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Martin Kirnbauer

DER V IELTÖNIGE FROBERGER

Der folgende Beitrag bleibt eng an der mündlichen Präsentation bei der Wiener Tagung im
Oktober 2016 und wurde für die Drucklegung nur leicht bearbeitet und mit Nachweisen verse-
hen. Entsprechend ist hier auch keine abschließende Behandlung des Themas beabsichtigt, Ziel
ist vielmehr, die Aufmerksamkeit auf ein bislang nicht beachtetes Phänomen in der Musik Fro-
bergers und seiner Zeitgenossen zu lenken, das eine gründlichere Untersuchung erfordert – auch
unter Einbezug der ›neuen‹ autographen Überlieferung in dem im November 2006 bei Sotheby’s
versteigerten Manuskript, das hoffentlich bald für die Forschung zugänglich sein wird.

Johann Jacob Froberger gehört erfreulicherweise ja keineswegs zu den vergessenen oder ver-
kannten Musikern: Seine Musik ist vergleichsweise oft im Konzertleben zu hören, zumindest
im spezialisierten Segment der Alte-Musik-Szene; sie ist vielfach in Aufnahmen präsent, nur
mit der eigentlich unverständlichen Ausnahme seiner gleichfalls sehr hörenswerten Vokal-
musik; und sie ist auch gleich mehrfach in modernen Ausgaben greifbar,1 obwohl seine Musik
in gut lesbaren Autographen oder zeitgenössischen Abschriften vorliegt. Trotzdem würde
man ihn heute wohl als ›a musician’s musician‹ bezeichnen, da seine Musik einen ziemlichen
Grad an Komplexität aufweist und hohe Anforderungen nicht nur an die musikalisch-prak-
tische Interpretation, sondern auch an das hörende Aufnehmen und Nachvollziehen stellt.
Das steht keineswegs in Widerspruch dazu, dass Froberger seinerzeit nicht nur von seinen
Musikerkollegen geschätzt wurde, sondern gerade auch von den Mächtigen und Gebildeten.
Denn es waren wohl gerade die genannten Aspekte einer besonderen, fast arkanen Komple-
xität, welche im Sinne einer ›musica reservata‹ die Grundlage für seinen exklusiven Ruf bilde-
ten. Zu diesem trug sicher auch ein eigener Aufführungsstil bei, der seine Musik einzigartig
machte – und der sich unter anderem mit dem Stichwort »mit rechter discretion« fassen lässt.
Angesichts der heutigen Präsenz Frobergers im Musikleben, zu der auch eine reichhal-
tige Forschungsliteratur zu zählen ist, stellt sich die Frage, inwieweit seiner Biographie und
seiner Musik noch neue Aspekte abzugewinnen sind, wo sich Forschungslücken finden las-
sen oder wo vielleicht neu anzusetzen wäre. Diese liegen sicher in der in weiten Teilen noch
lückenhaften Biographie, in Frobergers teils rätselhaften Reisen und seinen außermusika-
lischen, vermutlich sogar (geheim-)diplomatischen Tätigkeiten. Hingewiesen sei auch auf

1 Vgl. die Übersicht bei Matthias Schneider, Froberger-Editionen, in: Reinmar Emans / Ulrich Krämer (Hg.),
Musikeditionen im Wandel der Geschichte, Berlin–Boston 2015 (Bausteine zur Geschichte der Edition 5), S. 126–148.
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die bereits von Zeitgenossen bemerkte Differenz von Notation und Ausführung speziell
in Frobergers Musik – seine Schülerin Sibylla von Württemberg spricht ja explizit davon,
dass seine Musik »schwer aus den Notten zu finden [ist], […] wiewol es deutlich geschrie-
ben« sei.2 Gerade hierin liegt eine nahezu unerschöpfliche Quelle für immer wieder erneute
Annäherungen. Auch ich möchte dieses berühmte Zitat für eine Sondage zum ›vieltönigen
Froberger‹ aufgreifen und es in einem sehr wörtlichen Sinn verstehen, indem ich die zweite
Hälfte des zitierten Satzes ernst nehme – »wiewol es deutlich geschrieben«.
Sibylla von Württembergs Bemerkung lässt sich auf vielerlei Aspekte beziehen, wie etwa
auf die von ihr gleich im Anschluss genannte »rechte discretion«, die offenbar einen be-
sonderen Vortragsstil bezeichnet, der in einem unbestimmten bzw. vielleicht sogar unbe-
stimmbaren Verhältnis zur notierten Musik steht.3 Sie verweist platterweise aber auch auf
die sehr akribische Notation seiner Musik, die seinerzeit in Autographen aufgezeichnet und
in offensichtlich autographnahen Abschriften weitergegeben wurde. Betrachtet man nun
diese Quellen, dann lässt sich ein Notationsphänomen beobachten, das bislang meistens
übersehen bzw. nicht richtig wahrgenommen wurde und entsprechend in den vorliegenden
Ausgaben auch nicht sichtbar wird. Als Beispiel sei auf den Schluss des Ricercar VI aus dem
autographen Libro di capricci, e ricercati verwiesen (Abb. 1):4 Neben der außergewöhnlichen
Generalvorzeichnung von vier Kreuzen (f#, c#, g#, d#) findet sich hier ein besonderes Erhö-
hungs-Akzidens in Form eines einfachen Kreuzes (x), das vor den Tonstufen h und e steht.

