde
er von der liberalen Öffentlichkeit entdeckt und er begann in der führenden Zeit-
schrift „Le Censeur“ zu schreiben. Saint-Simon forderte die Bildung einer Op-
positionspartei des liberalen Bürgertums, um ein Zweiparteiensystem britischen
Musters in Frankreich herbei zu führen. Liberal war seine Parteikonzeption
gleichwohl nicht zu nennen, da er ein straff auf einen Führer (chef) ausgerichtetes
Parteisystem anstrebte (AT 1957: 27).
Die Schrift über die Reorganisation Europas, die von Thierry im Stil lesbarer
gemacht wurde, als die schwerblütigen Planungsvisionen Saint-Simons gemeinhin
waren, erlangte überzeitliche Bedeutung durch die Vision des vereinten Europas
und die Forderung nach einer parlamentarischen Regierung zu einer Zeit, da an-
dere Publizisten noch nicht einmal eine klare Vorstellung von diesem Modell hat-
ten, und eher ein gewaltenteiliges Repräsentativsystem anstrebten. Das britische
Modell war das Vorbild. Ohne theatralischen Aufruf ging es auch in dieser Schrift
nicht. Die Parlamente Frankreichs und Englands wurden zur Allianz aufgerufen.
Wenn die beiden Länder weiterhin Rivalen blieben, fürchtete Saint-Simon wei-
tere Übel für ganz Europa (O I,1: 168). Die parlamentarische Regierungsweise war
für ihn die beste, sie sollte allen nationalen Regierungen auferlegt werden. Den
Schluss, dass die parlamentarische Verfassung die beste sei, glaubte er durch die
„Methode der Naturwissenschaften“ erfahren zu haben, die auf die Politik anzu-
wenden sei: „raissonnement“ und Erfahrung als Elemente dieser Methode hat-
ten ihn in der Meinung über die „beste Verfassung“ bestätigt (O I,1: 195). Die Er-
fahrung stützte sich bei Saint-Simon auf eine hundertjährige englische Praxis mit
diesem Regime. Ein solches Regime sollte für ganz Europa errichtet werden – mit
einem „chef suprême de la société européenne“ (O I,1: 202). England hätte Frank-
reich retten können, aber hat sich diesem Hilferuf verschlossen. Deutschland war
zersplittert und konnte nur durch Einigung mächtig werden. Er sah diese als Vor-
bedingung für eine leichtere Einigung Europas positiv an – während die meisten
Publizisten dies eher als Horrorvorstellung an die Wand malten (O I,1: 243). Die
32 Der Frühsozialismus

Perfektion der sozialen Ordnung und das „goldene Zeitalter“ sah Saint-Simon als
möglich an, für den Fall, dass man seinen Vorschlägen folge.
Das französische Regime der Restauration war für Saint-Simon noch ein „Bas-
tardregime“, weil der König zugleich absoluter und parlamentarischer König und
der Abgeordnete zugleich „Pair“ und „Sklave des königlichen Willens“ sei. Saint-
Simon überwand die Reste des Montesquieuschen Denkens in Gleichgewichts-
mechanismen und vertrat eine Souveränität des Parlaments, weil nur so die Reste
des hierarchischen und feudalen Regiments überwunden werden könnten. Saint-
Simons Vorteil war, dass er sich als Sozialwissenschaftler und nicht als Jurist dem
Gegenstand näherte. Der Wortlaut der Charte war ihm ziemlich gleichgültig. Es
kam ihm auf die soziale Rolle des Parlaments an, die seiner richtigen Prognose
nach auf die Vorherrschaft des Parlaments drängte. Leider wurde seine Idee nicht
sehr einflussreich, dass sich Parlamentarismus und Föderalismus harmonisch ver-
binden lassen. Noch die Doctrinaires wie Guizot und viele Konstitutionalisten in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben das Gegenteil behauptet (vgl. Bd. 1,
Kap. III.1).
Saint-Simons Sprunghaftigkeit zeigte sich jedoch auch in seiner Haltung zur
parlamentarischen Regierung. Im „Catéchisme des industriels“ (1823/24) wurde
selbst die parlamentarische Verfassung Englands nicht mehr so positiv gesehen.
Er hatte an ihr auszusetzen, dass sie keine Einheit mit der sozialen Organisa-
tion bilde. Sie konnte nicht mehr als Modell für Frankreich dienen, weil Frank-
reich ihm nun weiter entwickelt schien als England, da es sich vom „régime gou-
vernemental“ zu einem „régime industriel“ fortentwickelt habe (O IV: 139 ff).
Saint-Simons erfindungsreicher Geist erdachte ein Dreikammersystem, um die
Mängel der britischen Verfassung auszugleichen. Wieder zeigte sich der Grund-
widerspruch in Saint-Simons Denken: eine luzide soziologische Analyse mit Sinn
für die realen Machtverhältnisse wurde durch übertrieben künstliche Arrange-
ments der Institutionen ergänzt. Beide Prinzipien waren jedoch kaum in Einklang
zu bringen.
Saint-Simon zeigte in dieser Schrift, die am direktesten in die aktuelle Poli-
tik eingriff, seinen unverwüstlichen Fortschrittsglauben. Der Fortschritt wurde
sehr viel konkreter als bei seinen Vorgängern – mit Ausnahme von Kant – mit
einer Sehnsucht nach Frieden verbunden. Selbst Napoleon wurde in letzter Mi-
nute 1813 noch davor gewarnt, die „ungeheure Menge des Siegeslorbeers“, die
er angehäuft habe, vermehren zu wollen. Wieder war der Gedanke der Aussöh-
nung mit England seine Trumpfkarte: „Wenn Euer Majestät einwilligen, auf Er-
oberungsvorhaben zu verzichten, werden Sie die Engländer zwingen, die Freiheit
der Meere wiederherzustellen“ (O V,11: 216). In einer „Mémoire sur la science de
l’homme“ (O V, 11: 40) wurden auch die Wissenschaftler aufgerufen, „diese Met-
zelei zu stoppen“.
Der Frühsozialismus in Frankreich 33

Als Napoleon aus Elba zurückkehrte, nahm Saint-Simon entschieden gegen


den Militärdespoten Stellung, der das Land ein Jahrzehnt verwüstet habe. Im
„Glaubensbekenntnis“ (profession de foi) forderte er auf, König Louis XVIII, die
Verfassung und die Rechte der Franzosen zu verteidigen. Er verband den Aufruf
mit einem Appell an die Loyalität der Armee (O VI: 351 f), kein überflüssiger Ap-
pell, weil die Armee in den „Hundert Tagen“ schnell zu Napoleon überlief.
Anfangs sah es so aus, als ob Saint-Simon sich von der „brutalen Großmut“
des Diktators nicht in gleicher Weise korrumpieren lassen würde wie der Libe-
rale Constant. Bald aber folgte Saint-Simon den Soldaten und lief über. Er nahm
eine wichtige Sinekure in einer Bibliothek an, die ihn zwang, im Sinne des Em-
pire publizistisch tätig zu werden, wie in der „Opinion sur les mesures à prendre
contre la coalition de 1815“ gegen die Anti-Napoleon-Allianz von sieben Fürsten.
Vier von ihnen sah er als Großmacht und gefährlich an: England, Russland, Ös-
terreich und Preußen. Seine Vorstellung richtete sich auf die Trennung der Koali-
tion und auf ein Bündnis mit England. Eine Allianz England – Frankreich könnte
ganz Europa beherrschen (O VI: 367). Wie bei Constant war ein grundlegendes
Motiv des Denkens konsequent durchgehalten: die Repräsentativverfassung. Bei
Saint-Simon kam jedoch noch das außenpolitische Szenario hinzu, mit seiner
Vorstellung einer englisch-französischen Allianz. Saint-Simon empfahl dem fran-
zösischen Volk den liberalen „Acte additionnel“, einen Zusatz zu den Gesetzen
des Empire, als Verfassung anzunehmen. Der Frieden, den Saint-Simon suchte,
schloss Gebietserweiterungen noch immer nicht aus, aber sie sollten auf der Basis
des Konsenses vorgenommen werden.
Als die Alliierten in Paris nach den Hundert Tagen der Napoleonischen Herr-
schaft einzogen, verlor Saint-Simon seinen Bibliotheksposten. Sein Umfall hat
ihm in der Restaurationszeit schwer geschadet. Er wurde zum Publizisten des
Großbürgertums, das zu dominieren begann, obwohl in der Kammer von 381 Ab-
geordneten noch 176 Aristokraten saßen. 73 davon waren Emigranten gewesen,
die – im Gegensatz zu ihrem König – „nichts gelernt und nichts vergessen“ hatten.

Saint-Simon als Künder der industriellen Klassengesellschaft

Saint-Simon war auf dem Höhepunkt seines Einflusses durch die propagandisti-
sche Förderung der „Industrie“. Sein Begriff „industrie“ war auf produktive Tä-
tigkeit gerichtet, umfasste Handel und Produktion. Man hat Mühe, Saint-Simons
Begriff der „industriels“ als sozialistisch zu empfinden. Wo Großgrundbesitzer ih-
ren Boden nicht als absentee-lords bewirtschafteten, wurden auch sie zur „arbei-
tenden Klasse“ gezählt. Für seine geistige Produktion hat Saint-Simon immer häu-
figer Hilfe in Anspruch genommen. Als Augustin Thierry 1817 ausschied, wurde
Auguste Comte angeheuert.
34 Der Frühsozialismus

In einer Reihe von Arbeiten unter dem Etikett „L’organisateur“ (1819 – 1820) er-
schien eine satirische Einlassung, die später als „Parabel“ bezeichnet worden ist.
In dem ersten Heft stand die berühmteste Äußerung Saint-Simons. Gesetzt den
Fall, Frankreich verlöre seine ersten fünfzig Männer in allen produktiven Berufen,
so wäre der Schaden auf Jahrzehnte nicht auszugleichen. Verlöre das Land jedoch
den Bruder des Königs, die Herzöge, Militärs, Minister, Räte, Bischöfe, die Richter
und zehntausend der reichsten Eigentümer, so würde der Politik des Staates kein
Schaden entstehen (O II, 2: 21). Das Unglück wollte es, dass ein Bruder des Königs,
der Duc de Berry, kurz nach Erscheinen des Werkes von einem republikanischen
Fanatiker erstochen wurde. Saint-Simon geriet in den Ruch eines „Schreibtischtä-
ters“ (Emge 1987: 91) und wurde strafrechtlich verfolgt, aber schließlich vom Vor-
wurf der Beleidigung der königlichen Familie freigesprochen. Saint-Simon konnte
glaubhaft dokumentieren, dass er nicht gegen die Monarchie sei. Im Gegenteil, die
Monarchie und der König konnten nur erhalten werden, wenn die nicht arbeiten-
den Parasiten beseitigt würden.
Der nunmehr berühmte Publizist wurde immer schärfer in der Vertretung sei-
ner antiparasitären Ansichten und hielt den Bourbonen das Schicksal der Stuarts
vor Augen („Des Bourbons et des Stuarts“). Die Bürger wurden aufgefordert, die
Anarchie zu fürchten und die „Charte“, die „Verfassung“ zu respektieren. Dennoch
war er nicht mehr kritiklos gegen diese Verfassung. Sie war ein Bastard in seinen
Augen, die den „Produzenten“ und der „königlichen Familie“ schadete (O VI: 525).
Im „Organisateur“ wurde die englische Verfassung nicht mehr so vorbildlich
empfunden. Jedenfalls konnte man sie nach Saint-Simons Ansicht nicht einfach
auf Frankreich übertragen. Er schlug ein kompliziertes Repräsentativsystem vor,
in dem die „chefs“ der verschiedenen Metiers vertreten sein sollten. Das parla-
mentarische Regime musste verbessert werden (O II: 49). Dazu sollte eine Kam-
mer der Erfinder (chambre d’invention) dienen. Dreihundert Männer sollten
drei Sektionen, die sich getrennt versammeln, bilden, um die Reichtümer Frank-
reichs und das Los der Bürger zu verbessern. Der Geist der Revolution lebte in der
Vorstellung fort, dass diese Kammer sich der öffentlichen Feste annehmen sollte.
„Feste der Hoffnung“ waren vorgesehen, auf denen Projekte von Rednern vorge-
stellt werden sollten, die das Parlament verworfen hatte. „Feiern der Erinnerung“
sollten die Bürger darüber belehren, wie gut es ihnen im Vergleich zu ihren Vor-
fahren ging.
Zunehmend mittellos dachte Saint-Simon an Selbstmord. 1823 – 24 erschien
der „Katechismus der Industriellen“. Das dritte Heft stammte noch von Auguste
Comte, mit dem es 1824 zu einem spektakulären Bruch kam.
Der Frühsozialismus in Frankreich 35

Die Klassentheorie

Saint-Simons bahnbrechender Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Theorie war


seine Klassenlehre, die auch Engels im „Antidühring“ in höchsten Tönen gelobt
hat. Schon in den „Genfer Briefen“ (1803), in der für Saint-Simon typischen Mi-
schung von Utopie, Wissenschaft und Dichtung, war die Klassenlehre skizziert.
Kern der Aussage war die Voraussage, dass alle Menschen arbeiten werden. Der
führende Rat „Newton“ werde die Arbeiten dirigieren. Die Räte sollten die Grenze
zwischen der geistlichen und der weltlichen Gewalt strikt respektieren (O I: 1: 55 f).
Drei Klassen unterschied Saint-Simon, die erste ist die geistige Elite. Die zweite
Klasse der Besitzenden stellt das „konservative“ Lager dar, die gegen jede Neue-
rung sind. Ihr werden die Leviten gelesen: Die Besitzenden müssten die Intelli-
genz aufnehmen und sie in die adäquaten Positionen bringen, außerdem sollten
sie sich der Nichtbesitzenden annehmen, mit denen „durch die Natur der Dinge“
ein Kampf bestehe (O I, 1: 28). Die Gefahr bei Verstoß gegen diese Regeln wurde
klar postuliert: Revolution.
Saint-Simon ist trotz der Abstrusität vieler Vorschläge im Einzelnen als Geist,
der Schlüsselbegriffe prägte, in der Geschichte der sozialen Ideen einflussreich
geblieben. Er wurde mit seinem Industrie-Begriff zum Künder der „industriel-
len Revolution“. Die Nation wurde als „grande société d’industrie“ und Frank-
reich als „große Manufaktur“ definiert (O I,1: 68, O III,7: 91). Der Industrieschrift
wurde das Motto vorangestellt: „Alles durch die Industrie, alles für sie“. Eine neue
Gesellschaft sollte auch die seit der Revolution verlorene Orientierung der Men-
schen rekonstituieren. Diese Gesellschaft war unsozialistisch in der Idee, dass es
keine Gleichheit geben könne. Zwar werden alle Menschen „Arbeiter“ sein, aber
in der Schrift „L’industrie ou discussion politiques, morales et philosophiques“
(1817) wurde egalitären Träumen eine Absage erteilt: „Die Straße der Zivilisation
ist eine enge Straße. Nicht alle Menschen marschieren vorn, sie folgen einander
und gehen in Reihen. Es gibt immer erste und letzte.“ Aber jeder profitiert von
dieser Einordnung in den Zug zum Fortschritt, denn die Kolonne bewegt sich ge-
schlossen nach vorn (O I,2: 30 f). Herrschaft sollte in diesem industriellen System
den „Besten“ anvertraut werden. Der Monarch war für Saint-Simon nur noch ein
Schaustück, dass die Pyramide krönte (O V,10: 132). Die starke Herausstellung der
Wissenschaftler und Gelehrten hatte eine alte Tradition in den Utopien und noch
bei Condorcet.
36 Der Frühsozialismus

Die Weltanschauung der Industriegesellschaft


und die Saint-Simonistische Sekte

Dem Geist der Restauration huldigte Saint-Simon am Ende seines Lebens durch
die Schrift „Nouveau Christianisme“ (1825). Im Gegensatz zu Chateaubriands
Bestseller (vgl. Bd. II, Kap. II. 3) der tiefen Einfluss erlangte, aber eine elitär ab-
gehobene Gefühlsreligion für die Oberschichten bot, hat Saint-Simon eine Reli-
gion der Solidarität mit den Armen im Proletariat gepredigt. Seine Ansichten ent-
wickelte er in einem fiktiven Dialog zwischen einem Konservativen und einem
Neuerer (novateur) (O III, 7: 107 ff). Auch der Neuerer begann mit einem Be-
kenntnis zu Gott und der Religion. Im Neuen Christentum ging Saint-Simon
(O III, 7: 121 ff) hart mit dem Papst und dem Klerus ins Gericht, weil sie das Los
der Armen nicht verbessert hätten. Der Protestantismus wurde etwas milder be-
urteilt, aber auch Luther warf er vor, dass seine Lehre zu sehr auf die Verfeh-
lungen der katholischen Kirche fixiert gewesen sei. Die „fraternité“, welche diese
Revolution nur verkündet hatte, sollte in seinem „neuen Christentum“ endlich
ernst genommen werden. Dafür reichte es nicht, technokratisch ein neues Sys-
tem mit einer neuen Elite aus dem Boden zu stampfen. Die kommende Gesell-
schaft bedurfte einer Weltanschauung und einer neuen Religion. Ein Hang zur
Sektierei bei seinen Jüngern war schon beim Meister angelegt und wurde bei
Comte schließlich ins Totalitäre gesteigert. Die Schüler waren sich freilich gerade
in dieser Frage nicht einig. Bazard blieb Aufklärer, Enfantin steigerte sich in eine
schwärmerische Proklamation eines neuen Priestertums (vgl. Salomon-Delatour
1962: 15 f).
Saint-Simons Schüler, vor allem Barthélemy-Prosper Enfantin (1796 – 1864),
Sohn eines Bankiers, hat die Doktrin später vergröbert und zugespitzt. Die Über-
tragung des Erbrechts auf den Staat (Ramm 1968: 132) war eine staatssozialisti-
sche Weiterentwicklung von Saint-Simons Gedanken. Aber auch die radikalsten
Schüler blieben Sozialisten und wurden nicht Kommunisten, weil sie die Güterge-
meinschaft und eine radikale Egalisierungspolitik ablehnten. Verdienste aber er-
warben sie sich in der Forderung nach rechtlicher Gleichstellung der Frauen. Die
Ausführung der Doktrin durch Enfantin hat Saint-Simons Lehren nicht nur ver-
einfacht, sondern auch des letzten liberalen Inhalts beraubt. Die Führungsideen
Saint-Simons wurden in Richtung einer Herrschaft intellektueller Hoher Pries-
ter entwickelt. Unter der Leitung von Bazard und Enfantin entwickelte sich die
Sekte der Saint-Simonianer auf der Basis ihrer reformerischen Ideen zur Frau-
enbefreiung zu einem libertären Treiben, das an Tempelprostitution grenzte und
Neugierige anzog, die wenig Verständnis für die progressiven Seiten der Dok-
trin mitbrachten. Nach der Julirevolution hatte die Sekte eine Weile Narrenfrei-
heit genossen. 1832 hat jedoch die Staatsgewalt dem Treiben ein Ende gemacht.
Der Frühsozialismus in Frankreich 37

Das Unternehmen stand ohnehin finanziell vor dem Bankrott. Enfantin wurde
inhaftiert, aber rasch begnadigt. Die Jünger wandten sich neuen Projekten in der
Ferne in Ägypten zu und entwickelten Visionen über eine Auferstehung „Israels“.
Der Saint-Simonismus hatte noch ein paar Renaissancen in Großbritannien und
in der neuen Welt. Erstaunlich gering blieb sein Einfluss auf Deutschland. In der
Saint-Simonismus-Forschung wurde beklagt, dass sich niemand um den Einfluss
Saint-Simons auf Hegel und seine Schule gekümmert habe. Andererseits wurde
behauptet, dass der Saint-Simonismus ab 1830 zum „dernier cri“ der Religions-
kritik in Mode kam (Hahn 1970: 28, Butler 1926: 52 ff). Die Schuldigen für sol-
che Versäumnisse wurden rasch gefunden: es waren die dominanten Marxisten
in Deutschland, die selbstherrlich definierten, wer „wissenschaftlicher“ und wer
„utopischer Sozialist“ gewesen ist. Als der Pulverdampf der sozialistischen Sek-
tenkriege sich verzogen hatte, der noch die „Deutsche Ideologie“ durchwehte, hat
jedoch der späte Engels (MEW, Bd. 20: 242) sich durchaus positiv über Saint-
Simons „geniale Weite des Blicks“ geäußert, „deren fast alle nicht streng ökono-
mischen Gedanken der späteren Sozialisten bei ihm im Keim enthalten sind“. Zu
der positiven Würdigung Saint-Simons im Vergleich zu anderen Frühsozialisten
hat vermutlich beigetragen, dass Saint-Simon von allen am stärksten „Staatsso-
zialist“ gewesen ist.

Quellen
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38 Der Frühsozialismus

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Charles Fourier (1772 – 1837)

Fourier war der Sohn eines vermögenden Kaufmanns aus Besançon. Er wurde
vom Vater gezwungen, dessen ungeliebten Beruf zu erlernen. Sein Vermögen ver-
lor er durch Entwertung während der Belagerung von Lyon. Nachdem die Trup-
pen der Convention die aufrührerische Stadt erobert hatten, entging er nur mit
knapper Not der Hinrichtung. Er musste fortan sein Leben als kaufmännischer
Angestellter fristen. Im Alter wurde der Junggeselle in großer sozialer Not, der so
gern über die ideale Familienstruktur geschrieben hatte, von seiner Schwester auf-
genommen.
Der Frühsozialismus in Frankreich 39

Europäische Einheit und die Organisation des Friedens

In einem Artikel von 1803 über das „Triumvirat continental“ hat er im Anschluss
an den Abbé Saint-Pierre einen ewigen Friedensplan vorgelegt. Vier Großmächte
sah er in Kontinentaleuropa, die schwächste war Preußen, und schien ihm der
Auflösung anheim gegeben. Auch Österreich hatte in dem verbleibenden Trium-
virat die Rolle des historischen „Lepidus“. Frankreich und Russland würden sich
nach Fouriers Prognose (OC I: 314 f) das Land teilen. Auf England setzte er in die-
sem Kampf nicht, er sah das Land in Asien absorbiert. Sein Sendungsbewusst-
sein zeigte sich bereits in diesem Jugendwerk: voilà, was dem Occident blüht, aber
die Publizisten haben nichts vorausgesehen und müssen wie Kinder erneut in die
Schule geschickt werden.
Fourier strebte wie Saint-Simon nach Einheit Europas als einzige Möglichkeit
zum Frieden. Aber Saint-Simon dachte die Einheit föderalistisch und parlamen-
tarisch, Fourier hingegen prognostizierte militärische Gewalt. Selten haben sich
zwei Denker, die anfangs voneinander nichts wussten und durch soziale Herkunft
geschieden waren, in einer „Gleichzeitigkeit des innerlichst Verwandten“ so genial
nebeneinander her räsoniert (Stein 1959 II: 232).
1803 schrieb Fourier an den „Bürger Justizminister“ – der Brief wurde erst
1874 publiziert – und erklärte, dass er eine unbedeutende Angelegenheit zum
Anlass nehme, ihm Bedeutendes zu eröffnen. Die unbedeutende Angelegenheit
war Kritik, die dem Minister über seinen Artikel zugetragen worden ist. Fourier
wiederholte die Thesen seines Artikels und entwickelte im Telegrammstil seine
Theorie der vier Bewegungen. Da er als Aufrührer verdächtigt worden war, emp-
fahl er sich als ordnungsstiftendes Element, auch wenn er die These vertrat: „Ar-
mut ist die Hauptursache der sozialen Unruhe“. Aber: „Glauben Sie nicht, Bürger
Minister, dass diese Entdeckung Sammelpunkt für Sektierer und Intriganten wer-
den kann. Ganz im Gegenteil, sie ist das sicherste Mittel, um in allen Ländern die
zivilen und politischen Unruhestifter abzuschrecken“ (Fourier 1967: 205). Fourier
pries seine Reform als eine gradualistische an, die schrittweise jede Klasse der Zi-
vilisation in den Rang der nächsthöheren heben wolle. Er bat den Minister um
Unterstützung bei den Pariser Zeitungen, seinen Subskriptionsplan zu publizie-
ren, wobei er sich bereitwillig etwaigen Anforderungen der Zensur unterwarf.
Fourier versuchte mit diesem Brief, direkt in Kontakt mit Napoleon zu kommen
und bat den Minister, dem ersten Konsul eine Abschrift vorzulegen. Auch dabei
verließ ihn sein Sendungsbewusstsein nicht: „Der Erste Konsul kann nicht ver-
fehlen, gerührt zu sein von dem Gedanken, das Menschengeschlecht aus dem so-
zialen Chaos zu erlösen..“ Angesichts der Verachtung Napoleons für die „Ideo-
logen“ ahnt man das Echo des Despoten, falls der Brief je zu seiner Kenntnis
gelangte.
40 Der Frühsozialismus

Wissenschaftslehre und Lehre von den Trieben

Fourier hat als kleiner Handelsgehilfe die Verschwendung des Reichtums erlebt,
die ihn die gesellschaftliche Fehlorganisation erkennen ließ. Er sah wie zehn Ton-
nen Reis ins Meer geschüttet werden mussten, weil ein Spekulant die Waren ver-
derben ließ, oder dass ein Apfel in einem Pariser Restaurant das hundertfache wie
auf einem Markt in der Franche Comté kostete. Diese Erlebnisse haben seine Art
von Sozialismus schon früh ganz auf die Verteilungssphäre fixiert, während Saint-
Simon eher über die Organisation der industriellen Produktion nachdachte. Fou-
rier ist mit seiner „Sonntagssoziologie“ mit dem „Sonntagsmaler“ Henri Rousseau
verglichen worden, beide waren Autodidakten und nicht nur gespielt naiv.
Fourier begnügte sich nicht mit sozialen Visionen, sondern wollte das Univer-
sum schlechthin erklären. Ihm schien der Kosmos – noch ganz in der Tradition
der Aufklärung – auf das Glück des Menschen hin angelegt. Gottes Güte und Vor-
sehung wirkte in heidnischer Form in Fouriers Geschichtsmythologie. Sein Gott
war kein rächender Jahwe, sondern ein gütiges Prinzip. Gott war auch kein ge-
strenger Moralist, sondern ein Gott der Lust und der Genüsse. Seine Einsichten in
Gottes Plan gingen so weit, dass er sogar neue Tiere und Antitiere und das Auf-
treten neuer Sterne glaubte voraussagen zu können. Skurrile Einschübe wie „Das
Missgeschick der Himmelskörper während der Phasen der gesellschaftlichen Un-
verbundenheit“ fehlten selbst in seinem Hauptwerk nicht. Er bekannte sich als
Atheist und berief sich gleichwohl ständig auf Gott und den Dialog von Gott mit
den Menschen (OC X: 338 ff). Was analytische Denkende „konfus“ nannten, ha-
ben wohlwollende Interpreten „dialektischen Atheismus“ genannt (E. Lenk: Vor-
wort zu TvB: 19). Fouriers Weltbild war auf die Menschen zentriert. Er glaubte die
Schöpfung durchschaut zu haben und sie daher auch kritisieren zu dürfen – etwa
in Ausfällen gegen die Existenz unnützer und nicht essbarer Tiere. Während der
Frieden auf Erden mit Gewalt hergestellt werden sollte, hat Gott für seinen Welt-
plan keinen Zwang vorgesehen, sondern hoffte auf die Mitarbeit der Menschen.
Gott war weniger personal denn als eine Manifestation im Geschichtsprozess ge-
dacht. Diese Konzeption ist gelegentlich mit Hegel verglichen worden, aber di-
rekte Einflüsse gab es nicht. Schon Engels (MEW Bd. 20: 243 f) behauptete, dass
Fourier die Dialektik mit „derselben Meisterschaft“ handhabe, wie sein Zeitge-
nosse Hegel. Diese Äußerung hat dem Schematismus Fouriers aber wohl zu viel
Ehre zuteil werden lassen.
Fourier fühlte sich als Berufener: „Ich bringe eine Entdeckung (invention), die
das Menschengeschlecht aus dem zivilisierten, barbarischen und wilden Chaos
herausführen wird, und ihm mehr Glück sichert, als es jemals gewagt hat zu hof-
fen, und ihm die Domaine der Mysterien der Natur erschließt, von denen sie sich
für immer ausgeschlossen wähnte. Die Masse (multitude) wird nicht zögern, mich
Der Frühsozialismus in Frankreich 41

der Scharlatanerie zu bezichtigen, und die Gelehrten werden sich für maßvoll hal-
ten, wenn sie mich als Visionär abtun“ (OC I: 19, TvB: 66). Gott hatte sich eines
schlichten Handelsangestellten bedient, um die „Hoffärtigen zu demütigen“ und
der Welt diese wichtige Botschaft zu übermitteln. Seine Heilsgewissheit nahm
die Form der Obsession an. Er hatte per Annonce einen Millionär gesucht, der
ihm bei der Verwirklichung des Erlösungsplans helfen sollte. Seither war er täg-
lich Punkt 12 Uhr zu Hause, weil er dieses dem großen Unbekannten, der nie er-
schien, avisiert hatte. Fourier war freilich nicht so naiv, dass er den großen Gön-
ner nur passiv erwartete. Er hat sich an alle Welt gewandt, um Unterstützung für
seine Pläne zu erreichen, selbst an Rothschildt, obwohl er ein militanter Anti-
semit gewesen ist. Sein Antisemitismus war nicht rassistischer Art, sondern resul-
tierte aus der Kritik an der dominanten Stellung der Juden im Handel. Zu den De-
generationserscheinungen der dritten Phase seines Geschichtsmodells hat er das
schlimmste Laster gebrandmarkt, das er in der Verleihung der Stadtbürgerrechte
an die Juden witterte (OC VI: 421).
Fourier ging davon aus, dass die Menschheit seine Botschaft unverzüglich anneh-
men werde. Da der Großfinanzier ausblieb, wurde das Glück auf der Basis eines
Projekts auf Subskription organisiert. Obwohl das Echo auf seine Pläne weitge-
hend ausblieb, arbeitete Fourier weiter an seiner Theorie. 1822 erschien der „Traité
de l’Association domestique agricole“ und 1829 „Le Nouveau Monde industriel et
sociétaire“ und schließlich 1835/36 „La fausse industrie“. Statt des erhofften Mil-
lionärs fand er in seinem jurassischen Landsmann Victor Considérant (1808 – 1893)
wenigstens einen gläubigen Propagandisten, der 1832 das Organ der Bewegung
„Le Phalanstère“ übernahm. Considérant hat Fouriers System für den Leser, der
sich nicht in die skurrilen Details vertiefen wollte, überhaupt erst verständlich
gemacht.
Fourier (OC I: 15, TvB: 61) war der Ansicht, dass „die politischen und mora-
lischen Wissenschaften“ seit 25 Jahrhunderten nichts für das Glück der Mensch-
heit getan hatten. Zwar gab es schöne Theorien des Glücks. In der Praxis führten
diese jedoch zu nichts als Unglück. Fouriers Anspruch war nicht nur auf Theorie
sondern auf verändernde Praxis gerichtet – sehr kurzschlüssig, wie die Gegner des
utopischen Sozialismus meinten. Zwei methodische Prinzipien sollten zu der voll-
mundig angekündigten Entdeckung führen: einmal das cartesianische Prinzip des
„absoluten Zweifels“ gegenüber allen Vorurteilen, und die „absolute Vermeidung“
(l’écart absolu) gegenüber allen Theorien. Die Philosophen hatten seiner Meinung
nach durch die Französische Revolution und dem Terror von 1793 als der Folge
ihrer Theorien bereits hinreichenden Beweis für ihre Unfähigkeit erbracht (OC I:
2 – 4, TvB: 46 – 49). Vor allem Marx gingen die Pleonasmen des „Absoluten“ und
„Wesentlichen“ bei den utopischen Vorläufern des Sozialismus stark auf die Ner-
ven. Anstatt über die Bedingungen der sozialen Revolution nachzudenken, wur-
42 Der Frühsozialismus

den intellektuelle Bemühungen in der Ausmalung eines künftig paradiesischen


Zustandes verschwendet. Dabei war die Diskrepanz zwischen dem Sonderling,
der seinen Beruf hasste und lieber in Kaffeehäusern saß, zum Schematismus der
Regulierungswut aller sozialen Beziehungen bis hinein in die Liebesbeziehungen,
immer wieder ein Stein des Anstoßes bei späteren „wissenschaftlichen“ Sozialisten.
Immerhin hat Engels in der Schrift „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie
zur Wissenschaft“ die „echt-französisch-geistreiche, aber darum nicht minder tief
eindringende Kritik der Gesellschaftszustände“ gelobt (MEAW II: 114 f). Vor al-
lem die Kritik des Handels hat Engels bei Fourier geschätzt. Er konnte sich als Be-
troffener in einem ungeliebten Beruf in der Wirtschaft besser in Fourier hinein-
denken als Marx.
Nach einer prätentiösen Einleitung zu seinem Hauptwerk war die Schlicht-
heit der Ziele, die er zunächst anstrebte, eher verwunderlich: die landwirtschaft-
liche Kollektivbildung (association agricole) und die Brechung der Handelsmo-
nopole. Die erste Wissenschaft, die Fourier entdeckt zu haben glaubte, war die
Wissenschaft von der „leidenschaftlichen Anziehungskraft“ (attraction passion-
née) (OC I: 12 f, TvB: 56 f). Er hatte erkannt, dass die Leidenschaften beider Ge-
schlechter, aller Altersstufen und aller Klassen in fortschrittlichen Serien (séries
progressives) in der neuen Ordnung aufgrund eines analytischen Kalküls von An-
ziehungs- und Abstoßungskräften – in Analogie zur Geometrie arrangiert – di-
rekt in die landwirtschaftliche Assoziationsbildung führen werde. Seine Theorie
der leidenschaftlichen Anziehungskraft beruhte auf seiner Eingebung, dass Gott
dem Verstand weniger Einfluss zugedacht hatte als dem Gefühl der Anziehungs-
kraft. Gewagte Analogien zur Gravitationstheorie wurden vielfach eingeflochten.
Den Gelehrten, die bisher versagt hatten, sprach er Trost zu für ihre vergangenen
Irrtümer, da er ihnen durch die Entdeckung neuer Wissenschaften mehr Ruhm
und Reichtum in Aussicht stellen könne als Amerika Goldminen habe. Von sich
selbst sagte er, dass er mangels Kenntnissen sich auf eine einzige Wissenschaft be-
schränkte, die Wissenschaft von der „sozialen Bewegung“ (OC I: 12, TvB: 58). Ob-
wohl Fourier nach seinen negativen Erfahrungen mit der Revolution – ähnlich
wie Saint-Simon – nicht auf die Aktionen der Masse setzte, wurde die Theorie
der sozialen Bewegung später dynamisch-revolutionär umfunktioniert. Der Be-
wegungsbegriff wurde zu einem Schlüsselbegriff im Zeitalter der Ideologien, ver-
bunden mit dem rastlosen Fortschritt der Geschichte und dem Recht selbst er-
nannter Eliten, die aufgrund ihrer Einsicht in den Geschichtsprozess die „soziale
Bewegung“ zur „Revolution“ führen.
Fouriers Hauptziel war die Abschaffung der Armut durch Hebung der Pro-
duktivität, nicht die Abschaffung jeder Hierarchie und die Herstellung kommu-
nistischer Gleichheit. Die neue Wissenschaft, die Fourier entdeckt hat, war die
Analogie von vier Bewegungen, der materiellen, der organischen, tierischen und
Der Frühsozialismus in Frankreich 43

sozialen, oder die Analogie zu den Veränderungen der Materie und der mathema-
tischen Theorie der menschlichen und tierischen Leidenschaften. Mit der Theo-
rie der sozialen Bewegung kann der Mensch die Gesetze erklären, durch die Gott
die Ordnung und die Abfolge der gesellschaftlichen Mechanismen geregelt hat:
die animalische Bewegung der Instinkte, die organische Bewegung, nach den Gott
die Eigenschaften, Formen und Farben auf die geschaffenen Substanzen verteilte,
die materielle Bewegung, die Gravitation, welche die Mathematiker entdeckt hat-
ten. Die Phasen von 80 000 Jahren Menschheitsgeschichte wurden in vier Stadien
in Analogie zu den Lebensaltern mit aufsteigenden und abnehmenden „Vibratio-
nen“ erklärt. Ein verwirrendes Schema zeigte die Bewegungen zwischen Chaos
und Harmonie. Alle vier Bewegungen unterlagen nach Fouriers Ansicht dem Ge-
setz der Attraktion. Die Beschwörung von auf- und absteigenden Tendenzen und
die konterkarierende Wirkung von „Aszendenten“ klang vielfach mehr nach As-
trologie als nach empirischer Theorie der Geschichte. Vier Gesellschaftsforma-
tionen – Wildheit, Patriarchat, Barbarei und Zivilisation – waren laut Fourier de-
pravierte Gesellschaften. Die Abfolge bedeutete keine jeweilige Höherentwicklung
von Stufe zu Stufe. Die Epoche der Zivilisation war lediglich stärker industriali-
siert als frühere Gesellschaften, aber führte gerade dadurch zu einer besonderen
Entfremdung der Menschen von den Produkten ihrer Arbeit. Die Freiheit der Zi-
vilisationsepoche war in Fouriers Geschichtsbild zerstörerisch. Der Händler ge-
nießt sie schrankenlos wie der Wilde seine Freiheit. Dabei hatte Fourier wenig
gegen den „libertin“. Er war auf höherer Stufe eine Inkarnation des freien Geis-
tes, der eine höhere Ordnung ohne Staat entwickelt. In der neuen Gesellschafts-
ordnung wurde der Mensch vom Status des Tierischen befreit – vor allem durch
Gemeinschaftserziehung und gemeinschaftliche Arbeit. Aber es war kein Zwang
zur Arbeit vorgesehen. Wie diese Freiheit mit der Hoffnung verbunden werden
konnte, dass künftig keine parasitären Schichten mehr existieren, blieb Fouriers
Geheimnis.

Die Reorganisation von Liebe und Erziehung

Fourier glaubte die Leidenschaften und die fünf Sinne der Menschen künftig plan-
mäßig aktivieren zu können. Leidenschaften waren für ihn die eigentlichen Pro-
duktivkräfte des Menschen. Seine Erfahrungen im Handel hatten ihn die Kniffe
der Menschen gelehrt. Die Organisation der Arbeit wollte er daher auf „Attrak-
tion“ gründen und die Leidenschaften wirken lassen, ohne die Ordnung zu ge-
fährden. Auch in der Liebe sollten die Leidenschaften gebändigt werden. Liebe
sollte weder in Formen bürgerlicher Ehe, die er zerstören wollte, noch in freier
Liebe, die bis zur Asozialität geht, gelebt werden. Liebe wurde in Fouriers Sys-
tem „sozialisiert“ und öffentlich, nach der Befreiung von den Fesseln bürgerlicher
44 Der Frühsozialismus

Monogamie. Das Ziel dieser Überreglementierung von Liebesbeziehungen war


die Erzeugung von Wahrhaftigkeit. In der „Theorie der vier Bewegungen“ (OC I:
139 ff, TvB: 198 ff) hatte Fourier die Falschheit der Liebe angeprangert, die jeden
Genuss außerhalb der Ehe verketzerte. Ließe man in der Liebe jedoch abgestufte
Laster und Tugenden zu, so ergäbe das ehrbarere Sitten, die der Wahrhaftigkeit
wie dem Genuss zu Gute kämen. Drei „Bünde der Liebenden“ waren damals vor-
gesehen: die Gattinnen mit einem Ehepartner, die Demi-dames, die ihren Besitzer
wechseln, und in regelmäßigen Abständen sequentiell monogam mit einem Part-
ner leben, und die „Galanten“, die ein noch freieres Leben haben. Jede Frau hat das
Recht nach Belieben von einem Bund (corporation amoureuse) in den anderen zu
wechseln. Drei Klassen der edlen Damen, der Kurtisanen mit Lebensart und der
unverheirateten Kleinbürgerinnen sind die Frauen, die sich in der korrumpier-
ten Gesellschaft vergleichsweise am besten entwickelten. Könnte man ihre Eigen-
schaften zusammenlegen, „sie ergäben Vollendung“. Zwischen beständigen und
unbeständigen Liebesbeziehungen gab es bei Fourier nur einen graduellen Unter-
schied. Selbst die höchste Form der Beziehung währte nur sieben Jahre. Eine her-
kömmlich stabile Ehe war eigentlich nur für alte Leute akzeptabel.
Die Mischung von Abwechslung und Konstanz in Fouriers „Régime“ wurde
nicht nur als Selbstzweck im Namen der Freiheit angestrebt. Sie war auch von gro-
ßer Bedeutung für die Arbeitsbeziehungen. Der Wettbewerb der Gruppen sollte
die Produktivität steigern. Fourier hat unter dem Einfluss von Malthus Frucht-
barkeitszyklen und Fruchtbarkeitsschichten berechnet und in seine Theorie ein-
gebaut. Malthus wagte aus christlichen Bedenken heraus die Konklusion nicht,
den Ausweg aus dem Dilemma der geometrischen Vermehrung der Bevölkerung
bei nur arithmetischer Zunahme der Nahrungsmittel in der Zulassung der freien
vorehelichen Liebe zu suchen, um das Heiratsalter in der Gesellschaft zu senken.
Fourier hatte solche Bedenken nicht. Die Ökonomie der Gesellschaft und die
Ökonomie der Lust glaubte er in einen Gleichklang zu bringen.
In der gesellschaftlichen Lebensform (régime sociétaire) herrschte Wahrhaf-
tigkeit und Transparenz. Man konnte weder über die Jungfräulichkeit der Frau
noch über die Treue der Partner getäuscht werden. In „Le nouveau monde amou-
reux“ (OC VII: 210 ff) wurde ein „Liebeshof “ (cour d’amour) beschrieben, mit
skurrilen Riten und Wechselspielen, welche dem Autor in der erotischen Litera-
tur einen Ehrenplatz auch bei den Lesern sicherte, die für seine sozialen und so-
zialistischen Idealen kein Verständnis aufbrachten. Während der junge Fourier
glaubte, die neuen Liebesbeziehungen sogleich organisieren zu können, wurde der
alte Fourier in diesem Punkt skeptischer und glaubte mehrere Generationen zu
brauchen, bis die Menschen reif für seine neuen Lebensformen seien.
Das herkömmliche Erziehungssystem sollte von Fourier radikal geändert wer-
den. Gemeinschaftserziehung sollte künftig die Menschen formen. Vor allem die
Der Frühsozialismus in Frankreich 45

Einmischung des Vaters musste beendet werden. Seine negativen Erfahrungen im


väterlichen Geschäft hatten in seine Theorie Eingang gefunden. In Fouriers Sys-
tem (OC X: 312), das auf das Glück des Kindes ausgerichtet war, wurde zugleich
der Vater befreit. Er konnte sich in diesem System seinen natürlichen Gefühlen
hingeben, die Kinder verwöhnen und allen ihren Phantasien, die kreativ und
nützlich geworden sind, applaudieren. Die Einheit der Erziehung war wiederum
auf eine „wissenschaftliche Theorie“ gegründet, mit „Vibrationen“ in zweierlei Ge-
stalt (1. Phase Chor der Kinder, zweite Phase Chor der Seraphime und Cherubime,
etc.) (OC V: 7). Erziehung folgte in seinem Schema der wissenschaftlichen Ein-
sicht in die Entwicklung der Kinder.

Kritik des bestehenden politischen Systems


und die Organisation der Produktionseinheiten

Die neue Gesellschaftsordnung sollte den Konflikt der Menschen mit der Na-
tur einerseits und den herkömmlichen Gesetzen der Moral andererseits ein für
alle Male lösen und dabei zugleich die Produktivität derart steigern, dass schließ-
lich alle in größtem Wohlstand leben könnten. Im Gegensatz zu späteren „wis-
senschaftlichen Sozialisten“ wurde die Entwicklung nicht von der Förderung der
Technik erhofft. Es wurde die herkömmliche Produktionsweise nur besser orga-
nisiert vorgeschlagen, während Saint-Simon sich vor allem um die Eingliederung
der bisher unproduktiven Schichten der Bevölkerung in den Arbeitsprozess be-
mühte. Die gesamtgesellschaftliche Organisation kam über der Kleinteiligkeit sei-
ner sozialen Reorganisationsbemühungen zu kurz: es klaffte eine Lücke zwischen
den Regelungen, die er im Universum witterte und denen, die für die Kleingruppe
Bedeutung haben sollten. Immerhin waren eine wichtige Klammer der Sphären
Fouriers Vorstellungen zum Steuerrecht. Er verlangte progressive Einkommens-
und Erbschaftssteuern. Kleinstverdiener sollten steuerfrei bleiben. Wieder waren
die Grundsätze bis hin zu den Zahlungsfristen detailliert geregelt (OC IV: 281 ff).
Die Organisationsform der Produktionseinheiten, der Phalangen, wurde
räumlich in einem Phalanstère zusammen gefasst. Es sollte 1600 – 1800 Menschen
umfassen, die auf 2300 Hektar Landwirtschaft betreiben. Bis in die architekto-
nischen Details wurde eine radiale Idealstadt skizziert. Vorbilder gab es in der
Renaissance und für seine Herkunft näher liegend in Ledoux’ Idealstadt Chaux
in der Franche Comté. Die Funktionen Wohnen, Arbeiten und Erholung waren
in konzentrischen Kreisen getrennt. Planungsutopien haben diese Ideen bis ins
20. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen. Die Industrie war im zweiten Ring
anzusiedeln. Die Stadt war auf einen schlossähnlichen Hauptbau à la Versailles
hin hierarchisch angelegt, der die Gemeinschaftseinrichtungen umfasste. Der In-
validendom hat Fourier als Modell einer Lebens- und Raumgemeinschaft offen-
46 Der Frühsozialismus

sichtlich beeindruckt (Considérant 1906: 55). Dabei war der Invalidendom noch
egalitär angelegt, während man in Fouriers Phalanstère je nach finanziellen Ver-
hältnissen eine größere oder kleinere Wohnung mieten konnte. Robert Owens
schlichteren Rasterplan, wie er in den meisten Theorien neuer Städte domi-
nierte, hat Fourier explizit verworfen. In Fouriers Stadt war eine regelmäßige For-
mensprache vorgeschrieben, mit Säulenmonumenten, Kolossalstatuen und Ele-
fanten-Denkmälern, die sich an Napoleons Wettbewerb für den Platz der Bastille
inspirierten. Erst nach Fouriers Tod wurde ab 1859 in der Stadt Guise/Nordfrank-
reich von einem Industriellen eine solche Siedlungsform gebaut (de Bruyn 1996).
In Fouriers Produktionsgemeinschaften waren weder die sozialen Schichten
noch das Privateigentum abgeschafft. Das Eigentum sollte lediglich gesellschaft-
lich eingebunden werden. Die Wirtschaften waren noch getrennt. Aber die An-
archie der Produktion sollte eine Kooperation größerer Einheiten überwinden.
Viele Funktionen des Wohnens konnten ebenfalls vergemeinschaftet rentabler ge-
staltet werden. Vor allem der Handel sollte rentabel und frei von individuellem
Profitstreben gestaltet werden. Die Phalange handelt, nicht jeder einzelne. Das
herkömmliche System führte für Fourier zu unverantwortlichen Verlusten an Ar-
beits- und Mußezeit und zur Verschwendung von Ressourcen durch Transport
von Gütern auf einen Markt, von dem man nicht weiß, ob die Waren verkäuflich
sein werden.
Nicht die kommunistische Kommune sondern die Aktiengesellschaft war das
Modell. Die Idee von Anteilsscheinen wurde von dieser Eigentumsform an Pro-
duktionsmitteln in die Landwirtschaft für den Besitz an Grund und Boden über-
tragen. Eine gewisse Ungleichheit ist Fundament von Fouriers Modell. Das Sys-
tem der harmonischen Arbeit würde nicht funktionieren, wenn alle Menschen
gleich wären. Es gibt aber Ungleichheiten in der Mischung von Trieben der Ein-
zelnen, die eine Bildung von „Serien“ erst ermöglichen. Die verschiedenen Cha-
raktere mit affektiven, distributiven und sensuellen Dominanten und ihren Mi-
schungen wurden mit gewohnter Akribie ausgeführt. Trotz der Versponnenheit
des Systems ist gewürdigt worden (Stein 1959 II: 323), dass hier erstmals im sozia-
listischen Denken die Gleichheit nicht über die Freiheit gestellt worden ist.
In der Kritik des politischen Systems seiner Zeit war Fourier relativ milde. Er
sah die Unterdrückung durch Regierung und Verwaltung im bestehenden System
für unerlässlich an. Minister waren unter den obwaltenden Umständen eines „fal-
schen Liberalismus“ unverzichtbar (OC IV: 286). In einem Kapitel über „Politik
und Handel“ (OC X: 217 ff) konnte er jedoch seine Kritik des Handels auf die Poli-
tik ausdehnen: der Handel hat sich die Regierung untertan gemacht. Von der Re-
gierung wurde ein hilfloses Bild in einer Art staatsmonopolitischem Handelska-
pitalismus gezeichnet. Noch so wohlmeinende Regelungen des Handels, um seine
Exzesse zu beschneiden, sind zum Scheitern verurteilt, solange die Regierungen
Der Frühsozialismus in Frankreich 47

unter der Fuchtel des Handels („sous la griffe du commerce“) stehen (OC VI: 430).
Das System wurde in Fouriers Augen (OC VIII: 306) durch eine Ideologie zemen-
tiert, wie sie eine Wissenschaft der politischen Ökonomie mit ihrem laissez-faire-
Prinzip darstellte, die er für den Inbegriff der Lächerlichkeit und zum Antipoden
der praktischen Ökonomie und der „gesunden Politik“ erklärte. Zu den Manö-
vern des Liberalismus zählte er das „Repräsentativ-System“, dass für kleine Re-
publiken wie Sparta oder Athen angehe (wo es nicht existierte), aber dass gänz-
lich illusorisch in einem weiten und reichen Empire sei, wie Frankreich (OC VI:
388). Die Repräsentanten, die vorgaben, das Volk zu repräsentieren, vertraten für
Fourier nur die Interessen der Reichen. 99 % der Bevölkerung sei „politisches Pro-
letariat“ ohne Mitwirkungschance. Darin konnte in seinen Augen nicht einmal
eine Wahlreform etwas ändern, weil die wichtigsten Posten gar nicht über das Re-
präsentativsystem vergeben würden (OC VI: 241). Die Volkssouveränität wurde
somit zur Chimäre, zu einer „Souveränität ohne Brot“. In dieser „Herrschaft der
Worte, bei Fehlen der Dinge“ waren auch die Menschenrechte nur geistiger Nebel
(OC IX: 490). In einer Republik sah er das Volk häufig noch stärker unterdrückt
an als in einer Monarchie. Die liberalen Bourgeois, deren Eifer bei der Verfolgung
von Louis-Philippes Devise „Bereichert Euch !“ Fourier nach 1830 erschreckte, wa-
ren für ihn an jedes System anpassungsfähig von der „inquisitorischen Oligar-
chie“ bis zum militärischen Despotismus (OC III: 392). Er vermochte daher kei-
nen Unterschied zwischen den Reaktionären, die unter der Restauration an der
Macht gewesen waren, und der Bourgeois-Herrschaft der liberalen Doctrinairs
erkennen.
Die politische Organisation der Phalangen war denkbar einfach. Es war ein
gewählter Herrscher (l’unarque) vorgesehen, der ohne Waffen und Polizei seine
Herrschaft ausübt. Der Zustand allgemeinen Reichtums machte Repressionen und
Kriege überflüssig. Die Phalangen, die überall in Europa entstehen würden, soll-
ten keineswegs in selbstgenügsamer Isolierung verharren. In einem gestaffelten
System sollten sie sich zu größeren Einheiten herausbilden. Krönung der Kon-
föderation sollte die Weltregierung – Omniarchat genannt – in Konstantinopel
sein. Der genossenschaftliche Staat war das Endziel. Übergangsperioden wie der
„Garantismus“ und der „Soziantismus“ sollten die Endstufe vorbereiten. 13 Stufen
waren vorgesehen, und jede Einheit organisierte einen „Kongress“. Die obligato-
rische Zahlenmystik schlug sich nieder in den 15 verschiedenen Souveränitätsträ-
gern, die für unterschiedliche Politikfelder zuständig sein sollten (OC VI: 326 ff).
Es ist nicht als bloße Wortspielerei angesehen worden – an der Fouriers Werk so
reich ist – dass er von Trägern der Souveränität sprach (Bambach 1984: 327). Da
er die Volkssouveränität ablehnte, weil sie dem Bürger universale Kompetenz in
allen Bereichen zumute, kam ein elitäres Element durch die policy-orientierten
Teilsouveräne in sein Modell. Im Widerspruch zu seiner Kritik am bestehenden
48 Der Frühsozialismus

Repräsentativsystem hielt er sogar die Erblichkeit gewisser Herrschaftsfunktio-


nen für angebracht (OC XI: 179 ff). Er konnte dies allenfalls durch die wachsende
Chancengleichheit und die Testierfreiheit begründen, weil das Erben nicht mehr
an leibliche Verwandtschaft gebunden wurde. Frauen sollten politisch gleichbe-
rechtigt werden. Sie waren bisher durch einen 16-Stundentag voller demütigender
und unbefriedigender Arbeit in Abhängigkeit gehalten worden. Selbst die Män-
ner konnten das unter den gegebenen Umständen nicht einmal mit gutem Willen
ändern. Habe man erst einmal ein paar Kinder, so sei der Mann für das Überle-
ben derselben gezwungen, seine Frau an die Kette zu legen (OC VIII: 362, IX M: 2,
640). Herrschaft im herkömmlichen Sinne wird im neuen System verschwinden,
es geht allenfalls noch um „Verwaltung“. Selbst der Marxismus ist von dieser Vi-
sion beeinflusst geblieben.

Die Reorganisation des wissenschaftlichen Misserfolgs

Fourier hat zeitlebens unter dem mangelnden Erfolg seiner Projekte gelitten. Sein
Egozentrismus ging aber nicht so weit, dass er die Schuld nur bei der fehlgelei-
teten wissenschaftlichen Welt suchte. Er versuchte die Not mangelnder Beach-
tung mit der Tugend eines Forums zur Verbreitung der eigenen Ideen zu ver-
binden. Es sollte eine „Jury de garantie“ gegründet werden, die wissenschaftliche
Werke beurteilt. Sie konnte bei ungerechtfertigter Kritik Strafen wegen Verleum-
dung verhängen, aber auch den Autor wegen Scharlatanerie zur Rechenschaft zie-
hen – selbst körperliche Züchtigung war vorgesehen. Wie immer, wird also gleich
die neue Einrichtung bis in alle Details reglementiert, einschließlich aller Vize-
präsidenten und der Summen, die für eine Zeitschrift ausgegeben werden soll-
ten (OC II: 237 ff). Die exzessive Regelungswut und die Überfrachtung selbst gu-
ter Ideen mit pseudowissenschaftlichen Ableitungen hat Fourier im Sinne seines
Schemas stets verdächtig gemacht, wegen Scharlatanerie bestraft zu werden.
Fouriers Denken hat immerhin einigen Einfluss auf die Linke während der Fe-
bruarrevolution ausgeübt und das Phalanstère-Modell hat Auswandererkolonien
in Amerika inspiriert. Aber Erfolge, wie sie Owen zeitweilig mit selbstdirigierten
Gemeinschaften hatte, blieben Fourier versagt (vgl. Kap. II.2).

Quellen
Fourier: Œuvres complètes (Hrsg.: D. Oleskiewicz). Paris, 1841 – 1845. 6 Bde.
Paris, Anthropos, 1965 – 1968, 12 Bde (zit: OC). Bd. 1: Théorie des quatre mouvements.
Bd. 2 – 5: Théorie de l’unité universelle, Bd. 6: Nouveau Monde industriel et
sociétaire. Bd. 7: Le nouveau monde amoureux. Bd. 8 – 9: La fausse industrie.
Bd. 10 – 12: Manuscrits.
Fourier: Textes choisis. Paris, Éditions sociales, 1953.
Der Frühsozialismus in Frankreich 49

Fourier: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen. Frank-
furt, EVA, 1966 (zit: TvB).
Fourier: Brief an den Justizminister (1803). In: E. Oberländer (Hrsg.): Die frühen
Sozialisten. Olten, Walter, 1967: 201 – 212.
Fourier: Aus der neuen Liebeswelt (Hrsg.: D. Guérin). Berlin, Wagenbach 1977.
Fourier: Über das weltweite soziale Chaos. Ausgewählte Schriften zur Philosophie
und Gesellschaftstheorie (Hrsg.: H.-Ch. Schmidt am Busch). Berlin, Akademie
Verlag, 2012.
V. Considérant: Fouriers System der sozialen Reform. Leipzig, Hirschfeld, 1906 (ge-
kürzt in: Oberländer 1967: 213 – 241).

Literatur
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K. Asch: Die Lehre Charles Fouriers. Jena, Fischer, 1914.
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1984: 43 – 46, 190 – 234, 323 – 334, 371 – 378.
R. Barthes: Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt, Suhrkamp, 1986.
A. Bebel: Charles Fourier. Seine Leben und seine Theorien. Stuttgart, Dietz, 1888.
J. F. Beecher: Charles Fourier. Berkeley, University of California Press, 1986.
A. Breton: Ode à Charles Fourier. Fontfroide, Éditions Fata Morgana, 1947, 1994.
S. Debout: L’utopie de Charles Fourier. Paris, Payot, 1979.
G. de Bruyn: Charles Fouriers Neue Liebes-Welt. In: Ders: Die Diktatur der
Philantropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken.
Braunschweig, Vieweg, 1996: 103 – 130.
J. Goret: La pensée de Fourier. Paris, Collection SUP, 1974.
H. Greulich: Karl Fourier. Ein Vielverkannter. Hottingen-Zürich, Verlag der Schweiz,
1881.
Th. Ramm: Die großen Sozialisten als Rechts- und Sozialphilosophen. Stuttgart,
G. Fischer, 1955: 315 – 383.
N. V. Riasanovsky: The Teaching of Charles Fourier. Berkeley, University of California
Press, 1969.
L. von Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere
Tage. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1959, Bd. I: 232 – 342.

Étienne Cabet (1788 – 1856)

Cabet war der Sohn eines Handwerkers aus Dijon. Er studierte Jura und wurde
Rechtsanwalt. Während der Hundert Tage der Rückkehr Napoleons wurde Cabet
als Aktivist eines burgundischen Patriotenbundes zur Bewahrung der Unab-
50 Der Frühsozialismus

hängigkeit des Vaterlandes zum Träger des republikanischen Staatsgedankens.


Napoleon belohnte die Aktivitäten, indem er Cabet die Stellung eines kaiserlichen
Prokurators anbot, die er jedoch ausschlug. Er wurde in der Restauration gleich-
wohl als Bonapartist verfolgt. Als er Anhänger Napoleons verteidigte, erhielt er
Berufsverbot und ging nach Paris. Er wurde zeitweilig Anhänger der Carbonari-
Bewegung, die 1806 in Kalabrien als Geheimbund gegründet worden waren und
zunächst gegen die französische Herrschaft in Neapel, später für die italienische
Einheit kämpfte. Viele Anhänger mussten ins Ausland fliehen und gründeten in
Frankreich eine parallele Organisation. In dieser Bewegung geriet Cabet in Kon-
flikt mit den Saint-Simonisten um Bazard. In der Julimonarchie unterstützte er
zunächst Louis-Philippe, der versprochen hatte, ein „republikanischer König“
zu werden. Als unbequemer Mahner, der die königlichen Versprechen einklagte,
wurde er als Generalstaatsanwalt nach Korsika in eine Art ehrenvolle Verbannung
geschickt. Er blieb dort nur kurz. 1831 war er Abgeordneter und kämpfte als Ab-
geordneter der extremen Linken für die Herabsetzung des Wahlzensus. Ein kriti-
sches Buch über die „Révolution de 1830“ und das neue Regime trug Cabet einen
Prozess ein. Er wurde aber freigesprochen, doch seine „Umtriebe“ in republika-
nischen Klubs brachten ihm erneute Prozesse ein, die mit vier Jahren Verban-
nung (zunächst in Brüssel, nach seiner Ausweisung aus Belgien in London) en-
dete. In London versuchte ihn Louis Bonaparte auf seine Seite herüber zu ziehen.
Aber Cabet blieb Republikaner und redigierte seinen „Populaire“. Unter dem Ein-
fluss von Robert Owen, der damals auf dem Höhepunkt seiner Popularität war,
wandte er sich dem Kommunismus zu. Cabet hatte durch den Wechsel zur Juli-
monarchie in Frankreich erkannt, dass ein bloß politischer Regimewechsel für
sein soziales Anliegen wenig Änderungen erbrachte. Von Owen unterschied
Cabet jedoch die stärker gesamtgesellschaftliche Konzeption des Kommunismus,
der sich nicht in der Organisation von Musterkolonien erschöpfte. In einem gi-
gantischen Arbeitspensum entstanden seine historischen Werke in der National
Library. In der Schrift „Comment je suis communiste et mon Credo communiste“
(1844) entdeckte er mit advokatorischer Exegese-Kunst Kommunisten als Vorläu-
fer in vielen berühmten Denkern von Montesquieu bis Sieyès. Marx hat sich in der
„Deutschen Ideologie“ über dieses Verfahren geistiger Adoption mokiert: „alle
Kommunisten malgré eux. Voilà mon communiste, tout trouvé“ (MEGA V: 505).

Das politische Regiment in Ikarien

1839 erschien sein Hauptwerk „Le voyage en Icarie“ unter Pseudonym. Vorbild wa-
ren die großen Utopien. Inhalt war vor allem eine Paraphrase von Babeufs Prin-
zipien, die er als Jurist knapper und präziser formulierte. Cabets Menschenbild
war optimistisch: der Mensch hat einen natürlichen Drang zu Gemeinschaft. Jede
Der Frühsozialismus in Frankreich 51

menschliche Bosheit ist Produkt einer Fehlorganisation der Gesellschaft. In Ika-


rien herrschte Gütergemeinschaft, kein Privateigentum, kein Geld und kein Han-
del. Der Staat ist Inhaber allen Vermögens. Tausend Kommunen von der Größe
eines Kreises üben die Verwaltung aus. Im Vergleich zu Babeuf als Inspirations-
quelle war ihre Autonomie größer, aber die Konzeption war immer noch ein-
heitsstaatlich im Vergleich mit Fouriers Konföderation der Phalangen. Die Ver-
teilung der Produkte erfolgt nach dem Prinzip strenger Gleichheit. Im Gegensatz
zu Fourier oder Owen war Cabet nicht so sehr auf die Landwirtschaft fixiert, son-
dern trat für eine moderne Industrie ein. „Science fiction“ verband sich bei Cabet
mit einer am Urchristentum orientierten Sozialethik.
Cabets politische Ansichten griffen auf die Verfassung von 1793 zurück, die
als direkte Demokratie verstanden wurde. Die Nationalversammlung war nur
als Redaktionsausschuss für die Gesetze gedacht. Im ikarischen Republikparla-
ment gab es „kein Palaver“ (Kernig 1979: 144). Es herrschte klare juristische Ver-
nunft. Probleme sollten rational diskutiert und gelöst werden. Unklare Fragen
wurden Kommissionen überantwortet. Die Exekutive wurde einem Vollzugsaus-
schuss anvertraut, dem ein Vorsitzender und fünfzehn Ressortleiter angehörten,
die von der Versammlung gewählt werden sollte (O I: 198 ff). Die persönliche
Freiheit war nicht uneingeschränkt, das Petitionsrecht wurde zur Entlastung der
Nationalversammlung kollektivisiert und stand den Korporationen zu. Der Bür-
ger hat in der Versammlung Redefreiheit, aber eine generelle Pressefreiheit er-
kannte Cabet nicht an. Sein Freiheitsbegriff war ziemlich restriktiv: man hatte
sich nicht nur aller Handlungen zu enthalten, die anderen schaden konnten, son-
dern war auch gehalten nur das zu tun, was die Gesetze vorschrieben. Der reg-
lementierungswütige Jurist gewann in seiner politischen Theorie immer wieder
die Oberhand. Womit ließen sich solche Restriktionen der Freiheit begründen ?
Vor allem mit der Revolutionsangst, die er selbst den Bürgern in hohem Maße
einflößte. Der Schutz der neuen Ordnung vor Umsturzversuchen war in seinem
System sehr ausgeklügelt. Im Gegensatz zu Babeuf lehnte er aber Gewalt ab. Re-
volutionen waren nach Cabets Meinung stets ein Unglück für die Mehrheit der
Bürger gewesen. Revolutionäre Gewalt polarisierte die Gesellschaft. Um die Men-
schen für den Kommunismus zu gewinnen, war er bereit, in einem Übergangsre-
gime auch den Reichtum zu tolerieren, soweit er die Armut nicht ausbeute. Der
Mensch – von sechzehn bis fünfundsechzig Jahren, Frauen und Männer gleicher-
maßen – unterlag einer Pflicht zur Arbeit. Die Arbeit soll Freude machen, aber
Cabet enthielt sich der Ausmalung des Lustprinzips bei der Arbeit wie sie Fourier
geboten hatte. Das politische Regime Ikariens ist mit der Sowjetunion verglichen
worden (Kernig 1979: 147). In mancher Hinsicht sind die Parallelen frappant, bis
hin zu den städtebaulichen Konzeptionen.
52 Der Frühsozialismus

Die ikarischen Kommunen und eine Vision des Städtebaus

Cabet war ein wenig origineller Kompilator. Seine Idee der Vernunftreligion ließ
sich bis zu Thomas Morus und Mably zurück verfolgen. Priester werden gewählt,
es herrscht Glaubensfreiheit. Bis ins sechzehnte Lebensjahr sollten Jugendliche
nicht hinsichtlich der Religionswahl beeinflusst werden. Ihre Religionsmündig-
keit wird durch einen Lehrer der Philosophie gefördert, der die Jugend mit allen
religiösen Systemen bekannt macht. Die Ehepartner sollten kontrolliert ein halbes
Jahr verlobt sein. Ehebruch und außerehelicher Geschlechtsverkehr war im Ge-
gensatz zu Fourier ein Verbrechen (O I: 141 ff).
Cabet hat sein Ikarien nach dem Vorbild Frankreichs konzipiert. Paris hatte
sein Pendant in der Hauptstadt Ikaria, eine Stadt, die von einem Strom geteilt
wurde und in dessen Mitte eine großzügige Palastanlage liegt. Die kommunis-
tische Hauptstadt ähnelte späteren Realisierungen: riesige Straßenfronten waren
bautechnisch rationalisiert und verliefen unter einem Dach (1893: 20 f). Die Ideal-
stadt war schachbrettartig angelegt. Verschiedene Systeme überlagerten sich in
einer „Collage City“, wie sie erst in Collin Rowes Buch „Collage City“ (1978) pro-
pagiert werden sollte (de Bruyn 1996: 91). Gigantische Wohnhöfe, durch impo-
sante Säulentore erreichbar, enthielten veritable kleine Parkanlagen, die sich von
dem späteren Moskau nur durch die schmuddeligen Birkenwälder zwischen acht-
geschossigen Bauten unterschieden. In Cabets Utopie war eher eine gepflegte Gar-
tenstadt avisiert, mit geringer Bebauungsdichte zwischen Häusern, die fünf Stock-
werke nicht überschritten. Wohnungen im Dreifenster-Haus waren standardisiert.
Das Leben den Wohnungen war bis in die Intimsphäre reguliert. Cabet bemerkte,
dass es in Ikaria nirgendwo „lüsterne Bilder“ gäbe. Trotz des reglementierten Le-
bens schien das Wohnen in Ikaria für Arbeiter ein bedeutender Fortschritt, weil
sie erstmals nicht nur behagliche Wohnungen, sondern auch eine partiell ge-
schützte Privatsphäre erwarten konnten – sehr im Gegensatz zu den frühen Uto-
pien von Morus bis Campanella. Bemerkenswert an dieser Städtebau-Utopie war
auch die Sozialverträglichkeit, mit der er sie realisieren wollte, weil diese Gesell-
schaft ohne Blutvergießen erst nach Ablauf eines halben Jahrhunderts realisiert
werden sollte. Die Zukunft sollte zeigen, dass selbst 70 Jahre Sozialismus nicht
ausreichten, um die „Kommunalka“ zu einer begehrten Wohnform der Menschen
zu gestalten.
Cabet wollte sein System durch Aufklärung durchsetzen. Experimente mit
künstlichen Kommunen lehnte er in seiner Reise noch ab (O I: 565). Der späte
Cabet hat sich an seine Einsichten nicht gehalten und in Nauvoo/Illinois eine Gü-
tergemeinschaft gegründet. Das Experiment ging schief. Cabet konnte sich gegen
die Mehrheit nicht durchsetzen und musste seine Kolonie verlassen. Bei der Vor-
bereitung einer neuen Kommune ist er 1856 gestorben. Im Gegensatz zu Owens
Der Frühsozialismus in Frankreich 53

Experimenten wollte Cabet nicht einzelne Musterkolonien schaffen, sondern


setzte auf Massenauswanderung. Er hoffte, dass ihm bis zu dreißig Tausend Fran-
zosen folgen würden (Dok. zit.: Lux 1984, 1974: 178). Dieses Konzept wurde in so-
zialistischen Gruppen – vor allem in England – scharf kritisiert, weil die fort-
schrittlichen Kräfte nicht wegziehen dürften, um den alten Kontinent seinen
Ausbeutern umso schonungsloser auszusetzen. Die Regierung hat Cabet bei sei-
ner Rückkehr festnehmen lassen, weil sie die Auswanderungsaufrufe nur für eine
verkappte Anwerbung von revolutionären Truppen hielt.

Ikarische Gruppenbildung

Trotz seines Rationalismus, der sich fern von der Gefühlsmetaphysik Fouriers
hielt, nahm seine Bewegung patriarchalische Züge an. Die ikarischen Kommu-
nisten nannten ihn ihren Vater. Die Gruppe musste zusammenrücken, da sie
nicht nur durch die Republikaner, sondern auch von den Ultras der Linken, wie
den Babouvisten verfolgt wurden, die nicht nur das Eigentum, sondern auch Ehe
und Familie abschaffen wollten. Die Aktien und Coupons von Cabets „Populaire“
wurden missbraucht, um Geheimbünde zu gründen, und Cabets Arbeit lahmzu-
legen ( Lux 1894, 1974: 170). Es wurde die Zahl von 200 000 Ikaristen angegeben,
die wahrscheinlich stark übertrieben worden ist. Tatsache war jedoch, dass diese
Gruppe von vielen anderen Gruppierungen als gefährlich stark angesehen worden
ist. Cabets zunehmende Neigung zum autoritären Verhalten hat seine Kolonie ge-
sprengt, weil die Mehrheit ihm Despotismus vorwarf. Cabet versuchte noch die
Minderheitsmeinung durchzusetzen und diskriminierte die Mehrheit als „Aben-
teurer“. Bewunderer haben diesen Vorwürfen recht gegeben. Abenteurer began-
nen sich an eine erfolgreiche Bewegung anzuhängen und ihren Charakter zu ver-
ändern. Die Weiterentwicklung der Kooperativ-Genossenschaften wie „Ikaria
Speranza“, die zeitweilig eine Blütezeit erlebten, hatten ihren kommunistischen
Charakter längst mit dem einer kapitalistischen Aktiengesellschaft vertauscht –
mit dem Unterschied, dass Aktionäre zugleich Anteilseigner waren.

Quellen
Cabet: Voyage en Icarie. Paris, Bureau du Populaire, 1839, 1848, 5. Aufl. (zit.: VI).
Cabet: Œuvres. Paris, 1849, Nachdruck: Paris: Anthropos, 1970. Bd. 1:Voyage en
Icarie (zit:O).
Cabet: Die Reise nach Ikarien (Hrsg.: W. Hippler). Berlin, Kramer 1979. „Allons en
Icarie“. Deux ouvriers isérois aux États-Unis en 1856. Grenoble, Presses Univer-
sitaires de Grenoble, 2002.
54 Der Frühsozialismus

Literatur
P. Angrand: Étienne Cabet et la république de 1848. Paris, PUF, 1948.
K. von Beyme: Frühsozialisten und Sozialutopisten: Gemeinschaften der Produk-
tion und Konsumtion. In: Winfried Nerdinger (Hrsg.): L’architecture engagée.
München, Architekturmuseum, 2012: 64 – 87.
R. Blüher: Moderne Utopien. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus. Bonn,
Schroeder, 1920.
N. Brémand: Les socialismes et l’enfance. Expérimentation et utopie (1830 – 1870).
Rennes, Presses Universitaires de Rennes, 2008.
G. de Bruyn: Étienne Cabet: Reise nach Ikarien. In: Ders.: Die Diktatur der
Philantropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken.
Braunschweig, Vieweg, 1996: 88 – 102.
D. Desanti: Les socialistes de l’utopie. Paris, Payot, 1971.
J. Höppner/W. Seidel-Höppner: Étienne Cabet uns eine ikarische Kolonie.
G. H. Huntemann: Utopisches Menschenbild und utopisches Bewußtsein im
19. und 20. Jahrhundert. Geschichte der Utopien von E. Cabet bis G. Orwell als
Geschichte des utopischen Selbstverständnisses. Diss. Erlangen 1953.
Ch. H. Johnson: Utopian Communism in France: Cabet and the Icarians. Ithaca,
University of Cornell Press, 1974.
C. D. Kernig: Sozialismus. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Kommunistischen
Manifest. Stuttgart, Kohlhammer, 1979: 142 – 149 (mehr nicht erschienen).
H. Lux: Étienne Cabet und der Ikarische Kommunismus (1894). Berlin, Dietz, 1974.
W. Meiser (Hrsg.): Der französische Arbeiterkommunismus. Texte von Cabet u. a. in:
Geschichte der utopischen Sozialismus-Auffassungen. Leipzig, Lehrbrief 10, 1984.
H. Negert: Der Einfluß der Utopisten auf Karl Marx. Diss. Tübingen 1952.
J. Prudhommeaux: Icarie et son fondateur Étienne Cabet. Paris, Cornély, 1907, Nach-
druck: Philadelphia, Porcupine Press, 1972.
A. Shaw: Icaria, a Chapter in the History of Communism. New York, Putnam, 1884.

Louis Blanc (1811 – 1882)

Louis Blanc wurde in Madrid geboren. Sein Vater war dort Generalinspekteur der
Finanzen unter Joseph Bonaparte gewesen. Nach dem Sturz des Besatzungsre-
gimes kehrte die Familie nach Frankreich zurück. In Arras, wo er sich als Haus-
lehrer durchschlug, begann seine publizistische Laufbahn. Er gewann einen Ge-
dichtwettbewerb, den die Akademie von Arras ausgeschrieben hatte. Ab 1834 war
Blanc Journalist in Paris. Ab 1839 wandelte Blanc sich in der Kritik am Regime
der Julimonarchie zum Sozialisten. 1840 publizierte er das Buch „Organisation
du travail“, das ihn beim französischen Proletariat und international berühmt
Der Frühsozialismus in Frankreich 55

werden ließ. 1843 hat er mit Lamennais und Ledru-Rollin die Zeitschrift „La Ré-
forme“ herausgegeben. Die drei Männer sollten in der 48er Revolution eine pro-
minente Rolle spielen. Marx versuchte Blanc und andere für die Mitarbeit an den
„Deutsch-Französischen Jahrbüchern“ zu gewinnen. Das Unternehmen blieb eine
rein deutsche Angelegenheit. Die französische Linke nahm unter anderem An-
stoß an der antireligiösen Obsession der jungen deutschen Intellektuellen Marx
und Ruge.
In der Februarrevolution 1848 wurde Blanc Mitglied der Provisorischen Re-
gierung. In der mehrheitlich bürgerlich-republikanischen Regierung wurde er mit
einer Arbeitskommission betraut, die sich über Prinzipien verzettelte und die Ent-
scheidungen der Mehrheit überließ. Die Nationalwerkstätten enthielten schon im
Namen einen Anklang an Blancs Vorstellung von den „Sozialwerkstätten“. Das
System kam jedoch nicht über eine verkappte Arbeitslosenunterstützung hinaus.
Es wurde keine sinnvolle Arbeit initiiert. Das Wohlwollen revolutionärer Massen
hatte ihn nach oben gespült. Aber die Wankelmütigkeit der Masse, die er durch
hinhaltende Reden zu manipulieren suchte, wurde bald auch sein Schicksal. In
den Auseinandersetzungen um die Provisorische Regierung – Blanqui dagegen,
Cabet dafür – wurde Louis Blanc von den Linksextremisten bald als „Verräter“ be-
schimpft (Proudhon 1969: 56). Blanc war dem Vertrauensvorschuss nicht gewach-
sen. Als die Werkstätten wieder aufgelöst wurden, brach der Aufstand aus. Bei den
Arbeiterunruhen vom Mai und Juni 1848 wurde Blanc als Schuldiger angepran-
gert. Er floh – wie so viele der Akteure von 1848, wie Hugo oder Ledru-Rollin –
nach England, ehe die Strafe der Deportation an ihm vollstreckt werden konnte.
Das gemeinsame Schicksal hat die Linke nicht zusammen geschweißt. Wie später
bei der russischen Emigration nach 1917 kam es zu erbitterten Fraktionskämpfen.
Blanc blieb Sozialist, während viele der Radikalen Republikaner sich zu Sozialis-
tenhassern entwickelten. Barbès schrieb an George Sand: „Demokraten, Sozia-
listen, und sozialistische Demokraten sind mehr damit beschäftigt, einander zu
vernichten, als die Republik gegen den gemeinsamen Feind zu verteidigen“ (zit:
Loubère 1961: 147). Erst nach dem Sturz Napoleon III konnte Blanc nach Frank-
reich zurückkehren. Er wurde noch einmal Abgeordneter der gemäßigten Linken
und Gegner der Commune-Anhänger, ohne noch wirklichen Einfluss zugewin-
nen – das übliche Schicksal der „48er“ nicht nur in Frankreich. Er vollzog eine
Wende zum Reformsozialismus.
Louis Blanc war der einzige der Frühsozialisten, der Einfluss nicht nur auf eine
sektenartige Gefolgschaft hatte, sondern in der offiziellen Politik Frankreichs eine
Rolle spielte. Die historischen Werke, die er überwiegend im Exil schrieb, waren
keine Studien als Selbstzweck, sondern sollten sein politisch-soziales Kredo ablei-
ten. Eine materialistische Geschichtstheorie war darin nicht entwickelt worden.
Im Gegenteil: bei Blanc waren die Ideen die treibenden Kräfte der Geschichte.
56 Der Frühsozialismus

Das Buch „Organisation du travail“ (1840) machte ihn berühmt, obwohl


der theoretische Gehalt eklektisch war, eine Mischung aus Saint-Simon, Fourier
und Owen. Wie die Vorläufer klagte er die „Entmoralisierung der Wirtschaft“ und
eine zerfallende Gesellschaft an (OdT 1850: 230). Wie viele Frühsozialisten sollte
die Anarchie der sozialen Beziehungen nach Aufhebung der alten Zünfte und
Korporationen durch neue zeitgemäße Organisationsformen kompensiert wer-
den, denn der Individualismus war für ihn die „Aufgabe des Armen, Schwachen
und Unwissenden“. „Laissez faire“ war für ihn gleich „laissez mourir“ (SDT: 12).
Der Aufstand der Seidenweber von Lyon mit seinen Kampfparolen „Leben durch
Arbeit – oder Tod durch Kampf “ hatte sein Denken beeinflusst. In Lyon waren be-
reits Gesellschaften der gegenseitigen Hilfe entstanden, zum Modell seiner Ate-
liers wurden. Für die Landwirtschaft inspirierte sich Blanc an Fouriers „Associa-
tions agricoles“.
Louis Blanc kam wie alle Frühsozialisten von der Moralphilosophie und nicht
von der wissenschaftlichen Ökonomie her. Die „industrielle Reform“ war als „tiefe
moralische Revolution“ konzipiert (OdT: 82). Blancs Vision der Pauperisierung
der Arbeiter in den Städten stützte sich auf Befunde von Ärzten über den Gesund-
heitszustand und auf die Kriminalstatistik (OdT: 4). Blancs Krisentheorie mün-
dete in eine Vorform der „Zusammenbruchstheorie“ ein. Nur in diesem Punkt
wurde Blanc in der Literatur seit Sombart (1924 II: 389, Pechan 1929: 111) eine ei-
genständige theoretische Leistung zugebilligt.
Gegen die Konzentration der Wirtschaft stellte er seine „sozialen Ateliers“.
Arbeiterassoziationen sollten durch eine staatlich dirigierte Kreditbehörde, ihre
Werkstätten zu finanzieren. Das Recht auf Arbeit und das Recht auf Unterneh-
mertum schienen so harmonisch miteinander verbunden. Mit diesem neuen „ge-
meinwirtschaftlichen Sektor“ hoffte er den verbliebenen kapitalistischen Sektor
neutralisieren zu können, weil dessen Absatzchancen schwänden. Krisen wür-
den die Ateliers nicht beeinträchtigen können wie die Einzelkapitalisten, da ein
Kreditnetz aufgespannt wurde. Das System ist mit dem jugoslawischen Selbstver-
waltungsmodell verglichen worden (Kernig 1979: 160). Der Staat sollte durch Re-
formen zum Anwalt der Armen werden, aber der Staat war nicht Saint-Simons
Unternehmerstaat. Er sollte nur Hilfe zur Selbsthilfe der Arbeiterassoziationen be-
reitstellen. Zugleich war dem Staat die Rolle der Organisation von Erziehung für
die Arbeiter zugedacht (Cat: 7). Blanc verzichtete auch auf detaillierte Vorschrif-
ten für die innere Organisationen der Kollektive, wie sie Fourier erlassen hatte.
Sein Modell schien sozialverträglich, weil er einen Sozialismus erdachte, der die
Menschen durch möglichst wenig grundlegende Änderungen für eine neue Ge-
sellschaft geneigt machen sollte. Der Übergang vom Konkurrenzsystem zum Sys-
tem der Assoziationen war friedlich gedacht. Selbst die Kapitalisten würden sich
auf die Dauer den „ateliers“ anschließen, hoffte Blanc.
Der Frühsozialismus in Frankreich 57

Louis Blancs Bedeutung für die Geschichte des Sozialismus lag in der Ein-
sicht, dass der Kapitalismus kein unabänderliches Schicksal sein müsse und dass
für eine Übergangsperiode zum Sozialismus konkrete organisatorische Schritte
unternommen werden müssen. Mit diesen reformistischen Ideen sicherte er sich
den Hass der Marxisten – Marx hat Blanc seit dessen Verweigerung der Mitar-
beit von 1843 nie leiden können – und das Interesse späterer Sozialdemokraten
an einem „Vorläufer“. Lassalle hat sich früh für die Theorie von Louis Blanc in-
teressiert (Keller 1926: 221 f). Es gab vor allem zwei Übereinstimmungen der bei-
den Vordenker eines demokratischen Sozialismus: eine wichtige Rolle des Staates
bei der sozialen Veränderung durch umfassende Sozialpolitik und die Vorliebe für
die Idee von Produktivgenossenschaften der Arbeiter.

Quellen
Blanc: Socialisme, Droit au Travail: Réponse à Monsieur Thiers. Paris..1848, 2. Aufl
(zit: SDT).
Blanc: Catéchisme des socialistes. Paris, Bureau du Nouveau monde, 1849 (zit: Cat).
Blanc: Discours politiques. 1847 – 1881. Paris, Germer-Baillière, 1882.
Blanc: Lettres sur l’angleterre. Paris, Librairie internationale, 1865 – 1867, 4 Bde.
Blanc: Pages d’histoire de la Révolution de février 1848. Paris. Bureau du Nouveau
monde, 1850.
Blanc: Organisation du travail. Paris 1840, Brüssel, Société Belge de Librairie 1845,
Bureau du Nouveau monde, 1850, 9. Aufl. (zit: OdT).
Blanc: Organisation der Arbeit. Berlin, Prager, 1899.
Blanc: République une et indivisible. Paris, Naud, 1851.
Blanc: Le parti qu’on appelle radical, sa doctrine, sa conduite. Paris, Leroux, 1872.
P. J. Proudhon: Bekenntnisse eines Revolutionärs. Reinbek, Rowohlt, 1969. Kap. VIII:
Reaktion von Louis Blanc: 50 ff.

Literatur
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München, Beck, 1991: 110 – 120.
P. Keller: Louis Blanc und die Revolution von 1848. Zürich, Girsberger, 1926.
L. A. Loubère: Louis Blanc. His Life and His Contribution to the Rise of French
Jacobin-Socialism. Evanston, Northwestern University Press, 1961.
H. Pechan: Louis Blanc als Wegbereiter des modernen Sozialismus. Jena, G. Fischer,
1929.
E. Renard: Louis Blanc. Sa vie, son œuvre. Toulouse, Imprimerie régionale, 1922,
Paris, Hachette, 1928.
J. Tschernoff: Louis Blanc. Paris,Société Nouvelle de Librairie, 1904.
J. Vidalenc: Louis Blanc. Paris, Presses Universitaires de France, 1948.
58 Der Frühsozialismus

Louis-Auguste Blanqui (1805 – 1881)

Blanqui war der Sohn eines Unterpräfekten des napoleonischen Regimes, der einst
auch Abgeordneter der Gironde gewesen war. Durch und durch bürgerlich aufge-
wachsen, verzichtete er dennoch auf eine mögliche gute Karriere und wandte sich
einem noch unbekannten Beruf zu: „Revolutionär“. Bakunin, Tkačëv und andere
haben diese Berufsbezeichnung später in Ehren gehalten. Viermal hatte er Gele-
genheit, diesen Beruf an prominenter Stelle auszuüben: 1830, 1839, 1848, 1871 – die
dilettantische Studentenrebellion von 1827 nicht mit gerechnet. Die meiste Zeit
verbrachte er im Gefängnis. Als er 1878 vom Gefängnis aus zum Abgeordneten
von Bordeaux gewählt wurde, reimte eine Zeitschrift: „73 ans d’âge, 40 ans de cage“
(zit.: Bergmann 1986). Zweimal wurde Blanqui zum Tod verurteilt. Wenn er nicht
im Gefängnis saß, musste er von Freunden und Verwandten unterstützt werden.
Nur sieben glückliche Ehejahre konnten als „normales Leben“ gelten. Blanqui
wurde der Schrecken aller Revolutionsfeinde, nicht zuletzt in den Erinnerungen
Tocquevilles (Souvenirs. Oeuvres Bd. XII. Paris, Gallimard, 1964: 139, 157). Marx
(MEW Bd. 7: 89) unterstellte der Bourgeoisie für das Prinzip der „Revolution in
Permanenz“ einen Namen erfunden zu haben: „Blanqui“. Andererseits war er als
begabter Redner ein Liebling des einfachen Volkes. Anlässlich seiner Beerdigung
kamen 200 000 Menschen zum Friedhof Père-Lachaise.
Das erste Mal im Gefängnis wurde die Lektüre von Buonarrotis Bericht über
Babeufs Verschwörung der Gleichen zur „Bibel des Aufstandes“ (Kernig 1979:
153). Nach der Freilassung hat er die „Gesellschaft der Jahreszeiten“ autoritär
nach einem konspirativen Basis-Gruppen-Modell mit gegründet. Laut der Statu-
ten wurde Geheimnisverrat mit dem Tod gestraft. Wohin diese Praktiken führten,
ließ sich später an Nečaev in Russland studieren. Dieser hat solche Selbstjustiz
gegen einen angeblichen Verräter in die Tat umgesetzt – nicht ohne Einfluss der
Lehren Blanquis, die über Tkačëv – zeitweiliger Mitarbeiter von Blanquis Organ
„Ni dieu, ni maître“ – unter russischen Revolutionären nicht unbekannt waren
(vgl. Kap. III. 4). 1839 stand Blanqui auf dilettantisch aufgebauten Barrikaden, die
später in den „Instruktionen für den Aufstand“ zum Gegenstand der Ermahnun-
gen eines Altrevolutionärs wurden. Eine Bürgerwehr bereitete dem Aufstand, der
hoffnungsvoll begonnen hatte, ein blutiges Ende. Im Gefängnis erkrankte Blanqui.
Die Zeiten hatten sich im Vergleich zu Babeuf humanisiert. Man bot Blanqui die
Entlassung an, die er jedoch verweigerte. In der 1848er Revolution zögerte er mit
dem Appell zum Losschlagen, um nicht in die alten Fehler von 1839 zu verfallen.
Das wurde ihm von revolutionären Heißspornen so ausgelegt, als ob er sich zum
Polizeispitzel gemausert habe. Bakunin hatte in der Auseinandersetzung mit Marx
mit ähnlichen Vorwürfen zu kämpfen. Wenig verstanden wurde in der Linken
auch sein Veto gegen die Ausschreibung von allgemeinen Wahlen, für die auch
Der Frühsozialismus in Frankreich 59

Kommunisten lange gekämpft hatten (TC: 112). Er hat diesen Schritt später theo-
retisch mit der Unreife des Volkes begründet. Seine Ahnung, dass das allgemeine
Wahlrecht à la longue zur Restauration führen könnte, sollte sich 1851 nicht als un-
begründet erweisen. Nach den Wahlen vom April 1848, die seinen Befürchtungen
Recht geben sollten, versuchte er im Mai noch einmal die Mobilisierung mit Ge-
walt. Die Revolutionäre erklärten das Parlament für aufgelöst – bis die National-
garde eingriff und die Massen sich verdrückten. Es folgten wieder zweimal viele
Jahre im Gefängnis, bis ihm die Flucht aus einem Militärhospital gelang. In Jahren
des Exils in Brüssel entstanden die „Instruktionen für den Aufstand“, in denen die
Summe aus den negativen Erfahrungen der Revolution gezogen wurde.
Blanqui orientierte sich am Hébertismus der französischen Revolution, in
dem er ein positives Gegenbild gegen die Autokratie der Jakobiner und des Wohl-
fahrtsausschusses sah. Robespierre war für Blanqui kein Vorbild – sondern ein
„verfrühter Napoleon“. Bis 1848 fanden sich relativ wenige Hinweise auf die Fran-
zösische Revolution in seinen Schriften. Aber auch danach trat er immer gegen
die „Romantiker der französischen Revolution“ auf, die über der rückwärtsge-
wandten Verklärung vergangener Heldentaten die gegenwärtigen politischen
Aufgaben vernachlässigten (Deppe 1970: 267 f). Umstritten war lange, ob Blanqui
überhaupt ein Theoretiker war. Erst nach seinem Tod erschien sein Hauptwerk
„Critique sociale“ – eine Reihe von Artikeln zu politischen und sozialen Fragen
(1885). Bis dahin galt er in der internationalen Arbeiterbewegung nur als „Mann
der Tat“. Engels (MEW Bd. 18: 529) hat dem Vorurteil der organisierten und diszi-
plinierten Arbeiterbewegung gegen den „theorielosen Revoluzzer“ im „Volksstaat“
1874 scharfen Ausdruck verliehen: „Blanqui ist wesentlich politischer Revolutio-
när, Sozialist nur dem Gefühl nach, mit den Leiden des Volks sympathisierend,
aber hat weder eine sozialistische Theorie noch bestimmte praktische Vorschläge
für soziale Abhülfe. In seiner politischen Tätigkeit war er wesentlich ‚Mann der
Tat‘, des Glaubens, dass eine kleine wohlorganisierte Minderzahl, die im richtigen
Moment einen revolutionären Handstreich versucht, durch ein paar erste Erfolge
die Volksmasse mit sich fortreißen und so eine siegreiche Revolution machen
kann“. Engels sah zwei Mängel an Blanquis Konzeptionen: einmal die revolutio-
näre Ungeduld, die entweder zur raschen Unterdrückung durch die Reaktion füh-
ren musste, oder die Massen ermüdete, sodass sie vorzeitig desertierten. Zum an-
deren bemängelte er bei diesem Verfahren „die Notwendigkeit der Diktatur nach
dem Gelingen“. Er beeilte sich durchblicken zu lassen, dass er ja nicht gegen Dik-
tatur sei, aber Blanquis Form zielte auf: „Diktatur, wohlverstanden, nicht der gan-
zen revolutionären Klasse, des Proletariats, sondern der kleinen Zahl derer, die
den Handstreich gemacht haben“. Dieses Verdikt enthielt bereits alle Bedenken,
die in der Zweiten Internationale später gegen Lenins Revolutionsstrategie vorge-
bracht wurde. Engels’ Fazit lautete: Blanqui ist ein Revolutionär der vorigen Gene-
60 Der Frühsozialismus

ration, dessen Rezepte zur Julimonarchie passten – nicht aber zur fortentwickelten
Industriegesellschaft. Engels brachte Blanqui mit den Bakuninisten in Verbindung,
obwohl es da durchaus theoretische Differenzen gab. Mit Bakunin schien Blanqui
seine militante Anti-Religiosität gemein zu haben, die sich in dem Wahlspruch
niederschlug: „ni dieu – ni maître“ – eine Parole, die 1968 an den Wänden der
Sorbonne wieder auftauchte. Dieser Kampf gegen die Windmühlenflügel der Kir-
che schien Engels so antiquiert wie die Barrikadenromantik Blanquis: „Atheist zu
sein, ist heutzutage glücklicherweise keine Kunst mehr“ (MEW, Bd. 18: 531). Aber
er sah die Reife der Arbeiterklasse darin, dass sie vom Atheismus kein unnötiges
Aufhebens machte.
Hinter der scharfen Ablehnung Blanquis durch Engels standen auch Quere-
len zwischen den nationalen Verbänden der Internationale. Blanqui wurde vor-
geworfen, sich an keine Kooperation mit der Internationale zu halten und zu-
gleich wichtige Punkte des Programms deutscher Kommunisten zu kopieren – bei
gleichzeitigem Anspruch, dass „die Franzosen ..das auserwählte Volk der Revolu-
tion“ und „Paris ..das revolutionäre Jerusalem“ seien (MEW Bd. 18: 534).
Engels tat Blanqui soweit Unrecht, als er das theoretische Hauptwerk „Cri-
tique sociale“ noch nicht kannte. Die theoretische Herkunft Blanquis aus dem Ba-
bouvismus ließ sich in der ökokommunistisch klingenden Kapitalismuskritik fest-
stellen. Blanqui beklagte, dass der Kapitalismus nicht nur die Menschen ruiniere,
sondern auch die Tiere, die Pflanzen und die Mineralien. Die Wälder werden ab-
geholzt, aber niemand pflanzt neue (TC: 141). Er kritisierte den „Vampirismus“ des
Systems und die Herrschaft des Geld-Kapitals (capital-monnaie), das die Produk-
tion sich nicht entwickeln lasse. Das Finanzkapital stellte in den Augen Blanquis
nicht „akkumulierte Arbeit“, sondern „bestohlene Arbeit“ dar, weil dem Arbeiter
der gerechte Lohn vorenthalten werde (IA: 116). Gegen diesen Übelstand waren
nach Blanqui Streiks nicht mehr ausreichend, weil die Konzentration des Kapitals
sie ausmanövrieren konnte. Das schlimmste Hindernis für die Revolution sah er
in der Unwissenheit des Volkes: Sakristei, Börse und Kaserne waren die Erzfeinde.
Religion aber ist wie Opium identisch in der Wirkung des Gifts. Blanquis Kom-
munismus sollte in erster Linie Volkserziehung sein (TC: 156 f, IA: 136). Der Kon-
servatismus – so argumentierte Blanqui – ahne die Macht der Aufklärung und
vermehre daher Unterdrückung und Ignoranz.
Besondere Rhetorik wurde von Blanqui (TC: 161, IA: 141) auf die Forderung
nach Offenbarung seiner Vorstellungen über eine sozialistische Gesellschaft ver-
wandt. Die kapitalistische Lehre wolle gleichsam den Offenbarungseid über die
„Einzelheiten der zukünftigen Organisation“ und wolle „für ihre Neugier“, dass
man ein Gebäude errichte, „das fertig vom Keller bis zum Boden dastünde, ohne
auch nur einen Nagel oder Pflock vermissen zu lassen“. Auf alle diese Frage re-
agierte er schroff: „Auf diese ungezogenen Fragen gibt es nur eine Antwort: ‚Das
Der Frühsozialismus in Frankreich 61

geht euch gar nichts an und mich auch nicht‘ !“. Ihm reichte die Gewissheit, dass
40 – 50 Millionen Menschen gegen die bewaffnete Gewalt bereit stünden. Der Re-
volutionär sollte sich nach Blanqui mit der Gegenwart befassen und Organisa-
tionsarbeit vorbereiten. Utopien des Kommunismus waren nicht gefragt. Er sah
den Kommunismus nicht als eine Utopie an. Blanqui hat sich daher von den uto-
pischen Frühsozialisten – zu denen er vielfach gerechnet worden ist – distanziert.
Saint-Simonisten und Fourieristen hätten die Zukunft ausgemalt, aber der Gegen-
wart der Religion den Krieg erklärt. Das Gegenteil von Utopie nannte er „Politik“.
Politik schloss die Forderung ein, aus den Fehlern vergangener Revolutionen
zu lernen (TC: 164 ff, IA: 143 ff). 1848 hätten sich die Kapitalisten ans Fenster ge-
lehnt und in Ruhe auf das in der Gosse watende Volk herabgesehen – und ab-
gewartet, bis das Volk seine Ketten wieder annehme. Daher mussten Maßnah-
men ergriffen werden, dass dies in der nächsten Revolution nicht erneut passieren
könne. Als Sofortmaßnahmen empfahl Blanqui am Tage X alle Industriellen und
Händler – unter Androhung der Strafe der Verbannung – darauf zu verpflichten,
Beschäftigungsstand und Lohnhöhe auf dem Status quo zu halten. Notfalls soll-
ten Ersatzvornahmen getätigt werden, falls einige „chefs“ sich weigerten. Kom-
petente Versammlungen sollten ferner die Fragen der Zöller, der Bergwerke, der
großen Industrieunternehmen und des Kreditwesens regulieren. Eine Versamm-
lung sollte sich mit der Grundsteinlegung für Arbeiter-Assoziationen befassen.
Politische Maßnahmen waren die Abschaffung der Armee und der Magistra-
tur. Höhere und mittlere Beamte waren zu suspendieren – nur kleine Angestellte
durften provisorisch im Amt bleiben. Die Kirchengüter waren den Staatsdomänen
zuzuschlagen. Das Verwaltungspersonal musste von Grund auf erneuert werden.
Die Gerichtsbarkeit sollte möglichst auf Schiedsgerichtsbarkeit umgestellt werden.
Krönung war die Devise aller Diktatoren: „Keine Freiheit für den Feind“ (TC: 165,
IA: 144). Die kommende Revolution werde nicht den Fehler von 1848 wiederho-
len und die allgemeinen Wahlen zu früh ansetzen. Lenin hat mit der Verjagung
der Konstituante sich an diese Devise im November 1917 gehalten. Kommunis-
mus war für Blanqui organisatorisch ein System von Arbeiter-Assoziationen. Wie
schnell konnte der Kommunismus in Frankreich realisiert werden ? Blanqui gab
keine klare Antwort und wich in die Randbedingungen aus: erst müsse die Unwis-
senheit durch Erziehung überwunden werden. Das erste Gesetz sei die Gleichheit.
Freiheit und Brüderlichkeit würden in der Revolution zu natürlichen Genossen
der Gleichheit. Widersprüche zwischen Freiheit und Gleichheit bei der Proklama-
tion der Diktatur sah er offenbar nicht.
In seinen „Instruktionen für den Aufstand“ (1868/69) hat Blanqui (1972 und
IA: 168) für die Organisation der Revolution seine Anweisungen gegeben: kein
hektisches Herumrennen mehr, und kein Geschrei. Keine Barrikaden wie 1830 –
wirr und ungeordnet. Wo andere Frühsozialisten wie Fourier und Cabet liebend
62 Der Frühsozialismus

die kommunistische Stadt der Zukunft skizzierten, hat Blanqui sich auf Zeichnun-
gen einer richtig angelegten Barrikade beschränkt. Auch Lenin, der später unter
dem Vorwurf des Blanquismus stand, hat diese Seite der Aufstandstheorie eher
für nutzlose Spielerei gehalten und sich auf die politische Seite der Aufstands-
lehre beschränkt. Sehr viel abgestimmter waren daher im Leninismus Strategie
und Taktik einerseits – und die wissenschaftliche Lehre des Kommunismus ande-
rerseits. Lenin (LW Bd. 24: 31) erklärte einmal, dass der Weg in die Sowjetdikta-
tur nicht durch „den Sumpf des Blanquismus“ führe. Selbst Bakunin hat sich gele-
gentlich von Blanqui distanziert und Proudhon wäre selbst gegen mildere Formen
der Revolution als Blanqui sie vertrat, ablehnend gewesen. Nur einmal nach dem
gescheiterten Juni-Aufstand 1848 hat Proudhon (Carnets 1974, IV: 239) geäußert,
dass man Blanqui gegen die Laschen und Unfähigen unterstützen müsse und
selbst für das Abenteuer von 1839 hatte Proudhon (1969: 31) ein mildes Verständ-
nis, die nach Bewunderung für eine eiserne Konsequenz klang, die das Haupt des
Anarcho-Föderalismus selbst nicht aufbringen konnte.

Quellen
Blanqui: Œuvres complètes. Bd. 1: Écrits sur la révolution. (Hrsg.: A. Münster). Paris,
Éditions Galilée, 1977.
Blanqui: Textes choisis. Paris, Éditions sociales, 1955 (zit: TC).
Blanqui: Critique sociale. Paris, Alcan, 1885, 2 Bde.
Blanqui: Kritik der Gesellschaft. Leipzig, Wigand, 1886.
Blanqui: Schriften zur Revolution, Nationalökonomie und Sozialkritik (Hrsg.:
A. Münster). Reinbek, Rowohlt, 1971.
Blanqui: Instruction pour une prise d’armes. Paris, 1972.
Blanqui: Instruktionen für den Aufstand. Aufsätze, Reden, Aufrufe (Hrsg.: F. Deppe).
Frankfurt, EVA, 1968 (zit: IA).
P. J. Proudhon: Bekenntnisse eines Revolutionärs. Reinbek, Rowohlt, 1969.

Literatur
K. H. Bergmann: Blanqui. Ein Rebell im 19. Jahrhundert. Frankfurt, Campus, 1986.
S. Bernstein: A. Blanqui and the Art of Insurrection. London, Lawrence & Wishart,
1971.
F. Deppe: Verschwörung, Aufstand und Revolution. Blanqui und das Problem der
sozialen Revolution. Frankfurt, EVA, 1970.
M. Dommanget: Les idées politiques et sociales d’Auguste Blanqui. Paris, Rivière,
1957.
M. Dommanget: Auguste Blanqui et la révolution de 1848. Paris, Mouton, 1972.
A. Spitzer: The Revolutionary Theories of Louis-Auguste Blanqui. New York,
Columbia University Press, 1957.
Der Frühsozialismus in Großbritannien 63

2 Der Frühsozialismus in Großbritannien:


Robert Owen (1771 – 1858)

Robert Owen hat sich aus bescheidenen ländlichen Verhältnissen als Sohn eines
Sattlers zum Großindustriellen der Baumwollindustrie empor gearbeitet. Seine
Fabrik Lanark wurde zu einem Musterbetrieb, den selbst Fürsten und Politiker
besuchten. 1825 verkaufte er seine Anteile und ging nach Amerika. Dort hat er
sein Geld in ein genossenschaftliches Siedlungsprojekt „New Harmony“ inves-
tiert, das nach einigen Jahren scheiterte. Wie Fourier nach ihm, musste er die Er-
fahrung machen, dass die an den Arbeitskolonien Interessierten keine Owenisten
waren, sondern ein zusammengewürfelter Haufen, der von Sektierern bis zu De-
sperados reichte.
Owen war in erster Linie Praktiker. Die Theorie entwickelte sich aus seinen
Experimenten. Amerika hat seine Ansichten nicht unbeeinflusst gelassen. Hatte
er sich in der Frühphase auf Arbeitsorganisation und Erziehung konzentriert,
so erforderte die Behauptung in Amerika eine breitere gesellschaftliche Vista.
Owen wurde radikaler. Die Familie schien ihm nun ein Hindernis für die Ent-
wicklung der Gemeinschaft. In einer Adresse an die Einwohner von New Lanark
hatte Owen 1816 seine ersten Erfolge mit neuen Prinzipien aufgezeigt. Der Erfolg
übertraf seine Erwartungen: Rationalisierung hatte die Produktivität erhöht, die
Arbeiter waren motiviert worden, sodass die früher üblichen Diebstähle aufhör-
ten. Bestrafungen waren nicht mehr nötig (NV: 95 f). Die Erziehung der Kinder
wurde umgestellt. Bücher spielten keine Rolle, die Erziehung war auf die direkte
Anschauung des Lebens aufgebaut. Owens Theorie der Erziehung war besonders
auf die Vorschul-Erziehung ausgerichtet. Der Kampf gegen den Alkoholismus
brachte erste Erfolge. Das Experiment brachte Owen in Konflikt mit anderen Teil-
habern, die versuchten, ihn aus dem Betrieb auszubooten. Owen verhinderte dies
durch Einwerbung neuer Shareholder, die seinen Plänen wohlgesonnen waren,
wie Jeremy Bentham (Life: 6). 1820 verfasste Owen einen Bericht an die County of
Lanark über seinen Plan, das öffentliche Elend und die Unzufriedenheit zu besei-
tigen. Der Ton war bereits skeptischer als in den frühen Schriften. Er sah es nun
als nötig an, den Konsum zu heben, um ihn mit der Produktion Schritt halten zu
lassen. Dafür wurde vorgeschlagen, dass der Pflug durch die Arbeit mit dem Spa-
ten vertauscht werden sollte (NV: 253). Die Spatenwirtschaft schien damals drei
Vorteile zu besitzen: einmal schaffte sie Arbeitsplätze, zum zweiten sollte durch
tieferes Graben der Ernteertrag gesteigert werden (was nur für kurze Zeit eine
korrekte Rechnung war) und zum dritten konnte man so verhindern, dass es zur
Überproduktion von Nahrungsmitteln kam.
1824 ging Owen nach Amerika und kaufte New Harmony, das einer deutschen
Sekte gehört hatte. Als er nach den ersten Misserfolgen 1829 nach England zu-
64 Der Frühsozialismus

rückkehrte, fanden seine Ideen für die Kooperativgenossenschaften Echo bei den
inzwischen erstarkten Gewerkschaften. Sie hatten durch Aufhebung der Combi-
nations Acts einen organisatorischen Aufschwung genommen. 1834 wurde eine
„Grand National Union“ mit Owen als Präsident geschaffen, aber auch dieses Ex-
periment war nicht von dauerhaftem Erfolg gekrönt.

Die Theorie der neuen Gesellschaft und die Rolle der Staatsintervention

Owens Prinzipien wurden schließlich in seinem Hauptwerk von vier Essays in


„A  New View of Society“ niedergelegt. Im März 1817 hat er im „Report to the
Committee for the Relief of the Manufacturing Poor“ die Details einer Siedlungs-
genossenschaft von 1200 Menschen auf 1000 – 1500 acres skizziert, die sich bis in
das städtebauliche Arrangement vertieften. Zentrale Gebäude sollten von der Ge-
meinschaftsküche bis zu den Schulen alle wichtigen Funktionen umfassen (NV:
161). Owens Genossenschaftsidee war landwirtschaftlich orientiert. Seltsamer
Weise kam er nicht auf Industrieanlagen wie in New Lanark zurück. Dennoch
blieb Owen gegenüber der Technik aufgeschlossener als die meisten französischen
Frühsozialisten. Eine gesamtgesellschaftliche Utopie nahm im Denken Owens
Formen an. Rationale Siedlungen nach dem Rastersystem sollten das Gewirr der
verslumten Städte ersetzen. Owen wurde damit zum Vorläufer der später in Eng-
land geborenen Idee der Gartenstadt von Ebenezer Howard (Gartenstädte von
morgen, 1898, Neudruck: Berlin 1968). Obwohl Owen der Idee der Konsumgenos-
senschaften anfangs mit Skepsis begegnete, hat er die Bewegung, die ihren Sitz in
Manchester hatte, zeitweilig unterstützt.
Der Einfluss des Utilitarismus von Bentham war auch im Denken Owens stark.
Aber seine Konzeption war durch Mischung mit Godwins Ideen sozialethisch
konzipiert und verharrte nicht im bloß individuellen Nutzenkalkül. Der Altruis-
mus wurde dem Egoismus entgegengesetzt – wie später bei Kropotkin und ande-
ren Anarchisten (Kap. III. 4). Owen übernahm die Idee, dass der Wille des Men-
schen unfrei sei, weil er durch die depravierte Gesellschaft zum Produkt seiner
Umwelt geworden ist. Aus dieser Zwangslage sollte ihn die vorausschauende Po-
litik aufgeklärter Eliten befreien. Es war nicht an die Selbstbefreiung der arbei-
tenden Bevölkerung durch revolutionäre Aktionen gedacht. Der vierte Essay des
„New View of Society“ begann mit dem Satz: „The end of government is to make
the governed and the governors happy“ (NV: 63). Die britische Verfassung war
nach seiner Ansicht „bewundernswert adaptiert“ für die Aufgaben der Sozialre-
form. Die nationale Reform sollte ein Disengagement von der nationalen Kirche
sein, die man sich selbst überlassen müsse. Owen, der in seinen Ansichten sonst
nicht radikal war, und auch das Establishment durchaus für seine Ideen begeis-
tern konnte, und in der Vertretung seiner Ideen grandseigneural und verbind-
Der Frühsozialismus in Großbritannien 65

lich wirkte, hat vor allem durch seine Gegnerschaft gegen die Kirche seine Feinde
herausgefordert. Dabei hat er Eingriffe in die Bereiche der Kirchen durchaus ab-
gelehnt und ihr nicht jedes Verdienst abgesprochen: „let the Church in other re-
spects remain as it is; because under the old established forms it may effect the
most valuable purposes“ (NV: 67). Owen wollte der Kirche lediglich ihren domi-
nierenden Einfluss auf die Erziehung streitig machen.
Ein weiterer Schritt der nationalen Reform sollte die Abschaffung aller Ge-
setze sein, die Ignoranz, Spielsucht, Trunksucht, Müßiggang, Krankheit und Ver-
brechen begünstigten. Die Lizenzen der Schnapsbrenner waren ihm ein besonde-
rer Dorn im Auge (NV: 67). Mit Sir Robert Peel kämpfte Owen für eine humane
Fabrikgesetzgebung. 1818 intervenierte er beim Premierminister Liverpool gegen
das größte Skandalon des Frühkapitalismus, die Kinderarbeit. Kinder hatte er ge-
sehen, die lebenden Skeletten glichen und die noch vor der Schule bereits alle
schlechten Gewohnheiten angenommen hatten, die auch die beste Erziehung ih-
nen nicht leicht wieder abgewöhnen konnte (NV: 130 ff). Seine Kollegen in den
Wirtschaftsunternehmungen unterstützten aber nur die ihnen genehmen Punkte
von Owens Initiativen, wie sein Eintreten für Subventionen der Baumwollin-
dustrie durch Abschaffung von Zöllen. 1819 kam es zu einer Gesetzesinitiative, die
aber hinter seinen Hoffnungen zurückblieb. Die Arbeitszeit wurde für Jugendliche
unter sechzehn Jahren auf zwölf Stunden begrenzt. Nur Kinder unter neun Jah-
ren durften nicht mehr beschäftigt werden. Die Gegenlobby argumentierte, dass
die Kinderarbeit wenigstens die Aufsicht ihrer Eltern in den Fabriken garantiere.
Sie freizusetzen hieße sie zum Umherstreunen anzuhalten. Die bloße Idee einer
Staatsintervention erschien den Fabrikanten bereits als eine gefährliche revolutio-
näre Neuerung. Owen setzte sich rastlos mit den Gegenargumenten vor einer Un-
tersuchungskommission auseinander. Ein pragmatisch-wissenschaftlicher Ansatz
prägte sein Denken. Owen forderte statistische Erhebungen über die Lage der Ar-
beiter, die Preise, die Löhne und die Beschäftigten. Der Einsatz des Faktors Arbeit
sollte von der liberalen Verschwendung von Ressourcen befreit werden. Arbeits-
beschaffungsprogramme vom Straßen- bis zum Hafenbau wurden angeregt. Ähn-
lich wie Fourier sah Owen „Armenhöfe“ vor (NV: 156 ff). 1817 hat er das Modell
auf alle Schichten der Gesellschaft ausgedehnt.
Neben der Staatsintervention forderte er gegen den Laisser-faire-Liberalismus
des Manchestertums eine Kooperation aller Wirtschaftseinheiten. Arbeitsbörsen
sollten das Übel der Arbeitslosigkeit angehen. Owen war kein kommunistischer
Gleichmacher, aber er verlangte von den Unternehmern Respekt vor der Exis-
tenz der Arbeiter und einen gerechten Leistungslohn. Sein Ansatz blieb typisch
britisch: Vernunft und Gewissen sollten in einem fortschrittsgläubigen Klima der
Gesellschaft regieren. Owen ging von der Forderung nach einer neuen Moral aus.
Die Gegebenheiten der Arbeitsteilung, der Industrialisierung und der Geldwirt-
66 Der Frühsozialismus

schaft hat er nicht in Frage gestellt. Bahnbrechend war Owens Idee eines Arbeits-
geldes, das die Unternehmerprofite und die Zwischenhandelsgewinne ausschal-
ten sollte. Er hoffte damit die Preise auf das Niveau der Gestehungskosten bei
den Produzenten zu senken. Nur in der Vorstellung über die Landbestellung mit
dem Spaten kam ein rückwärtsgewandtes Element in seine Theorie. Owen war
Reformer und nicht Revolutionär. Er appellierte an die Einsicht der Reichen und
Mächtigen. 1819 hat für das Parlament kandidiert (Life: 230 ff). Owen bot sogar
der Tory-Regierung die Zusammenarbeit an, und setzte große Hoffnungen auf ein
Parlament, das noch nicht die Reform von 1832 durchlaufen hatte.

Die Ökonomie und die Bildung der Kooperativ-Gemeinschaften

Owens ökonomische Theorie wurde in der Auseinandersetzung mit Malthus gebo-


ren. Dieser hatte die Pauperisierung in der Überbevölkerung gesehen und wollte
mit dem Appell zur sexuellen Enthaltsamkeit dagegen vorgehen. Owen (NV: 86)
hingegen sah das Elend durch die falsche Organisation der Arbeit bedingt. Nah-
rungsmittel schien es für ihn genug zu geben: Das Meer war eine unerschöpfliche
Nahrungsquelle für alle. Arbeitsbeschaffungsprogramme und subventionierte
Arbeitsplätze beim Ausbau der Infrastruktur konnten den wirtschaftlichen Auf-
schwung nach seiner Ansicht unabhängig von der demographischen Kurve wer-
den lassen. Schon zu seiner Zeit produzierte der Landarbeiter das Fünffache der
Lebensmittel für den Eigenbedarf im Vergleich zu früher. Wie Fourier glaubte er,
den Ertrag durch eine gemeinschaftliche Organisation der Arbeit noch steigern
zu können.
Owen verlangte die Reinvestition der Profite, um dem Klassenkampf vorzu-
beugen. In einer „Adresse an die arbeitenden Klassen“ von 1819 hat Owen ver-
sucht, die Arbeiter zur Besonnenheit aufzurufen: „Die privilegierten Klassen“
wollten nach seiner Ansicht die arbeitenden Klassen nicht niederhalten. Sie be-
durften aber des Anreizes, um ihre Bereitschaft zur Linderung der Armut zu för-
dern. Gegen Klassenkampftheorien behauptete Owen unverdrossen, dass arm
und reich, Regierte und Regierende eigentlich („really“) nur ein gemeinsames In-
teresse hätten. Diese Einsicht könne sich aber nur durchsetzen, wenn die Bereit-
schaft zur Gewalt aufhöre (NV: 153 f). Wie Fourier schloss Owen den Weg der re-
volutionären Selbsthilfe der Arbeiter aus.
1817 bereiste Robert Owen den Kontinent. Er traf eine Reihe berühmter Wis-
senschaftler und Politiker wie Humboldt, Sismondi, Pestalozzi. Selbst Friedrich
Gentz, den Publizisten des Metternich-Systems, versuchte er von seinen Ideen zu
überzeugen. Dieser soll geantwortet haben: „Wir wissen dies alles sehr gut, aber
wir wollen nicht, dass die Massen wohlhabend und von uns abhängig werden. Wie
können wir sie dann beherrschen ?“ (Life: 168 ff).
Der Frühsozialismus in Großbritannien 67

Owens Realismus führte sogar zu Abstrichen von seinem Grundsatz der


Gleichheit. Die Armenkolonien waren zunächst getrennt von den Kommunen der
übrigen Bevölkerung konzipiert. 25 Jahre Experimentierzeit wurden veranschlagt
bis zu dem Zeitpunkt, wo gleiche Bedingungen für die Kooperative aller Men-
schen möglich würden. Die Armen bedurften nach Owens Plan noch der Arbeit
unter Aufsicht, um sie vom Laster fernzuhalten. Auch bei den Frauen blieb ein
Rest von Paternalismus erhalten: sie sollten sich in der Erziehung, im Gemüsebau
und – rotierend – in öffentlichen Küchen und Schlafsälen betätigen. Ihre Arbeits-
zeit war auf fünf Stunden begrenzt (NV: 163). Owens Beitrag zur Fraueneman-
zipation lag in dem Vorschlag einer Beseitigung der lebenslänglichen Ehe. Ehe
wurde als „Vertrag“ konzipiert. Der Vertrag war jederzeit kündbar. Aufgrund der
sozialen Nähe aller in den Kooperativen glaubte Owen, dass daraus kein Problem
ständiger Ehescheidungen entstehen würde. Aber die Ehe sollte vom Ruch der
materiell begründeten Partnerschaft befreit werden. Die Kommune sah keine Ge-
meinschaft des Wirtschaftens vor. Die Gemeinden (townships) sollten sich lang-
sam über den ganzen Erdball ausbreiten. Die verschiedenen politischen Systeme
konnten weiter bestehen. Auch die Frage, ob eine Monarchie mit dieser Form der
Gesellschaftsordnung kompatibel sei, kam Owen nicht in den Sinn. Er sah aber
die Gefahr, dass die soziale Kontrolle in der Gemeinschaft zu einer neuen Fes-
sel für die Menschen werden könnte. Er verteidigte daher die volle Freizügigkeit
der Menschen. Wie die ärmeren Gemeinschaften den Exodus und die reicheren
Kommunen den Zustrom verkraften sollten, war in diesem Plan weitgehend of-
fen geblieben.
1819 wurde ein Komitee unter dem Vorsitz des Thronfolgers, des Herzogs von
Kent, gebildet, dem auch der berühmte Ökonom Ricardo angehörte. Nach Prü-
fung des Plans wurde er zur Subskription ausgeschrieben. Die Mehrheit des Aus-
schusses konnte diese Unterstützung für Owen nur mit der Versicherung begrün-
den, dass Owen nicht mehr an der Idee der Gütergemeinschaft festhalte, für die
er gelegentlich eine Lanze gebrochen hatte. Gütergemeinschaft galt schlicht als
„rechtswidrig“. Die Subskription erbrachte nur bescheidene Summen. Das Inter-
esse der Stadt Leeds und der Grafschaft Lanark erlosch.
In Amerika hatte Owen schon auf seiner ersten Reise Jefferson, Madison,
Adams und Monroe kennen gelernt. Im Februar und März 1835 hielt er vor dem
Repräsentantenhaus in Anwesenheit des Präsidenten Reden über sein neues Ge-
sellschaftssystem. Die Publizität, die seine Ideen gewannen, sorgte für einen enor-
men Zustrom nach New Harmony. Statt der anvisierten 500 kamen fast dop-
pelt so viele. Die Aufnahme in die Gemeinschaft erforderte nach den Statuten,
die Owen fixiert hatte (dt. Text in: Ramm 1955: 422 – 425), die Akzeptanz der Ge-
meinschaftsverfassung. Der Beitritt erfolgte auf eigene Kosten. Neuankömmlinge
mussten die Wohnungen beziehen, die ihnen ein Lenkungskomitee zuwies. Die
68 Der Frühsozialismus

Gesellschaft wurde „New Harmony, Gemeinschaft der Gleichheit“ genannt. Pri-


vateigentum sollte nicht „nutzlos“ sei. Ob es überhaupt zulässig war, blieb im
schöpferischen Halbdunkel. Owen hat weitere Siedlungen in den USA inspiriert.
1828 dachte er sogar an die Staatenbildung nach seinen Prinzipien. Er forderte die
mexikanische Regierung auf, Texas nach seinen Plänen zu organisieren. Mexiko
und die USA sollten die Autonomie dieses umstrittenen Gebietes gemeinsam ga-
rantieren. Owen sah den Krieg voraus, der schließlich zur Annexion von Texas
führen sollte.
Owen war ein kooperativer Denker, aber kein Vorkämpfer der Demokratie.
Der „Konvent der Chartisten“, die für das allgemeine Wahlrecht kämpften, war
ihm zu radikal. Er nahm Anstoß an dessen Aufruf, alle Bankguthaben zu kündi-
gen, um den Geldverkehr lahm zu legen. Der späte Owen hat sich nach perma-
nenten Enttäuschungen seines sozialen Optimismus schließlich auch von vielen
Anhängern durch eine Wende zum Spiritualismus entfremdet.

Quellen
S. Maccoby (Hrsg.): The English Radical Tradition 1763 – 1914. London, Dent, 1952.

Literatur
Ph. M. Ashraf: Englische Arbeiterliteratur vom 18. Jahrhundert bis zum ersten Welt-
krieg. Berlin, Aufbau-Verlag, 1980
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3 Der Frühsozialismus in Deutschland: Weitling und Hess

Weitling kam als Sohn eines französischen Offiziers in Magdeburg zur Welt. Der
Vater war seit Napoleons Russlandfeldzug verschollen, die Mutter musste ihren
Sohn in tiefer Not als Pflegekind weggeben. Er lernte das Schneiderhandwerk und
begab sich auf die Wanderschaft bis nach Paris. Dort wurde er Mitglied des „Bun-
des der Geächteten“, der streng hierarchisch organisiert, für Freiheit, Gleichheit
und Einheit in Deutschland eintrat. Im Auftrag des Bundes schrieb er sein Erst-
lingswerk „Die Menschheit, wie sie ist, und wie sein sollte“, in der die Güterge-
meinschaft als „Erlösungsmittel der Menschheit“ gepriesen wurde (1895: 47). 1841
ging Weitling in die Schweiz. In Zürich suchte er einen Verleger für die Schrift:
„Das Evangelium der armen Sünder“, in der Kommunismus und Urchristentum
70 Der Frühsozialismus

nicht nur verglichen, sondern praktisch identifiziert wurden. Der Kirchenrat de-
nunzierte Weitling und er wurde in einem ersten „Kommunistenprozess“ vor Ge-
richt gestellt. Der Schweizer Staatsrechtler Johann Kaspar Bluntschli hatte im
Regierungsauftrag einen Bericht über die „Affäre Weitling“ verfasst, und die kom-
munistische Gefahr drastisch übertrieben. Auch Bakunin wurde durch diese De-
nunziation auffällig und geriet in Schwierigkeiten mit der russischen Regierung.
Nach zehn Monaten Haft wurde Weitling nach Preußen geschickt und von dort
nach England abgeschoben. Er arbeitete in Großbritannien – in scharfer Kritik
am „Unsinn der deutschen Philosphie“ – an einer einheitlichen Weltsprache (1895:
21). Mit seinen utopischen Träumen isolierte er sich zunehmend von der Arbei-
terbewegung und ging nach New York. In der Revolution von 1848 gab er in Ber-
lin eine Zeitschrift „Der Urwähler“ heraus und wurde erneut ausgewiesen. Wieder
in Amerika erlitt er erneut schwere Niederlagen mit Zeitschriften-Projekten und
einer Kolonie „Communia“ in Iowa. 1855 zog er sich resigniert zurück und ver-
diente in einem Einwanderungsbüro in New York bis zu seinem Tod 1871 seinen
Lebensunterhalt. Zwei Jahre vor seinem Tod bezeichnete er verzweifelt seine Lage
als „bankrott“ (zit: Wittke 1950: 311).

