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Carl Dahlhaus:
des Kontrapunkts
Die Fuge ist in einem Ausmaß, wie es bei der Sonate Der Begriff der Gleichberechtigung bezieht sich in der
und sogar der Symphonie undenkbar erscheint, zur nächstliegenden, trivialsten Interpretation auf die unge-
symbolischen Form geworden. Und unter einer Fuge fähr gleichmäßige Teilhabe sämtlicher Stimmen einer
wurde dabei mit einer Ausschließlichkeit, die einen Fuge am Thema, das gewissermaßen durch den
Historiker eigentlich stutzig machen sollte, die Bach- Tonsatz wandert. Doch kann in den einzelnen Teilen
sehe Fuge verstanden, als wäre die Fuge nicht eine einer Fuge, den Abschnitten, die unter den Begriff der
geschichtliche, sich verändernde Gattung, deren Ent- Präsenzzeit fallen, also nicht durch Gedächtnis und
rechtigung erheben, sondern vielmehr, um mit Goethe müssen, von einer Gleichberechtigung der Stimmen
zu sprechen, eine ästhetische Naturform. Die Ge- schlechterdings nicht die Rede sein. Der erste, zweite
schichte der Fuge besteht in der Darstellung eines und dritte Kontrapunkt einer vierstimmigen Fuge sind
Autors, der durchaus Historiker war und sich keines- sowohl gegenüber dem Thema als auch untereinander
wegs gedankenlos über tragende Prämissen der Ge- hierarchisch abgestuft. Wären sie es nicht, so würde es
Schichtsschreibung hinwegsetzte, aus einer Vorge- sich als äußerst schwierig erweisen, den Tonsatz
schichte, der Herausbildung des Bachschen Idealtypus überhaupt hörend zu erfassen: Man braucht die Mög-
Als symbolische Form ist die Fuge Ausdruck einer Idee deutlich wahrgenommene Ereignisse, um einem vier-
oder eines Prinzips: der Idee, durch die der Kontra- stimmigen Satz verständnisvoll partizipierend gewach-
punkt, zunächst und in erster Instanz nichts anderes sen zu sein. So verfehlt es wäre, den Kontrapunkt zu
als eine Technik oder ein Inbegriff von Techniken, einem Fugenthema als bloße Neben- oder Begleitstim-
ästhetischen Sinn und darüber hinaus anthropologi- me und nicht als ergänzenden, komplementären Wi-
sehe Bedeutung erhält. Mit anderen Worten: In der derpart zu hören, so übertrieben und irreführend ist es
Fuge realisiert sich, wie man glaubt, das Wesen andererseits, von der Vorstellung auszugehen, daß in
dessen, was Kontrapunkt ist. jedem Moment zwischen den Stimmen ein Gleichge-
Plausibilität mit dem Grad ihrer Substanzlosigkeit zu Eine Gleichberechtigung der Stimmen aber, die nicht in
wachsen scheint, mag ein nahezu hoffnungsloses der Realität des einzelnen satztechnischen Augen-
Unterfangen sein. Dennoch sollte man wenigstens blicks, sondern lediglich in der nach und nach sich
versuchen, den Irrtum fernzuhalten, daß die Fuge manifestierenden Teilhabe am Thema begründet ist,
insofern eine symbolische Form sei, als sie in beson- bleibt gewissermaßen abstrakt: Sie ist nicht unmittelbar
ders ausgeprägtem Maße den fundamentalen Zusam- präsent, sondern tritt erst in einem Formprozeß zutage,
menhang zwischen Musik und Mathematik demonstrie- dessen Einheit sich in der Imagination des Hörers
Quintbeantwortung des Themas, der Durchführung Die Stimmen einer Fuge sind in der Hierarchie, die sie
durch sämtliche Stimmen und der Augmentation, Dimi- im einzelnen Moment oder in der ästhetischen Prä-
nution und Engführung ist nicht im geringsten mathe- senzzeit bilden, nicht nur substanziell, durch die melo-
matisch determiniert. Die Assoziation mit einem Kalkül dischen Unterschiede zwischen dem Thema und den
Die Idee des Kontrapunkts, die sich in der Fuge Und die funktionale Differenzierung bleibt keineswegs
manifestiert, wird in der ästhetischen Umgangsspra- auf die krude Dichotomie von Thema und Nicht-Thema
che, in der sich musikalisch Gebildete über ihre Erfah- beschränkt, in der sich die Erklärungen mancher Fu-
rungen verständigen, durch die Formel von der Gleich- genlehren erschöpfen. Um der Struktur einer Fuge
berechtigung der Stimmen ausgedrückt. Der söge- gerecht zu werden, muß man sich vielmehr bewußt
nannten Homophonie, in der sich Nebenstimmen oder machen, daß die konventionelle Unterscheidung zwi-
Fragmente von Stimmen einer Hauptstimme in bloß sehen obligaten, wiederkehrenden und nicht obligaten,
stützender Funktion unterordnen, setzt man eine Poly- austauschbaren Kontrapunkten außer der satztechni-
phonie entgegen, deren Prinzip es ist, daß sich die sehen eine syntaktische Bedeutung hat, die keines-
Stimmen wie Dialogpartner verhalten, von denen kei- wegs weniger wesentlich ist, aber fast immer unbe-
ner die anderen zu übertönen versucht. rücksichtigt bleibt. Ein obligater Kontrapunkt ist nicht
Carl Dahlhaus: Bach und die Idee des Kontrapunkts 351
allein eine Gegenstimme zum Comes, sondern zu- sen der ideengeschichtlichen Methode eigentlich nahe-
gleich und vor allem eine Fortsetzung des Dux, und liegend ist. Ohne daß man sich in einen historiographi-
zwar eine komplementäre, aus dem Dux gleichsam sehen Prinzipienstreit einlassen müßte, dürfte es je-
herauswachsende Fortsetzung, deren syntaktische denfalls plausibel sein, daß es im Hinblick auf die
Funktion mit der einer sogenannten Fortspinnung, des ästhetische Idee, die für Bach hinter der Technik des
zweiten Abschnitts im Fortspinnungstypus des spät- Kontrapunkts stand, nicht überflüssig ist, die Arie als
barocken Konzertsatz- und Arienritornells, durchaus spezifisch kontrapunktische Struktur zu analysieren.