Abbildung 1: Froberger, Ricercar FbWV 406 (Libro di capricci, e ricercati, fol. 44–47, fol. 47 [Ausschnitt])

2 Sibylla von Württemberg an Constantijn Huygens am 23. Okt. (= 2. Nov.) 1667: »wolte Gott ich were so glickselig
einmal bei dem H. chevallier zu sein, dan ich niemands umb oder bei mir habe so dise Edle Kunst verstehet, wolte
gern das Memento mori Froberger bei ihme schlagen, so guet mir müglich were der Organist zu Cöllen Caspar
Grieffgens, schlagt selbiges stuck auch und hat es von seiner Handt gelernt grif vor grif, ist schwer aus den Notten zu
finden, habe es mit sonder fleis darum betracht wiewol es deutlich geschrieben und bleibe auch des hern Grieffgens
seiner meinung das wer die sachen nit von ihme hern Froberger Sel. gelernet, unmüglich mit rechter discretion zu-
schlagen, wie er sie geschlagen hat [...]«; Willem Jozef Andreas Jonckbloet / Jan Pieter Nicolaas Land (Hg.), Mu-
sique e musiciens au XVIIe siècle. Correspondance et œuvres musicales de Constantin Huygens, Leiden 1882, S. cciii–cciv;
Rudolf Rasch, The Huygens-Froberger-Sibylla Correspondance (1666–1668), in: Pieter Dirksen (Hg.), Proceedings
of the International Harpsichord Symposium Utrecht 1990, Utrecht 1992, S. 233–245: 240 f.; s. Dok. Nr. 41 im Anhang.
3 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Markus Grassl in diesem Band.
4 A-Wn Mus.Hs. 16.560 (A ca. 1658), fol. 44–47, fol. 47 (FbWV 406).
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Sieht man sein in Autographen überliefertes Werk durch, so ist festzustellen, dass Frober-
ger diese Orthographie konsequent verwendet: Er setzt stets für die Erhöhung der Ton-
stufen e und h – in anderen Stücken auch öfters für den Ton a, wie etwa in der Allemande
aus der Suite VII im gleichfalls autographen Libro Qvarto (Abb. 2)5 – ein solches x.6

Abbildung 2: Froberger, Allemande FbWV 607 (Libro Qvarto, fol. 92v–93r, fol. 92v [Ausschnitt])

Sieht man hingegen die vielen Ausgaben seiner Musik durch, dann fällt auf, dass dieses
Phänomen nicht sichtbar wird, sondern darauf nur mehr oder minder versteckt im Kom-
mentar hingewiesen wird. So merkt Guido Adler im Revisionsbericht seiner Froberger-
Ausgabe an:

Er ist sehr sparsam in Transpositionen und macht nur einmal von der Vorzeichnung mit vier
# Gebrauch (Ricercare VI). Die Erhöhung vor a, e und h flösst ihm, wie es scheint, in diesem
Stücke besonderen Respect ein: denn er verwendet hierfür nicht das ordinäre und auch bei ihm
sonst angewendete # als Erhöhungszeichen, sondern x, so wie es einzelne Componisten, beson-
ders Madrigalisten der vorangegangenen Zeit gebrauchten.7

In seiner Edition des Ricercare VI wie auch aller übrigen Stücke übergeht Adler diese
Besonderheit aber stillschweigend und setzt jeweils ein »ordinäres« #, nur im Revisions-
bericht zur Suite VII findet sich die Bemerkung: »Anstatt des üblichen # steht in B vor e
und a als Erhöhungszeichen: x«.8 Auch in Howard Schotts Edition findet sich nur dieses
moderne Akzidens, er vermerkt den wirklichen Sachverhalt aber zumindest in Bezug auf

