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Das wissenschaftliche Bibellexikon im

Internet
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Muttergöttin

Christl M. Maier

erstellt: Dezember 2008

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Muttergöttin

Christl M. Maier

1. Muttergöttin – Funktion und Rollen


Im Alten Orient ist die Vorstellung der Gebärenden auf weibliche Gottheiten
beschränkt, was keineswegs bedeutet, dass männliche Gottheiten nicht auch
Göttersöhne oder Menschen erscha en könnten. Entgegen verbreiteter, auch
feministischer, Matriarchatsthesen gibt es nicht die Muttergöttin schlechthin, die
später vom männlichen Gott verdrängt wurde, sondern zahlreiche verschiedene
Ausprägungen mächtiger weiblicher Gottheiten (→ Göttin, 2.). Die Mutterrolle
hebt die Potenzen von Generativität und Gewährung von Leben sowie von
Nahrung und Schutz hervor. Als Muttergöttin können Göttinnen bezeichnet
werden, deren Gebärfähigkeit im Vordergrund steht und die mit ihrem Säugling
dargestellt werden. Die meisten dieser Göttinnen, die gelegentlich ohne
spezi schen Namen auskommen, gehen aber nicht in der Rolle der Mutter auf,
sondern haben weitere Funktionen. Ikonographisch wird die Mutterfunktion
einer Darstellung oder Figurine nur bei Vorhandensein eines Kindes deutlich.

2. Muttergöttinnen im Alten Orient


2.1. Die Herrin und Mutter in Mesopotamien

In den sumerischen Stadtstaaten des 3. Jt.s v. Chr. wird eine mütterliche Göttin
(ama / amma „Mutter“) ohne spezi schen Namen verehrt. Ihre unterschiedlichen
Titel und Beinamen wie Ningal, Ninmach, Nintu „Herrin des Gebärens“ und
Ninchursag „Herrin der Berge“ zeigen eine weite Verbreitung, aber auch große
Unterschiede in ihrer Verehrung an. Im akkadischen Kontext trägt die
Muttergöttin den Titel bēlit-ilī „Herrin der Götter“; das → Atrachasis-Epos nennt
die an der Erscha ung der Menschen beteiligte Göttin, die den Mutterleib
ö net, Mami, Mama und Nintu (TUAT III, 625). Auch andere namentlich
genannte assyrische Göttinnen wie → Ischtar, Gula und Nikkal können den
Muttertitel tragen, ohne in der Rolle der Leben spendenden und bewahrenden
Göttin aufzugehen.

In Texten der kanaanäischen Stadt → Ugarit trägt die Göttin → Aschera

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gelegentlich den Muttertitel (z.B. KTU 1.6 VI: 11, 15) und den Beinamen
„Schöpferin der Götter“ (z.B. KTU 1.4 I: 23); sie hat aber auch viele andere
Funktionen.

Darstellungen einer Frau bzw. Göttin mit Kind sind im Blick auf das gesamte
Material von den Anfängen bis in die 2. Hälfte des 1. Jt.s v. Chr. selten. Der
Uterus wird seit Beginn des 2. Jt.s in Form eines Ω-Zeichens abgebildet. Dieses
Zeichen wird in Babylonien den Muttergöttinnen Ninchursag und Nintu
zugeordnet. Es begegnet auch auf mittelbronzezeitlichen Siegelamuletten aus
Südostanatolien (heutige Türkei) und Palästina, die wohl verstorbenen Kindern
mitgegeben wurden (Keel / Schroer 2004, 31 und 59-61).

2.2. Die nährende Göttin in Ägypten

In Ägypten ist neben → Nut und → Mut vor allem


→ Hathor in ihrer Erscheinung als Himmelskuh
die herausragende Muttergöttin, bevor sie mit →
Isis, der Mutter des → Horus, verschmilzt (→
Göttin, 2.3). Sie wird häu g als säugend
dargestellt und steht zunächst für die
Fruchtbarkeit der Herden.

In der levantinischen Elfenbeinkunst des 1. Jt.s v.