Organisation der Gesellschaft

In der Pariser Zeit studierte Weitling die französischen Frühsozialisten. Beson-


ders Fourier hat ihn beeinflusst in seiner Theorie der menschlichen Fähigkeiten
und Begierden. Das bestehende System sah er als eine Herrschaft des Egoismus.
Nur eine Minderheit konnte ihre übersteigerten Begierden befriedigen. Das Gros
der Menschen hatte keine Chance seine Fähigkeiten zu entwickeln. Er nahm den
Menschen als „schwache Kreatur im großen Weltenraum“ wahr, solange er ver-
einzelt wirkt. „Vereinzelt knausert die Natur mit ihm über ihre Gaben; vereinigt
zwingt er ihr Reichtum und Überfluss ab“ (GHF: 125). Gleichmäßige Verteilung
von Gütern und Arbeit war nur im Bereich der Grundbedürfnisse für das „Not-
wendige und Nützliche“ – nicht für „die Hervorbringung des Angenehmen“ – vor-
gesehen (GHF: 163) Voraussetzung dazu war eine Pflichtarbeitszeit von täglich
sechs Stunden für alle. Die außerhalb der bestimmten Arbeitszeit vollbrachten
Arbeitsstunden bezeichnete er als „Kommerzstunden“, die in ein „Kommerzbuch“
einzutragen waren. Immerhin wurde kein schematischer Zuteilungskommunis-
mus angestrebt. Das freie Individuum konnte auswählen, welche Genüsse des An-
genehmen es zu befriedigen gedachte, ohne die Harmonie der Begierden und Fä-
higkeiten Aller zu stören. Seltsam klang Weitlings militärische Nomenklatur: Die
„Meisterkompagnie“ war als Zentrum der nützlichsten Fähigkeiten und Wissen-
schaften im Bereich eines „großen Familienbundes“ vorgesehen. Die „Jugend in
der Schularmee“ sollte parallel zur „mündigen Gesellschaft“ organisiert werden
Der Frühsozialismus in Deutschland 71

(GHF: 157). Die Spitze der Verwaltung des Familienbundes stellte ein „Trio“ dar,
aus den größten Philosophen, die zugleich die besten Kenntnisse der Heilkunde,
der Physik und Mechanik besaßen (GHF: 160). Angesichts des haarsträubenden
Unsinns, mit dem er seine Anhänger verprellte und den er über die Widerlegung
des heliozentrischen Weltbildes schrieb, wäre er selbst kaum in das Trio wählbar
gewesen. Weitling stand mit der Hybris, die Kenntnis über das Universum aus den
Angeln heben zu wollen, im Frühsozialismus nicht allein. Auch Moses Heß und
Fourier hatten ähnliche Verirrungen aufzuweisen. Weitling glaubte dass sein Mo-
dell auf „Fortschritt in den Wissenschaften“ gegründet sei (GHF: 219). Der infla-
tionäre Gebrauch des Beiwortes „philosophisch“ war auf die Naturwissenschaften
und Erkenntnis der unabänderlichen Fundamentalgesetze gegründet. Hatte er in
seiner Erstlingsschrift noch für allgemeine Wahlen gekämpft, sollten bei der Be-
stellung zum Trio die Fähigkeiten den Ausschlag geben. Das Trio war nicht demo-
kratisch kontrolliert. Streitfragen sollten vom Präsidium entschieden werden. Nur
beratend wurde dieser Spitze der Hierarchie ein „Gesundheitsrat“ und ein „großer
Werkvorstand“ beigeordnet (GHF: 161).
Die soziale Fürsorge war in Weitlings Modell mit repressiven Zügen verunstal-
tet: alle Individuen, deren Gesundheitszustand durch Ausschweifung oder andere
der Gesellschaft schädliche Krankheit stark zerrüttet war, sollten auf Fluss- oder
Küsteninseln in Quarantäne separiert werden, aber gleichwohl dort die gleichen
Annehmlichkeiten wie in Freiheit genießen (GHF: 210).

Revolution

Der Fortschritt war für Weitling nur durch Revolutionen zu fördern (GHF: 223).
Sein Revolutionsbegriff war jedoch reichlich verwässert, weil er jede größere In-
novation als Revolution bezeichnete. Auch demokratisch konnte seine Revolu-
tionskonzeption nicht genannt werden: „Der Umsturz des Bestehenden könnte
wohl auch durch einen Monarchen vor sich gehen“. Falls dieser Krone, Zepter und
Egoismus in den Staub werfe, „soll uns der wackere Kämpfer bis zur völligen Or-
ganisation ein willkommener Diktator sein“ (GHF: 268). Optimal schien ihm frei-
lich der Exmonarch als Diktator nicht zu sein. Fragen der Staatsform waren für
Weitling zweitrangig. Der deutsche Arbeiter „weiß kaum, was das ist, eine Re-
publik“. Nur mit der Aufklärung über ein künftiges gutes Leben könne man die
Volksmassen gewinnen (GHF: 267). In seiner Schrift zur „Gerechtigkeit“ hat Weit-
ling eine „Pflicht, nach der Direktion der Übergangsperiode zu drängen“ postu-
liert, die er in erster Linie für sich selbst vordachte (Ger: 208 f, 307). Die später von
Lenin vorübergehend vertretene Maxime: „je schlimmer, desto besser“ hat Weit-
ling bereits entwickelt: die schon bestehende Unordnung sollte auf den höchs-
ten Gipfel getrieben werden: „Dieses Zweite ist, wenn dem Volk der Gedulds-
72 Der Frühsozialismus

faden reißt, das letzte und sicherste Mittel“ (GHM: 249). Ein Bündnis mit dem
Lumpenproletariat wurde nicht nur von Marx, sondern auch vom „Bund der Ge-
rechten“ abgelehnt. Marx traf mit Weitling auf einer Sitzung des Korrespondenz-
komitees im Mai 1846 in Brüssel zusammen. Er hatte Weitlings Wirken bis 1844
durchaus positiv bewertet. Aber die Meinungsverschiedenheiten der beiden Ex-
ponenten der deutschen Arbeiterbewegung entpuppten sich rasch als ein Kampf
um Führungsansprüche. Theoretischer Anlass war nicht zuletzt Marxens Ansicht,
dass der Kommunismus erst nach einer Machtübernahme der Bourgeoisie mög-
lich sei (Barnikol 1929: 269 ff). 1847 kam es auch zum Ausschluss Weitlings aus
dem „Bund der Gerechten“.
Weitling blieb ein Jünger der Aufklärung, da er keine ökonomischen und so-
zialen Bedingungen an die Revolution knüpfte, sondern Aufklärung und Über-
zeugung für ausreichend hielt, um jederzeit Revolutionen in Gang zu setzen. Die
Bedingungen, die Weitling für eine Revolution als Voraussetzung würdigte, lagen
im Bereich der Verbesserung der Schulen, der Pressefreiheit, der umfassenden
Versorgung aller Armen, Kranken und Schwachen, der Reduktion der Steuern auf
das Notwendige und Nützliche – bei hohen Steuern auf Luxusgütern. Eine Ver-
mögenssteuer wurde als „revolutionär“ bezeichnet (GHF: 233). Eine allgemeine
Wahlfreiheit war für ihn „im Geldsystem auch nicht möglich“ Der französischen
Revolution warf er vor, dass sie den Mängeln des Wahlsystems auf ihre Weise ab-
geholfen hätte: „Viele Reiche verloren Kopf und Geld, aber der Reichtum kam
dabei doch um keinen Kopf zu kurz; er wechselte den Mann, ohne dabei weder
Köpfe noch Geld zu verlieren“ (GHF: 237). Assoziationen im Geist Fouriers wur-
den ebenfalls als revolutionäres Mittel anerkannt. Aber die Vereinigung in Asso-
ziationen hat oft die „gesellschaftlichen Mängel eine Weile überzuckert und über-
tüncht“, ohne dass man dem Prinzip näher gekommen sei (GHF: 239). Fourier
hatte in Weitlings Augen einen kapitalen „Bock … mit der Anerkennung und Be-
lohnung des Kapitals geschossen“, um „die Geldmänner in den Phalanstère (zu)
locken“. Ohne die Freiheit zum Beitritt und ohne die Schaffung gleicher Lebens-
lagen war die Idee der Assoziation für Weitling zum „Wortkram“ verkommen
(GHF: 241).
Als Übergangsmaßnahmen predigte Weitling vor allem die „Verbreitung un-
serer Lehre“, die Aufklärung der Bettler über die Schande, die ihr Tun darstelle,
die Boykottierung der Arbeit, die andere wegen Lohnverkürzung niedergelegt ha-
ben, die Verweigerung aller Ämter, die „einen hohen Grad schimpflicher Erge-
benheit bedingt“. Seltsame Fremdkörper in Weitlings Brüderlichkeitsphilosophie
waren der Verzicht auf „Unterstützungen für persönliche Zwecke“ oder die Er-
wartung von Dank für erhaltene Gefälligkeiten (GHF: 276 f). Gütergemeinschaft
war in seinem Modell an qualifizierte Mehrheiten gebunden: wenn drei Viertel der
Einwohner einer Verwaltungseinheit für die Gütergemeinschaft stimmten, „muss
Der Frühsozialismus in Deutschland 73

sich das letzte Viertel“ fügen. Nicht jede Transformation war jedoch demokratisch
gedacht. Ein revolutionärer Krieg war keineswegs generell ausgeschlossen (GHF:
258 f). Der Krieg blieb ein „unvermeidliches Übel der Übergangsperiode, da um
ihn entgegenzuwirken, es jetzt kein kräftigeres Mittel gibt als den Krieg“ (GHF:
258 f, 264 f). Auch die Disziplin musste in seinen Augen für die Dauer einer Über-
gangsperiode beibehalten werden. Die Idee der allgemeinen Bewaffnung des ar-
beitenden Volkes stammte aus der Lehre des Babeuf. Marx hielt Weitling 1846
entgegen: „dass es einfach ein Betrug ist, die Bevölkerung aufzuwiegeln, ohne ihr
irgendwelche festen, durchdachten Grundlagen für ihre Tätigkeit zu geben“ (Der
Bund der Kommunisten, Bd. 1. Berlin 1970: 304).
Weitling ist in der deutschen Arbeiterbewegung seit 1848 meist durch die
Brille der Marxisten gesehen und unter die „Utopisten“ eingereiht worden, wie
sie Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ definiert hatten. Dennoch
blieb unterschwellig ein gewisser Einfluss der Ideen Weitlings erhalten. Begriffe
wie Kommunismus sind selbst nach dem Zeugnis von Bebel zuerst über Schrif-
ten Weitlings von den Arbeitern zur Kenntnis genommen worden – zu einer Zeit,
da das „Kommunistische Manifest“ weitgehend unbekannt war (zit: Schäfer in
Weitling: Evangelium 1971: 201). Weitlings „Kommunismus“ ist oft mit dem „So-
zialismus“ von Moses Heß verglichen worden. Obwohl Marx auch die „Liebes-
sabbelei“ bei beiden deutschen Frühsozialisten ablehnte (Barnikol I: 266) hatte
Heß durch seine stärker historische Auffassung der Entwicklung trotz einer phi-
losophischen Sprache auf höherem Abstraktionsniveau als bei Weitling einen re-
alistischeren Sinn für die Voraussetzungen – vor allem die ökonomischen Bedin-
gungen – einer sozialistischen Transformation. Während Heß sich der geistigen
Autorität von Karl Marx zunehmend beugte und ganz auf die Linie des Histori-
schen Materialismus einschwenkte, blieb Weitling der unbeugsame Einzelgänger,
der mit zunehmender Isolierung bestraft wurde.

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76 Der Frühsozialismus

Moses Heß (1812 – 1875)

Heß war der Sohn eines jüdischen Industriellen in Bonn. Er ging ins Exil nach Pa-
ris, Brüssel und Genf und wurde – zeitweilig zusammen mit Marx – Redakteur
der radikalen „Rheinischen Zeitung“. Seine kommunistische Einstellung konnte
Heß in dieser Zeit aus Zensurgründen nur apokryph äußern, weil die liberalen
Geldgeber eine radikalere Einstellung nicht geduldet hätten. Als die Rheinische
Zeitung verboten wurde, siedelte der mittellose Heß nach Köln über. In der Re-
volution von 1848 war er nur kurze Zeit in Köln, ohne als revolutionärer Kämpfer
hervorzutreten. 1849 entzog er sich den Kommunistenverfolgungen durch Über-
siedlung nach Genf. Nach weiteren Zerwürfnissen mit Marx führte er in Genf für
zwei Jahre die Fraktion Willich-Schapper-Sektion des Bundes der Kommunisten.
Aufgrund der Repressionen in der Zeit nach der 48er Revolution stellte er seine
politische Tätigkeit ein und widmete sich Studien über die Naturwissenschaften
und das Judentum. 1863 arbeitete Heß mit Lassalle zusammen im „Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein“. 1866 schied er aus, weil er das Programm des ADAV
als zu kompromisslerisch einschätzte. Der Internationalen Arbeiterassoziation
von 1864 stand Heß zunächst abwartend gegenüber. 1870 wurde er als preußischer
Staatsbürger aus Paris ausgewiesen, obwohl er „Bismarcks Aggression“ bekämpfte
und die Juden aufforderte, Frankreich als das Land der Humanität zu unterstüt-
zen (Berlin 1959: 44).
Heß blieb radikal und hat sich gleichwohl im Reich an die Gegebenheiten der
Arbeiterbewegung angepasst. 1869 setzte er sich für die Eisenacher Gründung
einer „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ ein und 1875 begrüßte er den Zu-
sammenschluss von ADAV und SDAP in Gotha. Einige Freunde in der SPD lie-
ßen die Inschrift auf seinem Kölner Grabstein anbringen: „Hier ruht der Vater der
deutschen Sozialdemokratie“ – eine gutgemeinte Übertreibung.
In der „Heiligen Geschichte der Menschheit“ bekannte Heß 1837 (PSS: 42) sein
religiös fundiertes Sendungsbewusstsein: „Wir nehmen daher keinen Anstand, of-
fen zu bekennen, dass wir uns, sofern uns nämlich die in diesen Blättern dazu-
stellende Idee offenbar und zu verkünden gegeben wurde, als ein geringes Werk-
zeug der ewigen Vorsehung betrachten..“ Jüdische Prophetie, die Weltgeschichte
als Heilsgeschehen wahrnahm (Löwith 1973: 13), war stets präsent in seinem Den-
ken. Diese Konzeption führte Heß zu der Ansicht, dass er nicht nur vom Unheil
zu künden habe, sondern auch Möglichkeiten der Abhilfe erforschen müsse. Als
seine Mission erkannte er im Stil alttestamentarischer Propheten: „Unser Beruf ist
es, das Heil durch das Verständniß zu fördern“ (PSS: 60). Der „einfache lebendige
Begriff von der heiligen Geschichte“, den Heß suchte, ließ ihn in der zeitgenössi-
schen Welt überall „Entzweiung“ finden, Entzweiung von Gott und Welt, Natur
und Geist, Theorie und Praxis, Regierung und Volk, Staat und Gesellschaft. In der
Der Frühsozialismus in Deutschland 77

Vision der Einheit einer künftigen Gesellschaft würden hingegen Geist und Seele
des Volkes, gesetzgebende und vollziehende Gewalt – eine Trennung in der die
bürgerliche Bewegung „bisher nicht mit Unrecht das Heil suchen mußte“ – nicht
mehr künstlich getrennt sein (PSS: 70).
Die Gesellschaft der Zukunft sollte nach der Ansicht von Heß in der Güter-
gemeinschaft gipfeln. In einer Würdigung des Buches von Wilhelm Weitling von
1842 vertrat der „Philosoph“ Heß gegen den „Autodidakten“ Weitling die Mei-
nung, dass der Kommunismus nicht nur durch das materielle Elend erklärt wer-
den könne, sondern aus dem logischen Denken resultiere. Heß betonte als Prinzip
des Sozialismus stärker die Freiheit, Weitling hingegen die Gleichheit. Heß leitete
seine Prinzipien aus der Vernunft ab, während Weitling eher induktiv von einer
kruden Popularbedürfnis-Psychologie ausging.
Die künftige Gesellschaft bedurfte nach der Ansicht von Heß gegen Irreligion,
Sittenlosigkeit und Tyrannei keiner äußerlichen staatlichen Institutionen mehr:
„Die Gesellschaft wird immerhin der geistigen Belehrung, aber keiner Confession,
der Überwachung der Sitten, aber keiner stabilen Regeln, der Herrschaft der Ge-
setze, aber keiner historischen Rechte bedürfen“ (PSS: 159). Die „Philosophie der
Tat“ hatte für Heß die Berufung Deutschland vor Resignation, aber auch vor einem
übermäßigen Patriotismus zu bewahren. Im Geist des deutschen Idealismus – der
bei ihm sich zunehmend von Hegel abwandte und auf Fichte zurückgriff – wurde
die „universale Tendenz“ der Deutschen beschworen. Weil Deutschland den Ge-
gensatz von Staat und Kirche im Kampf des Protestantismus gegen den Katho-
lizismus durchgefochten habe, konnten seiner Ansicht nach die Entzweiungen,
die sich in der französischen Revolution entluden, nicht in gleicher Schärfe emp-
funden werden. Deutschland konnte sich daher die Resultate der französischen
Revolution friedlich und ohne Revolution aneignen, kein ganz neuer Gedanke
in der Geschichte politischer Theorien in Deutschland. Schon bei Heß (Mönke:
Neue Quellen: 87) fand sich der Topos vieler deutscher Revolutionäre, dass „unsre
Revolutionspartei (an Gründlichkeit und Radikalismus der theoretischen Prin-
zipien) die aller andern Länder an Radikalismus übertreffen mag“ und zugleich
sein Land in der Praxis hinter den westeuropäischen Nationen zurückgeblieben
sei. Dennoch schien die deutsche Revolution nicht unausweichliches Fatum zu
sein. Nur von England glaubte Heß (PSS: 160), dass die Konflikte der „socialen
Dissonanz“ „Revolutionshöhe“ erreichen werde. In der Schrift „Die europäische
Triarchie“ (1841) sollte England Führungskraft werden, im Gegensatz zur reaktio-
nären Pentarchie, in der Russland die Vormacht darstellte (PSS: 161). Europa war
für Heß ein Heiligtum: „Entweihet es nicht durch profane Vergleichungen mit
Nordamerika. Lästert es nicht durch schielende Hindeutungen auf Russland ! Wie
Christus, sein Vorbild, hat es sich für die Menschheit geopfert“ (PSS: 102). Diese
Hymnen auf Europa entfalteten ihre Wirksamkeit auch noch in seinen „zionisti-
78 Der Frühsozialismus

schen“ Schriften, da er sich kaum vorstellen konnte, dass alle europäischen Juden
zur Übersiedlung nach Palästina bereit sein könnten. Die Herabsetzung Nord-
amerikas hat er selbst an anderer Stelle verworfen, wo er die republikanischen Zu-
stände der USA lobte. Selbst für Russland fand er „einen schönen Beruf “: „es soll
sich selbst und den Orient durch europäische Cultur aus jener Stagnation heraus-
arbeiten, worin der Osten bisher durch seine Stabilität versunken war“ (PSS: 109).
Im Vergleich zu anderen Frühsozialisten waltete in der Revolutionsauffassung
von Moses Heß ein „sanftes Gesetz“. Wo Weitling als Mittel zur Befreiung in erster
Linie auf die Revolution und Volksbewaffnung setzte, hat Heß auf die theoretische
Entwicklung der radikalen Intellektuellen abgehoben. Die Verwirklichung des
Kommunismus war für ihn in erster Linie ein Werk von Bewusstseinsbildung und
Erziehung. Obwohl Heß in einem Aufsatz über „Socialismus und Communismus“
kritisierte, dass Deutschland politisch zurückgeblieben sei, und der „Deutsche …
zu geistig, zu allgemein, um auf bestimmte concrete Lebensverhältnisse einzuge-
hen“ sei, sah er eine „Philosophie der That“ nur von Deutschland ausgehen: „Nur
da, wo die Philosophie überhaupt es bis zu ihrem Culminationspunkt gebracht
hat, kann sie über sich selbst hinaus und zur That übergehen“ (PSS: 198).
Rechts- und Linkshegelianer begannen sich erbittert zu bekriegen. Negativ
wurde an Lorenz Steins Bericht über den Sozialismus und den Kommunismus im
Auftrag der preußischen Regierung bewertet, dass es den selbstmörderischen Ver-
such unternehme, „das eigene Bewußtsein nach der schlechten Wirklichkeit zu
modeln“. Stein verkannte in seinen Augen das Wesen des Kommunismus, in dem
im Streben nach Gleichheit nur die materielle Orientierung auf den Genuss in
sehe, während es doch ein Hauptvorzug des Kommunismus sei, „dass in ihm der
Gegensatz von Genuss und Arbeit verschwindet“ (PSS: 204). Er übersah mit sei-
nem idealistischen Ansatz im Gegensatz zu Marx völlig die luzide Klassenanalyse
bei Stein (vgl. Bd. II. V.1).
1845 erschien die Schrift „Die letzten Philosophen“, eine Abrechnung mit den
Junghegelianern, und vor allem Max Stirner. Man hat Heß gelegentlich auch anar-
choide Neigungen unterstellt. In der „Philosophie der Tat“ fanden sich Sätze, die
auch in jedem anarchistischen Traktat hätten stehen können wie: „wir wollen die
innere Lüge aller Religion und Politik … aufdecken“ (PSS: 230). Dennoch kriti-
sierte er, dass die „letzten Philosophen vom abstrakt-dogmatischen Standpunkt
aus die Welt kritisierten und somit weder die Wirklichkeit erfassten noch sie ver-
änderten (PSS: 386 ff). Dieser Vorwurf ist vielfach auf sein eigenes Werk zurück-
gefallen. Marx und Engels waren in dieser Kritik an Stirner einig mit Heß. Engels
monierte aber in einem Brief vom 19. November 1844 an Marx, dass Heß noch
„einige idealistische Flausen“ habe und bekannte, dass ihn das „theoretische Ge-
trätsch“ zunehmend langweile. Er empfahl statt der „Luftgebilde“ sich mit „histo-
rischen Entwicklungen und Resultaten“ zu beschäftigen (MEW Bd. 27: 12). Bei
Der Frühsozialismus in Deutschland 79

der Abrechnung mit den Junghegelianern in der „Deutschen Ideologie“ hatte es


noch einen gewissen Konsens zwischen Marx und Heß gegeben. Als dieser sich
jedoch vom „Handwerkerkommunismus“ absetzte, kam es auch zum Konflikt
mit dem „wahren Sozialismus“ um Moses Heß. 1849/1850 schrieb Heß den „Ro-
ten Katechismus für das deutsche Volk“, mit dem er sich vor allem Arbeitern in
der Zeit der Verunsicherung durch Kommunistenprozesse verständlich zu ma-
chen versuchte. Er kämpfte darin für eine „rothe Republik“. Sie war nur interna-
tional denkbar, da sie nicht in einem Lande gedeihen konnte. Die Arbeiter, die in
einem Land gesiegt hatten, waren verpflichtet, ihren Brüdern in der übrigen Welt
zu Hilfe zu eilen (PSS: 453).
Die Zeit der erneuten Restauration war wie für viele Emigranten eine Pe-
riode  der permanenten Wanderung und des theoretischen Experimentierens.
Vorübergehend versuchte Heß – ähnlich wie Proudhon – eine Zusammenarbeit
mit Napoleon III (Zlocisti 1921: 426 f). Seine Isolierung trieb ihn zunehmend in
naturwissenschaftliche Phantastereien. Aber es gelang ihm noch ein bahnbre-
chender Beitrag in der Schrift „Rom und Jerusalem“. In ihr wurde er zum Prophe-
ten des Zionismus: „Kein Volk hat so alte und so heilige Rechte auf das Vaterland,
das es zurückfordert, als die Nachkommen Abrahams …“ Abraham hatte nach
Heß (JS: 47) das wenig besiedelte Land in Besitz genommen, ohne die Rechte an-
derer zu verletzen. Die Siedlungsidee zur Rückgewinnung Palästinas hatte bei
Heß (JS: 86 f) auch noch einen sozialpolitischen Hintergrund: Seit Jahrhunder-
ten ist von religiösen Juden armen Glaubensgenossen finanziell geholfen worden.
Aber schon damals entdeckte er das Wohlfahrtsstaatsdilemma: „Man gewöhnt
sich daran, von der Mildherzigkeit zu leben, man arbeitet nicht“. Um dieses Di-
lemma zu beseitigen, schlug er einen neuen Förderungsweg vor: armen Juden
sollte durch Siedlungen, er nannte sie „landwirtschaftliche Kolonien“, und Schu-
len eine Hilfe zur Selbsthilfe angeboten werden. An eine Massenauswanderung
der Juden aus Europa war zunächst noch nicht gedacht. Eine Lösung der Juden-
frage, sah er nur als ultima ratio durch einen jüdischen Staat in Palästina möglich.
Seine apokalyptischen Visionen erwiesen sich als hellsichtig. Die Juden waren
für Heß zu assimiliert, als dass sie ohne kommende Entwicklungen zur Barba-
rei bereit sein würden, eine Nation zu werden und nach Palästina auszuwandern
(Berlin 1959: 48).
Heß ist als Lehrer von Marx bezeichnet worden, der damit endete, sein Schüler
zu werden (Cornu 1934: 107). Das Verhältnis der beiden kommunistischen Theo-
retiker war jedoch zu kompliziert, um sich in diese simple Formel pressen zu las-
sen. Selbst die frühen Schriften von Hess haben den Anschauungen von Engels
im Rückblick nicht mehr entsprochen (Engels/Bebel: Briefwechsel: 358). Heß ist
oft mit Weitling verglichen worden. Der Philosoph hatte gegenüber dem Auto-
didakten in der Theoriebildung beträchtliche Vorteile. Nur in der Unterbelich-
80 Der Frühsozialismus

tung der ökonomischen Probleme und ihrer aphoristischen Behandlung kam der
„Philosoph Heß dem Handwerksburschen Weitling beträchtlich nahe“ (Mielcke
1931: 161).

Quellen
Heß: Philosophische und sozialistische Schriften 1837 – 1850 (Hrsg.: A. Cornu/
W. Mönke). Berlin, Akademieverlag, 1961 (zit: PSS).
Heß: Jüdische Schriften (Hrsg.: Th Zlocisti). Berlin. Louis Lamm 1905. Reprint: New
York, Arno Press, 1980 (zit: JS).
Heß: Ausgewählte Schriften (Hrsg.: H. Lademacher). Köln, Melzer, 1962.
W. Mönke (Hrsg.): Neue Quellen zur Heß-Forschung. Mit Auszügen aus einem Tage-
buch, aus Manuskripten und Briefen aus der Korrespondenz mit Marx, Engels,
Weitling. Berlin, Akademie-Verlag, 1964.
Heß: Briefwechsel (Hrsg.: E. Silberner). Den Haag, Mouton, 1959.

Literatur
Sh. Aveneri: Moses Heß. Prophet of Communism and Zionism. New York, New York
University Press, 1985.
I. Berlin: Life and Opinions of Moses Hess. Cambridge, Hefer & Sons, 1959.
A. Cornu: Moses Hess et la gauche hégélienne. Paris, Alcan, 1934.
B. Frei: Im Schatten von Karl Marx. Moses Heß – hundert Jahre nach seinem Tod.
Wien, Böhlau, 1977.
I. Goitein: Probleme der Gesellschaft und des Staates bei Moses Heß. Leipzig,
Hirschfeld, 1931.
H. Hirsch: Moses Heß. Vorkämpfer der Freiheit. Köln, Nachrichtenamt der Stadt
Köln, 1975.
H. Lademacher: Moses Heß in seiner Zeit. Bonn, Röhrscheid, 1977.
K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart, Kohlhammer, 1973, 6. Aufl.
G. Lukács: Moses Heß und die idealistische Dialektik. In: Archiv für die Geschichte
des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. 12, 1926: 105 – 155.
E. Silberner: Moses Hess. Geschichte seines Lebens. Leiden, Brill, 1966.
H. Stuke: Philosophie der Tat. Stuttgart, Klett, 1963: 189 – 244.
Th. Zlocisti: Moses Heß. Der Vorkämpfer des Sozialismus und Zionismus 1812 – 1875.
Berlin, Welt-Verlag, 1921, 2. Aufl.
III. Der Anarchismus

1 Anarchistischer Radikalismus in Großbritannien:


William Godwin (1756 – 1836)

Godwin galt als der Ahnherr des individualistischen Anarchismus. In Standard-


werken über den Sozialismus hingegen figuriert er als Denker häufig nicht. Der
individualistische Anarchismus ließe sich von Godwin bis Stirner auch unter dem
Oberkapitel „Radikalismus“ subsumieren. Der frühe Engels war in der „Lage der
arbeitenden Klassen“ (MEW Bd. 2: 455) in der Adoption der Vorläufer der Be-
wegung noch nicht so engherzig wie spätere Dogmatiker. Sogar Bentham wurde
anerkannt: „Bentham und Godwin sind, namentlich letzterer, ebenfalls fast aus-
schließlich Eigentum des Proletariats … wenn auch Bentham unter der radikalen
Bourgeoisie eine Schule besitzt, so ist es doch nur dem Proletariat und den Sozia-
listen gelungen, aus ihm einen Fortschritt zu entwickeln“. Dabei hat Engels sogar
liebend überschätzt, wieweit überwiegend das Proletariat in England Byron und
Shelley lese.
Godwin wurde zum Pastor der presbyterianischen Kirche ausgebildet. Im
College war er berühmt für seine kühle und leidenschaftslose Fähigkeit der Dis-
kussion und seine Unabhängigkeit des Denkens. Als Prediger unter Dissidenten
haben Godwin früh religiöse Zweifel erfasst. Die Zweifel wurden durch die Lek-
türe radikaler Autoren wie Priestley verstärkt. Die protestantische Grundgesin-
nung, dass privates Urteil und individuelle Vernunft verkrustete Autoritäten in
Frage stellen dürfen, blieb bei Godwin erhalten – ähnlich wie bei Rousseau, der
stark auf Godwin gewirkt hat. Der Einfluss von Rousseau ist in der kontinen-
talen Literatur häufig überschätzt worden und man übersah die andere indivi-
dualistisch-utilitaristische Komponente seines Denkens, die „insular“ blieb (vgl.
Crowder 1991: 42). Nie hätte Rousseau Adam Smith so oft in zustimmender Form
zitiert, wie Godwin das tat. Godwin ging vor allem in seiner Kritik am Staat weit

K. von Beyme, Sozialismus, DOI 10.1007/978-3-658-02950-0_3,


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82 Der Anarchismus

über Rousseau hinaus. Andererseits teilte Godwin mit Rousseau die starke Beto-
nung der Eigenliebe, des „amour propre“ als Antrieb für die Besserungsfähigkeit
des Menschen. Godwin nannte das „love of distinction“ (PJ II: 426 ff). Ein wei-
terer Unterschied zu Rousseau lag in der anarchistischen Überzeugung, dass je-
der Zwang dem Ideal der „self-direction“ widerspreche. Rousseau hingegen hatte
unter Bedingungen der legitimen Volkssouveränität die Möglichkeit vorgesehen,
die Menschen „zu zwingen frei zu sein“. Godwin war zudem weit aufgeschlosse-
ner für eine technische Entwicklung. Der Rousseausche Kleinproduzent, der in
„frugalité“ lebt, war nicht Godwins Ideal. Jede übertriebene Gemeinschaftsduselei
war Godwin suspekt, daher konnte er nicht – wie Proudhon irrtümlich annahm –
„Kommunist“ sein. Jede kommunitäre Gemeinschaftsform des Lebens war die-
sem störrischen Individualisten verhasst. Gemeinsame Art oder gemeinsames Es-
sen mit dem Nachbarn gehörte zu den Übeln der Kooperation. Da müsse man
essen, wann es dem Nachbarn passt, nicht wann es einem selbst passe, oder gar
wenn es beiden ungelegen komme. Selbst Orchester und Theater hat er als Kol-
lektive – in der Tradition radikaler calvinistischer Sekten – für ein Übel gehalten.
Sein Fazit: „We cannot be reduced to a clock-work-uniformity“ (PJ II: 502). Die
Rousseauschen Prämissen wurden daher bei Godwin nicht wie bei den französi-
schen Frühsozialisten in die Richtung einer Technikfeindschaft und Ablehnung
jeder Arbeitsteilung gedrängt (PJ II: 513 f)
Als die Französische Revolution in Großbritannien eine beispiellose Kon-
troverse auslöste, wurde die junge Generation radikalisiert, auch jene, die wie
Coleridge oder Wordsworth später die Fackelträger des Konservatismus wur-
den. Godwin gehörte zum „Klub der Revolutionäre“, in dem Sympathisanten der
Französischen Revolution wie Price verkehrten. Godwin schrieb an der „Political
Justice“, die ursprünglich nur als Widerlegung von Montesquieu konzipiert war.
Das Buch fand reißenden Absatz und ausnahmsweise hat Godwin gut verdient.
Während viele Publizisten von der Regierung Pitt verfolgt wurden, wurde „Po-
litical Justice“ verschont. Angeblich hat Pitt gesagt: „Ein Dreiguinea-Buch kann
nicht viel Unheil unter denen anrichten, die keine drei Schillinge entbehren kön-
nen“ (zit: Ramus: 36). In einem Hochverratsprozess gegen viele seiner Freunde
hat Godwin publizistische Punktsiege über den Repressionsapparat erzielt, wie
sie allenfalls in einem vergleichsweise liberalen System denkbar waren. Nach eini-
gen wenig bedeutenden Romanen gelang ihm ein literarisch bedeutendes Werk in
„Caleb Williams“. Die vorromantische Betonung der Subjektivität und des Unbe-
wussten verschmolz mit einer gesellschaftlich-politischen Analyse der Zeitläufe.
Oft ist dieser Roman nur als Illustration zu seiner politischen Philosophie ange-
sehen worden.
1797 heiratete Godwin Mary Wollstonecraft, eine Vorkämpferin der radika-
len Frauenbewegung (vgl. Bd. 1, Kap. II, 2). Sie starb bereits nach fünf Monaten
Anarchistischer Radikalismus in Großbritannien 83

im Kindbett. Die Tochter Mary Godwin, der sie das Leben gab, heiratete spä-
ter – sehr gegen den Willen des eifersüchtigen Vaters – seinen Bewunderer, den
Dichter Shelley. Sie wurde in der Restaurationsphase die Schöpferin der Horror-
Figur „Frankenstein“, die nicht ohne Bezug auf die vergangenen revolutionären
Ereignisse gewesen ist. Diese formelle Heirat ist als intellektuelle Inkonsequenz
gewertet worden, denn Godwin (PJ II: 507 f) hatte in seinem Werk die Ehe als das
„übelste der Monopole“ und „System des Betrugs“ abgelehnt. In einem „reason-
able state of society“ würde freie Liebe und Promiskuität herrschen. Lebenslange
Bindung für eine ganz ungewisse Zukunft und unkonditionierte Treuegelöbnisse
waren in Godwins Theorie nicht vorgesehen. Die beiden Ehepartner haben die
Eheschließung als reine Formalität betrachtet. Godwin hat sie in seinen Tagebü-
chern nicht einmal erwähnt. Der frühe Tod Marys hat den äußerlich immer kon-
trolliert wirkenden Godwin fast aus der Bahn geworfen und seine spätere Un-
produktivität ist vielfach auf diesen persönlichen Verlust zurückgeführt worden.
Literarische Misserfolge, gesundheitliche Einbrüche und eine wenig glückliche
zweite Ehe mit einer Witwe, die als herrschsüchtig galt, entfremdeten Godwin sei-
nen Freunden. Am Schluss war Godwin ein gebrochener Mann, der sich um Hilfe
an Institutionen wenden musste, die er verachtete. Schon als die Französische Re-
volution sich radikalisierte und im Terrorismus des Wohlfahrtsausschusses en-
dete, kam es generell zu einem Niedergang der radikalen Literatur in England.
Es wurde auch still um Godwin. Nur selten äußerte er sich noch zur politischen
Theorie – etwa in der Verteidigung gegen Malthus im „Essay on the Principle of
Population“ und in den „Thoughts of Man“ (1831).

Herrschaft und Regierung

Godwin sprach meist nicht vom „Staat“, wie die Denker der kontinentalen Tra-
dition, sondern von „government“. Wo das Wort „state“ auftauchte, bedeutete es
vielfach „Zustand“, nicht „Staat“. Darin unterschied er sich von Paine. „Govern-
ment“ wurde nicht nur in der institutionellen Verengung für „Regierung“ ge-
braucht. Je nach Kontext ist „government“ mit „Herrschaft“ „Staat“ oder „Regie-
rung“ zu übersetzen. Godwins Theorie begann mit der Annahme von Thomas
Paine, dass die Gesellschaft das Gute und der Staat, „that brute engine“, das Übel
darstelle. Staat und Gesellschaft hatten für Paine und Godwin unterschiedlichen
Ursprung. Gesellschaft wurde durch unsere Wünsche erzeugt, „government“ von
unserer Verdorbenheit. „Gesellschaft ist in jedem Staat ein Segen, Herrschaft ist
auch in ihrer besten Form allenfalls ein notwendiges Übel“ (PJ I: 124). Die Beto-
nung des Primats der Gesellschaft war jedoch bei Godwin nicht mehr von orga-
nischen Sozialideen geprägt, wie bei Edmund Burke. Menschen haben sich zur
gegenseitigen Hilfe zusammengeschlossen. Die Notwendigkeit der Beschränkung
84 Der Anarchismus

durch Herrschaft aber ist das Produkt „der Irrtümer und Perversität einiger we-
niger“. Die dualistische Konstruktion von Gut und Böse verriet immer wieder die
Sozialisation in der Religion. Die christliche Devise „liebe Deinen nächsten wie
Dich selbst“ hat Godwin verworfen. Das Individuum ist sich selbst, aber auch sei-
nem Nächsten verpflichtet, weil gerechte soziale Beziehungen nur auf Gegensei-
tigkeit begründet sein könnten. Godwins Individualismus war jedoch kein rück-
sichtsloser Egoismus wie später bei Stirner. Das Mutualitätsprinzip sah Godwin
im staatlichen Zustand in Gefahr. Die Staaten versuchten generell, die Bürger ig-
norant zu halten, um sie zu beherrschen. Nur selten wurde diese Ansicht so of-
fen zugegeben, wie von Friedrich Gentz in einem Gespräch mit Robert Owen (vgl.
Kap. II. 2). Im Gegensatz zu Thomas Paine und ähnlich wie Bentham (vgl. Kap. Li-
beralismus) verwarf er die Doktrin der „rights of men“. Rechte erforderten in sei-
nen Augen (PJ I: 158 ff) Herrschaft, die sie definiert und ihre Grenzen bestimmt.
Rechte, die der Staat gewährt, sind immer die Vernichtung anderer Rechte. Der
Staat maßt sich an, über Wert und Unwert von Rechten zu entscheiden, was
nur dem Einzelnen zusteht. Die Godwin-Philologie hat von Auflage zu Auflage
Wandlungen des Verhältnisses zum Staat festgestellt. In der ersten Auflage war der
Staat noch potentielles Instrument des Fortschritts in den frühen Epochen, in der
zweiten Auflage wurde er rein negativ betrachtet. In der dritten Auflage von 1796
kam er zu dem Kompromiss, dass der Staat ein unvermeidliches Übel zur Auf-
rechterhaltung der inneren und äußeren Ordnung sei (Schäffner 1997: 59).
Aufgrund der negativen Einstellung zum Staat verwarf Godwin auch das Straf-
recht. Nur Freiheit konnte für ihn soziale Missstände kurieren. Jede Staatsinter-
vention war ein Übel und konnte allenfalls auf Rache aus sein, da eine a-soziale
Tat durch den Eingriff des Staates nicht ungeschehen gemacht werden könne. Be-
strafung wird von dem Betroffenen immer als ungerecht empfunden, kann da-
her keine bessernde Wirkung durch die Entstehung positiver Überzeugungen ent-
wickeln (PJ I: 179, II: 321 ff). Strafen verderben den Charakter.
Godwin stand zwischen der Aufklärung und dem englischen Radikalismus
des 19. Jahrhundert. Er ist vielfach durch die Brille der französischen Literatur in
Anlehnung an Rousseau und Holbach interpretiert worden. Die neuere Litera-
tur hat eher die englischen Wurzeln seines Denkens betont, trotz des unzweifel-
haften Einflusses der französischen Ereignisse (Schäffner 1997: 49). Die englische
Tradition schloss vor allem die Verbundenheit mit der Lehre des Utilitarismus ein.
Der erste Satz seines Buches lautete: „Das wahre Objekt der moralischen und po-
litischen Untersuchung sind Vergnügen und Glück.“ (PJ I: XXIII). Aber der Nut-
zen war für ihn nicht oberstes Prinzip. Eigentum erschien nur gerecht, wenn es
das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl nicht behindere. Immerhin
gab es noch ein Recht auf Eigentum (PJ I: 169), weshalb er nicht zu den frühen
Sozialisten gerechnet worden ist. Selbst die Ungleichheit des Eigentums war für
Anarchistischer Radikalismus in Großbritannien 85

Godwin ein notwendiges Durchgangsstadium (PJ II: 448). Godwin war für Egali-
sierung, vor allem von Eigentum zur Vermeidung von Machtmonopolen, aber er
glaubte nicht, dass der Drang zur sozialen Unterscheidung (love of distinction)
verschwinden werde (PJ II: 426, 485). Wie der Glaube an einen Gott unausrottbar
ist, so ist der Aberglaube an Herrschaft schwer zu überwinden. Die bestehende
Eigentumsordnung – vom Staat geschützt – war für Godwin die Quelle aller Las-
ter wie Neid und Rachsucht. Dennoch ließ sich Godwin nicht wie in der anarchis-
tischen Literatur (Ramus: 75) zum „Kommunisten“ stilisieren. Allenfalls ein ver-
einbarter Kommunismus kam in Frage, aber Godwin hielt gemeinsames Wohnen
und Produzieren für die Errichtung einer gerechten Gesellschaft nicht für nötig.
Privateigentum war möglich: „Whatever then comes into my possession without
violence to any other man, or to the institutions of society, is my property“ (PJ I:
169). Spätere Anarchisten in dem gleichen Dilemma zwischen Eigentumsrecht
und neuen Gesellungsformen haben sich durch strikte Trennung von „Eigentum“
und „Besitz“ geholfen. Diese Unterscheidung wurde theoretisch bei Godwin noch
nicht strikt durchgehalten.

Kritik des Parlaments und der Gesetzgebung

Während Bentham unermüdlich an der Verbesserung der Gesetzgebung arbeitete,


war diese für Godwin der „fluchwürdigste Teil“ staatlicher Tätigkeit. Parlamente
gaben letztlich ohnehin nicht den Ausschlag, weil der Staat im Militär immer
noch eine Machtreserve in der Hinterhand hielt. Nationalversammlungen sug-
gerieren Beschlüsse mit fiktiver Einstimmigkeit. Tatsächlich aber dominiert die
Mehrheit, die mit der „Macht der Eloquenz“ auch ungerechte Maßnahmen durch-
setzen kann. Daneben entsteht durch irrationale Vorurteile eine Art „realer Ein-
stimmigkeit“. In diesen Grundkonsens gehen „tausend Motive“ ein, „unabhängig
von Vernunft und Evidenz“, wie Godwin am britischen Parlament demonstrierte.
Debatten und Diskussionen sind ihrer Natur nach Beförderer der „intellektuel-
len Verbesserung“. Aber unter den ungünstigen Bedingungen des repräsentati-
ven Systems verlieren sie ihren heilsamen Charakter (PJ II: 203). Die Arbeitsweise
eines Parlaments führte zu dem Widersinn, dass rationale Wesen stundenlang da-
mit beschäftigt sind, „einzelne Paragraphen abzuwägen und Kommas anzupassen“.
Unzählige Amendments produzieren ein Chaos aus dem, was wie ein vernünfti-
ger Vorschlag erschien. Es erfordere schließlich der Anstrengung eines Hercu-
les, um das Chaos der Elemente in eine grammatisch und logisch stimmige Form
zu bringen. Godwins Kritik nahm alle Argumente der späteren Parlamentskri-
tik bereits vorweg: Gesetze spielen sich als Prophezeiungen über künftiges Ver-
halten der Menschen auf, obwohl jedermann weiß, dass niemand die ungewisse
Zukunft kennt. Gesetze sind niemals eindeutig. Daher können sie bei der Durch-
86 Der Anarchismus

führung von der Verwaltung in ihrem Sinn pervertiert werden. Die Mehrdeutig-
keit der Gesetze führt dazu, dass Sophistereien der Advokaten bewirken – dieser
Stand kann niemals „ehrenhaft“ sein – dass bei Prozessen derjenige verliert, der
das bessere Recht auf seiner Seite zu haben scheint (PJ II: 404). Gesetze haben die
Unart, dass sie in ihrem gutgemeinten Übel „fortzeugend Böses gebären“. Immer
neue Verordnungen und Gesetze müssen einen Status quo schützen, der letztlich
immer die Reichen begünstigt.
Jede Regierungsform läuft auf die „Tyrannei“ hinaus. In despotischen Ländern
nimmt sie die Form einer „uniformen Usurpation“. In „Republiken“ (im Sinn von
res publica ohne Despotie) wird die Usurpation konform den Schwankungen der
öffentlichen Meinung. Der Anspruch kollektiver Weisheit ist unsinnig. Auch Ab-
geordnete bleiben völlig verschieden. Eine Masse von Leuten bleibt eine Masse
von Leuten, aus denen auch durch Debatte keine Einheit entsteht. Ganz mochte
Godwin (PJ II: 207) jedoch auf das Parlament nicht verzichten. Man sollte die Ver-
sammlungen möglichst selten einberufen – wie die Römer ihre Diktatoren – um
Beschwerden und Vorschläge der Wahlkreise anzuhören. Was aber sollte an die
Stelle der Gesetzgebung treten ? Godwins Antwort: die Vernunft. Wie diese aber
organisiert werden konnte, blieb so vage wie bei Rousseaus „grand législateur“.

Anarchie als herrschaftsfreier Zustand

Anarchie hatte seit der griechischen Staatsformenlehre als Gegenbegriff zum ge-
ordneten Gemeinwesen eine überwiegend negative Bedeutung, obwohl es selbst
in der Antike Anklänge an anarchistisches Denken gab (Zeno, Karpokrates). Erst
in der Lehre vom Naturzustand bekam der Begriff seine positive Bedeutung. Nach
Godwin hat jedes Volk eine Phase der Anarchie durchlaufen, ehe es den „state of
policy“ entwickelte. Das englische Volk lebte im Zustand der Anarchie vor der Re-
stauration. Damit bekam Anarchie eine zweite Bedeutung: ein Übergangszustand
der Revolution: „revolution is a species of anarchy“ (PJ II: 371). Anarchie wurde
nicht nur dem politischen Zustand gegenüber gestellt, sondern auch als Gegen-
pol zum Despotismus gewürdigt. Anarchie war kein idyllischer Zustand, sondern
hatte Nachteile für die persönliche Sicherheit des Einzelnen und aufgrund sei-
nes allzeit prekären Zustandes. Der Zustand der Anarchie konnte gegen die Des-
potie nicht einfach in der ursprünglichen Form des Naturzustands wieder herge-
stellt werden. Anarchie für moderne Völker konnte nur segensreich sein, wenn
„reflection and enquiry“ das geistige Leben der Menschen beherrschte. Anarchie
war kein Selbstzweck. Deutlich sah er die Gefahr des Umschlags in neue Despotie,
falls das Volk für den a-staatlichen Zustand noch nicht reif ist.
Erst voluntaristische Varianten des Anarchismus von Bakunin bis Sorel gaben
diesen aufklärerischen Standpunkt des Frühanarchismus auf. Schon bei Godwins
Anarchistischer Radikalismus in Großbritannien 87

Schwiegersohn, dem Dichter Percy Bysshe Shelley (1792 – 1822) trat das Irrationale
des Anarchiebegriffs zum Vorschein. In dem Gedicht „The Masque of Anarchy“
(1986: 339), das er anlässlich der blutigen Unterdrückung des Peterloo-Aufstandes
in Manchester von 1819 schrieb, wurde die Anarchie zum mystischen Konsens des
freiheitsliebenden Volkes:

„Then all cried with one accord:


Thou art King, and God, and Lord;
Anarchy to thee we bow;
Be thy name made holy now !“

Aber auch Shelley blieb der Godwinschen Philosophie der Gewaltlosigkeit treu,
die bis hin zu Tolstoj eine Tradition des anarchistischen Denkens ausmachte.
Shelley empfahl den englischen Reformern passiv zu bleiben und Godwin ver-
zichtete weitgehend auf sozialpolitische Reformvorschläge, wie sie die utopischen
Frühsozialisten damals publizierten.
Godwin hat im Gegensatz zu späteren kollektivistischen Anarchisten das Recht
auf Assoziation rein individualistisch aufgefasst und keine Einschränkungen ak-
zeptiert, während die föderalistische Richtung, wie sie Proudhon vertrat, zwar die
kleinen Handlungseinheiten begünstigte, aber nicht nur von bloßen Individuen
ausging, so sehr auch Proudhon ein Koalitions- und kollektives Streikrecht der
Arbeiter ablehnte. Daher verwarf Godwin jede Theorie des Sozialvertrags. Kein
irgendwann einmal geschlossener Vertrag konnte folgende Generationen bin-
den (PJ I: 188 ff). Die Hilfskonstruktion, dass es einen schweigenden Konsens der
Nachkommen der Vertragschließenden gebe, ließ Godwin nicht gelten. Die Ver-
tragsidee war für ihn gleichbedeutend mit einer ideologisierten Variante der Ge-
walt. Nach Locke und Rousseau war mit Godwin eine bemerkenswerte Wende
eingetreten: die Lehre vom Naturzustand löste sich von der Vertragslehre, die er
erbittert ablehnte.
Godwin demonstrierte die spezifische Aufgeklärtheit des britischen politi-
schen Denkens. Zwischen Staat und Gesellschaft arbeitete er empirisch an einem
Bild der gerechten Gesellschaft. Es trug normative Züge, wurde aber nicht rein
spekulativ gewonnen und war auf eine induktive Lehre von den Bedürfnissen des
Menschen aufgebaut. Ein durchdachter bürgerlicher Radikalismus lag ihm näher
als die Verklärungen von kollektiven Akteuren der Geschichte wie „das Volk“ oder
„das Proletariat“. Godwin stand somit zwischen den Traditionssträngen des bür-
gerlichen Radikalismus und des sozialistischen Kollektivismus. Godwin hat nur in
seiner Frühzeit auf einige Denker des Kontinents gewirkt. Proudhon ging einmal
auf ihn ein (Système de contradictions économiques. Paris, Rivière, 1923, Bd. II:
342). Da er ihn jedoch unter „Kommunismus“ einordnete, kann er nur wenig von
88 Der Anarchismus

dem Briten gelesen und noch weniger verstanden haben. Godwins Einfluss ent-
zog sich einer strikt ideologischen Vereinnahmung und war stark nur bei ande-
ren großen Individualisten wie Ralph Waldo Emerson in Amerika oder Baader
in Deutschland, der bei einem Aufenthalt in Edinburgh starke Anregungen von
Godwin empfangen hatte.

Quellen
Godwin: Enquiry Concerning Political Justice and Its Influence on Morals and
Happiness (1793, 1795). Neuauflage (Hrsg.: F. E. L. Priestley). Toronto, University
of Toronto Press, 1946, 3 Bde (zit: PJ).
Godwin: Enquiry Concerning Political Justice (Hrsg.: I. Kramnik). Harmondsworth,
Penguin, 1976.
Godwin: Collected Novels and Memoirs of William Godwin (Hrsg.: M. Philip).
London, Pickering, 1992, 8 Bde.
Godwin: The Polical and Philosophical Writings (Hrsg.: M. Philip). London,
Pickering, 1993, 7 Bde.
Godwin: Of population : an enquiry concerning the power of increase in the
numbers of mankind ; being an answer to Mr. Malthus’s essay on that subject.
London, 1820
P. B. Shelley: Poetical Works. Oxford, Oxford University Press, 1970, 1986.

Literatur
F. K. Brown: The Life of William Godwin. London, Dent, 1926.
J. P. Clark: The Philosophical Anarchism of William Godwin. Princeton, Princeton
University Press, 1977.
G. Crowder: Classical Anarchism. The Political Thought of Godwin, Proudhon,
Bakunin, and Kropotkin. Oxford, Clarendon, 1991.
D. Locke: A Fantasy of Reason. The Life and Thought of William Godwin. London,
Routledge & Kegan, 1980.
P. Marshall: William Godwin. New Haven, Yale University Press, 1984.
M. Philip: Godwin’s Political Justice. London, Duckworth, 1986.
P. Ramus: William Godwin als Theoretiker des kommunistischen Anarchismus.
Westbevern, Verlag Büchse der Pandora, o. J.
R. Schäffner: William Godwin. In: Ders: Anarchismus und Literatur in England.
Heidelberg, Winter, 1997: 48 – 78.
Der föderalistische Anarchismus in Frankreich 89

2 Der föderalistische Anarchismus in Frankreich:


Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865)

Proudhon war der erste Denker der Linken in Frankreich, der eine Weile den Be-
griff der Anarchie im positiven Sinne benutzte. Für ihn war politische Theorie
die Wissenschaft der Freiheit: „Die Politik ist die Wissenschaft von der Freiheit:
die Beherrschung des Menschen durch den Menschen, gleichviel hinter welchem
Namen sie sich verbergen mag, ist Unterdrückung; die höchste Vollkommenheit
der Gesellschaft findet sich in der Vereinigung von Ordnung und Anarchie“ (Eig:
232). Damit war bereits klargestellt, dass Anarchie nicht wie in der Umgangs-
sprache Unordnung bedeutete. Anarchie war für Proudhon ein neues freies Ord-
nungsprinzip. Im Gegensatz zu Stirner, der den Amoralismus des deklassierten
Bürgers vertrat, hat Proudhon als aufsteigender Kleinbürger seine Moralität und
Rechtschaffenheit nicht nur proklamiert, sondern auch persönlich vorgelebt. Ob-
wohl er arm war, hat er seine geistige Unabhängigkeit bewahrt und weigerte sich
daher, permanent für bestimmte Zeitungen zu schreiben. Geldangebote hat er
mehrfach abgelehnt (Diehl 1968: 690).
Proudhon stammte aus der Franche Comté bei Besançon. Victor Hugo, Fou-
rier, Courbet und andere Linke gingen aus dieser Region hervor. Sie hat – wie die
frankophone Seite des Schweizer Jura jenseits der Berge – bis hin zu den Work-
ins bei der Uhrenfabrik LIP nach 1968 – immer wieder spektakuläre libertäre Be-
wegungen hervorgebracht. Auch die russischen Anarchisten von Bakunin bis
Kropotkin pilgerten in diese Region. Der Vater Proudhons war Küfer, die Mutter
Dienstmagd in einer Brauerei. Bis zu seinem 12. Lebensjahr diente Proudhon als
Ochsenhirt. Durch einen Erlass des Schulgelds konnte er zu Schule gehen, blieb
aber zu arm, sich die Schulbücher zu kaufen. Nach einer Buchdruckerlehre ver-
suchte er sich als selbständiger Drucker niederzulassen – ohne Erfolg. Fourier
wurde durch die krummen Geschäfte seines Vaters in die Kritik am Kapitalis-
mus getrieben. Proudhon wurde eher aus dem gegenteiligen Motiv systemkri-
tisch: er sah, wie sein Vater trotz großer Rechtschaffenheit nie auf einen grünen
Zweig kam.
Die Akademie in Besançon wurde Anlass für Proudhons erste Publikationen.
Preisfragen von Regionalakademien hatten seit Rousseau (Dijon) und Babeuf
(Arras) immer wieder den Einstieg in theoretische Erörterungen mittelloser poli-
tischer Denker geboten. Wie bei Robert Owen war die erste öffentliche Arbeit der
Verteidigung der Sonntagsruhe gewidmet. Proudhon begründete in der Schrift
„Über die Nützlichkeit der Sonntagsruhe“ diesen Nutzen vor allem mit dem Argu-
ment der Erholung der arbeitenden Klassen. Er gewann für die Arbeit eine Bron-
zemedaille, durfte sie aber nicht publizieren, denn durch Kritik an der Eigentums-
ordnung schien sie bereits politisch suspekt.
90 Der Anarchismus

1840 wurde Proudhon durch die Schrift „Qu’est-ce que la proprieté ?“ auf einen
Schlag berühmt. Wieder hatte er eine Preisfrage der Akademie von Besançon be-
antwortet. Die Akademie war schockiert. Sie forderte ihn auf, sich vor ihr zu ver-
antworten. Proudhon war dazu nur in schriftlicher Form bereit. Er versuchte
seine Entlastung durch Argumente, die er auch in späteren Prozesse immer wieder
einsetzte: er habe keinen Aufruf zum Aufruhr erlassen, seine Arbeit sei rein wis-
senschaftlicher Art. Er fand seine Thesen nicht sehr ketzerisch, weil sein Plädoyer
gegen die Kinderarbeit schon auf dem Boden geltenden aber nicht durchgesetz-
ten Rechtes stehe. Auf Anraten von Adolphe Blanqui, dem Bruder des bekann-
ten Revolutionärs Auguste Blanqui, wurde von einer gerichtlichen Verfolgung
Proudhons abgesehen.
Kritik an dem Buch über das Eigentum kam nicht nur von rechts. Unter
den Linken fühlten sich die Fourieristen angegriffen, weil sie bei Proudhon den
Kleinbetrieb durch die genossenschaftliche Produktion gefährdet sahen. Das Pri-
vateigentum hatte in Proudhons Konzeption nach ihrer Ansicht noch zu viele
Privilegien. Der Gegensatz zu den Frühsozialisten trat bereits klar zu Tage: Jene
dachten an unverbundene sozialistische Inseln. Proudhons Werk widmete sich
hingegen mehr dem gesamtgesellschaftlichen Aspekt. Nicht nur die Produktions-
organisation stand im Vordergrund, sondern die Verteilungs- und die Zirkula-
tionssphäre wurden behandelt. Marx hat diese Arbeit noch positiv besprochen,
obwohl ein gewisser Dissens schon 1840 bestand. 1846 versuchte er Proudhon als
Mitarbeiter für die Deutsch-Französischen Jahrbücher zu gewinnen. Proudhon
antwortete hinhaltend, und machte „vielseitige Beschäftigung“ und einen „na-
türlichen Hang zur Trägheit“ dafür geltend, dass er weder viel noch oft schrei-
ben könne.
1846 erschien Proudhons Beitrag zur Ökonomie „Contradictions écono-
miques“. Der Untertitel „Philosophie des Elends“ veranlasste Marx zur der kalau-
erartigen Replik: „Das Elend der Philosophie“. Obwohl Proudhons Werk ein Jahr
später bereits in dritter Auflage erschien, haben spätere Generationen es eigent-
lich nur durch das Pamphlet seines deutschen Widersachers zur Kenntnis genom-
men. Mit Recht insofern, als das Gegenbuch origineller schien. Proudhon hat nur
in epischer Breite und wenig systematisch, endlose Moralisierungen seiner geläu-
figen Ansichten ausgeführt. Marx hingegen tat einen entscheidenden intellektuel-
len Schritt in Richtung Klassenanalyse und Revolutionstheorie, Akzeptierung der
unvermeidlichen Monopolisierung, wo Proudhon ein unkritisches Konkurrenz-
denken bewahrte, und zur Organisationstheorie für die Arbeiterklasse. Marx ging
analytisch weit über die Appell-Philosophie seiner französischen Vorgänger hin-
aus. Er trat als kühler naturwissenschaftlicher Kopf in Erscheinung, wo Proudhon
wie ein betulicher Heilpraktiker wirkte, der zu kurieren versuchte, noch ehe eine
wissenschaftliche Diagnose gestellt worden war.
Der föderalistische Anarchismus in Frankreich 91

Proudhon war über die Grobheiten von Marx sehr verletzt und beklagte ein
Gewebe von „Verleumdungen, Fälschungen und Plagiaten“. Auch Muelberger
(1891) hat später die Plagiatsthese wieder aufgegriffen. Die Gemeinheit, die Proud-
hon so kränkte, lag in der Arroganz des Studierten gegenüber dem Autodidakten:
„Herr Proudhon genießt das Unglück, auf eigentümliche Weise verkannt zu wer-
den. In Frankreich hat er das Recht ein schlechter Ökonom zu sein, weil man ihn
für einen tüchtigen deutschen Philosophen hält; in Deutschland dagegen darf er
ein schlechter Philosoph sein, weil er für einen der stärksten französischen Ökono-
men gilt. In unserer Doppeleigenschaft als Deutscher und Ökonom sehen wir uns
veranlaßt, gegen diesen doppelten Irrtum Protest einzulegen“ (MEW, Bd. 4: 65). In
der Geschichte des ökonomischen Denkens ist man von Pareto (Les systèmes so-
cialistes. Paris, 1926, 2. Aufl.: 457) bis zu Schumpeter (History of Economic Ana-
lysis. New Yor,.1954: 457) dem Marxschen Verdikt meist gefolgt. Schumpeter war
nicht weniger bissig als Marx, wenn er Proudhon unterstellte, dass dieser seine
Befunde selbst absurd fand, aber statt auf einen Fehler seiner Erkenntnismethode
zu schließen, den Forschungsgegenstand als absurd erkläre. Historiker der politi-
schen Theorien waren hingegen toleranter als ökonomische Dogmengeschichtler,
weil sie Proudhon als normativen Denker ernst nahmen (Ritter 1969: 4). Gerade
die normative Komponente war Marx als ökonomisches Wunschdenken ein Dorn
im Auge: „Das Werk des Herrn Proudhon ist nicht ganz einfach eine Abhandlung
über politische Ökonomie, ein gewöhnliches Buch, es ist eine Bibel: Mysterien,
Geheimnisse, Offenbarungen, nichts davon fehlt“ (MEW Bd. 4: 66). Berechtigt
schien Marxens Vorwurf, dass Proudhon Hegel missverstehe. Proudhon konnte
nicht deutsch lesen und nahm seine Informationen aus zweiter Hand. Dennoch
hat er einmal behauptet (Corr: I: XXII), dass die drei wichtigsten Quellen für ihn
die Bibel, Adam Smith und Hegel gewesen seien – keine sehr in sich stimmige Tri-
nität. Besonders Smith erscheint unlogisch, wenn man an Proudhons Abneigung
gegen den freien Handel denkt. Dialektik verstand Proudhon – wie in antiken
Dialogen – als These und Antithese. Marx schulmeisterte: es fehlt die Synthese:
„Er betrachtet die Kategorien wie der Spießbürger die großen Männer betrachtet.
Napoleon ist ein großer Mann, er hat viel Gutes getan, er hat auch viel Schlechtes
getan. Die gute und die schlechte Seite … bilden für Herrn Proudhon den Wider-
spruch in jeder Kategorie. Zu lösendes Problem: die gute Seite bewahren und die
schlechte beseitigen“ (MEW Bd. 4: 131).
Als die Revolution 1848 ausbrach, kam zum Ausdruck, dass er, der als Revolu-
tionär galt, sie nicht gewollt hat. Sie kam ihm ungelegen für seine Pläne zur Ver-
allgemeinerung des Eigentums und zur Reform des Geldwesens. Nicht Proudhons
Variante des Sozialismus schien durch die Revolution gefördert zu werden, son-
dern die des Staatssozialismus von Louis Blanc. Proudhon bekämpfte Louis Blanc
(Bek: 50 ff), weil er einerseits immer mehr Staatsintervention und andererseits
92 Der Anarchismus

die Herausforderung der Reaktion fürchtete. Proudhon hatte keinen aktiven An-
teil an der Revolution. Aufgrund seiner Berühmtheit als Politiker wurde er jedoch
im April bei den Wahlen zur Nationalversammlung in die Politik hineingezogen
und an mehreren Orten als Kandidat aufgestellt. Er wurde nicht gewählt, weil das
Wahlrecht für die Linke recht ungünstig war. Erst nach dem Sieg der Reaktion
über die Linke kam er im Juni zusammen mit Thiers, Hugo und Louis Bonaparte
in die Nationalversammlung. Die gescheiterte Politik der Nationalwerkstätten
des „regierungssüchtigen Louis Blanc“ – wie Proudhon das nannte – haben auf
der Linken ein Interesse an den weniger radikalen Gedanken Proudhons geweckt,
während das Volk von Februar bis Juni 1848 eher Louis Blanc nachlief, der po-
pulärer, beredter und skrupelloser auftrat. Aber auch in dieser Zeit haben Linke
Proudhons Reden mit Pauschalvorwürfen attackiert wie „Sie haben das Recht auf
Arbeit getötet“. Proudhon (Bek.: 117) fand hingegen, dass inzwischen Thiers und
die Gemäßigten den Sozialismus überhaupt getötet hätten. Im privaten Gespräch
konnte Proudhon recht geistreich sein, auf der Tribüne aber war er eher linkisch,
weil die Natur ihm das Talent der Rede versagt habe, wie er selbst zugab. Aufsehen
erregte Proudhon als Parlamentarier mit dem Vorschlag vom 31. Juli 1848 zu den
Finanzen: drei Jahre lang sollte ein Drittel aller Staatseinkünfte abgeschöpft wer-
den, um mit diesem Geld den Verkehr zu beleben und den Zins zu senken. Diese
Lieblingsidee brachte Proudhon bald in Widerspruch zu seinem ursprünglichen
Bekenntnis zum Anarchismus: er plädierte damit für eine Staatsintervention und
schränkte die Idee der Selbstorganisation in ihrer Geltung ein. Dennoch wurde er
nach dem Ausdruck eines Journalisten „der Schreckensmann“ (homme terreur).
Man predigte gegen ihn, er wurde beleidigt, verflucht und denunziert. Die From-
men bedrohten ihn in Briefen mit dem Zorn Gottes, die Prostituierten richteten
Glückwünsche an ihn, „deren unzüchtige Ironie von den Verirrungen der öffent-
lichen Meinung Kenntnis gab“ (Bek.: 118).
Die theoretische Inkonsequenz war die Folge seiner dogmatischen Grund-
prinzipien, die ihn in der Wahl der Mittel manchmal nicht wählerisch sein ließ.
Der glühende Republikaner Proudhon ging soweit, sich notfalls mit dem Des-
poten Bonaparte zu verbünden. Es gab auch in Frankreich von Saint-Simon bis
Constant einige Beispiele für diesen opportunistischen „Machiavellismus“ aus
theoretischer Obsession. Im September 1848 ließ Bonaparte den berühmten So-
zialisten rufen. Er blieb jedoch trotz eines freundlichen Gesprächs skeptisch und
bekämpfte Napoleons Kandidatur für die Präsidentschaft der zweiten Republik.
In einer posthumen Schrift über Napoleon III (1900: 182) hat er seine Gründe
der Ablehnung der Kandidatur Bonapartes noch einmal zusammengefasst. Louis-
Napoléon konnte nur der Reaktion dienen. Dass die Mehrheit des Volkes den
„18 Brumaire“ des Louis Bonaparte billigte, verstärkte seine Abneigung gegen die
Demokratie und die „Masse“, die sich zum Komplizen der Diktatur machte. Das
Der föderalistische Anarchismus in Frankreich 93

traditionelle Übel der französischen Zentralisation trug seiner Ansicht nach dazu
bei, dass das Volk – der Experimente müde – sich in die Armee einer neuen Dik-
tatur warf. Ähnlich wie Marx interpretierte er das 2. Empire als Dammbau gegen
den Sozialismus (1900: 247, 249, 272). Trotz seiner Gegnerschaft gegen Napoleons
Kandidatur – nur Cavaignac war ihm unter den Kandidaten für die Präsident-
schaft der zweiten Republik noch verhasster – hat Proudhon im Dezember 1849
im Gefängnis – er war wegen seiner Angriffe auf den Präsidenten der Republik
hineingeraten – überlegt, ob er Bonapartes Hilfe zur Verwirklichung seiner Volks-
bank-Pläne benutzen könne.
Die Gründung einer Volksbank hatte für Proudhon (Bek: 148) einen dreifa-
chen Zweck: 1) Die vorher entwickelten Prinzipien der sozialen Verfassung anzu-
wenden und ein Vorspiel der politischen Reform durch ein Beispiel von freiwilli-
ger, unabhängiger und besonderer Zentralisation zu liefern. 2) Die Sucht, regiert
zu werden, anzugreifen, welche nichts anderes als die Übertreibung des Kommu-
nismus ist, in dem der Volksinitiative ein neuer Aufschwung gegeben und die in-
dividuelle Freiheit durch die Gegenseitigkeit mehr und mehr befördert werden
sollte“. 3) Allen Produzenten Arbeit und Wohlstand zu sichern, indem man sie zu-
einander als Prinzip und Zweck der Produktion in ein Verhältnis setzte, mit an-
dern Worten: sie als Kapitalisten und Konsumenten organisierte.“ Die Volksbank
sah er nicht als eine Staatsbank an, aber auch nicht als kapitalistische Aktienge-
sellschaft, sondern als Gemeineigentum aller Bürger. Kredit sollte unentgeltlich
gegeben werden.
Am 2. Dezember 1851 hat Bonaparte seinen Staatsstreich ausgeführt, den
Proudhon vorausgesehen hatte. Im Juni 1852 wurde Proudhon aus dem Gefängnis
entlassen und publizierte „Idée générale de la Révolution au XIX siècle“ mit dem
Aufruf zu einem Bündnis von Proletariat und Mittelklassen zum Sturz des Kapi-
talismus. Die Polizei wollte die Schrift verbieten. Proudhon wandte sich an Napo-
leon III. Er gab zu, ihn als Feind bekämpft zu haben, weil er ein Feind der Repu-
blik gewesen sei. Nun tröstete er sich damit, dass Napoleon ein „Repräsentant der
Revolution wider Willen“ werde, und hoffte auf eine soziale Revolution von oben.
Zum zweiten Mal war Proudhon inkonsequent, weil er zuvor nie etwas vom Staat
erhofft hatte. Immerhin konnte Proudhon am Anfang des zweiten Empire relativ
unbehelligt leben, weil er sich in seiner Schrift mit heftigen Attacken von vielen
sozialistischen Schulen distanziert hatte.
1858 richtete Proudhon eine Petition an den Senat. Er forderte darin die Ein-
führung eines Moralunterrichts nach den Grundlagen der Revolution, die Aufhe-
bung aller Klöster und die Verteilung aller geistlichen Besitztümer an die Gemein-
den. Die Kirche war für Proudhon eine Institution, welche die Armen nicht liebte
und half, Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft zu erhalten. Statt
der Behandlung vor dem Parlament kam es zur Vorladung Proudhons vor ein
94 Der Anarchismus

Gericht. Er entzog sich der Bestrafung durch die Flucht nach Belgien. Erst 1860
wurde Proudhon amnestiert, noch später als Louis Blanc und Victor Hugo. Die
Begründung für den Gnadenerweis lautete, dass seine Vergehen religiöser und
nicht politischer Natur gewesen seien.
Im Exil hatte Proudhon das Buch „Krieg und Frieden“ geschrieben, das 1861
erschien. Der Titel wurde von Tolstoj für seinen bekanntesten Roman übernom-
men. Tolstoj hatte Proudhon 1862 getroffen und ihn über seinen starken Einfluss
in Russland aufgeklärt. Tolstoj übernahm viele seiner sozialen Ideen – bis auf
die antireligiöse Note im Werk Proudhons. Proudhons Freunde hatten sich vom
Autor eine pazifistische Schrift erhofft. Sie wurden enttäuscht. Wie Comte ver-
trat Proudhon die Meinung, der Krieg sei eine unerlässliche harte Schule der Ge-
sellschaft. Dass das Wort „heilig“ dabei fiel („la guerre s’affirme dans l’humanité
comme justicière, héroique et divine“ GP: 317), hat zur Berufung der Faschisten
auf Proudhon später nicht wenig beigetragen. Krieg hatte für Proudhon eine Mis-
sion im Dienst der Gerechtigkeit. Er erklärte die Entstehung von Kriegen ökono-
misch aus der ungleichen Entwicklung der Länder. Bei der Rechtfertigung von
Kriegen ging er irriger Weise davon aus, dass der Angreifer jeweils der wirtschaft-
lich Schwächere sei, was sich im Krieg 1870/71, den Proudhon nicht mehr erlebte,
keineswegs bestätigte. „Krieg und Frieden“ war als historische Studie über die Zi-
vilisation, die immer mit Krieg beginnt, aber doch zur Stiftung eines universel-
len Friedens strebt (GP: XII). Die Demokratie war für Proudhon keine Garan-
tie, dass der Frieden zum Prinzip der Politik werde. Er bedauerte, dass ein „falsch
verstandener revolutionärer Eifer“ die Regierung in weitere Kriege getrieben habe.
Gleichwohl wagte er die optimistische Prognose, dass der Frieden nahe sei, und
dies vermutlich das Werk des 19. Jahrhunderts werde (GP: 499).
1863 erschien die Schrift über das „Föderative Prinzip“. Proudhon brach in die-
sem Buch völlig mit der Idee der Demokratie. Schon zuvor hatte er das allge-
meine Wahlrecht abgelehnt. Er gab auch den Gedanken der „Anarchie“ als wün-
schenswertes Regime auf und entwickelte den Gedanken des „Föderalismus“, der
einflussreich von Spanien (Pi y Margall) bis Russland (Narodniki) werden sollte.
1865 starb Proudhon in großer Armut in Passy, wo er sich nach seiner Heimkehr
aus Belgien niedergelassen hatte. Eine Bewegung hat er im Gegensatz zu einigen
Frühsozialisten wie Saint-Simon, Fourier oder Cabet nicht gegründet. Seine An-
hänger beriefen sich auf einen großen Publizisten.

Ökonomie und Politik

Von allen Anarchisten hat Proudhon vergleichsweise am stärksten ökonomisch


gedacht. Die griffige Formel „Eigentum ist Diebstahl“ von 1840 hat viel zur Ver-
kennung Proudhons beigetragen. Nicht nur Konservative wie Donoso Cortés ha-
Der föderalistische Anarchismus in Frankreich 95

ben das Buch als „Teufelswerk“ diskriminiert. Auch der Liberale Tocqueville hat
es im Parlament 1848 als den Beginn aller sozialistischen Verirrungen hingestellt.
Die Eigentumsschrift war das lesbarste Buch Proudhons. Noch war die Gedan-
kenführung nicht – wie in späteren Werken – völlig von Moral und Pädagogik
überwuchert. Proudhon lehnte darin die Aufstellung eines „Systems“ ab. Er be-
hauptete damals noch, dass er es anderen überlasse, die Welt zu erziehen. Zwi-
schen den Regimen „Eigentum“ und „Kommunismus“ lag für ihn das „System
der Freiheit“ oder „die Anarchie“. Eigentum sollte in diesem Regime verschwin-
den, nicht aber der Besitz. Eigentum erklärte er (Eig: 231) für „Selbstmord“, Besitz
hingegen sei legitim. Das Recht der Aneignung sollte egalisiert werden. Eigentum
sei durch Vererbung starr und hierarchisch verteilt. Besitz hingegen könne flexi-
bel an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden. Proudhon war Anhänger
der Arbeitswertlehre. Arbeit zerstört Eigentum auf die Dauer, da es die kollek-
tive Aneignung fördere. Da er Profite durch Handel als Verstoß gegen den Grund-
satz der Gerechtigkeit ansah, entwickelte er ein System des Naturaltausches mit
Hilfe einer Volksbank. Nur Kommunisten sah er als generelle Gegner von Be-
sitz. Proudhon hingegen wollte den Besitz gerechter verteilen. Sein Ideal war eine
Gesellschaft von kleinen Pächtern, in der jeder arbeitete. Rentner und Parasiten
sollte es nicht mehr geben, Luxusgüter würden überflüssig werden. Die Gemein-
den sollten das Obereigentum am Boden behalten. Proudhons System war nicht
einmal „sozialistisch“, wenn darunter die Vergesellschaftung der Produktionsmit-
tel verstanden wird. Er bevorzugte daher den Ausdruck „Mutualismus“, der ein
System von Tausch und Kredit auf Gegenseitigkeit darstellte. Jedes Mitglied der
Genossenschaft sollte ein Nutzungsrecht besitzen. Jeder sollte zwar arbeiten, aber
gegen die sozialistischen Vorstellungen von Louis Blanc hielt er ein Recht auf Ar-
beit unter den Bedingungen privater Produktion nicht für möglich. Den Kom-
munismus hat Proudhon schon in der Eigentumsschrift bekämpft (Eig: 210): „Der
Kommunismus ist Ungleichheit, aber im entgegengesetzten Sinne als das Eigen-
tum. Das Eigentum ist die Ausbeutung des Schwachen durch den Starken; der
Kommunismus ist die Ausbeutung des Starken durch den Schwachen“. Kommu-
nismus konnte zwar die Ungleichheit erfolgreich bekämpfen, aber er fürchtete,
dass in diesem System an Freiheit verloren werde, was man an Sicherheit hinzu
gewönne.
Proudhons Umwälzung der Gesellschaft fand nicht in der Produktionssphäre,
sondern in der Teilungs- und Zirkulationssphäre statt. Das Konkurrenzsystem
blieb in seinem Modell einer künftigen Gesellschaft erhalten. Er zog es freilich
vor, es mit dem Euphemismus „industriellen Wetteifer“ zu belegen, um nicht mit
den Laissez-Faire-Liberalen identifiziert zu werden. In der Tradition des Frühso-
zialismus lag die Abschaffung des Geldes. Marx hat gerade diese progressiv klin-
gende Forderung für Unsinn erklärt, weil das Geld unter kapitalistischen Produk-
96 Der Anarchismus

tionsverhältnissen eine unerlässliche Funktion besitze. Der Wert der Produkte


bestimmte sich für Proudhon durch die investierte Arbeitszeit. Das galt aber nur
für wenig entwickelte Ökonomien. In höheren Gesellschaftsformationen, in de-
nen die Produktion gesellschaftlich organisiert ist, wurde in seinen Augen kein
„Wert“ mehr konstituiert, der monetär bestimmbar war. Engels hat diese Ansicht
später im „Anti-Dühring“ als proudhonistische Irrlehre angegriffen.
1849 hat Proudhon sein System einer Volksbank („allgemeines Syndikat der
Produktion und Konsumtion“) zu realisieren versucht. Die geplanten 50 000
Francs Stammkapital wurden nicht aufgebracht, obwohl immerhin 27 000 In-
vestoren sich eingeschrieben hatten. Die Bank musste bald wieder geschlossen
werden. Sie konnte nicht in die Produktion eingreifen, und tangierte den freien
Austausch von Gütern nicht. Sie hatte nur die Funktion, Kredite zu bewilligen –
als „Vorschuss auf Arbeitskraft“. Bei Absatzproblemen einzelner Unternehmen
hatte die Bank keine Handlungskompetenz. Es gab auch keine Investitionslen-
kung. Es blieb beim moralischen Appell, keine überflüssigen Güter zu produzie-
ren. Die Volksbank konnte nicht mehr mit der gleichen Verlässlichkeit wie das
Geld sichern, dass Waren oder Dienstleistungen (etwa im Krankheitsfall des Be-
troffenen) auch wirklich angeboten werden. Proudhon hat wie die Ikarier – die
immerhin noch gemeinsame Beschlüsse über die Produktion fällten – die Bedeu-
tung von Geld und Kredit überschätzt. Die „Brechung der Zinsknechtschaft“ ließ
sich von links wie von rechts populistisch ausschlachten. Trotz des Scheiterns der
Volksbank-Idee lebte der Gedanke in der Bewegung weiter und hat weniger den
Sozialismus als die Genossenschaftsbewegung wie die von Schultze-Delitzsch in
Deutschland inspiriert. Die Volksbank sollte am Nutzen der Klienten orientiert
sein. Sie nahm weder Vorschüsse noch Kommissionsgebühren, sondern nur eine
kleine Unkostenpauschale (Bek: 149). Mit dieser kleinen Konzession konnten Ge-
nossenschaftsbanken sich später in normale profitorientierte Banken entwickeln,
wie die Handelsbanken, als deren Konkurrenz sie angetreten waren.

Staat und Politik

Proudhons politische Theorie setzte sich vom Utopismus der sozialistischen Vor-
läufer ab. Sie sollte „realistisch“ sein. Grundlagen dieses Realismus waren seine
politische Anthropologie und seine Geschichtsauffassung. Seine Gerechtigkeits-
konzeption ging vom Grundwert der Freiheit aus. „Freiheit erkennt kein Recht,
kein Motiv, kein Prinzip, keine Grenze an (Justice III: 424). Nicht einmal Gott
wurde anerkannt, außer in dem Sinn, dass er die Antithese zur Freiheit darstelle.
Dieses Bekenntnis klang sehr egozentrisch wie bei Stirner. Proudhon hat jedoch
seine Meinung zur sozialen Natur des Menschen mehrfach geändert. Zunächst
wurde gegen den individualistischen Hedonismus polemisiert, später schien er
Der föderalistische Anarchismus in Frankreich 97

ihm nahe zu kommen, um schließlich eine Synthese zu finden, die den Menschen
teils egoistisch teils als soziabel einstufte. Der frühe Mensch in der Geschichte
handelte gleichsam wie ein Schlafwandler. Er gab seiner natürlichen Trägheit nach
(Justice III. 72). Daher konnten die drei Prinzipien entstehen, die den Charakter
des Menschen prägten: Hierarchie, Regierung und Religion.
Hinsichtlich des Fortschritts in der Geschichte war er weniger optimistisch als
einige Vorläufer. Vor allem von Hegel setzte er sich ab (Syst I: 385). Die Regierung
war progressiv nur so lange, als es Wilde zu bekämpfen galt. Aber es gibt keine
Wilden mehr und daher wurden die Arbeiter gleichsam als Substitut für die Wil-
den kleingehalten (Carnets VII: 219). Befreiung ist möglich, aber zum Ärger vie-
ler sozialistischer Schulen war sie nicht durch Revolution gedacht. Der Umbau
der Institutionen blieb daher weitgehend im Unklaren – als Appell an den gu-
ten Willen.
Das politische System war als Vertragsverhältnis freier Assoziationen konzi-
piert. Sein Ideal menschlicher Kooperation nannte er „Mutualismus“, ein Begriff,
der vor allem von Kropotkin übernommen wurde. Mutualismus war nicht bloß
eine Art Genossenschaft, sondern ein moralisches Prinzip. Moralische Konver-
genz der Menschen sollte durch intellektuellen und wissenschaftlichen Fortschritt
unter den Menschen erzeugt werden. Ganz verließ sich Proudhon jedoch nicht
auf die Selbstregulierung durch freie Assoziationen. Eine Art „minimal govern-
ment“ schien unerlässlich. Erst der späte Proudhon nannte sein bevorzugtes Re-
gime „Föderalismus“. Einst hatte er die Anarchie in einer Dreiertypologie als Desi-
derat zwischen „Eigentum“ und „Kommunismus“ gestellt (Eig: 227). Im „Principe
fédératif “ wurde 1862 eine Vierertypologie entwickelt:

1) Regierung einer Person (Monarchie),


2) Regierung aller (Panarchie oder Kommunismus).

Beide Formen bezeichnete er negativ als „Autoritätssysteme“. Ihnen standen die


„Freiheitsregime gegenüber:

3) Regierung aller durch jeden (Demokratie),


4) Regierung jedes durch jeden (Anarchie oder Selbstregierung) (PF: 279).

1840 hatte er erklärt, dass die Entwicklung täglich näher an die Anarchie heran-
komme. 1862 hielt er die Anarchie nicht mehr für möglich und bot den Födera-
lismus als Kompromiss an (PF: 279). Die beiden ersten Regimeformen waren für
Proudhon in reiner Form weder möglich noch wünschbar. Demokratie hielt er
sogar für gefährlich. Das allgemeine Wahlrecht führte nach seiner Ansicht zum
kollektiven Despotismus, wie er an Napoleon III und an den Plebisziten zur Eini-
98 Der Anarchismus

gung Italiens demonstrierte. Zentrale Gewalten waren ihm generell verdächtig.


Eine Inkonsequenz wurde darin gewittert, dass er sich gleichwohl als Abgeord-
neter für ein Zentralparlament zur Verfügung stellte. Die Verfassung erklärte er
als „unnützes Ding“. Die soziale Verfassung penetriere und konterkariere die ge-
schriebene Konstitution und mache sie zur Chimäre. Die Gewaltenteilung diente
ihm vor allem zur Demonstration der Kluft zwischen realer und geschriebener
Verfassung: geistliche und weltliche Gewalt, zivile und militärische Gewalt wa-
ren ohnehin nicht richtig geschieden (Bek: 139 ff). Der herrschenden Klasse in der
zweiten Republik warf er eine „quasi-absolute Gewalt“ vor. Die Doktrinäre wie
Guizot und Thiers benutzten diese, um ihre „Talente als Seiltänzer“ zu zeigen. Die
klerikalen Konservativen wie Falloux und Montalembert beschworen eine „gött-
liche Gewalt“, die jede Gewaltenteilung aushebeln musste. Die Mitte à la Barrot
habe eine Trennung von Exekutive und Legislative nötig, um den Widerspruch
im Parlament auf ewig zu fixieren. Dem Volk, welches sich dies unwürdige Spek-
takel bieten ließ, hat Proudhon die Leviten gelesen: „Eitles und knechtisches Ge-
schlecht. Mit 1800 Millionen bezahlst du jährlich die Torheiten deiner Regenten
und deine eigene Schande ! 500 000 Soldaten unterhältst du, um deine Kinder nie-
derzuschießen. Du baust deinen Herren Bastillen, damit sie dich in ewigem Bela-
gerungszustand halten.“ (Bek: 147).
Das Repräsentativsystem bezeichnete Proudhon als notwendige Entfremdung
eines Teils der Bürgerfreiheit. Den Parlamentarismus hat Proudhon selbst dann
noch bekämpft, als im Zweiten Empire die Parlamentarisierungsbestrebungen zu-
nahmen, die nach Proudhons Tod in ein „Empire libéral“ einmünden sollten. Die
Rückkehr zur parlamentarischen Regierung, die er als „Régime doctrinaire“ be-
zeichnete, war ihm äußerst verdächtig (MC: 7 f, 63). Er befürchtete die Wiederkehr
der Zustände in der Julimonarchie vor 1848 und demonstrierte wortreich seinen
Ekel vor den „tournois parlementaires“, den Ministerintrigen und der Wahlkor-
ruption (MC: 23), als ob das Empire nicht auch genügend Intrigen und Korrup-
tion aufzuweisen gehabt hätte.
Proudhons Verhältnis zu den politischen Bewegungen seiner Zeit war ambiva-
lent. Das Volk wurde mehr beschworen als das Proletariat. Die Jurassische Manu-
faktur handwerklich orientierter Arbeitereliten war sein Modell, nicht der Groß-
betrieb, den die Nationalwerkstätten Louis Blancs anstrebten. Marx hat Proudhon
nicht verziehen, dass er selbst harmlose Kampfmittel der Arbeiterklasse ablehnte,
wie den Streik und die Benutzung des Koalitionsrechts. Marx (MEW Bd. 4: 182)
hat nie wieder den Klassenkampf so hymnisch besungen, wie in der Auseinander-
setzung mit Proudhon: „Klasse gegen Klasse“ und schließlich sogar „Mann ge-
gen Mann“. Proudhon lehnte den Klassenkampf ab, und eine erneute Revolution
hielt er für überflüssig. Er sah in ihr allenfalls die Nachäffung der großen Fran-
zösischen Revolution von 1789. In der Polemik gegen die Revolutionäre hatte er
Der föderalistische Anarchismus in Frankreich 99

nicht Marx sondern Blanqui im Auge, der für ihn ein Volksaufhetzer ohne Theo-
rie und Perspektive darstellte. Proudhon hat die kommende Revolution der Com-
mune 1871 nicht mehr erlebt, in der Blanqui wieder eine prominente Rolle spielte.
Die Commune wurde vielfach als Konzeption Blanqui zugeschrieben, zu Unrecht.
Unter ihren Anhängern waren mehr Proudhonisten als Blanquisten.
Nationen waren für Proudhon so stark an den Staat gebunden, dass der Na-
tionsbegriff im föderalistischen Modell ein Fremdkörper wurde. Die Einigungs-
bewegungen seiner Zeit hat Proudhon nicht unterstützt. Mazzini – der viel von
Proudhons Gedanken adaptiert hatte – wurde von Proudhon verdächtigt, mit dem
König von Piemont zu kooperieren. Dieser angebliche „Verrat“ war weniger real
als Proudhons Annäherungsversuche an Napoleon III (vgl. Bd. 1, Kap. III. 5). Die
Polen hat Proudhon entgegen des breiten Konsenses von Liberalen bis zu Kom-
munisten ebenfalls nicht unterstützt. Die Wiederherstellung Polens war für ihn
gleichbedeutend mit „Reaktion“ der polnischen Pans. Der Zar hatte die Leib-
eigenschaft aufgehoben, so schlecht gehe es doch den Polen im Russischen Reich
gar nicht, lautete seine absurde Argumentation. Marx hat ihm diese Haltung als
russen-freundlichen „kretin-artigen Zynismus“ angekreidet. In der Polemik der
Zeit wurde Proudhon unterstellt, er wolle Belgien durch Frankreich annektieren
lassen, seinerseits ein absurder Vorwurf. Proudhon hat Kleinstaaten immer be-
vorzugt. Stets hat er gegen Expansion gewettert, selbst gegen französische Träume
über den Rhein als natürliche Grenze. In der posthumen Schrift „France et Rhin“
behauptete er, dass der Rhein so deutsch wie die Seine französisch sei, kein Ge-
danke, der in Frankreich auf Gegenliebe stoßen konnte. Sein Ideal war ein Europa
der Regionen in einer losen Konföderation.
Im Gegensatz zu Mazzini oder Mill und den Frühsozialisten hat er sich
auch nicht für die Emanzipation der Frauen eingesetzt. Frauen klassifizierte er
chauvinistisch als „Hausfrauen oder Huren“. Er gestand, seine Ehe mit Vorbe-
dacht geschlossen zu haben, ohne Leidenschaft, um Familienvater zu werden „…
und um zu Haus ein Bild mütterlicher Einfachheit und Bescheidenheit zu haben“
(zit: Diehl: 611). Er galt als guter Familienvater, aber ein partnerschaftliches Ver-
hältnis zu Frauen fand sich weder in seiner Ehe noch in seinen Ansichten zur
Familie.

Kunst und Politik

Selbst der verstorbene Proudhon löste noch heftige Kontroversen aus, als sein
Buch über „Das Prinzip der Kunst und seine soziale Bestimmung“ 1865 erschien.
Es enthielt Gedanken, die schon in der „Philosophie des Fortschritts“ (1853) an-
geklungen waren. Courbet war für Proudhon das Vorbild eines revolutionären
Künstlers, während Millet ihm zu eskapistisch schien. Proudhon hatte als Auto-
100 Der Anarchismus

didakt wiederum wenig Ahnung von Kunst. Es ging ihm um eine Verteidigung
der sozialen Funktion der Künstler, die nach seiner Ansicht durch das System
der Akademien und den Kunstmarkt systematisch verbogen wurden (Art, 1982).
Das Buch wurde nicht nur von Konservativen verrissen. Sicher hätte es ihn ge-
schmerzt, dass Émile Zola, ein Vorkämpfer des naturalistischen Romans und
Courbet, den er als Kronzeugen für seine Sozialästhetik anführte, gegen seine An-
sichten Stellung nahmen (Zola 1974: 36 ff, Berding 1978: 141 ff), die er beide als
Freunde betrachtete. Zola sprach dem verstorbenen Autor das Recht ab, Courbet
für seine Ansichten zu vereinnahmen und sah eine Inkonsequenz der Gedanken
darin, dass ein anarchistischer Sozialist sich das Recht anmaße, „Künstler zu lei-
ten und von ihm zu verlangen, was mir gefällt“. Mit Recht wurde moniert, dass
es Proudhon nur auf das Sujet ankam und die Kompositionsregeln ihm gleichgül-
tig erschienen. Die „demokratischen Sozialisten“ wurden mit Hohn überschüttet:
da könne man ja gleich Arbeiter anwerben und ihnen Kunst beibringen. Der so-
zialistische Realismus hat später genau dieses versucht – mit den von Zola richtig
vorausgesehenen Folgen: nach einigen Jahren werden diese Angeworbenen „fein
säuberlich Bilder malen … die nach ihrem Geschmack entworfen und ausgeführt
sind, und einander aufs Haar gleichen, was von einer herzergreifenden Brüder-
lichkeit und einer löblichen Gleichheit zeugen wird“ (Zola in Berding: 150). Zola
befürchtete, dass Kunst zur platten Illustration von philosophischen Gemeinplät-
zen werde. Dem „Kollektivismus eines inkompetenten Mannes“ wurde der künst-
lerische Individualismus der Kompetenz entgegen gestellt. Mit Hohn wurde selbst
der Titel Proudhons korrigiert. Er müsse lauten: „Über den Tod der Kunst und
ihre soziale Nutzlosigkeit“. Sozialwissenschaftliche Ansätze der Kunstsoziologie
leiden bis heute an der ideologiekritischen Obsession mit sozialen Inhalten auf
Kosten der ästhetischen Seite der Kunst.

Wirkung der Lehren

Proudhons Lehren waren spröde wie sein Charakter. Sie entwickelten keinen Mas-
senappeal. Sie waren undogmatisch bis zur Anarchie in seiner privaten Produk-
tion. Immerzu wurden Projekte entworfen und wieder zurückgezogen, oder gar
widerrufen. Der ständige Wandel war kein persönlicher Opportunismus sondern
theoretisches Prinzip. Als die Fourieristen ihm vorwarfen, die Fouriersche Lehre
verraten zu haben, brüstete er sich mit all den Strömungen, denen er angehan-
gen habe: Protestant, Papist, Manichäer, Gnostiker, Idealist, Pantheist, Platoni-
ker, Cartesianer, Eklektiker, Monarchist, Aristokrat, Konstitutioneller, Babouvist
und Kommunist sei er gewesen und habe eine ganze Enzyklopädie von Systemen
durchlebt. Jetzt sei er frei von allem und nur noch darauf aus: „die Ursache der
Dinge zu suchen“ (zit. Diehl: 354).
Der föderalistische Anarchismus in Frankreich 101

Der Eklektizismus Proudhons hatte den Vorteil, dass seine Lehre nicht sek-
tiererisch abgekapselt wurde, wie die Saint-Simons oder Fouriers. Eine Partei-
gründung schlug fehl, aber die spätere Sozialdemokratie hat ihn als Ahnherren
für wichtige ihrer Prinzipien angesehen, selbst Jaurès, vor allem aber die Possibi-
listen unter Paul Brousse.
In der Internationale war der Proudhonismus eine Weile eine starke Bewe-
gung. Die Marxisten mussten Zugeständnisse machen, z. B. in der Frage von
staatlich gelenkten Schulen. Das gemeinnützige Bankensystem ging in einige
Programme späterer linker Parteien ein. Der Proudhonismus wurde in der In-
ternationale schließlich von der Rivalität der Marxisten und Bakuninisten über-
lagert. Die Proudhonisten waren so wenig wie ihr Meister für einen Machtkampf
gerüstet, der mit allen Mitteln der Diffamierung geführt wurde. 1846 hatte er Marx
noch gewarnt – wie sein Landsmann Luther – in einen neuen Dogmatismus mit
Exkommunikation und Bannflüchen zu verfallen (zit: Oberländer: 19). Die Ap-
pellphilosophie hatte jedoch im Bereich der Organisationsfragen der Bewegung
keine größeren Erfolge als in der Bekehrung der Menschen zur Proudhonisti-
schen Prinzipien generell.
Proudhons System ließ sich mit unterschiedlichen Theorie-Elementen kom-
binieren, was seine enorme Auslegungsfähigkeit begründete. Selbst faschisto-
ide Bewegungen wie die „Action Française“ von Charles Maurras missbrauchten
einen großen Namen mit dem „Circle Proudhon“. Wie bei anderen Denkern von
Nietzsche bis Sorel wurde bei der Adaption für den Rechtsextremismus jedoch
übersehen, dass auch Proudhon niemals eine Einmann-Diktatur gebilligt hätte.

Quellen
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102 Der Anarchismus

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3 Der deutsche Anarchismus: Stirner, Landauer, Mühsam

Max Stirner (Pseudonym für Johann Caspar Schmidt) (1806 – 1856)

Johann Caspar Schmidt – schon als Student wurde er wegen seiner auffällig hohen
Stirn mit dem Spitznamen „Stirner“ bedacht – war der Sohn eines Instrumenten-
bauers in Bayreuth. Der Vater starb ein Jahr nach der Geburt seines Kindes. Nach
einer zweiten Heirat zog die Mutter mit ihrem Mann nach Kulm in Westpreußen.
Das Studium hat Stirner hauptsächlich in Berlin und Erlangen absolviert. Eine
staatliche Anstellung wurde ihm nicht gewährt. Sein Biograph (Mackay 1977: 48)
insistierte gegen die Irrtümer der Lexika: „Schmidt war nie Gymnasiallehrer“. Im-
merhin hat Stirner einige Jahre an privaten Bildungsanstalten gelehrt. In Charlot-
tenburg stieß er zu dem Kreis um die Brüder Bauer, der unter dem Spitznamen
„Heilige Familie“ durch Marx einen zweifelhaften Nachruhm erlangte. Im Kreis
der „Freien“ wurde er um 1841 gesichtet. Marx kannte er damals nicht, weil dieser
Berlin bereits verlassen hatte. Unter den frühen literarischen Arbeiten befand sich
der Beitrag zum Erziehungswesen („Das unwahre Princip unserer Erziehung oder
Humanismus und Realismus“) in der „Rheinischen Zeitung“ – eine scharfe Kritik
gegen die „Dressur“ „willenlosen Wissens“ und das hohe Lied der Selbstfindung
als Erziehungszweck (PKR: 94 f, 88).
1844 erschien sein Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigenthum“. Ursprüng-
lich war der schlichte Titel „Ich“ vorgesehen. Die Kritik griff den Topos auf und
sprach vom „größenwahnsinnigen Ich“, das in einer desolaten Zeit seine „Klein-
bürgerphantasien“ veröffentlicht habe. Es ist oft mit dem „verzweifelten Ich“
Kierkegaards in einem Atemzug genannt worden. In Preußen und vielen anderen
deutschen Staaten wurde das Buch sofort verboten, später aber zum Teil wegen
seiner „Absurdität“ als unschädlich wieder freigegeben. Dennoch kam Stirner nie
104 Der Anarchismus

in Konflikt mit der Polizei, sehr im Gegensatz zu anderen des Kreises der „Freien“.
Stirner geriet zunehmend in die Isolierung. Seine zweite Frau, Marie Dähn-
hardt, warf ihm nach einer freudlosen Ehe vor, ihr Vermögen „verspielt und ver-
schwimelt“ zu haben (zit. Mackay 1977: 181). Sie verließ ihn, und Stirner gab seine
Stellung auf. Publizistische Erfolge wollten sich nicht einstellen. Stirner bat öffent-
lich um ein Darlehen. In der 48er Revolution blieb er unauffällig.
1852 erschien noch einmal ein größeres Werk über die „Geschichte der Reac-
tion“. Im ersten Teil wurden die Vorläufer der Reaktion behandelt, der zweite Teil
wurde der Absicht gewidmet, „Die Reaction vor das Reactionstribunal zu stellen“
(Reaction: II: VI). Diese ideengeschichtliche Skizze war seltsam losgelöst von der
Gegenbewegung der Revolution. Wer gehofft hatte, Stirner werde sein Verhält-
nis zur 48er Revolution klären, wurde enttäuscht. Immerhin wurden einige inter-
essante Fragen aufgeworfen, z. B., ob der Katholizismus schlechthin reaktionär sei.
Er musste sich mit dem radikalen politischen Katholizismus auseinander setz-
ten (Reaction II: 187). Das Buch stellte einen eigenwilligen Beitrag zur Geschichte
des Konservatismus dar, der wenig beachtet worden ist. Nach Schuldarresten ver-
suchte Stirner sich als Kommissionär von Vermittlungsgeschäften über Wasser zu
halten, obwohl er sich selbst immer noch „Gymnasiallehrer, Dr. phil. und Schrift-
steller“ nannte. Er starb verarmt und vereinsamt.
Das Buch „Der Einzige und sein Eigentum“ enthielt im ersten Teil unter der
Überschrift „Der Mensch“ eine Herleitung der Entstehungsgeschichte der Indivi-
dualität aus den Wurzeln des Allgemeinen. Am Anfang stand das Motto, das Ge-
nerationen von Selbstfindern aufgesogen haben: „Von dem Augenblicke an, wo
er das Licht der Welt erblickt, sucht ein Mensch aus ihrem Wirrwarr, in welchem
auch er mit allem anderen bunt durcheinander herum gewürfelt wird, sich her-
auszufinden und sich zu gewinnen“ (E: 17). Die erste Selbstfindung, die Entgötte-
rung des Göttlichen, nannte er „Geist“. Die umgebende Welt wurde als Geister-
reich und Spukwelt wahrgenommen; „Mensch, es spukt in Deinem Kopfe; Du
hast einen Sparren zu viel ! Du bildest Dir große Dinge ein und malst Dir eine
ganze Götterwelt aus, die für Dich da sei … Du hast eine fixe Idee !“ (E: 55). Alle
in der Geschichte des politischen Denkens vor Stirner so gelobten Befreiungsta-
ten wurden in Frage gestellt. Der Protestantismus hat den „geheimen Polizeistaat“
über das „Gewissen“ in jedes Individuum eingepflanzt (E: 107). Die späteren Be-
freiungstheorien erwiesen dem Ich ähnliche Bärendienste. Sein „Spukhaus“ war
für Stirner mit den großen Ideologien bevölkert: Liberalismus, Sozialismus und
Kommunismus. „Im Staat gilt die Partei“. Die Illiberalität der Linken wurde lu-
zide aufs Korn genommen und sollte auf Marx voll zutreffen, der nicht mehr bei
der Kritik an „Sankt Max“ stehen geblieben ist, sondern eine Partei gründete: „Ge-
rade diejenigen, die am lautesten rufen, dass im Staate eine Opposition sein müsse,
eifern gegen jede Uneinigkeit der Partei“ (E: 274).
Der deutsche Anarchismus 105

Das Bürgertum empörte sich gegen die privilegierten Stände und ließ kein
Sonderinteresse mehr gelten. Das „allgemeine Interesse Aller“ aber führte zur
Vergötzung des Staates in dem, was er die „eigentlich politische Epoche“ nannte
(E: 119). Die politische Freiheit als liberales Motto war für Stirner nichts als die
zweite Phase des Protestantismus. Sie brachte nicht Freiheit, sondern „die Freiheit
einer Mich beherrschenden und bezwingenden Macht“ (E: 127). Der Kommunis-
mus mit seiner Sonntagsseite, der Brüderlichkeitsideologie, offenbarte in seinen
Augen noch deutlicher seine „Illiberalität“. Er würdigt das Individuum nicht als
Menschen, sondern als arbeitendes Wesen: „Er macht Ernst damit, dass Wir, weil
nur geistige und materielle Güter Uns zu Menschen machen, diese Güter ohne
Widerrede erwerben müssen, um Mensch zu sein. Das Bürgertum machte den
Erwerb frei, der Kommunismus zwingt zum Erwerb …“ (E: 145). Selbst die ver-
gleichsweise liberalste Variante eines kollektiven Anarchismus bei Proudhon war
für Stirner nur die verkappte Devise: „Associieren wir Uns daher, zu dem Zwecke
dieses Raubes“. (E: 291). Kommunismus und Sozialismus änderten nichts an der
Grundkonstante: „Der Sinn der Einzelnen bleibt dabei derselbe, er bleibt Abhän-
gigkeitssinn“ (E: 300).
Die Eigentumsfrage ließ sich für Stirner nur durch Krieg aller gegen alle lösen.
Die Solidarität, welche die Linken predigte, war für ihn nur die Fortsetzung der al-
ten Liebesduselei. Als „Pöbelbeglückungsversuche und Schwanenverbrüderungen“
mussten sie in seinen Augen scheitern: „Nur aus dem Egoismus kann dem Pöbel
Hilfe werden, und diese Hilfe muss er sich selbst leisten und – wird er sich selbst
leisten“ (E: 302). Die Revolutionstheorie des Lumpenproletariats schien geboren.
Stirners Konzeption des Ich war ohne Fichtes „absolutes Ich“ nicht zu denken.
Aber auch diese Quelle seines Denkens wurde von Stirner (E: 213) unter die Spuks
gerechnet: „Wenn Fichte sagt: ‚Das Ich ist Alles‘, so scheint dies mit meinen Auf-
stellungen vollkommen zu harmonieren. Allein nicht das Ich ist Alles, sondern
das Ich zerstört Alles, … und nur das sich selbst auflösende Ich, das nie seiende
Ich, das – endliche Ich ist wirklich Ich. Fichte spricht vom ‚absoluten‘ Ich, Ich aber
spreche von Mir, dem vergänglichen Ich“.
Gerade unter dieser Endlichkeitsperspektive schien das Stirnersche Ich auf
den wohldosierten Einsatz von Kommunikation mit dem alter ego angewiesen
zu sein. Weiterreichende Konzeptionen der Organisation des Widerstandes oder
gar Theorien einer künftigen gerechteren Gesellschaft waren für Stirner nichts
als neuer Zwang für das Ich durch das „Wir“. Die Kommunikation der Einzel-
nen, die seine Devise annahmen, das Eigentum nur das sei, was in „meiner Ge-
walt, ist“ war extrem libertär gedacht: Vereine und Austauschbeziehungen waren
die einzigen Beziehungen, die Stirner gelten ließ. Marx und Engels haben in der
„Deutschen Ideologie“ (MEW Bd. 3: 374) auf die Möglichkeiten sozialen Zwan-
ges nach Innen wie nach Außen hingewiesen, die auch bei nicht-staatlich orga-
106 Der Anarchismus

nisierten Gemeinschaften auftauchen könnten: „Die erobernde Sozietät benimmt


sich ungefähr wie die ‚Vereine‘ von halbwilden Germanen, die die römischen Pro-
vinzen eroberten und dort noch sehr mit dem alten Stammwesen versetztes, ro-
hes Lehnswesen einrichteten“. Das Plädoyer von Marx und Engels gegen Stirner
war auf seine mangelnde Originalität abgerichtet. Der Ich-Kult, der in der fran-
zösischen Philosophie des 18. Jahrhunderts noch „geistreich“ schien, war nach
Marx und Engels bei Stirner in die „Frivolität“ abgesunken, um seine „Voraus-
setzungslosigkeit“ zu demonstrieren. Der Antikapitalismus reduzierte sich in ih-
ren Augen  –  wie beim Frühsozialismus – auf eine missverstandene Ablehnung
des Geldes. Die Assoziationsidee schien ihnen ein dünner Aufguss Fourierscher
Ideen zu sein: „Die hier nach Berliner Hörensagen verstirnerte Idee, die ganze
Gesellschaft in freiwillige Gruppen aufzulösen, gehört Fourier an“ (MEW Bd. 3:
401, 419, 404).
Stirners Äußerung über den „Krieg aller gegen alle“ hat die Rezeptionsfä-
higkeit des Stirnerschen Werkes durch spätere Faschisten begünstigt. Aber diese
überlasen wiederum geflissentlich seine Feindseligkeit gegen jede Partei, und ge-
gen organisierte Revolutionen oder Coups. Stirner selbst hat die Möglichkeit, die
maßlosen Postulate des vereinzelten Ichs gegenüber anderen Ichs geltend zu ma-
chen, nicht zu Ende gedacht. Der andere große Denker, der als individualisti-
sche Anarchisten häufig mit Stirner in einem Atemzug genannt wurde, William
Godwin, hatte dieses Problem in „Political Justice“ schon überzeugender gelöst
(vgl. Kap. III. 1).
Stirners Buch war nur in kleiner Auflage verbreitet. Aber in Abschriften schien
es auch in Phasen des Verbotes als bruchstückhafte „Samizdat“-Literatur so fas-
zinierend, dass Savigny erwog, ob nicht gerade das Verbot ein Buch erst interes-
sant mache. Gleichwohl war es nach einer Woge der Kritik bald vergessen, auch
wenn Stirner sich der Widerlegung seiner Kritiker mit Inbrunst immer wieder
zu Wort meldete (Kleinere Schriften, 1914). Die prominentesten waren Feuerbach
und Moses Heß. Populär wie das Motto „Ich hab’ mein Sach’ auf Nichts gestellt“
war der gesamte Duktus des Buches. Arnold Ruge (Zwei Jahre in Paris. Leipzig,
Wilhelm Jurany, 1846, Bd. II: 128) urteilte: „Stirners ganzes Buch athmet diesen
Leichtsinn. Es ist darum auch das erste leichte, genießbare und vollkommen für
Jedermann geschriebene philosophische Werk“. Das klang noch vergleichsweise
positiv. Das Epitheton „genießbar“ wurde Stirner freilich meist abgesprochen. Im
Vergleich mit Nietzsche, der häufig gezogen worden ist, fiel Stirners Frivolität auf.
Marx und Engels’ „Deutsche Ideologie“ fand keinen Verleger und wurde erst 1932
veröffentlicht. Engels (MEW Bd. 27: 26) scheinen sogar Bedenken gekommen zu
sein, ob Marx nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen hatte, weil die Maßlo-
sigkeit der Kritik in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Texte zu stehen schien:
„Aber bei alledem ist das Ding zu groß“.
Der deutsche Anarchismus 107

Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Renaissance Stirners, nicht nur
bei Anarchisten wie Mackay, Landauer und Mühsam. Zu seiner Zeit hatte das
Werk allenfalls auf Bakunin, Belinskij und andere russische Revolutionäre gewirkt.
Auch Anthroposophen, Antisemiten, Anhänger der Lebensreformbewegung, an-
tistaatliche Freiwirtschaftler und Faschisten wie Mussolini begannen das Werk zu
rezipieren (Helms 1966: 271). Gleichwohl blieben alle Versuche, Stirner als Pro-
tofaschisten darzustellen, völlig überzogen (Helms 1966: 473 ff, wütende Kritik
daran in: Suren 1991: 14 f). Einmal ist Stirner nie im Ausmaß von Nietzsche von
der NS-Ideologie adaptiert worden (vgl. Bd. II, Kap.VI, 1). Zum anderen gilt für
den „libertären Anarchisten“ Stirner mehr noch als für den „konservativen Anar-
chisten“ Nietzsche, dass seine Theorien der Parteiverachtung, der Ideologien und
der Kritik kollektiver revolutionärer Bestrebungen wenig zu den faschistischen
Denkern passten.
Theoriegeschichtlich ergiebiger erscheint die Frage, ob Stirner unter „Anar-
chismus“ zu subsumieren ist. Im Teil „Sozialismus“ war Stirner für den Verfas-
ser noch schwerer unterzubringen als Godwin. Obwohl Stirner in Anarchisten-
Kreisen gelesen wurde, haben einige Exponenten der anarchistischen Bewegung
gezögert, Stirner als anarchistischen Theoretiker zu akzeptieren. Zu sehr ver-
standen sie sich noch als Alternative zum Sozialismus, aber innerhalb der Ar-
beiterbewegung. Die künstlerische Bohème hatte leichteren Zugang zu Stirner
als die Arbeiterschaft. Dennoch wurden selbst Sozialdemokraten für Stirner-
sches Gedankengut anfällig. Das ist mit der Behauptung begründet worden,
Marx habe die sozialdemokratischen Ideologen nur auf das Materielle verwiesen,
und sie hätten sich nach dem Verlust der Religion Substitute „für die Seele“ ge-
sucht (Helms 1966: 376). Für Landauer war diese Ansicht zutreffend. Im Gan-
zen plausibler aber war die These, dass die Entwicklung zum Revisionismus die
Stirner-Rezeption begünstigte, weil kleines Eigentum durch ihn wieder stär-
ker begründet werden konnte. Selbst Plechanov fiel vorübergehend auf Stirners
„Klassenkampf “ herein.

Gustav Landauer (1870 – 1919) – der als der bedeutendste anarchistische Publizist
seit Stirner bezeichnet wurde (Lunn 1973: 3) – hat in seiner Schrift „Revolution“
von 1908 die „individualistischen Anarchisten“ Stirner und Godwin in einer Reihe
mit den „kollektivistischen Anarchisten“ Proudhon und Bakunin als Künder der
„Anarchie“ akzeptiert (1977: 91). Andererseits hat Landauer gegen die Stirnerianer
wie John Henry Mackay – die Sozialismus und Anarchismus säuberlich auseinan-
der hielten – eingewandt, dass ihre Grundbegriffe wie „Menschheit“ oder „Klasse“
rein geistige Abstraktionen im Vergleich zum einzig realen Begriff des Ichs dar-
stellten. Diese atomistische Konzeption lehnte Landauer ab. Das reine Selbstinter-
esse des Menschen – wie bei den Utilitaristen – verwarf Landauer als Grundbe-
108 Der Anarchismus

griff. Der „romantische Sozialismus“ Landauers ist an seinem Bestehen auf dem
„Gemeinschaftsbegriff “ – im Gegensatz zur Gesellschaft – festgemacht worden
(Lunn 1973: 104) Während Kropotkin jedoch die „Gegenseitige Hilfe“ in positivis-
tischer Manier noch aus der Natur des Menschen ableitete, sah Landauer in die-
sem Prinzip lediglich ein Desiderat des menschlichen Willens. 1898 zog sich Lan-
dauer aus der anarchistischen Bewegung zurück und widmete sich vornehmlich
privaten Studien, die zu einem krausen Gemisch libertärer, mystischer und sogar
völkischer Gedanken zerflatterte.
Der Anarchismus in Deutschland blieb angesichts der Dominanz des „Staats-
sozialismus“ marginal in der Arbeiterbewegung. Die Bewegung zerfiel in Sekten.
Landauer revidierte seine revolutionäre Ideologie und schob die Revolution in
weite Ferne. Die Verwirklichung seiner Zeile suchte er in Kleinexperimenten der
Genossenschafts- und Siedlungsbewegung. Mit der Rezeption des nietzscheani-
schen Vitalismus versuchte Landauer einen Ausweg aus seinem ästhetizistischen
Passivismus (Taylor 1990: 28).

Erich Mühsam (1878 – 1934) hingegen ließ nicht nach in seinem Bestreben, die an-
archistischen Grüppchen zu versöhnen. Mühsam (1975: 39) folgte den Attacken
von Otto Gross auf die patriarchalische Familie. Darüber kam es zu Zerwürfnis-
sen mit seinem Mentor Landauer, der die Familie als Basis der freien Assozia-
tion positiv bewertete. Die Psychoanalyse, die Gross förderte, schien ihm gera-
dezu als Förderung der Homosexualität. Landauer hatte Gross als „wahnsinnig“
und „dilettantisch“ bezeichnet, nur den ersten Vorwurf konnte Mühsam akzeptie-
ren (Landauer: Briefe I, an Martin Buber 1911: 381 f).
Mühsams Theorien klangen radikaler als die Landauers, waren aber voller Ge-
meinplätze wie „Der Weg in die Anarchie führt nur über anarchistisches Verhal-
ten“ oder „Politik ist die Beschäftigung mit öffentlichen Dingen“. (Mühsam 1975:
85, 62). Er wehrte sich mit diesen simplen Formeln gegen die marxistischen Ver-
dächtigungen, der Anarchismus sei apolitisch. Die Münchener Räterepublik
wurde gleichsam zum dichterischen Erlebnis „im Schimmer der Pariser Com-
mune“ (Eisner: 88). Mühsams Rhetorik klang revolutionär. Seine revolutionäre
Prosa aber war weniger beeindruckend als seine Dichtungen. Von den beiden ra-
dikalen Poeten der Zeit berichtete ein Kalauer: „Kraft dichtete mühsam, Mühsam
dichtete mit Kraft“. Nicht das beste Dokument dieser Kraft lag in dem Gedicht
der „Revoluzzer“ gegen die deutsche Sozialdemokratie. Der brave Sozialdemo-
krat – im Zivilberuf Lampenputzer – kündigte die Teilnahme an der Revolution
auf, sowie es zur ersten Sachbeschädigung kam:

„Dann ist er zu Haus geblieben,


und hat ein Buch geschrieben:
Der deutsche Anarchismus 109

wie man revoluzzt


und dabei Lampen putzt“ (Eisner: 87)

Landauer – mit dem sich Mühsam in fast allen Dingen einig wusste – war von An-
fang an skeptisch gegen die Taktik der Kommunisten. Mühsam hat hingegen auch
als diese ihn ausmanövrierten, daran festgehalten, dass ein breites linkes Bündnis
geschaffen werden müsse (Von Eisner: 65). „Der Genosse Axelrod“ hatte Mühsam
über die Fehler der Anarchisten aufgeklärt, Vorwürfe, die er akzeptierte, so dass
er sich auch nach dem Fehlschlag weigerte, als „Ankläger gegen die kommunis-
tischen Genossen“ aufzutreten (ebd: 76). Mühsam saß sechs Jahre im Gefängnis,
1933 wurde er erneut verhaftet. 1934 beging Mühsam nach schweren Misshandlun-
gen Selbstmord im KZ Oranienburg.
Landauers „völkischer Sozialismus“ war bereits vor der Revolution von 1918/19
in eine gefährliche Nähe zu rassistischen und imperialistischen Gedanken geraten.
Neuromantische Ideen hielten Einzug in das Gedankengut von Landauers „Sozia-
listischem Bund“, in der Gartenstadt-Gesellschaft, den zionistischen Sozialisten
und im „Aufbruchskreis“, mit dem Landauer engen Kontakt hielt. Stirners Kritik
der Moral wurde für die „Tat“-Gruppe noch entscheidender als der Nietzschea-
nismus jener Generation. Artikel 11 der „12 Artikel des Sozialistischen Bundes“
enthielt einen Aufruf zu seinem Siedlungskonzept als „Vorbilder der Gerechtig-
keit“. Revolutionäre Untertöne äußerten sich nur vage: „Das Ziel ist nur zu er-
reichen, wenn der Grund und Boden durch andere Mittel als Kauf in die Hände
der Sozialisten kommt“ (Aufruf: 188). Die Parole „Land und Geist“ enthielt An-
klänge an das Narodnaja Volja-Konzept Russlands im 19. Jahrhundert (Aufruf:
174). Proudhons Tauschbank-Idee wurde wieder aufgelegt. Die Marxisten wur-
den in seinem „Aufruf zum Sozialismus“ lächerlich gemacht: „Der Marxismus
ist der Philister, und der Philister kennt nichts Wichtigeres, nicht Großartigeres,
nichts, was ihm heiliger ist als die Technik und ihre Fortschritte.“ … „Der Vater
des Marxismus ist der Dampf. Alte Weiber prophezeien aus dem Kaffeesatz. Karl
Marx prophezeite aus dem Dampf “ (Aufruf: 97 f). 1908 war die Leninsche Formel
vom Sozialismus als „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ noch nicht voraus zu ah-
nen. Bei Landauer wurde die kommunistische Fortentwicklung an der Macht be-
reits als negative Vision entwickelt. Die SPD kam nicht besser weg: „Die Leute, mit
ganz geringen Ausnahmen, haben kein wirkliches Kulturgewissen; es dreht sich
alles um die Macht der Partei“ schrieb Landauer an Mühsam 1916. Nur zu Bern-
stein hatte er noch Vertrauen, hielt ihn aber für „alt und krank“ (Briefe II: 135 f).
Landauer wurde in der Bayerischen Räterepublik am 7. April 1919 als Volks-
beauftragter für die Volksaufklärung berufen. Einem Freund berichtete er nicht
ohne Stolz per Postkarte: „Die Bayerische Räterepublik hat mir das Vergnügen ge-
macht, meinen heutigen Geburtstag zum Nationalfeiertag zu machen“. In einem
110 Der Anarchismus

Telegramm an seine Töchter hatte er noch ein klareres Bewusstsein dafür, dass
zwischen beiden Ereignissen nur ein zufälliger Zusammenhang bestand (Briefe II:
412 – 414). Die Kommunisten hatten nach der Niederschlagung eines Putsches die
erste bayerische Räterepublik als angebliche Schein-Räte-Republik beseitigt. Sein
letzter Brief – vor seiner Ermordung durch gegenrevolutionäre Soldateska und
einen aufgehetzten Mob am 2. Mai 1919 – war an den Aktionsausschuss Mün-
chen im Wittelsbacher Palais gerichtet: „Inzwischen habe ich Sie am Werke gese-
hen, habe Ihre Aufklärung, Ihre Art, den Kampf zu führen, kennengelernt … Ich
stelle also fest – was schon vorher kein Geheimnis war – dass die Abneigung gegen
eine gemeinsame Arbeit gegenseitig ist. Der Sozialismus, der sich verwirklicht,
macht sofort alle schöpferischen Kräfte lebendig; in Ihrem Werke aber sehe ich,
dass Sie auf wirtschaftlichem und geistigem Gebiet, ich beklage es, sehen zu müs-
sen, sich nicht darauf verstehen“ (Briefe II: 420). Der einstige Prediger der Revo-
lution wurde zwischen Kommunismus und Protofaschismus in tragischer Weise
zerrieben.
Mühsam hat von der Festung Ansbach aus eine Erklärung zugunsten der 3. In-
ternationale abgegeben. Er gab darin Bakunins Widerstand gegen die Diktatur
des Proletariats expressis verbis auf: Der weitere Konflikt zwischen Anarchisten
und Kommunisten – er nannte sich jetzt einen „kommunistischen Anarchisten“ –
nämlich die Alternative „zentralistische oder föderalistische Organisation“ war
für Mühsam „durch die geniale Leninsche Losung, durch den Rätegedanken, zu
einem „Streit um Worte“ geworden (Eisner: 81). Die beiden Optionen deutscher
Anarchisten – Widerstand oder Anpassung an die radikalen Kommunisten – wur-
den durch die Entwicklung zur Diktatur im Lande überholt. Gleichwohl ging Lan-
dauer im Vergleich mit dem schillernden Literaten Mühsam als die größere mora-
lische Autorität in die Geschichte des politischen Denkens ein.

