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Sein / Seinsordnung

Sein / Seinsordnung
Herta Schlosser

1. Zur Problematik
2. Zum Begriff
3. Der seinsphilosophische Ansatz Pater Kentenichs
3.1 Sein im Verständnis Pater Kentenichs
3.2 Seinsordnung
3.2.1. Menschsein: unitas multiplex
3.2.2. Menschsein: Ich-Du-Wesen
3.3 Seinsprinzipien

1. Zur Problematik

Heidegger nennt die Frage nach dem Verständnis des Seins die Grundfrage der Philosophie,
wenn es auch immer bewusst war, dass es schwierig ist „zu fassen, was das Seiende sei“
(Aristoteles). In der gegenwärtigen Philosophie gibt es dagegen Auffassungen, die nicht nur
die Schwierigkeit der Rede vom „Sein des Seienden“ anerkennen, sondern die in dieser
Grundfrage der Philosophie sogar „das Symptom einer Krankheit“ (A. Keller, 1288)
erblicken und von „Seinspest“ sprechen. Im Kontext des Seinsdenkens Pater Kentenichs sei
festgehalten: Bei dem typisch thomasischen Seinsverständnis, auf das er sich beruft,
handelt es sich – wie es die neuere Thomas-Forschung herausarbeitet – nicht nur um eine
Synthese aristotelischer, platonischer und vom Christentum inspirierter Philosophie,
sondern auch um eine gewisse Vorwegnahme jenes modernen Problems, das Heidegger als
„ontologische Differenz“ bezeichnet: einerseits die Differenz zwischen Seiendem und Sein,
andererseits die Abhebung des Seins von Gott (vgl. Stallmach).

2. Zum Begriff

Die Beziehung zwischen Sein und Seiendem zu erschließen, ist Anliegen der
abendländischen Philosophie. Gott ist das Sein (subsistierendes Sein, STh I, 4, 2). Der
Mensch ist seiend durch Teilhabe (partizipiertes Sein, STh I, 75, 5 ad 4) er hat Sein. Das
Sein ist der innerste Grund und das Tiefste des Seienden. Der Mensch ist ein endlich
Seiendes. Nach Thomas eignet allem Seienden die Grundspannung von Sein (esse) und
Wesen (essentia). Im Gegensatz zu Gott, bei dem Sein und Wesen zusammenfallen (STh I, 3,
4), haben die endlichen Seienden teil am Sein nach einer bestimmten Fassungskraft, die
durch das Wesen (essentia) bemessen ist. Das Sein ist bei den endlichen Seienden dem

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Wesen vorgeordnet. Denn Wesen (essentia) bedeutet ein spezifisch bestimmtes Sein,
Bestimmung aber ist Begrenzung. Während sich die Seienden durch ihr Wesen (essentia)
unterscheiden, kommen sie im Sein (esse) überein. Das Sein ist das allen Gemeinsame, es
stellt sich als das Innerste in allem dar.

Das subsistierende Sein – Gott – ist aus dem partizipierten Sein, dem Sein des Seienden, zu
erschließen. Das partizipierte Sein kann nur als vom subsistierenden Sein abgeleitet
begriffen werden, und zwar durch Exemplar-, Wirk- und Finalursächlichkeit. Das
subsistierende Sein als das wesenhaft unverursachte (causa prima) bezieht alles Seiende –
das partizipierte Sein als das wesenhaft verursachte (causa secunda) auf sich (vgl. Lotz).

3. Der seinsphilosophische Ansatz Pater Kentenichs

Pater Kentenich ist sich bewusst, dass es ein Wagnis ist, von einer Seinsphilosophie
auszugehen. „Es gibt ja nur verhältnismäßig wenige Vertreter einer Philosophia perennis“
(PhErz 1961, 69 u. a.). Im folgenden seien einige Aspekte seines Seinsdenkens angedeutet.
Eine reflexive Aufarbeitung dieser für seine Spiritualität so wichtigen Thematik liegt
allerdings noch nicht vor (>>Metaphysik).

