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Band 4
Johan Galtung
Frieden
mit friedlichen Mitteln
Friede und Konflikt,
Entwicklung und Kultur
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unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi-
kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhaltsverzeichnis
Teil I: Friedenstheorie............................................................................. 29
1. Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage................. 31
2. Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen .................. 55
3. Frau: Mann = Frieden : Gewalt?....................................................... 81
4. Demokratie: Diktatur =Frieden: Krieg? ........................................... 97
5. Das Staatensystem: dissoziativ, konföderativ, föderativ,
einheitsstaatlich - oder eine aussichtslose Sache? .............................. 115
Mit Johan Galtungs "Frieden mit friedlichen Mitteln" liegt der interessierten
Öffentlichkeit der vierte Band der Reihe "Friedens- und Konfliktforschung"
vor, dessen Veröffentlichung in bezug auf letztere zugleich einen gewisserma-
ßen doppelten Einschnitt markiert. Die Erweiterung des Herausgeber-Gre-
miums um Georg Simonis und Hajo Schmidt verdankt sich dem gemeinsamen
Vorhaben, die auf eine verstärkte Implementierung friedenswissenschaftlicher
Lehre und Forschung an den bundesdeutschen Hochschulen gerichteteten
Kräfte auch publikatorisch zu bündeln. Inhaltlich dokumentiert der vorliegende
Band die programmatische Absicht der Herausgeber, die Reihe nicht nur für
der Grundlegung der Lehre dienende Textsammlungen und Einführungen, son-
dern zugleich auch für die friedenswissenschaftliche Forschung und Debatte
stimulierende Monographien offenzuhalten - und fortzusetzen.
Die Reihe mit einem Werk des norwegischen Friedensforschers, Konflikt-
beraters und Friedensaktivisten Johan Galtung fortführen zu können, ist den
Herausgebern eine besondere Freude. Seit nahezu vierzig Jahren hat Galtung,
durch das gesprochene Wort wie durch seine immense literarische Produk-
tivität - etwa siebzig Bücher und mehr als tausend Artikel dürften zur Stunde
zusammengekommen sein -, seinen Ruf als einer der "Gründungsväter" der
modemen Friedensforschung weltweit bestätigt; wie kaum ein anderer hat er
auch die deutschsprachige friedenswissenschaftliche und -politische Diskus-
sion mitgeprägt. Vieles spricht dafür, daß "Frieden mit friedlichen Mitteln"
eine neue Etappe in diesem Prozeß fruchtbarer Einwirkung und Auseinander-
setzung wird einleiten können.
"Frieden mit friedlichen Mitteln" stellt sich dar als ein Resümee jahrzehn-
telangen Nachdenkens über die Grundlagen, die Ziele und die Praxis der
Friedens- und Konfliktforschung. Als solches entwirft der konzentrierte, aber
dennoch gut lesbare Text den Grundriß und zentrale Bestimmungen einer
umfassenden, auf vier Pfeilern ruhenden Theorie des Friedens:
Dieses Buch ist angelegt als eine Einführung in das Studium des Friedens, dies
jedoch mehr im Sinne der Eröffnung vieler Richtungen einschlägiger For-
schung als im Sinne eines elementaren, leicht zu lesenden Lehrbuchs. (Das Ein-
leitungskapitel hat diese Funktion.) Mehr Nutzen werden diejenigen Leser und
Leserinnen aus dem Text ziehen können, die schon einige Kenntnisse auf den
Gebieten haben, die in den folgenden vier Teilen genauer untersucht werden.
Friedenspolitik ist eine sanfte Politik - eine Politik, die in hohem Maße
abhängt von sehr konkreten Entscheidungen, getroffen von Eliten, aber zu-
nehmend auch von der ihre eigene Friedenspolitik betreibenden Bevölke-
rung: im Mikrobereich die des inneren Menschen und der Familie (wo es im-
mer genug zu tun gibt), im Mesobereich die der Gesellschaft und schließlich
auf der Makroebene die zwischengesellschaftlicher und überregionaler Kon-
flikte. Es gibt Raum für Politik, im Sinne einer friedlichen Steuerung in Rich-
tung Frieden, auf allen diesen Ebenen.
Aber diesen Entscheidungen liegen militärische und ökonomische Realitä-
ten zugrunde, die in diesem Buch unter den umfassenderen Titeln "Konflikt"
und "Entwicklung" untersucht werden. Jenen wiederum liegen die noch tie-
feren Realitäten unserer Zivilisationen zugrunde, speziell die Tiefenkulturen,
die Kosmologien, die unser Verhalten in den drei anderen Bereichen so wirk-
sam konditionieren.