Quellen
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Berlin, de Gruyter, 1990.
112 Der Anarchismus

4 Der russische Anarchismus: Bakunin, Kropotkin, Tolstoj

Anarchisch wie sein Leben war Bakunins Werk. Viele Werke hat er immer wieder
vernichtet. Kaum etwas wurde je fertig im Chaos seines Arbeitszimmers zwischen
Rauchgestank und schmuddeligen Teetassen. An seiner Wiege war dieses Leben
dem großen Revolutionär nicht gesungen worden. Als ältester Sohn eines reichen
Gutsbesitzers hätte der „die Liegenschaften“ übernehmen können. Aber der Ge-
danke langweilte ihn zutiefst. Nach den Bräuchen des Adels stand am Anfang der
Militärdienst. Es verschlug ihn in ein weißrussisches Dorf. Nach dem Bericht von
Herzen (BD II: 36, ML I: 567) verwilderte er dort erstmals und wurde menschen-
scheu. Tagelang lag er im Schafspelz auf dem Bett. Als er seinen Abschied ge-
nommen hatte, ging er zum Studium nach Moskau. Stankevič, das Haupt eines
liberalen Zirkels entdeckte Bakunins Talent und regte ihn an, deutsch zu lernen.
1835 – 40 studierte er in Moskau, 1840 – 42 in Berlin.
In der psychologisierenden Literatur (Kelly 1982) wurde Bakunins Entwick-
lung aus dem Ödipus-Komplex gedeutet. Der Hass auf den Vater und der Drang,
seine Schwestern zu bevormunden (SSP I: 325 ff) – bei letztlich tiefer Bindungslo-
sigkeit – kennzeichnete sein Leben. Die exaltierte Suche nach Liebe kam in einem
zum Teil deutsch geschriebenen Brief von Stankevič (1914: 625) zum Ausdruck,
der sich später dem Ungestüm des Adepten entzog. Es gab „nur Persönliches“ in
Bakunins Leben (Scheibert 1956: 136) – mit pausenlosen theatralischen Zerwürf-
nissen und Wiederversöhnungen, gewürzt mit ständigem Betteln um Geld. Auf-
dringliche Liebesschwüre wechselten mit schnödem Verrat. Selbstbespiegelung
und Selbstmitleid durchzogen alle literarischen Produkte dieser gespaltenen Per-
sönlichkeit.
Am Anfang seiner Studien vertiefte Bakunin sich in Fichte. Etwas von des-
sen Pathos blieb im Werk Bakunins erhalten. Hegelstudien haben ihn nicht gleich
zum Revolutionär werden lassen. Anfangs wurde er sogar eher rechtshegelianisch
zu einer pseudohegelschen Begeisterung für die Monarchie verführt. Mit Herzens
finanzieller Hilfe, den er um 5000 Rubel anging (Briefw: 1) reiste er aus. Herzen
hat ihm immer wieder geholfen, obwohl er sich Bakunin rasch innerlich entfrem-
dete. Er hielt ihn für klug – aber ohne moralische Substanz. Sein Abgang aus Mos-
kau – nach Zerwürfnissen mit Katkov und Belinskij – war ruhmlos. Nicht einmal
seine Brüder weinten ihm eine Träne nach. In Berlin wurde Turgen’ev zum geisti-
gen und finanziellen Helfer. Diese Freundschaft und die Berliner Gesellschaft mit
Besuchen bei Varnhagen und Bettina von Arnim gaben ihm neuen Lebensmut.
Schellings Vorlesungen haben Bakunin anfangs enttäuscht. Der erwartete Angriff
auf Hegel kam erst, als die meisten Hörer bereits abgesprungen waren.
1842 gab er den Gedanken an eine akademische Karriere auf und begab sich
nach Dresden. Arnold Ruge, ein neuer Freund, publizierte Bakunin unter einem
Der russische Anarchismus 113

französischen Pseudonym des „Jules Élysard“ einen Beitrag über „Reaktion in


Deutschland“. Dieser Aufsatz soll zum Verbot der „Deutschen Jahrbücher“ bei-
getragen haben. Die Revolution wurde angekündigt: „Die Lust der Zerstörung ist
zugleich eine schaffende Lust“ (PdT: 96). Noch blieb seine Philosophie eine Be-
schwörung von mythischen Schauern der kommenden Apokalypse: „in Russland
selbst sammeln sich dunkle, Gewitter verkündende Wolken.. und darum rufen wir
unseren verblendeten Brüdern zu: tut Buße – Das Reich des Herrn ist nah“. Die
linken Junghegelianer hatten sich einiges revolutionäre Pathos angewöhnt. Hier
aber schien ein Russe sie alle zu übertreffen.
Bakunin reiste mit seinem neuen Freund, dem Dichter Georg Herwegh, in die
Schweiz. Dort traf er ein Mitglied des „Bundes der Gerechten“, Wilhelm Weitling
(1808 – 1871), den prominentesten deutschen Frühsozialisten. Er hatte sein Buch
„Garantien der Harmonie und der Freiheit“ gerade veröffentlicht. So kam Bakunin
erstmals mit kommunistischen Theoretikern in einen direkten Kontakt. Weit-
ling wurde kurz darauf von der Schweizer Regierung verhaftet. Der Staatsrecht-
ler Johann Kaspar Bluntschli hatte einen Bericht über die „Affäre Weitling“ für
die Regierung verfasst, in dem im verschwörerischen Umfeld des „unerwünsch-
ten Deutschen“ auch der Russe Bakunin erwähnt wurde. Der russische Botschafter
begann sich für diesen Mann zu interessieren. Bakunin wurde aufgefordert, nach
Russland zurückzukehren. Da er sich weigerte, hat man ihm die Bürgerrechte und
den Adelstitel aberkannt.
Wieder wurde der Boden für Bakunin zu heiß. Er ging nach Paris und traf
alte Bekannte wie Ruge und Herzen und lernte neue sozialistische Gesinnungsge-
nossen kennen wie Proudhon und Marx. Proudhon hat Bakunin lange als seinen
Lehrmeister betrachtet. Immer hat er betont, dass dieser das Konzept der Freiheit
wesentlich besser begriffen habe als Marx. Durch seinen Einfluss wurde Bakunin
vom Idealisten zum Materialisten.
Problematischer entwickelten sich die Beziehungen zu Marx. In einem fran-
zösisch geschriebenen „Rapport personnelles avec Marx“ (GW III: 210) hat Ba-
kunin über diese Begegnung von 1844 sehr positiv berichtet: „Wir waren ziem-
lich befreundet. Er war damals fortgeschrittener als ich, so wie er noch heute
zwar nicht fortgeschrittener, aber unvergleichlich gelehrter ist als ich“. Weltan-
schauliche Differenzen und zwei unleidliche Temperamente sorgten dafür, dass
auch diese Freundschaft eine Episode blieb. Bakunin stieß sich zunehmend an
der Bündnisstrategie, die noch im Kommunistischen Manifest propagiert wurde.
Auch Marx war 1849 von den deutschen „Jakobinern“ und „Demokraten“ tief ent-
täuscht. Bakunin hat die demokratische Partei schon Mitte der 40er Jahre als
„das vollkommen Negative“ empfunden. Sie muss mit dem Gegner zugrunde ge-
hen, um das Positive erstehen zu lassen. Herzen hat in dieser Phase die Ansich-
ten Bakunins noch als den seinen verwandt empfunden. Er hat die intellektuelle
114 Der Anarchismus

Nähe jedoch überinterpretiert. Beide machten eine Rückwendung zum russischen


Missionsgedanken durch. Aber bei Bakunin war dieser weit revolutionärer konzi-
piert als bei Herzen. Marx hat später Bakunin bis aufs Messer bekämpft und ihn
verdächtigt, ein Spitzel der zaristischen Regierung zu sein. Bakunin schrieb einen
Brief und verlangte Beweise (GW III: 212 f), die Marx angeblich von der Schrift-
stellerin George Sand bekommen hatte. Marx musste sich später entschuldigen.
Die Notiz war angeblich während seiner Abwesenheit in die „Neue Rheinische
Zeitung“ geraten – ein prominenter Fall in der Geschichte der Berichtigung von
Pressemeldungen.

Die Revolution von 1848 und Bakunins „Beichte“

Die Revolution von 1848 überraschte Bakunin in Brüssel. Er bat die provisori-
sche Regierung um 2000 Francs, um die Fackel der Revolution nach Polen tra-
gen zu können. Diese stellte ihm zwei Pässe aus – sie war vermutlich nicht un-
glücklich, den Aufrührer los zu sein. Ein republikanischer Polizeipräsident soll
über Bakunin geurteilt haben, dass er unschätzbar am ersten Tag einer Revolu-
tion sei, dass man ihn aber am zweiten Tag der Revolution erschießen müsse (zit:
Wittkop 1994: 37). Als Bakunin sich der polnischen Grenze näherte, war der Auf-
stand bereits niedergeschlagen. Über Breslau eilte er nach Prag. Auf dem Slawen-
kongress versuchte er als einziger Russe – außer einem anwesenden altgläubigen
Popen – der Debatte eine panslawistische Richtung zu geben. Dadurch geriet er
rasch in Konflikt mit dem Präsidenten und Organisator des Kongresses, František
Palacký, der ihm zu konservativ und zu willfährig gegenüber der Habsburger
Monarchie schien. Bakunins „Aufruf an die Slawen“, im Selbstverlag des Verfas-
sers in Koethen 1848 erschienen (IS III: 47 – 63), war der Entwurf einer Resolu-
tion, die nicht angenommen wurde. Er forderte darin eine demokratische Kon-
föderation aller slawischen Völker, die Abschaffung aller Klassenprivilegien und
Solidarität mit den deutschen und ungarischen Revolutionären. Diese Mischung
aus Panslawismus, Revolution und Sozialismus war für die gemäßigte Kongress-
Mehrheit unannehmbar. Bakunins Begabung des Feindeschaffens kam hier schon
voll zum Durchbruch. Es war mehr als ungeschickt, die Tschechen zu beargwöh-
nen und Russland als Führungsmacht zu empfehlen. In seiner Beichte an den Za-
ren (1973: 102 f) hat Bakunin die Polemik verschärft und von einer „Art tschechi-
scher Hegemonie“ gesprochen. Er behauptete im Rückblick, dass die Slowaken,
Polen und Schlesier sich aber mannhaft gewehrt hätten, sich den Tschechen zu
unterwerfen.
Im Juni 1848 unternahmen die tschechischen Studenten einen Aufstand. Er
hatte ihnen abgeraten, aber sein revolutionäres Temperament konnte keinem
noch so aussichtlosen Putschversuch untätig zusehen. Als der Aufstand fehlschlug,
Der russische Anarchismus 115

musste er sich nach Preußen absetzen. In Berlin lernte er Stirner kennen und ver-
steckte sich in der anhaltinischen Provinz – tief enttäuscht von den deutschen Re-
volutionären. Im März 1849 hat er sich noch einmal heimlich nach Prag begeben.
Er lernte Richard Wagner in Dresden kennen, den er zu überreden versuchte, eine
Prometheus-Oper zu komponieren. Wagner (1963: 451) fand Bakunins massige
Gestalt „kolossal, mit einer auf primitive Frische deutenden Wucht“. Doch diese
Wucht hat ihn in Diskussionen, bei denen Bakunins Radikalität nicht zu übertref-
fen war, bald bedrückt. Ein dauerhafter direkter Einfluss Bakunins auf Wagner ist
nicht nachzuweisen. Wagner blieb aber mit seiner „Liebeschiffre“ als gesellschafts-
theoretische Organisationsidee lebenslang ein Krypo-Anarchist, auch als er sich
längst prima vista „reaktionären“ Germanen-Mythen verschrieben hatte (Berm-
bach 1994: 92 ff, 244). In den revolutionären Wirren, an denen Wagner, Bakunin,
Semper und andere Prominente teilnahmen, brannte das Opernhaus ab. Wag-
ner soll nicht ganz unschuldig daran gewesen sein. Bakunin ist nach Wagners Er-
innerung im schwarzen Frack mit Zigarre durch Dresden gegangen und lamen-
tierte über die laschen Vorbereitungen des Aufstandes (Wagner 1963: 462). Wieder
konnte er nicht zusehen, und bot seine Dienste für die provisorische Regierung
an. Bakunin ist unterstellt worden, er habe die Sixtinische Madonna gleichsam
als Geisel nehmen und vor den Barrikaden aufstellen wollen, um die Kanonade
der Konterrevolutionäre zu verhindern. Die Behauptung gehört wohl in das Reich
der Legenden. Diese gediehen besonders in Dresden, weil ähnliche Vorfälle des
Kunstschutzes sich nach 1919 wiederholten und eine „Kunstlump-Diskussion“ mit
Oskar Kokoschka auslösten. Immerhin ist Bakunin für die Sprengung des Rat-
hauses eingetreten, als er sah, dass die revolutionäre Stadt nicht zu halten war. Im
Rückblick behauptete er, man habe immer einen Unterschied zwischen „Gewalt
gegen Menschen“ und „Gewalt gegen Sachen“ respektiert (Beichte: 156), eine spitz-
findige Unterscheidung, die noch in der Studentenrebellion von 1968 wieder aus-
gegraben wurde. Einige Professoren, die mit Eiern und Tomaten beworfen wor-
den sind, konnten bezeugen, dass diese angeblich sanfte Gewalt gegen Menschen
genau so schmerzhaft sein kann, wie die „Gewalt gegen Sachen“. Bakunin floh er-
neut. Im Erzgebirge wollte er mit tschechischer Hilfe einen „Volkskrieg“ organi-
sierten. In Chemnitz wurde er gefasst, vermutlich hatte sich jemand die russische
Prämie von 10 000 Silberrubeln verdienen wollen, die auf Bakunins Kopf ausge-
setzt worden war.
Im Oktober 1851 wurde Bakunin nach Russland ausgeliefert. Der Zar schickte
den Grafen Orlov in den Kerker der Peters-und-Paulskirche mit einer Botschaft
seiner Majestät an den Revolutionär: er solle an den Zaren schreiben, „wie ein
geistlicher Sohn an einen geistlichen Vater“. In einem Brief an Herzen aus der Ver-
bannung in Irkutsk vom 8. Dezember 1860 hat Bakunin von seiner Beichte Kunde
gegeben. Sie ist erst nach der Oktoberrevolution veröffentlicht worden, hat aber
116 Der Anarchismus

schon zuvor gelegentlich dazu gedient, Bakunin durch die russische Regierung
zu erpressen, denn die Veröffentlichung des Textes hätte die schlimmsten Invekti-
ven von Karl Marx und anderen Feinden bestätigt. In dem Brief nannte Bakunin
seine Unterwerfung „entschieden und kühn“ und fand, dass er keine seiner Po-
sitionen verraten habe. Aber schon der unterwürfig-winselnde Ton der Beichte
hätte seine Freunde vermutlich erschauern lassen. Die Beichte hat nichts genutzt.
Bakunin blieb in Haft. Als Nikolaj starb, ist die Mutter zu Zar Alexander II ge-
gangen und hat für ihren Sohn um Gnade gefleht. Die Antwort muss in der Ori-
ginalsprache zitiert werden, um die Abgehobenheit der Oberschicht von ihrem
russischen Volk zu dokumentieren: „Sachez, Madame, que tant que votre fils vivra,
il ne pourra jamais etre libre“. Bakunin dachte an Gift (Briefw: 36). Diese Beichte
ist von den Linken als „Verrat“ und von den Rechten „als machiavellistisches
Meisterwerk“ dargestellt worden. Wirkliche Reue konnte der Zar in dem Bericht
nicht erkennen, trotz der Unterwerfungsfloskeln. Bakunin distanzierte sich nicht
von seinen Zielen, wohl aber vom politischen Mord. Brutus oder Ravaillac wä-
ren nie seine Helden gewesen, hat Bakunin nicht ganz wahrheitsgemäß behaup-
tet (Beichte: 89). Das Wohlwollen des Autokraten versuchte der Revolutionär mit
scharfen Ausfällen gegen die Deutschen und seinen slawophilen Einsprengseln
russischen Nationalgefühls zu erlangen (Beichte: 116 ff). Mit gemischten Gefüh-
len dürfte der Zar das Bekenntnis gelesen haben: „Ich glaube, dass in Russland
mehr als irgendwo eine starke diktatorische Macht notwendig ist, die sich aus-
schließlich mit der Hebung und Aufklärung der Volksmassen befasst, einer ihrer
Tendenz und ihrem Geiste nach freie Macht, aber ohne parlamentarische Formen,
eine Macht, die Bücher freien Inhalts druckt, ohne die Druckfreiheit einzuführen“
(Beichte: 129). Antiparlamentarismus und diktatorische Vollmachten – das konnte
dem Zaren gefallen. Aber die Hebung der Volksmassen und der Glaube an die
Macht der Bücher – trotz beschränkter Zensur – dürfte ihm eher suspekt erschie-
nen sein. Bakunin beeilte sich, den Verdacht auszuräumen, er wolle der Regierung
ihre Kompetenzen abjagen und für sich selbst diktatorische Vollmachten. Danton
sei nicht sein Vorbild, hat Bakunin beteuert. Er gab auch seine Ungeeignetheit für
ein solches Amt offen zu, weil seine Hauptfehler Unstetheit, Liebe zu unerhörten
Abenteuern und grenzenlosen Horizonten sei. Einige Randbemerkungen des Za-
ren sind erhalten. Bei einem Hinweis, dass der russische Zar an der Spitze einer
„Revolution der Slawen“ stehen solle, stand die Notiz: „ich danke“.
Der Lohn für den Kotau war gering. Alexander II strich Bakunins Namen
eigenhändig aus der Liste derer, die amnestiert werden sollten. Immerhin kam
es zu Hafterleichterungen und der Zar erlaubte die Verbannung nach Sibirien.
Er kam nach Tomsk, und später nach Irkutsk. Dort heiratete er eine Polin – wie
er betonte: keine Katholikin und polnische Chauvinistin, sondern eine „slawi-
sche Patriotin“. Es ist Bakunin unterstellt worden, dass diese Heirat mehr der Tar-
Der russische Anarchismus 117

nung seiner Fluchtvorbereitungen diente als der Liebe, von der er in seinen Brie-
fen schwärmte (Briefw: 37). Die Freunde waren von Anfang an skeptisch (Herzen
ML III: 459). Die drei Kinder entstanden „in“ dieser Verbindung, aber nicht „aus“
dieser Verbindung. Bakunins Toleranz ist teils als konsequente Anwendung der
Doktrin der „freien Liebe“ in der Gesellschaft der Zukunft, teils als verkappte
Homophilie gedeutet worden. Ab Oktober 1861 konnte er wieder Bettelbriefe ver-
schicken – die Flucht war geglückt (Briefw: 39 ff). Bei der Einreise in England
soll er den Behörden auf Fragen nach dem Beruf geantwortet haben: „Revolutio-
när“, vermutlich eine weitere Legende in diesem zur Legendenbildung so geeig-
neten Leben.

Geheimbündelei und die „Affaire Nečaev“

In London entfaltete Bakunin sein altes Ungestüm und verärgerte seinen Gön-
ner Herzen mit dem Versuch, die Redaktion der Zeitschrift „Kolokol“ zu revolu-
tionieren. Den Schriftsteller Turgen’ev, der ihn finanziell unterstützte, verprellte
er mit „Leichtsinn und Geschwätzigkeit“. Mazzini lenkte in dieser Zeit seine Auf-
merksamkeit von Russland ab – auf ein neues Betätigungsfeld: Italien. Seither hat
Bakunin mit seiner Liebe zu den romanischen Ländern ein positives Pendant zum
Hass auf Deutschland verleihen können (AB I, Teil 2). Daneben blieben die sla-
wischen Länder jedoch ein wichtiger Fokus seiner revolutionären Aufmerksam-
keit. Als 1863 in Polen der Aufstand ausbrach, versuchte Bakunin nach Polen zu
gelangen. Schon in Malmö kam es jedoch zum Zerwürfnis mit Herzens Sohn. Die
Polen waren über die unverlangte Hilfe nicht einmal besonders entzückt. Ihr Na-
tionalismus begann sich auch gegen Bakunin zu richten. Das Scheitern dieser Ex-
pedition wurde von Bakunin wortreich als „Verrat“ dargestellt. Bakunin begriff
nicht, dass die Polen ihre nationale Revolution weder als panslawistische Expan-
sion noch als soziale Bauernrevolution anstrebten. Er ging nach London zurück.
Revolution war für ihn nicht nur Askese. Er soll Herzen als erstes gefragt haben:
„gibt es hier Austern ?“ (Herzen ML III: 468 ff).
Ab Januar 1864 war Bakunin in Italien. Ein Geheimbund „Allianz der sozialen
Demokratie“ oder „Internationale Bruderschaft“ wurde gegründet. Im gleichen
Jahr entstand die „Internationale Arbeiter-Assoziation“, die erste Internationale.
Marxens Adresse wurde von Bakunin ins Italienische übersetzt. Die Polemik ge-
gen Mazzini begann, weil Bakunin glaubte, den Sozialismus gegen Mazzinis reli-
giösen und politischen Dogmatismus verteidigen zu müssen. Herzen und Ogarëv
haben das muntere revolutionäre Treiben mit Ermahnungen begleitet. Im Juli
1866 versuchte Bakunin (Briefw: 116 ff) seine Aktivitäten zu rechtfertigen. Er sei
nicht untätig gewesen, wisse aber, dass die Gründung einer sozialistischen Ge-
heimgesellschaft den Freunden nicht gefallen hätte – aufgrund „Ihres Tempera-
118 Der Anarchismus

ments“ und „ihrer jetzigen Richtung“. Bakunin wusste, dass Herzen Geheimbün-
delei verachtete. Es folgten die üblichen Anklagen gegen die Konkurrenz. Diesmal
waren es Mazzini und Garibaldi, und deren „abscheulichste patriotische Bour-
geoisie-Rhetorik“. Bakunin rühmte sich erster organisatorischer Erfolge, vor allem
in Süditalien. Nach der Verteidigung ging er zum Angriff über: er distanzierte sich
von der „moralisch bankrotten Mehrzahl der Schüler Belinskijs, Granovskijs“ und
„Deiner Schüler, Herzen, der Mehrzahl der alten human-ästhetisierenden Bruder-
schaften, deren Bücheridealismus, ach ! dem Andrang der schmutzigen offiziellen
Wirklichkeit nicht stand“ (Briefw: 119). Alle wurden ungerechterweise in einen li-
beralen Topf geworfen. Bakunin sah jedoch etwas richtiges: viele der Radikalen
wie Belinskij, Dobroljubov oder Černyševskij, die er als „halbgebildet“ bezeich-
nete, haben sich nicht nur aus Gründen der Umgehung der Zensur auf ästhetische
Betrachtungen geworfen. Bakunin sprach seinem Freund Herzen Güte und Ver-
stand nicht ab, fand aber, dass er zu schwach gewesen sei. Er warf den Freunden
vor, eine soziale Umwälzung anzustreben ohne die politische Umwälzung zu ak-
zeptieren. Ein wichtiger Punkt des Dissenses wurde die Einschätzung der Dorf-
gemeinde, die angeblich für Herzen und seine Gruppe zum „mystischen Sanktua-
rium“ geworden sei. Zu ihrer Erhaltung seien sie bereit, dem autokratischen Staat
alles zu verzeihen. Erster Programmpunkt aber müsse die Zerstörung des russi-
schen Reiches sein.
Im September 1867 wurde in Genf ein Kongress der „Liga für Frieden und
Freiheit“ einberufen. Bakunin hat sein Programm eingebracht und wurde in den
„Generalrat“ gewählt (Briefw., Appendix: 310). Er wies noch auf die Internationale
Arbeiterassoziation hin, obwohl Marx seine Teilnahme an dem Liga-Kongress ab-
gelehnt hatte. 1868 trat Bakunin auch der Internationale bei. Der zweite Kongress
der Liga fand in Bern im September 1868 statt. Bakunin entpuppte sich als Hasser
des „Kommunismus“. Seine eigene anti-etatistische Position nannte er „kollekti-
vistisch“. Bakunins Antrag fiel durch und er trat mit einer Minderheit aus der Liga
für Frieden und Freiheit wieder aus. Die Gruppe gründete eine „Alliance interna-
tionale de la démocratie sociale“, die kurzlebig blieb.
Ab 1868 wohnte Bakunin in Genf. Er gewann einige Proselyten im Schweizer
Jura, wo er als „l’ami Michel“ einige Popularität erlangte. Mit zunehmendem revo-
lutionärem Aufwind wurde sein Ton gegen Freund Herzen schärfer. Er verteidigte
nun die „ungewaschenen Seminaristen und Nihilisten“, deren Treiben Herzen mit
ziemlichem Unmut verfolgte (Briefw: 116 ff).
Im März 1869 meldete sich bei Bakunin in Genf ein angeblicher Delegierter
des Moskauer Komitees einer großen russischen Geheimgesellschaft, welche die
Revolution vorbereitete. Sergej Genadievič Nečaev (1847 – 1880) begann Bakunin
zu faszinieren. Nečaev hatte mit Pëtr Tkačëv (1844 – 1886) ein Aktionsprogramm
verfasst. Er verfocht jedoch im Gegensatz zu Bakunins proudhonistischen Ansich-
Der russische Anarchismus 119

ten einen harten Zentralismus und einen offen elitären Standpunkt. Nečaev ließ
im Januar 1869 das Gerücht ausstreuen, er sei verhaftet worden, aber entkommen
und ins Ausland gegangen, um die Polizei von der Verbreitung seiner Pamphlete
abzulenken. In Wirklichkeit wurden einige Freunde verhaftet, darunter auch Vera
Sasulič, die 1876 durch ihr Attentat auf den Petersburger Polizeipräsidenten be-
rühmt wurde. Sie wurde geradezu zur revolutionären Ikone, als die Richter sie
freisprachen. In Genf publizierte Nečaev einige Pamphlete, die angeblich in Russ-
land gedruckt wurden wie „Das Prinzip der Revolution“. Nečaevs „Propaganda
der Tat“ entwickelte eine Unbedenklichkeit hinsichtlich der Radikalität der Mit-
tel, die selbst Bakunin zu weit ging. Da er aber zu lange duldsam war, hat man
ihm die Mitschuld an den kriminellen Handlungen des jungen Freundes gegeben.
Marx und Engels (MEW, Bd. 18: 407) urteilten über die Flugschriften: „Der abso-
lute Mangel an Ideen drückt sich in einem so schwülstigen Galimathias aus, dass
es unmöglich ist, denselben in einer westlichen Sprache wiederzugeben, ohne das
Groteske abzuschwächen. Diese Sprache selbst ist nicht einmal russisch, sie ist
tartarisch, dafür hat sie ein Russe erklärt“. Seitenweise zitierten Marx und Engels
aus dem „Revolutionskatechismus: „Der Revolutionär ist ein geweihter Mensch“.
Kommentar: „Solch ein Meisterwerk kritisiert man nicht … Man nähme auch die-
sen amorphischen All-Zerstörer viel zu ernst“ (ebd: 431).
Der Fall Nečaev wurde zur Affäre, als herauskam, dass dieser in kleinen rus-
sischen Revolutionszirkeln einen angeblichen Spitzel liquidieren ließ. Bakunin
hat er über die Vorfälle nicht unterrichtet. Stattdessen beschwatzte Nečaev Baku-
nin, die angefangene Übersetzung von Marxens „Kapital“ ins Russisch abzubre-
chen, und bedrohte den Verleger, um ihn zur Lösung des Vertrags zu bewegen.
Der Brief kam Marx in die Hände. Bakunin hat seinen windigen Freund anfangs
noch in dem Pamphlet „Die Bären von Bern und der Bär von St. Petersburg“ in
Schutz genommen. Ende Juli erbrachten jedoch Briefe den klaren Beweis, dass
Bakunin laufend von Nečaev missbraucht worden war. Er empfahl nun seinen
Getreuen, die Beziehungen zu Nečaev abzubrechen und ihm gestohlene Briefe
und Dokumente wieder abzujagen (AB IV: 101 ff, Briefw: 221). Bei Bakunin und
Ogarëv hatte er Papiere gestohlen, die ihre Urheber belasten konnten. In einem
Brief an Talendier schilderte Bakunin, wie Nečaevs Politik auf „Machiavellismus“
und „Jesuitismus“ beruhte: „für den Körper nur die Gewalt, für die Seele die Lüge“
(AB IV: 150, Briefw: 223). Herzen hatte Nečaev schon vorher misstraut und sich
geweigert, eine Summe auszuzahlen, die ein russischer Gönner der Revolution bei
ihm deponiert hatte. Nečaev versuchte nach Herzens Tod, dessen Tochter Natalie
zu umgarnen, um an Herzens stattliches Vermögen heranzukommen.
Im Sommer 1871 wurde in Petersburg der Nečaev-Gruppe der Prozess ge-
macht, der erstmals öffentlich war. Nečaev wurde im August 1872 verhaftet. Baku-
nins Gutmütigkeit ließ sich immer noch dazu bewegen, gegen die Auslieferung an
120 Der Anarchismus

Russland zu protestieren. Ogarëv schrieb er noch: „Er (Nečaev) wird als Held zu
Grunde gehen und diesmal niemand und nichts verraten“ (AB IV: 256 ff, Briefw:
266). Nečaev wurde ausgeliefert und zu lebenslänglicher Haft in der Peters-und-
Pauls-Festung verurteilt (AB IV: 277 ff). Im Januar 1881 hatte er aus dem Gefäng-
nis noch Kontakte zur terroristischen „Narodnaja-Volja“-Bewegung unterhalten.
Als ein Attentat den Zaren tötete, wurden Nečaevs Haftbedingungen verschärft.
Er starb in Ketten im November 1882. Bakunin (Briefw: 272) hatte seine Lektion
endlich begriffen, und sagte sich vom Nečaevismus los, den er für Machiavellis-
mus hielt.
Der Aufstand der Commune von Paris war nach den Niederlagen in Lyon,
Marseille und Italien noch einmal ein revolutionärer Hoffnungsschimmer für
Bakunin. Auch als sie in einem Blutbad untergegangen war, erklärte sich Baku-
nin als Anhänger der Commune, als „kühne Verneinung des Staates“ (GW II: 270,
GuSt: 191 ff). Als Prinzipien hinter der Commune sah er den „revolutionären So-
zialismus“, Prinzipien, die gegen die Kommunisten verteidigt werden mussten,
weil diese die Macht der Arbeiter mit Hilfe der bürgerlichen Radikalen organi-
sierten wollten. Da sein Freund Varlin bei dem Aufstand zu Tode kam, wurde er
sehr allergisch gegen Vorwürfe in der Linken, die Commune sei nicht sozialis-
tisch genug gewesen. Die Bourgeois-Presse behauptete schließlich das Gegenteil
(GW II: 273).

Die Kontroverse zwischen Marx und Bakunin

Die marxistische Orthodoxie hat diesen Konflikt als einen permanenten Dissens
dargestellt. Er begann jedoch erst 1848. Im Index der Marxschen Werke wurde
über Bakunin nur noch lapidar vermerkt: „wegen seiner zersetzenden Tätigkeit
aus der I. Internationale ausgeschlossen“. Marx und Bakunin waren beide aus
dem deutschen Idealismus hervorgegangen. Marx hat jedoch unter dem Einfluss
der englischen Ökonomie einen objektivistischen Standpunkt entwickelt, wäh-
rend Bakunin auch als Materialist subjektivistisch blieb. Die ökonomische Ana-
lyse kam bei Bakunin grundsätzlich zu kurz. Der Subjektivismus Feuerbachs mit
einem permanenten Kampf gegen die Religion hat Bakunin anhaltend beeinflusst.
Marx und Engels hatten die Religion hingegen längst als „überholt“ zu den Ak-
ten gelegt. Der Mangel an wirtschaftlicher Grundlagenforschung begünstigte die
Radikalität von Bakunins Staatsfeindschaft. Marx hingegen sah aufgrund seines
ökonomischen Determinismus die Formen des Überbaus als Hüllen an, die un-
terschiedlichen politischen Kräften dienen könnten. Marx setzte als Angehöriger
einer hochentwickelten deutschen Region auf das Proletariat, der Gutsbesitzer-
sohn aus Russland hingegen glaubte an das revolutionäre Potential der Bauern,
nicht zuletzt, weil er in den vorindustriellen Gebieten des Jura, Italiens und Spa-
Der russische Anarchismus 121

niens seine treuesten Anhänger fand. Auch wenn Bakunin bei der Vorbereitung
von Aufständen vielfach skeptisch blieb, hat er sich doch immer wieder zu einem
blanquistischen Aufstandsdenken hinreißen lassen, bei dem die wissenschaft-
liche Analyse von einem Denken in Termini von „Strategie und Taktik“ über-
wuchert wurde. Marx und Engels hatten sich von der 48er Revolution und der
Commune auch hinreißen lassen, waren aber schnell enttäuscht. Immerhin hat
Engels die Commune später die endlich gefundene Form der „Diktatur des Prole-
tariats“ genannt – während Bakunin gerade den antidiktatorischen Demokratis-
mus an dieser Bewegung lobte (MEW, Bd. 17: 624). Marx vertrat den Kommunis-
mus, Bakunin lehnte diesen Terminus ab, obwohl sein Kollektivismus sich davon
nur in einigen Punkten unterschied. Der gewichtigste Unterschied war jedoch die
Rolle des Staates in der Revolution. Bakunin polemisierte permanent gegen „Re-
gierungsdemokratismus“, und „roten Bürokratismus“, die er ungerechterweise so-
gar seinem Freund Herzen unterstellte (Briefw: 120).
Trotz aller Deklamationen über die Abschaffung des Eigentums blieb die
Lehre Bakunins vager als die Ausführungen im „Kommunistischen Manifest“. Zu-
nächst war nur von Abschaffung des Erbrechts die Rede. Es wurde behauptet, dass
Bakunin erst unter dem Einfluss von Marx die Abschaffung des Individualeigen-
tums akzeptierte (Pyziur 1955: 134). Vor dem Einfluss des Marxismus lag der Ein-
fluss des Proudhonismus. Proudhon hatte sich aber von seiner Formel von 1840,
nach der Eigentum Diebstahl sei, längst verabschiedet. Wer sollte Träger des kol-
lektiven Eigentums sein ? Bei Marx wurde die Verstaatlichung nahegelegt – Baku-
nin plädierte für die Übertragung des Eigentums an dezentrale Arbeiterassozia-
tionen. Zum Kollektiveigentum rang Bakunin sich nicht zuletzt aufgrund seiner
Hinwendung zur russischen Dorfgemeinde, obwohl diese russische Form des
Kollektiveigentums kaum direkt auf eine sozialistische Gesellschaft übertragbar
schien. Marx begünstigte den Großbetrieb, Bakunin den mittleren und kleinen
Manufakturbetrieb.
Bakunin hat 1848 und später unter dem Einfluss von Nečaev gelegentlich von
Diktatur gesprochen. Aber damit war keine organisierte leninistische Parteidikta-
tur anvisiert. Für Bakunin genügten kleine Zellen mit ca. hundert Militanten. Dik-
tatorische Gelüste à la Garibaldi wies Bakunin zurück. Marx und Mazzini (letzte-
rer weniger eigennützig) waren in seinen Augen politische Ehrgeizlinge, die dazu
neigten, die Wissenschaft doktrinär einzusetzen und die Macht diktatorisch zu
missbrauchen, um „die Massen nach ihrer eigenen Idee zu regieren, zu erziehen
und zu organisieren“ (GW III: 207).
Marx und Bakunin verdächtigten einander als Haupt einer Pan-Bewegung.
Marx wurde als Pangermanist dargestellt, was er weniger war als Bakunin ein
Panslawist gewesen ist. Zum Hass gegen die Deutschen kam Bakunins Antisemi-
tismus hinzu. Die Juden nannte er das „Blutegelvolk“ und eine „ausbeuterische
122 Der Anarchismus

Sekte“. Letzteres zeigte, dass kein rassistischer sondern ein antikapitalistischer Ju-
denbegriff eingesetzt wurde. Diese Sekte werde entweder von Rothschild oder von
Marx kommandiert (GW III: 209).
Noch 1869 hatte Bakunin sich als Freund und Schüler von Marx ausgege-
ben. Marx eröffnete jedoch den Krieg um die Diktaturvorwürfe (MEW Bd. 32:
422). Die Mittel, die in dieser Kontroverse eingesetzt wurden, waren äußerst bru-
tal. Bakunin wurde als russischer Spitzel denunziert. Marx hat das Gerücht aus-
genutzt. Als er die Beweise in Form von Briefen der George Sand antreten sollte,
machte er einen Rückzieher. Marx behauptete nun, der Spitzelvorwurf sei ohne
sein Wissen in die „Neue Rheinische Zeitung“ geraten.
Bakunins Mitgliedschaft in der Internationale führte von Anfang an zu Kon-
kurrenz zweier Exponenten, eine Konkurrenz, bei der Bakunin zunächst die stär-
kere Position zu haben schien. 1872 wurde eine Generalversammlung der Inter-
nationale in Den Haag einberufen. Marx wählte absichtlich ein Land im Norden
Europas, um die Bakuninisten aus Südeuropa zu neutralisieren (Dok. in: AB II).
Die Teilnehmer der Haager Konferenz waren manipuliert. Die Mehrzahl wa-
ren nicht Delegierte von Assoziationen sondern individuelle Teilnehmer, die als
treue Marxianer galten. Bakunin und Guillaume wurden ausgeschlossen. Marx
und Engels setzten eine Untersuchung gegen Bakunins „Allianz der sozialisti-
schen Demokratie“ durch, die sie eine „totgeborene Gesellschaft von Bourgeois-
Republikanern“ nannten (MEW Bd. 18: 335). Der Vorwurf gegen Bakunin lau-
tete „Aufschneiderei“ über die „sofortige Abschaffung des Staates“. Die Gruppe
Bakunin ging davon aus, dass Revolutionen niemals gemacht werden. Sie waren
gleichsam autopoietische Vorgänge: „sie machen sich von selbst“. Die hochtönen-
den Phrasen von Autonomie und freier Föderation wurden als Maskierung des
wahren Zwecks hingestellt: die Internationale zu desorganisieren, und sie „einer
geheimgehaltenen Diktatur zu unterwerfen und ihr das Programm des Herren
Bakunin aufzudrängen“ (MEW Bd. 18: 440). Dieser Umgang mit Dissentern sollte
später im Leninismus und Stalinismus ganze Heere von „Diversanten und Defai-
tisten“ zu Tage fördern.
Bakunin nahm den Ausschluss relativ gelassen hin und betonte nur, dass es in
der Internationale kein unfehlbares Dogma geben könnte. Im Gegensatz zu den
Urteilen von Marx über Bakunin hat er nicht aufgehört, die überragenden Talente
von Marx – trotz aller charakterlichen Mängel – anzuerkennen. Im Schweizer Jura
kam es in Saint-Imier zu einem Gegenkongress der Bakunisten. Die Haager Be-
schlüsse wurden angefochten. Marxens Manipulationen waren offensichtlich, als
er den neuen Generalrat nach New York verlegte, um ihn dem Einfluss der Geg-
ner zu entziehen. Dies entpuppte sich als Anfang vom Ende der Internationale
und hat zum raschen Erkalten des Interesses an dieser Form der internationalen
Zusammenarbeit bei Marx beigetragen. Als auf einem späteren Kongress der In-
Der russische Anarchismus 123

ternationale der Generalrat mit einer libertären Mehrheit abgesetzt wurde, hat
Bakunin sich aus der Politik zurückgezogen. In einer Abschiedsadresse vom Ok-
tober 1873 an die Freunde der Jura-Föderation betonte er, dass die Zeit der Theo-
rien vorbei sei. Es seien in der Internationale mehr Ideen entwickelt worden, als
man zur Rettung der Welt brauche, wenn Ideen allein sie retten könnten (GW III:
266). Kurz zuvor hatte er das einzige Buch vorgelegt, dass er auf Russisch geschrie-
ben hat: „Staatlichkeit und Anarchie“, und 1873 zunächst anonym in der Schweiz
erschien. Eingeschmuggelte Exemplare nach Russland hatten nachhaltigen Ein-
fluss auf die Narodniki.
Am Ende seiner Tage stellte ein Gönner, der Marchese Carlo Cafiero Bakunin
eine Villa in Locarno zur Verfügung. Bakunins Hang zu aristokratisch-verschwen-
derischen Allüren und die Zweckentfremdung der Mittel haben den Mäzen bald
veranlasst, Bakunin vor die Tür zu setzen und ihm die Kredite zu streichen. Selbst
die Freunde im Jura begannen sich von ihm zu distanzieren. Guillaume, der ge-
treue Mitstreiter gegen Marx, entfremdete sich ihm. Noch einmal hat er den Auf-
stand zu proben versucht, als er heimlich bis Bologna vorstieß. Nach diesem ver-
geblichen Versuch hat er isoliert gelebt. Nur wenige, wie Reclus haben noch zu
Bakunin gehalten. Was er und seine Anhänger einst Herzen angetan hatten, sollte
Bakunin nun selbst widerfahren.

Werke zur politischen Theorie

Erst 1865/66 konnte man von Bakunin als einem Theoretiker der Politik sprechen.
Sein „revolutionärer Katechismus“, der die Ziele der „revolutionären Gesellschaft“
darlegte, war beispiellos in seiner Radikalität. An den Anfang stellte er das athe-
istische Bekenntnis. Der Gotteskult sollte durch Achtung und Liebe der Mensch-
heit ersetzt werden. Er erkannte nur ein absolutes Recht an: das Recht auf Freiheit.
Dieses konnte jedoch nur durch die „Gleichheit aller verwirklicht werden“ (PdT:
316). Freiheit des Nächsten zu achten, nannte Bakunin eine Pflicht, oder „die Tu-
gend“. Es gab für ihn keine einheitlichen Organisationsmuster für alle Nationen.
Jede Autorität wurde abgelehnt, die Klassen sollten abgeschafft, die Republik und
die Wahl aller öffentlichen Funktionäre und Richter sollten eingeführt werden.
Das Recht der Propaganda sollte unbeschränkt sein. Das Wahlrecht umfasste auch
das Recht der Frauen. Kooperative Arbeiterassoziationen bildeten die Infrastruk-
tur der Verwaltung von „Sachen“. Für die Verwaltungseinteilung gab es keine Vor-
schriften außer den Föderalismus. Zwischen Gemeinde und Staat sollte es eine
Zwischeneinheit geben, ob sie Departement, Region oder Provinz genannt wurde.
Selbst das zentralistische Frankreich konnte dieser Forderung genügen. Schule
sollte die Kirche ersetzen. „Gleichheit der Mittel für Unterhalt, Erziehung und
Unterricht“ wurden angestrebt. Fortan sollte es keine Revolutionen mehr geben,
124 Der Anarchismus

sondern nur eine einzige universelle Revolution, sowie es auch nur eine Europä-
ische oder Weltreaktion in der Welt gebe (PdT: 356).
1867/68 wurden diese Ziele in der Schrift „Föderalismus, Sozialismus, Anti-
theologismus“ ausgeführt (IS III: 121 ff). Die Schrift war als Antrag für den Gen-
fer Kongress gedacht gewesen. Daneben entwickelte Bakunin ein „Programm der
russischen sozialistischen Demokratie“.
Im deutsch-französischen Krieg nahm Bakunin Partei für Frankreich. Marx
–  sonst dem preußischen Militarismus nicht gewogen – hat den preußischen
Sieg aus taktischen Gründen für seine Bewegung begrüßt: „Die Franzosen brau-
chen Prügel“ schrieb er am 20. Juli 1870 an Engels: „Siegen die Preußen, so ist
die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Ar-
beiterklasse. Das deutsche Übergewicht würde ferner den Schwerpunkt der west-
europäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen. Ihr
Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Über-
gewicht unsrer Theorie über die Proudhons etc.“ (MEW Bd. 33: 5). Dieser Oppor-
tunismus zugunsten der eigenen Theorie war beträchtlich. Bakunin hatte leichtes
Spiel diese in einer Schrift zu brandmarken. Auf Französisch schrieb er ein Pam-
phlet „La révolution sociale ou la dictature militaire“. Später kam es unter dem Ti-
tel „Das knuto-germanische Reich oder die soziale Revolution“ heraus. Bakunin
beklagte, dass Frankreich aufgehört habe, ein Staat zu sein. Die Gründe der Nie-
derlage zwangen den Libertären zur Anerkennung einer gewissen Disziplin, wenn
auch nur einer „freiwilligen und durchdachten Disziplin“ (GW I: 9). Befremd-
licher Weise polemisierte er nun gegen das allgemeine Wahlrecht, weil es den Dik-
tator Napoleon III an die Macht gebracht habe und den Interessen der Arbei-
termassen stets zuwider laufe. er rühmte sich – entgegen den Ansichten seines
Lehrers Proudhon – schon in der zweiten Republik geschrieben zu haben: „Das
allgemeine Wahlrecht ist die Gegenrevolution“. Den Machtzuwachs des verein-
ten Deutschland sah er mit Grauen. Da Russland Deutschland unterstützt hatte,
schien ein Streit um die baltischen Provinzen die einzige Hoffnung für Bakunin.
Er plädierte übrigens für den Anschluss des Baltikums an Skandinavien. Die Esten
wurden als „Finnen“ behandelt (GW I: 57). Bakunin beklagte das Einvernehmen
des „germanisierten Dschingis Khan“ auf dem Zarenthron mit dem „Popanz-Kö-
nig, dem zukünftigen Kaiser Deutschlands“. Letzte Hoffnung schien das deutsche
revolutionäre Proletariat, das als einzige deutsche Kraft das reaktionäre Bündnis
mit Russland verabscheue. Die zweite Lieferung dieser Schrift musste zu Bakunins
Lebzeiten wegen Geldmangel ausgesetzt werden.
Das Hauptwerk zur politischen Theorie blieb Fragment. Reclus und Cafi-
ero haben „Dieu et l’état“ 1882 nach Bakunins Tod herausgegeben. Die Editoren
räumten ein, dass dieses Werk wie die meisten Schriften Bakunins Fragment eines
Briefes oder eines Berichts geblieben sei, mit den üblichen literarischen Mängel
Der russische Anarchismus 125

seiner Gattung und einem „manque de proportions“ (1882: VI). Bakunin entwi-
ckelte in dieser Schrift (1882: 3) drei Grundprinzipien der historischen Entwick-
lung: die menschliche Animalität, das Denken und die Empörung. Sehr logisch
war dieser Dreiklang von Prinzipien, die auf ganz verschiedenen Ebenen angesie-
delt schienen, nicht. Pendants der drei Prinzipien waren Wirtschaft, Wissenschaft
und Freiheit. Gegen den Mythos der Bibel wurde erneut der Materialismus ver-
teidigt. Problem war dabei, dass große Schriftsteller, wie Mazzini, Michelet oder
Mill Idealisten gewesen seien. Er hielt dem Idealismus entgegen, dass die Gottes-
idee die Abdankung der menschlichen Vernunft und der menschlichen Freiheit
sei. Die Religionen verdummen die Menschen und entehren die menschliche Ar-
beit. Bakunin stellte sodann die Frage, ob er damit jede Autorität verneine. Er hat
das bestritten. Jeder Fachspezialist war für ihn eine Autorität und er erkannte die
„unbedingte Autorität der Wissenschaft“ an, aber er wies Unfehlbarkeitsansprü-
che der Wissenschaft zurück. Zugleich strebte er nach einer absoluten universel-
len Wissenschaft, die alle Naturgesetze ideal wiedergebe. Comtesche Einflüsse wa-
ren in diesen Ansicht nicht zu verkennen. Den Idealisten hingegen unterstellte
Bakunin einem „metaphysischen Pietismus“ anzuhängen (GW I: 114). Die Kirche
der Zukunft werde Schule heißen. Der Staat werde in eine Republik transformiert.
Parlamente lehnte er ab, sie waren in seinen Augen nur die Legalisierung der Skla-
verei des Volkes (GW I: 168).
In der Schrift „Staatlichkeit und Anarchie“ hat Bakunin auf Russisch zum Ge-
genschlag gegen Marx ausgeholt (1872). Zwischen Staatlichkeit und revolutionä-
rer Diktatur bestand für ihn nur ein gradueller Unterschied. Bismarck – Marx –
Lassalle – alle deutschen Positionen wurden in panischer Pangermanismus-Furcht
gleichgesetzt. Es war ein konfuses Buch. Der wissenschaftliche Anspruch bei Marx
wurde fehlgedeutet. Der Ausdruck „wissenschaftlicher Sozialismus“ hatte sich ge-
gen den „utopischen Sozialismus“ gerichtet. Dennoch wurde aus dem bloßen Ter-
minus schon ein Herrschaftsanspruch abgeleitet, den der Marxismus zur Errich-
tung einer revolutionären Staatsdiktatur angeblich einsetzen wolle.
„Staat und Anarchie“ war zugleich ein umfassender Traktat zur vergleichenden
Betrachtung der Regime und Bewegungen in Europa und der internationalen Po-
litik jener Epoche. Unter dem Eindruck eines eingebildeten Sieges über Marx und
die Internationale glaubte Bakunin, dass die Revolution nirgends so nah sei wie in
Italien und Spanien. Der Wunsch war der Vater des Gedankens, denn dort hatte
Bakunin seine Hauptanhängerschaft (AB III: 206). Deutschland war für ihn ein
machiavellistisch geeinter Staat. Frankreich war unterdrückt und hat durch die
„Verräter von Versailles“ unter Thiers die Commune liquidiert – die letzte Hoff-
nung des Landes. Wer konnte das Deutsche Reich noch in Schach halten ? Nicht
einmal England, da es keinen Staat im modernen Sinne darstelle, sondern nur
eine „Föderation von privilegierten Interessen“ sei (AB III: 222). Auch in England
126 Der Anarchismus

sah er revolutionäre Tendenzen. In Österreich würden 7 Millionen Deutsche – die


Juden eingeschlossen – elfeinhalb Millionen Slawen unterdrücken. Die ungarische
Seite des Reiches sei in der Slawenunterdrückung trotz einer liberaleren Verfas-
sung nicht besser. Immerhin hatten sie sich einmal revolutionär erhoben. Polen
als revolutionäre Hoffnung sei ausgeschaltet worden. Kein Zar würde für den Pan-
slawismus Krieg mit Deutschland riskieren. Das Kriegsziel Konstantinopel – of-
fenbar nicht strikt verworfen – würde alle Mächte gegen Russland aufbringen,
Frankreich und England eingeschlossen. Deutschland sah er als umso gefährlicher
an, als es „durch eine Art Wunder“ in der Literatur seit Lessing, Goethe, Schiller,
Kant, Fichte und Hegel führend geworden sei (AB III: 287). Die deutsche Arbeiter-
bewegung sah Bakunin als nicht weniger aggressiv an, als die preußisch-deutsche
Regierung. Seit Weitling, Marx und den Junghegelianern hätten die Deutschen
versucht, auch die Arbeiterbewegung unter die „knuto-germanische“ Gewalt zu-
bringen. Lassalle – „zu jüdisch, um sich im Volk wohlzufühlen“ (AB III: 348) –
wurde zum Nationalisten und Zentralisten. Die deutschen Arbeiter hätten keiner-
lei Solidarität mit den französischen Arbeitern gezeigt. Das pangermanistische
Banner trage die Inschrift, die für alle Ebenen der Gesellschaft gelte: „Stärkung
des Staates um jeden Preis“. Diese Schrift wurde durch einen Appendix, der stär-
ker auf Russland einging, einflussreich in der revolutionären Bewegung des Lan-
des. Die russischen Deformateure des Volkes – die Narodniki – wurden kaum
weniger hart kritisiert als die deutschen Gegner in der internationalen Arbeiter-
bewegung. Den Narodniki versuchte Bakunin klarzumachen, dass der russische
Staat die Dorfgemeinde bereits vernichtet habe. Daher musste die Intelligenz ins
Volk gehen – was auf der Linie der Narodniki lag (AB III: 374). Er versuchte so-
gar eine soziale Analyse der Intelligenz, die den Gang ins Volk antrat: die Intel-
lektuellen hatten keine andere Wahl, sie seien in einer sozial-revolutionären Lage
(social’no-revoljucionnoe položenie) (AB III: 179, 378). Aber Bakunin beklagte
die Konfusion zwischen den Narodniki-Propagandisten und den Aufständlern
(buntari).
Karl Marx hat Bakunins „Staatlichkeit und Anarchie“ exzerpiert und kom-
mentiert. „Konspekt“ nannte er diese Literaturgattung, die in den russischen
Sprachgebrauch eingehen sollte. Er sparte nicht mit Invektiven wie „schülerhafte
Eselei“, „politische Faselei“ oder „Blödsinn“ – zum Beispiel bei Bakunins Herum-
reiten auf Liebknechts „Volksstaat“. Marx sah richtig, dass Bakunin die Erfolgs-
aussichten der Revolution nach Sympathie und Gefolgschaft – aber nicht nach
objektiven Kriterien – einschätzte: „Er versteht absolut nichts von sozialer Revo-
lution, nur die politischen Phrasen davon; die ökonomischen Bedingungen der-
selben existieren nicht für ihn“ (MEW Bd. 18: 633). Der Vorwurf war berechtigt.
Bakunin hat radikale Revolutionen überall für möglich gehalten, selbst in slawi-
schen Agrargesellschaften und bei Hirtenvölkern. Erneut wurde der Dissens hin-
Der russische Anarchismus 127

sichtlich der Benutzung von Überbauformen deutlich. Marx ging davon aus, dass
die politischen Formen der vorangegangenen Gesellschaft der Bewegung die-
nen könnten. Er kam daher zum Schluss, dass Bakunin auf eine Art „jüngstes
Gericht“ warte, in dem alles oder gar nichts erledigt werden müsse (ebd: 636).
Für Marx war die politische Theorie Bakunins nichts als „die Proudhonsche und
Stirnersche Anarchie ins wüst Tartarische übersetzt“. Bakunin hingegen ging da-
von aus, dass Bismarck und Lassalle natürliche Verbündete durch ihre Staatsver-
gottung seien.

Zentrale Begriffe der politischen Theorie Bakunins

Freiheit war Bakunins Zentralbegriff. Aber er war eher ein rhetorischer Denker,
„einfach, seicht und klar“ sagte Isaisah Berlin (1981: 157). Das trifft zu bis auf die
Klarheit. Es gab keine stringenten Definitionen bei Bakunin und auch der Frei-
heitsbegriff wurde ganz schillernd gebraucht. Daher haben die Interpretationen
von Bakunins Freiheitsbegriff in der Literatur stark variiert – von „impotenter Ro-
mantizismus“ als Kompensation für ein verkorkstes Leben (Mendel 1981), oder
schrankenloser Individualismus in der Nachfolge Stirners (Carr 1961) – bis zu
„rationale Anwendung der Naturgesetze“ und Freiheitsgewinn durch Verbreitung
von Wissen (Maximoff 1964: 265) oder Freiheit als „moralische Selbststeuerung“
(Crowder 1991: 129). Der Freiheitsdrang ist aus Bakunins Leben abgeleitet worden.
Im Vergleich zu Herzen konnten einige Kritiker (Berlin 1981: 160) jedoch wenig
Originalität und noch weniger Freiheitlichkeit im Werk von Bakunin entdecken.
Die Relativierung des Freiheitsbegriffs im Hinblick auf die verschiedenen Natio-
nen war äußerst irreführend. Oft gewinnt man den Eindruck, der Freiheitsdrang
sei doch nicht universalistisch in jedem Menschen angelegt. Eine krude Völker-
psychologie Bakunins (AB III: 358) ging davon aus, dass ein Engländer oder Ame-
rikaner, der stolz auf sein Land sei, impliziere: „ich bin ein freier Mensch“. Verfas-
sungspatriotismus würde das heute genannt. Ein Deutscher aber sage gleichsam:
„ich bin Sklave, aber andererseits ist mein Kaiser mächtiger als alle anderen Souve-
räne“. Das Urteil über die Völker schlug auf ihren Urheber zurück. In der Evalua-
tion seiner Freiheitstheorie waren deutsche und jüdische Autoren unnachsichtiger
als angelsächsische Interpreten. Jüdische Publizisten konnten zudem den Antise-
mitismus Bakunins nicht verwinden.
Der Begriff der Revolution bei Bakunin war ebenfalls umstritten. Er wurde im
„Programm und Ziel der Revolutionären Organisation der Internationalen Brü-
der“ zusammengefasst. Staat und Eigentum sind zu zerstören. Trotz einer radi-
kalen Revolution, solle man „den Menschen gegenüber menschlich … sein, ohne
die Revolution zu gefährden“. Was bedeutete die Einschränkung im zweiten Teil
des Satzes ? Der Schluss bleibt unklar: man müsse den „Verhältnissen und Din-
128 Der Anarchismus

gen gegenüber ohne Mitleid sein“ (Briefw: 464). Das ist nicht klarer als die Diffe-
renzierung von Gewalt gegen Menschen und Gewalt gegen Sachen, die er in sei-
ner Beichte gemacht hatte. Blutbäder sollten vermieden werden. Jakobiner und
Blanquisten neigten in Bakunins Augen dazu, dieses nicht zu akzeptieren. Daher
wurde ihnen unterstellt, dass sie eigentlich keine Sozialisten seien, und den So-
zialismus nur übernommen hätten, um ihre Diktatur zu verschleiern. Die natür-
lichen Feinde der Revolutionäre, die „zukünftigen Diktatoren, Reglementierer
und Bevormunder der Revolution“ erkennt man an ihrer Haltung zum Staat. Sie
strebten einen neuen Staat an – so zentralistisch wie der alte, den sie zerstört hät-
ten. Um diese Zeit waren die Blanquisten noch stärker kritisiert worden als die
Marxisten. Das sollte sich bald ändern. Blanqui hatte immerhin auf Seiten der
Commune gestanden. Bakunin bekannte sich zur Anarchie. Diese wurde auch
nicht eben klar als „vollkommene Offenbarung der entfesselten Volkskräfte“ defi-
niert. Die oberste Führung der Revolution sollte beim Volk bleiben. Wie das or-
ganisatorisch aussehen sollte, blieb gleichfalls unklar. Hatte er nicht selbst man-
gelnde Disziplin an der Commune beklagt ?
Soziale und politische Revolution mussten für Bakunin Hand in Hand gehen.
In einigen Fällen konnte noch eine nationale Revolution hinzutreten – wie in Po-
len. Eine Freiheit des Willens hat der späte Bakunin geleugnet. Es wurde vermutet,
dass dies ein Trick war, um jedes Strafrecht ablehnen zu können (Masaryk II: 18).
Die Rolle der Intelligenz wurde im Gegensatz zu den Narodniki negativ beurteilt.
Hier war Bakunin Tkačëv näher als Lavrov. Vorübergehend hat er jedoch auch
den „Machiavellismus“ einer revolutionären Führungselite gebilligt.
Die Organisationsfrage konnte auch der Anarchismus nicht vermeiden. Die
Existenz eines Zentralkomitees ließ nichts Gutes ahnen. Die Geheimbündelei, der
Bakunin zum Kummer Herzens verfallen war, drohte ebenfalls, autoritäre Ten-
denzen zu stärken. Immerhin kam der Voluntarismus des Revolutionärs auch bei
der Abwägung des persönlichen Risikos zum Vorschein. Während Marx 1848 of-
fene Aktionen vermied, um nicht aus Preußen ausgewiesen zu werden, hat Baku-
nin selbst bei geringen Erfolgsaussichten der Erhebung sein Leben in die Schanze
geschlagen. Bakunins Voluntarismus ist häufig Aristokratismus unterstellt wor-
den: das Volk wird zum Revolutionssklaven degradiert (Masaryk I: 23). Einst
hat Bakunin dem Subjektivismus des deutschen Idealismus vorgeworfen, dass er
eigentlich als letzten Ausweg nur den Selbstmord nahe lege. Bakunins revolutio-
närer Subjektivismus schloss den politischen Selbstmord im Scheitern der Revolu-
tion nicht aus. Aber auch der politische Mord an anderen wurde nicht mit der nö-
tigen Schärfe ausgeschlossen. Die larmoyante Erklärung in seiner Beichte an den
Zaren reicht für eine gegenteilige Hypothese nicht aus. Er schrieb damals aus dem
Gefängnis: „Ich bin ein Verbrecher vor Ihnen und vor dem Gesetz, ich kenne die
Größe meiner Verbrechen, aber ich weiß, dass meine Seele niemals einer Freveltat
Der russische Anarchismus 129

oder einer Schuftigkeit fähig war. Mein politischer Fanatismus, der mehr meiner
Phantasie als meinem Herzen entsprang, hatte gleichfalls genau bestimmte Gren-
zen: Brutus, Ravaillac und Alibo waren nie meine Helden“ (Beichte: 89). Was war
der Unterschied zwischen Verbrechen und Freveltat ? Später hat Bakunin das Be-
kenntnis zum Machiavellismus in einem Brief wenigstens verbal widerrufen. Er
schrieb 1874 an Ogarëv: „Begreife doch endlich, dass man auf jesuitische Spitz-
büberei nichts Lebendiges und Festes aufbauen kann, dass die revolutionäre Tä-
tigkeit zum Erfolg der Sache selbst nicht in niederträchtigen oder niedrigen Lei-
denschaften ihre Stütze zu suchen hat, und dass ohne höhere selbstverständlich
menschliche Ideale keine Revolution zum Siege gelangen kann“. Der Herausge-
ber von Bakunins Briefen hat darin eine Bekehrung gesehen, aber was ist diese
wert, nach all den blutrünstigen Proklamationen, mit denen er – aus Sibirien ent-
flohen – seiner Beichte an den Zaren durch die Tat widersprach ? Zudem ist der
Anlass dieser angeblichen Bekehrung verdächtig, denn in dem Brief wird Cafiero,
sein einstiger Gönner, angeschwärzt. Das Bekenntnis wirkt zu sehr als captatio be-
nevolentiae beim Spinnen einer neuen Intrige.
Nicht immer hatte Bakunin die Gewalt propagiert. Sein Beitrag „Volkssache“,
der 1862 in London erschien, hatte friedlichere Töne angeschlagen. Aber wieder
lag diesem Gesinnungswandel ein zweifelhaftes Manöver zugrunde. Bakunin be-
hauptete plötzlich er würde lieber einem Volkszaren Alexander als irgendeinem
Rebellen à la Pugačëv oder Pestel’ folgen (Briefw, Appendix: 308). Es handelte sich
seiner Ansicht nicht mehr darum, die Revolution abzuwenden, sondern zu ent-
scheiden, ob sie einen friedlichen Ausgang nehme, d. h. ob der Zar sich an die
Spitze einer Volksbewegung stelle oder in seiner Verblendung reaktionär handele
oder bei halten maßregeln stehen bleibe (ebd: 304 f). Der vehemente Parlamenta-
rismus-Verächter forderte nun einen „allgemeinen Reichstag“. Solche Äußerun-
gen waren so wenig glaubhaft – wie bei Marx als er auf dem Haager Kongress der
Internationale 1872 in einigen Ländern – England, USA, eventuell Niederlande –
einen friedlich-parlamentarischen Weg für möglich hielt (MEW Bd. 18: 160). Von
der Revolution rückte Bakunin in dieser Einlassung nicht ab, und schloss den Ge-
danken mit Drohungen, weil er sein optimistisches Szenario selbst für recht un-
wahrscheinlich hielt. Bakunin setzte in einem worst-case-scenario auf die „revo-
lutionäre Jugend“, die begriffen habe, dass die „westeuropäischen Abstraktionen
konservativer, bourgeois-liberaler oder sogar demokratischer Natur auf unsere
russische Bewegung nicht anwendbar sind“ (Briefw: 306). Die anschließenden
Forderungen waren so radikal gehalten, dass jeder Appell an den guten Willen des
Zaren illusorisch erscheinen musste:

■ Grund und Boden sollte Eigentum des Volkes werden,


■ Selbstverwaltung des Volkes,
130 Der Anarchismus

■ freie Föderation der einzelnen Gebiete,


■ völlige Unabhängigkeit für Polen, Litauen, Finnland, Kaukasus, Lettland und
sogar für die Ukraine,
■ ein Bund als brüderliche Vereinigung der slawischen Völker gegen die deut-
sche Bedrohung,
■ Hilfe für alle slawischen Brüder unter dem Joch Österreichs, Preußens und
der Türkei,
■ ein enges Bündnis mit Italien, Rumänien und Griechenland.

Immerhin wurde die Revolution vom „Urinstinkt“ des Volkes zu einer rationalen
Entscheidung gemildert, die nur noch im Notfall getroffen werden müsse, falls die
Dummheit der Herrschenden obsiege. Ein Rest von Hoffnung auf den Volksza-
ren ist ihm in der Bewegung übel genommen worden. Aber dieser Rückfall schien
nicht gravierender als Proudhons zeitweilige Hoffnungen auf Louis Bonaparte.
Immer wieder kam bei Bakunin, der dem Volk dienen wollte, ein urtümlicher
Aristokratismus durch, wenn er glaubte, der Macht nahe zu sein. Der antibour-
geoise Affekt, den er mit dem frühen Herzen und anderen „reuigen russischen
Edelmännern“ teilte, hat immer wieder gezeigt, dass ein geheimer Standesdünkel
nicht überwunden war. Eine Allianz der intellektuellen Teile der Aristokratie mit
dem bäuerlichen Volk sollte Dämme gegen die kapitalistische Flut bauen. Bakunin
hat auch im Persönlichen diese adlige „Kollusion“ durchaus genutzt, als er die fa-
miliären Beziehungen zum Gouverneur in Sibirien für seine Flucht ausnutzte, war
dies nicht nur Schlamperei der Administration, sondern auch Gefälligkeiten einer
aufgeklärten Staatsdienerkaste selbst für die gefallenen Söhne ihrer Klasse.
Der Antitheologismus wurde neben dem Föderalismus und dem Sozialis-
mus das dritte Prinzip im Programm für den Genfer Friedenskongress (1867). Die
Schrift „Föderalismus, Sozialismus, Antitheologismus“ war als Resolutionsent-
wurf (motivirovannoe predloženie) für das Zentralkomitee der „Liga des Frie-
dens und der Freiheit“ vorgelegt worden (IS III: 122). Der Atheismus – für Marx
längst ein Nebenkriegsschauplatz – wurde zum zentralen Anliegen der Befrei-
ung. Solange Gott existiert, ist der Mensch Sklave (IS III: 150 ff). Erst wenn die
Autorität der Kirche gebrochen ist, fällt auch die Autorität des Staates. Kirche und
Staat hat Bakunin einmal die „schwarzen Tiere“ genannt. Sie wurden so zu apo-
kalyptischen Ungeheuern, die wie Leviathan und Behemoth aus der Tiefe die
Menschheit bedrohten. In einer Kombination von Materialismus und Positivis-
mus Comtescher Prägung wurde die Psychologie, die das geistige Geschehen un-
tersucht, auf die Biologie reduziert. Der Terminus Soziologie wurde von Comte
übernommen (IS III: 155). Der Dreiklang der Prinzipien zeigte auch noch An-
klänge an die Hegelsche Triade, obwohl er sich von Hegel gelöst zu haben glaubte.
In seinem Konflikt mit Marx hat er dem Gegner gleich einen dreifachen Autori-
Der russische Anarchismus 131

tarismus angehängt, der Marx als Deutscher, als Jude und als Hegelianer verfallen
sei. Trotzdem konstruierte er eine Triade: die Staatlichkeit war die These, die An-
archie die Antithese. Die Synthese wurde im Geist Proudhons konzipiert, sie lau-
tete „Föderalismus“.
Die Totalzerstörung des Systems wurde partialisiert. Je slawophiler Bakunin
wurde, umso mehr hat er in seinen taktischen Anweisungen für Russland den
Atheismus weniger betont, um die Gefühle der bäuerlichen Massen nicht zu ver-
letzen. Wie Herzen wurde Bakunin in der Emigration vom theoretisch subli-
mierten Heimweh erfasst, der Slawophilie. Er vertrat aber keinen großrussischen
Chauvinismus. Immer hat er – wie auch Herzen – die polnische Eigenständigkeit
verteidigt. Der slawophile Messianismus schien in den Augen slawischer Inter-
preten (Masaryk II: 25) nicht nationalistischer als Marxens Predigt einer deutsch-
polnisch-ungarischen Verbindung gegen den Rest des Slawentums (MEW, Bd. 6:
286). Aber dass Polen in dieser Allianz auftauchte, zeigte schon, dass Marx sich
nicht gegen die Slawen schlechthin richtete. Er vertrat einen Anti-Russismus:
„Russenhass ist die erste revolutionäre Leidenschaft bei den Deutschen“ – eine
missverständliche Formulierung, obwohl sie nur auf das autokratische System des
damaligen reaktionären „Weltpolizisten“ gemünzt war. Polen hat Marx nicht we-
niger geliebt als Bakunin – wie diese Liebe teilten sie auch ihre liberalen Geg-
ner. Marxens Lehre schien jedoch in einem Punkt chauvinistischer als die Baku-
nins, und daran war nun wirklich sein Hegelianismus schuld: er glaubte nicht an
eine Zukunft kleiner Volkssplitter, während Bakunin auch den kleinsten slawi-
schen Völkern zur Unabhängigkeit verhelfen wollte. Andererseits hat Marx Volk
und Staat sehr viel konsequenter geschieden als Bakunin, bei dem seltsame Pau-
schalurteile in die Werke eingestreut wurden, wie „Die Deutschen sind ein lächer-
liches, aber gutmütiges Volk“. Von dieser Gutmütigkeit nahm er schon Anfang
der 50er Jahre aber die deutschen kommunistischen Literaten ausdrücklich aus
(Beichte: 95). Die Trennung von Volk und Staat verteidigte Marx auch gegen Ba-
kunin, und verübelte ihm, dass er das Liebknechtsche Geschwätz über den „Volks-
staat“ nachbetete. Bakunin blieb auch unkritischer gegenüber der Dorfgemeinde
als Marx, der diese nur vorübergehend als lebensfähige Organisationsform der
Zukunft anerkannt hatte. In der innerrussischen Debatte hat Bakunin freilich
auch die Dorfgemeinde äußerst kritisch betrachtet. In Briefen an Herzen (Briefw:
122 f) mokierte er sich über das „mystische Sanktuarium“: „Ihr stolpert über die
russische Bauernhütte, die selbst stolperte und mit ihrem Recht auf Grund und
Boden seit Jahrhunderten in ihrer chinesischen Unbeweglichkeit steht“. Bakunin
hatte die historische Debatte um Haxthausens Thesen (Bd.  II Konservatismus)
offenbar nicht verfolgt und glaubte an die Statik der Dorfgemeinde. Aber er sah
auf der normativen Ebene immerhin richtig, dass die Dorfgemeinde  die Unter-
drückung der Frauen, die Konservierung patriarchalischer Sitten und die  Un-
132 Der Anarchismus

terwerfungsbereitschaft der Menschen in einer Gemeinde, „jede Möglichkeit


einer individuellen Initiative unterdrückt“.
Bakunin war kein reaktionärer Panslawist, der die Föderationsträume zur Ver-
schleierung einer russischen Hegemonie benutzte. Sein Ruf nach der Führungs-
rolle des „Volkszaren“ in der Schrift „Volkssache“ von 1862 hat jedoch eine andere
Interpretation nahe gelegt. Daher hat Bakunin sich in einem späteren Brief an die
Freunde Herzen und Ogarëv (Briefw: 121) von 1866 sehr gewunden, warum er
diesen Appell an die Monarchie gerichtet habe, und die Illusion nährte, den Zaren
und die revolutionäre Organisation „Land und Freiheit“ versöhnen zu können. Er
bekannte dies gegen den Willen seiner Freunde getan zu haben. Er habe es aber
getan, um zu beweisen, dass der Versöhnungsgedanke zu nichts führe – und habe
nie an seinen Erfolg geglaubt. Ein wenig glaubhaftes Manöver ! Selbst, wenn man
an die Ernsthaftigkeit von Bakunins Motiven glauben möchte, musste man sehen,
dass diese Strategie kompromittierend war. In der Geschichte der Revolutionen
waren solche Manöver jedoch kein Novum, man denke nur an Mazzinis offenen
Brief an König Carlo Alberto (Vgl. Bd. 1, Kap. III, 5).
Marx und Engels haben Bakunins Slawophilie immer als Spaltungsabsicht in
der Internationale gedeutet. Schon 1848 haben sie gegen den „demokratischen
Panslawismus“ gewettert (MEW Bd. 6: 283). Bakunin hatte sich jedoch die Or-
ganisation der slawischen und der romanischen Nationen durchaus im Rahmen
einer internationalen Föderation vorgestellt. Nur wie sollte eine vom Zaren ge-
führte Slawenföderation sich in eine republikanische Konföderation einbringen ?
Man sieht, die Konzepte, die Bakunin jeweils ad hoc entwickelte, waren wenig auf-
einander abgestimmt.
Bakunin hat die große Aufmerksamkeit, die ihm im Rahmen einer Geschichte
der politischen Theorien zu Teil geworden ist, eher durch sein unkonventionelles
Leben und die Radikalität seiner Programme als durch eine stringente Theorieent-
wicklung erlangt. Bakunin blieb ein gut inszeniertes Gesamtkunstwerk als Einheit
von Leben und Theorie. Darin war er Wagner vergleichbar, der kurze Zeit, 1848,
sein Kampfgefährte gewesen ist. Wagner hat sein Lebenskunstwerk ästhetisch in-
szeniert, Bakunin hingegen durch seine revolutionäre Organisationsarbeit. Diese
Parallele ist keineswegs eine weither geholte Analogie im Sinne neuerer Reinter-
pretationen von Wagners Werk (Bermbach 1994), sondern wurde auch von Zeit-
genossen schon so empfunden: Georg Herwegh (zit: Scheibert 1956: 279) schrieb
nach dem Tode Bakunins an Feuerbach: „Seit mein Freund Bakunin tot ist, kenne
ich keinen Menschen mehr, der ein wirklich revolutionäres Naturell hat, nach der
Gefühls- wie nach der Verstandesseite hin, als Dich und Wagner“.
Der russische Anarchismus 133

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Pëtr Alekseevič Kropotkin (1842 – 1921)

Kropotkin ist ein „abgeklärter Bakunin“ genannt worden (Masaryk II: 354). Baku-
nin hatte großen Einfluss auf ihn, obwohl sich die beiden größten anarchistischen
Denker Russlands nie getroffen haben. Bernhard Shaw soll über ihn geurteilt ha-
ben, dass „er ans Heilige grenze“. In den „Memoiren eines Revolutionärs“ – an
theoretischem Gehalt oft mit Herzens Memoiren verglichen, und doch nicht an
sie heranreichend – hat Kropotkin seine Bekehrungsgeschichte beschrieben. Sein
Weg nach links war weiter als der anderer „reuiger Edelmänner“ von Herzen bis
Bakunin: Mitglied aus einer der ersten Familien Russlands und erblicher Prinz,
wurde er zum Höfling erzogen und diente als Page bei Alexander II. Schon dem
Knaben machte die Erzählung seines französischen Hauslehrers Eindruck, dass
Mirabeau in der Revolution seinen Titeln entsagt habe und zum Nachdruck ein
Geschäft mit der Inschrift eröffnete: „Mirabeau, Schneider“. Kropotkin behaup-
tet, ihn habe der Gedanke gequält, welches Handwerk er lernen könne, um der-
maleinst auf sein Schild schreiben zu können: „Kropotkin, der und der Handwer-
ker“ (Zap: 42, Mem: 58). Früh prägten den empfindsamen Knaben die Eindrücke
des rüden Umgangs mit den Leibeigenen seines Vaters und die Grausamkeiten
von der Auspeitschung bis zur Zerreißung von Familien durch Verkauf einzel-
ner Familienmitglieder. Die Chance zu einer standesgemäßen militärischen Kar-
riere schlug er aus. Er diente lieber im fernen Sibirien bei einer Kosacken-Einheit,
und widmete sich eher wissenschaftlichen Exkursionen als dem Militärdienst. Das
bedeutete den Bruch mit seinem Vater. Wie viele Dissenter musste er sich durch
136 Der Anarchismus

Stundengeben ernähren (Zap: 138 ff, Mem: 182 ff). Politische Anteilnahme erfasste
ihn, als sich 1863 die Polen erhoben und bis tief in die russische Oberschicht Sym-
pathien mobilisieren konnten.
1872 machte Kropotkin seine erste Reise in den Westen. In den Dörfern der
Schweizer Jura lernte er anarchistische Praxis kennen. Tief hat ihn beeindruckt,
dass es keine Trennung zwischen Führern und Arbeitern gab (Zap: 252 ff, Mem:
332). Nach nur 12 Tagen im Jura stand für Kropotkin fest: „ich war ein Anarchist“.
Bakunin, der den Jurassiern geholfen hatte, ihre Ideen zu klären, traf er zu seinem
Leidwesen nicht. Diese Nichtbegegnung hat zu Spekulationen Anlass über theo-
retische Vorbehalte Kropotkins gegeben, da Bakunin sich damals in der Schweiz
aufhielt. Kropotkin zeigte sich tief beeindruckt, dass im Jura selbst Bakunins
Schriften nicht als unfehlbares Dogma galten, „wie es leider bei politischen Par-
teien oft der Fall ist“. Nach seiner Rückkehr nach Russland schloss er sich dem ra-
dikalen Čajkovskij-Kreis an.
Als sein Vater starb und ihm ein beträchtliches Vermögen hinterließ, hat er
eine Weile überlegt, ob er sich auf den Tambovschen Gütern niederlassen sollte.
Man drängte ihn in eine Helfer- und Prediger-Rolle, wie sie Tolstoj – der Kropot-
kins Verachtung für das adlige Leben teilte – später in einer ähnlichen sozialen
Lage angenommen hatte. Kropotkin gab alles auf und ging unter die Agitatoren
bei den armen Webern. Dabei wurde er 1874 verhaftet. In der Peter-und-Pauls-Fes-
tung kam eine ähnliche Versuchung an ihn heran, wie sie einst Bakunin am glei-
chen Ort widerfuhr. Zar Alexander II schickte seinen Bruder, Großfürst Nikolaj,
in die Zelle, um durch vertraulichen Umgang unter „Gleichen“ ein Geständnis aus
ihm herauszuholen. Kropotkin blieb hart – er war noch nicht durch die Gefäng-
nisse mehrerer Staaten zermürbt wie einst Bakunin – und erklärte, dass er dem
Untersuchungsbeamten alles nötige mitgeteilt habe (Zap: 328, Mem: 426 f). In wei-
teren Gefängnissen gelang ihm die Flucht nach Westeuropa. Bis zu seiner Inhaf-
tierung durch die Franzosen stand er im Zentrum der anarchistischen Bewegung.
Die meiste Zeit lebte er in England. Viele seiner Schriften kamen daher als erstes
auf Englisch oder Französisch heraus, sodass die russischen Versionen nicht den
gleichen Quellenwert besitzen, wie bei anderen Theoretikern der russischen Emi-
gration. In England hat Kropotkin sich wieder stärker der Wissenschaft gewidmet.
1917 begrüßte er die Revolution, verstand sie aber als patriotische Erhebung
und plädierte für die Fortführung des Krieges gegen die Deutschen, weil er den
Sieg der Alliierten als Voraussetzung des Sturzes der russischen Autokratie wer-
tete. Mitte 1917 konnte Kropotkin nach mehreren Jahrzehnten Exil erstmals nach
Russland zurückkehren. Die Regierung Kerenskij bereitete ihm einen „Staatsemp-
fang“, aber zu seinem Kummer wurde er von den Anarchisten ignoriert. Erst 1918,
als die Verfolgung der Anarchisten durch die Bolschewiki begann, kam es zur
Aussöhnung. Kropotkin als großer alter Mann blieb in der Anarchistenverfolgung
Der russische Anarchismus 137

unbehelligt. Er protestierte gegen die Diktatur und ging selbst zu Lenin, um die
Čeka-Methoden anzuprangern. Nützlich war Kropotkin für das Regime allenfalls
durch seine Gegnerschaft gegen die Intervention der Westmächte, aber damals
nahm auch ein konservativ gewordener Denker wie Berdjaev in diesem Punkt
die gleiche Haltung ein. Aufrufe an die Arbeiter anderer Länder, wie die Groß-
britanniens oder der Tschechoslowakei, die Kropotkin aus Russland 1920 her-
ausschmuggelten, zeigten, dass seine revolutionären Hoffnungen von Lenin nicht
erfüllt worden waren. Die Arbeiter Westeuropas wurden aufgerufen, nach „wirk-
sameren Mitteln, ihr Ziel zu erreichen“ zu suchen (1973: 292). 1921 starb Kropotkin
hochbetagt. Seine Beerdigung unter schwarzen Fahnen wurde fast zu einer anti-
roten Protestdemonstration.
Kropotkin hat die gängigen Evolutionstheorien seiner Zeit weiter entwickelt.
Er war fasziniert von Darwins „Kampf ums Dasein“, aber in der Schrift „Mutual
Aid“ (1897, 1904: 2 ff) argumentierte er, dass der Darwinismus – richtig verstan-
den – der Stärkung jener mutualistischen Gesellschaftsform dienen konnte, die er
propagierte. Kropotkin zeigte in seiner Darstellung der Evolution, dass gerade die
Species, die sich der gegenseitigen Hilfe bedienten, besonders gut für den Kampf
ums Dasein gerüstet seien. Die Ko-Evolutionstheorien der Postmoderne haben
diesen Gedanken weiter getrieben und auch auf die Kooperation zwischen einzel-
nen Tiergattungen als Überlebenskonzept gesetzt. In „Fields, Factories and Work-
shops“ (1901) demonstrierte Kropotkin, dass auch eine dezentralisierte Industrie
effektiv sein und eine modernisierte Landwirtschaft genügend Nahrungsmittel
produzieren könne. Im Vergleich zu Michajlovskijs „Kampf um Individualität“
(1875) waren die Erwägungen Kropotkins schon aus der rein individuellen Sphäre
der Intellektuellen herausgetreten und hatten sich kollektiven Prozessen einer ge-
mäßigten Modernisierung zugewandt. Der überstaatliche Aspekt der Solidarität,
den auch liberale Duma-Abgeordnete wie Kovalevskij und Petražickij hervorho-
ben, hatte seine staatsfeindliche Note verloren, nicht jedoch der Solidaritätsbegriff
der Anarchisten. Der außenpolitische Pazifismus, der aus der Solidaritätsidee er-
wuchs, hatte bei Tolstoj und Kropotkin ein innenpolitisches Pendant. Da man die
soziale Schichtung im russischen Volk als wenig ausgeprägt ansah, schien nicht
plausibel, warum man aufgrund eines marxistischen Klassenkampf-Gedankens
Teile seines Volkes mehr hassen sollte als andere Völker. Die Ausbeuterschicht
wurde als so klein angesehen, dass man sie als „quantité negligeable“ wertete, die
keiner ausgebauten Konflikttheorie bedurfte.
Mit der Wahl der „Solidarität“ als Grundbegriff war Kropotkin nicht originell.
Gerade in Russland war der Terminus unter dem Einfluss eines laizisierten reli-
giösen Denkens sehr beliebt und wurde von den Narodniki bis zu Tolstoj benutzt.
Auch empirische Soziologen adaptierten ihn, wie Jakov Aleksandrovič Novikov in
seinem „Prozess der Altruisierung“, Lev Petražickij und Pitirim Sorokin in ih-
138 Der Anarchismus

rer „Rechtspolitik der Liebe“ (vgl. v. Beyme, 2001: 166 ff). In Russland war der
Gedanke beliebt, die emotionale und spirituelle Basis einer „Gemeinschaft“ ge-
genüber der rationalen „Gesellschaft“ der Moderne zu betonen. Tönnies wurde
vielfach rezipiert. Der Solidaritätsbegriff war eine Reaktion auf den Wettbewerbs-
kapitalismus und den bürokratischen Staat. Kropotkin stützte sich vor allem auf
Huxleys „Struggle for existence and its bearings upon man“ von 1888.
1896 hielt Kropotkin in Paris einen Grundsatzvortrag: „Die Anarchie, ihre
Philosophie, ihr Ideal“. Der Anarchismus war in dieser Konzeption gegen jede
Autorität, förderte aber umso mehr den „Kern der geselligen Bräuche“, ohne den
keine menschliche oder tierische Gesellschaft existieren könne (1896, 1973: 41).
Die Organisation der künftigen Gesellschaft konnte nicht auf parlamentarischem
Wege erfolgen. Sie sollte das Werk aller sein, „ein Produkt des konstruktiven Geis-
tes der großen Masse“ (1973: 45). Die Transformation der Gesellschaft klang im
Gegensatz zu Bakunin weit friedlicher, aber auch weit vager. Nur, wo ein Kon-
flikt unvermeidlich sei, sollte ein Bürgerkrieg akzeptiert werden (Mem: 343), wer
aber entschied über die Unvermeidlichkeit von Konflikten ? Im Gegensatz zu Ba-
kunin gab es keine Führung einer Geheimgesellschaft, der eine solche Entschei-
dung oblag. Die Umgestaltung der Gesellschaft war nicht ohne Enteignung der
Produktionsmittel denkbar. Er begann mit einem „schlechten Witz“ über Roth-
schild 1848. Dieser hatte zugegeben, dass er sein Vermögen auf Kosten anderer
erworben habe. Aber unter Millionen Europäern aufgeteilt, würde die Rücker-
stattung nicht einmal einen Taler ausmachen. Er verpflichtete sich, jedem seinen
Taler zurückzugeben, der es von ihm verlangte. Nur drei oder vier Passanten in
Frankfurt haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, wenn Rothschild spa-
zieren ging. Kropotkin wollte mit dieser Anekdote demonstrieren, dass es nicht
um eine gleichsam naturalwirtschaftliche Verteilung der Reichtümer ginge. Roth-
schilds Reichtümer würden künftig dazu dienen, die gemeinschaftliche Produk-
tion besser zu organisieren, nicht nur Individuen zu entschädigen (1973: 107). Die
Enteignung umfasste bei Kropotkin – im Gegensatz zu Henry George – auch die
Industrie. Selbst eine für den Markt produzierende Kunst sollte es in der Zukunft
nicht mehr geben.
Anarchismus war für Kropotkin mehr als ein Modus des Machterwerbs. An-
dere sozialistische Gruppierungen, vor allem die deutsche SPD, habe den Macht-
erwerb inzwischen sogar auf reine Wahlerwägungen reduziert, und das Interesse
an den Massenstreiks verloren (Mem: 455). Drei Quellen des Sozialismus hatte
Kropotkin ausgemacht: den Saint-Simonismus oder Staatsozialismus, den Anar-
chismus auf der Grundlage des Proudhonismus und den autonomistischen Trade-
Unionismus und Munizipal-Sozialismus, der auf Robert Owen zurückging. In der
Gegnerschaft gegen die Zentralisierung konnte der Anarchismus allenfalls mit
dem Munipal-Sozialismus koalieren. Kropotkins „Kommunismus“ war auf eine
Der russische Anarchismus 139

neue Moral gegründet (1976). Die „natürliche Gesellschaftsordnung“ nannte er


in Anlehnung an Proudhon „Mutualismus“. In der mangelnden Trennung von
Sein und Sollen fußte seine Ethik noch stark auf positivistischen Gedanken. Die
Ethik wurde gleichsam aus empirischen Beobachtungen über die guten Bräuche
in noch unverdorbenen Gesellschaften abgeleitet und in Sollensvorschriften über
die Richtung der Evolution umgesetzt. Im Gegensatz zu Bakunin wurde nicht die
„Pan-Destruktion“ betont, sondern der Aufbau. Dieser verlangte einen wissen-
schaftlichen Plan mit klaren Zweck-Mittel-Relationen. Die Minimierung der Op-
fer des Bürgerkriegs lagen Kropotkins friedfertigem Naturell am Herzen, und er
vertrat eine anti-elitäre Konzeption der Revolution. Die Übereinstimmung von
Führung und Masse sollte an die Stelle von Eliten in Geheimbünden treten.
In seinem Glauben an das Volk blieb Kropotkin weitgehend ein Narodnik. Im
Gegensatz zu Bakunin hat er Lavrov immer respektiert, während Bakunin sich to-
tal mit dieser ersten Autorität der Bewegung überwarf. Kropotkin war ungeheuer
sympathisch, aber kein stringenter Denker, sondern ein Eklektiker, der selbst Un-
vereinbares wie den Sozialdarwinismus und die Solidaritätstheorie, die Abschaf-
fung der Arbeitsteilung bei einem Plädoyer für eine technisierte Wirtschaftsweise,
zu versöhnen suchte. Im Gegensatz zu Bakunins rhetorischen Bekenntnissen zur
Wissenschaft, war die Wissenschaft für Kropotkin ein wirkliches Anliegen. Der
Begriff „Soziologie“ spielte eine große Rolle. Kropotkin war kein Organisator, und
hatte daher ungleich mehr gelesen als Bakunin. Er bekämpfte simplifizierte Fakto-
rentheorien, wie sie vom Malthusianismus bis zum Vulgärmaterialismus damals
auch in der Linken dominierten und empfahl einen differenzierten sozialen Plan:
„Ein richtiger sozialer Plan kann nur entworfen werden, wenn man die Tausende
von Symptomen des neuen Lebens im Auge behält, dabei das nur Zufällige von
dem organisch Wesentlichen scheidet und auf dieser Grundlage verallgemeinert“
(Mem: 495). Sehr viel präzisere Anweisungen über die Transformation der Gesell-
schaft und das Funktionieren der künftigen Ordnung waren aus Kropotkins Wer-
ken nicht zu entnehmen.

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Lev Nikolaevič Tolstoj (1828 – 1910)

Tolstoj war ungeheuer fruchtbar auf vielen Gebieten. In der Wissenschaft ist sein
Schrifttum zur Pädagogik jedoch weit bedeutender als das zur politischen Theorie.
Sein Beitrag liegt vor allem in der Zeitkritik gegen Krieg, Nationalismus, Staat, To-
desstrafe, moderne Wissenschaft – Sozialwissenschaften erklärte Tolstoj (Beichte:
54) zu Halbwissenschaften – gegen Alkohol und für Vegetarismus. Tolstojs Theo-
rien werden oft als „anarchistisch“ bezeichnet, aber es handelt sich allenfalls um
einen christlichen Anarchismus, der wenig mit dem revolutionären Anarchismus
seiner Zeit zu tun hatte. Wo Lenin Bakunin und Kropotkin trotz ihrer „Irrtümer“
Der russische Anarchismus 141

noch gelten ließ, erklärte er Tolstoj letztlich für „reaktionär“. Trotz seiner lobens-
werten antiautokratischen und antikapitalistischen Ansichten, habe er durch den
„Verzicht auf Widerstand gegen das Böse“ unpolitisch gewirkt (LW, Bd. 16: 329).
Plechanov (1954: 787) – der keinen Nachruf schrieb wie Lenin – polemisierte noch
härter gegen den „Herrn Grafen“, den er als den „reinsten Metaphysiker“ bezeich-
nete. Tolstojs Ablehnung der Revolution hat diese ungewöhnlich harte Ablehnung
bei den Revolutionären provoziert, obwohl der Inhalt seiner Lehren ihnen in eini-
gen Punkten näher stand als den Theorien der Liberalen, die gegen Tolstoj weit
toleranter auftraten.
Tolstoj hatte kurz die Universität Kazan besucht (1844 – 47) und in den 1850er
Jahren an Militäraktionen im Kaukasus und auf der Krim teilgenommen. 1856 ver-
ließ er die Armee. Nach Erscheinen seiner bekanntesten Romane wie „Krieg und
Frieden“ (1869) und „Anna Karenina“, kam es auf dem Höhepunkt von Tolstojs li-
terarischem Ruhm zu einer schweren persönlichen Krise. Sie endete in der Rück-
wendung zur Religion (Beichte: 135, Glaube: 20 f). Literatur und Publizistik sind
in diesem ungewöhnlichen Werk schwer zu entwirren. Schon in „Krieg und Frie-
den“ hatte Tolstoj von Proudhon – den er auf Empfehlung Herzens traf – mehr
entnommen, als nur den Titel von dessen Hauptwerk. Die Rückwendung zur Re-
ligion führte nicht zum Frieden mit seiner Kirche – im Gegenteil. Alle Deutungen
der Religion lehnte Tolstoj als ritualistisch, obskurantistisch, oder mythisch ab,
und ließ nur seine Version gelten, die sich an die Duchobor-Sekte anlehnte. Der
Heilige Synod, die oberste Behörde der Orthodoxen Kirche, hat 1901 den Dich-
ter exkommuniziert, was eine lebhafte Kontroverse auch unter den konservativen
Religionsphilosophen auslöste. Die Anhänger der Duchobor-Sekte wurden zu-
nehmend verfolgt. Tolstoj ließ man wegen seiner Berühmtheit unbehelligt. Vage
Kommune-Ideen, die Tolstoj mit dem Anarchismus teilte, waren nicht sehr ein-
flussreich. Am berühmtesten wurde er durch die Theorie des gewaltfreien Wider-
standes, vor allem durch seinen Einfluss auf Gandhi, mit dem der Dichter korre-
spondierte.
1881 wurde Tolstoj politisch erstmals auffällig, als er an Zar Alexander III ap-
pellierte, um die Todesstrafe gegen die Mörder seines Vaters auszusetzen (PSS
Bd.  63: 52). Seine politische Theorie stellte eine patriarchalische und archaisie-
rende Variante des Anarchismus dar. Tolstoj hätte sein Gut gern den Bauern über-
eignet. Im Gegensatz zu Kropotkin verzichtete er jedoch auf diese revolutionäre
Geste, um seiner Familie nicht die Existenzgrundlage zu entziehen. Er schränkte
lediglich seinen aristokratischen Lebensstil ein. In einem Verlag „Posrednik“ pro-
duzierte er Bücher für das Volk. Er organisierte Hungerhilfe für die verarmten
Bauern nach der Missernte von 1891 und verteidigte die Duchobor-Sekte.
In Tolstojs sozialen Anschauungen war der Individualismus der Hauptfeind
seines Denkens. Wie Dostoevskij sah er das individualistische Prinzip vor allem
142 Der Anarchismus

in Napoleon verkörpert. Die instinktive Wahrheit des einfachen Volkes war für
Tolstoj das Gegenprinzip. In seiner Beichte bekannte er diese Erkenntnisse erst
nach langen sündhaften Umwegen über Tötung, Duellieren, Saufen, Spielen und
Libertinage gefunden zu haben. Schopenhauer hatte tiefen Einfluss auf sein pessi-
mistisches Weltbild hinsichtlich alles Bestehenden (Beichte: 76 f). Hegels Philoso-
phie war hingegen für Tolstoj der Inbegriff eines rationalistischen „Turms zu Ba-
bel“ (Was tun ? I: 67). Die Orthodoxie konnte seiner Ansicht nach keine Antwort
auf Lebensfragen geben, weil sie im leeren Ritualismus erstarrt sei. Gegen den
herrschenden Positivismus von Comte und Spencer polemisierte Tolstoj. Wie bei
vielen russischen Denkern von links bis rechts war die Arbeitsteilung ein Haupt-
übel der Moderne (Was tun ? II: 74). Tolstoj lehnte jeden Staat ab. Aber seine An-
tipathie gegen die Arbeitsteilung erstreckte sich auch auf den liberal-konstitu-
tionellen Staat. Die Gewaltenteilung sah Tolstoj nur als einen Trick an, um die
Verantwortlichkeit für die Verbrechen des Staates im Unklaren zu lassen. Im Ge-
gensatz zu Kropotkin war seine Verklärung einer undifferenzierten Gesellschaft
stark rückwärtsgewandt. Die bestehende Ordnung hat Tolstoj zunehmend auf al-
len Ebenen in Frage gestellt und setzte sich für die Abschaffung aller sozialen Un-
gleichheit und der Geldwirtschaft ein. Tolstoj predigte gegen die bestehende Skla-
verei eine „große Verweigerung“ (Was tun ? II: 276, 136) und proklamierte die alte
Narodniki-Devise „dem Volke dienen“.
Im Krieg gegen Japan und in der Revolution von 1905 protestierte Tolstoj ge-
gen Gewalt nach innen wie nach außen. Das „Oktobermanifest“, das den Weg zum
russischen Konstitutionalismus einleitete, war in seinen Augen eine rein etatis-
tische Maßnahme, die er missbilligte. Selbst Kunst war für Tolstoj eitle Unter-
haltung für privilegierte Klassen. Künstler wurden als „Profis“ verdorben durch
Kunstschulen und Kunstkritik. Die Kunst folgte den Irrweg der Wissenschaft, mit
der sie eng verbunden war. Selbst Goethe und Puschkin – seine Lieblingsdichter –
sollten als „bedeutungslos“ aufgegeben werden – zugunsten der Beobachtung der
Kunst des Volkes beim Sprechen (Kunst: 181 ff). Dennoch hoffte er auf eine erlö-
sende Funktion der Kunst, die in der bürgerlichen Gesellschaft zum Religionser-
satz geworden sei, weil sie in Verbindung mit der Religion gegen jede Gewalt ein-
gesetzt werden könne (Kunst: 302).
Dostoevskij und Tolstoj wurden vielfach in einem Atemzug genannt. Beide
waren leidenschaftliche politische Moralisten und riefen nach der totalen religiö-
sen und moralischen Wiedergeburt. Dennoch bestanden erhebliche Unterschiede
des Denkens bei den beiden großen Schriftstellern. Dostoevskij sah in der rus-
sischen Geschichte einen Weg zur Rettung. Tolstojs Denken war außerhalb je-
der Geschichte angesiedelt – in den ewigen Wahrheiten der Bibel. Dostoevskij
träumte von einem theokratischen System der Einheit von Staat und Kirche,
Tolstoj war sogar gegen jede institutionalisierte Religion. Dostoevskij wurde nach
Der russische Anarchismus 143

seiner radikalen Phase romantischer Nationalist, Tolstoj wurde zum patriotis-


muskritischen Anarchisten, dessen Maximen weit über die der Narodniki hin-
ausgingen. Inhaltlich war der christliche Anarchismus Tolstojs den Narodniki re-
lativ nahe, dennoch witterten diese einen sozialen Abstand zu dem Aristokraten
Tolstoj und fühlten sich eher zu Dostoevskij, dem Mann aus kleinen Verhältnissen,
hingezogen (Walicki 1975: 548).

Quellen
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M. Tamcke: Tolstojs Religion. Eine spirituelle Biographie. Berlin, Insel Verlag, 2010.
144 Der Anarchismus

5 Der Syndikalismus in Frankreich:


Georges Sorel (1847 – 1922)

Sorel war ein sprunghafter und vielfach dunkler Publizist. Ebenso sprunghaft wa-
ren seine politischen Positionen: 1889 Traditionalist, 1894 Marxist, Bergsonianer
und Anhänger Vicos, 1896 kritischer Marxist, 1899 Dreyfusard, 1904 revolutio-
närer Syndikalist, 1910 ein Sympathisant der Action Française und während des
Ersten Weltkriegs Moralphilosoph. Die Not eines mangelnden Systems der Ge-
danken erklärte Sorel zur Tugend. Die Informationen dieses Autodidakten kamen
nicht selten aus zweiter Hand. Er blieb ein apokalyptischer Außenseiter, der das
Proletariat mythisch verklärte und höchst gemächlich kleinbürgerlich lebte. Nur
die Verherrlichung von Ehe und Familie in seinem Werk hatte eine gewisse Bezie-
hung zu seinem Denken, obwohl er nie verheiratet gewesen ist. Bei allem Wandel
der Ansichten blieb der Hass gegen die Intellektuellen ein durchgängiges Motiv.
Mythen waren nicht wissenschaftliche Beschreibung von Fakten, sondern Expres-
sionen einer Handlungsorientierung und doch pflegten bedeutende Gelehrte von
Bergson bis Pareto und Croce Gedankenaustausch mit ihm.
Sorel ist nur durch ein einziges Buch, die „Réflexions sur la violence“ (1908)
einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden, trotz der Versuche der „Société
d’études Soréliennes“ auch das übrige Werk zu revitalisieren. Sorels Gewaltkult
kontrastierte zu einem behäbigen Leben in Cherbourg, dem Studium an der École
politechnique und der Routinearbeit als Straßenbauingenieur. 1892 schied er aus
dem Staatsdienst aus, um sich seinen Studien zu widmen. Sorel begann als kon-
servativer Theoretiker in der Tradition von Le Play und stieß erst in den 1890er
Jahren zum linken Lager. Sorel verwandelte den orthodoxen Marxismus in einen
lebensphilosophisch orientierten Sozialismus und endete im revolutionären Syn-
dikalismus. Der Weltkrieg stürzte ihn in einen tiefen Pessimismus und er setzte
Hoffnungen auf die Diktatoren von Lenin bis Mussolini. Die Idee des Mythos war
ein Hilfsmittel um die Dynamik sozialer Bewegungen zu erklären. In Analogie
zu Nietzsches Dichotomie von Herrenmoral und Sklavenmoral konstruierte Sorel
einen Gegensatz von Produzenten- und Konsumentenmoral. Drei historische
Prinzipien sah er wirksam: die Familienstruktur, die Kriegermentalität, die sich
im Klassenkampf ausdrückt und ein Geisteszustand, der in „sozialer Poesie“ oder
im „Mythos“ dem Rationalismus widersteht und die Kriegermentalität gegen den
Luxus der dekadenten Konsumgesellschaft verteidigt. Zivilisationen gingen seit
der Antike zugrunde, weil sie dem Gleichgewicht der drei Prinzipien nicht mehr
gerecht wurden.
Den Marxismus hat Sorel sehr selektiv rezipiert. Er hielt die Existenz einer
einheitlichen marxistischen Theorie für eine Illusion. In „Les illusions du progrès“
(1908) sah Sorel die Dekadenz durch die Ausweitung der Staatsmacht mächtig be-
Der Syndikalismus in Frankreich 145

fördert. Den Marxisten prophezeite er, dass sie die Vitalität der Arbeiter durch
die Herrschaft einer Theoretiker-Aristokratie untergrüben und zu Etatisten wür-
den. Syndikalismus wurde daher an die Stelle des Sozialismus gesetzt, den er an-
fangs vertreten hatte. Der Staat war für Sorel eine repressive Einrichtung. Wie
Maurras liebte er stattdessen „heroische Aktionen“. Aber wo Maurras den Staat
noch für die Action Française erobern wollte, predigte Sorel die Zerstörung des
Staates (Ill: 265).
In der Zeit von 1910 – 1912 hat Sorel sich auch vom Syndikalismus und den Er-
folgen der „action directe“ enttäuscht gezeigt und trat mit der Action Française
in Kontakt. Sorel und Maurras arbeiteten im „Cercle Proudhon“ zusammen. Sie
hatten vor allem die Ablehnung der Demokratie und der Dritten Republik ge-
meinsam. 1914 trennten sich die Wege wieder. Sorel nannte Maurras in einem
Brief einen „Kaffeehaus-Philosophen“ (zit: Curtis 1959: 48), dem es an Einsicht
in die soziale Bewegung fehle. Er war daher für den Monarchismus in Frankreich
äußerst pessimistisch, nachdem er diesen eine Weile an Bedeutung mit dem So-
zialismus verglichen hatte. Mit Maurras und Barrès verband Sorel jedoch wei-
terhin die Neigung, einen nationalen Sozialismus zu propagieren. Zu Beginn der
Dreyfus-Affaire stand Sorel auf Seiten von Jean Jaurès in seinem Kampf um die
Rehabilitierung des angeklagten jüdischen Offiziers. Nach einigen Jahren wurde
Sorel jedoch der heftigste Gegner des „Partei-Sozialismus“.

Sozialismus und Lebensphilosophie

Drei Bewegungen wollte Sorel zur Synthese bringen: sozial war das Proletariat,
ideologisch der Marxismus und philosophisch die Lebensphilosophie Bergsons,
das Prinzip der Zukunft. Von Bergson übernahm er das Denken in Antithe-
sen: das Leben und das Akademische als Gegensatz bei Bergson wurde bei Sorel
zur Dichotomie von Leben und Automatismus (Util: 430). Geschichte wurde als
blinde menschliche Schöpferkraft wahrgenommen – ohne Anspruch auf die Ent-
faltung der Vernunft. Geschichte war daher für Sorel nicht als Wissenschaft denk-
bar. Sie war allenfalls als Kunstwerk ästhetisch zu organisieren. Sorel (Pragm: 336)
konstruierte eine weitere Antithese: die natürliche und die artifizielle Natur. Nach
Vico gab es für ihn keine Wissenschaft, außer über das, was der Mensch selbst ge-
staltet hat. Die Welt der Fakten und die Welt des Fakten schaffenden Tuns wurde
begrifflich scharf getrennt. Sorel polemisierte gegen jede rationalistische System-
philosophie, die sich bloß mit dem „mysteriösen Ding an sich“ befasse, das al-
lein in den Köpfen der Philosophen existiere. Die menschliche Gesellschaft stellte
für Sorel ein Schauspiel analog zur Natur dar: sie ist ein Reich der Notwendigkeit,
aber die Menschen können sich der mechanischen Möglichkeiten der Natur be-
dienen, um frei zu schaffen (Mat: 194). Der freie Schöpfergeist löste nach Sorel die
146 Der Anarchismus

Abstraktionen der Logik auf und schuf eine tiefere Realität in den Regionen von
Kunst und Religion. Intuition schöpfte nach seiner Ansicht aus den moralisch-
ästhetischen Prinzipien (Mat: 193). Die Ästhetisierung der Moral, die im Vitalis-
mus auch sonst angelegt war, hatte Einfluss auf den Faschismus. Für die Synthese
von Moral und Ästhetik berief sich Sorel jedoch auf Hegel (Mat: 2, Anm. 1).
Grunderfahrung Sorels (Util: 426) war das Chaos: „Die Natur hört nicht auf,
am Ruin aller unserer Werke zu arbeiten.“ Geschichte entsteht dadurch, dass der
Mensch sich aufbäumt gegen das Zerstörungspotential der natürlichen Kraft, in-
dem er seine „künstliche Natur“ ihr entgegensetzt und die Kritik Bergsons an der
traditionellen Systemphilosophie verarbeitet, indem sie die Kluft zwischen der le-
bendigen Wirklichkeit und den toten Begriffen überwindet. Geschichtswissen-
schaft soll nicht empirisch sein, sondern kunstvolle Geschichten hervorbringen.
Walter Scotts historische Romane waren für Sorel kreativer als jeder Geschichts-
traktat mit vielen Fußnoten. Geschichte kannte für Sorel keinen geradlinigen
Fortschritt – wie bei Hegel oder Comte – sondern war eine Folge von Sprüngen
und Zufällen, in der Oszillation zwischen „Größe“ und „Dekadenz“. Die Apologie
der Demokratie war für Sorel die gefährlichste Gegendoktrin, da sie viele junge
Menschen im Anarchismus enden lasse. Er schmeichelte sich, in den „Reflexionen
über die Gewalt“ eine moralische Philosophie auf der Grundlage der Beobachtung
von Fakten, die im revolutionären Syndikalismus geschaffen wurden, angeboten
zu haben. Demokraten hätten freilich das Buch nicht verstanden, ebenso wie alle,
welche die Gesetze von Größe und Dekadenz nicht begriffen hätten (Ill: 334 f).
Sorel hat jedoch bald einsehen müssen, dass auch der revolutionäre Syndi-
kalismus nicht zu den erwarteten heroischen Taten führte, und wandte sich von
ihm ab. Er glaubte jedoch, dass die Theorie in seinen Reflexionen von dem Nie-
dergang des Syndikalismus nicht in Mitleidenschaft gezogen worden sei (Mat:
286). Der revolutionäre Syndikalismus war in Frankreich aus der Enttäuschung
über den „parlamentarischen Sozialismus“ geboren worden. Die Syndikalisten
machten wenig Unterschied, ob er wie bei Jaurès (Parti socialiste français) „refor-
mistisch“ oder wie bei Guesde (Parti socialiste de France) „revolutionär“ auftrat.
Die Verschmelzung beider Fraktionen im SFIO sollten ihm in diesem Punkt bald
Recht geben. Der „Ministersozialismus“ durch Millerands Eintritt in das bürger-
liche Kabinett Waldeck-Rousseau (1899) wurde von den sozialistischen Fraktio-
nen gerechtfertigt, weil man die laizistische Republik in einer konservativ-reaktio-
nären Welle gefährdet sah. In den Augen der radikalen Gewerkschaftler der CGT
hemmte jedoch das „Parlamentieren“ den Klassenkampf. Die hohe Zeit des Syn-
dikalismus währte nur kurz – von 1902 bis 1909. Damals setzten die revolutionä-
ren Syndikalisten sich das Ziel, die Gewerkschaften zu einem „Staat im Staate“ zu
machen. Wie der „Ökonomismus“ in Russland zur gleichen Zeit warnten Intel-
lektuelle wie Sorel vor der Herrschaft einer klassenfremden Intellektuellenschicht
Der Syndikalismus in Frankreich 147

in der Arbeiterbewegung. Das Proletariat wurde aufgefordert, sich von allem zu


emanzipieren, das nicht aus ihr selbst hervorgegangen sei: „Die erste Regel seines
Verhaltens muss sein: ausschließlich Arbeiterbewegung zu bleiben, und das heißt,
die Intellektuellen auszuschließen“, deren Führung den Effekt die Hierarchisie-
rung der Bewegung nach sich ziehe (Mat: 132 f).
In der vorsyndikalistischen Phase hatte Sorel Marx intensiv studiert – bis er
an den ökonomischen Theorien wie der Mehrwertlehre und der Verelendungs-
theorie zu zweifeln begann. 1898 hatte Sorel mit den Marxisten gebrochen, weil
der Marxismus als typische „Systemphilosophie“ die Kluft zwischen Theorie und
Wirklichkeit verkenne. Die revisionistische Kritik Bernsteins am orthodoxen
Marxismus hat er anfangs sehr begrüßt. Syndikalismus und Revisionismus wa-
ren sich jedoch nur in der Marx-Kritik einig, ansonsten trennten sich die Wege:
der Reformismus akzeptierte den parlamentarischen Weg, der Syndikalismus pre-
digte die „direkte Aktion“. Aus der Dreyfus-Affäre gingen drei Blöcke hervor: der
bürgerlich-radikale, die Action française und die Guesdisten und Syndikalisten.
Nacheinander hat Sorel sich allen drei Blöcken verbunden gefühlt.

Mythos und „action directe“

Die „Réflexions sur la violence“ (1908) wurden zu Sorels einflussreichstem Buch.


Es wirkte bis in die Literatur hinein, etwa bei Thomas Mann (Doktor Faustus. Ge-
sammelte Werke, Berlin, Aufbau Verlag, Bd. 6: 497), der einer Romanfigur die
treffende Äußerung in den Mund legte: „Man sieht wohl, dass das Buch seinen
bedrohlichen Titel nicht umsonst trug, denn es handelte von der Gewalt als dem
siegreichen Widerspiel der Wahrheit. Es gab implicite zu verstehen, dass dieser bei
weitem der Vorrang vor jener gebühre, dass … zu kräftigen Abstrichen an Wahr-
heit und Wissenschaft, zum sacrificium intellectus bereit sein müsse, wer der Ge-
meinschaft teilhaftig sein wolle“. Die Mythos-Lehre erwies sich als das Produkt der
Enttäuschung über die Fehlprognosen des Marxismus. Während die Revisionisten
die Theorie revidierten, wurde sie von Sorel als Wissenschaft verworfen. Sorel ret-
tete die Kontinuität seiner Ansichten durch die Behauptung, Marx selbst habe
seine Lehre als Mythos verstanden – was nachweislich falsch ist. Die revolutionäre
Katastrophe in Marxens Zusammenbruchstheorie war für Sorel ein solcher My-
thos (Introd: 377, Viol: 266, 10). Die These von der Macht des Generalstreiks hat
selbst die II. Internationale seit 1889 gespalten. In Russlands Revolution von 1905
erhielt sie mächtigen Auftrieb durch die Räte-Bewegung als Vorbild, nachdem die
Idealisierung der Pariser Commune langsam historisch angestaubt erschien. Wäh-
rend die deutsche Sozialdemokratie am Primat der Parteiarbeit festhielt, hat der
Flügel um Rosa Luxemburg in der Massenstreikdebatte durchaus syndikalistische
Gedanken übernommen.
148 Der Anarchismus

Sorels Mythos hatte mit dem Marxismus nur eins gemein: das „Bilderverbot“
hinsichtlich der Zukunft. Marx und Engels verbaten sich aus Gründen der wissen-
schaftlichen Redlichkeit jede Spekulation über die Verteilungsregeln im Sozialis-
mus. Sorel verwarf gerade aus antiwissenschaftlichen Gründen die Ausmalung der
Folgen der großen Katastrophe, weil die Revolutionäre damit ihres bewegenden
Wertes (valeur motrice) beraubt würden (Viol: 217). Sorels Zusammenbruchstheo-
rie war recht vage und nicht ökonomischer Art. In einem Konflikt, einer großen
„napoleonischen Schlacht“ und in einem „Kampf der Avantgarde“ – der nicht recht
zu seiner Intellektuellenfeindschaft passen wollte – sollte das System untergehen.
Mythos und revolutionärer Kampf waren in einem Zirkel verbunden und beding-
ten einander (Viol: 96). Trotz der Absetzung vom Marxismus hat Sorel immer
wieder behauptet, dass seine Generalstreiksmystik auf dem Marxismus basiere.
Die sozialen Kämpfe hatten mit Kriegen nach Sorel (Viol: 247, Gew: 195 f) drei
Prinzipien gemeinsam: Die Idee, dass der Beruf des Kriegers unvergleichlich sei,
das Gefühl des Ruhmes – das er von Renan entlieh – und den Wunsch der Mas-
sen sich in großen Schlachten zu messen. Solche Schlachten sah er als Mittel und
nicht als Selbstzweck an. Der heroisch-schöpferische Krieg wurde als Gegenmo-
dell zu den politischen Kämpfen der Politiker konzipiert, die angeblich dem Ge-
winnstreben und nicht dem Ruhm dienten. In den politischen Kämpfen um Pos-
ten war das Proletariat nur „Kanonenfutter“ der streitenden Parteien (Viol: 200,
Gew: 198). Der Generalstreik wurde von Sorel als Schlachtordnung konzipiert: das
Proletariat trennt sich von anderen Teilen der Nation und dient als Motor der Ge-
schichte (Viol: 249). So sehr Sorel von Gedanken Proudhons profitiert hatte, so
drastisch unterschied sich seine Glorifizierung des Krieges vom tiefen Pazifismus
des Vordenkers eines föderalistischen Anarchismus. Die Dichotomisierung der
sozialen Gruppen wurde durch die theoretische Dichotomie von Konsumenten
(Bourgeoisie) und Produzenten (Proletariat) untermauert. Den Sozialisten wurde
vorgeworfen, sich durch das „Parlamentieren“ an die bürgerliche Konsumenten-
moral angenähert zu haben. Die bürgerliche Dekadenz hat somit das Proletariat
bereits korrumpiert. Überall lauerten für Sorel Gefahren: auch der Syndikalismus
drohte in Nachahmung der Demokratie und in der „chaotischen Organisation der
Bourgeoisie“ zu versinken (Viol: 268, Gew: 212), welche die Politik der Gewerk-
schaften in „bürgerähnliche (simili-bourgeoises) Bahnen“ lenke. Die scharfe Kri-
tik am Bourgeois hat Sorel nicht gehindert, in Anlehnung an Proudhon und Le
Play ein höchst kleinbürgerliches Familienglück zu beschwören.
Mythen waren für Sorel keine Erscheinung von primitiven Gesellschaften. Sie
waren in allen Gesellschaftsformationen lebendig, in denen noch ein Wille zur
Behauptung vorlag. Beispiele nahm er aus der Kirchengeschichte vom Urchris-
tentum bis zur „militanten Kirche“, wie sie de Maistre vertrat. Selbst der Satans-
kult als Gegendemonstration gegen den Rationalismus schien ihm positiv erwäh-
Der Syndikalismus in Frankreich 149

nenswert (Viol: 34, Gew: 32). Die heilgeschichtliche Rolle von Mythen hatte schon
Nietzsche in der „Geburt der Tragödie“ (KSA I: 109 ff) herausgearbeitet. Sorel be-
rief sich auf Nietzsche mit der Idee, die Mythenbildung könne den Niedergang der
Kultur aufhalten (Viol: 355 ff, Gew: 279 ff). Sorel hatte mit Nietzsche den Hass auf
den Rationalismus gemein. Beide Denker beschworen die Angst vor dem Sklaven-
aufstand. Sozialismus und Masse blieben für Sorel Gegensätze. Selbst bei Marx war
mit der Kategorie des „Lumpenproletariats“ noch eine elitäre Distanzierung von
der bloßen Masse zu finden (Freund 1972: 39). Sorel konstruierte wie Nietzsche
den Dualismus zweier Prinzipien, die angeblich in ewigen Kampf miteinander la-
gen. Aber der Einfluss Nietzsches endete dort, wo Proudhons Ideen wirksam blie-
ben. Der Mythos war bei Sorel auf einen Generalstreik ausgerichtet, aus dem eine
föderalistisch aufgebaute Produzentengesellschaft hervorgehen sollte.
Mythos war für Sorel von der Utopie zu trennen. Die Utopie stellte für ihn eine
rationalistische Konstruktion dar, welche die Zukunft konkret ausmalte. Der My-
thos hingegen mobilisierte das schöpferische Unbewusste – zunächst zur Zerstö-
rung des verkrusteten Alten. Eine Utopie konnte als unrealistisch entlarvt werden,
ein Mythos hingegen war unwiderlegbar, denn er war identisch mit den Überzeu-
gungen einer Gruppe (Viol: 47, Gew: 42). Um der Widerlegung zu entgehen, hat-
ten Utopien sich durch mythische Elemente angereichert. Zu ihnen rechnete er
die Demokratie und die liberale Marktwirtschaft. In beiden Prinzipien sah Sorel
lediglich die Verhüllung partikularer Interessen. Diese Mischungen von Utopie
und Mythos führten nicht zur moralischen Erneuerung und generierten keine
„heroisch-revolutionären Taten“.
Erst in der Ära der Postmoderne wurde die strikte Sonderung von Mythos
und wissenschaftlicher Theorie wieder aufgegeben (von Graevenitz 1987: XIV ff).
Selbst rationalistische Theorien wurden als „Mythen“ entlarvt, vor allem techno-
kratische Theorien. Dabei wurde am Unterschied von Wissenschaft und Mythos
noch festgehalten. Es gab jedoch auch Positionen, die nicht glaubten, dass beides
strikt unterschieden werden könne. Unter der Devise „anything goes“ konnte je-
des mythische Weltbild gerechtfertigt werden. Dennoch sollte an der Differenz
von Wissenschaft, Utopie und Mythos festgehalten werden: Wissenschaft begrün-
det rational und gibt Prognosen als Konditionalprognose in Wenn-dann-Sätzen
ab. Utopien mischen rationale und emotionale Begründungen und verfallen in
der Zukunftsvision in eschatologischen Holismus. Der Mythos wird rein emo-
tional begründet und gibt für die Zukunft keine konkreten Ziele an, sondern be-
schwört eine emotionale Intelligenz. Auch Sorel hielt an der Unterscheidbarkeit
von rationaler Theorie und Mythos fest, bewertete aber die Wissenschaft weniger
hoch als den Mythos.
Die Brisanz des Sorelschen Mythosbegriffs resultierte aus der Verherrlichung
von Gewalt. Auch diese sah Sorel (Viol: 130, Gew: 107) nicht als Relikt primitiver
150 Der Anarchismus

Gesellschaften an. Gewalt war für ihn als sittlicher Kampf des Proletariats „schön
und heldenhaft“ – und schlechthin unentbehrlich gegen „illusionäre Ideologien“
wie den Pazifismus und den Humanitarismus. Sorel kämpfte gegen die Verdrän-
gung der Gewalt durch die bürgerliche Gesellschaft, die eine Händlermoral an die
Stelle der Kriegermoral zu setzen versuchte. Die friedliche Händlermoral beruhte
für Sorel auf verhüllter Gewalt und Täuschungsmanövern. Ihr wurde die offene
Gewalt der Kriegermoral als sittlich ehrlich entgegengestellt. Gewalt sah Sorel
nicht als reines Mittel zur Eroberung des Staates an. Sie war die Manifestation des
Willens. Aber eine bloß blanquistische Lehre der Taktik von Revolutionen ver-
warf er. Blanquistische Verschwörung führte in geheimen Zirkeln zu neuen Hier-
archien, während die Gewalt des revolutionären Syndikalismus gerade die Gleich-
heit beinhaltete.
1919 hat Sorel seinem Hauptwert ein Kapitel „für Lenin“ hinzugefügt. Mit ge-
spielter Bescheidenheit gestand Sorel, dass es keinen Anhaltspunkt dafür gebe,
dass Lenin Ideen aus seinem Buch entlehnt habe. Wenn dies dennoch der Fall
sein sollte, erklärte er sich sehr stolz zu sein („pas mediocrement fier“), an der
intellektuellen Bildung des größten Theoretikers des Sozialismus seit Marx und
eines Staatschefs, dessen Genie an Peter den Großen erinnerte, mitgewirkt zu ha-
ben (Viol: 442). Lenin hat solche „hommages“ mit Sarkasmus aufgenommen. In
vierzig Bänden seiner Werke hat er Sorel nur zweimal erwähnt: einmal als Fuß-
note zur anarchistischen Marx-Kritik und ein andermal in der Auseinanderset-
zung mit den Empiriokritizisten und der Philosophie Poincarés. Das Urteil fiel
mit gewohnter Leninscher Bissigkeit aus: „Sie irren, Herr Poincaré: Ihre Werke
liefern den Beweis, dass es Leute gibt, die nur Unsinn denken können. Zu die-
sen Leuten gehört auch der bekannte Wirrkopf Georges Sorel“ (LW, Bd. 29: 80,
Bd. 14: 294). Vom Mythos hielt Lenin so wenig wie von der Mystik des General-
streiks. Sorel erhielt wesentlich günstigere Noten im Lager des Faschismus. Fa-
schistische Führer wie Corradini und Mussolini haben sich auf Sorel berufen. So-
rel wurde dabei allzu oberflächlich rezipiert. Er war zwar antidemokratisch, aber
er hat den korporativistisch-hierarchischen Totalitarismus, den Mussolini instal-
lierte, nicht vertreten.