5 A-Wn Mus.Hs. 18.707 (A ca. 1656), fol. 92v-93r, fol. 92v (FbWV 607).
6 Eine erste Sondage führt etwa zu folgenden Stücken: Meditation faite sur ma morte future (f#, c#, g#, d# + ex, ax
[FbWV 620], in nachfolgender Gigue auch b); Suite VII in Allemande, Courante, Sarabande (mit f#, c#, g#, d#,
und b sowie ex + ax) [FbWV 607]; Suite XI in Allemande faite sur l’Election …, Sarabande faite sur le couronne-
ment (f#, c#, g#, d# + ax) [FbWV 611]; Suite XXVI (f#, c#, g#, d#, ex + ax) [FbWV 626]; Suite XXVII (f#, c#, g#,
d# + ax) [FbWV 627]; Ricercar VI (f#, c#, g#, d#, ex + hx) [FbWV 406]; Ricercar XII [FbWV 412].
7 Adler 1897, S. 123 f.
8 Adler 1899, S. 90 (mit der Sigle »B« wird die autographe Überlieferung in der Wiener Handschrift A-Wn Mus.
Hs. 18.706 bezeichnet: A 1649).
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Ricercar VI und XII in seinem Kommentar.9 In Siegbert Rampes Ausgaben hingegen


werden nur die üblichen # verwendet, im Kommentar gibt es keine Hinweise dazu.10 Auch
in Peter Wollnys Edition des Berliner-Sing-Akademie-Manuskripts stehen nur die mo-
dernen Akzidentien, er vermerkt im Kommentar aber die »zahlreiche[n] Merkmale von
Frobergers Notationskonventionen«, darunter »die Verwendung zweier verschiedener Er-
höhungszeichen (»›#‹ für die Töne fis, cis, gis und dis, ›x‹ für ais und eis)«.11
Nun handelt es sich bei dieser von Froberger konsequent verwendeten graphischen Dif-
ferenzierung zwischen # und x keinesfalls um eine notationstechnische Kuriosität, die ver-
nachlässigt werden kann, sondern um eine Konvention, die auf eine bislang unterschätzte
Aufführungspraxis verweist und hörbare Konsequenzen für die Aufführung seiner Musik
nach sich zieht. Wie ich im Folgenden zeigen will, gibt sie einen eindeutigen Hinweis auf
›Vieltönigkeit‹. Ich verwende diesen Begriff in bewusster Abgrenzung zu Mikrotonalität
(als ein historisch viel jüngeres und anders begründetes Konzept), obwohl sich in der Sa-
che durchaus gewisse Überschneidungen ergeben.12 Gemeint sind mit Vieltönigkeit sehr
pragmatisch Tonsysteme mit mehr als zwölf real erklingenden Tönen oder Tonstufen in
der Oktave, zunächst einmal unabhängig von ihrer theoretischen Begründung (wie etwa
einem Bezug auf die antiken Genera Chromatik und Enharmonik oder auf ungleichstufige
Stimmungen wie insbesondere in den seinerzeit gebräuchlichen mitteltönigen Temperatu-
ren usw.).
Den Ausgangspunkt bildet das von Froberger verwendete Zeichen, das x. Einer der frü-
hesten Belege hierfür findet sich 1558 in Gioseffo Zarlinos Traktat L’Institvtioni harmoniche.

9 Howard Schott, A Critical Edition of the Works of J. J. Froberger with Commentary, Ph. Diss. Oxford 1977, Bd. 1,
S. 18: »But curiously, a-sharp, b-sharp and e-sharp are indicated by a X rather than by the normal sharp used
for f-sharp, g-sharp, c-sharp und d-sharp […]. Once again, the additional sharps, that is, a-sharp, b-sharp and
e-sharp, are indicated by a X rather than by the normal sharp used in the signature.« In seiner Ausgabe (Schott
1979/1992) wird auf solche Details nicht eingegangen und nur summarisch auf die genannte Dissertation verwie-
sen.
10 Dies trotz der expliziten Ankündigung, »ungeachtet logischer Zusammenhänge (aus Sicht des 20. Jahrhun-
derts!) bietet der Neudruck deshalb a l l e Akzidentien der Quellen«; Siegbert Rampe, Vorwort, in: NFA I,
S. iii-xx: xvii (Hervorhebung original).
11 Peter Wollny (Hg.), Johann Jakob Froberger, Toccaten – Suiten – Lamenti. Die Handschrift SA 4450 der Sing-Aka-
demie zu Berlin. Faksimile und Übertragung, Kassel etc. 2004 (Documenta Musicologica, Zweite Reihe: Hand-
schriften-Faksimiles 31), S. ix.
12 Vgl. hierzu Martin Kirnbauer, Vieltönige Musik – Spielarten chromatischer und enharmonischer Musik in Rom in
der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Basel 2013 (Schola Cantorum Basiliensis Scripta 3); ders., Vieltönigkeit
statt Mikrotonalität – Konzepte und Praktiken ›mikrotonaler‹ Musik des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Cordula
Pätzold / Caspar Johannes Walter (Hg.), Mikrotonalität – Praxis und Utopie, Mainz 2014 (Stuttgarter Musikwis-
senschaftliche Schriften 3), S. 85–113, inzwischen auch in einer englischen Version als: »Vieltönigkeit« instead of
Microtonality. The Theory and Practice of Sixteenth- and Seventeenth-Century »Microtonal« Music, in: Paulo
de Assis (Hg.), Experimental Affinities in Music, Leuven 2015 (Orpheus Institute Series), S. 64–90, und als PDF-
File online: http://www.oapen.org/search?identifier=587990 (31. 10. 2017).
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Zarlino führt es dort im Zusammenhang zu einer Erklärung der (antiken) Genera Diatonik,
Chromatik und Enharmonik ein und weist das x dem enharmonischen Genus zu, also als
Zeichen für die dort gebräuchliche ›mikrotonale‹ Tonstufe:

