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Muttergöttin
Christl M. Maier
Christl M. Maier
In den sumerischen Stadtstaaten des 3. Jt.s v. Chr. wird eine mütterliche Göttin
(ama / amma „Mutter“) ohne spezi schen Namen verehrt. Ihre unterschiedlichen
Titel und Beinamen wie Ningal, Ninmach, Nintu „Herrin des Gebärens“ und
Ninchursag „Herrin der Berge“ zeigen eine weite Verbreitung, aber auch große
Unterschiede in ihrer Verehrung an. Im akkadischen Kontext trägt die
Muttergöttin den Titel bēlit-ilī „Herrin der Götter“; das → Atrachasis-Epos nennt
die an der Erscha ung der Menschen beteiligte Göttin, die den Mutterleib
ö net, Mami, Mama und Nintu (TUAT III, 625). Auch andere namentlich
genannte assyrische Göttinnen wie → Ischtar, Gula und Nikkal können den
Muttertitel tragen, ohne in der Rolle der Leben spendenden und bewahrenden
Göttin aufzugehen.
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gelegentlich den Muttertitel (z.B. KTU 1.6 VI: 11, 15) und den Beinamen
„Schöpferin der Götter“ (z.B. KTU 1.4 I: 23); sie hat aber auch viele andere
Funktionen.
Darstellungen einer Frau bzw. Göttin mit Kind sind im Blick auf das gesamte
Material von den Anfängen bis in die 2. Hälfte des 1. Jt.s v. Chr. selten. Der
Uterus wird seit Beginn des 2. Jt.s in Form eines Ω-Zeichens abgebildet. Dieses
Zeichen wird in Babylonien den Muttergöttinnen Ninchursag und Nintu
zugeordnet. Es begegnet auch auf mittelbronzezeitlichen Siegelamuletten aus
Südostanatolien (heutige Türkei) und Palästina, die wohl verstorbenen Kindern
mitgegeben wurden (Keel / Schroer 2004, 31 und 59-61).
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gewidmeten Aretalogien (Lobeshymnen) identi zieren Isis mit anderen
zeitgenössischen Göttinnen und preisen sie als die alles umfassende Gottheit.
Die stillende Isis wird zur Mutterikone schlechthin und damit zu einem
ikonographischen Vorbild für Maria mit dem Christuskind (vgl. Keel / Schroer
2004, 266-273).
Abb. 3 Gebärende Frau auf einem Die Deutung der neolithischen Funde (6500-
Leopardenthron (Terrakotta gur
4000 v. Chr.) von Çatal-Höyük und Hacilar ist
aus Çatal-Höyük; in einem
Getreidegefäß gefunden, der Kopf
umstritten. Für den Ausgräber James Mellaart
und die Archäologin Marija Gimbutas dienen
ist rekonstruiert; 6450-6250 v. Chr.).
diese und weitere Frauen gurinen sowie
Wandreliefs als Beweise für ihre These einer in
der Jungsteinzeit verbreiteten Verehrung der Muttergöttin und sogar einer
matriarchalen Sozialstruktur in beiden Ackerbausiedlungen. Dagegen halten
Othmar Keel und Silvia Schroer die Deutung aller jungsteinzeitlichen
Frauen gurinen als Muttergöttin für nicht hinreichend begründet (Keel /
Schroer 2004, 17-19). Ian Hodder, der die neuen Ausgrabungen in Çatal-Höyük
leitet, deutet die Frauen gurinen als Hinweis auf eine stärker
geschlechtsspezi sche Arbeitsteilung in späteren Phasen der Siedlung, wobei
die Figurinen für die Rolle von Frauen in der spezialisierten häuslichen
Produktion stehen (Hodder 2006, 208-214, 254-256).
Im 1. Jt. v. Chr. wird in Kleinasien eine Göttin namens Kybele verehrt, die wohl
mit der in hethitischen und hurritischen Quellen des 2. Jt.s genannten Göttin
Kubaba, der Stadtgöttin von → Karkemisch am Euphrat, gleichzusetzen ist.
Bereits seit 1200 v. Chr. wird diese Göttin in Pessinus (Phrygien) durch einen
heiligen Stein verkörpert. Einige Priester der Kybele, sog. galloi, sollen sich
freiwillig kastriert haben; der Name gallos / galloi geht auf die nach Kleinasien
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eingewanderten Gallier zurück. In Pessinus hat der Kybelekult durch die
Verbindung mit dem Dionysoskult einen ekstatisch-orgiastischen Charakter
angenommen. Dem griechischen Geographen Strabo (ca. 63 v. Chr.-23 n. Chr.)
zufolge regierte Kybeles Priesterschaft in Pessinus bis 183 v. Chr. (Strabo,
Geographie 12,5,3).
