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D IESES E -B OOK IST NICHT ZUM V ERKAUF BESTIMMT !

Befohlenes Dasein

TERRA - Utopische Romane


Band 135

von J.E. WELLS

Diese e-Book besteht zu 100% aus chlorfrei gebleichten, recyclebaren, glücklichen Elektronen.
Befohlenes Dasein 4

Wir diskutieren ...

Die Seite für unsere TERRA Leser

Liebe TERRA-Freunde!

Man schreibt die ferne Zukunft, als Kan Kamana, der berühmte Wissenschaftler vom Kidor, dem
Zentralplaneten der Galaktischen Union, ein Gerät entwickelt, das das andere Ich hypnotisierter
Personen in jeder gewünschten Zeit und an jedem gewünschten Ort substantiell werden läßt.
Zweifellos ist dies eine Erfindung, die der Wissenschaft und Forschung unschätzbare Dienste lei-
sten kann — doch wie so oft in der menschlichen Geschichte finden sich auch diesmal Elemente,
die das Neue sofort ihren eigensüchtigen und verbrecherischen Zwecken dienstbar zu machen su-
chen...
Soviel als Einleitung zu BEFOHLENES DASEIN, unserem heutigen TERRA-Band, der von J.
E. Wells, dem für seine ganz eigene Art des Fabulierens bekannten deutschen utopischen Autor,
geschrieben wurde.
In der nächsten Woche erscheint der K. H. Scheer-Roman ÜBER UNS DAS NICHTS. Da der
Roman durch seinen Haupthelden Gesko Speed mit Band 28: DIE LANGE REISE zusammen-
hängt, dürfte er ganz besonders jene vielen langjährigen TERRA-Freunde erfreuen, die Band 28
seinerzeit in der Umfrage als den bisher besten bezeichneten.
Und nun noch eine freudige Mitteilung an alle eifrigen Sammler, die wir bislang immer auf einen
späteren Zeitpunkt vertrösten mußten, wenn sie ihrer Sammlung den richtigen Rahmen geben woll-
ten: Jetzt ist es soweit! Seit mehreren Wochen sind sehr gut aussehende Sammelmappen aus Ganz-
leinen für jeweils 12 TERRA-Bände zum Preise von DM 2.40 im Zeitschriftenhandel erhältlich.
Sollte Ihr Zeitschriftenhändler diese Mappen noch nicht oder nicht mehr vorrätig haben, so erfolgt
bei Direktbestellung und Voreinsendung des Betrages in Briefmarken oder Überweisung auf das
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Ihre
TERRA-REDAKTION
Günter M. Schelwokat
5 TERRA
Befohlenes Dasein 6

Wenn man sich’s recht besieht, ist Kan Kamana ein der zerstörten Städte und Landschaften wucherte üppi-
alter Mann. Doch man darf auf dem Kidor, einem Pla- ger Wohlstand. Die weise Nutzung der Naturproduk-
neten im System des Beta Centauri, der großen Sonne te, ein gesunder sozialer Instinkt und der tiefe Wunsch
im Sternbild des Zentaur, nicht nach irdischen Maß- nach Frieden und Erneuerung waren die besten Weg-
stäben rechnen. Denn ein Umlauf des Kidor um seine bereiter für den zivilisatorischen und kulturellen Auf-
Sonne nimmt die dreifache Zeit in Anspruch, die Ter- schwung der in der „Union“ vereinigten Planeten, und
ra für einen Umlauf um Sol benötigt. Dreißig solcher es ist bedeutsam zu erfahren, daß es ausgerechnet der
Umläufe hat Kan Kamana schon erlebt, so daß er nach Planet Kidor war, der die Initiative zu diesem großar-
den Maßstäben des Kidor wohl dreißig Jahre, nach un- tigen Friedenswerk ergriff. So ist auch der Kidor der
seren Maßstäben aber schon neunzig Jahre alt ist. dauernde Sitz der Weltregierung geworden. Weltpar-
So sieht er bei Gott nicht aus. Sein hochglänzen- lament, Weltpräsident, alle größeren galaktischen Or-
des, poliertes schwarzes Haar läßt in ihm einen Vier- ganisationen — das alles befindet sich in Kidora, der
ziger vermuten, einen Mann im besten Mannesalter, Hauptstadt dieses Planeten.
zäh und energisch und vital. Seine Stirn ist hoch, und Wir vermeinen es unseren geschätzten Lesern
das ist auch im Zentaur-System ein Zeichen von In- schuldig zu sein, obige Erklärungen einzuflechten, da-
telligenz. Wer aber wollte leugnen, daß Kan Kamana mit sie sich wenigstens eine ungefähre Vorstellung je-
nicht intelligent sei? ner Welt machen können, in die wir sie durch unse-
Intelligenz auf dem Kidor — das will schon einiges re Erzählung einzuführen versuchen. Denn trotz aller
heißen. Denn im gleichen Zeitalter, in dem man auf Zerstörung und allen Ungemaches steht die Zeit nicht
Terra das Jahr 8000 schreibt, blickt der Kidor schon still, und der Geist des Menschen drängt nach neuem
auf eine geschichtliche Vergangenheit von 50000 Jah- Ablauf, Auch ein Krieg — mag er auch noch so ver-
ren zurück. Was das aber bei einem intelligenten und heerend sein — kann nicht Verhindern, daß sich das
aufgeschlossenen Volk bedeutet, kann nur derjenige Wissen behauptet und erhalten bleibt. Und auf dem al-
ermessen, der mit einer Raumscheibe der GFG — der ten Wissen baut sich das neue auf und streckt wie ein
Galaxis-Fluggesellschaft — in diesen entfernten Win- Baum seine Äste nach allen Seiten. Die Krone dieses
kel des Zentaur-Systems geflogen ist. Das aber ist — Baumes aber ist die neue Erkenntnis, ist die neue Er-
da wir Erdenmenschen gewöhnt sind, Maße und Ent- findung, die den Fortschritt bedingt.
fernungen von unserem eigenen Standpunkt aus ab- Wir begannen unsere Erzählung mit Kan Kama-
zuschätzen — eine beachtliche Zahl von Kilometern. na, einem der berühmtesten Forscher des galaktischen
Rund 2500 Billionen Kilometer von Terra entfernt, Raumes. Er hat sich mit seinen Forschungen auf Ge-
das sind — rund gerechnet — 250 Lichtjahre, das biete vorgewagt, die man in früheren Zeiten mit dem
ist selbst für die an astronomische Zahlen gewöhnten Ausdruck „Metapsyche“ und „Metaphysik“ bezeich-
Bewohner der Galaxis eine beachtliche Entfernung. nete. Es ist Wissensstoff, der in den Bereich der
Und während der Terra am nächsten liegende „Fix- Schwarzen Kunst gehört und tief in die Geheimnisse
stern“ nur etwas über vier Lichtjahre entfernt ist — der Natur eindringt.
ein „Katzensprung“ für ein gutes Raumschiff —, be-
findet sich das dem Kidor nächstgelegene Sonnensy- Die Beschäftigung mit solchen Dingen gehört nicht
stem, das Gebiet der Sonne Kees, rund 29 Lichtjahre mehr zu den verwunderlichen Dingen. Hypnose, Sug-
von Kidor entfernt. Diese Abgeschlossenheit brachte gestion, Telepathie sind längst keine verschleierten
es mit sich, daß Kidor im Verlauf des vor 2000 irdi- Angelegenheiten mehr, sondern man hat sie wissen-
schen Jahren stattgefundenen „Großen Galaktischen schaftlich seziert und ihre Ursachen erkannt. Seitdem
Krieges“ ziemlich unbehelligt blieb. man sich des telepathischen Fluges bedient, mit Hil-
fe dessen man in Sekunden Entfernungen von mehr
Der „Große Galaktische Krieg“ entstand — wie so
als tausend Lichtjahren zurücklegen kann —, seit die-
viele Kriege — ohne triftigen Anlaß. Vielleicht war es
ser Zeit ist auch die Parapsychologie wieder zum Aus-
der seit Hunderttausenden von Jahren aufgespeicherte
gangspunkt vieler — zum Teil phantastischer — For-
Kräfteüberschuß der in der Galaxis befindlichen Le-
schungen geworden.
bewesen, der diesen Kampf aller gegen alle zur Aus-
lösung brachte. Niemand vermag es heute mehr zu sa- In solchen Fällen aber, da die Wirklichkeit der Phy-
gen. Nach irdischer Zeitrechnung dauerte dieser Krieg sik mit der Unwirklichkeit der Psyche zusammenstößt,
länger als 600 Jahre, und er wurde grausam und oh- gibt es sensationelle Fusionen, die in ihren Auswir-
ne jede Rücksicht geführt. Es waren die Geburtswe- kungen auch nicht annähernd voraus zu berechnen
hen einer neuen Zeit. Denn aus Blut und Tränen ent- sind.
stand jenes herrliche Gebilde, das man die „Galak- Kan Kamana, der junge Alte, hat nicht aufs Gera-
tische Union“ nennt, die Vereinigung sämtlicher am tewohl experimentiert, sondern ist von feststehenden
Krieg beteiligten Planeten zu einem einzigen großen Tatsachen und Erkenntnissen ausgegangen. Sein Hirn
Reich, das von einem interplanetarischen Gremium ist angefüllt mit Formeln. Was aber noch wichtiger ist:
hochintelligenter Männer regiert wird. er kennt diese Formeln und ihre. Anwendung, er weiß
Handel und Wandel entstanden. Aus den Trümmern mit ihnen umzugehen, und er hat dabei seine festen
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Pläne. Diese Pläne aber sollen der Wissenschaft die- der nicht allzuviel auszusagen vermag. Diesem Film
nen. Sie sind so phantastisch, daß man für sie vor ei- fehlt das Individuelle, ihm fehlt das nahe Erleben. Bei
nigen tausend Jahren nur ein geringschätziges Kopf- dieser Feststellung aber zeigt sich der Geist Kan Ka-
schütteln übrig gehabt haben würde. Denn Kan Ka- manas in seiner wahren Größe. Die Vergangenheit —
mana, der Forscher des Kidor, beabsichtigt nichts an- also die entschwundene, entflohene, entronnene Zeit
deres, als... — wieder einzuholen und bildlich festzuhalten, ist ei-
Nein, man kann das nicht so einfach als gegebe- ne rein technische Angelegenheit, die nach bekannten
ne Tatsache hinnehmen. Man muß einige einleitende Grundsätzen und Formeln in die Wirklichkeit umge-
Worte dazu sagen. setzt werden kann. Wie aber kann man sich rein kör-
Auch in der Jetztzeit, in der Kan Kamana seine perlich — und nicht nur anschaulich — in jene Zeit
welterschütternden Versuche macht, gibt es noch jene versetzen, wie kann man mit den damaligen Menschen
einfachen Fragen, um deren Lösung sich schon Billio- sprechen, mit ihnen zusammenleben, kurz — wie kann
nen Menschen die Köpfe zerbrachen. Wie entstand der man sein Dasein aus der Gegenwart in die Vergangen-
unendliche Raum? Wer schuf das erste Leben? Gibt es heit verlegen?
ein Perpetuum mobile? Lange, lange Zeit trug Kan Kamana dieses absur-
Das klingt alles so einfach, fast primitiv, und es ist de Problem mit sich herum, kombinierte, überlegte,
doch so unsagbar schwer. Ist es doch fast unmöglich, verwarf... Er verirrte sich dabei aufs Gebiet des Un-
festzustellen, wie ungezählte Tausende von Planeten wahrscheinlichen, er zog jene Erkenntnisse zu Rate,
vor dem „Großen Galaktischen Krieg“ ausgesehen ha- die man im parapsychologischen Sektor gefunden hat-
ben, und wie sich das Leben auf ihnen abgespielt hat. te, er arbeitete mit in Materie verwandelten Gedanken-
Denn alle Spuren sind vernichtet, und alles, was da- Elektronen, er versuchte es mit Motilitäts-Elektronen
mals bestand, ist zu Staub und Asche zerfallen. und Impuls-Elektronen, er baute Stein auf Stein dieses
Von diesen Überlegungen ging Kan Kamana aus, komplizierten Gebäudes auf, so lange, bis es stand.
als er sich ans Werk begab, die Vergangenheit zu ent- Bis es stand.
decken. Wie wollte er das machen? Durch das Suchen
von Aufzeichnungen — oder gar durch Ausgrabun- Wer kann ermessen, was das bedeutet? Wer kann
gen? Weit gefehlt! Er überlegte folgendes: Die Ver- es auch nur ahnen? War die Erfindung Kan Kamanas
gangenheit ist ein Zeitbegriff. Da aber bewiesen ist, ein Zufallstreffer? Ja und nein, es war die Auswertung
daß der Zeitbegriff nur ein Relativum ist, und ferner- eines ungeheuren Wissens, aber es war auch die Ver-
hin, daß Zeit und Raum identisch sind, so ergab sich wirklichung von Ahnungen, die ein Leben lang in ihm
von selbst die Tatsache, daß die Vergangenheit auch schlummerten.
ein räumlicher Begriff sei. Diese Erkenntnis war un- Die Maschine war da. Antonio Stia, sein langjähri-
geheuer wichtig, denn wäre er noch von den veralteten ger treuer Mitarbeiter, war der einzige Mensch, dem er
Theorien des Zeitbegriffes ausgegangen, so wäre ihm das Geheimnis anvertrauen konnte. Und Stia hatte den
wohl kaum das gelungen, was ihm vorschwebte. Denn Mut, sich als Versuchsperson zur Verfügung zu stel-
die Zeit steht nicht still, sondern sie bewegt sich, sie len. Und vielleicht war sich Stia zu Beginn noch gar
entrinnt, kaum daß sie erschienen. Wer es aber vermag nicht der Tragweite dieses Testes bewußt. Seelenruhig
— so überlegte Kamana weiter —, die Zeit zu materia- ließ er sich von der Maschine hypnotisieren...
lisieren, wie man ja auch den Gedanken oder das Licht
materialisierte, wer es also vermag, die Zeit faßbar und Eine Maschine, die hypnotisiert? Es ist kein Irr-
sichtbar zu machen, der hat auch die Möglichkeit, sie tum und keine Falschmeldung. Kan Kamana, der das
einzufangen, ihr entgegenzueilen oder sie zu überho- Wesen der Hypnose — nämlich die Übertragung von
len. Kan Kamana bewies, daß die Zeit ein Produkt aus Gedanken-Elektronen auf ein anderes Lebewesen —
Raum und Bild ist, noch schärfer definiert: aus Raum erkannt hat, überließ diese Anstrengung jetzt einer von
und Licht. Denn was ist ein Bild anderes als die kon- ihm konstruierten, komplizierten Maschinerie, die mit
trollierte Zusammensetzung sichtbarer Photonen. mehr als hundertfacher Verstärkung arbeitete. Hypno-
se in zwei Sekunden... Die Maschine warf Bündel von
Man darf für die Überlegungen des Kidor-Gelehrten
Elektronenstrahlen auf die Versuchsperson, die sofort
nicht das Allgemeinwissen oder den Verstand norma-
in tiefe Bewußtlosigkeit hinüberglitt. Dann aber ge-
ler Menschen voraussetzen. Hier arbeitet und denkt
schah das Furchtbare, Einmalige, Unerhörte...
ein Mann, der seinen Zeitgenossen weit voraus und
turmhoch überlegen ist. Kan Kamana stellt selbst zu Wir wollen nicht vorgreifen. Wir wollen versuchen,
seiner Zeit eine einmalige Ausnahme dar. Die Vergan- den Ablauf der Ereignisse so zu schildern, wie er sich
genheit entdecken — das soll nicht mehr und nicht we- tatsächlich zeigte. Und wir wollen dabei bedenken,
niger heißen, als die Vergangenheit einzuholen und zu daß wir uns auf einem fernen Planeten befinden, des-
überholen. Doch Kamana hat sich seine Aufgabe nicht sen technische Entwicklung weit, weit in die Vergan-
leicht gemacht. Wenn es ihm auch gelänge, das äußere genheit zurückreicht. Nur unter solchen Umständen
Bild der Vergangenheit rein äußerlich zu erfassen, so war es überhaupt möglich, ein solches Problem in An-
ist es doch immer nur ein Filmstreifen, der abrollt und griff zu nehmen.
Befohlenes Dasein 8

Nur eines hat sich auch im Lauf der Zehntausen- Ira Tarwi lehnt sich zurück und lächelt zur Zimmer-
de von Jahren nicht geändert: der Charakter des Men- decke empor.
schen. Dieser kennt noch immer den Unterschied zwi- „Sie sind ein bezaubernder Mann, Kan Kamana“,
schen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht, antwortet sie mit ihrer dunkelgefärbten Stimme. „Und
zwischen Moral und Unmoral. Und das wird wohl ich bin nur eine neugierige Frau ohne Bildung und
auch immer so bleiben. Wissen. Ich stehle Ihnen die Zeit, Professor.“
Kidora — so heißt die Hauptstadt des Planeten Ki- „Man kann nichts stehlen, was gar nicht existiert“,
dor. Sie ist das sagenhafte Zentrum des Riesenreiches philosophiert Kan Kamana.
der Galaktischen Union. „Wer wollte in Ihrer Gegenwart an die Zeit denken,
Die Stadt, die ausschließlich aus Gebäuden be- Ira Tarwi?“
steht, die zur Regierung und Verwaltung der Galak- „Sie sind ein Schmeichler, Kan Kamana. Ich hätte
tischen Union gehören, hat einen Durchmesser von eine solche Sprache nicht von Ihnen erwartet. Haben
rund 20 Kilometern. Daran schließt sich ein Grüngür- Sie sich nicht der Wissenschaft verschrieben? Das ge-
tel von weiteren 20 Kilometern an, auf dem die nied- waltige Reich der Galaktischen Union betrachtet Sie
rigen, luxuriösen Bungalows prominenter Persönlich- als eine seiner geistigen Stützen, Ihr Leben ist erfüllt
keiten stehen. Breite, aus buntfarbigem Hartglas ge- vom Ruhm des Erfolges, und Ihre Zukunft ist be-
baute Straßen durchziehen sowohl die Innenstadt als stimmt für Ehre und Unsterblichkeit. Es war für mich
auch die Vorstädte. An den Seiten sind Radarstrah- ein beglückendes Gefühl, von Ihnen in Ihr Haus ein-
ler angebracht, die ein Abgleiten der durch Photo- geladen zu werden. Wie sollte ich einer solchen Einla-
nen angetriebenen Schnellwagen verhindern. Außer- dung Folge leisten ohne das brennende Interesse, nicht
dem ist jeder Schnellwagen noch mit einer unsicht- nur den Mann, sondern auch sein Werk kennenzuler-
baren Strahlenwand derartig abgesichert, daß er mit nen. Ich gestehe Ihnen ohne Scham, daß ich eine Un-
keinem anderen Fahrzeug zusammenstoßen kann. Das wissende bin und daß mein Geist nicht ausreicht, die
alles funktioniert vollautomatisch. Jede Richtungsän- Größe Ihrer Erfindung zu begreifen.“
derung wird telepathisch bewirkt. Der Fahrer gibt den „Sie sollen diese Erfindung begreifen, Ira Tarwi“,
gedanklichen Befehl, der durch das im Wagen be- entgegnet er rasch. „Sie sollen als einer der ersten
findliche Elektronenhirn sofort aufgenommen und in Menschen jenen Blick in die Vergangenheit tun, und
Bruchteilen von Sekunden ausgeführt wird. nicht nur das, sondern noch viel mehr: Sie sollen sich
Aber wir wollen nicht länger bei den technischen selbst in dieser Vergangenheit bewegen.“
Errungenschaften der Neuzeit verweilen, denn wir Sie hat die Arme im Nacken verschränkt.
kämen sonst überhaupt nicht dazu, uns mit dem Ab- „Ich fürchte mich, Kan Kamana“, sagt sie mit ihrer
lauf der Ereignisse zu beschäftigen. einschmeichelnden Stimme.
Ganz am Rand der Vorstädte, auf einer Anhöhe, von „Ich werde über Sie wachen und Sie ständig im Au-
der aus man einen herrlichen Rundblick auf die weiß- ge behalten, o schönste aller Frauen des Kidor. Doch
blitzende Riesenstadt genießen kann, steht ein von ho- sollen Sie die Reise in die jenseitige Zeit nicht un-
hen Blütenbüschen umschlossenes Gebäude. Kleine vorbereitet antreten. Sie werden vorher einen Blick in
Durchlässe führen zum plattenbelegten Vorplatz des meine geschichtliche Bibliothek werfen. In diesen Bü-
Bungalows. Gläserne Türen gestatten einen Blick ins chern sind sämtliche geschichtlichen Ereignisse der
Innere des Hauses, das eine Fortsetzung des Gartens uns erreichbaren Planeten aufgezeichnet, soweit sie
darzustellen scheint. uns nach dem Großen Galaktischen Krieg noch be-
kannt sind. Das Inhaltsverzeichnis allein umfaßt zehn
Kan Kamana hat die Beine bequem übereinander-
dicke Bände. Es ist nicht nur nach den Ereignissen ge-
geschlagen und widmet sich eifrig der Führung eines
ordnet, sondern auch nach Zeiten und Impulsen.“
Gespräches. Doch dieser Eifer ist verständlich, wenn
Er erhebt sich und geht durch den blumenduften-
man sich seinen Gesprächspartner betrachtet.
den Hauptraum voraus. Durch eine Tür gelangen sie
Dieser Gesprächspartner ist eine Frau von einmali- in einen Flur, von dem aus eine Treppe nach unten
ger Schönheit. führt. Kühle Luft schlägt ihnen entgegen. Als sie un-
Mit verbindlicher Geste beugt sich Kan Kamana, ten angekommen sind, stehen sie vor einer mit Zink
der berühmte Erfinder, über den niedrigen Tisch, der ausgeschlagenen Tür. Kan Kamana bleibt vor der Tür
sich zwischen ihm und seiner Gesprächspartnerin be- stehen und spricht ein Losungswort. Sofort setzt sich
findet. der Medianismus der Tür in Bewegung.
„Es ist mir ein beglückendes Gefühl, Sie in meinem Der Raum, den sie betreten haben, ist trocken und
Haus zu sehen, Ira Tarwi“, sagt der noch jugendlich kalt. Bis zur Milchglasdecke wird der Raum von Re-
aussehende, schwarzhaarige Kan Kamana, und man galen durchzogen, auf denen dicke Bücher stehen.
sieht es ihm an, daß er die Wahrheit spricht. „Ich hof- „So, und nun suchen Sie sich etwas heraus“, sagt
fe, daß sich unsere Bekanntschaft noch vertiefen wird. Kamana. „Was interessiert Sie am meisten? Auf wel-
Sprechen Sie Ihre Wünsche aus, Gnädigste! Es soll chen Planeten wollen Sie, Ira? In welche Zeit der Ver-
nichts geben, was Ihnen versagt sein soll.“ gangenheit?“
9 TERRA

Ira Tarwi spielt mit den Zähnen an der Unterlippe. „Ich werde es Ihnen sogleich zeigen, Ira. Ich stelle
Sie überlegt. jetzt die Position, die Sie wünschen, genau ein.“
„Besitzen Sie auch Bilder — Abbildungen?“ „So“, meinte er abschließend, „jetzt haben wir das
„Aber ja, genug. Aus welchem Gebiet wollen Sie gewünschte Bild. Wollen Sie die Güte haben, sich
diese haben?“ selbst zu überzeugen?“
„Sagen wir — einen Kurort, ein Seebad — ein we- Ira Tarwi tritt vor das Okular und wirft einen Blick
nig mondän, aber gegenüber unserer Zeit etwas rück- hindurch. Lange Zeit steht sie da, ohne sich zu rüh-
ständig.“ ren. Endlich wendet sie mit einem tiefen Atemzug den
„Also eben die Vergangenheit“, lächelt der gute Kopf.
Psychologe Kan Kamana. „Sie sind ein großer Meister, Kan Kamana. Und das
Er sucht in der peinlich genau geordneten Biblio- ist nun Ihre Erfindung?“
thek einen Bildband des gewünschten Genres: den „Ja“, nickt er mit schmalen Augen, „das ist meine
Strym im Gebiet des Antares. Als Ira den Bildband Erfindung. Ich habe die von dem Planeten forteilenden
durchblättert, stößt sie einen Ruf des Entzückens aus. Bildphotonen wieder eingeholt und sichtbar gemacht.
„O wie schön! Und das soll ich jetzt alles sehen?“ Genau genommen ist das keine allzu erschütternde Er-
„Kommen Sie. Wir wollen uns zur Maschine bege- findung, zumal wir ja das Wesen und den Ursprung der
ben.“ Photonen schon seit Jahrtausenden genauestens ken-
nen. Wollen Sie einen der auf dem Bildschirm befind-
Er öffnet mit Hilfe eines neuen Kennwortes eine an-
lichen Menschen aus nächster Nähe sehen? Dann ta-
dere Tür, eine schwere dicke Betontür, die geräuschlos
sten Sie sich bitte mit Hilfe dieses kleinen Handrades
zur Seite rollt und in der hohlen Wand verschwindet.
näher heran.“
Dann betreten sie einen mit Teppichen ausgelegten,
Er greift über ihre Schulter hinweg und führt ihre
durch Atomkapseln geheizten Kellerraum.
schmale Hand zu dem Handrad.
Die rechte Wand des wohl sieben Meter langen
Sie hat gesehen, was sie zu sehen wünschte. Schon
Raumes wird von einer ungeheuren Maschinerie be-
nach verhältnismäßig kurzer Zeit tritt sie zurück.
herrscht. Ein grünes Riesenauge bildet des Zentrum
dieses komplizierten Mechanismus, der nach vorn völ- „Enttäuscht, Ira?“ fragt er lachend.
lig verdeckt ist und wahrscheinlich nur von der Rück- „Ach, eigentlich nicht“, entgegnet sie, doch ist
seite aus einen Einblick gewährt. Beide Seitenwände ihr die Enttäuschung über die Kärglichkeit des Pro-
des großen Raumes werden von Meßinstrumenten ein- gramms deutlich anzusehen. Denn was sie hier sah,
genommen, deren Zeiger sich sämtlich in Ruhestel- kann sie in jedem Film sehen, in jedem Kultur- oder
lung befinden. Reisefilm, nur noch besser und deutlicher.
Kan Kamana ist mit Eifer dabei, Ira Tarwi die Be- „Und Sie meinen nun, das sei alles?“ erkundigt Kan
deutung und Handhabung seiner Maschinerie zu er- Kamana sich in leichtem Plauderton.
klären. Sie sieht ihn nichtverstehend an.
„Es sieht alles schlimmer aus, als es ist“, beginnt er. „Ich meine es doch“, sagt sie.
„Sie haben mir Ihre Wünsche geäußert, Ira. Ich habe
„Es ist aber noch nicht alles, Ira. Ich sagte Ihnen
hierfür den Planeten Strym im Sonnensystem des An-
doch, daß Sie sich inmitten dieser Menschen bewegen
tares ausgewählt, dessen Bilder Ihnen so sehr gefielen.
sollten und daß es mir möglich sei, Sie in jedes ge-
Zunächst schalte ich hier die genaue Entfernung des
wünschte Zeitalter, an jeden gewünschten Ort und zu
Strym ein. Dann nehme ich den unteren Hebel, um die
jedem gewünschten Ereignis hin zu versetzen. Haben
Jahreszahl festzustellen, in die man versetzt zu wer-
Sie das schon vergessen?“
den wünscht. Da die Photonen sich mit einer uns be-
kannten Geschwindigkeit entfernen, rechnet jetzt die „Nein, das habe ich natürlich nicht vergessen. Aber
Maschine genau aus, wo sich diese im Augenblick be- ich dachte eben, ich hätte es vielleicht falsch verstan-
finden. Passen Sie auf!“ den.“
Kamana drückt auf einen Knopf. In der gewaltigen „Sie haben es schon richtig verstanden. Wären Sie
Maschine beginnt es zu arbeiten, doch dauert das sur- daran interessiert, das, was Sie soeben auf dem Bild-
rende Geräusch, das zu vernehmen ist, nur wenige Se- schirm sahen, persönlich aufzusuchen und sich inmit-
kunden. ten dieser Menschen zu bewegen?“
Der Forscher begibt sich an ein Okular, über dem „Aber ja!“ entgegnet sie schnell.
eine Doppelreihe von Rädern angebracht ist. Während „Gut, dann setzen Sie sich bitte in einen jener Ses-
er durch das Okular blickt, bewegt er die Handräder sel, die dort an der gegenüberliegenden Wandseite auf-
um Millimeter nach links und rechts und scheint ei- gestellt sind.“
ne Einstellung wie bei einer Filmaufnahme vorzuneh- Zwölf Sessel stehen dort drüben in zwei Reihen zu
men. sechs Stück gegenüber der Maschine. Ein komplizier-
„Was tun Sie jetzt?“ fragte Ira. tes System von Spulen und Drähten ist unter diesen
Befohlenes Dasein 10