Il terzo ordine poi contenerà quelle chorde, che serueno all’Enharmonico, nel quale ritrouaremo
le chorde particolari di questo genere, che saranno segnate con questo segno X, a differenza di
quelle, che sono particolari, & anco communi de gli altri due generi, come si può vedere ne i
sotto posti ordini.13 [Die dritte Reihe enthält Töne (chorde), die der Enharmonik dienen, in
der wir die besonderen Töne dieses Genus finden, die mit diesem Zeichen X bezeichnet sind,
im Unterschied zu denjenigen, die zwar besonders, aber auch gemein mit den anderen beiden
Genera sind, wie man in den folgenden Beispielen sehen kann.]

Er hält weiter fest, dass er dieses Zeichen erfunden habe.14 Das stimmt vermutlich nicht,
denn bereits 1553 wird es von Vicente Lusitano benutzt, allerdings mit einem etwas ande-
ren Hintergrund (siehe Abb. 3):15 Hier entspricht die Anzahl der Balken eines Kreuzes der
Anzahl der Kommata und damit der jeweiligen Intervallgröße. Der große Halbton enthält
fünf Kommata, entsprechend zeigt das Kreuz fünf Balken; der kleine Halbton hingegen
umfasst vier Kommata, und demnach hat das Kreuzzeichen vier Balken. Die enharmoni-
sche Diesis mit zwei Kommata wird als einfaches Kreuz mit zwei Balken dargestellt und
erscheint also graphisch als x.

Abbildung 3: Vincentio Lusitano, Introdvttione facilissima, et novissima,


di canto fermo, figvrato, contraponto semplice, et in concerto, Rom 1553, fol. F2v-F3 (Ausschnitt)

13 Gioseffo Zarlino, L’Institvtioni harmoniche, Venedig 1558, S. 280; auf S. 281 heißt es nochmals in Bezug auf das
davor gegebene Notenbeispiel mit den enharmonischen Tetrachorden: »Ma ogni Seconda chorda di ogni Tetra-
chordo del Terzo ordine segnata con tal cifera X sarà particolare Enharmonica […]«.
14 Ebd., S. 281 (»Ne alcuno dè prender marauiglia, ch’io habbia posto in vso cotal segno X, forse non più vsato per
avanti : percioche non hò ritrouato segno più commodo, che sia stato posto in vso da alcuno […]«).
15 Vincentio Lusitano, Introdvttione facilissima, et novissima, di canto fermo, figvrato, contraponto semplice, et in con-
certo, Rom 1553, fol. F2v–F3.
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Es ist kein Zufall, dass dieses Zeichen zuerst im Kontext der Wiederentdeckung der anti-
ken Genera verwendet wird, was zu dem im Folgenden aber zu vernachlässigenden Hin-
tergrund von Nicola Vicentinos Theorien für L’antica mvsica ridotta alla moderna prattica
[Die antike Musik adaptiert für eine moderne Praxis] führt, wie der Titel seines berühm-
ten Traktats von 1555 lautet.16 Allerdings verwendete Vicentino eine andere Notationsform
mit Punkten – Lusitano wie Zarlino lagen bekanntlich im Streit mit Vicentino und wähl-
ten vermutlich allein schon deshalb eine andere Notationsweise.17
In jedem Fall kann das als einfaches x notierte Akzidens als ein seit der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts eingeführtes Zeichen für die Diesis enarmonica gelten, eine besondere
(Kleinst-)Intervallgrösse. Und es war nicht nur ein in musiktheoretischen Schriften übli-
ches Zeichen, sondern es wurde auch für eine musikalische Praxis verwendet. Ein schönes
Beispiel hierfür findet sich in Jacopo Peris »Tutto’l dì piango« (veröffentlicht 1609 in seiner
Le Varie Mvsiche; siehe Abb. 4):18 Später als »portamento« bezeichnet, ist hier in der Sing-
stimme zum Textwort »lagrimando« (weinend) eine in kleinen Tonschritten aufsteigende
Linie e1 bis cis2 notiert. Zusammengefasst unter einer Klammer findet sich neben den üb-
lichen chromatischen Akzidentien f# und g# auch ein gx (wie vielleicht auch zuvor schon
ein fx, der Druck ist hier undeutlich), um weitere Zwischenstufen in einer kontinuierlich
ansteigenden Tonhöhe anzuzeigen.