Abb. 1 Kuh und Kalb
Chr. wird die säugende Himmelskuh in den
(Elfenbeinschnitzerei aus Fort Motiven „Kuh und Kalb“ oder „säugende Capride“
Salmanassar in Nimrud; 8. Jh. v. ( → Ziege) aufgenommen (Keel / Uehlinger 1998,
Chr.).
166-174), die als Segensikonen die mütterlich-
nährenden Aspekte einer Göttin darstellen.

Im 1. Jt. v. Chr. verbreitet sich das


anthropomorphe Bild der Göttin → Isis, die
den Horusknaben stillt, ausgehend von
Ägypten im ganzen Mittelmeerraum. Dem
Mythos zufolge bewahrt Isis, die Schwester
und zugleich Gattin des → Osiris, ihren mit
Osiris nach dessen Tod gezeugten Sohn →
Horus vor Schlangenbissen und →
Skorpionen (→ Isis). In griechisch-römischer Abb. 2 Säugende Capride
(Stempelsiegel aus Sidon; 8. Jh. v.
Zeit wird Isis als Leben gebende und Leben
Chr.).
bewahrende Gottheit über die Grenzen des
römischen Reiches hinaus verehrt. Die ihr

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gewidmeten Aretalogien (Lobeshymnen) identi zieren Isis mit anderen
zeitgenössischen Göttinnen und preisen sie als die alles umfassende Gottheit.
Die stillende Isis wird zur Mutterikone schlechthin und damit zu einem
ikonographischen Vorbild für Maria mit dem Christuskind (vgl. Keel / Schroer
2004, 266-273).

2.3. Die Muttergöttin in Kleinasien

Aus der zentralanatolischen


jungsteinzeitlichen Siedlung Çatal-Höyük
stammt eine Terrakotta gur einer
gebärenden Frau mit dicken Schenkeln und
großen Brüsten auf einem von Leoparden
ankierten Thron (Abb. 3). Sie und eine
sitzende dicke Terrakotta gur mit Kind aus
Hacilar werden häu g als Muttergöttin und
damit als Vorgängerin der phrygischen
Muttergottheit (s.u. 3.1.) verstanden.

Abb. 3 Gebärende Frau auf einem Die Deutung der neolithischen Funde (6500-
Leopardenthron (Terrakotta gur
4000 v. Chr.) von Çatal-Höyük und Hacilar ist
aus Çatal-Höyük; in einem
Getreidegefäß gefunden, der Kopf
umstritten. Für den Ausgräber James Mellaart
und die Archäologin Marija Gimbutas dienen
ist rekonstruiert; 6450-6250 v. Chr.).
diese und weitere Frauen gurinen sowie
Wandreliefs als Beweise für ihre These einer in
der Jungsteinzeit verbreiteten Verehrung der Muttergöttin und sogar einer
matriarchalen Sozialstruktur in beiden Ackerbausiedlungen. Dagegen halten
Othmar Keel und Silvia Schroer die Deutung aller jungsteinzeitlichen
Frauen gurinen als Muttergöttin für nicht hinreichend begründet (Keel /
Schroer 2004, 17-19). Ian Hodder, der die neuen Ausgrabungen in Çatal-Höyük
leitet, deutet die Frauen gurinen als Hinweis auf eine stärker
geschlechtsspezi sche Arbeitsteilung in späteren Phasen der Siedlung, wobei
die Figurinen für die Rolle von Frauen in der spezialisierten häuslichen
Produktion stehen (Hodder 2006, 208-214, 254-256).

Im 1. Jt. v. Chr. wird in Kleinasien eine Göttin namens Kybele verehrt, die wohl
mit der in hethitischen und hurritischen Quellen des 2. Jt.s genannten Göttin
Kubaba, der Stadtgöttin von → Karkemisch am Euphrat, gleichzusetzen ist.
Bereits seit 1200 v. Chr. wird diese Göttin in Pessinus (Phrygien) durch einen
heiligen Stein verkörpert. Einige Priester der Kybele, sog. galloi, sollen sich
freiwillig kastriert haben; der Name gallos / galloi geht auf die nach Kleinasien

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eingewanderten Gallier zurück. In Pessinus hat der Kybelekult durch die
Verbindung mit dem Dionysoskult einen ekstatisch-orgiastischen Charakter
angenommen. Dem griechischen Geographen Strabo (ca. 63 v. Chr.-23 n. Chr.)
zufolge regierte Kybeles Priesterschaft in Pessinus bis 183 v. Chr. (Strabo,
Geographie 12,5,3).