Seit dem 6. Jh. v. Chr. ist in Phrygien eine Göttin namens meter „Mutter“ belegt,
die meist thronend mit einem Löwen auf ihrem Schoß dargestellt wird. Ihre
Verehrung breitete sich sukzessive bis an die Westküste Kleinasiens, ans
Schwarze Meer und über Thrakien sowie die ägäischen Inseln nach
Griechenland aus. Erst in späten Inschriften wird diese Muttergottheit als Kybele
bezeichnet. In Griechenland wird sie mit den Muttergöttinnen Rhea und
Demeter identifiziert.
2.5. Die Erde als Mutter im Alten Orient und Alten Testament
Die Vorstellung der Erde als Mutter, die eigenständig P anzen hervorbringt,
ohne selbst gescha en zu sein, ist in der Antike verbreitet. Sie beruht auf der
numinosen Dimension des fruchtbaren Ackerlandes (hebräisch ’ǎdāmāh;
griechisch gē / Gaia) sowie der Erdentiefen (hebräisch ’æræṣ, šə’ôl; griechisch
chthōn / chthonios). In dem sumerischen Text „Prolog des Streitgesprächs
zwischen Holz und Rohr“ (TUAT III, 357-360) ist das Gebären der P anzen als
Folge der Begattung der Erde durch den Himmelsgott An beschrieben. Dagegen
bringt nach Gen 1,11-12.24 die Erde auf Gottes Befehl hin P anzen und
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Lebewesen hervor (vgl. das Sprossen der Erde in Ps 90,5; Jes 34,1).
Ikonographisch wird diese Vorstellung seit dem 3. Jt. v. Chr. gelegentlich in Form
einer ‚pflanzentreibenden’ Erdgöttin dargestellt (Abb. 4).
Die Verehrung der Erde als Mutter, als Spenderin der vegetarischen Nahrung
ndet sich wohl schon in frühen indogermanischen Kulturen. Die ambivalente
Vorstellung der Erde als gebärend und die Toten aufnehmend, ndet sich auch
in der griechischen Kultur. In der griechischen Tragödie und der griechischen
Philosophie wird die Ergöttin Gaia oder Ge häu g als Mutter bezeichnet.
Dagegen spielt die Verehrung der Gaia im Kult eine vergleichsweise geringe
Rolle. Gelegentlich wird Gaia mit der Getreidegöttin Demeter identi ziert, deren
berühmter Mysterienkult in Eleusis beheimatet ist. Als Mutterschoß, der die
Toten aufnimmt, firmiert die Erde bei griechischen und römischen Schriftstellern
und in zahlreichen Grabsprüchen der hellenistischen und römischen Zeit. Diese
mythologische Vorstellung kann jedoch nicht mit der Verehrung einer
Muttergöttin gleichgesetzt werden.
Ein Kult der Mater Magna („Große Mutter“) wurde 204 v. Chr. in Rom eingeführt,
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wo eine gleichnamige Göttin auf dem Palatin einen eigenen Tempel erhielt. Der
genaue Herkunftsort der Göttin ist umstritten: Stammt sie ausweislich ihres
Titels Mater Deum Magna Idaea „große Mutter der Götter, die aus Ida“
ursprünglich vom Berg Ida im Nordwesten Anatoliens? Ist die im heiligen Stein
verehrte Göttin die römische Variante der Kybele von Pessinus? Oder stammt
sie aus der kleinasiatischen Küstenstadt Pergamon, in der sich ein der
Muttergöttin geweihtes Heiligtum, das Megalesion, befand? Auch in römischen
Quellen werden ihre Priester galli genannt, die jedoch nur an bestimmten Tagen
in den Straßen Roms um Gaben betteln durften. Das Hauptfest ihres Kultes
fand vom 4.-10. April statt und umfasste Opfer, Festmähler, die Waschung des
Kultbilds und szenische Aufführungen.
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Remythisierung einer Vergangenheit, in der die (weibliche) Moral führend
gewesen sei, eine Modernitätskritik, die sich gegen den ökonomisch-
technischen Fortschritt richtet (Wagner-Hasl 1992, 300-305).