Abbildung 4: Jacopo Peri, Le Varie Mvsiche, Florenz 1609, S. 6 (Ausschnitt)

16 Nicola Vicentino, L’antica mvsica ridotta alla moderna prattica, con la dichiaratione, et con gli essempi de i tre generi,
con le loro spetie. Et con l’inventione di vno nvovo stromento, nelqvale si contiene tvtta la perfetta mvsica, con molti
segreti mvsicali, Rom 1555 (21557).
17 Vgl. die Zusammenfassung von Maria Rika Maniates im Vorwort ihrer Übersetzung von Nicola Vicentino,
Ancient Music Adapted to Modern Music, New Haven & London 1996 (Music Theory Translation Series), bes.
S. xiv–xxii; Giordano Mastrocola, Vicente Lusitano entre histoire et historiographie: nouvelles perspectives,
in: Philippe Canguilhem (Hg.), Chanter sur le livre à la Renaissance: les traités de contrepoint de Vicente Lusitano,
Turnhout 2013 (Epitome musical), S. 37–116: 58–78.
18 Jacopo Peri, Le Varie Mvsiche, Florenz 1609, S. 6 (T. 9–13); vgl. Kirnbauer, Vieltönige Musik (Anm. 12), S. 19 f.
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Bei dieser Passage handelt es sich um die Notation einer Gesangslinie, die als eine Art
Portamento bzw. Glissando ausgeführt werden mag, wobei Peri für die Notation viel-
leicht nur eine Anleihe bei der Musiktheorie und der Notationsweise der enharmonischen
Diesis gemacht haben könnte, um die zu berührenden Zwischenstufen graphisch zu ver-
deutlichen. Dass die Verwendung des x aber eine eigenständige Tonstufe meint, zeigen
die folgenden Beispiele – die uns zugleich näher an die Zeit und das direkte Umfeld von
Froberger führen und die er mit großer Wahrscheinlichkeit auch gekannt haben wird.
In Silverio Picerlis Specchio primo di mvsica, einem 1630 erschienenen und seinerzeit sehr
weit verbreiteten Lehrwerk, das vielleicht auch Froberger in seiner italienischen ›Lehrzeit‹
kennenlernte, werden gleichfalls die Genera beschrieben, und dabei wird das Zeichen x
für die enharmonische Diesis verwendet (dies also wie schon bei Lusitano und Zarlino ein
Dreivierteljahrhundert zuvor).19 Das ist für eine Musiklehre nicht besonders bemerkenswert,
hingegen aber, dass Picerli diese Stufen explizit mit einem Tasteninstrument verbindet,
das mittels zusätzlicher (bzw. ›gebrochener‹) Obertasten diese Töne auch real bereitstellt
(Abb. 5).20

Abbildung 5: Silverio Picerli, Specchio primo di mvsica, Neapel 1630, Frontispiz (Ausschnitt)

Neben dem Bild einer solchen vieltönigen Tastatur mit durchgehend gebrochenen Ober-
tasten samt zusätzlichen Obertasten zwischen e und f bzw. h und c, bezeichnet als »Tas-
tame dell’ord. naturale, & accidentale.«, heißt es im darauf bezogenen Text:

ma li tasti bianchi seruono al genere diatonico, i neri al genere chromatico, & i bianchi piccoli
al genere enharmonico. [aber die weißen (Unter-)Tasten dienen für das diatonische Genus, die
schwarzen für das chromatische und die kleinen weißen für das enharmonische Genus.]