Seit dem 6. Jh. v. Chr. ist in Phrygien eine Göttin namens meter „Mutter“ belegt,
die meist thronend mit einem Löwen auf ihrem Schoß dargestellt wird. Ihre
Verehrung breitete sich sukzessive bis an die Westküste Kleinasiens, ans
Schwarze Meer und über Thrakien sowie die ägäischen Inseln nach
Griechenland aus. Erst in späten Inschriften wird diese Muttergottheit als Kybele
bezeichnet. In Griechenland wird sie mit den Muttergöttinnen Rhea und
Demeter identifiziert.

2.4. Eine Muttergöttin im Alten Testament?

Während nirgends im Alten Testament eine Muttergöttin explizit genannt wird,


vermuten manche Exegetinnen und Exegeten in der Darstellung Evas Reste der
altorientalischen Tradition. Eva wird in Gen 3,20 „Mutter alles Lebendigen“
genannt und sagt in Gen 4,2 „ich habe einen Mann erworben / gebildet mit
JHWH“. Die Schöpfungserzählung betont die weibliche Gebärfähigkeit als
göttliche Potenz, ohne jedoch → Eva zu vergöttlichen. Vergleicht man die →
Fluterzählung in Gen 6-9 mit altorientalischen Parallelen, so übernimmt JHWH
sowohl die Rolle des Gottes, der die Vernichtung der Menschen beschließt (Enlil)
als auch der Muttergöttin, die sich der Menschen erbarmt (Nintu). Wo der Gott
Israels metaphorisch mit mütterlichen Zügen dargestellt wird, steht nicht das
Gebären im Mittelpunkt, sondern Schutz und Erziehung Israels als Kind Gottes
(Jes 66,13; Hos 11,3-4.8). Bei Geburtsvorgängen handelt JHWH dagegen häu ger
als → Hebamme oder handwerklicher Bildner (Jes 66,9; Jer 1,5; Ps 22,10-11; Ps
139,13).

2.5. Die Erde als Mutter im Alten Orient und Alten Testament

Die Vorstellung der Erde als Mutter, die eigenständig P anzen hervorbringt,
ohne selbst gescha en zu sein, ist in der Antike verbreitet. Sie beruht auf der
numinosen Dimension des fruchtbaren Ackerlandes (hebräisch ’ǎdāmāh;
griechisch gē / Gaia) sowie der Erdentiefen (hebräisch ’æræṣ, šə’ôl; griechisch
chthōn / chthonios). In dem sumerischen Text „Prolog des Streitgesprächs
zwischen Holz und Rohr“ (TUAT III, 357-360) ist das Gebären der P anzen als
Folge der Begattung der Erde durch den Himmelsgott An beschrieben. Dagegen
bringt nach Gen 1,11-12.24 die Erde auf Gottes Befehl hin P anzen und

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Lebewesen hervor (vgl. das Sprossen der Erde in Ps 90,5; Jes 34,1).
Ikonographisch wird diese Vorstellung seit dem 3. Jt. v. Chr. gelegentlich in Form
einer ‚pflanzentreibenden’ Erdgöttin dargestellt (Abb. 4).

Seit der Mittelbronzezeit (1750-1550 v. Chr.)


wird in Syrien / Palästina die Göttin mit
P anzen als nackte weibliche Gestalt
zwischen Zweigen oder Bäumen dargestellt
(→ Göttin, 4.2).
Abb. 4 Erdgöttin, die P anzen
Die Erde wird im Alten Testament manchmal hervorbringt (Rollsiegel aus
als Mutterschoß beschrieben, in dem der Schadad bei Kerman, Irak; um 2500
v. Chr.).
menschliche Leib kunstvoll gestaltet wird (Ps
139,15), zu dem der Mensch zurückkehrt (Hi
1,21; Pred 5,14; Sir 40,1) oder der die Toten ein zweites Mal gebiert (Jes 26,19).
Diese Spuren der Vorstellung einer gebärenden Mutter Erde werden jedoch
kontrastiert von zahlreichen Aussagen über die Erde als Schlund, der die
Verbrecher verschlingt (Num 16,30-33; Ps 106,17; vgl. auch Gen 4,11), und als
Ort der Toten, an dem Gott nicht mehr gepriesen wird (Ps 6,6; Ps 88,11-13; Jes
38,18). Die Ausweitung der Herrschaft des israelitischen Gottes auf die Tiefen
der Totenwelt klingt erst in sehr späten poetischen Texten an (1Sam 2,6; Jes
14,9; Jes 25,8; Ps 139,8.12).