Quellen
Sorel: L’avenir socialiste des syndicats. Paris, Jacques, 1898.
Sorel: Introduction à l’économie française (1903). Paris, Rivière, 1922 (zit:Introd).
Sorel: Les illusions du progrès (1908). Paris, Rivière, 1947, 5. Aufl. (zit Ill).
Sorel: Réflexions sur la violence (1908). Paris, Rivière, 1950, 11. Aufl. (zit: Viol).
Sorel: Über die Gewalt. Innsbruck, Wagner, 1928, Frankfurt, Suhrkamp 1969
(zit: Gew)
Sorel: La décomposition du Marxisme (1908). Paris, Rivière, 1925, 3. Aufl.
Anarchismus in Italien 151

Sorel: Matériaux d’une théorie du prolétariat (1919). Paris, Rivière, 1929, 3. Aufl.
(zit: Mat).
Sorel: L’utilité du pragmatisme (1928). Paris, Rivière, 1928 , 2. Aufl. 1981, 4. Aufl.
(zit: Pragm)

Literatur
H. Barth: Masse und Mythos. Die ideologische Krise an der Wende zum 20.Jahr-
hundert und die Theorie der Gewalt: Georges Sorel. Hamburg, Rowohlt, 1959.
H. Berding: Rationalismus und Mythos. Geschichtsauffassung und politische Theorie
bei Georges Sorel. München, Oldenbourg, 1969.
M. Charzat: Georges Sorel et la Révolution du XXe siècle. Paris, Hachette, 1977.
M. Curtis: Three Against the Third Republic. Barrès, Maurras, Sorel. Princeton,
Princeton University Press, 1969.
W. Y. Elliott: The Pragmatic Revolt in Politics. New York, Macmillan, 1928.
M. Freund: Georges Sorel. Der revolutionäre Konservatismus. Frankfurt, Kloster-
mann, 1932, 1972, 2 . Aufl.
W. Gianinazzi: Naissance du mythe moderne. Georges Sorel et la crise de la pensée
savante. Paris, Ed. de la Maison des Sciences de l’homme, 2006.
E. von Graevenitz: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart, Metzler,
1987.
K. Lenk: Das Problem der Dekadenz bei Georges Sorel. In: Kauffmann u. a.:
Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt. Analysen rechter Ideologie.
Münster, Unrast, 2005: 449 – 63.
J. M. Meisel: The Genesis of Georges Sorel. Ann Arbor, Wahr, 1951.
J. Rennes: Georges Sorel et le syndicalisme révolutionnaire. Paris, Éditions liberté,
1936.
J. J. Roth: The Cult of Violence and the Sorelians. Berkeley, University of California
Press, 1980.
Sh. Sand: L’illusion du politique. Georges Sorel et le débat intellectuel 1900. Paris,
La decouverte, 1985.
Z. Sternhell u. a.: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Hamburg, Hamburger
Edition, 1999.

6 Anarchismus in Italien: Errico Malatesta (1853 – 1932)

Malatesta war Sohn wohlhabender Eltern aus Capua/Caserta. Er studierte Me-


dizin, widmete sich aber bald hauptberuflich der sozialen Revolution. Bakunin
hatte 1864 in Florenz eine „Revolutionäre Bruderschaft“ gegründet. Wie viele
Kinder aus den Oberschichten ging Malatesta von der Bewegung Mazzinis zum
152 Der Anarchismus

Bakuninismus über. Nach der Auflösung der Bakuninschen „Allianz“ traten ita-
lienische Sektionen in die „Internationale“ ein. Engels war 1871 zum Sekretär für
Italien gewählt worden und hoffte mit Hilfe seines Anhängers Carlo Cafiero die
italienischen Sektionen auf die Linie des Generalrats einschwören zu können.
Aber Cafiero brach 1972 mit Marx und Engels und beklagte die Überfremdung der
Internationale mit „deutschen Ideen“. 1872 schlossen sich die italienischen Sektio-
nen zusammen. Diese lose Föderation hat nicht einmal mehr am Haager Kongress
der Internationale 1872 teilgenommen, was die Mehrheitsverhältnisse zuungusten
Bakunins beeinflusste. Sie beschickten jedoch den Kongress der „Anti-Autoritä-
ren“ in St. Imier.
1877 trat Malatesta erstmals an der Seite Cafieros zu einer revolutionären Ak-
tion in der Campagna hervor. Der Misserfolg dieser Insurrektion spaltete den ita-
lienischen Anarchismus. Andrea Costa wandte sich von der antiparlamentari-
schen Aufstandsideologie ab und ging zu den Sozialisten über. Malatesta kämpfte
weiter für den Aufstand. 1878 musste er Italien verlassen. Er wurde nach Bakunin
zum prominentesten Revolutionstouristen, der von Ägypten und Argentinien bis
London wirkte. Nach seiner Rückkehr nach Italien wurde er 1897 verhaftet und
interniert. Er floh nach Malta und gelangte in die USA. Ab 1900 verdiente er sein
Brot als Elektriker in London.
Malatesta trat für kollektive Kampfformen ein. Individuellen Terror wie das
Attentat, das dem italienischen König Umberto 1900 das Leben kostete, lehnte
Malatesta immer ab. Malatesta hat sich ebenfalls kritisch mit den Syndikalisten
auseinandergesetzt, die ganz auf gewerkschaftliche Kampfmethoden setzten. Er
befürchtete eine neue Gewerkschaftsbürokratie, welche seine anarchische Kon-
zeption der Freiheit beeinträchtigen könnte. Der Generalstreik war für ihn kein
Ersatz der Revolution. Anarchisten wurden zur Bündnispolitik aufgerufen. Das
Proletariat war ihm zu eng – er wollte „die Menschheit“ befreien.
1914 gab Malatesta in Ancona eine anarchistische Zeitung heraus. Als De-
monstranten von der Polizei erschossen wurden, kam es zu einem Generalstreik
in den Marken und in der Romagna. Malatestas Revolutionsversuch scheiterte,
weil die Gewerkschaften die Streiks nicht durchhielten. Während des ersten Welt-
krieges war Malatesta in London. Er trat für eine internationalistische Position ein,
während Kropotkin und andere Anarchisten für die Sache der westlichen Alliier-
ten kämpften. Malatesta fragte Kropotkin und andere „Pro-Regierungs-Anarchis-
ten“, wie lange die Anarchie wegen des Krieges verschoben werden müsse. Den
Sieg über Deutschland hielt er ohnehin für sicher, aber der preußische Militaris-
mus werde auf Rache sinnen, und so werde immer wieder Krieg geführt werden.
„Frieden sollte durch die Revolution auferlegt werden, oder wenigstens durch die
Drohung der Revolution“ (Quelle in: Richards 1965: 250).
Anarchismus in Italien 153

1919 kam Malatesta nach Italien zurück. Im Sommer 1920 schien die Revo-
lution zum Greifen nahe, als zahlreiche Fabriken durch die Arbeiterräte besetzt
wurden. Auch diesmal erreichte die Regierung eine vorzeitige Aufgabe der Aktio-
nen. Die Faschisten wurden vom Establishment zur Einschüchterung als Gegen-
macht gegen die Räte eingesetzt. In der Zeit des Faschismus konnte Malatesta bis
1926 noch eine Zeitschrift herausgeben. 1926 bis zum Tode 1932 lebte er zurückge-
zogen in Rom und arbeitete wie am Anfang als Elektriker. Die Polizei überwachte
ihn, hat ihn jedoch nicht erneut inhaftiert.
Die Schrift „Anarchie“ (1909) blieb die einzige größere Schrift Malatestas. In
ihr kam eine eigenständige Auffassung der Revolution zum Ausdruck. Sie war für
ihn keine Garantie der Wende zum Besseren per se. Revolution schaffte in seinen
Augen zunächst nichts Neues. Sie konnte „keine neuen Kräfte schaffen, die nicht
schon bestehen“ (A: 87). Er hoffte jedoch, dass sie das Feld frei machen werde für
die Entwicklung aller Kräfte, die vorhanden sind. Die Revolution wird alle Klas-
sen aufheben, welche die Massen in Unwissenheit zu halten versuchen. Anarchie
und Sozialismus wurden bei Malatesta (A: 89) oft in einem Atemzug genannt, so
sehr er auch gegen die etatistischen und parlamentaristischen Sozialisten gewet-
tert hat. An anderer Stelle wurde dann doch zwischen Anarchismus und Sozialis-
mus differenziert. Sie bedeuteten nur insofern dasselbe, als sie Abschaffung von
Herrschaft und Ausbeutung anstrebten.
Der Hauptfeind der Anarchisten war der Liberalismus. Der liberale Parla-
mentarismus war für Malatesta gleichbedeutend mit Vorherrschaft der Reichen
(A: 36 f). Er unterstellte der Bourgeoisie nicht, dass sie das allgemeine Wahlrecht
bewusst als Betrugsmanöver benutze, aber es diente gleichwohl der Befestigung
der Herrschaft der Bourgeoisie, weil sie dem Proletariat vorspiegele, es könne
durch die Gewinnung parlamentarischer Mehrheiten zur Herrschaft gelangen.
Aber auch einen Putschismus lehnte Malatesta ab. Die 68er Generation hat ihn der
Vergessenheit entrissen, weil Malatesta nicht verbissen wie Bakunin oder Marx
predigte. Revolution sollte Spaß machen (Zoccoli 1975: 507). Hass als Motiv der
Revolution lehnte er ab, weil sie nur zu neuer Unterdrückung führen müsse. Selbst
den Klassenkampf verwarf er (A: 44), weil die archaischen Kampfrituale mit Sie-
gern und Besiegten, die schon das Tierreich beherrschten, konserviere.
Auch von ökonomischen Determinismen bei der Konstituierung einer Groß-
gruppe wie das Proletariat hielt Malatesta wenig. Er war zu sehr Handwerker,
um die ständischen Gruppenunterschiede unter den Arbeitern zu ignorieren. Er
glaubte nicht, dass die Entwicklung zu einer wirtschaftlichen Solidarität der Ar-
beiter führen könne. Nur eine moralische Solidarität könne die Spaltungen in-
nerhalb der arbeitenden Schichten beseitigen. Dabei sprach er dann doch von der
Solidarität als der „Harmonie der Interessen und Gefühle“ (A: 48). Obwohl die
154 Der Anarchismus

Interessen zuerst aufgeführt wurden, sollten die Gefühle die Interessensolidari-


tät begründen. Egoismus (als Ausfluss der Interessen) und Altruismus (als Ema-
nation der gefühlsmäßigen Solidarität) sollten in ein einziges Gefühl zusammen
fließen (A: 49). Diese neue Moral sollte gleichsam die Frucht der erkämpften Frei-
heit sein. Die „große Verweigerung“ der späteren Marcusianer fand sich bereits
in der Hauptschrift von Malatesta (A: 53) und wurde 70 Jahre später bereitwil-
lig rezipiert. In vielen Gedanken stand Malatesta Kropotkin näher als Bakunin,
auch wenn er den letzteren häufiger ganz unkritisch zitierte. Auch bei ihm gab es
einen natürlichen „Gesellschaftstrieb“, der bei Wegfall der sozialen Hindernisse
zu „Freundschaftsgefühlen und … richtig verstandenen Interessen“ führen müsse
(A: 54). Anarchie wurde als „Gesellschaft von Freunden“ definiert.
Der Optimismus dieses Gefühlsanarchismus hat ihn selbst auf die Einwände
seiner Gegner gebracht. Auch Gutwillige wollen keinen Sprung ins Dunkle wa-
gen. Er wiederholte die Fragen der Skeptiker. Wird es noch große Städte geben ?
Wie werden wir unsere Kinder erziehen ? Wer Antwort auf solche Fragen wün-
sche, habe die Anarchie nicht begriffen: „Wir sind ebenso wenig Propheten wie
andere Menschen ! Wenn wir uns anmaßen würden, eine offizielle Lösung all je-
ner Probleme zu bieten, welche im Leben der zukünftigen Gesellschaft auftau-
chen werden, so wäre das wahrlich eine eigentümliche Art, die Regierung abzu-
schaffen ! Dann würden wir ja uns selbst als Regierung aufstellen und, nach dem
Muster der religiösen Gesetzgeber, für die Gegenwart und die Zukunft allgemein
gültige Vorschriften dekretieren !“ (A: 77). Malatesta hoffte jedoch selbst in einem
solchen Fall direktiver anarchistischer Politik werde es nicht so schlimm zugehen,
wie in der gegenwärtigen Gesellschaft, weil uns „keine Gefängnisse und Scheiter-
haufen zur Verfügung stehen“ – als ob nicht so manche Revolution diese kosten-
günstig geschaffen hätte. Den Unterschied des Anarchismus zu anderen Bewegun-
gen sah er in dem Umstand, dass dieser nur „eine Methode“ – kein inhaltliches
Programm – vorstelle. Alle nichtanarchistischen Parteien teilte Malatesta in zwei
Gruppen ein: liberale und staatssozialistische. Letzteren wurde unterstellt, dass sie
das Privateigentum beibehalten wollten und daher nur zur „Freiheit der Starken“
führen könnten (A: 79). Liberalismus war für ihn „Anarchie ohne Sozialismus“.
Nur bei den Anarchisten sei alles auf „freie Vereinbarung“ gegründet. Der Gesell-
schaftsvertrag wird nicht fiktiv in die graue Vergangenheit verlegt, sondern muss
hic et nunc ständig erneuert werden.
Unklar blieb, wie weit bestehende Einrichtungen erhalten bleiben sollten. Mal
sprach er vage von der Reduzierung von Verwaltung. Diese Konzeption wurde
dem Liberalismus unterstellt. An anderer Stelle wurde die „Diktatur der Besten“
diskutiert (A: 88). Gegen dieses Konzept blieb er skeptisch, weil keine Einheit über
die Frage, wer die Besten seien, erwartet werden konnte. Trotz seiner Liebe zum
Volk misstraute er noch immer den Vorurteilen der nichtaufgeklärten Mehrheit.
Anarchismus in Italien 155

Es blieb bei einem sympathischen Appell an den guten Willen: die Zukunft wird
zeigen, welche unter den sich bekämpfenden Parteien recht hat. Schon Kropot-
kin wurde des sentimentalen Optimismus verdächtigt. Malatesta hat diese Geis-
teshaltung noch einmal gesteigert. Gleichwohl blieb Malatesta eine „Ikone“ der
anarchistischen Bewegung. Er ist politisch gescheitert, aber seine unpretentiöse
Ehrlichkeit und Konsequenz hat auch politischen Gegnern immer hohen Respekt
abgenötigt.

Allgemeine Literatur
F. Andreucci/T. Detti: Il movimento operaio italiano. Dizionario biografico. Rom,
Ed. Riuniti, 1975 – 1979.
A. Angiolini: Cinquant’ anni di socialismo in Italia. Florenz, Nerbini. 1908.
A. Angiolini/E. Ciacci: Socialismo e socialisti in Italia. Florenz, Nerbini, 1919.
G. Arfé: Storia del socialismo italiano. Turin, Einaudi, 1965.
R. Bonghi: I partiti anarchici in Italia. Mailand, Treves, 1878.
I. Bonomi: Le vie nuove del socialismo. Rom, Sestante, 1907.
C. Cartigia/A. Riosa: Il movimento operaio tra società e stato. Il caso italiano
nell’epoca della II. Internazionale. Mailand, Franco Angeli, 1984.
B. Croce: Come nacque e come mori il marxismo teoretico in Italia. Bari, Laterza,
1938.
E. Ferri: Socialism and Positive Science. London, Independent Labour Party,
1905.
G. B. Furiozzi: Sorel e l’Italia. Florenz, D’Anna, 1975.
W. Hilton Young: The Italian Left. A Short History of Political Socialism in Italy.
London, Longmans Green, 1949.
D. Marucco: Arturo Labriola e il sindacalismo rivoluzionario in Italia. Turin, Einaudi,
1970.
R. Michels: Sozialismus und Faschismus in Italien. München, Meyer Jessen,
1925.
A. Riosa: Il sindacalismo rivoluzionario in Italia e la lotta politica nel partito
socialista nell’età giolittiana. Bari, De Donato, 1979.
E. Sernicoli: L’anarchia e gli anarchici. Mailand, Treves, 1894.

Malatesta

Quellen
Malatesta: L’anarchia.Catania, Edigraf, 1969.
Malatesta: Anarchie. Berlin, Kramer, 1975 (zit: A).
Malatesta: Articles politiques. Paris, Union générale d’édition, 1979.
156 Der Anarchismus

Malatesta/F. S. Merlino: Gli anarchici e la questione elettorale – un debattito. Rom,


Savelli, 1976.
V. Richards (Hrsg.): Errico Malatesta. His Life and Ideas. London, Freedom Press,
1977.

Literatur
G. D. Berti: Errico Malatesta e il movimento anarchico italiano e internationale
1872 – 1932. Mailand, 2003.
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P. Brunelli/P Di Pada: Errico Malatesta. Ungeschriebene Autobiographische Er-
innerungen 1852 – 1932. Hamburg, Nautilus, 2009.
L. Fabbri: Malatesta, l’uomo e il pensiero. Neapel, Editori RL, 1951.
U. Fedeli: Bibliografia malatestiana. Neapel, Edizioni R.L, 1951.
P. Finzi: Errico Malatesta in Italia. Ragusa, La Fiaccola, 1990.
P. C. Masini: Storia degli Anarchici dal Bakunin a Malatesta. 1862 – 1892. Mailand,
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M. Nettlau: Errico Malatesta. Das Leben eines Anarchisten. Berlin, Der Syndikalist,
1922.
M. Nettlau: Die revolutionären Aktion des italienischen Proletariats und die Rolle
Errico Malatestas. Berlin, Kramer, 1973.
M. Nomad: Rebels and Renegades. New York, Macmillan, 1932.
N. Terracino: Errico Malatesta. Caserta, Istituto per la storia del Risorgimento
italiano, 1982.
M. Todi: Errico Maltesta da Mazzini a Bakunin. La sua formazione giovanile
nell’ambiente napoletano. 1868 – 1873. Neapel, Guida, 1988.
H. Zoccoli: Die Anarchie. Ihre Verkünder, ihre Ideen, ihre Taten. Leipzig, 1909,
Nachdruck: Berlin, Kramer, 1975.
IV. Marxismus

1 Der Marxismus in Deutschland:


Marx, Engels, Luxemburg, Lukács, Korsch

Karl Marx (1818 – 1883) und Friedrich Engels (1820 – 1895)

Marx entstammte einer jüdischen Familie in Trier. Der Vater hatte es als Rechtsan-
walt zu einem gewissen Wohlstand gebracht und war zum protestantischen Glau-
ben übergetreten. Er hat dies nicht nur aus Berechnung gegenüber der dominan-
ten Religion in Preußen getan, sondern weil er – wie Heine – den Protestantismus
mit der Freiheit des Geistes assoziierte. Reine Berechnung war es jedoch, als der
Emigrant Karl Marx 1860, bei den preußischen Behörden einen Antrag auf „Na-
turalisierung“ verfasste, den Lassalle unterstützte. Der gebürtige Rheinländer hat
in dem Gesuch so listig wie unwahr hinzugefügt: „ich bekenne mich zur evange-
lischen Religion“ (MEW Bd. 15: 635). 1841 promovierte Marx in Jena. Bauer hatte
gehofft, Marx habilitieren zu können, aber ihm war inzwischen die Venia entzo-
gen worden.
Engels stammte aus einer pietistisch angehauchten Familie aus Barmen und
wurde vom Vater als Kaufmann nach Bremen zur Ausbildung geschickt. Um seine
intellektuellen Neigungen nicht verkümmern zu lassen, schrieb er nebenbei für
Zeitschriften. Während des Militärdienstes in Berlin war Engels einer der späteren
Berühmtheiten wie Kierkegaard, Jakob Burckhardt oder Bakunin, die Schellings
Antrittsvorlesung hörten. Bald wurde Feuerbach mit seiner Religionskritik bei
vielen Studenten, die von den Abstraktionen Schellings abgestoßen waren, zu
einer philosophischen Alternative. 1842 – 1844 arbeitete Engels in einem Zweigbe-
trieb des Vaters in Manchester. Dort sammelte er das Material zu seinem sozial-
kritischen Werk „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ (1845).

K. von Beyme, Sozialismus, DOI 10.1007/978-3-658-02950-0_4,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
158 Marxismus

Marx wurde 1842 Mitarbeiter bei der „Rheinischen Zeitung“. Die marxistische
Legende hat dies als Einstieg in die Politik gewertet. Tatsächlich musste Marx die-
sen Weg wählen, weil ihm die akademische Karriere verschlossen blieb. Engels als
Kaufmann war weit mehr Journalist aus Neigung als Marx. Im Herbst 1843 ging
er nach Paris. Es kam dort zum Bruch mit Arnold Ruge wegen der „Deutsch-
französischen Jahrbücher“. Nach der Ausweisung aus Frankreich 1845 ging Marx
nach Belgien. Dieses Land hat ihn Anfang März 1848 ebenfalls ausgewiesen.
Marx ließ sich schließlich als Chefredakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“ in
Köln nieder.
In der 48er Revolution bestand erstmals eine Chance, aktiv in die Politik ein-
zugreifen. Dennoch blieb es Legende, wenn die sowjetische Literatur Marx und
Engels als Arbeiterführer an der Spitze einer Partei sah. Der „Bund der Kommu-
nisten“ wurde 1847 mit Mitgliedern älterer deutscher Geheimbünde gegründet.
Marx hatte die intellektuelle Führung um 1848, aber er löste ihn nach Gründung
der „Neuen Rheinischen Zeitung“ selbstherrlich auf, weil er die Unterstützung der
bürgerlich-demokratischen Revolution für vorrangig hielt. Marx hat sich nach-
weislich bei Demonstrationen zurückgehalten, weil er nicht mehr als preußischer
Staatsbürger galt und die Ausweisung fürchtete. Engels musste wegen seines kon-
servativen Vaters und seiner Besitzungen in Barmen weniger Rücksichten neh-
men. Aber er floh gleichwohl aus Köln, reiste in Frankreich und schrieb anakreon-
tische Briefe, sodass Marx ihn streng ermahnte, sich der süddeutschen Bewegung
zur Verfügung zu stellen. Engels tat das schließlich ohne Eile und wurde Adjudant
Willichs bei der pfälzisch-nordbadischen Revolutionsarmee. Er bat Marx zuvor,
die Gefahr gewissenhaft zu prüfen. Er würde sich 10 000 Jurys stellen, aber „im
Untersuchungsarrest kann man nicht rauchen, und da geh ich nicht hinein“ (zit.
Mayer 1934 I: 321).
1849 wurde Marx vom Vorwurf der „Aufreizung zur Rebellion“ freigespro-
chen, aber als Staatenloser wurde er erneut ausgewiesen. Zunächst begaben sich
Marx und Engels nach Frankfurt und hofften, das Parlament werde sich an die
Spitze der Revolution stellen. Aber nur Johann Jacoby teilte ihre Ansichten. In
Karlsruhe verdarben sie es mit dem Landesausschuss der Aufständischen, denen
sie vorwarfen, nicht in Richtung Frankfurt marschiert zu sein. Engels schrieb de-
goutiert über den „Picknick-Humor“, der die ganze Pfalz in eine große Schenke
verwandelte (MEW Bd. 17: 147 ff). Die Enttäuschung über das bramabarsierende
Kleinbürgertum, das beim ersten Schuss der heranrückenden Preußen Reißaus
nahm, hat nicht wenig zur Wende in ihren Anschauungen über die Notwendigkeit
einer unabhängigen Partei des Proletariats beigetragen.
Den Rest seines Lebens verbrachte Marx überwiegend im Exil in England,
und wurde von Engels ständig zur Beschleunigung seiner wissenschaftlichen
Arbeit angetrieben, sodass Marx am Schluss den Stand des „Kapital“ sogar vor
Der Marxismus in Deutschland 159

dem Freunde verheimlichte. Engels wurde für Marx unentbehrlich. Marx hat das
in Briefen durchaus anerkannt (MEW Bd. 31: 323). Engels übersetzte Werke des
Gefährten ins Englische. Das Werk der Dioskuren war nicht immer säuberlich
zu trennen. Gelegentlich schrieb Engels unter dem Namen von Marx. Teile des
„Antidühring“ wurden Marx zugeschrieben.
Von 1864 – 1872 eröffnete sich noch einmal eine Möglichkeit zur politischen Ak-
tivität nach Gründung der I. Internationale. Die Gründung entsprach keiner Ini-
tiative Marxens, wie die sowjetische Hagiographie gern unterstellte (Braunthal I,
1978: 101). Marx erkannte schon auf der Gründungsversammlung die politische
Chance, die sich eröffnete. Erstmals waren Vertreter der Arbeiterklasse selbst ver-
sammelt, und nicht nur Intellektuelle. Die deutschen Vertreter waren noch keine
lästige Konkurrenz, weil das preußische Vereinigungsrecht den Beitritt verbot.
Bebel oder Liebknecht waren nur als individuelle Mitglieder vertreten. Umso
schärfer wurden die Meinungsverschiedenheiten mit den Vertretern anderer Län-
der ausgetragen. Marx entwarf die Statuten der Internationalen Arbeiter-Assozia-
tion (MEW Bd. 31: 10, Braunthal, 1973, I:. 101 ff).
1871 schien Marx auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere. Marx legte
Wert auf die Absetzung von den sektiererischen Frühsozialisten, die nur Jün-
ger um sich duldeten. Zudem wollte er die Bewegung durch die Arbeiter selbst
von der Basis auf entstehen lassen (Schieder 1991: 90, 154). Marxens Duldsam-
keit gegen Abweichungen war jedoch nicht größer als die der Kritisierten Vorläu-
fer. Lassalle, der sich in der Frühzeit der „Partei Marx“ verbunden fühlte, wurde
ohne Not total ausgeschlossen und in die Gegnerschaft getrieben (vgl. Kap. V.1).
Die Konflikte mit Bakunin haben Marx und Engels veranlasst, die Zentralbehörde
nach New York zu verlegen, um sie dem Einfluss ihrer ideologischen Widersa-
cher zu entziehen. Engels begründete den Antrag mit der Behauptung, die In-
ternationale sei zum parlamentarischen Debattierclub verkommen. Vor allem die
Blanquisten leisteten Widerstand. Die Bakuninisten nahmen es gelassener und
gründeten eine Gegenorganisation. Die ausländischen „Genossen“ war fast alle
gründlich verprellt. Nur in Deutschland hatte ihre Stimme noch Gewicht.
1865 hat Marx auch mit dem „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ von
Lassalle gebrochen. Als die deutschen Arbeiterparteien sich 1875 in Gotha ver-
einigten, schrieb er seine Kritik des Gothaer Programms. Die Partei wollte er
daran hindern, zu einer „kleinbürgerlichen Volkspartei“ zu degenerieren. Erst
nach Marxens Tod 1883 hat diese vereinigte Partei „SPD“ sich in Richtung Marxis-
mus entwickelt, wie er sich im Erfurter Programm von 1891 niederschlug. Engels
hatte mit Hilfe Kautskys im Alleingang die Marxschen Randglossen zum Go-
thaer Programm veröffentlicht, ohne die Partei – der er nicht angehörte – zu in-
formieren. Der damalige Chefideologe der SPD, Wilhelm Liebknecht, war da-
mit brüskiert. Diese Konstellation gab Kautsky die Chance sich gegen Liebknecht
160 Marxismus

als Chefideologe durchzusetzen. Die taktische Panne, dass sich das Schlagwort
von der „reaktionären Masse“ einschmuggelte, hat dabei gute Dienste geleistet
(vgl. Kap. V.1).
Engels blieb in London, weil er nur dort keine Ausweisung befürchtete, ob-
wohl die deutsche Partei ihn gern näher in der Schweiz gehabt hätte. Er korre-
spondierte mit Parteiführern in aller Welt in fünfzehn Sprachen und kommen-
tierte rastlos die Ereignisse als Mentor der internationalen Bewegung. Dies hat
sein Denken zweifellos flexibler gemacht als es das des späten Marx gewesen ist.
Die Legende hat Marx und Engels zu Dioskuren der Partei erhoben, als ob es
keine Unterschiede zwischen beiden gegeben hätte. Die kritischen Äußerungen
von Marx über Engels in Briefen sind nach dem Tod von den Nachlassverwaltern
unschädlich gemacht worden, um das Bild der großen Männerfreundschaft nicht
zu trüben.

Die Sonderrolle von Friedrich Engels

Mit der Erosion des Kommunismus hat die „Desaggregation“ des „ideologischen
Gesamtmarxisten“ begonnen. Das Interesse an der eigenständigen Leistung von
Engels ist gestiegen – vor allem in der angelsächsischen Literatur. Die Beziehung
zwischen Marx und Engels wurde im Rückblick von der Orthodoxie kooperati-
ver dargestellt als sie war. Engels wurde sogar anfangs als der eigenständigere, aber
gewiss als der erfolgreichere Publizist dargestellt (Carver 1983: 153 ff, Levine 1975),
der sich zu Unrecht Marx allzu sehr untergeordnet habe und zum Vollzugsbüttel
der Marxschen Theorien wurde, der die Methode über den wissenschaftlichen In-
halt stellte. Der späte Engels wurde dann fast zu einer Art „Kautsky“ degradiert.
Nur im Vergleich mit ihm war Engels’ Originalität noch als weit überlegen zu fei-
ern (Henderson 1976 II: 733).

1) Engels früheste Sonderleistung lag in der sozialhistorischen Analyse zur Klas-


sengeschichte. Seine „Briefe aus dem Wuppertal“ waren ein erster Versuch. „Die
Lage der arbeitenden Klassen in England“ (1845) zeigten erstmals wie die Arbei-
ter in England begannen, sich „als Klasse in ihrer Gesamtheit zu fühlen“. Engels
vertrat die These, dass England bereits aus zwei Völkern bestehe, die jeweils einen
anderen Dialekt sprächen, und andere Ideen, Religion, Sitten und politische Vor-
stellungen hätten (MEW Bd. 2: , 349, 351). Im Stalinismus hat die Sowjetunion in
der Sprachdebatte um Marr gern auf solche Übertreibungen zurückgegriffen. Ge-
gen den radikalen Reformismus der Chartisten ging Engels davon aus, dass eine
friedliche Lösung der Klassenkonflikte nicht mehr zu erwarten sei. Engels’ so-
zialhistorische Exkursionen, wie die über den „Bauernkrieg“ (1850), haben spä-
ter die sozialen Prozesse stark vereinfacht. Aber es ging ihm nicht um akademi-
Der Marxismus in Deutschland 161

sches Quellenstudium, sondern um ein Lernen aus vergangenen Klassenkämpfen.


„Soziales Flickwerk“ hat Engels auch in späteren Analysen immer bekämpft, wie
in der Schrift zur „Wohnungsfrage“, in der er mit den Proudhonisten abrechnete.
Diese hofften noch – ähnlich wie die „Kathedersozalisten“ – mit Sozialreform
und Wohnungsbaugenossenschaften das proletarische Elend bekämpfen zu kön-
nen. Engels (MEW Bd. 18: 211 ff) ging davon aus, dass diese Fragen zur sozialen
Lage erst nach einer „sozialen Revolution“ – nicht aber durch „soziales Flickwerk“
unter kapitalistischen Bedingungen – gelöst werden könnten. Erneut distanzierte
sich Engels in einer Schärfe von den utopischen Sozialisten, wie der frühe Marx
das noch nicht getan hatte: „Wie eine zukünftige Gesellschaft die Verteilung des
Essens und der Wohnungen regeln wird, darüber zu spekulieren, führt direkt in
die Utopie“ (MEW Bd. 18: 285).
In den späteren sozialhistorischen Analysen hat Engels die Aussichten einer
führenden Rolle Deutschlands günstiger beurteilt. In Deutschland hatte die Bour-
geoisie nach seiner Ansicht darauf verzichtet, das parlamentarische System zu sei-
ner Vorherrschaft durchzusetzen. Da das Bürgertum sich als schwach erwies und
als Spätentwickler fast gleichzeitig mit dem Proletariat die Bühne betrat, sei es
zu einem Klassengleichgewicht gekommen. Das konstitutionelle System, mit dem
die Bourgeoisie sich begnügte, entwickelte in dieser Konzeption eine Entwick-
lungstendenz zum „Bonapartismus“. Bürokratie und Militär könne auf der Ba-
sis des Klassengleichgewichts von Proletariat und Bourgeoisie ihre Macht noch
erhalten (MEW Bd. 18: 258 f, Bd. 21: 456 f). Waren Marx und Engels einst davon
überzeugt, dass das englische und später das französische Proletariat die Füh-
rungsrolle in Europa übernehmen werden, so kam nun auch eine Führungsrolle
der deutschen Arbeiterbewegung in Frage. Von der deutschen Arbeiterbewegung
hieß es nun: „In Deutschland steht sie sogar innerhalb messbarer Entfernung
vom Triumph“. Vor den elektoralen Durchbrüchen der SPD glaubte Engels freilich
nicht, dass diese Führung ohne Gewalt ausgeübt werden könne (MEW Bd. 22: 311).

2) Marx und Engels waren unabhängig voneinander zur Dialektik gekommen,


Engels räumte aber Marx stets das Hauptverdienst an dieser Entdeckung ein. Der
junge Marx hatte die Dialektik nur historisch verstanden. In der „Heiligen Fami-
lie“ und in der „Deutschen Ideologie“ vollzogen Marx und Engels zusammen den
Übergang zum dialektischen Materialismus. Die Natur hatte eine Geschichte nur
im Hinblick auf den Menschen. Hegels Identifikation von Vernunft und Wirklich-
keit ließ sich leicht materialistisch wenden. Engels hat die Dialektik verselbständigt
und zu einer Disziplin neben den Disziplinen der Natur und der Logik erhoben.
In den Naturwissenschaften wurde vor Engels die Dialektik nie zu einer Methode
zur Auffindung neuer Resultate, sondern allenfalls als Instrument der philosophi-
schen Deutung von Forschungsergebnissen benutzt (Habermas 1963: 270 f). Die
162 Marxismus

in der Sowjetunion zum „Histomat“ geronnene Ideologie hingegen kam im An-


schluss an Engels zu einer Naturdialektik. Engels hat die Natur noch vor der Ge-
sellschaft und dem Denken zum Anwendungsfall der Dialektik deklariert (MEW
Bd. 20: 475, 481). Im „Antidühring“ wurden zwei dialektische Gesetzmäßigkeiten
herausgestellt: Der „Umschlag von der Quantität in die Qualität“ und die „Nega-
tion der Negation“ (MEW Bd. 20: 348 ff). Berühmt-berüchtigt wurde das Beispiel
des Samenkorns: Korn – Negation des Korns – Negation der Negation – Abster-
ben des Kornhalms und Aussamung neuer Körner (MEGA I, 27: 316 ff). Mit bei-
den Prinzipien ist im realen Sozialismus Schindluder zur Umschiffung der Regeln
einer normalen Logik getrieben worden.
Popper hat in seiner Schrift „Was ist Dialektik ?“ die Unterstellung einer myste-
riösen Kraft im Inneren von These und Antithese, die zur Synthese drängt, für
Unsinn erklärt. Entscheidend ist lediglich unsere Entscheidung, keine Widersprü-
che zuzulassen. Die Dialektiker hingegen haben in metaphorischen Wendungen
die Fruchtbarkeit von Widersprüchen für den Fortschritt herausgestrichen. Nach
Popper (1965: 287) wurden sie so zu „vorlogischen Denkern“: „Die Dialektik hat
also eine sehr unglückliche Rolle gespielt, nicht nur in der Entwicklung der Philo-
sophie, sondern auch in der Entwicklung der Theorie der Politik“.

3) Engels hat weit mehr als Marx eine evolutionistische Anthropologie übernom-
men. Er stieß bei der Suche nach der Entstehung des Staates auf Lewis Morgans
„Ancient Society“ (1877), anhand von Marxschen Exzerpten. Ihn faszinierte eine
Entwicklungstheorie, die bei allen Völkern den gleichen Entwicklungsprozess ver-
ursachte. Marx hatte noch ethnologische Studien vorgehabt, war aber nur noch
zur Lektüre von Bachofens „Mutterrecht“ (1881) gekommen (Marx 1976). Engels
nahm die Informationen stärker aus zweiter Hand und ignorierte die Einwände,
die Marx nach der Lektüre von Morgan und Bachofen geäußert hatte (Krader
in: Marx 1976: 81). Evolution kannte in dieser Konzeption nicht mehr nur den
Fortschritt, den die Aufklärer wie Condorcet gesehen hatten. Es gab auch De-
pravations-Prozesse. Das Ende der Frühgeschichte war eine Art Sündenfall – die
Analogie zur biblischen Geschichte war auch im Gewand eines sich naturwis-
senschaftlich gerierenden Szientismus nicht zu übersehen. Die fünf Stadien der
Geschichte mit drei Ausbeutergesellschaften nach dem „Sündenfall“ wurde von
Engels stark schematisiert.

4) Engels hat bald nach Marxens Tod den Ideologien nicht mehr eine völlige Abhän-
gigkeit von den Produktionsverhältnissen nachgesagt, sondern ihnen sekundär eine
bestimmende Rolle in der Geschichte zuerkannt. Die Ideologisierung des Dialek-
tischen Materialismus zur Weltanschauung hat bei Engels dazu geführt, dass Phi-
losophie und Revolution, Theorie und Praxis noch streng aufeinander bezogen
Der Marxismus in Deutschland 163

waren. Bei Engels zerfiel die Beherrschung der künftigen Geschichte in Wissen-
schaft und technische Anwendung (Habermas 1963: 269). Dies ermöglichte spä-
ter die Entstehung eines geheimen Positivismus im Marxismus-Leninismus. Die
Entwicklungsmechanik blind wirkender Kräfte konnte durch technisches Wissen
korrigiert werden.
Schriften wie „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissen-
schaft“ (MEW Bd. 19: 189 ff), „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums
und des Staates (1884, MEW Bd. 21: 25 ff) und „Ludwig Feuerbach und der Aus-
gang der klassischen deutschen Philosophie“ (1888, 1886 zunächst in der „Neuen
Zeit“ erschienen), haben die Weltanschauung des Marxismus zementiert (MEW
Bd. 21: 259 ff). Der wissenschaftliche Sozialismus war nach Engels Ansicht nur in
den ökonomischen und historischen Bereichen ausgeführt worden. Er sollte nun
in einer Synthese naturwissenschaftlich ergänzt werden.

5) Engels hat schon durch sein längeres Leben dem historischen Wandel Rech-
nung tragen müssen. Dazu gehörte die stärkere Akzeptanz gesetzlicher Kampf-
mittel der Bewegung. Im Vorwort zu den „Klassenkämpfen in Frankreich“ (1895)
hat er kurz vor seinem Tode das Paradoxon ausgemacht, dass die Systemfeinde
beim allgemeinen Wahlrecht prächtig gediehen und den Nostalgikern der Barri-
kadenromantik eine Absage erteilt: „Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf
den Kopf. Wir die ‚Revolutionäre‘, die ‚Umstürzler‘, wir gedeihen weit besser bei
den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz“ (MEW,
Bd. 22: 525).
Im „Deutschen Reich Bismarckscher Nation“ sah Engels ein Paradoxon wirk-
sam: Kapitalisten und Arbeiter wirkten „gleich komisch“, weil sie von den „preu-
ßischen Krautjunkern“ „gegeneinander balanciert und gleichmäßig geprellt“ wur-
den. Aber diese „komische Situation“ hatte auch ein paar positive Aspekte: Das
Klassengleichgewicht (MEW Bd. 21: 167) schien inzwischen den Spielraum der
Arbeiterklasse und ihrer Partei vergrößert zu haben. Diese Erfahrung hat nicht
wenig zum „revolutionären Attentismus“ (D. Groh) in der SPD beigetragen. Die
revolutionäre Phraseologie wurde nicht aufgegeben, aber der Attentismus setzte
sich in revolutionäre Untätigkeit um. Dafür ist vor allem Kautsky verantwortlich
gemacht worden – nicht ohne Widerspruch in der neueren Literatur (I. Gilcher-
Holtey: Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie.
Berlin, Siedler, 1986: 86).
Im „Antidühring“ hat Engels auch über Marx hinaus ein neues Bild vom Staat
gezeichnet: Das vielzitierte Wort vom „ideellen Gesamtkapitalisten“ wurde ge-
prägt. Der Staat hat immer mehr Produktionen in Eigenregie nehmen müssen.
Diesen Umstand könne sich das Proletariat für seine Umwälzung zunutze machen.
Saint-Simons Formel „Verwaltung von Sachen“ anstelle „politischer Herrschaft“
164 Marxismus

wurde für die Ausmalung einer Theorie des Absterbens des Staates eingebaut
(MEW Bd. 21: 168). Engels hat zudem im „Antidühring“ die Umweltzerstörung
durch den kapitalistischen Industrialismus luzide beschrieben, der „alles Wasser
in stinkende Jauche“ verwandele.

6) Nur Engels hatte schließlich eine offene Liebe für die Militärwissenschaften ent-
wickelt: Er schrieb nicht nur „Über den Krieg“ und seine Geschichte schlecht-
hin (MEW Bd. 17: 9 ff). Er versenkte sich liebend in die Waffengattungen und
technischen Details der Waffen. Von „Der Geschichte des gezogenen Gewehrs“,
über die „Kartätsche“ bis zur „Freiwilligen-Artillerie“ einerseits verfolgte Engels
die technische Seite der Entwicklung (MEW, Bd. 15: 187, 195 ff, Bd. 14: 238 f). An-
dererseits wandte er sein technisches und strategisches Wissen auf alle bewaffne-
ten Konflikte der Zeit – mit und ohne revolutionäre Beteiligung – an. Ihm wird
das Verdienst zugerechnet, den Schlieffen-Plan vorausgedacht zu haben (Euchner
1991: 165). Die bewundernswerte Kennerschaft bedeutete andererseits nicht, dass
Engels mit seinen Prognosen immer richtig lag. Im preußisch-österreichischen
Krieg von 1866 rechnete er mit einem Sieg Österreichs, weil das Land in den Ita-
lienfeldzügen neuere Erfahrungen mit Konflikten gesammelt habe (MEW. Bd. 16:
167 ff). Engels hat auf diesem militärischen Gebiet nicht nur kompetente Analy-
sen hinterlassen, sondern auch konkrete Abrüstungsvorschläge unterbreitet. Kein
Wunder, dass „der General“ zu seinem Spitznamen wurde. Dabei konnte es dem
Hasser des preußischen „Gamaschendrills“ durchaus unterlaufen, dass ihm eine
heimliche Bewunderung für die effiziente preußische Staatsmaschine unterlief:
„Zwei gute Einrichtungen hatte Preußen vor anderen Großstaaten voraus: die all-
gemeine Wehrpflicht und den allgemeinen Schulzwang … und damit erhielt sich
Preußen die Möglichkeit, die in der Volksmasse schlummernde potentielle Ener-
gie eines Tages in einem Grade zu entfalten, der für eine gleiche Volkszahl an-
derswo unerreichbar blieb“ (MEW Bd. 21: 422). Die militärische Disziplinierung
des Proletariats konnte in seinen Augen eines Tages durchaus auch der revolu-
tionären Bewegung zu Gute kommen. Daher plädierte Engels sogar für die Ak-
zeptanz der zweijährigen Wehrpflicht (MEW Bd. 16: 39 ff).

Keiner der ca. 170 Theoretiker dieses Versuches litt unter einem solchen Missver-
hältnis von pausenlosen Zwängen zur Äußerung ad hoc und dem Anspruch des
gläubigen Teils der Nachwelt, Marx habe eine kohärente politische und ökonomi-
sche Theorie hinterlassen. Der Beruf des Journalisten zwang Marx häufig, sich mit
Gegenständen zu befassen, die ihm eigentlich fern lagen. Kein Wunder, dass er
sich zu damals marginalen Themen wie Indien geäußert hat, mit eingestandener
Maßen geringer Sachkenntnis. Die sowjetische Hagiographie hat das nicht gehin-
dert, Marx gleichwohl als Begründer der Indologie zu feiern.
Der Marxismus in Deutschland 165

Die politische Theorie von Karl Marx musste aus einer Fülle von verschiede-
nen Quellen rekonstruiert werden: aus Programmschriften wie dem „Kommu-
nistischen Manifest“, aus philosophischen Werken, wie der Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie und anderen Frühschriften, aus den ökonomischen Studien
und dem „Kapital“, aus historischen Analysen vom „Bauernkrieg“ bis zur „Com-
mune“ (Bürgerkrieg in Frankreich) und aus unzähligen Zeitungsartikeln und
Briefen. Die Rekonstruktion wird erschwert durch den Wandel, dem das Den-
ken von Karl Marx unterlag. In den Frühschriften wurde Kommunismus noch
fast synonym mit Humanismus gebraucht. Der junge oder philosophische Marx,
auf den sich vor allem die enttäuschten Marxisten der sozialistischen Länder gern
beriefen, wurde dem „ökonomischen Marx“ gegenübergestellt, dem eine Art so-
ziologischer Positivismus unterstellt worden ist. Bindeglied zwischen den beiden
Phasen schienen die „Pariser Manuskripte“, die 1932 entdeckt wurden. Autoren,
die eher nach der Kontinuität des Denkens bei Marx suchten, haben sie in der
Findung von Äquivalenten gesehen: wo der junge Marx Betonung auf die Ent-
fremdung durch die Arbeitsteilung legte, wurde in späteren ökonomischen Schrif-
ten vom „Fetischcharakter der Ware“ gesprochen (z. B. Mandel 1969: 162). Auch
Engels wurde in dieser Weise zweigeteilt: der junge Engels stand noch unter Auf-
sicht des Mentors. Der späte Engels habe sich ab 1883 zunehmend verselbständigt,
lautete eine These. Schon im „Antidühring“ ließen sich eigene Anschauungen
feststellen, sodass die Frage diskutiert wurde, ob der „späte Engels“ nicht bereits
vor dem Tode von Marx anzusetzen sei.
Trotz der Unterschiede des Denkens in einzelnen Phasen hat Marx das Ver-
dienst erworben, einen einheitlichen Methodenbegriff für alle Sozialwissenschaf-
ten vertreten zu haben. In den „Grundrissen“ stellte Marx (: 21) fest, dass Termini
wie „Klasse“ leere Worte seien, wenn man nicht mit einer konkreten Analyse an-
fange und auf immer einfachere Begriffe rekurriere. Methodisch innovativ war je-
doch, dass er keinen platten Induktionismus wie viele Positivisten vertrat, weil
dann „die Reise zurück“ gehe, bis man wieder bei einer „reichen Totalität und
nicht chaotischen Vorstellung eines Ganzen“ ankomme.
Stilanalysen hatten es schwer, den jeweiligen Anteil der beiden Denker an
gemeinsam verfassten Werken zu evaluieren. Die ungeheure Sprachgewalt des
„Kommunistischen Manifests“ hat das Programm zu einem Gegenstand der Lite-
raturgeschichte werden lassen. Welchen Anteil daran hatte Engels ? Deutschland
war in der Aufnahme seiner großen Publizisten in die Literaturgeschichte sehr zö-
gerlich im Vergleich zu Frankreich, wo von Buffon bis Michelet so mancher nicht-
literarische Text im „Lanson“ figurierte, während man Brehm oder Ranke und
Mommsen, Schopenhauer oder Nietzsche vergeblich in einer deutschen Literatur-
geschichte suchen würde. Die suggestive Sprachgewalt von Marx fand sich neben
trockenster Ökonomie. Ein Satz wie die 11. Feuerbachthese: „Die Philosophen ha-
166 Marxismus

ben bisher die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu ver-
ändern“ (MEW Bd. 3: 7). wirkte wie in politisches Fanal, obwohl er nicht aus einer
politischen Tagesschrift stammte.

Materialismus und Dialektik

Marx und Engels begannen als Linkshegelianer mit einem Gemisch von Zeitkri-
tik und geschichtsphilosophischer Rekonstruktion. Die Zukunft wurde als Aus-
weg aus einer „heillosen Gegenwart“ eschatologisch interpretiert. Popper hat das
einmal „moralischen Futurismus“ genannt. Die Suche nach Auswegen für den
entfremdeten Menschen war ein Grundthema des deutschen Idealismus gewesen,
von Novalis und Fichte bis zu Schelling. Bei den Junghegelianern wurde diese
Suche sozialistisch säkularisiert. Die eschatologische Grunderfahrung wurde
dazu benutzt, den Verfallstypus des Menschen in ihrer Zeit zum Wesen des Men-
schen schlechthin zu erklären. Die Anschauung Gottes wurde nicht im Jenseits,
sondern im historischen Diesseits versucht. Die Selbstvergötterung durch die an-
gemaßte Einsicht in den Gang des Weltgeistes und das Ziel der Geschichte er-
zeugte eine in der Geschichte der politischen Theorien beispiellose Unduldsam-
keit. Marx hatte anfangs von Feuerbach die Religionskritik übernommen. Schon
1841 war er Atheist und rückte zunehmend von Hegel ab. Feuerbach wurde als
Großtat nachgesagt, dass er den Beweis erbrachte, dass die Philosophie nichts an-
deres sei als die in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion, dass
er das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen untereinander zum Grundprin-
zip der Theorie erhoben habe und die „Negation der Negation, die das absolut Po-
sitive zu sein behauptet, das auf sich selbst ruhende und positiv auf sich selbst be-
gründete Positive entgegenstellt“. Feuerbach verdankte Marx eine Überwindung
der mechanistischen Formen des Materialismus und die Konzeption eines huma-
nistischen Materialismus. Marx verband in dieser frühen Zeit Natur und Mensch
zu einer dialektischen Einheit, deren Vermittlung die sinnlich-gegenständliche
Praxis, d. h. die Arbeit war. Marxens Leistung war es, den Feuerbachschen Mate-
rialismus mit der Hegelschen Dialektik zur Synthese zu bringen. Marx fand seine
dialektische Methode als das Gegenteil von der Hegelschen: „Für Hegel ist der
Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt
verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bil-
det. Bei mir ist es umgekehrt, das Ideelle nichts anderes als das im Menschen-
kampf umgesetzte und übersetzte Materielle“. Das vielfach zitierte Gespräch zwi-
schen Goethe und Hegel, in dem der Philosoph die Dialektik zum ausgebildeten
Widerspruchsgeist stilisiert und Goethe mit dem Verdacht advokatorischer Kniffe
ungläubig blieb hat die Dialektik noch stark auf eine Erkenntnismethode redu-
ziert. Bei Marx nahm sie Züge einer Ontologie und bei Engels Züge einer Natur-
Der Marxismus in Deutschland 167

philosophie an. Beide hingegen hatten Anteil an der Anwendung der Dialektik
auf die Geschichte.

Politische Ökonomie: Entfremdung, Warenproduktion und Verelendung

Als Proudhon 1840 Eigentum zum Diebstahl erklärte, hat Marx die Schrift noch
gut besprochen. Auch er sah im Eigentum die Hauptursache der Entfremdung des
Menschen. Später hat Marx im „Elend der Philosophie“ kritisiert, dass Proudhon
in seiner Schrift „Philosophie des Elends“ auf halbem Weg stehen geblieben sei
und die Wiederaneignung der gegenständlichen Welt selbst noch unter der natio-
nalökonomischen Form des Besitzes sehe, da er dem Privateigentum nicht kon-
sequent die Gütergemeinschaft gegenüber stelle. Marx warf Proudhon vor, dass er
die Illusionen der spekulativen Philosophie – Hegel hatte er natürlich nicht ver-
standen – nicht abgelegt habe und die ökonomischen Kategorien nicht bestimm-
ten Produktionsverhältnissen auf begrenzten historischen Stufen zuordne, son-
dern sie als „präexistierende, ewige Ideen“ verfasele und somit letztlich wieder
bei der bürgerlichen Ökonomie lande (MEW Bd.  4: 125 ff). Ein großer Teil der
Frühsozialisten und Frühanarchisten sah als wichtigstes Mittel, die Entfremdung
abzubauen, die Abschaffung des Geldes an. Marx (MEW Bd. 3: 184, 209) erklärte
solche kurzschlüssigen Vorstellungen für Irrtümer einiger „jebildeter Berliner“
und von Max Stirner. Geld konnte – ehe die Produktionsverhältnisse dafür reif
waren – so wenig abgeschafft werden wie der Staat. Die Frühsozialisten polemi-
sierten gegen die Modernisierungsprozesse der Urbanisierung und Technisierung.
Marx (MEW Bd. 4: 466) beteiligte sich nicht an einer billigen Antikapitalismus-
Propaganda mit Verklärung vormoderner Arbeitsformen. Selbst der frühe Marx
(MEW Bd. 4: 466) lobte den Kapitalismus, weil er die Menschen dem „Idiotismus
des Landlebens“ entrissen habe.
In „Lohnarbeit und Kapital“ (MEW Bd. 6: 409) hat Marx zum ersten Mal seine
Theorie des Mehrwerts entwickelt, noch ohne Benutzung dieses Begriffs. Die or-
thodoxen Marxisten späterer Generationen (Cornu, Buhr u.a) haben unterstellt,
Marx habe den Terminus „Entfremdung“ unter dem Einfluss der Arbeitswertlehre
aufgegeben, die er einst abgelehnt hatte und im „Elend der Philosophie“ wieder
entdeckte. Er kritisierte weiterhin an der bürgerlichen Arbeitswertlehre, dass sie
die Ausbeutungsbeziehungen verschleiere und Preis und Wert identifiziere. Der
Entfremdungsbegriff wurde keineswegs in den ökonomischen Schriften ganz eli-
miniert. Noch im dritten Band des Kapitals (MEW Bd. 25: 274, 610) sprach Marx
von „entfremdeter gesellschaftlicher Macht“ und „entfremdeten Erscheinungsfor-
men der ökonomischen Verhältnisse“.
Der Entfremdungsbegriff stammte ursprünglich aus der Rechtswissenschaft
und bezeichnete ganz unmetaphysisch eine „Veräußerung“. Hegel machte den Be-
168 Marxismus

griff in der „Phänomenologie des Geistes“ zu einer Kategorie, welche die Auf-
lösung des unreflektierten, in Sitte und Tradition noch geborgenen Geistes wi-
derspiegelte. Feuerbach hat in seiner Religionskritik schließlich die Religion zur
Projektion des menschlichen Selbstbewusstseins stilisiert und eine Selbstentfrem-
dung des Menschen unterstellt. Marx (MEW Bd. 3: 6) kritisierte daran 1845, dass
Feuerbach zwar die religiöse Selbstentfremdung erkannt habe, aber es unterlasse
zu erklären, „warum die weltliche Grundlage von sich selbst abhebt und sich ein
selbständiges in den Wolken fixiert“. In der bürgerlichen Gesellschaft, die Marx
analysierte, zerfiel der anscheinend einheitliche Mensch, der so stolz auf seine
Menschenrechte pochte, in den „Citoyen“, der abstrakt bleibe, und in den „Bour-
geois“ mit seinem hemmungslosen Gewinnstreben (MEW Bd. 1: 362 ff).
Marxens Entfremdungsbegriff wurde auf die Ökonomie angewandt: Die bür-
gerliche Gesellschaft schaffe zwar Reichtum, könne aber die Bedürfnisse des Men-
schen nicht befriedigen, nicht beim Proletariat und letztlich auch nicht beim
Kapitalisten. Dieses Übel wurde als ein unvermeidlicher Schritt zur Selbstverwirk-
lichung des Menschen angesehen. Der Zustand der Entfremdung verhindere, dass
der Mensch sich die Natur wirklich aneigne. In den „Grundrissen“ (: 387) sprach
Marx von der „universellen Vergegenständlichung als totale Entfremdung“.
Die Entfremdungsdebatte wurde im Spätmarxismus wieder aufgenommen.
Neomarxisten wie der Trotzkist Mandel (1968: 188) haben gegen die sowjetische
Orthodoxie die Einsicht verbreitet, dass auch in der sozialistischen Gesellschaft
die Entfremdung noch weiter bestehe, weil die Warenproduktion, die Arbeits-
teilung und die ökonomischen Zwänge des Austausches nicht überwunden wur-
den. Während einige Marxisten hofften, dass die Entfremdung mit dem Eintritt in
die kommunistische Phase als Problem verschwinde, haben westliche Marxisten
wie Henri Lefèbvre (Critique de la vie quotidienne. Paris, L’Arche, 1961, Bd. 2: 74)
die Dialektik konsequent auch auf jede moderne Industriegesellschaft angewandt,
was den realen Sozialismus nicht ausschloss. Lefèbvre sah auch für die Zukunft
immer neue Formen der Entfremdung voraus.
In der „Kritik der politischen Ökonomie“ hat Marx die Werttheorie und die
Arbeitswertlehre harmonisiert. Er unterschied die „konkrete Arbeit“, die den Ge-
brauchswert schaffe und die „abstrakte Arbeit“, die den Tauschwert ergebe. Letzt-
lich kreiere aber nicht der Tausch den Mehrwert, sondern ein Prozess, in dem
sich der Kapitalist auch ohne Tausch einen Teil der im Wert kristallierten Ar-
beitszeit aneignet. Diese Entdeckung der Mehrwertlehre, inklusive des Doppel-
charakters der Arbeit mit Gebrauchs- und Tauschwert, hat Marx als seinen wich-
tigsten Beitrag zur ökonomischen Theorie angesehen (MEW, Bd. 31: 326). Der
erwirtschaftete Mehrwert wird nicht mehr konsumiert, sondern im Produktions-
prozess akkumuliert. Die Akkumulation wurde im Kapitalismus zunehmend zu
einem abgehobenen Prozess. Zweck der Produktion ist „nur Produktion für das
Der Marxismus in Deutschland 169

Kapital“ (MEW Bd. 25: 260, Bd.  23: 167). Dieser unkontrollierte Prozess endete
für Marx in der Überakkumulation und verstärkte die Krisenhaftigkeit des Kapi-
talismus.
Noch wichtiger für eine politische Theorie war die Gründung der Soziolo-
gie auf die politische Ökonomie mit Hilfe der Klassenanalyse. Ohne die Mehr-
wert schaffende Differenz wäre der Kapitalbesitzer nicht am Kauf von Arbeits-
kraft interessiert und der Arbeiter hätte keine Möglichkeit seine Arbeitskraft zu
verkaufen. Sozialistische Länder haben oft suggeriert, die Abschaffung der priva-
ten Aneignung des Mehrwerts sei bereits Sozialismus. Ihre marxistischen Gegner
im Westen haben dies jedoch als „Staatssozialismus“ nicht akzeptiert. Für diese
Meinung konnte man sich auf Engels „Antidühring“ stützen, der schon vorsah,
dass in bestimmten Krisen die Kapitalisten selbst an der Verstaatlichung interes-
siert seien und lieber als besoldete Angestellte ohne Risiko arbeiteten. Dadurch
sah Engels noch nicht die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte aufgehoben. Der
Staat war wie früher nur der „ideelle Gesamtkapitalist“ (MEW, Bd. 20: 260).
Marx hatte in den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie“ die Ar-
beitswertlehre schon relativiert und zunehmend erkannt, dass auch die Entwick-
lung wissenschaftlicher und technischer Produktivkräfte zur Quelle des Wertes
werden könne. Der reale Sozialismus hat die „wissenschaftlich-technische Revolu-
tion“ (WTR) später als neue Qualität beschrieben, die den Vorteil hatte zu begrün-
den, warum man von der Arbeitswertlehre bei der Preisbildung abweiche.
Aus der Arbeitswertlehre entwickelte Marx eine Lohntheorie, welche die
Theorien von Malthus, eine Erklärung des Lohnes aus der demographischen Ent-
wicklung – der noch Lassalle im „ehernen Lohngesetz“ partiell anhing – über-
wand. Die moderne Demographie hat seit der Entdeckung von Fortschritten in
der Medizin (die Antibaby-Pillen wirkten später für jeden sichtbar gegen das Ge-
setz von Malthus) solche Theorien ohnehin völlig ad absurdum geführt. Marxens
Neuerung gegen die Neo-Malthusianer und Lassalle war die Erkenntnis, dass der
Lohn nicht durch die Bevölkerungsentwicklung, sondern durch die Bewegung
der Kapitalakkumulation bestimmt wurde. Abstrakte Populationsgesetze ließen
sich nach Marx für Tiere, nicht hingegen für Menschen aufstellen. Notwendiges
Produkt der Kapitalakkumulation war für ihn die Surplusarbeiterpopulation: „Sie
bildet eine disponible industrielle Reservearmee, die dem Kapital ganz so abso-
lut gehört, als ob es sie auf seine eigenen Kosten großgezüchtet hätte. Sie schafft
für seine wechselnden Verwertungsbedürfnisse das stets bereite expoitable Men-
schenmaterial, unabhängig von den Schranken der wirklichen Bevölkerungszu-
nahme“ (MEW, Bd. 23: 661). In Zeiten annähernder Vollbeschäftigung, als die
Theorie obsolet schien, ist die Lehre von der industriellen Reservearmee später
mit einiger Plausibilität auf die ausländischen Arbeiter und die ausgebeuteten Ar-
beiter der Rohstofflieferanten in der Dritten Welt ausgedehnt worden.
170 Marxismus

Aus der Lohntheorie folgte nach Arbeitswert- und Lohntheorie eine weitere
wichtige Theorie: die Verelendungstheorie. In „Lohn, Preis, Profit“ von 1865 hatte
Marx gegen den Trade-Unionismus Stellung genommen, der sich mit der Losung
des „gerechten Tagelohns für gerechtes Tagewerk“ zufrieden gab. Er behauptete in
dieser Theorie, die der künftigen Entwicklung am wenigsten Stand halten sollte,
dass die Tendenz kapitalistischer Produktion dahin gehe, den „durchschnittlichen
Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken“ (MEW Bd. 16: 152). Aus sol-
chen Sätzen – wie auch im „Kapital“ (MEW Bd. 23: 675) – wurde eine „Theorie der
absoluten Verelendung“ abgeleitet. Marx (MEW Bd. 16: 142) sprach jedoch in der
gleichen Schrift vom „relativen Arbeitslohn“ und dass nur die relative gesellschaft-
liche Stellung verglichen mit der des Kapitalisten niedriger werde. Trotz einiger
Versuche von Šaumjan bis Jürgen Kuczynski, die absolute Verelendung nachzu-
weisen, hat die Marxphilologie doch eher auf eine Theorie der relativen Verelen-
dung geschlossen. Es wurde in Zeiten wachsenden Wohlstands auch weniger auf
die physische Pauperisierung abgehoben, sondern auf die soziale und psychische
Verelendung. Historischen Entwicklungen musste die Theorie Rechnung tragen.
Das Wachstum des Dienstleistungssektors – das Marx in seiner fabrikorientierten
Manufaktur-Denkweise noch nicht ahnen konnte – und Migrationsbewegungen
haben das Anwachsen der Reservearmeen im von Marx prognostizierten Aus-
maß verhindert. Bei Marx fanden sich immerhin Einschränkungen in den „Theo-
rien über den Mehrwert“ (MEW Bd. 26/2: 569): „ Ein Teil der unproduktiven und
produktiven Arbeiter etc. würde besser leben. Voilà tout“. Das galt freilich nur für
einen Teil, der Rest würde umso ausgebeuteter leben.
Engels (MEW Bd. 22: 231) hat sich noch eindeutiger gegen eine absolute Ver-
elendung ausgesprochen. Er kritisierte den Satz des sozialdemokratischen Pro-
grammentwurfs von 1891: „Immer größer wird die Zahl und das Elend der Prole-
tarier“. Seine Antwort: „Dies ist nicht richtig, so absolut gesagt. Die Organisation
der Arbeiter, ihr stets wachsender Wohlstand wird dem Wachstum des Elends
möglicherweise einen gewissen Damm entgegensetzen. Was aber sicher wächst,
ist die Unsicherheit der Existenz. Das würde ich hinzu setzen“. Seit auch die rela-
tive Verelendungstheorie sich nur noch selten bewährte, hat die neomarxistische
Theorie der materiellen Verelendung die „sekundäre Armut“ durch den Erwerb
von Statussymbolen hinzugefügt, die durch kapitalistische Werbung und „Kon-
sumterror“ erzeugt wird. Wo sie nicht eintrat, wurde „tertiäre Armut“ durch psy-
chische Verelendung weiter Teile einer entfremdeten Bevölkerung aufs Korn ge-
nommen, um die Verelendungstheorie zu retten.
Der Marxismus in Deutschland 171

Krisentheorie und ökonomische Voraussetzungen der Revolution

Die verdienstvolle Historisierung der Politischen Ökonomie durch Marx führte


zu einer Periodisierungslehre, deren Details von einer ökonomischen Krisen-
theorie geprägt waren. 1852 – 54 hat sich Marx mit der Voraussage geirrt, dass
die Konjunkturerhitzung eine Krise nach sich ziehen werde. Er hat Anfang der
1850er Jahre politische Ereignisse in ihrem Einfluss auf ökonomische Krisen
unterschätzt, z. B. den Konjunkturstimulus, der vom Krimkrieg ausging. Rosa
Luxemburg nannte das später „die Rolle eines neuen Absatzgebietes“. In der Krise
von 1857/58, die schließlich später eintrat als erwartet, entdeckte Marx die Be-
ziehungen zwischen der Dauer des Zyklus und der Dauer der Reproduktion des
konstanten Kapitals. Statt des ursprünglich unterstellten zehnjährigen Konjunk-
turzyklus wurden nun kürzere Wellen von 6 – 7 Jahren festgesetzt. Marx (MEW
Bd. 23: 662, Anm.) hatte jedoch schon im „Kapital“ klargestellt, dass er die Zehn-
jahreszyklen nicht als Konstante ansehe. Marx und der späte Engels wurden im-
mer kritischer gegen die „Wirtschaftswahrsager“, die nie eine Krise exakt vor-
ausgesehen hatten (MEW Bd. 8: 373) Um die Wirtschaftskrise auszunutzen,
waren organisatorische Vorarbeiten nötig. In diesem Kontext wurden die ge-
werkschaftlichen Aktivitäten beurteilt. Sie waren durchaus wichtig, aber zur Ver-
hinderung eines bloßen Trade-Unionismus mussten sie von einer Partei koordi-
niert werden.
Konkrete Forderungen an die kapitalistische Gesellschaft durch eine Kom-
munistische Partei waren in der Vorbereitung auf kommende Krisen keineswegs
sinnlos, wie die Maximalisten gern unterstellten. Im Kommunistischen Manifest
waren solche Forderungen (MEW Bd. 4: 481):

■ Landgüter, Bergwerke und Transportwesen sind in Staatseigentum zu ver-


wandeln,
■ Das Kreditwesen sollte in einer Nationalbank konzentriert werden,
■ Das Erbrecht ist einzuschränken, und das Eigentum aller Emigranten und Re-
bellen sollte konfisziert werden.
■ Einführung von stark progressiven Steuern und die Abschaffung von Ver-
brauchssteuern. (Der reale Sozialismus hat später kräftig gegen diese Forde-
rung gesündigt. Die direkten Steuern waren niedrig, umso höher waren die
Verbrauchssteuern, die vor allem die unteren Einkommensschichten belaste-
ten).
■ Errichtung von Nationalfabriken, allgemeiner gleicher Arbeitszwang und Er-
richtung industrieller Armeen.
■ Allgemeine unentgeltliche Volkserziehung.
172 Marxismus

Im Vergleich zu späteren Forderungen der kommunistischen Parteien war das


Programm noch gemäßigt. Noch wurde nicht die allgemeine Enteignung jeder
Form von Privateigentum an Produktionsmitteln postuliert.

Ideologie und Klassenkampf

Die Beiträge von Karl Marx zur soziologischen Theorie lagen in der Wissenssozio-
logie, die sich den sozialen Grundlagen des Denken, Erkennens und der Ideolo-
gien widmete, und in der Klassentheorie als Grundlage einer politischen Theorie
sozialer Veränderungen.
Sowenig wie eine abstrakte Ökonomie gab es für Marx die „Gesellschaft an
sich“. Jede Gesellschaft gehörte zu einer historisch geprägten Gesellschaftsfor-
mation. Sie war nicht einheitlich, sondern geschichtet. Es hieß lapidar: „Die Ge-
schichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“
(MEW Bd. 4: 462). Marx hat nie beansprucht, die Klassentheorie erfunden zu ha-
ben. In einem Brief an Joseph Weydemeyer 1852 (MEW Bd. 28: 507) gab er bürger-
lichen Geschichtsschreibern die Ehre, den Klassenbegriff entdeckt zu haben. Für
sich beanspruchte er lediglich drei Verdienste: „Nachzuweisen, dass die Existenz
der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion
gebunden ist, dass der Klassenkampf notwendig zur „Diktatur des Proletariats“
führe, und dass diese Diktatur „nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen
und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet“.
Vor Marx gab es bei Quesnay (1758) eine Dreiklassenlehre: classe productive
(Handwerk), classe distributive (Grundeigentümer) und classe stérile (Händler).
Diese Lehre war einflussreich für Saint-Simon, der jedoch schon die Zweiklassen-
Dichotomie ins Auge fasste: die „industriels“ (die produzierten) und die Bour-
geoisie. Auch Lorenz von Stein hat vor Marx die Französische Revolution als Klas-
senkampf gedeutet. Noch stieß die Dichotomisierung der ganzen Gesellschaft auf
klassifikatorische Schwierigkeiten. Auch in der unvollendeten Klassentheorie des
52. Kapitels im „Kapital“, wo Klassen nach Einkommensquellen geschieden wur-
den, wies die „Dieselbigkeit der Revenüen“ drei Gruppen aus – nach den Einkom-
mensquellen: Arbeitslohn, Profit oder Grundrente.
Der frühe Marx hielt den Prozess, der die ländlichen Massen, dem „Idiotismus
des Landlebens entrissen“ hat (MEW Bd. 4: 466) noch für einen Fortschritt. Aber
die Segnungen der Proletarisierung brachten nicht automatisch die Fortschritte
in politischen Optionen der Proletarisierten. In weniger abstrakten Erörterungen
der Zeitgeschichte musste Marx sich eingehender mit den Mittelschichten befas-
sen. So sprach er von den Parzellenbauern in Frankreich. Sie standen unter Op-
tionszwang im Kampf gegen ihre Proletarisierung und wählten in der Regel eine
reaktionäre Lösung. Revolutionär konnten sie nur werden, wenn sie ihre „Interes-
Der Marxismus in Deutschland 173

sen von morgen“ erkannten und sich mit dem Proletariat verbündeten. Später war
dies seiner Ansicht nach in der „Commune“ gelungen, während es in der Revolu-
tion von 1848 misslungen war, weil die Parzellenbauern und das Lumpenproleta-
riat auf Napoleon III und seine Diktatur setzten (MEW Bd. 7: 26).
Den verschiedenen Klassen wurden die damals existierenden Parteien zu-
geordnet. Diese Klassenanalyse des „18. Brumaire“ wurde von späteren Marxis-
ten auch zur Erklärung des Faschismus herangezogen. Neu an Marxens empiri-
scher Klassenanalyse war, dass er nicht in die moralisierenden Wehklagen über
eine allgemeine Pauperisierung einstimmte. Die ärmsten Schichten waren in sei-
nen Augen keineswegs die revolutionärsten. Das Lumpenproletariat (in Gorkijs
„Nachtasyl“ konnte es sich dabei sogar um „Lumpenaristokratie“ handeln) war
niemals revolutionär.
Ein Fortschritt in der Klassenlehre von Marx war auch die Erkenntnis, dass die
Klassenlage sich keineswegs in Klassenbewusstsein umsetzen muss. Stein hatte
noch angenommen, dass ein Klassenbewusstsein erst entstehe, wenn eine Klasse
sich der Staatsmacht bemächtige. Marx erhoffte proletarisches Klassenbewusst-
sein noch vor diesem Zeitpunkt. Er unterschied „Klasse an sich“ (objektive Lage)
und „Klasse für sich“ (organisierte Klasse). Zunehmend wurde unterstellt, dass
sich Klassenbewusstsein in einem politischen Akt manifestiere, der Organisation
einer proletarischen Partei. Bernstein („Klasse und Klassenbewusstsein“ Sozialis-
tische Monatshefte, 1905: 860) hat später gegen die Gleichsetzung von Klasse und
Partei Widerspruch eingelegt. Pëtr Struve hatte das in Russland schon vorher ge-
tan. Bernstein behauptete, dass das Verhalten einer Klasse für die Feststellung ih-
res Vorhandenseins ganz nebensächlich sei. Dieser Ansicht haben allenfalls un-
politische Soziographen gehuldigt, die keine politischen Konsequenzen aus ihren
Schichtmodellen gezogen haben. Nicht einmal der später dominante Behaviora-
lismus hätte die Meinung Bernsteins unterschrieben, weil er durchaus am politi-
schen Handeln seiner als „objektiv vorhanden“ gedachten Aggregate interessiert
war. Die Ansichten von Marx über das Verhältnis von Partei und Klasse haben
sich im Laufe seines Lebens verschoben. 1848 war die Partei noch Nebensache.
Die Arbeiterbewegung erschien als das spontane Resultat vielfältiger Bemühun-
gen. Erst mit der Hinwendung zum Parteibegriff bekam die Partei einen größeren
Stellenwert. Aber es gab noch keine Gleichsetzung von Klasse und Partei wie im
Leninismus. Die Partei hatte auch noch nicht wie bei Georg Lukács in „Geschichte
und Klassenbewusstsein“ (1923) eine repressive Funktion als Hüterin des richtigen
Bewusstseins im Kampf gegen das „falsche Bewusstsein“. Marx fühlte sich nicht
als Entdecker des Klassenkampfes. Neu war die Entdeckung, dass die Diktatur des
Proletariats „selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer
klassenlosen Gesellschaft bildet“ (MEW Bd. 28: 508).
174 Marxismus

Weltanschauung und Ideologie

Die Ideologielehre war der zweite wichtige Beitrag im Werk von Marx zur Sozio-
logie. Seit der Idolenlehre Francis Bacons hatte es verschiedene Ansätze zu einer
Ideologienlehre gegeben. Marx wandte sich von einer Betrachtungsweise ab, die
Ideologien als Priesterbetrug abtat wie Holbach und Helvétius. Die Ideologen des
„Institut nationale“, Condillac und Destut de Tracy (Élements d’idéologie) hat-
ten Ideologien unter Aufgabe optimistischer aufklärerischer Vorstellungen als In-
strument der Erziehung des Staates zum vernünftigen sozialen Handeln verstan-
den. Napoléon hat das Institut erst unterstützt und sich dann von den „idéologues“
rasch abgewandt, denen Freiheit der höchste Wert gewesen ist. Die proklamierte
„science des idées“ schien dem Diktator systemgefährdend und der Ideologiebe-
griff wurde zum Schimpfwort. Bei Auguste Comte erhielt die positive Soziologie
die Funktion ideologiefreie, von Vorurteilen gereinigte Erkenntnis zu vermitteln:
„savoir pour prévoir, prévoir pour prévenir, prévenir pour régler“ wurde zur De-
vise, die trotz der antiideologischen Deklamation den Intentionen der „Ideologen“
der Napoleonzeit nicht so fern stand.
Das Neue bei Marx war die Unterstellung, dass Ideologiehaftigkeit kein un-
abänderliches Merkmal menschlicher Vernunft, sondern nur Folge falscher so-
zialer Verhältnisse war. Ideologie wurde so zum Ausdruck eines „falschen Be-
wusstseins“. Menschen begannen sich als „Charaktermasken“ gegenüber zu treten
(MEW Bd. 23: 91 f). Das Proletariat – als Erbe der klassischen deutschen Philoso-
phie – wurde zum Stellvertreter der Vernunft auf Erden. Das Proletariat wurde für
Marx die Klasse, in der sich historisch-gesetzmäßig die Einheit von wahrem re-
volutionärem Bewusstsein und revolutionär richtiger politischer Aktion vollzog.
Marx war daher gegen die Vorstellungen einer Intelligencija als Fackelträger der
Vernunft und kritisierte an den Junghegelianern die Abhebung der Intelligenz von
„der Masse“ in der „Kritik der kritischen Kritik“. Auch in der deutschen SPD wur-
den immer wieder Tendenzen kritisiert, die offen aussprachen, „dass die Arbei-
ter selbst zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien“. Gegen die „philantropischen
Groß- und Kleinbürger“ als Substitut-Befreier haben Marx und Engels vielfach
Stellung genommen (MEW Bd. 34: 408).
Der Terminus Ideologie wurde für ein falsches Bewusstsein reserviert, das
nicht mehr in Einklang mit den Produktionsverhältnissen stand. Die gesamte
Philosophie des deutschen Idealismus und die Theorien der deutschen Bour-
geoisie fielen unter das Verdikt des ideologiehaften Denkens, Kant nicht ausge-
nommen, der es beim bloßen „guten Willen“ belasse, selbst wenn er ohne alles
Resultat bleibe (MEW Bd. 3: 177 f). Deutschland hat sich vor allem der ideolo-
gischen Selbsttäuschung hingegeben, aber: „Die ‚Idee‘ blamierte sich immer, so-
weit sie von dem ‚Interesse‘ unterschieden war“. Hegel hatte in den Augen von
Der Marxismus in Deutschland 175

Marx (MEW Bd. 1: 205) die Idee „versubjektiviert“ und vom Interesse gelöst. Der
französischen und englischen Bourgeoisie hingegen wurde immerhin konze-
diert, dass sie niemals ihre Theorien von den materiellen Bedingungen losgelöst
betrachtet habe. Das Bewusstsein der aufsteigenden proletarischen Klasse hin-
gegen konnte nicht „Ideologie“ sein. Es wurde mit einem deutschen Ausdruck
zusammengefasst, der in viele Sprachen als Lehnwort einging, nämlich „Welt-
anschauung“.

Theorie des Staates, der Macht und der Revolution

In drei verschiedenen Aspekten wurde bei Marx die Politik behandelt:


1) Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der „Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie“ und in der „Heiligen Familie“. Der Staat als Klammer in einer
Gesellschaft mit zentrifugalen Tendenzen bei Hegel hatte für Marx nur abgelei-
tete Funktion: „Das Interesse halten die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft
zusammen, das bürgerliche und nicht das politische Leben ist ihr reales Band“.
Nur politischer Aberglaube bildete sich nach Marx (MEW Bd. 2: 128) noch ein,
dass das bürgerliche Leben vom Staat zusammen gehalten werden müsse, „wäh-
rend umgekehrt in der Wirklichkeit der Staat von dem bürgerlichen Leben zu-
sammengehalten wird“. Marx opponierte sowohl gegen den Etatismus bei Hegel
oder Fichte, als auch gegen den individualistischen Ansatz der liberalen Gesell-
schaftstheorie. Seine Kritik galt dem Harmonismus einer trügerischen Aussöh-
nung von Staat und Gesellschaft. Erst in der Übergangsphase zum Sozialismus
wird der Staat in die Gesellschaft „hineingenommen“.
2) Marx vertrat gegen die zahlreichen Ordnungsmodelle vor und nach sei-
ner Zeit ein Konfliktmodell, das die Widersprüche in der Gesellschaft aufdeckte.
Politik war in diesem Modell nur Anhängsel der Bewegung von Klassen. Staat,
Recht und Politik wurden dem Überbau zugewiesen. „Den Staat“ gab es in die-
ser Lehre nicht, es gab nur historische Erscheinungsformen des Staates. Inhalt von
Staat und Recht sind in erster Linie der Schutz der Eigentumsordnung. Daher
erschien der Staat für Marx „mit wenigen Modifikationen in Nordamerika das-
selbe wie in Preußen. Dort ist also Republik eine bloße Staatsform, wie hier die
Monarchie“ (MEW, Bd. 1: 232). Die Suche nach der idealen Herrschaftsform war
für Marx idealistischer Unfug – ebenso jedoch die Aufhebung des Staates in der
Theorie Bakunins und des Anarchismus. Es ging ihm um „Absterben des Politi-
schen“, das eine Entfremdungsform neben der ökonomischen und religiösen Ent-
fremdung darstellte.
Zur konkreten Analyse der Herrschaftsformen stieß Marx erst in der Schrift
„Bürgerkrieg in Frankreich“ 1871 vor, die 1933 erstmals nicht nur auszugsweise in
der Sowjetunion erschien (MEW, Bd. 17: 491 ff). In dieser Schrift wurde die Dikta-
176 Marxismus

tur des Proletariats anhand der Commune ausgeführt, die für ihn die Entdeckung
der möglichen Form dieser Diktatur geworden ist. Zuvor tauchte der Begriff nur
an beiläufiger Stelle auf.
3) Politik war für Marx keine abstrakte Analyse, sondern Anleitung zum Han-
deln. Schon in den ersten Schriften von Marx in der Einleitung zur „Kritik der
Hegelschen Rechtsphilosophie“ (1844) wurden objektive soziale Entwicklung
und subjektives politisches Handeln dialektisch aufeinander bezogen: „Es genügt
nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich
selbst zum Gedanken drängen“ (MEW Bd. 1: 386). Das Politische sollte in diesem
dialektischen Prozess zwar absterben, vorübergehend musste dazu noch mehr
Politik einer berufenen Klasse die Gesellschaft formen. Der „Teufel des Staates“
wurde gleichsam durch den „Beelzebub proletarischer Politik“ ausgetrieben, oder
in den Worten des frühen Marx: „revolutionäre Vereinigung durch die Assozia-
tion als Gegenmacht“.
Ein Grundbegriff der politischen Theorie war die Macht. Vor allem der an-
archistische Flügel der Arbeiterbewegung hielt sie für grundsätzlich böse. Den
„Antiautoritariern“, die auf die Organisation herrschaftsfreier Fabriken hofften,
schrieb Engels in verballhornter Form Dantes Motto über der Hölle ins Stamm-
buch: „Lasst alle Autonomie fahren, die Ihr eintretet“ (MEW Bd. 18: 306). Auch
in der SPD gab es Theoretiker wie Eugen Dühring, welche die Macht als Sünden-
fall der Gewalt verketzerten. Engels stellte im „Antidühring“ (MEW Bd. 20: 149)
dagegen fest, dass Macht allein noch gar nichts bewirke, wenn nicht die nötigen
ökonomischen Bedingungen für ihre Ausarbeitung gegeben seien. Robinson kann
Freitag nicht versklaven, solange er nicht Verwendung für Sklaven hat. Diese Ver-
wendung wird durch die Produktionsverhältnisse geschaffen. Nicht jede Gewalt
ist zu bekämpfen. Revolutionäre Gewalt ist gerechtfertigt: „Dass die Gewalt aber
noch eine andere Rolle in der Geschichte spielt, eine revolutionäre Rolle, dass sie
in Marx’ Worten, ‚die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft ist, die mit einer
neuen schwanger geht‘, dass sie das Werkzeug ist, womit sich die gesellschaftliche
Bewegung durchsetzt und erstarrte, abgestorbene politische Formen zerbricht  –
davon kein Wort bei Herrn Dühring. Und diese matte saft- und kraftlose Pre-
digerweise macht den Anspruch, sich der revolutionärsten Partei aufzudrängen,
die die Geschichte kennt“ (MEW Bd. 20: 171, Marx’ Original im „Kapital“, MEW
Bd. 23: 779).
Die Theorie der Revolution bei Marx und Engels enthielt einen radikalen
Bruch mit dem älteren Widerstandsrecht, das auf die Wiederherstellung eines al-
ten Rechtszustandes gerichtet war. Es ging nicht um die Suche nach einem Ur-
zustand. Der Urkommunismus sollte nicht wieder hergestellt werden. Das Recht
auf Revolution wurde als das „einzig wirklich historische Recht“ postuliert (MEW
Bd. 7: 524) – das reaktionäre Mecklenburg nicht ausgeschlossen. Die Französi-
Der Marxismus in Deutschland 177

sche Revolution war in den Augen von Marx und Engels nur eine politische Re-
volution gewesen. Die kommende Revolution hingegen sollte eine soziale Revo-
lution sein, geboren aus dem Konflikt der modernisierten Produktivkräfte, die
über veraltete Produktionsverhältnisse hinauswuchsen: „Mit der Veränderung
der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau … (die
juristischen, politischen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologi-
schen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden), lang-
samer oder rasch um“ (MEW Bd. 13: 9). Diese Revolutionskonzeption hatte einen
längeren Atem in der Zeitdimension als die kurzfristigen putschistischen Kon-
zepte der Bakuninisten oder der Blanquisten. Die wert- und kapitaltheoretische
Grundlage seiner Ökonomie erlaubte durchaus Formen des Wandels ohne Gewalt
(Euchner 1982: 116).
Exakte Prognosen über das Timing und die Dauer der Revolution konnten
nicht gemacht werden. Marx hat zwar gelegentlich nach den Enttäuschungen des
Revolutionsjahres 1848/49 mögliche Termine kommender Revolutionen in Aus-
sicht genommen. Aber erst als Marx und Engels damit aufhörten, kam es uner-
wartet zu einer Revolution – wenn sie auch auf eine Stadt begrenzt schien – die als
Modell für die Diktatur des Proletariats geeignet wirkte, die „Commune“ in Paris.
Marx hat sich auch der empirischen Erforschung des Revolutionsprozesses ge-
widmet. Im „Fragebogen für Arbeiter“ (1880) hat er auch die subjektive Seite des
revolutionären Bewusstseinsprozesses untersucht. Die Studie richtete sich gegen
die Behauptung der Prediger einer friedlichen Evolution zum Sozialismus, dass
die sozialen Reformen der 1870er Jahre bereits das revolutionäre Potential in der
Arbeiterschaft abgebaut habe (MEW, Bd. 19: 230 ff, 570). Klassenbewusstsein und
Revolutionsbereitschaft waren als Voraussetzung der sozialen Revolution gedacht.
Aber „Klasse an sich“, muss noch nicht zur Gänze „Klasse für sich“ geworden sein.
Klassenbewusstsein ergibt sich auch aus dem Kampf (MEW, Bd. 4: 181). Die 68er
Bewegung der Studenten hat sich permanent auf solche Sätze berufen – vergeb-
lich. Bei Lenin wurde die Klammer die Klasse an sich und Klasse für sich verband
die Partei. Eine so prononcierte Rolle hat die Partei in Marxens Theorie zu keiner
Zeit eingenommen.
Die soziale Revolution war nicht als einmaliger Aufstand angelegt. Aufstand
war unter Umständen sogar überflüssig. Marx hat einen friedlichen Weg für mög-
lich gehalten. In Den Haag 1872 nannte er als Länder, die für diese Möglichkeit
in Frage kamen die USA und England. Aus Courtoisie fügte Marx hinzu: viel-
leicht auch Holland, „wenn mir eure Institutionen besser bekannt wären“. (MEW
Bd. 18: 160). Er kannte sie nicht gut. Die Niederlande hatten zwar gerade durch
Budgetverweigerung und parlamentarische Aktionen die parlamentarisch verant-
wortliche Exekutive erkämpft. Aber das System war im Ganzen weiterhin libe-
ral-konservativ. Weiterreichende Ziele als diese kleine politische Revolution mit
178 Marxismus

friedlichen Mitteln waren in den Niederlanden nicht in Sicht. In kaum einem


Land ist die Sozialdemokratie so spät an der Macht beteiligt worden.
Neben der Frage des friedlichen Übergangs zum Sozialismus in den ent-
wickelsten Ländern wurde das Problem der Spätentwickler in der internationalen
Debatte virulent. Musste Russland wirklich den mühsamen Weg durch den Kapi-
talismus durchlaufen, oder konnte die kapitalistische Stufe übersprungen werden,
in dem man an die alte Gemeindeverfassung (obščina) anknüpfte. Vera Sasulič,
damals noch eine Revolutionärin des terroristischen Flügels, hat versucht, dem
Orakel Marx 1881 eine günstige Nachricht zu entlocken. Marx hat es für möglich
gehalten, an die Dorfgemeinde anzuknüpfen, war aber nicht sicher, ob der Zer-
fall dieser Einrichtung – wie die Liberalen argumentierten – nicht zu weit fort-
geschritten sei (MEW Bd. 19: 399 f). Marx wehrte sich in der Korrespondenz mit
Sasulič, aus seinem „Kapital“ „Beweise für oder gegen die Lebensfähigkeit der
Dorfgemeinde“ herauszulesen, weil er den Satz „alle Länder durchlaufen die glei-
che Bewegung“ nur auf Westeuropa gemünzt habe (MEW, Bd. 19: 242, 384 ff).
Marx konnte nicht von den Narodniki-Propagandisty in Anspruch genommen
werden, die auf einen relativ friedlichen Übergang zum Sozialismus in Russ-
land auf der Basis des „Mir“ hofften. Einmal übersahen Marx und Engels (MEW
Bd. 18: 363) nicht, dass die Dorfgemeinde in vielen Teilen Asiens zur Grundlage
der „orientalischen Despotie“ geworden war. Es gab keinen Grund, diese Lebens-
form nostalgisch zu verklären. Zum anderen schien die russische Gemeinde für
Marx (MEW Bd. 19: 395) nur zu retten, wenn eine Revolution eintrete. Während
Russland einst als Bannerträger des Fortschritts ausfiel, schien es „am Vorabend
einer Revolution“ zu sein (MEW Bd. 18: 569).
Zweimal in der Geschichte sollte es zu einem revolutionären Übergang kom-
men: in der Vergangenheit nach dem Feudalismus, und in Zukunft nach dem
Kapitalismus. Die künftige Revolution war als die letzte der Geschichte angese-
hen, weil die bürgerlichen Produktionsverhältnisse die letzte antagonistische
Form derselben werden sollten: „Mit dieser Gesellschaftsformation (der bürger-
lichen) schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab“ (MEW
Bd. 13: 9). Die weitere Geschichte wurde als Evolution ohne Revolutionen, aber
keineswegs konfliktfrei gedacht. Der individuelle Antagonismus werde erhalten
bleiben, nur der gesellschaftliche Grundkonflikt galt in der sozialistischen Phase
als gelöst (MEW Bd. 13: 9).

Parteitheorie

Um 1847/48 war das Verhältnis von Marx und Engels zur Konzeption der Partei
noch unklar. 1889 schrieb Engels an Gerson Trier im Rückblick: „Damit am Tag
der Entscheidung das Proletariat stark genug ist zu siegen, ist es nötig – und das
Der Marxismus in Deutschland 179

haben Marx und ich seit 1847 vertreten – daß es eine besondre Partei bildet, ge-
trennt von allen andern und ihnen entgegengesetzt, eine selbstbewußte Klassen-
partei“ (MEW Bd. 37: 326). Hier hat Engels seinen Ansichten nachträglich eine
irreführende Kontinuität unterstellt. In kaum einem Bereich gab es so unter-
schiedliche Phasen der Lehrmeinung wie im Bereich der Parteien:
(1) Im Kommunistischen Manifest 1848 hieß es noch: „Die Kommunisten sind
keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. … Die Kommu-
nisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden
gesellschaftlichen und politischen Zustände“ (MEW Bd. 4: 493). Marx hat diese
Vorstellungen sogar mit Vehemenz gegen radikalere Positionen im Januar 1849
vertreten (MEW Bd. 6: 579). Diese Bündnispolitik mit den radikalen Gruppen der
bürgerlichen Revolution hat Marx und Engels jedoch bald enttäuscht.
(2) 1849 bis Sommer 1850 bekehrten sie sich zur Forderung nach einer prole-
tarischen Partei. Die frühere Bündnispolitik wurde nun kritisch betrachtet. Zwar
sollte auch künftig Bündnispolitik noch möglich sein, aber nur unter der Führung
der Partei. (MEW Bd. 7: 309). Die „Kader“ der Führung und die Sympathisanten
wurden klar geschieden, etwa in der Ansprache der Zentralbehörde an den Bund
der Kommunisten vom März 1850. Marx (MEW Bd. 7: 244) beklagte nun, dass
zu viele Revolutionäre den Typus der Geheimorganisation über ihren konkreten
Kämpfen aus den Augen verloren hätten. Die Folge war eine Fragmentierung der
Bewegung und deren Durchdringung durch „kleinbürgerliche Demokraten“.
(3) 1852 kam es zu einem neuen theoretischen Schwenk in der Parteifrage. Der
Bund der Kommunisten wurde plötzlich aufgelöst, weil man glaubte, sich von
der kleinbürgerlich-putschistischen Fraktion Willich-Schapper lösen zu müs-
sen. Engels verfiel in einem Brief an Marx in die geläufige Parteiverachtung, die
Ferdinand Freiliggrath so poetisch besungen hatte, dass der Intellektuelle auf einer
höheren Warte stehe, als „auf den Zinnen der Partei“. Engels erklärte nun: „Wie
passen Leute wie wir, die offizielle Stellen fliehen wie die Pest, in eine Partei ?“
(MEW Bd. 27: 190). Selbst das Bekenntnis einzelner Radikaler zur „Partei Marx“
wurde als Zumutung zurückgewiesen, „als wären Krethi und Plethi unsre Partei“.
(4) Seit 1854 gab es in Deutschland keine organisierte Bewegung, die über re-
gionale Initiativen hinaus gereicht hätte. Die Bemühungen um eine Partei wurden
in Deutschland von Lassalle vorangetrieben, der im „Offenen Antwortschreiben“
gegen den Führungsanspruch der Liberalen Stellung nahm und den „Arbeiter-
stand“ als Partei konstituieren wollte (GW I: 7). Marx und Engels hatten diese Be-
mühungen zunächst mit wohlwollender Distanz verfolgt, sich dann aber bald mit
Lassalle überworfen (vgl. Kap. V. 1). Das Crescendo der Beschimpfungen reichte
vom „schmierigen Breslauer Jud“ bis zum „jüdischen Nigger“ (MEW Bd. 29: 257).
Marx hat es Lassalle nicht verziehen, dass er in Deutschland nach eigenem Gut-
dünken verfuhr, während Wilhelm Liebknecht ihn wenigstens als die sozialisti-
180 Marxismus

sche Autorität in der Lehre anerkannte. Als ebenbürtigen Theoretiker hat Marx
auch ihn nicht akzeptiert (Schieder 1991: 73).
(5) Die Internationale brachte eine weitere Modifizierung der Ansichten von
Marx und Engels zum Parteibegriff. Die Internationale (1864 – 1872) war eine In-
itiative englischer und französischer Arbeiterführer. Ihre Mitgliederzahl war ge-
ring. Der Internationale lagen unterschiedliche Organisationsvorstellungen zu-
grunde. Sie stellte keine Kaderpartei dar. Sie war überhaupt keine Assoziation von
Parteien, wie die zweite und dritte Internationale und setzte sich aus divergenten
Fraktionen zusammen. In der Inauguraladresse von 1864 wurden Parteien bei-
läufig erwähnt (MEW Bd. 16: 12). Marx war wiederum der führende Kopf, aber
seine Stellung in der Organisation war allenfalls die eines primus inter pares. Im-
merhin genoss er in Briefen die ihm zugeschriebene Rolle des „grand chef de
l’Internationale“ (MEW Bd. 33: 238). Diese Selbsteinschätzung sollte verhängnis-
volle Folgen zeitigen, weil sie ihn ab 1871 ermutigte, auch die faktische Führung
über die Internationale anzustreben und seine Gegner auszuschalten. Am Vor-
abend des Haager Kongresses, dem ersten der Internationale, an dem er teilnahm,
erfasste ihn „eine Art politischer Endzeitstimmung“ (Schieder 1991: 108). Das
passte wenig zu seiner Bemühung, Führerschaft nur indirekt auszuüben und zu
seinem „Widerwillen gegen allen Personenkultus“ (MEW Bd. 31: 504, 232, Bd. 34:
308). Intellektuelle sollten nach seiner überwiegenden Meinung nur sekundäre
Hilfsfunktionen übernehmen.
Marx war sich zu Anfang bei seiner Arbeit an den Statuten noch im Klaren,
dass er es in der Mehrheit zwar mit klassenbewussten Arbeitern, aber nicht mit
ideologisch gefestigten Sozialisten zu tun haben würde (Braunthal 1978 I: 111). Die
englischen Arbeiter zeigten sich sogar feindlich gegen die „Commune“, weil sie
ihre eigenen „Errungenschaften“ in Gefahr sahen. Marx (MEW Bd. 18: 335 ff) ging
damals hinter das Kommunistische Manifest zurück. Er verzichtete auf die For-
derung nach sofortiger Sozialisierung aller relevanten Produktionsmittel, um die
Proudhonisten nicht zu verprellen. Marx kannte Bakunin aus der Zeit des Pariser
Exils. Er hat ihn zunächst durchaus positiv eingeschätzt und ihm bescheinigt, dass
er zu den wenigen Leuten gehöre, die sich nach sechzehn Jahren nicht „zurück,
sondern weiter entwickelt“ hätten (MEW Bd. 31: 16). Marx und Engels haben im
Kampf gegen die Bakuninisten 1872 einen Pyrrhus-Sieg errungen und bald dar-
auf diese Organisation fallen lassen, wie früher ihren Bund. Paradoxerweise blieb
Marx mit einigen Blanquisten und deutschen Sozialdemokraten in der zerfallen-
den Internationale zurück.
(6) Die letzte Phase der Stellung zur Parteifrage ergab sich indirekt aus dem
Lob der „Commune“. In ihr war keine Führung irgendeiner Fraktion zu entdecken.
Marxisten haben nicht mitgewirkt, wohl aber Blanquisten und Proudhonisten mit
durchaus widersprüchlichen Organisationsvorstellungen. Engels gab zu, dass die
Der Marxismus in Deutschland 181

Internationale „keinen Finger rührte, um sie zu machen“ (MEW Bd. 17: 3 – 7) Marx
schrieb an seinen Freund Kugelmann (MEW Bd. 33: 209), dass ein Zufall – die
preußische Präsenz in Paris – die Ereignisse beschleunigt hätte. Dennoch wurde
die „Commune“ erleichtert als die mögliche Form einer Diktatur des Proletariats
gefeiert. Die Formel von der „Diktatur des Proletariats“ wurde zu einem Zank-
apfel zwischen Marxisten und Bakuninisten. Aber zur Parteidebatte ließen sich
kaum Inspirationen in Richtung des späteren Leninschen Parteifetischismus aus
den damaligen Äußerungen gewinnen. Marx (MEW Bd. 33: 333) sprach von „po-
litical movement“. Es begann mit einer ökonomischen Bewegung in Streiks. Aus
ihnen wuchs die politische Bewegung. Dies geschah aber keineswegs automatisch:
„Wo die Arbeiterklasse noch nicht weit genug in ihrer Organisation fortgeschritten
ist, um die Kollektivgewalt, i. e. die politische Gewalt“, der herrschenden Klassen
einen entscheidenden Schlag zu versetzen, „muß sie jedenfalls dazu geschult wer-
den“. Lenin schloss aus solchen Sätzen, dass dies nur die Partei sein könne. Marx
hatte dies aber nicht behauptet. Für Marx hatte lebenslang „die Klasse“ Vorrang
vor „der Partei“. Marx hat seine Anhänger nie als Sekte oder Clique um sich ge-
schart, wie andere sozialistische Denker. Als Gruppe kam seine „Partei“ niemals
zusammen (Schieder 1991: 154).

Herrschaftsformen

Die Verfassungsformen waren für Marx und Engels zweitrangig, sie waren der
formellste Teil des Überbaus. Die Versuche, sozialistische Bewegungen vor allem
auf den „Volksstaat“ und die „Demokratie“ festzulegen, haben sie bekämpft. Als
1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Eisenach aus der Taufe gehoben
wurde, schien sich der Einfluss von Marx wieder zu vergrößern. Die Partei be-
zeichnete sich als Zweig der Internationalen Arbeiter-Assoziation – mit der Ein-
schränkung: „soweit es die Vereinsgesetze gestatten“. Der Lassalleanismus war da-
mit aber noch nicht besiegt. In den Randglossen zum Gothaer Programm 1875
wurde gegen die „vulgäre Demokratie“ und gegen die Ideologie der „radikalen
Volkspartei“ der Liebknechtianer und Lassalleaner Stellung bezogen. Selbst der
Name „Sozialdemokratie“ schien noch eine Konzession an den bürgerlichen Ra-
dikalismus zu enthalten. Das Pamphlet wurde nicht veröffentlicht. Die Drohung
mit einer öffentlichen Erklärung wurde in der Partei ignoriert. Die SPD ließ sich
von den großen Mentoren nicht mehr einschüchtern. Liebknecht soll Engels mit-
geteilt haben, dass er durch die Desavouierung der Partei sich „außerhalb der Ar-
beiterbewegung“ stelle (zit: Mayer II: 278).
Die Diktatur des Proletariats erlaubte es, auch die Demokratie ihres formal-
überzeitlichen Charakters zu entkleiden und die proletarische Demokratie strikt
von der bürgerlichen Demokratie zu sondern. Engels (Briefe 1925: 141 f) schrieb
182 Marxismus

1884 an Bernstein: „Dieser Begriff wechselt mit dem jedesmaligen Demos, und
hilft uns daher keinen Schritt weiter. Was zu sagen war, ist nach meiner Ansicht
dies: auch das Proletariat braucht zur Besitzergreifung der politischen Gewalt de-
mokratische Formen, sie sind ihm aber, wie alle politischen Formen, nur Mit-
tel. Will man aber heute die Demokratie als Zweck, so muss man sich auf Bau-
ern und Kleinbürger stützten, d. h. auf Klassen, die am Untergehen und gegenüber
dem Proletariat, sobald sie sich künstlich erhalten wollen, reaktionär sind. …
Und doch bleibt die demokratische Republik immer die letzte Form der Bour-
geoisherrschaft, die, in der sie kaputt geht“. Der Terminus „Diktatur des Prole-
tariats“ wurde um 1840 von Blanqui geprägt. In Marxens theoretischen Schrif-
ten tauchte er nur in interpretierungsbedürftigen Umschreibungen auf. In der
Schrift „Die Klassenkämpfe in Frankreich“ und in der „Ansprache an den Bund“
war von „Revolution in Permanenz“ und von der „Diktatur des Proletariats“ die
Rede (MEGA I/10: 192, MEW Bd. 7: 553). Die proletarische Diktatur der Minder-
heit wurde damit akzeptiert. In seinen unabhängigen Äußerungen rückte Marx je-
doch nicht von der Notwendigkeit von Klassenbündnissen ab. Es wurden freilich
Zweifel laut, ob Marx damit sein eigenes Programm skizzierte, oder Rücksicht auf
die Gruppe nahm (Schieder 1991: 32). Erst in einem Brief an Joseph Weydemeyer
vom 5. März 1852 (MEW Bd. 28: 508) wurde der Terminus spezifiziert. Theoreti-
sche Gestalt gewann er anhand der Commune. Angesichts des Pluralismus der
Fraktionen verbot sich jedoch eine Auslegung dieser Diktatur im Sinne der späte-
ren Leninschen Parteilehre.
Aus den wechselnden distanzierten Äußerungen zur deutschen SPD kann
eine Parteilehre von Marx und Engels schwerlich herausgefiltert werden. Einer-
seits wurde pausenlos über den „Verfall der spezifisch deutschen Partei mit ih-
rer lächerlichen theoretischen Unklarheit, ihrer dementsprechenden Hochnäsig-
keit und ihrem Lassalleanismus“ polemisiert. Diese Urteile muss man nicht auf
die Goldwaage legen. Eine englische und eine französische Partei im Ausmaß der
Integriertheit der SPD war nicht einmal in Sicht. Trotz der ständigen Distanzie-
rungen und Belehrungen hat vor allem der späte Engels (MEW Bd. 37: 440) ge-
gen rigorose Disziplin und Homogenität gewettert. Andererseits trat Engels ge-
gen die „Herausschmeißerei“ auf und äußerte eine pluralistische Parteiauffassung:
„Die größte Partei im Reich kann nicht bestehn, ohne dass alle Schattierungen zu
Worte kommen, und selbst der Schein der Diktatur à la Schweitzer muß vermie-
den werden.“ Wo die SPD-Führung mit Engels konform ging, hat er deren Maß-
regelungen gegen Abweichler keineswegs moniert. Marx und Engels waren keine
„Leninisten“ – aber pluralistische Parteidemokraten waren sie auch nicht.
Der Marxismus in Deutschland 183

Nationen und Nationalitäten

Nationalismus galt in der Theorie von Marx und Engels als ein bürgerliches Phä-
nomen. „Arbeiter haben kein Vaterland“ als Devise hat viel zur Herausbildung
des Vorurteils gegen die „vaterlandslosen Gesellen“ beigetragen. Von allen fünf
Emanzipationsbewegungen im Zeitalter der Ideologien (Religion, Klasse, Rasse,
Geschlecht und Nation) war sie damals noch vor der Emanzipationsbewegung
unterdrückter Klassen die wirkungsmächtigste Bewegung. Marx und Engels hat-
ten sich vielfach mit diesem Phänomen auseinander zu setzen, vor allem gegen
jene Nationalisten, die auch in die Arbeiterbewegung hineinwirkten, wie Mazzini
in Italien (MEW Bd. 13: 500, 532).
Marx und Engels waren keine deutschen Nationalisten, obwohl sie vor allem
von Bakunin und Proudhon oft in diesem Sinne wahrgenommen wurden. Aber
beide verstanden nicht, dass wenn Marx für den deutschen Standpunkt in einer
Frage zu optieren schien, ihn dabei kein deutscher Patriotismus beseelte, sondern
übergeordnete historische Gesichtspunkte. 1866 schienen Marx und Engels „Groß-
deutsche“ zu sein. Für ihre Gegner war es kein guter Schachzug, wenn Marx sein
Plädoyer für deutsche Einigkeit gegen die Zwietracht der verrotteten deutschen
Fürsten als „Eine preußische Meinung zum Krieg“ (1859, MEW Bd. 13: 353 – 357)
publizierte. Marx und Engels waren in dieser Mächtekonstellation gegen die Aus-
schaltung Österreichs im Deutschen Bund. Die Reichsgründung 1871 haben sie
skeptisch betrachtet, und setzten das böse Wort vom „bonapartistischen Regime“
in die Welt (Adresse über den deutsch-französischen Krieg. MEW Bd. 17: 5).
Immer wieder sind Marx und Engels nationalistische Äußerungen unterstellt
worden. Im Krieg gegen Dänemark erklärten sie: „Mit demselben Recht, mit dem
die Franzosen Flandern, Lothringen und Elsaß genommen haben und Belgien
früher oder später nehmen werden, mit demselben Recht nimmt Deutschland
Schleswig: mit dem Recht der Zivilisation gegen die Barbarei, des Fortschritts ge-
gen die Stabilität“ (MEW Bd. 13: 268). Dänemark wurde als ohnehin abhängiges
Gebiet betrachtet, dessen faktische Hauptstadt Hamburg und nicht Kopenhagen
sei. Der Skandinavismus, der sich als Ideologie zum Schutz der kleinen skandina-
vischen Nation verbreitete, war für beide – ähnlich wie der Panslawismus – eine
Mischung aus Sentimentalität und Barbarei, die sich „in Rohheit gegen Frauen-
zimmer, permanente Betrunkenheit und mit tränenreicher Sentimentalität ab-
wechselnde Berserkerwut“ äußere (MEW Bd. 5: 39). Es wurde auch in der Linken
vielfach missverstanden, dass es Marx und Engels nie um Erwerbung deutsch-
sprachiger ethnischer Gebiete ging, sondern um Stabilisierung der Nation für den
Fortschritt. Im Fall Schleswigs sprachen diese Kriterien für Deutschland, im Falle
des Elsass und Südtirols gegen die Interessen der deutschen Länder. Engels schlug
im Österreichisch-italienischen Konflikt vor, dass wir Deutsche „einen ausge-
184 Marxismus

zeichneten Handel machen würden, wenn wir den Po, den Mincio, die Etsch und
den ganzen italienischen Plunder vertauschen könnten gegen die Einheit“ (MEW
Bd. 13: 268). Die Einheit war Marx und Engels wichtiger als der Erhalt vieler Ter-
ritorien. Vor allem Engels ging davon aus, dass die beste Verteidigung nicht auf
irgendwelchen angeblich „natürlichen“ oder „strategischen“ Grenzen beruhen
könne. Die Einigkeit und Geordnetheit im Inneren war für ihn die beste Ver-
teidigung für Deutschland. Während sie für das Elsass oder das Trentino keinen
Finger zu krümmen bereit waren, haben die beiden Rheinländer für ihr Gebiet
doch so etwas wie deutschen Regionalstolz empfunden. Sie traten dagegen auf,
dass die französischen Aggressionen auf das Rheinland im Namen einer Theo-
rie von der „natürlichen Rheingrenze“ sich mit russischen Expansionstendenzen
nach Westen verbündeten. 1860 hat Engels in der Schrift „Savoyen, Nizza und der
Rhein“ sogar Sätze publiziert, die wie deutscher Großmachtchauvinismus klangen
und sogar in die Klischees nationalistischer Epitheta verfielen. Die „Krautköpfe“
(Kapustniki) fielen später auf die Deutschen selbst zurück: „Sollen wir fünfund-
vierzig Millionen es noch länger dulden, dass eine unserer schönsten, reichsten
und industriellsten Provinzen fortwährend zum Köder dient, den Rußland der
Prätorianerherrschaft in Frankreich vorhält ? Hat das Rheinland keinen anderen
Beruf, als vom Krieg überzogen zu werden, damit Rußland freie Hand an der Do-
nau und Weichsel bekommt ? Das ist die Frage. Wir hoffen, dass Deutschland sie
bald mit dem Schwerte in der Hand beantwortet. Halten wir zusammen, dann
werden wir den französischen Prätorianern und den russischen Kapustniki schon
heimleuchten“ (MEW Bd. 13: 611).
Alle diese von der Linken anderer Länder missdeuteten Äußerungen fußten
auf einer Hegelschen Vorstellung von staatstragenden Völkern und einer Verach-
tung für die kleinen „Trümmer von Nationen“ und „Überbleibsel“ (MEW Bd. 16:
159) sowie auf der Vorstellung, dass im Zuge einer Globalisierung des kapitalisti-
schen Marktes, die kleinen Völker ohnehin zum Untergang verurteilt seien. Der
Nationalismus der kleinen Völker schien für Marx und Engels eine Erfindung der
Russen und Franzosen. Durch Aufhetzung der kleinen Nationen und Unterstüt-
zung ihres Nationalismus versuchten sie ihre Großmachtinteressen zu fördern
(MEW Bd. 16: 158).
In der Hierarchie der Völker stand Frankreich über Deutschland, Deutschland
aber über den slawischen Nationen. Eine Ausnahme stellte Polen dar. Marx und
Engels waren wie alle Progressiven für die Wiederherstellung Polens. Aber sie hat-
ten einen realistischen Sinn dafür, dass ein solches Neu-Polen kein moderner Na-
tionalstaat sein werde, sondern mindestens vier Nationalitäten umfassen müsste.
Kleinere Völker konnten sich in dieser Ideologie durch revolutionäre Bewegun-
gen profilieren und dem Verdikt entgehen, auf dem Aussterbe-Etat zu stehen, wie
es den Tschechen, Slowaken, Slowenen und anderen Völkern widerfuhr. Geopo-
Der Marxismus in Deutschland 185

litische Realpolitik konnte vorübergehend in die Bewertungen eingehen. Marx


und Engels waren 1871 gegen die Annexion des Elsass durch Deutschland (MEW
Bd. 16: 158). Aber vor allem Engels hat die militärischen Gründe, die Bismarck für
die Annexion vorschob, keineswegs als unsinnig abgetan. Er argumentierte aber,
dass Deutschland mit dem Besitz von Metz nicht verhindern könne, dass die Be-
festigungslinie bei Nancy forciert werde (MEW Bd. 17: 273) – eine Einschätzung,
die sich im ersten Weltkrieg als zutreffend erwies.
Da aber auch viele kleine Völker außer den Polen und Italienern um ihre Un-
abhängigkeit rangen und dabei revolutionäre Energien freisetzten, mussten Marx
und Engels Konzessionen machen. Die Iren wären eigentlich nach ihrer Theo-
rie wohl „Volkssplitter“ ohne historische staatsbildende Kraft gewesen. Dank ih-
res hartnäckigen Widerstandes wurden ihre Bestrebungen positiver beurteilt. Im
Streit, ob die Bewegung organisatorisch mit der britischen verbunden sein sollte,
votierte Marx für eine Zweistufenlösung: erst „separation“, später wieder „fede-
ration“ (MEW Bd. 16: 461 ff, Bd. 18: 79 ff, Bd. 32: 414 ff). Irland war für Marx und
Engels keine „einfache Nationalitätenfrage“, sondern eher eine soziale „Existenz-
frage“ (MEW Bd. 16: 552). Der spätere Nordirland-Konflikt sollte ihnen darin
recht geben.
Marx hatte keinen voluntaristischen Begriff der Nation, sondern untersuchte
die objektiven Notwendigkeiten. Im Elsass wurde die Behauptung Frankreichs,
diese Grenzregion wolle französisch bleiben, als ein Argument anerkannt. Für
Belgien haben Marx und Engels hingegen argumentiert, dass die Wallonen den
Anschluss an Frankreich nicht wollten, eine ebenso wenig bewiesene Behauptung
(MEW Bd. 16: 158). Trotzdem haben sie prognostiziert, dass Belgien früher oder
später an Frankreich fallen werde und dies wurde sogar als „Recht“ dargestellt.
Seit dem Proudhonismus und Bakuninismus wurden föderalistische Konzepte
zur Lösung der Nationalitätenkonflikte auf der Linken angeboten. Marx und En-
gels hielten einen Föderalismus nur in multiethnischen Systemen für sinnvoll,
nicht hingegen im Deutschen Bund (MEW Bd. 22: 235 f). Lenin konnte auf dieser
Basis seine vierstufige Vorstellung von Autonomie und Staatlichkeit für die Natio-
nalitäten der Sowjetunion entwickeln. Stalin hat sie später schematisiert.
Ohne Empathie hat Marx auch die Judenfrage behandelt. 1843 distanzierte er
sich nicht aus Sympathie zum Judentum von Bauer: „So widerlich mir der israe-
litische Glaube ist, so scheint mir Bauers Ansicht doch zu abstrakt“. Juden hat er
nur als Glaubensgemeinschaft, nicht als Rasse verstanden. Sie waren für ihn kein
Volk, sondern eine „Sammlung von Atomen“, eine „schimärische Nationalität“
oder gar eine „Kaste“. Die Kollektion von Invektiven bei Marx gegen die Juden als
Gruppe und gegen einzelne Juden scheint ihn als „Antisemiten“ auszuweisen. Nur
der junge Engels war unvoreingenommener, und der alternde Engels – von der
Vormundschaft Marxens befreit – konnte wieder positiver über die Juden urteilen
186 Marxismus

(Silberner 1962: 145, 159). Marx befand sich im sozialistischen Lager in schlech-
ter Gesellschaft. Nur bei Saint-Simon wurden keine antisemitischen Äußerun-
gen gefunden. Er ging davon aus, dass nach der Aufhebung der Religion in einer
künftigen Gesellschaft, die Gegensätze zwischen Juden und Christen verschwin-
den würden. „Wir sagen also nicht mit Bauer den Juden ihr könnt nicht politisch
emanzipiert werden, ohne euch radikal vom Judentum zu emanzipieren. Wir sa-
gen ihnen vielmehr: weil ihr politisch emanzipiert werden könnt, ohne euch voll-
ständig und widerspruchslos vom Judentum loszusagen, darum ist die politische
Emanzipation selbst nicht die menschliche Emanzipation. … Wie der Staat evan-
gelisiert, wenn er, obschon Staat, sich christlich zu den Juden verhält, so politi-
siert der Jude, wenn er, obschon Jude, Staatsbürgerrechte verlangt“. Der Mensch
hat sich in dieser Konzeption politisch von der Religion emanzipiert, wenn er sie
aus dem öffentlichen Recht in das Privatrecht verbannte. Die USA mit ihrem Ge-
wimmel von Denominationen, bei dem Religion nur noch „Privatschrulle“ sei, er-
schien ihm die Nation der Zukunft. Minderheitenrechte, wie sie vielfach gefordert
wurden, sah er als Teil der egoistischen Konzeption von Menschenrechten an, die
es zu überwinden galt.

Der Kommunismus

Als Urheber des Wortes Kommunismus galt Robert Owen in seinem Tagebuch
von 1820. Sozialismus wurde zuerst von Pierre Leroux geprägt und in der Schrift
„D’une religion nationale ou du culte“ (1846) verbreitet. 1840 bezeichnete sich
Cabet als „Kommunist“. Marx hat sich als Journalist 1842 gegen die Beschuldi-
gung der „Augsburger Zeitung“ zur Wehr gesetzt, die seine „Rheinische Zeitung“
als „preußische Kommunistin“ bezeichnet hat: „Die rheinische Zeitung, die den
kommunistischen Ideen in ihrer jetzigen Gestalt nicht einmal theoretische Wirk-
samkeit zugestehen, also noch weniger ihre praktische Verwirklichung wünschen
oder auch nur für möglich halten kann, wird diese Ideen einer gründlichen Kri-
tik unterwerfen“.
Erst die direkte Bekanntschaft mit den Kommunisten in seinem Exil in Frank-
reich ab 1844 hat Marx dem Kommunismus gegenüber geneigter werden las-
sen. Seine Bekehrung wurde zwischen Herbst 1843 und Sommer 1844 angesetzt.
Umstritten war, wer den größeren Einfluss hatte: Moses Heß oder die französi-
schen Frühsozialisten (Kaegi 1965: 144). Marx hatte sich für die „Deutsch-Fran-
zösischen Jahrbücher“ um Mitarbeit der französischen Frühsozialisten bemüht.
Louis Blanc und vor allem Proudhon blieben distanziert. Diese Zurückweisung ist
als der außer wissenschaftliche Grund dafür genannt worden, dass Marx so unge-
wöhnlich polemisch gegen den zunächst geschätzten Proudhon auftrat. Immer-
hin haben die Frühsozialisten mit Marx diskutiert. Marx blieb auch nach seiner
Der Marxismus in Deutschland 187

Konversion gegen das, was er „rohen Kommunismus“ nannte, z. B. Babeuf. Seine


Konzeption des Kommunismus war mit dem Humanismus in der Frühzeit noch
weitgehend identisch. Der Vulgarkommunismus begnügte sich in den Augen von
Marx damit, die Entfremdung zu generalisieren, der politische Kommunismus
aber setzte sich für ihre Aufhebung ein. Kommunismus war noch nicht zu einem
Endstadium in einem dogmatisierten „Historischen Materialismus“ geronnen,
sondern stellte ein „energisches Prinzip der nächsten Zukunft“ dar (Calvez: 1964).
Der frühe Marx blieb in seiner Konzeption des Kommunismus den Frühso-
zialisten relativ nahe. Immer wieder wurde von unorthodoxen Neomarxisten der
Satz der „Deutschen Ideologie“ zitiert, dass es in der kommunistischen Gesell-
schaftsordnung möglich sei, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen,
nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kriti-
sieren“ (MEW Bd. 3: 33, 364). So idyllisch hat sich Marx die Aufhebung der Ar-
beitsteilung in der postkapitalistischen Gesellschaft später nicht mehr vorgestellt.
Aber auch noch in der Kritik des Gothaer Programms hielt Marx daran fest, dass
im Kommunismus „die knechtende Unterordnung unter die Teilung der Arbeit“
entfalle (MEW Bd. 19: 21). Die formelle Teilung der Arbeit wurde nun auch in der
kooperativen industriellen Arbeit für unaufhebbar gehalten, aber sie sollte ihre
„knechtende Unterordnung“ der Individuen unter schematische Rollen verlieren:
wie Mann und Frau, Kopf- und Handarbeit, Eigentümer von Produktionsmitteln
und Lohnarbeiter. Als Mittel dazu waren die umfassende Bildung aller Menschen,
eine Planung der Produktions- und Reproduktionsbedingungen, Rotation der Tä-
tigkeiten, Dezentralisierung der politischen Organisation, Aufhebung aller Privi-
legien und eine radikale Demokratie ausersehen (MEW Bd. 17: 336 ff, Bd. 19: 226 ff,
Bd. 20: 272 f, Bd. 22: 226, Bd. 23: 92 f, 443 f).
Die kommunistische Gesellschaft in ihrer Weiterentwicklung zeichnete sich
durch folgende Merkmale aus:

■ Gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln in Form von Arbeiterasso-


ziationen und Produktionsgenossenschaften,
■ Klassenlose Gesellschaft,
■ eine Staatsmacht die „abgestorben“ ist,
■ die Überwindung der Trennung von Stadt und Land,
■ Aufhebung der Arbeitsteilung,
■ genossenschaftlicher Reichtum und Vorherrschaft des Bedürfnisprinzips.

In Auseinandersetzung mit Proudhon zur „Wohnungsfrage“ (1872) wurde noch


einmal der Marxsche Standpunkt vertreten, dass die Spekulation über Details, wie
die Verteilung, im Kommunismus unzulässig seien. Ein „jüdisches Bilderverbot“
ist in dem Eifer gewittert worden, mit dem Marx die Ausmalungen einer rosigen
188 Marxismus

Zukunft bei den Utopisten bekämpfte. Engels war scharf in der Kritik der kapita-
listischen Stadt, aber auch mit den Idealstadt-Utopien der Frühsozialisten setzte er
sich kritisch auseinander. Die Überwindung solcher utopischer Konzessionen re-
sultierte aus dem Primat der Industrialisierung im Denken von Marx und Engels,
die mit den eher kleinteilig-handwerklich arbeitenden Produktionseinheiten bei
Fourier und Cabet nicht mehr vereinbar waren.
Ursprünglich war nur vom „Kommunismus“ die Rede. Je näher dieser zu
rücken schien, umso mehr setzte sich seit der Kritik am Gothaer Programm die
Tendenz durch, in der Übergangsgesellschaft eine sozialistische Phase vom Kom-
munismus zu unterscheiden. Die Apologetik des realen Sozialismus hat später
das kommunistische Endziel mit der Herrschaft des Bedürfnisprinzips weitge-
hend aufgegeben. Sie konnte auch im Sozialismus rechtfertigen, dass der Arbeiter
nicht den „vollen Arbeitsertrag“ erhalten konnte, wie radikale Sozialdemokraten
forderten. Marx hatte schließlich schon klar gestellt, dass es auch im Sozialis-
mus – modern gesprochen – zu Abzügen vom Lohn für Investitionen, Infrastruk-
tur und „Sozialfürsorge“ kommen müsse. (MEW Bd. 19: 18 ff).
Seit das Denken von Marx und Engels durch den Zusammenbruch des „rea-
len Sozialismus“ von den Fesseln der Rechtfertigungsideologie für diktatorische
Systeme befreit wurde, lässt sich wieder unvoreingenommen darüber nachdenken,
was von der Marxschen Lehre Bestand behielt. Die Fehlentwicklungen des Mar-
xismus-Leninismus können nicht alle Marx und Engels angelastet werden, vor al-
lem nicht die leninistische Parteikonzeption. Selbst ein Neopositivst wie Popper
(1970, II: 259), der Marx unter die falschen Propheten wegen seines „Holismus“
einreihte, kam zu dem Schluss, dass der Marxismus als Wissenschaft tot sei, dass
sein Gefühl für soziale Verantwortung und seine Liebe zur Freiheit aber weiter-
hin ein diskutables Anliegen bleibe. Das scheint mir zu wenig, denn das würde
ihn kaum von den sozialistischen Utopikern unterscheiden. Andere Interpreten
(Elster 1985: 521) hielten die „Selbstrealisierung durch kreative Arbeit“ für die Es-
senz des Marxschen Kommunismus. Auch das würde ihn nicht aus dem Kreis der
Frühsozialisten herausheben.
Die Theorien von Marx und Engels waren wichtige Entwicklungsschritte zu
einer modernen Sozialtheorie, mit dem Einsatz für eine rationale Veränderung
der Gesellschaft und der Hoffnung auf die Steuerbarkeit sozialer Prozesse. Marx
hielt an einer vernünftigen Identität der Gesellschaft fest. Jenseits dieses Grund-
konsenses mit den Pionieren einer analytischen Sozialwissenschaft des 20. Jahr-
hunderts sind prämoderne Züge in diesem Denken nicht zu leugnen: Die Ge-
schichtsteleologie, welche die Differenzierung einer Evolution im Selbstlauf und
einer bewusst gestalteten Geschichte und die Sonderung von Theorie und Pra-
xis nicht hinreichend vornahm, ließ sich mit den Fortentwicklungen der sozialen
Theorie von Weber, Durkheim oder Pareto nicht mehr vereinen. Als Hegelianer
Der Marxismus in Deutschland 189

hat er eine erste Differenzierung in Staat und Gesellschaft nach dem Zerfall der al-
ten societas civilis internalisiert. Aber die kausalen Wirkungen wurden im Basis-
Überschau-Schema allzu einseitig konzipiert.
In der Theorie der Politik waren Fortschritte gegenüber den Frühsozialisten
unverkennbar: die Theorie der Revolution wurde entmilitarisiert, und in der Or-
ganisationslehre waren Marx und Engels sehr viel flexibler als die „Utopisten“.
„Die Klasse“ blieb die zentrale Kategorie – nicht die Partei, wie im Leninismus
(vgl. von Beyme 1985: 81 ff).
In der Ökonomie war das Festhalten an der Arbeitswertlehre eine lässliche
Sünde. Auch viele bürgerliche Ökonomen waren zu seiner Zeit nicht darüber hin-
ausgekommen. Der Widerspruch von Produktionsverhältnissen und Produktiv-
kräften mit seinen unterstellten Wirkungen auf revolutionäre Konsequenzen er-
wies sich als unhaltbar. Die Krisentheorie, die Verelendungstheorie oder gar die
Zusammenbruchstheorie – letztere hat Marx prononciert nicht vertreten – muss-
ten schon Ende des 19. Jahrhunderts von seinen Adepten revidiert werden. Schon
Marx – und mit besserer Berechtigung Engels – hatten ihre Annahmen auf eine
„relative Verelendungsthese hin relativiert. Wichtig blieb Marxens Klassen- und
Schichtenanalyse, auch wenn die Überbetonung des vertikalen Aspekts der Klas-
senauseinandersetzungen inzwischen einer Analyse der „horizontalen Disparität
der Lebensbereiche“ weichen musste.