vergleichbar ist. Ein Arienritomell mit Vordersatz und Der Tonsatz einer Kantatenarie beruht, um grob zu
Fortspinnung und ein Fugenanfang mit Thema und simplifizieren, auf einer Schichtung von Stimmen, die
obligatem Kontrapunkt sind syntaktisch analoge Struk- sowohl funktional als auch substanziell voneinander
turen: eine Einsicht, die angesichts des Sachverhalts, abgehoben sind: funktional als Gesangsstimme, kon-
daß der spätbarocke Fortspinnungstypus und der klas- zedierendes Soloinstrument, Baßstütze und Komplex
sische Liedtypus von Wilhelm Fischer zur Signatur von Füllstimmen, substanziell durch melodische Cha-
ganzer Epochen - und das heißt: sämtlicher Formen raktere, die gleichsam den Rollen im Ensemble der
der Epochen - erklärt worden sind, nicht einmal Stimmen entsprechen. Zwiespältig ist allerdings die
erstaunlich ist, obwohl es offenbar schwerfiel, sie zu Relation zwischen der Gesangsstimme und dem kon-
gewinnen. zedierenden Instrument, das im Ritornell die Thematik
Daß die Fuge zum Paradigma Bachschen Kontra- der Arie sei es exponied, sei es antizipied (die Wahl
punkts und darüber hinaus des Kontrapunkts schlecht- eines Terminus ist bereits eine Interpretation, die sich
hin erhoben wurde, ist nun aber keineswegs selbstver- nicht restlos rechtfedigen läßt). Von Heinrich Christoph
ständlich und in der Natur der Sache begründet, Koch wurde einige Jahrzehnte nach Bachs Tod die
sondern erweist sich, historisch betrachtet, als Resultat erste Gesangspadie als „Anlage“ - als Inbegriff der
einer Rezeptionsgeschichte, in der Bachs Klaviermu- „bereits miteinander in Verbindung gebrachten Haupt-
sik, vor allem das „Wohltemperierte Klavier“, in den gedanken eines Stücks“ - und das Instrumentalritor-
Vordergrund rückte, während die Kantaten, deren litur- nell als bloßer Auszug aus der „Anlage“ beschrieben.
gische Verwendbarkeit ebenso zweifelhaft erschien, Bei Bach dagegen ist das umgekehrte Verhältnis, daß
wie die pädagogische der Klavierwerke unmittelbar die Gesangspadie durch Erweiterung und Vokalisie-
plausibel war, im Schatten standen. Die Fugen wurden rung - und nicht das Ritornell durch Zusammenzie-
im 19. Jahrhundert allenthalben gespielt und gerühmt, hung und Instrumentalisierung - entsteht, offenbar
die Arien dagegen mit einer Ratlosigkeit, die nicht allein häufiger als das von Koch geschildede, obwohl es
in dem von Zelter drastisch formulierten Abscheu nicht unproblematisch erscheint. Denn die komposi-
gegenüber den Texten begründet sein konnte, umgan- tionstechnische Priorität des Ritornells ändert nichts
gen und in Distanz gehalten. am ästhetischen Vorrang der Gesangsstimme: an der
Eine der Folgen war, daß der Gedanke, neben der Tatsache, daß man aufgrund einer in Jahrtausenden
Fuge auch die Arie als Prototyp von Kontrapunkt - vedestigten Hierarchie von Vokalität und Instrumentali-
einer von der Fugentechnik abweichenden, aber nicht tät unwillkürlich das Ritornell als Einleitung und die
weniger wesentlichen Art von Kontrapunkt - gelten zu Gesangspadie als Exposition, nicht das Ritornell als
lassen, gar nicht erst aufkam. Und obwohl die Kantate Exposition und die Gesangspadie als sekundäre Para-
inzwischen in der Institution des Kirchenkonzerts phrase wahrnimmt. Technische Entstehung und ästhe-
längst einen festen Platz fand, ist der Kontrapunkt der tische Wirkung stimmen nicht überein.