Die vier Einheiten dieses Buches sind Ergebnisse umfassend angelegter
Forschungsprogramme für wesentliche Bereiche der Friedensforschung:
einer Theorie des Friedens
- einer Theorie des Konflikts
- einer Theorie der Entwicklung
- einer Theorie der Zivilisationen.
Dieses Buch ist allerdings der einzige Versuch, alle vier Bereiche zusammen-
zubringen. Um die vier Teile unabhängiger voneinander zu machen, gibt es
einige Wiederholungen. Es hängt aber alles zusammen, daher die vielen
Querverweise in den Einheiten sowie die Schlußausführungen.
12 Vorrede
Ein warnendes Wort noch. Meiner Erfahrung nach können die gängigen
Sicherheitsanalysen und Analysen der Internationalen Beziehungen, die Kon-
fliktstudien, die Wirtschafts- und Zivilisationstheorien nicht so, wie sie sind,
für Friedensstudien fruchtbar gemacht werden; es reicht nicht hin, sie einfach
zusammenzubringen und einen interdisziplinären Dialog zu starten. Im Ge-
genteil, sie müssen erneut ganz von vorn durchdacht werden und wahrschein-
lich noch umfassender, als dies - nach langer Vorlaufzeit: Die Aufgabe ist
problematisch, um das mindeste zu sagen - auf den folgenden Seiten mög-
lich war.
So müssen Frieden und Gewalt in ihrer Totalität gesehen werden, auf allen
Stufen der Organisation des Lebens (und nicht allein des menschlichen Le-
bens). Zwischenstaatliche Gewalt ist wichtig, wichtiger noch die zwischen
den Geschlechtern und den Generationen. Nicht zu vergessen die innerper-
sönliche Gewalt, als geistige (z.B. als Unterdrückung der Gefühle) sowohl
wie als körperliche (Krebs z.B.). Und weiter: Da der Zweck der ganzen
Übung in der Förderung des Friedens und nicht nur der Friedenswissenschaft
besteht, ist eine nicht-positivistische Auffassung von Wissenschaft ganz uner-
lässlich, die mit expliziten Werten und Therapien arbeitet und sich nicht mit
der Diagnostik begnügt.
Konflikte erschöpfen sich nicht in dem, was das bloße Auge als "Unru-
hen", als direkte Gewalt erkennt. Es gibt auch die Gewalt, die in den Struktu-
ren eingefroren ist, und die Kultur, die diese Gewalt rechtfertigt. Im übrigen
besteht die wichtigste Aufgabe beim Versuch, einen Konflikt zwischen Par-
teien zu transformieren, nicht allein darin, für deren Beziehungen eine neue
Architektur zu finden, sondern zugleich darin, den Parteien zu helfen, sich
selbst zu transformieren, damit ihre Konflikte sich nicht ewig reproduzieren.
Die meisten Konflikte zwischen Parteien haben innerparteiliche Aspekte.
Die herrschende Ökonomie wird in diesem Buch wesentlich als kulturelle
Gewalt begriffen, die verheimlicht und mystifiziert, was geschieht, wenn
Menschen produzieren, verteilen und konsumieren. Die meisten Ursachen
und Wirkungen werden dabei als "Externalitäten" unsichtbar gemacht und
ins Jenseits der ökonomischen Theorie und Praxis verwiesen. Wenn wir sie
jedoch benennen und in die Theorie und Praxis einbeziehen, dann mag es
gelingen, daß sich weniger gewaltträchtige Strukturen herausbilden.
Im Brennpunkt der Zivilisationstheorie schließlich stehen nicht das Sicht-
und Hörbare, die Artefakte, sondern die Tiefenkultur des kollektiven Unter-
bewußten, die Voraussetzungen mithin, die für eine gegebene Zivilisation de-
finieren, was als normal und natürlich zu gelten hat. Die Konzentration auf
Kultur sollte nicht verwechselt werden mit dem "Idealismus", den ein Hegel
sich zu eigen machte und den ein Marx verwarf. Der Ausgangspunkt besteht
eher in der Armut an Instinkten im menschlichen Organismus, bei fortwäh-
rendem Bedürfnis zu handeln und angesichts der Unmöglichkeit, bei jedem
Handeln zu entscheiden, als wäre es das erste Mal. Es muß so etwas wie eine
Vorrede 13
Mein größter Dank aber gilt meiner Frau, Fumiko Nishimura, die mich über
Frieden und Konflikt mehr gelehrt hat als jede(r) andere.