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Rosa Luxemburg (1871 – 1919)

Rosalia Luxemburg wurde in Zamość im damals russischen Südostpolen in einer


nicht unvermögenden jüdischen Familie geboren. Der bildungsbürgerliche Hin-
tergrund hatte sie früh mit polnischer und deutscher Kultur vertraut gemacht.
Goethe und Mörike soll sie besonders geliebt haben. Mit einem Mörike-Gedicht
hat sie sich während der Haft in Breslau 1918 getröstet, wie wir aus ihren Brie-
fen wissen (GB V: 400). Die Kompromisslosigkeit ihrer Ansichten in der Verbin-
dung mit einer zarten Empfindsamkeit in den persönlichen Beziehungen hat ihre
Anziehungskraft auf viele Generationen von Lesern ausgemacht. Früh engagierte
sich Rosa Luxemburg in jüdischen revolutionären Zirkeln, und musste vor der
Repression ins Ausland entweichen. Sie begann ab 1890 Ökonomie in Zürich zu
studieren. Eine denkbare wissenschaftliche Karriere hat sie – wie Gramsci – zu-
gunsten der Arbeit in der Partei ausgeschlagen. Ihre Arbeit konzentrierte sich
neben der polnischen Partei zunehmend auf die SPD. Die deutsche Staatsange-
hörigkeit erwarb sie durch eine Scheinehe mit Gustav Lübeck, um sich vor der
Ausweisung zu schützen. 1898 hatte sie auf dem Parteitag in Stuttgart ihren ersten
öffentlichen Auftritt. Sie verschaffte sich bald Achtung, auch bei dem Führer der
192 Marxismus

Partei, Bebel, der oft seine Mühe mit der „Rosarei“ hatte. Ein nicht namentlich
gezeichneter Artikel zum Stuttgarter Parteitag 1898 zeugte von der Wucht einer
neuen revolutionären Rhetorik: „Unter hageldicht von allen Seiten niedersau-
senden Schlägen der Reaktion, inmitten des heißesten Gefechts mit den Feinden
der Arbeiterklasse um ihre fundamentalsten Rechte tritt diesmal der Parteitag der
deutschen Sozialdemokratie zusammen. Es ist dies keine friedliche Konferenz bei
schönem Wetter, der behaglichen Ruhe, es ist ein unter rasch aufgespanntem Zelt,
inmitten des Kriegsschauplatzes, unter feindlichem Feuer, in heißen Pulsschlägen
und doch mit eiserner Ruhe in Kaltblütigkeit beratenden Kriegsrat“ (GW I, 1: 231).
In ihrer Stuttgarter Rede hat sie den wohl austarierten Attentismus, der aus den
üblichen Reden der SPD sprach, durch Erinnerungen an das Endziel, das auch
in jedem praktischen Kampfschritte präsent sein müsse, aufgeschreckt (GW I, 1:
236). Vor allem die Gewerkschaften hat sie durch ihren revolutionären Radikalis-
mus vor den Kopf gestoßen.
Die russische Revolution von 1905 hat ihre Ansichten noch weiter radikali-
siert. Mit Leo Jogiches hat sie illegal in Warschau agitiert, wo sie verhaftet wurde
und nur auf Kaution freikam. Ihr kam eine wichtige Funktion in der Interpreta-
tion der russischen Ereignisse zu. Sie kämpfte gegen die Herablassung, mit der
in der westlichen Bewegung die chaotischen russischen Ereignisse kommentiert
wurden. Luxemburg (GW I, 2: 479) hat über „Die Revolution in Russland“ die Er-
gebnisse der Revolution, trotz der „kümmerlichen konstitutionellen Verfassung“,
die selbst ein Liberaler wie Max Weber als „Scheinkonstitutionalismus“ abtat, als
zukunftsträchtig herausgestellt: „Und doch ist die Revolution, die zur Geburt die-
ses bürgerlichen Wechselbalgs geschichtlich verdammt ist, eine so proletarische
wie noch keine vorher“.
1904 erlebte Rosa Luxemburg ihre erste Verurteilung (wegen Majestätsbe-
leidigung). 1905 trat sie in die Redaktion des „Vorwärts“ ein und 1907 begann
eine Lehrtätigkeit an der Parteischule. Die Ausbildung der Arbeiterführer hat
sie immer auch theoretisch beschäftigt. Trotz des einheitlichen Grundkanons in
der Vorbereitung auf den Klassenkampf plädierte sie gegen die Verschmelzung
der Bildungsinstitute der Partei und der Gewerkschaften (GW II: 550). 1914 kam
Luxemburg wegen pazifistischer Reden erneut vor Gericht. Ihre Verteidigungs-
rede vor der Frankfurter Strafkammer im Februar 1914 wurde vom „Vorwärts“ ge-
druckt. Sie schloss mit dem Gedanken: „Herr Staatsanwalt, ich glaube Ihnen, Sie
würden fliehen. Ein Sozialdemokrat flieht nicht. Er steht zu seinen Taten und lacht
Ihrer Strafen. Und nun verurteilen Sie mich !“ (PS II: 17). 1915 – 16 war sie im Ge-
fängnis, kurz nach ihrer Freilassung wurde sie jedoch erneut bis zur Novemberre-
volution 1918 in „Schutzhaft“ genommen.
1917 hatte Luxemburg noch gegen die Gründung einer eigenen Partei votiert
und trat für den Anschluss an die USPD ein – obwohl ihr auch die zu Gegner ge-
Der Marxismus in Deutschland 193

wordenen Genossen wie Kautsky angehörten. Als die neue Parteigründung un-
ausweichlich wurde, trat sie für die Benennung „sozialistisch“ statt „kommunis-
tisch“ ein. Im letzten Brief ihres Lebens an Clara Zetkin vom 11. Januar 1919 hat
sie die „Trennung von der USP“ für absolut unvermeidlich erklärt, und zwar aus
politischen Gründen, weil die Menschen zwar noch „die gleichen wie in Gotha“
waren, aber die Situation sich total geändert habe (GB V: 427). Gegen die Radi-
kalen trat sie auch gegen einen Boykott der Wahlen zur Nationalversammlung
auf, was konsequent im Licht ihrer Kritik an Lenins Zerschlagung der Konsti-
tuante in Russland schien. Sie ging jedoch nicht soweit, die Beschlüsse des Räte-
kongresses vom Dezember 1918 zu akzeptieren, die ihre revolutionären faits ac-
complis durch eine Nationalversammlung zu legitimieren trachtete. Diese Politik
nannte sie „Verrat“ am revolutionären Mandat der Massen und titulierte die Räte
als „Maulwürfe Eberts“.
In der Schrift „Was will der Spartakusbund ?“ hat Luxemburg (PS II: 163) das
Mittel des Terrors verworfen. „Diktatur des Proletariats“ und „wahre Demokra-
tie“ wurden – ähnlich wie bei Gramsci – fast zu Synonymen, ohne Klärung der
Widersprüche der beiden Prinzipien in der konkreten Politik. Die Aufständi-
schen im Spartakus-Aufstand hat Luxemburg nur mit einigen Bedenken unter-
stützt. Zu den geforderten Sofortmaßnahmen gehörte die Entwaffnung der Polizei
und der Armee, die Beschlagnahme aller Waffen durch Arbeiter- und Soldaten-
räte, Bewaffnung der proletarischen Bevölkerung als Arbeitermiliz, Entfernung
aller Offiziere und „Kapitulanten“ aus den Soldatenräten, Ersetzung aller poli-
tischer Organe und Behörden durch Vertrauensmänner der Arbeiter- und Sol-
datenräte, Einsetzung eines Revolutionstribunals gegen die Hohenzollern, Hin-
denburg, Ludendorff, Tirpitz u. a., Abschaffung des Föderalismus im Reich und
Schaffung einer einheitlichen sozialistischen Republik, Ersetzung aller Parla-
mente durch die Räte, Annullierung aller Staatsschulden, Enteignung aller Groß-
und Mittelbetriebe und die Bildung landwirtschaftlicher Genossenschaften unter
zentraler Leitung im ganzen Reich, Einsetzung einer zentralen Streikkommission.
Verbliebene Kleinbauern sollten sich bis zum „freiwilligen Anschluss an die so-
zialistischen Genossenschaften“ respektiert werden (PS II: 165 ff). Ob alle diese
Maßnahme ohne Terror durchgesetzt werden könnten, blieb unerörtert. Dass der
Spartakus nur auf der Grundlage der großen Mehrheit der proletarischen Massen
regieren sollte, war keine Garantie für eine gewaltfreie Transformation. Die Wi-
dersprüche sind mit Recht so interpretiert worden, dass Terror gegen die Bour-
geoisie nicht ausgeschlossen werden sollte, aber – im Gegensatz zur Oktoberre-
volution – nicht auf das Proletariat ausgedehnt werden sollte (Grebing 1991: 68).
Rosa Luxemburg konnte das Schlussplädoyer für ihren Programmentwurf aus ge-
sundheitlichen Gründen nicht mehr halten. Aus einem der letzten Briefe, den Lu-
xemburg an Clara Zetkin im Dezember 1918 schrieb, sprach bereits die Verfolgung
194 Marxismus

durch Morddrohungen, die sie und Liebknecht zwangen, jede Nacht ein anderes
konspiratives Quartier aufzusuchen (GB V: 422). Am 15. Januar 1919 wurde sie von
Freicorps-Soldaten verschleppt und auf bestialische Weise ermordet. Die Todes-
art wurde von den Mördern nach Status differenziert. Liebknecht als Deutscher
durfte erschossen werden, die Jüdin Luxemburg musste in einer Lynchjustiz als
individualisiertes „Pogrom“ umkommen (Ettinger 1990: 303).

Revisionismuskritik

Rosa Luxemburg hat 1899 in der Schrift „Sozialreform oder Revolution ?“, die im
Verlag der Leipziger Volkszeitung erschien, eine der entschiedensten Attacken ge-
gen den Revisionismus Bernsteins geritten (GW I, 1: 367 ff). Kritisiert wurde die
Aufgabe der Zusammenbruchstheorie, die Marx so eindeutig gar nicht vertreten
hatte. Ohne Zusammenbruch des Kapitalismus hielt Luxemburg (PS I: 123) eine
Expropriation der Kapitalistenklasse für unmöglich. „Die Entfernung dieses Eck-
steins“ musste logisch für sie zum „Zusammenbruche der ganzen sozialistischen
Auffassung bei Bernstein“ führen. Bernsteins Alternative, das Genossenschaftlich-
keitsprinzip, ließ sich nach ihrer Ansicht nicht inmitten der kapitalistischen Pro-
duktion durchführen. Somit wurde für sie (PS: 113 f) auch die Eroberung der po-
litischen Macht im Konzept Bernsteins unmöglich: „Die gesetzliche Reform und
die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fort-
schritts, die man in dem Geschichtsbüffet nach Belieben wie heiße Würstchen
oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der
Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergän-
zen, zugleich aber ausschließen, wie z. B. Südpol und Nordpol, wie Bourgeoisie
und Proletariat“. Die Revolution war für Luxemburg der „politische Schöpfungs-
akt der Klassengeschichte“. Die Gesetzgebung, auf welche die Revisionisten hoff-
ten, hingegen nur „das politische Fortvegetieren der Gesellschaft“, weil diese keine
eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft besitze. Sie baute jedoch ge-
gen mögliche Vorwürfe des Blanquismus vor: jede Revolution kommt „verfrüht“.
Da der Übergang zum Sozialismus nicht auf einen Schlag denkbar sei, muss es
immer wieder zu verfrühten Aktionen kommen. Ein zweiter Grund war die Auf-
fassung, dass das Proletariat nur durch seine „verfrühten Angriffe … auf die po-
litische Staatsgewalt“ den „erforderlichen Grad der politischen Reife erreichen
kann, der es zur endgültigen großen Umwälzung befähigen wird“ (PS I: 122).
Rosa Luxemburgs radikale Revisionismuskritik begann sich auch zunehmend ge-
gen Kautsky zu richten, der sich gleichfalls von Bernstein distanziert hatte (vgl.
Kap. V.1). Nicht zu Unrecht witterte sie instinktsicher eine unterschwellige Akzep-
tanz vieler Bernstein-Thesen bei dem Freund, der mit geschickten Formelkom-
promissen wie „Ermattungsstrategie“ und die „Aussöhnung aller Meinungsdiffe-
Der Marxismus in Deutschland 195

renzen durch eigene Meinungslosigkeit“ (GW I, 1: 558) einen Sonderweg für die
hochorganisierten Arbeiter des Westens suchte, und die Revolution den weniger
entwickelten Völkern wie dem russischen überließ.

Die Massenstreikdebatte

In der Zweiten Internationale war die Idee des Generalstreiks, die von den Syndi-
kalisten und von Sorel für eine Weile lanciert wurden, in die Minderheit geraten.
Die russische Revolution zwang nach Ansicht von Rosa Luxemburg die Mehr-
heitsmeinung zu überdenken. In der Schrift von 1906 „Massenstreik, Partei und
Gewerkschaften“ (GW II: 93 ff) wurde die Idee des Massenstreiks entwickelt. Rosa
Luxemburg (GS I: 135) gab zu, dass die Konzeption nicht neu sei: „französische
und nach ihnen belgische Sozialisten haben seit 1848 das Paradepferd stark gerit-
ten, das aber ursprünglich englischer Rasse ist“. Nicht die Idee sei neu, sondern
die Bewertung der Idee, weil alle Kritiken aus der Zeit vor der russischen Revo-
lution von 1905 stammten. Rosa Luxemburg verwahrte sich gegen den Vorwurf
einer anarchistischen Neuauflage eines überholten Konzepts: Die russische Re-
volution, „die die erste geschichtliche Probe auf das Exempel des Massenstreiks
bildet“, bedeutete in ihren Augen sogar die „Liquidation des Anarchismus“. Der
Anarcho-Kommunismus habe sich in Russland als ideologisches Aushängeschild
des Lumpenproletariats mit der Einladung zu unkontrollierter Gewalt und zu
Plünderungen entlarvt. Der Massenstreik hingegen habe einen „Parlamentaris-
mus für das Proletariat“ geschaffen (PS I: 137, 139). Frühere Massenstreiks hät-
ten sich auf „politische Streiks“ beschränkt. Die Spontaneität der russischen Ak-
tionen habe selbst die dortige Sozialdemokratie, „die die Revolution zwar mit
macht, aber nicht ‚macht“, und ihre Gesetze erst aus ihrem Verlauf selbst lernen
muß, … etwas aus dem Konzept gebracht“ (PS I: 157). Rückschläge konnten nicht
ausgeschlossen werden. Die Meereswoge teilte sich gelegentlich „in ein Riesen-
netz dünner Ströme“, und gelegentlich konnte sie im Boden versickern, um plötz-
lich wieder auf dem Untergrund hervorzusprudeln. (PS I: 172). Das neue an die-
ser Konzeption des Massenstreiks lag in der Abkehr von Einzelhandlungen, in der
Verbindung ökonomischer und politischer Momente und in der Verbindung von
Massenstreik und Revolution. „Die Partei“ hatte wichtige Aufgaben, den „organi-
satorischen Kern der Arbeiterklasse“ zu stellen. Aber ihr wurde ins Stammbuch
geschrieben, dass auch mit größter Disziplin die echte Volksbewegung nicht „in-
szeniert“ werden könne. Bisherige Massenstreiks unterschieden sich von der neu
entdeckten revolutionären Form wie ein Seekrieg von einer Flottendemonstra-
tion in fremden Häfen (PS I: 180 f). Den Gewerkschaften wurden große Aussich-
ten für die Zukunft ausgemalt, aber sie wurden ermahnt, das Heil nicht nur bei
der Agitation der Organisierten zu suchen. Luxemburgs (PS I: 196) Konzept der
196 Marxismus

Spontaneität revolutionärer Energien war gegen die „Geringschätzung der unor-


ganisierten Proletariermasse“ gerichtet. Der „Verwaltungsüberbau“ von Parteien
und Gewerkschaften musste in diesem Modell revolutionärer Veränderung ler-
nen, dass nicht „sporadische oder periodische Verhandlungen über Einzelfra-
gen“ – auf der Basis der Illusion der Gleichberechtigung und Parallelexistenz von
Partei und Gewerkschaft – zum revolutionären Durchbruch führen (PS I: 225).
Die Schrift war in einer hinreißenden Rhetorik, aber ohne die in der Bewegung
weitverbreitete gehässige Polemik geschrieben, und beschwor eine „neue Totali-
tät des Klassenbewusstseins“ als Ergebnis revolutionärer Lernprozesse. Für alle
„Nichtrevisionisten“ war diese Konzeption bis in die 1960er Jahre immer wieder
konsensfähig. Die Partei und Kautsky als Hüter des Deutungsmonopols haben auf
die Provokation Luxemburgs erstaunlich wenig reagiert. Kautsky (1914: 189) ent-
schuldigte sich im Rückblick, dass man trotz der Einseitigkeiten die Schwächen
der Schrift nicht hinreichend gewürdigt habe, und dass man damals die Aufmerk-
samkeit mehr auf die Siege der Bewegung als auf die Niederlagen gerichtet habe.
Das Verhältnis zwischen „dem Alten“ und Rosa Luxemburg kühlte sich ab. Trockij
(Mein Leben. Berlin, Fischer 1929: 205) berichtete über eine bezeichnende Diffe-
renz, als er mit beiden zu einer Demonstration im Jahr 1910 ging: „Kautsky wollte
Zuschauer bleiben, Rosa Luxemburg Teilnehmerin sein“.

Imperialismustheorie

Rosa Luxemburg hat in der Schrift „Die Krise der Sozialdemokratie“ ihre Impe-
rialismustheorie noch einmal popularisierend zusammengefasst: Der Weltkrieg,
der „Verrat an den elementarsten Grundsätzen des internationalen Sozialismus“
und die Zustimmung zu den Kriegskrediten in führenden sozialistischen Par-
teien hat 40 Jahre Arbeit des europäischen Sozialismus zunichte gemacht. Der
Weltkrieg dient nicht wirtschaftlichen oder politischen Interessen irgendwelcher
Volksmassen, sondern ist Ausgeburt imperialistischer Rivalitäten zwischen den
kapitalistischen Klassen verschiedener Länder um die Weltherrschaft (PS II: 153).
Friedensutopien, internationale Schiedsgerichte und Abrüstungsverhandlungen
konnten für sie den Frieden nicht sichern, sondern nur der „revolutionäre Wille
des internationalen Proletariats“. Rosa Luxemburg befürwortete eine Pflicht zur
Ausführung der Beschlüsse der Internationale, welche den Kampf für den Frieden
und gegen den Imperialismus koordinieren sollte.
Dieser plakativen Stellungnahme lag die Vorstellung zugrunde, dass der Ka-
pitalismus in einer Krise sei. Der Zusammenbruch konnte aber nicht notwendi-
ger Weise erfolgen. „Der Sieg des Sozialismus wird nicht wie ein Fatum vom Him-
mel herabfallen“ (PS II: 30), sondern hing vom Zustand der Organisation und des
Klassenbewusstseins ab. Die ökonomischen Grundlagen hatte Rosa Luxemburg
Der Marxismus in Deutschland 197

(GW V) 1913 in der Schrift „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur öko-
nomischen Erklärung des Imperialismus“ geliefert. Die Kapitalakkumulation be-
schleunigte sich in ihrem Verlaufsmodell, und führt zur Weltherrschaft der kapi-
talistischen Produktion. Damit gerät der Kapitalismus jedoch in eine Sackgasse.
Während Hilferding als Grundlage für Lenins bekannte Schrift seine Argumen-
tation im „Finanzkapital“ rein ökonomisch aufbaute, hatte Luxemburgs Analyse
die Verbindung von Einsicht in die wirtschaftlichen Notwendigkeiten mit der po-
litisch-revolutionären Praxis sehr viel stärker verknüpft.
In einer Antikritik gegen Otto Bauers Kritik an ihrem Buch machte Rosa
Luxemburg das Epigonentum im deutschsprachigen Marxismus, das Marx gegen
seinen eigentlichen Sinn lese, für die Machtlosigkeit der Bewegung verantwort-
lich. Kautskys Schrift „Der Weg zur Macht“ (1909) wurde in einen „Weg zur Ohn-
macht“ umgedeutet. Aber auch im Positionengezänk hielt sich Luxemburg fern
von den intellektuellen Schlägen unter die Gürtellinie, welche die persönliche In-
tegrität des Kontrahenten in Frage stellte und blieb relativ sachlich. Dass Marxis-
ten sich stritten, war für sie in Ordnung: „Marxismus ist nicht ein Dutzend Per-
sonen, die einander das Recht der ‚Sachverständigkeit‘ ausstellen und vor denen
die Masse der gläubigen Moslems in blindem Vertrauen zu ersterben hat“ (GW V:
523). Obwohl Rosa Luxemburg Fachökonomin war, haben die Cheftheoretiker der
Partei wie Hilferdings, Kautsky. Bauer und Lenin ihre Thesen verworfen. Sie inter-
pretierten sie als Ausdruck einer Hoffnung auf automatischen Zusammenbruch
des imperialistischen Systems.

Parteitheorie und nationale Frage

Früher als Gramsci geriet Rosa Luxemburg mit ihrer intimen Kenntnis der Be-
wegung im russischen Reich in Organisationsfragen in Gegensatz zu Lenin. „Die
Neue Zeit“ hat 1904 die Schrift „Organisationsfragen der russischen Sozialdemo-
kratie“, die für das Organ der russischen Sozialdemokratie, „Iskra“ geschrieben
wurde, veröffentlicht. Rosa Luxemburg (PS III: 87 ff) kritisierte Lenins „mechani-
sche Auffassung“ und seine Nähe zum „jakobinisch-blanquistischen Typus“ einer
Organisation. Zentralismus war zwar für eine koordinierende Partei unerlässlich,
aber es sollte nur ein „Selbstzentralismus“ der führenden Schicht des Proletariats,
ihre Majoritätsherrschaft innerhalb ihrer eigenen Parteiorganisation“ sein. Lenins
Ultrazentralismus zeugte für sie von „Nachtwächtergeist“ und „Opportunismus“,
der in Organisationsfragen ein einziges Prinzip verfolgte, „die Prinzipienlosigkeit“
(PS III: 99). Lenins Rechtfertigung einer Parteidiktatur – mit Lassalleanischen
Tendenzen in der frühen deutschen Sozialdemokratie zur Warnung verglichen –
wurde mit der Gefahr gefährlicher Einflüsse der Intelligenz auf die Bewegung be-
gründet. Rosa Luxemburg erkannte klar, dass Lenin den Teufel des „Intelligenzler-
198 Marxismus

Aristokratismus“ gleichsam mit dem Beelzebub der Parteidiktatur auszutreiben


versuchte. Sie warnte die Bruderpartei mit eindringlichen Worten: „je mehr sie
durch ein sozialdemokratisches Zentralkomitee politisch geleithammelt und ge-
drillt wird, um so leichter wird das Spiel der bürgerlichen Demagogen in dem re-
novierten Russland sein …“ Obwohl diese Sätze durch den Sieg in der Oktober-
revolution bei den Leninisten als Fehlprognose überführt schienen, wurden sie
doch in DDR-Zeiten ungern in die Schriften der großen Revolutionärin aufge-
nommen, die man lieber als Person wegen ihrer Märtyrerrolle auf dem Friedhof
Friedrichshain ehrte, als Konsequenzen aus ihren Lehren zu ziehen.
Die Kritik der russischen Revolution von 1917 (GW IV: 332 ff) war auf diese
Erfahrungen mit dem Leninismus aufgebaut. Rosa Luxemburg sah für die Bol-
schewiki die Grundlehre jeder großen Revolution bestätigt. Entweder rasch vor-
wärtsstürmen und mit eiserner Hand alle Hindernisse niederzuwerfen, oder von
der Konterrevolution erdrückt zu werden, wie sie anhand der großen englischen
und französischen Revolutionen zu demonstrieren versuchte. Daher nahm sie ge-
gen Kautsky und seine russischen Gesinnungsgenossen Stellung, die nur die erste
Phase der „girondistischen“ bürgerlichen Revolution akzeptieren wollten. Sie bil-
ligte die Lösung „der Mehrheit des Volkes“, welche die Bolschewiki gegenüber
dem „parlamentarischen Kretinismus“ gefunden hatte. Dass Lenin nicht gleich
alle versprochenen Reformen durchführte, hat Rosa Luxemburg noch akzeptiert.
Aber die Agrarreform in Russland fand sie misslungen. Sie habe dem Sozialismus
auf dem Lande eine neue mächtige Volksschicht von Feinden geschaffen, deren
Widerstand viel gefährlicher sei, als es der Widerstand der adligen Grundbesitzer
gewesen sei (PS III: 120).
Als weiteren Fehler der Leninschen Politik brandmarkte Rosa Luxemburg,
dass man die demokratischen Grundfreiheiten der Volksmassen geringschätzte,
aber dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen – gegen die sonstige zentralis-
tische Auffassung – übertriebene Spielräume konzedierte. Wie bei der Konzes-
sion an den Landhunger der Massen, schien Rosa Luxemburg das Buhlen um das
Wohlwollen der Ethnien eine Fehleinschätzung, welche die Massen nicht dem So-
zialismus gewann. In diesem Punkt hat Rosa Luxemburg Lenin zweifellos über-
interpretiert. Die Differenzen zu Lenin sind von Luxemburg übertrieben worden,
denn sie teilten das Grundprinzip, dass die nationale Frage durch den Sozialismus
obsolet werde (Nettl 1967: 822). Lenin hat für die russischen Verhältnisse nicht
deutsche oder polnische Maßstäbe anlegen können. Sein föderalistisches System
mit abgestuften Autonomierechten für große und kleine Ethnien war zwar nicht
konform mit Marx und dennoch höchst vernünftig (vgl. Kap.IV, 2). Der Vorwurf,
dass Lenin sein Konzept auf alle Parteien übertragen wollte, erwies sich nach Rosa
Luxemburgs Tod richtig im Licht der Parteilehre in der Kominternpolitik, aber
falsch hinsichtlich der Behandlung der Ethnien.
Der Marxismus in Deutschland 199

Die Nationalitätenfrage

Luxemburg hat wie andere Revolutionäre aus dem jüdischen Milieu, die eine in-
dividuelle Anpassungsleistung an die dominante „Leitkultur“ bereits hinter sich
hatten, die Virulenz der nationalen Frage unterschätzt. Das galt selbst für Kautsky,
der für Lenin einst die Autorität in Nationalitätenfragen gewesen war, auch wenn
Engels an seiner Verbundenheit mit dem tschechischen Herkunftsmilieu bereits
zu zweifeln begonnen hatte. Die Unterschätzung der nationalen Frage gehörte
zweifellos zu den größten Mängeln der politischen Theorie bei Rosa Luxemburg.
„Die Krise der Sozialdemokratie“ (Zürich 1916 unter dem Pseudonym „Junius“
veröffentlicht), hat den Mythos der „vaterlandslosen Gesellen“, der aus dem Kom-
munistischen Manifest herausgelesen wurde, noch um eine weitere Zuspitzung
bereichert: „Das Vaterland der Proletarier, dessen Verteidigung alles andere un-
tergeordnet werden muss, ist die sozialistische Internationale“ (PS II: 157). Inkon-
sequenter Weise machte ihre pluralistisch-dezentralistische Grundauffassung vor
der nationalen Frage halt. Sie hatte sich bereits der polnischen Bewegung ent-
fremdet, als sie gegen die Wiederherstellung eines unabhängigen Polen auftrat. In
diesem Punkt konnte sie sich nicht einmal auf Marx berufen. Rosa Luxemburg
(GW I, 1: 827) war mit Nachdruck für die Sprachrechte der Polen in Preußen und
gegen die Germanisierungspolitik aufgetreten. Aber ebenso entschieden kämpfte
sie gegen die Illusion, die Polen hätten als Feind nur eine antipolnische Adels-
clique wie die „Hakatisten“. Sie sah den Chauvinismus der aufbrechenden „natio-
nalen Bourgeoisien“ mit Recht als Gefahr: „In allen den kleinen jungen Bourgeoi-
sien, die nun zum selbständigen Dasein streben, zittert nicht bloß der Wunsch
nach Gewinnen ungehemmter und unbevormundender Klassenherrschaft, son-
dern auch nach den solange entbehrten Wonnen der eigenhändigen Erdrosselung
des Todfeindes – des revolutionären Proletariats …“ (PS III: 147). Sie sah aus allen
den Lämmern der jungen Nationen, die „unschuldig auf die Grasweide der Welt-
geschichte hüpfen“ schon den „Karfunkelblick des grimmen Tigers“, der auf eine
„Abrechnung“ mit der ersten Regung des ‚Bolschewismus“ warte. Wilsons Völker-
bundsidee war für sie nur Ausdruck der Siegestrunkenheit des anglo-amerikani-
schen Imperialismus (PS III: 148). Frieden erwartete sie erst nach einer interna-
tionalen proletarischen Revolution.

Diktatur und Demokratie

Rosa Luxemburgs Verhältnis zu Diktatur und Demokratie war ambivalenter als


viele Interpreten der Parteiorthodoxie einerseits und der „freiheitlichen Kom-
munisten“ andererseits es wahrhaben wollten. Die sozialistische Diktatur musste
auch nach ihrer Meinung den Widerstand des Mittelstandes und der kleinbür-
200 Marxismus

gerlichen Intelligenz brechen, die den gesamten öffentlichen Betrieb boykottierte


und sabotierte. Aber die Politik gegenüber der Konstituante und die Manipula-
tion des Wahlrechts, welche die allgemeine Entrechtung breiter Schichten der Ge-
sellschaft vorantrieb, waren in ihren Augen untragbar. Ihr berühmtester Satz fiel
in diesem Zusammenhang: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur
für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Frei-
heit. Freiheit ist immer nur Freiheit der anders Denkenden“ (PS III: 134). In der
DDR-Ausgabe der Gesammelten Werke (GW IV: 359) wurde dieser Kernsatz
als „Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis“ zu einer Fußnote
degradiert.
Rosa Luxemburg geißelte in ihrem Pamphlet die stillschweigende Vorausset-
zung der Diktaturtheorie von Lenin und Trockij, für die „ein fertiges Rezept in der
Tasche der Revolutionspartei“ liege: „Das Negative, den Abbau, kann man dekre-
tieren, den Aufbau, das Positive, nicht“ (PS III: 135). Die ganze Volksmasse sollte
an der Gestaltung der Revolution teilnehmen: „Sonst wird der Sozialismus vom
grünen Tisch eines Dutzends Intellektueller dekretiert, oktroyiert“. Ohne allge-
meine Wahlen, ohne „ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit“ musste
für sie das öffentliche Leben zum Scheinleben erstarren, in der die Bürokratie
das alleintätige Element bleibe (PS III: 136). Lenin und Kautsky wurden in ih-
rem Verhältnis zu der Alternative Diktatur und Demokratie auf eine Stufe gestellt:
Kautsky optierte im Zweifel für die bürgerliche Demokratie, Lenin für die Dik-
tatur. Sie bejahte die Diktatur: „Aber diese Diktatur besteht in der Art der Ver-
wendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung …“ (PS III: 139). Die Kritik
der deutschen SPD an der Oktoberrevolution ließ sie nicht gelten. Das Versagen
des deutschen Proletariats hatte Lenin und Genossen in eine schwierige Lage ge-
bracht. Daher war ihnen nicht abzuverlangen, dass sie sofort die „schönste Demo-
kratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialisti-
sche Wirtschaft“ hervorzauberten. Die Überschreitung des Handlungsspielraums,
den sie den Leninisten einzuräumen bereit war, sah sie dort, „wo sie aus der Not
die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Tak-
tik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Pro-
letariat als Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen“
(PS III: 140). Nettl und andere haben eine wirkliche Alternative zu Lenins Kon-
zept in Luxemburgs Werk vermisst. Aber das war ja gerade der Grunddissens:
Luxemburg glaubte nicht daran, dass es so etwas wie ein Modell des Weges zum
Sozialismus gebe (vgl. Scharrer 1985: 118 ff). Diese Meinungsverschiedenheiten
mit Lenin hinderten Rosa Luxemburg jedoch nicht, dem „Teuren Wladimir“ auf
Russisch einen Gruß zu schreiben, sowie sie dem Breslauer Gefängnis im Novem-
ber 1918 entkommen war (GB VI: 212). Es war ihr einziger Brief an Lenin, der in
den Gesammelten Briefen auffindbar wurde.
Der Marxismus in Deutschland 201

Die Meinungsverschiedenheiten mit Lenin haben dazu geführt, dass der


Parteikommunismus in der Rezeption ihres Werkes sehr selektiv vorging. Man
konnte sie nicht in Acht und Bann tun, aber ihre Konzeption wurde als eine Po-
litik der Vernachlässigung der Partei gewertet. Ihre faszinierende Persönlichkeit
wurde gelobt, ihre Theorien jedoch als irrig dargestellt. Der Gegenschlag ließ nicht
auf sich warten. Luxemburg wurde bald für einen „demokratischen Kommunis-
mus“ (Flechtheim 1978: 167 ff), bald für eine antiautoritäre Bewegung in den „Hei-
ßen Herbsten“ seit 1968 in Anspruch genommen (Basso 1969) oder gar für eine
„Theorie des Dritten Weges“. Diese zeitbedingten Interpretationsversuche erwie-
sen sich als nicht stichhaltig und beruhte häufig auf der Konstruktion – ähnlich
wie bei den Gramsci-Deutungen in Italien – „er/sie hätten vermutlich für einen
solchen Weg optiert“, wenn sie nicht vorzeitig Opfer der Rechtsextremisten ge-
worden wären.

Quellen
Luxemburg: Gesammelte Werke. Berlin, Dietz, 1970 – 1981, 5 Bde (zit: GW).
Luxemburg: Gesammelte Briefe . Berlin, Dietz, 1982 – 1993, 6 Bde (zit: GB).
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2. Aufl., 3 Bde (zit: PS).
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Luxemburg: Schriften zur Theorie der Spontaneität (Hrsg.: G. Hillmann). Reinbek,
Rowohlt, 1970.
Die Massenstreikdebatte. Beiträge von Parvus, Rosa Luxemburg, Karl Kautsky u. a.
(Hrsg.: A. Grunenberg). Frankfurt, EVA; 1970.
Rosa Luxemburg: Schriften und Reden (Hrsg.: G. Regneri). Berlin, Heptagon,
2006.
Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis. Weitra, Verlag Bibliothek der Provinz,
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Literatur
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D. Dath: Rosa Luxemburg. Frankfurt, Suhrkamp, 2000.
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Revolution. Atlantic Highlands, Humanities Press, 1982.
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I. Fetscher: Marxistische Portraits. Stuttgart, Fromman & Holzboog, 1975.
P. Fröhlich: Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat. Berlin, Dietz, 1990.
O. K. Flechtheim: Rosa Luxemburg zur Einführung. Hamburg, Junius, 1985.
M. Gallo: Rosa Luxemburg. Eine Biographie. Zürich, Benziger, 1993.
H. Grebing: Der Revisionismus. München, Beck, 1977.
202 Marxismus

H. Grebing: Rosa Luxemburg. In: W. Euchner (Hrsg.): Klassiker des Sozialismus.


München, Beck, 1991, Bd. II: 58 – 71.
H. Hirsch: Rosa Luxemburg. Reinbek, Rowohlt, 1969, 20. Aufl. 1998.
F. Koller/St. Kraft (Hrsg.): Rosa Luxemburg. Denken und Leben einer internationalen
Revolutionärin. Wien, Promedia, 2005.
A. Laschitza: Im Lebenssrausch, trotz alledem. Rosa Luxemburg. Eine Biographie.
Berlin, Aufbau-Verlag, 1996.
P. Nettl: Rosa Luxemburg. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1967.
H. Politt (Hrsg.): Nationalitätenfrage und Autonomie. Berlin, Dietz, 2012.
M. Scharrer: Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung. Stuttgart, edition
cordiliers, 1985, 2. Aufl.
G. W. Strobel: Die Partei Rosa Luxemburgs, Lenins und die SPD. Wiesbaden, Steiner,
1974.
R. Wimmer: Vier jüdische Philosophinnen. Rosa Luxemburg, Simone Weil, Edith
Stein, Hannah Arendt. Leipzig, Reclam, 1996.

Georg Lukács (1885 – 1971)

Im deutschen Sprachraum wurden Georg Lukács und Karl Korsch als zwei „anti-
revisionistische“ Marxisten häufig in einem Atemzug genannt. Wie so viele Ver-
gleiche entspricht das nicht ihrer tatsächlichen geistigen Nähe. Lukács hat auf
dem V. Weltkongress der Komintern mit Zinovev zusammen Korsch als einen Ab-
weichler angegriffen, der „zunächst den Marxismus und den Leninismus studie-
ren“ müsse. Lukács und Korsch hatten nur gemeinsam, dass sie vielfach in „ihrer
Partei“ aneckten. Der Unterschied war, dass Lukács auf seine Partei bezogen blieb,
Korsch aber die Konsequenzen zog, als er von der KPD wegen des „kleinbürger-
lichen antibolschewistischen Geistes“ angeklagt wurde (Die Rote Fahne, Jg.  8,
Nr.  218, Beilage, PT: 70), weil er vom „Roten Imperialismus“ gesprochen hatte.
Die KPD-Führung unter Ernst Thälmann hat die Opposition um Ruth Fischer als
Einheit zu behandeln versucht und sie aus der Partei gedrängt. Dennoch versuchte
Korsch sich vor der Partei vor der Konferenz der politischen Sekretäre und Re-
dakteure der KPD am 16. 4. 1926 zur rechtfertigen: „Noch eins: ihr könnt Pogrom
haben oder Diskussion. Wollt ihr Pogrom, so werde ich gleich wieder aufhören
zu sprechen, da ich ja nur auf eure Aufforderung spreche. Wollt ihr Diskussion,
so müßt ihr euch darüber klar sein, dass ich aus meiner oppositionellen Stellung
heraus einiges zu sagen habe, was nicht angenehm klingen kann für das Ohr des
hier versammelten Parteiapparates“ (PT: 73). Als zunächst parteiloser Abgeordne-
ter hat Korsch für seine Prinzipien weiter gekämpft, während Lukács eher pein-
liche Anpassungen an seine Partei vornahm, obwohl ihm seine Partei, die Ungari-
Der Marxismus in Deutschland 203

sche Kommunistische Partei, wegen seiner beharrlichen Orientierung an Goethe


und Marx ständig „Konservatismus“ vorwarf.
Georg (von) Lukács entstammte einer reichen Bankiersfamilie aus Budapest.
Das jüdische Erbe spielte nach Lukács’ Erinnerung (GL: 39) nur als „Teil des häus-
lichen Protokolls“ eine Rolle. Ihn unter der Rubrik Deutschland zu behandeln,
mag anmaßend erscheinen. Lukács selbst und andere ungarische Autoren haben
die Frage aufgeworfen, ob er mit Recht ein „ungarischer Denker“ genannt wer-
den könnte und hat sich auf die gerade im internationalen Marxismus sinnlose
Frage die rettende Formel „ein autonomer Denker mit europäischem Horizont“
zurückgezogen (T. Toth in: Bermbach/Trautmann 1987: 51, 53). Lukács (GL: 148)
hat sich im Rückblick voller Stolz als „ein ziemlich bekannter deutscher Schrift-
steller“ bezeichnet. Lukács’ politische Karriere verband ihn jedoch ausschließ-
lich mit Ungarn. Intellektuell hat er seit seinem Studium in Heidelberg ab 1912
als Schüler von Emil Lask vor allem über seine meistens auf Deutsch geschrie-
benen Werke im deutschen Sprachraum gewirkt. Lukács (GL: 59) sah den Ein-
fluss von Ernst Bloch im Rückblick als gewichtiger an als den von Lask. Hätte
man den „Ausländer und Juden“ nicht an der Habilitation gehindert, hätte das
junge Genie, von Max Weber hoch geachtet und von vielen deutschen Professoren
gefördert, auch an eine Professorenkarriere in Deutschland denken können. Ne-
ben dem Heidelberger Neukantianismus haben aber auch ungarische Theoretiker
auf ihn eingewirkt, wie Ervin Szabós „Sozialidealismus“, die gegen den „Vulgar-
materialismus“ und den „Antipsychologismus“ gerichtet waren. Szabó hat unter
dem Einfluss des Syndikalismus den Gedanken der Entwicklung und des Klassen-
kampfes mit den ethischen Forderungen des Syndikalismus in der Tradition von
Hubert Lagardelle verbunden. Die starke Betonung des „Bewusstseins“ bei Lukács
hatte jedoch auch Quellen in der deutschen Phänomenologie. Diese Verbindung
verdichtete sich im Werk von Lukács zu einer puristischen Haltung gegenüber der
politischen Macht, die er mit Rosa Luxemburg teilte. Eine idealistisch-ahistori-
sche Entfaltung des Entfremdungsphänomens durchzog das gesamte Werk von
Georg Lukács (Kammler 1974: 17).
Ende 1917 wirkte er mit Karl Mannheim, Ervin Szabó und Arnold Hauser
an der „Freien Schule für Geisteswissenschaften“. Von März bis August 1919 war
Lukács erst stellvertretender und dann Volkskommissar für das Unterrichtswe-
sen in der Räteregierung unter Béla Kun. Nach der Flucht aus Ungarn wurde er
in Wien verhaftet und erst Ende 1919 dank der Fürsprache internationaler In-
tellektueller freigelassen. Auf die Frage, wie er in Wien finanziell überlebt habe,
kam ein etwas besseres Bild als das typische Emigrantenschicksal zum Vorschein:
„Ich schrieb, verkaufte alte Sachen, und ich besaß noch alles mögliche … Irgend-
wie lebten wir“ (GL: 113). Er wurde Führungsmitglied der KPU in der Emigra-
tion in Wien. 1924 wurden gegen Korsch und Lukács, aber auch gegen den ziem-
204 Marxismus

lich orthodoxen Bordiga Vorwürfe wegen „Linksabweichung“ in der Komintern


von Bucharin vorgebracht. Lukács (GL: 127) sah in jener Zeit bereits das Bündnis
von Zinovev und Stalin entstehen und behauptete, dass kein ungarischer Partei-
führer damals wirklich Schüler Lenins gewesen sei.
Unter dem Pseudonym „Blum“ veröffentlichte Georg Lukács seine „Blum-The-
sen“. Der Übergang vom Horthy-Regime zur revolutionären Demokratie wurde
für unmöglich erklärt. Lukács stellte der Parteiansicht sein Konzept der „demo-
kratischen Diktatur“ entgegen. Die bürgerlich-demokratische und die proleta-
rische Revolution sollte nach den Blum-Thesen nicht „durch eine chinesische
Mauer voneinander getrennt werden“ (GL: 131). Nach einer Selbstkritik 1929 zog
Lukács sich aus dem Parteiapparat zurück. Er ging nach Moskau, und arbeitete
1931 – 1933 in Deutschland. 1933 – 1944 wirkte er als Emigrant in Moskau, wo er we-
gen der Thesen von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ einen Widerruf veröf-
fentlichte. Mit Lifšic beteiligte er sich am Marx-Engels-Institut an einer Kampa-
gne gegen den „Plechanovismus“ in der KPdSU und kämpfte gegen den Gedanken
einer „eigenständigen marxistischen Ästhetik“ im Namen einer „universalen
Weltanschauung des Marxismus“ (GL: 140). 1941 wurde er in Moskau wegen des
Verdachtes des „Trotzkismus“ verhaftet (GL.: 161). Er hatte Glück, denn die Hin-
richtungen wurden während des Krieges unterbrochen.
Ab 1944 wirkte Lukács als Abgeordneter und Professor. 1951 fiel er erneut in
Ungnade und zog sich aus der Politik zurück. In dem Aufstand Ungarns von 1956
wurde er Minister für Volksbildung. In der Regierung Nagy stimmte Lukács ge-
gen den Austritt aus dem Warschauer Pakt (GL: 215). Nach dem sowjetischen Ein-
marsch wurde Lukács nach Rumänien deportiert. Die Legende schmückte seine
Verhaftung aus. Als die Regierungsmitglieder aufgefordert wurden, ihre „Waffen“
abzugeben, habe Lukács seinen Füllfederhalter überreicht. Die Anekdote war zu
schön um wahr zu sein. Lukács (GL: 219) hat sie dementiert. Ab April 1957 lebte
der Philosoph von seinen Studien. In die Partei wurde er erst 1967 wieder auf-
genommen.

Geschichte und Klassenbewusstsein

1919 – 1922 schrieb Lukács acht Aufsätze, die in dem Buch „Geschichte und Klas-
senbewußtsein“ (1923) zusammengefasst wurden. Im Vorwort gab Lukács (GuK: 5)
sich bescheiden und wollte „diesen Aufsätzen keine größere Bedeutung zumuten,
als ihnen einzeln zukommen würden“. Dennoch wurde diese Sammlung zu einer
Art Kultbuch aller unabhängig denkenden Marxisten. Rosa Luxemburg war für
Lukács (GuK) „der einzige Schüler von Marx … der sein Lebenswerk im sach-
lich-ökonomischen wie im methodisch-ökonomischen Sinne wirklich weiter ge-
führt hat“. Der historische Materialismus wurde in diesem Buch mit Hegels Dia-
Der Marxismus in Deutschland 205

lektik – die er nur auf die Geschichte bezog – verknüpft. Die Entscheidungslogik,
die im Bewusstsein vermittelt wurde, wiesen Einflüsse von Heideggers Philoso-
phie auf (Goldmann 1975). Die Kritik des Kapitalismus wurde auf Grundbegriffen
wie „Klassenbewusstsein“ und „Verdinglichung“ aufgebaut (GuK: 94 ff). Aus der
verdinglichten Struktur des Bewusstseins war für Lukács (GuK: 122) die „kritische
Philosophie“ entstanden. „Wesen und Erscheinung“ hat Lukács in allen Werken
streng gesondert. Ein utopischer Zug des Denkens verband ihn mit dem Freund
Ernst Bloch – trotz zahlreicher Kontroversen. „Der Wille“ hat sich in dieser Theo-
rie über die erstarrten Gesetzmäßigkeiten der Naturdialektik des späten Engels
erhoben, und ihn zugleich in Konflikte mit den Apparatschiki der stalinisierten
Parteien bringen müssen. Später hat Lukács (GL: 125) die Verwerfung der Natur-
dialektik für einen Fehler erklärt. Lukács hat einen neuen fachphilosophischen
Zungenschlag in die Debatte eingebracht. Dem deutschen Idealismus wurde vor-
geworfen, dass er den „irrationellen“ Charakter der Gegebenheit des Begriffsin-
halts und über diese Feststellung hinaus „das System aufzurichten bestrebt ist“.
Auch Lukács litt darunter, dass „das System in seiner entfalteten Totalität“ nicht
auf einmal zu überblicken war, was die Faszination der Mathematik für die Philo-
sophie als eines methodischen Vorbildes ausmachte (GuK: 129 f). Die Suche nach
dem Systementwurf und der Erkenntnis der Totalität verband ihn mit der klassi-
schen deutschen Philosophie. Geschichte lief für Lukács auf ein absolutes, mora-
lisch konzipiertes Ziel zu: die Überwindung von Entfremdung durch ein solidari-
sches Leben der Gemeinschaft.
In einer Periode des Scheiterns der kommunistischen Revolutionen außer-
halb Sowjetrusslands stellte Lukács die Frage, warum trotz der Krise des Kapita-
lismus „die breiten Massen des Proletariats Staat, Recht und Wirtschaft der Bour-
geoisie als einzige mögliche Umwelt ihres Daseins“ wahrnähmen (GuK: 267 f).
Die Antwort lautete für ihn: die Weltanschauungsgrundlage sei die Legalität, und
eine instinktive Orientierung auf den Staat als Fixpunkt im Chaos. Die „Roman-
tik der Illegalität“, welche die revolutionäre Bewegung dieser Anschauung entge-
gensetzte, habe sich aber nur selten über das Niveau der opportunistischen Le-
galität erhoben. Durch eine putschistische Gesinnung werde „der Legalität des
bestehenden Staates immer wieder eine gewisse Geltung und kein bloßes empiri-
sches Sein zugesprochen“. Die Überwindung dieser falschen Weltanschauung, die
den Staat nicht als „bloß empirisches Sein“ erkenne, war bei Lukács letztlich auf
„Bewusstsein“ und „Willen“ aufgebaut. „Das notwendig ‚Verfrühte‘ der Machter-
greifung, das Rosa Luxemburg schon vor vielen Jahren erkannt hat“ kann nicht
nur durch Erziehung des Proletariats überwunden werden. Die Macht des Beste-
henden „muß zuerst ideologisch gebrochen werden, um erst dann in den Dienst
der neuen Gesellschaft freiwillig einzutreten“ (GuK: 271). Parallelen zu Gramscis
Hegemonie-Konzept drängten sich auf, ohne dass auf direkte Einflüsse geschlos-
206 Marxismus

sen werden kann. Aus dem Scheitern der Rätediktatur in Ungarn schloss er, dass
alle Konzessionen an die Sozialdemokratie nur das Machtbewusstsein der früher
herrschenden Klassen gestärkt habe. Die Bourgeoisie zeigte für Lukács ein „rei-
feres Bewußtsein“ als das Proletariat in ihrem Willen zu herrschen. „Im Mangel
an Gefühl für die Legitimität der Revolution, an ihr Recht eine eigene Rechtsord-
nung zu schaffen“ sah Lukács das Hauptproblem der Revolution. Die Mentalität
vieler „Sowjetfunktionäre“ und der Opportunismus der Gewerkschaftsbürokra-
tie bei der Sozialisierung haben in Ungarn die Schlacken des auf den Kapitalis-
mus gerichteten Denkens nicht abgestreift. Seine einzige Hoffnung – im Juli 1920
war dieses Kapitel verfasst worden – stellte die sowjetische Revolution dar, die mit
dem unerbittlichen Zerschmettern der inneren Gegenrevolution und einem tap-
feren Auftreten gegen die siegreichen Mächte in Brest-Litowsk ein Beispiel gege-
ben habe, wie man „den bloß taktischen Charakter von Legalität und Illegalität
begreifen lernen und sowohl legalen Kretinismus wie Romantik der Illegalität von
sich ablegen“ könne (GuK: 275). Auch das große Vorbild Rosa Luxemburg war mit
ihrer Kritik der russischen Revolution in seinen Augen einem „merkwürdig un-
dialektischen Charakter“ ihres Gedankenganges verfallen (GuK: 282), und hat die
spontanen Kräfte der Revolution überschätzt. Die Sowjetmacht hingegen hat aus
den Organisationen „regierende Kampforganisationen des siegreichen Proleta-
riats“ errichtet.
Max Weber wurde gleichsam gegen den Spontaneismus bei Luxemburg aufge-
boten. Lukács wurde in der Konstruktion seiner Idealtypen – er nannte sie freilich
anders – generell in die „formell-konstruktivistische Nähe“ zu Max Weber gestellt
(Kammler 1974: 172). Lukács hat diese Nähe später zu verwischen gesucht, als er
in der „Zerstörung der Vernunft“ auch Max Weber in die Nähe des Faschismus
rückte. Er blieb aber weiterhin – im Gegensatz zur Einschätzung Simmels – bei
seinem positiven moralischen Urteil (GL: 59) und hat in einem Interview verneint,
dass Weber vermutlich Nationalsozialist geworden wäre, wenn er lange genug ge-
lebt hätte (zit. Käsler in: Bermbach/Trautmann 1987: 83, Beiersdörfer 1986). Der
Streit um die Einflüsse Webers bleibt müßig. Was Lukács von Weber letztlich
trennte, war seine institutionen-fremde Denkweise. Aber gelegentlich erwies sich
Weber für seine Argumentation als nützlich und wurde gleichsam funktionali-
siert. Max Weber hatte in den Augen von Lukács in „Wirtschaft und Gesellschaft“
die „Objektrolle“ der formalen Demokratie besser erkannt als Rosa Luxemburg:
„Diese Objektrolle wird durch die formale Demokratie, durch die ‚Freiheit‘, die
in diesen Organisationen herrschen mag, nicht aufgehoben, sondern im Gegen-
teil fixiert und verewigt“. Resultat dieser Verkennung war für ihn das „falsche Be-
wusstsein, die objektive Unmöglichkeit durch bewusstes Handeln in den Gang
der Geschichte einzugreifen …“ (GuK: 321). Das Verhältnis von Klasse und Par-
tei war zwar durch „Klassenbewusstsein“ bestimmt, aber die Verselbständigung
Der Marxismus in Deutschland 207

der Partei, die Luxemburg und später Trockij beklagt hatten, wurde von Lukács
(GuK: 325) gerechtfertigt, als er von der „Notwendigkeit der organisatorischen
Abhängigkeit der Partei von der Klasse“ sprach. Lukács beeilte sich jedoch, die
traditionellen Abgrenzungen vom Blanquismus vorzunehmen, welche das Klas-
senbewusstsein „künstlich vom Leben und (der) Entwicklung der Klasse abson-
dert“ (GuK: 329). Die richtige Theorie konnte in seinen Augen helfen, solche Ab-
irrungen zu vermeiden.

Partei und Klasse

Nach den gescheiterten Revolutionen von 1918/19 konnte man in der Bewegung
nicht mehr unbekümmert von einer Zusammenbruchstheorie ausgehen. Auch
Lukács begann die Frage zu stellen, warum das Proletariat nicht revolutionär sei.
Einige Kommunisten machten sich die Antwort leicht: die Revolutionen scheiter-
ten aufgrund von Verrat: „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten !“ lautete da-
mals ein populärer linker Slogan. Lukács machte es sich weniger leicht. Das Schei-
tern erklärte er durch die „Weltanschauungsgrundlage der Legalität. Sie ist nicht
immer ein bewußter Verrat, ja auch nicht immer ein bewußter Kompromiß. Sie
ist vielmehr die natürliche und instinktive Orientierung nach dem Staate, dem
Gebilde, das dem Handelnden als der einzig fixe Punkt im Chaos der Erschei-
nungen vorkommt“ (GuK: 268). Auch das Proletariat hatte nicht aufgehört, dem
Staat „Geltung“, wie er in Weberschen Termini sagte, und nicht nur „empirisches
Sein“ zuzusprechen. Erziehung und Führung intellektueller Eliten mussten in sei-
nen Augen dazu führen, dass erst einmal die bürgerliche Herrschaft „ideologisch
gebrochen“ wird (GuK: 271).
Die große Theorie, die in diesem Entwurf skizzenhaft aufleuchtete, hat Lukács
bald zurückgestellt. Es überwogen Schriften zu Taktik und Strategie und mit zu-
nehmender Entfremdung vom Stalinismus die Flucht in die Literaturkritik und
Philosophie. Den Versuch, die Partei mit seinen Mitteln aufzuklären hat Ernst
Bloch (Spuren, Werkausgabe I, 1969: 185) später als Verrat seines Genies gewer-
tet, weil er einem Popanz den Weg bereitet habe. Bloch und Lukács sind viel-
fach als „Dioskuren“ eines undogmatischen Marxismus wahrgenommen worden.
Ihr Briefwechsel offenbarte jedoch handfeste Meinungsverschiedenheiten. So mo-
nierte Bloch (Briefe I: 201) den „Soziologismus“ in der „Zerstörung der Vernunft“.
Die Deduktion von politischen Theorien von sozialen und politischen Gegeben-
heiten ging Bloch entschieden zu weit: „Was ging den geistesaristokratischen und
reaktionären Schopenhauer die Klassenohnmacht des Bürgertums an ? Und vor
allem: sind durch derlei die philosophischen Probleme des Pessimismus selbst als
Scheinprobleme erschöpft ?“ Auch Schelling hat Bloch gegen den Freund in Schutz
genommen, und Einspruch gegen ein Verfahren gelegt, dass „vergangene Invekti-
208 Marxismus

ven Hegels gegen Schelling postnumerando und recht übertrieben“ neu aufgelegt
würden. Wie viele Kritiker dieses Buches stellte Bloch schon 1954 die Frage: „Von
der ‚intellektuellen Anschauung‘ geht ein gerader Weg zu Hitler ? Three cheers for
the little difference“ (Bloch: Briefe I: 201 f). Das Verhältnis der Dioskuren hat sich
zunehmend getrübt. Bloch hat sich früh von der Ästhetik bei Lukács distanziert
und 1965 fiel es ihm sogar schwer, dem „lieben Ernst“ in „der gegenwärtigen Lage
unserer Beziehungen einen Glückwunsch zu schreiben“(ebd: 172, 206).
Lukács hat sich nach den gescheiterten Revolutionen von 1919 zunehmend
mit der Organisationsdebatte in den kommunistischen Parteien und in der Kom-
intern befasst. In der ungarisch verfassten Schrift „Taktik und Ethik“ von 1919
wurden seine „syndikalistische Abneigung“ gegen eine Verfestigung der Arbei-
terbewegung deutlich: „Die Einheit des Proletariats und damit die Möglichkeit
einer Diktatur des Proletariats wurden ausschließlich durch das Proletariat selbst
geschaffen. … Die ‚Führer‘ waren nur die Vollstrecker dieses einheitlichen, sich
auf Einheit richtenden Willens“ (SIP: 38). Das Proletariat war in dieser Konzep-
tion noch nicht stark genug, um seinen Willen der Gesellschaft aufzwingen zu
können. Dieses Dilemma, der „organisatorische Ausdruck dieses inneren Ge-
gensatzes durchzog für ihn ‚die Partei‘“ (SIP: 33). Wo Rosa Luxemburg zwischen
Partei und Klasse eine Kluft sah, versuchte Lukács noch zwischen Theorie, Par-
tei und Klasse eine „dialektische Wechselwirkung“ herzustellen. Auch in „Ge-
schichte und Klassenbewußtsein“ hatte Lukács zwischen „Partei als Organisation“
und der „handelnden Trägerin des Klassenbewußtseins“ unterschieden. Die Par-
tei wurde nur soweit positiv beurteilt, als sie eine moralische Kraft darstellt, und
„vom Vertrauen der spontan-revolutionären, durch die ökonomische Entwick-
lung zur Auflehnung gezwungenen Massen gespeist“ wird (GuK: 54). Er kriti-
sierte auch Rosa Luxemburg dafür, dass sie den „organischen Charakter dieses
Prozesses“ überschätzte und das „bewusst-organisatorische Element“ dieses Pro-
zesses unterschätzte. Dennoch stand er Luxemburg näher als der Parteiführung
unter Béla Kun. Luxemburg wurde 1921 für ihre Spontaneitätsthese entschuldigt,
weil sie sich auf ein weniger entwickeltes Stadium der Revolution bezog, und es
ihr fern lag, „ewig geltende Wahrheiten“ zu verkünden (SIP: 151). Der Organisa-
tionsweise des ungarischen Zentralkomitees warf Lukács in einer Schrift, die 1922
in Wien erschien, „leeren Bürokratismus“ vor (SIP: 165). Lenins Schrift gegen den
„Linken Radikalismus“ (LW Bd. 31: 153 ff) ließ sich von der Parteibürokratie gegen
Lukács verwenden. Lukács’ Thesen konnten auch als gegen Lenin gerichtet inter-
pretiert werden. Im Rückblick hat Lukács die inzwischen gemachten Erfahrungen
mit dem Stalinismus verarbeitet. Bei Lenin sah er nun noch klare Differenzierun-
gen von Theorie, Strategie und Taktik vorliegen. Vor allem Stalin hatte für jede
noch so abwegige Maßnahme eine Identität seiner Politik mit dem Marxismus-
Leninismus konstruiert, für den er sich ein Interpretationsmonopol anmaßte (SIP:
Der Marxismus in Deutschland 209

664). Stalinismus bedeutete für Lukács den Primat des Taktischen, auf die hin die
„tiefere Einsicht zur Taktik des Handelns hinzukonstruiert wird“ (GL: 171).
Lenin hatte bereits Anstoß an Lukács’ Thesen zum Parlamentarismus genom-
men. Die Schrift hatte als Anlass den Konflikt um die Beteiligung an Wahlen. Die
deutsche KP hatte ihre Ablehnung gegen das „Parlamentieren“ nach dem Kapp-
Putsch überdacht und 1920 zwei Mandate (Paul Levi, Klara Zetkin) errungen.
Lukács plädierte dafür, das Parlament als „defensive Waffe des Proletariats“ zu
werten, um den Übergang in die Offensive vorzubereiten, und die parlamentari-
sche Tätigkeit über den Parlamentarismus hinauszutreiben. Dabei waren Gren-
zen der Legalität zu beachten. Wo die Räte durch parlamentarische Aktion der
Linken legalisiert werden sollten, sah er „parlamentarischen Kretinismus“ vorlie-
gen. Das richtete sich gegen die USPD in Deutschland. Wo ein Arbeiterrat mög-
lich ist, war für ihn der Parlamentarismus nicht nur überflüssig, sondern sogar ge-
fährlich (SIP: 135).
Ein origineller Beitrag zu den Organisationsfragen fand sich in den Blum-
Thesen, in der das Programm der „demokratischen Diktatur“ entwickelt wurde
(1928/29). Die demokratische Diktatur war für Lukács (SIP: 307 f) eine vollkom-
mene Verwirklichung der bürgerlichen Demokratie, „eine dialektische Über-
gangsform zur Revolution des Proletariats – oder zur Konterrevolution“. Die The-
sen bekamen durch die vergleichende Perspektive ihr Gewicht. Die ungarische
Entwicklung wurde der italienischen oder englischen gegenüber gestellt. Die Nie-
derlage der Revolution in Ungarn hatte in seinen Augen „kleinbürgerliche und
mittelbäuerliche Schichten an die Macht“ gebracht. Es gelang ihnen weder die
Gewerkschaften zu zerschlagen, noch – wie bei Mussolini – in der Arbeiterschaft
Anhänger zu gewinnen. Die Betonung des Klassenkampfes auf der Ebene des Be-
triebes (SIP: 322) wurde von der Partei als „anarcho-syndikalistische Abweichung“
abgetan.
Zwei neue Gedankengänge erregten Anstoß: die Aufzeichnung eines spezifisch
ungarischen Weges, der in der Literatur als vorweggenommene nationalkommu-
nistische Theorie der Volksdemokratie empfunden worden ist (Ludz 1967: LI) und
die diskrete Kritik an der Bolschewisierung der nationalen kommunistischen Par-
teien. Die Revolutionstheorie Lukács’ wurde von der ungarischen Partei als his-
torisch falsch angesehen, weil nicht die bürgerlich-demokratische, sondern eine
proletarische Revolution bevorstehe. 1929 widerrief Lukács die Blum-Thesen. 1956
kam es zum „Widerruf des Widerrufs“. Lukács machte geltend, dass seine Thesen
nicht von seiner damaligen Überzeugung diktiert gewesen seien, sondern von der
Rücksicht auf die ungarische Partei unter Béla Kun, die vom Ausschluss aus der
Komintern bedroht wurde (SIP: 763). Lukács hatte selbst der „Landler-Fraktion“
angehört, die der syndikalistischen Abweichung verdächtigt wurde. Der Konflikt
entzündete sich am „contracting-in“, d. h. ein Parteibeitrag war in jedem Gewerk-
210 Marxismus

schaftsbeitrag enthalten. Kun und seine Fraktion hielten diese Regelung für Prin-
zipienlosigkeit, Landler und Lukács hielten die Symbiose für sinnvoll (GL: 121).
Trotz der Irrtümer dieser Fraktion glaubte Lukács im Rückblick, dass diese für die
damalige Etappe der Entwicklung zu Recht nach einer „legalen Opposition“ für
die Gewerkschaften gestrebt habe. Lukács argumentierte, dass seine literarische
Tätigkeit nach 1930 davon zeuge, dass er von seinen wesentlichen Grundsätzen
der Blum-Thesen niemals abgekommen sei. Einigen syndikalistischen Übereifer
in den Blum-Thesen gab Lukács zu, rechtfertigte ihn aber mit der notwendigen
Verteidigung gegen das Sektierertum in der Partei und der drohenden Spaltung
der Kun- und Landler-Fraktionen.
Die Kritik an Lukács verstummte auch in der Ära Chruschtschow nicht.
Lukács wurde vorgeworfen, durch „abstrakte Reden von einem Widerspruch
zwischen Demokratie und Antidemokratie ‚überhaupt‘ „den Hauptwiderspruch“
zwischen Sozialismus und Kapitalismus „verschleiert“ zu haben (SIP: 775). Trotz
der honorigen Erklärungen über seinen ideologischen Zick-zack-Kurs hat Lukács
manches verschlimmbessert: der eigenwillige Philosoph offenbarte, in welchem
Ausmaß auch unabhängige Geister bereits von der Überwucherung der Theorie
durch taktische Erwägungen korrumpiert waren. Lukács hat immer wieder ver-
sucht, sich an seine Partei anzupassen, wo Korsch mit ihr brach, und das Odium
des linken Volksmundes auf sich nahm: „Wo ist Korsch ? – Er sitzt auf seinem Zim-
mer und hat Recht“. Thomas Mann hat Lukács in der Gestalt des Jesuiten Naphta
im „Zauberberg“, der zu intelligent war, um in seiner Organisation im Kampf um
die Weltherrschaft sich voll einordnen zu können, ein literarisches Denkmal ge-
setzt. Lukács (GL. 153) empfand diese Persiflage eher als ehrenvoll.
Der Vorwurf des „Opportunismus“ in den Parteidokumenten war nicht un-
zutreffend – wenn auch in anderer Weise als das die Parteiapparatschiki meinten.
Lukács hat noch im August 1956 auf die Frage, was seiner Ansicht nach gesche-
hen müsse, wenn es in Ungarn zum Aufstand komme, geantwortet: „Gewaltsam
beenden !“. Zwei Monate später stellte er sich dem Revolutionsregime unter Nagy
als Minister zur Verfügung. Gelegentlich wurde bei dem eingefleischten Hegelia-
ner Lukács der Opportunismus auch als „List der Vernunft“ zum Guten der Frei-
heit eingesetzt. Das Scheitern von Georg Lukács als Politiker hatte einen Vorteil: er
zog sich in philosophiegeschichtliche und literaturkritische Forschungen zurück.
Seine politischen Aufsätze haben nur noch zeithistorischen Wert. „Geschichte
und Klassenbewußtsein“ blieb einer der großen Torsi eigenständiger Weiterent-
wicklung der Ideen von Karl Marx, wie sie von Labriola bis Korsch nur selten ge-
schaffen wurden. Sein eigentliches Lebenswerk blieben die Arbeiten zur Litera-
tur – auch sie stets umstritten, aber von immer noch lesenswerter Originalität.
Der Marxismus in Deutschland 211

Quellen
Lukács: Werke. Neuwied, Luchterhand, 1962 ff.
Lukács: Schriften zur Ideologie und Politik (Hrsg.: P.Ludz). Neuwied, Luchterhand,
1967 (zit: SIP).
Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik.
Berlin, Malik, 1923 (abgedruckt in: Werke, Bd. II, 1968 (zit: GuK).
Lukács: Politische Aufsätze 1918 – 1929 (Hrsg.: J. Kammler/F. Benseler). Darmstadt,
Luchterhand, 1975 – 1979, 5 Bde.
Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. Budapest, Akademiai Kiado/Berlin, Aufbau-
Verlag, 1954. Auch in: Werke, Bd. 9.
Lukács: Briefwechsel 1902 – 1917 (Hrsg.: É. Karádi/É. Fekete). Stuttgart, Metzler-
Poeschel, 1982.
Lukács: Gelebtes Leben. Eine Autobiographie im Dialog (Red: I. Eörsi). Frankfurt,
Suhrkamp, 1981 (zit: GL).
K. Korsch: Politische Texte (Hrsg.: E. Gerlach/J. Seifert). Frankfurt, EVA, 1974 (zit:
PT).
K. Korsch: Die materialistische Geschichtsauffassung und andere Schriften (Hrsg.:
E. Gerlach). Frankfurt, EVA, 1971 (zit: MG).
E. Bloch: Briefe 1903 – 1975 (Hrsg.: Karola Bloch u. a.). Frankfurt, Suhrkamp, 1985,
2 Bde.
E. Bloch: Werkausgabe. Frankfurt, Suhrkamp, 1959 – 1978, 16 Bde.

Literatur
K. Beiersdörfer: Max Weber und Georg Lukács. Frankfurt, Campus, 1986.
F. Benseler: Revolutionäres Denken – Georg Lukàcs. Eine Einführung in Leben und
Werk. Neuwied, Luchterhand, 1984.
U. Bermbach/G. Trautmann (Hrsg.): Georg Lukács. Kultur, Politik, Ontologie.
Opladen, Westdeutscher Verlag, 1987.
D. Claussen (Hrsg.): Blick zurück auf Lenin. Georg Lukács, die Oktoberrevolution
und die Perestroika. Neuwieukacs, Gd, Luchterhand, 1990.
L. Goldmann: Lukács und Heidegger. Darmstadt, Luchterhand, 1975.
A. Grunenberg: Bürger und Revolutionär. Georg Lukács 1918 bis 1928. Köln,
Europäische Verlagsanstalt, 1976.
J. Kammler: Politische Theorie von Georg Lukács. Darmstadt, Luchterhand, 1974.
G. Lichtheim: Georg Lukács. München, DTV, 1971.
F. Lövenich: Kulturindustrialisierung der Philosophie. Georg Lukács’ Philosophie-
soziologie der Zerstörung der Vernunft. Paderborn, Schöningh, 1990.
P. Ludz: Der Begriff der ‚demokratischen Diktatur‘ in der politischen Philosophie
von Georg Lukács. In: Schriften zur Ideologie und Politik. Neuwied, Luchterhand
1967: XVII – LV.
212 Marxismus

2 Marxismus in Russland: Plechanov, Lenin und Trotzki

Georgij Valentinovič Plechanov (1856 – 1918)

In den 1860er Jahren kam es zu einer Welle der Rezeption des Marxismus unter
den Radikalen in Russland. Marx wurde jedoch sehr selektiv rezipiert. Im Zen-
trum standen seine ökonomischen Schriften. Soweit seine politischen Schriften
zur Kenntnis genommen wurden, war Marx den radikalen „Aufständlern“ (bun-
tari) noch zu parlamentarisch (Pipes 1970: 45). Engels rächte sich für solche Ein-
seitigkeiten des Urteils und machte die russischen Radikalen als „das auserwählte
Volk des Sozialismus“ lächerlich (MEW Bd. 18: 536 ff) Plechanov galt als der „Va-
ter des russischen Marxismus“. Daran änderte auch der Versuch nichts, Struve
als den zunächst bekannteren Theoretiker herauszustellen (Pipes 1970: 51). Pipes
übertrieb wenn er behauptete, dass mangels Detailkenntnissen Marx und Engels
noch in den 1890er Jahren für zwei deutsche Ökonomen gehalten wurden, welche
den russischen „mir“ bewunderten und die Terror-Taktik guthießen. Beides traf
bekanntlich nicht zu. Richtig an dieser Übertreibung war jedoch, dass Struve der
originellere Ökonom im Vergleich zu Plechanov war. Struves Variante eines auf-
geklärten „Marxianertums“ ohne dogmatischen „Marxismus“ war weit verbrei-
tet. Marx wurde noch immer überwiegend als Ökonom in Russland wahrgenom-
men. Plechanovs Werke waren in Russland vor 1895 relativ unbekannt. Die Zensur
hat die Einfuhr radikaler Schriften von linken Emigranten ziemlich effektiv ver-
hindert. Liberale oder „legale“ Populisten, wie Daniel’son und Ziber haben vor
Plechanov die Marxsche Theorie adaptiert. Zibers Werke sollen dazu beigetragen
haben, dass Plechanov von seinen populistischen Positionen abrückte und sich
dem Marxismus zuwandte. Ebenso einflussreich war Maksim Kovalevskij Buch
über den Zerfall der Dorfgemeinde (Fomina 1957: 27).
Die revolutionäre Karriere Plechanovs begann bereits im Alter von 19 Jahren.
Fünf Jahre lang war er Organisator und Agitator, der mit einem Revolver unter
dem Bett schlafen musste (Baron 1963: VIII). Plechanov entstammte einer Fami-
lie tatarischer Herkunft aus dem niederen Adel. Der Vater besaß nur 50 Seelen.
Plechanov wandte sich dem Studium des Bergbaus zu, das eigentlich wenig zu sei-
nen philosophischen und künstlerischen Interessen passte. In der revolutionären
Organisation „Zemlja i volja“ spielte Plechanov eine führende Rolle. Als die Po-
lizei ihn jagte, entwich er ins Ausland. Meist hielt er sich in Berlin auf, obwohl er
den antirevolutionären Geist der deutschen Sozialdemokratie mit dem üblichen
russischen Intelligenzler-Aristokratismus verachtete. „Zemlja i volja“ begann sich
ein Parteiprogramm zu geben. Die Organisation war von bakuninistischem Zu-
schnitt – elitär und geheimbündlerisch, ein Modell, das nicht ohne Einfluss auf
Lenin bleiben sollte. Mitte 1877 kam Plechanov nach Russland zurück. In seiner
Marxismus in Russland 213

agitatorischen Arbeit war Vera Ivanovna Zasulič (1844 – 1919) seine engste Mitar-
beiterin. Aus der Familie eines kleinen Grundbesitzers wie Plechanov machte sie
sich schon früh als Nihilistin mit unkonventioneller Lebensweise einen Namen.
1878 hat sie auf den Polizeipräsidenten von Petersburg geschossen, der für seine
Grausamkeit bekannt war. Das unerhörte geschah: ein Gericht sprach sie frei. Wie
Plechanov neigte sie später zu den Menschewiken.
Im Sommer 1879 war der „Gang ins Volk“ als aussichtslos erkannt worden.
Die Organisation der Narodniki „Land und Freiheit“ (Zemlja i volja) spaltete sich
in eine terroristische Organisation, die „Narodnaja volja“ (Volkswille) und den
„černyj peredel“ (Schwarze Umverteidlung). Plechanov war in der zweiten Grup-
pierung, die praktische Arbeit vor Ort leistete. Nach der Ermordung des Zaren
Alexander zeigte sich, dass auch die terroristische Taktik keinen Umsturz des Sys-
tems bewirken konnte, und das Narodničestvo geriet in eine Krise.
Die Attentate von 1878 und 1879 wurden von Leuten ausgeführt, die der
Zemlja i volja-Bewegung nahe standen. Aber die Organisation hat diese spektaku-
lären Aktionen nicht selbst geplant und sie wurden nicht in ihrem Namen verübt.
Plechanov war damals nicht strikt gegen jeden Terror. Aber er blieb Lavrov-An-
hänger in seiner Ablehnung von Morden. Vera Zasulič’s Tat hat er noch als spon-
tane Empörung des Volkes gebilligt, aber er wollte keine weiteren Attentate, vor
allem keines gegen den Zaren. Seine Vorstellung von Terror war eher basis-nah:
Terror in Fabriken und auf dem Lande – ohne Morde. Diese Linie setzte sich in
der Zeitschrift „Zemlja i volja“ schließlich durch, sodass man Plechanov die pro-
grammatischen Grundsatzartikel zugeschrieben hat (Baron 1963: 35). 1880 musste
Plechanov mit anderen führenden Mitgliedern der „Schwarzen Umverteilung“ in
den Westen fliehen. Das geschah im letzten Augenblick, denn kurz danach wur-
den die im Lande verbliebenen Mitglieder der Organisation verhaftet. Lavrov hat
den mittellosen Plechanov im Exil zunächst auch finanziell unterstützt. Der Ein-
fluss der russischen Behörden gegen den „Staatsfeind“ Plechanov reichte immer-
hin so weit, dass man in Genf der Frau Plechanovs, einer Ärztin, keine Approba-
tion gab.
Die Umorientierung der emigrierten „Kader“ der Schwarzen Umverteilung
vollzog sich schrittweise. Vera Zasulič vermochte mit weiblicher Hartnäckigkeit
dem alten Marx kurz vor dem Tod noch ein Bekenntnis abzuringen, dass die
Narodniki gern benutzten. Marx schrieb am 8.März 1881 der „lieben Bürgerin“ auf
Französisch: „Die im ‚Kapital‘ gegebene Analyse enthält also keinerlei Beweise –
weder für noch gegen die Lebensfähigkeit der Dorfgemeinde, aber das Spezialstu-
dium, das ich darüber getrieben und wofür ich mir Material aus Originalquellen
beschafft habe, hat mich davon überzeugt, dass diese Dorfgemeinde der Stütz-
punkt der sozialen Wiedergeburt Russlands ist; damit sie aber in diesem Sinne
wirken kann, müsste man zuerst die zerstörenden Einflüsse, die von allen Seiten
214 Marxismus

auf sie einstürmen, beseitigen, und ihr sodann die normalen Bedingungen einer
natürlichen Entwicklung sichern“ (MEW Bd. 19: 243). Genau diese Einschränkung
im zweiten Satz suchten die Narodniki durch Beseitigung der „zerstörenden Ein-
flüsse“ zu ihren Gunsten zu wenden. Was unerörtert blieb, was die „natürliche
Entwicklung“ schließlich sein würde. Die Marxsche Theorie konnte langfristig
nur die Auflösung der Dorfgemeinde im Auge haben. Allenfalls vorübergehend
schien die „obščina“ als organisatorischer Anknüpfungspunkt für die revolutio-
näre Bewegung geeignet. Die Narodniki haben solche Einschränkungen und Dif-
ferenzierungen jedoch schwerlich wahrgenommen und Marx dahingehend miss-
verstanden, dass er für die Möglichkeit eines Überspringens des kapitalistischen
Stadiums in Russland eingetreten sei.
Im Westen entdeckte Plechanov, dass die Arbeiter weit eher für den Sozialis-
mus zu gewinnen waren als die Bauern. In der ersten politischen Schrift „Sozia-
lismus und politischer Kampf “ (1883) rückte Plechanov von der bakuninistischen
Richtung ab und begann sich für den Kampf um Menschenrechte nach west-
lichem Vorbild zu interessieren (IFP I: 99, 11o). In der Schrift „Unsere Meinungs-
verschiedenheiten“ kam es zu einer theoretischen Ablösung von Lavrov – noch
voller Respekt und ohne die wüste Polemik, die Plechanovs Spätstil vergiftete. Er
setzte sich mit den Narodniki von Herzen bis Tkačëv auseinander und erläuterte
die Ziele der Gruppe „Osvoboždenie truda“ (Befreiung der Arbeit), die der erste
russische marxistische Zirkel wurde (IFS I: 187). Typisch russisch war diese Ent-
wicklung: Die intellektuelle Befreiungsgruppe ging der Organisation der Arbei-
terbewegung im Lande voran. In dem Programm der Gruppe von 1884, das im
Ganzen eher aufklärerisch klang, kam der unbegreifliche Satz vor: „Die Gruppe
Befreiung der Arbeit erkennt gleichzeitig die Notwendigkeit des terroristischen
Kampfes gegen die absolute Herrschaft an und trennte sich von der Partei ‚Narod-
naja Volja‘ nur wegen der Frage um die sogenannte Machtergreifung der revolu-
tionären Partei“ (IFP I: 375). Angesichts dieses Rückfalls war es verständlich, dass
Engels die ersten schriftlichen Äußerungen Plechanovs im Westen eher kühl auf-
nahm. Das zeigte ein Brief von Engels an Vera Zasulič: Er wollte sich offenbar in-
haltlich nicht äußern, weil er um das enge Verhältnis von Plechanov und Zasulič
wusste und schützte Zeitmangel vor – nicht ohne zu erwähnen, dass er ziemlich
mühelos Russisch lese (MEW Bd. 36: 3o3). Erst 1889 kam es zu einer persönlichen
Begegnung mit Engels und zu einem freundschaftlichen Kooperationsverhältnis.
Über den Rückfall Plechanovs in den Terrorismus ist viel gerätselt worden. Es
scheint so, dass in der Emigration die Fraktionsdifferenzen sich optisch verklei-
nerten. Axelrod brachte die Nachricht aus Russland, beide Gruppen würden bald
wieder fusionieren. Einzelne Emigranten wie Vera Zasulič und Deutsch wurden
von dem Phänomen der „klammheimlichen Freude“ erfasst, als die Nachricht ein-
traf, dass der Zar von Narodovolcen ermordet worden war.
Marxismus in Russland 215

Das zweite Programm der Gruppe, das auch aus Plechanovs Feder stammte,
wurde bereits auf den Charakter einer Arbeiterpartei zugeschnitten. Es war von
„russischen Sozialdemokraten“ die Rede (IFP I: 377 – 381). Die populistische Be-
tonung der Rolle der Intelligenz, die Engels am ersten Programm missfallen ha-
ben dürfte, war nun gemildert. Zwei Jahrzehnte widmete Plechanov in seinen po-
litischen Schriften dem Kampf gegen die Narodniki. 1895 wurde in „Zur Frage
der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung“ mit großem Aufwand
an Literatur – einschließlich der westlichen staatsrechtlichen und soziologischen
Literatur von Stammler bis Simmel – erneut die eigene Position herausgearbei-
tet. 1898 hat Plechanov in der Schrift „Zur Frage der Rolle der Persönlichkeit in
der Geschichte“ (IFP II: 3oo – 334) noch einmal die Geschichtsauffassung der Na-
rodniki angegriffen. Der Ton wurde zunehmend schärfer: „Die Herren Subjekti-
visten sind gute Märchenerzähler … aber das ist alles … noch nie haben Märchen
die historische Bewegung eines Volkes verändert“. Die Rolle der Intelligenz und
der großen Persönlichkeiten wurden von Plechanov herunter gespielt. Er fand,
dass das „persönliche Element in der Geschichte absolut keine Bedeutung hat“. Er
kritisierte die Geschichtswissenschaft, welche die Masse als Akteur nicht kenne
(1954: 844), aber er beeilte sich freilich, den Marxismus gegen den Vorwurf in
Schutz zu nehmen, dass er die Persönlichkeit vernachlässige. Er bestand aber dar-
auf, dass nach der marxistischen Konzeption die Persönlichkeiten nur im Rahmen
der Produktivkräfte und ihrer Klassen wirkten (1954: 441).
Plechanov war das Haupt der Marxisten in der Emigration. Aber er hatte we-
nig Anteil an der Entwicklung der Partei in Russland. 1898 wurde in Minsk ein
Gründungskongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei abge-
halten. Die Führer der Bewegung wie Lenin, Martov oder Potresov waren im Exil
in Sibirien. Die Emigranten konnten ebenfalls nicht wagen, für diesen Kongress
anzureisen. Der Kongress trennte sich ohne Programm oder Statuten. Pëtr Struve
hat nach dem Kongress ein Programm verfasst. Viele hätten diese Aufgabe lieber
dem heimlichen „Chefideologen“ Plechanov anvertraut, aber der Jüdische Bund,
die mitgliederstärkste Unterorganisation, setzte Struve durch.
Im Revisionismusstreit hat Kautsky Plechanov die erste Polemik gegen Bern-
stein anvertraut, als er selbst kritisiert wurde, weil er Bernsteins Thesen ohne
Kommentar in „Die Neue Zeit“ abdruckte. Plechanov übernahm die Aufgabe nur
zögernd. In einem Brief an Akselrod fand er Bernstein noch immer einen „ver-
dienten Genossen“. An Kautsky schrieb er, dass er sich nicht gern in die inneren
Angelegenheiten der deutschen Sozialdemokratie einmische (Soč XI: 38). Trotz
dieses Zögerns ging das polemische Temperament mit Plechanov durch. Die Re-
plik fiel so scharf aus, dass Kautsky einige beleidigende Passagen strich. Plecha-
nov wollte nun eine ganze Kampagne gegen den Revisionismus organisieren
und beklagte, dass die „Zentristen“ daran nicht interessiert seien, sodass selbst
216 Marxismus

Kautsky – der eine Anti-Bernstein-Schrift verfasst hatte – schon als „Versöhnler“


gebrandmarkt wurde (IFP II: 374 ff). Nur Rosa Luxemburg und Franz Mehring ha-
ben damals ähnlich scharf Stellung genommen wie Plechanov. Als Verteidiger der
Orthodoxie wehrte sich Plechanov gegen das Eindringen des Neukantianismus in
die Theorie des Sozialismus. Seine Argumentation gegen Bernstein blieb auf der
philosophischen Ebene. Dort, wo der Revisionismus für die Orthodoxie eigentlich
gefährlich schien, in der ökonomischen Argumentation, hat Plechanov nichts We-
sentliches beigetragen.
Nach der Schärfe der Position gegen Bernstein erwartete man von Plecha-
nov eine harte Verurteilung des russischen Frührevisionismus in den Thesen Pëtr
Struves, zumal Plechanov persönlich durchaus verschnupft gewesen war, dass
man Struve und nicht ihn mit der Verfassung eines Programms für die Partei be-
traut hatte. Die legalen Marxisten, vor allem Struve, hatten vielfach unter der Po-
lemik von Plechanovs Emigrantenzeitschriften zu leiden gehabt. Plechanov hatte
in 37 Jahren Emigration den Kontakt zur russischen Realität verloren und kom-
pensierte die Information, welche die „Legalen“ vor Ort hatten, durch orthodoxe
Scherbengerichte im Namen der Theorien von Karl Marx. Struve galt ab 1901 als
liberaler Verräter, aber gerade dieses stimmte Plechanov milde, da er zunehmend
die Meinung entwickelte, dass man die Liberalen als möglichen Bündnispartner
nicht verprellen dürfe. Plechanov und Akselrod haben die Schärfe der Leninschen
Reaktion auf Struve noch abgemildert – wie scharf muss das Original gewesen
sein, wo doch die gedruckte Version schon diffamierend genug klang.
1903 kam es zum Spaltungsparteitag in Brüssel und London. Noch stand
Plechanov für kurze Zeit auf Lenins Seite, sowohl hinsichtlich des Zentralismus
der Leitung als auch in der elitären Konzeption der Mitgliedschaft in einer Par-
tei von Berufsrevolutionären. In einer Parteitagsrede hat er noch Abstriche von
der innerparteilichen Demokratie befürwortet, wenn die Sache der Revolution
dies erfordere (zit: Kołakowski II: 392). Plechanov blieb nicht lange Bolsche-
wik. Sein Glaube an deterministische Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung hat
ihn rasch in Gegensatz zu den revolutionären Voluntaristen um Lenin gebracht.
Plechanov versuchte anfangs noch zu vermitteln. Ein wenig geeigneter Vermitt-
lungsversuch war der Rücktritt von der Herausgeberschaft der „Iskra“ und die
Niederlegung seiner Ämter in der Partei (Soč XIII: 226). Plechanov tendierte zu
den Menschewiken und sprach den Bolschewiki die Fähigkeit zum dialektischen
Denken ab. Die Schärfe der neuerlichen Polemik las sich wie eine Reprise des frü-
heren Absetzmanövers von den Positionen der terroristischen „Narodnaja volja“.
Er schrieb damals: „Wenn Marx und Engels incognito zu einem Meeting kämen,
das unsere Bolschewiken mit revolutionärer Eloquenz abhalten, würden sie für
ihre Mäßigung kritisiert und als ‚Kadetten-artige-Marxisten‘ etikettiert werden“
(Soč XIII: 251).
Marxismus in Russland 217

In der Revolution von 1905 hatte der über Fünfzigjährige tuberkulosekranke


Plechanov nicht mehr den Schwung, konstruktiv und flexibel in die revolutionäre
Debatte einzugreifen. Sein orthodoxer Determinismus ließ ihn überall „blanquis-
tisches Abenteurertum“ wittern. Die Rückkehr nach Russland wäre politisch mög-
lich gewesen, aber Plechanovs Krankheit hat sie verhindert. Plechanov hat darun-
ter stark gelitten, und fühlte sich als ob er vom „Schlachtfeld desertiert“ sei (Soč
XIII: 192). Selbst die Menschewiki waren anfangs gegen seine harsche Verurtei-
lung des Boykotts der Duma. Plechanov bekam den Beifall zunehmender vom
„Klassenfeind“, dem Liberalenführer Miljukov. In seinen Schriften hat er zuneh-
mend den Intelligenzler-Aristokratismus, der sich als „Demiurg der Geschichte“
fühle, gebrandmarkt (IFS IV: 325). Von den Leninisten wurde er daher in die Nähe
des „Ökonomismus“ gerückt, einer syndikalistischen Strömung, welche die Lei-
tung der Bewegung durch die Arbeiter selbst propagierte.
Im ersten Weltkrieg wurde Plechanov (1914) zum glühenden Anhänger der
Kriegführung gegen Deutschland. Streiks schienen dem „Vater der Revolution“
unter Kriegsbedingungen nun schon als ein „Verbrechen“. Nach dem Sturz des
Zaren ließ sich Plechanov von der Heimkehr nach Russland nicht mehr abhalten,
obwohl seine Gesundheit noch schlechter war als 19o5. Die Alliierten haben diese
Rückkehr aus egoistischen Motiven betrieben, wie die Deutschen Lenin die Rück-
kehr ermöglichten. Jede Seite versuchte die Propagandisten für ihre Sache einzu-
schleusen. Plechanov erhielt einen stürmischen Empfang. Aber seine ersten Stel-
lungnahmen enttäuschten alle Fraktionen der Linken. Selbst die Landfrage wollte
er nun der Konstituierenden Versammlung überlassen und nahm Stellung gegen
überhöhte Forderungen an die Arbeitgeber. Politisch trat er für eine Art „union
sacrée“ einer Allparteienregierung ein (Gnr I: 9o). 1917 hätte Plechanov am liebs-
ten eine friedliche Machtübernahme des Proletariats gesehen (Gnr I: 246). Die
Oktoberrevolution verurteilte er, weil sie nicht zum Sozialismus sondern zum
Bürgerkrieg führen werde – keine ganz falsche Prognose. In seinem determinis-
tischen Schema war zunächst nur eine bürgerliche Vorherrschaft vorgesehen. Er
hielt es für ungerecht, „die Konterrevolution in den Taschen des Herrn Miljukov
zu suchen“ und bescheinigte den liberalen Kadetten, eine antirestaurative Partei
darzustellen – obwohl Miljukov sich in der Staatsformfrage keineswegs als zuver-
lässig erwies. Plechanov begann sich selbst mit den Menschewiki anzulegen, die er
als „Semi-Leninisten“ beschimpfte. Als sein Name als Arbeitsminister vorgeschla-
gen wurde, kam es zum Veto aus der Rätebewegung. Der ethische Sozialismus
neukantianischer Prägung, den er im Revisionismus-Streit so hart verurteilt hatte,
erfasste ihn nun selbst. Dass der Putschist Kornilov erwog, Plechanov in sein
Kabinett aufzunehmen, war fast eine Beleidigung. In der Zeitschrift „Edinstvo“
(Einheit) publizierte Plechanov flammende Aufrufe gegen die Oktoberrevolu-
tion. Kurz darauf wurde das Blatt verboten. Der Vater des russischen Marxismus
218 Marxismus

wurde totgeschwiegen. Einem ausländischen Besucher soll er im Anblick der Pe-


ter-und-Paulsfestung angedeutet haben, dass er wohl er nächste sei, der dort lan-
den würde (Baron 1963: 352). Dieses Schicksal blieb ihm erspart. Als Rote Garden
seine Wohnung durchsuchten, wurde ein Posten vor die Tür gestellt, um Plecha-
nov zu schützen. Im Mai 1918 starb Plechanov und wurde neben seinem bewun-
derten Verwandten Belinskij begraben. Viele Arbeiter haben den Rat der Behör-
den, die Beerdigung zu boykottieren, nicht befolgt.
Plechanovs Werk war vor allem durch die Literatur- und Kunstkritik bedeut-
sam. Die Leninisten haben aber auch seine Rolle als Philosoph in der Frühzeit ge-
lobt und seine Werke ediert. Er empfand sich wie eine Inkarnation des revolutio-
nären Russland, und hat die Zeitschrift „Iskra“ wie sein Privateigentum dirigiert.
Eine politische Theorie im engeren Sinn hat Plechanov nicht entwickelt. Seine
formalistische Konzeption eines deterministischen historischen Materialismus
hat ihn in der Politik unflexibel werden lassen. Die Leugnung des Unterschieds
von Natur- und Sozialwissenschaften haben den Schematismus seiner Werke ver-
stärkt. Die gewisse Trockenheit seiner philosophischen Abhandlungen wurde auf-
gelockert durch eine ins Kraut schießende Polemik, die Lenin auf die Spitze trei-
ben sollte.

Quellen
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Plechanov: Izbrannye filosofskie proizvedenija v pjati tomach. Moskau, Politizdat,
1956 – 1958, 5 Bde (zit: IFP).
Plechanov: O vojne. Paris.Union, 1914.
Plechanov: God na rodine. Polnoe sobranie statej i rečej. 1917 – 1918. Paris, Povolozky,
1921, 2 Bde (zit:Gnr).
Plechanov: Die materialistische Geschichtsauffassung. Berlin, Dietz, 1958, 2. Aufl.
Plechanov: Grundprobleme des Marxismus. Berlin, Dietz, 1958.
Plechanov: Kunst und Literatur. Berlin, Dietz, 1954.

Literatur
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Press, 1963, 1966.
G. M. Čičerin: Plechanov und Lenin. Studien zur Geschichte des Hegelianismus in
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W. A. Fomina: Die philosophischen Anschauungen G. W. Plechanows. Berlin, Dietz,
1957.
M. Jowtschuk/I. Kurbatowa: G. W. Plechanow. Eine Biographie. Berlin, Dietz, 1983.
R. Pipes: Struve. Liberal from the Left. Cambridge/Mass, Harvard University Press,
1970.
Marxismus in Russland 219

J. Plamenatz: German Marxism and Russian Communism. London, Longmans


Green, 1954.
D. Rjazanov: Plechanov I gruppa Osvoboždenija Truda. Petrograd, Novij Mir, 1906
1918, 3. Aufl.
St. Tjutjugin: G. V. Plechanov: sud’ba russkogo Marksista. Moskau, ROSSPEN, 1997.
J. Ch. Traut: Plechanov und das russische Volkstümlertum. München, Parvus, 1976.
Th. Ziemke: Marxismus und Narodničestvo. Frankfurt, Lang, 1980.
G. Zinov’ev: G. V. Plechanov. Petrograd, 1918.

Vladimir Il’ič Lenin (Uljanov) (1870 – 1924)

Lenin ist der einzige Praktiker der Politik, der an die Macht kam in diesen drei
Bänden, der wahrscheinlich auch als Theoretiker behandelt worden wäre, wenn
er nicht eine so herausragende politische Rolle gespielt hätte. Im Gegensatz zu
Plechanov, der in der internationalen Arbeiterbewegung eine anerkannte Auto-
rität in der Theoriebildung war, haben auch marxistische Lobredner des „Philo-
sophen“ Lenin zugegeben, dass er im Konflikt zwischen Theorie und Praxis im-
mer der politischen Aktivität Priorität gab (Lukács 1967: 98, Pannekoek 1969:
110 f). Lenin stammte aus einer mittelständischen Familie in Simbirsk. Der Va-
ter hatte sich aus kleinen Verhältnissen bis in den unteren Adelsstand emporge-
arbeitet. Lenins älterer Bruder Aleksandr Ul’janov war an der Vorbereitung eines
Attentats auf den Zaren beteiligt und wurde 1887 hingerichtet. Lenin ist als Stu-
dent wegen einer unpolitischen Lappalie an der Universität Kazan relegiert wor-
den. 1891 machte er in Petersburg seine juristische Prüfung mit Auszeichnung.
Den Beruf hat er kaum ausgeübt. Von weniger als einem Dutzend Fällen, die er
verteidigte, hat er fast alle Prozesse verloren. Aber es ging ihm bei seiner Anwalts-
tätigkeit nicht um Broterwerb, sondern um politische Demonstration von Unge-
rechtigkeit. 1895 kam Lenin im Ausland mit Plechanov und Kautsky zusammen.
Im gleichen Jahr wurde der Kampfbund „Sojuz bor’by za osvoboždenie rabočego
klassa“ ausgehoben. Lenin wurde verhaftet und für drei Jahre nach Sibirien ge-
schickt. Nadežda Krupskaja (1869 – 1939), seine Lebensgefährtin, folgte ihm in die
Verbannung. 1899 trat er der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei,
die im März 1898 gegründet worden war. 19o1 emigrierte Lenin nach Westeuropa.
Mit Martov (1873 – 1923) und Potresov (1869 – 1934), Plechanov, Aksel’rod und Vera
Zasulič gab er die Zeitschrift „Iskra“ (1900 – 1903) heraus. Er organisierte vor al-
lem das Agentennetz, das die Zeitschrift illegal in Russland vertrieb. 1903 zerbrach
die Iskra-Gruppe an der Frage der Parteiorganisation. Durch Zufall erhielt Lenins
Gefolgschaft die Mehrheit und nannte sich „Bolschewiki“ (Mehrheitsgruppe). Die
Gegner um Martov wurden als Minderheitsgruppe (Menschewiki) terminolo-
220 Marxismus

gisch verkleinert, obwohl sie im Lande weit mehr Anhänger besaßen. Plechanov
hat Lenin nur kurze Zeit unterstützt. Nach seinem Abfall trat Lenin aus der Iskra-
Redaktion aus. Der Zerfall der Partei wurde treffend aus der Zirkelpsychologie
im Ghetto der Rechtgläubigkeit von emigrierten Literaten erklärt. Die Tiefe des
Risses und die Schärfe der Polemik entsprach keineswegs der Grundsätzlichkeit
von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Fraktionen. Parvus schrieb, dass
der Leninismus nicht nur in Lenin, sondern in allen stecke: „Jetzt habe Ihr Euch
gar untereinander zerstritten und seid bereit, die historische Suppe zu verkleckern,
die zu verspeisen Ihr ganz Russland längst aufgerufen habt“ (zit: Geyer 1962: 410).
Sogar die Hüter der Orthodoxie in der Internationale – wie Kautsky – und selbst
Rosa Luxemburg, eine Exponentin der Linken, nahmen Stellung gegen Lenin. Die
Menschewiki gingen in das Revolutionsjahr 1905 in dem Hochgefühl, den Kampf
um die Europäisierung wenigstens für ihre Gruppe bestanden zu haben.
Beim Ausbruch der Revolution von 1905 war Lenin im Ausland und berei-
tete einen Parteikongress vor. Obwohl er wieder eine Mehrheit bekam, wollten
selbst seine Anhänger nicht völlig mit den Menschewiki brechen. Im ersten Welt-
krieg lebte Lenin in der Schweiz. Die „Sozialverräter“ der II. Internationale, die
die Kriegführung ihrer Länder unterstützten, wurden erbarmungslos kritisiert.
Auf zwei Konferenzen in Zimmerwald (1915) und Kienthal (1916) sammelte Lenin
den revolutionären Flügel der internationalen Bewegung. Im Februar 1917 kehrte
Lenin mit Hilfe der deutschen Regierung nach Russland zurück. Er agitierte gegen
die Provisorische Regierung und zwang die Partei gegen eine zögernde Mehrheit
im ZK zum bewaffneten Aufstand. Lev Trockij (1879 – 1940), der erst im August in
die Partei aufgenommen worden war, hat ihn in diesem radikalen Kurs trotz seiner
menschewistischen Vergangenheit unterstützt. Bei der Machtergreifung im Okto-
ber 1917 wurde Lenin Vorsitzender des Rates der Volkskommissare. Aber prak-
tisch war er mehr als ein Regierungschef, der Leiter der gesamten Politik und der
Kommunistischen Internationale, obwohl G. E. Zinov’ev formal die Leitung inne
hatte. 1921 setzte Lenin gegen starke Widerstände in der Partei einen Schwenk
vom Kriegskommunismus zur „Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP) durch. Im
Frühjahr 1922 erlitt er den ersten Schlaganfall und starb im Januar 1924. Lenin hat
in allen Konflikten seit den Auseinandersetzungen mit Plechanov und Kautsky die
politische Zweckmäßigkeit über die persönlichen Vorlieben gestellt. Als ebenbür-
tig hat er nur Trockij angesehen.

Theorie der Gesellschaftsformationen und ihrer Entwicklung

Als Theoretiker begann Lenin – wie Plechanov vor ihm – mit Pamphleten ge-
gen die Narodniki. In der Schrift „Was sind die Volksfreunde ?“ (1893, LW, Bd. 1:
119 – 338) argumentierte er, dass der Kapitalismus eine erhöhte Nachfrage nach In-
Marxismus in Russland 221

vestitionsgütern schaffen werden. Die Widersprüche des Kapitalismus, welche die


Radikalen erwarteten, sah er erst eintreten, wenn der Kapitalismus die dominie-
rende Gesellschaftsformation in Russland geworden sei. Die Dorfgemeinde kam
als Keimzelle des Sozialismus für Lenin nicht mehr in Frage.
1895 setzte Lenin sich mit Struves Kritik an den Narodniki in der Schrift „Der
ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch
des Herrn Struve“ auseinander. Struves Buch war 1894 erschienen. Lenin wurde
irritiert durch Struves freien Umgang mit den Theorien von Marx und nahm An-
stoß, dass Struve angab, „von Orthodoxie nicht befallen“ zu sein. (LW Bd. 1: 343).
Viele Passagen im Buch Struves konnte Lenin nur unterschreiben. Aber ihn är-
gerte, dass Struve so wenig vom Klassenkampf hielt und aus richtigen Analy-
sen  –  so über die Folgen des technischen Fortschritts – falsche oder nebulöse
Schlüsse zöge (LW Bd. 1: 499). Lenin warf sich zum Hüter der Orthodoxie auf
und verteidigte Marx gegen die Behauptung der legalen Marxisten, dass zwischen
dem Bild einer harmonischen Warenzirkulation im Band 2 des „Kapital“ ein Ge-
gensatz zur Theorie der Widersprüche im dritten Band aufgebrochen sei. Obwohl
Lenin mit Struve und Tugan-Baranovskij an Sachverstand in der Wirtschafts-
theorie nicht konkurrieren konnte, hat er seinen Marx für politische Zwecke
geschickt ausgeschlachtet, stimmig gemacht und den russischen Bedürfnissen
angepasst.
Schon in dieser Frühschrift wurde deutlich, dass bei Lenin nicht nach Theorie
um ihrer selbst willen gestrebt wurde. Er verpflichtete jeden Theoretiker auf „Par-
teilichkeit“ und die verletzte man bereits, wenn man – wie Struve – zum „bürger-
lichen Objektivismus“ neigte. Auch in den anscheinend wissenschaftlichen Wer-
ken zeigte sich ein neuer Sprachstil. Knappheit, Wiederholung, schneidende
Formulierungen ohne künstlerische Schnörkel wie sie die ältere russische Gene-
ration so liebte, wurden rhetorisch eingesetzt. Sprachwissenschaftler haben Par-
allelen zur revolutionären Lyrik der Zeit bei Majakovskij und Bednyj entdeckt
(Schkowski u. a. 197o: 123, 22). Nur wenn man den missionarischen Impetus, der
hinter dieser Stilfassade von Satz-Snykopen nicht ernst nahm, konnte man Lenin
bei den Dadaisten einordnen. Angeblich hat er mit seinen russischen Ausrufen
„da, da“ (ja, ja !) in seiner Zürcher Zeit sogar das Stichwort für die Benennung der
Bewegung durch Tzara gegeben (Noguez 199o: 58 f, 1o7). Mit der Verherrlichung
der Zerstörung und des Chaos scheiden sich jedoch die Parallelen auch inhaltlich.
Lenin hatte ein Endziel – Dada hatte keines.
1899 erschien „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“, eine wissen-
schaftliche Leistung mit vielen Statistiken, die sich mit den Schriften der profes-
sionellen Wissenschaftler durchaus messen konnte. Wieder ging es vor allem um
die Fehler der Narodniki. Lenin beschrieb die Auflösung der Bauernschaft und
den Übergang von der Fronwirtschaft zur kapitalistischen Wirtschaft in Russland.
222 Marxismus

Seine Hoffnungen setzte er auf die Entstehung eines Binnenmarktes, den die Na-
rodniki wegen der Verarmung der Bevölkerung für unmöglich hielten. Die Ent-
wicklung des Kapitalismus in Russland ging für Lenin langsam vor sich – trotz der
Beschleunigungspolitik Wittes – wenn man nur einen innerrussischen Vergleich
anstellte, sie war jedoch rasant schnell im Vergleich von Nachzüglern und Vorrei-
tern des Kapitalismus in Europa. Die Langsamkeit des Prozesses führte Lenin auf
das Fortleben veralteter Institutionen in Russland zurück (LW, Bd. 3: 621). Lenin
setzte eine schonungslose Analyse des Ist-Zustandes gegen die „moralisieren-
den Schlüsse“ der Populisten, welche die soziale Lage in Russland zu beschöni-
gen pflegten.
Unter den Schriften mit wissenschaftlichem Anspruch wurde „Der Impe-
rialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (LW Bd.  22: 189 – 3o9, LAW  I:
763 – 873), die Lenin 1916 in Zürich verfasste, einflussreich. Im Anschluss an
Hobson und Hilferding zeigte Lenin die Gründe, warum der monopolistische
Kapitalismus trotz der Stagnation der Wirtschaft nicht „programmgemäß“ zu-
sammenbrach. Hobson hatte den Imperialismus vor allem als Politikum einge-
schätzt, das auf einem „jingoism“ beruht, der nur durch Erziehung zu beseitigen
war. Lenin hat dies für eine Fehleinschätzung gehalten und vor allem die ökono-
mischen Ursachen und Wirkungen des Imperialismus herausgearbeitet (Brahm
1965: 227). Die Ausbeutung der „Dritten Welt“ und die Bestechung einer „Arbei-
teraristokratie“ durch höhere Löhne, stabilisierten den Kapitalismus länger als bei
Marx einst prognostiziert. Wieder erwies sich Lenin als Ehrenretter der Orthodo-
xie und harmonisierte die neuere Entwicklung mit den Fehlprognosen bei Marx,
während skrupulösere Theoretiker der II. Internationale wie Kautsky das undank-
bare Geschäft der „Revision“ von Marxschen Lehrsätzen auf sich nahmen.

Revolutionstheorie

Entscheidender als die wissenschaftlichen Beiträge waren die Schriften zu Strate-


gie und Taktik der Partei und zur Zielfindung im revolutionären Prozess.
1905 hat Lenin im Moskauer Aufstand der These von der „permanenten Re-
volution“ bei Trockij nahegestanden. Er hatte aber wenig Hoffnung auf einen so-
fortigen revolutionären Durchbruch, und nahm als Kurzziel eine konstitutionelle
Ordnung in Kauf, wie sie aus der Revolution von 1905 hervorging. Zugleich aber
war von „Massenkampf “ und „bewaffnetem Aufstand“ die Rede (LAW I: 663 f).
Im ersten Weltkrieg schienen die Aussichten auf eine revolutionäre Erhebung
des Volkes realistischer zu werden. Der imperialistische Krieg sollte nun mög-
lichst in einen Bürgerkrieg umgewandelt werden (LW Bd. 21: 348 – 351). In den
„Aprilthesen“ (1917) ging Lenin einen Schritt zurück. Der Sozialismus war nun
nicht mehr das direkte Ziel der Revolution. Arbeiterkontrolle – nicht kollekti-
Marxismus in Russland 223

ves Eigentum wurde in dieser Phase angestrebt (LW Bd. 24: 1 – 8, LAW II: 39 – 44).
Lenin behauptete, dass Russland unter allen kriegführenden Mächten jetzt das
freieste Land der Welt sei, weil keine Gewalt mehr gegen die Massen eingesetzt
würde. Er empfahl anzuerkennen, dass unsere Partei in den Räten meist in der
Minderheit sei. Er kam den anarcho-syndikalistischen Räteideologen entgegen, in
dem er die Verfügungsgewalt über den Boden in die Hände der örtlichen Sowjets
zu legen empfahl. Gegen Plechanovs Vorwurf, Lenin leide an revolutionären Fie-
berphantasien betonte er seinen Realismus. Er beteuerte sogar, für eine konstitu-
ierende Nationalversammlung eingetreten zu sein. Als er die Macht erlangte, hat
Lenin diese brutal auseinander jagen lassen, nachdem die Bolschewiki bei den
Novemberwahlen zur Konstituante nicht einmal ein Viertel der Stimmen gewon-
nen hatten.
Im Frühjahr 1917 fand sich Lenin vorübergehend mit der unklaren Lage einer
„Doppelherrschaft“ zwischen Staatsapparat und den Sowjets ab: „Wir sind keine
Blanquisten, keine Anhänger der Machtergreifung durch eine Minderheit. Wir
sind Marxisten … gegen den kleinbürgerlichen Taumel“ (LAW II: 47). Mehr als
der Dualismus der Organisation schien angesichts der „klassenmäßigen Kräfte-
verhältnisse“ im Frühjahr 1917 nicht möglich. Angesichts dieser taktischen Kon-
zessionen in der Revolutionstheorie ließ sich die These vertreten, dass Lenin
erneut – für die „erste Etappe“ der Revolution – zu Trockijs Thesen von 1905 zu-
rückgekehrt sei.
Im August/September 1917 – kurz vor der Oktoberrevolution – entstand
Lenins Hauptwerk zur politischen Theorie: „Staat und Revolution“ (LW Bd.  25:
393 – 507, LAW II: 315 – 420). Der parlamentarischen Demokratie wurde eine Kon-
zeption der „Diktatur des Proletariats“ entgegengestellt. Ein bewaffneter Auf-
stand sollte ein Regime nach dem Vorbild der „Commune“ 1871 herbeiführen. Die
Verwaltung sollte in dem neuen Regime vereinfacht werden. Jeder Bürger könne
Verwalten, wenn er nur des Lesens und Schreibens kundig sei – die Vision von
der „Köchin“, die den Staat notfalls lenken könne, hatte hier ihren Ort. Noch im-
mer war eine Übergangszeit zum Kommunismus anvisiert. Das bürgerliche Recht
werde in dieser Periode erhalten bleiben und bekäme die Funktion, das sozialis-
tische Eigentum zu schützen. Erst wenn die konterrevolutionären Gefahren ge-
bannt seien, könne der Staat „absterben“.
Der Föderalismus – den er nach der Machtergreifung zur Sammlung der Ge-
biete des früheren Zarenreiches in Ausführung seiner Selbstbestimmungstheo-
rie von 1914 (LW Bd. 20: 395 – 461, LAW II: 681 – 741) geschickt einsetzte – hielt
Lenin nicht für ein organisatorisches Grundprinzip wie die Anarchisten. In die-
sem Punkt war er Marxist. Marx hatte den Föderalismus nur für multiethnische
Länder akzeptiert. Lenins vierstufiges Föderationsgebilde mit abgestuften Rech-
ten der Staatlichkeit wäre zweifellos originell gewesen, wenn es mehr als das Recht
224 Marxismus

der Ethnien Volkstanzgruppen zu bilden bewirkt hätte. Staatsformen – angeblich


von den Sozialdemokraten als Götzen angebetet – waren für Lenin zweitrangig. In
der Auseinandersetzung mit gegnerischen Positionen – von der „Vulgärökonomie“
des legalen Marxisten Tugan-Baranovskij bis zur Orthodoxie Kautskys – ging er
auch auf die Organisation der Verteilung im kommenden Sozialismus ein, blieb
dabei aber so unbestimmt und vorsichtig, wie Engels es einst in der Auseinander-
setzung mit Proudhon in der „Wohnungsfrage“ vorexerziert hatte. Die Proklama-
tion des Commune-Ideals in „Staat und Revolution“ musste bald modifiziert wer-
den. Aus taktischen Gründen schien die Doppelherrschaft vorbei und die Losung
hieß: „Alle Macht den Räten“ (LW Bd. 25: 149 f). Ab 1918 hat Lenin die Räte brutal
entmachtet. Theoretisch wurden alle taktischen Schwenkungen mit dem Ausblei-
ben der europäischen Revolution gerechtfertigt.
In einem Brief an das Zentralkomitee der Partei, der als „Marxismus und Auf-
stand“ publiziert wurde, wehrte sich Lenin erneut gegen den Vorwurf des Blan-
quismus. Er gab zu, dass der Juli-Aufstand ein Fehler gewesen wäre, weil man
die Macht politisch nicht hätte behaupten können. Erneut wurde klargestellt,
dass „Aufstand“ nicht auf Verschwörung und nicht nur auf einer Partei beruhe,
sondern sich auf den „revolutionären Aufschwung des Volkes“ zu stützen habe
(LAW  II: 424). Wann dieser Augenblick jedoch gegeben sei, konnten offenbar
doch nur wieder die Parteieliten feststellen. Der Aufstand wurde als eine „Kunst“
betrachtet (LW Bd. 26: 10, LAW II: 429). Was war der Unterschied zu Blanqui,
der den Aufstand ebenfalls wie ein Kunstwerk behandelte ? Immerhin ließ sich
ein gewichtiger Unterschied feststellen. Blanquis „Instruktionen für den Aufstand“
(Frankfurt, EVA, 1968: 169) verloren sich in technischen Details über die Größe
von Pflastersteinen beim Barrikadenbau. Lenins Insurrektionswissenschaft oder
Kunstlehre war eher politischer Art. Lenin ist vielfach in eine Reihe der Kontinui-
tät von Bakunin bis Tkačëv gestellt worden. Aber er hat für die Revolutionsme-
chanik keine Vorbilder anerkannt. Sein eigenes Denken und Handeln war eher
das Produkt der Kontinuität russischer Zustände, die immer wieder vergleichbare
Typen von Revolutionären hervorbrachte: gesellschaftsfern, bindungslos und be-
seelt von missionarischem Eifer (Geyer 1962: 422).
Als Lenin die Macht ergriffen hatte, und im Frühjahr 1918 über „Die nächsten
Aufgaben der Sowjetmacht“ nachdachte (LW Bd. 27: 225 – 268, LAW II: 735 – 770),
las er den „Jammerrevolutionären“ die Leviten. Plötzlich war Verwalten doch
nicht mehr so einfach wie noch in „Staat und Revolution“. Mühsame Lernpro-
zesse wurden angemahnt: „Rechungsführung“, das Taylor-System zur Steigerung
der Arbeitsproduktivität und die Einmann-Leitung statt der kollektiven Führung.
Wo die Staatsmacht nicht mehr die Aufgabe der militärischen Unterdrückung hat,
sondern „Verwaltung“ wird, ist die typische Form des Zwanges „nicht die Erschie-
ßung an Ort und Stelle, sondern das Gericht“. Aber die Volksgerichte schienen
Marxismus in Russland 225

Lenin unglaublich schwach, die Rätedeputierten verwandelten sich in Parlamen-


tarier oder Bürokraten. Für ihn reichte es zum Revolutionär nicht, für den Kom-
munismus zu sein, sondern man musste die Fähigkeit entwickeln, „in jedem Aug-
blick jenes besondere Kettenglied zu finden, das mit aller Kraft angepackt werden
muss“. Sein Lieblingswort war nach dem Zeugnis Trockijs (1964: 100) auch außer-
halb dieser Schrift der Vorwurf, dass die Diktatur mehr „einen Brei“ als eine reale
Macht darstelle.
Lenin wurde nach der Oktoberrevolution und der Überwindung des ersten
Enthusiasmus in der Ära des Kriegskommunismus (1917 – 1920) vorsichtig in der
Frage, ob ein zurückgebliebenes Land wie Russland, noch vor den westeuropä-
ischen Systemen sozialistisch werden könne. In den Schriften von 1917 bis An-
fang 1918 kam Lenin dem Standpunkt Trockijs von 19o5 nahe (Wildman 1971: 6).
Die Herrschaft des Proletariats in Russland konnte nur durch rasches Übergreifen
der Revolution auf die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder gesichert werden,
weil sie sonst ökonomischen Widersprüchen zwischen der unentwickelten wirt-
schaftlichen Basis und dem System einer verfrühten politischen Revolution aus-
gesetzt wäre.
Lenins Theorien waren außerordentlich flexibel in der Anpassung an die Er-
fordernisse der Herrschaftssicherung. In der Schrift „Der linke Radikalismus,
die Kinderkrankheit im Kommunismus“ (LW Bd. 31: 1 – 105, LAW III: 389 – 485)
musste Lenin sich gegen den Vorwurf der radikalen Dogmatiker zur Wehr setz-
ten, dass er statt Sozialismus einen „Staatskapitalismus“ geschaffen habe. Aus der
Not wurde eine Tugend gemacht und notfalls mit demagogischen Sentenzen gear-
beitet, wie der These, dass in der deutschen Kriegswirtschaft mehr Sozialismus als
im kriegskommunistischen Staatskapitalismus bestanden habe. Er beanspruchte
nicht, schon in eine sozialistische Phase eingetreten zu sein, sondern sprach von
einer „Übergangsgesellschaft“. In ihr musste die Kontrolle der Privatindustrie und
die Kontrolle über die Verteilung ausreichen. Das hinderte nicht einen Schwenk
zur Verstaatlichung im Sommer 1918, weil die Unternehmer angeblich die Ab-
machungen mit der Regierung gebrochen hätten, und weil die Verschärfung des
Bürgerkrieges dies gebot. Lenin hat als „Zentrist“ den Linken und Syndikalisten
nur ungern nachgegeben. 1920 ging Lenin davon aus, dass international der Op-
portunismus der Sozialdemokratie der Hauptfeind bleibe, im Inneren des Lan-
des aber war der „wildgewordene Kleinbürger“ mit seinem anarchistischen un-
beständigen Revolutionarismus zur Herausforderung geworden (LAW III: 463).
Den Linksradikalismus betrachtete Lenin als Reaktion und Strafe für vorangegan-
genen „Opportunismus“. Er berief sich für seine Schwankungen in der Theorie
auf Černyševskij – einen seiner Lieblingsautoren – der einmal von der politischen
Tätigkeit gesagt hatte, dass sie kein „Trottoir des Nevskij Prospekt in Petersburg“
darstelle, „sauber und gerade“. Revolutionäre müssen Kompromisse schließen,
226 Marxismus

lautete die Konklusion und er zeigte, dass die Geschichte seiner Kompromisse bis
zurück zu Struve sich für die Bewegung immer ausgezahlt hätten, da man das re-
volutionäre Ziel nie aus den Augen verlor (LAW III: 440 f).
Die Schwenkung zur Neuen ökonomischen Politik mit erneuter Duldung
einer Gesellschaft der Warenproduktion wurde von den Linken als Verrat ge-
brandmarkt. Lenin gab zu, dass kleinbürgerliche Elemente sich auf dem Lande
wieder ausbreiteten. Aber er bestand darauf, dass der Kriegskommunismus keine
Dauerform des Sozialismus sein könne, und rechtfertigte die Mischung wider-
sprüchlicher Systemelemente von Sozialismus und Kapitalismus noch für min-
destens ein Jahrzehnt (LW Bd. 32: 341 – 380, LAW III: 656), solange das revolutio-
näre System die „Kommandohöhen der Wirtschaft“ besetzt halte. Stalin hat nicht
so lange gewartet, und mit der Zwangskollektivisierung bereits sieben Jahre nach
dieser Prognose begonnen.