Sesseln angebracht, außerdem sind sie auch unterein- Kan Kamana hat mit beiden Händen je eines der
ander noch durch Drähte und Kabel verbunden. Ira Handräder ergriffen und bewegt diese durch kaum
Tarwi schreitet langsam auf den vordersten der Ses- sichtbare Drehungen. Er sieht, wie Ira Tarwi gleich ei-
sel zu. Sie läßt sich vorsichtig darin nieder, und es ner Königin am Strand entlangschreitet, wie ihr viele
hat den Anschein, als fürchte sie, im nächsten Augen- Badegäste erstaunt und bewundernd nachblicken und
blick durch elektrischen Strom ins Jenseits befördert ihr schließlich ein hochgewachsener, braungebrannter
zu werden. Mann folgt. Er spricht sie an — Kamana sieht aus den
„Haben Sie keine Furcht, Ira, es wird Ihnen nichts Bewegungen der Lippen, daß sich ein Gespräch an-
geschehen“, muntert sie der Professor auf. „Meine spinnt.
Maschine funktioniert bis auf die geringsten Kleinig- Ich muß noch versuchen, auch die Worte einzufan-
keiten. Allerdings muß ich Sie vorher hypnotisieren.“ gen, die man spricht — denkt Kamana bei sich. Es
Ira Tarwi sitzt erwartungsvoll in dem Kontaktstuhl. wäre eine neue, lohnende Aufgabe für mich.
Kan Kamana bedient einen Hebel an seiner Maschine. Er verfolgt das Paar mit Hilfe seiner Handräder.
Das grüne Riesenauge erhält plötzlich Glanz und be- Sie scheinen sich recht gut miteinander zu unterhal-
ginnt zu flimmern. Es ist ein faszinierender Glanz, der ten. Und da — jetzt zieht der Mann eine Brieftasche
von diesem Auge ausgeht, ein beherrschender, hypno- aus dem Bademantel und gibt seiner Begleiterin einen
tischer Glanz... Packen Geldscheine. Und Ira Tarwi nimmt dieses Geld
Und das ist es vor allem! In diesem Auge ist eine an — wozu, weshalb, wofür? Kan Kamana schüttelt
geheimnisvolle Kraft gespeichert. Wer in dieses Auge den Kopf. Ob sie es wohl auch nehmen würde, wenn
sieht, wird ihm hörig, wird ihm untenan. Diese Kraft- sie wüßte, daß er jede ihrer Bewegungen mit seinem
probe dauert nur Sekunden — dann hat das grüne Au- Apparat verfolgt? Aber rechtzeitig besinnt er sich, daß
ge gesiegt. sie es ja nicht weiß, daß er sie beobachtet. Sie weiß
wohl, wer sie ist und woher sie kommt, aber sie weiß
Ira Tarwi sitzt aufrecht in ihrem Sessel, schön und nicht, unter welchen Umständen sie dorthin kam. Al-
verlockend wie zuvor, und dennoch ist etwas mit ihr les, was damit zusammenhängt, entzieht sich ihrem
geschehen... Alles an ihr ist starr: ihr Körper und ihr Bewußtsein.
Antlitz und ihr Blick; und selbst der Atem scheint er-
Interessiert läßt Kamana das Paar weitergehen.
loschen zu sein. Noch immer ist das grüne Auge auf
Er lenkt das Auge des Bildschirmes hinter die Dü-
sie gerichtet, als halte es die Wacht über ihre Bewe-
nen, durch den Kiefernwald, auf die Anhöhe — und
gungslosigkeit.
schließlich auf jenen kleinen Wiesenfleck, auf dem sie
sich niederlassen. Und wieder führen sie ein langes
* Gespräch miteinander. Kamana hat seine Handräder
losgelassen und läßt das Gerät in Ruhestellung.
Kan Kamana ist ans Okular getreten, blickt stumm Noch näher tastet er sich mit dem Bildsucher an das
durch die Öffnung aus gewölbtem Glas. Im Innern der Paar heran. Er sieht in den Augen des Mannes den
riesigen Maschinerie zeichnet sich deutlich jenes Bild Funken der Leidenschaft, der sich immer mehr ent-
der Vergangenheit ab, das er vor Minuten in Ira Tarwis zündet.
Beisein eingestellt hat.
Kan Kamana hat das Auge vor das Okular gepreßt.
Und dennoch ist auf diesem Bild eine geringe Ver- Er sieht, wie sich der Mann über die auf dem Bade-
änderung zu bemerken, die jedoch nur ein Eingeweih- mantel liegende Frau beugt und sie küßt.
ter feststellen kann. Auf dem Strand des luxuriösen
Kamana wird es schwarz vor den Augen, rasende
Seebades auf dem Planeten Strym ist nämlich eine
Eifersucht hat ihn gepackt. Mit zwei Sprüngen ist er
Person erschienen, die nicht in den Rahmen des Bil-
am Hebel, der den Apparat ausschaltet. Mit hartem
des paßt. Es ist keine andere als — Ira Tarwi!
Griff reiß: er den Hebel herum.
Mit einem kleinen Lächeln des Triumphes betrach- Das grüne, hypnotische Auge verlöscht. Das sanfte
tet Kan Kamana das Bild, das sich ihm darbietet. Sei- Vibrieren der mächtigen Maschinerie verstummt. To-
ne Erfindung ist es, seine phantastische Erfindung. Die tenstill ist es in dem großen Kellerraum.
Maschine bestätigt ihm, daß die Kräfte des Unterbe-
Kan Kamana beobachtet Ira Tarwi, die sich zu be-
wußtseins zu arbeiten begonnen haben. Zum ersten-
wegen beginnt und wie nach langem Schlaf die Augen
mal in der Geschichte der Menschheit ist es gelungen,
öffnet.
das Unterbewußtsein zu lenken und zu kontrollieren.
Es ist das Geheimnis des Wissens um die Zusammen- Verwundert sieht sie sich um. Dann aber hat sie be-
setzung der telepathischen Ströme, des menschlichen griffen. Sie legt die Hände auf die Lehnen ihres Ses-
Fluidums, einfach ausgedrückt: der Gedankenwellen. sels und steht mit einem Ruck auf.
Die in der Maschine gespeicherten Elektronen werden „Wo war ich?“ fragt sie kurz den vor ihr stehenden
durch das grüne Auge ausgestrahlt. Die Maschine ist Kamana.
der Sender, der Mensch ist der Empfänger. So geht al- „Auf dem Strym, Gnädigste. Können Sie sich noch
les seinen geordneten Gang. erinnern?“
11 TERRA

Sie antwortet nicht auf seine Frage, sondern steht daß es vor zweitausend Jahren diese Union noch gar
mit einem raschen Schritt hart vor Kamana. nicht gab.“
„So haben Sie den Gang der Ereignisse abgebro- Kan Kamana ist aufs höchste interessiert.
chen?“ fragt sie kurz und hart. „Das müssen Sie mir alles bis ins kleinste erzählen,
„Ja, Ira Tarwi!“ Ira. Man wußte natürlich auch nichts von dem Großen
Galaktischen Krieg?“
„Es war Ihnen möglich, mich zu sehen, während ich
auf dem Strym war?“ will sie wissen. „Nein, gar nichts. Aber Ihre Erfindung ist in der Tat
phantastisch. So kann man durch Ausschalten der Ma-
„Ja“, sagt er, „ich habe Sie gesehen.“ schine jede Versuchsperson, die sich in einer Gefahr
Sie blickt zu Boden. Dann fragt sie weiter: „Sie ha- befindet, einfach wieder zurückholen?“
ben alles gesehen? Auch den — den Mann? So haben „Ja, das kann man.“
Sie nach eigenem Ermessen abgeschaltet?“ „Und wie lange dauert das Zurückholen?“
„Ja, denn ich dachte, daß Sie sich — daß Sie sich „Nur eine Sekunde.“
vielleicht in Gefahr befänden!“ Kan Kamana spricht „Befand ich mich denn während der Zeit meiner
stockend und fast entschuldigend. Doch es bedarf Reise in die Vergangenheit noch auf meinem Stuhl?“
dieser Entschuldigung nicht. Denn Ira Tarwi wendet
„Ja, Sie befanden sich noch hier. Doch Sie befanden
sich ihm lächelnd und in leichtem Plauderton zu. Ih-
sich nur als optische Erscheinung hier. Wie soll ich
re anfängliche schlechte Stimmung ist verflogen, sie
Ihnen das erklären? Es fand mit Ihnen eine gewisse
scheint sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu ha-
Entmaterialisierung statt, Ihr Bewußtsein verwandel-
ben. Wie in einem plötzlichem Erschrecken faßt sie in
te sich in reine Körperlichkeit. Das ist schwer zu be-
die Tasche ihres Umhanges.
greifendes ist eines der größten Naturwunder, die ich
Sie hält knisterndes Papier in der Hand... Hochwer- entdeckt habe. Durch das Ausschalten der Maschine
tige Noten galaktischer Dollars. Gültig für das Land kehrten die Bewegungselektronen, die Ihrem Körper
Strym. Zweitausend Jahre alt... entzogen waren, wieder in Ihre sterbliche Hülle zu-
Iras Antlitz wechselt von der Befriedigung über den rück.“
Besitz zu offensichtlicher Enttäuschung. Verächtlich „Wie aber kommt es denn, daß mein Körper auf
läßt sie die Banknoten zu Boden flattern. Kamana dem Stuhl saß, während ich mich trotzdem in voller
bückt sich, um sie wieder aufzuheben. Kopfschüttelnd Person auf dem Strym befand?“
betrachtet er die Noten. „Das ist die Umwandlung von Photonen in Wirk-
„Wunderbar“, murmelt er. „Man sollte es nicht lichkeit, also in Materie. Meine Maschine hat sie
glauben!“ ,photo‘-graphiert, wie man so sagt. Ihr ,Photo’ wur-
„Was ist dabei wunderbar?“ fährt Ira auf. „Man de durch Mikrofunk zum Strym gesandt und dort zu-
kann die Noten nicht mehr verwenden!“ rückverwandelt. Denn was ist eine Photographie ande-
res als ein Auffangen von Bildphotonen? So entstan-
„Das ist es nicht, Ira. Es ist wunderbar, daß es nun
den Sie zweimal, das eine Mal als toter Körper ohne
tatsächlich möglich ist, Gegenstände aus vergangener
Bewußtsein, das andere Mal als lebender Mensch mit
Zeit zurückzuholen. Es ist die Rematerialisierung, von
Verstandeselektronen. Verstehen Sie das?“
der man seit Jahrtausenden träumt.“
„Das ist zu verstehen, wenn auch nur im theoreti-
„Was hat das für einen Zweck, wenn man das Geld schen Sinn. Im praktischen Sinn ist es unbegreiflich...“
nicht verwenden kann?“ wirft sie ein. Doch mit ei-
„Ja, das ist eben meine Erfindung. Sie gilt nicht um-
nem Male wird sie wieder freundlich. Ihre Stimmun-
sonst als die epochalste der bisherigen galaktischen
gen wechseln wie das Wetter im April. „So konnten
Wissenschaft.“
Sie wirklich alle meine Bewegungen verfolgen, Kan
Kamana? Verzeihen Sie diese Frage, aber das klingt Ira Tarwi blickt sinnend in die Luft. Dann stellt sie
so — so unwahrscheinlich.“ eine Frage, die sich recht eigenartig aus ihrem Mund
anhört.
„Ja, ich habe Sie wirklich Schritt für Schritt ver-
„Fürchten Sie nicht, Professor, daß man Ihre Er-
folgt. Und ich dachte tatsächlich, daß es Ihnen recht
findung auch zu kriminellen Zwecken mißbrauchen
sei, wenn ich den Versuch abbrach.“ Sie winkt ab.
könnte?“
„Sprechen wir nicht davon! Ich möchte nur diesem „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Wie
freundlichen Mann das Geld wieder zurückgeben.“ meinen Sie das?“
„Das könnte man ohne weiteres tun“, erklärte Ka- „Nehmen Sie doch nur einmal an, ich ließe mich
mana. „Aber wozu? Es ist nicht gut, solche Gebiete durch Ihre Erfindung auf irgendeinen galaktischen
der Vergangenheit ein zweites Mal aufzusuchen.“ Planeten der Jetztzeit versetzen. Ich gehe dort auf ei-
„Da fällt mir ein“, unterbricht sie ihn, „ich hatte da ne Bank und greife einfach in die Kasse, um mir ein
beinahe einen Fehler gemacht. Ich sprach von Kidora, Bündel Geldscheine wegzunehmen. Im gleichen Au-
unserer Hauptstadt, als Sitz der Regierung der Galakti- genblick, da ich die Scheine in der Hand habe, schaltet
schen Union. Ich hatte doch noch nicht daran gedacht, hier im Keller ein Komplice die Apparatur aus. Ich bin
Befohlenes Dasein 12

dort blitzschnell verschwunden, und das Geld mit mir, Er küßt ihre Hand und begleitet sie noch durch den
und kehre hier im Sessel in mein normales Bewußtsein blumenduftenden Garten. Ein schlanker, schwarzhaa-
zurück. Wäre das nicht möglich?“ riger, noch junger Mann mit spöttischen Gesichtszü-
„Das ist durchaus möglich, Gnädigste. Berücksich- gen kommt ihnen entgegen. Er grüßt kurz und läßt
tigen Sie dabei aber auch, daß sich alle bisherigen Er- die beiden an sich vorbeigehen. Er hat klare, kritisch
findungen irgendwie kriminell zur Anwendung brin- blickende Augen.
gen lassen. Es kommt nun immer noch auf die Her- „Mein Mitarbeiter Antonio Stia“, erklärt Kamana
ren der Maschine an. Und ich beabsichtige nicht, eine seiner schönen Begleiterin. „Er stammt von Terra.“
andere Person an diese Maschine heranzulassen. Für „Arbeitet er immer mit Ihnen zusammen?“ erkun-
mich selbst kann ich einstehen, und außerdem dürfte digt sich Ira Tarwi.
auch die Regierung der Galaktischen Union ein Auge
„Nicht immer, denn er ist bei der Zeitung beschäf-
darauf haben.“
tigt. Wenn ich ihn benötige, rufe ich ihn. Er ist ein
„Das ist richtig. Es gibt jedoch noch andere Mög-
kluger Kopf.“
lichkeiten, Ihre Maschine zum Schaden der Mensch-
heit anzuwenden. Wenn Sie zum Beispiel einen per- Vor dem Blütenzaun, der Kamanas umfangreiches
sönlichen Feind haben — könnten Sie diesen nicht Parkgelände umschließt, steht der weiße Wagen Ira
auf irgendeine Art in Ihre Gewalt bringen, in diesen Tarwis. Ira nimmt in den weichen Polstern Platz und
Stuhl setzen und mit Hilfe der Maschine in irgendeine bedient den Startmechanismus. Noch einmal winkt sie
grausame Zeit verschicken, in der er zugrunde geht? Kan Kamana mit einem aufreizenden Lächeln zu —
Vielleicht in einen Urwald mit wilden Tieren, denen dann schießt das schnelle Fahrzeug davon. Irgendwo
et wehrlos preisgegeben ist, oder mitten in ein Revolu- besitzt Ira Tarwi eine eigene Wohnung, doch Kamana
tionsgeschehen hinein, in dem er ermordet wird, oder kennt sie nicht. Er verläßt sich auf ihr halbes Verspre-
sogar in den Großen Galaktischen Krieg, in dem er zu- chen, wiederzukommen.
grunde geht? Oder zu einem wilden Menschenstamm,
der noch zu den Menschenfressern gehört, oder in eine *
Wüste, in der er verdursten muß, oder auf einen Eis-
planeten, auf dem er erfriert? Ist das nicht möglich? Der weiße Wagen hat die Hauptstadt auf der hoch-
Sie könnten sogar mit Hilfe Ihres Bildschirmes zum liegenden Highway in unvorstellbar kurzer Zeit durch-
Zuschauer seines Todes werden, denn Sie warten ein- quert. Am Ende der Vorstädte biegt Ira Tarwi in eine
fach mit dem Abschalten so lange, bis er gestorben ist. bewaldete Gegend ab und hält vor einem würfelförmi-
Oder läßt sich ein solcher Mensch nicht töten? Wird gen Landhaus.
der Körper hier wieder erwachen, wenn er unterwegs Als der Wagen vorfährt, tritt ein Mann aus dem
getötet wurde?“ Haus.
Kan Kamana ist sehr nachdenklich geworden. Der Mann ist schlank und schwarzhaarig. Seine Au-
„An diese Möglichkeit habe ich — offen gestanden gen sind leicht zusammengekniffen, der Mund schmal
— noch nicht gedacht. Es ist aber so, wie Sie sagen. und hart, die Backenknochen stehen etwas heraus, die
Sollte dem Double des hier befindlichen Menschen Stirn ist niedrig. Alles in allem ist er ein sogenannter
draußen etwas zustoßen, so ist es das gleiche, als wenn „schöner“ Mann, wie ein Filmstar anzusehen, wenn
dem hier sitzenden Original etwas passierte. Sie haben auch sein etwas stechender Blick nicht ganz zu ihm zu
das an den Geldscheinen gesehen, die Sie aus der Ver- passen scheint.
gangenheit mitgebracht haben. Alle Materie kehrt zu- Er nickt der aussteigenden Ira lässig zu und sieht sie
rück, es kann jedoch auch der Tod zurückkehren. Ich ohne jede Freundlichkeit an.
muß über dieses Problem noch nachdenken, denn es In ihre Augen tritt ein unsicheres Flackern. Es sieht
ist tatsächlich gefährlich und wichtig. Ich war deshalb fast so aus, als fürchte sie sich vor diesem Mann.
auch darum besorgt, Sie ohne Schaden wieder zurück-
„Ich muß dir etwas Interessantes erzählen, Krono“,
zurufen, denn ich fühlte mich in gewisser Hinsicht für
spricht sie ihn an.
Ihr Wohlergehen verantwortlich.“
Sie winkt leicht ab. Er deutet mit dem Kopf nach rückwärts ins Innere
des würfelförmigen Hauses.
„Sprechen wir nicht mehr darüber“, sagt sie. „Sie
müssen mich jetzt entschuldigen, Professor, ich fühle „Kannst mich auch drin belügen“, sagt er spöttisch.
mich etwas abgespannt. Es hat mich alles sehr inter- „Wird höchste Zeit, daß du anrückst. Warst volle sie-
essiert, und Sie sind wirklich ein großer Meister, Kan ben Stunden unterwegs.“
Kamana. Darf ich wiederkommen?“ „Wenn ich dir sage, wo ich war, Krono, wirst du be-
„Sie würden mir damit eine große Freude machen, stimmt einsehen, daß...“
Ira. Wann darf ich Sie erwarten?“ „Geh hinein!“ fährt er sie an. Er dreht sich kurz um
„Oh, ich weiß es noch nicht genau“, sagt sie leise. und folgt ihr, die wiegenden Schrittes an ihm vorüber-
„Ich muß von diesen Dingen erst einigen Abstand ge- geschritten ist. Doch im gleichen Augenblick, als sie
winnen.“ das Innere des mit allem Luxus ausgestatteten Raumes
13 TERRA

betreten hat, packt er sie an der Schulter und reißt sie und noch dazu behandelte man ihn mit großer Zuvor-
herum. kommenheit. Und so erfuhr ich, daß dieser Herr der
„Wo warst du wieder, du?“ fragt er drohend. berühmte Kan Kamana war, von dem die Zeitungen
„So lasse mich doch erzählen, Krono! Ich habe ei- schon so viel geschrieben hatten. Er war sehr freund-
ne wundervolle Sache ausgemacht, wir können da ge- lich zu mir, und ich tat ein übriges, damit er mich in
meinsam ein tolles Geschäft daraus machen.“ sein Haus einlud. Ich heuchelte natürlich großes In-
teresse und Verständnis für seine Erfindung, obgleich
Er hat sie losgelassen und steht mit verschränkten ich gar nichts davon verstand. Er wollte mir seine Er-
Armen, während sie wie erschöpft in einem der Sessel findung einmal zeigen. Ich ging natürlich nicht gleich
Platz nimmt. darauf ein, sondern sagte, daß ich noch einige wich-
Sie lächelt ihn etwas gezwungen an. tige Besorgungen in der Stadt zu machen hätte. Aber
„Komm, sei doch vernünftig, Krono“, bittet sie ihn in zwei Stunden wollte ich ihn gern einmal mit aufsu-
unterwürfig. „Du wirst gleich sehen, daß ich nicht oh- chen. Das tat ich dann auch.“
ne Zweck so lange unterwegs war. Ich war mit einem „Na — und?“ fragt Krono Tikkal. „Wo bleibt dein
der berühmtesten Männer der Galaktischen Union zu- tolles Geschäft?“
sammen. Ich mußte ihm versprechen, wiederzukom- „Warte doch, warte, Krono“, sagt sie. „Laß mich
men, denn er hat Feuer gefangen, und er ist bereit, al- doch in Ruhe weitererzählen.
les mögliche für mich zu tun. Selbstverständlich habe
ich sofort an dich gedacht, als er mir seine berühmte Ich sah ja zuerst auch noch keine Möglichkeit, wie
Erfindung zeigte.“ man diese Erfindung verwerten könnte. Da mußte man
ja erst nachdenken. Jetzt hör zu, was ich dort erlebte.“
„Von wem sprichst du?“ fragt er mit unbewegtem
Gesicht. Ira erzählt dem gespannt lauschenden Krono Tik-
kal, wie ihr Kan Kamana seine Erfindung zeigte und
„Du wirst staunen, Krono. Ich spreche von Profes- dann vorführte. Sie berichtet, daß sie von Kamana auf
sor Kan Kamana.“ den Planeten STRYM ins Sonnensystem des Antares
„Das lügst du mir jetzt vor, um eine Ausrede für versetzt wurde, wie sie dort plötzlich am Badestrand
dein Herumtreiben zu haben.“ eines mondänen Seebades stand und wie alle die Men-
„Warum sollte ich dich belügen? Es wird sich ja in schen bewundernd auf sie blickten...
Kürze herausstellen, daß ich die Wahrheit sagte. Du Tikkal unterbricht sie durch eine brüske Handbewe-
weißt ja, daß es diesem Mann dank einer komplizier- gung.
ten Apparatur möglich war, in die Vergangenheit zu- „Hast du dir vielleicht schon mal überlegt, wie weit
rückzureisen?“ der Strym vom Kidor entfernt ist?“ fragt er höhnisch.
„Und was hat das mit mir zu tun?“ fragt er genauso „Nein, aber es muß sehr weit sein“, antwortet sie.
unfreundlich wie vorher.
„Das ist es allerdings. Es sind mehr als zweihundert
„Warte doch ab, Krono. Setze dich doch zu mir, wir Lichtjahre! Willst du mir vielleicht mal sagen, wie du
müssen das in aller Ruhe besprechen. Komm, gib mir dorthin gekommen bist?“
mal einen ordentlichen Kognak!“
„Das ist ja eben das Wunder, Krono! Ich habe es
Es ist ein erstaunliches Verhältnis, das diese beiden ja auch nicht geglaubt und mußte mich dennoch über-
Menschen zueinander haben. Krono Tikkal ist trotz zeugen lassen. Und was das Unwahrscheinlichste dar-
seines gefälligen Aussehens der richtige Gangstertyp. an ist, ist die Tatsache, daß dies alles vor 2 000 Jahren
Er kennt Ira Tarwi schon seit vielen Jahren und be- geschehen ist, daß ich also in die Vergangenheit zu-
herrscht sie vollkommen. Wie er das gerade bei einer rückversetzt wurde.“
Frau von der Mentalität Iras fertiggebracht hat, ist ei-
nes der Rätsel, das uns die menschliche Psychologie „Wer hat dir diesen Schwindel erzählt?“ lacht Tik-
zu lösen aufgibt. Vielleicht ist es aber so, daß sich die- kal spöttisch.
se beiden Menschen schon zu tief in eine gemeinsame „Höre doch weiter, Krono! Ich will dir alles der Rei-
Schuld verstrickt haben, so daß sie jet7t nicht mehr he nach berichten.“
voneinander loskommen können. Drohung und Furcht Ira erzählt, wie sie auf dem Strym von jenem frem-
halten dieses ungleiche Verhältnis noch aufrecht, eine den Mann angesprochen wurde, und wie ihr dieser
denkbar schlechte Basis zum gemeinsamen Glück. Mann einen Packen Geldscheine in die Hand gedrückt
Sie hat den Kognak, den Tikkal auf den Tisch ge- habe.
stellt hat, mit einem Schluck hinuntergespült. „Wo ist das Geld?“ fragt Tikkal schnell. Er streckt
„Ich war heute vormittag in einem Café, und da ge- verlangend die Hand aus. „Gib das Geld her!“
rade kein freier Tisch vorhanden war, setzte ich mich „Alles schön und gut mit dem Geld, Krono“, erklärt
zu einem einzelnen Herrn. Wir kamen ins Gespräch, sie ihm. „Aber die Scheine waren zweitausend Jahre
und ich dachte schon daran, eine Bekanntschaft ma- alt und längst nicht mehr gültig bei uns. Das ist eben
chen zu können, aus der man seine Vorteile schla- der Beweis, daß ich tatsächlich 2 000 Jahre in die Ver-
gen könnte. Denn er schien mir viel Geld zu haben, gangenheit zurückversetzt wurde.“
Befohlenes Dasein 14

„Das verstehe ich alles nicht“, versetzt Tikkal, der — beide von der astronomischen und geologischen
sich mit geistigen Dingen überhaupt nicht so gern an- Fakultät.“
freundet. „Ich freue mich sehr, meine Herren Kollegen“, be-
„Wo hast du das Geld?“ fragt er wieder. grüßt sie Kamana. „Ich danke Ihnen, daß Sie die weite
„Ich habe es bei Kan Kamana gelassen, weil es uns Reise nicht gescheut haben, und hoffe, es Ihnen durch
doch nichts nützt.“ reiche Forschungsergebnisse entgelten zu können.“
„Und was hat der Kerl damit gemacht?“ „Wir erwarten nichts, lieber Kollege Kamana“, er-
widert Fellh, der ein Hüne von Gestalt ist und durch-
„Er hat es aufbewahrt. Für wissenschaftliche
dringende blaue Augen besitzt. „Wir können deshalb
Zwecke.“
nicht enttäuscht werden. Sie wissen selbst, daß wir —
Tikkal lacht wiehernd auf. was die Herkunft unserer Lebensräume anbetrifft —
„Er soll das Geld herausrücken. Da hast du dich wissenschaftlich vor unübersteigbaren Mauern stehen.
schön betrügen lassen.“ Es kommt ein Punkt, an dem es einfach nicht mehr
Ira Tarwi seufzt tief auf. Wie soll sie diesem Mann weitergeht. Wenn wir nur ein kleines Stückchen wei-
solche Dinge begreiflich machen? Krono denkt nur an terkämen, so wäre das schon als großer Erfolg zu wer-
das Geld, an weiter nichts. ten.“
„Ich werde dir das Geld mitbringen, wenn ich das Der schnelle Wagen Kamanas bringt die beiden For-
nächste Mal bei Kamana bin.“ scher zum Bungalow am Rand der Stadt. Die beiden
„Hattest du nicht von einem Geschäft gesprochen?“ Professoren vom Da-lun schauen entzückt in die Run-
fragt er stur weiter. de, als sie die buntgefärbten Springbrunnen und die
„Ja, das habe ich. Und nun höre mal gut zu, was ich verborgenen Blumenpfade erblicken. Ein ganzes Le-
dir jetzt erklären werde.“ ben lang schwebte ihnen eine Reise zum Kidor — und
gar zu dessen Hauptstadt Kidora — als unerfüllbarer
Ira Tarwi setzt mit sorgsam abgewogenen Worten
Wunschtraum vor. Das Orionsystem trat als eines der
ihrem zweifelhaften Freund den Plan auseinander, der
letzten der Galaktischen Union bei, weil es zivilisa-
ihr während des Gespräches mit Kan Kamana einge-
torisch noch verhältnismäßig rückständig war. So ist
fallen war. Es ist ein Plan, dessen Inhalt beweist, daß
es nicht verwunderlich, wenn den beiden Professoren
sie eine gelehrige Schülerin Tikkals geworden ist.
schon der Anblick der Hauptstadt der Regierung als
lohnender Reiseerfolg erscheint.
*
Mit tiefen Verbeugungen begrüßen die Orion-
Menschen auch Antonio Stia, der sich pünktlich ein-
Genau zur vorausberechneten Zeit trifft die Raum-
gefunden hat und bereits einen Imbiß für die fernen
scheibe aus dem Orion-Gebiet auf dem Landeplatz in
Gäste bereitgestellt hat. Das Gespräch bewegt sich
Kidora ein. Kan Kamana hat sich mit seinem Wagen
um das Problem der Erschaffung der Welt. Anto-
eingefunden, um seine Gäste persönlich zu begrüßen.
nio Stia, der belesene Reporter, ist der Meinung, daß
Im Steilflug stürzt die Scheibe aus dem Firmament man schon einen bedeutenden Schritt weitergekom-
herab. Sie gehört der GFG, der Galaktischen Flug- men sei, wenn es gelänge, fünf Millionen Jahre zu-
gesellschaft, einer der größten Firmen der Galaxis, rückzublicken. Professor Fellh möchte diese Ansicht
die das Monopol für die Passagierflüge zwischen den nicht teilen. „Wir haben noch keine einleuchtende-
einzelnen Sonnensystemen innehat. Ihre Flugkapitäne re Erklärung gefunden als den sogenannten Urknall“,
sind durch eine harte und lange Schule gegangen, so sagte er. „Ungeheure Mengen von Wasserstoffatomen
daß man sich ihnen getrost anvertrauen kann. Man hat haben sich so stark verdichtet, daß es eine ungeheu-
auch noch nichts darüber gehört, daß im Verlauf der erliche Explosion gab, bei der das Helium entstand.
letzten hundert Jahre bei einem Raumflug etwas pas- Diese Explosion ließ Milchstraßen und Sternennebel
siert oder daß gar das Raumschiff nicht am Bestim- kreisförmig ins All hineinfliegen, zuerst mit gewalti-
mungsort angekommen wäre. ger Anfangsgeschwindigkeit, später immer mehr er-
Die beiden Ankommenden haben ihren berühmten mattend. Wir wissen doch, daß sich die Sternnebel im-
Kollegen vom Kidor schon von weitem erkannt. Sie mer mehr voneinander entfernten und daß sie einem
winken ihm von der Leiter der Raumscheibe schon unbekannten, außen gelegenen Punkt zustreben. Wie
von weitem zu, und er erwidert ihren Gruß, obgleich lange dieser Flug in die Tiefen des Alls noch anhalten
er sie noch nie persönlich gesehen hat. Doch das Bild wird, ist noch völlig unbekannt. Doch das eine dürfte
Kamanas ist durch alle Zeitungen und Lichtspielhäu- feststehen: eines Tages werden alle diese ins All entei-
ser der Galaxis gegangen, es ist also nicht schwer, ihn lenden Milchstraßen zum Stillstand gekommen sein.
zu erkennen. Was werden Sie dann tun, Kollege Kamana?“
Dann sind sie die Leiter herabgestiegen und stellen „Gewiß“, antwortet dieser, „sie werden wieder um-
sich vor. kehren und dann langsam zum Ausgangspunkt zu-
„Professor Fellh von der galaktischen Universität rückkehren, wie ein geworfener Stein in der Luft wie-
Da-lun — Professor Gra-koh der umkehrt, um wieder zurückzufallen. Das ist alles
15 TERRA