Arie immer nocht nicht in dem Maße, in dem er es Legt man einer Interpretation der Arienstruktur das in
verdient, zum Gegenstand einer historisch-satztechni- der Ästhetik vom späten 18. bis zum frühen 20.
sehen Interpretation geworden. Jahrhundert dominierende Organismus-Modell zugrun-
Daß im Barock, der von Hugo Riemann als „General- de, so bildet die funktionale Differenzierung der Stirn-
baßzeitalter“ und von Jacques Handschin als „Zeital- men, je ausgeprägter sie ist, das Korrelat einer um so
ter des konzertierenden Stils“ bezeichneten Epoche, engeren Integration des Tonsatzes. Differenzierung
die im Generalbaßsatz wurzelnde und nicht selten mit und Integration sind komplementäre Sachverhalte,
einem konzertierenden Instrument ausgestattete Kan- während das bloße Nebeneinander gleicher Teile zum
tatenarie und nicht die seit 1600 in ihren Satzgrundla- Formzerfall tendiert. Und Goethe zählte in der „Meta-
gen isolierte und periphere Klavier- oder Orgelfuge die morphose der Pflanzen“, die eine explizite Kunsttheo-
stilgeschichtlich repräsentative Ausprägung kontra- rie enthält, außerdem die Subordination der Glieder zu
punktischen Denkens darstellen könnte, ist eine Hypo- den Bedingungen eines funktionierenden höheren Or-
these, die vermutlich äußerst befremdlich wirkt und den ganismus. Ohne daß die prinzipielle Möglichkeit einer
Verehrern der Fuge als symbolischer Form geradezu Differenzierung ohne Subordination - als ästhetisches,
blasphemisch erscheinen muß, aber unter den Prämis- nicht als biologisches Konzept - erörtert werden müß-
352 Carl Dahlhaus: Bach und die Idee des Kontrapunkts
te, steht jedenfalls fest, daß in der Regel - und der Sie dominiert im einzelnen, real gegenwärtigen Augen-
Bacheche Arientonsatz ist ein Paradigma - die Integra- blick, wird aber im Gesamtverlauf einer Fuge von der
tion einer Struktur nicht aus einer Gleichberechtigung Gleichberechtigung der Stimmen überlagert, die sich
der Teile, sondern aus einer Hierarchie resultiert. aus der Disposition der Themeneinsätze ergibt. We-
Begreift man das Verhältnis zwischen Differenzierung, sentlich ist jedoch, daß man die Gleichberechtigung,
Subordination und Integration in der Stimmenschich- von der in der Definition der Polyphonie so nachdrück-
tung Bachscher Arien als charakteristische Ausprä- lieh die Rede ist, nicht als einfache, unproblematische
gung barocken kontrapunktischen Denkens, so er- Gegebenheit, sondern als Resultat eines Prozesses
scheint vor dem Hintergrund des Tonsatzes der Arien auffaßt: Einerseits ist der Ort, wo sie sich konstituiert,
die Struktur der Fugen - oder die der Struktur zugrun- das Gedächtnis eines Hörers, dessen beziehendes
deliegende ästhetische Idee - in einer veränderten Denken über den satztechnischen Sachverhalt in der
Bedeutung. Die bloße Abfolge der Themeneinsätze, in ästhetischen Präsenzzeit - den Sachverhalt der Diffe-
der zunächst und in erster Instanz die Gleichberechti- renzierung und Subordination - hinausgeht. Und ande-
gung der Stimmen und außerdem der innere Zusam- rerseits ist die strukturelle Integration, nicht anders als
menhalt der Form begründet erschienen, enthält streng- im Tonsatz einer Arie, zunächst und grundlegend das
genommen nicht das geringste integrierende Moment: Resultat einer funktionalen Differenzierung, wie sie
Nach den Kriterien des Organismus-Modells wirkt, wie sich bei der Fuge im einzelnen Moment - nicht aber,
erwähnt, das Nebeneinander gleicher Teile nicht ver- wie bei der Arie, zugleich im Gesamtentwurf - manife-
bindend, sondern trennend. Die notwendige Integra- stiert. Es ist also keine Übertreibung, in hegelianisie-
tion, ohne die der niemals bezweifelte ästhetische render Terminologie von einer zweiten Gleichberechti-
Rang der Fuge als Strukturprinzip schlechterdings gung der Stimmen zu sprechen, die ihren Gegensatz,
undenkbar wäre, erwächst erst aus der funktionalen die Differenzierung und Subordination, in sich trägt -
Differenzierung der Stimmen: einer Differenzierung, als satztechnisches Merkmal der Präsenzzeit im Unter-
als deren prototypische, für das Barockzeitalter reprä- schied zur Gesamtzeit - und die erst dadurch die
sentative Ausprägung der Tonsatz der Arien erscheint. Integration erreicht, ohne die sie nicht die große,
Die Differenzierung ist allerdings in der Fuge, anders symbolische Form wäre, als die die Fuge den Nachge-
als in der Arie, nicht die letzte, sondern sozusagen die borenen seit zwei Jahrhunderten vor Augen steht.
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