Strategie und Taktik der Parteiorganisation

Lenin hat theoretische Auseinandersetzungen fast immer aus gegebenem Anlass


von Kontroversen in der Bewegung aufgegriffen. Seine späte Einmischung in Fra-
gen der Philosophie – diesen Bereich überließ er Plechanov, solange dieser noch
nicht im Gegenlager stand – zeigte sich in dem Buch „Materialismus und Em-
piriokritizismus“ von 1909. Es richtete sich gegen die Lehre zweier österreichi-
scher Philosophen, Mach und Avenarius, die über Bogdanov Einfluss auf die rus-
sische Bewegung gewann (Grille 1966). Die einflussreichsten Schriften waren aber
seine Überlegungen zu Strategie und Taktik der Partei. Lenin hat planmäßig eine
Art Theorie der Doppelvernunft entwickelt (LAW II: 425). Wissenschaft diente
nach dieser Konzeption der Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten des Geschichts-
prozesses. Die Kunstlehre von Strategie und Taktik wurde als eine Art praktischer
Klugheitslehre an ihre Seite zur Anleitung des revolutionären Handelns gestellt.
Blanquismus, der ihm vielfach vorgeworfen wurde, hatte in Lenins Auffassung
nur diese Seite entwickelt und die Wissenschaft vernachlässigt. Der Kunstgriff,
dass Wissenschaft und angewandte Wissenschaft als Kunst unterschieden werden
müssten, war nicht neu. Er war nicht auf den Leninismus beschränkt. Aber keine
politische Theorie, die mit wissenschaftlichem Anspruch auftrat, hat die wissen-
schaftliche Theorie so stark von Überlegungen zur Strategie und Taktik überwu-
chern lassen, wie der Leninismus. Im Rahmen der Kunstlehren wurde auch auf
den Einsatz von Mythen nicht verzichtet, so sehr Lenin diese bei Sorel auch für
kleinbürgerlichen Unsinn abtat. Neue Mythen wie die Vergottung der Technik
(Sozialismus = Sowjetmacht plus Elektrifizierung), die Verdinglichung des Kol-
lektivs (erst des Proletariats, dann der Partei und schließlich der Parteileitung)
und der Personenkult (der vor allem nach Lenin eingesetzt wurde), mussten die
Marxismus in Russland 227

Widersprüche in den wissenschaftlichen Teilen der Lehre einem widerstrebenden


Volk verschleiern helfen.
Lenin wurde von seinen Gegnern unter den Menschewiki ständig als „Jako-
biner“, Blanquist oder Tkačevist dargestellt. Gelegentlich wurden die Invektiven
aber zu Ehrentiteln umgemünzt. Lenin rechnete sich dann um 1903 den Ausdruck
„Jakobiner“ zur Ehre an, und gab die Analogie an seine Gegner zurück, die er als
„Girondisten“ beschimpfte (LW Bd. 7: 386). Seine Schwankungen hat Lenin durch
das Selbstimage eines linientreuen Marxisten gerechtfertigt. Marx wurde dabei
durchaus selektiv benutzt. Die vorübergehende Akzeptanz der Dorfgemeinde
als Anknüpfungspunkt für den Sozialismus hat Lenin niemals ernst genommen.
Für manche leninistische These war es zu dem schwer, verbindliches im Werk der
Altmeister zu finden. Durchgängig war bei Lenin die Abweichung von Marx in
der Betonung der Parteidisziplin. Lenin half sich mit der Ansicht, dass Marx mit
Ausnahme einer kurzen Periode nach 1849 (vgl. Kap. IV. 1) keine eigene Partei
des Proletariats gebraucht habe. Aber die Zeiten hatten sich geändert, und Marx
würde heute … Mit Marx war jedenfalls nicht abzudecken, dass die Partei sich
früh an die Stelle der Klasse setzte, und nach der Revolution endgültig von der
Parteiführung als entscheidende Handlungseinheit abgelöst wurde.
Eine weitere Abweichung von Marx bestand in der Anpassung der Theorie an
die bäuerliche Gesellschaft Russlands. In der Schrift „Zwei Taktiken der Sozialde-
mokratie“ von 1905 hat Lenin sich auf Marx um 1849 berufen (LAW I: 644). Es galt
schöpferisch die Unterschiede der Lage von 1848 und 1905 zu interpretieren. Wo
die Gegner „entweder – oder“ sagten, setzte Lenin ihnen ein „sowohl – als auch“
entgegen: „Die Aufgabe ist also klar: den konspirativen Apparat einstweilen beibe-
halten und einen neuen legalen aufbauen“ (LAW I: 648). Wenn die Ökonomisten
forderten „Arbeiter statt Intellektuelle“ an die Spitze, fand Lenin wieder ein „so-
wohl – als auch“: „Man kann ja das Verhältnis zwischen den Funktionen der Intel-
lektuellen und der Proletarier (Arbeiter) … ziemlich genau mit der allgemeinen
Formel ausdrücken: die Intellektuellen verstehen es gut, Fragen ‚prinzipiell‘ zu lö-
sen … die Arbeiter aber tun es, sie setzten die graue Theorie in die lebendige Pra-
xis um“ (LAW I: 655).
International gesehen hatte Lenin als Theoretiker wohl den größten Einfluss
– bis in die extreme Rechte – mit seinen Schriften zur Parteiorganisation. In „Was
tun ?“ – der Titel war dem Roman seines Lieblingsschriftstellers Černyševskij ent-
nommen – hat Lenin 1902 (LW Bd. 5: 355 – 551, LAW I: 139 – 314) den Arbeiter nur
eines trade-unionistischen Bewusstseins für fähig gehalten. Die Partei musste den
Arbeiter an die höheren Formen des revolutionären Bewusstseins heranführen.
Der Organisationsfetischismus Lenins berauschte sich vielfach an militärischen
Metaphern – Engels konnte dabei als Vorbild dienen: „Diese Armee wird ihre Rei-
hen immer enger schließen, trotz allen Zickzackkursen … trotz der selbstgefäl-
228 Marxismus

ligen Verherrlichung des rückständigen Zirkelwesens, trotz dem Flittergold und


Schaugebraus (sic !) des Intellektuellen-Anarchismus“ (LW Bd. 7: 430, LAW I: 512).
Fraktionsmacherei (krugovščina) wurde seither zu einem Schimpfwort im Leni-
nismus. Lenin hat die Theorie des demokratischen Zentralismus entwickelt. Als
Organisationsmodell schloss sie breite Diskussionen in der Partei nicht aus. Wenn
aber ein Beschluss gefasst war, gab es keine Möglichkeit für Minderheiten, diesen
zu ändern und Mehrheiten für die Revision zu sammeln.
In der Schrift „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ (1904) (LW Bd. 7:
197 – 430, LAW I: 315 – 521) wurde das Verdikt gegen die Fraktionsmacherei in der
Abrechnung mit seinen Gegnern breit ausgeführt. Lenin skizzierte sogar eine Art
„rational choice-Matrix“ der Fraktionen. Ökonomismus und Anarchismus hat-
ten bei aller Unterschiedlichkeit in den Augen Lenins eine Gemeinsamkeit: die
„Anbetung der Spontaneität“. Selbsternannte Avantgarden konnten künftig un-
liebsame Diskutanten des „chvostizm“ (Schwänzlertum), der Nachtrabspolitik,
verdächtigen. Putschismus und „Handwerkelei“ – Revolutionstätigkeiten ohne
festen Plan – wurden angeklagt, zu sinnlosen Opfern der Bewegung gegen mo-
derne Armeen des Staatsapparates zu führen. Der feste Plan war eine Schöpfung
von Avantgarde. „Demokratismus“ in der Partei, innerparteiliche Demokratie, er-
klärte Lenin angesichts der russischen Gendarmen in einer Geheimorganisation
zu einer „leeren und schädlichen Spielerei“ (LAW I: 266).
Lenins Organisationstheorie der Partei war der Reflex seiner Praxis. Lenin
hat es verstanden, eine Mittelposition zwischen den Extremen einzunehmen und
die Mehrheit jeweils auf seine Seite zu ziehen (Daniels 1962: 458 ff). Die Oppo-
sitionen von links und rechts machten verhängnisvolle Fehler – vor allem Tro-
ckij nach Lenins Tod. Niemand konnte fortan Opposition machen, ohne sich
auf Lenins Prinzipien zu berufen. Das Prinzip des demokratischen Zentralismus
wurde unter Stalin zum Mechanismus der totalen Unterwerfung. Noch in den
Moskauer Säuberungsprozessen hat der Einheitsmythos der Partei dazu geführt,
dass die Oppositionen sich unterwarfen, und sich der unglaublichsten Verbre-
chen selbst anklagten. Es klang wie jene Vorgänge, die man aus Inquisitionspro-
zessen kannte, bei denen unschuldige Mädchen behaupteten, mit dem Teufel auf
der Kirchturmspitze gebuhlt zu haben. Lenin selbst hat noch einige Opposition
geduldet. Sein Prinzip hat gleichwohl die Stalinschen Missbräuche möglich ge-
macht, die zur Entdeckung ganzer Heere von „Diversanten und Defaitisten“ füh-
ren sollten.

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Lev Davidovič Trockij (Bronštejn) (1879 – 1940)

Bei aller brillanten schriftstellerischen Begabung würde Trockij schwerlich Ein-


gang in die Geschichte der politischen Theorien finden, hätte er nicht in der Poli-
tik eine prominente Rolle gespielt. Lev Davidovič Bronštejn wurde in der Familie
eines nicht mehr orthodoxen jüdischen Gutsbesitzers geboren, der es zu eini-
gem Vermögen gebracht hatte. 1898 wurde Trockij wegen der Organisation einer
Untergrundbewegung verhaftet und für vier Jahre in die Verbannung geschickt.
Es gelang ihm die Flucht und er wurde in London Mitarbeiter der „Iskra“. Beim
Spaltungskongress der RSDAP 1903 stand Trockij auf Seiten Martovs, des späte-
ren Führers der Menschewiki. In seinem Pamphlet „Unsere politischen Aufgaben“
hat er 1904 in großer Schärfe mit Lenin abgerechnet, weil dieser die Parteimit-
glieder zu bloßen Befehlsempfängern degradieren wollte. 1904 – 1917 stand Trockij
zwischen den Flügeln der Partei. 1905 wurde er während der Revolution Vorsit-
zender des Petersburger Sowjets der Arbeiter. 1906 wurde er erneut nach Sibi-
rien verbannt. Nach einer abermaligen Flucht lebte er 1907 – 1914 in Wien und gab
die „Pravda“ heraus (1908 – 1912). Bei Kriegsausbruch ging Trockij in die Schweiz
und später nach Paris. Er war in bei der Tagung in Zimmerwald zugegen. Die
Meinungsverschiedenheiten mit Lenin waren aber noch immer unüberbrückbar.
Nach seiner Ausweisung aus Frankreich ging Trockij 1917 über Spanien nach New
York. 1917 traf er kurz nach Lenin in Russland ein und trat im Sommer der Partei
der Bolschewiki bei, die sich seit Januar 1912 als eigenständige Partei konstituiert
hatte. Als Lenin untertauchen musste, leitete Trockij die Partei und wurde Präsi-
Marxismus in Russland 231

dent des Exekutivkomitees des Petrograder Sowjets und zum wichtigsten Organi-
sator der Oktoberrevolution. Im Sowjetregime wurde ihm das Volkskommissariat
für Äußeres anvertraut und er verhandelte über den Frieden von Brest-Litovsk.
Seine politische Linie wich von der Lenins wiederum ab und er favorisierte eine
Politik „Weder Krieg noch Frieden“. Nach dem Rücktritt vom Außenkommissa-
riat übernahm er ihm März 1918 das Kriegskommissariats und baute die Rote Ar-
mee auf. In der Politik zur Maximierung des Erfolgs geriet er in seiner Eigen-
schaft als Volkskommissar für das Transportwesen 1920/21 in Konflikt mit Lenin,
weil er die Gewerkschaften völlig entmachtete (ML: 449 f). 1921 war er Gegner
von Lenins „neuer ökonomischer Politik (NEP) (ML: 445). Als Lenin erkrankte
zeigte sich, dass Trockij in der Partei ziemlich isoliert war. Im Januar 1925 wurde
er als Kriegskommissar abgesetzt, 1926 in der Vereinten Opposition mit den al-
ten Gegnern Zinov’ev und Kamenev kam es im Februar 1927 zum Ausschluss aus
der Partei. Im Februar 1929 wurde er in die Türkei abgeschoben, wo er auf der In-
sel Prinkipo bis Juli 1933 lebte. Kein Land konnte noch für seine Sicherheit garan-
tieren, nachdem er die Pamphlete gegen Stalin und das Erinnerungsbuch „Mein
Leben“ (1930) publiziert hatte. Im Januar 1937 kam er nach Mexiko, 1938 grün-
dete er eine „Vierte Internationale“ und wurde im August 1940 – vermutlich auf
Geheiß Stalins – ermordet, obwohl sein Haus wie eine Festung bewacht worden
war. Lenin (LW Bd. 32: 92) hat ihn trotz seiner Verdienste kritisch beschrieben:
„Trockijs Fehler sind Einseitigkeit, Sichhinreißenlassen, Übertreibung, Starrsinn“.
In seinem Testament erklärte er: „Persönlich ist er wohl der fähigste Mann im
gegenwärtigen ZK, aber auch ein Mensch, der ein Übermaß von Selbstbewusst-
sein und eine übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen hat“ (LW
Bd. 36: 579).
Trockij hat im Vergleich mit dem asiatischen Despoten Stalin vielfach auch bei
Nichtmarxisten eine positive Würdigung erfahren. Sein Habitus eines aufgeklär-
ten Westlers stand westlichen Intellektuellen immer näher als der Apparatschik
aus Georgien. Trockij hat freilich Stalins praktische Intelligenz lange unterschätzt.
Nach seiner Entmachtung wirkte er an der Legende mit, dass ihm die Nachfolge
Lenins zugestanden habe, die durch Stalins Intrigen vereitelt wurde. Tatsache ist
aber, dass Trockij in der Nachfolgedebatte schwach vertreten war. Er hat sich dem
Machtkampf auch politisch zu wenig gestellt. Er flüchtete Mitte der 20er Jahre häu-
fig auf Nebenkriegsschauplätze oder in die Krankheit (Brahm 1964: 216). Trockij
hat sich in der Partei wie eine Madonna geriert, der die Krone der Macht wie eine
Bringschuld behandelte. Zuvor hatte er in der Gewerkschaftsdebatte, in der Frage
des Friedensschlusses, in der Militärführung (gegen Vorošilov und Stalin) oder in
der Nationalitätenpolitik die meisten führenden Genossen gründlich verprellt. Er
war daher als Ideologe eines demokratischen Selbstverwaltungssozialismus nach
seiner Entmachtung und im Exil intellektuell unglaubhaft.
232 Marxismus

Trockij konnte sich an organisatorischem Talent – nicht aber an theoretischer


Begabung – mit Lenin messen. Solange Trockij der „Bewaffnete Prophet“ war,
gab es keinen Trotzkismus. Lenin (LW Bd.  20: 333) sprach einmal vom „Trotz-
kismus“ als einer „hohlen Phrase“. Trotzkismus wurde in den Kämpfen um die
Nachfolge Lenins vor allem von den Gegnern erfunden. Dabei wurde eine un-
zulässige Kontinuität zu Trockijs frühen Ansichten von 19o4 gezogen. Damals
hat er die These von der „permanenten Revolution“ entwickelt, ein Begriff, der
schon von Marx und Lenin als „Revolution in Permanenz“ gelegentlich ange-
wandt wurde. Die Unterentwicklung Russlands wurde von Trockij zum Vorteil
umgedeutet, weil Russland so in der Weltrevolution eine führende Rolle spielen
konnte. Die Bauern wurden als wenig revolutionär angesehen, die Bourgeoisie
war unterentwickelt. So konnte es für Trockij zum Zweikampf zwischen Autokra-
tie und Proletariat kommen. Auch Lenin hat damals diese Ansicht geteilt, dass
das Bürgertum zu unreif ei, um für die Republik zu kämpfen. Die bürgerliche Re-
volution sollte daher durch die Diktatur des Proletariats zu Ende geführt werden –
bürgerlich in den Aufgaben, proletarisch in den Methoden. Falls die revolutio-
näre Regierung zu Kollektivisierung übergehe, werde die Basis der Unterstützung
schwinden. Daher blieb nur die Hoffnung auf eine Revolution auch im Westen:
die Revolution in Permanenz hieß Überführung der bürgerlichen Revolution in
eine proletarische und die proletarische in eine internationale Revolution. Trockij
(PR: 60) erklärte:“ Die permanente Revolution ist nicht ein „Sprung des Proleta-
riats, sondern die Umgestaltung der Nation unter der Leitung des Proletariats“.
Die Unterschiede zu Lenin lagen in der Frage des Klassenbündnisses. Trockij be-
tonte weit weniger die Gleichberechtigung der revolutionären Klassen der Pro-
letarier und der Bauern (PR: 71). Lenin wagte daher weniger als Trockij von der
marxistischen Periodisierung abzuweichen als Trockij. Erst durch Stalin wurde
der alte Theoriestreit von 1904 – 1906 wieder hochgespielt, um Trockij als durch-
gehenden Abweichler brandmarken zu können und sich selbst als den wahren
Erben Lenins auszuweisen (St Bd. 6: 91 ff, 312 ff). Trockij vertraute weit mehr als
Lenin auf die Logik der Geschichte. Dies führte zu einer geringeren Bewertung
der Rolle der Partei.
In der Schrift „Unsere taktischen Aufgaben“ von 1904 kritisierte Trockij die
„Substitution“ der Partei anstelle des Proletariats: „Unsere Komitees, die das Pro-
letariat substituieren, verwenden sich, statt das gesellschaftliche Bewusstsein des
Proletariats für einen direkten Druck auf die gesellschaftliche Ideologie der Bour-
geoisie zu organisieren, in ihren Proklamationen vor dieser bürgerlichen demo-
kratischen Bewegung für ‚ihr‘ Proletariat … Das System der politischen Substitu-
tion geht ebenso wie das System der ökonomistischen Vereinfachung bewusst oder
unbewusst aus einem falschen, sophistischen Verständnis des Verhältnisses der
objektiven Interessen des Proletariats zu seinem Bewusstsein hervor“ (Schr: 70).
Marxismus in Russland 233

Der Iskra-Flügel der Partei war für ihn verantwortlich, dass es zu dieser politi-
schen Substitution kam (Schr: 87). Die soziale Analyse, die diesem taktischen
Streit zugrunde gelegt wurde, ging davon aus, dass die Vereinigung der revolu-
tionären Intelligenz sich schneller vollzog als die Mobilisierung des Proletariats.
Der Minderheit der Berufsrevolutionäre wurde vorgeworfen, das Tor zum Öko-
nomismus, Trade Unionismus, Chvostismus („Schwänzlertum“, Nachtrabspoli-
tik, von „chvost“ = Schwanz) zu öffnen. Dem Genossen Lenin wurde „mangelnde
Geschmeidigkeit des Denkens“ vorgeworfen, sonst würde er wohl noch wunder-
lichere Dinge seiner anarchistischen Praxis der Minderheit begründen (Schr: 89).
Den „Mystikern des Zentralismus“ wurde nachgesagt, dass sie der Devise folgten:
„möge die Welt untergehen – hoch lebe die Disziplin“ (Schr: 93). Lenin – mit sei-
ner „Diktatur über das Proletariat“ – wurde als „Maximilien Lenin“ in Anlehnung
an den Vornamen Robespierres apostophiert. Den Vorwurf des Jakobinismus hat
Lenin jedoch schlicht in einen Ehrentitel umfunktioniert. Seine Gegner konnten
so als „Girondisten“ abgewertet werden. Diese Invektiven gegen den „opportu-
nistischen Blanquismus“ wären theoretisch nicht erwähnenswert, wenn sie nicht
zum Aufbau der trotzkistischen Legende gedient hätten, dass Trockij schon im-
mer ein aufrechter Demokrat gewesen sei.
Man hat die Meinungsverschiedenheiten mit Lenin auf Trockijs Talent eines
begnadeten Redners zurückgeführt, der jeder Zeit in der Lage schien, Massen für
seine Position zu mobilisieren. Er war daher weniger auf den Parteiapparat als
Lenin angewiesen. Die angeblich „volksnähere“ Parteikonzeption Trockijs hatte
jedoch ihre Gefahren. Er übersah, dass seine Position überwiegend nicht weniger
volksfern war als die Lenins. Trockijs Parteiideal war das einer Massenpartei, die
sich auf das Volk stützt. Sowie er der „bewaffnete Prophet“ wurde, hat er jedoch
eigenständige Vorstellungen der Massen – wie sie im Kronstädter Aufstand ge-
äußert wurden – mit brutaler Gewalt unterdrückt.
Die Führer der II. Internationale waren entsetzt. Kautsky schrieb schon 1919
eine Schrift über „Terrorismus und Kommunismus“. 1921 äußerte er, dass ange-
sichts der Hungerkatastrophe Russland eigentlich Hilfe und keine Kritik brauche.
Aber Kritik sei leider notwendig, denn die Hungersnot stelle nicht nur das Pro-
dukt der Naturgewalten dar, sondern resultierte auch aus den Fehlern der von den
Bolschewiki errichteten „Staatssklaverei“ (Kautsky 1921: 5). Trockij (TuK: 153 f)
zog alle Register der Diffamierung über den Pedanten Kautsky, den „sehr geehr-
ten und natürlichen Vater und Lehrer einer quietistischen Kirche“, und den am
„meisten kompromittierten Bock seiner österreichischen Schule“ – vulgär-histo-
risch und konservativ, Diener laufender Bedürfnisse des parlamentarischen und
gewerkschaftlichen Opportunismus. Der „rote Terror“, die Zerschlagung der Lin-
ken Sozialrevolutionäre, die in der ersten Phase mit den Bolschewiki eine Regie-
rungskoalition gebildet hatten und die Militarisierung der Arbeit wurden gerecht-
234 Marxismus

fertigt. Kautsky (TuK: 43, 88, 113) wurde eine einseitige sozialdemokratische Sicht
vorgeworfen, welche die Gräuel der russischen Bourgeoisie übersehen habe. Selbst
Apologeten Trockijs (Deutscher II: 446 ff) hatten Mühe, diese Wendung in ultra-
diktatorische Attitüden zu rechtfertigen. Im Nachhinein hat Trockij (ML: 445 ff)
seine Verbrechen mit dem unbegrenzten Vertrauen Lenins und den Gefahren
einer militärischen Opposition begründet, die angeblich hinter den Kulissen be-
reits von Stalin gegen ihn organisiert wurde. Von einer sozialwissenschaftlichen
Analyse fehlte jede Spur.
Mit Stalin kam es zum Konflikt in der Frage „Sozialismus in einem Lande“.
Stalin berief sich für diese These auf Lenin (LW Bd. 21: 342 ff), der sie jedoch nicht
für das unterentwickelte Russland vertreten hatte. Trockij sah in dieser These eine
neue Religion und einen Verrat an der Weltrevolution, die er schließlich sogar in
die Nähe des Nationalsozialismus rückte. Der „Sowjetbonapartismus“ erklärte er
in der „Verratenen Revolution“ (VR: 270) aus den gleichen Ursachen wie den Fa-
schismus: Die verzögerte Formierung des Weltproletariats. Die neue Herrschaft
der „bürokratischen Klasse“ hatte die Weltrevolution in seinen Augen durch
die Idee des Völkerbundes ersetzt. Die revolutionären „Errungenschaften“ wur-
den  –  nach Trockijs Ansicht – in der Sowjetunion planmäßig abgeschafft. Die
bürgerliche Familie, die Ersetzung der Miliz durch eine kasernierte Armee, die
Wiedereinführung von Titeln und Orden, und die Förderung der sozialen Un-
gleichheit schufen laut Trockij quasi-kapitalistische Zustände in Russland (VR:
264). Die Aufzählung der Mängel des Systems blieb erstaunlich an der Oberfläche.
Erst in den 30er Jahren hat er das neue Herrschaftssystem stärker zu theoretisieren
versucht. Im Kampf um Lenins Nachfolge hat Trockij zunächst durchaus einige
Konzessionen an Stalin gemacht. Im November 1926 hatte erklärt, dass die Theo-
rie der permanenten Revolution nur noch von historischem Interesse sei. Stalin
hat die alte Kluft jedoch wieder aufgerissen, um Trockij auf eine klare Oppositi-
onsposition festzulegen. Manchen Fehler der Einschätzung der Lage hat Trockij
anfangs mit Stalin geteilt. Auch die theoretischen Positionen mit dem unkriti-
schen Glauben an die Dynamik der Geschichte waren bei Trockij und Stalin nicht
so weit auseinander (Abosch 1975: 160). Sie unterscheiden sich vor allem in ihrer
Egomanie. Stalin wusste, dass er harte Organisationsarbeit leisten musste, um Er-
folg in der Partei zu haben – Trockij verließ sich allzu sehr auf sein Charisma und
die laufende historische Bestätigung seiner Ansichten. Hellsichtiger als Stalin war
Trockij aber in internationalen Fragen. Die Gefahr, die vom Nationalsozialismus
ausging, hat er klarer gesehen als Stalin. Schon 1930 hatte er eine Einheitsfront von
SPD und KPD in Deutschland gefordert, als Stalin noch gegen die „Sozialfaschis-
ten“ der SPD polemisierte.
Als Trockij ins Exil gezwungen worden war, hat er Stalins Herrschaft in Ana-
logie zur französischen Revolution zum „Thermidor“ erklärt. Stalin sei nicht mit
Marxismus in Russland 235

einem strategischen Plan aus den Kulissen hervorgetreten: „Nein bevor er seinen
Weg aufspürte, spürte die Bürokratie ihn selbst auf “ (VR: 93). Das Mittelmaß der
Bürokratie hob Mittelmaß auf den Schild. Die Krupskaja, Lenins Frau, soll schon
1926 gesagt haben: „Lebte Lenin, er säße bestimmt schon im Gefängnis“ (VR: 94).
Die Grundlage der Entartung des Systems führte er – in einer gewissen Kontinui-
tät zu seinen Ansichten von 1904 – auf die Entartung der Partei zurück.
Der späte Trockij entdeckte sein demokratisches Herz, die Arbeiterselbstver-
waltung und den kommunistischen Pluralismus. Als er noch an der Macht in die
Minderheit geriet, soll er ein kommunistisches Mehrparteiensystem erwogen ha-
ben. Dieser Zweckdemokratismus war jedoch wenig glaubhaft, wenn man die
Fortsetzung der Fraktionskämpfe in der Vierten Internationale betrachtet. Nur
in Ceylon wurde eine trotzkistische Bewegung einmal zweitstärkste Partei. Selbst
in der weltweiten Studentenrevolte spielten die Trotzkisten eine untergeordnete
Rolle, die sie durch die Entwicklung des „Entrismus“ – Eindringen in andere
Gruppierungen – zum Teil kompensierten. Sie wurden gleichwohl keine politi-
sche Bewegung von der Bedeutung der Castristen und Maoisten.

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236 Marxismus

Literatur
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3 Ein nicht-leninistischer Kommunismus in Italien:


Antonio Gramsci (1891 – 1937)

Gramsci war der Sohn eines Finanzbeamten in Sardinien. Er studierte Sprachwis-


senschaften und Recht. Croce hat ihn zur Lektüre der Werke von Karl Marx an-
geregt. Seit 1913 war Gramsci Mitglied der Sozialistischen Partei. Statt der einst
geplanten Karriere eines Wissenschaftlers trat er 1915 in die Redaktion der sozia-
listischen Zeitung „Avanti“ ein. Bei Ausbruch des Krieges hielt er Mussolinis Op-
position gegen die laue Haltung des PSI zum Kriegsbeitritt noch für eine linke
Position. Mussolini wurde aus der Partei ausgeschlossen, Gramsci wurde von der
Partei gerügt, weil er den Krieg in eine Revolution umzuwandeln hoffte. Die Ok-
Ein nicht-leninistischer Kommunismus in Italien 237

toberrevolution hat Gramsci begrüßt, sehr zum Unwillen der Parteileitung. 1919
wurde er Gründer der Zeitschrift „L’ordine nuovo“ und Führungsmitglied der So-
zialistischen Partei. In seiner Zeitschrift wurde nicht mehr paternalistisch für die
Hebung des Bildungsstands der Arbeiter gekämpft, sondern er ließ sie selbst zu
Worte kommen. Als Mitgründer der Turiner „Sektion des russischen Proletkults“
hoffte er die Futuristen und vor allem Marinetti zu sich herüber zu ziehen. Aber
Marinetti näherte sich immer stärker den Faschisten an. Trockij (Literatura i re-
voljucija. Moskau 1923) publizierte später einen Artikel, den Gramsci (SP: 530) als
Brief nach Moskau über den Futurismus schrieb. Der Brief war erstaunlich sach-
lich geschrieben. Fast alle Futuristen waren Faschisten geworden, aber die Gruppe
Marinetti hatte sich aufgelöst, wie Gramsci feststellte. Etwas übertreibend sah er
als kreative Kraft den „Proletkult“ an seine Stelle treten.
Im Juni 1919 propagierte Gramsci die Transformation der Betriebskommis-
sionen in Räte. Als die Sozialistische Partei sich 1921 in Livorno spaltete, wurde
Gramsci Generalsekretär der Kommunistischen Partei. 1922 nahm er an einer
Komintern-Konferenz in Moskau teil. Gramsci hat früher als die Kommunis-
ten unter Amadeo Bordiga die faschistische Gefahr erkannt. Das bedeutete frei-
lich nicht, dass er mit allen Detailprognosen immer richtig lag. Noch 1921 hat er
„zwei Faschismen“ entdeckt und unterstellt, dass der parlamentarische Flügel un-
ter Mussolini sich vom „intransigenten“ Teil abspalten werde (SP: 476). Die Frak-
tionen gab es zwar, aber Mussolini gelang es sogar, die Nationalisten mit in seinen
„Block“ einzubinden. Für ihn waren nicht alle bürgerlichen Kräfte von der glei-
chen Art, und die bürgerlichen Freiheitsrechte hielt Gramsci für durchaus vertei-
digenswert. Seine Vorstellung einer Revolution war nicht die putschistische einer
kleinen Kaderelite. Nur die Massen konnten in seinen Augen den Faschismus ver-
hindern. Italien erlebte die erste faschistische Machtergreifung in Europa. Es war
daher kein Zufall, dass hier die Neigung in der Linken am größten war, die alte
Komintern-Taktik gegen die „Sozialfaschisten“ zu überdenken und Volksfront-
bündnisse zu fördern. 1921 hatte Gramsci (SP: 436 f) die Rolle der Sozialisten mit
ihren „pseudomarxistischen Phrasen“, welche eine Revolution als Wunderglau-
ben belächelten, selbst noch sehr kritisch gesehen. Aber die gemeinsame Verfol-
gungserfahrung seit dem Mord an Sozialistenführer Matteotti, den Gramsci wie
ein religiöses Opfer überhöhte (SP: 574 f), hatte zu Annäherungen geführt. Was
sich in Italien ab 1926 als Konzept im Untergrund durchsetzte – mit Ausnahme
bei den „Betonköpfen“ um Bordiga – ist in der Komintern erst 1935 konsensfähig
geworden.
Gramsci kämpfte für eine Öffnung der Partei und für Bündnisse mit den
christlichen Bauern, die für die Popolari-Partei wählten. Im Gegensatz zur Mehr-
heit seiner Partei setzte Gramsci nicht auf Gegencoups zur Erringung der Macht
(Colpo di Stato, 1921 SP: 463 ff), sondern auf eine „lange Welle“ zur grundlegen-
238 Marxismus

den Transformation der Gesellschaft. Gramsci war in Moskau, als die Polizei nach
der faschistischen Machtergreifung Bordiga und andere Führungskräfte der Par-
tei verhaftete. Auch gegen Gramsci wurde ein Haftbefehl ausgestellt. Die Justiz war
damals noch nicht so korrumpiert. Der Prozess endete mit Freispruch. Gramsci
konnte mit einem Zwischenaufenthalt in Wien nach Italien zurückkehren.

Denken und Fühlen

Widersprüche zwischen Denken und Fühlen hat Gramsci in seiner langen Haft-
zeit immer wieder quälend durchdacht. Aufgrund der langen Isolierung war diese
Kluft personal stark fixiert. 1922 lernte Gramsci in Moskau Giulia Schucht ken-
nen. Sie hatte am Konservatorium in Rom ein Studium der Musik abgeschlossen.
Noch während ihres kurzen gemeinsamen Lebens in Moskau gab sie die Karriere
als Violinistin zugunsten einer revolutionären Praxis als Sekretärin einer kommu-
nistischen Parteisektion auf. Gramsci hat sich mit der Enge dieser bürokratischen
Arbeit unter Vernachlässigung ihres künstlerischen Talents nie abfinden können,
und machte diesen Wechsel für die wachsenden Depressionen seiner Frau verant-
wortlich (GB: 92, 108). Er sah, dass Giulia Hilfe brauchte. Zu einer Psychoanalyse
mochte er ihr gleichwohl nicht raten, weil durch sie noch eine zweite Kontrolle
über die Persönlichkeit errichtet werde. Auch über die Erziehung seiner Kinder
kam es mit Giulia zu Meinungsverschiedenheiten. Ihre Billigung der sowjetischen
Erziehungspolitik, welche die Kindererziehung zunehmend den Eltern entwand
und „der Gesellschaft“ übertrug, kommentierte er ironisch: „Weißt Du, daß mir
das mehr nach Rousseau als nach Lenin aussieht ? Glaubst Du, daß die beste al-
ler kommunistischen Gesellschaften die Bedingungen für die individuellen Be-
ziehungen grundsätzlich ändern kann“ ? (GB: 15). 1931 äußerte sich Gramsci noch
entschiedener gegen die sowjetische Pädagogik, die das Prinzip der „Sturmbriga-
den“ und „Spezialistenabteilungen“ schon in die Grundschule hineintrage, und
über die Neigungen und Talente der Kinder hinweg „administriere“ (GB: 105).
1935 äußerte Gramsci noch einmal die Hoffnung, dass seine Frau nach Italien
komme. 1936 resignierte er. Giulia aber blieb auch in den letzten Briefen das Zen-
trum seiner Gedanken und Gefühle.
Nach dem faschistischen Coup von 1922 wurde Gramsci 1924 noch ins Par-
lament gewählt. 1926 wurde er verhaftet und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt.
Immerhin durfte er lesen und schreiben. Die Briefe, die er mit seiner Schwäge-
rin, der Russin Tatjana Schucht austauschte, und die von ihr geretteten „Gefäng-
nishefte“, waren die wichtigsten Quellen zum Denken des isolierten Gramsci.
Tatjana Schucht hat die Kontakte Gramscis mit seiner Familie aufrechterhalten
und eine tiefe Freundschaft mit dem Inhaftierten entwickelt. Die Frau, durch die
doppelte Zensur der Faschisten und der Sowjets dem Gatten entfremdet, wurde
Ein nicht-leninistischer Kommunismus in Italien 239

gleichsam durch eine Verdopplung in der Schwester wachgehalten. Verzweifelt


versuchte Gramsci (GB: 89) aus der Isolierung heraus die doppelte Rekonstruk-
tion der Persönlichkeiten der Partner brieflich zu leisten, weil er fürchtete, dass
die „gegenseitigen Beziehungen letztlich konventionell, byzantinisch und wenig
spontan werden, und man überlegt nicht, dass die durch solche Zäune aus Sta-
cheldraht verursachten Gefühle die gegenseitigen Beziehungen gereizt und krank-
haft machen“. Die Identifizierung von menschlichen Gefühlen und Politik, mit
der Gramsci sich in übermenschlicher Anstrengung im Gefängnis am Leben hielt,
schien der Partei nicht linientreu genug. Lange hat Togliatti die Briefe der Schwes-
tern Schucht an Gramsci unter Verschluss gehalten und erste Veröffentlichungen
manipuliert, um seine Gramsci-Legende nicht zu gefährden.

Politik und Revolution

Im Gefängnis hat Gramsci den Dogmatismus des anti-sozialistischen und anti-


sozialdemokratischen Kurses der Komintern verurteilt und sich auch von sei-
ner Partei ab 1928 innerlich entfernt. 1926 – vier Wochen vor seiner Verhaftung –
hatte er noch einen Brief an das Zentralkomitee der KPdSU geschrieben. Darin
hatte er für die dominante Fraktion um Stalin und Bucharin gegen die Opposition
Zinovev – Kamenev Stellung genommen, aber zugleich auf die Verdienste von
Trockij und Zinovev hingewiesen. Gramsci stellte seinen sowjetischen Genossen
die Notwendigkeit vor, als Vorbild zu wirken, weil alle Arbeiterparteien des Wes-
tens noch von Fraktionen des Reformismus und Syndikalismus durchsetzt seien.
Seine Konklusion lautete: „Nur eine feste Einheit und feste Disziplin in der Par-
tei, die den Arbeiterstaat regiert, kann die proletarische Hegemonie unter Bedin-
gungen der NEP („Neue ökonomische Politik“), welche wieder stärker privatwirt-
schaftliche Initiativen zuließ) sichern, … aber die Einheit und Disziplin können in
diesem Fall nicht aus mechanischen und erzwungenen Maßnahmen resultieren;
sie müssen loyal sein und auf Überzeugung beruhen …“ (SP: 718 f). Dieser Brief
führte zu schweren Zerwürfnissen mit Togliatti. Gramsci wurde selbst unter sei-
nen kommunistischen Mitgefangenen isoliert.
Togliatti und die Nachkriegspartei haben den Wandel im Denken Gramscis
nicht wahrhaben wollen, und ihn auf die Gefängnis-Zensur geschoben. Kurz
vor seinem Tode wurde Gramsci „auf Bewährung“ freigelassen. Bald darauf er-
lag Gramsci den Folgen seiner durch lange Haft ruinierten Gesundheit. Als Anti-
legende kam der Verdacht auf, dass Moskau nicht unglücklich war, dass Gramsci
an der Verbreitung seiner Ideen durch die Haft gehindert wurde, da man ihn des
insgeheimen „Trotzkismus“ verdächtigte.
Gramsci glaubte nicht mehr, dass es in Mitteleuropa Revolutionen wie die in
Russland geben könne. Die Differenzierung der Gesellschaft und die Netze der
240 Marxismus

kulturellen Bevormundung verschleierten in seinen Augen den Klassenantago-


nismus, und machten ihn für viele Proletarier nicht direkt erlebbar. Der Staat war
für Gramsci nie nur Zwangsapparat, sondern auch Erzieher (1967: 358). Die russi-
schen Revolutionäre hingegen hatten davon profitiert, dass es keinerlei Freiheiten
im Land gab (QdC: 1666). Der Staat war in seinen Augen stabiler als die Revolu-
tionsrhetoriker unterstellten. Eine zivile Gesellschaft mit Moral und Sitte – orga-
nisiert in privaten Organisationen – hatte sich zwischen die antagonistischen Pole
geschoben, und machte staatsstreichähnliche Machtergreifungen durch das Pro-
letariat zunichte (LdC: 1566). Nicht ein revolutionärer Bewegungskrieg, sondern
nur ein lange währender Stellungskrieg konnte in Gramscis Augen den Sieg des
Proletariats bringen. Die Schaffung eines proletarischen Staates war für Gramsci
(SP: 223) ein langer „Entwicklungsprozess“. Stadt- und Landarbeiter müssen
durch Systematisierung der Propaganda reif für den Prozess sein, weil sonst die
Revolution nur wieder in einem neuen Parlament mit den alten Fraktionsstrei-
tigkeiten enden werde. Besonderes Augenmerk legte Gramsci (SP: 226 ff) auf die
Einheit von Arbeitern und Bauern in „kapitalistisch zurückgebliebenen Ländern,
wie Russland, Italien, Frankreich und Spanien“, in denen eine tiefe Kluft zwischen
Stadt und Land bestehe. Seine Analyse der Möglichkeiten zu einem Aufhalten
der faschistischen Flut schien pessimistischer als bei den orthodoxen Leninisten.
Aber unverdrossen propagierte er seine Devise, die er Pascal und Rolland entlehnt
hatte: „pessimismo dell’intelligenza, ottimismo della voluntà“ (SP: 418).
Die Polemik Gramscis gegen kurzschlüssigen Revolutionarismus richtete sich
nicht nur gegen die revolutionären Imitatoren Russlands, sondern auch gegen
Sorel’s Syndikalismus, der in der Linken und der Rechten Italiens einige Anhän-
ger hatte. Gramsci hatte selbst eine Phase des syndikalistischen Einflusses durch-
laufen, in der er Sorels „Produzentenethik“ pries und die Fabrikräte in kurzschlüs-
siger Form als eine Art „Gegenstaat“ verherrlichte. Rasch erkannte Gramsci in
„Sindacalismo e consigli“ (1919) jedoch, dass der Syndikalismus nicht zur Über-
windung der kapitalistischen Gesellschaft führe. Der Syndikalismus war für ihn
„pseudorevolutionär“. Einst war er bereit gewesen, die Autonomie der Räte gegen-
über den Parteien und Gewerkschaften zu verteidigen. In den Jahren industriel-
ler Konflikte 1919/20 zeigte sich jedoch, dass aus den unkoordinierten Aktionen
der Räte keine dauerhaften Erfolge hervorgingen. In den „heißen Herbsten“ der
1960er und 1970er Jahre haben viele Neomarxisten, die Gramsci verehrten und
von Räten träumten, diesen Wandel im Denken ihres Idols verdrängt.
Georges Sorel als einflussreicher Syndikalist (vgl. Kap. III. 5) wurde zuneh-
mend kritischer besprochen. Sorel hatte in Gramscis Augen Proudhons Bot-
schaft verfälscht und sei kein „interesseloser Freund des Proletariats“. Die Arbei-
ter bei Fiat hatten jedoch nach seiner Hoffnung verstanden, dass proletarische
Institutionen nur „di lunga mano“, von langer Hand, geschaffen werden könn-
Ein nicht-leninistischer Kommunismus in Italien 241

ten (SP: 245). Für Gramsci entpuppte sich der Syndikalismus immer mehr als
„eine Art Liberalismus …, der mit einigen verstümmelten und deshalb banalisier-
ten Behauptungen der Philosophie der Praxis legitimiert wird“ (GH VII: 1566).
Gramscis Kulturkonzept war naturgemäß auch gegen die ökonomistischen Ten-
denzen in der Arbeiterbewegung gerichtet. Ihm wurde die eigentlich von Lenin
stammende Formel „je schlimmer, desto besser“ unterschoben. Die Wahlenthal-
tungsstrategien der Ökonomisten und Syndikalisten hat Gramsci scharf verurteilt
(GH VII: 1567).
Unterschiede zwischen Russland und der westlichen Welt wurden für Gramsci
durch die „società civile“, die Zivilgesellschaft, konstituiert. Nur in Russland war
die Zivilgesellschaft in seinen Augen so unterentwickelt, dass dort der autokra-
tische Staat durch einen Coup d’état hinweggefegt werden konnte. Im Westen hin-
gegen war der Staat kaum mehr als ein „exponierter Schützengraben“ (LdC: 866).
Gramsci war einer der damals seltenen westlichen Kommunisten, welche die bür-
gerlichen Freiheiten nicht nur für eine Farce hielten. Der Begriff der Zivilgesell-
schaft erhielt bereits bei Gramsci den positiven Klang, den er in der Postmoderne
wieder erlangen sollte. Er war nicht identisch mit der herkömmlichen „bürger-
lichen Gesellschaft“. Mit der Zivilgesellschaft erhielt zugleich der kulturelle Über-
bau eine weit positivere Bedeutung als im orthodoxen Marxismus. Politische und
zivile Gesellschaft wurden zunehmend durch den Hegemoniebegriff verbunden
(Phil: 429).
Die Gefahren des Faschismus hat Gramsci mit seinem kulturalistischen An-
satz weitsichtiger erkannt, als die ökonomistisch bornierten Marxisten seiner Zeit:
er sah, wie geschickt sich Mussolini in der Kultur der Massen durchsetzte.

Kultur, Hegemonie und Politik

Gramsci empfand unter Berufung auf Labriola die Notwendigkeit, den Marxis-
mus fortzuentwickeln. Die „Philosophie der Praxis“ wurde im Gefängnis zu einer
Metapher zur Irreführung der Justiz, damit sie den Klartext „Marxismus“ nicht er-
fasste. Aber der Ausdruck hatte auch schon vorher eine in Gramscis Denken tief
angelegte Bedeutung. Gegen die positivistischen Tendenzen des nachmarxschen
Marxismus – vor allem bei Engels – mit der Trennung der Seinsbereiche hielt
Gramsci an einem Konzept der Totalität aller Lebensbezüge fest. Der historische
Materialismus sollte sich von anderen Weltanschauungen dadurch unterscheiden,
dass er die „integrale Geschichte“ erfasse. Philosophie und Ideologie waren – wie
die Auseinandersetzung mit Croce zeigen sollte – nur Stufen einer einheitlichen
Struktur des Überbaus. (vgl. Priester 1981: 79).
Gramscis Theorie der Politik wurde in der Sekundärliteratur vornehmlich un-
ter dem Hegemonie-Begriff abgehandelt. Er hat ihn nicht erfunden. Auch Lenin
242 Marxismus

fand ihn Ende des 19. Jahrhunderts bereits in der russischen Intelligencija-Diskus-
sion von Plechanov bis Martov vor. Die Behauptung von früheren Parteiideolo-
gen (Gruppi 1977: 23): „Die Hegemonie bringt Gramsci in die Nähe von Lenin“ ist
eine Übertreibung. Gramsci konnte sich zwar anfangs noch auf Lenin (LW. Bd. 17:
218 f) berufen, aber Gramscis Begriff der kulturellen Hegemonie hat sich weit vom
machtpolitischen Konzept des Leninismus entfernt, das sich in verschiedenen Re-
solutionen der Komintern niederschlug.
In den Gefängnisheften hat sich Gramsci an den bürgerlichen Vorläufern einer
kulturellen Hegemoniepolitik orientiert. Da Italien weder objektiv noch subjektiv
eine Einheit darstellte, schien es interessant herauszufinden, wie die Intellektuel-
len des Risorgimento die „Hegemonie eines Führungszentrums für die Intellek-
tuellen“ errichteten. Er sah zwei Methoden: „1. eine allgemeine Lebensauffassung,
eine Philosophie (Gioberti), die den Anhängern eine intellektuelle ‚Würde‘ ver-
leiht, die ein Prinzip der Distinktion und ein Element des Kampfes gegen die alten,
durch Zwang herrschenden Ideologien liefert; 2. ein schulisches Programm, ein
originelles Erziehungs- und Pädagogikprinzip, das diejenige Fraktion der Intel-
lektuellen, welche die homogenste und zahlreichste ist (die Lehrkräfte vom Volks-
schullehrer bis zu den Universitätsprofessoren), interessiert und ihr eine eigene
Aktivität auf ihrem Fachgebiet gibt“. Er bewunderte die Gemäßigten (moderati)
mehr als die Radikalen, weil sie es verstanden hatten, der Masse der Intellektuel-
len alle Befriedigungen der allgemeinen Ansprüche über staatliche Dienstleistun-
gen zu bieten. Gioberti – obwohl dieser als ziemlicher reaktionär begonnen hatte
(vgl. Bd. 1, Kap. III. 5) – wurde hoch gelobt. Er hatte Italien intellektuell auf das Ni-
veau der fortgeschrittenen Nationen gestellt, und dem italienischen Denken neue
Würde verliehen. Die Radikalen wie Mazzini hingegen boten nur „nebulöse Äuße-
rungen und philosophische Andeutungen, die vielen Intellektuellen, vor allem aus
Neapel, als leeres Gerede erscheinen mussten“ (GH VIII: 1979 f). Die Intellektuel-
len hatten ihre Hegemonie gleichsam mit der richtigen Mischung von Stolz auf
das Eigene – etwa im Primato-Gedanken Giobertis – und der Entlehnung auslän-
discher Vorbilder errichtet. Zu den ausländischen Vorbildern gehörte die spani-
sche Cortes-Verfassung von 1812. Sie war nach Ansicht Gramscis (GH VIII: 1993)
in Italien so beliebt gewesen, weil Spaniens Situation „exemplarisch“ für das ab-
solutistische Europa schien und weil seine Lösungen allen Ländern mit einem
„Mezzogiorno-Problem“ angemessen schienen.
Gramsci hat den Hegemoniebegriff auf alle staatlichen Systeme ausgeweitet.
Die Vormachtstellung einer sozialen Gruppe offenbarte sich für ihn durch Herr-
schaft und durch geistige und moralische Führung. Eine revolutionäre Klasse
musste diese geistige Führung nicht erst nach der Machtübernahme ausüben.
Sie war bereits Vorbedingung der Machtergreifung. Hegemonie in der zuneh-
menden Distanzierung vom Leninschen Sprachgebrauch führte zu einer bedeu-
Ein nicht-leninistischer Kommunismus in Italien 243

tenden Revision marxistischer Theorie: Hegemonie wurde für einige Interpreten


zur Alternative der für freiheitliche Marxisten anrüchigen „Diktatur des Prole-
tariats“ (Roth 1972: 103 ff, Koppel 1976: 19 f). Andere (Schreiber 1980: 43) bestan-
den hingegen darauf, dass Gramsci nie einen Gegensatz zwischen beiden Begrif-
fen konstruiert habe. Der Scharfsinn der Interpreten gibt allen recht: einerseits hat
Gramsci auch weiterhin von der Diktatur des Proletariats gesprochen, wenn auch
nicht mit der Verve der Leninisten, andererseits erlangte der Hegemoniebegriff
auch eine „Hegemonie-Stellung“ in Gramscis Denken, der vom Leninismus weg-
führte. Da Gewalt von Gramsci durch Überzeugung, und Zwang durch Konsens
ersetzt wurde, wurde auch der Herrschaftsbegriff verdrängt und durch „Führung“
ersetzt (vgl. Buci-Glucksmann 1982, Schreiber 1982: 74). Damit vollzog sich im de-
mokratischen Kommunismus eine Entwicklung, die Parallelen in der angelsächsi-
schen Elitentheorie aufwies.
Das Ausmaß der Hegemonie wurde auch zum Kriterium einer neuen Typolo-
gie der Regime. Das „hegemoniale Modell“, wie es unter den Jakobinern der Re-
volution bestanden hatte, sah er als Gleichgewicht von Gewalt und Konsens an.
Demgegenüber waren die Systeme, in denen das parlamentarische Regime sich
aufzulösen begann, nur „transformatorische Modelle“. Sie waren – wie in Italien
bis zum Faschismus – noch ohne Gleichgewicht zwischen Konsens und Gewalt.
Ein Konsens der hegemonialen Klasse mit den verbündeten Schichten war noch
nicht erreicht. Die Trasformismo-Politik der gemäßigten Linken seit Depretis und
Crispi führte Gramsci zu einer Neuinterpretation der Elitendynamik: die herr-
schende Klasse kooptierte die Führung durch Teilhabe an der „clientela-Politik“,
und beraubte damit die tendenziell oppositionellen Massen ihrer Führung. In die-
sem Prozess stellte die Bourgeoisie keine Einheit dar. Die Liberalen optierten für
den „Nachtwächterstaat“ (oder italienisch: Karabinieri-Staat), die Konservativen
eher für den „Interventionsstaat“ aus Gründen eines außenwirtschaftlichen Pro-
tektionismus (GH IX: 2207 f). Der Protektionismus wurde nicht nur als ein Mittel
der Bereicherung der traditionellen Oberschichten angesehen, sondern auch als
ein Instrument zur Reintegration der Unterschichten, denen man auf diese Weise
höhere Löhne garantieren konnte.
Auch hinsichtlich der Lehre von der Partei hat man Gegensätze zu Lenin her-
ausgearbeitet. Gramsci hat der Partei gerade wegen seines Erziehungskonzepts
eine steigende Bedeutung beigemessen. „Bewegung“ war nicht ausreichend, sie
musste „Partei“ werden und sie wurde es durch intellektuelle Führungskader. Ge-
gen eine Überschätzung der Rolle von Parteikadern – die er ja auch in Briefen an
seine Frau in Moskau angesichts der tristen bürokratischen Praxis einer Parteise-
kretärin gerügt hatte – ist von den Orthodoxen Sturm gelaufen worden. Trotzig
erklärte Gramsci (Phil: 415): „Daß alle Mitglieder einer politischen Partei als In-
tellektuelle angesehen werden müßten, ist eine Feststellung, die zu Karikaturen
244 Marxismus

Anlaß geben könnte; dennoch, genaugenommen, ist nichts exakter als dies“. Der
„ideelle Gesamtkapitalist“ bei Engels hatte sein revolutionäres Pendant bekom-
men: „die Partei als Kollektivintellektueller“. Machiavelli schien bei diesem neuen
„Principe“ Pate zu stehen – nicht Marx.
Gramsci leistete einen wichtigen Beitrag zur historischen Typologie der Par-
teien. Kader- oder Elite-Parteien und Massenparteien sind vielfach unterschie-
den worden. Gramsci sah durch die Politik der Blockbildung eine Tendenz zur
Massenpartei gestärkt. Innerhalb der Blöcke kristallisierte sich in Gramscis Augen
eine „organische Partei“ heraus, welche die verschiedenen Gruppierungen zum
Einheitsblock zusammenschweißt (Phil: 309).
Als Journalist und Sprachwissenschaftler hatte sich Gramsci seit langem für
die Volks- und sogar für die Trivialkultur interessiert, da sie einen tiefen Ein-
fluss auf die Gewohnheiten des Volkes ausübten. Kritisch sah Gramsci (GH VIII:
2035 ff), dass viele Intellektuelle unterstellten, seit dem Risorgimento existiere eine
populäre italienische Nationalkultur. Er hingegen sah aus seinen Erfahrungen aus
der sardinischen Peripherie, dass das Volk dem Risorgimento-Mythos und den
konstruierten Kontinuitätsfiktionen „vom alten Rom zum neuen Italien“ gleich-
gültig und fremd gegenüber stand. Marxistische Agitation musste an die Popu-
larkultur der Fortsetzungsromane anknüpfen, ohne auf die Pflege der Hochkultur
zu verzichten. Dabei kam es Gramsci auf eine schöpferische Kulturpolitik an, die
nicht – wie selbst bei Lukács – versuchte, einen Kanon in der Entwicklung vom
kritischen Realismus zum sozialistischen Realismus festzuschreiben. Mit dieser
Konzeption von Kultur und Politik wurden auch die Grenzen von Croce deut-
lich, der großen Einfluss auf den jungen Gramsci ausgeübt hatte. Gramsci ist vor
allem von seinen Kritikern im Marxismus als verkappter idealistischer Crocea-
ner angesehen worden, der die Kulturprozesse über die Analyse der ökonomi-
schen Basis setze. In seinen Betrachtungen über die „meridionale Frage“ (1926,
SP: 739) in dem Hegemonie negativ demonstriert wurde, weil alle wichtigen Zeit-
schriften und Intellektuellen aus der Toscana zu kommen schienen, hat er Croce
das große Verdienst eingeräumt, als Exponent des „blocco intellettuale“ eine „na-
tionale Funktion“ ausgeübt zu haben. Er hatte die Süditaliener über das Image des
„Landarbeiters“ hinausgehoben. Gramsci hat sich aber trotz dieses Fundus an tie-
fer Bewunderung im Gefängnis zunehmend schärfer in die Kritik der Croceschen
Politik-Philosophie eingelassen. Croces Identität von Politik und „wahrer Philo-
sophie“ (vgl. Bd. 1, Kap.IV. 4) hat Gramsci (GH VI: 1255) für unhaltbar erach-
tet, weil sonst Philosophie und Ideologie, die auch Croce strikt scheiden wollte,
nicht mehr zu differenzieren seien. Gramsci (GH VII: 1545) hat Croce, der selbst
1944 zum Parteiführer wurde, zu Recht vorgeworfen, dass seine „Politik-Leiden-
schaft“ die Parteien ausschließe und dass er ihnen „keine große theoretische Be-
deutung“ beimaß. Croce verkannte in Gramscis Augen die Institutionen, vor al-
Ein nicht-leninistischer Kommunismus in Italien 245

lem die militärische und zivile Bürokratie und drohte so bei allem aufrechtem
Antifaschismus letztlich doch nur „die Matrix des Gentileschen ‚Aktualismus‘ zu
bilden“ (GH VI: 1238).
Gramsci kritisierte im Gefängnis auch Positionen in der italienischen Lite-
ratur, welche einer platten Realpolitik das Wort redeten. Machiavelli wurde für
Gramsci durch die Reduzierung auf bloße Realpolitik stark verkannt (SP: 745 ff,
GH VIII: 1895 ff). Machiavelli wurde häufig gegen Savonarola ausgespielt und in
einen Gegensatz zwischen Sein und Sollen gepresst. Machiavelli war für ihn je-
doch ein konkreter Normativist, wo Savanarola nur ein abstraktes, nebelhaftes
Sein-Sollen intendierte (GH VI: 1555).

Die Rolle der Intellektuellen

Gramsci hat sich im Rahmen seiner Symbiose von Kultur und Politik vor allem
kritisch mit der Rolle der Intellektuellen auseinandergesetzt. Die Heranbildung
von Intellektuellenschichten sah er nicht abstrakt als gesellschaftlichen Prozess,
sondern von konkreten historischen Prozessen bedingt an. Es haben sich Schich-
ten gebildet, die traditionell Intellektuelle „produzieren“, und es waren für ihn die
gleichen, die sich gewöhnlich auf das „Sparen“ spezialisierten, nämlich das grund-
besitzende kleine und mittlere Bürgertum. Gleichwohl gab es keine einheitliche
Intelligencija. Das ländliche Bürgertum brachte in seinen Augen vor allem Staats-
beamte und Freiberufler hervor, das städtische Bürgertum stellte hingegen die
Techniker für die Industrie. Stadt und Land ließen sich auf die Nord-Südfrage in
Italien übertragen. Gramsci (GH VII: 1502) unterschied zwei „Superstrukturen“,
die Ebene der Zivilgesellschaft, welche die Funktion der Hegemonie ausübten
auf der Basis von privaten Organisationen und die Ebene der politischen Gesell-
schaft des Staates, wo die Herrschaft ausgeübt werde. Gramsci kam zu einer erheb-
lichen Ausweitung des Intelligenzbegriffs, mit einer differenzierten Unterteilung
der Funktionen als Gehilfen der Herrschaft. Während die ländlichen Intellektu-
ellen weitgehend traditionell blieben, verschmolzen die städtischen Intelligenzler
zunehmend mit dem „industriellen Generalstab“. Neu an Gramscis Elitentheo-
rie war, dass er im Gegensatz zu Mosca und Pareto (vgl. Bd. 1, Kap. IV. 4) die
Vermittlungsfunktionen der Partei stärker würdigte. Pareto wurde nicht zu Un-
recht „Formalismus und Schematismus“ vorgeworfen (GH VII: 1633). Die Ver-
schmelzung mit den organischen Intellektuellen hatte jedoch ihre Nachteile, weil
es vorkomme, dass „viele Intellektuelle meinen, sie seien der Staat“. Der Staat seien
aber allenfalls die „grundlegenden ökonomischen Gruppen“, für die die Intellek-
tuellen arbeiteten. Ein weiteres Verdienst der Elitentheorie bei Gramsci war die
historische Differenzierung, die er für alle großen Länder vornahm, ohne die Ent-
deckung „ewiger“ Paretoscher Elitenzirkulationsgesetze zu beanspruchen. Auch
246 Marxismus

Moscas Begriff der „politischen Klasse“ war ihm zu konfus, weil er mal die Indus-
triellen und die Bürokratie ausschloss und mal nicht. Dabei war erstaunlich, wie
der Inhaftierte bis hin zu Max Webers und Vilfredo Paretos Schriften, einen gu-
ten Teil der internationalen soziologischen Literatur noch zur Kenntnis nehmen
konnte (GH VII: 1509, 1632). Gelegentlich musste er die Literatur freilich aus dem
Gedächtnis zitieren und vermerkte: „nachzusehen“.

Ökonomie

Gramscis Beschäftigung mit der Ökonomie ist keineswegs von seinen kulturalisti-
schen Interessen verdrängt worden. Seine Analyse des „Amerikanismus und For-
dismus“ war für die Neomarxisten später eine Inspirationsquelle. Prozesse, die für
Gramsci (GH IX: 2063 ff) die Ökonomie veränderten, konnte er nur noch skizzie-
ren. Dazu gehörte die Ersetzung der alten plutokratischen Schicht durch ein neues
Finanzkapital – kein ganz neuer Gedanke in der marxistischen Literatur seit Lu-
xemburg und Hilferding. Er erkannte auch die Bedeutung der sexuellen Frage,
welche die ökonomistischen Deterministen verdrängt hatten. Die Studentenre-
volte von 1968 hat in diesem Punkt gern auf Gramsci zurückgegriffen. Angesichts
der psychischen „tertiären Armut“ in seiner Familie hat er sich sogar mit der Psy-
choanalyse auseinander gesetzt. Aber er blieb kritisch. Ein revolutionärer Liber-
tinismus wie bei den Freudo-Marxianern der 68er Generation war jedoch aus
Gramsci nicht heraus zu interpretieren: „Auch die ‚psychoanalytische‘ Literatur
ist eine Weise, die Regulierung der Sexualtriebe in einer mitunter ‚aufklärerischen‘
Form zu kritisieren, mit der Schaffung eines neuen Typus des ‚Wilden‘ auf sexuel-
ler Basis“ (GH IX: 2071). Gramsci befasste sich auch mit der Frage, ob der „Ame-
rikanismus“ ein bloß regionales oder ein Epochenphänomen darstelle. Er ging er-
staunlich eigenständig mit der marxistischen Orthodoxie um, wenn er die Frage
aufwarf, inwieweit der Fordismus das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate
außer Kraft setze. Während die sowjetische Ökonomie nach immer neuen Anzei-
chen für den großen „Krach“ im Namen der Zusammenbruchstheorie suchte, er-
kannte Gramsci, dass neue Beschäftigungsformen im tertiären Dienstleistungs-
sektor dem Kapitalismus neue Überlebenschancen versprachen.
Zugleich wurde Gramsci jedoch zum Vordenker eines Marxismus, der die re-
gionalen Fragen wieder ernst nahm. In seinen Betrachtungen zur Mezzogiorno-
Frage hat er beschrieben, wie die norditalienische Bourgeoisie den Süden und die
Inseln zu Ausbeutungsobjekten degradiert habe, und dass von diesem Prozess
selbst die norditalienischen Arbeiter profitiert hatten (SP: 721). Aber im Gegen-
satz zum „Third Worldism“ jener Neomarxisten, die sich später gern auf Gramsci
beriefen, sah er keinen unausweichlichen circulus vitiosus von Ausbeutung und
Verarmung ablaufen. Gramsci setzte auf Bündnisse des Proletariats mit der Land-
Ein nicht-leninistischer Kommunismus in Italien 247

bevölkerung und den lokalen Intellektuellen-Eliten. Hegemoniale Politik sollte


für Gramsci ein nationales und anti-korporatives Programm der Bevölkerungs-
mehrheit sein. Damit unterschied sich Gramscis Vorstellung durchaus von der
herkömmlichen Bündnispolitik im marxistischen Denken, welche nur taktische
Kompromisse vorsah. Gramsci war an der Findung eines wirklichen Interesses der
Mehrheit der Bevölkerung interessiert.
Nach dem zweiten Weltkrieg, wusste selbst in Italien kaum jemand, wer
Gramsci gewesen ist. Die Partei ehrte einen Vordenker, nur weil er tot war – ähn-
lich wie die SED mit Rosa Luxemburg verfuhr. Zehn Jahre später erlebte Gramsci
eine Renaissance, die ihresgleichen im marxistischen Lager nicht hatte (Anderson
1978: 71 f). Ein Marxist, der sich selbst strikt gegen die Opferrolle wehrte, die
man ihm aufzwang, schien doppelt bewundernswürdig. 1927 behauptete er noch:
„Bordiga und ich haben niemals seit unserer Verhaftung unter irgend etwas gelit-
ten“ (GB: 44). Ein Denker, der Persönliches und Weltanalyse so scharfsinnig zu-
sammenführte, war einmalig in der Geschichte des politischen Denkens, nicht nur
im Marxismus. Seine Gefängnishefte steckten voller scharfsinniger Kritik, aber
selbst in Besprechungen von Mussolini-Texten enthielt Gramsci sich der im Mar-
xismus seit Marx eingerissenen wüsten Polemik (GH IX: 2129 f). Gramsci war ein
unkompromittierter Akteur der Politik, der Einheit von Theorie und Praxis lei-
dend lebte. Er wurde nicht durch die Langeweile rasch veraltender Traktate à la
Kautsky überholt. Gramsci hinterließ im gigantischen Torso seiner Gefängnis-
hefte Anregungen für eine kreative Weiterentwicklung der Linken vom Postfor-
dismus, der sexuellen Revolution und des „Drittweltismus“ bis zur Sozialanalyse
der Spätmoderne – in brillanter Sprache, ohne Parteijargon, interpretationsbe-
dürftig, aber ohne bewusst inszenierten kryptischen Tiefsinn.

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V. Sozialdemokratismus

1 Sozialdemokratie in Deutschland:
Lassalle, Kautsky, Bernstein

Ferdinand Lassalle (1825 – 1864)

Lassalle wurde in Breslau als Sohn eines aus dem Osten eingewanderten Juden ge-
boren, der es zum liberalen Stadtverordneten brachte. Anfangs hatte Lassalle noch
Interesse an den jüdischen Zuwanderern. Später hat er jüdische Belange als über-
holten Partikularismus abgelehnt, trat aber niemals aus der jüdischen Gemeinde
aus. Eduard Bernstein (1919: 29) monierte in seiner Studie über Lassalle das ihm
seine jüdische Herkunft lebenslang „peinlich war“, und in der Historiographie ist
manchmal vermutet worden, dass die idealistische Überanpassung Lassalles aus
dem Versuch des Juden „in die Tiefe deutschen Denkens einzutauchen“ zu er-
klären sei (Oncken 1923: 493). Marx war die lebende Alternative zu dieser Über-
anpassung, obwohl auch er pausenlos mit antisemitischen Tiraden seiner Feinde
konfrontiert wurde, selbst in der Arbeiterbewegung – etwa bei Proudhon und
Bakunin.
Im Hatzfeldt-Prozess hat der hochmütige Aristokrat, gegen den er die Inter-
essen seiner gedemütigten Frau vertrat, ihn als „dummen Judenjungen“ tituliert.
Lassalle war ein exzentrischer Außenseiter. Als Anwalt der Gräfin Hatzfeldt hat
er viele seiner besten Jahre bis 1854 in einen Scheidungsprozess investiert, aus
dem er nicht unbeschädigt hervorging. Er wurde der Unterschlagung von Doku-
menten beschuldigt und man nahm Anstoß, dass die Gräfin ihm eine Rente aus-
setzte, als der Prozess mit einem Vergleich endete. Lassalles Ruf war schon früh
soweit ruiniert, dass der Bund der Kommunisten ihn trotz des Antrags von Marx
nicht aufnahm. Marx hat in einem Brief an Engels (9. 2. 1860, MEW Bd. 30: 31), als
Lassalle in Marxens Streit gegen „Herrn Vogt“ kühl Recht und Unrecht auf bei-

K. von Beyme, Sozialismus, DOI 10.1007/978-3-658-02950-0_5,


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252 Sozialdemokratismus

den Seiten abwog, auf diese Vergangenheit angespielt: „Was macht das Vieh für ein
fuss (sic) ! Wie der Kerl dem Liebknecht gegenüber moralisch sich aufspreizt ! Ver-
gißt das Vieh, daß, obgleich ich ihn in den Bund aufnehmen wollte, ein einstim-
miger Beschluß der Zentralbehörde in Köln ihn wegen Anrüchigkeit nicht akzep-
tierte ? In fact, ich habe aus Delikatesse dem Menschen all das geheim gehalten“.
1848 nahm Lassalle eine ähnlich revolutionäre Haltung gegen die preußische
Reaktion ein wie Marx und wurde wegen Aufruhrs angeklagt. Die Assisen-Rede
von 1849 (RS I: 189 ff) zu seiner Verteidigung hat er nie gehalten. Sie zirkulierte
schon zuvor, sodass das Gericht die Öffentlichkeit ausschloss. Lassalle verzichtete
auf seine Verteidigung. Die Geschworenen sprachen ihn gleichwohl frei. Inhalt-
lich waren die beiden Verteidigungsreden von Marx in den Kölner Kommunis-
tenprozessen und von Lassalle im Düsseldorfer Prozess nicht unähnlich. Aber der
Stil unterschied sich wie Tag und Nacht: Marx hielt ohne Schnörkel den Geschwo-
renen einen politischen Vortrag (MEW Bd. 6: 223 ff), Lassalle hingegen zog alle
Register der Beredsamkeit und des Gefühls.
In Zeiten der Krise hat Marx am „Kapital“ gearbeitet, während Lassalle ein
Drama über „Franz von Sickingen“ schrieb. Von der politischen Mission ab-
schweifende Literatur war das wenig bühnenwirksame Drama gleichwohl nicht.
Der Held, dessen revolutionäres Charisma in Tragik umschlug als er zu taktieren
begann, gewann durchaus klärende Bedeutung für Lassalles eigene politische Kar-
riere. Marx (MEW Bd. 29: 450) hatte dafür kein Verständnis. Er kommentierte die
treuherzige Zusendung Lassalles an Marx: „Unbegreiflich, wie ein Mensch … un-
ter diesen welthistorischen Umständen nicht nur selbst Zeit findet, solcherlei von
sich zu geben, sondern uns sogar die Zeit zumutet, es zu lesen“. Eine erste wissen-
schaftliche Schrift über Heraklit (1858) sah den antiken Philosophen durch die
Brille Hegels als Ahnherren des dialektischen Denkens. Schon damals hatte Marx
den Eindruck, dass Lassalle in einer Arbeit „wie ein Schulbub“ die Dialektik nicht
verstanden habe (MEW Bd. 29: 274).
Im „System der erworbenen Rechte“, die erst 1919 von Bernstein vollstän-
dig veröffentlicht worden sind, wurde das Individuum als Quelle von Besitzan-
sprüchen herausgestellt. Er entwickelte mit großem juristischem Scharfsinn eine
Kritik der erworbenen Rechte, die zu einem wichtigen Beitrag zur Entschädi-
gungsdiskussion wurde. Adolf Wagner hat diese Gedanken in seiner Enteig-
nungstheorie weiter entwickelt. Enteignung als Entzug erworbener Rechte wurde
zu einer Grundfigur sozialistischen Denkens. Die Begründung bei Lassalle war
noch reichlich romantisch. Der „Volksgeist“ wurde gleichsam zum Vollstrecker
der Geschichte bestellt, und entschied darüber, ob das Erbrecht noch dem Rechts-
bewusstsein entspreche. Das Werk war noch ganz von der Hegelschen Tradition
geprägt. Die Bewegung der Ideen hat größere Aufmerksamkeit bei Lassalle gefun-
den als die Entwicklung der materiellen Grundlagen in der Geschichte, die Marx
Sozialdemokratie in Deutschland 253

und Engels in den Vordergrund rückten. Als originelle Leistung wurde Lassalle
jedoch der Brückenschlag vom Naturrecht zur praktischen Jurisprudenz gutge-
schrieben (Oncken 1923: 199).

Die nationale Frage

1859 hat Lassalle sich leidenschaftlich in die Frage eingemischt, ob Preußen und
die Staaten des Deutschen Bundes an Österreichs Seite gegen Napoleon III kämp-
fen müssen, der den Italienern zu Hilfe kam – nicht ohne sich einen territorialen
Gewinn von Cavour im Geheimvertrag von Plombières zu sichern. Die „Natio-
nal-Zeitung“ und die „Volkszeitung“ forderten die Bündnistreue, Lassalle hinge-
gen verfocht den „kleindeutschen“ Standpunkt, Preußen müsse sich die Hegemo-
nie im Deutschen Bund sichern. Die deutsche Kaiserkrone sah er „auf der Straße“
liegen. Der Habsburger Dynastie sollte nach dem preußischen Einrücken und der
Proklamation eines deutschen Kaisertums nur noch die Möglichkeit überlassen
werden, zu sehen, „ob und wie sie sich in ihren außerdeutschen Ländern behaup-
ten kann“. Friedrich der Große wurde beschworen, der sicher den Moment ergrei-
fen würde, um den deutschen Einheitsbestrebungen endlich Ausdruck zu geben,
wenn er noch lebte. Diese Einschätzung darf bezweifelt werden. In jedem Fall trat
Lassalle für einen Krieg Preußens zugunsten der gerechten italienischen Sache ein,
obwohl er nicht verkannte, dass das unliebsame französische Regime davon profi-
tierte. Krieg sollte auch geführt werden, falls Napoleon die den Österreichern ab-
gejagte Beute behalten wolle (RS I. 357, GW II: 435). Der Hass gegen Österreich
riss ihn zu seltsamen Wendungen hin: „Wir möchten überhaupt den Neger ken-
nen lernen, der neben Österreich gestellt, nicht ins Weißliche schimmerte !“ (RS I:
315). Dieser Hass auf das „klerikale Österreich“ war noch größer als der gegen
Napoleon. Vielfach ist diese Schrift als der Anfang vom Einschwenken Lassalles
auf die Linie einer Bismarckschen Politik gewertet worden. Noch radikaler waren
die Vorschläge von Friedrich Engels in „Po und Rhein“. In der Broschüre zeigte
sich, dass Marx und Engels wesentlich internationaler dachten, während Lassalle
noch als glühender Patriot auftrat. Engels empfahl einen „ausgezeichneten Han-
del“, „den Po, den Mincio, die Etsch und den ganzen italienischen Plunder „gegen
die Einheit zu vertauschen“ (MEW Bd 13: 268). Karl Vogt, ein ehemaliger Führer
der Frankfurter Linken, hatte im Frühjahr 1859 für die Neutralität des Deutschen
Bundes plädiert und war in den Verdacht geraten, ein bonapartistischer Agent zu
sein. Marx griff „Herrn Vogt“ an (MEW Bd. 14: 385 ff), als ob der Verdacht schon
erwiesen wäre. Lassalle nahm eine vermittelnde Position zwischen Marx und Vogt
ein, und wurde von Marx nun selbst zwar nicht als Agent verdächtigt, aber doch
als einer, der mit „bonapartistisch gefärbten Augen“ sehe. Daran war allenfalls so
viel wahr, dass Lassalle Louis Bonaparte als das kleinere Übel im Vergleich zu Ös-
254 Sozialdemokratismus

terreich gleichsam vermittels der „List der Vernunft“ für die deutsche Einheit zu
instrumentalisieren suchte. Er sollte auch später – bis zu seinen Kontakten mit
Bismarck – immer wieder beweisen, dass er in der Wahl möglicher Bundesgenos-
sen für seine Ziele nicht zimperlich war.
Während einer Italien-Reise im 1861 hat Lassalle Garibaldi in Caprera besucht,
und ihn ermuntert, sich in Neapel zum Diktator ausrufen zu lassen, um anschlie-
ßend die Waffen gegen Österreich zu erheben. Wieder erhoffte Lassalle sich die
simultane Lösung der deutschen und der italienischen Frage. Lassalle hat in Lon-
don solche Pläne auch Mazzini vorgetragen. Sein Verhältnis zu Marx – den er
bei dieser Gelegenheit im Juli 1862 zum letzten Mal sah – ist dadurch nicht bes-
ser geworden. Kooperationsangebote von Lassalle hat Marx kühl beschieden. Er
war wieder einmal in Geldnöten – die letzten Briefe von Marx an Lassalle drehten
sich fast nur um Darlehensrückzahlungen (MEW. Bd. 30: 602 ff) – und erklärte
sich bereit, gegen gute Bezahlung in einer zu gründenden Zeitung zu schreiben,
aber ohne „responsibility oder politische partnership … da wir politisch in nichts
übereinstimmten als in einigen weit abliegenden Endzielen“. An Engels schrieb
Marx (MEW Bd. 30: 258) belustigt, über „Itzig“, der sich in London überzeugt
habe, dass er „zu abstrakt“ sei „um Politik zu verstehen“. Ein Bündnis mit Mazzini
und Garibaldi schien ihm reine Abenteurerpolitik (vgl. Bd. 1, Kap. III. 5).

Verfassung, Staat und Revolution

1860 eröffnete sich mit dem abzusehenden Thronwechsel die Chance, die Revo-
lutionäre von 1848 zu amnestieren. Lassalle bot Marx Zusammenarbeit für die
Schaffung einer Zeitung und die Erneuerung der Partei an. Marx blieb skep-
tisch. Die Pläne hatten ohnehin keine Chance, da die Amnestierungsbedingun-
gen für einen Nicht-mehr-Staatsbürger wie Marx nicht galten. Immerhin hatte
Marx einen Antrag auf „Naturalisierung“ an die preußischen Behörden gerich-
tet, in dem er sich als gebürtiger Rheinländer protestantischer Konfession emp-
fahl (MEW Bd. 15: 633 f). Lassalle hatte vergeblich die Verbindungen der Gräfin
Hatzfeldt für den Antrag von Marx eingesetzt. Die Ablehnung einer Rückkehr von
Marx war folgenschwer. Für die Entwicklung der Sozialdemokratie bedeutete sie
eine wichtige Weichenstellung. Lassalle und nicht Marx gewann für Jahre Einfluss
auf die deutsche Arbeiterbewegung.
Anfang 1862 kehrte Lassalle aus Italien zurück. Der Verfassungskonflikt zwi-
schen der preußischen Regierung und den Exponenten des liberalen Bürgertums
im Parlament hatte sich zugespitzt. Die Fortschrittspartei besaß die Mehrheit in
der Kammer und wusste auch die Mehrheit in der öffentlichen Meinung des Lan-
des hinter sich. Einerseits hat Lassalle, der mit reichlich verblasenen Revolutions-
ideen zurückkam, sich überzeugt, dass eine revolutionäre Situation nicht bestand.
Sozialdemokratie in Deutschland 255

Andererseits trat er den Führern der Fortschrittspartei entgegen, obwohl er kaum


etwas sagte, was die Fortschrittsparteiler nicht hätten unterschreiben können
(Bernstein 1919: 159).
1862/63 hielt Lassalle einen Vortrag „Über Verfassungswesen“, der sein gesam-
tes politisches Denken in nuce enthielt. Er schickte voraus, dass sein Vortrag ein
streng wissenschaftlicher sein werde (RS I: 471, GW I: 40). Es ging ihm nicht um
die geschriebene Verfassung, sondern die lebende Verfassung. Militär, Adel, die
großen Industriellen, alles, was zu „den tatsächlichen Machtverhältnissen“ ge-
hörte, war ein Stück Verfassung (RS I: 481, GW I: 51). Verfassungen in diesem
Sinne habe es immer gegeben. Neu sei nur die Verfassung als „das Blatt Papier“
(RS I: 486, GW I: 57). Nach Revolutionen sind neue Verfassungen nur dann gut,
wenn sie den bestehenden Machtverhältnissen entsprechen. Preußen hatte eine
oktroyierte Verfassung. Sie entsprach in manchen Punkten dem Entwurf, den die
vom König verjagte Nationalversammlung angestrebt hatte. Diese bloß geschrie-
bene Verfassung aber war für Lassalle wertlos, solange das Volk nur eine bloß ge-
schriebene Verfassung hatte und „die Festung der realen Machtmittel erst erobern
will“ (RS I: 520, GW I: 85). Daher sah er selbst die Budgetverweigerung als ohn-
mächtiges Mittel an. Das böse Wort vom „Scheinkonstitutionalismus“ wurde in
die Debatte eingeführt. Der Scheinkonstitutionalismus war für ihn die Lebensver-
längerung des Absolutismus (RS I: 523, GW I: 91). Im preußischen Verfassungs-
konflikt empfahl Lassalle den Kampf bis aufs äußerste. Das Dreiklassenwahlrecht
erkannte er nicht an, ließ aber durchblicken, dass er ein oktroyiertes demokrati-
sches Wahlrecht annehmen könne. Die Fortschrittspartei betrachtete die Agita-
tion Lassalles zunächst als willkommene Verstärkung. Als er den Parlamentsstreik
proklamierte, aber ließ sie ihn fallen.
Diese Frustrationen in der Bündnispolitik haben die Idee des „Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins“ (ADAV) in Lassalle reifen lassen. Im „Offenen Ant-
wortschreiben an das Zentral-Komitee zur Berufung eines Allgemeinen Deut-
schen Arbeiter-Kongresses zu Leipzig“ (1863) hat Lassalle sich von zwei Tenden-
zen losgesagt: einmal der eskapistischen, nach der sich die Arbeiter um die Politik
nicht mehr zu kümmern hatten, und der taktierenden, die als Anhang der preu-
ßischen Fortschrittspartei weiter agieren wollte. Konklusion: „Der Arbeiterstand
muß sich als selbständige politische Partei konstituieren und das allgemeine glei-
che und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Banner und Losung dieser Partei
machen“ (RS II: 413, GW I: 7).
In diesem Appell brachte Lassalle seine umstrittene ökonomische Theorie un-
ter. Gegen genossenschaftliche Thesen hielt er es für unsinnig, die Arbeiter als
Konsumenten anzusprechen, statt ihnen „auf der Seite zu helfen, wo wirklich
der Schuh … drückt, als Produzenten“. Die Stärkung der Konsumenten hatte für
Lassalle (RS II: 421, GW I: 15) aufgrund seines „ehernen Lohngesetzes“ keinen
256 Sozialdemokratismus

Sinn. Er hielt es in Anlehnung an Malthusianische Gedanken für erwiesen, dass


„der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt
reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz
und zur Fortpflanzung erforderlich ist“. Sowie die Löhne stiegen, komme es zur
Vermehrung der Bevölkerung, sodass die Kapitalisten die Löhne wieder auf das
Existenzminimum drücken könnten. Hilfe war nur von der Organisation zu er-
warten, die den Staat überzeugt, dass er sich für kooperative Unternehmen der
Arbeiter engagieren muss. Für Lassalle war es „Aufgabe des Staates … die große
Sache der freien individuellen Association des Arbeiterstandes fördernd und ent-
wickelnd in seine Hand zu nehmen“ (RS II: 430, GW I: 24). Die Staatsinterven-
tion hatte bisher immer den reichen Klassen gedient. Das ließ sich durch die Be-
wegung ändern. Sozialismus oder Kommunismus war dies für Lassalle noch nicht,
da die individuelle Lebens- und Entlohnungsweise erhalten bleibe und die Arbei-
ter in keiner anderen Beziehung zu dem Staate stünden als dass ihnen durch ihn
das erforderliche Kapital und Kredite zu ihrer Association vermittelt werde. Wie-
der schickte er das „Offene Antwortschreiben“ an Marx. Erneut war die Reaktion
herabsetzend: „Itzig“ wolle sich als „künftiger Arbeiterdiktator“ profilieren (MEW
Bd. 30: 340).
Das „Arbeiterprogramm“ (1862) war ein für den agitatorischen Zweck seltsam
geschichtsphilosophisch überladenes Dokument. Bernstein (1919: 161) sah in ihm
nur eine „den Umständen angepaßte Umschreibung des Kommunistischen Mani-
fests“. Engels (MEW Bd. 16: 362) drückte sich weniger neutral aus: Lassalle habe
einen „intellektuellen Vorgesetzten“ gehabt, den er vulgarisierte, und dieser Vor-
gesetzte sei Karl Marx. Die hegelianisierende Sichtweise erinnerte aber eher an
Lorenz von Steins „Geschichte der sozialen Bewegungen“ (vgl. Bd. II, Kap. V. 2).
Immerhin enthielt die Schrift eine Annäherung an Marxsche Positionen in zwei-
erlei Hinsicht: einmal wurde die Selbständigkeit der Arbeiterbewegung betont,
zum anderen kam Lassalle zu einer stärker sozio-ökonomischen Analyse der Po-
litik. Aber es blieben Differenzen, die nicht zufällige Konzessionen an den bürger-
lichen Sprachgebrauch waren. Es wurden alle „Werktätigen“ angesprochen: „Der
Arbeiterstand ist nur ein Stand unter den mehreren Ständen, welche die bürger-
liche Gesellschaft zusammensetzen“ (RS II: 9, GW I: 157). Nicht nur aus taktisch-
demagogischen Gründen hat Lassalle den „Ouvrierismus“ der Marxisten nicht
mitgemacht. Obwohl Lassalle nicht viel Erfolg mit dieser Erweiterung der Ziel-
gruppen hatte, hielt er an ihr fest, vor allem in den Prozessen, bei denen er wegen
Aufhetzung der Arbeiter angeklagt wurde. Im Hochverratsprozess hat er seine
Forderung nach allgemeinem Wahlrecht zwar als nicht in der Verfassung stehend
anerkannt. Aber er hielt die Forderung gleichwohl für berechtigt, „wenn man eine
wahrhaft intelligente Bewegung vertritt, ohne deshalb zur Gewalt greifen zu müs-
sen !“ Prinzipien, die er vertrat waren nach Lassalle ja keine putschistischen, da
Sozialdemokratie in Deutschland 257

man sie „auf große Massen des Volkes“ und auf die „Minorität der Allergebil-
detsten“ wirken lässt (RS II: 795, GW II: 262).
Staatskredite sollten kooperative Fabriken finanzieren. Der Unternehmerge-
winn sollte den Arbeitern direkt zugutekommen. Mittels des allgemeinen Wahl-
rechts hoffte Lassalle im Parlament die nötigen Kredite mobilisieren zu können.
1863 hatte sich Lassalle (GW II: 20) daher mit dem Vorwurf auseinander zu setzen,
er wärme nur Louis Blancs gescheiterte Idee der Nationalwerkstätten auf. Den
Unterschied sah er darin, dass er vom Staat in seinem „Antwortschreiben“ nur
eine Kreditoperation des Staates erlangt habe, und nicht die „Organisation der Ar-
beit durch den Staat“. Proudhons Ideen lagen als Assoziation in der Tat näher als
die Louis Blancs. Aber die starken Worte, die Lassalle für den Staat als Instrument
der Arbeiterklasse fand, hat dazu beigetragen, dass alle „Staatssozialisten“ in einen
Topf geworfen wurden.
Lassalle sprach noch vom „vierten Stand“. Er hatte in seinen Augen (RS II: 44,
GW I: 194) „eine ganz andere, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen
Zweck des Staates als die Bourgeoisie“, weil sie nicht auf die ungehinderte Selbst-
betätigung des Einzelnen in einem „Nachtwächterstaat“, sondern auf „Solidarität
der Interessen“ und „Gegenseitigkeit in der Entwicklung“ gerichtet sei. Der deut-
sche Idealismus wirkte stark nach in Worten wie „Der Zweck des Staates ist so-
mit der, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden
Entwicklung zu bringen, zum wirklichen Dasein zu gestalten, er ist die Erzie-
hung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit“ (RS II: 46, GW I:
196). 1860 hatte Lassalle (RS I: 370, GW III: 253) Fichtes politisches Vermächtnis
beschworen als des „größesten deutschen Patrioten und eines der gewaltigsten
Denker aller Zeiten“. Diese Studie ist als Fortsetzung der Italienschriften gewertet
worden. Fichte wurde als Kronzeuge einer Einheit als unitarische Republik in An-
spruch genommen.
Die idealistische Konzeption im Anschluss an Fichte ließ für Lassalle einen
Staatsbegriff entstehen, angesichts dessen eine Revolution überflüssig erschien:
„Man kann nie eine Revolution machen; man kann immer nur einer Revolution,
die schon in den thatsächlichen Verhältnissen einer Gesellschaft eingetreten ist,
auch äußere rechtliche Anerkennung und konsequente Durchführung geben“
(RS II: 22, GW I: 170). Lassalle hat im Hochverratsprozess den Unterschied von
Reform und Revolution relativiert. Auch Reformen könnten mit Blutvergießen
eingeführt werden. Lassalle behauptete, den pastoralen Ton nicht zu lieben, aber
er zog alle Register der demagogischen Rhetorik, einschließlich von Zitaten von
Schelling, Vater des anklagenden Staatsanwalts, dass die Philosophie die Aufgabe
habe, „die gesamte Zeit umzuformen“. Lassalle beschwor das Gericht, große Ge-
lehrte wie Mommsen prüfen zu lassen, ob seine Äußerungen „Wissenschaft“ seien.
Der Präsident wandte ein, dass die Arbeiter solche wissenschaftlichen Spitzfindig-
258 Sozialdemokratismus

keiten nicht verstünden. Lassalle bestand nicht ohne Überheblichkeit darauf, dass
der Herr Staatsanwalt sich irre: „Die Arbeiter lesen meine Schriften gleichmäßig,
und kennen diesen Sinn schon aus dem Arbeiterprogramm und aus meiner Ver-
theidigungsrede vor dem hiesigen Kriminalgericht“ (RS II: 804, GW II: 271).
Die Fortschrittspartei ging auf Lassalles Bedingungen für ein gemeinsames
Vorgehen nicht ein. Sie zog eine abwartende Taktik vor, während Lassalle auf den
offenen Konflikt drängte. Liberale begannen Lassalle vorzuwerfen, dass er – wie
die Regierung – Macht vor Recht stelle. Die zweite Front, die sich auftat, war die
Genossenschaftsbewegung mit ihren Selbsthilfe-Konzeptionen. Mit Hilfe des
„ehernen Lohngesetzes“ versuchte er die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit sol-
cher Organisationsvorstellungen zu überzeugen. Im Berliner Arbeiterverein hatte
Schulze-Delitzsch 1863 eine Gegenposition zu Lassalles Thesen entwickelt. Um
ihn ideologisch auszumanövrieren schrieb Lassalle sein sozialpolitisches Haupt-
werk „Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian oder Kapital
und Arbeit“ (1864, GW III: 1 – 251). In der Polemik näherte sich Lassalle der Bis-
sigkeit von Marx an. Lobredner hielten dem Werk gleichwohl zu Gute, dass es
die ökonomischen Kenntnisse der deutschen Arbeiter verbessert habe (Bernstein
1919: 263). Das war die positivste Äußerung, die möglich gewesen ist. Die nega-
tivste stammte wieder von Marx: „unerträglich zudringlich und mit der lächer-
lichsten Gelehrten- und Wichtigtuerei geschrieben“. Tatsache ist, dass der Jurist
Lassalle in seinen rechtswissenschaftlichen Studien ungleich mehr Kompetenz auf
die Waage legte als in seinen ökonomischen Exkursen.

Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht und die Kontakte mit Bismarck

Lassalle hat seine Thesen nicht eben bescheiden mit Luthers Thesen-Anschlag in
Wittenberg verglichen. Doch eine vergleichbare weltgeschichtliche Wirkung er-
langten die Thesen des „Offenen Antwortschreibens“ keineswegs. Im Mai 1863
wurde der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ zwar mit Delegierten aus
11  Städten gegründet und gewann binnen eines Vierteljahres etwa 900 Mitglie-
der, aber die Mehrheit der Adressaten von Lassalles Thesen trat dem Verein nicht
bei. Er kümmerte sich mehr um die Anwerbung von Honoratioren als um die
Agitation der Massen, obwohl er ein begnadeter Redner war. Die Gräfin Hatz-
feldt haben die Misserfolge dazu gebracht, ihre Beziehungen spielen zu lassen, um
Lassalle mit Bismarck in Verbindung zu bringen. Geheime Besprechungen fanden
im Winter 1863/64 statt. Bebel hat die Gespräche im Reichstag erwähnt, und von
Bismarck wurden sie nicht geleugnet. Er sprach ihnen lediglich den politischen
Charakter ab, obwohl Lassalle vermutlich Bismarck ermunterte, ein allgemei-
nes Wahlrecht in Preußen zu oktroyieren. Als Bismarck zögerte, ließ Lassalle das
Gespräch einschlafen. Bismarck hat diese Gespräche als seine Liebhaberei her-
Sozialdemokratie in Deutschland 259

untergespielt, weil Lassalle wenig hinter sich hatte, und ihm nichts zu bieten ge-
habt habe. Gleichwohl passte es in das Kalkül des gewieften Staatsmannes, die li-
berale Kammermehrheit von rechts und links in die Zange zu nehmen. Bismarcks
Hintergedanken beim Erwägen des allgemeinen Wahlrechts waren fern von dem
demokratischen Pathos Lassalles. Er wollte das allgemeine Wahlrecht als Mittel
gegen den süddeutschen Partikularismus einsetzen und hoffte, dass es zur Klam-
mer werde, welche die Nicht-Preußen mit Preußen verbinde (Oncken 1923: 393).
Lassalle hat selbst im Hochverratsprozess im März 1864 auf die Gespräche ange-
spielt: „Die stärksten Spiele, meine Herren, können gespielt werden, Karten auf
dem Tisch ! Es ist die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen mit keiner
Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene Nothwendigkeit gegründet
sind. Und so verkündige ich Ihnen an diesem feierlichen Ort, es wird vielleicht
kein Jahr mehr vergehen – und Herr v. Bismarck hat die Rolle Robert Peels gespielt
und das allgemeine und direkte Wahlrecht ist oktroyiert“ (RS II: 815, GW II: 280).
Kurzfristig war Lassalles Kampf um das allgemeine Wahlrecht gescheitert.
Langfristig aber hat er seine Wirkung auch auf die Fortschrittspartei nicht ver-
fehlt. Das allgemeine Wahlrecht fand schließlich 1866 Eingang in die Verfassung
des Norddeutschen Bundes.
Lassalles früher Tod machte eine glänzende Karriere zunichte. Die SPD hat
Lassalle auf die Dauer mehr Denkmale gesetzt als Marx, aber vermutlich konnte
sie nur den früh Verstorbenen ehren. Ganz mit ihm identifizieren konnte sie sich
nicht, auch als der Pulverdampf des Kampfes um das Erfurter Programm und des
Sieges der „Marxisten über die Lassalleaner“ längst verraucht war. Rosa Luxem-
burg (1970: 421) bezweifelte offen, dass Lassalle in der Bewegung sich noch als
„führender Geist“ hätte behaupten können. Auch Bernstein kam zu dem Schluss
über Lassalles unrühmliches Ende: „vielleicht war es gut so“ und nahm an, dass er
selbst wohl diesen Tod gewollt habe. Später kam heraus, dass die Ärzte ihm wegen
eines Syphilis-Leidens ohnehin nur wenige Monate zu leben gaben (Bleuel 1979:
291). Die Affäre, die zum Duell führte, hatte den stark zerrütteten Nervenzustand
eines Egomanen verraten, der von Drohungen bis zu Unterwerfungsgesten an die
Instanzen, die er hasste, alles eingesetzt hatte. Lassalle, der Sozialist, der Duelle
für Atavismen hielt, provozierte nun selbst ein Duell wegen der Beleidigung einer
Frau, die er geliebt zu haben glaubte. Auch stille Bewunderer hatten Mühe, das
Ende zu verarbeiten: „Der Mann der sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im
Duell gegenüberstellte, war nicht der Sozialist Lassalle, sondern der verjunkerte
Kaufmannssohn“ (Bernstein 1919: 293). Marx (MEW Bd.30: 673) hat wenigstens
im Kondolenzschreiben an die Gräfin Hatzfeldt noch einmal etwas Freundliches
über den alten Kampfgefährten geäußert, und ihn zu den Menschen gezählt, „auf
die ich viel hielt“. Das theatralische Ende Lassalles war nur der Schlusspunkt einer
Auseinanderentwicklung von konträren Persönlichkeitstypen der beiden wich-
260 Sozialdemokratismus

tigsten Führer der deutschen Arbeiterbewegung. Aber nicht nur persönliche Dif-
ferenzen im Lebensstil und der Solidität der wissenschaftlichen Arbeit trennten
Marx und Lassalle. Letztlich entscheidend war die Differenz der politischen Klien-
tel, die sie ansprachen. Marx „diskutierte“ mit internationalistisch gesonnenen
Arbeitern und Intellektuellen in der Emigration, Lassalle hingegen „agitierte“ die
provinziell verengte Arbeiterschaft eines „verspäteten Landes“.

Quellen
Lassalle: Reden und Schriften (Hrsg.: E. Bernstein). Berlin, Verlag „Vorwärts“,
1891 – 1893, 3 Bde (zit:RS).
Lassalle: Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch der ökonomische Julian oder Kapital
und Arbeit. Berlin, Schlingmann, 1864.
Lassalle: Ferdinand Lassalle’s Gesamtwerke. Politische Reden und Schriften (Hrsg.:
E. Blum). Leipzig, K. F. Pfau, o. J. (1899 – 1902), 3 Bde. (zit: GW).
Lassalle: Nachgelassene Briefe und Schriften (Hrsg.: G. Meyer). Berlin, Deutsche
Verlagsanstalt, 1921 – 1926, 6 Bde.
Lassalle: Gesammelte Reden Schriften und Schriften (Hrsg.: E. Bernstein). Berlin
Cassierer, 1919 – 1920, 12 Bde plus 1 Ergänzungsband.
Lassalle: Reden und Schriften (Hrsg.: L. Maenner). Berlin, Hobbing, 1926.

Literatur
E. Bernstein: Ferdinand Lassalle. Eine Würdigung des Lehrers und Kämpfers. Berlin,
Paul Cassirer, 1919.
H. P. Bleuel: Ferdinand Lassalle, oder der Kampf wider die verdammte Bedürfnis-
losigkeit. München, Bertelsmann, 1979. Neuaufl. Frankfurt, Fischer TB, 1982.
H. J. Friederici: Ferdinand Lassalle. Eine politische Biographie. Berlin, Dietz, 1985.
St. Heym: Lassalle. Roman. Berlin, Neues Leben, 1974, München, Goldmann, 1998.
H. Hirsch: Ferdinand Lassalle. Eine Auswahl für unsere Zeit. Bremen, Schünemann,
1963.
R. Luxemburg: Lassalle und die Revolution. In: Diess.: Gesammelte Werke, Berlin,
Dietz, 1970, Bd. I, 2: 417 – 421.
S. Na’aman: Lassalle. Hannover, Verlag für Literatur und Zeitgeschichte, 1970.
H. Oncken: Lassalle. Eine politische Biographie. Stuttgart, DVA, 1923, 4. Aufl.
Th. Ramm: Ferdinand Lassalle. Der Revolutionär und das Recht. Berlin, Wissen-
schaftsverlag, 2004.
A. Schirokane: Lasalle. Die Macht der Illusion, die Illusion der Macht. Leipzig, List,
1928.
U. von Uexküll: Ferdinand Lassalle in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.
Reinbek, Rowohlt, 1974.
K. Vorländer: Marx, Engels und Lassalle als Philosophen. Stuttgart, Dietz, 1920.
Sozialdemokratie in Deutschland 261

Karl Kautsky (1854 – 1938), August Bebel (1840 – 1913),


Eduard Bernstein (1850 – 1932)

Kautsky entstammte einer Prager Künstlerfamilie. In seiner Jugend war er nach


seiner Loslösung von der Religion bloßer „Gefühlssozialist“ aus ethischen Grün-
den, wie er selbst rückblickend urteilte: „Mein Materialismus war lange Zeit bloss
Atheismus“ (EE: 213). Sein Studium an der Universität Wien hat Kautsky abge-
brochen, als Karl Höchberg als Herausgeber des „Jahrbuchs für Sozialwissen-
schaft und Sozialpolitik“ ihm eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter anbot.
Die Dissertation über Jefferson blieb unvollendet. Er litt unter dem Bewusstsein,
ein überalterter Studiosus zu sein. „Malerei, Romanschriftstellerei, Abfassung
von Theaterstücken hatten versagt“. Er sucht nach einem Broterwerb (EE: 399).
Kautskys Traum war es, „in der deutschen Partei tätig sein zu können“. Aber er
wagte nicht, in dieser Partei eine Stellung zu suchen, da er „den deutschen Dingen
zu fremd gegenüber stand“, und glaubte, dass die deutschen Genossen über einen
Überfluss an Intellektuellen verfügten. Die österreichische Sozialdemokratie war
für ihn nur ein „Ableger der deutschen“ (EE: 353), was sich nach der Entwick-
lung eigenständiger austromarxistischer Positionen als Fehleinschätzung erwei-
sen sollte. Da er aber die mächtigste Partei der damaligen Zeit beeinflussen wollte,
musste Kautsky eine von der Partei unabhängige Basis erarbeiten, um Einfluss in
ihr zu erlangen (EE: 354).
In Zürich bahnte sich eine enge Freundschaft mit Bernstein an. 1883 hat
Kautsky „Die Neue Zeit“ gegründet, die als privates wissenschaftliches Organ für
die durch die Sozialistengesetze illegalisierte Partei eine wichtige ideologische Ko-
ordinationsfunktion gewann. In London, dem Sitz der Redaktion bis Juni 1888,
wurde er stark von Engels beeinflusst. Engels weihte ihn in die Sichtung des Marx-
schen Nachlasses ein. Umso schmerzlicher war es für ihn, dass nach Engels Tod
nicht er, sondern – aufgrund persönlicher Zerwürfnisse nach einer Scheidungsge-
schichte Kautskys, die Engels und Bebel höchst degoutant fanden (Bebel/Engels:
Briefwechsel: 340) – Bernstein und Bebel als Nachlaßverwalter eingesetzt wurden.
Im Rückblick hat Kautsky (Leben: 26) die Episode freilich verdrängt. Nach seiner
Darstellung hatte er Marxens Tochter Laura geraten, Mehring mit der Aufgabe
zu betrauen. Kautsky wurde in seiner Frühzeit von Marx und Engels als „Kärr-
ner“ benutzt. Seine theoretische Originalität ist von ihnen nicht hoch eingeschätzt
worden. Engels monierte, dass Kautsky auf der Universität „eine furchtbare Masse
Blödsinn gelernt“ habe und Bebel bestätigte den Eindruck, dass Kautsky zuviel
lese und zu rasch glaube, über das Gelesene schreiben zu können (Bebel/Engels:
Briefwechsel: 228, 231). Aber Kautsky erwarb sich in den Augen von Engels un-
bestreitbare Verdienste um die Propagierung ihrer Ideen in der Partei. Der Brief-
wechsel Kautskys mit Engels – wie bei Bebel meist per „lieber General“ (Briefw:
262 Sozialdemokratismus

311 ff) – zeigte, wieviel Kautsky dem „General“ in seinem Kampf um die Posi-
tion des Chefideologen in der Partei verdankte, und wie er auch Anerkennung
für geglückte Schachzüge aus London erhielt, etwa als es ihm gelang, den Pas-
sus über die „reaktionäre Masse“ aus dem Programmentwurf zu beseitigen. 1890
wurde das Sozialistengesetz aufgehoben. „Die Neue Zeit“ mit Redaktionssitz in
Stuttgart erlangte den Status einer offiziellen theoretischen Zeitschrift der SPD.
Kautsky wurde mit Bernstein unter die „unversuchbaren Sozialisten“ gezählt, die
eine Aufwertung des Individuums gegenüber dem Kollektiv vornahmen (Lemke
2008: 369).

Das Erfurter Programm und die Entwicklung


zum „Chefideologen“ der Partei

In Stuttgart mischte Kautsky sich kräftig in die Programmdebatte der Partei ein:
„Es ist nicht Selbstlob, wenn ich das ausspreche, denn das Erfurter Programm ist
keineswegs mein ausschließliches Werk“ (EP: XX). Das bedeutete im Klartext,
dass er es überwiegend als sein Werk ansah. Den von Bebel und Liebknecht vorge-
legten Entwurf des Parteivorstands hat er heftig kritisiert. Gegen Lassalleanische
Tendenzen bei Liebknecht setzte er stärker marxistische Gedanken des Erfur-
ter Programms durch. Für Kautskys intellektuelle Etablierung kam die Marxsche
Kritik am Gothaer Programm 1891 sehr gelegen. Ohne die Parteileitung zu fra-
gen, ließ er das Manuskript drucken. Nur ein paar persönliche Angriffe gegen
Liebknecht wurden korrigiert (Briefw: 270 f). Die Reichstagsfraktion war empört,
Engels wurde wochenlang boykottiert. Kautsky hatte sein Ziel erreicht und Lieb-
knecht in die Defensive gedrängt. Der Parteitag hatte eine Programmkommission
eingesetzt, die mit 17: 4 für den Entwurf der Redaktion „Neue Zeit“ und gegen
den Entwurf des Parteivorstandes votierte (Gilcher-Holtey 1986: 66). Von wirklich
orthodoxen Marxisten ist dieser Sieg jedoch nur als ein halber Sieg wahrgenom-
men worden. Kautsky hat die ökonomischen Bewegungsgesetze im Kapitalismus
nachgebetet, hat aber die philosophische Quintessenz, vor allem in der Entfrem-
dungstheorie, nicht rezipiert (vgl. Kap. IV. 1). Die Schrift über das Erfurter Pro-
gramm wurde in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen ein kleines Kompen-
dium der Bewegung in vielen Ländern. Kautsky entwickelte darin seine Thesen
von der „sozialen Revolution“ im Gegensatz zu den zahlreichen Vorschlägen der
„Sozialquacksalber“. Soziale Reformen wurden aber nicht in toto als „unnützes
Zeug“ abgetan, aber die meisten Reformvorschläge fand er gleichwohl nicht nur
unnütz sondern sogar schädlich für die Ausgebeuteten. (EP: 105 – 107). Einer Zu-
sammenbruchstheorie war Kautsky damals noch näher als später. Einen festen
Plan für die Transformation zum „Zukunftsstaat“ vorzulegen, lehnte Kautsky ab.
Hinsichtlich der Zukunftsvisionen wurde schon seine schwankende Haltung ge-
Sozialdemokratie in Deutschland 263

genüber der Sozialisierung der Produktionsmittel sichtbar. Großbetriebe – aber


keineswegs Kleinbauern und Handwerker – sollten enteignet werden, nicht aber
notwendiger Weise entschädigungslos (EP: 148, 150).
Die Vorstellung mit dem Erfurter Programm hätten „die Marxisten“ über „die
Lassalleaner“ gesiegt, war Geschichtsklitterung. Kautsky selbst hat gesehen, dass
er und Bernstein ja selbst erst spät zu entschiedenen Marxisten geworden sind
und dass der Marxismus unter der erstickenden Glocke des Sozialistengesetzes
die Massen gar nicht erreichen konnte (zit: Gilcher-Holtey 1986: 93). Immerhin
hat Kautsky in dieser Debatte um das Erfurter Programm sich gegenüber Wilhelm
Liebknecht als führender Theoretiker der Partei durchgesetzt.

Parlamentarismustheorie

Schon in seiner Erläuterung des Erfurter Programms (EP: 225) nahm Kautsky
eine differenzierte Haltung zum Parlamentarismus ein: „Die Arbeiterklasse hat
also nicht nur keine Ursache, dem Parlamentarismus fern zu bleiben, sie hat alle
Ursache, überall für die Kräftigung des Parlaments gegenüber der Staatsverwal-
tung … aufs Entschiedenste thätig zu sein“. 1893 publizierte Kautsky die Schrift:
„Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie“ aus
Anlass einer regen Diskussion in der SPD für eine Volksgesetzgebung im Sinne
Rittinghausen. Sie wurde erst 1911 in zweiter Auflage herausgebracht, weil zwi-
schendurch das Thema an Aktualität verloren zu haben schien. Schon in der
Schrift über das „Erfurter Programm“ hatte er die Volksgesetzgebung allenfalls als
Korrektiv akzeptiert (EP: 256). Sie konnte in seinen Augen den Parlamentarismus
nicht überflüssig machen. Die Vorschläge von Moritz Rittinghausen waren schon
wegen ihrer anarchischen Idee einer totalen Dezentralisation nach Schweizer Mo-
dell im Deutschen Reich nicht handhabbar. Jede Sektion war für Rittinghausen
souverän und musste den Willen des Volkes herausfinden. Das Resultat konnte
für Kautsky (PD: 72) nur „Chaos“ bedeuten. Kautsky sah im modernen Abgeord-
neten den Mandatar der Partei und nicht des Volkes. Die spätere Leibholz-These
war damit schon vorweg genommen. Kautsky (PD: 116) war nicht bereit, den Vor-
sprung, den die Sozialdemokratie durch ihre Disziplin vor den bürgerlichen Par-
teien besaß, durch Dezentralisierungsexperimente aufs Spiel zu setzen. Er wit-
terte utopischen Sozialismus. Gegen Considérant erklärte er: „Wir revolutionären
Sozialisten haben also nicht die mindeste Ursache zu wünschen, ‚die Parteien
möchten in der Nation untertauchen‘“ (PD: 137). Gegen eine zentralisierte Staats-
gewalt konnte sich nach seiner Ansicht nur ein zentralisiert organisiertes Prole-
tariat behaupten.
In der späteren Parlamentarismusdebatte, die durch den Eintritt des französi-
schen Sozialisten Millerand in ein bürgerliches Kabinett Waldeck-Rousseau aus-
264 Sozialdemokratismus

gelöst wurde, hat Kautsky wiederum seine Fähigkeit zum zentristischen Kom-
promiss bewiesen. Er trat nicht grundsätzlich gegen Eintritt in Koalitionen mit
bürgerlichen Parteien ein. Aber eine Koalition durfte nicht nur augenblicksorien-
tierte Politik im Auge haben, sondern musste sich an festen Grundsätzen orien-
tieren. Die Resolution, die Kautsky einbrachte, war keine Billigung des Millerand-
schen Schachzugs und lag etwa auf der Linie, die Jaurès verfolgte. Aber die
radikaleren Sozialisten wie Guesde und Ferri haben darin eine Aufweichung der
Grundsätze durch eine Praxis, in der alles erlaubt sei, gewittert (Internationaler
Sozialistenkongress zu Paris, 23.bis 27.September 1900. Berlin 1900: 19).

Eduard Bernstein und Kautskys Revisionismuskritik

Erst mit dem Erscheinen von Engels’ „Antidühring“ 1878 kam es in der deutschen
Sozialdemokratie zu einer ernsthaften Rezeption des Marxismus. Selbst Bebel und
Bernstein waren in ihrer Frühzeit eher „Dühringianer“ als Marxisten. Bernstein
bezeichnete die Führer der Sozialdemokratie als „allesamt sozialistische Eklek-
tiker“ (Die Neue Zeit, Bd. 13,1, 1894/95: 103). Nach einer Analyse von 1905 in der
„Neuen Zeit“ hatten von den 400 000 Mitglieder der SPD allenfalls 10 % einige
Kenntnisse des Werkes von Marx (zit: Gustafsson 1972 I: 29). Das theoretische Or-
gan der Partei, „Die Neue Zeit“ kam nicht über 6000 Abonnenten hinaus. Bebels
Buch über „Die Frau und der Sozialismus“, das 1879 erstmals erschien, hat bis 1910
fünfzig Auflagen erlebt. Es war kein eigenständiges theoretisches Werk, aber hat
mehr Arbeiter erreicht als alle marxistischen Schriften der verschiedensten Auto-
ren zusammen.
Engels beklagte 1883 in einem Brief an Bebel den Tiefstand der Theorie in der
deutschen Partei (Briefwechsel: 132): „Kautsky, der einzige, der fleißig studiert,
muss schreiben um zu leben, und kann schon deshalb nichts leisten“ – eine etwas
gewagte These, da viele Sozialisten im 19. Jahrhundert Lohnschreiber waren und
doch gewichtiges zur Theoriebildung beisteuerten. 1885 äußerte Engels sich noch
schärfer und behauptete, „das er (Kautsky) absolut keine Vorstellung davon hatte,
was wirklich wissenschaftliches Arbeiten heißt“ (ebd: 233). Den „Chefideologen“
der Partei vor Kautsky, Wilhelm Liebknecht, machte er als „brave Henne“ lächer-
lich, die „gebildete Sozialisten“ ausbrüten wollte „und siehe da, es sind lauter Phi-
lister und Spiessbürger aus den Eiern gekrochen; und nun will die brave Henne
uns glauben machen, es seien doch Küchlein, die da im bürgerlichen Fahrwasser
schwimmen, und keine Enten“ (ebd.). Engels hielt sich daher als Theoretiker für
absolut unersetzlich.
Eduard Bernsteins Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Auf-
gaben der Sozialdemokratie“ – das Engels nicht mehr erlebte – war ebenfalls theo-
retisch nicht sehr eigenständig und glänzte durch die Verarbeitung statistischer
Sozialdemokratie in Deutschland 265

Zahlen und historischer Fakten. Dennoch wurde es wegen seiner provokanten


Thesen zu einem Standardwerk in der Bewegung. Auch in der späteren Literatur
ist es nicht der wissenschaftliche Wert, sondern der Rezeptionswert des Buches
gewesen, der seine Wertschätzung konstituierte (Gay 1954: 366 f, Meyer 1977: 2).
Bernstein war weder ein Mann der Wissenschaft, noch ein charismatischer Par-
teiagitator. Seine Bescheidenheit war geradezu sprichwörtlich. Daher ist er auch
trotz aller Kritik seiner Genossen im Ganzen glimpflich davon gekommen.
Schon in der Kritik am Erfurter Programm und den Thesen von Marx zum
Gothaer Programm hat sich Bernstein (TGS II: 31 f) gegen den Automatismus der
Entwicklungstheorie gestellt, die zu immer größerer Konzentration der Betriebe
und zu immer stärkerer Pauperisierung der Arbeiter führen müsse. In den „Vor-
aussetzungen“ unterschied Bernstein (VSAS: 29) wie bei allen Wissenschaften im
Marxismus eine „reine“ und eine „angewandte Lehre“. Die „Herausschälung der
reinen Wissenschaft“ war seiner Ansicht nach bisher nicht versucht worden. Im
Bereich der angewandten Wissenschaften galt für ihn: „Einzelnes kann da schon
herausgebrochen werden, ohne dass der Fundamentalgedanke Schaden leidet“
(VSAS: 31).
Bernstein hat sich im Namen seiner Unterscheidung immer gewehrt, als
Nicht-Marxist oder gar als Anti-Marxist verschrien zu werden. Er ging davon
aus: „In ihren Kerngedanken ist die Marxsche Lehre längst von den Sozialisten al-
ler Länder akzeptiert …“ (Texte: 92). Widersprüche der Theorie stellte Bernstein
schon im Marxismus fest, weil er den Klassenkampfgedanken von „Revolutionä-
ren“ und die Idee der Arbeiteremanzipation von den „Sozialisten“ übernommen
habe. Daher hatte der Marxismus den Blanquismus nur in einer Hinsicht – in Be-
zug auf die „Methode“ – überwunden. In der Überschätzung der Kraft der revo-
lutionären Gewalt hingegen, sei „er nie völlig von der blanquistischen Auffassung
losgekommen“ (VSAS: 65). Aus Engels Einleitung zu Marxens „Klassenkämpfen“
las Bernstein die Rechtfertigung für die Propagierung eines parlamentarischen
Weges heraus, wobei er zweifellos die revolutionären Untertöne dieses Vorworts
nach seinen Bedürfnissen ausblendete.
Bernstein hat auch die Werttheorie von Karl Marx kritisch analysiert (VSAS:
72 ff). Ganz neu war dieser Versuch nicht. Graham Wallas hatte bereits vor Bern-
stein versucht, die Marxsche Werttheorie und die Grenznutzentheorie komple-
mentär zueinander einzusetzen. Auch die Krisentheorie der marxistischen Öko-
nomie wurde nicht akzeptiert. Bernstein (VSAS: 113) konnte in den Zeiten des
Booms der 1890er Jahre keine „Zeichen eines ökonomischen Weltkrachs von un-
erhörter Vehemenz feststellen“. Die Kritiker beeilten sich festzustellen, dass Marx
nie eine Zusammenbruchstheorie entwickelt habe und in der Krisentheorie außer-
ordentlich flexibel gewesen sei. Wirtschaftliche Krisen leugnete Bernstein keines-
wegs, aber er sah sie als zeitlich und räumlich begrenzt an. Sie wurden „norma-
266 Sozialdemokratismus

lisiert“ und wie Wind und Hagelschlag ihrer kommunistischen apokalyptischen


Hoffnungsdimension beraubt. Bernstein wurde von Plechanov und anderen der
Satz unterschoben: „Das Endziel ist nichts, die Bewegung alles“. Sinngemäß blieb
er dabei: „Und das Endziel ? Nun, das bleibt eben Endziel. Die Arbeiterklasse …
hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen“ und freute
sich diebisch, dass der Satz ein Marx-Zitat darstellte (VSAS: 236).
Die Hinwendung zur parlamentarischen Transformationspolitik bei Bernstein
war nicht denkbar ohne den Einfluss der Fabier, auch wenn es sich als Übertrei-
bung erwies, dass Bernstein geradezu im Auftrag der Fabian Society in der deut-
schen Partei tätig geworden sei (Meyer 1977: 20). Dennoch galt für die Fabier das
Wort von Bernhard Shaw: „In England bezeichnet man mit Sozialdemokrat heut-
zutage einen Sozialisten, der hoffnungslos hinter der Entwicklung zurückgeblie-
ben ist“ (zit: Hirsch 1977: 7). Bernsteins Transformationsstrategie setzte auf die
Gesetzgebung, die in ruhigen Zeiten auf Intellekt gegründet sei, während in der
Revolution vor allem Gefühlsaufwallungen zum Tragen kämen. In einem politi-
schen Reifezustand wurde für ihn „die Berufung auf die gewaltsame Revolution
zur inhaltlosen Phrase“ (VSAS: 251).
Die Debatte um Bernsteins Buch zeigte, dass er den Finger in die Wunde der
„attentistischen Partei“ gelegt hatte, und dass auch Kautsky darüber nachdenken
musste, ob er aus intellektueller Redlichkeit nicht auf einige dogmatische Formeln
des Erfurter Programms verzichten müsse. 1899 wurde Kautsky von Bebel aufge-
fordert, gegen Bernsteins Thesen aufzutreten. Er sah die Aufgabe als prekär an:
„Die Polemik gegen einen alten Freund hat immer etwas Peinliches“ (1899: VII).
Der Konkurrent um die Rolle eines Chefideologen, Wilhelm Liebknecht, hatte
Kautsky in der „Sächsischen Arbeiterzeitung“ vorgeworfen, dass er der Freund-
schaft zu dem alten Kampfgefährten Bernstein Priorität über die „reine Lehre“ gab.
Besonders übel wurde ihm genommen, dass er Bernsteins Artikel in der „Neuen
Zeit“ abdrucken ließ. Bernsteins Buch hielt er für eine „Sensationsschrift“. Zwar
sei Bebels Buch über die Frau weiter verbreitet, aber eine Sensation war es nicht:
„Ganz anders liegt die Sache, wenn ein hervorragender Sozialdemokrat, einer der
‚orthodoxesten‘ Marxisten ein Buch schreibt, in dem er feierlich verbrennt, was er
bisher angebetet, und anbetet, was er bisher verbrannt hat“ (1899: 1).
Kautsky ging in der Kritik gegen den alten Freund rechte milde vor. Ob die
Schrift wirklich einen Abfall vom Sozialismus darstellte, wollte er nicht vorab
entscheiden. Er leugnete auch, dass das Buch innerhalb der Partei einhellig ver-
dammt wurde. Geärgert hat ihn vor allem, dass in der bürgerlichen Presse „des
Jubels … kein Ende“ war. Kautsky verteidigte die wirtschaftliche Analyse, die er
in das Erfurter Programm eingefügt hatte. Er (1899: 42) warf Bernstein vor, selbst
gezimmerte Popanze der Theorie zu widerlegen. Marx und Engels hätten we-
der eine „Zusammenbruchstheorie“ noch eine „Verelendungstheorie“ aufgestellt
Sozialdemokratie in Deutschland 267

und erklärte diese zu Erfindungen der Gegner des Marxismus. Die Krisentheorie
von Marx hingegen wurde verteidigt (1899: 136 f). Der zehnjährige Krisenzyklus
sei keine Erfindung von Marx, sondern eine empirische Beobachtung. Dass der
Rhythmus inzwischen nicht mehr zehnjährig sei, habe man auch vor Bernstein ge-
wusst. In der Tat: selbst Marx hatte das bereits erkannt.
Dissens brach nicht nur bei der ökonomischen Analyse auf, sondern auch
bei der Rolle, welcher der Partei beigemessen worden ist. Für Kautsky (1899: 177)
war die SPD eine „reine Klassenpartei des kämpfenden Proletariats“, keine Volks-
partei. Damit verbunden sah er ein klareres Endziel als bei Bernstein: die Macht
musste erobert werden, während Bernstein das Proletariat dafür noch lange nicht
reif erachtete (1899: 184). Als Bernstein in einem Artikel für die „Die Neue Zeit“
(„Die Menge und das Verbrechen“ Bd. 16,1, 1897 – 98: 229 – 237) auf der Basis der
Massenpsychologie Sigheles das Proletariat zu entmystifizieren suchte, und ar-
gumentierte, dass Revolutionen meist die „wertlosesten Elemente“ nach oben
spüle, griff Kautsky zum Rotstift. Als der Konflikt der alten Freunde Bernstein
und Kautsky nicht mehr durch Formelkompromisse übertüncht werden konnte,
und Kautsky von den radikaleren Kritikern Bernsteins, wie Mehring oder Luxem-
burg einer stillen „Kollusion“ verdächtigt wurde, musste er zur Replik ausholen.
Kautsky hat als „Essentials“ der marxistischen Position die soziale Revolution, die
Vergesellschaftung der entscheidenden Produktionsmittel, die Dominanz wirt-
schaftlicher Faktoren in der Geschichte und die führende Rolle des Proletariats
als Triebkraft des Fortschritts festgehalten. Kautsky ist jedoch immer noch milde
mit Bernstein verfahren, indem er häufig unterstellte, dieser habe sich entweder
unklar ausgedrückt oder auf verschwommene Weise das gleiche wie sein Partei-
programm behauptet. Er hatte gehofft, dass dies das letzte Wort in dieser Sache
sein werde, eine Hoffnung, die trog. Bebel verteidigte die Linie des Erfurter Pro-
gramms gegen den Revisionismus weniger aus theoretischen Gründen, als aus
Motiven der Erhaltung seines Führungsanspruches, der durch Bernsteins Thesen
indirekt ins Wanken geraten musste. Kautsky ging Bebel in der Anti-Bernstein-
Schrift noch nicht weit genug. Ähnlich taktisch verhielten sich die pragmatischen
Sozialreformer in der Partei wie Auer und Vollmar. Sie teilten Bernsteins The-
sen, empfanden aber die Revisionismus-Debatte zu diesem Zeitpunkt als Störung
ihrer Kreise. Bebels Durchsetzung der „Erfurter Linie“ in der Partei entpuppte
sich nach einigen Jahren als Scheinsieg, der die schwelenden Fraktionsdifferen-
zen übertünchte.
268 Sozialdemokratismus

Revolutionstheorie und Massenstreikdebatte

1902 schrieb Kautsky auf Anregung des Sozialistischen Lesevereins in Amster-


dam die Schrift „Die soziale Revolution.“ Der evolutionistisch-reformerische Weg
wurde erneut verworfen. Der Begriff der „sozialen Revolution“ war der engere Be-
griff. Der Oberbegriff war die politische Revolution, die eintritt, wenn eine bis da-
hin unterdrückte Klasse die Staatsgewalt erobert. Revolution hatte für Kautsky
zwei Seiten: Revolution als Ereignis und Revolution als Entwicklung. Er wehrte
sich jedoch gegen die Verwässerung der sozialen Revolution zu einer sozialen Re-
formpolitik. Eine soziale Revolution musste unvereinbar mit den Interessen der
herrschenden Klassen sein (SR: 9). Der „große Entscheidungskampf “ schien ihm
unerlässlich. Sozialer Friede innerhalb des Kapitalismus wurde zur Utopie erklärt
(SR: 51 f). Der politische Kampf musste auf die soziale Revolution bezogen werden,
und war daher nicht voluntaristisch zu organisieren.
Klarere Angaben über die Revolution zu machen, lehnte Kautsky ab. Die Rich-
tung der Entwicklung, nicht aber Formen und Tempo konnte ein Marxist vor-
aussagen. In der zweiten Auflage (SR: 59) wurde gegen die Revolutionsroman-
tik argumentiert, die sich meist auf Anschauung der russischen Revolution von
1905 stützte. Die russischen Verhältnisse hatten in Kautskys Augen keinerlei Er-
klärungskraft für Deutschland. Die Halbherzigkeit der Rhetorik zeigte sich in den
konkreten Vorschlägen am Schluss der Schrift (SR: 75). Er wagte nicht zu entschei-
den, ob die „Expropriation der Expropriateure“ als Konfiskation mit oder ohne
Entschädigung vor sich gehen werde. Für die schwierige Zeit der Übergangsgesell-
schaft zum Sozialismus verwies er auf vage Habenposten, wie die „Disziplin des
Proletariats“, da Zwang und Reglementierung nicht in Frage kämen (SR: 79). Das
Ausmaß der erlaubten Gewalt hat er im Gegensatz zu Rosa Luxemburg ebenfalls
im schöpferischen Halbdunkel belassen.
Die russische Revolution 1905 hatte den Anhängern der Massenstreikidee
neuen Auftrieb in der Partei gegeben. Die Fraktionen der Partei haben die radikal
klingenden Termini zu höchst unterschiedlichen Ausdeutungen benutzt (Gilcher-
Holtey 1986: 197). Rosa Luxemburg und andere sahen erste Schritte in Richtung
Revolution, wo die Partei bisher attentistisch im Wartestand verharrte.
Neue ideologische Fronten überlagerten die alten. Der Neukantianismus
wandte die Kantsche Trennung von Sein und Sollen auf den Sozialismus an. Die
Unvermeidbarkeit von Ereignissen durfte für die Kantianer nicht als Begründung
dafür benutzt werden, dass die Entwicklung auch so sein „solle“, wie sie prognos-
tiziert wurde. Kant wurde von den Protagonisten der Bewegung nicht zum So-
zialisten stilisiert, aber Vorländer (1900: 68 f) vertrat die Ansicht, dass der Ma-
terialismus in der Anwendung auf die Geschichte ebenso scheitern werde wie in
den Naturwissenschaften. Die Losung lautete nicht „Zurück auf Kant“, sondern
Sozialdemokratie in Deutschland 269

„Vorwärts mit Kant !“ Kautsky verteidigte – wie Bebel und Rosa Luxemburg – in
der Schrift „Ethik und materialistische Geschichtsauffassung“ (1906), die er als
„Gelegenheitsarbeit“ einführte (Eth: V), den materialistischen Ansatz gegen den
aufkommenden „ethischen Sozialismus“ der Neukantianer, der den eher pragma-
tisch entwickelten Analysen der Revisionisten die philosophische Unterfütterung
zu liefern begann. Wie so häufig wurde sein Argument durch Rückgriffe bis auf
die alten Griechen nicht gerade klarer. Wieder bot Kautsky einen zentristischen
Formelkompromiss, indem er unterstellte, dass die Ethik von Marx und Engels
im Grunde die gleiche sei (Kautsky an Plechanov am 22. Mai 1898. Abgedruckt in:
„Der Kampf “. Wien, Bd. 18, 1925: 1 ff). Der Materialismus wurde gegen die „Kant-
sche Manier, den Geist als selbständige Triebkraft in die Entwicklung des gesell-
schaftlichen Organismus“ einzuschmuggeln, verteidigt. Zugleich aber wurde ein
nicht deterministisches Bild der Wechselwirkung der Ökonomie und ihrem geis-
tigen Überbau angeboten (Eth: 128).
Diese Debatte verlor ihre Abstraktheit, als sie sich mit der Massenstreikdebatte
zu verquicken begann. Es entstand eine unheilige Allianz zwischen Radikalen und
gemäßigten ethischen Sozialisten, die einem Voluntarismus in der Streikdebatte
zuneigten. Die Parteiorthodoxie wurde durch Einbrüche der Mandatsentwick-
lung bei den Reichstagswahlen von 1907 erschüttert. Der Revisionismus erhob
erneut sein Haupt. Kautsky meldete sich in seiner politisch radikalsten Schrift zu
Wort: „Der Weg zur Macht“ (1909). Wer freilich wirklichen Radikalismus erwar-
tete, wurde schon durch den Untertitel enttäuscht: „Politische Betrachtungen über
das Hineinwachsen in die Revolution“. Aus dieser Schrift stammte der meist zi-
tierte Satz von Karl Kautsky: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht
aber eine Revolutionen machende Partei“ (WM: 44). Der Attentismus wurde hier
am deutlichsten sichtbar. Voller Stolz wurde mit statistischen Daten belegt, dass
das Proletariat im Reich die Mehrheit der Bevölkerung und der Wahlberechtigten
ausmache. Das Proletariat sei die einzige Klasse, die an sich und ihre Sache glaubt
und keiner Illusionen bedarf. Es „wird so lange als möglich versuchen, mit der
Anwendung der … ‚gesetzlichen‘ Methoden allein auszukommen“. Sollte ihm dies
nicht gelingen, so liegt das an der „nervösen Stimmung der herrschenden Klas-
sen“ (WM: 47). Kautsky plädierte gegen die Zumutung einer „Blockpolitik“ gerade
in einem Moment, wo das Wort von der ‚reaktionären Masse‘ zur Wahrheit ge-
worden sei. Nicht das Proletariat könne durch Koalitionspolitik gewinnen, „son-
dern im besten Falle nur die Parlamentarier, die das Verkaufsgeschäft abschließen“
(WM: 103). Politische und Massenstreikaktionen hielt Kautsky für nicht angemes-
sen im Kampf um einzelne Errungenschaft, sondern nur zur Erringung der gan-
zen Macht. Diese Thesen von „Auf dem Weg zur Macht“ missfielen dem Partei-
vorstand, der die erste Auflage nicht im Vorwärts-Verlag akzeptieren wollte. Die
Massenstreikdebatte – nicht zuletzt von Rosa Luxemburg angeheizt – begann
270 Sozialdemokratismus

den marxistischen Flügel der Partei zu entzweien. Es entstand ein marxistisches


Zentrum und eine radikale Linke. Kautsky hat die Massenstreiktheorie von Rosa
Luxemburg nicht gebilligt, weil er in der direkten Aktion von mobilisierten Mas-
sen keinen Fortschritt erblickte.
Kautsky hatte seit 1891 der Partei die Aufgabe zugedacht, die Arbeiterklasse
über ihre geschichtliche Mission aufzuklären. Den Intellektuellen fiel dabei eine
wichtige Rolle zu. Aber das Leninsche Konzept der Avantgardepartei, die von In-
tellektuellen geführt wurde, hat er verworfen, auch wenn sich Lenin in einigen
Punkten auf den frühen Kautsky berufen hatte.