Die Verehrung der Erde als Mutter, als Spenderin der vegetarischen Nahrung
ndet sich wohl schon in frühen indogermanischen Kulturen. Die ambivalente
Vorstellung der Erde als gebärend und die Toten aufnehmend, ndet sich auch
in der griechischen Kultur. In der griechischen Tragödie und der griechischen
Philosophie wird die Ergöttin Gaia oder Ge häu g als Mutter bezeichnet.
Dagegen spielt die Verehrung der Gaia im Kult eine vergleichsweise geringe
Rolle. Gelegentlich wird Gaia mit der Getreidegöttin Demeter identi ziert, deren
berühmter Mysterienkult in Eleusis beheimatet ist. Als Mutterschoß, der die
Toten aufnimmt, firmiert die Erde bei griechischen und römischen Schriftstellern
und in zahlreichen Grabsprüchen der hellenistischen und römischen Zeit. Diese
mythologische Vorstellung kann jedoch nicht mit der Verehrung einer
Muttergöttin gleichgesetzt werden.

3. Der Mythos der „Großen Mutter“


3.1. Der Kult der Mater Magna

Ein Kult der Mater Magna („Große Mutter“) wurde 204 v. Chr. in Rom eingeführt,

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wo eine gleichnamige Göttin auf dem Palatin einen eigenen Tempel erhielt. Der
genaue Herkunftsort der Göttin ist umstritten: Stammt sie ausweislich ihres
Titels Mater Deum Magna Idaea „große Mutter der Götter, die aus Ida“
ursprünglich vom Berg Ida im Nordwesten Anatoliens? Ist die im heiligen Stein
verehrte Göttin die römische Variante der Kybele von Pessinus? Oder stammt
sie aus der kleinasiatischen Küstenstadt Pergamon, in der sich ein der
Muttergöttin geweihtes Heiligtum, das Megalesion, befand? Auch in römischen
Quellen werden ihre Priester galli genannt, die jedoch nur an bestimmten Tagen
in den Straßen Roms um Gaben betteln durften. Das Hauptfest ihres Kultes
fand vom 4.-10. April statt und umfasste Opfer, Festmähler, die Waschung des
Kultbilds und szenische Aufführungen.

3.2. Bachofens These vom Mutterrecht

Auf der Grundlage antiker Mythen und unter Annahme polarer


Geschlechterbeziehungen, aber zeitlich vor den archäologischen Grabungen im
Nahen und Mittleren Osten, entwickelte der Schweizer Jurist Johann Jakob
Bachofen (1815-1887) in seinem 1861 erschienenen Werk „Das Mutterrecht“
eine eigene Theorie der Gynaikokratie (Frauenherrschaft). Aus Notizen
griechischer Schriftsteller über das kleinasiatische Volk der Lykier und der
Orestie des griechischen Tragödiendichters Aischylos (525-456 v. Chr.)
postulierte Bachofen eine ursprüngliche Gesellschaftsform mit weiblicher
Erbfolge und Genealogie (Matrilinearität), Namensgebung nach der Mutter
sowie einer politischen Vorherrschaft von Frauen. Im Gegensatz zu seinen
Quellen, die eine solche Gesellschaft als regellos und den griechischen Sitten
unterlegen beurteilen, verstand Bachofen das von ihm so genannte Mutterrecht
positiv als eine Völker übergreifende Kulturstufe, die eine Wesenseinheit von
Frau, Erde, Kosmos und Natur annimmt und die Frau zum religiösen Wesen
schlechthin erhebt. Problematisch an Bachofens Werk ist einerseits, dass er von
religiösen Vorstellungen wie dem Mythos von der Mutter Erde als Grund allen
Seins auf Formen sozialen Zusammenlebens und politischer Herrschaft schließt.
Andererseits vertritt Bachofen seiner Zeit gemäß eine – heute überholte –
kulturelle Evolutionstheorie, wonach das Mutterrecht durch das höher
entwickelte, geistigere Vaterrecht abgelöst worden sei. Ethnologische
Untersuchungen mutterrechtlicher Ethnien, z.B. der Irokesen und Hopis in
Nordamerika, der Nayar und Minangkabau in Süd- und Südostasien und der
San im Süden Afrikas zeigen sehr unterschiedliche Gesellschaftsformen. Sie
erweisen die These der Existenz eines Völker übergreifenden Matriarchats als
eine eurozentrische Sichtweise, die ein Deutungsmuster der europäischen
Sozialwissenschaft des 19. Jh.s fortführt. Außerdem beinhaltet Bachofens