Die Abbildung zeigt ein zu dieser Zeit in Italien keineswegs unübliches Cimbalo cro-
matico mit 19 Tasten in der Oktave (wie es etwa auch ein Carlo Gesualdo besaß und of-
fensichtlich benutzte).21 Hier bei Picerli ist die Verbindung zwischen dem Zeichen x und

19 Silverio Picerli, Specchio primo di mvsica, Neapel 1630, S. 16–19.


20 Ebd., Frontispiz (das folgende Zitat auf S. 19).
21 Christopher Stembridge, The »Cimbalo cromatico« and Other Italian Keyboard Instruments with Nineteen
or More Divisions to the Octave, in: Performance Practice Review 6 (1993), S. 33–59; Christopher Stembridge /
Denzil Wraight, Italian Split-Keyed Instruments with Fewer than Nineteen Divisions to the Octave, in: Perfor-
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einem vieltönigen Tasteninstrument eindeutig. In der allerdings explizit für ein solches
Cimbalo cromatico bestimmten Musik (von Ascanio Mayone, Giovanni Maria Trabaci
oder Gioanpietro Del Buono) finden sich nur die »ordinären« Kreuzzeichen (aber auch
sehr seltene Doppelkreuze).22
Trotz seiner damaligen Präsenz hat sich leider kein einziges dieser Instrumente im unver-
änderten Zustand erhalten, sie wurden alle entweder in späterer Zeit umgebaut oder gingen
ganz verloren. Zur Veranschaulichung diene hier deshalb die schematische Darstellung ei-
nes solchen Instruments, die Zarlino in seiner bereits genannten Schrift abdruckte und die
sich auf ein Cimbalo cromatico aus seinem Besitz bezieht (Abb. 6).23

Abbildung 6: Gioseffo Zarlino, L’Institvtioni harmoniche, Venedig 1558, S. 141 (Ausschnitt)

mance Practice Review 7/2 (1994), S. 150–181; Denzil Wraight, The »cimbalo cromatico« and other Italian string
keyboard instruments with divided accidentals, in: SJbMw 22 (2002), S. 105–136; Martin Kirnbauer, Viele Tas-
ten – viele Töne. Das Cimbalo cromatico und musikalische Praxis, in: Michael Kunkel (Hg.), les espaces sonores.
Stimmungen, Klanganalysen, spektrale Musiken, Büdingen 2016, S. 43–57; ders., »compiacimento di purgattissimo
conoscimento« – Performing Gesualdo in Mid-Seventeenth Century Rome, in: Luigi Sisto (Hg.), Gesualdo e il
suo tempo. Atti di convegno nell'ambito delle Celebrazioni del IV centenario della nascita di Carlo Gesualdo da Venosa
16–18 dicembre 2013, Neapel (Fondazione Carlo Gesualdo, Studi e Testi 1) [in Druck].
22 Nur am Rande sei angemerkt, dass Trabaci in einem Hinweis »A’ Lettori« in Bezug auf das Cimbalo cromatico
zu diesen Tonstufen anmerkt, dass er einige Halbtöne mittels sechs Strichen zw. Balken bezeichne, um große
Terzen zu bereits erhöhten Tonstufen auszuweisen (»In questa materia del Cimbalo Cromatico mi è venuta
occasione in alcune parte far certi Semitonij con sei piedi è questo l’hò fatto per dare certe Terze maggiore sorpa
D. semitonato […]«; Giovanni Maria Trabaci, Il Secondo Libro de Ricercate, & altri varij Capricci, Con Cento Versi
sopra li Otto finali Ecclesiastici per rispondere in tutti i Diuini Officij, & in ogni altra sorte d’occasione, Neapel 1615,
S. 87). Wie weiter unten in Zusammenhang mit Mazzocchi deutlich wird, wird von diesem der gleiche Sachver-
halt mit einem x markiert.
23 Zarlino, Le Istitvtioni harmoniche (Anm. 13), S. 141. In der dazugehörigen Beschreibung fällt der Begriff »Cim-
balo cromatico« übrigens nicht, aber in Zarlinos Nachlassinventar wird sein (laut Zarlino 1548 von Domenico
Pisaurensis in Venedig gebautes) Instrument explizit als »Vn clauiciembalo cromatico« bezeichnet; Isabella Pa-
lumbo Fossati, La casa veneziana di Gioseffo Zarlino nel testamento e nell’inventario dei beni del grande teorico
musicale, in: NRMI 20 (1986), S. 633–649, S. 648 (Faksimile) und S. 640.
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Näher an den Erfahrungshorizont von Froberger rückt das folgende Beispiel von Dome-
nico Mazzocchi (1592–1665), der im Umkreis des mächtigen Barberini-Papstes Urban VIII.
aktiv war; sein Bruder, Virgilio Mazzocchi (1597–1646), war Kapellmeister an der Cappella
Giulia und auch des Papstnepoten Kardinal Francesco Barberini (1597–1679) – und damit
an genau den Orten wie Frescobaldi, bei dem der junge Froberger lernte. Domenico Maz-
zocchi publizierte 1638 – also zur Zeit von Frobergers erstem Aufenthalt in Rom – zwei
Drucke, die Dialoghi, e Sonetti und Madrigali a cinque voci (diese sind auch Francesco Bar-
berini gewidmet).24 In beiden Publikationen findet sich wiederum das Zeichen x, das in
den Dialoghi, e Sonetti vom Komponisten ausführlicher erklärt wird.25 So heißt es dort u. a.:

Questo x dunque diuide il Semituno maggiore in due parti non vguali, come si mostra col
seguente esempio. [Dieses x teilt also den großen Halbton in zwei ungleich große Teile, wie
man im folgenden Beispiel sehen kann.]