Ein Intermezzo des revolutionären Politikers

Im Ersten Weltkrieg vollzog sich in den zwei ersten Kriegsjahren eine Annähe-
rung der einander feindlich gewordenen Fraktionen. Von Bernstein und Kautsky
bis zu Eisner und Luxemburg gab es eine Parteiopposition gegen den Krieg. Kaut-
skys Beitritt zur USPD isolierte ihn in der Partei und er verlor sein theoretisches
Organ „Die Neue Zeit“, über das er vorübergehend fast ein Deutungsmonopol er-
langt hatte. Im November 1918 stellte sich Kautsky als Vorsitzender der Sozialisie-
rungskommission zur Verfügung, der so berühmte Spezialisten wie Hilferding,
Schumpeter und Lederer angehörten. Sie hat sich sehr bald aufgelöst. Kautsky
wurde für kurze Zeit als Staatssekretär dem Auswärtigen Amt beigeordnet – bis er
mit den USPD-Repräsentanten im Dezember 1918 aus der Exekutive der Volksbe-
auftragten wieder ausscheiden musste, noch ehe er seine Arbeit „recht begonnen
hatte“, wie er im Rückblick bedauernd feststellte (Leben: 31). Kautsky publizierte
1919 „Richtlinien für ein sozialistisches Aktionsprogramm“ und hielt ein wichti-
ges Referat über „Was ist Sozialisierung ?“ vor dem 2. Reichskongress der Arbei-
ter-, Bauern- und Soldatenräte“. Sein Einfluss aber war in Georgien größer als in
der Heimat, wo er sich seit 1917 stark isoliert fühlte (Leben: 29). Die menschewis-
tische Regierung lud ihn von September 1919 bis Januar 1920 nach Tiflis ein. Im
Rückblick wurden von georgischen Sozialdemokraten Kautsky und Plechanov als
die Väter der Bewegung bezeichnet (Leben: 98). Kurz nach Kautskys Abreise aus
Georgien hat die Rote Armee der Freiheit des kaukasischen Staates ein blutiges
Ende bereitet. Die Schärfe der Kritik Kautskys an Sowjetrussland war nicht unbe-
einflusst von seinen Kenntnissen vor Ort.

Kritik des Sowjetregimes

In der Schrift: „Die Diktatur des Proletariats“ hat er seine erste Kritik an den
Machtergreifungsmethoden der Bolschewiki geübt. Der linke Flügel der USPD
folgte ihm in diesem Punkt nicht. Nachdem dieser in die neugegründete KPD
Sozialdemokratie in Deutschland 271

überging, kämpfte Kautsky für die Wiedervereinigung der USPD mit der SPD. Er
nahm noch an den Vorbereitungen zum Heidelberger Programm von 1924 teil.
Kurz zuvor ging er nach Wien, wo er als freier Schriftsteller lebte und sein theo-
retisches Hauptwerk „Die materialistische Geschichtsauffassung“ (1927) veröf-
fentlichte. Beim „Anschluss“ floh Kautsky – nicht ohne Hilfe der tschechischen
Botschaft – nach Prag. Umstritten blieb zeitlebens, wie viel Loyalität er für den
tschechischen Teil seines Familienerbes empfunden hat. Kautsky hat in seinen Er-
innerungen betont, dass nie an Stelle seines „tschechischen Nationalismus je ein
anderer trat“ (EE: 211). Engels hat gleichwohl einmal geargwöhnt, dass Kautsky
des Tschechischen nur geringfügig mächtig sei. Kautsky brachte wie andere Theo-
retiker, die im jüdischen Milieu ihre Anpassung an die dominante Kultur vollzo-
gen hatten, nur begrenztes Verständnis für die nationale Frage auf, wenn auch in
der Polenfrage etwas mehr Sympathien äußerte als Rosa Luxemburg sie zeigte.
Von Prag musste Kautsky bald weiter nach Amsterdam fliehen. Angesichts der Be-
drohungen durch die neueren Diktaturen schienen ihm die Zeiten der „begrenz-
ten Repression“ unter dem Sozialistengesetz rückwirkend geradezu „gemütlich“.
Dieser Satz aus dem Nachlass sollte sich als prophetisch erweisen. Kautsky starb
1938 in Amsterdam, seine Frau Luise kam in Auschwitz 1944 um.
Nach der Oktoberrevolution gewann eine Konzeption der demokratischen
Revolution bei Kautsky Profil. Die Sozialisierung der Produktionsmittel sollte
durch demokratische Entscheidungssprozesse und nicht durch Dekrete von oben
legitimiert werden. Sozialistische Regierungen mussten sich Wahlen stellen, auch
wenn die Gefahr der Niederlage drohte. Gewalt durfte nur gegen solche Gegner
angewandt werden, die legal zustande gekommene Entscheidungen nicht akzep-
tierten. Damit wurde Kautsky für Lenin und Trockij endgültig zum „Renegaten“.
In der Schrift gegen Trotzki „Von der Demokratie zur Staatssklaverei“ (DzS: 31)
sollte Demokratie auch nach dem Sieg des Proletariats sicher stellen, dass Frei-
heit der Kritik an der Regierung fortbestehe, Opposition gegen Bürokratie und
Korruption möglich bleibe und die Selbstverwaltung sich ausbreiten könne. Der
Ausdruck „Diktatur des Proletariats“ wurde nicht eliminiert – so wenig wie bei
Luxemburg – aber Kautsky (DdP: 27) verstand darunter die Ausübung der Herr-
schaft auf der Grundlage der Demokratie. Wie Rosa Luxemburg fühlte Kautsky
sich unwohl in seiner Kritik an dem ersten großen sozialistischen Experiment der
Geschichte. Russland brauche eigentlich Hilfe und keine Kritik, äußerte Kautsky.
Aber Kritik sei gleichwohl notwendig. Selbst die Hungerkatastrophe, die das re-
volutionäre Russland heimsuchte, war für ihn nicht bloß eine Verschwörung der
Kulaken, welche Nahrungsmittel horteten, wie in der Apologie einiger Bolsche-
wiki, sondern resultierte aus den Fehlern der errichteten „Staatssklaverei“ (DzS: 5).
Lenin hat in seiner Schrift „Der linke Radikalismus“ von 1920 Kautsky einen Arti-
kel vorgehalten, den dieser 1902 für „Iskra“ geschrieben hatte, „als er noch Marxist
272 Sozialdemokratismus

und kein Renegat war“. In diesem Beitrag hatte Kautsky es für möglich gehal-
ten, dass „Rußland einen Völkerfrühling mit Macht herbeiführt“. Dieser Fall war
in den Augen Lenins inzwischen eingetreten. Sein Kommentar: „Wie gut schrieb
Karl Kautsky doch vor 18 Jahren“ (LW Bd. 31: 6 f) Trockijs (1972: 153 f, 88, 113) Ent-
gegnung fiel schärfer aus und überschlug sich in Invektiven gegen den Priester
einer „quietistischen Kirche“ und rechtfertigte den roten Terror und die Militari-
sierung der Arbeit in Sowjetrussland. Selbst britische Sozialisten wie Harold Laski
und die Webbs dachten anfangs milder über den roten Terror.
Im Westen hat die Suche nach staatlicher Effizienz – die gerade in Großbri-
tannien zu fehlen schien – vielfach zur Verklärung einiger Errungenschaften So-
wjetrusslands wie der Planung geführt. Kautsky (SduK: 59) blieb in der Stalinzeit
der Ansicht, dass „die Methoden der Diktatur im allgemeinen und des Fünfjah-
resplanes im besonderen“ den Sozialismus nicht vorbereiteten, sondern sogar von
ihm wegführten. Das Sowjetregime war für ihn ein System „orientalischer Despo-
ten“ mit aristokratischen Elementen geworden (SduK: 65). Selbst angesichts der
Ausbreitung des Faschismus hielt Kautsky (SduK: 96) eine Einigung der sozialisti-
schen Arbeiterbewegung und die Überwindung der Spaltung von Kommunismus
und Sozialdemokratie nicht für möglich, solange Russland von einer Diktatur re-
giert werde. Kautsky (DzS: 73) entwickelte bereits die These von der doppelten
Substitution des Proletariats. Die Bolschewiki hatten den Staat nach dem Mus-
ter der Partei organisiert, und die Partei unter Kuratel einer kleinen Elite von Be-
rufsrevolutionären gestellt. Der „bewaffnete Prophet“ Trockij hat diese These im
„Anti-Kautsky“ wütend zurückgewiesen. In den dreißiger Jahren hat der „entwaff-
nete Prophet“ im Exil das Sowjetsystem ganz ähnlich eingeschätzt.

Kautskyanismus ?

Kautsky verwirklichte eine neue Form des Theoretikers der Politik, die es bis da-
hin noch nie gegeben hatte: er wurde durch beharrliche Fleißarbeit zum Chefideo-
logen der damals mächtigsten sozialdemokratischen Partei der Welt und indirekt
der gesamten II. Internationale. Die Arbeitsteilung innerhalb einer sozialistischen
Partei machte es möglich, dass ein schwacher Redner sich schriftlich und nicht
mündlich äußerte. Sein Mandat war ein intellektuelles, kein machtpolitisches in
der Organisation. Kautsky gehörte nicht dem Parteivorstand und nicht der Reichs-
tagsfraktion an. Die Arbeitsteilung zwischen Bebel und Kautsky war entscheidend
für die Vorbildwirkung der Partei in der damaligen europäischen Linken.
Kautsky schien ein „typischer deutscher Professor“. Immerhin hat er zwei
Ordinariate ausgeschlagen, als die SPD-Mitgliedschaft nach der Novemberre-
volution 1918 nicht mehr automatisch eine Hochschullehrer-Karriere ausschloss
(Leben: 31). Kautskys Analysen waren solide gearbeitet, aber etwas langweilig. Es
Sozialdemokratie in Deutschland 273

ist kein Zufall, dass niemand ihm eine kritische Gesamtausgabe gewidmet hat. Es
fehlte ihm an Imagination in allen Fragen der Ästhetik und der Ethik – verwun-
derlich bei dem Sohn eines Künstlerehepaares.
Selten hat ein so wenig origineller Denker einen „Ismus“ mit seinem Namen
verbinden können, ohne dass ihm dies zur Freude gereichte. Es ging ihm nicht
um sich selbst, sondern er fühlte sich als Sachwalter eines großen geistigen Erbes.
„Kautskyanismus“ (Matthias 1957) wurde oft mit „Zentrismus“ identifiziert, ob-
wohl Kautsky nicht in allen Perioden seines Wirkens das vertrat, was seine Feinde
als Kautskyanismus ex post facto definierten. Zentrismus sagte zudem je nach
den politischen Kräftekonstellationen wenig über den eigenen Standort aus. Auch
Lenin war im Kampf der Fraktionen in Russland häufig ein „Zentrist“, auch wenn
er im Ganzen eine vergleichsweise linke Politik vertrat. Angesichts der zahlrei-
chen Formelkompromisse, bei grundsätzlicher Wahrung fundamentaler Prinzi-
pien, war die Bezeichnung Zentrismus auch unabhängig von der Konstellation der
Fraktionen nicht ganz unzutreffend. Linke und Rechte an den Rändern des Zen-
trismus haben freilich laufend gewechselt. Es kam zuweilen zu einem „renverse-
ment des alliances“. Spätestens 1914 befand sich Kautsky in einem Boot mit vielen
seiner linken Kritiker. Die neuere Literatur hat den „Kautskyanismus“ wieder mil-
der beurteilt (Hünlich in: Rojahn u. a. 1992: 54 ff). Kautsky wurde nicht mehr mit
dem Stigma des schleichenden Verrats umgeben, sondern als ein exemplarischer
Fall aller Parteien der II. Internationale gewürdigt, die sich auf dem Wege von der
Klassen- zur Massenpartei befanden.

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2 Die Fabier in Großbritannien: Beatrice und Sidney Webb,


Bernard Shaw, Harold Laski

Selten in der Geschichte der politischen Theorie kann ein Kapitel einem gan-
zen Zirkel von Intellektuellen gelten (weitere Ausnahmen waren die Slawophi-
len in Russland und die Generation von 1898 in Spanien). Mit den Webbs wurden
einflussreiche Theoretiker der Labour Party hervorgebracht. Bernard Shaw galt
eine Weile als der berühmteste englische Schriftsteller. Die Gründung der „Lon-
don School of Economics“ als innovative universitäre Einrichtung ging auf die Fa-
bier zurück. Als die Labour Party 1945 erstmals allein herrschen konnte, waren
Premierminister Attlee und 230 Mitglieder seiner Fraktion Mitglieder der Fabian
Society. Der interne Einfluss – und über den Revisionismus Bernsteins auch der
Einfluss im Ausland – war überwältigend – vor allem im Britischen Common-
wealth. Engels (MEW Bd. 39: 166, 8) hat sich gründlich geirrt, wenn er die Fabier
nur als „Bande von Strebern“ hinstellte, ein paar „gescheute Advokaten, Literaten
und sentimentale Weibsleute“. Der Name dieser Gruppe wurde von Fabius im rö-
mischen Krieg gegen Hannibal abgeleitet, der auf den rechten Augenblick war-
tete, um dann hart zuzuschlagen (Wittig 1982: 13). Die Mehrzahl der Anhänger
der Fabian Society gehörte der aufsteigenden Mittelklasse von „professionals“ an.
Sie waren der Gesellschaft nicht so entfremdet, dass sie für revolutionäre Utopien
anfällig wurden, sondern betonten „Respektabilität“ und einen viktorianischen
Moralkodex. Der Sozialismus der Fabier war nicht auf eine holistische Ideologie
gerichtet, sondern in Fortentwicklung des Positivismus auf eine soziale Rekon-
struktion. Aber selbst führende Exponenten wie Shaw oder Beatrice Webb erleb-
Die Fabier in Großbritannien 277

ten immer wieder Frustrationen aufgrund der pragmatischen Ideen eines „social
engineering“ ohne Gesamtvision, und neigten dazu, im Sozialismus ein Glau-
benssystem zu entwickeln. Hintergrund dieser Glaubensbedürftigkeit war bei
nicht wenigen Fabiern – wie bei Beatrice Webb – der evangelikalische Hinter-
grund einer Jugend in dissentierenden Denominationen, die gegen die Anglika-
nische Kirche standen.
Unter den Vorläufern sozialistischer Gedanken in Großbritannien dominierte
ein stark ästhetischer Ansatz, der bei Carlyle, Ruskin und Morris religiöse, morali-
sche, ästhetische und politische Gefühle zur Synthese brachte. Bei William Morris
(1834 – 1896) wuchs das Interesse am Marxismus, obwohl er noch einen ziemlich
unmarxistischen Approach wählte, der auf die Verbesserung der räumlichen und
ästhetischen Lebenswelt gerichtet war. Sein Ausgangspunkt war ein ästhetischer:
ehe die Massen nicht ein auskömmliches Leben hatten, konnten sie nicht an äs-
thetische Genüsse herangeführt werden. Der Sozialismus wurde gleichsam zur
Eingangsstufe für ein Leben mit Kunst. Morris gründete 1885 mit anderen Dis-
sidenten die „Socialist League“ (Pierson 1973: 32, 81). Der sozialistische Impetus
konzentrierte sich bald in einer „Art and Crafts-Bewegung“. Sie sollte im „Werk-
bund“ in Deutschland ein späteres Echo finden, mit einer britisch inspirierten Mi-
schung von Lebensreform, moderner Ästhetik und einem undogmatischen So-
zialismus.
Der Approach an den Sozialismus bei den Webbs war ein anderer. Die Lehren
von Jeremy Bentham mit ihrer Konstruktion eines „rationalen Staates“ waren von
Einfluss auf die Ideologie der Fabier, weil ihr individualistischer Ansatz mit dem
Sozialismus vereinbar schien. Der späte John Stuart Mill mit Ansätzen zu sozialis-
tischen Elementen im Denken hat Sidney Webb ebenfalls nachhaltig geprägt. Zu-
gleich boten die Varianten des Utilitarismus eine Rechtfertigung für die Rolle der
neuen Intelligencija, die von den Fabiern gesucht wurde – bei Bentham der Ex-
perte, bei Mill die „instructed few“ (Aut: 148, Repres. Gov. Kap. VlI: 242 ff), wel-
che das bloße Stimmvieh des parlamentarischen Routinebetriebes ersetzen sollten.
Mit dem Marxismus haben sich viele Fabier entgegen einem verbreiteten Vorur-
teil, das der späte Engels verbreiten half, durchaus beschäftigt, am stärksten Shaw.
Aber eine dominante Strömung ist der Marxismus nie gewesen.
Beatrice Webb, geb. Potter (1858 – 1943) entstammte einer frommen Unterneh-
merfamilie mit konservativen Neigungen, Sidney Webb (1859 – 1947) kam aus der
unteren Mittelschicht, wurde aber der intellektuelle Kopf des Zweierteams. Erst
durch die Partnerschaft mit Webb wuchs Beatrice über das Niveau einer begab-
ten Dilettantin hinaus. Sie behauptete, ihn nicht aus Liebe, sondern um „der ge-
meinsamen Sache willen“ geheiratet zu haben. Beide verband die Aufgabe des re-
ligiösen Glaubens und die Substituierung durch den Glauben an den Sozialismus.
Owens Ethos der Brüderlichkeit lebte in dem Pathos der Webbs für den Sozialis-
278 Sozialdemokratismus

mus fort. Bis in die Zeit seines Beitritts zu den Fabiern war Webb ein Anhänger
des Positivismus und des individualistischen Radikalismus. Er propagierte den
freien Wettbewerb. Sein Beitrag zur Sozialreform beschränkte sich auf die For-
derung nach einer progressiveren Besteuerung und auf moralische Appelle. Po-
sitivismus und Anarchismus hielt er auch nach 1895 noch für legitime Spielarten
des Sozialismus (Wittig 1982: 37). Schrittweise hat Webb den Sozialismus für eine
entwickeltere Gesellschaftsformation angenommen als das Comtesche Modell der
Gesellschaft.
1885 trat Sidney Webb dem mittelständischen Debattierklub der Fabier bei.
Ihm war es zu verdanken, dass er Weltgeltung erlangte – in Teamarbeit auch mit
Bernard Shaw (1856 – 1950), der als Publizist und Polemiker den soliden Forscher
Webb ergänzte. Webb hat 1886 in einem Vortrag seine Vorstellung von Sozialis-
mus erläutert, die sich in der Folge wenig änderte. Er war von Anfang an gegen
Marx, den er für unwissenschaftlich erklärte und dessen revolutionäre Auffassung.
Webb wollte den Sozialismus mit friedlicher Reformpolitik und Überzeugungs-
arbeit durchsetzen. Sozialismus wurde auf das Recht des Arbeiters auf den vol-
len Ertrag ihrer Arbeit gegründet. Sozialismus sollte keine Gleichheit des Besitzes
und Zentralisierung der Wirtschaftsplanung bedeuten (1888). Zentral und kollek-
tiv sollten nur Grundrente und Zinsen administriert werden. Der Zentralismus
wurde in der Auffassung der Webbs (ID) abgebaut und die Macht dekonzentriert.
Getreu der radikalen Tradition, die vom Kampf um das allgemeine Wahlrecht
Mitte des Jahrhunderts in eine Konsumentenbewegung mündete war für die
Webbs der Konsument wichtiger als der Produzent, der im Zentrum der marxis-
tischen Theorien stand. Daher wurde die Idee des Existenzminimums (national
minimum) früh entwickelt (Const: 321) und die Forderung nach Wohlfahrtspo-
litik, die auch Wohnen und Gesundheit umfasste, propagiert, wie sie im Beve-
ridge-Plan nach 1945 realisiert worden ist. Beatrice Webb war Mitglied einer Royal
Commission über das Armenrecht und vertrat diese Ideen bereits in einem Min-
derheitsvotum des Committees. Obwohl die Webbs rastlos für mehr Gleichheit
gekämpft haben, wurde ihnen eine elitäre Konzeption unterstellt, weil sie „merito-
kratisch“ dachten. Gleichheit ging nicht über Chancengleichheit hinaus. Im Wett-
bewerb sollten die Fähigkeiten des Einzelnen entscheiden. 1919 trat Webb für eine
„geschichtete Demokratie“ (Stratified Democracy) ein, die Einflüsse des Gilden-
sozialismus in England aufwies. Die Gildensozialisten und G. D. H. Cole waren für
größeren Pluralismus der Interessen ohne zentrale Autorität, welche sie zusam-
menfasste. Der Einfluss von Spencers Theorie sozialer Differenzierung mag dabei
noch wirksam gewesen sein.
1913 wurde die Zeitschrift „New Statesman“ von den Webbs gegründet, um un-
ter den demokratisch gesonnenen Bürgern Proselyten für den Sozialismus zu ge-
winnen. Sozialismus wurde immer mit Demokratie verbunden. Die Förderung der
Die Fabier in Großbritannien 279

politischen Partizipation wurde daher zu einem wichtigen Anliegen. Vor allem die
Gemeindeselbstverwaltung lag Webb am Herzen (Const: 203). Er selbst hat sich
anderthalb Jahrzehnte im Londoner Gemeinderat dem Berufsschulwesen gewid-
met und für den polytechnischen Unterricht gekämpft. Anfangs haben die Webbs
den Kleinbetrieb favorisiert und den kommunalen „Gas-und-Wasser-Sozialismus“
gefördert. Ab 1910 legte die Fabian Society (Fabian Tract Nr.150: State Purchase of
Railways, 1910) ein Konzept zur Nationalisierung ganzer Industriezweige vor. Der
Sozialismus der Berufsverbände, Genossenschaften und Gemeinden begann sich
auf einen demokratischen Staatssozialismus zu verlagern (Const: 168 ff).
Wieder wurde ein Krieg Anlass zur Reorientierung der politischen Theorie. Es
sprach für die Reformfähigkeit Großbritanniens, dass der Besinnungsprozess in
Gang gesetzt worden ist, obwohl das Land den Krieg schließlich gewann. Gleich-
wohl war das Selbstbewusstsein der imperialen Macht durch den langen Wider-
stand der kleinen Burenrepubliken stark beeinträchtigt worden. Hinzu kam der
Niedergang der wirtschaftlichen Vormachtstellung Englands im Vergleich zu den
Konkurrenten USA und Deutschland. Diese Prozesse stärkten die Forderung der
Webbs nach Mobilisierung aller Produktivkräfte des Landes. Die ethischen Sozia-
listen verargten es Sidney Webb zunehmend, dass sein Motiv für die Forderung
des „nationalen Minimums“ für alle Arbeitenden in der Lohn-, der Wohnungs-
und der Sozialpolitik nicht mehr auf ethischen Gründen beruhte, sondern der Ef-
fizienz des Imperiums dienen sollte.

„Industrial Democracy“ und die parlamentarische Demokratie

Im Gegensatz zu den liberalen Radikalen beschränkte sich die Theorie Webbs


nicht auf umfassende politische Demokratie, sondern wollte die arbeitenden
Menschen in einem Konzept von „industrial democracy“ auch als Wirtschafts-
bürger emanzipieren. Shaw (1979: 59) spitzte einmal zu: „in der menschlichen Ge-
sellschaft (ist) der dominierende Faktor nicht die politische Organisation, son-
dern die industrielle Organisation“. Die Förderung des Industrialismus schien
damit zugleich eine Förderung des Sozialismus zu werden. Industrielle Struktu-
ren drängten gleichsam evolutionär nach einer sozialistischen Verfassung. Saint-
Simons Einfluss ist hinter dieser Auffassung gewittert worden (Wittig 1982: 176 f).
Auch diesem Konzept lag die Theorie der Differenzierung zugrunde. Wo die Mar-
xisten ein Proletariat durch Mobilisierung als Einheit schaffen wollten, betonten
die Webbs die Eigenständigkeit der verschiedenen hochspezialisierten Berufs-
gruppen. Sie sahen voraus, dass die gehobenen Schichten der Arbeiter „minor
professionals“ werden würden und nicht als „Arbeiteraristokratie“ diskriminiert
werden konnten, wie im kontinentalen Sozialismus. Webb sah die Gefahren der
Zukunft weniger im Klassengegensatz von Arbeit und Kapital als im Konflikt zwi-
280 Sozialdemokratismus

schen Konsumenten und Produzenten (Const: 247 ff). Daher opponierte er auch
gegen syndikalistische Tendenzen in der Arbeiterbewegung, die mit „action di-
recte“ und Sabotage nur die engen Interessen ihrer Gruppe verfolgten (The New
Statesman 21.6. 1913, Bd.1: 334). Produzentenorganisationen waren für Sidney
Webb in Gefahr „Verschwörung gegen die Öffentlichkeit zu werden“, da sie „ex-
klusiv“ und oligarchisch organisiert seien und das individualistische Profitsystem
nicht weniger anwandten als die Kapitalisten.
Als im Jahre 1900 die Labourparty von den Gewerkschaften gegründet wur-
den, hielten sich die Webbs zunächst fern, weil sie eher pädagogisch als parteipo-
litisch orientiert waren. Als die Aufklärungsarbeit in Kommissionen nicht den
gewünschten Erfolg zeitigte, engagierte sich Webb zunehmend in der Partei und
versuchte sie in die sozialistische Richtung zu entwickeln. Während des ersten
Weltkrieges war er Mitglied im „War Emergency Committee“. Webb war gegen die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, sah aber die Chance, den Sozialismus
durch den vorübergehenden „Kriegssozialismus“ zu stärken.
1918 wurde er der Urheber des Parteistatuts der Partei. Er sorgte dafür, dass
das Gemeineigentum in das Statut aufgenommen wurde, und dass individuelle
Mitglieder der Partei beitreten konnten. In den Minderheitsregierungen von
MacDonald war Webb 1924 und 1929 Mitglied des Kabinetts. Die Schrift „Eine
Verfassung für das sozialistische Commonwealth Großbritanniens“ von 1920 galt
als das Vermächtnis der Webbs. Sie enthielt eine Kritik des zeitgenössischen Parla-
mentarismus und forderte demokratische Innovationen des Systems. Eine korpo-
rative Kammer sollte dem Parlament auf territorialer Ebene gewählt, hinzugefügt
werden, die als Kammer der Experten die eigentliche Planungsarbeit leisten soll-
te. Das Oberhaus empfahl er abzuschaffen (Const: 59 ff). Die Parlamentsreform
sollte ein Arbeitsparlament statt des Debattierklubs über Prinzipien entstehen las-
sen. Spezialisierte Ausschüsse, kurze Redezeiten, rigorose Debattenschlüsse wur-
den gefordert (Const: 328 ff).
Webbs Vorstellung von einer „Verfassung“ war nicht juristisch-normativ. Er
beschrieb die tatsächlichen Machtverhältnisse, von der Regierung bis in die Be-
triebe. Nicht die Bildung des Volkswillens sondern die Autorität der Wissenschaft
sollte dem System zugrunde liegen (Const: 352). Rationalistische Gesetzgebung
in der Tradition Benthams war in diesem Konzept angelegt. Laski (1937: 339) und
andere Fabier haben die rationalistische Konstruktion als unhistorisch verdammt.
Die Schrift hatte den Ruf der Webbs als Zentralisten gefestigt, ein Ruf, der
nach einem Besuch der Sowjetunion im Jahre 1932 noch verschärft wurde, als
sie die Sowjetunion als eine „neue Zivilisation“ lobten, obwohl die Repressionen
Stalins damals schon nicht mehr zu übersehen waren. Das Fehlurteil zeigte, dass
auch Sidney Webb mit seinem Plädoyer für wissenschaftliche Strenge nicht ge-
gen die Gefahren eines „geglaubten Sozialismus“ gefeit war, der seit der Faszina-
Die Fabier in Großbritannien 281

tion, welche die Comtesche Lehre auf die jungen Webbs ausübte, als Religionser-
satz diente. Obwohl die optimistische ethische Komponente bei den Webbs immer
wieder durchschimmerte, wurde ihnen von ethischen Sozialisten in der Bewe-
gung vorgeworfen, dass sie dem moralischen Übel des Kapitalismus nur techno-
kratische Mittel entgegensetzten (Winter 1974: 85 ff) und die Gildensozialisten
wie G. D. H. Cole (1973: 378 f) haben im Modell der industriellen Demokratie der
Webbs neuen Kollektivismus gebrandmarkt, der die kapitalistischen Produktions-
verhältnisse unangetastet lasse. Cole (1973: 5) schrieb in „the World of Labour“,
dass sich ein Gefühl im Lande ausbreite, dass „der große Staat die Fühlung mit
dem Volk verloren“ habe, und dass die „bloße demokratische Maschine bei Wah-
len“ diesen Kontakt nicht wieder herstellen könne. Richtig an den Vorwürfen der
Gildensozialisten war, dass Sidney Webb die Vorstellung suggerierte, durch die
bloße Reorganisation der industriellen Beziehungen werde auch eine neue sozia-
listische Moral erzeugt. Die Überschätzung der Macht institutioneller Reformen
hatte seit Bentham eine Tradition in Großbritannien.
Mit der neuen Wertschätzung der Institutionen kam es auch zu einer gewis-
sen Revision der traditionellen englischen Staatsskepsis. Über den Oxford-Idea-
lismus T. H. Greens (1836 – 1992) wurden Elemente des preußischen Anstaltsstaats
in England hoffähig. Die Vorstellung dem Gemeinwesen „dienen“ zu müssen, war
allenfalls in der Selbstdarstellung des Hauses Coburg-Gotha mit Prinzgemahl
Albert nach England gekommen, das die lutherische Maxime „ich dien’“ im Wap-
pen trug. Auch die soziale Komponente des kontinentalen Ethos wurde attraktiv.
Großbritannien hatte seinen beispiellosen Aufstieg als Industriemacht mit einer
besonders starken Pauperisierung seiner Arbeiterklasse erkauft. Der von der eng-
lischen Oberschicht verachtete preußische Anstaltsstaat hatte hingegen frühe Si-
cherungen für die Arbeiter geschaffen, für die man sich in England zu interessie-
ren begann. Der parlamentarisch unterentwickelte Staat in Deutschland schien
plötzlich sogar die effizientere Gesetzgebung aufzuweisen. Die Staatsinterven-
tion war nicht mehr verpönt. Beatrice Webb (1948: 308) verstieg sich zu dem Satz:
„We … believe in extending the functions of the state in all directions“. Die Auffas-
sung unterstellte eine Interessenidentität von Individuen und Staat. In Deutsch-
land sollte sich diese Annahme als gefährlich erweisen. In England hat sie in zwei
Weltkriegen eher positive Wirkungen durch die Stärkung des Widerstandswillens
entfaltet.

Nationale Effizienz und der Imperialismus

Sidney Webb ging in der Propagierung der nationalen Effizienz bis zur Feind-
schaft gegen die Ideologien im Namen einer technokratischen Philosophie. Seine
Gegner fanden, dass er den Sozialismus als Ideal längst verraten habe. Webbs
282 Sozialdemokratismus

Allianz mit Lord Rosebery war verdächtig. Die „liberalen Imperialisten“ versuch-
ten den Gladstonismus zu überwinden. Die Massen sollten für das Empire inter-
essiert werden und ihr Lebensstandard sollte davon profitieren. Sie waren auf die
Behauptung der Großmacht Großbritannien gegen die aufkommende Konkur-
renz des Imperialismus aus, nachdem das Land seine Monopolstellung verloren
hatte. Auf der Suche nach Vorbildern wuchs ihr Interesse an Preußen-Deutsch-
land. Einige von ihnen strebten eine Art Condominium in der Welt zusammen
mit Deutschland. Sidney Webb erhoffte von dem Bündnis mit Rosebery, seine
Sozialpolitik zur Stärkung des Empires durchsetzen zu können (Hollenberg
1974: 245 ff).
Die liberale Gegenreaktion ließ nicht auf sich warten. Die Ideologen des New
Liberalism wie J. A. Hobson und L. T. Hobhouse (vgl. Bd. 1, Kap. IV, 1) haben ge-
rade gegen die Verquickung der Effizienzideologie mit dem Imperialismus protes-
tiert. Nicht nur Deutschland – vor allem wegen seiner Bildungspolitik – sondern
auch der japanische Kollektivismus erregte nach dem Sieg bei Tsushima das In-
teresse der Webbs. Selbst rassistische und eugenische Theorien wurden diskutiert
und Webb wurde immer sozialdarwinistischer (Searle 1976: 20 ff). Bernard Shaw
hatte den englischen Imperialismus im Burenkrieg verteidigt, weil für ihn nur im-
periale Großstaaten noch zeitgemäß schienen (Schneider 1973).
Die etatistische Konzeption der Webbs ist von anderen Mitgliedern der Fabian
Society, wie Harold Laski (1921), dem großen Kritiker kontinentaler Souveräni-
tätslehren, erbittert bekämpft worden. Selbst der Wohlfahrtsstaat ließ sich damals
schwer mit dem britischen Grundkonsens vereinen. Autoren wie Hilaire Belloc
sahen in Webbs „Verteilungsstaat“ ein neues kollektivistisches Monstrum entste-
hen, das sie „The Servile State“ nannten (1977: 50).
Die Sorgen der Gegner Webbs in der Linken waren nicht gegenstandslos, wie
die Haltung der linken Technokraten gegenüber den Diktaturen erweisen sollte.
Shaw (1976: 158) hat schon 1920 Lenin dafür gelobt, dass er kurzen Prozess mit der
Konstituierenden Versammlung gemacht habe. Linke Fabier wurden zu Fellow
Travellern unter den Moskau-Pilgern zu dem „God that failed“. Shaw hat 1927 so-
gar Mussolini gelobt, das ging selbst den Webbs zu weit. Shaw (1949: 474 ff) hat in
Neuauflagen nach dem Krieg seine Bewunderung für manches am Sowjetsystem
nicht zurückgenommen und den Faschismus als einen der vielen Rückfälle in der
Geschichte bagatellisiert. Während der Faschismus durch die Ästhetik der Macht
für Intellektuelle attraktiv wirken konnte, hat die technokratische Linke eher der
wissenschaftliche Planungsansatz einer rationalen Gesellschaft fasziniert (Caute
1973: 261). Zentrale Prinzipien in Verbindung mit einem strikt geführt Genossen-
schafts- und Organisationswesen imponierte den Webbs. Beatrice Webb (Diaries
1952: 298) lobte, diese „guided democracy“: „Da gibt es keinen verdammten Un-
sinn à la Gildensozialismus“. Die schlimmsten Befürchtungen der ethischen So-
Die Fabier in Großbritannien 283

zialisten waren wahr geworden: „social engineering“ hat über die Idee der Demo-
kratie bei den Webbs gesiegt.
Harold Laski (1893 – 1950) war ein scharfer Kritiker auch der industriellen De-
mokratie. Er sah aus dem Webbschen Konzept eine neue Bürokratieherrschaft
entstehen. Staatsbeamte waren in seinen Augen keineswegs demokratischer als
Unternehmer (Aut: 95 f). Unter dem Einfluss des sozialen Pluralismus von J. N.
Figgis und dem Verfassungspluralismus von Maitland, sowie den Gildenso-
zialisten entwickelte Laski seine pluralistische Theorie, die den Staat als die ein-
zige Zwangsassoziation ansah, der der Mensch angehören müsse (Aut.: 19). Der
Staat wurde als eine Assoziation unter anderen behandelt, die der Kritik der Bür-
ger nicht weniger unterliege als andere Verbindungen. Laskis Pluralismus war zu-
nächst kaum sozialistisch zu nennen. Unter dem Einfluss des Syndikalismus hat er
die Gewerkschaften als die „wahren Assoziationen“ gepriesen, die sich nicht vom
Staat vereinnahmen ließen und ihrem Gewissen folgten, wie er an den Südwali-
sischen Bergarbeitern demonstrierte (Aut: 27). Aber anhand seiner Beispiele wa-
ren schon Zweifel erlaubt, dass bloßer Pluralismus ungehorsamer Assoziationen
progressiv-sozialistische Wirkungen entfalte. Laski nannte auch die Unionisten in
Nordirland, die bis heute den Aufruhr von rechts predigen, der die britische Re-
gierung immer wieder in große Verlegenheit brachte. Gegen einen etatistischen
Sozialismus nach Art der Webbs setzte Laski eine föderalistische Staatskonzep-
tion. Die Gewaltenteilung des herkömmlichen liberalen Staates sollte durch Ge-
walten, die auf Funktionen beruhen, ersetzt werden (Aut: 74). Auch Laski kam zu
einer neuen Auffassung vom Parlamentarismus. Die Gesetzgebung sollte in zwei
Kammern vor sich gehen. Eine repräsentierte die Produzenten, die andere die
Konsumenten (Aut: 87 ff). Demokratische Selbstverwaltung – die eher dem syn-
dikalistischen Konzept der „Autogestion“ ähnelte als der Webbschen „Industrial
Democracy“ – war Laskis Ziel für die wirtschaftliche Verwaltung.
Der Staat wurde aber bei Laski dann letztlich doch eine Agentur, die das Ge-
samtwohl zu schützen hatte. Er verherrlichte nicht wie Sorels Syndikalismus
die „action directe“ um ihres vitalistischen Selbstverwirklichungswertes willen.
Streiks konnten daher auch im Modell seines „funktionalen Sozialismus“ illegi-
tim und funktionslos werden (Aut: 251). Es kam im Denken Laskis zunehmend
zum Widerspruch seiner linkspluralistischen Konzeption einerseits und der Be-
nutzung eines Gemeinwillens – den er in Auseinandersetzung mit Rousseau einst
erbittert abgelehnt hatte – um die Gesellschaft zusammen zu halten und eine Ge-
setzgebung zu ermöglichen. Laski machte daher eine Entwicklung vom Pluralis-
mus zum Kollektivismus durch (Zylstra 1968: 101). In der „Grammar of Politics“
(1925: 439) wurden Gildensozialismus und Syndikalismus aufs Korn genommen.
Die syndikalistische Wirtschaftsauffassung beruhte nun nach Laskis neuer Ein-
sicht nicht weniger auf Privateigentum als die übrige Wirtschaft: „Es gibt keinen
284 Sozialdemokratismus

Grund zu der Annahme, dass, falls die amerikanischen Bergwerke sich im Eigen-
tum der „Vereinigten amerikanischen Bergleute“ befänden, das öffentliche Inter-
esse an der Kohlenversorgung besser befriedigt würde als unter der Eigentümer-
schaft der gegenwärtigen Bergwerksgesellschaften“. Ein großer Teil der Polemik
gegen das Ehepaar Webb schien gegenstandslos zu werden. Laski näherte sich der
etatistischen Position des britischen Sozialismus wieder an, wenn auch unter stär-
kerer Betonung der Gleichheit.

Quellen
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3 Reformistischer Sozialismus in Frankreich:


Jean Jaurès (1859 – 1914) und Jules Guesde (1845 – 1922)

Jaurès stammte aus einer kleinbürgerlich-katholischen Familie im Midi (Castres/


Tarn). Jaurès wurde in die École Normale Supérieure aufgenommen und lehrte
nach dem Studium Philosophie in Albi und Toulouse. 1885 wurde er Abgeord-
neter auf der Wahlliste der Republikaner. In der Dreyfus-Affaire kämpfte er mit
den bürgerlichen Radikalen gegen klerikal-konservative Restaurationstendenzen.
1899 billigte er zur Stabilisierung der Republik den „Ministersozialismus“ und den
Eintritt Alexandre Millerands in das bürgerliche Kabinett Waldeck-Rousseau. Die
Internationale hat den Ministersozialismus mit der Mehrheit der Stimmen aus
Ländern, für die eine solche Option mangels eines funktionierenden parlamen-
tarischen Systems nicht in Frage kam, verurteilt. Aber in Frankreich hat das par-
lamentarische System seit 1875 leidlich funktioniert, wenn es auch immer wieder
einmal durch monarchistische, bonapartistische oder boulangistische Umtriebe
in Gefahr schien. Die Konflikte um den Ministersozialismus haben nicht wenig
zur Verzögerung der Vereinigung der sozialistischen Gruppierungen beigetragen,
ehe 1905 die Französische Sektion der Arbeiterinternationale (SFIO) aus der Taufe
gehoben werden konnte. Jaurès gründete die sozialistische Zeitung „L’humanité“.
Die Fraktionskämpfe waren freilich damit nicht beendet und haben Jaurès’ ver-
söhnliches Temperament strapaziert. Er empfahl, mehr zu arbeiten und weni-
ger zu streiten (zit: Jackson 1949: 152). Vor dem ersten Weltkrieg kämpfte er im
„bewaffneten Frieden“ gegen die lauernde Kriegsgefahr. Als der Krieg schließlich
gleichwohl ausbrach, wurde Jaurès durch die Pistole eines chauvinistischen Fana-
tikers das erste Kriegsopfer. Jaurès hat in seinem Lebensstil die kleinbürgerliche
Reformistischer Sozialismus in Frankreich 287

Herkunft nie verleugnet. Er galt als gutmütig und bescheiden. Zu Haus lebte er zu-
rückgezogen mit seiner Frau, die keinen Anteil an seinen politischen Aktivitäten
nahm. „Bei ihr ruhe ich mich aus“ war seine Devise. Seine Stimme war von „sin-
gender Sanftmut“ (Alain) und sein Stil der Auseinandersetzung von den hehren
Prinzipien des Humanismus getragen, den er vertrat – nicht zuletzt im Titel des
Parteiorgans, das er dirigierte.
Jaurès hat zeitlebens für den Ausgleich mit Deutschland gekämpft. Als die SPD
schon vierhundert Tausend Mitglieder zählte, hatten die französischen Sozialisten
des revolutionären Flügels erst 20 000 und die Reformisten ca. 10 000 Mitglieder.
Selbst Belgien übertraf mit 120 000 Mitgliedern die Organisationskraft der fran-
zösischen Linken bei weitem (vgl. Abosch 1986: 50). Jules Guesde hat sich damals
stärker an der SPD orientiert, deren Klassenkampf-Phraseologie im „revolutio-
nären Attentismus“ er ernst nahm. Jaurès sah in einer öffentlichen Auseinander-
setzung mit Guesde in Lille im Jahr 1900 kritisch, dass sich in Deutschland hinter
theoretischen Formeln viel Unfähigkeit zum politischen Handeln verbarg. Kautsky
hatte den französischen Genossen verübelt, dass sie den Eintritt Millerands in ein
bürgerliches Kabinett Waldeck-Rousseau zum Schutz der laizistischen Republik
tolerierten. Die Vorstellung, dass man zum Sozialismus gelange, indem man Mi-
nisteramt nach Ministeramt erobere, schien Kautsky so, als ob die Protestanten
sich damit begnügt hätten, einen Kardinal nach dem anderen für ihre Sache zu ge-
winnen. Jaurès hingegen hat in diesem gewagten Vergleich von Kirche und Staat
dafür plädiert, die alte Kirche zu penetrieren, wie es die Jesuiten erfolgreich vor-
exerziert hätten (Jaurès/Guesde 1900: 23 f). Er bestand darauf, dass die Revolution
mit Reformen beginne und schloss: „Ich bin kein Gemäßigter, ich bin mit Euch
ein Revolutionär“. Jules Guesde plädierte angesichts der Gefahr eines „embour-
geoisement“ für eine Schadensbegrenzung und sprach Jaurès das Recht ab, die
Partei für seine subjektiven Ansichten zu verpflichten (ebd: 30). Er warnte vor der
Konfusion, die Jaurès’ Verabsolutierung der Wahlstrategie anrichten müsse. Wenn
die Applaus-Stärke richtig wieder gegeben wurde, so hatte die radikalere Position
auch den größeren Beifall.
Jaurès hatte dank seiner republikanischen Bildung und Tradition ein ent-
spannteres Verhältnis zum bürgerlichen Rechtsstaat. Während Bebel die Staats-
formfrage als zweitrangig ansah, hat Jaurès unermüdlich für die parlamentarische
Regierungsform gekämpft. Das deutsche Gerede über die „Diktatur des Proleta-
riats“ hielt Jaurès (VP: 81) für überholt. Den „idyllischen Sozialismus“ der Früh-
sozialisten sah er als überholt an (VP: 63 f) und hielt den „wissenschaftlichen
Sozialismus“, den auch die Marxisten proklamierten, für unerlässlich. Aber die
positiven Seiten des Fourierismus, Saint-Simonismus und des Proudhonismus hat
er in seiner weiten Bildung immer noch als geistiges Kapital angesehen, von dem
die Bewegung zehren konnte.
288 Sozialdemokratismus

Der französische Sozialismus war vom Scheitern der Commune-Revolution


gezeichnet und litt am Pluralismus sozialistischer Strömungen, der in krassem
Gegensatz zum staatlichen Zentralismus stand. Paul Lafargue – Schwiegersohn
von Karl Marx – und Jules Guesde hatten 1879 die „Fédération du Parti Travailleur“
gegründet, die später in „Parti ouvrier français“ umbenannt worden ist. Guesde
(TC: 37) übernahm den Marxismus mangels Detailkenntnissen in recht schemati-
scher Form und verstieg sich in einen dogmatischen Schematismus, der die Sche-
matisierungen des Historischen Materialismus durch Engels noch einmal vergrö-
berte. Er vertrat gegen Jaurès einen „Kollektivismus“ und übertraf die deutschen
Vorbilder noch an revolutionärer Phraseologie (TC: 103 f, 106 ff). An Marx schrieb
er 1879 einen Brief, in dem er sich mit dem Deutschen in der revolutionären Ge-
sinnung und im Kollektivismus eins wähnte (TC: 102 f). Der Kampf gegen anar-
chistische und proudhonistische Tendenzen und die Notwendigkeit einer Partei-
organisation schien Guesde mit den Marxisten zu verbinden. Vor allem berief er
sich auf Marx gegen die „duperie du radicalisme bourgeois“ und sah seine Auf-
gabe in der Aufklärung des Proletariats gegen die Versuchungen der friedlichen
Kooperation und der Experimente mit Volksbanken. Jaurès stand in der Ableh-
nung des parteimarxistischen Konzepts in Frankreich nicht allein. Die Possibilis-
ten um Paul Brousse setzten auf Wahlen und Reformen und die Allemanisten ver-
traten eine ethische Version des Sozialismus, der vor allem auf eine Autonomie
der Arbeiter pochte, die sich gegen die Vorherrschaft der Intellektuellen wehrten.
Sie setzten ein imperatives Mandat gegen ihre Abgeordneten durch. Jeder Abge-
ordnete musste im Voraus eine Demissionserklärung als Blankovollmacht hin-
terlegen. 1896 wurde sie gegen zwei Abgeordnete sogar exekutiert (Rebérioux
1975: 91). Daneben hatten die Schulen der Blanquisten und der Syndikalisten ihre
eigenen Traditionen. Der Sozialismus war als Prinzip in Frankreich breit konsens-
fähig. Umso dogmatischer bestanden die einzelnen Fraktionen jedoch auf ihrer
für authentisch gehaltenen Version im Detail der Lehren.
In einer Schrift über „Die Ursprünge des Sozialismus in Deutschland“ hat
Jaurès sich früh mit dem geistigen Erbe des Nachbarlandes auseinandergesetzt.
Die deutsche Tradition hat er in dieser Schrift bis zur Reformation zurückver-
folgt. Als Charakteristikum der theoretischen Tradition der Deutschen sah er es
an, dass jede Willensäußerung des Einzelnen auf eine göttliche und menschliche
Weltordnung bezogen wurde, während Frankreich die Freiheit in der Abstraktion
verkümmern lasse. Jaurès hat sich in dieser Schrift (1974) stark für Fichtes „Kol-
lektivismus“ mit seinen jakobinischen Einschlägen interessiert. Den Ursprung
des deutschen Sozialismus sah er nicht im Materialismus, sondern im Idealismus
von Luther bis Fichte. Der Bewegung, die den Sozialismus mit Kant zu versöhnen
trachtete, hat diese Schützenhilfe aus Frankreich besonders gefallen (Vorländer
1900: 40).
Reformistischer Sozialismus in Frankreich 289

Im Gegensatz zu Lafargue hat Jaurès (NA: 337) die Theorien von Marx diffe-
renziert beurteilt. Die Werttheorie hat er bewundert, aber sie war für ihn weder
Dogma noch bloße Theorie der Preise, sondern eine „soziale Metaphysik“. Die
Umwälzung der Eigentumsverhältnisse hat auch Jaurès nie in Frage gestellt. Selbst
ein Konflikt antagonistischer Klassen war in seiner Lehre unausweichlich. Aber er
huldigte dank der jakobinischen Traditionen des französischen Sozialismus kei-
ner Glorifizierung des Proletariats. Zu eng war sein Kontakt mit dem Herkunfts-
milieu, als dass er übersehen konnte, dass in weiten Teilen Frankreichs ein Prole-
tariat noch gar nicht entstanden war. Die arbeitenden Klassen konnten nicht auf
eine neutrale Instanz für ihre Befreiung hoffen, sondern mussten die Organisa-
tion der Befreiung in die eigene Hand nehmen (RS: 186). Gegen Louis Blanc hat
er auch die Hoffnung auf einen Staatssozialismus verworfen, hat aber zugleich ge-
gen anarchistische und syndikalistische Positionen Stellung bezogen, die den Staat
schlechthin für ein Übel hielten (RS: 193). Für die Marxisten blieb gleichwohl ein
syndikalistisches Element in seiner Lehre erhalten, weil er von der Streikbewe-
gung wichtige Fortschritte erhoffte, und das Proletariat nicht wie in den Avant-
garde-Theorien der Stellvertreter-Lehren die Arbeiter von sich aus nur eines
„tradeunionistischen Bewusstseins“ für fähig hielt. Wiederum vertrat er die dif-
ferenzierteste Position und wehrte in der Auseinandersetzung zwischen partei-
zentrierten und gewerkschaftszentrierten Positionen jeden Primatgedanken einer
Säule der Arbeiterbewegung ab. Die Einheit der Bewegung war für ihn der wich-
tigste Wert. Der Befreiungskampf sollte sich nach Jaurès durchaus der staatlichen
Institutionen bedienen. Aber – wie 1789 – schloss er nicht aus, dass die Umstände
eine Revolution erzwingen konnte, auch wenn er keiner Revolutionsmystik an-
hing wie Guesde.
Auch in der Auseinandersetzung um Nationalismus und Internationalismus
vertrat Jaurès eine differenzierte Vermittlungsposition. Die Behauptung der Mar-
xisten, dass der Proletarier kein Vaterland habe, empfand er als absurd (NA: 384) –
ohne zu übersehen, dass der Patriotismus ständig von der Reaktion missbraucht
werden könne. Sein „kulturell-pluralistischer Sozialismus“ hat Patriotismus nie
nur staatlich gewertet. Ihm ging es um die Sicherung der positiven kulturellen
Errungenschaften einer jeden Nation auch für ihre Arbeiterklasse. Den Nationa-
lismus des bürgerlichen Lagers konfrontierte er mit Warnungen: der Krieg der
Vaterländer könne rasch in einer internationalen Revolution enden, was sich für
Russland und beinahe auch für Deutschland als prophetisch erweisen sollte.
Wie viele Franzosen aus dem Midi war der Verlust von Elsass-Lothringen für
ihn weniger schmerzhaft als für Nordfranzosen, zumal der Süden nicht unter der
drückenden preußischen Besatzung gelitten hatte. Gleichwohl hielt er die Anne-
xion für ein Unrecht. Er schloss jedoch eine militärische Korrektur dieser „Ver-
stümmelung des Vaterlandes“ aus. Er trat für Autonomie der Elsässer und Lothrin-
290 Sozialdemokratismus

ger im Deutschen Reich und für eine doppelte Staatsbürgerschaft ein. Langfristig
setzte er seine Hoffnungen auf eine Europäische Föderation. Mittelfristig hoffte
Jaurès seine Politik des Friedens durch eine Ersetzung der stehenden Heere durch
eine Miliz, durch den Ausbau einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und im
Konfliktfalle, wenn alle Mittel versagen, durch den Generalstreik verwirklichen zu
können. Die Generalstreiksidee stieß vor allem bei der deutschen Sozialdemokra-
tie auf den Widerstand der Mehrheit.
Immer wieder ist Jaurès von nationalistischen Eiferern als nicht patriotisch ge-
nug diffamiert worden. Es wirkte daher wie ein Fanal, dass auf dem Höhepunkt
des intellektuellen Krieges, der ihm 1914 das Leben gekostet hatte, seine Schrift
„Vaterland und Sozialismus“ auch auf Deutsch publiziert wurde. Als die linke SPD
langsam an ihrer Weisheit der Zustimmung zu den Kriegskrediten zweifeln be-
gann, erschien in einem eher konservativen Verlag das Plädoyer des berühmten
Internationalisten: „Das Vaterland ist keine überlebte Idee“ (VS: 16). Die franzö-
sische Partei hatte der „union sacrée“ zugunsten der Verteidigung des Vaterlan-
des zugestimmt – unter heftigem Streit, was Jaurès wohl getan hätte (Dill 1991: 22).
Als der Völkerbund proklamiert wurde, ist dies als Verwirklichung der Träume
von Jaurès gedeutet worden. Als schließlich durch die Machtübernahme des Na-
tionalsozialismus auch die kommunistische KOMINTERN ihre Politik 1935 re-
vidierte, und ein Bündnis von Sozialisten und Kommunisten in der Volksfront
möglich wurde, ist 1936 wieder der Name von Jean Jaurès von Léon Blum be-
schworen worden. Léon Blum hat sich mit mehr Berechtigung auf Jaurès berufen
als andere Festtagsredner, weil er die zeitgemäße Synthese von Republik und So-
zialismus repräsentierte (Ziebura 1963) Aber auch Blums Versuch scheiterte und
als Jude wurde er von der Rechten und der Mitte nicht weniger desavouiert als
Jaurès, der sogar mit dem Epitheton „deutscher Agent“ beleidigt worden ist. Es
war die Tragik von Jaurès, das er bei der französischen Regierung als Vaterlands-
verräter galt, während die deutsche SPD nur als patriotisch eingeschätzt wurde
(Groh in: Brummert 1989: 15).

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292 Sozialdemokratismus

4 Der Sozialismus in Italien: Antonio Labriola (1843 – 1904)


und der „Revisionismus“

Labriola war der Sohn eines Lehrers in Cassino, der es zum Rektor einer Schule
gebracht hatte. Er besuchte zunächst ein geistliches Seminar in Montecassino,
und studierte anschließend in Neapel. Anfang der 60er Jahre versuchte er lange
vergeblich, eine Bibliothekarsstelle zu bekommen. Auf Betreiben Spaventas wurde
er bei der Polizeibehörde und später bei der Präfektur in Neapel angestellt. Sein
erstes philosophisches Werk plädierte „Gegen die von Eduard Zeller ausgerufene
Rückkehr zu Kant“. Er arbeitete als Gymnasiallehrer und ab 1874 als Professor für
Moralphilosophie und Pädagogik in Rom. Im Hause Silvio Spaventas lernte er
seinen späteren Schüler Benedetto Croce kennen. Croce hatte später behauptet,
Labriola sei nur fünf Jahre lang wirklich Marxist gewesen und habe sich danach
aus der Politik zurückgezogen. Um 1872 schrieb Labriola in liberalen Zeitschrif-
ten und arbeitete mit dem Liberal-Konservativen Ruggero Bonghi zusammen.
Labriola war ein bedeutender Redner. Das Schreiben lag ihm weniger, daher hat
er verhältnismäßig wenige Veröffentlichungen hinterlassen. 1886 wurde ihm in
Perugia eine Kandidatur zum Parlament angetragen, die sich jedoch zerschlug.
Die sozialistische Partei Italiens wurde 1892 gegründet. Das Programm war
schon zum Teil marxistisch, aber überwiegend noch eklektisch. „Possibilismus“
und Reformismus waren mit bestimmten Theorieelementen vertreten. Labriola
hat das Programm mit Anregungen und Kritik beeinflussen können. Er lehnte
jedoch eine Teilnahme am Parteikongress ab, weil man mit einem zweideutigen
Programm alle Strömungen bis hin zu den Mazzinianern versucht habe, in einem
Formelkompromiss zu einigen (zit. Andreucci/Detti 1976: 28 ff). Labriolas Briefe
an Turati (1947: 96) klangen zunehmend resignativ: Er beklagte, dass ihm nicht
gelinge, „jemanden von dem, was mir richtig und einsichtig erscheint, zu über-
zeugen“. Seine Position als unabhängiger Theoretiker hat er in diesen Briefen be-
kräftigt: Die Arbeiterpartei musste aus der „spontanen Aktion der Arbeiterklasse“
hervorgehen. Aber „wir theoretischen Sozialisten können die allgemeinsten und
allen zugänglichen Waffen liefern, aber wir können und dürfen die proletarische
Bewegung nicht durch unausgegorene, abstrakte und vorweggenommene Vor-
schläge verwirren“ (Turati 1947: 74 f):
1893 traf Labriola Engels – mit dem er schon seit 1890 korrespondiert hatte –
als Delegierter auf einem Internationalen Sozialistenkongress in Zürich. Engels
(Let: 142) gegenüber hat Labriola behauptet, er sei durch Hegel zum Kommunis-
mus gekommen. Labriola war der erste Marxist Italiens und wurde für kurze Zeit
zum orthodoxen Marxisten. Er geriet bald in Konflikt mit der Gruppe um Turati,
mit ihrer Zeitschrift „Critica sociale“, die zum Sprachrohr der Revisionisten wer-
den sollte. Turati versuchte damals, Positivismus und Marxismus zu verbinden.
Der Sozialismus in Italien 293

Labriola verübelte Turati vor allem sein Eintreten für den „Ministersozialismus“,
hat aber die Zusammenarbeit nicht aufgekündigt. Daraus konnte jedoch nicht ge-
schlossen werden, dass Labriola antiparlamentarisch eingestellt war. Er wolle le-
diglich eine radikale Idee des parlamentarischen Systems durchsetzen, ohne „tras-
formismo“ und Korruption, mit klaren Verantwortlichkeiten (SP: 116 f). Trotz
seiner Revisionismuskritik war Labriola Gradualist und verkündete keine Revolu-
tion als einmaliges großes Ereignis. Labriola nahm gegen die Anarchisten Stellung
und versuchte sie in Arbeiterzirkeln zu isolieren. Er betonte ihnen gegenüber die
Rolle der Intelligenz in der Partei. Sie sollte keine Privilegien und exklusiven Füh-
rungsansprüche geltend machen, aber ihre aufklärerische Funktion schien ihm
unerlässlich. Diese Konzeption sollte großen Einfluss auf Gramsci gewinnen. Wie
später bei Gramsci war die starke Betonung einer Synthese von Pädagogik und
Politik im Denken Labriolas angelegt. In einer Rede von 1888 „Für eine streit-
bare Demokratie“ (democrazia militante) erklärte er die „Volksschule“ zu seinem
Ideal (SP: 169). Demokratie war für Labriola ein Glaube, aber keine Religion. Der
Glaube blieb aber allenfalls eine Hoffnung: die Hoffnung auf eine neue „Volkskul-
tur“. Die Rede endete mit einem Appell zur Schaffung einer großen Volkspartei.
Vom Sozialismus war noch nicht die Rede.
Ein sozialistisches Bekenntnis fand sich erst in einer Rede: „Über den Sozia-
lismus“ (1889) vor einem Arbeiterzirkel für soziale Studien zum Gedächtnis der
Pariser Commune. 1890 machte er gegen die bakunistischen Träume, dass Italien
das revolutionärste Land Europas sei, Front (SP: 247). Bakunin war für ihn ein
„unvollkommener Geschichtsphilosoph und ein oberflächlicher Psychologe der
Völker“. Ab 1895 kämpfte er für einen „kritischen Kommunismus“. Er bestand auf
dem Vorrang der philosophischen Ebene und verlangte klare Definitionen der all-
gemeinen Begriffe wie Praxis, Geschichte oder Dialektik. Die bürgerliche Kultur
beruhte für ihn auf künstlichen Konventionen, die Natur des Sozialismus hinge-
gen beruhte auf Wissenschaft. Er grenzte sich bei diesem Anspruch von den Posi-
tivisten ab, die versuchten, aus der Wissenschaft einen Monopolanspruch für sich
abzuleiten (HM: 82). Er wehrte sich als marxistischer Philosoph gegen die Rolle
des „Schulmeisters, der vom Ufer aus Schwimmunterricht erteilt, indem er das
Schwimmen definiert“ (HM: 252). Trotz des deduktionistischen Ausgangspunktes
war Labriolas Theorie stets mit historischen Details angereichert.
1899 versuchte man ihn in den Revisionismusstreit um das Buch von Bernstein
hineinzuziehen. Dass er den verlangten Artikel nicht schreiben wollte, bat er nicht
als Faulheit auszulegen. Er wollte sich ungern mit der „kolossalen deutschen So-
zialdemokratie“ anlegen, und zog sich auf die unterschiedlichen Problemlagen in
Deutschland und Italien zurück (SP: 439). Revisionisten konnten keine Unterstüt-
zung Bernsteins aus dem Brief heraus interpretieren. Aber eine sehr entschiedene
Verteidigung der Orthodoxie hätte wohl eine andere Stellungnahme erfordert.
294 Sozialdemokratismus

Labriolas Hauptwerk über den Historischen Materialismus war eine Buchbin-


dersynthese aus drei verschiedenen Artikeln. 1895 veröffentlichte Labriola seine
Schrift „Zum Gedächtnis des Kommunistischen Manifests“. Sie wurde 1909 von
Franz Mehring ins Deutsche übersetzt. Das Kapitel von Marx und Engels zur Ab-
grenzung des Kommunismus von anderen Formen des Sozialismus wurde als „le-
bendige Kritik und literarische Geißel“ für historisch notwendig gehalten. Aber
es sei überholt in den Ländern wie Deutschland und Österreich, wo diese For-
men theoretisch überwunden seien und allenfalls noch als individuelle Meinun-
gen überlebten. Allenfalls in England und Frankreich schien dieser Teil noch von
Bedeutung (HM: 77).
Typisch für diese Konzeption von Marxismus als Humanismus war eine kom-
plexere Vorstellung des Zusammenwirkens von Überbau und Basis als sie in der
II.  Internationale üblich war. Die Vorstellung, dass Moral, Kunst, Religion und
Wissenschaft nur Produkte der ökonomischen Verhältnisse seien, hielt Labriola
für ein „Schreckgespenst“, das den Gegnern des Materialismus in die Hände ar-
beite (HM: 230). Die stärkere Würdigung der Eigenständigkeit des Überbaus
beim späten Engels war dabei seine Inspirationsquelle. Der Lebensprozess in sei-
nen materiellen und ideellen Aspekten wurde als Gesamtheit angesehen. Weni-
ger nah an Engels schien Labriola mit seiner Kritik an den anthropologischen
Entwicklungslehren. Marxismus und Darwinismus – darin war er mit Engels
einig  –  waren unvereinbar, weil der Mensch in einem deterministischen Natu-
ralismus keine politische Handlungsfreiheit mehr hätte. Die neue Geschichts-
auffassung des Marxismus hatte den Kommunismus aus dem Zustand einer blo-
ßen Sehnsucht, einer Erinnerung oder einer Vermutung herausgehoben. Die
Sozialisierung der Produktionsmittel konnte daher auch nicht mehr einem
Weg über demokratische Mehrheiten anheimgestellt werden. In nuce war da-
mit die Kritik am Revisionismus bereits enthalten (HM: 81). Gleichwohl sprach
er in einer Anmerkung von „demokratischer Sozialisation der Produktionsmit-
tel“, um sich vom Staatssozialismus einiger Strömungen in der Internationale ab-
zugrenzen.
Hauptaufgabe der kommunistischen Theoretiker war es, die Geschichte zu
verstehen. Der Mensch hat die Geschichte nicht gemacht „um auf der Linie eines
vorher beschlossenen Fortschrittes zu marschieren“. Gegen voluntaristischen
Machbarkeitswahn setzte Labriola (HM: 127) die Einsicht: „Wir haben nur eine
einzige Geschichte, und wir können der wirklichen Geschichte, die sich tatsäch-
lich abgespielt hat, nicht von einer anderen nur möglichen Geschichte näher kom-
men“. Labriola lehnte sich offenbar an Engels’ Brief an Bloch an, der festgestellt
hatte, dass das Resultat der Geschichte nie identisch war, mit dem, was die wider-
streitenden Akteure gewollt hatten (MEW Bd.37: 464). Die wirtschaftlichen Deter-
minanten waren auch für Labriola nur eine Art „letzte Ursache“.
Der Sozialismus in Italien 295

Der Vorteil des Sozialismus war für Labriola, dass man der harten Wirklich-
keit kein geschmeicheltes Ideal mehr gegenüber zu stellen brauchte. Man musste
auch nicht mehr unterstellen, dass der ganze Lauf historischer Gesellschaftsfor-
mationen eine Kette von Entgleisungen und Verirrungen gewesen sei. Das Ideal
des Kommunismus war nicht durch „spartanische Entsagung oder christliche Er-
gebung“ zu erreichen (HM: 94). Wissenschaftlicher Sozialismus entwickelte sich
über den „protestierenden Verschwörersozialismus“ von Babeuf bis Buonarroti
hinaus. An ihm wurde nicht nur der Putschismus, sondern auch die Obsession
der Gleichheit kritisiert (HM: 92). Nur Saint-Simon wurde von den Frühsozia-
listen von dem Verdikt des Utopismus ausgenommen. Das neue am „kritischen
Kommunismus“ war auch das organisatorische Substrat für seine Forderungen:
„Nicht im Namen einer Schule, sondern als das Versprechen, die Drohung und der
Wille einer Partei stellte sich die neue Lehre des Kritischen Kommunismus dar“
(HM: 97). Die Partei als höhere Organisationsform wurde später weniger betont,
weil Labriola zunehmend die revisionistischen Aufweichungen beklagte.
1896 folgte die Schrift „Über den historischen Materialismus“. Er hielt darin
eine klassen- und staatslose Gesellschaft in Zukunft für möglich. Der wissen-
schaftliche Sozialismus hatte nach Labriolas Ansicht (HM: 219) den Staat zunächst
ideell aufgehoben. Der Sozialismus hat den Staat begriffen, gerade weil er sich
nicht nur subjektiv gegen ihn auflehnt. An die Stelle des Staates trat in dieser Kon-
zeption das Recht, das für die orthodoxen Marxisten auch nur ein Überbauphä-
nomen gewesen ist.
1897 folgte der dritte Teil seines Hauptwerkes, der als „Sozialismus und Philo-
sophie“ firmierte und aus Briefen an Georges Sorel, bestand. Labriola empfahl den
„Antidühring“ als das „vortreff lichste Buch“ der sozialistischen Literatur (HM:
312). Gegen Benedetto Croces Kritik wurden Marx und Engels in Schutz genom-
men. Labriolas Werk als Vorrevisionist, der die Devise „Zurück zu Marx“ aus-
gab, blieb bei seinem dritten Essay zum Historischen Materialismus stecken. Das
ist nicht als Zufall gewertet worden: der „alternde Professor“ war in der Krise des
italienischen Kapitalismus unfähig, seinen Standort weiter zu elaborieren (Pozzoli
1974: 47).
Einen Schönheitsfehler in Labriolas politischen Äußerungen stellten seine
Einlassungen zugunsten des italienischen Imperialismus gegenüber Tripolis dar
(SP: 499). Labriola sah die Auflösung der Türkei voraus: Als Griechenland 1897
Anspruch auf Kreta erhob, forderte er einen italienischen Anteil an der türkischen
Konkursmasse. Der Sozialismus durfte in seinen Augen nicht nur Sekte werden,
und müsse helfen, Italien in der Weltpolitik zu verankern. Togliatti (Ausgewählte
Reden und Aufsätze. Berlin 1977: 531) hat Labriola damit entschuldigt, dass er den
Imperialismus nicht begriffen habe und daher ein typischer Sozialist der II. In-
ternationale geblieben sei. Gramsci (QdC II, 1975: 1366) nahm an noch anrüchi-
296 Sozialdemokratismus

geren Äußerungen des Mentors Anstoß, dem er einiges verdankte. Auf die Frage,
was die beste Erziehung für einen Eingeborenen aus Papua sei, soll er gesagt ha-
ben: „vorübergehend würde ich ihn zum Sklaven machen“. Die imperialistischen
Entgleisungen Labriolas waren umso gravierender, als die von ihm kritisierten Re-
visionisten wie Turati und Bissolati gegen das Libyen-Abenteuer Italiens Stellung
nahmen. Die Schwankungen seiner politischen Stellungnahmen lagen vor allem
daran, dass kein Weg von der abstrakten Theorie des Marxismus zu den konkre-
ten sozialen Problemen der Zeit führte. Labriola blieb Philosoph. Er hatte keinen
Zugang zur Ökonomie, und das hat seine Irrtümer hinsichtlich des Imperialis-
mus und der wirtschaftlichen Entwicklung Italiens negativ beeinflusst. Labriola
(SP: 498) hat den wirtschaftlichen Nutzen der Eroberung von „Tripolitania“ falsch
eingeschätzt.
Schon 1903 musste Labriola seine Universitätstätigkeit aufgeben und starb
ein Jahr darauf. Auch seine Gegner wie Turati haben ihn als distanzierten Kri-
tiker gelobt. Labriolas früher Tod hat ihn die Krise des Systems nicht mehr er-
leben lassen und weitere Anpassungen nach rechts verhindert. So konnte er als
der „letzte wirkliche Marxist“ gefeiert werden. Andererseits haben Revisionis-
ten wie Bernstein sich für ihre theoretischen Innovationen auf Labriola berufen
(B. Gustafsson: Marxismus und Revisionismus. Frankfurt, 1972: 181 ff). Die Anti-
revisionisten wie Karl Korsch (Die materialistische Geschichtsauffassung. Frank-
furt 1971) haben hingegen versucht, Labriolas vom Revisionismus unbeflecktes
Image zu verteidigen. Korsch hat Labriola als westliches Gegenstück zu dem Ost-
europäer Plechanov wie einen Fels in der revisionistischen Brandung gefeiert. Als
Rezept für die Immunität Labriolas gegen die revisionistischen Versuchungen
wurde herausgestellt, dass sein Marxismus konsequent die Hegelsche Dialektik als
Interpretationsrahmen bewahrt habe.
Labriola blieb sein Leben lang in Distanz zur Partei, und hat es über einen De-
legierten zu internationalen Kongressen nicht hinaus gebracht. Er verstand sich
als Philosoph des Sozialismus – nicht als Akteur. Nach dem zweiten Weltkrieg
kam es zu einer Renaissance des Interesses an seinem Werk – nicht nur als „Vor-
läufer“ von Gramsci, mit dem er die erfreulich unpolemische Argumentationsart
und die „bürgerliche“ Kultiviertheit teilte. Labriolas konkrete politische Äußerun-
gen wurden in der Theoriedebatte meist als marginale Gelegenheitsstellungnah-
men angesehen. Aber es gab auch Historiker, die Labriola für einen sehr konse-
quenten Politiker wieder zu entdecken versuchten, um die KPI um einen Vorläufer
zu bereichern.
Sozialismus in Spanien 297

Quellen
Labriola: Opere. Mailand, Feltrinelli, 1959, 3 Bde.
Labriola: Scritti filosofici e politici (Hrsg.: F. Sbarberi). Turin, Einaudi, 1973.
Labriola: Scritti politici. 1886 – 1904. Bari, Laterza, 1970 (zit SP).
Labriola: Lettere a Engels. Rom, Rimascita, 1949 (zit: Let).
Labriola: Über den historischen Materialismus. Frankfurt, Suhrkamp, 1974 (zit: HM).
Filippo Turati attraverso le lettere dei corrispondenti (1880 – 1925) (Hrsg.: A Schiavi).
Bari, Laterza, 1947: 62 – 99.

Literatur
L. Actis Perinetti: Antonio Labriola e il marxismo in Italia. Turin, Einaudi, 1958.
A. Burgio: Antonio Labriola nella storia e nella cultura della nuova Italia. Macerata,
2005.
L. Dal Pane: Antonio Labriola nella politica e nella cultura italiana. Turin, Einaudi,
1975.
G. B. Furiozzi: Antonio Labriola. In: W. Euchner (Hrsg.): Klassiker des Sozialismus.
München, Beck, 1991, Bd. I: 190 – 202.
S. Gunter (Pseudonym für K. Staudinger): Antonio Labriola und die Ethik. Die Neue
Zeit, 1899, Bd. II: 556 – 560, 586 – 591.
D. Marucco: Arturo Labriola e il sindacalismo rivoluzionario in Italia. Turin, Einaudi,
1970.
L. Michelini: Antonio Labriola e la scienza economica. In: M. Guidi/L. Micheli-
ni (Hrsg.): Marginalismo e socialismo nell’Italia liberale 1870 – 1925. Mailand,
Feltrinelli, 2001: 401 – 436.
L. Nikititsch: Antonio Labriola.Biographie eines italienischen Revolutionärs. Berlin,
Dietz, 1983.
S. Poggi: Introduzione a Labriola. Bari, Laterza, 1982.
C. Pozzoli: Antonio Labriola. Ein alternder Professor, die Anfänge der sozialistischen
Bewegung und die historische Wende des Kapitalismus in Italien (1890 – 1900).
In: A. Labriola: Über den historischen Materialismus. Frankfurt, Suhrkamp, 1974:
7 – 56.

5 Sozialismus in Spanien: Pi y Margall, Costa

Wie Russland hatte Spanien eine starke anarchistische Tradition in der sozialisti-
schen Linken. Anders als in Russland blieb jedoch der Beitrag zur sozialistischen
Theorie in Spanien eher bescheiden. Anarchisten in Spanien waren praktische Re-
volutionäre. Dies galt selbst für Francisco Pi y Margall (1824 – 1901). Pi war ein
Politiker, der es zum Präsidenten der ersten spanischen Republik in der Revolu-
298 Sozialdemokratismus

tionszeit 1868 – 1873 brachte. Daneben war er ein berühmter Redner und Autor
zahlreicher Bücher.
Einige der Minister der zweiten Republik waren noch aus Fernando de los Rios’
„Institución libre de Enseñanza“ hervorgegangen. Präsident Azaña war der wohl
schärfste Kritiker des aufklärerischen Pathos im „Institucionismo“. Die Nachwir-
kung der Philosophie Krauses hat das „Gift des Reformismus“ in die Linke getra-
gen (Krauss 1971: 199). Typisch für diese theoretische Entwicklung war Fernando
de los Ríos’ Buch „El sentido humanista del socialismo“ (1926). Die neukantiani-
sche Welle der deutschen Sozialdemokratie hat von den legalen Marxisten Russ-
lands bis zu den Reformisten Spaniens Einflüsse entfaltet. Der Linkssozialismus
wurde andererseits durch das Aufkommen des spanischen Kommunismus ver-
stärkt. In den 20 Jahren hat die Diktatur Primo de Riveras alle Linken in Spa-
nien verfolgt. Die Folge war das Gegenteil von dem, was der Diktator beabsich-
tigte: das radikale und liberale Bürgertum wurde bereit, mit den Sozialisten ein
Bündnis einzugehen. Diese Koalition wurde die tragende Säule der zweiten Repu-
blik. Die linke Reaktion gegen den „sanften Revisionismus“ wurde 1934 im astu-
rischen Bergarbeiterstreik sichtbar. Largo Caballeros linker Flügel der Sozialisten
gewann die Oberhand. Volksfront-Ideen schlugen sich seit der Vereinigung der
sozialistischen und kommunistischen Jugendverbände 1935 in der Bewegung nie-
der. Im Bürgerkrieg war der Sozialismus unter Largo Caballero zu manchen Zu-
geständnissen an die Anarchisten gezwungen, die einzelne Frontabschnitte und
Landstriche völlig beherrschten. Dies hat sich zum Kummer der Organisations-
fetischisten in der spanischen Linken in einer erschwerten Kriegführung nieder-
geschlagen.

Quellen
P. Iglesias: Die sozialistische Arbeiterparteien in Spanien. Die Neue Zeit, Bd. X, 1:
372 – 376, 405 – 412.
P. Iglesias: Obras completas. Madrid, Leviatan, 1935.
F. Largo Caballero: Mis recuerdos. Mexico, Allianza, 1954.
J. Maurín: L’anarcho-syndicalisme en Espagne. Paris, Librairie de Travail, 1924.
J. Maurín: La Revolución Española. De la Monarquía Absoluta a la Revolución
Socialista. Madrid, Cenit, 1932.
F. de los Ríos: El sentido humanista del socialismo. Madrid, Javier Merata, 1926.
A. Posada: El Socialismo y la Reforma Social. Madrid, s. n., 1904.
M. de Unamuno: Der Sozialismus in Spanien. Sozialistische Monatshefte, I, 9:
475 – 481.
Sozialismus in Spanien 299

Literatur
P. Broué/É. Témine: Revolution und Krieg in Spanien. Geschichte des spanischen
Bürgerkrieges. Frankfurt, Suhrkamp, 1968, 2 Bde.
M. Buenacasa: El movimiento obrero español 1886 – 1926. Madrid, Júcar, 1977.
E. Comín Colomer: Historia del Partido Comunista de España. Madrid, Editora
nacional, 1965 (Standpunkt des Franco-Regimes).
E. Comín Colomer: Historia del anarquismo español. 1836 – 1948. Madrid,
R. A. D. A. R., 1948.
H. Cunow: Sozialismus und Anarchismus in Spanien. Die Neue Zeit, Bd. XXXIV,1:
1915/1916: 232 – 242.
J. Dominguez Martin-Sanchez: Movimiento obrero español. Madrid, 1965.
J. A. Ezcurdía Lavigne: El sindicalismo político. Madrid, Razón y Fé, 1966.
E. Hallensleben: J. P. Oliveira Martins und der Sozialismus in der Generation von
1865. Diss. Köln, 1959.
W. Krauss: Eine Generation der Niederlage. In: Ders: Spanien 1900 – 1965. Beitrag zu
einer modernen Ideologiegeschichte. München, Fink 1972: 40 – 99.
R. Lamberet: Mouvements ouvriers et socialistes. L’Espagne (1750 – 1936). Chrono-
logie et bibliographie. Paris, Éditions Ouvrières, 1953.
M. Lizcano: La experiencia histórica del sindicalismo obrero español. Madrid, 1959.
E. Matorras: El comunismo en España. Madrid, „Fax“, 1935.
J. Peirats: Los anarquistas en la crisis española. Buenos Aires, Alfa, 1964.
A. Posada: La réforme social en Espagne. Paris, 1907.
A. Saludo y Ruiz: El socialismo del campo. Madrid, Huérfanos, 1894.
C. Tressera: Los anarquistas, los socialistas, los comunistas son demócratas ?
Barcelona, 1861.
A. Vicent: Socialismo y anarquismo. Valencia, Imp. De José Ortega, 1894.

Föderalistischer Anarchismus: Francisco Pi y Margall (1824 – 1901)

Der Anarchismus wurde für eine Weile zur führenden Strömung in der spani-
schen Linken. Pi y Margall galt in ihr als Vorläufer. In der Frühzeit entwickelte
der Anarchismus einige Anziehungskraft für die bürgerliche Linke. Proudhonis-
mus, Bakuninismus und Sorelsche Mythen gingen wechselnde nicht immer in
sich stimmige Synthesen ein.
Pi y Margall war ein Journalist aus Barcelona. Er entstammte einer Arbeiterfa-
milie. Der schöngeistige Zugang zur Intellektualität machte auch vor den Linken
nicht halt. Pi ging nach Madrid, um eine Karriere als Literaturkritiker und Kunst-
publizist einzuschlagen. Eigentlich waren es Armut und Frustration, die ihn an-
fangs in die Politik trieben, immer wieder unterbrochen von Phasen, in denen er
300 Sozialdemokratismus

sich mit Artikelschreiben und Herausgeberschaften über Wasser halten musste.


Das Buch „Die Reaktion und die Revolution“ (1854) war die Frucht seiner Enttäu-
schung über die Politik der Demokraten. Er plädierte für ein festes theoretisches
Fundament und eine Analyse von Politik und Gesellschaft als Mittel, die liberale
Schaukelpolitik der Demokraten zu überwinden. In anderen Ländern wurden Re-
volutionen gemacht. Nur in Spanien gab es seiner Ansicht nach dafür keine Ba-
sis: „Beeilen wir uns, sie zu schaffen !“ (1854: 237). Während die Progressiven die
Volkssouveränität beschworen, die sie jedoch nach Bedarf auslegten, wollte er die-
sen Begriff durch die „unveräußerliche Souveränität des Individuums“ ersetzen
(1854: 224). Es gab für Pi nur eine Form legitimer Machtausübung: der freie Ver-
trag zwischen Individuen. Proudhons Kontraktualismus und spätere anarchisti-
sche Ideen wurden bei Pi adaptiert, wo bei er Proudhon mit Herders Pantheismus
und Hegels Dialektik zu einer optimistischen Fortschrittstheorie mischte.
In der Kritik der Politik seiner Zeit stellte er die Bekämpfung des „Beutesys-
tems“ heraus, in das eine kleine Oligarchie das Regime nach Ansicht von Pi ver-
wandelt hatte. Die Armee sollte reformiert werden und eine politische – nicht
eine militärische – Rolle spielen. Ein zweiter Teil des Buches konnte aufgrund der
Repression der Zensur nicht erscheinen. Der theoretische Eklektizismus und die
flüchtige Komposition des Buches schmälerten den Erfolg nicht. Es wurde zum
„Kultbuch“ von Generationen der Libertären und Anarchisten. Neu war im liber-
tären Lager Pi’s Akzeptanz von Parteien. Nur aus dem Gegensatz von Parteien sah
er den Fortschritt in einem ziemlich mechanisch angewandten Hegelschen dia-
lektischen Schema erwachsen. Trotz des Appells an die Massen blieb das Buch ein
Produkt der Intellektuellen-Politik (Hennessy 1962: 11). Pi war als politische Figur
zunächst in der demokratischen Linken isoliert und wurde von vielen Kritikern
angesichts des Konflikts der Regionen als Exponent einer „katalanischen Neuro-
mantik“ abgetan. Pi galt als kontaktscheuer Gelehrter. Seine frugale und unprä-
tentiöse Existenz erweckte in einer Gesellschaft, in der „mehr Scheinen als Sein“
zu den Imperativen des Überlebens gehörte, Achtung aber keine Liebe.
Nur Krisenzeiten konnten einen solchen Mann in eine politische Schlüssel-
stellung tragen. Früh hatte er mit der Kirche gebrochen. Sein Bekenntnis lautete:
„Glaube ist wie Jungfräulichkeit. Einmal verloren, kann sie nicht wieder erlangt
werden“ (1854: 50). 1857 arbeitete Pi als Redakteur einer Zeitung. In seinen Arti-
keln trat er für den Mutualismus Proudhons ein. Die Phase Proudhons, da die-
ser Eigentum für Diebstahl erklärt hatte, übersprang er. Pi wollte das Eigentum
möglichst breit streuen. Die radikalen kommunistischen Utopien von Owen bis
Fourier lehnte er expressis verbis ab. Der Saint-Simonismus kam von der Eigen-
tumskonzeption her für ihn in Frage, widersprach aber durch seinen Planungs-
zentralismus den regionalistischen Prinzipien des Katalanen. Pi forderte die Auf-
lösung von Monopolen in der Produktion und im Bankwesen. Sein Ideal war eine
Sozialismus in Spanien 301

Schicht von kleinen Eigentümern in der Tradition Rousseaus. Sein Sozialismus


war für ihn die „wahre Freiheit“.
1866 mussten viele Demokraten und Sozialisten aus Spanien emigrieren, nach-
dem einige Aufstandsversuche fehlgeschlagen waren – nicht zuletzt aufgrund der
ständigen Rivalitäten der Gruppen der Bewegung und ihrer Führer. Pi hielt sich
1866 – 1869 in Paris auf, wo er mit seiner Familie zurückgezogen lebte und Arti-
kel für die südamerikanische Presse schrieb. Er hatte keinen aktiven Anteil an
der Revolution, die 1868 in Spanien ausbrach. Der Frankreich-Aufenthalt brachte
ihn noch näher an Proudhons Ideen. Proudhons „Du principe fédératif “ (1863)
wurde für Pi eine Offenbarung, deren Realisierung in Spanien er sich widmen
wollte. Pi hat das Buch ins Spanische übersetzt. Es erschien in einem günstigen
Moment kurz vor der Revolution von 1868. Das föderative Prinzip war in Frank-
reich und Spanien eine Frucht der Enttäuschung, dass auch Republiken – wie die
zweite französische Republik – in einer zentralistischen Tyrannei zu enden droh-
ten. Der Föderalismus wurde als Panacea gegen die Tendenzen einer Konzentra-
tion der Macht konzipiert.
Im Sommer 1873 bekam Pi y Margall für kurze Zeit eine Chance als aktiver
Politiker. In den Cortes wurden nur zwei Stimmen gegen das Konzept der föde-
ralen Republik abgegeben. Die Einigkeit trog jedoch. Die Republikaner konnten
sich über das Regierungssystem nicht einigen. Radikale hätten gern eine Art Ver-
sammlungsregierung errichtet. Die Gemäßigten suchten nach einer Vertrauens-
person, die das Ministerium ohne permanente Einmischung der Legislative eher
als parlamentarischer Präsident führen sollte. Pi schien die geeignete Kompro-
missfigur. Er galt als „ehrlich“ und genoss trotz seiner radikalen Ansichten auch
das Vertrauen der rechten Mitte. Pi musste sein Ministerium aus Politikern des
zweiten Ranges zusammenstellen. Die alten republikanischen Führer wie Castelar
oder Figueras weigerten sich, in sein Ministerium einzutreten. Nur kurze Zeit
konnte Pi die rivalisierenden Faktionen mit der Magie seines publizistischen Na-
mens zusammenhalten (Hennessy 1962: 202). Pi’s Kombination aus freundlicher
Naivität und doktrinärer Glaubensstärke hat letztlich die Linke wie die Rechte be-
fremdet. Es wurde ihm zudem vorgeworfen, die katalanischen Interessen zu sehr
zu bevorzugen. Die Katalanisten hingegen hatten von Pi mehr für ihre Sache er-
hofft. Es kam zu einer Kabinettsumbildung. Pi konnte sich als Innenminister hal-
ten. Über die Frage der Verfassung scheiterte er schließlich selbst als Minister.
Wieder kam es zu keiner Einigung der Faktionen. Pi forderte die Wiederherstel-
lung der historischen Provinzen. Seine Gegner wollten die territorialen Einheiten
von 1834 beibehalten. Die Gruppe der „Föderalisten“ zerfiel nach dem Sturz von
Pi y Margall.
Der bekannte Publizist war nur noch Exponent einer Minderheitsgruppe im
republikanischen Lager. Der Sturz der Republik hat die Republikaner noch im-
302 Sozialdemokratismus

mer nicht geeinigt. Sie haben sich in der Restaurationsepoche noch stärker ge-
stritten als in der Zeit, da sie die Macht innehatten. Pi’s Verdienst blieb es, dem
Republikanismus so etwas wie ein theoretisches Fundament gegeben zu haben. In
einigen Regionen – wie im Baskenland – standen sich monarchistisch-legitimisti-
sche Carlisten und linke Föderalisten gegenüber. Die Mitte wurde zerrieben. Wie
in Frankreich hat die Ausdehnung des Wahlrechts nicht wenig zum Triumph des
Monarchismus beigetragen. Marx hat dieses Phänomen für Frankreich mit dem
Wankelmut der „Parzellenbauern“ erklärt. In Spanien konnte Pi die Macht der
Caciquen, welche die Landbevölkerung noch im Griff hatten, als Erklärung an-
führen. Die Bauern folgten grollend der alten englischen Devise „vote as you are
told“. Pi musste erkennen, dass sein Kampf für das allgemeine Wahlrecht das Ge-
genteil, von dem bewirkt hatte, was er erhoffte: das allgemeine Wahlrecht führte
nicht zum Durchbruch republikanischer Ideen, sondern die Wahlreform der Fö-
deralisten hat letztlich gegen ihre Urheber gearbeitet.
Die erste Schrift Pi y Margalls über „Reaktion und Revolution“ (1854) war ein
wenig durchdachtes politisches Pamphlet, das gleichwohl starke politische Wir-
kungen zeitigte. Die zweite Schrift „Die Nationalitäten“ (1876) demonstrierte, dass
der Ex-Politiker mehr Muße für eine historische Vertiefung seiner Gedanken
hatte. Es ging um die Wirkung der Idee der Volkssouveränität in der spanischen
Geschichte. Wenn der Föderalismus in dieser Geschichte zu kurz gekommen war,
wollte er dies nicht der Idee angelastet wissen. Die Basiseinheit politischen Han-
delns war in seiner Konzeption eines libertären Anarchismus nicht mehr „das
Volk“ sondern „die Gemeinde“. In seiner Geschichtskonzeption kam es zum stän-
digen Gegensatz zwischen Freiheit und „sozialer Fatalität“, da Individuen und
die Menschheit unterschiedlichen Handlungslogiken unterlagen. Der Einfluss
von Vico wurde sichtbar mit dem Gedanken, dass der Fortschritt durch zirkuläre
Entwicklungen ständig konterkariert wird. Die Option für den Fortschritt führte
er auf Herder zurück, den er in Termini der Hegelschen Dialektik interpretierte
(1854: 36 f). Das wichtigste Hemmnis für den Fortschritt war in Pi’s Augen der
unzureichende Bildungszustand des Volkes. Revolutionen sah er als historische
Fehlentwicklungen, die sich nur ereigneten, weil die rationalen Prinzipien, die
dem Fortschritt innewohnten, unzureichend erkannt worden sind. Revolutionen
waren gleichsam vermeidbare Betriebsunfälle der Geschichte. Alle Menschen lie-
ben die Ordnung. Nur in der Verzweiflung streben sie nach „Unordnung“ (1854:
290). Revolution war aber eine unvermeidliche Inkarnation der Gerechtigkeit –
auch kein ganz neuer Gedanke. Er fand sich in Proudhons „De la justice“. Im Ge-
gensatz zu französischen Revolutionstheorien war Revolution für Pi kein zentral
gelenkter Prozess, sondern eine anarchische „Einheit in der Vielfalt“. Revolution
hatte die Bestimmung, zu einem Vertrag zu führen. Dieser musste von konkreten
Individuen geschlossen werden und durfte nicht mehr als historische Fiktion der
Sozialismus in Spanien 303

Staatsphilosophie zur Legitimation benutzt werden. Revolution beschränkte sich


bei Pi nicht auf die Umwälzung der politischen Macht, sondern musste immer zu-
gleich soziale Revolution sein (1854: 213).
Mit Hilfe des Föderalismusprinzips von Proudhon suchte Pi die Synthese zwi-
schen dem „hombre humanidad“ und dem „hombre individuo“. Die Reaktion, die
in der spanischen Geschichte überwog, war für Pi die Gefangenheit in der histo-
rischen Tradition. Sie war eine Waffe der Macht, die sich auf Eigentum, Mon-
archie und Kirche stützte. Monarchie und Kirche versuchten sich durch Myste-
rien zu legitimieren. Für einen historisch Aufgeklärten waren diese Mysterien ein
„Bluff “. Die Antithese des Glaubens war die Skepsis. Philosophie schaffte die Syn-
these aus beiden Haltungen. Die Entlarvung der Mysterien wurde bei Pi nicht
mehr religionsphilosophisch vorgenommen, wie bei den Radikalen anderer Län-
der, sondern in einer „Geschichte der Malerei“ (1851). Unter diesem Titel hätte
man schwerlich ein politisches Buch vermutet.
Unter dem Einfluss von Proudhon gab Pi die Hegelsche Geschichtsphiloso-
phie auf und entwickelte – parallel zu den russischen Anarchisten – die födera-
tive Idee. Die Vernunft war für ihn durch die Entwicklung neuer zentraler Staaten
wie Italien und Deutschland diskreditiert. Freiheit konnte nur noch in kleinen ge-
teilten Ländern reifen (1876: VII). Pi polemisierte gegen die Theorien von „Rasse“,
„Nationalität“ und „natürlichen Grenzen“, die er lediglich als Rechtfertigung des
Despotismus wertete. Er knüpfte an die spanische Tradition der „fueros“ an, die
er für alle Gemeinden forderte (1876: 219). Den Liberalen warf er vor, die alten
„fueros“ widerrufen zu haben. Die künstlichen 49 Provinzen Spaniens, welche die
„Moderados“ in ihrer Territorialreform in Spanien eingeführt hatten, waren für
ihn eine Fehlentwicklung. Diese hatte mit den Departements begonnen, welche
die Französische Revolution erdachte. Auch „das Vaterland“ – auf das sich die Ja-
kobiner beriefen – war für Pi eine Abstraktion. Das reale soziale Leben spielte
sich in den Gemeinden ab (1876: 116 ff). Das hatte sich nach Ansicht von Pi nir-
gends deutlicher gezeigt als im spanischen Widerstand gegen Napoleon. Es gab
nach 1808 keine zentrale Koordination. Gemeinden haben den Aufstand organi-
siert. Gemeinden hatten den Vorteil, Freiheit unter Gleichen zu ermöglichen. Die
Familie als Basiseinheit hatte hingegen den Nachteil, zu sehr von Ungleichheit der
schwächeren Glieder (Frauen und Kinder) bestimmt zu sein. Es gehörte zur Tra-
gik von Pi y Margall, dass sein Denken katalanistisch verstanden wurde und we-
nig in ganz Spanien nachwirkte.
Der spanische Anarchismus besaß vor allem in Katalonien und Andalusien
eine wirkliche Massenbasis. Aber er wurde langfristig zwischen dem organisier-
ten Sozialismus und der Reaktion zerrieben. Bakunin hatte 1868 die Spanier in
einer Adresse ermutigt: „Macht doch die soziale Revolution, aber laßt Euch nicht
betrügen von den ewigen Ausbeutern aller Revolutionen: weder von den Generä-
304 Sozialdemokratismus

len noch von den Bourgeois-Demokraten“. Für Pi war Bakunins revolutionäre Va-
riante weniger akzeptabel als Proudhons gemäßigtes Konzept einer sozialen Ver-
änderung. Der Dezentralismus der Bewegung hatte auch in Spanien den Nachteil,
dass man die einzelnen Gruppen auseinander dividieren konnte. Die zentralis-
tischen Republikaner schickten die Armee von Stadt zu Stadt und zwangen die
isolierten Gruppen zur Unterwerfung (Krauss 1972: 196). Über das Militär kam
ein Diktator wie Serrano an die Macht, welcher der Restauration von 1875 den
Weg bereitete – wie einst General Monk das Ende der großen englischen Revo-
lution einleitete. 1881 kam es zu größeren Organisationseinheiten des Anarchis-
mus in der Gewerkschaft „Federación de los Trabajadores“. 1879 hatten sich die
marxistischen Sozialisten und die antiautoritären Anarchisten gespalten, als Pablo
Iglesias (1850 – 1925) die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ gründete. 1888 er-
folgte die Konkurrenzgründung der „Union General de Trabajadores“. Der An-
archismus konnte sich nur in den Randgebieten mit starkem Sonderbewusstsein
wie Katalonien und Andalusien halten. Der Rest Spaniens wurde vom Sozialis-
mus der Richtung Iglesias durchdrungen. Anarchistische Aufstände, wie sie der
Schulreformer Francisco Ferrer (1858 – 1909) organisierte, schlugen mangels zen-
traler Koordination fehl.
Die Diktatur Primo de Riveras (1923 – 1929) hat schließlich alle anarchisti-
schen Organisationen brutal verfolgt. Im Bürgerkrieg sollte sich freilich zeigen,
dass der Anarchismus angeschlagen aber nicht ausgerottet worden war. Das li-
bertäre Lager war zusätzlich durch Konflikte zwischen Anarchisten und Syndi-
kalisten geschwächt. Einig waren sich beide Strömungen nur in der Verachtung
für Wahlen und Parlamentarismus. Angel Pestaña vertrat in Spanien die Theorien
Sorels und hoffte durch Generalstreik und Massenbewegung die bürgerliche Ge-
sellschaft zum Einsturz zu bringen. Im Bürgerkrieg 1936 – 1939 hat der Anarchis-
mus vielfach eher negativ gewirkt. Der Führer der Sozialisten, Largo Caballero
musste zahlreiche Konzessionen an die Anarchisten machen, und hat damit eine
einheitliche Strategie im Krieg auf der Linken verhindert. Kriegsentscheidend
war jedoch auch dieser Mangel vermutlich nicht – angesichts der Übermacht der
faschistischen Mächte in diesem ersten modernen „Stellvertreterkrieg“ auf euro-
päischem Boden.

Quellen
Pi y Margall: La reacción y la revolución. Madrid, La Revista Blanca, 1854.
Pi y Margall: La Republica de 1873: apuntes para escribir su historia. Madrid,
Esterotipia y Galvanoplastia de Aribau y Compª, 1874.
Pi y Margall: Nacionalidades. Madrid, Eduardo Martíez, 1877.
Pi y Margall: La Federación. Madrid, Enrique Vicente, 1880.
Pi y Margall: Cartas intimas. Madrid, Perlado, Paéz y C., 1911.
Sozialismus in Spanien 305

Pi y Margall: Opusculos. Madrid, Imp. y Encuad. de V. Tordesillas, 1914.


Pi y Margall: Las clases jornaleras. Madrid,Casa Editorial Maucci, 1915.
Pi y Margall: Lecciones del Federalismo (Hrsg.: Sánchez Perez). Madrid, 1917.

Literatur
C. A. M. Hennessy: The Federal Republic in Spain. Pi y Margall and the Federal
Republican Movement 1868 – 1874. Oxford, Clarendon, 1962.
A. Jutglar: Pi y Margall y el Federalismo Espanol. Madrid, Taurus, 1974, 2 Bde.
J. Trinchant y Fornés: Pi y Margall ante el regionalismo, el federalismo y la unidad de
la patria. Madrid, A. Pérez y T. Gracía, 1900.

Agrarkollektivismus: Joaquín Costa (1846 – 1911),


Lucas Mallada (1841 – 1920)

Nur in den europäischen Ländern, die kulturell marginalisiert schienen, wie Russ-
land, Spanien und gelegentlich Süditalien, sprengten die Einflusslinien meistens
die engen Grenzen der drei ideologischen Großfamilien. Joaquín Costa hatte
auf fast alle Denker der Generation von 1898 einen tiefen Einfluss ausgeübt. Zu
den Vorläufern der 98er, die sich eine Weile als Sozialisten gerierten, wurde auch
eine Gruppe gezählt, die sich „Regenerationisten“ nannten. Sie erregten Aufse-
hen durch eine schonungslose Bestandsaufnahme der sozialen Übel im Land,
wie Lucas Mallada (1841 – 1920) in seinem Buch „Die Übel des Vaterlands und die
künftige spanische Revolution“ (1890). Anlass war schon vor der vernichtenden
Niederlage Spaniens gegen die USA von 1898, die zu einem beispiellosen intel-
lektuellen Besinnungsprozess der Intelligenz führte, und die wachsende Flut der
Emigration nach Amerika, die nur noch mit Süditalien und Irland zu vergleichen
schien. Während die Niederlande, Belgien, England und Italien damals schon
über 100 Einwohner pro Quadratkilometer aufwiesen, lag Spanien damals bei
33 pro km im Quadrat in Europa weit hinten. Sechs Provinzen im Inland kamen
auf weniger als 30 Einwohner – und doch fanden die Menschen kein Auskommen
auf der kargen Scholle. In der Literatur wurde das Problem der unendlichen Weite
der Meseta rein ästhetisch behandelt, wie in dem bekannten Gedicht Machados:

„Hoy como ayer, mañana como hoy – siempre igual.


Un cielo gris, un horizonte eterno, y andar, andar“.

Nun wurden die Schöngeister vor allem durch die Vermittlung von Pío Baroja
mit der sozialen Seite des Phänomens im Werk Costas konfrontiert. „Die sozia-
len Übel des Vaterlandes“ lagen einmal in den geographischen Bedingungen: ari-
306 Sozialdemokratismus

des Hochland, vielfach auf Granitgrundlage (im Durchschnitt 700 m – gegenüber


213 m. in Deutschland), im Sommer erbarmungslose Hitze, im Winter schnei-
dende Kälte (Mallada 1994: 23 ff). Diese Bedingungen konnte keine Politik ändern.
Aber sie wurden durch die Tugenden und Mängel der „lateinischen Rasse“ ver-
schärft. Durch die „nationale Apathie“ lebte die Impotenz der spanischen Regie-
rungen. Die Mystik des Volksgeistes, die bei der späteren Generation den sozia-
len Protest überlagerte, war schon bei Mallada angelegt. Ganivet hat später unter
der Bezeichnung „abulía“ in die gleiche Kerbe gehauen. Die Indolenz der spani-
schen Gesellschaft wurde auf einen Mangel an Patriotismus bei den Oberklas-
sen zurückgeführt. Vor allem die Aristokratie – streng getrennt vom Mittelstand –
weigerte sich, die Bedingungen moderner Industrialisierung zu verstehen, um
den Aufschwung des Landes zu bewirken (1994: 48). Es fehlte den Oberschich-
ten jeder Unternehmergeist. Religiöse Unduldsamkeit paarte sich mit einer rein
ritualistischen Religionspraxis – ein Thema, das José de Larra y Sánchez de Castro
(1809 – 1837) in dem Buch „Cosas de este país“ bereits angeschlagen hatte.
Eine Analyse zur Statistik von Landwirtschaft und Industrie in Spanien ver-
band sich mit einer beißenden Kultur- und Politik-Kritik. Zu den sozialen Er-
bübeln rechnete Mallada die Ungleichheit der Verteilung des Landes mit Lati-
fundismus und Minifundismus, die hohen Verbrauchssteuern, die vor allem die
Armen belasteten, die internationale Konkurrenz und den Zentralismus der spa-
nischen Verwaltung. Die Folge war eine totale „öffentliche Amoralität“ (1984:
151) mit völlig korrumpierten Parteien, denen die Fähigkeit der Erkenntnis „der
schwierigen Kunst des Regierens“ abhanden gekommen war (1994: 202). Die Aus-
beutung der Massen durch Caciquen und Wucherer, riss Mallada (1994: 222) zu
dem Ausruf hin: „Nieder mit den Ausbeutern der Nation, vorwärts zur spani-
schen Revolution !“ Wie in den lateinischen Ländern so häufig war die Codie-
rung der Reizworte ideologisch nicht eindeutig in westeuropäischen Begriffen
festgelegt. Ein sozialistischer Historiker der spanischen politischen Theorien wie
Tierno Galván (1961: 10) hat angesichts des Pathos, in dem dieses Buch endete,
bei diesem Autor auf eine präfaschistische Gesinnung geschlossen. Diese ist auch
Joaquín Costa unterstellt worden. Wäre das zulässig, dann könnte die ganze Ge-
neration von 1898 im Kapitel Liberalismus und Radikalismus gar nicht erwähnt
werden, und unter Sozialismus ließen sich dann allenfalls theoretisch zweitran-
gige Parteigrößen à la Pablo Iglesias und Largo Caballero subsumieren. Mallada
als Ingenieur mit beträchtlicher Landeskenntnis war eher mit dem Panslawisten
Danilevskij in Russland zu vergleichen (vgl. Bd. 2 Konservatismus). Bei beiden
verband sich detaillierte Kenntnis der regionalen Probleme ihres Landes mit einer
recht allgemeinen Theorie des Volkscharakters.
Kein Autor wurde auf die folgende Generation so einflussreich wie Joaquín
Costa. Er verwirklichte eine Mischung von sozialhistorischem Grundlagenwissen
Sozialismus in Spanien 307

mit einer politischen Demagogie, die ihm beim Reden selbst gelegentlich die Trä-
nen in die Augen trieb, wenn er die Massen mit paradoxen Sätzen verwirrte wie:
„Spanien ist tot – es lebe Spanien !“ Mit seinen sozialhistorischen Studien ist er
als Vorläufer der Soziologie gewertet worden. Darin war er – das Pathos abgezo-
gen – in Russland etwa Maksim Kovalevskij vergleichbar. Politisch war Costa frei-
lich weit schwerer einzuordnen. Sozialist war er nicht, wenn Sozialismus gleich
Marxismus gesetzt wurde. Costa war eher den russischen Narodniki vergleichbar,
da er die Landbevölkerung mobilisieren wollte, während Pablo Iglesias die Arbei-
ter der Städte ansprach. Publikationen der Franco-Zeit haben ihm den Charak-
ter des Sozialisten gern abgesprochen, weil sie ihn als Vorläufer des autoritären
Regimes erhalten wollten. Es gab hinreichend Äußerungen in seinen Reden, das
Spanien einen „Mann“ brauche und der Ruf nach einer „Elite“ schien in die glei-
che autoritäre Richtung zu tendieren. Unsozialistisch schien an Costa sein Miss-
trauen in politische Aktionen der Massen (Saborit 1970: 99). Die Linke hingegen
versuchte ihn als anarchistischen Agrarkommunisten zu vereinnahmen. Agrar-
kollektivist wäre die gemäßere Bezeichnung, die Costa selbst benutzt hat. Extrem
radikale Züge paarten sich auch bei ihm – weit mehr als bei Mallada – mit kon-
servativen Vorbehalten gegen die Europäisierung. Für sozialistische Neigungen
sprach allein die Tatsache, dass sich bei Costa keine Attacken gegen Marx und die
Sozialisten fanden, wie bei Unamuno und anderen, die den Sozialismus einst ge-
glaubt und später aufgegeben hatten. Die Sozialisten haben die große publizisti-
sche Autorität Costa meist schonend angegriffen – in Italien wäre das der Behand-
lung von Croce in der sozialistischen Literatur vergleichbar. Sozialisten betonten,
Costa sei Soziologe, aber kein sozialistischer Politiker (Matías Gómez Latorre in:
La Revista socialista, 16. 4. 1903, zit. in: Saborit 1970: 102 f). Für die sozialistische
Partei war Costas Skepsis gegen politische Aktionen und für die Einführung der
Republik ein Dorn im Auge, sodass die ihm nie abgesprochene „profunde Liebe
zum Proletariat“ folgenlos zu bleiben schien.
In seiner Schrift „Rekonstitution und Europäisierung Spaniens“ (1900) hat
Costa zur Gründung einer nationalen Partei aufgerufen und zugleich ein Pro-
gramm für sie skizziert. Die Genesung Spaniens konnte für ihn nicht nur durch
ökonomische Maßnahmen bewirkt werden. Immerhin empfahl er die Öffnung
Spaniens für den internationalen Handel. Im Zentrum seiner Innovationsphiloso-
phie stand die Gesundung der Volksseele. Er stand in der Tradition des „costum-
brismo“, der sich liebend in einer Art Volkskunde in die Sitten und Gebräuche
des Landes vertiefte. Wilhelm Heinrich Riehl wäre in Deutschland eine vergleich-
bare Figur.
Costas einflussreichstes Buch wurde das Werk „Oligarchie und Caciquismus“
(1902). Es geriet zum emphatischen Aufruf, die verkrusteten und elitären Struktu-
ren der Oligarchie und der Caciquen in Spanien abzuschütteln und sich zu euro-
308 Sozialdemokratismus

päisieren. Zugleich forderte er jedoch, dass Spanien nicht „enthispanisiert“ wer-


den dürfe. Japans Meiji-Revolution von oben diente ihm als Modell für Spanien,
weil sie einen autochtonen Weg zur Modernisierung vorgelebt hatte. Noch aber
sah Costa Spanien als das „China des Westens“ – unfähig zur Öffnung und Re-
form. Auch bei Costa hat sich die Sorge um die verarmte Landbevölkerung im-
mer wieder mit elitären Überzeugungen verbunden, sodass sich auch faschistoide
Strömungen immer wieder auf Costa berufen konnten.
Costa kam intellektuell vom Krausismus her, einer kantianischen Philosophie,
die Mitte des Jahrhunderts zur Grundlage liberalen Denkens wurde. Der Primat
der Gesellschaft über den Staat wurde deklariert. Die intermediären Assoziatio-
nen wie Familie, Gemeinde, Region, Verbände waren bei Costa als autonome Ein-
heiten gedacht. Wie alle Krausisten griff Costa die politischen Strukturen der Res-
tauration an. Der vorherrschende doktrinäre Liberalismus wurde verdächtigt, die
Suprematie des Staates zu stützen, mit einer Herrschaftskonzeption, die legalis-
tisch und zentralistisch blieb und Freiheit nur als „negative Freiheit von“ denken
konnte. Der Krausismus verband sich mit Einflüssen der historischen Schule in
Deutschland, mit ihrer Idee eines „Volksgeistes“, der für jede Nation die adäqua-
ten Institutionen hervorbringe. Im multiethnischen Spanien hat diese ganzheit-
liche deutsche Idee sich jedoch regionalisiert und zur liebenden Versenkung in
die Regionalkulturen geführt.
Costas aragonesische Herkunft hat diesen Regionalismus verstärkt. In den
weitverbreiteten Topoi über National- und Regionalcharaktere galten die Arago-
nesen als typische Steigerung spanischer Eigenschaften: primitiv, spontan, hart-
näckig, stolz, individualistisch, mit Neigungen zu extremen Ansichten und einer
langen Tradition des Republikanismus (Saborit 1970: 153 f) Der Regionalismus be-
wahrte ihn nicht vor expansiven Ideen. Schon die Republikaner, die 1874 von der
Macht verdrängt worden waren, hatten gelegentlich von einer „spanisch-portu-
giesischen Bruderschaft“ geträumt, welche letztlich die iberische Halbinsel einen
sollte. Auch die besondere Missionsrolle gegenüber Afrika, hat Costa bewegt. Ra-
miro de Maeztu und andere, die nach radikalen Anfängen zur extremen Rechten
stießen, konnten sich darauf berufen. Costa ist gelegentlich als spanischer Fichte
oder Mazzini bezeichnet worden, was angesichts der Synthese von sozialem Kol-
lektivismus, kämpferischem Republikanismus, Nationalismus und sogar Imperia-
lismus in seinen Schriften und Reden nicht gänzlich absurd erschien.
1896 versuchte Costa eine politische Karriere als Kandidat für die Cortes zu
beginnen, aber ihm wurde der Weg vom Establishment blockiert. Seine politische
Laufbahn war eine permanente Frustration: mal wurde er nicht gewählt, mal wei-
gerte er sich, den Sitz im Parlament einzunehmen und zog es vor, das Parlament
von außen hinsichtlich anliegender Gesetzesvorhaben zu beraten. Wie alle Grün-
der der „Institución libre de Enseñanza“ war er Republikaner der ersten Stunde.
Sozialismus in Spanien 309

Aber die Republikaner waren zerstritten. Selbst mit seinem aragonesischen Lands-
mann Lerroux konnte er sich nicht auf eine Linie einigen. Die monarchische Re-
stauration machte Costa (1967: 242) für die Übel des Landes verantwortlich, vor
allem Cánovas und Sagasta. Die Dekadenz des Systems hatte nach Costa (1967:
225) die eine Hälfte des spanischen Imperiums verloren und die andere Hälfte de-
nationalisiert und „afrikanisiert“. Erst bei Unamuno und anderen wurde die Afri-
kanisierung später positiv bewertet. Fairer Weise sah Costa jedoch, dass nicht nur
die Monarchisten Schuld am Niedergang Spaniens waren, sondern dass die „herr-
schende Klasse“, die „clases directorias“ und die herrschenden Parteien insgesamt
schuldig waren, und dass auch in der Epoche der Republik die spanischen Übel
nicht beseitigt wurden.
In Madrid versuchte Costa eine Zeitung zu gründen, scheiterte aber an der nö-
tigen Unterstützung. Wie 1901 hätte der radikale Individualist am liebsten seine
eigene Partei kreiert. Die Königin Witwe, welche die Regentschaft für den min-
derjährigen Alfonso XIII ausübte, soll Costa die Regierungsführung angebo-
ten haben. Er war nicht Opportunist genug, um seine Prinzipien zu verleugnen.
Alfons XIII soll ihm finanzielle Hilfe offeriert haben, als er von der Armut erfuhr,
in der Costa lebte – er lehnte sie ab. Er blieb ein Feind aller Ehrungen und Titel.
Marañón und andere haben Costa in seiner unbestechlichen Wahrheitssuche mit
Socrates verglichen.
Die Schrift Oligarchie begann mit der These, dass es in Spanien weder Par-
lament noch Parteien gebe, sondern nur Oligarchien. Selbst in Deutschland be-
hauptete er, seien die Wahlen – wie in England und Frankreich – Ausdruck der
Gemeinschaft, nur in Spanien nicht (1967: 229). Italien nannte Costa nicht. Inter-
essant wäre der Vergleich mit Spanien gewesen, weil der italienische Parlamen-
tarismus seit dem „Trasformismo“ Depretis’ ähnliche Degenerationserscheinun-
gen aufwies wie der spanische. Aber wie häufig bei Depravationstheorien, die auf
die eigene Nation fixiert waren, konnte man die komparativen Äußerungen nicht
als Ausdruck detaillierter Kenntnis nehmen. Die aristotelische Staatsformenlehre
schien Costa in Spanien nicht recht anwendbar. Eine Aristokratie könnte als „na-
türliches Patriziat“ legitim sein, aber die Oligarchie war eine klare Entartungs-
form im Sinne des Aristoteles (1967: 24 f). Was spanische Demokratie genannt
werde, war für Costa eine Karikatur. Drei Elemente konstituierten in Costas Eli-
tentheorie das oligarchische Regime: die Oligarchen, Notable, die im Zentrum re-
sidieren, die Caciquen, die das agrarische Land beherrschen und der „Zivilgou-
verneur“, der als Instrument der Kommunikation zwischen den beiden Säulen
der Macht fungiere. Oligarchen und Caciquen konstituierten für Costa (1967: 28)
die „clase directora o gobernante“, die in den Parteien herrschte. Im Gegensatz
zu Mosca und Pareto wurde kein Unterschied zwischen „classe dirigente“ und
„classe politica“ gemacht. Unter Berufung auf ein Buch des französischen Sozio-
310 Sozialdemokratismus

logen Alfred Fouillée (1846 – 1913) leitete Costa die Dekadenz des spanischen Sys-
tems seit dem 16. Jahrhundert ab. Costa polemisierte mit zahlreichen Autoren der
aktuellen Publizistik. Der Vergleich Spaniens mit Russland drängte sich schon da-
mals auf. Costa (1967: 37) bestand jedoch auf einem Unterschied, der selbst die
russischen Verhältnisse in positivem Licht erscheinen ließ: in Russland koope-
rierten die Arbeiter mit den Intellektuellen, in Spanien nicht. Die Intellektuellen
seien von ihrem Posten „desertiert“. Spanien brauchte in Costas Augen eine neue
„Élite“, einen zweiten Kreuzzug. Die russischen Massen waren nach dieser Ansicht
genauso ignorant wie die spanischen. Aber der „Gang ins Volk“ bei den Intellek-
tuellen und ihr Kampf gegen den russischen Despotismus hatte auf Costa offen-
bar Eindruck gemacht, obwohl er um die Jahrhundertwende längst als gescheitert
gelten musste, und die russischen Narodniki den „Caciquen“ näher gerückt waren.
Costa (1967: 39 ff) forderte eine „Revolution von oben“. Eine „radikale Trans-
formation“ erforderte einen Wandel in der Nutzung der Ressourcen und Energien
des Landes. Erforderlich schien eine grundlegende Steuerreform, eine Reduktion
der Schulden, eine Reorganisation des öffentlichen Dienstes und die Entlassung
überflüssiger Funktionäre, Abschaffung einiger Ministerien, wie des Marine- und
des Justizministeriums, Erziehungsreform, Investitionen in die Infrastruktur des
Landes: kurz eine „Entafrikanisierung und Europäisierung Spaniens“ (inklusive
öffentlicher Erziehung, sozialer Versicherung, öffentlicher Arbeiten etc.).
Der Kampf um die Erziehung des Volkes erforderte nach Costas Ansicht einen
Kampf gegen den „Intellektualismus“, der parasitär und nicht den sozialen Aufga-
ben zugewandt war. In einer Art Nachfrageökonomie sollten die Grundnahrungs-
mittel verbilligt werden und die Landwirtschaft intensiviert werden. Die Geld-
wirtschaft wurde nicht frontal angegriffen, sondern nur Reduktionen der Zinsen
auf Geld und die Brechung des Hypothekenmonopols der „Banco Hipotecario de
España“ vorgeschlagen. Sozialistisch war an Costas Vorschlägen allenfalls die Ein-
führung von regionalen Landwirtschaftsbanken. Der Genossenschaftsgedanke in
der Form, wie ihn Proudhon und die deutsche Genossenschaftsbewegung vertre-
ten hatte, war einflussreich. Den Caciquismo hoffte Costa durch Einführung eines
„self-government“ zu brechen. Die Übernahme des englischen Ausdrucks zeigte
die Herkunft der Gedanken an, die freilich vielfach auf dem Umweg über den
deutschen Staatsrechtler Rudolf von Gneist ihren Siegeszug in der Welt antraten.
Direkte Demokratie und Referendum sollten das System aus der Erstarrung füh-
ren. Der abstrakte Liberalismus der Doktrinäre an der Macht sollte durch einen
„organischen, ethischen und substantiellen Neo-Liberalismus“ ersetzt werden.
Vor dem stärker politischen Buch über den Caciquismus hatte Costa 1898
das Buch über den „Agrarkollektivismus in Spanien“ publiziert, das einen tie-
fen Einfluss auf Unamuno in seiner sozialistischen Phase haben sollte (vgl. Bd. 2,
Kap. VI, 5). Der Agrarkollektivismus war für Costa eine Bewegung zwischen den
Sozialismus in Spanien 311

Extremen „kommunistisch oder individualistisch“ (1967: 49). Die Produktions-


mittel sollten zum „Gemeineigentum“ (propriedad común o social) erklärt wer-
den, aber die Produktion selbst sollte unter dem Regime des individuellen Eigen-
tums vor sich gehen. Der Boden war nach Ansicht von Costa (1967: 50) exklusives
Eigentum der Nation. Er war ein Produkt der Natur und konnte nicht indivi-
duell angeeignet werden. Ungleichheit des Besitzes und Pauperismus, Ausbeu-
tung fremder Arbeitskraft und die unmenschlichen Bedingungen der Landar-
beit sollten verschwinden. Theoretisch homogen waren seine Vorstellungen nicht.
Er berief sich vorwiegend auf deutsche Autoren wie Rodbertus, Lassalle, Marx,
Schaeffle  – die vielen Schreibfehler deutscher Namen lassen Zweifel zu, dass
Costa sie aus erster Hand kannte. Starken Einfluss hatte das Buch des Amerika-
ners Henry George (1839 – 1897) „Progress and Poverty“ (1877) auf Costas Variante
eines „kapitalistischen Sozialismus“. Weit her geholt wirkte die Rückführung
seiner Ideen auf die Klassiker der spanischen Theorie des 16. Jahrhunderts wie
Suárez oder Mariana. In Aufsätzen zur „Formel der spanischen Landwirtschaft“
(Madrid 1911 – 1912, 2 Bde.; 1967: 205) gingen die Vorstellungen der Sozialisierung
noch einen Schritt weiter. Neben dem Boden war auch das Wasser in einer „hy-
draulischen Politik“ in Gemeineigentum zu überführen.
Costa blieb zeitlebens schwer in die etablierten Schubladen der politischen
Ideologien einzuordnen. Irreführender Weise nannte er seine eigene Konzeption
„Neo-Liberalismus“, was allenfalls im Hinblick auf die Einflüsse des späten John
Stuart Mill Sinn machte, der jedoch nie soweit wie Costa in Richtung Genossen-
schaftssozialismus gegangen war.