einleuchtend. Es ist auch einleuchtend, daß dann das „Wir wollen dann zunächst eine Landschaft auf
Spiel der Explosion und des Auseinanderstrebens von dem Da-lun wählen, die sehr typisch ist“, fährt Kama-
neuem beginnt.“ na fort. „Wollen Sie mir einige Vorschläge machen,
„Und das Leben?“ fragte Stia. meine Herren?“
„Das spielt nur eine untergeordnete Rolle, Freund „Dann möchte ich das Mündungsdelta des Stromes
Antonio Stia. Das Leben wird sich von neuem bilden Kannha vorschlagen. Der Strom durchbricht mehre-
und entwickeln.“ re Kilometer vor der Mündung ein hohes Gebirge,
an dessen Fuß die große Hafenstadt Be-is liegt. Man
„Woher?“ fragt Stia rasch. erzählt sich, daß diese Stadt in früheren Zeiten ein-
„Wir wissen es nicht“, meint Fellh. „Es ist das der mal bedeutend größer gewesen sei, man fand auch bei
Punkt, an dem unsere Forschungsarbeit nicht mehr Ausgrabungen die Überreste alter Bauten.“
weiterkommt. Wir sprechen heute so viel von den Professor Fellh hat diesen Vorschlag gemacht. An-
Motilitäts-Elektronen, von jenen kleinsten Partikeln, tonio Stia ist schon nach der großen Bibliothek un-
aus denen die Bewegung besteht. Aber woher stam- terwegs, um die genauen Daten des Planeten Da-lun
men diese? Haben sie sich selbst gebildet, sind sie ei- zu beschaffen. Er notiert sich die Entfernung auf ei-
ne uns unbekannte Ehe eingegangen — oder was ist nem Notizblatt, dann stellt er diese Entfernung auf der
es?“ Meßskala ein.
„Das Grundelement ist doch der Wasserstoff“, wirft „In welchem Jahr der Vergangenheit wünschen Sie
jetzt Professor Gra-koh ein. „Ich habe schon die Ver- die Stelle zu sehen?“ fragt Stia.
sion gehört, daß sich der Wasserstoff aus dem Nichts „Sagen wir — im vergangenen Jahr?“ schlägt Fellh
bildet. Innerhalb eines Kubikkilometers soll sich im vor.
Lauf von 500 000 Jahren ein einziges Wasserstoff-
Kan Kamana überwacht schweigend die Handgrif-
Atom entwickeln. Wenn wir die Größe des Weltalls
fe seines Mitarbeiters. Als die Einstellungen erfolgt
und das Gewicht eines solchen Atoms auf Grund die-
sind, läßt er die Maschine rechnen. Das bekannte, sur-
ser Formel berechnen, so entstehen pro Sekunde im-
rende Geräusch entsteht — dann hat die Maschine die
merhin gegen 100 Millionen Tonnen neuer Materie.
Entfernungszahl der Photonen errechnet. Kamana be-
Theoretisch wäre es dann möglich, daß das Weltall ei-
dient die Handräder am Bildschirm. Zuerst erscheint
nes Tages — in Centillionen Jahren — restlos ausge-
der Planet als Kugel, frei im Raum schwebend. Ka-
füllt wäre.“
mana öffnet ein Okular, das sich neben dem seinen
„Ihre Berechnungen in Ehren, Kollege Gra-koh“, befindet.
entgegnet Kan Kamana. „Mir gefällt nur die eine Vor-
„Bitte, Kollege Fellh, wollen Sie die Güte haben,
aussetzung nicht: daß nämlich das Wasserstoffatom
mich an Hand des Bildschirmes geographisch einzu-
aus dem Nichts entsteht. Es sei denn, dieses Nichts be-
weisen?“
stehe schon vorher aus elektronenartigen Stoffen, die
wir noch nicht erforscht haben. Wo aber kommen dann Fellh blickt ins Okular. Dort steht der Da-lun im
diese Stoffe her? Es muß doch einmal ein Anfang ge- unendlichen Raum, schon ziemlich nahe, denn Fellh
wesen sein!“ kann genau die Konturen der Meere und Landmassen
erkennen.
„Sie stehen wieder vor dem großen Tor, Kollege Ka-
„Können wir etwas näher herangehen?“ fragt er Ka-
mana“, lächelt Professor Fellh. „Versuchen wir es mit
mana.
Ihrer Maschine, von der wir schon wahre Wunderdin-
ge gehört haben...“ „Aber natürlich, Kollege!“
Nach dem Essen begeben sie sich zu viert in den Kamana schaltet an den Handrädern. Im Nu vergrö-
Keller. Schweigend stehen die fremden Gäste vor der ßert sich das Bild.
Maschinerie, über die sämtliche Zeitungen der Gala- „Etwas weiter nach rechts, bitte!“
xis in größter Aufmachung berichteten. Und es ist ver- Kamana tastet sich nach den Angaben Fellhs immer
zeihlich, daß sie sich trotz ihrer Gelehrsamkeit noch tiefer auf den Planeten herab. Zuletzt sieht er das Ge-
nichts darunter vorzustellen vermögen. birge und den großen Strom, der ins Meer mündet, da-
„Ich bin der Meinung, meine Freunde“, beginnt Kan vor eine mittelgroße Hafenstadt. Noch sieht alles aus
Kamana, „daß wir uns für unsere Versuche einige Pla- wie auf einer Reliefkarte.
neten heraussuchen, die wir kennen. Das wären der „Das ist Be-is!“ ruft Professor Fellh erregt. „Kom-
Kidor, der Da-lun und der Planet Terra. Der eine liegt men Sie, Kollege Gra-koh, sehen Sie sich es auch an!“
im Raum Beta Centauri, der andere im Orion, der letz- Auch Gra-koh bestätigt, daß man es mit dem Strom
te im Gebiet der Sol. Nehmen wir zunächst den Da- Kannha und der Stadt Be-is zu tun hat.
lun. Das Aussehen des Da-lun ist Ihnen bekannt, mei- „Wir wollen es jetzt noch deutlicher sehen“, erklärt
ne Herren Kollegen?“ Kamana. „Ich gehe jetzt bis ganz dicht an die Stadt
„Durchaus“, antwortet Professor Gra-koh. Und heran, jedoch so, daß man das Gebirge noch erkennen
auch Fellh nickt beipflichtend. kann.“
Befohlenes Dasein 16

Er bedient wieder seine Handräder. Er tut dies wie die Ihnen vielleicht noch von alten Bildern her in der
ein geschickter Fotograf, der die richtige Einstellung Erinnerung geblieben ist?“ „Ja“, nickt Professor Gra-
sucht. In kaum hundert Metern Höhe über der Stadt koh. der Geologe. „Wir kennen die Stadt noch aus der
bleibt er stehen. frühesten Zeit ihrer Entstehung. Es ist allerdings —
„Ist es so richtig?“ fragt Kamana. vom heutigen Tag an gerechnet — rund viertausend
„So ist es gut“, bestätigt Fellh. „Das ist also Be-is, Jahre her. Wäre es Ihnen möglich...“
wie es im vergangenen Jahr aussah. Nun, ich finde dar- Antonio Stia hat schon die Maschine eingestellt.
in keinen Unterschied gegenüber jetzt... Halt, dort!“ Kan Kamana steht vor dem Okular. Er sieht anstelle
ruft er erregt. „Das ist wunderbar, einfach wunderbar!” der vorherigen Trümmer einige primitive Hütten, die
Kamana sieht ihn fragend an. Fellh wendet sich an an den unregulierten Ufern des Stromes Kannah er-
seinen Kollegen Gra-koh. richtet sind. Einige Menschen bewegen sich am Fluß.
„Erinnerst du dich des Hochhauses“, fragt er, „das „Bitte, meine Herren!“ fordert Kamana die beiden
vor vierzehn Tagen eingeweiht wurde?“ Professoren auf.
„Das Verwaltungsgebäude der GFG?“ fragt Gra- Die beiden Gelehrten blicken schweigend durchs
koh zurück. Okular. Es ist die gleiche Landschaft, die sie erblicken,
„Ja, dasselbe meine ich. Hier findest du das Hoch- es ist die Mündung des Stromes ins Meer — aber sie
haus noch im Bau begriffen“, fährt Fellh in der glei- liegt etwas näher gegen das Land hin. Der Strom hat
chen Erregung fort. „Es ist also tatsächlich ein Bild sich im Lauf der Jahrtausende ein Delta geschaffen
aus dem vergangenen Jahr.“ und seine Ablagerung immer weiter hinausgetragen.
Das Gebirge bietet noch den gleichen Anblick, es hat
„Genau ein galaktisches Jahr von 300 Tagen“,
sich nicht verändert.
bestätigt Kamana die Wahrnehmung des DA-LUN-
Professors. Die beiden Da-lun-Professoren zeigen hundertpro-
Auch Gra-koh möchte das Bild sehen. Fellh tritt zu- zentiges Interesse. Sie bitten Kamana, noch näher her-
rück, und sein Kollege blickt lange Zeit schweigend anzugehen, damit sie die Ureinwohner ihres Planeten
durchs Okular. Er nickt mehrere Male nachdenklich aus nächster Nähe betrachten können.
vor sich hin. Kamana stellt die Handräder auf absolute Nähe ein.
„Es ist kein Zweifel möglich“, sagt er endlich. „Das Er tastet sich durch millimeterweite Verschiebungen
ist Be-is, wie es vor einem Jahr aussah.“ an einen der „Wilden“ heran.
„Gut, meine Herren, Sie haben sich überzeugt“, „Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie sich in vol-
meint Kamana. „Und welches Jahr wollen Sie jetzt ha- ler Person an diese Stelle versetzen lassen“, schlägt
ben?“ Kamana vor. „Dann können Sie sich auch mit den be-
treffenden Leuten unterhalten.“
„Wenn es Ihnen möglich ist“, entgegnet Fellh,
„dann hätte ich die Stadt gern nach dem großen Ga- Die beiden Männer sehen sich betroffen an.
laktischen Kriege gesehen.“ „Das können wir genau „Wie?“ fragt endlich Fellh etwas unsicher. „Ich ver-
ausrechnen“, lächelt Kamana. „Sie wollen die Stadt stehe nicht ganz.“
unmittelbar nach ihrer Zerstörung sehen?“ „Ja, bitte, Kamana lacht die beiden Professoren freundlich an,
wenn es möglich ist.“ Die Maschine verrichtet ihre und auch Antonio Stia kann sich eines Schmunzelns
Arbeit. Im Nu hat sie auf das gewünschte Datum zu- nicht erwehren.
rückgeschaltet. Es summt und brummt, dann fliegt ein
„Ja, meine Herren Kollegen, Sie haben noch längst
gedruckter Zettel heraus. Kamana stellt die Maschine
nicht den Clou meiner Erfindung erfaßt. Ich fragte Sie:
auf die Ausrechnung ein. Dann flimmert es zum zwei-
Haben Sie Lust, sich jetzt dort in eigener Person zu
ten Mal auf dem Bildschirm. Die Stadt Be-is, grau in
bewegen, sich mit diesen Leuten zu unterhalten, sie zu
grau, schwarzverkohlt, mit in die Luft ragenden Kami-
fragen und sich überhaupt über alles zu informieren,
nen, den traurigen Überresten der ehemaligen Häuser.
was Sie gern wissen möchten?“
Fellh und Gra-koh blicken auf den Bildschirm. Sie
Fellh schüttelt ungläubig den Kopf. Und auch Gra-
blicken nicht lange darauf, sondern treten schon nach
koh weiß nicht, was er mit diesem Vorschlag anfangen
Sekunden zurück.
soll.
„Ja, das ist es“, sagt Fellh. „Wenn nicht der Strom
„Wie lange“, fragt schließlich Fellh, „soll das denn
und die Berge wären, könnte man meinen, es mit ei-
dauern, ehe wir diese Zeit erreicht haben?“
ner fremden, unbekannten Stadt zu tun zu haben. Aber
es ist das frühere Be-is. Wir haben noch Fotoaufnah- „Nur Sekunden, Kollege Fellh.“
men aus der vergangenen Zeit — genauso sieht Be-is „Und — wie kommen wir dann wieder nach hier
darauf aus. Und was wollen wir jetzt sehen?“ zurück?“
„Es liegt an Ihnen, Kollegen“, sagt Kamana. „Wir „Das lassen Sie getrost meine Sorge sein. Ich werde
haben die Stadt Be-is jetzt in zwei Phasen der Vergan- Sie dauernd im Auge behalten und werde Sie in einer
genheit kennengelernt. Kennen Sie eine dritte Phase, halben Stunde wieder zurückkehren lassen.“
17 TERRA

„Ist das ein Scherz?“ erkundigt sich Fellh. „Wir ha- darüber, sondern betrachtet es als Selbstverständlich-
ben wohl einige wunderbare Dinge über Ihre Erfin- keit. Denn er kommt ganz ohne Vorbehalte an diese
dung gehört, Kollege Kamana, doch hielten wir diese Stelle, er weiß nicht, daß er den Sprung aus einer Ge-
Berichte für Mißverständnisse, die den Zeitungsrepor- genwart gewagt hat, die viertausend Jahre von der jet-
tern unterlaufen waren. Es ist doch beinahe unmög- zigen Zeit entfernt ist.
lich, daß ein solches Experiment...“ „Wer seid ihr?“ fragt der nackte Mann mißtrauisch.
„Es ist kein Experiment, meine Herren“, unterbricht „Seid ihr vom Gebirge herabgekommen, um uns zu
ihn Kamana. Die Funktion meiner Maschine ist längst töten?“
über das Stadium des Experimentes hinaus. Wir haben „Warum sollten wir euch töten?“ beruhigt ihn Fellh.
schon mehr als hundert solcher Versetzungen durchge- „Ihr seid unsere Freunde, und wir sind die euren! Habt
führt. Haben Sie Mut, meine Herren?“ ihr Feinde im Gebirge, daß ihr euch fürchtet?“ Der
Fellh und Gra-koh sehen sich noch einmal un- Eingeborene dehnt die breite Brust. „Wir fürchten uns
schlüssig an. Endlich siegt die Neugierde des For- nicht! Auch wenn die Männer vom Gebirge Kesth zu
schers in ihnen. Sie geben durch ein stummes Kopf- uns herniedersteigen, so haben wir sie bis jetzt immer
nicken ihre Einwilligung. zurückschlagen können. Wer aber seid ihr, die ihr euch
„Ich werde Ihnen beiden je eine Strahlpistole mitge- mit kunstvollen Federn behangen habt?“
ben“, fährt Kan Kamana fort. „Sie wissen noch nicht, „So wißt ihr noch nicht, was Stoff ist und wie man
wie die Einstellung dieser Menschen zu Ihnen sein ihn webt?“
wird. Vielleicht fressen sie noch Menschen, vielleicht „Unsere Frauen flechten solchen Schutz aus langen
werden sie Sie als Feinde betrachten — Sie müssen Gräsern, die in den Niederungen und Sümpfen des
mit allen Möglichkeiten rechnen. Sollten Sie wirklich Flusses wachsen, Ihr müßt von weit, weit her kom-
in ernste Gefahr kommen, werde ich Sie in Sekunden- men, daß ihr solche schönen Schutzhüllen habt. Seid
bruchteilen wieder zurückrufen.“ ihr Könige aus fernen Ländern, die über dem Meer lie-
Antonio Stia überreicht den beiden Gelehrten je gen?“
einen Protonenrevolver. Sie drehen die Waffen in den „Wir sind gekommen“, sagt Fellh, „um zu erfahren,
Händen und wissen nichts Rechtes damit anzufangen. ob hier noch Menschen wohnen. Wir wollen ihre Sit-
ten und Gebräuche studieren und ihnen erzählen von
„Bitte, nehmen Sie dort in den Sesseln Platz“, be-
der Welt dort draußen, in der es noch viele, viele an-
endet Kamana ihr Zögern.
dere Menschen gibt.“
Froh, einer eigenen Initiative enthoben zu sein, be- „Können sich diese Menschen denn gegen die
geben sich Fellh und Gra-koh zu den Kontaktstühlen. schrecklichen Bestien verteidigen, die uns immer wie-
Als sie Platz genommen haben, schaltet Kamana das der überfallen? Siehe, wir haben deshalb unsere Hüt-
grüne Auge ein. Der Widerschein seines phosphores- ten aus festem Holz gebaut, damit wir dort Schutz su-
zierenden Glanzes spiegelt sich auf ihren Gesichtern. chen können, wenn der Warnruf unserer Späher er-
Voller Interesse blicken die beiden Forscher in das schallt.“
hypnotische Auge hinein. Sekunden später sitzen sie
„So zeige uns deine Hütten, Freund, damit wir in
starr und bewegungslos und sind der Kraft des hypno-
der Ferne davon erzählen können, wie tapfer ihr seid
tischen Blickes erlegen.
und welche Gefahren ihr überstehen müßt.“
Kamana eilt zum Bildschirm und beobachtet. „Ich werde zunächst den Häuptling rufen, damit er
euch den Trank des Willkommens reiche.“
*
Es ist nicht nötig, daß er ruft. Denn von den Hüt-
ten aus hat man bereits gesehen, mit wem sich der
Eine heiße Sonne brennt auf den Strom, der die
fischende Mann unterhält. Fellh und Gra-koh zählen
Strahlen blendend zurückwirft. Fellh und Gra-koh ste-
wohl zwanzig Menschen, lauter Männer und Jünglin-
hen am Wasser, und nur wenige Meter von ihnen ent-
ge, die sich mit allen möglichen Waffen versehen ha-
fernt ist ein dunkelhäutiger, muskulöser Mann damit
ben. Als sich Fellh und sein Begleiter der Gruppe nä-
beschäftigt, ein enggeflochtenes Fischnetz aus dem
hern, öffnet sich der Kreis, in dessen Mitte ein weiß-
Flusse zu ziehen.
bärtiger Alter sichtbar ist, der eine schwere Steinaxt in
Die beiden Forscher tragen feste Stiefel, ihre Schrit- der Hand wiegt.
te knirschen im Sand. Verwundert dreht sich der Ein- „Meine Augen sehen Männer“, sagt er mit tiefer
geborene nach dem Geräusch um. Stimme, „die nicht zu unserem Dorf gehören. Sie tra-
Er erstarrt zur Bildsäule und greift erschrocken zur gen weibische Felle, nicht wie es tapferen Männern
Hüfte, an der an einer Bastschnur ein Steinmesser geziemt. Sie fürchten sich vor den wilden Tieren und
hängt. der Kälte der Nacht. Sie tragen keine Waffen in der
„Wir kommen als Freunde“, sagt Fellh, während er Hand, wie sie der Mann braucht, um sich zu vertei-
dem Mann die Hand entgegenstreckt. Er spricht in je- digen, sondern sie flehen um Freundschaft und Barm-
nem Dialekt, den die Menschen des Da-lun vor vier- herzigkeit. Sie sind nicht würdig, sich unsere Freunde
tausend Jahren sprachen, doch er wunden sich nicht nennen zu dürfen.“
Befohlenes Dasein 18

Er hat seinen Dorfgenossen aus der Seele gespro- noch so mutgeschwellte Worte sprach, ist mit einigen
chen. Höhnisches Lachen der Männer schlägt Fellh kühnen Sätzen in seine Hütte gerannt. Nur die beiden
und Gra-koh entgegen. Aus den Hütten erklingt Ge- Forscher stehen noch im Freien.
kreisch — es sind Frauen, die es den Männern nachtun „Die Strahlenpistolen!“ ruft Fellh seinem Gefährten
und die durch die Lücken der Baumverriegelungen ins zu. Aber Gra-koh hat seine Waffe schon in der Hand.
Freie geblickt haben. Völlige Ruhe herrscht auf dem Platz vor den Hüt-
Fellh und Gra-koh sind zwei kultivierte Ästheten, ten. Keiner der Hüttenbewohner will durch einen lau-
denen nichts ferner liegt, als sich mit einer Horde be- ten Ruf die Aufmerksamkeit der riesigen Bestie auf
waffneter Wilder herumzuschlagen. Aber die Worte, sich lenken.
die der Alte sagte, wollen ihnen absolut nicht gefallen. Der Tiger — wenn dieses gestreifte, gewaltige Un-
Sie wissen, wer sie sind und was sie bei sich tragen, geheuer diesen Namen überhaupt verdient — bleibt
doch in ihrem Hirn klafft eine Lücke. Sie können nicht zehn Meter vor den beiden Forschern stehen und pen-
sagen, wie sie hierhergekommen sind. Sie wissen, daß delt mit dem mächtigen Kopf hin und her. Er stößt
sie unter dem Schutz der Regierung der Galaktischen einen röchelnden Laut aus und schmiegt sich mit dem
Union stehen und daß es irgendwo auf diesem Plane- gefleckten Körper eng an den Boden.
ten eine Gefahr für sie gibt. Für Beleidigungen, wie sie
„Achtung! Er will springen!“ raunt Gra-koh seinem
dieser Alte soeben aussprach, gibt es die ordentlichen
Gefährten zu. „Gehen wir fünf Meter auseinander und
Gerichte, die sie in Anspruch nehmen werden, wenn
greifen ihn von zwei Seiten an!“
es diese Leute gar zu bunt treiben.
Das Raubtier verändert seine Lage, als es gewahrt,
Fellh antwortet, und seine Stimme enthält einen ver-
daß sich seine Beute geteilt hat. Mit einem schrillen
steckten Unterton der Schärfe.
Schrei stößt es sich vom Boden ab und fliegt durch die
„Ich habe dich nicht um deine Freundschaft gebe- Luft, gerade auf Fellh zu, der sich zur Seite wirft. Im
ten, Alter!“ ruft er dem Häuptling zu. „Ob wir uns gleichen Augenblick tritt Gra-kohs Waffe In Tätigkeit.
vor deinen lächerlichen wilden Tieren fürchten, müß- Ein nadelspitzer Strahl elektrisch geladener Protonen
te sich ja erst einmal zeigen. Wir verzichten darauf, trifft das Untier in die Seite. Die Bestie wirft sich her-
uns mit euch zu unterhalten, und wir werden unseres um, doch da trifft sie ein zweiter Strahl von der ande-
Weges weiterziehen. Aber wir werden in der Welt dort ren Seite. Laut aufheulend bricht der Tiger zusammen.
draußen erzählen, was hier für unfreundliche und un-
Dann liegt der Tiger am Boden und rührt sich nicht
gastliche Menschen wohnen.“
mehr.
Die Männer blicken erwartungsvoll auf ihren
Fellh und Gra-koh wenden sich wieder den Hütten-
Häuptling. Dieser hält die Steinaxt unternehmungslu-
bewohnern zu.
stig in der Hand.
„Kommt heraus, ihr Männer!“ ruft Fellh. „Euer
„Deine Worte klingen übel, weibischer Fremdling!“
Feind ist tot! Zieht ihm das Fell vom Leib und bratet
entgegnet er. „Anstatt um Gnade zu bitten, führst du
sein Fleisch! Oder will sich noch einer mit uns mes-
Reden, die den Zorn meiner Männer erregen. So wis-
sen?“
set denn, daß ich euch verbiete, weiterzureisen. Ihr
werdet hierbleiben, um uns die niedrigsten Dienste zu Es dauert eine ganze Weile, bis sich die erste Hüt-
tun.“ tenverschanzung löst und der Häuptling herausgekro-
chen kommt. Ängstlich setzt er einen Fuß vor den an-
Während der Rede des Dorfältesten sind die Män-
deren. Als er drei Meter von Fellh entfernt ist, fällt er
ner und Jünglinge näher gekommen und haben einen
auf die Knie und hält flehend die Hände empor.
dichten Kreis um die beiden Forscher gebildet. Ein
muskulöser Kerl ist auf Fellh zugetreten und will ihm „Bleibet bei uns, o tapfere Krieger!“ bittet der
die Kleider vom Leib reißen. Fellh antwortet mit ei- Häuptling. „Alle unsere Feinde werden zittern, und die
ner heftigen Schulterbewegung, so daß sein Gegner wilden Bestien werden keines unserer Kinder zerflei-
einige Schritte zurücktaumelt. Gleichzeitig greift der schen. Unsere Frauen mögen euch das Lager bereiten
Forscher nach seiner Strahlenwaffe, die er in einem und...“
Lederetui am Gürtel seiner Hose befestigt hat. Was alles noch geschehen soll, erfahren Fellh und
„Zurück!“ ruft Fellh. „Wer sich an uns vergreift, ist Gra-koh nicht mehr. Und alles, was sich um den to-
des Todes!“ ten Tiger herum befand, liegt platt auf dem Boden. Ein
weiteres Wunder ist geschehen: die beiden Helden, die
Die Männer um ihn herum lassen ein höhnisches
den Tiger töteten, sind spurlos verschwunden, als hät-
Gebrüll ertönen. Doch dieses Gebrüll wird übertönt
ten sie sich in Luft aufgelöst.
durch ein anderes. Es ist ein fauchender Schrei, dem
ein drohendes Rollen folgt. Die Männer horchen auf, *
dann brüllt einer:
„Ein Tiger! Rettet euch!“ Die beiden Professoren sind in ihren Stühlen er-
In der nächsten Sekunde ist der Platz um die beiden wacht, nachdem Kan Kamana das grüne Auge ausge-
Forscher leer. Und selbst der Häuptling, der soeben löscht hat. Sie sind erwacht und sehen sich erstaunt
19 TERRA

und noch völlig abwesend um. Dann erkennen sie end- „Und nun wollen wir — wenn es meinen Herren
lich, wo sie sich befinden. Kollegen angenehm ist — weiter zurückgehen“, un-
Doch die Erinnerung an das vergangene Geschehen terbricht Kan Kamana die Nachdenklichheit der bei-
ist geblieben. Sie erheben sich schwankend. den Universitätsprofessoren.
„Es ist ein Wunder, Freund Kamana“, sagt Fellh. „Wieviel?“ erkundigt sich Antonio Stia, während er
„Du bist fürwahr ein großer Meister!“ den Zeithebel in die Hand nimmt.
„Lobt mich nicht, liebe Kollegen“, erwidert Kan
Kamana. „Es sind die ewigen Gesetze der Natur, die „Sagen wir — fünfzigtausend Jahre?“ wendet sich
es zustande bringen. Es ist nur mein Werk, sie erkannt Kamana fragend an seine beiden Gäste vom Da-lun.
zu haben. So seid ihr also, ohne daß ihr es wolltet, zu Stia ist schon am Werk. Die Maschine rechnet und
tapferen Jägern geworden, die es mit den schlimmsten spuckt das Ergebnis aus. Stia schaltet. Der Bildschirm
Bestien aufnehmen. Ich wollte bereits abschalten, als flammt auf. Kamana steht am Okular, stellt es auf
ich die Bestie springen sah, doch stellte ich auch fest, Sicht von hundert Meter Höhe.
daß sie euch im Sprung nicht erreichen würde. So ließ
Träge fließt der Strom Kannha. Das Gebirge steht
ich euch den Ruhm, das Untier zu töten, was ihr ja
wie einst. Die Hütten sind verschwunden, nein, es hat
auch fertiggebracht habt.“
sie zu jener Zeit noch nicht gegeben. Kein Mensch ist
„Hätten Sie uns nicht die Protonenwaffen mitgege-
zu sehen. Links und rechts des Stromes blinken Sümp-
ben, so wären wir schlimm daran gewesen“, sagt Pro-
fe. Das Meer ist nahe herangerückt.
fessor Fellh. „Wir sind Ihnen großen Dank schuldig,
Kan Kamana!“ Kamana fordert die beiden Professoren durch einen
Der Professor des Kidor steht am Okular und blickt stummen Wink auf, sich das Bild anzusehen. Sie star-
auf den Bildschirm. ren beide lange Zeit auf das trostlos-leere Bild, das
„Sehen Sie sich Ihre eingeborenen Freunde an, liebe sich ihnen bietet. 50 000 Jahre zurück — welch eine
Kollegen. Jetzt machen sie sich über den Tiger her.“ endlos lange Zeit! Es besteht kein Zweifel: Es ist die
Wunder über Wunder, die sie hier erleben! Noch gleiche Stelle, an der jetzt die Hafenstadt Be-is liegt.
vor Sekunden befanden sie sich an jener Stelle, die sie Der Strom hatte zur damaligen Zeit seine Ablagerun-
jetzt im Okular sehen. gen noch nicht so weit ins Meer hinausgeschickt, das
„Haben Sie eigentlich gewußt, daß Sie von mir be- Meer hatte noch weite Flächen des Landes bedeckt,
obachtet wurden?“ fragt Kamana harmlos. die heute freiliegen und als Fundament für eine große
„Nein, wir haben gar nicht daran gedacht“, antwor- Hafenstadt dienen.
tet Professor Gra-koh, „Wir wußten auch nicht, wie Ein langweiliges Bild für den, der die Landschaft
wir dorthin gekommen sind, wir haben auch keinen nicht kennt — hochinteressant für jeden, der weiß, um
Gedanken darauf verschwendet. Wir unterhielten uns was es sich handelt. Fellh und Gra-koh tauschen ge-
mit diesen Menschen, und jetzt erinnere ich mich, daß dämpfte Bemerkungen aus. Für Gra-koh, den Geolo-
wir sogar deren Sprache fließend sprachen.“ gen, ist der Bildschirm so spannend, als sähe er einen
„Ja, im Unterbewußtsein ist das möglich“, nickt Ka- Kriminalfilm.
mana. „Aber es ist noch ein Manko in meiner Erfin-
„Ich hatte niemals geglaubt, daß ich hier so etwas
dung. Vielleicht wäre es besser, wenn der Betreffende
erleben würde, Kollege Kamana“, sagt er außer Atem.
wüßte, daß es nur eines Winkes bedürfte, ihn nach hier
„Man könnte dieses Bild stundenlang ansehen und
zurückzuholen.“
fände doch immer wieder Neues... Und es ist Ihnen
„Man kann es von zwei Seiten auffassen“, meint
auch möglich, uns in diese Landschaft zu versetzen?“
Antonio Stia gleichmütig. „Meiner Meinung nach ist
es weise eingerichtet, daß sich der Beteiligte ganz un- „Aber natürlich, Kollege Gra-koh“, entgegnet der
befangen verhält. Diese Unbefangenheit ist notwen- Erfinder. „Haben Sie Lust?“
dig, um das Erleben echt zu gestalten.“ „Ach, nein, wir wollen doch lieber erst einmal unser
„Das ist durchaus möglich“, pflichtet ihm Fellh bei. Programm abwickeln.“
„Vielleicht hätten wir uns bei den Angriffen der Men-
schen und des Raubtieres zu sehr auf diese Hilfe ver- „Sie geben also nach allem, was Sie bis jetzt ge-
lassen...“ sehen haben, zu, daß wir uns auf diesem Bild rund
„... und wären gefressen worden“, ergänzt Stia 50000 Jahre vom heutigen Zeitpunkt in die Vergan-
trocken. „Sie haben da übrigens noch einen grünen genheit zurück begeben haben?“
Grasflecken an der Hose, Professor Fellh. Wo haben „Darüber kann gar kein Zweifel bestehen. Alles,
Sie sich den geholt?“ was man auf dem Bild sieht, deutet darauf hin. Das
Die beiden Gelehrten des Da-lun starren den klei- Meer, das noch weit ins Land hineinreicht, die Sumpf-
nen grünen Fleck an. Dieser grüne Fleck ist der schla- bäume, die Sümpfe selbst, die Riesenfarne — genauso
gende Beweis, daß sie diese Reise in die Vergangen- haben wir uns die Landschaft vorgestellt, die vor 50
heit gemacht haben, dieser grüne Fleck ist — 4000 000 Jahren an dieser Stelle gewesen sein könnte. In-
Jahre alt!“ teressant wäre es natürlich, wenn wir auch Menschen
Befohlenes Dasein 20

