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Klassik, Klassizismus, Weimarer

Klassik
3. Goethe - Iphigenie

Prof. Dr. Jörg Robert


Lehrstuhl für Literaturgeschichte
der Frühen Neuzeit
6
Georg Melchior Kraus: Goethe
als Orest und Corona Schröter als
Iphigenie bei der Uraufführung
der ‚Iphigenie auf Turis‘ am
6.4.1779 im Redoutentheater in
Weimar.

8
Verarbeitungen des Iphigenie-Stoffes
• Christoph Willibald Gluck: Iphigénie en Tauride (1779)
• Racine: Iphigénie en Tauride von (veröffentlicht 1774)
• François Joseph de Lagrange-Chancel: Oreste et Pylade von (1697)
• Johann Elias Schlegel: die Übertragung Die Geschwister in Taurien
(später Orest und Pylades) (1737)
• Claude Guimond de La Touche: Iphigénie en Tauride von (1757).
• Georg Friedrich Händel: Oreste (UA 1734)
• Tommaso Traetta: Ifigenia in Tauride (1763)
• Niccolò Jommelli: Iphigenia en Tauride von (1771).

9
IPHIGENIE.
Heraus in eure Schatten, rege Wipfel
Des alten, heil'gen, dichtbelaubten Haines,
Wie in der Göttin stilles Heiligtum
Tret' ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,
Als wenn ich sie zum erstenmal beträte,
Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.
So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem Ufer steh' ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend;
Und gegen meine Seufzer bringt die Welle
Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.

HA 5, 8
10
Anselm Feuerbach
Iphigenie II (1871)

12
Der Stil des Werkes ist der alles durchdringende Äther seiner
Sprache. Solcher Vorrang der Form trägt das zivilisatorische
Moment, den stofflichen Vorwurf, ins Gedichtete hinein. Die
Milderung des Rohen, schließlich dessen Verschwinden sind
nicht bloß Absicht der Heldin. Die Gestalt eines jeden Satzes
vollzieht sich mit bedachter, errungener mesotes der
Formulierung.

Th. W. Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie. In: Ders.: Noten
zur Literatur (IV 1974). Frankfurt am Main 1974, S. 495-514, hier S. 501.

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Ästhetik als „Immunisierung“

Strategie der Klassik = Immunisierung gegen


hypertrophe Gefühle:

 Das Erhabene (Schiller)


 Entsagung (Goethe)
 Impfung = symptomatisch für Ausbildung
sozialer Immunsysteme (Luhmann) und
Eingang in die biopolitische Moderne
(Foucault)

2014
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Zivilisierung der Religion

Du hast hier nichts getan seit deiner Ankunft?


Wer hat des Königs trüben Sinn erheitert?
Wer hat den alten grausamen Gebrauch,
Daß am Altar Dianens jeder Fremde
Sein Leben blutend läßt, von Jahr zu Jahr
Mit sanfter Überredung aufgehalten
Und die Gefangnen vom gewissen Tod
Ins Vaterland so oft zurück geschickt?
Hat nicht Diane, statt erzürnt zu sein,
Daß sie der blut'gen alten Opfer mangelt,
Dein sanft Gebet in reichem Maß erhört?
Umschwebt mit frohem Fluge nicht der Sieg
Das Heer? und eilt er nicht sogar voraus?
Und fühlt nicht jeglicher ein besser Los,
Seitdem der König, der uns weis' und tapfer
So lang' geführet, nun sich auch der Milde
In deiner Gegenwart erfreut und uns
Des schweigenden Gehorsams Pflicht erleichtert.

HA 5, 10f. 16
Projektionen

IPHIGENIE.
Um meinetwillen hab' ich's nie begehrt.
Der mißversteht die Himmlischen, der sie
Blutgierig wähnt: er dichtet ihnen nur
Die eignen grausamen Begierden an.
Entzog die Göttin mich nicht selbst dem
Priester?
HA 5, 21

17
Rache – Fluch – Erbsünde

PYLADES.
Die Götter rächen
Der Väter Missetat nicht an dem Sohn;
Ein jeglicher, gut oder böse, nimmt
Sich seinen Lohn mit seiner Tat hinweg.
Es erbt der Eltern Segen, nicht ihr Fluch.