Quellen
Costa: Oligarchía y caciquismo (1902), colectivismo agrario y otros escrítos. Madrid,
Alianza, 1967.
Costa: Reconstitución y europeización de España. Program para un partido nacional
(1900). Huesca, V. Campo, 1924.
L. Mallada: Los males de la patria y la futura revolución española. Madrid, Alianza,
1969, 1974, 2. Aufl.

Literatur
G. J. G. Cheyne: Joaquín Costa .A Bibliographical Study of the Writings of Joaquín
Costa. London, Tamesis Books, 1972.
E. Fernández Clemente: Educación y revolución en Joaquín Costa. Barcelona,
EDICUSA, 1969.
E. Fernández: El pensamiento y la obra de Joaquin Costa. Barcelona, 2004.
A. S. Gil Novales: Derecho y revolución en el pensamiento de Joaquín Costa. Madrid,
Peninsula, 1965.
312 Sozialdemokratismus

J. Maurice/C. Sarrano: J. Costa: crísis de la restauración y populismo (1875 – 1911).


Madrid, Siglo veintiuno de España, 1977.
R. Pérez de la Dehesa: El pensamiento de Costa y su influencia en el 98. Madrid,
Sociedad de Estudios y Publicaciones, 1966.
A. Saborit: Joaquín Costa y el socialismo. Algorta/Vizcaya, Editorial Zero, 1970.
E. Tierno Galván: Costa y el regeneracionismo. Barcelona, Barna, 1961.
M. Tuñon de Lara: Costas y Unamuno en la crísis fin del siglo. Madrid, Cuadernos
para el diálogo, 1974.
VI. Sozialistische und
kommunistische Parteien

1 Varianten des Sozialismus

Die französischen Frühsozialisten wurden als Utopiker vom später dominanten


Marxismus in Acht und Bann getan. Sie haben aber ebenfalls breite Diskussio-
nen ausgelöst, auch wenn Owen sich von den konkreten Ausgestaltungen in den
Schemen von Fourier und Cabet in seinem Pragmatismus nicht mehr angespro-
chen fühlte. Marx und Engels haben mit ihrer Weiterentwicklung geflissentlich
verdrängt, wieviel sie diesen Vorläufern verdankten. Bei deutschen Frühsozialis-
ten wie Heß oder Weitling blieb das dauerhaft erkennbar, da sie nicht ihre Rezep-
tion nach dem Tod so gewissenhaft organisierten wie der Marxismus. Der Saint-
Simonismus war bei vielen späteren Staatssozialisten latent präsent geblieben,
etwa bei Lassalle. Louis Blanc ist dessen auch verdächtigt worden, aber bei po-
litisch aktiven Zeitgenossen grenzte man sich auch im Ausland von ihm stärker
ab, um nicht für die Fehlschläge der konkreten Politik im Revolutionsjahr 1848
mit verantwortlich gemacht zu werden. Die größte Wirkung von allen Sozialisten
entfaltete vor Marx zweifellos der Proudhonismus. In der internationalen Diskus-
sion um 1848 war Proudhon positiv oder negativ präsent – nicht Marx. Für Re-
aktionäre wie Donoso Cortés war er der Inbegriff des diabolischen Umstürzlers.
Für Pazifisten bis zu Tolstoj, für Föderalisten bis zu Pi y Margall, für populisti-
sche Sozialisten bis zu den Narodniki in Russland oder den Agrarkollektivismus
Costas in Spanien hatte Proudhon einiges zu bieten. Auch der militante Anar-
chismus bei Bakunin oder Tkačëv hat sich nur von Teilen des Proudhonschen
Werkes distanziert. Selbst prononcierte Nichtsozialisten wie Mazzini in Italien
konnten mit der eklektischen Mischung von Föderalismus, Halbsozialismus, und
radikalem Republikanismus einiges anfangen. Blanqui hingegen war außerhalb
seiner Aufstandsanleitungen zu wenig Theoretiker. Er blieb eher als Träger eines
„Ismus“ präsent.

K. von Beyme, Sozialismus, DOI 10.1007/978-3-658-02950-0_6,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
314 Sozialistische und kommunistische Parteien

„Blanquismus“ wurde zum Schimpfwort – bis hin zu den russischen Radikalen


und zu Lenin. Der Syndikalismus schließlich – auch in der bunt-schillernden Va-
riante, die Sorel vertrat – hatte Frankreich als intellektuelle Heimat. Sorels Den-
ken war von linken Syndikalisten bis zu den Faschisten und den Theoretikern der
Action Française – wie zuvor schon der Proudhonismus – adaptiert worden. Ne-
ben Nietzsche hat er den intensivsten, wenn auch bruchstückhaften Einfluss auf
faschistische und faschistoide Denker gehabt, vor allem in den romanischen Län-
dern. Mussolini hat Sorel geschätzt. Lenin hat ihn – trotz einer Hommage Sorels
auch an Lenin – für einen Schwätzer gehalten.
Höchst unterschiedlich entwickelten sich sozialistische Bewegungen in den
Ländern Europas. Frankreich hat im Werdegang seines Sozialismus alle Schat-
tierungen im sozialistischen Denken in kreativer Weise ausprobiert. Sie befeh-
deten sich theoretisch und politisch, bis Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich
eine Partei wie die SFIO entstehen konnte. In ihr waren aber immer noch vom
Syndikalismus und Proudhonismus bis zum Marxismus (Guesde) und einem hu-
manistischen Sozialdemokratismus (Jaurès) ganz unterschiedliche Richtungen
vertreten.
Deutschland wurde transnational einflussreich erst durch Marx und Engels.
Auch das Denken von Karl Marx gehört zu den verspäteten Rezeptionen aus einer
„verspäteten Nation“. Durch die Internationale haben Marx und Engels selbst
keine Intrige gescheut, die konkurrierenden Theorieangebote wie den Proud-
honismus oder Bakunismus aus dem Felde zu schlagen. Der vorherrschende Ein-
fluss der stärksten sozialistischen Bewegung im internationalen Feld hat sich dank
geschickter Theoriepolitik von Vordenkern ohne Parteimandat wie Kautsky in
Einfluss umgesetzt, dessen sich selbst die einst im sozialistischen Denken domi-
nanten Franzosen nur mühsam erwehren konnten. Die Dominanz der Marxisten,
welche die Alternative „Lassalle“ mit dem Erfurter Programm auch in Deutsch-
land zu verdrängen trachteten, hat dazu geführt, dass Deutschlands Beitrag zum
anarchistischen Denken – bis auf die Frühform des individualistischen Anarchis-
mus bei Max Stirner – und später dem Anarchismus Landauers bescheiden geblie-
ben ist. Aus anarchistischer Sicht wurden die Kämpfe zwischen Lassalleanern und
Marxisten in der deutschen Partei kaum verstanden. Allen libertären Sozialisten
anderer Länder kamen die beiden Fraktionen allenfalls als Aspekte eines Staats-
sozialismus vor.
Die Ausdifferenzierung des sozialistischen Lagers wurde in immer wieder auf-
brechenden Fraktionskämpfen der Tendenzen in der Internationale (Proudhonis-
ten, Blanquisten, Bakuninisten, Syndikalisten) sichtbar, aber zugleich wieder mit
Mythen der „Arbeitersolidarität“ überdeckt. Gleichwohl stellte manche Partei, wie
die französische SFIO, noch bei ihrer Gründung eher eine lose Konföderation von
sozialistischen Faktionen dar als eine einheitliche Partei.
Parteinamen im sozialistischen Lager und die „Sozialistische Internationale“ 315

Die Frage der Stellung zum Krieg spaltete im Ersten Weltkrieg die Bewegung
dauerhaft. Seither haben sich sozialistische/sozialdemokratische und kommunis-
tische Bewegungen ausdifferenziert. Die Kommunisten wurden vor allem in den
romanischen Ländern stark. Finnland mit seiner starken KP war ein Ausnahme-
fall in seiner Region. Gering war der Einfluss der kommunistischen Parteien in
den angelsächsischen Ländern. Traditionen der Gewerkschaftsbewegung in ihrem
Verhältnis zu den Parteien hat das Ausmaß der organisatorischen Ausdifferenzie-
rung in den jeweiligen Ländern mitbestimmt. Die politische Theorie hat diese
Prozesse allenfalls mit Debatten begleitet. Die Arbeiterbewegung in ihrer jeweili-
gen Ausprägung war nicht ihre Schöpfung, und allenfalls die Avantgardekonzep-
tion der Leninisten hat in Zeiten der Kriegsmüdigkeit als künstliche Konstruktion
von Intellektuellen geschichtsmächtig gewirkt. Einige Theoretiker wie Sorel haben
zwischen marxistischen, anarchoiden, syndikalistischen und korporativistischen
Lösungen hin- und her geschwankt und wurden zum Steinbruch von Theorieele-
menten, welche die Bewegungen nach Bedarf abriefen, ohne dass sie sich je zu
einem stimmigen Gesamtkonzept fügten.
Während die frühe sozialistische Bewegung sich eher in Spekulationen über
die Gesellschaft verlor, hat der sich wissenschaftlich gerierende Sozialismus einen
großen Teil seiner theoretischen Bemühungen auf die Organisation der Bewegung
und ihrer Teile konzentriert. Im Leninismus hat das Denken in Kategorien von
„Strategie und Taktik“ sogar die inhaltliche Debatte vielfach überlagert. Wo sich
weniger radikale Gruppierungen an der Massenstreikdebatte beteiligten, war je-
doch eine ganz ähnliche Tendenz sichtbar – auch ohne die diktatorischen Tenden-
zen wie bei den Leninisten oder gar den späteren Stalinisten.

2 Parteinamen im sozialistischen Lager


und die „Sozialistische Internationale“

In der Namensgebung sozialistischer Parteien gibt es fast so viele Varianten wie


bei den beiden anderen Großideologien, den Liberalen und den Konservativen.
Im angelsächsischen Bereich überwiegt die Bezeichnung „Labour Party“. Die hol-
ländische Partei nannte sich in Anlehnung an das angelsächsische Modell „Parteij
van de Arbeid“, die norwegische Gruppe „Arbeiderpartiet“. Im deutschen Sprach-
bereich tauchte als Kuriosität die „Letzebuerger Sozialistesch Arbechterpartei“ auf.
Die internationale Bewegung des Sozialismus war weit stärker als in den an-
deren großen Ideologien wie Liberalismus und Konservatismus. Sechs Jahre nach
dem Tod von Karl Marx (1883) wurde am 20. Juli 1889 in Paris die „Zweite In-
ternationale“ gegründet, die von der heutigen „Sozialistischen Internationale“ als
Vorgängerorganisation anerkannt wurde. 1878 bis 1890 kam es in Deutschland zu
316 Sozialistische und kommunistische Parteien

den „Sozialistengesetzen“, welche Aktivitäten der Sozialdemokratie außerhalb des


Reichstages und der Landtage verboten. Dennoch war die deutsche Fraktion un-
ter Wilhelm Liebknecht die stärkste Gruppe. Mit Beginn des 1. Weltkrieges 1914
zerbrach die Internationale, weil die meisten sozialdemokratischen und sozialis-
tischen Fraktionen sich jeweils auf die Seite ihrer nationalen Regierung schlugen.
Mit der Oktoberrevolution 1917 kam es zur Abspaltung vieler sozialistischer
Parteien, die sich zum Kommunismus bekannten und sich 1919 unter Lenins Füh-
rung zur „Dritten Internationale“, der Kommunistischen Internationale (Kom-
intern) zusammenschlossen, die bis 1943 bestand, als Stalin sie im 2. Weltkrieg
auflöste, um sich bei den Westmächten als „demokratischer“ Bündnispartner zu
legitimieren. 1938 entstand unter Trockij die „Vierte Internationale“.
In Frankfurt wurde am 30. Juni 1951 die Neukonstituierung der „Sozialistischen
Internationale“ (SI) vorgenommen. Sie wurde in Deutschland vor allem durch die
Präsidentschaft Willy Brandts 1976 – 1992 bekannt. Die Sozialistische Internatio-
nale brachte es bis 2005 auf 168 Mitgliedsparteien. Sigmar Gabriel forderte als
Vorsitzender der SPD den Ausschluss einiger undemokratischer SI-Mitglieder, vor
allem in der Dritten Welt, und die SPD drohte den Austritt aus der SI an, falls die-
ser Forderung nicht nachgekommen werde. Am 22. Januar 2012 stellte die SPD als
ersten Schritt die Zahlung ihres Mitgliedbeitrages an die SI ein. 2011 wurde die
„Nationaldemokratische Partei“ Ägyptens und das „Rassemblement constitution-
nel démocratique“ Tunesiens ausgeschlossen. Die Sozialistische Internationale ist
in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht. Zudem wurden demokratische Standards
in vielen Mitgliedparteien nicht eingehalten. Ein Austritt aus der SI wird in der
SPD erwogen, aber sie zögert, das „Erbe Willy Brandts“ aufzugeben. Anlässlich
des 150 Jubiläums der SPD soll im Frühjahr 2013 ein neuer Parteienbund unter
dem Namen „Progressive Alliance“ gegründet werden (Niesmann 2013: 38).
Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich die Verbindung von politischer Theorie-
bildung und Parteiprogrammatik – die im Liberalismus und im Konservatismus
immer lose war – auch bei sozialistischen Parteien zunehmend gelockert. Die so-
zialdemokratischen Parteien haben sich vielfach von ihren proletarischen Wur-
zeln gelöst und sind in die Mitte gerückt. Der „organisatorische Strukturkonser-
vatismus“ der meisten sozialistischen Parteien blieb jedoch erhalten (Butzlaff u. a.
2011: 276, 289 ff). Viele sozialistische und sozialdemokratische Parteien können
sich nur schwer vom theoretischen Konzept der „Volkspartei“ lösen um sich pro-
grammatisch stärker auf ausgewählte soziale Milieus und Gruppen zu konzentrie-
ren. Das hat dazu beigetragen, dass nicht nur weite Teile der jugendlichen Wäh-
ler, sondern auch der politiktheoretisch Interessierten und der charismatischen
Führungsfiguren sich kaum noch in den Parteien engagierten. Der Ruf nach „bril-
lianten Quereinsteigern“ hat selten Früchte getragen und die originelleren Re-
formtheoretiker haben zum Teil in neuen Gruppen, wie den Grünen Parteien und
Parteinamen im sozialistischen Lager und die „Sozialistische Internationale“ 317

gelegentlich auch in populistischen Bewegungen, ihr Glück versucht. Die Mediali-


sierung der Gesellschaft und die neuen Möglichkeiten in den alten und neuen Me-
dien sind daher zu einem neuen Fokus theoretischer Bemühungen um die Revita-
lisierung der Parteien geworden.

Literatur
F. Butzlaff u. a. (Hrsg.): Genossen in der Krise ? Europas Sozialdemokratie auf dem
Prüfstand. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2011.
R. Hoffrogge: Sozialismus und Arbeiterbewegung – von den Anfängen bis 1914.
Stuttgart, Schmetterling Verlag, 2012.
C. D. Kernig (Hrsg.): Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft. Sonderband:
Kommunistische Parteien. Freiburg, Herder, 1969.
M. Cole: The Story of Fabian Socialism. London, Heinemann, 1961.
K. Motschmann: Mythos Sozialismus – Von den Schwierigkeiten der Ent-
mythologisierung einer Ideologie. Asendorf, MUT Verlag, 1990.
J. Müller: Sozialismus. Rotbuch 3000. (Hrsg.: M. Hoffmann). Hamburg, EVA/
Rotbuch Verlag, 2000.
M. Newman; Socialism. A Very Short Introduction. Oxford, Oxford University Press,
2005.
A. Niesmann: Wenn das der Willy wüßte. Focus 19, 2013: 36 – 38.
F. Osterroth/D. Schuster: Chronik der deutschen Sozialdemokratie. 1973 – 75,
Neuauflage Bonn, Dietz, 2009, 5 Bde.
S. Prüfer: Sozialismus statt Religion – Die deutsche Sozialdemokratie vor der
religiösen Frage 1863 – 1890. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2002.
C. E. Schorske: Die große Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie 1905 – 1917. Berlin,
1981.
VII. Konklusion: Liberalismus,
Konservatismus, Sozialismus und
Kommunismus in der Entwicklung
der sozialen Bewegungen und Parteien

1 „Normalentwicklungen“ und „Sonderwege“


des politischen Denkens

Der Vergleich der politischen Theorien in Europa scheint auf die historistische
These zuzulaufen, dass es nur „Sonderwege“ des Denkens gegeben hat. Aber
zwei Länder entwickelten Vorbildcharakter und wurden von sich und anderen
überwiegend als Modell einer wünschenswerten Normalentwicklung akzeptiert:
Frankreich und Großbritannien.
England kam einer Normalentwicklung am nächsten. Hier war der liberale
Grundkonsens einflussreich für alle drei ideologischen Familien. Der frühe Ra-
dikalismus war im liberalen Lager immer diskussionsfähig gewesen. Hier gab es
allenfalls bei Thomas Paine eine revolutionäre Radikalität kontinentalen Ausma-
ßes, aber sie war durch seine Erfahrungen in der amerikanischen und der fran-
zösischen Revolution geprägt und atypisch für England geworden. Godwins An-
archismus war der am wenigsten revolutionäre, Owens Sozialismus war der am
stärksten konsensfähige in seiner sanften Brüderlichkeitsphilosophie. Der „So-
zialdemokratismus“ und der Gildensozialismus waren bei den Fabiern von Anfang
an demokratischer und evolutionärer angelegt als in anderen Ländern. Der bri-
tische Konservatismus auf der anderen Seite trug seit Burke starke liberale Züge,
die lediglich bei Coleridge unter dem Einfluss der kontinentalen Romantik „ab-
weichendes Verhalten“ hervorbrachte (vgl. Bd. 2, Kap. III. 2). Welch’ glückliches
Land, in dem man einen „Verfassungspatrioten“ – wie Bagehot – als Konservativen
findet, wenn man nach einem Spätkonservatismus sucht, zu einer Zeit, da selbst
in Frankreich mit Barrès Vorformen einer faschistoiden „konservativen Revolu-
tion“ sich ausbreiteten ! Wenn man aus Gründen der Symmetrie unter „Rechtsex-
tremismus“ Houston Stuart Chamberlain und Sir Oswald Mosley verbucht, so ha-
ben solche Positionen in England nur marginale Bedeutung erlangt.

K. von Beyme, Sozialismus, DOI 10.1007/978-3-658-02950-0_7,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
320 Konklusion

Trotz dieser problemlosen Normalentwicklung des politischen Denkens hat


Großbritannien den Mythos seiner Insellage und seiner „Englishness“ vielfach
zum „Exzeptionalismus“ hochstilisiert. Im Unterschied zu anderen Ländern, wie
Deutschland, Russland oder Spanien, die auf ihre Sonderrolle pochten, konnte
diese Sonderentwicklung von anderen Ländern akzeptiert, ja sogar als Vorbild an-
gesehen werden. Die USA haben ihren „Exzeptionalismus“ – nicht ohne englische
Einflüsse – vielfach herausgestellt und stießen mit der positiven Bewertung auf ge-
ringen Widerspruch anderer Nationen.
Ganz anders ist der andere Fall eines Landes gelagert, das seine Entwicklung
weitgehend für vorbildlich ansah, nämlich Frankreich. England wurde vielgelobt,
aber glühende Nachahmer hat eher Frankreich gefunden. Seine rationalistischen
Theorien schienen besser transplantierbar als das pragmatische Denken innerhalb
einer insularen Entwicklung Englands. Frankreich hat zudem von der Französi-
schen Revolution bis zur Einigung Italiens mehr dazu getan, sein Modell durch
direkte Intervention im Ausland zu propagieren. Bis zum ersten Weltkrieg waren
französische Theorien begünstigt durch den Umstand, dass Französisch die „lin-
gua franca“ der Gebildeten war, wie die USA später begünstigt wurden, als alle
Welt von Französisch auf Englisch als erste Fremdsprache umschaltete.

2 Politische Theorie als Ideologisierung


dreier Sonderwege: Deutschland,
Spanien und Russland

Drei Länder ein Europa haben ihren Sonderweg stark theoretisch überhöht:
Deutschland, Spanien und Russland. Russland hat in fast allen Bereichen der
Theoriebildung seinen Sonderweg betont (vgl. v. Beyme, 2001). Deutschland hat
mit dem Scheitern der demokratischen Befreiungsbewegung 1813/14, dem Schei-
tern der demokratischen Revolution von 1848/49 und der wenig demokratischen
Form des Nationbuilding aus „Blut und Eisen“ 1870/71 einen konstitutionellen
Sonderweg genommen, der vor 1918 ein Unikum hervorbrachte: das allgemeine
Wahlrecht führte nicht zur parlamentarisch verantwortlichen Regierung. Der
Nestor der Staatsrechtslehrer Laband konnte ein Misstrauensvotum des durch all-
gemeines Wahlrecht gewählten Reichstages rechtlich für so irrelevant erklären
wie das Recht des Parlaments, ein Hoch auf den Kaiser auszubringen. Die Ideolo-
gie des „deutschen Konstitutionalismus“ verband sich mit historistischen Sonder-
wegtheorien und der Lehre vom Machtstaat. Diese Ideologie blieb aber nicht auf
Deutschland und Österreich beschränkt. Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang
des 20. Jahrhunderts entwickelten sich Kritiker des englischen Mainstreams der
Entwicklung von Rudolf Kjellén in Schweden bis zur Bewegung „Zurück zum Sta-
Das Ende der Sonderwegsideologien 321

tut“ in Italien. Der Sieg der parlamentarischen Staaten über den „deutschen Kon-
stitutionalismus“ hat das Schicksal dieses Sonderweges 1918 entschieden.
Die politische Unterentwicklung im Vergleich zur ökonomisch rasanten Auf-
holbewegung im Deutschen Reich führte zu einem explosiven Gemisch. Auch in
England gab es expansionistische und nationalistische Töne bis in den Liberalis-
mus und den Fabier-Sozialismus. Aber er konnte dem konstitutionellen Grund-
konsens nicht so gefährlich werden wie der Rechtsliberalismus in Deutschland.
Spanien schien seit den Cortes von Cádiz eine erfreulich liberale Normalent-
wicklung zu nehmen. Die Liberalen als Parteibezeichnung traten zuerst in Spa-
nien auf. Dennoch wurde der konservativ-liberale Grundkonsens in Revolutionen
und Pronunciamientos verspielt. Als in der Restauration ab 1876 ein parlamenta-
risches System mit alternierender Regierung entstand, schien das System sich zu
normalisieren. Es geriet gleichwohl in die Krise, auch wenn die Niederlage von
1898 nur die kolonialen Reste verloren gehen ließ, nicht aber das System im In-
neren sofort erschütterte. Die Erschütterung war freilich intellektuell mittelfris-
tig angelegt. In keinem anderen Land sind so viele der Vordenker, die liberal oder
sogar sozialistisch angefangen hatten von Costa und Maeztu bis Unamuno und
Ortega y Gasset soweit nach rechts gegangen, wie in Spanien.

3 Das Ende der Sonderwegsideologien:


der parlamentarisch-demokratische Grundkonsens
in Europa

Mit dem Ende der Dominanz ideologischer Systeme in der Bildung politischer
Theorien haben die fünf Bewegungen, die ein Sonderwegdenken begünstigten,
ihre Bedeutung verloren:

1) Durch Säkularisierung wurde die Überhöhung der Religion als Element der
politischen Theorie abgebaut.
2) Durch die Kommerzialisierung der Kultur hat sie ihren Nimbus einer quasi-re-
ligiösen Erhöhung eingebüßt.
3) Durch die weitgehende Akzeptanz der Marktwirtschaft selbst durch die Kon-
servativen und Sozialisten, die sie einst ablehnten, hatte sich das Verhältnis
von Ökonomie und Politik auch theoretisch normalisiert. Es gab keinen Be-
darf mehr an utopisch-holistischen Entwürfen. Stückwerk-Technologie und
Reformpolitik der kleinen Schritte wurde quer durch die ideologischen Lager
internalisiert.
4) Die Überhöhung des Staates war nach dem Ende der Diktaturen durch eine
stärkere Betonung der Zivilgesellschaft zu Ende gegangen.
322 Konklusion

5) In einem demokratisierten Bildungssystem mit einem Minimum an Chancen-


gleichheit – bei politischen Partizipationsmöglichkeiten auch für radikale In-
telligenzler – konnte die Intelligencija in den einst marginalisierten Systemen
ihre „revolutionäre Uniform“ ausziehen, und in differenzierter Weise an der
Politik teilnehmen. Noch immer gab es eine Intelligenz, die „legitime aber nicht
professionelle kompetente Kritik am System“ übte (M. R. Lepsius). Ihre Bäume
wuchsen jedoch nicht in den Himmel, da eine professionalisierte Gegenkritik
bereit stand. Die Diskurse von Experten und Gegenexperten sind keineswegs
völlig entideologisiert, aber sie sind gleichwohl sachlicher geworden.

Seit 1830 wurde der Präponderanz der Parlamentsmehrheit theoretisch Rechnung


getragen. Das Repräsentativsystem war zum „parlamentarischen Regierungssys-
tem“ geworden. Aber noch immer hat der Dualismus eines französischen Par-
lamentarismus, in der Nähe der „Versammlungsregierung“ – und in Deutschland
vielfach als „unechter Parlamentarismus“ diskreditiert, – und des durch den Hand-
lungsverbund von Parlamentsmehrheit und einem starken Premierminister inte-
grierten britischen System die konstitutionellen Debatten von Spanien bis Russ-
land, von Schweden bis Italien beherrscht. Nach 1945 schien dieser Dualismus
überwunden. Er entstand in neuer Form durch das gaullistische semi-präsiden-
tielle System in Frankreich. Schien dieses mit Finnland zusammen eher als archa-
isches Relikt einer unterschwelligen Nostalgie für den „Orleanismus“ (1830 – 1848),
weniger für das System der zweiten französischen Republik (1848 – 1851), so hat
dieser Regimetyp nach der Transformation der Diktaturen von Portugal bis Russ-
land neue Proselyten machen können. Die Differenzen lösten aber nach 1989 al-
lenfalls noch Debatten unter politikwissenschaftlichen Komparatisten aus (Juan
Linz, Dieter Nohlen u. a.). Sie sind nicht mehr Gegenstand von politischen Glau-
benskriegen verfassunggebender Versammlungen.
Oberhalb der institutionellen Variationen hat sich ein demokratisch-parla-
mentarischer Grundkonsens in Europa herausgebildet, der wenigstens auf diesem
kleinen Sektor dem so oft proklamierten „Ende der Ideologie“ nahekommt. Die-
ser Grundkonsens enthält nicht nur Elemente, die in den beiden Urmodellen der
Normalität England und Frankreich entwickelt wurden. Es traten weitere Varia-
tionen hinzu, wie der Föderalismus, die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Om-
budsmann, die beiden Modellen fremd gewesen waren, und schrittweise in das
französische und das britische System eingebaut wurden. Eine ähnliche Annähe-
rung vollzog sich in den Institutionen unterhalb der staatlichen Ebene. Keine kor-
poratistischen Sondermodelle wurden in der Europäischen Gemeinschaft mehr
entwickelt. Selbst der liberale Korporatismus in Skandinavien, Österreich und
Deutschland diente Ende der 1990er Jahre weniger einer aktiven Arbeitsmarkt-,
Einkommens- und Sozialpolitik als dem geordneten Rückzug aus den unbezahl-
Das Ende der Sonderwegsideologien 323

baren sozialen Errungenschaften, welche der Wohlfahrtsstaat geschaffen hatte.


Die Modelle der Arbeitsbeziehungen (Arbeiterkontrolle, Autogestion, Industrial
Democracy oder Mitbestimmung) haben sich durch Verrechtlichung schrittweise
ebenfalls angeglichen. Die Restdifferenzen eignen sich nicht mehr, Sondermodelle
„sozialistischer Entwicklung“ zu theoretisieren.
Wenn man sich nicht mit historistischen Erklärungen einer unausweichlichen
Entwicklung zufrieden gibt, muss die Frage aufgeworfen werden, welche Faktoren
die jeweilige Entwicklung der politischen Theorie in einem Land bedingten und
das Mischungsverhältnis im Vorkommen der drei großen ideologischen Familien
determinierten. Zwei Faktoren entwickelten vor allem Einfluss auf die Herausbil-
dung politischer Theorie:

■ Die Gesellschaft. Es ist entscheidend, ob ein relativ stabiler Grundkonsens steht,


oder ob soziale Bewegungen systemgefährdend werden.
■ Der Staat reagiert auf diese Zustände in der Gesellschaft durch Einräumung
stärkerer Freiheitsspielräume oder umfassenderer Repression.

Nachstehende Matrix zeigt, dass die hier behandelten Länder jeweils eine unter-
schiedliche Position einnehmen:

Matrix Gesellschaftszustand und Staatsintervention als Determinanten der politischen


Theoriebildung

Gesellschaft

Relative Systemstabilität Systemgefährdende soziale Bewegungen

Relative Freiheit England Frankreich


Italien

Staat Deutschland bis 1918 Deutschland nach 1918

Repression Spanien
Russland bis 1905 Russland ab 1905

Die Positionen der sechs Länder in obiger Matrix wirken naturgemäß ein wenig
schematisch. Nicht jede Entwicklung der Theorieneigungen wurde durch den Ge-
gensatz von Staatsmaßnahmen und sozialer Bewegung determiniert. Es spielten
auch nationale Traditionen der Bildungssysteme eine Rolle. Diese waren aber lang-
324 Konklusion

fristig auch wieder von den historischen Erfahrungen der Völker geprägt und ver-
lieren den Charakter einer unabhängigen Variablen. Die Bildungssysteme wurden
gelegentlich transformiert: vor allem als Antwort auf Niederlagen, wie in Preußen
1806 oder in Frankreich nach 1871, weniger in Spanien nach 1898 und in Russland
nach dem Krimkrieg und 1904. Die Größe einer Nation ist vielfach auf ein über-
legenes Bildungssystem zurückgeführt worden. Nur so konnte das säbelrasselnde
Deutsche Reich nach 1871 auch in liberalen Ländern wie England und Frankreich
einige Bewunderer mobilisieren.
Unter den Bewegungsfaktoren in den Quadranten der rechten Seite ist der Na-
tionalismus eine gewichtige intervenierende Variable. Er hat nur in geteilten Na-
tionen wie Italien und Deutschland zeitweise eine dominante Rolle spielen kön-
nen. In den konsolidierten Nationalstaaten war er vor allem zur Untermauerung
imperialistischer Ziele vonnöten.
Verspätete Nationen, Russland (1905) und Deutschland (1918), – auch Italien
und Spanien könnten nach dem ersten Weltkrieg zu dieser Gruppe gezählt wer-
den – wechselten hinsichtlich von „Stabilität vs. regimegefährdender sozialer Be-
wegungen“ vom einem in den anderen Quadranten. Die sozialen Bewegungen wa-
ren in Russland von Anfang an so radikal wie in keinem anderen europäischen
System – aber sie waren zu schwach, um vor 1905 und 1917/18 regimegefährdend
zu werden. Nur England hat die wünschenswerte Normalität erlebt und relative
staatliche Freiheit mit einer stabilen Gesellschaft kombinieren können. Deutsch-
land wurde in die Mitte der Quadranten „relative Freiheit“ und „Repression“
geschrieben, denn es hatte zwar wenig politische Freiheit, wohl aber einen er-
staunlichen Rechtsstaat entwickelt. Dieser ermöglichte es immerhin, dass in den
Kommunistenprozessen Freisprüche vorkamen, und dass in anderen Repressions-
fällen die Justiz keineswegs immer den staatsanwaltlichen Vorgaben folgte. Diese
rechtsstaatliche Sicherung ist erst 1933 – partiell in der republikfeindlichen Jus-
tiz auch schon 1918 – „durchgebrannt“. Die gesellschaftliche Stabilität bis 1905 in
Russland und bis 1918 in Deutschland schien beträchtlich. Aber sie erwies sich als
trügerisch. Verlorene Kriege haben das Gemisch aus vorhandenem und staatlich
organisiertem sozialen Konsens rasch zerbrechen lassen.
Rezeptionswellen und Einflussströme des politischen Denkens in Europa 325

4 Rezeptionswellen und Einflussströme


des politischen Denkens in Europa

Die Entwicklung der politischen Theorien wird nicht nur durch äußere Faktoren,
wie die soziale Lage und Herkunft der Publizisten, das Ausmaß der Repression im
Land und den Grad der Möglichkeiten für politische Partizipation, bestimmt. Es
gibt auch innere Faktoren, aber nur selten blieben diese von außen unbeeinflusst.
Jeder Theoretiker stand in einer Kette von widerstreitenden Gedankensystemen.

Rezeptionen und „Nicht-Rezeptionen“

In der Analyse der Policies wurde die „Nicht-Entscheidung“ als Forschungsge-


genstand entdeckt. In der Evaluation politischer Theorieentwicklungen müsste
eigentlich ein Pendant entstehen: die „non-decision“ heißt in diesem Bereich:
„non-reception“. Je früher und je origineller die Theorien, umso weniger wurde
noch flächendeckend zitiert, wie Juristen das zum Teil noch heute tun (notfalls
auch unspezifisch negativ: „siehe auch abwegig“). Die Zitate waren – wie bis hin
zu Luhmann – oft sogar irreführend und verdeckten die tatsächlichen Entlehnun-
gen. Daher eröffnete sich den Theoriehistorikern ein Tummelfeld für ex-post-
Zuschreibungen von Rezeptionen. Bei Max Weber war das besonders auffällig.
Er ist nacheinander als Hegelianer, als Marxianer und sogar als Nietzscheaner in-
terpretiert worden. Die Originalitätszwänge eines Wissenschaftsbetriebes, der auf
„Thesen“ angelegt ist, begünstigt solche periodischen Uminterpretationen. Wo ein
Denker in politisch anrüchigen Kontexten stand, wie Pareto oder Carl Schmitt, er-
scheint es mit historischem Abstand geradezu geboten, eine Entlastungsinterpre-
tation zu versuchen, um einem Denker „Gerechtigkeit“ widerfahren zu lassen. Wo
direkte Einflüsse schwer nachweisbar sind – wie zwischen Weber und Jünger oder
Lukács – musste man sich mit Isomorphien helfen, die man durch Textinterpreta-
tion gewann. Das konnte bis zur theoriegeschichtlichen Inquisition gehen: „they
torture the manuscripts – until they confess.“
Nicht nur die Mischung der Theoriebausteine – je weniger bedeutend die
Theorie umso kühner der Eklektizismus – gibt Aufschluss über die Rezeptionswel-
len. Eigentlich müsste ein negatives Rezeptionsbild hinzugefügt werden: wer hat
wen nicht rezipiert ? Berühmt waren die Abschottungen, die Hegel und Comte ge-
geneinander vorgenommen haben, obwohl sie aufeinander aufmerksam gemacht
wurden. Rezeptionen waren schon deswegen a-symmetrisch, weil die Sprach-
kenntnisse der Theoretiker nicht gleichmäßig verteilt waren. Hegel schrieb ziem-
lich flüssige französische Briefe, Comte hingegen konnte kein Deutsch. Theore-
tiker, die aus den Unterschichten kamen, wie Proudhon oder Belinskij, waren
326 Konklusion

gegenüber den Aristokraten mit ihrer vielfältigen Erziehung lebenslang im Nach-


teil. Selbst die gebildeten Russen, die häufig französisch, deutsch und gelegentlich
noch englisch lasen, hatten da Schwierigkeiten. Auch ein Adliger wie Bakunin
musste anfangs um sein Deutsch kämpfen, und hat als Erbe der Leitung des
Stankevič-Kreises seine Dankesschuld abgetragen, indem er anderen wie Belinskij
half, Hegel zu verstehen.
Auch wo eine theoretische Mode grassierte, war die Kenntnis der Texte be-
grenzt, weil Übersetzungen der Werke Hegels oder von Marx in die Sprachen
von Spanien bis Russland sehr selektiv vorgenommen wurden. In der Revisio-
nismus-Literatur wurde es ein beliebter Sport zu demonstrieren, wie gering die
Kenntnis der Werke von Marx in den jeweiligen sozialistischen Parteien gewe-
sen sei.
Als die holistische Geschichtsphilosophie der Prämoderne mit dem Positivis-
mus eines Spencer sich verwissenschaftlichte, wuchs langsam ein gesamteuropä-
ischer Kanon dessen, was als lesenswert angesehen wurde, jedenfalls unter den
Theoretikern auf Lehrstühlen. Auch Frankreich stieg vom hohen Ross herunter.
Renan oder Cousin haben in ihren eklektischen Philosophien die Franzosen mit
vielen Theorieelementen anderer Länder bekannt gemacht. In Oxford kam es zur
Rezeption des Hegelianismus, der bis dahin als teutonisch-exotisch erschienen
war. In der sozialistischen Literatur war der Austausch rege, schon weil die 2. In-
ternationale theoretische Grundsatzdiskussionen immer wieder vom Zaun gebro-
chen hat. „Chefideologen“ wie Kautsky und Plechanov erhoben ihre Ansprüche
auf die richtige Auslegung der reinen Lehre. Engels und Kautsky haben die wich-
tige bürgerliche Literatur flächendeckend rezipiert und im Hinblick auf Kompa-
tibilität mit dem Marxismus eingeordnet. Dabei haben beide den „Historischen
Materialismus“ zum handfesten Welterklärungsschema gerinnen lassen, das er bei
Marx nicht gewesen ist.

Nationale Rezeptionsprozesse

England hat mehr durch seine Praxis als durch seine Theorie gewirkt. Nur Burke
war in aller Munde, nicht nur bei den Konservativen in Deutschland wie Rehberg,
Müller und Gentz. Auch die Liberalen haben viele seiner Gedanken akzeptiert, da
sie in Deutschland in der Regel nicht sehr radikal waren. Ein Denker vom Range
Godwins blieb im Ausland wenig bekannt. Baader war in Deutschland einer
der wenigen, der durch einen Aufenthalt in Edinburgh nachhaltige Wirkungen
des Godwinschen Werks mit nach Hause brachte. Umstritten ist, ob Proudhon
Godwin zur Kenntnis genommen hat, oder ob es nur Ähnlichkeiten unter den
beiden individualistischen Anarchisten gegeben hat. Owen hat mit Fourier und
Rezeptionswellen und Einflussströme des politischen Denkens in Europa 327

anderen französischen Frühsozialisten in seiner unpolemischen und behutsamen


Art Abgrenzungsdiskussionen geführt. Sein Einfluss lag auch eher in der Praxis
seiner Lehren. Ähnliches ließ sich vom Sozialismus der Fabier sagen. Er hat auf
Bernstein gewirkt und vermittels einer echt deutschen vehementen „Revisionis-
mus-Debatte“ dann auch in anderen Ländern weiter gewirkt, jedenfalls dort, wo
es eine Marxistische Orthodoxie gab. Am stärksten war das in einem Land wie
Russland der Fall, wo Lenin sich anschickte, die „kleinbürgerlichen weinerlichen
Sozialpfaffen“ des Westens und den „süßlichen Kautsky“ – dem er anfangs einige
Einsichten verdankte – in Grund und Boden zu kritisieren.
Die herrschende Lehre des Utilitarismus hat in der Benthamschen Form Ra-
dikale vor allem in den romanischen Ländern beschäftigt. Aber erst in der gemil-
derten Form von John Stuart Mill wurde er einflussreich. Eine Form des „Sozial-
liberalismus“ war in vielen europäischen Ländern attraktiv, auch bei Theoretikern
wie Tocqueville oder Mohl, die mit der utilitaristischen Theorie wenig anfangen
konnten. Mill hat Humboldt rezipiert, aber dessen Hauptwerk über die „Grenzen
des Staates“ ist zu spät integral veröffentlicht worden, um mehr als ein Nachle-
ben zu erzeugen. Großbritannien schien resistent gegen die idealistischen Philo-
sophien Deutschlands. Mit der Romantik kamen jedoch einige Ideen nach Eng-
land von Coleridge bis zu Carlyle. Später wurde der Oxford-Idealismus bei Green
und Bosanquet anfällig für den Hegelianismus. Erst in der Krise des Imperialismus
in Großbritannien wurde das verachtete Preußen-Deutschland zum Faszinosum
für Theoretiker, die den Imperiumsgedanken mit der „Effizienz“ der aufkommen-
den deutschen Konkurrenz verbinden wollten, wie bei Sidney Webb. Vielfach kam
es aber weniger zu direkten Einflüssen als zu unabhängig äquivalenten Entwick-
lungen, wie etwa denen von Hobhouse und Friedrich Naumann. Die beiden deut-
schen theoretischen „Exportschlager“ Marxismus und Nietzscheanismus trafen in
England nur bei einigen Außenseitern nicht auf kühle Köpfe.
Stärker waren die konservativen Wirkungen deutschen Denkens von Herder
bis Fichte bei den Nationalisten aller Länder. Kants Wirkungen waren zunächst
eher auf die eklektische Schulphilosophie begrenzt. Im „Krausismo“ erlebte der
Kantianismus eine Blüte unter Liberalen in Spanien, der mit Kants Kernwerken
nur noch wenig zu tun hatte. Erst mit einer entwickelten Schulphilosophie – etwa
bei Ortega – kam es auch in Spanien zu späten Nachwirkungen. Der Neukantia-
nismus hat sich in vielen europäischen Ländern über den revisionistischen So-
zialismus bemerkbar gemacht – bis hin zu den „legalen Marxisten“ in Russland
(vgl. Bd. 1).
Deutschland ist das klassische Land der verspäteten Rezeptionsschübe. Auch
der Hegelianismus hat – mit Ausnahme von Russland seit den 1830er Jahren –
erst später Furore gemacht, von den englischen Neo-Idealisten der Oxford-Schule
bis zum italienischen Neuhegelianismus bei Croce. Gentile hat Hegel sogar für
328 Konklusion

den Faschismus zu konservieren versucht, was bei Croce – nach dem Bruch mit
Gentile um 1924 – zu schärferer Sonderung der überholten von den nicht überhol-
ten Teilen des Hegelschen Denkens führte.
Nur in Russland konnte vorübergehend ein Schellingianismus als Gegengift
gegen den Hegelianismus eingesetzt werden, das nicht nur den Slawophilen, son-
dern auch einigen Westlern wie Čaadaev verabreicht wurde. Schellings Antritts-
vorlesung in Berlin war von vielen mit Spannung erwartet worden – auch viele
ausländische Denker von Kierkegaard und Bakunin bis zu Jakob Burckhardt sa-
ßen dem Meister zu Füßen. Das zentrale Thema Religion bei Schelling reizte vor
allem die Russen – nicht hingegen die Theoretiker der Politik in Westeuropa.
Mit Nietzsche hat noch einmal ein deutscher Denker Einfluss auf viele Denk-
strömungen erlangt, obwohl eine politische Philosophie im engeren Sinn bei
Nietzsche nicht vorlag, und allenfalls der vitalistische Impetus und die Ästheti-
sierung der Politik international rezipiert worden ist. Vor allem die Faschistoiden
und Faschisten unterschiedlicher Provenienz haben Nietzsche dabei vielfach
missverstanden.
Spanien und Italien waren in der Theorieproduktion hauptsächlich Rezep-
tionsländer. Spanien hatte durchaus eigenständig und außenwirksam in den Cor-
tes von Cádiz begonnen. Der theoretische Impetus versiegte rasch. Mit Balmes
und Donoso Cortés wurden eigenständige Theoretiker hervorgebracht, die je-
doch nur auf die extreme Rechte positiv wirkten. Donoso hat einerseits Zustim-
mung von Montalembert bis Metternich erhalten, andererseits heftige Angriffe
der Linken, wie die des russischen Emigranten Alexander Herzen. Die Ausein-
andersetzung zwischen liberalen Krausisten und Traditionalisten à la Menéndez
Pelayo blieb eine innerspanische Angelegenheit mit starker Stützung der Ar-
gumente durch theoretische Versatzstücke aus dem Ausland. Die „Generation
von  98“ (Bd.  1, Liberalismus) schließlich war ein sehr eigenständiges Gewächs,
das die Rückbesinnung auf Spanien mit ganz unterschiedlichen Theorieeinflüssen
garnierte. Unamuno hat in Wellen ausländische Einflüsse verarbeitet vom Sozia-
lismus bis zum Ultrakonservatismus. Ortega y Gasset hat die professionellste For-
mierung bei einem Studium in Deutschland erhalten und dies mit Lob und Kritik
Spaniens in origineller Weise verbunden. Vor allem in Deutschland wurde er eine
Weile Modephilosoph, der vor allem nichtprofessionelles Publikum anzog. Die
Falangisten waren ähnlich aufnahmefähig für fremde Gedanken von Nietzsche
bis Sorel, ohne ihrem Faschismus die dogmatischen Formen geben zu können, die
der italienische Faschismus durch Mussolini – unter Schreibhilfe Gentiles – zu
entwickeln suchte. Der Falangismus fiel im internationalen Vergleich durch das
auf, was er nicht rezipierte. Er blieb den Rassenlehren des Nationalsozialismus
und gewissen Eigenarten des italienischen Faschismus gegenüber skeptisch. Da
Primo de Rivera und Ledesma die Konsolidierung des Franco-Regimes nicht er-
Rezeptionswellen und Einflussströme des politischen Denkens in Europa 329

lebten, konnte mit ihrem Gedankengut – eingebettet in einen konservativen Tra-


ditionalismus – nach Belieben verfahren werden.
Italien schien von allen rezeptiven Ländern die glücklichste Entwicklung
zu nehmen. Frankreich dominierte als Land des Einflusses von den Jakobinern,
über den liberalen Konstitutionalismus von Sieyès bis Constant auf Romagnosi,
Gioberti oder Rosmini bis zu den proudhonistischen Elementen bei Mazzini. Ein
eigenständiger Beitrag war die liberale Erweiterung der Restaurationsphilosophen
von Maistre bis Lamennais bei Gioberti und Rosmini. Ihre Ausgangsphilosophien
begannen schlicht „reaktionär“ und doch gelang es ihnen – wie Lamennais in
Frankreich und nicht ohne dessen Einfluss – eine progressive Wende des katho-
lischen Konservatismus im Denken herbei zu führen. Die konservativen Risorgi-
mento-Liberalen orientierten sich am liebsten an Frankreich. Nur wenige – wie
Rosmini – blieben skeptisch gegen die französischen Allheilmittel, die angeprie-
sen wurden. Frankreich blieb das dominante Geberland – nicht zuletzt, weil die
Hoffnungen der meisten Poeten und Publizisten sich auf die Hilfe Frankreichs
richteten, von Napoleon I bis Napoleon III. Gelegentlich spielten Illusionen über
den eigentlich italienischen Charakter des Korsen bei übertriebenen Erwartungen
eine Rolle. Die Hoffnungen wurden meistens enttäuscht. Nur Mazzini hat selbst
angesichts der französischen Interventionstruppen vor seiner „befreiten Stadt
Rom“ die Brüderlichkeitsphilosophie nicht aufgegeben. Aber es gab wenig Alter-
nativen der Orientierung in Italien. England wurde von den Risorgimento-Libe-
ralen wie Balbo oder D’Azeglio vielfach als Vorbild empfunden. Aber es blieb  –
wie in anderen Ländern – ein Modell, das leicht verehrt aber nur schwer imitiert
werden konnte. Cavour – von vielen eifrigen Patrioten als savoyischer „Franzose“
verdächtigt, der auch noch piemontesisches Territorium wie Nizza und Savoyen
an Frankreich „verschenkte“ – war naturgemäß an Frankreich orientiert. Unab-
hängig von der ideologischen Position waren alle Befreiungsphilosophen von glü-
hendem Hass gegen Österreich beseelt, was den Einfluss deutscher Ideen nicht
wenig behindert hat, es sei denn, man konnte Herder oder Fichte zur Begründung
des italienischen Nationalismus heranziehen.
Die Abhängigkeit italienischer Theoretiker von ausländischen Einflüssen war
nie eine totale. Man brauchte den Benthamismus, der vielfach zitiert worden ist,
eigentlich nicht. Mit Beccaria und Filangieri hatte man eine eigenständige Tra-
dition der Gesetzgebungslehre – im Sinn einer umfassenden Gesellschaftstheo-
rie – auf die man seit Romagnosi vielfach zurückgriff. Im Primato-Gedanken hat
vor allem Gioberti an die alten italienischen Traditionen angeknüpft. Pareto hat
eine konservativ gestimmte Sozialwissenschaft geschaffen, die nur in ihren eli-
ten-theoretischen Teilen weite Verbreitung fand. Die Größe des Gedankengebäu-
des ist mit Durkheim oder Max Weber verglichen worden, hatte aber gleichwohl
nicht die gleiche Fernwirkung wie diese beiden Pioniere der sozialwissenschaft-
330 Konklusion

lichen Methodologie entwickelt. Croce oder Gentile haben aus dem Hegelianis-
mus eine sehr eigenständige Gedankenwelt entwickelt. Croce hat Hegel sogar be-
wusst „entdeutscht“. Nur die universal-humanen Gedanken Hegels hielt er nicht
für überholt.
Gleiches gilt für die Linke. Labriola war kein marxistischer Nachbeter. Die
Anarchisten wie Malatesta unterlagen russischen Einflüssen des Bakuninismus,
hatten aber den Vorteil, dass dieser kein „System“ anbot. Gramscis Kommunis-
mus wurde zur sympathischsten Variante neben Rosa Luxemburg – in durchaus
unabhängiger Verarbeitung leninistischer Prinzipien.
Die Tradition Italiens als Pionierland des menschlichen Geistes und der
Künste hat keine ganz große politische Theorie hervorgebracht. Der Histori-
ker des vergleichenden Liberalismus Ruggiero sprach sogar vom „literarischen
Schimmel“, den Italiens Vordenker angesetzt hatten. Aber Italien brachte eine ge-
lungene Synthese aus Sendungsbewusstsein und Offenheit für die Theorien ande-
rer Länder hervor. Andere verspätete Nationen wie Deutschland oder Russland
waren in diesem Punkt wesentlich „verquaster“. Selbst Spanien, das so hoffnungs-
voll Anfang des 19. Jahrhunderts in Theorie und Praxis der Politik begonnen hatte,
fand nur schwer sein Gleichgewicht zwischen Rezeption und Selbstüberheblich-
keit. Spanien und Russland haben die Modernisierung bei vielen Vordenkern nur
rechtfertigen können, wenn die Europäisierung zugleich mit der „Hispanisierung“
oder „Russifizierung“ Europas einherging.
In diesem Prozess der Kombination von Renationalisierung und intellektuel-
lem Expansionsstreben wurde Russland das Land der eifrigsten Theorieimporte.
Erst dominierte die französische Aufklärung, bei einiger Liebe der aufgeklärten
Aristokraten zu England (z. B. Karamzin). Die Dekabristen inspirierten sich auch
an den Cortes von Cádiz und frühen italienischen Verfassungen der Napoleon-
Zeit. Der deutsche Idealismus wurde in Wellen des Hegelianismus und Schel-
lingianismus verbreitet und seinerseits vom französischen Positivismus abgelöst.
Erst um die Jahrhundertwende konnte Deutschland mit Hilfe von Neukantia-
nismus und Marxismus verlorenes Terrain zum Teil zurück gewinnen. Russland
hat nur mit seinen radikalsten Theorien international Proselyten gemacht – von
Bakunin bis Lenin. Der konservative Slawophilismus und Neo-Slawophilismus,
sowie das neue religiöse Bewusstsein Anfang des 20. Jahrhunderts blieben eine
Angelegenheit von wenigen Kennern. Die Orthodoxie wirkte einerseits als Re-
zeptionsbarriere, hatte andererseits für Connaisseure unter den Sinnsuchern
Westeuropas ihre exotische Anziehungskraft. Die Sonderbeziehungen zwischen
Deutschland-Preußen und Russland betrafen vielfach überhaupt keine Theorien,
sondern waren konservativ gestimmte Zweckallianzen, die von Tauroggen bis Ra-
pallo gelegentlich zu Konstanten der Außenpolitik mythisiert worden sind.
Sozial- und Berufsstruktur der Theoretiker der Politik 331

In keinem Rezeptionsland gab es einen solchen Dekaden-Schematismus hin-


sichtlich der Wellen theoretischer Einflüsse wie in Russland. Er war vielfach un-
angemessen, da die russischen intellektuellen Fraktionsstreitigkeiten, die mit einer
Häme ausgefochten wurden, wie sie Deutschland nur bei den Linkshegelianern
entwickelt hatte, immer auch gleichzeitige Einflüsse aufeinander prallen ließen.
Die intellektuelle Beschäftigung des Auslandes mit russischen Theorieangeboten
war weitgehend aus der Sicht der Sieger geschrieben: „Lenins Vorläufer“ wurden
in der radikalen Linken gesucht. Die Verlierer blieben als christliche Philosophie
nur bei Emigranten und ihren intellektuellen Sympathisanten von Interesse. Erst
mit dem Untergang des Kommunismus wurde diese Asymmetrie korrigiert und
Russland besann sich sogar wieder auf die liberalen Vorläufer. Noch ist freilich
nicht zu erkennen, dass das liberale Denken in der GUS die Oberhand gewinnt,
auch wenn man gern die „Zivilgesellschaft“ theoretisch beschwört.

5 Sozial- und Berufsstruktur der Theoretiker der Politik

Herkunftsschichten und Herkunftsfamilien

Das Sozialprofil der Theoretiker der Politik war äußerst einseitig. Nur vier Frauen
haben an prominenter Stelle unter den 162 wichtigsten Publizisten des 19. Jahr-
hunderts figuriert: Mary Wollstonecraft und Beatrice Webb in England, Germaine
de Staël in Frankreich und Rosa Luxemburg in Deutschland, Polen und Russland.
Die Sozial- und Berufsstruktur der Theoretiker der Politik muss sinnvoller
Weise eine Zäsur um 1848 vornehmen. Daher wurden zwei Rubriken angelegt,
je nachdem, ob das Zentrum des Schaffens vor 1848 oder nach 1848 lag. Detail-
lierte Berufsprofile der Herkunftsfamilien anzulegen, hat wenig Sinn. Vor allem
vor 1848 determinierte die Herkunft auch die ideologische Familie des Denkens
noch stärker als später. Das heißt freilich nicht, dass die Adligen alle konserva-
tive Denker waren, die Bürgerlichen liberale Theoretiker und die Publizisten, die
aus dem Kleinbürgertum und den Unterschichten stammten, sozialistisch dach-
ten. Pioniere des liberalen Denkens stammten aus dem Adel wie Constant oder
Tocqueville. In Deutschland waren die Vordenker des Konservatismus – mit
Ausnahme des Schweizers Haller – bürgerliche Theoretiker wie Rehberg, Gentz,
Görres, Müller, Arndt, Schelling, Baader oder Stahl, die zum Teil später geadelt
wurden. Der soziale Aufstieg blieb nicht ohne Folgen. Der nobilitierte bürgerliche
Grundbesitzer galt auch sonst in Preußen vielfach als „der ausgeprägteste Jun-
ker … so sehr conservativ, daß er die ‚liberale‘ Kreuzzeitung mit Bedauern ansieht“
(Grundzüge conservativer Politik. Berlin, Kortkampf, 1868: 27).
332 Konklusion

Je unterentwickelter das Land, umso weniger gingen Gleichungen zwischen


sozialer Herkunft und politischem Standort auf. Von den 35 russischen Theore-
tikern, die in einem empirischen Sample eingeschlossen wurden, stammte die
Mehrheit (20) aus dem Adel, von Alexander Herzen bis Plechanov (vgl. v. Beyme
2002). Typisch für bürgerliche Aufsteiger war vielfach die Verachtung des „Bour-
geois“. Sie fand sich auch bei nobilitierten Aufsteigern von Adam Müller und
Gentz in Deutschland bis zu Donoso Cortés in Spanien, und war in Russland
nicht unbekannt. Man glaubte eher mit dem proletaroiden Volk als mit dem Bür-
ger kooperieren zu können. Der „Gang der reuigen Edelmänner ins Volk“ ging am
Bürgertum vorbei.
Auch die Nobilitierungspolitik der Systeme prägte das soziale Profil der politi-
schen Denker. In Deutschland wurde sie extensiv unter Politikern, hohen Admi-
nistratoren und Professoren betrieben. In die vorliegende Statistik gehen jedoch
die für ihre Verdienste geadelten Denker nicht ein, wie Donoso Cortés in Spa-
nien, d’Annunzio in Italien, Gentz, Müller, Schelling, Stein oder Mohl in Deutsch-
land, sondern es wird nur die Herkunftsschicht gezählt. Ein Land, das eine eifrige
Adelspolitik trieb wie England, hat unter den politischen Theoretikern wenig Ti-
tel-Spuren hinterlassen. Die Praktiker der Politik, die den Titel bekamen, waren
meist keine Theoretiker – Disraeli kam dem Theoretiker noch am nächsten –, und
die Theoretiker, die den Titel verdient hätten, und zugleich Praktiker der Poli-
tik waren, wie Burke oder Mill, haben den Titel nicht erhalten. Besonders im Fall
Burke hat das schon manchen Zeitgenossen verwundert, und wurde mit dunk-
len Gerüchten erklärt (Homophilie). Ähnlich diskriminierend erschien es in
Deutschland, dass Stahl als konservativer Politiker und Theoretiker nicht die er-
wünschte Anerkennung erhielt. Seine jüdische Herkunft dürfte die entscheidende
Rolle gespielt haben, obwohl er nicht mehr jüdischen Glaubens war.
Nach diesen Caveats kann die Gesamtstatistik aufgestellt werden: 44 von ca.
170 des ganzen Samples kamen aus dem Adel, davon waren 24 (von 41) Russen,
was einen überproportionalen Anteil ausmacht. Von den 59 Theoretikern, deren
Schwerpunkt des Wirkens vor 1848 lag, waren 24 adliger Herkunft – wieder wa-
ren die Russen mit neun Aristokraten überproportional vertreten. Nach 1848 trat
eine Verbürgerlichung des Profils der Theoretiker ein. Die Mehrzahl der politischen
Publizisten kam nun aus dem Bürgertum. Nur wenige der Theoretiker haben sich
aus kleinsten Verhältnissen hochgearbeitet, wie Babeuf, Fichte, Owen oder Proud-
hon. Nur einzelne deutsche Territorien hatten noch so archaische Sozialstruktu-
ren, dass mit Ernst-Moritz Arndt ein Theoretiker hervorgebracht wurde, dessen
Vater als ein freigelassener Leibeigner bezeichnet worden ist.
Das Pfarrhaus hat als Pflanzstätte der Intelligencija in kaum einem Land
die gleiche Rolle gespielt wie im protestantischen Deutschland von Schelling bis
Nietzsche. Geistliche spielten auch im Berufsprofil eine untergeordnete Rolle. Die
Sozial- und Berufsstruktur der Theoretiker der Politik 333

wenigen prominenten Figuren wie Lamennais in Frankreich, Balmes in Spanien


oder Rosmini in Italien haben sich der Orthodoxie stark entfremdet und mit ih-
rer Kirche – oder wenigstens mit ihrem Staat wie Balmes – in Unfrieden gelebt.
Die Revitalisierung einer christlichen Lehre der Politik wurde weniger von die-
sen Priestern als von einer Reihe von Laientheologen betrieben – von Baader bis
Solov’ëv und Berdjaev. Dass bei einem Akteur und Theoretiker wie Pi y Margall als
Beruf des Vaters „Arbeiter“ vermerkt werden konnte, war eine seltene Ausnahme.
Einige Theoretiker wie Fourier sanken in Armut. Andere kamen bei dem Ver-
such sich eine unabhängige Existenz aufzubauen, auf keinen grünen Zweig, wie
Saint-Simon oder Proudhon. Soweit „politische Entrepreneurs“ Experimente mit
neuen Produktions- und Lebensformen unternahmen, wie Owen, Fourier, Cabet
oder Proudhon, erlitten sie dabei auch finanziellen Schiffbruch. Die moderne
Form der linken Utopisten und Projektmacher war auf Sponsoren angewiesen, die
immer wieder an doktrinären Verhärtungen Anstoß nahmen, wie bei Saint-Simon
oder Bakunin. Comte war als Schüler Saint-Simons der prominenteste theoreti-
sche Sektierer, der sich zum autoritären Reaktionär entwickelte, und doch ständig
auf Unterstützung angewiesen war. Einige Theoretiker wurden nicht ganz schuld-
los arm, wie Saint-Simon oder Godwin.

Berufsprofile

Werner Sombart hat für die linken Revolutionäre und Frühsozialisten die Legende
in die Welt gesetzt, dass es sich um „gescheiterte Existenzen“ gehandelt habe.
Einige der größten Revolutionäre hatten aber durchaus respektable Berufe von
Babeuf (Grundbuch-Kommissar) bis zu Lenin (Anwalt). Babeuf, Owen, Cabet,
und Weitling hatten eine ordentliche Profession erlernt, und Saint-Simon hat den
damals angesehenen Offiziersberuf an den Nagel gehängt. Die Legende wurde vor
allem genährt, weil Revolutionspolitiker, die von der Publizistik lebten, nicht als
Beruf anerkannt wurden. Als Bakunin in England einreiste, soll er im Einreise-
formular „Berufsrevolutionär“ vermerkt haben. Dieser Beruf wurde auch später
nicht akzeptiert, und wenn die Legende stimmt, ist es verwunderlich, dass Baku-
nin die Einreise nicht verwehrt worden ist. Wie viele der revolutionären Publizis-
ten mussten damals von Land zu Land reisen, weil selbst relativ liberale Staaten
wie die Schweiz, Belgien oder Frankreich die Ausweisung verfügten von Weitling,
bis Marx, Proudhon, Bakunin oder Kropotkin. Kein Wunder, dass England das
gelobte Emigrationsland in Europa wurde.
Eine Berufsstruktur der Theoretiker zu rekonstruieren ist nicht einfach. Am
vagsten bleibt die Rubrik „Selbständige“, weil sie vom Großgrundbesitzer bis zum
kleinen Ladenbesitzer alles umfasst. Russische Emigranten wie Herzen, waren
334 Konklusion

reich genug, im Ausland gut zu leben. Feuerbach und Ruge konnten zeitweise
finanziell auf ihre Frauen rechnen. Russische Kleinadlige wie Plechanov haben
in der Emigration ein kümmerliches Leben gefristet. Stirner wurde Mini-Ein-
zelhändler.
In dieser Aufstellung wurden zur Vermeidung von Pseudoexaktheit zwei
Großgruppen unterschieden: eine Gruppe von Denkern, die sich privat alimen-
tierten und eine zweite, die überwiegend vom Staat – als Politiker, Administra-
toren oder Professoren – bezahlt wurden. Bei den privat Alimentierten, ist eine
kleine Zahl von 16 (13 vor 1848) dieser Gruppe zuzurechnen, wenn man Kümmer-
existenzen wie Babeuf und Proudhon, nach dem Niedergang ihrer Unternehmen
dazu rechnet. Die Zahl der durch Vermögen Unabhängigen war größer, aber viele
von ihnen haben gleichwohl aus Gründen des politischen Ehrgeizes eine Weile die
Staatsalimentierung akzeptiert wie Humboldt, Chateaubriand, Tocqueville oder
Gioberti. Wer auf das Staatssalaire nicht so angewiesen war, hatte die für ihn er-
freuliche Option, sich jederzeit bei Dissens mit der Krone grollend auf seine Gü-
ter zurückziehen zu können. Bei Humboldt war der Rückzug nur halbfreiwillig.
Nur im autokratischen Russland geschah dies nicht immer freiwillig, wie bei dem
konservativen Liberalen Čičerin, der sich als Bürgermeister von Moskau unbeliebt
gemacht hatte, weil er auf einem Bankett zu Ehren des Zaren gewagt hatte, den
Wunsch nach einer Verfassung zu äußern. Die Statistik weist für die Theoretiker
der Politik folgende Revenüe-Gruppen aus:

Tabelle 7.1 Einkommensgruppen der Theoretiker der Politik (1789 – 1945)

Privat alimentiert Selbständige 18 (vor 1848: 13)


Publizisten 72 (vor 1848: 21)

Staatlich alimentiert Politik, Verwaltung 28 (vor 1848: 14)


Lehrberufe 49 (vor 1848: 14)

Die Mehrzahl der politisch aktiven Denker wirkte als Abgeordneter. Zwei Sonder-
rubriken müssen unterschieden werden: die Administratoren (inklusive der Di-
plomaten wie de Maistre, Donoso Cortés, Maeztu, Ganivet, Guizot und Canovas
hielten Rekorde als Premierminister). Eine Sondergruppe entwickelte Deutsch-
land mit staatlich alimentierten Intellektuellen im Dienst der Restauration (Müller,
Gentz, F. Schlegel). Erfolgreiche Administratoren waren Möser in Osnabrück und
Haller in der Schweiz gewesen. Eher bescheidene administrative Funktionen ha-
ben Bonald, Rotteck und Čičerin als Bürgermeister geleistet. Nur wenige muss-
ten mit wirklich administrativer Knochenarbeit ihr Brot verdienen wie Le Play in
Frankreich oder der Panslawist Danilevskij in Russland.
Sozial- und Berufsstruktur der Theoretiker der Politik 335

Eine zweite Gruppe stellen die „revolutionären Politiker“ dar. Erst nach lan-
gen Phasen der Agitation und Publizistik kamen sie an die Macht, wie Lenin und
Trockij, oder Mussolini und Hitler. Für die Zeit vor ihrer Machtergreifung wä-
ren sie wohl am sinnvollsten als „Publizisten“ klassifiziert worden, wenn man
sie schon in eine bürgerliche Berufsstatistik pressen will. Bei dem gescheiterten
Künstler Hitler war auch dieses Etikett noch geschmeichelt. Weitere Exponen-
ten der revolutionär an die Macht gekommenen waren Robespierre und Louis
Blanc in Frankreich, Pi y Margall in Spanien, Mazzini in der kurzlebigen Repu-
blik in  Rom 1848, Kautsky als „Staatssekretär“ für vier Wochen 1918 und Land-
auer in der Bayerischen Räterepublik, Korsch und Lukács in Ungarn als Kurzzeit-
minister. Dauerhafte Revenüen waren mit diesen Intermezzi an der Macht nicht
verbunden. Erst mit der Entstehung organisierter Parteien kam ein Mischtyp auf:
Rosa Luxemburg wurde als Publizistin eingestuft – die Revenüen kamen jedoch
aus unterschiedlichen Fonds der Parteien, für die sie gewirkt hat. Ähnliches dürfte
für Bebel gelten, aber wie bei Bernstein kamen Einkommen aus Abgeordneten-
tätigkeit in einigen Perioden ihres Lebens hinzu. Kautsky hatte mit Umsicht in
der Zeitschrift „Die Neue Zeit“ sich eine von der Partei zunächst unabhängige
Existenz aufgebaut. Seine brüske Entlassung als Redakteur der Zeitschrift ließ ihn
später bedauern, dass die organisatorische Bindung an die Partei allzu eng ge-
worden war.
Die Einkommensprofile sind in den verschiedenen ideologischen Familien na-
turgemäß unterschiedlich häufig vertreten gewesen. Bei der sozialistischen Theo-
riefamilie dominierte die Einkommensquelle „Publizistik“ am stärksten. Soweit
Schriftsteller als Theoretiker auftraten – von Coleridge bis Dostoevskij, Jünger,
d’Annunzio oder Shaw – gehörten sie zu dieser Gruppe. Dass Tolstoj seine Schrif-
ten zum Leben nicht unbedingt brauchte, war ein Sonderfall. Wo die Intelligen-
cija wenige Möglichkeiten hatte, in staatlich alimentierte Stellen einzurücken,
wie in Russland, waren die Publizisten stärker vertreten als in westeuropäischen
Ländern. Hier waren die Professorenstellen für politische Denker weit verbreitet,
wenn sie nicht revolutionäre Gruppen wie die Linkshegelianer betrafen, denen
der Zugang zur Wissenschaft verwehrt worden ist, etwa in den Fällen Feuerbach,
Bauer, Ruge oder Marx.

Repressionen gegen Theoretiker der Politik

Die Grenzen der staatlichen Toleranz waren im 19. Jahrhundert überall eng ge-
steckt. Die unterstellte Schwelle der Repression in den Systemen stellte die Zensur
dar. Auch die beamteten staatsalimentierten Professoren litten ständig unter Ein-
griffen des Staates auf die „Freiheit der Lehre“. Die Klassiker des deutschen Idea-
336 Konklusion

lismus haben ständig Rücksicht auf die Zensur nehmen müssen. Fichte hat sich
über Schikanen der Zensur höheren Orts beschwert. Hegel hat gegen seine Geg-
ner die Zensur sogar aufgehetzt. Stirner blieb bis auf das Verbot seines Hauptwer-
kes erstaunlich unbehelligt. Godwins Hauptwerk war laut Pitt so teuer, dass es als
politisch als ungefährlich galt.
Nach der Zensur war die Suspendierung vom Dienst die nächste Eskalations-
stufe der Repression. Sie traf vor allem die Theoretiker, die als Professoren ihr Brot
verdienten. In Deutschland wurde selbst ein adliger Liberaler wie Rotteck in dem
vergleichsweise liberalen Baden – der einmal von Metternich umworben worden
ist – 1832 wegen Agitation in der Badischen Zweiten Kammer für acht Jahre sus-
pendiert. Arndt wurde als Sympathisant der Burschenschaften in Bonn, Mohl
wurde 1845 in Tübingen, Lorenz von Stein von der dänischen Regierung in Kiel
entlassen. Die preußische Regierung tat alles, um Rufe in andere deutsche Staaten
zu torpedieren. Am spektakulärsten war die Repression gegen die Göttinger Sie-
ben. Als der König von Hannover 1837 die Verfassung aufhob, protestierten Dahl-
mann, Gervinus, Jacob Grimm und wurden des Landes verwiesen. Hardenberg
untersagte 1817 Schleiermacher seine Vorlesung über „Philosophische Staatslehre“
zu halten. Selbst der Konservative Stahl wurde gemaßregelt.
In Ländern mit relativer Liberalität des Repressionssystems konnten misslie-
bige Theoretiker wie der liberale kantianische „Krausist“ Giner de los Ríos, der sei-
nen Lehrstuhl in der Restauration verloren hatte, in einer freien Schule in Spanien
überwintern. Manchmal bekamen Theoretiker der Politik nach einigen Schikanen
doch noch Lehrstellen, wie die republikanisch gesonnenen Radikalen Cattaneo
und Ferrari, die im Königreich Italien missliebig aufgefallen waren. Italien war
weit liberaler als Deutschland. Ein kämpferischer Marxist wie Labriola hätte
schwerlich deutscher Professor werden und schon gar nicht bleiben können. Erst
nach der Novemberrevolution 1918 wurde Parteiideologen wie Kautsky, Cunow
und selbst dem entschiedenen Marxisten Korsch eine Professur in Deutschland
angeboten. In Italien hat der spätere Kommunistenführer Gramsci eine wissen-
schaftliche Karriere in Aussicht nehmen können, und hätte sie zweifellos erreicht,
wenn er nicht vorgezogen hätte, Journalist im „Avanti“ zu werden.
Bei einigen Publizisten ist es schwer, sie sinnvoll einzuordnen, weil sie Wissen-
schaftler, Publizisten und Politiker nacheinander waren, wie Struve und Miljukov
oder Jaurès. Ungewöhnlich – wie seine Theorien – war der Berufshintergrund von
Georges Sorel, der erst braver Berufstätiger war, und später als Frühpensionär un-
ter die Publizisten ging – eine Art naiver Henri Rousseau. Ungewöhnlich war die
Karriere Spenglers, der eine Professur auf den Lehrstuhl Lamprechts nach Leipzig
ablehnte, nicht nur aus gesundheitlichen Gründen. Ebenso ungewöhnlich schien,
dass der späte Kautsky zweimal ein Ordinariat ablehnte und lieber Publizist und
Redakteur blieb.
Politisches Engagement der Theoretiker der Politik 337

6 Politisches Engagement der Theoretiker der Politik

Theoretiker der Politik haben schon vor 1789 und der Ideologisierung der Politik
vielfach Funktionen als Führer von Gruppierungen fungiert. Schon Jean Bodin
hat die Vermittlungsgruppe „les politiques“ zu strukturieren versucht, um die Ge-
gensätze der religiösen Bürgerkriegsparteien zu mildern und Harrington hatte
ähnliche Funktionen im englischen Bürgerkrieg. Niemals vor 1789 aber haben so
viele Theoretiker der Politik direkt oder indirekt Funktionen in einer Partei wahr-
genommen (vgl. Tabelle 7.3): Einmalig war die Position der „ungebetenen Chef-
ideologen“ einer Partei von Marx und Engels.
Die Theorie der Politik im Zeitalter der Ideologien war allenfalls bei den Pro-
fessoren der Philosophie und des Staatsrechts eine Angelegenheit der Studierstube.
93, über die Hälfte der in meinem Sample ausgezählten 167 Theoretiker waren
auch politische Akteure, die meisten als Abgeordnete. Die revolutionären Politiker
waren es meist nur kurz, wie Kautsky, Eisner, Landauer und Korsch in Deutsch-
land und Lukács in Ungarn. Einige kamen über den Kandidatenstatus nicht hin-
aus, von Godwin, Owen bis Max Weber, Vilfredo Pareto und Robert Michels. An-
dere wurden zwar gewählt, haben aber das Mandat verschmäht, weil sie politisch
mit dem Parlament nicht einverstanden waren, wie der Republikaner Cattaneo
im Königreich Italien. Dahlmann in der Paulskirche und Costa in Spanien haben
nach einiger Überlegung ein führendes Ministeramt abgelehnt.
Eigenständige Denker hatten große Schwierigkeiten mit den vorherrschen-
den Mandatskonzeptionen im Parlamentarismus. Burke deklarierte sich in Bris-
tol als unabhängiger Vertreter der Nation und des Gewissens und verlor die Wahl.
Mill oder Mohl haben ihre Unabhängigkeit ebenfalls publizistisch stilisiert, und
den Wahlkampf vermieden, wo immer es möglich war, und wurden zu ihrem Er-
staunen gleichwohl gewählt. Selbst Revolutionäre, die eigentlich den Parlamenta-
rismus ablehnten, wie Blanqui und Proudhon haben diese Plattform gelegentlich
nicht verschmäht. Proudhon wurde freilich 1848 erst im zweiten Anlauf Parla-
mentarier, da seine Rede wenig populär und seine politischen Ansichten kompli-
ziert erschienen. Robert Michels scheiterte als Kandidat in der SPD, da diesem In-
tellektuellen der Stallgeruch des proletarischen Milieus fehlte.
Eine kleine Gruppe von Theoretikern, die überwiegend als Agitatoren und Pu-
blizisten ihr Leben gefristet hatten, kamen revolutionär an die Macht, wie Louis
Blanc 1848 in Frankreich, Pi y Margall in Spanien, Mazzini in der kurzlebigen
Römischen Republik 1848, Mussolini und d’Annunzio (als Operetten-Revoluz-
zer nach dem Staatsstreich in Fiume), Lenin, Trockij und Hitler, sowie Kautsky
als Staatssekretär für vier Wochen und der Anarchist Landauer in der Münche-
ner Räterepublik. Karl Korsch als Justizminister in einer SPD-KPD-Koalitionsre-
gierung in Thüringen für einen Monat im Oktober/November 1923, und Georg
338 Konklusion

Lukács zweimal als Verantwortlicher für die Volksbildung, unter Béla Kuns Räte-
republik und unter Imre Nagy 1956, können ebenfalls unter die Intermezzi revolu-
tionärer Theoretiker als praktische Politiker gerechnet werden.
Die politischen Ambitionen der Theoretiker waren beträchtlich. Von 16 deut-
schen Professoren dieses Samples haben immerhin acht als Abgeordnete ge-
dient, mit Droysen und Treitschke waren es sogar zehn, und zwei (Max Weber
und Robert Michels) sind Kandidaten gewesen. Ab 1906 haben auch eine große
Anzahl russischer Intellektueller ein Mandat akzeptiert, wie Kovalevskij, Struve,
Miljukov, Tugan-Baranovskij oder Ostrogor’skij. Sie hatten damit die Intelligenz-
ler-Uniform ausgezogen, und sich einer Weile der praktischen Politik des Pro-
fessoren-Parlamentarismus verschrieben. In vielen Transformationsgesellschaften
war die vorübergehende Teilnahme der Intellektuellen und politischen Publizis-
ten in der Phase der Euphorie beträchtlich: 1848 in Frankreich, in Piemont-Italien
und im Paulskirchen-Parlament in Frankfurt (anfangs waren unter 800 Abgeord-
neten 50 Hochschullehrer und davon 15 namhafte politische Publizisten vertreten)
(W.  Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München, Beck,
2001: 131).
1918, als ein demokratischer Neuanfang in vielen Ländern gemacht wurde,
und in den 1970er Jahren in Südeuropa, sowie in den 1990er Jahren in Osteuropa
wuchs die Zahl der Theoretiker als Repräsentanten des Volkes. In der Regel ent-
puppte sich der politische Enthusiasmus der Intellektuellen als Strohfeuer. Aber
nicht alle Theoretiker schieden nach kurzer Zeit aus der politischen Arena wie-
der aus. Robert von Mohl (Advokaten und Professoren in Ständeversammlungen.
In: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Tübingen 1862, Bd. II: 23 – 26) hat das Di-
lemma der Theoretiker trefflich auf den Punkt gebracht: der Professor sei „selten
ein Debater, da er an Widerrede gegen seine Aufstellungen nicht gewöhnt ist, und
einen Widerspruch, namentlich von einem Ungelehrteren, leicht übel nimmt“.
Mit der Zunahme studentischen Widerspruchs gegen Professoren im 20.  Jahr-
hundert hat sich dieses Dilemma nicht aufgelöst. Die Zahl der Theoretiker in Par-
lamenten nahm weiterhin ab. Das Phänomen kann schwerlich mit Ideosynkra-
sien einzelner Berufszweige erklärt werden. Die Ausdifferenzierung der Metiers
lässt Überschneidungen der Karrieren offenbar nur noch ausnahmsweise zu. Das
war anders im frühen Zeitalter der Ideologien. Nicht wenige Theoretiker der Po-
litik brachten es zu Regierungschefs und Ministern oder ihren Äquivalenten wie
Sieyès, Constant, Chateaubriand, Tocqueville in Frankreich, Humboldt, und Mohl
in Deutschland, Gioberti, Croce, Gentile, Rocco in Italien, Jovellanos, Arguëlles,
Donoso Cortés, Cánovas del Castillo, und Azorín in Spanien, Pobedonoscev,
Struve, Kokoškin und Miljukov in Russland.
Nach der Zensur und der Suspendierung vom Dienst war die Inhaftierung
und/oder Verweisung aus dem Lande die dritte Stufe der Repression gegen miss-
Politisches Engagement der Theoretiker der Politik 339

liebige Theoretiker der Politik. Ein Drittel (52) der 167 Theoretiker der Politik in
diesem Sample erlitten ein solches Schicksal. Es traf naturgemäß am häufigsten
die Theoretiker der Politik in „verspäteten Nationen“. Aber auch in einem ver-
gleichsweise liberalen Land wie England wurde Thomas Paine steckbrieflich ge-
sucht. Die Repressionen richteten sich vor allem gegen die radikale Linke. Von
den deutschen Theoretikern waren Weitling, Heß, Marx und Ruge – nach einer
Verurteilung zu fünf Jahren Gefängnis – betroffen. Marx kämpfte vergeblich um
die Renaturalisierung als preußischer Staatsbürger. Friedrich List wurde wegen
„Beleidigung der württembergischen Staatsdienerschaft“ zu zehn Monaten Fes-
tungshaft verurteilt. Er emigrierte nach Amerika und kam erst 1830 als amerika-
nischer Konsul zurück.
Die radikalen Sozialisten wurden meist in allen Staaten des Deutschen Bundes
verfolgt. Die „Demagogenverfolgung“ wurde transnational organisiert. Die „Libe-
ralen“ – wie die Göttinger Sieben, Rotteck, Welcker, Stein oder Mohl – hatten im-
merhin noch die Möglichkeit in ein anderes deutschsprachiges Land zu wechseln.
Auch in Italien gab es diese Praxis, wie bei Romagnosi oder Rosmini. Mit den
Worten „wer emigriert spricht hohl ins Land“ hatte Ossietzky die Flucht ins Exil
abgelehnt und mit dem Leben bezahlt. In den Zeiten der losen Konföderation in
Deutschland und der völligen Unabhängigkeit der italienischen Teilstaaten schien
es ein Vorteil, wenn der Emigrant nicht hohl ins Land sprach und seine Lands-
leute noch direkt in seiner Zunge anreden konnte.
Eine Sonderform des Exils stellte die Flucht nach Frankreich bei Haller dar,
der durch seinen heimlichen Übertritt zum Katholizismus gegen Grundlagen der
Berner Politik verstoßen hatte, an der er leitenden Anteil gehabt hatte. Eine ori-
ginelle Form des Halbexils traf die Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie.
Die Sozialistengesetze zwangen publizistisch Engagierte wie Kautsky und Bern-
stein zur Emigration auf Zeit. Während es eine Reichstagsfraktion gab, konnten
Parteitage gleichwohl nur im Ausland gehalten werden. Die Repression erwies
sich als besonders unsinnig, weil sie zur Radikalisierung von Parteitagsdebatten
nicht wenig beigetragen hat. Rosa Luxemburg wurde im Februar 1914 wegen einer
antimilitaristischen Rede angeklagt. 1915 trat sie eine einjährige Gefängnisstrafe
an, 1916 – 1918 wurde sie in Schutzhaft genommen. Nach dem Spartakus-Aufstand
wurde sie im Januar 1919 von Freikorps-Soldaten ermordet, wie Karl Liebknecht,
Leo Jogiches, Hugo Haase, Gustav Landauer oder Kurt Eisner. Erich Mühsam
wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. Er kam 1934 im KZ um. Mit dem Aufkommen
des Kommunismus waren seine Exponenten wie Lenin, Luxemburg, Gramsci,
Korsch oder Lukács innerlich ständig auf der Flucht, selbst wenn sie nicht förm-
lich verbannt oder verurteilt worden waren.
Die bloße Verfolgungsdrohung hat Theoretiker der Politik im Exil gehalten,
selbst wenn dieses nicht mehr nötig schien – von Engels bis Ortega y Gasset. An-
340 Konklusion

dere Theoretiker – wie Michajlovskij – vermieden die Emigration, um den Kon-


takt mit ihrem Volk nicht zu verlieren. Das hatte freilich Abstriche von der Radi-
kalität ihres Werkes zur Folge.
In Italien richtete sich die Verfolgung gegen die Künder der italienischen Ein-
heit, welche die Staatlichkeit der Teilgebiete in Frage stellten. Gioberti musste
eine Weile nach Frankreich ausweichen, was seine Liebe zu diesem Land durch-
aus schmälerte. Mazzini und seine Anhänger wie Cattaneo und Ferrari wurden
in vielen italienischen Territorien verfolgt. Der österreichische Staat hat in sei-
nen italienischen Besitzungen die Künder der italienischen Einheit nicht geduldet.
Von Romagnosi bis Rosmini konnten sie nicht auf österreichischem Boden wei-
ter arbeiten. Malatesta war eine legendäre Figur, die rastlos gehetzt von London
bis Kairo und Buenos Aires umherirrte. Gramsci wurde erst im faschistischen Re-
gime verfolgt und musste zwei Jahre in Moskau überwintern, ehe er nach Ita-
lien zurückkehren konnte. Selbst das faschistische Regime hat mit alternden und
kranken Revolutionären gelegentlich Erbarmen gehabt. Malatesta wurde von 1926
bis zu seinem Tode von der Polizei überwacht, aber blieb unbehelligt. Gramsci
wurde als kranker Mann immerhin auf Bewährung freigelassen. Es kam nicht
mehr zum Rückzug in die Heimat Sardinien, weil er an den Folgen der langen
Haft starb.
Frankreich hat während der Revolutionszeit die Konservativen verfolgt und
ins Exil gezwungen. Davon war vor allem Bonald und Chateaubriand betrof-
fen. Viele dieser Konservativen kamen in der Zeit der Herrschaft Napoleons zu-
rück und versuchten ihre Güter wieder zu kaufen. Liberale Diktaturgegner, wie
Germaine de Staël waren in dieser Zeit unter den Emigranten zu finden. Un-
ter dem zweiten Empire mussten Linke wie Proudhon, aber auch Liberale wie
Prévost-Paradol ins Ausland fliehen.
Linke Regierungen waren in der Repressionspolitik nicht besser als Rechte,
wie Spanien unter Espartero zeigte. Sein Regime zwang den Konservativen Jaime
Balmes ins Exil. Donoso Cortés wählte auch im monarchischen System für eine
Weile das freiwillige Exil an der Seite der Königin-Mutter, was seiner späteren Kar-
riere durchaus zu Gute kommen sollte. Pi y Margall musste als republikanischer
Föderalist 1866 – 1869 nach Paris fliehen, nachdem mehrere Aufstände gescheitert
waren. So gemäßigte spanische Denker wie Unamuno und Ortega y Gasset haben
im 20. Jahrhundert noch Verbannung und Exil erlitten.
Die größten Emigrationswellen politischer Theoretiker hat naturgemäß das
autokratische Russland verursacht. Von Herzen und Ogarëv, über die Anarchis-
ten Bakunin, Tkačëv und Kropotkin, den Narodnik Lavrov, und die Marxisten
Plechanov, Lenin und Trockij hatten viele Denker nur die Alternative Verban-
nung oder Exil, und nicht selten haben sie beides nacheinander durchlaufen – von
Herzen und Bakunin bis zu Lenin und Stalin. Als die Leninisten an die Macht ka-
Politisches Engagement der Theoretiker der Politik 341

men, wurde die Exilierungspolitik des Ancien Regimes unter neuem Vorzeichen
weiter geführt, gegen Berdjaev, Bulgakov, Miljukov oder Struve. Berdjaev wurde
anfangs vom Regime noch in Ruhe gelassen. Aber 1922 war die Toleranzphase ge-
genüber den Intellektuellen und Künstlern, die sich geistig nicht unterwarfen, zu
Ende. Der Hass der Bolschewiki richtete sich insbesondere gegen Miljukov und
Struve. Beide hatten die „Konterrevolution“ unterstützt, Struve sogar als Außen-
minister der „weißen“ Wrangel-Regierung. Nur Berdjaev hielt sich fern von der
„Emigrantenpolitik“.
Die Verbannten, die Inhaftierten (selbst Hitler in Landsberg) und Emigrierten
bekamen manchmal stärkere Gelegenheit sich publizistisch zu profilieren. Blanc,
Gramsci, Bebel und Luxemburg haben wichtige Werke im Gefängnis verfasst. In-
sofern entwickelte die Exilierung und Inhaftierung gelegentlich positive Anreize
zur Theoriebildung. Selten war bei einem Revolutionär, dass er sich lange von der
Politik zurückzog, um wissenschaftliche Studien zu treiben, wie Landauer. Eine
russische Verbannung – wie sie Lenin und viele andere erlitten – erschien frei-
lich noch als ein gemächliches Leben im Vergleich zu der Depravation von Per-
son und Gesundheit, welche jahrelange Haft von Bakunin bis Gramsci bewirk-
ten. Nur Marx, Proudhon oder Herzen und Kropotkin haben die Zeiten des Exils
zur Schaffung unsterblicher wissenschaftlicher Werke benutzen zu können, Marx
nicht ohne die Hilfe des permanenten „Sponsors“ Engels. Revolutionäre Denker
haben andererseits in Zeiten der Freiheit und der aktiven Führungsrolle in der Be-
wegung häufig nur noch Tagespublizistik hervorgebracht. Rastlose Revoluzzer wie
Blanqui, Mazzini oder Bakunin und Tkačëv, die den Revolutionstourismus erst-
mals praktizierten, fanden hingegen eigentlich nie die Zeit zu einem ausgereiften
theoretischen Werk. Andere Denker, die darunter litten, dass sie von ihrer Kultur
abgeschnitten waren, wie Alexander Herzen, haben jedoch gerade unter den Be-
dingungen des Exils kein kohärentes Werk zustande gebracht. Tkačëv ist in der
Emigration dem Wahnsinn verfallen.
Die härteste Repression ist von vielen Systemen gegen die Kommunisten und
Anarchisten angewandt worden. Babeuf und Landauer wurden hingerichtet, Rosa
Luxemburg erlag einer rechtsextremistischen Lynchjustiz. Mühsam beging Selbst-
mord in der Festungshaft. Gramsci erlitt im Gefängnis unter dem faschistischen
Regime einen viel zu frühen Tod, da seine Gesundheit ruiniert wurde.

Patriotischer Überschwang im Verteidigungsfall

Wo die Statistik keine politischen Ämter vermerkt, heißt das nicht, dass kein po-
litisches Engagement der Theoretiker der Politik vorlag. Nur selten hat ein Theo-
retiker seine Partizipation gelangweilt absolviert, wie der russische Philosoph
342 Konklusion

Berdjaev, der in seinen Erinnerungen zugab, dass ihn auf einer Schwarzwald-
wanderung, bei der russische Intellektuelle über die Bildung einer liberalen po-
litischen Gruppe verhandelten, die Landschaft mehr fesselte als die politischen
Gespräche.
In Zeiten des Verteidigungsfalles konnten Theoretiker ihren Kriegsbeitrag
durch zivile Dienste anbieten, von Fichte bis Max Weber, und selbst Radikale wie
Alain zogen voller patriotischen Überschwanges in den Krieg, obwohl sie sonst
lehrten, dass man jeden Tag eine Barrikade errichten solle. Nicht wenige Theore-
tiker haben ihren Pazifismus im Konfliktfall vergessen. Mazzini bei der Verteidi-
gung von Rom, die von Garibaldi im revolutionären Triumvirat angestrebt wurde,
war eine rühmliche Ausnahme. Die Russen im Krimkrieg und gegen Japan 1904,
die Spanier im Krieg gegen die USA 1898, die Deutschen 1870/71 – selbst frühere
Radikale wie Ruge nicht ausgeschlossen – wurden im Krieg patriotisch-parteilich.
Ein großer Teil der sozialwissenschaftlichen Intelligenz aller europäischen Län-
der wurde im Ersten Weltkrieg, vom Kriegsfieber angesteckt, obwohl der Libera-
lismus von Kant und Constant bis Spencer die Obsoletheit des Krieges verkün-
det hatte. Aber unter den Wellen des neuen Irrationalismus seit Nietzsche und
Sorel gingen solche Einsichten wieder verloren. Das verwunderte nicht bei Vor-
läufern der „konservativen Revolution“ wie Barrès und Maurras in Frankreich.
Aber das Fieber der Kriegsverherrlichung steckte sogar den Spätliberalismus an,
etwa bei Naumann und Max Weber in Deutschland, oder Durkheim und Alain in
Frankreich. Selbst die gemäßigten Sozialisten wie den marxistischen Nestor Russ-
lands, Plechanov hatte das patriotische Fieber erfasst. Nicht nur Kommunisten
wie Lenin oder Rosa Luxemburg blieben konsequent in ihrem Pazifismus – we-
nigstens in dieser Konstellation des ersten Weltkrieges, sondern auch „Zentris-
ten“ wie Kautsky und „Revisionisten“ wie Bernstein. Der Pazifist Jaurès fiel dem
Kriegsfieber durch politischen Mord zum Opfer, aber sein einstiger revolutionärer
Gegner Jules Guesde saß im Kriegskabinett, Sidney Webb organisierte das „War
Emergency Committee“ und träumte vom Kriegssozialismus als ersten Schritt in
einen kommenden Sozialismus. Nur in neutralen Ländern konnten die Theore-
tiker sich abstrakt parteiisch verhalten, wie in Spanien. Die meisten Intellektu-
ellen waren auf Seiten der Westmächte, mit ein paar Abstrichen bei Baroja oder
Ortega y Gasset.

Theoretiker als „Verfassungsväter“

Eine Sonderform des politischen Engagements war die schönste Aufgabe, die dem
Theoretiker der Politik winkte: die Verfassunggebung. So mancher hat geträumt,
ein „Solon“ zu werden und Verfassungsprojekte lanciert, wie Rosmini 1848 in
Theorieentwicklung und Entwicklung der politischen Parteien 343

Italien. Constant ließ sich als früherer Napoleon-Gegner vom Diktator in den
Hundert Tagen umgarnen, und wirkte beim „Acte additionnel“ mit. Die revolu-
tionären Nationalversammlungen von 1789 ff, 1848/49 und 1918 arbeiteten an Ver-
fassungen, welche das Engagement von Theoretikern herausforderten: nach 1789
in der großen französischen Revolution bei Condorcet, Paine oder Sieyès, 1848
bei Tocqueville, Lamennais und Considérant in Frankreich, Dahlmann, Droysen
und Mohl in Deutschland, 1918 bei Friedrich Naumann, Hugo Preuß und Max
Weber zu Beginn der Weimarer Republik, Miljukov und andere nach der Februar-
Revolution 1917 in Russland, und Gentile im faschistischen Italien. Alle übrigen
Theoretiker, die nicht direkt politisch involviert waren, haben die Verfassungs-
arbeit meist mit Pro- und Contra-Argumenten lebhaft begleitet. In Deutschland
haben die Verfassungsdebatten in den Einzelstaaten die Theoretiker der Politik
zu Verfassungsschriften herausgefordert, von Hegel über Rotteck, Mohl, Stahl
oder Stein.

7 Theorieentwicklung und Entwicklung


der politischen Parteien

Politische Theorien gingen vielfach der Entwicklung politischer Parteien voraus.


Gründer von politischen Parteien oder Strömungen konnten sich immer auf ir-
gendeinen „Vorläufer“ berufen, auch wenn der Zusammenhang reichlich konstru-
iert wirkte. Die Geschichte der politischen Theorie kannte vielfach Parteiungen,
von den römischen „Klassenparteien“ bis zu den Religionsparteien der frühen
Neuzeit. Im Zeitalter der politischen Ideologien aber war es ein Novum, dass dau-
erhafte politische Lager mit einer relativ stabilen Ideologie entstanden, die ihre
Konflikte nicht mit Mitteln des Krieges oder des Bürgerkrieges austrugen, son-
dern innerhalb der Institutionen eines Verfassungssystems. Es hat den Realitäts-
gehalt und Pragmatismus politischer Theorien erhöht, dass ihre Schöpfer in ihre
Parteien eingebunden waren, und zwar in mehrfacher Hinsicht:

■ Selten waren Theoretiker der Politik faktisch das Haupt einer Partei.
■ Häufiger waren sie die Führung einer Faktion in ihrer Gruppierung in Parla-
ment und Regierung.
■ Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts – und nur in der ideologisch straffesten
Gruppierung der Sozialisten – entwickelten sich förmliche Parteiideologen im
Unterschied zur organisatorischen Führung der Partei.

Politische Theorie war im Zeitalter der Ideologien von den „windows of opportuni-
ties“ vorgeformt, die sich vor allem durch repräsentative Versammlungen auftaten.
Tabelle 7.2 Entwicklung der Parteienfamilien auf dem Weg zu Massenparteien bei Parlamentswahlen (1870 – 1950)
344

Frankreich Großbritannien Deutschland Italien

Lib. Kons. Soz. Lib. Kons. Soz. Lib. Kons. Soz. Lib. Kons. Soz.

70 76: 55,7 44,3 71: 76 71,3 28,7


77: 70,5 29,5 NL: 28,5 K. 21,7 –
L: 18,4 Z: 17,0
78:
NL: 23,1 K: 26,0 7,6
L: 33,6 Z: 23,1

80 81: 74,1 25,9 85: 49,0 44,0 – 81: 80:


85: 56,1 43,9 86: 45,0 51,5 – NL: 14,6 K: 23,8 6,1 41,5 38,5
89: 54,6 36,5 L: 23,2 Z: 23,2 20,0
87:
NL: 22,2 K: 25,0 10,1
L: 24,1 Z: 20,1

90 93: 16,8 8,5 92: 44,0 47,0 – 90: 95:


Rep: 68,2 95: 46,0 49,0 – NL: 16,3 K: 19,1 19,7 58,4 21,8 6,7
Lib: 6,5 L: 18,0 Z: 18,6 Rad: 11,7
98 12,8 9,6 98:
Rep: 44,4 NL: 12,5 K: 15,6 27,2
Lib: 6,9 L: 11,1 Z: 18,8

00 02 28,3 10,4 00: 46,5 51,0 – 03: 00:


Rep: 56,6 06: 55,0 44,0 – NL: 13,8 K: 13,5 31,7 52,3 21,4 13,0
Lib: 4,6 L: 9,3 Z: 19,7 Rad: 7,2 Kath: 3,4
06 29,3 10,0 07: 09: 54,5
Rep: 44,4 NL: 14,6 K: 13,4 28,9 Rad: 9,9 19,0
Lib: 14,0 L: 10,9 Z: 19,4 Rep: 4,5
Konklusion
10 10 20,9 17,4 10 12: 13:
Rep: 61,3 Jan: 43,0 47,0 6,0 NL: 13,6 K: 12,2 34,8 55,6 Kath: 4,3 S: 16,5
Lib: Dez: 44,0 46,0 7,0 L: 2,2 Z: 16,4 19:
14,0 15,6 16,9 18: 23,0 35,0 15,0 19: ML: 8,0 Kath: 21,0 S: 44,4
14 DVP: 4,4 DNVP: 10,3 SPD: 37,9 Rad: 29,6
Rep: 64,1 60,3 22,7 DDP 18,5 K: 2,1
19
Rad: 17,0

20 24 51,5 Soz.: 1,0 22: 29,0 39,0 29,5 20: 21:


Rad: 38,1 Kom.: 8,4 23: 29,5 38,0 30,5 13,9 15,1 SPD: 37,9 ML: 7,3 Kath: 21,2 S: 25,7
28 46,4 Soz.: 19,9 24: 18,0 47,0 33,0 8,3 Z: 13,6 K: 2,1 Rad: 10,5 Fasch: 0,5 K: 3,5
Rad: 22,1 Kom: 15,4 29: 23,5 38,0 37,0 28: 24:
8,7 DNVP: 14,2 SPD: 29,8 ML: 2,8 Kath: 9,1 S: 10,8
12,1 Z: 12,1 K: 13,1 Fasch: 66,5 K: 3,8

30 32 45,5 Soz: 21,6 31: 11,0 55,0 30,0 32 Juli: DNVP: SPD: 11,9 –
Rad: 24,5 Kom: 8,4 35: 6,5 54,0 37,5 1,2 8,3 K: 16,5
36 42,4 Soz: 19,9 1,0
Rad: 22,1 Kom: 15,4

40 45: 11,1 Kons: 13,3 Kom: 26,1 45: 9,0 40,0 48,0 49: 11,9 CDU: 31,0 SPD: 29,2 46:
MRP 24,9 Soz: 23,8 KPD: 5,7 L: 2,8 DC: 35,1 S: 20,7
46: 12,4 Kons: 14,8 Kom: 28,6 R: 4,4 Fasch: 5,3 K: 18,9
MRP 26,3 Soz: 17,9 48:
Theorieentwicklung und Entwicklung der politischen Parteien

L: 3,8 DC: 48,4 S/K:


R: 2,5 Fasch: 2,0 31,0

50 51: 10,0 Gaull.: 1,6 Kom: 25,9 50: 9,1 43,0 46,0 53: 9,5 CDU: 45,2 SPD: 28,8 53:
MRP 12,5 Soz: 14,5 KPD: 2,2 L: 3,0 DC: 40,4 S: 12,7
Extr.: 1,4 R: 1,6 Fasch: 5,8 K: 22,6

Quellen: D. Sternberger/B. Vogel (Hrsg.): Die Wahl der Parlamente und andere Staatsorgane. Berlin, Walter de Gruyter & Co. 1969, 2 Bde.; G. Schepis: Le consulta-
zioni popolari in Italia dal 1848 al 1957. Empoli, Cararinni 1958. Bei Jahrzehnten mit mehr als zwei Wahlen wurden die am meisten auseinanderliegenden Wahlen
nachgewiesen.
345
346 Konklusion

Dabei waren zwei Eckdaten von Bedeutung, die zugleich über die Kräfteverhält-
nisse der politischen Ideologien im System Auskunft gaben:

■ der Zeitpunkt der Parlamentarisierung des Regimes,


■ der Zeitpunkt der Gewährung des allgemeinen Wahlrechts.

Die beiden Daten lagen vielfach weit auseinander, besonders in Großbritannien.


Der Kampf um ein erweitertes Wahlrecht hat einen Teil der Energie der frühen
Theoretiker der Politik absorbiert. Liberale waren bis hin zu Mohl sehr oft gegen
ein allgemeines Wahlrecht oder hielten es erst nach einer gewissen Erziehungs-
frist für angemessen wie Mill. Gelegentlich haben demagogisch gesonnene Kon-
servative sich stärker dafür eingesetzt, solange sie hoffen konnten – wie Disraeli
oder Bismarck – dass die Devise „vote as you are told“ unter der vorwiegend länd-
lichen Bevölkerung noch befolgt wurde. Radikale und Sozialisten, gelegentlich
auch Christlich-Soziale, waren im 19. Jahrhundert die Promotoren des allgemei-
nen Wahlrechts. Aber auch unter sozialistischen Theoretikern, die am einmütigs-
ten für ein allgemeines Wahlrecht eintraten, ihm aber zugleich nur begrenzte Wir-
kungskraft zutrauten, gab es erstaunliche Gegnerschaften gegen das allgemeine
Wahlrecht, wie etwa bei Proudhon.
Das allgemeine Wahlrecht ist relativ spät erfochten worden. Nichts ist falscher
als Großbritannien die „Mutter der Demokratie“ zu nennen, solange man das all-
gemeine Wahlrecht als Minimalbedingung einer Demokratie anerkennt. Es war
nur die „Mutter der parlamentarischen Regierung“ – und die war durchaus auf
der Basis einer elitären Minderheit von Wahlberechtigten für das Parlament denk-
bar. Nur in Frankreich, Finnland und Norwegen entstand das allgemeine Män-
nerwahlrecht vor 1918. Das Frauenwahlrecht in Großbritannien (1928) und Frank-
reich (1946) lag noch später. Deutschland hatte seit 1871 (1866 im Norddeutschen
Bund) das allgemeine Wahlrecht, aber es blieb ziemlich folgenlos, da die Regie-
rung nicht vor 1918 von der Parlamentsmehrheit abhängig wurde.
Ein großer Teil der Debatten um die Gestaltung des politischen Systems ent-
stand unter außerordentlich restringiertem Wahlrecht (Großbritannien: 2.3 %
1830, Frankreich: 0,25 % 1815, Italien: 2.3 % 1871). Wenige Leser der politischen
Traktate jener Zeit machen sich klar, in welchem Elfenbeinturm des zensitären
Wahlrechts diese politischen Kontroversen ausgefochten worden sind.
Die Parlamentarisierung der konstitutionellen Systeme – auch unter Bedin-
gungen eines beschränkten Wahlrechts – ist von Liberalen und Radikalen, schon
früh auch von Christlich-Sozialen und Sozialistischen Parteien befürwortet wor-
den. Die Konservativen haben gelegentlich – wenn sie sich die Mehrheit erhoff-
ten, wie die Ultra-Royalisten in Frankreich ab 1821 – die Mehrheitsherrschaft
verfochten, solange es zum Kampf um die Macht kam, um sie wieder zu bekämp-
Theorieentwicklung und Entwicklung der politischen Parteien 347

fen, sowie ihnen das parlamentarische System erneut überflüssig erschien (z. B.
Chateaubriand).
Die Herrschaft der Parlamentsmehrheit war in Großbritannien seit 1688 mit
Rückschlägen entstanden, aber nicht vor 1835 endgültig gesichert. Sie bestand
in Frankreich überwiegend ab 1821 und 1830, 1848 und ab 1871, in Belgien ab ca.
1833. Es folgten parlamentarisierte Monarchien wie Italien (ab 1860), Spanien (ab
1876), Niederlande (ab 1868), Norwegen (ab 1884). Schweden (ab 1917), Deutsch-
land (ab 1918). Die Kritik am parlamentarischen System hat die zweite Hälfte des
19.  Jahrhunderts die Theorie der Politik stark absorbiert. Eine Minderheit der
Theoretiker wählte die Flucht in eine Diktatur (Barrès), eine größere Minder-
heit erwog eine Restauration eines stärker gewaltenteiligen Systems unter Beto-
nung der Prärogativen der Krone (Konservative in Italien oder Spanien), oder er-
wog die „Flucht nach vorn“ in die volle Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht
(Naumann, Max Weber) und/oder in den Imperialismus (einige Fabier in Groß-
britannien).

Die Rolle der Parteien hat sich im Zeitalter der Ideologien stark gewandelt:

■ Bis zum ersten Weltkrieg überwogen parlamentarische Honoratiorenparteien


ohne Massenbasis. Ausnahmen hat Ostrogorskij für die USA und Großbri-
tannien beschrieben. Auf dem Kontinent begannen sozialistische und
christliche Parteien zuerst, den Charakter einer sektoralen Massenpartei zu
entwickeln.
■ Ab 1918 mit der Gewährung des allgemeinen Männerwahlrechts in fast allen
Systemen und einer starken Ideologisierung der Politik angesichts der Pola-
risierung durch totalitäre und autoritäre Theorieangebote, entwickelten sich
die Massenparteien. Eine Reihe von Theoretikern dachte im Dunstkreis dieser
Massenparteien. Andere unabhängige Geister von Ortega y Gasset bis Jaspers
haben gerade diese Entwicklung stark kritisiert. Nur Ausnahmeerscheinungen
wie die Liberalen Naumann und Croce brachten das Kunststück fertig, als Kri-
tiker des Parteiensystems auf der abstrakten Stufe und zugleich als Parteifüh-
rer im Parlament aufzutreten.
■ Erst nach dem hier zugrundegelegten Zeitrahmen entstanden in den 50er Jah-
ren die entideologisierten Volksparteien. In dieser Ära hat sich das Verhältnis
der politischen Theoretiker zu den Parteien weitgehend wieder entspannt.

Die Ära der Massenparteien war am stärksten offen für die Ideologisierung der
politischen Theorie. In der Ära der Volksparteien wurde – vorschnell – das Ende
der Ideologien ausgerufen. Schon vor der Periode der Massenparteien begannen
sich die ideologischen Familien auszudifferenzieren:
348 Konklusion

1) Liberale und radikale Parteien haben in den verschiedenen Ländern eine unter-
schiedliche Rolle gespielt. (cf. Bd.1, Liberalismus.)
2) In katholischen oder in gemischt-konfessionellen Ländern hat ein offener oder
latenter Kulturkampf zwischen den gläubigen Katholiken und dem laizisti-
schen Staat zur Ausdifferenzierung von christlich-sozialen Bewegungen aus dem
konservativen Lager geführt (cf. Bd. 2, Konservatismus).
3) Die sozialistischen Parteien wurden vor allem durch Fraktionen in der Interna-
tionale auseinander dividiert (Bd. 3, Kap.VI).

Das Gewicht der Parteien und die Stärke der Theorie


in den ideologischen Familien

Die Entwicklung der Parteienfamilien in den sechs großen Ländern Europas, die
zu den „Großmächten der politischen Theorieproduktion“ gehörten, zeigt wenig
adäquate Kausalzusammenhänge zwischen der Stärke der Theorie und dem Ge-
wicht der Parteien im System.
Unmittelbar einleuchtend ist dies beim Anarchismus, der sowohl dem Parla-
mentarismus als auch der Organisationsform einer Partei von allen Ideologien
am feindlichsten gegenüberstand. Der Anarchismus war stark in Spanien, ohne
große Theorie hervorzubringen. Er war organisatorisch vergleichsweise stark in
Russland und hat hier die stärkste Theorieentwicklung hervorgebracht. Italien
stand in der Mitte. Im Süden war der Anarchismus nicht ohne Gewicht, und mit
Malatesta gab es eine Personalunion von theoretischem Propagandisten und un-
ermüdlichem Organisator. Nach dem Gewicht anarchistischer und anarchoider
Narodniki-Theorien zwischen 1848 und 1890 in Russland zu urteilen, hätte hier
eine Form des Anarchismus eigentlich an die Macht kommen müssen. Noch um
1900 konnte niemand ahnen, dass es ausgerechnet der Leninismus sein werde, der
die Chance zur Machtergreifung bekommen würde. Ohne das Versagen der an-
deren Parteien im ersten Weltkrieg wäre dieser Effekt auch schwerlich eingetreten.
Der Kommunismus als Partei war bis 1933 bzw. 1940 am stärksten in Deutsch-
land und Frankreich. Deutschland hatte eine gewichtige kommunistische Litera-
tur vorzuweisen, Frankreich hingegen nicht.
Bei den extremistischen Parteien war die Rückkopplung von Theorieentwick-
lung und politischer Führung am engsten. Vor allem unter den rechtsextremisti-
schen Theoretikern wären Hitler, Mussolini oder Primo de Rivera schwerlich in
eine Geschichte der politischen Theorien geraten, wenn ihre Programme und ihre
politischen Aktivitäten nicht relevant für eine an die Macht gekommene politi-
sche Bewegung geworden wären. Bei den Linksextremisten sah die Bilanz günsti-
ger aus. Lenin, Luxemburg oder Gramsci verdienten in jedem Fall einen Platz in
Theorieentwicklung und Entwicklung der politischen Parteien 349

Tabelle 7.3 Stellung der Theoretiker zu ihrer Partei

Liberalismus Konservatismus Sozialismus


Radikalismus Rechtsextremismus Kommunismus

Parteichefs oder opinion Robespierre


leaders im Parlament Royer-Collard
Guizot
Rotteck
Cavour
Minghetti
Croce Lassalle
Cánovas Mussolini Jaurès
Naumann Primo de Rivera Lenin
Miljukov Hitler Stalin

Führer von Faktionen in Paine (in Frankreich) Burke Babeuf


Parteien und politischer Sieyès Chateaubriand Blanqui
Gruppierungen Constant Donoso Cortés Blanc
Tocqueville Stahl Proudhon
Dahlmann Lamennais
Gioberti Pi y Margall

Parteiideologen Plechanov
Kautsky
Webb
Gentile
Gramsci

Programm- und Katechis- Lamennais Kautsky


mus-Schreiber Mazzini Landauer
Naumann Struve
Webb
350 Konklusion

der Geschichte des Denkens. Allenfalls Exponenten wie Stalin und Trockij hätte
man ohne die Machtentfaltung des kommunistischen Systems schwerlich in die
Reihe der Klassiker des politischen Denkens aufgenommen.
Die Parteienentwicklung des Konservatismus war quantitativ wenig auf-
schlussreich und konnte keinerlei Beziehung zur Stärke konservativer Theorie ha-
ben. In Deutschland vor allem mussten Konservative und Christdemokraten zu-
sammengezählt werden, um die Stärke des überwiegend konservativen Lagers zu
ermitteln. Der Konservatismus in seinen Schattierungen in der politischen Theo-
rie war noch stärker als der Niederschlag, den das konservative Denken und der
politische Katholizismus im Parteiensystem fanden. Am stärksten war die konser-
vative Partei in Großbritannien, wo sie in der Rechten weitgehend konkurrenzlos
blieb und wo die Stellung der beiden Lager durch ein relatives Mehrheitswahlrecht
institutionell abgesichert war. Angesichts der Hegemoniestellung war eine starke
Konservative kaum nötig. Aber auch die liberale Theorie in Großbritannien blieb
unterentwickelt, nachdem die großen Konflikte des Chartismus und Utilitarismus
einmal durchgestanden waren. Schon immer standen die Briten in dem Ruf, dass
sie ihr System trefflich zu praktizieren verstanden, aber die Analyse des Systems
lieber den Franzosen überließen.
Im sozialistischen Lager entsprach die Stärke der deutschen SPD der Stärke des
Beitrags zur politischen Theorie – nicht ohne eine einmalige organisatorische Ver-
knüpfung der beiden Bereiche, etwa in der Position des „Chefideologen“ Kautsky.
Andererseits ließen sich auch andere Formen einer solchen Verknüpfung denken.
Webb war allenfalls ein „would-be-Chefideologe“, meist ohne Auftrag von der
Partei. Dennoch hat das zivilgesellschaftliche Modell der Theorieproduktion in
der Fabian Society bedeutende Beiträge hervorgebracht, die dem vergleichsweise
liberalen und pluralistischen Modell der Organisation einer Arbeiterpartei ange-
messen schienen. In allen anderen Ländern war die sozialdemokratische Theorie
entweder zersplittert, wie in den Auseinandersetzungen von Jaurès und Guesde
in Frankreich, oder den Konflikten zwischen Labriola und Turati sichtbar wurde.
Oder sie blieb relativ kurzfristig relevant wie bei den legalen Marxisten in Russ-
land, wo die „politisch-taktischen Macher“ bald die Theoretiker marginalisierten.
Die Verknüpfungen von Theorieentwicklung und Stärke der Parteien in den
jeweiligen ideologischen Familien waren nie so eng wie seit 1789. Aber es gibt
keine parteiorganisatorische „Basis“, welche die Stärke der „Überbaus“ der Theo-
rieproduktion determinierte und umgekehrt: die Stärke des politischen Denken
hing von zahlreichen Faktoren des speziellen historischen Entwicklungswege
der Länder, ihres Bildungssystems und der sozialen Lage ihrer Intelligencija ab,
als dass sie von den organisierten Parteien hätte willkürlich manipulierbar wer-
den können.
Die Internationalisierung des politischen Denkens 351

8 Die Internationalisierung des politischen Denkens

Mit der französischen Revolution, die unter bestimmten Bedingungen Bürger-


rechte an Ausländer verlieh, kam es erstmals auch zur Internationalisierung der
Rezeptionsströme im politischen Denken. Es konnte die Vorstellung entstehen,
dass jeder Aufgeklärte zwei Vaterländer habe, das seine und Frankreich. Die fran-
zösische Nationalversammlung verlieh das französische Bürgerrecht an Schiller,
Klopstock, Pestalozzi und Thomas Paine. Das Urbild eines Revolutionstouristen
mit unterschiedlichen Loyalitäten in drei Ländern war Thomas Paine. Es ist kein
Zufall, dass er als Ahnherr des Gedankens der Internationale gefeiert worden ist
(J. Braunthal: Geschichte der Internationale. Berlin, Dietz, 1978, 3. Aufl.: Bd. 1: 19).
Drei Internationalen entwickelten sich nach dem Zerfall der Einheit der
Grundlagen des politischen Denkens, das auf gutes tugendhaftes Leben gerich-
tet schien:
1) Die radikal-jakobinische Internationale, die in ganz Europa ihre Proselyten
machte, auch ohne dass eine einheitliche Theorie dahinter stand. Der Liberalis-
mus erzeugte Rezeptionsströme, die ohne politischen Druck entstanden. In die-
ser Ideologie vollzog sich die Internationalisierung des Theoretisierens dem freien
Denken am gemäßesten. Englands Politische Ökonomie und Verfassungspraxis,
Frankreich Liberalismus und Doktrinarismus waren die einflussreichsten Strö-
mungen.
2) Eine konservative Internationale konnte es genau genommen nicht geben.
Aber die Heilige Allianz hat sich wie eine reaktionäre Internationale organisiert
und stützte sich notfalls auf Repression, wo die Propaganda der Publizisten des
Systems Metternich versagte. Nur der gemäßigte Konservatismus rekurrierte aus-
schließlich auf die eigenen Traditionen und war daher für Rezeption anderer Ge-
danken wenig empfänglich. Allenfalls die Strömungen des christlichen Konser-
vatismus – als Ultramontanismus verschrien – hatten Unterstützung durch das
geistliche Zentrum Roms außerhalb der Nationalstaaten. Aber der politische
Einfluss des Vatikans bröckelte im Zeitalter der sich konsolidierenden National-
staaten, die im Nationalismus ihre Ersatzreligion entwickelten. Der intellektuelle
Einfluss eines politischen Katholizismus war von den nationalen Sonderentwick-
lungen geprägt, wie Lamennais in Frankreich, Balmes in Spanien oder Gioberti in
Italien zeigten.
Erst als der Konservatismus und sein System in die Krise geriet und die Rechte
sich auf ein Denken in den Bahnen der konservativen Revolution zu bewegte, kam
es zu nicht organisierten Rezeptionen. Keine politische Macht stand mehr hin-
ter dem Nietzscheanismus, sondern nur noch äquivalentes vitalistisches Lebens-
gefühl. Nicht einmal der Faschismus hat es zu mehr als einer „Antikomintern“
352 Konklusion

gebracht. Bemühungen um eine faschistische Internationale blieben Träume ein-


zelner Intellektueller.
3) Die eigentliche Internationale wurde vom Sozialismus organisiert. Der So-
zialismus und der Kommunismus waren am stärksten auf Internationalismus
ausgerichtet. Wenn die erste und die zweite Internationale auch Foren perma-
nenter Fraktionskämpfe wurden, so blieben sie doch wenigstens Vehikel des
Theorietransfers. In der ersten Internationale vor allem für den Proudhonismus
und  den Anarchismus, in der zweiten Internationale für den Marxismus einer-
seits und den revisionistischen Labourismus oder Sozialdemokratismus anderer-
seits. Nur das sozialistische Lager konnte sich in etwa auf einen Kanon gewichtiger
Schriften zur politischen Theorie einigen. Die Internationalisierung des Theo-
rietransfers machte beispiellose Fortschritte.

9 Das Ende der Ideologien ?

Der Titel „Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien 1789 – 1945“ (v. Beyme
2002) sollte nicht unterstellen, dass es nur in diesem Zeitraum Ideologien gegeben
habe. Dieser Zeitraum ist lediglich durch die besondere Intensität gekennzeich-
net, mit der Ideologien in Bewegungen und Parteien handlungsanleitend wur-
den. Immer wenn die Ideologien nach 1945 totgesagt worden sind, tauchten neue
auf. Nicht nur jene, die von Ideologiekritikern „entlarvt“ wurden, wie das techno-
kratische Denken einer angeblich wertfreien Wissenschaft. Es tauchten auch neue
Denksysteme auf, die den Ideologievorwurf nicht scheuten, wie der Ökologismus,
der Feminismus oder der religiöse Fundamentalismus in verschiedenen Kulturen.
Mit den Grünen etablierte sich eine Gruppe, die schwer in das klassische Rechts-
Links-Schema einzuordnen war – etwa im Sinne von Cem Özdemir, einem Vor-
sitzenden der Grünen, der in einem Interview bekannte: „für mich ist grün links,
liberal und wertkonservativ“ (U. Kienzle und die siebzehn Schwaben. Stuttgart,
Sagas 2012: 251).
Im Kampf gegen totalitäre und autoritäre Ideologien haben auch die her-
kömmlichen drei ideologischen Lager sich modernisiert und verwissenschaft-
licht, zur Stärkung ihrer Abwehrkraft jedoch ebenfalls Ideologiebildung betrieben,
wie der Ordo-Liberalismus oder der demokratische Sozialismus. Als der Kommu-
nismus erodierte wurde der Neoliberalismus für eine Weile zu einer dominanten
Richtung sowohl unter Konservativen wie unter Liberalen.
Der Neokonservatismus nach 1945 zivilisierte manche Theoriestücke der „kon-
servativen Revolution“. Er blieb laizistisch, republikanisch, technik-freundlich
und gab die antikapitalistische Attitüde endgültig auf. Das technokratische Den-
ken entmilitarisierte sich und verband sich mit modernen Wirtschaftstheorien.
Literatur zur Theorieentwicklung in den wichtigsten europäischen Ländern 353

Der Neomarxismus und Varianten eines kulturellen Marxismus entwickelten


neue originelle Ideen und wurden zur geistigen Munition politischer Gruppen.
Nach dem Abflauen der 68er Bewegung hörten die Ideologien auf, Kraftquelle
von militanten Kreuzzugsheeren zu sein. Sie gingen mannigfaltige Symbiosen mit
einer empirischen politischen Theorie ein. Die Kurzschlüssigkeit von Praxisbe-
griffen wich einer distanzierteren sozialen Analyse, die nicht mehr auf politischen
Aktionismus drängte.
Postmoderne Theorien erklärten die großen Erzählungen der Ideologien für
überholt. Fragmentiertes Denken war weniger geeignet, Richtschnur ideologi-
schen Handelns zu werden. Nach der Erosion der großen Ideologien hat die poli-
tische Theorie vielfach an normativem Gehalt verloren. Sie kam der empirischen
Seinsbeschreibung verdächtig nahe, wie die Debatte zwischen Liberalen (im ame-
rikanischen Sinne) und Kommunitaristen um Gerechtigkeit, deliberative Demo-
kratie oder Zivilgesellschaft zeigte. Die Entideologisierung drohte sich tot zu sie-
gen. Mit den sozialen Verwerfungen der Globalisierung und den Folgen eines
dominanten Neoliberalismus ohne Gegengewicht ist nicht auszuschließen, dass
neue Wellen ideologisierter Proteste eine Renaissance erfahren. Sie werden ver-
mutlich aber weniger holistisch sein als die hier beschriebenen. „The end of ideo-
logy“ könnte sich als Traum erweisen - und vielleicht nicht einmal als ein schöner.

Literatur zur Theorieentwicklung


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