sehen könnten, aber das läßt sich natürlich nicht auf Kamana und Stia wechseln einen schnellen Blick.
Kommando herbeiführen.“ In Kamanas Blick lag sichtbares Erstaunen, in Stias
„Wollen wir jetzt das Rad der Zeit um eine Million Blick eine stumme Frage. Die beiden Professoren aber
Jahre zurückdrehen?“ fragt Kamana nach einer Weile. stehen stumm vor dem Bildschirm und blicken atem-
„Sollte Ihrer Maschine das möglich sein?“ forscht los auf ihre Heimat, wie sie vor der ungeheuerlichen
Gra-koh. Zeit von einer Million Jahren gewesen ist.
„Ich habe mit solchen Zeitentfernungen noch nicht Lange, lange dauert es, bis sich Fellh zu einer Be-
gearbeitet. Aber ich will es riskieren.“ merkung entschließt. Beide Hände fassen noch an die
Mit atemloser Spannung warten die vier Männer die Verkleidung der Maschine, als wolle er jedem anderen
Vorbereitungen ab. verwehren, durch das Okular zu blicken.
Kan Kamana begibt sich selbst an den Einstellhe- „Ja“, sagt er leise, „ja, das ist es... wenn sich auch
bel. Nur langsam und vorsichtig drückt er ihn nieder. die Natur in veränderter Weise zeigt, so sind doch die
Dann blickt er durchs Okular. typischen Merkmale unverkennbar. Und dennoch ist
es eine Entwicklung, die vom Standpunkt der Wissen-
Es dauert diesmal lange, ehe sich ein Bild zeigt.
schaft aus keine besonderen Überraschungen in sich
Schon fliegt der Schatten einer Enttäuschung über das
birgt.“
markante Antlitz Kamanas, als sich sein Körper plötz-
lich strafft. „Glauben Sie wirklich, Kollege Fellh?“ lächelt Ka-
mana hintergründig. „Haben Sie wirklich das Bild mit
Die Photonen haben sich zur Größe des Bildschir-
aller Sorgfalt studiert?“
mes verdichtet. Langsam wird das Bild schärfer, lang-
sam entstehen die Konturen von Bäumen und Wasser, Fellh sieht ihn erstaunt an. Er ist ein viel zu guter
langsam wird das Bild erkennbar. Kamana wartet mit Psychologe, als daß er aus den Worten des berühmten
geheimer Ungeduld, jeden Augenblick gewärtig, daß Forschers nicht einen versteckten Unterton des Mehr-
die Kapazität der Maschine überschritten und dadurch wissens herausgehört hätte. Hat Kamana eine Spur
die Maschine selbst unbrauchbar werden würde. ausfindig gemacht, die sich zu verfolgen lohnt?
Nichts dergleichen geschieht. Das Bild wird deut- Fellh steht wieder schweigend und unter An-
lich sichtbar. Und nach einer halben Minute, während spannung aller seiner Sehkraft vor dem Okular. Er
der die anderen den Atem anhalten, kann man den Ver- erschrickt, als die Hand Kamanas seinen Arm ergreift.
such als gelungen betrachten. „Lassen Sie mich bitte eine andere Einstellung vor-
Was ist zu sehen? Eine urweltliche Landschaft mit nehmen, Kollege Fellh. Ich habe da etwas gesehen, aus
riesigen Farnbäumen, eine weite Ebene, die unter dem dem ich nicht recht klug werde.“
flimmernden Glast einer heißen Sonne liegt, ein Ge- Fellh tritt bereitwillig zur Seite. Kamana hantiert
birge mit steilen, spitzen Kuppen — unähnlich dem, wieder an den Handrädern, die er um Bruchteile von
das man bisher beobachten konnte. Ein Strom, der Millimetern verstellt. Noch einmal blickt er prüfend
sein Wasser durch eine unwirtliche Sumpflandschaft auf den Bildschirm, dann winkt er Fellh stumm zu,
wälzt. Von Lebewesen keine Spur. Kamana schaltet vors Okular zu treten.
den Blickpunkt einige hundert Meter höher. Die Ebe- Dann stößt Fellh einen unterdrückten Ruf aus. Zur
ne vergrößert sich. Alles ist Sumpf, schwarzer, mora- gleichen Zeit wendet auch Gra-koh den Kopf, fragend
stiger Sumpf. und erstaunt und nichtverstehend.
Und dann sieht Kan Kamana noch etwas. Er bedient
„Was — ist — das?“ entringt es sich ihm endlich.
zwei Handräder und geht ganz nahe auf das unwirt-
liche Land herunter. Die gespannt wartenden Kolle- „Es sieht aus wie unterirdische Felsen“, meint Fellh,
gen hat er vergessen, während er angestrengt auf einen aber man sieht es ihm an, daß er selbst nicht an die-
Punkt in der Landschaft starrt. Wieder dreht er kaum se einfache Erklärung glaubt. Gra-koh schüttelt das
merkbar an den Handrädern und sucht eine neue Stel- Haupt.
le auf. Er runzelt die Brauen, zieht die Stirn in Falten, „Nein, so sehen Felsen nicht aus“, widerspricht er.
schüttelt den Kopf... Er murmelt einige Worte, den an- „Diese Steine sind zu regelmäßig, es sieht bald aus, als
deren nicht verständlich... seien sie behauen. Dann müßten aber lebende Wesen
Vorsichtig dreht er die Handräder wieder auf die eine solche Arbeit verrichtet haben.“
übliche Ausgangsstellung und wendet sich dann end- „Das ist gut möglich“, wirft Kamana ein. „Es könn-
lich um. „Bitte, meine Herren!“ Diese Worte sind wie ten ja schon viele tausend Jahre vorher irgendwel-
ein Startschuß. Fellh und Gra-koh stürzen sich auf die che Eingeborene hier gehaust haben. Durch riesige
Okulare. Niemals zuvor war es möglich, einen Blick Überschwemmungskatastrophen des Kannha wurden
zu tun, der eine Million Jahre in die Vergangenheit zu- sie aus ihren Häusern vertrieben. Als sie zurückkehr-
rückreichte. Es ist deshalb kein Wunder, wenn sich der ten, war hier alles Sumpf geworden, sie überließen ih-
beiden Experten eine ungeheure Spannung bemächtigt re einstigen Wohnsitze ihrem Schicksal. In der späte-
hat, so daß alle gelehrte Würde und Gelassenheit von ren Zeit stieg die Flut immer höher, so daß wir jetzt
ihnen abfiel. diese Häuser tief im Sumpf vergraben vorfinden. In
21 TERRA

den Jahrtausenden wurden die Steine vom Sumpfwas- Fell und Gra-koh treten vor die beiden Okulare.
ser geschwärzt, das Sumpfwasser fraß an ihnen, und Und fast zur gleichen Zeit sind die Schreie der bei-
sie zerbröckelten.“ den Forscher zu vernehmen. Alles hatten sie erwartet
„Wie lange“, fragt Fellh, „glauben Sie, Kollege Ka- — nicht aber dieses!
mana, daß der Sumpf gebraucht hat, diese Häuser —
Sie sehen eine Stadt, wie sie die Phantasie eines be-
falls es wirklich welche gewesen sind — so zuzurich-
gabten Technikers aufgezeichnet haben mochte. Sie
ten?“
wissen nicht, wohin sie zuerst blicken, über was sie
„Das läßt sich schwer sagen. Ich weiß, was Sie mei-
sich zuerst wundern sollen. Turmartige Hochhäuser
nen: Sie wollen versuchen, bis zum Ursprung dieser
aus Stahl und Glas in gewagtesten, modernsten Kon-
Häuser zurückzugehen, nicht wahr?“
struktionen, die neben-, zwischen-, übereinanderge-
„Ob das wohl möglich wäre?“ baut sind, durchzogen von Hochstraßen, die teilwei-
„Man müßte es versuchen. Wollen wir noch einmal se frei in der Luft schweben. Die Luft aber wimmelt
hunderttausend Jahre zurückgehen?“ von fliegenden Menschen, pfeilförmigen Raketenfahr-
„Ob das nicht zuviel ist, Professor?“ „Wir werden zeugen, blitzschnellen Scheiben. Zwischen den hohen
es ja sehen. Vergessen Sie nicht, daß wir den Ursprung Häuserschächten liegen in der Tiefe die Straßen, die
des Lebens überhaupt erforschen wollen. Was bedeu- durch künstliches Licht taghell erleuchtet sind. Wind-
ten da hunderttausend Jahre?“ schnelle Fahrzeuge huschen mit beängstigender Ge-
Um die Maschine nicht zu überanstrengen, läßt.Kan schwindigkeit durcheinander, doch es gibt keinen Un-
Kamana das jetzige Zeitalter von einer Million Jahren fall, keinen Zusammenstoß. Dazu kommt noch die ki-
stehen und hängt die geplanten hunderttausend Jahre lometerlange Front der Kaimauern, an denen strom-
noch an. Die Maschine wirft den Zettel mit dem Ent- linienverkleidete Schiffe aller Größen verankert sind.
fernungsergebnis heraus. Langsam drückt Kamana die Kein Mensch arbeitet, alle Arbeit wird entweder von
Maschine auf die gewünschte Kapazität. Robotern oder von Spezialmaschinen ausgeführt. Die
Das Bild auf dem Bildschirm, der sich im Innern Gehsteige der Straßen sind schwarz von Menschen.
der Maschine befindet, ist verschwunden. Doch schon Sie bewegen sich auf Rollbändern. Auf dem Strom
zuckt es wieder hell auf; eine verwirrende Menge von Kannha bewegen sich Boote mit schäumenden Bug-
Punkten, Linien und Strichen erscheint, die sich wie wellen, an den Ufern des Stromes stehen gläserne Vil-
von selbst zu einem geschlossenen Ganzen ordnen. len von einmaliger Schönheit, die in phantastischen
Dann kommt Ruhe in das Bild. Gärten versteckt gebaut sind.
Und Kan Kamana, der am Okular steht, prallt zu-
Die Stadt ist unübersehbar. Sie ist umstellt von rie-
rück.
sigen Stahltürmen, die irgendeine Bedeutung haben
Noch einmal blickt Kamana durch das Okular. müssen. In einem Teil der Riesenstadt befinden sich
„Das ist doch Unsinn“, murmelt er. Und dann noch: hohe Kuppeln, deren Bedeutung ebenfalls nicht zu er-
„Man hätte die Maschine noch einmal vom Anfang kennen und zu erraten ist.
aus arbeiten lassen sollen.“
„Was ist denn los, Kollege Kamana?“ unterbricht Einzig und allein das hochansteigende Gebirge
Fell das Schweigen der Umstehenden. zeigt, in welcher Gegend man sich befindet. Doch
„Ach“, antwortet Kamana etwas aufgeregt. „Es ist dieses Gebirge ist von unbeschreiblicher Höhe. Wenn
da ein Fehler passiert. Wir müssen das Bild noch ein- man die Höhe der Berge vorher auf rund 1500 Me-
mal erfassen. Noch einmal von der Nullstellung aus.“ ter schätzte, so ragen jetzt schneebedeckte Gipfel von
mindestens 4000 Meter Höhe in den blauen Äther und
Mehr ist aus ihm nicht herauszuholen. Kamana
verstärken noch den Eindruck der Schönheit, die die-
stellt die Hebel diesmal persönlich ein, wartet gedul-
se Stadt in ihrer Gesamtheit zwischen Meer und Ge-
dig auf die Ausrechnung, überfliegt den Zettel mit der
birge aufweist. Hochgebaute Straßen, die über weite
zwanzigstelligen Zahl und läßt dann die Maschine in
Strecken frei in der Luft schweben, streben strahlen-
Aktion treten. Er geht noch nicht zum Okular, sondern
förmig auseinander, und selbst die Höhe der Schnee-
wartet geduldig eine Minute, zwei Minuten, drei Mi-
gipfel bedeutet für sie kein Hindernis. Auf diesen Stra-
nuten. Seine Ruhe geht auf die anderen über, die nicht
ßen gleiten granatenförmige Fahrzeuge so. schnell da-
ahnen, daß diese Ruhe nur eine gespielte ist. Sie ahnen
hin, daß man sie kaum mit den Augen zu verfolgen
nicht, daß Kamanas Herz bis zum Zerbrechen klopft,
vermag.
daß er sich mit geheimer Furcht endlich ans Okular
begibt. Welch ein Unterschied! Es ist das gleiche Bild, das
Zögernd wirft er einen Blick durch die Glasscheibe. Kan Kamanas Maschine schon beim erstenmal zeigte,
Dann wendet er sich brüsk um. und dem er keinen Glauben schenkte. Er hielt dieses
„Also doch!“ sagt er laut. „Es war kein Irrtum, den Bild für einen Irrtum, er glaubte, daß Entfernung und
ich vorhin feststellte. Sehen Sie selbst hindurch, liebe Zeit falsch eingestellt seien. Das abermalige Erschei-
Kollegen! Was Sie dort sehen, ist die Stadt Be-is vor l nen dieses Bildes auf dem Schirm zeigt ihm, daß es
100.000 Jahren. Die Maschine irrt sich nicht.“ Wahrheit ist, was er gesehen.
Befohlenes Dasein 22

Hunderttausend Jahre später ist von dieser schim- über diese Stadt Be-is — wir wollen sie ruhig weiter
mernden Millionenstadt nichts mehr zu sehen. Unter so benennen — hereingebrochen ist.“
dem Brackwasser der Sümpfe sind noch schwarzver- „Wie wollen Sie das tun, Kollege Kamana?“
kohlte Trümmer sichtbar, armselige Reste, die dem „Wir müssen uns an den Zeitpunkt herantasten. Pas-
endgültigen Verfall geweiht sind. Wo aber waren nach sen Sie auf: ich werde jetzt die Maschine um zehn-
dieser Zeit die Menschen geblieben? Was hat sich im tausend Jahre in der Vergangenheit zurückstellen. Die
Verlauf dieser hunderttausend Jahre ereignet, was die- Maschine wird demnach auf 1 090 000 Jahre der Ver-
se Stadt vom Mutterboden des Da-lun hinwegradierte? gangenheit eingestellt.“
Zehn Minuten sind vergangen, seitdem die beiden Als Kamana den Bildschirm prüft, befindet sich die
Bewohner des Da-lun, Gelehrte und Forscher einer der Stadt noch am gleichen Ort. Es ist während dieser Jah-
bekanntesten galaktischen Universitäten, erschrocken re nichts passiert.
und maßlos verblüfft aufschrien. Und noch immer ste-
Er versucht es mit weiteren zehntausend Jahren.
hen die beiden Männer vor den Okularen und starren
Auch jetzt ist noch keine Veränderung festzustellen.
dieses ganz und gar unmögliche, absolut unerwartete
Als Kamana beim dritten Versuch den Bildschirm be-
Bild an. Sie sagen kein Wort, denn das, was sie er-
trachtet, liegt die Stadt in Trümmern.
blicken, hat ihnen die Sprache genommen.
Kamana geht wieder eintausend Jahre zurück. Die
„Tja“, räuspert sich endlich Kan Kamana, „das hät- Stadt steht noch.
ten Sie wohl nicht erwartet, meine Herren Kollegen?“
Wieder fünfhundert Jahre vor. Die Stadt ist zerstört.
Aufatmend wenden sich die beiden Professoren um. Aber die Wunden scheinen noch ziemlich frisch zu
Fellh schüttelt den Kopf. sein.
„Nein“, sagt er mit belegter Stimme. „Nein, das hat- Stundenlang suchen die Männer nach jenem Tag, an
ten wir nicht erwartet.“ dem es über die Stadt hereinbrach.
„Wir wollen einmal ganz klar darüber sprechen“, Endlich hat Kan Kamana durch Vor- und Rückta-
nimmt Kan Kamana wieder das Wort. „Dieses Bild sten jenen Tag des Grauens erfaßt.
beweist uns die Unendlichkeit der menschlichen Ent- Die Katastrophe erfolgte genau vor 1 069 314 Jah-
wicklung. Es beweist uns, daß wir uns mit unseren ren, 2 Monaten und 16 Tagen, vom heutigen Zeitpunkt
Mutmaßungen um die Entstehung der Menschheit auf an gerechnet. Als Kamana nach langem Suchen den
ganz falschem Weg befinden. Es gibt nicht nur den Bildschirm überprüft, hält er unwillkürlich die Hände
unendlichen Raum, sondern auch das unendliche Le- vor die Augen.
ben. Planeten und Völker und Kulturen entstehen in
Es ist das Inferno.
ewigem Gleichmaß, aber sie vergehen auch, ohne ei-
ne Lücke zu hinterlassen. Wir müssen alles von ei- Er winkt Fellh hastig heran.
ner höheren Warte aus betrachten.“ Er deutet auf den „Kommen Sie schnell, Kollege!“
hinter der Maschinenverkleidung befindlichen Bild- Fellh ist mit einem Sprung bei ihm. Er prallt entsetzt
schirm. „Was wir dort sehen, ist nur eine einzige Stu- zurück.
fe der Entwicklung in einer riesigen Treppe, deren „Oh!“ ruft er nur. Doch in diesem kleinen Ausruf ist
Ausmaß wir auch nicht annähernd abschätzen können. alles enthalten, was er an namenlosem, beispiellosem
Was wissen wir denn, um welche Epoche der Mensch- Schrecken zum Ausdruck zu bringen vermag.
heitsgeschichte des Planeten Da-lun es sich auf diesem Es regnet Bomben auf die brennende Stadt. Kamana
Bild handelt? Das gesamte Weltall wird vom Gesetz bedient eines der Handräder, so daß sie jetzt aus vielen
des Werdens und Vergehens beherrscht. Vielleicht hat Kilometern Höhe auf die Stadt herabblicken.
es im Verlauf der Millionen und Milliarden Jahre Din-
Und dann sehen sie gewaltige, silbernglänzende zi-
ge gegeben, von denen sich unsere heutige Weisheit
garrenförmige Raumschiffe. Sie laden ihre Lasten auf
nichts, aber auch gar nichts träumen läßt? Wir wissen
die bedauernswerte Stadt ab.
es nicht. Die Kulturen sind so tief in den Schoß ih-
rer Mutterplaneten versunken, daß wir sie auch durch Das sind keine Atombomben im gewöhnlichen
Ausgrabungen niemals mehr festzustellen vermögen.“ Sinn, das sind weder Wasserstoff- noch Kobaltbom-
ben. Es ist eine grauenhafte Vernichtungswaffe, die
Fellh rauft sich verzweifelt das Haar.
der unbekannte Gegner zur Anwendung bringt. Aus
„Ich bin noch immer fassungslos, lieber Kollege einigen der hohen Stahltürme, die am Rande der Stadt
Kamana“, sagt er. „Unsere gesamte Geschichtsfor- aufgestellt sind, zischen in ununterbrochener Rei-
schung ist illusorisch geworden.“ henfolge Abwehrstrahlen und Magnetraketen. Dann
„Nein, Kollege Fellh, das ist sie nicht. Es kommt schweigen auch sie, von der unvorstellbaren Hitze zer-
nun nur noch etwas hinzu. Meine Maschine wird da- schmolzen, vom Luftdruck umgebogen, von den tödli-
zu beitragen, daß die Geschichtsforschung sämtlicher chen Strahlen zerfressen. Majestätisch kreisen in fünf-
Planeten richtiggestellt wird. Wie weit wir zurückge- zig Kilometer Höhe die silbernen Zigarren, deren je-
hen dürfen, wird die Zukunft erweisen. Zunächst wol- de eine Länge von vierhundert Metern hat. Tief unten
len wir jetzt einmal feststellen, wann die Katastrophe aber ist die Hölle.
23 TERRA

Antonio Stia und Professor Gra-koh haben die Plät- *


ze der beiden anderen eingenommen. Fellh hat die
Nerven verloren, er ist völlig zusammengebrochen Nacht hat sich über Kidora gesenkt.
und schluchzt. Kan Kamana hat sich bequem in einem Liegestuhl
„Verflucht!“ sagt auch Antonio Stia, dessen Kälte ausgestreckt und raucht eine seiner vitaminhaltigen
sonst durch nichts erschüttert werden kann. Professor Zigaretten. Er überläßt sich ganz dem Zauber dieser
Gra-koh aber murmelt ununterbrochen vor sich hin. Nacht.
Die Kettenreaktionen pflanzen sich über das gan- Da klingt ein feines, helles Quietschen vor dem
ze Land. Überall schießen gewaltige Atompilze in die Gartentor. Nächtlicher Besuch, die Bremsen eines
Luft, ganze Gebirgsmassive geraten ins Wanken oder Schnellwagens. Eine Tür fällt ins Schloß.
werden zerfetzt und in die Wolken geschleudert. So
weit das Auge blicken kann, erfolgen die furchtba- Kamana erhebt sich, eine kleine Hoffnung im Her-
ren Ausbrüche zertrümmerter Materie, und selbst der zen.
Meeresgrund bleibt nicht verschont. Riesige Flutwel- Es ist Ira.
len wälzen sich gegen die Küsten und kommen erst an Vergessen ist Be-is, vergessen sind die unbekannten
den Gebirgen zum Stehen. Raumschiffe, vergessen ist das Inferno der verlöschen-
Mit geballten Fäusten steht Professor Gra-koh vor den Stadt. Es ist die Gegenwart, die zu ihm kommt, ei-
dieser absoluten Verwüstung, Nichts, nichts wird mehr ne betörende Gegenwart. Und diese Gegenwart lächelt
übrigbleiben von jener schimmernden Stadt höchster und bietet ihm die feingliedrigen Finger zum Kuß.
Zivilisation und ungetrübter Lebensfreude. „Muß ich mich entschuldigen, Kan Kamana, daß
„Da, da! Die Raumschiffe!“ ruft Gra-koh mit er- ich diese Zeit wählte und nicht eine andere?“
stickter Stimme. „Es wäre Blasphemie“, lacht er sie an.
Kamana drängt Stia zur Seite. Er blickt durch das
Er weist auf den Liegestuhl, der sich neben dem sei-
Okular und sieht, wie sich die silbernen Zigarren in
nen befindet. Sie läßt sich in gespielter Erschöpfung
Bewegung setzen. Er dreht an den Handrädern, um sie
darin nieder.
weiter im Blickfeld zu behalten.
„Wollen wir sie verfolgen?“ fragt Kamana den ne- „Was darf ich Ihnen bringen, Gnädigste? Likör,
ben ihm stehenden Professor. Kaffee, Tee? Oder haben Sie andere Wünsche?“
„Jaja!“ antwortet dieser, aufs höchste erregt. Sie dehnt sich in katzenhafter Behaglichkeit.
Wie ein schneller Film rollt das nachfolgende Ge- „Schön ist es bei Ihnen, Professor. Bringen Sie Li-
schehen ab. Kamana bedient das Handrad, um mit dem kör. Das paßt zu diesem Abend.“
Bildschirm Schritt zu halten. Eine Weile geht das gut, Er schenkt ein und erhebt sein Glas.
doch dann haben sich die Silberzigarren in Nichts auf- „Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Ira. Sie
gelöst. Kamana zuckt die Schultern. vertreiben alle schlimmen Träume.“
„Sie haben sich entmaterialisiert“, stellt er fest. „Da
„Sie machen mich eingebildet, Professor. Haben Sie
ist leider nichts zu machen.“
öfters solche Träume?“
Er stellt die Maschine ab.
„Ich glaube, daß sich weitere Vorstöße in die Ver- „Es hing mit dem Film von gestern zusammen. Ich
gangenheit erübrigen“, resümiert er. „Das, was wir ge- dürfte nicht so oft allein sein.“
sehen haben, beweist uns, daß es auch die sogenannte „Sie sind allein, Professor?“
Vergangenheit nicht gibt. Das Leben ist zeitlos, mei- „Im Augenblick — nein! Im Augenblick sind Sie
ne Herren Kollegen. Ihre Vorfahren, die vor mehr als da!“
einer Million Jahren das Gelände der heutigen Ha- „Oh, dann müßte ich wohl öfter kommen.“
fenstadt Be-is bevölkerten, waren Ihnen schon damals
„Es wäre eine gute Lösung, Ira.“
technisch überlegen. Eine solche Überlegenheit kann
nur durch eine uralte Geschichte und aus den Tradi- Sie wechselt unvermittelt das Thema.
tionen heraus entstanden sein. Man könnte diese Ge- „Wie ist das eigentlich, Professor. Müssen Sie die
schichte wiederum bis zu einer Art Anbeginn verfol- Personen, die Sie in die Vergangenheit und auf einen
gen — wer aber möchte behaupten, daß jene damalige anderen Planeten versetzen, eigentlich immer im Auge
zerstörte Welt die erste war, die sich auf dem Da-lun behalten? Oder genügt es, wenn Sie nach einer gewis-
befand? Kulturen entstehen und vergehen, es ist das sen Zeit Ihre Maschine abstellen, um diese Personen
uralte Märchen von der Reinkarnation, von der Wan- wieder ins hiesige Dasein zurückzurufen?“
derung der Seelen, die alles Materielle überdauern.“ „Ich brauche sie nicht zu beobachten“, erwidert er,
Aufs tiefste beeindruckt verlassen die beiden Pro- und er freut sich über das Interesse, das sie seinen An-
fessoren die Hauptstadt der Galaktischen Union. Das, gelegenheiten entgegenbringt. „Bei Ihnen habe ich ei-
was sie ihren Mitbewohnern mitzuteilen haben, über- ne Ausnahme gemacht, denn ich wollte nicht, daß Ih-
steigt die Grenze dessen, was sie sich von ihrer langen nen ein Unglück zustößt. Deshalb habe ich jeden Ihrer
Reise jemals erhofften. Schritte beobachtet.“
Befohlenes Dasein 24