HA 5, 26

18
Eumeniden-Vision

Sie [sc. Die Eumeniden] horchen auf, es schaut


ihr hohler Blick
Mit der Begier des Adlers um sich her.
sie rühren sich in ihren schwarzen Höhlen,
Und aus den Winkeln schleichen ihre Gefährten,
Der Zweifel und die Reue, leis’ herbei.
Von ihnen steigt ein Dampf vom Acheron;
In seinen Wolkenkreisen wälzet sich
Die ewige Betrachtung des Gescheh’nen
Verwirrend um des Schuld’gen Haupt umher.
Und sie, berechtigt zum Verderben, treten
Der gottebsäten Erde schönen Boden,
Von dem ein alter Fluch sie längst verbannte.
Den Flüchtigen verfolgt ihr schneller Fuß;
Joseph Anton Koch: Die Erinnyen (1805) Sie geben nur um neu zu schrecken Rast.

MA 3.1., S. 189; (1057-1070)

19
Die Eumeniden

Die gränzenlose Rachbegierde der Eumeniden, ihr vollkommener Mangel


an allem theilnehmenden Mitgefühl mit dem Leiden des Schuldigen,
könnte nicht anders als das sittliche Gefühl jedes sanftgesinnten Menschen
beleidigen: wenn nicht der Dichter durch die erhabenen Ideen des
ehrwürdigen Alters dieser furchtbaren Gottheiten; des ihnen vom Schicksal
selbst übertragenen Amtes, die Menschen im Zaum zu halten, und die
Götter – diese ewig glücklichen, leicht lebenden Wesen – eines verhassten
Geschäfts zu überheben; der unerbittlichen Nothwendigkeit, für Böses
Böses zu leiden; des Abscheues jener Rachgottheiten gegen das
Verbrechen; und ihres Eifers durch ihren strengen Ernst und die Qualen des
Verbrechers die Unschuld zu sichern – auf der andern Seite jenem üblen
Eindrucke entgegen gearbeitet hätte.
Wilhelm von Humboldt: Die Eumeniden. Ein Chor aus dem Griechischen des Aeschylos. In: Ders.:
Gesammelte Werke. 3. Bd. Berlin 1843, S. 97-102 (zuerst in: Berlinische Monatsschrift 22 (1793), S. 149-
156).

20
[...]

Der [sc. der Chor] streng und ernst, nach alter Sitte,
Mit langsam abgemeßnem Schritte,
Hervortritt aus dem Hintergrund,
Umwandelnd des Theaters Rund.
So schreiten keine irrdschen Weiber,
Die zeugete kein sterblich Haus!
Es steigt das Riesenmaaß der Leiber
Hoch über menschliches hinaus.

Ein schwarzer Mantel schlägt die Lenden,


Sie schwingen in entfleischten Händen
Der Fackel düsterrothe Glut,
In ihren Wangen fließt kein Blut.
Und wo die Haare lieblich flattern,
Um Menschenstirnen freundlich wehn,
Da sieht man Schlangen hier und Nattern
Die giftgeschwollnen Bäuche blähn.
21
(v. 97-112)
Die Eumeniden ziehn, ich höre sie,
Zum Tartarus und schlagen hinter sich
die ehrnen Tore fernabdonnernd zu.
Die Erde dampft erquickenden Geruch
Und ladet mich auf ihren Flächen ein,
Nach Lebensfreud’ und großer Tat zu jagen.