3.1 Sein im Verständnis Pater Kentenichs

Dem Seinsdenken Pater Kentenichs liegt die Theorie von der analogia entis zugrunde. Es
besteht eine Ähnlichkeit „zwischen menschlichem und göttlichem Sein“ (VP 1967 II, 47).
Selbstverständlich ist Gott „zugleich der total Andere“ (VP 1967 II, 81). Beides muss
gleichzeitig gesehen werden, denn es handelt sich ja nur um eine Ähnlichkeit, die aus dem
Bild und Gleichnischarakter des Menschen resultiert. Daher weist er immer wieder darauf
hin, dass alle „geschaffenen Dinge“ (PT 1950, 82) oder in anderer Version die
„Seinsstruktur der Dinge und Menschen“ (AutFr 1961, 137) inkarnierte Gottesgedanken
und damit inkarnierte Gotteswünsche sind (vgl. KW 1946, 124). Pater Kentenich hat
demnach ein Grundverständnis von Wirklichkeit, bei dem der Gottesbezug immer
mitgesehen ist: die Verbindung von natürlicher und übernatürlicher Seinsordnung.

Ferner ist festzuhalten, dass Pater Kentenich Sein nicht statisch versteht. Er spricht von
Seinsrhythmus, von Seinsdynamik. „Damit ist in Sein und Leben ein vielgestaltiges
Entwicklungsgesetz anerkannt, ohne deswegen jedoch einen unveränderlichen Seins und
Wesensgrund zu leugnen.“ (PhErz 1961, 44). Das heißt, er bezieht die Zeit ein: Die
Daseinsform des Menschen ist die Zeit. Diese originäre Seinsform gilt sowohl für das
menschliche Individuum als auch für die Idee des Menschseins. Die historische Entfaltung
der Idee des Menschseins wertet er positiv. Aber in der geschichtlich konkreten

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Entwicklung sieht er von seiner seinsphilosophischen Position her denkend einen Zerfall.
Die menschliche Gesellschaft ist abgefallen von der Seinsordnung in einer „Seinsrevolution“
(PT 1950, 82). Diese wirkt sich „in schrecklichem Zerfall aus“ (PT 1950, 115): Zerfall der
„menschlichen Kräfte und Atomisierung der menschlichen Gesellschaft“ (PT 1950, 60),
Zerfall der seelischen Harmonie, Zerfall des Heimatbewusstseins. Daher fordert er: „Der
vollkommenen Seinsrevolution muss eine vollkommene Seinstreue gegenüber gestellt
werden“ (OB 1949, 62), eine Seinstreue, die dem Menschen ein Urvertrauen ins Sein
ermöglicht.

3.2 Seinsordnung

Der alles beherrschende Grundsatz, ein auf „thomistischer Denkweise“ (PhErz 1961, 44)
basierendes Grundprinzip der Geistigkeit Pater Kentenichs lautet: Ordo essendi est ordo
agendi (Der Ordnung des Seins entspricht die Ordnung des Handelns). „Der Metaphysiker
fragt immer nach der objektiven Seinsstruktur eines Lebensvorganges, einer Situation oder
eines Geschöpfes“ (PT 1950, 81 f.). Er ist davon überzeugt, dass in die Seinsordnung eine
ureigentliche göttliche Idee „hineingebannt ist“, und die ist ewig, wie Gott ewig ist.
Deswegen setzt sich die „Seinsstruktur früher oder später immer durch“ (PT 1950, 82).