„... und mich zu einem Ihnen geeignet scheinenden „Und wie viele Jahre zurück?“
Augenblick wieder in die Wirklichkeit zurückgerufen, „Mindestens tausend“, sagt er aufs Geratewohl.
nicht wahr?“
„In eine Wildnis?“ fragt sie zurück.
„Und wenn es so wäre, Ira?“ „Dann wäre dieses Da-
„Meinetwegen in eine Wildnis“, zuckt er die Ach-
sein kein freiwilliges mehr, sondern ein befohlenes.“
seln.
„In gewisser Hinsicht ist es das, Ira. Denn die Be-
fehlsgewalt liegt hier in der Zentrale, hier am Aus- „Hier“, sagt sie, während sie ein Buch aus einer der
gangspunkt.“ unteren Reihen nimmt. „In diesem Buch stehen un-
wirtliche Gegenden und unerforschte Gebiete der Ga-
„Es ist aber nur der eine Befehl, den man dem Betei-
laxis aufgezeichnet. Aber er wird dort umkommen“,
ligten geben kann — nämlich zurückzukehren. Einen
setzt sie nachdenklich hinzu.
anderen Befehl, sozusagen eine Aufgabe — könnten
Sie dem Betreffenden nicht erteilen?“ „Was schadet das?“ zuckt er die Achseln. „Dann
sind wir ihn wenigstens los.“
„Nein, das ist leider noch unmöglich. Vielleicht
werde ich es eines Tages so weit haben, daß ich mich „Man weiß nicht, ob dort nicht wilde Tiere sind
mit den Betreffenden unterhalten kann. Bis dahin hat’s oder wilde Menschen“, widerspricht sie. „Wir wollen
aber noch gute Zeit.“ ihm dann wenigstens eine Strahlenwaffe in die Tasche
Er ist aufgestanden, um neuen Likör in die Gläser stecken.“
zu schenken. Sie beobachtet ihn aus schmalgeschlos- Er wirft ihr einen mißtrauischen Blick zu.
senen Augen. Und dann vernimmt er drei kleine Wor- „Hast du auf einmal ein schlechtes Gewissen, Ira?
te, die sie spricht. Ich kann mich erinnern, daß du diejenige gewesen bist,
„Küß mich, Kan!“ die den Plan ausgeheckt hat. Jetzt auf einmal machst
Er beugt sich tief zu ihr herab. du einen Rückzieher.“
Ein Geräusch hinter seinem Rücken. Schnelle, „Das ist kein Rückzieher, Krono. Du weißt genau,
springende Füße. Er dreht sich überrascht um. was wir vorhaben. Wir müssen aber auch damit rech-
Zu spät! nen, daß wir eines Tages entdeckt werden. Was wird
dann aus uns, wenn der Professor zugrunde gegangen
Er erhält einen schmetternden Schlag auf den Kopf
ist? Und dann — er hat uns schließlich nichts getan.“
und verliert das Bewußtsein.
„Mach, was du willst. Hast du etwas gefunden?“
* „Suche selbst“, entgegnet sie verstimmt, indem sie
ihm das Buch auf die Tischplatte wirft. „Ich werde
Krono Tikkal, der elegante Freund Iras, hat den Nie- einstweilen die Maschine in Gang bringen.“
dergeschlagenen fachmännisch gefesselt und gekne-
Sie geht an ihm vorbei und läßt ihn mit dem Buch
belt.
allein. Es dauert ziemlich lange, ehe er sich das Geeig-
„Los, beeil dich!“ fährt er seine Komplizin an. „Wo nete herausgesucht hat. Während dieser Zeit hat Ira
ist die Maschine?“ Tarwi dem Professor heimlich eine Strahlenwaffe in
„Unten im Keller“, flüstert sie. „Er wird abgeschlos- die Tasche gesteckt. Sie fühlt in seiner Tasche die Um-
sen haben.“ risse eines Bleistiftes. Blitzschnell hat sie aus einem
Tikkal untersucht die Taschen Kamanas. Dann hat Notizblock, der auf einem Bord der Maschine liegt,
er die Schlüssel in der Hand. Er wirft sich den Ohn- ein Blatt gerissen und schreibt einige hastige Zeilen
mächtigen über die Schulter, während Ira vorausgeht, darauf. Auch dieses Blatt schiebt sie Kamana in die
um die Türen zu öffnen. Um vor allen Überraschun- Jackentasche. Und dann erscheint Krono Tikkal.
gen sicher zu sein, schließt sie hinter sich sorgfältig „Ganz schöne Auswahl in der Schwarte. Hier, was
ab. Sie hat sich den Weg in den Keller gut gemerkt. sagst du zum Planeten Ta-foll? Verdammt schöne Ur-
Zuerst durchqueren sie den Raum mit den Büchern, wälder, der ganze Planet noch so gut wie unerforscht.
dann stehen sie vor der gewaltigen Maschine. Hier ist die Entfernung: 297,4 Billionen Kilometer.
„Dort in den Stuhl!“ weist Ira ihren Freund an. Weißt du denn, wie es jetzt weitergeht?“
Krono Tikkal bindet den Professor an den Stuhl. So- „Natürlich weiß ich es. Gib die Zahlen her!“
bald die Maschine in Tätigkeit gesetzt wird, ist. das Sie hat damals, als ihr der Professor die Maschine
grüne, hypnotische Auge unentrinnbar auf ihn gerich- zeigte, genau aufgepaßt. Sie stellt den Zeithebel auf
tet. Ira Tarwi ist zu den Büchern geeilt und sucht. 1000 Jahre Vergangenheit und den Entfernungshebel
Nach wenigen Augenblicken erscheint Tikkal. auf die angegebene Entfernung. Dann schaltet sie die
„Was tust du hier?“ fragt er böse. „Bist du verrückt, Maschine ein.
hier in den Büchern zu lesen, anstatt mir zu helfen?“ Es ist der Maschine gleichgültig, wer sie bedient.
„Ich muß doch erst etwas heraussuchen“, entschul- Sie summt kurz auf und wirft den Zettel mit der Aus-
digt sie sich. „Wohin willst du ihn versetzen?“ rechnung heraus. Diese Ausrechnung verwendet Ira,
„Dorthin, wo er uns nicht schaden kann.“ um die Maschine einzustellen. Dann drückt sie den
25 TERRA

Hebel mit dem magischen Auge herab und begibt sich Er besieht sich seine Umgebung, streicht sich das
zum Okular. Haar zurück, runzelt die Brauen und entschließt sich,
Was sie sieht, läßt sie erschrecken. Das Bild zeigt nach oben zu steigen. Er kalkuliert, daß die Sumpfge-
eine wildzerklüftete Felsenlandschaft. Wohin das Au- gend in der Tiefe ein nur wenig geeigneter Aufenthalt
ge blickt, bilden Felsen, riesige Bäume, Schlingpflan- ist, und daß die ungeheure Ebene, die er von hier aus
zen, morastige Tümpel und dichtes Unterholz ein un- überblicken kann, keine Chance bietet, weiterzukom-
durchdringliches Chaos. Nicht die Spur eines Pfades men.
oder einer ordnenden menschlichen Hand ist zu sehen.
Er nutzt die Lücke zwischen zwei Bäumen, um den
Diese Urweltlandschaft fällt steil ab zu einer Ebene,
Steilhang in Angriff zu nehmen. Das ist nicht leicht
die von unzähligen Sümpfen durchzogen wird. Dich-
und geht nicht ohne Schrammen und ohne Atemnot
ter Urwald säumt diese Landschaft auf der rechten
ab. Mehrere Male muß er gezackte Felsblöcke umge-
Seite ein,
hen, die sich ihm in seinen holperigen Weg stellen.
Ira Tarwi bedient das darüberliegende Handrad, Nur langsam kommt er vorwärts, aber er gewinnt dem
um aus der Höhe von rund 50 Metern, in der sich verwilderten Hang Meter um Meter ab.
das Blickfeld befindet, zum Boden herabzugelangen.
Nach zwei Versuchen hat sie das richtige Handrad er- Da steht ein Baum mit runden, gelben Früchten. Ka-
wischt. Und dann erschrickt sie ein zweites Mal. mana ist hungrig, und außerdem kennt er diese Früch-
Mitten im Pflanzen- und Felsengewirr bewegt sich te. Woher er sie kennt — das ist eines der Rätsel, die
eine menschliche Gestalt. Es ist Kan Kamana. die Telepathie aufgibt. Es ist das gleiche, als er zurück-
„Da, sieh selbst!“ fordert sie ihren Kumpan auf. versetzt wurde. So weiß auch Kamana, daß er diese
Er wirft einen Blick durchs Okular. Früchte unbesorgt essen kann.
„Das ist ja eine tolle Maschine“, sagt er anerken- Gestärkt und gesättigt setzt Kamana seinen Auf-
nend. „Da kann man einfach jeden, der einem nicht stieg fort, öfters muß er die Hände zu Hilfe nehmen,
paßt, aus dem Weg räumen.“ denn hier oben wird es nicht nur steiler, sondern auch
„Das habe ich dir doch gesagt. Nun bringe mal die felsiger. Wie er von hier aus schon feststellen kann, ist
Leute, die du erpressen willst.“ der Kamm des langgestreckten Gebirges, den er zu er-
„Ich? Wer hat denn die Idee mit den Erpressungen reichen hofft, wenigstens 2000 Meter hoch. Der Hang
gehabt? Das warst doch du!“ wird sehr steil, Kamana muß klettern und einige klei-
„Ist egal, wer es war. Du sagtest doch, daß du ge- ne Felsvorsprünge überwinden, die sich nicht umge-
nügend Leute zur Hand hast, die man um eine Million hen lassen. Unter seinen Füßen gibt das Geröll nach
galaktischer Dollar erleichtern könnte.“ und stürzt polternd nach unten. Wenn es doch nur nicht
„Habe ich auch! Ich werde dir’s beweisen! Und was so heiß wäre! Und außerdem hängt seine Jackentasche
wird inzwischen hier?“ schwer nach unten. Er greift in die Tasche und zieht ei-
ne Strahlenpistole hervor. Lächerlich, wie kommt die-
„Ich bleibe hier und passe auf. Es ist jetzt kurz vor
se Waffe in seine Jackentasche? In der heutigen zivi-
elf, vielleicht klappt es noch heute nacht?“
lisierten Zeit braucht man keine Strahlenwaffen mehr,
„Das wollen wir sehen“, sagt er, indem er sich es sei denn, man müßte sich gegen irgendeinen Wege-
zur Tür wendet. Im nächsten Augenblick ist er ver- lagerer zur Wehr setzen. Aber so einer wird sich schön
schwunden. bedanken, in dieser unwegsamen Gebirgsgegend her-
Ira Tarwi aber steht bewegungslos hinter der Ma- umzustapfen.
schine. Sie blickt — einer plötzlichen Eingebung fol-
gend — durch den Bildschirm. Es ist die gleiche Land- Aber da ist ein Stück Papier aus der Tasche gefallen.
schaft, die sie vorhin schon sah, aber Kan Kamana ist Schon will Kamana das Papier unbeachtet liegenlas-
verschwunden. Angst befällt sie, es ist die Angst des sen, als er sich schließlich doch noch bemüßigt fühlt,
schlechten Gewissens. Wo kann er sein? es aufzuheben. Er entfaltet es ohne besonderes Inter-
Immer aufgeregter hantieren ihre Hände an den esse. Es dauert eine ganze Weile, ehe er die hastigen,
Stellrädern. Ein neues, ganz unbekanntes Gefühl be- mit Bleistift geschriebenen Worte entziffert hat. Und
wegt sie, wenn sie an den verschollenen Professor nach einer ganzen Zeit steht er noch immer am glei-
denkt. Es ist nicht nur die Furcht vor der Aufdeckung chen Fleck und denkt über den Sinn dieser Worte nach.
des Verbrechens, das sie gemeinschaftlich mit Tikkal Diese Worte aber lauten:
begangen hat. Es ist etwas ganz, ganz anderes.

* Kan Kamana! Man hat mich zu dieser Sa-


che gezwungen. Ich werde Dir helfen, ha-
Tropische Hitze, Sümpfe, Schwärme von Stech- be Geduld!
mücken, undurchdringliches, dorniges Gestrüpp,
schlingpflanzenumrankte Urwaldriesen — das ist die
Umgebung, in der sich Kan Kamana wiederfindet. Ira Tarwi.
Befohlenes Dasein 26

Kamana überlegt. Der Sinn dieser Mitteilung ist spielt wird. An Antonio Stia wird sich dieser Verbre-
ihm vollkommen dunkel. Was soll das alles heißen? cher die Zähne ausbeißen. Stia ist nicht nur ein kluger
Kan Kamana — das ist er selbst, man hat also diesen Kopf, sondern er weiß auch mit der Maschine umzu-
Zettel an ihn gerichtet. Ira Tarwi... Ira Tarwi? gehen.
Er ist in so tiefes Grübeln versunken, daß sein Kopf Welche Rolle aber spielt Ira Tarwi? Das ist die Fra-
zu schmerzen beginnt. Wie kam diese Mitteilung in ge, die sich Kamana immer wieder vorlegen muß. Ist
seine Tasche? Hatte er sie eigentlich schon gelesen? sie eine Gefangene des Verbrechers? In diesem Fall
Er kann sich nicht erinnern. Und wer ist Ira Tarwi? wäre es ihr aber nicht möglich gewesen, ihm den Re-
Kan Kamana durchfährt es plötzlich wie ein Blitz. volver und den Zettel in die Tasche zu schieben. Und
Es war ein Gedanke, der wie ein Schemen auftauchte wie war der Verbrecher imstande, die Maschine richtig
und wieder verschwand. Mit einemmal sah er irgend zu bedienen?
etwas greifbar nahe vor sich liegen, doch ehe er es er- Hat er Ira Tarwi gezwungen, ihn mit dem Mecha-
griffen hatte, war sein Hirn wieder trostlos leer. nismus vertraut zu machen?
Er beschließt weiterzusteigen. Doch seine vorherige Kan Kamana denkt aber während seines schwieri-
Unbefangenheit ist verschwunden. Ira Tarwi... so geht gen Aufstieges noch an etwas anderes. Es ist die Ver-
es ununterbrochen durch seinen Kopf. vollkommnung seiner Erfindung, die sich ohne Wis-
Da ist er wieder, da ist der Gedanke zum zweiten- sen der Beteiligten ergeben hat. Es ist der Zettel, den
mal! ihm Ira Tarwi zusteckte. So ist es also tatsächlich mög-
Und dann stößt Kan Kamana einen Schrei aus. Mein lich, Bewußtsein und Unterbewußtsein mit Hilfe einer
Gott — Ira Tarwi, jetzt sieht er sie deutlich vor sich solchen Gedächtnisstütze zu koppeln. Allerdings war
stehen. Ira Tarwi, die Maschine, seine Erfindung, sein es bei ihm besonders schwierig, weil auf dem Zet-
Haus in Kidora. tel zu wenig Anhaltspunkte für Gedächtnis und Ver-
stand vorhanden waren. Kamana ist aber überzeugt,
Er hat die Zusammenhänge erkannt. Niemals mehr daß man einem Versetzten die Wahrheit des Gesche-
kann ihm der Gedanke entrinnen. Man hat ihn versetzt, hens durch eine ausführliche Beschreibung zugängig
nachdem man ihn überwältigte Und Ira Tarwi war da- machen kann. Die Hauptsache dabei ist dann nur noch,
bei. daß der Betreffende den Zettel auch findet und liest.
Er liest noch einmal den Zettel, den sie geschrieben Man müßte diesen Zettel am Kopf oder an der Hand
und den sie ihm in die Tasche geschoben hat. Auch die befestigen, so daß er der Aufmerksamkeit des Betref-
Protonenwaffe stammt von ihr. Was kann er jetzt un- fenden nicht entgehen kann.
ternehmen? Nichts, nichts, er ist ihr hilflos ausgelie- Kan Kamana ist voller Hoffnung. Einmal wird die
fert — ihr, der Maschine. Es ist entsetzlich, vor einem Stunde kommen, da eine Hand die Maschine abstellt.
Ungewissen Schicksal zu stehen... Er muß sein Leben Diesen Augenblick wird er nicht empfinden, sondern
erhalten, so lange, bis irgend jemand imstande ist, die sich wieder zu Hause in seinem Heim wiederfinden.
Maschine auszuschalten. Zunächst muß er sich jetzt einmal in Sicherheit brin-
Derjenige, der ihn versetzt hat, wird sich auch wei- gen, denn man kann nicht wissen, was sich hier für
terhin mit der Maschine beschäftigen. Er wird sie viel- Tiere herumtreiben, vielleicht sogar feindliche Men-
leicht nach Stunden, vielleicht auch erst nach Tagen schen. Dieser Gedanke an seine Sicherheit hätte ihn
ausschalten. Dann wird sein — Kamanas — Astralleib wohl kaum bewegt, wenn der Zettel Iras nicht gewe-
im Sekundenflug zurückkehren an die Stätte der Tat. sen wäre. Dann wäre er wohl unbefangen und unbe-
Dann wird er wieder ein körperlicher Mensch sein. sorgt weitergegangen mit dem Ziel, menschliche An-
Dieser körperliche Mensch aber wird eine Proto- siedlungen zu erreichen.
nenwaffe in der Hand halten. Kurz unterhalb des Gipfels findet Kamana eine
Er überdenkt noch einmal seine Lage. Es ist nö- Höhle, die in den Berg hineinführt. Er errichtet vor der
tig, sich einen Platz herauszusuchen, an dem er abso- Höhle einen hohen Steinhaufen, doch ist er während
lut sicher ist. Wenn der Verbrecher, der die Maschine seiner Beschäftigung damit immer auf der Hut, nicht
in seiner Gewalt hat, diese nicht ausschaltet, so kann etwa hinterrücks angegriffen zu werden. Seine Waffe
er sie für andere Zwecke nicht verwenden. Denn er steckt entsichert und griffbereit in der Brusttasche.
kann nicht ein anderes Opfer auf den Stuhl zwingen, Dann legt er sich nieder, um einen kurzen Schlaf zu
ohne sich nicht selbst in den Bann des grünen Auges tun.
zu begeben. Dann ist auch er im gleichen Augenblick
dorthin versetzt, wohin der Bildschirm weist. Sollte *
der Verbrecher diesen Fehler machen, so besteht die
Möglichkeit, ihm hier in dieser verdammten Wildnis Krono Tikkal ist ein begabter Verbrecher. Nachts,
zu begegnen. Dann aber ist noch Antonio Stia da. Fast gegen zwei Uhr, fährt er mit seinem Wagen vor und
täglich kommt dieser mit allen Wassern gewaschene schleppt einen Mann heran, den er in seiner Wohnung
Terra-Abkömmling zu ihm. Er wird sehr schnell her- überwältigte. Es ist Ko-os Teran, einer der reichsten
ausbekommen haben, daß dort mit falschen Karten ge- Bankiers der Hauptstadt Kidora. Er wußte, daß dieser
27 TERRA

ein reicher Junggeselle war und allein in seinem Bun- Er steht vor ihr und wippt auf den Zehenspitzen.
galow hauste. Das machte er sich zunutze. „Ach, so steht es also? Wir beide können uns noch
Ko-os Teran ist ein kleiner, dicker Mann, stadtbe- darüber unterhalten, verstehst du? Es ist immer gut,
kannt wegen seines Geizes und seiner Habsucht. Als wenn man weiß, woran man mit seinen Geschäftspart-
ihn Tikkal aus dem Koffer packt, in dem er ihn ver- nern ist.“
staut hatte, kommt er wieder zu sich. „Geschäftspartner — sagst du? Der eine tut die Ar-
„Was — ist — passiert?“ stammelt er. „Wo — bin beit, der andere kassiert das Geld, so ist es doch? Und
ich?“ dann möchte ich dich doch einmal fragen; Was waren
Er sitzt mit gefesselten Händen und Füßen auf ei- es denn für Geschäfte, die wir zusammen gemacht ha-
nem Stuhl in der Kellerbibliothek Kan Kamanas. Tik- ben?“
kal hat die Hände in die Hosentaschen geschoben und Er zieht die Augen zu schmalen Schlitzen zusam-
baut sich vor seinem Opfer auf. men. Krono Tikkal ist ein gefährlicher Mensch, der
„Wir haben ein kleines Anliegen“, sagt er spöttisch. keine Skrupel kennt.
„Wir brauchen sofort eine Million Galaxis-Dollar. „Du kannst ja gehen, wenn es dir nicht paßt“, stellt
Schreiben Sie doch mal eine Anweisung aus, damit er kalt fest. „Bitte, dort ist der Ausgang. Der Wagen
wir das Geld morgen abholen können.“ bleibt natürlich da. Du weißt ja, daß dir nichts gehört.“
„Eine Million? Warum nicht zehn und hundert Mil- „Ja, dafür hast du ja gesorgt.“ Sie wendet sich ab, zum
lionen?“ faucht der kleine, dicke Bankier. „Nicht einen Zeichen, daß sie dieses Gespräch nicht fortzusetzen
Nickel, Sie hinterlistiger Halunke! Haha, das könnte wünscht. Er drückt den Hebel der Maschine nieder,
Ihnen so passen! Mein sauer verdientes Geld, mein mit so daß das Auge verlöscht. Bevor Kan Kamana dazu
den Händen erarbeitetes Geld!“ kommt, zu erwachen, hat er ihn von dem Stuhl losge-
„Quatschen Sie nicht, Ko-os Teran!“ fährt ihn Tik- bunden und in den neben der Maschinenhalle befind-
kal an. „Eine Million bedeutet nichts für Sie, gar lichen Werkzeugraum geschafft. Dann beginnt er, den
nichts! Schreiben Sie die Anweisung aus, und es wird Stuhl für sein neues Opfer vorzubereiten. Ira Tarwi hat
Ihnen nichts geschehen. ihn die ganze Zeit über beobachtet. Als sie Tikkal vor
der Maschine hantieren sieht, schaltet sie mit einem
Andernfalls täte es uns leid, Sie in eine schwierige
raschen Griff den Hebel ein.
Situation bringen zu müssen.“
Doch Tikkal hat es bemerkt. Mit einem Sprung be-
„Was wollen Sie denn tun, Sie Halunke? Wenn Sie
gibt er sich aus dem Bannstrahl des grünen Auges. Mit
mich ermorden, haben Sie auch kein Geld! Sie aber
einem weiteren Sprung hat er die Frau erreicht.
haben den Mord begangen und werden hingerichtet!
Eines Tages wird man Sie erwischen, und dann gnade Trotz ihrer verzweifelten Gegenwehr bindet er sie
Ihnen Gott!“ auf dem Stuhl fest. Gleich darauf schleppt er auch
„Irrtum, Ko-os Teran! Ich selbst werde mich nicht Ko-os Teran herbei. Der dicke Bankier wehrt sich ver-
an Ihnen vergreifen, das werden ganz andere Leute zweifelt, doch auch er ist Tikkal nicht gewachsen. Mi-
tun! Zum letzenmal: Wollen Sie die Million heraus- nuten später hat er seine beiden Opfer mit unzerreiß-
rücken — oder nicht?“ baren Riemen auf die Stühle gebunden.
„Nichts, nichts, nichts kriegen Sie!“ schreit der Ein zufriedenes Lächeln liegt über dem Antlitz Kro-
dicke Mann in ohnmächtiger Wut. no Tikkals, als er sich jetzt in die Bibliothek begibt,
um aus den Büchern etwas herauszusuchen, das sei-
„Dann tut es mir leid, Sie dazu zwingen zu müssen“,
nen Zwecken entspricht. Er will von Ko-os Teran die
entgegnet Tikkal mit kalter Ruhe.
Million erpressen — dafür erscheint ihm die Todes-
Er begibt sich in den Nebenraum, in dem die Ma- angst des Delinquenten als passendes Mittel. Er muß
schine steht. Neben der Maschine aber steht Ira Tarwi. in der Geschichte der galaktischen Völker eine Szene
Sie sieht ihm mit feindlichen Blicken entgegen. Aber herausfinden, die Ko-os Teran keine Chance läßt, mit
er kümmert sich nicht um ihre Stimmung. dem Leben davonzukommen. Erst im allerletzten Au-
„Wie ist das?“ fragt er sie. „Wenn ich jetzt die Ma- genblick wird er dann die Maschine abstellen. Dann
schine ausschalte — wie lange dauert es, bis dieser wird sein Opfer — wie er hofft — vom Schrecken des
Mann dort wieder zur Besinnung kommt?“ Erlebten so weich sein, daß er zur Zahlung der Million
„Sieh doch selbst nach!“ erwidert sie patzig. „Ich gern bereit sein wird. Und Ira Tarwi? Es kann ihr nicht
habe die Maschine nicht erfunden.“ schaden, wenn sie das gleiche miterlebt.
Er geht auf sie zu und packt sie plötzlich am Hand- Er hat sich das Buch „Grausamkeiten der Geschich-
gelenk. te“ vorgenommen und blättert darin.
„Kommst du mir so? Bereust es wohl jetzt, daß du Tikkal wählt den Sekten- und Moralkrieg auf dem
diese Sache eingefädelt hast?“ Hennos.
„Damit du es weißt“, erklärt sie wütend, „ja, ich be- Er hat die Entfernung eingestellt. Dann rechnet er
reue es! Warum können wir nicht auf ehrliche Art un- die Zeit aus: es sind 4766 Jahre, die er zurückschal-
ser Geld verdienen? Bist du dazu nicht fähig?“ ten muß. Mit dem üblichen Summen rechnet die Ma-
Befohlenes Dasein 28

schine die Entfernung der Photonen aus. Das erhaltene Stias Schnellwagen legt die bekannte Strecke in we-
Produkt stellt Tikkal sofort ein. niger als einer Viertelstunde zurück. Zu dieser Stunde
„Lassen Sie mich jetzt sofort frei!“ ruft Ko-os schläft noch alles; die Straßen und Plätze der Haupt-
Teran, der wütend an den Riemen zerrt, die ihn an den stadt sind menschenleer. Und auch im Villenviertel hat
Stuhl fesseln. Stia überall freie Durchfahrt. Dann kommt er in die
„Wie ist es mit der Million?“ fragt Tikkal lässig zu- stille Straße am Hügel, auf der sich auch Kamanas
rück. Bungalow befindet.
„Sie sind ein Gauner und Halunke! Diese Dame Dort stehen zwei Wagen vor dem Eingang. Er hat
wollen Sie wohl auch erpressen? Verlassen Sie sich sich’s ja gleich gedacht: Das eine Fahrzeug kennt er.
darauf, daß ich Sie zur Rechenschaft ziehen werde!“ Daß aber Kan Kamana so sehr beschäftigt ist, daß er
sogar den Sprechfunk übersieht?
„Sie werden wenig Gelegenheit dazu haben. Sie
scheinen nicht zu wissen, wo Sie sich befinden.“ Die künstlichen Sonnen sind längst ausgeschaltet.
„Ich lasse mich von Ihnen nicht einschüchtern. Im In den Büschen singen die Vögel dem erwachenden
Reich der Galaktischen Union ist jeder Bürger ge- Morgen entgegen. Wem mag der andere Wagen ge-
schützt, merken Sie sich das! Sie werden hingerich- hören? Hat Kamana Heimlichkeiten vor ihm, seinem
tet, verstanden! Auf Menschenraub und Freiheitsbe- getreuesten Mitarbeiter?
raubung steht die Todesstrafe! Lassen Sie sofort die Stia betritt den Bungalow. Es ist niemand anwe-
Dame und mich frei!“ send. So werden sie im Keller sein, denkt Stia. Viel-
„Sie sollen Ihre Freiheit haben, Ko-os Teran. Viel- leicht versetzen sie sich in unbekannte Zeiten und un-
leicht werden Sie mich noch bitten, mir die Million bekannte Welten? Vielleicht aber betrachten sie diese
freiwillig geben zu dürfen.“ Welten nur auf dem Bildschirm?
Krono Tikkal hat den Funktionshebel noch nicht Stia hat den Bibliotheksraum betreten. Die Tür zum
eingeschaltet, sondern begibt sich ans Okular, um jene Maschinenraum steht offen. Am Summen der Maschi-
Szene heranzuholen, die er in dem Geschichtswerk als ne erkennt der Erdenmensch, daß die Maschine in
Abbildung gesehen hat. Es dauert länger als fünf Mi- Gang ist. Er wirft einen Blick auf die Sessel, die durch
nuten, ehe sich auf dem Bildschirm jenes Bild zeigt. den Spalt der geöffneten Tür zu sehen sind.
Befriedigt tritt er zurück, um den Funktionshebel ein- Antonio Stia zuckt erschrocken zusammen. Zwei
zuschalten. Menschen sind an die Sessel gefesselt. Der eine ist Ko-
„Er will uns versetzen“, schreit Ira auf. os Teran, eine stadtbekannte Persönlichkeit, und der
Ko-os Teran blickt sie verwundert an. andere ist — das ist doch Ira Tarwi! Was ist hier los,
„Was ist das, was meinen Sie damit?“ was geht hier vor? Und wo befindet sich Kan Kamana?
„Er wird uns in die Vergangen...“ Antonio Stia ist viel zu mißtrauisch, als daß er das,
was er sieht, für harmlos und unbedeutend ansehen
Weiter kommt Ira Tarwi nicht. Das grüne Auge hat
würde. Und dann hört er Stimmen. Es ist die Stimme
sein hypnotisches Werk getan. Hypnose, hundertfach
eines unbekannten Mannes, eine zynische Stimme, der
verstärkt, strahlt ihre Elektronen aus. Dieser maschi-
ein anderer Mann antwortet. Und aus den Worten, die
nellen Energie ist die menschliche nicht gewachsen.
gesprochen werden, kombiniert Stia blitzschnell die
Beide in den Sesseln Sitzenden, sowohl Ko-os Teran
wahre Situation.
als auch Ira Tarwi, sind der Kraft der Maschine erle-
gen und ohne Bewußtsein. Ein Fremder hat Kamana überwältigt, hat sich in
Krono Tikkal schlendert zum Bildschirm. Er stellt den Besitz der Apparatur gesetzt, hat Kamana wahr-
an den Handrädern und hat bald darauf seine beiden scheinlich gezwungen, die Maschine zu bedienen!
Opfer auf dem Bildschirm. Stia tritt leise in den Bibliotheksraum zurück. Ein
Buch liegt aufgeschlagen in einem der Regale. Stia
* wirft einen Blick hinein. Sekten- und Moralkrieg auf
dem Hennos. Er schlägt den Einband um: „Grausam-
keiten der Geschichte“. Verflucht, was geht hier vor?
Schon einige Male hat in den oberen Räumen des
Hat dieser Unbekannte seine beiden Opfer etwa gar
Bungalows die grüne Lampe des Sprechfunkappara-
der Hölle eines Sektiererkampfes überantwortet? War-
tes aufgeleuchtet. Aber niemand war anwesend, das
te, wenn ich dich erwische — denkt Antonio Stia mit
Gespräch in Empfang zu nehmen. Zum erstenmale ge-
der ihm eigenen Schlaksigkeit.
schah es gegen elf Uhr abends, dann versuchte es der
Anrufer in Stundenabständen wieder. Er bekommt kei- Er muß jetzt schnell und gründlich in Aktion treten.
ne Verbindung. Der Mitarbeiter Kamanas begibt sich leise nach
Als Kan Kamana auch gegen fünf Uhr morgens oben. In den beiden Wagen, die vor dem Haus ste-
noch nicht Antwort gibt, beschließt Antonio Stia, dem hen, lockert er zunächst die Ventile der Reifen. So —
Bungalow des Professors einen kurzen Besuch abzu- murmelt er vor sich hin —, diese beiden Autos sind
statten. Vielleicht ist irgend etwas passiert? zunächst einmal ausgeschaltet. Dann bringt er seinen
29 TERRA