(v. 1359-1364)

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Die gränzenlose Rachbegierde der Eumeniden, ihr vollkommener Mangel
an allem theilnehmenden Mitgefühl mit dem Leiden des Schuldigen,
könnte nicht anders als das sittliche Gefühl jedes sanftgesinnten
Menschen beleidigen: wenn nicht der Dichter durch die erhabenen Ideen
des ehrwürdigen Alters dieser furchtbaren Gottheiten; des ihnen vom
Schicksal selbst übertragenen Amtes, die Menschen im Zaum zu halten,
und die Götter – diese ewig glücklichen, leicht lebenden Wesen – eines
verhassten Geschäfts zu überheben; der unerbittlichen Nothwendigkeit,
für Böses Böses zu leiden; des Abscheues jener Rachgottheiten gegen das
Verbrechen; und ihres Eifers durch ihren strengen Ernst und die Qualen
des Verbrechers die Unschuld zu sichern – auf der andern Seite jenem
üblen Eindrucke entgegen gearbeitet hätte.
Wilhelm von Humboldt: Die Eumeniden. Ein Chor aus dem Griechischen des Aeschylos. In: Ders.:
Gesammelte Werke. 3. Bd., Berlin 1843, S. 97-102 (zuerst in: Berlinische Monatsschrift 22 (1793), S. 149-
156)

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Entdeckung des Archaischen

(zu Aischylos)

„Denn wenn man sich auch mit allem Löblichen und Guten, was
uns die älteste Zeit reicht freundlich, theilnehmend beschäftigt;
so tritt doch eine solche uralte Riesengestalt, geformt wie ein
Ungeheuer, überraschend vor uns auf, und wie müssen alle
unsere Sinne zusammennehmen um ihr einigermaßen würdig
entgegen zu stehen.“

WA IV, 27

24
Geschlechterfluch

In euern feierlichen Zug mich mischen.


Willkommen, Väter! euch grüßt Orest,
Von euerm Stamme der letzte Mann;
Was ihr gesät, hat er geerntet:
Mit Fluch beladen, stieg er herab.
Doch leichter trägt sich hier jede Bürde:
Nehmt ihn, o nehmt ihn in euern Kreis!
Dich, Atreus, ehr' ich, auch dich, Thyesten:
Wir sind hier alle der Feindschaft los.

HA 5, 41f.

25
Sündenfall und Geschlechterfluch

Ein Theil behauptete, daß die menschliche Natur durch den Sündenfall
dergestalt verdorben sei, daß auch bis in ihren innersten Kern nicht das
mindeste Gute an ihr zu finden, deßhalb der Mensch auf seine eignen Kräfte
durchaus Verzicht zu thun, und alles von der Gnade und ihrer Einwirkung zu
erwarten habe. Der andere Theil gab zwar die erblichen Mängel der Menschen
sehr gern zu, wollte aber der Natur inwendig noch einen gewissen Keim
zugestehn, welcher, durch göttliche Gnade belebt, zu einem frohen Baume
geistiger Glückseligkeit emporwachsen könne. Von dieser letztern Überzeugung
war ich auf's innigste durchdrungen, ohne es selbst zu wissen, obwohl ich mich
mit Mund und Feder zu dem Gegentheile bekannt hatte.

Goethe, WA, I, 28, S. 303 (Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil).

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Lüge und Intrige

Die Lüge also, bloß als vorsätzlich unwahre Deklaration gegen einen
andern Menschen definiert, bedarf nicht des Zusatzes, daß sie einem
anderen schaden müsse; wie die Juristen es zu ihrer Definition
verlangen (mendacium est falsiloquium in praeiudicium alterius.) Denn
sie schadet jederzeit einem anderen, wenn gleich nicht einem andern
Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle
unbrauchbar macht. (...) Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes,
durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot; in allen
Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.

I. Kant: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797)

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Verdirb uns – wenn du darfst.
THOAS.
Du glaubst, es höre
Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme
Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus,
Der Grieche, nicht vernahm?
IPHIGENIE.
Es hört sie jeder,
Geboren unter jedem Himmel, dem
Des Lebens Quelle durch den Busen rein
Und ungehindert fließt.