3.2.1. Menschsein: unitas multiplex

Der Mensch ist eine unitas multiplex (vgl. PT 1950, 173), ein Mikrokosmos (vgl. OB 1949,
48). Damit ist auf den Ordo Gedanken verwiesen. Der Mensch ist als Mikrokosmos „eine
Zusammenfassung aller Seinsstufen, die es gibt“ (VP 1967 II, 82). Im Menschen als
Naturwesen „animal rationale“ (PT 1951, 128) sind diese Seinsstufen zu einer
„substantiellen Einheit verbunden“ (OB 1949, 45), zu „einer Ganzheit zusammengefügt“
(MWF 1944, 47). Diese Schichten sind im Menschen verknüpft „mit dem
Persönlichkeitskern. Darum sprechen wir von einer … vielschichtigen oder vielgestaltigen
Einheit“ (PT 1950, 173). Pater Kentenich unterscheidet „eine natürliche und eine
übernatürliche Seinsordnung“ (MWF 1944, 44) und sieht vor allem die Verbindung von
beiden Ordnungen. Zur Seins und Lebensschicht des „Triebmenschen“ und des
„Geistesmenschen“ kommt beim Menschen, der Christ ist, die Seins und Lebensschicht des
„Gottesmenschen“ mit den gottähnlichen Anlagen, die sich in den göttlichen Tugenden und
den Gaben des Heiligen Geistes auswirken. Der „Gottesmensch“ mit seiner Ausstattung soll
herrschen „über den Geistes und Triebmenschen“ (MWF 1944, 179 f.). Damit versteht Pater
Kentenich den Menschen als Trieb- und Geistwesen von Natur aus hingeordnet auf die
Übernatur, durch die allein er in seinem Menschsein vollendet werden kann.

3.2.2. Menschsein: Ich Du Wesen

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Pater Kentenich greift zurück auf den „Bild und Gleichnischarakter des Menschen“ (PhErz
1961, 45). Der Mensch ist natürliches Ebenbild Gottes und „seiner Seinsanlage nach zu sich
und auf sich selbst hingeordnet“ (MME 1954, 339). Der Mensch als natürliches Ebenbild
Gottes ist einsam und insofern für sich, ist einmalig in seinem Sein und daher selbständig
und selbstmächtig, „innerlich frei und verantwortungsbewusst auf sich selbst gestellt“
(MME 1954, 339), wenn er sich nicht selbst auflösen und vernichten will. Es gehört zum
Wesen der menschlichen Person, „eine eigene zusammenhängende innere Welt zu haben“
(MME 1954, 342). Der Mensch ist aber auch auf ein personales Du hin bezogen und deshalb
auf Gemeinsamkeit, auf Verströmen seiner Selbst angewiesen, „zur anderen Person hin
angelegt“ (MME 1954, 340). Der Mensch ist ein sprechendes und angesprochenes
(Sprache), ein dialogisches Wesen. Beides gehört zur Wesensart des Menschen: Das
Geschlossensein in sich und das Geöffnetsein für ein persönliches Du. „Das Ich wird nur
durch Hingabe an das personale Du“ (MME 1954, 340). Es bleibt Aufgabe der menschlichen
>>Person, die Spannung zwischen Sich Bewahren und Sich Verschenken zur
Spannungseinheit zu bringen. Hiermit ist die Uridee angesprochen, die Gott in „das Wesen
der menschlichen Gesellschaft eingebaut“ (PT 1950, 82) hat. Das ist „ein seelisches
Ineinander, ein seelisches Miteinander, ein seelisches Füreinander“ (PT 1950, 83).

3.3 Seinsprinzipien

Pater Kentenich geht davon aus, „dass das Sein schlechthin Gott selber darstellt, die causa
prima.“ Die >>Zweitursachen in diesem Zusammenhang ist vor allem der Mensch gemeint
sind dem Sein und Wirken nach abhängig von der Erstursache. Immer wieder beruft er sich
auf die Zweitursachenlehre des Thomas von Aquin. Dieser geht in der Lehre von den
Zweitursachen auf die aristotelischen Seinsprinzipien zurück. Die inneren Seinsprinzipien
(Ursachen) sind Materie (causa materialis) und Form (causa formalis). Zielursache (causa
finalis) und Wirkursache (causa efficiens) sind äußere Ursachen. In bezug auf letztere
unterscheidet er: „causa efficiens principalis (oberste Wirkursache, Hauptursache) und
causa efficiens instrumentalis (werkzeugliche Wirkursache). Causa efficiens principalis ist
und kann nur Gott sein“ (APL 1928, 23; vgl. MWF 1944, 4). Causa efficiens instrumentalis
ist der Mensch, und hier ist der Ansatzpunkt der >>Werkzeugsfrömmigkeit. Diese Sicht der
Seinsprinzipien ist fester Bestand des Seinsdenkens Pater Kentenichs (vgl. APL 1928 und
Schl 1951).