6 WiBiLex | Muttergöttin
Remythisierung einer Vergangenheit, in der die (weibliche) Moral führend
gewesen sei, eine Modernitätskritik, die sich gegen den ökonomisch-
technischen Fortschritt richtet (Wagner-Hasl 1992, 300-305).

3.3. Die „Große Mutter“ in der jungsteinzeitlichen Kultur Zentraleuropas

Die Vorstellung einer ursprünglichen Kulturstufe des Matriarchats ndet sich


teilweise auch in psychoanalytischer, marxistischer und feministischer
Theoriebildung. Letztere hat seit Ende der sechziger Jahre des 20. Jh.s in
Westeuropa und Nordamerika einen Zweig der Göttinnenspiritualität
ausgebildet, die das ursprüngliche Matriarchat als goldenes Zeitalter und vom
Patriarchat verdrängte Gesellschaftsform versteht.

Gewährsfrau für die feministische Matriarchatsforschung ist die litauische


Archäologin und Linguistin Marija Gimbutas (1921-1994). Sie verknüpfte
jungsteinzeitliche Grabungsbefunde aus Ortslagen in Zentraleuropa mit Studien
zur vergleichenden Mythologie, Linguistik und späterer volkskundlicher
Überlieferung dieser Gebiete. Gimbutas vertrat die These, im alten Europa vor
der indogermanischen Einwanderung (beginnend 4500 v. Chr.) sei eine Göttin
verehrt worden, die als Gebärende, Beherrscherin des Todes und sich selbst
erneuernde Frau alle wichtigen Lebensfunktionen abdeckte und keines
göttlichen Partners bedurfte (Gimbutas 1995, XIX-XXIII). Die
Gesellschaftsordnung der Ackerbaukulturen Europas in der Jungsteinzeit und
beginnenden Bronzezeit (6500-3500 v. Chr.) sei wie im minoischen Kreta
gylanisch (matrilinear und matrifokal) gewesen: egalitär, friedlich, sesshaft, ohne
Symbole männlicher Dominanz und mit Frauen als Clanoberhäuptern oder
Königin-Priesterin. Erst in der zweiten Hälfte des 5. Jt.s sei diese Kultur von der
proto-indoeuropäischen Kurgankultur aus den Steppengebieten des
Wolgabeckens verdrängt worden (russisch „kurgan“ bedeutet Grabhügel).
Kennzeichen der Kurgankultur seien Bestattungen hochrangiger Männer in
Rundhügeln mit Wa en und gelegentlich mit Mitgliedern des Haushalts und
Frau, Viehzucht und die Domestizierung des Pferdes, woraus Gimbutas eine
patriarchale Sozialstruktur erschließt.