eigenen Wagen in Sicherheit, den er in die nächste Sei- „Sagt nicht der große Geist Litpaka“, fährt der
tenstraße stellt. Mit dem harmlosesten Gesicht der Ga- Mann mit der schwarzen Schärpe fort, „daß alles, was
laxis macht er sich dann auf den Weg, um dem Bunga- fremd ist, verderblich sei und dem Bösen hörig? Be-
low Kan Kamanas seinen zweiten Besuch abzustatten. weist nicht deine Rede, daß du nicht gewillt bist, un-
sere heilige Lehre anzuerkennen?“
* Eine beachtliche Menschenmenge hat die beiden
Fremden und den fanatischen Diskutierer umringt. Zu-
Ko-os Teran und Ira Tarwi betreten den men- erst sind es leise Bemerkungen, die ausgetauscht wer-
schenwimmelnden Marktplatz einer kleinen Stadt. Es den, jetzt aber hört man schon Rufe, die alles an-
herrscht ein unbeschreiblicher Tumult, doch haben sie dere als freundlich sind. Hier fürchtet sich einer vor
beide keine Ahnung, um was es sich handelt. Sie se- dem anderen, und jeder bemüht sich, in seiner Gesin-
hen eine Menge schwarzgekleideter Männer und Frau- nung anerkannt zu werden und sich hervorzutun. Ko-
en, die sich in großer Erregung zu befinden scheinen. os Teran erkennt nicht das Gefährliche der Situation,
Viele von ihnen sind mit Knüppeln und Eisenspitzen sondern ist noch immer auf die Mentalität des Kidor
bewaffnet. ausgerichtet. Er wähnt sich unter dem Schutz der Ga-
Es ist ein unfreundlicher, kalter, regnerischer Tag. laktischen Union, vertritt das Prinzip der freien Mei-
Ira Tarwi im schulterfreien Abendkleid, fröstelt, wäh- nungsäußerung und fürchtet sich vor nichts. Auf die
rend ihr Begleiter, der einen eleganten, dunklen Anzug letzten Worte des Sektierers reagiert er sehr sauer.
trägt, noch nichts zu spüren scheint. In völliger Unbe- „Ich stelle es dir frei, irgendeiner Lehre oder Phi-
fangenheit betreten die beiden Menschen den Markt- losophie anzugehören, die dir gefällt, aber ich habe
platz. In der Mitte des Platzes steht ein haushohes ebenso das Recht, meine Meinung zu äußern. Laß
Denkmal, ein schwarzes, eisernes Oval, aus dem strah- mich also in Ruhe oder ich werde dich bei der Polizei
lenförmige, schwarze Spitzen herausragen. wegen deiner unflätigen Reden zur Anzeige bringen.“
„Was mag hier los sein?“ fragt Ko-os Teran seine „Unflätig nennst du die Lehre des großen Geistes
Genossin. Litpaka? Habt ihr es alle gehört, ihr Freunde und An-
Ira Tarwi zuckt die Schultern. „Was geht es uns an?“ hänger unserer Lehre? Wollen wir diesen Abtrünni-
fragt sie. „Wir haben damit nichts zu tun.“ gen und Verworfenen für immer zum Schweigen brin-
gen?“
Sie sprechen miteinander, irgendwie wissen sie, daß
sie zusammengehören. Sie wissen nicht, wie sie die- Ein unbeschreiblicher Tumult erhebt sich, und die
ses Zusammengehörigkeitsgefühl begründen sollen, fanatisierte Menge beginnt in Aktion zu treten. Immer
sie machen sich auch keine Gedanken darüber, was ei- mehr Sektierer werden durch die laute Auseinander-
gentlich sie an diesem Ort zu suchen haben. Ihr Han- setzung herbeigelockt. Einige Männer mit Knüppeln
deln ist rein instinktiv und vom Unterbewußtsein dik- und Eisenspitzen sind in den inneren Kreis eingedrun-
tiert. gen. Sie werden mit kurzen Worten über die beiden
Eingeschlossenen unterrichtet. Ohne ein Wort zu sa-
Ohne Zweck und Ziel begeben sie sich auf den
gen, packen die Schwarzgekleideten Ko-os Teran und
Marktplatz. Hier bleiben sie allerdings einige Augen-
Ira Tarwi und führen sie zur Mitte des Platzes, wo be-
blicke lang stehen, denn was sie sehen, kommt ihnen
reits die anderen Opfer stehen.
ebenso unverständlich wie auch erschreckend vor.
Diese bedauernswerten Menschen wissen, was ih-
Das Volk auf dem Marktplatz scheint eine Treib- nen bevorsteht. Sie wissen, daß sie von ihren grausa-
jagd auf Menschen zu veranstalten. Einige Frauen men Gegnern zu Tode geführt werden.
und Männer fliehen laut schreiend vor einer Meute
Ko-os Teran ist noch lange nicht gebrochen.
schwarzgekleideter Verfolger.
„Vorwärts!“ ruft er den Männern zu. „Ihr wißt doch
Ira und Ko-os Teran blicken entsetzt auf die Szene, wohl, daß euch dieses Gesindel ans Leben will! Habt
die sich vor ihren Augen abspielt. ihr keinen Mut mehr, euch zu verteidigen? Wenn wir
„Was haben diese Menschen getan?“ hält Ko-os alle zusammenhalten, dann sollen diese Burschen dort
Teran einen der Vorübergehenden an. draußen noch etwas erleben!“
„Das wißt ihr nicht?“ fragt der Mann, der eine Er predigt tauben Ohren. Diese Litpaka-Lehre ist so
schwarze Schärpe um den Leib gewickelt hat. „Seid tief in den Menschen des Hennos verwurzelt, sie sind
auch ihr Unmoralische, daß ihr solche Fragen stellt? von Kindheit an so sehr in der Furcht und in der Un-
Wer seid ihr, daß ihr nicht wißt, daß der große Geist terwürfigkeit erzogen worden, daß sie eher noch gegen
Litpaka befohlen hat, das Unreine und Verworfene Ko-os Teran Front machen, als sich gegen ihre Peini-
auszurotten, auf daß er nicht Rache nehme an den ger zu stellen. Außer einem.
gläubigen Menschen?“ Er ist ein großer, muskulöser Bursche mit intelli-
„Ich danke dir für deine Auskunft, Freund!“ un- gentem Gesicht. Als Ko-os Teran seine aufputschen-
terbricht ihn der ehemalige Bankdirektor des Kidor den Worte ruft, horcht er hoch auf, als höre er eine an-
schroff. „Wir sind aus der Fremde und kümmern uns genehme Musik. Teran, dessen Blicke von einem zum
nicht um eure Angelegenheiten.“ anderen schweifen, hat seine Gesinnung erkannt.
Befohlenes Dasein 30

„Komm, Freund!“ redet er ihm zu. „Wir wollen ver- zu Anhängern dieser Sekte des großen Geistes Litpaka
suchen zu fliehen.“ erzogen wurden!
„Schweig!“ antwortet der Mann leise. „Hier auf die- Ko-os Teran und Ira Tarwi unterliegen diesem
sem Marktplatz ist es unmöglich. Man wird uns dann Zwang nicht. Der ehemalige Bankdirektor vom Pla-
vor die Stadt bringen, um uns auf dem Scheiterhaufen neten Kidor zwingt sich zu äußerster Ruhe und Beson-
zu verbrennen. Dort muß sich eine Möglichkeit fin- nenheit. Die Bewachung ist schlecht organisiert. Diese
den. Sammelt einstweilen Kräfte, damit uns der erste Sektierer halten es für unmöglich, daß noch einer der
Ansturm gelingt.“ von ihnen Verhafteten es wagen würde, zu entfliehen.
Und immer näher rückt der Augenblick des Verhäng-
Doch sie kommen nicht mehr zum Sprechen. Denn
nisses. Noch vier Männer und zwei Frauen sind es, die
die Anführer der schwarzgekleideten Sektierer haben
vor ihnen auf die Holzstöße geschleppt werden. Dann
das Zeichen zum Aufbruch gegeben.
werden sie an der Reihe sein.
Es ist ein Elendszug, der sich in Bewegung setzt. „Aufpassen!“ flüstert Teran seinen beiden Mitver-
Ko-os Teran, Iri Tarwi und der unbekannte breit- schworenen zu. „Es geht gleich los! Sobald die Kerle
schultrige Mensch, die Widerspenstigen unter den Ge- herangekommen sind, packen wir ihre Knüppel und
fangenen, wandern in einer Reihe in dem langen Zug. fliehen zwischen den beiden Holzstößen hindurch in
Überall werden die Menschen von den an den Seiten den Kiefernwald. Dann auf die Anhöhe! Kaltes Blut
der Straßen stehenden Zuschauern beschimpft. Und bewahren, nichts überstürzen! Es kommt jetzt alles auf
jeder ist froh, daß er sich nicht durch irgendeinen blin- unsere Ruhe an und auf unsere Intelligenz! Achtung,
den Zufall mit in diesem jammervollen Zug befindet. da kommen sie!“
Ko-os Teran wartet auf eine günstige Gelegenheit, Unbewußt strafft sich die Gestalt des heimlichen
um auszubrechen. Und er hat sich vorgenommen, kei- Verbündeten. Mit erhobenen Knüppeln kommen die
ne Rücksicht walten zu lassen. beiden schwarzgekleideten Henkersknechte heran. In
„Sobald ich ausbreche“, raunt er Ira Tarwi zu, „rei- diesem Augenblick geschieht es.
ßen Sie einem dieser schwarzen Lumpen einen Knüp- Ko-os Teran hat mit einem blitzschnellen Griff dem
pel aus der Hand. Ich werde das gleiche tun. Und dann Sektierer, der ihm am nächsten stand, den Knüppel aus
ohne Rücksicht drauf! Sie scheinen hier keine Schuß- der Hand gewunden.
waffen zu haben — um so besser! Vielleicht finden wir „Fort, Ira!“ ruft er seiner Begleiterin zu. Dann
eine Gegend vor, in der wir uns verbergen können.“ schlagt er zu. Auch sein Komplice leistet gründliche
Ira Tarwi nickt mit zusammengebissenen Zähnen. Arbeit.
Und auch der muskulöse, neugewonnene Gefährte, Von drüben, wo die Zuschauer des grausigen Ge-
der sich den Anschein völliger Gebrochenheit gibt schehens stehen, erklingen schrille Rufe. Ira Tarwi ist
und sich mühsam Schritt für Schritt vorwärtsschleppt, schon durch die beiden Holzstöße hindurch in das Kie-
zeigt durch ein Aufblitzen seiner grauen Augen an, fernwäldchen gejagt, nun folgen ihr die beiden Män-
daß er die Worte Terans verstanden hat. ner mit höchster Geschwindigkeit.
Ein allgemeines Gebrüll erhebt sich.
Sie haben die letzten, würfelförmigen Häuser er-
reicht. Der Zug bewegt sich durchs Stadttor und ge- Das ganze Volk setzt sich in Bewegung, um sich der
langt in freies Gelände. Ko-os Teran sieht heimlich drei Entflohenen wieder zu bemächtigen. Nur die Ver-
in die Runde. Das Gelände ist nicht übel. Sandbo- urteilten bleiben zurück, die man an die Pfähle gebun-
den, Kiefernwäldchen, eine Anhöhe, Buschwerk, da- den hat und die durch diese Verfolgungsjagd noch eine
zwischen Prärie, hoch mit Gras und unbekannten Blü- kleine Galgenfrist erhalten.
ten bestanden. Die Stadt ist in quadratischer Form mit Ko-os Teran ist klein und von fülliger Körperform.
hoher Mauer mitten hineingebaut. Noch niemals in seinem Leben ist er so gerannt, noch
nie hat er es aber auch nötig gehabt, um sein Leben
Was aber das nur wenig Beruhigende an dieser
zu laufen. Der neben ihm laufende Athlet hält Schritt
Landschaft ist, ist die Szenerie, die die Helfer der fana-
mit ihm und gibt sich noch längst nicht ganz aus. Von
tisierten Sektierer nur hundert Meter von dem Stadttor
Ira Tarwi ist nichts zu sehen, wahrscheinlich hat sie al-
entfernt aufgebaut haben. Es sind umfangreiche Holz-
le ihre Kräfte angestrengt, um einen möglichst großen
stöße, die jeweils um einen hohen, zwei Meter langen,
Vorsprung zu gewinnen.
ziemlich dicken Pfahl errichtet wurden.
Einer der Verfolger, ein noch ziemlich junger Kerl
Und immer mehr Volk quillt aus den Stadttoren her- in der schwarzen Uniform der Sektierer, hat sich nicht
aus. Dieses Volk verteilt sich auf die lange Front der an der allgemeinen Jagd durch den Kiefernwald be-
Holzstöße. Je zwei der Delinquenten werden zu den teiligt, sondern ist seitlich an diesem entlanggelaufen.
Pfählen geführt und gezwungen hinaufzusteigen. Er hat richtig kalkuliert, nämlich, daß die Entflohe-
Es ist bezeichnend, daß sich die zum Tode Verurteil- nen nach der Durchquerung des Wäldchens sich nach
ten gar nicht wehren. Im Gegenteil — sie singen die links wenden, um die Anhöhe zu erreichen. Durch sei-
Lieder ihrer Peiniger mit. Was muß es für ein Zwang ne Umgehungstaktik ist er seinen Gefährten weit vor-
sein, mit dem diese Menschen schon von Kindheit an ausgekommen. Als Ko-os Teran aus dem Wäldchen
31 TERRA

bricht, um über die Wiese und zwischen dem Busch- Der Fluß bewegte sich zur Stadt hin, demnach ent-
werk die Richtung nach der Anhöhe zu nehmen, ist fernte sie sich immer weiter von der Stadt, wenn sie
dieser Verfolger nur wenige Meter von ihm entfernt. stromaufwärts ging. Sie dachte nicht daran, daß Teran
Teran ahnt nicht, wie nahe ihm das Verhängnis ist, und sein Begleiter am Ausgang des Kiefernwäldchens
doch hat er das Glück, daß sein Gefährte etwas zu- einen Winkel von 90 Grad eingeschlagen hatten, so
rückgeblieben ist. Dieser prallt mit dem Schwarzge- daß sie mit diesem Flüßchen überhaupt nicht in Be-
kleideten in vollem Lauf zusammen. Ehe dieser im- rührung kamen.
stande war, sich wieder aufzuraffen, hat ihn sein bä- Nach einer Weile hastigen Laufens geriet sie in ebe-
renstarker Gegner außer Gefecht gesetzt. In der näch- nes, übersichtliches Gelände. Links von ihr befand
sten Sekunde befinden sich sein Knüppel und seine sich eine Anhöhe, und von dort her hörte sie auch Rufe
Messerwaffe in den Händen des Entflohenen. Mit we- und Pfiffe, wenn sie auch niemand sehen konnte.
nigen Sätzen hat er Teran eingeholt. Sie war völlig außer Atem und verlangsamte das
„Wo ist die Frau?“ fragt er keuchend. Tempo. Dabei beachtete sie allerdings nicht, daß man
„Ich weiß es nicht, ich sehe sie nicht. Vielleicht ist sie von der Anhöhe aus sehen kann. Und der Zufall
sie schon auf der Anhöhe?“ will es, daß einer der schwarzgekleideten Sektierer
seinen Blick nach unten zu dem Flüßchen richtet. Ein
Der Gefährte schüttelt den Kopf. „Sie kann nicht
Ruf macht die anderen aufmerksam.
fliegen. Sie ist falsch gelaufen und hat sich im Wald
verirrt.“ Jetzt haben sie auch die anderen erkannt. Ein Teil
der Verfolger rennt auf der Kuppe der Anhöhe entlang,
„Dann ist sie verloren. Aber wir können sie nicht
um ihr den Weg abzuschneiden, die anderen werden
retten, denn wir kommen nicht gegen die Übermacht
von oben her an das Flüßchen dirigiert. Ira Tarwi er-
auf. Hinter der Anhöhe beginnt ein großer Waldstrei-
kennt zu ihrem Schrecken, daß man sie entdeckt hat.
fen, der bis zum Mittelgebirge reicht. Ich habe es von
Sie läuft um ihr Leben, aber die schwarzen Männer ha-
der Stadtmauer aus gesehen. Wenn wir den Wald er-
ben sie oben schon überholt und jagen jetzt den Berg
reichen, sind wir vorläufig gerettet.“
hinunter, ihr die weitere Flucht abzuschneiden. Und
Sie haben dreiviertel des Anstieges hinter sich ge- hinter sich, kaum fünfzig Meter von ihr entfernt, kom-
bracht. Dann sehen sie, wie die Verfolger aus dem men bereits die anderen. Ira Tarwi ist viel zu erschöpft,
Wäldchen hervorbrechen und sich schreiend auf die als daß sie noch zu einer erfolgbringenden Aktion fä-
Entflohenen aufmerksam machen. Wie ein Schwarm hig wäre. Mit letzter Kraft ruft sie noch laut um Hilfe,
Ameisen breiten sich die Sektierer auf der Strecke aus. dann wird sie niedergerungen.
Sie haben noch immer mit dreißig bis vierzig Verfol- Ira Tarwi wird zum Richtplatz geschleppt. Man fes-
gern zu rechnen, während die anderen zurückbleiben, selt sie an den Pfahl.
um sich zur Stadtmauer zurückzubegeben.
Schon haben die Sektenmänner unter ihr das Reisig
Als Ko-os Teran und seine Genossen den gegen- in Flammen gesetzt. Heiße Rauchwolken steigen zu
überliegenden Wald erreicht haben, sind die ersten ih- ihr auf. Ohnmächtig zerrt sie an den Fesseln, die tief
rer Verfolger auf dem Gipfel der Anhöhe angekom- in ihre Haut einschneiden.
men Jetzt aber haben sie vorläufig nichts mehr zu
Und dann hört man plötzlich einen schrillen Schrei.
fürchten, denn der Wald ist unübersehbar und ziem-
Vor dem Scheiterhaufen, auf dem Ira Tarwi verbrannt
lich dicht. Sie dringen einen halben Kilometer in den
werden soll, steht einer der Schwarzgekleideten und
Wald ein und wenden sich dann nach links, um im
hat den Arm weit ausgestreckt, als wolle er die ande-
Schutz der Bäume das Mittelgebirge zu erreichen, des-
ren auf ein besonderes Ereignis aufmerksam machen.
sen Kuppen ebenfalls waldbedeckt sind. Langsamen
Und dann sehen auch die anderen das Unfaßbare.
Schrittes gehen die beiden Männer weiter, von der
Sorge um Ira Tarwi belastet. Aber es wäre einfach Durch Qualm und Brand erblicken sie den Pfahl, an
Selbstmord, wenn sie ihretwegen noch einmal zum dem die Flammen gierig emporzüngeln. Doch wo ist
Kiefernwald zurückgehen würden. Sie müssen diese die Gestalt geblieben, die noch vor Sekunden an den
bittere Wahrheit in Kauf nehmen. Pfahl gefesselt war?
„Nichts, nichts — sie ist verschwunden, als habe sie
Wo aber ist Ira Tarwi geblieben? Sie war blind in
der große Geist Litpaka selbst geholt.
den Wald hineingerannt, ohne sieh darum zu küm-
mern, was ihr Ko-os Teran kurz vorher über die einzu- Die Anhänger der Sekte Litpaka sinken — vom
schlagende Richtung gesagt hatte. So war sie in ihrem Grauen geschüttelt — zu Boden. Der große Geist Lit-
hastigen Lauf unwillkürlich etwas zu weit nach rechts paka hat sich ihnen durch ein Wunder offenbart. Wie
geraten. In ihrer Todesangst hielt sie erst inne, als sie ist dieses Wunder zu deuten?
feststellen mußte, daß sie an einem kleinen Fluß gelan- „Löscht die Feuer!“ schreit einer in einem Anfall
det war, den sie wegen seiner Tiefe nicht überschrei- wahnsinniger Angst und Furcht. „Der große Geist will
ten wollte. Teran hatte von einer Anhöhe gesprochen es nicht, daß wir töten!“
— demnach war es vielleicht richtig, wenn sie dem Und wie es immer in undurchsichtigen Situationen
Lauf des Flüßchens in umgekehrter Richtung folgte. ist, bei denen das Volk und die Menge beteiligt ist:
Befohlenes Dasein 32

wenn einer zuerst die Initiative ergreift, laufen die viel Zeit verfügt. Diese Ruhe scheint aber gar nicht
anderen hinterher. Der Ausruf des einen enthebt die nach Krono Tikkals Geschmack zu sein.
anderen des eigenen Denkens. Sie nehmen den Ge- „Woher wissen Sie denn eigentlich hier unten so gut
danken des einen als bare Münze und unumstößliche Bescheid?“ erkundigte sich Stia. „Ist der Herr Profes-
Wahrheit und fürchten sich vor einem eigenen Wider- sor nicht zu sprechen?”
spruch. Daß hier ein Wunder geschah, ist eine Tatsa- „Der Professor ist nicht da“, erhält er zur Antwort.
che, die alle mit eigenen Augen angesehen haben. Die
„Ach, er ist nicht da? Und zu dieser Stunde? Wo ist
Erklärung des einen lassen sie gelten! Litpaka wünscht
er denn?“
nicht, daß diese Menschen auf dem Scheiterhaufen
verbrannt werden. „Er ist einmal weggegangen, wenn Sie’s genau wis-
sen wollen. Im übrigen sind wir hier mit wichtigen
Mit den Händen greifen die anwesenden Männer
Versuchen beschäftigt — ich darf Sie wohl bitten, ein
und Frauen ins Feuer, reißen die Holzstöße auseinan-
andermal wiederzukommen?“
der, zertreten die schwelenden Feuer, befreien die an
die Pfähle gebundenen Opfer von ihren Fesseln. Und „Da habe ich gar keine Zeit, werter Herr“, entgegnet
ebenso fanatisch, wie sie zuvor den Tod dieser bedau- Stia phlegmatisch. „Ist denn der Herr Professor schon
ernswerten Geschöpfe wünschten, versuchen sie jetzt, lange fort?“
diesen Menschen Gutes zu tun und sie um Verzeihung „Nein, noch nicht lange. Nun wissen Sie’s wohl,
zu bitten. ja?“
Ira Tarwi aber ist spurlos verschwunden, der große „Da kommt er wohl bald wieder?“ „Das weiß ich
Geist Litpaka hat sie selbst befreit und in sein Land nicht“, knurrt Krono Tikkal wütend. „Und nun darf ich
der tausend Sonnen entführt. Die Stelle, an der die- Sie wohl bitten...“
ser Scheiterhaufen stand, wird einstmals ein Heilig- „Was macht denn die Maschine des Professors?“
tum der Sekte des großen Geistes sein, zu der Mil- will Stia wieder wissen. „Alles noch in Schuß? Funk-
lionen pilgern, um sich ihrer persönlichen Sorgen zu tioniert sie noch?“
entledigen oder den großen Geist um Gnade und Er- Antonio Stia will vergnügt an dem innerlich ko-
barmen zu bitten. chenden Tikkal vorbeimarschieren, um sich in den
Maschinenraum zu begeben. Doch, damit ist Tikkal
* nicht einverstanden. Er vertritt ihm den Weg, so daß
Stia ziemlich unsanft mit ihm zusammenprallt.
Antonio Stia hat den Wagen abgestellt, die beiden
„Verzeihung“, sagt Stia, während er die Bewegung
anderen unbrauchbar gemacht und begibt sich jetzt zu
des Lüftens eines unsichtbaren Hutes macht. Dann
Fuß in den Bungalow Kan Kamanas zurück.
macht Stia abermals den Versuch, in den Nebenraum
Eine Zigarette rauchend, schlendert Stia durch die zu gelangen.
kunstvoll angelegten Gärten des Professors. Er gibt
Jetzt ist die Geduld Krono Tikkals endgültig er-
sich nicht die geringste Mühe, leise aufzutreten oder
schöpft. Mit hartem Griff packt er den aufdringlichen
seine Anwesenheit zu verbergen. In wahrhaft kindli-
Besucher am Arm.
cher Unbefangenheit betritt er den großen Wohnraum
des Professors und ruft laut: „Schluß jetzt!“ befiehlt er. „Raus mit Ihnen!“
„Hallo!“ Stia faßt das Handgelenk Tikkals und drückt es mit
solcher Kraft zusammen, daß dieser ihn mit einem
Als er keine Antwort erhält, öffnet er die Tür, die in
Schmerzenslaut losläßt.
den Keller führt. Er steigt die Betontreppe hinab und
gelangt in den Bibliotheksraum. Er ruft noch einmal „Haben Sie sich weh getan?“ erkundigt sich Stia
laut: „Hallo!“ höflich. „Das kommt davon, wenn man fremder Leute
Jacken anfaßt. Und wie ist das jetzt mit dem Maschi-
Schritte sind zu hören. In der Tür steht ein schwarz-
nenraum?“
haariger Mensch, dem man das Erschrecken über die-
sen plötzlichen Eindringling deutlich am Gesicht ab- Ein Schlag, mit der Handkante ausgeführt, nimmt
lesen kann. Krono Tikkal die Luft, bevor er überhaupt feststellen
kann, woher der Schlag gekommen ist. Mit schmerz-
„Was wollen Sie hier? Wer sind Sie?“ fragt er be-
verzerrtem Gesicht hält Krono Tikkal beide Hände am
fehlend.
Hals. Antonio Stia aber kümmert sich nicht mehr um
Antonio Stia nimmt erst langsam die Zigarette aus seinen vorläufig ausgeschalteten Gegner, sondern hat
dem Mund, ehe er eine Antwort gibt. mit dem Fuß die nur angelehnte Tür zum Maschinen-
„Was ich hier will? Kennen Sie mich nicht?“ fragt raum aufgestoßen.
er freundlich. Er weiß ja von seinem vorherigen Besuch her, wie
„Ich kenne Sie nicht, und ich habe auch keine Lust, es in dem Raum aussieht, Trotzdem gibt er sich den
Sie kennenzulernen!“ Anschein, als sähe er die beiden in den Stühlen gefes-
Stia lächelt wohlwollend und zieht an seiner Ziga- selten Menschen, den Mann und die Frau, zum ersten-
rette. Er sieht aus wie ein Mann, der über unglaublich mal.
33 TERRA

Er wendet sich um. „Ich denke doch, daß sie lebt. Aber — wie gesagt
„Was ist hier los, Freund?“ fragt er, und zum ersten- — es war höchste Zeit, daß ich mitspielte. Und der
mal klingt in seiner Frage ein Unterton der Schärfe. andere auch, der Ko-os Teran. Ich nehme an, daß er
„Mach, daß du hier ’rauskommst!“ knirscht Krono uns einiges zu erzählen hat.“
Tikkal. Er langt in die Tasche, wahrscheinlich um eine „Wer ist denn das nun wieder, Antonio? Ich weiß
Waffe hervorzuziehen, doch Antonio Stia kommt ihm wohl, daß dieser Gangster, der auch mich hier über-
zuvor. Mit einem Panthersprung ist er bei Tikkal. fiel, noch einen anderen Mann mitbrachte. Wollte er
„Was ist hier los?“ fragt er zum zweiten Male, und diesen Mann etwa gar...“
nun ist er es, der den Arm Tikkals umspannt. „Oh, ich nehme an, daß wir da ein ganz schönes
„Laß mich los!“ faucht Krono Tikkal drohend. Früchtchen erwischt haben, Kan!“
Stia packt ihn bei den Aufschlägen seiner Jacke. Kan Kamana hält jetzt nichts mehr in dem kleinen
Er zieht ihn zu sich heran, macht jedoch im nächsten Nebenraum. Er stürzt in den Maschinenraum hinaus
Augenblick eine heftige Gegenbewegung, so daß Tik- — und bleibt überrascht stehen. Denn da sitzt niemand
kal krachend gegen ein Bücherregal geschleudert wird weiter als jener von Stia niedergeschlagene Gangster.
und bewußtlos liegen bleibt. „Wo — wo ist Ira, Antonio?“ fragt Kamana ver-
„So, mein Junge“, erklärt Stia sanft, als er den Ver- blüfft.
brecher ausgeknockt hat. „Und jetzt wollen wir erst Aber Antonio Stia ist schon nicht mehr da. Als er
mal hier nach dem Rechten sehen.” gewahrte, daß seine beiden von ihm befreiten Schütz-
Antonio Stia ist an den Bildschirm getreten und linge verschwunden waren, hatte er sogleich den rich-
blickt hindurch. Erschrocken fährt er zurück. „Ver- tigen Gedanken. Sie haben ganz einfach Angst, noch
dammt!“ murmelt er. weiterhin hierzubleiben — dachte er, und dieser Ge-
danke war richtig.
Die Szene, die er auf dem Bildschirm sieht, ist un-
geheuerlich. Er erblickt eine lange Reihe von Holzstö- Er nimmt drei Stufen auf einmal, als er hinauf in
ßen, auf denen an Pfählen gefesselte Menschen stehen. den Wohnsalon und dann weiter in den Garten jagt.
Im Vordergrund aber sieht er Ira Tarwi. Sie steht be- Ein kurzer Blick überzeugt ihn, daß sie sich nicht im
reits inmitten einer fast undurchsichtigen Rauchwol- Garten befinden. Schon ist er durch die verwinkelten
ke. Gänge weitergerannt — da sieht er sie beide stehen.
Sie sehen sich die beiden Schnellwagen an, mit denen
Mit einem einzigen Satz ist Antonio Stia am Aus-
man beim besten Willen nicht fahren kann. Erschreckt
schalthebel und wirft diesen herum. Die Maschine
fahren beide herum, als sie eine Stimme hinter sich
schweigt, das grüne Auge verlöscht. Jetzt wird es noch
hören.
einige Minuten dauern, bis die beiden an die Stühle
Gebundenen erwachen. Stia bindet sie los, dann be- „Meine Herrschaften“, sagt Stia mit der ihm eige-
gibt er sich zu Tikkal und fesselt den Gangster in einen nen Ruhe, „wir wollen uns hier nicht wie kleine Kin-
Stuhl. der benehmen. Ich habe Sie aus Ihrer schlechten Lage
Antonio Stia geht dann in den Nebenraum, um Kan befreit und habe gleichzeitig auch Herrn Professor Ka-
Kamana zu suchen. mana die Freiheit wiedergegeben. Gestatten Sie, daß
ich mich vorstelle: Antonio Stia, Mitarbeiter Kan Ka-
„Stia!“ ruft der Professor erfreut, als er seines Mit-
manas. Darf ich Sie bitten, wieder mit hineinzugehen?
arbeiters ansichtig wird.
Der Verbrecher, dem wir diese zweifellos unangeneh-
Tikkal hat dem Professor die Arme auf den Rücken men Dinge verdanken, befindet sich in unserer Hand.“
gebunden und seine Beine an den Füßen eines Stuh-
Ko-os Teran blickt prüfend auf die Gestalt Stias.
les befestigt. Mit einigen schnellen Handgriffen hat
Er scheint mit dem Eindruck, den der junge Terraner
ihn Antonio Stia befreit. Mit wenigen, hastigen Wor-
macht, zufrieden zu sein, denn er reicht ihm die Hand.
ten hat Kamana seinen Mitarbeiter aufgeklärt.
„Entschuldigen Sie, Herr Stia, daß wir flüchteten.
„Vor allem müssen wir sofort die Maschine abstel-
Wir hatten sehr schlechte Erfahrungen in diesem Hau-
len“, bemerkt er abschließend.
se gemacht, so daß wir Angst halten, zu bleiben.“
„Schon geschehen“, winkt Stia ab. „Es war die al-
Antonio Stia nickt verstehend. Er wendet sich an
lerhöchste Zeit. Die hübsche Ira war drauf und dran,
Ira Tarwi, die blaß, völlig verstört und mit zerrissenem
zu verbrennen.“
Abendkleid neben dem luftlosen Wagen steht. „Freut
Der Professor springt auf. mich, Ira Tarwi, daß ich Sie noch im letzten Augen-
„Wo ist sie? Was ist passiert? Ist ein Unglück ge- blick vor einem furchtbaren Schicksal bewahren konn-
schehen?“ te. Sie sind uns einige Aufklärung schuldig, denn Sie
„Nur Ruhe, Kan“, meint der unerschütterliche Re- können sich wohl vorstellen, daß wir sehr gespannt
porter. „Man hat mir gesagt, daß das alte Rom auch sind, zu erfahren, wie das alles gekommen ist. Außer-
nicht an einem einzigen Tag gebaut worden sei.“ dem möchte Ihnen der Professor noch danken, daß Sie
„Rede jetzt kein albernes Zeug, Antonio! Was ist ihm die Waffe und den Zettel zusteckten.“
mit Ira Tarwi? Lebt sie?“ „Hat er den Zettel gefunden?“ fragt sie rasch.
Befohlenes Dasein 34