In dem darauf bezogenen Notenbeispiel findet sich u. a. ein hx als große Terz über g#.
Diese Tonstufe ist in der Tonhöhe nicht identisch und ›enharmonisch verwechselbar‹ mit
einem c, schon gar nicht bei der hier zugrundeliegenden mitteltönigen Temperatur, die
von Mazzocchi kurz darauf explizit genannt wird:

la diuisione moderna, e participata, che noi habbiamo, (la quale, ancorche in alcuna cosa dif-
ferisca dalle antiche, è però la più bella, la più vtile, e più accettata di quante ne sono state, e
saranno, per hauer ella tutte le corde Diatoniche, Cromatiche, & Enarmoniche basteuolmente
corrispondenti, e l’vna all’altra correlatiua, e consonante, come si vede nell’Instrumenti hodierni
perfettamente spezzati, ò spessati, che li vogliamo chiamare). [die moderne oder mitteltönige
Stimmung, die wir verwenden (welche, obwohl sie in mancherlei Hinsicht von der antiken ab-
weicht, dennoch die schönste ist, die nützlichste, die am meisten akzeptierte unter denen, die es
gab und gibt, da sie alle diatonischen, chromatischen und enharmonischen Töne aufweist, die
hinreichend korrespondieren und einander ergänzen und miteinander konsonieren, wie man
dies in heutigen Instrumenten mit auf perfekte Weise gebrochenen Obertasten sieht).]

Zu beachten ist hier zum einen der unzweideutige Hinweis auf die zugrundeliegende mit-
teltönige Stimmung und zum anderen auf die »Instrumenti hodierni perfettamente spez-
zati«, womit ein Cimbalo cromatico oder ein vergleichbares Instrument mit erweiterten
Tastaturen gemeint ist, mit denen diese Tonstufen auch darzustellen waren. Entsprechend

24 Siehe – auch zum Folgenden – Kirnbauer, Vieltönige Musik (Anm. 12), S. 21–51; zu Domenico Mazzocchi vgl.
auch Arnaldo Morelli in diesem Band, S. 92.
25 Domenico Mazzocchi, Dialoghi, e Sonetti, Rom 1638, S. 179–182 (dort auf S. 179 und 181 auch die beiden folgen-
den Zitate); vgl. Kirnbauer, Vieltönige Musik (Anm. 13), S. 26 f.
298 Martin Kirnbauer

handelt es sich auch bei Mazzocchi nicht um graue Theorie, sondern er bezieht sich da-
mit auf eine lebendige vieltönige Praxis, wie ein Beispiel in den Dialoghi, e Sonetti zeigt
(Abb. 7).26 In dem ergreifenden »Lamentum Matris Euryalis« findet sich das x nicht nur in
der Gesangslinie, sondern auch im Basso continuo, und zwar sowohl als notierte Tonstu-
fen wie in der Bezifferung. Dieser Befund belegt eindeutig, dass für die Aufführung dieser
und ähnlicher Werke ein vieltöniges Instrument erforderlich ist. Wohl nicht zuletzt auf
diesen für die Wirkung seiner Musik unerlässlichen Aspekt bezieht sich der vom Kom-
ponisten dem Lamentum vorangestellte Hinweis »Cantatur, vt scribetur, rigorosè« [Man
singe streng genau so, wie es geschrieben steht].

Abbildung 7: Domenico Mazzocchi, Dialoghi, e Sonetti, Rom 1638, S. 153–155 (Ausschnitte)

»vt scribetur« – »wiewol es deutlich geschrieben«: Hier liegt meiner Ansicht nach ein
Schlüssel für Frobergers besondere Notations- und in der Konsequenz auch Aufführungs-
praxis. Vor dem geschilderten Hintergrund lässt sich die konsequente Verwendung des
x in der Notation auf eine vieltönige Praxis beziehen, wie sie Froberger in Italien ken-
nenlernte. (In Klammern sei darauf hingewiesen, dass damit auch die vieltönige Unter-
scheidung zwischen den weniger exotischen Tonstufen wie d# und eb, g# und ab usw.
einhergeht, die sich im Werk von Froberger vielfach findet.) Entscheidend ist aber meiner
Ansicht nach, dass dies nicht nur auf einen konzeptuellen Hintergrund seiner Musik zu
beziehen ist, sondern dass diese Stücke auch auf einem entsprechenden Tasteninstrument
mit mehrfach geteilten Obertasten in der Art eines Cimbalo cromatico aufgeführt wur-
den. Solche vieltönigen Instrumente lernte Froberger sicher spätestens in Rom kennen, wo
es einige davon gab.27 Die Präsenz solcher Instrumente an den anderen Wirkungsorten