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angehören, versteht Gimbutas alle dekorativen Elemente (z.B. V-Zeichen, M-
Zeichen, Zickzacklinien, Wasserlinien, ovale Linien, Vögel) als auf die eine große
Göttin verweisende Symbole und deutet sie mit Hilfe völkerkundlicher und
mythologischer Traditionen aus schriftlichen Quellen sehr viel späterer Zeit (zur
Kritik vgl. Kunz in Röder / Hummel / Kunz 1996, 273-298). Außerdem wird
Gimbutas’ universales Geschichtsbild einer Ablösung der matriarchalen durch
die patriarchale Kultur im Zeitraum von 4500-3000 v. Chr. der Vielfalt der
Fundorte, Siedlungsstrukturen und Phasen der Besiedlung in keiner Weise
gerecht. Archäologische Funde und Texte aus dem Vorderen Orient
konterkarieren darüber hinaus Gimbutas’ Ein-Göttin-These, da sie eine Vielheit
von Gottheiten am Anfang bezeugen, die mittels Identi zierung in schriftlichen
Quellen zu wenigen Gestalten verbunden (z.B. Isis in hellenistischer Zeit, siehe
oben 2.2.) bzw. im jüdisch-christlichen Monotheismus zu einer Einheit
zusammengeführt werden (vgl. z.B. Frymer-Kenski 1992).
Wie archäologisch erschlossene Funde sowie durch Texte belegte Riten und
Mythen um → Schwangerschaft und → Geburt zeigen, wurde zwar die weibliche
Gebärfähigkeit im Alten Orient und in der griechisch-römischen Antike häu g
als göttliche Potenz aufgefasst. Es gibt jedoch weder eine Muttergöttin, die alle
Aspekte des Lebens umgreift, noch kann nachgewiesen werden, dass die
Verehrung einer solchen Göttin eine Vorrangstellung von Frauen in der
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betre enden Gemeinschaft impliziert (vgl. Wacker 1987, 23-26). Die Suche nach
einer weiblich fokussierten Spiritualität und nach weiblichen Elementen in der
jüdisch-christlichen Tradition ist verständlich im Kontext einer durch und durch
säkularen, auf Rationalität und technische Machbarkeit abzielenden Kultur. Die
postmoderne Collage einer friedliebenden, den Zyklus des Werdens und
Vergehens repräsentierenden Muttergöttin erscheint freilich als ein allzu
stilisiertes Idealbild, das unterschiedliche archäologische Befunde einseitig
interpretiert und die Bedeutung der weiblichen Figurinen überschätzt.
Insbesondere die Romantisierung der weiblichen Natur im Gegensatz zu allem
Männlichen und die Überhöhung der Mutterrolle mithilfe dieses Idealbildes sind
ungeeignet, die eindeutig patriarchalen Strukturen des biblischen Gottesbildes
zu revidieren.
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Empfohlene Zitierweise
Maier, Christl M., Art. Muttergöttin, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon
im Internet (www.wibilex.de), 2008
Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel
2. Weitere Literatur
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Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften, Frankfurt
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Kuh und Kalb (Elfenbeinschnitzerei aus Fort Salmanassar in Nimrud; 8. Jh. v.
Chr.). Aus: O. Keel, Das Böcklein in der Milch seiner Mutter und Verwandtes im Lichte
eines altorientalischen Bildmotivs (OBO 33), Freiburg 1980, Abb. 119; © Stiftung
BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
Abb. 2 Säugende Capride (Stempelsiegel aus Sidon; 8. Jh. v. Chr.).Aus: Keel, 1980, Abb.
95; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
Abb. 3 Gebärende Frau auf einem Leopardenthron (Terrakotta gur aus Çatal-Höyük;
in einem Getreidegefäß gefunden, der Kopf ist rekonstruiert; 6450-6250 v. Chr.). Aus:
Keel / Schroer, 2004, Abb 54; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
Abb. 4 Erdgöttin, die P anzen hervorbringt (Rollsiegel aus Schadad bei Kerman, Irak;
um 2500 v. Chr.). Aus: Keel / Schroer, 2002, Abb. 18, © Stiftung BIBEL+ORIENT,
Freiburg / Schweiz
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Impressum
Herausgeber:
Alttestamentlicher Teil
Prof. Dr. Michaela Bauks
Prof. Dr. Klaus Koenen
Neutestamentlicher Teil
Prof. Dr. Stefan Alkier
Deutsche Bibelgesellschaft
Balinger Straße 31 A
70567 Stuttgart
Deutschland
www.bibelwissenschaft.de
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