Während Gimbutas archäologische Studien meist anerkennend rezipiert


werden, ist ihre stark verallgemeinernde Deutung der alteuropäischen und
proto-indogermanischen Kulturen und ihrer Religion in mehrfacher Hinsicht
umstritten: Kritisch betrachtet wird etwa, dass sie sehr unterschiedliche
Grabungsfunde in Zentralasien unter dem Stichwort Kurgankultur
zusammenfasst sowie die Domestizierung des Pferdes als Reittier ohne weitere
Belege voraussetzt. Da die jungsteinzeitlichen Funde einer schriftlosen Kultur

WiBiLex | Muttergöttin 7
angehören, versteht Gimbutas alle dekorativen Elemente (z.B. V-Zeichen, M-
Zeichen, Zickzacklinien, Wasserlinien, ovale Linien, Vögel) als auf die eine große
Göttin verweisende Symbole und deutet sie mit Hilfe völkerkundlicher und
mythologischer Traditionen aus schriftlichen Quellen sehr viel späterer Zeit (zur
Kritik vgl. Kunz in Röder / Hummel / Kunz 1996, 273-298). Außerdem wird
Gimbutas’ universales Geschichtsbild einer Ablösung der matriarchalen durch
die patriarchale Kultur im Zeitraum von 4500-3000 v. Chr. der Vielfalt der
Fundorte, Siedlungsstrukturen und Phasen der Besiedlung in keiner Weise
gerecht. Archäologische Funde und Texte aus dem Vorderen Orient
konterkarieren darüber hinaus Gimbutas’ Ein-Göttin-These, da sie eine Vielheit
von Gottheiten am Anfang bezeugen, die mittels Identi zierung in schriftlichen
Quellen zu wenigen Gestalten verbunden (z.B. Isis in hellenistischer Zeit, siehe
oben 2.2.) bzw. im jüdisch-christlichen Monotheismus zu einer Einheit
zusammengeführt werden (vgl. z.B. Frymer-Kenski 1992).

3.4. Die dreifaltige Göttin in der feministischen Matriarchatsforschung

Die zumindest teilweise auf Grabungsfunden basierende These Gimbutas’


wurde in der feministischen Matriarchatsforschung stark rezipiert, jedoch
weiter vereinfacht zum Bild der einen Göttin, die alle Lebensbereiche wie Jugend
(Jungfräulichkeit), Mütterlichkeit (Fruchtbarkeit) und Alter (Tod) umfasst. Gerda
Weiler etwa sucht im Alten Testament ein verborgenes Matriarchat, wobei sie
den Gott Israels als ursprünglich matriarchalen Stiergott und Moses als
matriarchalen Mann versteht, deren Traditionen später patriarchal überformt
worden seien (Weiler 1989, 144-167). Ähnlich wie Gimbutas vereinfacht Heide
Göttner-Abendroth die sehr komplexen unterschiedlichen Mythen der um das
Mittelmeer siedelnden verschiedenen Völker zum Mythos von der einen Göttin
und ihres Sohngeliebten, ohne allerdings einzelne Quellen oder einschlägige
Fachliteratur auszuweisen (Göttner-Abendroth 1980; vgl. für das Neue
Testament Mulack 1987). Alle genannten Forscherinnen rezipieren Bachofens
These vom ursprünglichen, Ackerbau treibenden und friedliebenden
Matriarchat und teilen die im frühen 20. Jh. in der religionswissenschaftlichen
Forschung verbreitete Vorstellung der globalen Vergleichbarkeit religiöser und
mythologischer Befunde.

Wie archäologisch erschlossene Funde sowie durch Texte belegte Riten und
Mythen um → Schwangerschaft und → Geburt zeigen, wurde zwar die weibliche
Gebärfähigkeit im Alten Orient und in der griechisch-römischen Antike häu g
als göttliche Potenz aufgefasst. Es gibt jedoch weder eine Muttergöttin, die alle
Aspekte des Lebens umgreift, noch kann nachgewiesen werden, dass die
Verehrung einer solchen Göttin eine Vorrangstellung von Frauen in der

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betre enden Gemeinschaft impliziert (vgl. Wacker 1987, 23-26). Die Suche nach
einer weiblich fokussierten Spiritualität und nach weiblichen Elementen in der
jüdisch-christlichen Tradition ist verständlich im Kontext einer durch und durch
säkularen, auf Rationalität und technische Machbarkeit abzielenden Kultur. Die
postmoderne Collage einer friedliebenden, den Zyklus des Werdens und
Vergehens repräsentierenden Muttergöttin erscheint freilich als ein allzu
stilisiertes Idealbild, das unterschiedliche archäologische Befunde einseitig
interpretiert und die Bedeutung der weiblichen Figurinen überschätzt.
Insbesondere die Romantisierung der weiblichen Natur im Gegensatz zu allem
Männlichen und die Überhöhung der Mutterrolle mithilfe dieses Idealbildes sind
ungeeignet, die eindeutig patriarchalen Strukturen des biblischen Gottesbildes
zu revidieren.