26 Mazzocchi, Dialoghi, e Sonetti (Anm. 25), S. 153–156; vgl. Kirnbauer, Vieltönige Musik (Anm. 12), S. 22 f.
27 Vgl. Kirnbauer, Vieltönige Musik (Anm. 12), S. 143–146 und insbesondere auch die beiden Exkurse »Vieltönige
Cembali in Rom« und »Harfen als vieltönige Instrumente«, S. 221–234.
Der vieltönige Froberger 299

Frobergers ist hingegen noch genauer zu erforschen.28 Gleichwohl spricht der hier präsen-
tierte Hintergrund meiner Ansicht nach eindeutig dafür, dass Froberger ganz offensicht-
lich ein solches Instrument im Sinn und vermutlich auch unter seinen Fingern hatte, als er
Stücke wie die eingangs genannten schrieb und spielte.
In diesem Sinne lässt sich das von Sibylla von Württemberg zitierte »wiewol es deutlich
geschrieben« nun mit dem Wunsch zu verbinden, dies auch einmal genauso »deutlich zu
hören«. Das ist bislang trotz der großen Anzahl von heute zur Verfügung stehenden Ton-
aufnahmen mit Frobergers Musik leider immer noch ein frommer Wunsch. Hinzuweisen ist
auf ein bislang singuläres Klangbeispiel, bei dem Frobergers Meditation sur ma mort future
in dieser Aufführungspraxis gespielt wird.29 In dem Stück finden sich neben f#, c#, g# und
d# auch ex und ax (Abb. 8),30 was auf einem mitteltönig gestimmten Instrument mit her-
kömmlicher Tastatur zu regelrecht dissonanten Klängen an den betreffenden Stellen führt.
Hingegen verdeutlicht die auf einem Cimbalo cromatico gespielte Version die bislang un-
erhörten klanglichen Potenziale, die sich aus der Vieltönigkeit auch bei Froberger ergeben.

Abbildung 8: Froberger, Meditation FbWV 620/I (Berlin SA 4450, S. 63 [Ausschnitt])

28 Verwiesen sei hier etwa auf das bereits bei Michael Praetorius beschriebene »Clavicymbalum Vniversale, seu
perfectum«, das sich ab 1613 im »Biesthumb alhier zur Neiß« befand (Syntagmatis Musici Michaelis Praetorii C.
Tomus Secundus De Organographie, Wolfenbüttel 1619, S. 63–66; siehe auch Adolf Koczirz, Zur Geschichte des
Luython’schen Klavizimbels«, in: SIMG 9 [1907–08], S. 565–570); weitere solcher Instrumente sind ein Cimbalo
cromatico aus dem Besitz des Sängers Giulio Cesare Rossini und »herrlich Positiff […] darinnen gleichergestalt
alle Semitonia doppelt vnd vollnkömlich zu finden« am Grazer Hof, die ebenfalls bei Praetorius, S. 66 genannt
sind und vielleicht wie weitere Instrumente vom Innsbrucker Hof nach Wien gelangten (vgl. Gerhard Stradner,
»Saitenklaviere in österreichischen Inventaren«, in: Alfons Huber [Hg.], Das Österreichische Cembalo – 600 Jahre
Cembalobau in Österreich. In Gedenken an Hermann Poll aus Wien (1370–1401), Tutzing 2001, S. 329-342: 337 f.).
29 Gespielt von Johannes Keller auf einem Cembalo mit einer 24-fachen Teilung der Oktave: https://www.youtube.
com/watch?v=dFb1fECwk2o (27. 10. 2017); siehe auch Johannes Keller, »Über mein ›cimbalo cromatico‹«, in:
Pätzold/Walter (Hg.), Mikrotonalität – Praxis und Utopie (Anm. 12), S. 114–135.
30 Berlin SA 4450, S. 63 (Detail). Es handelt sich hierbei um eine ganz offenbar autographnahe Abschrift eines
Froberger-Manuskripts, möglicherweise durch den Hamburger Organisten Johannes Kortkamp (1643–1721),
nach 1660; vgl. Wollny 2004, S. ix f. Auch das 2006 bei Sotheby’s versteigerte – und gleich auch wieder ver-
schwundene – Autograph bietet die gleiche Notation, wie mir Peter Wollny dankenswerterweise bestätigte.

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