„Natürlich. Doch darüber können wir uns bei ei- er darauf bedacht, daß es die Seite Ira Tarwis ist. Ira
ner guten Tasse Kaffee unterhalten. Bitte kommen Sie hält sich im Hintergrund.
jetzt mit herein!“ „Ihr Name ist Krono Tikkal?“ erkundigt sich Anto-
Ko-os Teran ist sofort bereit. Er hat sein Mißtrauen nio Stia kurz angebunden.
abgelegt. Doch Ira folgt nur zögernd. „Das wird Ihnen ja die schöne Ira bereits berichtet
„Ich — ich möchte doch lieber nicht“, sagt sie. „Ich haben“, antwortet der Verbrecher. „Sie hat ja...“
bin noch sehr — sehr aufgeregt. Und außerdem — ich „Beantworten Sie nur das, was Sie gefragt werden“,
bin nicht ganz unschuldig daran, daß alles so gekom- unterbricht ihn Stia schnell. „Ira Tarwi war eine Be-
men ist.“ kannte von Ihnen?“
Sie stützt sich auf das Verdeck des weißen Schnell- „Ja, und zwar eine recht gute Bekannte. Sie soll nur
wagens und schluchzt. nicht leugnen, daß...“
Antonio Stia hat sich ihre Worte verwundert ange- „Nachdem Ira Tarwi den Professor besucht hatte,
hört. Er ist viel zu intelligent, als daß er ihren Worten erzählte sie Ihnen von der Erfindung, nicht wahr?“
nicht einiges entnommen hätte, was nicht in der Ord- „Ja, und nicht nur das, sondern...“
nung war. Er wechselt mit Teran einen raschen Blick „Daraufhin kamen Sie auf die Idee, diese Erfindung
des Einverständnisses. Dann geht er um den Wagen für Ihre Zwecke auszuwerten. War es so — oder war
herum und schiebt seinen Arm in den Iras. es nicht so?“
„Kommen Sie jetzt, Mädchen. Das können wir bes- „Nicht ich bin das gewesen, sondern...“
ser im Haus besprechen. Fürchten Sie sich nicht, es
„Einen Augenblick!“ unterbricht ihn Stia abermals.
wird Ihnen nichts geschehen. Man macht im Leben
„Wer hat dem Professor die Pistole in die Tasche ge-
manchmal Fehler, aber das ist alles nicht so schlimm.
steckt und den Zettel dazu?“
Die Leidtragenden waren ja letzten Endes Sie selbst.“
„Ha, so weit sind wir noch lange nicht! Zuerst ein-
Antonio Stia läßt seinen beiden Schützlingen den mal hat sie...“
Vortritt. Vielleicht fürchtet er, daß sie in letzter Se-
„Haben Sie dem Professor die Pistole und den Zet-
kunde noch einmal einen Fluchtversuch unternehmen
tel in die Tasche gesteckt?“ fragt Stia zum zweitenmal
würden. Aber sie denken jetzt nicht daran. Schwei-
hart.
gend erreicht die kleine Kolonne den Bungalow Ka-
manas und geht die Betontreppe zum Keller hinunter. „Nein, das ist natürlich sie gewesen. Sie hat ja über-
haupt jeden Menschen betrogen, mit dem sie...“
Kan Kamana geht seinen beiden Besuchern erfreut
entgegen. „Beantworten Sie meine Fragen, sonst nichts, Kro-
no Tikkal. Auf welchen Planeten“, wendet er sich an
„Ich habe auf Sie gewartet, Ira. Warum wollten Sie
Ira Tarwi, „wurde Professor Kamana versetzt?“
weggehen?“ fragt er.
„Auf den Ta-foll“, antwortet Ira Tarwi.
„Es ist — es ist alles so verworren“, antwortet sie.
„Ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen, denn „Wer hat dieses Ziel aus den Büchern herausge-
— nun, ich erzähle Ihnen dann alles. Krono Tikkal sucht?“
wird ja ohnehin alles sagen und mich in jeder Weise „Krono Tikkal!“
belasten.“ „Haben Sie ihn darauf aufmerksam gemacht, daß
„Krono Tikkal? Ist das der Name des Verbrechers, der Professor...“
den wir festgenommen haben?“ „Ja, ich schwöre es Ihnen.“
„Ja, so heißt er.“ „Sie kennen ihn?“ „Und was sagte er darauf?“
„Ja, ich kenne ihn. Ich habe einen großen Fehler ge- „Er sagte, es sei am besten, wenn der Professor zu-
macht...“ grunde ginge.“
Pfeifend erscheint Antonio Stia, mit einem Bade- „Daraufhin schoben Sie dem Professor heimlich ei-
mantel des Professors über dem Arm. Er hilft Ira Tar- ne Strahlenwaffe und jenen Zettel in die Tasche, nicht
wi zuvorkommend hinein, und erst jetzt hat sie eini- wahr?“
germaßen ihre Sicherheit wiedererhalten. „Ja, ich benutzte dazu eine Minute, in der ich nicht
Natürlich richtet sich jetzt das gesamte Interesse auf beobachtet wurde.“
die Vernehmung Tikkals. Ira Tarwi sieht diesem Ver- „Wer hat dann den Professor auf dem Bildschirm
hör mit einer geheimen Angst entgegen. Kan Kamana beobachtet?“
will die ersten Fragen an Tikkal richten, doch Antonio „Ich“, gibt Ira Tarwi zu. „Aber ich hatte ihn schon
Stia schiebt ihn beiseite. nach wenigen Sekunden aus dem Blickfeld verloren.
„Laß mich das mal machen, Kan. Ich habe mir über Ich war in großer Sorge um ihn, durfte mir das aber
diesen Fall so meine eigenen Gedanken gemacht. Ich nicht anmerken lassen.“
möchte nicht, daß du eine Menge Porzellan zertrittst.“ „Konnten Sie die Maschine nicht abstellen?”
Nur Ira Tarwi versteht den dunklen Sinn dieser Re- „Ich wagte es nicht. Dieser Mann war so roh und
de. Kan Kamana tritt wunschgemäß zur Seite, doch ist brutal, daß ich das Schlimmste befürchten mußte.“
35 TERRA

„Warum sind Sie denn nicht von ihm weggegan- „Ja, so war es. Als ich wieder erwachte, fand ich
gen?“ mich neben Ko-os Teran sitzend auf dem Stuhl. Das
Sie zuckt die Schultern und senkt den Kopf. grüne Auge der Maschine war auf uns gerichtet, und
„Was sollte ich tun?“ erwidert sie mit monoto- ich wußte nun, daß er uns versetzen wollte. Wir fanden
ner Stimme. „Ich war die Mitwisserin vieler Dinge, uns beide auf dem Hennos wieder.“
die das Licht der Öffentlichkeit scheuten. Sie müssen „Ja, das habe ich allerdings gesehen“, nickt Anto-
mich verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich nio Stia grimmig. „Und nun, Krono Tikkal, können
fürchtete, eine Arbeit gegen Bezahlung anzunehmen. Sie mir einmal die eine Frage beantworten: Warum ha-
Ich hätte immer unter der Verfolgung dieses Mannes ben Sie die Maschine nicht abgestellt, als Sie im Bild-
zu leiden gehabt, und eines Tages hätte er mich umge- schirm sahen, daß Ira Tarwi von den Sektierern ver-
bracht.“ brannt werden sollte?“ Krono Tikkal gibt keine Ant-
„Lüge ist das, verdammte Lüge!“ faucht Krono Tik- wort. Antonio Stia tritt hart an ihn heran. „Warum ha-
kal. „Sie will sich jetzt herausreden!“ ben Sie die Maschine nicht abgestellt, Krono Tikkal?“
„Das interessiert uns jetzt nicht“, fährt ihm Antonio fragt er drohend. Keine Antwort. Tikkal schweigt —
Stia in die Parade. „Uns interessiert jetzt vor allem: doch dieses Schweigen ist furchtbarer, als wenn er of-
wie kamen Ko-os Teran und Ira Tarwi auf den Hen- fen gesprochen hätte.
nos?“ „So stelle ich fest, daß Sie einen vorsätzlichen Mord
„Das kann ich Ihnen am besten selbst erzählen“, begehen wollten“, erklärt Antonio Stia. „Es hätte für
wendet Teran ein. „Er überfiel mich in meiner Villa im Ira Tarwi nicht die kleinste Chance mehr gegeben,
Süden der Stadt. Als ich aus meiner Besinnungslosig- wenn ich auch nur fünf Minuten später gekommen wä-
keit erwachte, fand ich mich in diesem Haus wieder. re. Ist es so, Ira Tarwi?“ Sie hat sich kraftlos in einen
Dieser Mann verlangte eine Million Galaxis-Dollar der Stühle sinken lassen und bedeckt das Gesicht mit
von mir. Es war eine glatte Erpressung!“ beiden Händen.
„War da Ira Tarwi auch dabei?“ erkundigt sich Stia. „Es war furchtbar“, sagt sie leise.
„Nein, die habe ich gar nicht gesehen. Ich sah sie Kamana begibt sich mit leisen Schritten zu der
erst, als man mich in diesen Raum verschleppte und zusammengesunkenen Ira und streicht ihr sanft über
an den Stuhl fesselte.” das blonde Haar. Sie fährt bei dieser Berührung er-
„Ah, so ist das also. Und wie kam Ira Tarwi mit auf schrocken auf, dann richtet sie ihre Augen auf Kama-
den Hennos?“ na.
„Ich will alles berichten“, sagt Ira Tarwi, die es für „Ich bin es nicht wert, Kan Kamana, daß Sie sich
richtig hält, reinen Tisch zu machen. „Krono Tikkal mit mir beschäftigen“, sagt sie fast unhörbar. „Ich bin
wollte den Bankdirektor Teran erpressen, indem er ihn schlecht und undankbar gewesen, ich bin schließlich
in eine Situation brachte, die grausam und gefährlich an allem schuld, was geschehen ist. Ich bin schuld dar-
zugleich war. Im letzten Augenblick wollte er dann an, daß Krono Tikkal diese furchtbaren Taten beging.“
die Maschine ausschalten, und er hoffte dadurch, ihn „Laß es gut sein, Ira“, antwortet Kamana zärtlich.
durch eine solche Drohung gefügig zu machen, damit „Wir wollen uns später noch darüber unterhalten. Jetzt
er das Geld für seine Freiheit bezahlte.“ geht es zunächst um Tikkal. Er hat es fertiggebracht,
„Sehr hübsch“, erklärt Antonio Stia. „Und wie ka- erbarmungslos zuzusehen, wie du eines furchtbaren
men Sie mit in diese Situation?“ Todes sterben solltest. Daß er eine Erpressung an mir
„Bevor Tikkal den Bankdirektor in die von ihm ge- und Ko-os Teran begehen wollte, könnte man ihm not-
wählte Situation brachte, mußte er zuvor den Profes- falls noch verzeihen. Aber daß er eine Frau, die jah-
sor aus seinem Stuhl entfernen“, fährt Ira Tarwi fort. relang mit ihm zusammenlebte — daß er eine sol-
„Als Tikkal die Maschine ausgeschaltet hatte und sich che Frau in den Tod gehen lassen wollte, beweist mir
dem auf dem Stuhl befindlichen Professor näherte, um die abgrundtiefe Schlechtigkeit dieses Mannes. Es gibt
diesen in den Nebenraum zu schaffen, schaltete ich die keine Strafe für ihn, die hart genug wäre.“
Maschine plötzlich wieder ein.“ „Lasse das die Sorge des galaktischen Gerichtes
„Warum taten Sie das?“ will Stia wissen. sein, Kan“, wirft Antonio Stia ein. „Der Verbrecher
„Ich wollte — ich wollte ihn weg haben, ich fürch- wird seiner Strafe nicht entgehen. Seid ihr jetzt soweit
tete mich vor ihm.“ fertig, daß ich die Polizei verständigen kann?“
„Aber es klappte nicht?“ Zum Erstaunen aller mengt sich jetzt Ko-os Teran,
„Nein, er hatte es noch rechtzeitig gesehen. Er der reiche Bankdirektor, in die allgemeine Diskussion.
stürzte sich auf mich und überwältigte mich. Dann „Gestatten Sie, daß auch ich noch einige Worte zu
drohte er mir, daß er auch für mich etwas aus dem dem Vergangenen sage, meine Herrschaften.“ Er hebt
Buch herausfinden werde.“ leicht die Hand und deutet auf Ira Tarwi. „Ich habe
„Und dann suchte er den Moralkrieg auf dem Hen- ein sehr schlechtes Gewissen, was diese meine Schick-
nos?“ salsgefährtin anbetrifft. Zu meinem Entsetzen mußte
Befohlenes Dasein 36

ich hier Dinge erfahren, die mir noch völlig unbekannt sind Kan Kamana, Teran selbst und auch Ira Tarwi.
waren. Nur Krono Tikkal sitzt wie eine giftige Spinne in dem
Als wir noch die Gefangenen der schwarzen Sek- Netz, das er sich selbst gesponnen hat. Ungewollt hat
tenbrüder und an der Reihe waren, auf die Scheiter- er diesem Terra-Bewohner zu einer billigen Million
haufen geführt zu werden, verabredeten wir, daß wir verhelfen. Dann aber horcht Krono Tikkal doch auf.
fliehen wollten. Ira Tarwi sollte zuerst fliehen, wir Was hat da dieser Bankmensch gesagt?
wollten uns dann am linken Ausgang des Wäldchens Ko-os Teran hat tatsächlich noch einiges gesagt.
wiedertreffen, um gemeinsam eine in der Nähe liegen- Man weiß ja, daß er ein reicher, ein sehr reicher Mann
de Anhöhe zu ersteigen. Zu unserer Bestürzung muß- ist, daß er aber so reich ist, gleich zwei Millionen zu
ten wir feststellen, daß sich Ira Tarwi nicht am verab- verschenken, gehört schon ins Gebiet der Fabel.
redeten Platz befand. Ich möchte hierbei noch erklä- „So bleibt nur noch mein Vorwurf“, sagt Ko-os
ren, daß sich noch ein gewisser Flem-ti bei uns be- Teran, „den ich mir wegen Ira Tarwi machen muß.
fand, ein sehr mutiger und brauchbarer Mensch, mit Denn ich habe die Gefährtin meines Schicksals schnö-
dem wir die Flucht vereinbart hatten. Flem-ti und ich de im Stich gelassen. Damals im Wald, als mich mein
erklommen die Anhöhe und konnten uns dann in den Gewissen peinigte, habe ich einen Schwur getan. Da-
riesigen Wäldern, die einige Kilometer weiter hin- mals schwor ich, daß ich es Ira Tarwi entgelten wollte,
ten lagen, in Sicherheit bringen. Aber mein Gewissen weil ich so feige gewesen war. Ich möchte Sie deshalb
ließ mir keine Ruhe. Ira Tarwi fehlte, und wir hät- bitten, Ira Tarwi, von mir ebenfalls eine Million Ga-
ten auf jeden Fall versuchen müssen, sie selbst unter laktischer Dollar als Geschenk anzunehmen. Sie sol-
Einsatz unseres Lebens zu retten. Wir haben es nicht len sich durch dieses Geschenk mir gegenüber in kei-
getan, sondern zunächst unser eigenes Leben in Si- ner Weise verpflichtet fühlen. Denken Sie immer dar-
cherheit gebracht. Diese Unterlassungssünde belastet an, Ira Tarwi, wie leicht uns Menschen der Tod an-
mich schwer. Auf irgendeine Art muß ich es wieder- springen kann. Genießen Sie den Rest Ihres Lebens,
gutmachen, daß ich so feige gewesen bin. Ich bin er- denn nach unserem Tod ist alles vorbei.“
schüttert über die Dinge, die sich ohne mein Wissen Mit höchstem Interesse und atemloser Spannung
in der Zwischenzeit begeben haben. Wäre nicht der haben alle zugehört.
Heldenmut unseres Freundes Antonio Stia gewesen,
Eine ganz besondere Wirkung üben aber seine Wor-
so irrten wir noch jetzt in den Wäldern umher. Diese
te auf einen Teilnehmer dieser Versammlung aus, von
Wälder sind unendlich, und es wäre nicht abzusehen
dem man es am wenigsten erwartet hätte. Es ist Kro-
gewesen, ob wir jemals wieder auf eine menschliche
no Tikkal. Bis zum Hals steigt ihm die Wut hoch, als
Siedlung gestoßen wären. Wir wären darin umgekom-
er vernimmt, daß ausgerechnet Ira Tarwi jene Million
men. Der Stern Hennos ist nur sehr dünn besiedelt;
erhalten solle.
ich muß darüber nachlesen, sobald ich wieder in mei-
nem Heim angekommen bin. Erlauben Sie mir, An- „Da bist du ja billig dazugekommen, du gemeine
tonio Stia, daß ich Ihnen als kleines Zeichen meiner Verräterin!“ schimpft er los. „Mir verdankst du diese
Dankbarkeit und der großen Verehrung, die ich Ihnen Million, mir ganz allein — verstehst du?“
entgegenbringe, jene Summe von einer Million Galak- Ira Tarwis Antlitz wird von einer brennenden Röte
tischer Dollar zum Geschenk vermache.“ übergössen.
Wieder herrscht Totenstille in dem Kellerraum. Das „Du kannst beruhigt sein, Krono, ich werde das
Geschenk Ko-os Terans ist geradezu ungeheuer, wenn Geld nicht annehmen. Es steht mir nicht zu, und ich
man den Kaufwert eines Galaxis-Dollars bedenkt. Ob will es nicht haben, ganz gleich, aus welchen Gründen
es Antonio Stia annimmt? Noch nie hat sich der Re- ich es erhalte.“ „Du bist verrückt!“ braust Tikkal auf.
porter mit einer solchen wahrhaft utopischen Sum- „Du wirst das Geld nehmen! Eine Million schlägt man
me beschäftigt. Durch diese Zusage ist er ein reicher nicht aus.“
Mann — wenn er es annimmt. Die Männer sehen sich erstaunt an. Besteht noch
Doch Antonio Stia leidet in dieser Beziehung nicht immer das alte Verhältnis zwischen diesen beiden?
an Herzdrücken. Es ist ganz nett, höflich zu sein, und Hofft Krono Tikkal, daß er durch die Annahme des
es ist sehr schön, als höflich zu gelten. Gegenüber ei- Geldes zum Nutznießer der Million wird? Spielt Ira
ner solchen Summe aber verblaßt alle Höflichkeit, vor Tarwi das Spiel ihres einstigen Liebhabers mit?
allem dann, wenn sie von einem Ko-os Teran angebo- Das Antlitz Kan Kamanas ist zu Stein erstarrt, um
ten wird. Antonio Stias Lippen fliegt ein spöttisches Lächeln.
„Das ist ein tolles Geschenk, Ko-os Teran“, sagt Ko-os Teran aber blickt unentschlossen drein, er weiß
Stia, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Wenn nicht, wie er sich dieser von Tikkal propagierten Soli-
ich eine gute Erziehung genossen hätte, würde ich höf- darität gegenüber verhalten soll.
lich ablehnen. Da ich aber keine gute Erziehung ge- Doch sie alle tun Ira Tarwi unrecht. Sie ist fest ent-
nossen habe...“ schlossen, mit Tikkal zu brechen, und nimmt alle Kon-
Er kann nicht weitersprechen, denn die anderen bre- sequenzen dafür auf sich. Sie wirft den Kopf zurück
chen in herzliches Lachen aus. Die anderen — das und mißt Tikkal mit einem hoheitsvollen Blick.
37 TERRA

„Ich weiß, warum du diese Worte sagst, Krono Tik- Die Menge wird aufmerksam. Wutschreie klingen
kal. Aber ich will dir eines schwören: eher möchte auf, Fäuste erheben sich gegen ihn. Zwei Bewaffnete
ich in dieser Minute tot umfallen, als daß ich mich drängen sich durch das Spalier, greifen ihn links und
jemals wieder mit dir beschäftige. Ich empfinde tiefe rechts an den Armen.
Reue darüber, mich jemals mit dir eingelassen zu ha- „Was ist denn los?“ schreit Tikkal. „Laßt mich in
ben. Unser ganzes gegenseitiges Verhältnis war ja auf Ruhe! Ich habe euch doch nichts getan!“
Drohung und Zwang aufgebaut und hielt sich nur des- „Haha!“ johlt es um ihn herum. „Er trägt die Lilien!
halb, weil ich zu träge war, es zu ändern. Das ist mei- Er hat nichts getan!“
ne Schuld. Und diese Schuld will ich sühnen, indem Krono Tikkal setzt sich zur Wehr. Doch seine bei-
ich mich dem Gericht stelle und ein volles Geständnis den Bewacher sind neben ihm, halten ihn eisern fest,
ablege.“ Zehn Tage später hat das Gericht sein Urteil bahnen sich einen Weg.
gefällt.
Und überall, der gleiche Ruf, der hinter ihm her-
läuft.
*
„Er hat die Lilien! Welch eine unerhörte Frechheit!
Er verhöhnt das Volk, er verhöhnt die Revolution!“
Paris. Place de la Concorde. Mehr als 6000 Jahre in
Er ist mit seinen beiden Bewachern aus der Menge
der Vergangenheit.
herausgeraten. Er taumelt vorwärts, einem unbekann-
Tausende, Zehntausende von Menschen umgeben ten Ziel zu.
Krono Tikkal, dem die Richter ein Gewand angelegt
Kommen und Gehen. Hier ist das Hauptquartier
haben, das auf dem Rücken mit einem Lilienwappen
der Revolution. Er wird an einem Tisch geführt, an
versehen ist. Eine johlende Volksmenge, mit dreifar-
dem ein Mann mit einer Phantasieuniform sitzt. Ne-
biger Kokarde angetan, mit eigenartigen, helmartigen
ben ihm ein Schreiber, der mit ungelenker Hand Noti-
Kopfbedeckungen.
zen macht.
„Nieder mit dem König! Es lebe die Republik!“ „Wer bist du, Bürger?“ wird er gefragt.
schreit eine heisere, sich überschlagende Stimme.
„Ich protestiere gegen diese Behandlung! Man hat
Gebrüll antwortet. Mützen fliegen in die Luft. Wei- mich geschlagen und mir Gewalt angetan!“ ruft Tik-
ter vorn krachen Schüsse, klingt unregelmäßiges Ge- kal in der Sprache, in der er angesprochen wurde.
wehrfeuer auf. Die Menge stockt, kommt ins Laufen.
Man wird auf ihn aufmerksam, man zeigt hohn-
Mütter schreien nach ihren Kindern, Männer nach ih-
lachend auf die drei Lilien auf seinem Rücken, man
ren Frauen oder Kameraden.
stößt ihn näher an den Tisch heran.
Krono Tikkal stolpert. Ein toter Grenadier liegt un- „Du verhöhnst das Volk, Bürger!“ sagt der Unifor-
ter seinen Füßen, Er weiß nicht, wie er in diesen Tru- mierte am Tisch.
bel hineingekommen ist, aber er weiß, daß er irgend-
„Ich habe mit deinem Volk nichts zu tun! Ich gehöre
wie dazugehört und mitmachen muß.
nicht dazu!“ fährt Tikkal wütend auf.
Die Menge stoppt. Zweirädrige Karren fahren durch „Das ist es, was wir bekämpfen, Bürger! Du sprichst
die Menge, von bewaffneten Männern gezogen. Und die gleichen Worte wie jener Ludwig, den wir abge-
auf diesen schmutzigen Karren stehen Männer und setzt haben. Auch er hatte mit dem Volk nichts zu tun,
Frauen in goldstrotzenden Uniformen, in wertvollen auch er geholte nicht dazu. Heute ist der Tag der Ab-
Kleidern, schöne, gepflegte Menschen, weinend und rechnung, Bürger! Eure Herrschaft ist aus! Sage mir
gefaßt, bleich und empört. deinen Namen, Bürger!“
„Nieder mit dem König!“ ruft wieder eine Stimme. „Ich heiße Krono Tikkal“, antwortet der Verhaftete.
Steine fliegen gegen die Karren mit ihrer traurigen Der Mann, der ein Richteramt auszuführen scheint,
Last. wendet sich an den Schreiber.
Der Pöbel regiert. „Schreibe auf, Bürger Schreiber: Chronneau Tichal-
Eine Gewehrsalve bricht in die Menge und reißt ei- le. Wegen Verhöhnung des Volkes und offenen Wider-
ne blutige Bahn. Krono Tikkal verspürt den Luftzug standes gegen die Republik zum Tode verurteilt.“
der Geschosse und duckt sich unwillkürlich. Fort, fort „Chronneau Tichalle“, wiederholt der Schreiber, in-
— ist sein Gedanke. Nur heraus aus diesem Treib- dem er bedächtig den Namen auf das Papier kratzt.
haus des Wahnsinns und des Fanatismus. Er wendet „Unterzeichnet: George Danton“, dröhnt die Stim-
sich um, die entgegengesetzte Richtung einschlagend. me des Richters in die Runde. „Abführen! Der Näch-
Doch hinter ihm drängen die Tausende. ste!“
Und plötzlich fühlt sich Krono Tikkal von hinten Krono Tikkal weiß nicht, was um ihn herum ge-
gepackt. Ein baumlanger Kerl mit der farbigen Kokar- schieht.
de weist mit verzerrtem Gesicht auf ihn. „So wartet doch!“ schreit er erschreckt auf. „Ich ha-
„Er hat die Lilien auf dem Rücken! Nieder mit be doch mit euch nichts zu tun. Ich bin doch nur zu-
ihm!“ fällig...“
Befohlenes Dasein 38