Angaben zu Autor / Autorin finden Sie hier

WiBiLex | Muttergöttin 9
Empfohlene Zitierweise
Maier, Christl M., Art. Muttergöttin, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon
im Internet (www.wibilex.de), 2008

Literaturverzeichnis
1. Lexikonartikel

Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965


Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003
Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2005
Dictionary of Deities and Demons in the Bible, 2. Aufl., Leiden 1999
Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

Bachofen, J.J., 1948, Das Mutterrecht, 2 Bde. (1861), Basel


Eller, C. 2000, The Myth of Matriarchal Prehistory. Why an Inverted Past Won’t Give
Women a Future, Boston
Frymer-Kenski, T., 1992, In the Wake of the Goddesses, New York
Gimbutas, M., 1995, Die Sprache der Göttin. Das verschüttete Symbolsystem der
westlichen Zivilisation. Deutsch von U. Rennert und A. von Struwe (engl. Original
1989), Frankfurt.
Göttner-Abendroth, H., 1980, Die Göttin und ihr Heros. Die matriarchalen Religionen
in Mythos, Märchen und Dichtung, München
Hodder, I., 2006, The Leopard’s Tale. Revealing the Mysteries of Çatalhöyük, London
Keel O., 1980, Das Böcklein in der Milch seiner Mutter und Verwandtes im Lichte eines
altorientalischen Bildmotivs (OBO 33), Freiburg
Keel, O., 1989, Jahwe in der Rolle der Muttergottheit, Orientierung 53, 89-92
Keel, O. / Schroer, S., 2002, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext
altorientalischer Religionen, Göttingen
Keel, O. / Schroer, S., 2004, Eva – Mutter alles Lebendigen. Frauen- und Göttinnenidole
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Mulack, C., 1987, Jesus – der Gesalbte der Frauen. Weiblichkeit als Grundlage
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Röder, B. / Hummel, J. / Kunz, B., 1996, Göttinnendämmerung. Das Matriacharchat aus
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Wacker, M.-T., 1987, Die Göttin kehrt zurück. Kritische Sichtung neuerer Entwürfe, in:
dies. (Hg.), Der Gott der Männer und die Frauen, Düsseldorf, 11-37
Wagner-Hasel, B. (Hg.), 1992, Matriarchatstheorien der Altertumswissenschaft (WdF
651), Darmstadt
Weiler, G., 1989, Das Matriarchat im Alten Israel, Stuttgart u.a.
Wesel, U., 1980, Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die

10 WiBiLex | Muttergöttin
Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften, Frankfurt

Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Kuh und Kalb (Elfenbeinschnitzerei aus Fort Salmanassar in Nimrud; 8. Jh. v.
Chr.). Aus: O. Keel, Das Böcklein in der Milch seiner Mutter und Verwandtes im Lichte
eines altorientalischen Bildmotivs (OBO 33), Freiburg 1980, Abb. 119; © Stiftung
BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
Abb. 2 Säugende Capride (Stempelsiegel aus Sidon; 8. Jh. v. Chr.).Aus: Keel, 1980, Abb.
95; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
Abb. 3 Gebärende Frau auf einem Leopardenthron (Terrakotta gur aus Çatal-Höyük;
in einem Getreidegefäß gefunden, der Kopf ist rekonstruiert; 6450-6250 v. Chr.). Aus:
Keel / Schroer, 2004, Abb 54; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz
Abb. 4 Erdgöttin, die P anzen hervorbringt (Rollsiegel aus Schadad bei Kerman, Irak;
um 2500 v. Chr.). Aus: Keel / Schroer, 2002, Abb. 18, © Stiftung BIBEL+ORIENT,
Freiburg / Schweiz

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Prof. Dr. Michaela Bauks
Prof. Dr. Klaus Koenen

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Prof. Dr. Stefan Alkier

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