Eine besondere Bedeutung im Seinsdenken Pater Kentenichs hat die Lehre von der causa
exemplaris. Auch damit greift er die Tradition auf. Thomas vertiefte in Anlehnung an
Augustinus den Gedanken der Formursächlichkeit durch den Gedanken der
Exemplarursächlichkeit (causa exemplaris). Die Exemplarursachen erklären den tiefsten
Grund der Formursachen. Die in den Dingen realisierten Formen haben ihr Urbild

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Exemplarursache im göttlichen Sein selbst (vgl. STh I, 44, 3). Hier ist der Ansatzpunkt der
philosophischen Definition des >>Persönlichen Ideals.

Literatur:

J. Kentenich, Allgemeine Prinzipienlehre der Apostolischen Bewegung von Schönstatt


(gleichnamige Tagung aus den Jahren 1927-1929, verschiedene Mitschriften) 1928
J. Kentenich, Marianische Werkzeugsfrömmigkeit (geschrieben 1944 in Dachau),
Vallendar-Schönstatt 1974, 45 50
J. Kentenich, Krönung Mariens Rettung der christlichen Gesellschaftsordnung
(Krönungswoche 1946), Vallendar 1977, 122 126
J. Kentenich, Oktoberbrief 1949 an die Schönstattfamilie, Vallendar 1970, 196 S.
J. Kentenich, Grundriß einer neuzeitlichen Pädagogik für den katholischen Erzieher.
Vorträge der Pädagogischen Tagung 1950, Vallendar-Schönstatt 1971
J. Kentenich, Schlüssel zum Verständnis Schönstatts (September 1951), in: J.
Kentenich, Texte zum Verständnis Schönstatts. Herausgegeben von Günther M. Boll,
Vallendar-Schönstatt 1974, 148-228
J. Kentenich, Maria – Mutter und Erzieherin. Eine angewandte Mariologie
(Fastenpredigten 1954), Vallendar-Schönstatt 1973, 456 S.
J. Kentenich, What is my philosophy of education?, in: Philosophie der Erziehung.
Prinzipien zur Formung eines neuen Menschen und Gemeinschaftstyps. Bearbeitet von
Herta Schlosser, Vallendar 1991, 39-89
J. Kentenich, Autorität und Freiheit in schöpferischer Spannung (September 1961).
Bearbeitet von Herta Schlosser, Vallendar 1993, 7-142
J. Kentenich, Victoria Patris. Vorträge von Pater Josef Kentenich anläßlich seines
Besuches in Oberkirch vom 3.-4. September 1967, zwei Bände, 70+131 S. II
Zentrale Begriffe Schönstatts. Kleiner Lexikalischer Kommentar. Nach Schriften und
Vorträgen Pater Josef Kentenichs bearbeitet von Herta Schlosser, Vallendar-
Schönstatt 1977, 102 113.
A. Bejas, Vom Seienden als solchen zum Sinn des Seins. Die Transzendentalienlehre
bei Edith Stein und Thomas von Aquin, Frankfurt 1994
A. Keller, Sein, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 5, München 1974,
1288-1304
J.B. Lotz, Sein und Existenz, Freiburg 1965
ders., Der Mensch im Sein, Freiburg 1967
J. Stallmach, Der „actus essendi“ bei Thomas von Aquin und das Denken der

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„ontologischen Differenz“, Archiv für Geschichte der Philosophie 50 (1968) 134 144.

Schönstatt-Lexikon:

Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)

Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag


– www.patris-verlag.de

Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de

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