„Der Nächste!“ dröhnt die Stimme noch einmal. Namen mit „Tichalle“ notieren lassen? Was will man
Harte Fäuste packen Tikkal von allen Seiten. von ihm? Hat man endlich eingesehen, daß er unschul-
Er wird in ein hohes Haus geführt. Wachen ste- dig, daß er unbeteiligt ist?
hen an den festen Toren, die sich rasselnd öffnen und Noch einmal der Name, schärfer, akzentuierter.
dröhnend hinter ihm zugeworfen werden. Er geht über „Tichalle!“
einen Innenhof. Er sieht Soldaten und Waffen. Or- Krono Trikkal erhebt sich, wie von unsichtbaren
donnanzen sprengen heran, Offiziere geben Befehle. Händen geführt.
Meldegänger mit der Armbinde der Revolution stür- „Heißt du Tichalle, Bürger?“ fragt der Offizier un-
zen keuchend heran, Verwundete lassen sich verbin- gehalten.
den. Von draußen ist der Gesang der Menge zu hören: „Ja, ich heiße Tichalle.“
Allons, enfants de la patrie! „Warum sagst du das nicht eher? Warum stiehlst du
Tikkal wandelt wie im Traum. Türen öffnen sich, uns die Zeit? Mitkommen!“
Gänge werden durchschritten. Man löst die Fesseln „Siehst du, Freund“, sagt der Alte zu ihm. „Nun hast
von seinen Händen. Ein schweres, eisernes Tor wird du es bald überstanden. Es ist alles nicht so schlimm!“
geöffnet. Schlüssel rasseln. Dumpfe, feuchte Luft
Im Hof der Gefängnisburg steht ein zweirädriger
schlägt ihm entgegen. Man stößt ihn ins Innere, in ein
Karren. Man fordert die fünf Genannten auf, hinauf-
Halbdunkel, in dem er viele Menschen erkennt, die auf
zuklettern. Krono Tikkal wendet sich unschlüssig um.
dem steinernen Boden sitzen.
„Ich wollte doch...“, beginnt er.
In großer Höhe lassen zwei vergitterte Fensterluken
„Rauf, Bürger! Rauf, sage ich!“ fährt ihn der dienst-
spärlichen Lichtschein in das Gewölbe. Die Luft ist
tuende Soldat barsch an.
infernalisch. Geruch ungepflegter Menschen.
„Aber ich habe doch...“
Krono Tikkal sucht sich ein freies Plätzchen und
Zwei der umherstehenden Soldaten kommen her-
läßt sich dort auf den Steinfußboden sinken. Niemand
bei. Tikkal wird auf den Karren geworfen, dann hat
spricht ihn an, und auch er verspürt keine Lust, Ge-
er alle Hände voll zu tun, um nicht herunterzufallen,
spräche zu führen. Er steht nach kurzer Zeit wieder
denn das Gefährt setzt sich schwankend in Bewegung.
auf und begibt sich zur Tür. Wieder werden Verurteil-
Die Tore der Burg fliegen auf, der Karren wird von
te gebracht.
einer schreienden Menge Neugieriger empfangen.
„Hallo, Kameraden!“ ruft Tikkal den Wachen voller
„Was soll das?“ fragt Tikkal einen seiner Leidens-
Verzweiflung zu. Niemand antwortet, niemand beach-
genossen, der am Boden des Karrens sitzt und den
tet ihn.
Kopf in die Hände vergraben hat.
„Es hat keinen Zweck, Freund“, sagt ein alter Mann
Der Mann schreckt hoch.
zu ihm. „Erniedrige dich nicht! Nimm dein Schicksal
„Was das soll? Weißt du nicht, was das soll, Kame-
mit Würde!“
rad? Es ist unsere letzte Fahrt!“ Er lacht höhnisch auf.
„Aber ich habe doch gar nichts getan!“ ruft Tikkal. „Vive la République! Hörst du sie schreien und toben?
„Wir alle haben nichts getan. Aber das Glück ist Willst du mal sehen, wie das Pack reagiert, wie es sich
gegen uns. Heute trifft es diesen, morgen jenen. In ärgert?“.
solchen Zeiten fragt man nicht nach Schuld und Un- Er springt auf, Tikkal will ihn zurückhalten, doch er
schuld, in solchen Zeiten regiert der Zufall.“ reißt sich mit einem spöttischen Lachen los.
„Aber so laß dir doch erzählen...“ „Vive le roi!“ brüllt er durch die Hände in die Men-
Der Alte winkt ab. ge hinein.
„Ich will es nicht hören, Freund. Jeder von uns hat Ein Wutschrei der Menge antwortet auf diese Her-
eine solche Erzählung parat. Finde dich damit ab! Wir ausforderung. Die Begleitmannschaften haben alle
sind Stiefkinder des Glücks.“ Hände voll zu tun, den anstürmenden Pöbel zurück-
Schlüssel rasseln an der Eisentür. Ein Offizier in ei- zudrängen.
ner der komischen Mützen. Er hält ein Blatt in der „Halte den Mund, Bürger Meunier!“ ruft der Offi-
Hand. Seine beiden Begleiter machen wichtige Ge- zier der Bewachungsmannschaft.
sichter. „Für dich bin ich noch immer der Vicomte le Meu-
Der Offizier verliest Namen. nier!“ antwortet der Gemaßregelte trotzig.
„Montroux, Bellarmes, Meunier, Colombin...“ Die Fahrt ist zu Ende. Sie ging bis auf einen weiten,
Wehklagen, Geschrei, das starre Gesicht des Offi- großen Platz, den Gréveplatz. Dort steht an der Sei-
ziers... te ein hohes Gerüst, während mehr als hunderttausend
Menschen den Karren mit Schmährufen empfangen.
Und dann noch ein Name. Das Volk öffnet eine winzige Gasse, um einen Durch-
„Tichalle.“ laß zu gewähren. Die Fahrt geht holpernd und stoßend
Krono Tikkal durchfährt es wie ein glühender auf das Gerüst zu, auf dem vier Männer in roten, an
Draht. Hatte nicht jener Richter dort draußen seinen den Armen hochgekrempelten Hemden stehen.
39 TERRA

Ein Priester mit langem, schwarzem Rock kommt zur Verfügung zu stellen, um meine Maschine serien-
den Verurteilten entgegen. Er hebt ein Kreuz in die mäßig herzustellen. Nach meinen jetzigen Erfahrun-
Höhe. gen bin ich gegen eine serienmäßige Herstellung. Die
Krono Tikkal hat mit Entsetzen erkannt, wo er sich Maschinen sind für die Geschichte und die allgemeine
befindet. Forschung der einzelnen Planeten unbezahlbar, das ist
Man schleppt ihn aufs Gerüst. Sein Kopf wird ein- durchaus wahr — wer aber garantiert mir, daß man ne-
gespannt in eine Vorrichtung, die er nicht erkennen ben der reinen Forschungsarbeit nicht Mißbrauch da-
kann. mit treibt?“
„Sie haben sehr recht, Professor. Man müßte der
Ein kurzer, harter Befehl.
Regierung gewisse Bedingungen stellen und aus-
Von oben rast ein unsichtbarer Gegenstand auf ihn drücklich auf die Gefahren hinweisen, die sich in die-
zu. ser Erfindung verbergen. Es wird sich nicht vermei-
Dann ist alles vorbei. den lassen, daß dieser oder jener Forscher ins Alter-
Krono Tikkal hat sein Verbrechen gebüßt. Er hat in tum versetzt zu werden wünscht. In einem solchen Fall
der Vergangenheit das gebüßt, was er in der Zukunft müßte stets eine dreifache Kontrolle vorhanden sein.
verbrach. Der eine ist der Versetzte, der zweite bedient die Ma-
schine und steht am Bildschirm, und der dritte kon-
* trolliert den zweiten. Es könnte ja auch geschehen,
daß den Bediener der Maschine plötzlich ein Unwohl-
Ko-os Teran und Antonio Stia wischen sich den sein überfällt. Für solche Fälle wäre dann der drit-
Schweiß von der Stirn. Sie haben das Ende Krono Tik- te Mann verantwortlich.“ „Ja, diese Vorsichtsmaßnah-
kals am Bildschirm miterlebt. Tikkal ist tot, daran ist me muß allgemein eingeführt werden. Ferner möchte
nichts mehr zu ändern. Dort sitzt er im Stuhl, aber er ich vorschlagen, daß die Maschine nur an anerkann-
wird nicht mehr erwachen, wenn die Maschine ausge- te Universitäten abgegeben wird. Damit wird ein Pri-
schaltet hat. vatgebrauch von vornherein unmöglich gemacht. Sie
Er war ein Verbrecher, der nicht mehr zu bessern müssen bedenken, Ko-os Teran, daß sich die Erfin-
war. Das Gericht der Galaktischen Union hatte ihn dung erst in den Kinderschuhen befindet. Gewiß, es
zum Tode durch Kan Kamanas Erfindung verurteilt, ist schon vieles erreicht worden, aber es haben sich
während die voll geständige Ira Tarwi milde Richter im Verlauf meiner Forschungen wieder neue Proble-
fand, die sie auf Bewährung entlassen haben. me ergeben. Ich möchte erstens nicht nur das Bild aus
der Vergangenheit übertragen, sondern auch das Wort,
Schweigend begeben sich die beiden Männer nach den Ton, das Geräusch.“
oben. Wie viele Stunden sind seitdem vergangen?
„Glauben Sie, daß das möglich ist?“ fragt Teran in-
Zwei, drei Stunden hat es immerhin gedauert.
teressiert.
Im Wohnsalon befindet sich niemand. Sie gehen
„Offen gestanden — nein“, entgegnet Kamana zur
hinaus in den Garten. Dort finden sie Ira Tarwi und
Überraschung seines Gesprächspartners. „Der Ton —
Kan Kamana. Ira streicht sich das Haar aus der Stirn.
der Schall also — verfliegt schon nach kürzester Zeit.
Stia nickt dem Professor bedächtig zu. Dieser wen- Allerdings müßte man sich einmal näher mit dem We-
det sich Ira zu. „Er ist tot“, sagt er nur. Ira antwor- sen der Schallelektronen beschäftigen. Die Bildelek-
tet nicht. Sie hält sekundenlang das Haupt gesenkt, als tronen vergehen niemals und fliegen alle im gleichen
halte sie ein stilles Gedenken. Doch dann wirft sie den Tempo. Wäre es nicht so, so könnten wir niemals ein
Kopf zurück, und in ihren Augen liegt ein befreiter Bild der Vergangenheit unverzerrt auffangen. Anders
Ausdruck. ist es beim Ton. Schon die schlechte Akustik einer
Ko-os Teran rückt sich einen Stuhl heran, um mit Halle gibt die Töne entstellt und verzerrt wieder, und
dem Professor zu sprechen. zwar bereits wenige Sekunden nach ihrem Entstehen.
„Ich habe mich von der Funktion Ihrer Maschine Wie aber soll es erst nach 5000 oder 10 000 oder noch
überzeugt“, sagt er schleppend. „Sagen Sie mir Ihre mehr Jahren sein? Nein, ich glaube nicht daran, daß
Pläne, Professor, und sagen Sie mir gleichzeitig, wie- mir das gelingen wird. Dafür glaube ich aber an etwas
viel Geld Sie benötigen, um diese Erfindung der Wis- anderes.“
senschaft nutzbar zu machen.“ „Und das wäre?“ fragt Ko-os Teran.
„Das ist mit einem Wort nicht gesagt“, entgeg- „Ich glaube an die Möglichkeit einer Unterhaltung
net Kan Kamana. „Es kommt darauf an, für welche zwischen dem Beteiligten, der sich versetzen ließ, und
Zwecke die Maschinen eingesetzt werden sollen. Ge- den Daheimgebliebenen, die sich an der Maschine be-
rade an diesem Tag ist mir die Gefahr, die meine Er- finden. Hier handelt es sich nur um Sekundenbruchtei-
findung in sich birgt, besonders deutlich gegenwärtig le, die zwischen den beiden Partnern liegen.“
geworden. Wie ich heute von meinem Mitarbeiter An- „Aber der Betreffende ist doch in die Vergangenheit
tonio Stia hörte, hat sich die Regierung der Galakti- entflohen?“ wirft Teran ein. „Er müßte doch dann den
schen Union bereit erklärt, die erforderlichen Mittel gleichen Bedingungen unterliegen, denen die auf dem
Befohlenes Dasein 40

Bildschirm erscheinenden Menschen jener Zeit unter- eine Frage der Technik. Das Problem ist demnach lös-
liegen?“ bar.“
„Nein, das ist nicht so. Der Beteiligte, der sich ver- „Dann erlauben Sie mir, die hierfür nötigen Gelder
setzen ließ, stellt physikalisch etwas anderes dar als zur Verfügung zu stellen“, mengt sich wieder Ko-os
die Zeit, in die er sich versetzen ließ. Trotzdem er tief Teran in die Debatte.
in der Vergangenheit wandelt, ist er uns in jeder Se- „Ich nehme dankend an, Ko-os Teran.“
kunde gegenwärtig. Vielleicht könnte man den Schall
seiner Worte entmaterialisieren.“
*
Antonio Stia lacht.
„Dann könnte man Direktreportagen über den ga- Zehn Jahre später.
laktischen Bildfunk bringen“, sagt er gut gelaunt. „Ich
Längst ist die Erfindung Kan Kamanas kein Wun-
melde mich hierfür als erster Reporter.“
der mehr. Die Gegenwart des 9. Jahrtausends lebt
Kan Kamana nickt zustimmend.
schnell und gründlich. Als die ersten Maschinen auf
„Das ist kein Witz, Antonio, sondern wird bald Tat- den Markt kamen, war es die Universität Da-lun, die
sache sein. Stelle dir doch bitte die ungeheueren Mög- die erste Bestellung schickte. Persönlich holten die
lichkeiten vor, die ein solches Problem in sich birgt.“ Professoren Fellh und Gra-koh das wertvolle Objekt
Er schlägt sich plötzlich an den Kopf. „Das ist ja al- auf dem Kidor ab. Vorher mußten sie auf Anordnung
les Unsinn, was wir hier erzählen. Ich habe eine noch der Regierung der Galaktischen Union einen Kur-
viel bessere und durchführbarere Idee. Wie wäre es sus von vier Wochen Dauer absolvieren. Sie mußten
denn, wenn wir diese Reportagen — um bei diesem einen Kontrakt unterschreiben, daß sie nur eine gelern-
Beispiel zu bleiben — auf telepathischem Weg zustan- te Kraft, die das staatliche Diplom in der Hand hatte,
de brächten? Ich habe bei meiner Versetzung auf den an dieser Maschine arbeiten ließen.
Ta-foll, die Tikkal an mir vornahm, im Zug meiner Er-
Dieses staatliche Diplom war an viele Bedingungen
findung zum erstenmal eine indirekte Verbindung mit
gebunden. Es ging hier nicht nur um das technische
meinem Heimatwohnsitz aufgenommen. Diese Ver-
Verständnis und die einwandfreie Bedienung, sondern
bindung ging nun allerdings nur von mir aus, und sie
mehr noch um die moralische und sittliche Qualifi-
geschah durch eine Gedächtnisstütze, die ich in Form
kation des Bewerbers. Viele Zeugnisse mußten beige-
eines Zettels bei mir trug. Durch diesen Zettel ver-
bracht werden, viele einwandfreie Bürgen mußten ge-
banden sich mein Unter- und mein Normalbewußt-
stellt werden. Das Bedienen dieser Maschine wuchs
sein und schufen damit wieder eine logische Denkwei-
sich zu einer ganz neuen Wissenschaft aus. Wer das
se. Ich war eintausend Jahre zurückversetzt, trotzdem
Diplom zum Bedienen einer Kamana-Maschine — so
wußte ich, wer ich war, woher ich kam und was man
werden sie heute allgemein benannt — besaß, galt als
mit mir gemacht hatte. Das konnte bis jetzt noch kein
Gelehrter, Forscher und Vertrauensperson in einem.
Mensch. Allerdings muß ich hinzufügen, daß es sehr,
Das Bedienen dieser Maschinen wurde zum Studium
sehr lange gedauert hat, ehe ich den Sprung auf dem
erhoben und der Doktorgrad damit verbunden.
Unterbewußtsein als gelungen bezeichnen konnte. Es
müßte eine Vorrichtung geschaffen werden, die den Das mag alles recht phantastisch klingen, und doch
Betreffenden wohl hypnotisiert, jedoch sein logisches sind die Möglichkeiten, die eine solche Maschine in
Denken, seine Normalvernunft, nicht ausschaltet. Das sich birgt, noch längst nicht erschöpft. Eine Gesell-
ist ein Problem, das meines Erachtens viel, viel leich- schaft wurde gegründet: die „Gesellschaft zur Kor-
ter zu lösen sein dürfte als die Übertragung des Schalls rektur der Geschichte“. Ihr gehörten die namhaftesten
auf elektronischem Weg.“ Geschichtsforscher der Galaxis an. Mit pedantischer
„Da mußt du mir aber einen Einwand gestatten, Gründlichkeit stöberten sie die Fehler auf, die in der
Kan“, bemerkt Antonio Stia. „Wenn du das Unterbe- Geschichte der vergangenen Jahrtausende auf diesem
wußtsein zur Gänze ausschalten willst, werden die Be- oder jenem Planeten zum Schaden der kulturellen und
treffenden einen schweren Stand mit der Sprache der zivilisatorischen Entwicklung begangen wurden. Die-
betreffenden Zeit haben. Alle unsere Versuche haben se Fehler sollten korrigiert werden. Allerdings verges-
bisher ergeben, daß die Versuchsobjekte in der Lage sen diese Leute dabei eines: daß diese Vergangenheit,
waren, auch die Sprache der betreffenden Zeit so zu die sie in corpore erleben, doch mehr oder weniger ei-
sprechen, daß sie sich mit den Menschen unterhalten ne Illusion ist und sich nicht mehr ändern läßt.
konnten, die sie antrafen. Das ist kein Wunder, son- Wie soll man das erklären? Diese Vergangenheit ist
dern ein parapsychologischer, telepathischer Vorgang, und ist nicht. Sie besteht aus Bildphotonen, die in Ma-
der aus dem Unterbewußtsein heraus geboren wird. terie zurückverwandelt wurden. Kan Kamana unter-
Das Unterbewußtsein darf demnach keinesfalls ausge- hält sich mit Ira Tarwi, seiner Gattin, darüber.
schaltet werden.“ „Sie haben es alle noch immer nicht begriffen, Ira“,
„Dann müssen wir das Unterbewußtsein mit dem sagt er. „Diese Leute glauben tatsächlich, die Ge-
normalen Verstand koppeln“, sagt der Professor nach- schichte ändern zu können. In Wirklichkeit ändern sie
denklich. „Da beides vorhanden ist, bleibt es nur noch nur ein Bild, das irgendwo im Raum hängt. Alles, was
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meine Maschine einzufangen vermag, ist doch bereits und den namhaftesten Gelehrten der damaligen Zeit.
geschehen. Sie lassen sich täuschen durch die Rema- Wer wollte es auch diesen Männern verübeln, wenn
terialisierung.“ sie der Tatsache dieser Erscheinungen zuerst ungläu-
„Und dennoch wäre ich heute tot, wenn Antonio big gegenüberstanden und an einen Spuk glaubten?
nicht gewesen wäre“, meint Ira. „Wie kannst du das Entmaterialisierung — gewiß, auch diese kannte man
erklären, Kan?“ und brachte sie schon zur Anwendung. Aber ein Flug
Der Professor seufzt. Er weiß, wie alles zusammen- in eine Vergangenheit von über einer Million Jahre —
hängt, er kann alles irgendwie physikalisch begrün- dieses Problem hatte man auch damals noch nicht ge-
den. Sowohl das eine als auch das andere. Aber er löst.
bringt beide Faktoren nicht auf einen Nenner. Es gibt Nie in ihrem Leben werden Fellh und Gra-koh je-
da noch irgend etwas Unbegreifliches, Unerforschtes. nen Augenblick vergessen, da sie dem berühmtesten
„Sprechen wir nicht mehr darüber, Ira. Begnügen Physiker der damaligen Zeit zum erstenmal gegen-
wir uns mit dem, was uns die Natur zu wissen erlaubt. überstanden und ihm ihr Geheimnis offenbarten. Sie
Es gibt eine Grenze, die wir nicht überschreiten dür- erklärten diesem vielwissenden Mann die Funktion
fen. Und es wird wieder Probleme geben, die wir nicht der Kamana-Maschine und bedeuteten ihm, daß sie ih-
zu lösen vermögen.“ rer Gegenwart den Auftrag gegeben hätten, sie genau
zur festgesetzten Stunde zurückkehren zu lassen. Die-
Das Tollste aber, was die Erfindung Kan ser Fall trat dann ein, doch gaben die beiden Professo-
Kamanas offenbarte, war die Vergangenheit der ren ihren Ur-ur-urahnen aus aschgrauer Vergangenheit
heutigen Stadt Be-is auf dem Da-lun. Die beiden Pro- das Versprechen, zu einer bestimmten Zeit wiederzu-
fessoren Fellh und Gra-koh unternahmen das Wagnis, kommen. Und als sie beim nächsten Mal das Haus
sich über eine Zeit von mehr als einer Million Jahren des berühmten Physikers betraten, waren die Straßen
in die Vergangenheit zurückzuversetzen. Es war eine schwarz von Menschen. Man bat die beiden Männer,
Heldentat der beiden Forscher, die für immer in die die aus sternenweiter Zukunft in die Vergangenheit
Geschichte der Galaxis eingehen wird. Diese Tat ist zurückkehrten, Vorlesungen über ihr Land und über
so phantastisch, daß sie selbst in der aufgeschlosse- die Zukunft der Stadt Be-is zu halten. Millionen hör-
nen Welt der heutigen Galaktischen Union berechtig- ten diese Vorlesungen an den Lautsprechern, Millio-
tes Aufsehen erregte. nen sahen die beiden Professoren an den Bildschir-
Es handelte sich hierbei nicht um eine gewöhnliche men. Der damalige Präsident des Da-lun empfing die
Versetzung. Denn die beiden Professoren hatten nicht beiden „Zukünftigen“ in Sonderaudienz. Bis jetzt sind
mehr und nicht weniger vor, als sich den damaligen Fellh und Gra-koh wohl zwanzigmal in jene Vergan-
Experten der einstigen Stadt Be-is in ihrer wirklichen genheit zurückgekehrt. Sie brachten dabei Erkenntnis-
Gestalt und Funktion zu erkennen zu geben. Was das se mit, die der gesamten Wissenschaft der gegenwär-
bedeutet, vermag nur der zu ermessen, der sich tiefer tigen Galaxis von ungeheurem Nutzen waren.
in dieses Problem hineindenkt. Es gab viele Fragen, an der sich die Wissenschaftler
Man bedenke: plötzlich tauchen zwei Männer auf, der Gegenwart heute noch die Zähne ausbeißen. Die
die als Begründung ihres Daseins anführen, daß sie damalige Metropole Be-is hatte viele dieser Proble-
aus einer Zeit stammen, die erst in mehr als einer Mil- me bereits gelöst. Man brachte Erkenntnisse heim, die
lion Jahren kommen wird. Was wird die Reaktion der- auf die heutige Wissenschaft wie Faustschläge wirk-
jenigen sein, die sich solche Worte anhören müssen? ten. Man war aber auch freigebig genug mit dem ei-
Das mindeste wäre wohl, daß man diese beiden Män- genen Wissen. Auch in dem zivilisatorischen Zentrum
ner in eine Verrücktenanstalt brächte. des damaligen Be-is hatte man viele Fragen zu stellen,
Nicht so die Gelehrten und Forscher der einstmali- und man war verblüfft über die Wege, die eine zukünf-
gen Metropole Be-is. Diese Männer waren technisch tige und von den alten Thesen unabhängige Wissen-
schon viel zu weit entwickelt, waren wissenschaftlich schaft gefunden hatte.
viel zu begabt und waren — was Erfindungen anbe- Fellh und Gra-koh hatten die Brücke von der Zu-
trifft — auf einer solchen Stufe angelangt, daß sie sich kunft in die Vergangenheit gefunden. Oder war es
mit Fellh und Gra-koh ernsthaft beschäftigten. die Brücke aus der Vergangenheit in die Gegenwart?
Die beiden Da-lun-Professoren hatten sich, um Ver- Wer vermag allein schon diese einfache Frage treffsi-
nunft und Unterbewußtsein zu koppeln, mit gewalti- cher zu beantworten? Gegenwart und Vergangenheit
gem, schriftlichem Material versehen, das sie in der tauschten ihre Erfahrungen aus, ja, noch mehr: Sie
Hand hatten, als sie die Stadt Be-is zu einer Vergan- tauschten Materie aus. Denn der telepathische Flug,
genheit von 1 070 000 Jahren — vom heutigen Zeit- den sie unter strenger Aufsicht erfahrener Experten
punkt an gerechnet — betraten. Das Studium dieses wagten, machte keinen Unterschied zwischen ihren
Materials ermöglichte es ihnen, sich ihrer Vorhaben Körpern und den mitgeführten Gegenständen.
und Aufgaben zu besinnen. Selbst in der hochent- Kan Kamana hatte bedenklich das Haupt geschüt-
wickelten Stadt Be-is wirkte ihr Auftreten als Sensa- telt, als er von dieser wahrhaft umwälzenden For-
tion. Es entwickelten sich Gespräche zwischen ihnen schungsarbeit erfuhr.
Befohlenes Dasein 42

„Warum sollten Sie es nicht tun, Kan?“ fragt Ira, Sie hält seinen Kopf ganz fest an ihre Brust.
die sich im Verlauf der Jahre zu einer wissenschaft- „Ich glaube, Kan, du bist auf dem besten Weg da-
lichen Kapazität ersten Ranges entwickelt hat. „Ich zu. Hole der Teufel jetzt die ganze Stadt Be-is und al-
finde nichts Welterschütterndes dabei. Sie haben dei- le anderen Städte dazu. Wir fahren noch heute in die
ne Erfindung auf eine ganz neue und recht interessan- Ferien. Und du versprichst mir, keine Zeitung zu le-
te Art ausgenutzt — warum pflichtest du ihnen nicht sen, dich nicht mit diesen Problemen zu beschäftigen
bei?“ und einzig und allein nur für mich dazusein. Du hast
Um Kamanas Mund zuckt ein gequälter Ausdruck. dir diese Pause redlich verdient, und Geld haben wir
Beinahe hilfesuchend lehnt er sich an seine bildschöne schließlich auch genügend.“
Frau.
„Vielleicht bin ich schon zu alt zu dieser Art von Er nickt mehrere Male langsam mit dem Kopf.
Erkenntnissen, Ira. Was diese beiden tun, geht gegen „Gut, Ira, wir wollen Ferien machen. Suche dir aus
alle Naturgesetze. Sie haben sich dem Ewigen gleich- den Büchern den schönsten Ort und die schönste Zeit
gesetzt. Und so etwas kann auf die Dauer nicht gut der Vergangenheit heraus. Dorthin werden wir uns
sein.“ versetzen lassen, wir beide ganz allein.“
„Ach, Kan, du siehst zu schwarz“, entgegnet sie.
Sie zeigt ihm lächelnd die weißen Zähne.
„Wie viele Probleme gab es in den vergangenen Zei-
ten, die man für unmöglich hielt oder gar für Zauberei. „Ach, Kan“, sagt sie endlich leise, „deine Erfindung
Die Weiterentwicklung der Möglichkeiten hält nicht mag ja ganz schön sein, und auch das mit dem Ver-
Schritt mit deiner bisherigen Gedankenwelt, sondern setzen ist zu gewissen Zeiten recht nützlich und auch
hat sie weit überholt — das ist alles. Du selbst hast die- sehr interessant, aber — weißt du — diesmal möchte
se Geister gerufen. Erinnerst du dich noch des Tages, ich doch lieber die Maschine aus dem Spiel lassen.“
als du mir von der Existenz dieser alten Stadt Be-is „Und warum, Ira?“ fragt er verwundert.
erzähltest? Wie erschüttert wart ihr alle, als ihr diesen
Blick in die Vergangenheit tun durftet? Ihr hieltet alles „Nun, ich will es dir ganz offen sagen, Kan“, spricht
für ein Trugbild und ein Hirngespinst, und in Wahr- sie mit ihrer zärtlich-verträumten Stimme weiter. „Der
heit war es die Wirklichkeit, die ihr saht. Dank deiner Antonio Stia ist ja ein ganz guter Kerl, und ich schulde
Genialität, Kan. Du bist überarbeitet. Komm, laß uns ihm auch von damals her großen Dank. Aber es wäre
einmal ausspannen und in eine schöne, stille Gegend ja schließlich so, daß du den Antonio bitten würdest,
reisen. Laß die Vergangenheit fahren, Kan, und küm- uns während der Versetzung im Auge — vielmehr im
mere dich mehr um die Gegenwart. Darf ich dich ein- Bildschirm — zu behalten. Denn man kann ja bei ei-
mal ganz bescheiden darauf aufmerksam machen, daß ner solchen Versetzung niemals wissen, was mit einem
du eine recht hübsche Frau hast. Es lohnt sich noch geschieht.“
immer, Kan, sich darum zu kümmern.“ „Nun ja — und?“
Wie von einer plötzlichen Angst befallen, schmiegt
„Siehst du, Kan, da läßt es sich nicht vermeiden,
sich der berühmte Mann ganz eng an seine Frau.
daß der Antonio uns ständig beobachten muß. Aber
„Ich kann nicht mehr, Ira“, flüstert er. „Ich grüb-
es gibt doch gewisse Dinge, die auch er nicht unbe-
le den ganzen Tag, den ganzen Monat und das ganze
dingt zu sehen braucht. Das ist ein kleines Manko in
Jahr über die wahren Zusammenhänge nach. Manch-
deiner Erfindung, aber beschäftige dich jetzt um Him-
mal glaube ich, die Lösung gefunden zu haben, doch
mels willen nicht damit, es ändern zu wollen. Aber
dann entgleitet mir wieder alles. Stelle dir doch vor,
bei unserer jetzigen Reise ist mir die Gegenwart lie-
Ira, was Fellh und Gra-koh den Menschen der Stadt
ber. Kannst du das verstehen, Kan?“
Be-is sagen müßten, wenn sie nach der Zukunft der
Stadt gefragt werden. Muß man über solchen Proble- „Manchmal habe ich das Gefühl, Ira, daß du viel
men nicht verrückt werden?“ klüger bist als ich.“

ENDE
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Soeben erschien TERRA-Sonderband 32:

Stunde der Roboter


von ROGER LEE VERNON

In Amerika erfanden Sie den „Penetrator“. Ein Gerät zur Durchdringung der überall auf der Erde vorhandenen,
über die einzelnen Staaten gelegten Energieschutzglocken. Am nächsten Tage waren die Pläne verschwunden,
und nun beginnt ein Kampf, in dem die Roboter - die bis dahin willigen Helfer der Menschen - plötzlich
zu unheimlichen Gegnern werden. Verlangen Sie diesen großartigen Science-Fiction-Roman jetzt bei Ihrem
Zeitschriftenhändler; er hat ihn noch vorrätig. Preis 1.- DM.

„TERRA“ - Utopische Romane Science Fiction - erscheint wöchentlich im Moewig-Verlag München 2, Türkenstraße 24 Postscheckkonto
München 13968 - Erhältlich bei allen Zeltschriftenhandlungen. Preis je Heft 60 Pfennig Gesamtherstellung: Buchdruckerei A. Reiff & Cie.,
Offenburg (Baden) — Für die Herausgabe und Auslieferung In Österreich verantwortlich: Farago & Co.. Baden bei Wien.
Anzeigenverwaltung des Moewig-Verlages: Mannheim R 3, 14 Zur Zelt Ist Anzeigen Preisliste Nr. 4 vom 1. Mai 1959 gültig
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