HA 5, 61

29
THOAS.
Und hübe deine Rede jeden Zweifel,
Und bändigt' ich den Zorn in meiner Brust,
So würden doch die Waffen zwischen uns
Entscheiden müssen; Frieden seh' ich nicht.
Sie sind gekommen, du bekennest selbst,
Das heil'ge Bild der Göttin mir zu rauben.
Glaubt ihr, ich sehe dies gelassen an?
Der Grieche wendet oft sein lüstern Auge
Den fernen Schätzen der Barbaren zu,
Dem goldnen Felle, Pferden, schönen Töchtern;
Doch führte sie Gewalt und List nicht immer
Mit den erlangten Gütern glücklich heim.

HA 5, 66f.

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IPHIGENIE.
Nicht so, mein König! Ohne Segen,
In Widerwillen, scheid' ich nicht von dir.
Verbann' uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte
Von dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig
Getrennt und abgeschieden. Wert und teuer,
Wie mir mein Vater war, so bist du's mir,
Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele.
(...)
O geben dir die Götter deiner Taten
Und deiner Milde wohlverdienten Lohn!
Leb' wohl! O wende dich zu uns und gib
Ein holdes Wort des Abschieds mir zurück!
Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an,
Und Tränen fließen lindernder vom Auge
Des Scheidenden. Leb' wohl! und reiche mir
Zum Pfand der alten Freundschaft deine Rechte.
THOAS.
Lebt wohl!
31
HA 5, 66f.
„Was in Goethes Drama durch die Sprachschöpfung Iphigenies
sich ereignet, ist die Umschmelzung der Opferrede in eine
Verständigungsrede.“

Gerhard Neumann: ›Reine Menschlichkeit‹. Zur Humanisierung des Opfers


in G.s ›Iphigenie‹. In: Humanität in einer pluralistischen Welt?
Themengeschichtliche und formanalytische Studien zur deutschsprachigen
Literatur. Hrsg. v. C. Kluwe / J. Schneider, 2000, S. 219–236.

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Der Friedenszustand unter den Menschen, die neben einander
leben, ist kein Naturzustand (status naturalis), der vielmehr ein
Zustand des Krieges ist, d.i. wenn gleich nicht immer ein
Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung
mit denselben.

I. Kant: Zum ewigen Frieden (1795). Ed. Von Weischedel. Bd. 9, S. 203.

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Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap. etc.
waren, bei ihrer Entdeckung, für sie Länder, die keinem
angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts. In
Ostindien (Hindustan) brachten sie, unter dem Vorwande
bloß beabsichtigter Handelsniederlagen, fremde Kriegsvölker
hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingeborenen,
Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit
ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot.

(Kant, S. 215)

34
China und Japan (Nippon), die den Versuch mit
solchen Gästen gemacht hatten, haben daher
weislich, jenes zwar den Zugang, aber nicht
den Eingang, dieses auch den ersteren nur
einem einzigen europäischen Volk, den
Holländern, erlaubt, die sie aber doch dabei,
wie Gefangene, von der Gemeinschaft mit den
Eingeborenen ausschließen.

(Kant, S. 216)

35
Hinter solchem Freihandelsimperialismus stand ein Programm, das
über die Inkorporation in die Weltwirtschaft hinausging: Traditionale
Monarchien in Asien sollten lernen, ‚zivilisierte’ internationale
Umgangsformen zu beachten, und so zu nützlichen, wenngleich fürs
erste nicht gleichberechtigten Mitgliedern der ‚Familie der Völker’
werden. In anderen als muslimischen Gesellschaften gehörte dazu
auch die Betätigungsfreiheit für christliche Missionare. Wenn möglich,
sollten diese manchmal als ‚barbarisch’ bezeichneten Länder ihre
inneren Institutionen dem Vorbild des Westens annähern.

Jürgen Osterhammel / Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung.


München 2003, S. 56.

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