Einem Menschen kann es gut oder schlecht gehen; Systeme von Akteuren können
natürlich nicht auf derartige Weise "fühlen". Dennoch kann es auch bei ihnen Zu-
stände des Wohl- oder Krank-Seins, des gut oder schlecht Funktionierens geben.
Aber wer entscheidet darüber und nach welchen Kriterien? Sollten wir hier dem
"Subjektivismus" zuneigen - die Betroffenen selbst entscheiden darüber, ob sie lei-
den oder nicht - oder eher dem "Objektivismus" - andere befinden, gemäß ihren
Kriterien, wann erstere leiden müßten? Ich neige zu einem ,sowohl-als-auch' und
zum Dialog - einzig möglicher Schluß aus einer yinlyang-Perspektive (keine Wonne
ohne Leiden, kein Leiden ohne Wonne). Oft gewinnen Menschen an Tiefe durch's
Krank-Sein und Gesellschaften mögen das Bewußtsein ihrer Stärken und Schwächen
einem heftigen Schock, einer Invasion z.B., verdanken. Nur, müssen wir dafür im-
mer einen so hohen Preis zahlen?
16 Friedensvisionenfür das 21. Jahrhundert
Wir kommen nun zu dem dritten Winkel des Dreiecks, zur Therapie, d.h.
zu bewußten Bemühungen des Selbst oder des/r Anderen, das System wieder
zurückzuführen in einen positiveren Zustand. Die Unterscheidung zwischen
negativer und positiver Gesundheit und zwischen negativem und positivem
Frieden steht in enger Beziehung zu der zwischen heilender und präventiver
Therapie. Alle vier stehen für Zustände des Wohlbefindens; es gibt keine
(oder wenig) Krankheit oder Gewalt. Die Systeme sind (fast) symptomfrei.
Im negativen Fall ist das jedoch eigentlich alles, was man darüber aussagen
kann. Das Gleichgewicht ist so instabil, daß selbst ein geringfügiger Anlaß
das System in einen schlechten Zustand versetzen kann. Im positiven Fall ist
das Gleichgewicht stabiler, d.h. es gibt mehr Möglichkeiten zur Selbsthei-
lung, auch wenn das System nicht ganz symptomfrei sein sollte. Die heilende
Therapie zielt auf den erstgenannten, die präventive auf den letztgenannten
Fall. Beide sind für die Gesundheit wie für den Frieden notwendig.
4 Einer der Gründe, weshalb wir das nicht tun, ist unser Versuch, Frieden hier nicht als
Maximal-, sondern eher als Minimalkonzept vorzustellen, als etwas, womit viele
Menschen einverstanden sind. Je mehr man hier spezifiziert, inhaltlich anreichert, je
weniger Konsens kann man erreichen.
5 Mit anderen Worten, die Struktur ist das Medium, welches die Gewalt übermittelt-
vergleichbar dem ,Feld' der Gravität, der Elektrizität oder des Magnetismus in der
Physik. Der Kolonialismus mag als ein Beispiel dienen: Es gab einen ursprünglichen
Input von Mega-Gewalt, der genutzt wurde, um die als Kolonialismus bekannte
Struktur aufzubauen, welche auch nach der Phase formeller Dekolonisation im gro-
ßen Ausmaß funktionstüchtig bleibt.
18 Friedensvisionenfür das 21. Jahrhundert
tur, als Gewalt zwischen Menschen, zwischen Gruppen von Menschen (Ge-
sellschaften), zwischen Gruppen von Gesellschaften (Bündnissen, Regionen).
Und im Inneren menschlicher Wesen stoßen wir auf eine indirekte, nicht in-
tendierte Gewalt, die ihrer Persönlichkeitsstruktur entstammt.
Die zwei Hauptformen der äußeren strukturellen Gewalt sind aus Politik
und Wirtschaft wohlbekannt: Es handelt sich um Repression und Ausbeu-
tung. Beide wirken auf Körper und Geist ein, sind aber nicht notwendiger-
weise beabsichtigt. Aus dem Blickwinkel des Opfers jedoch bietet diese Tat-
sache keinen Trost.
Hinter all dem aber steckt kulturelle Gewalt, die symbolisch ist und in Re-
ligion und Ideologie, in Sprache und Kunst, Wissenschaft und Recht, Medien
und Erziehung wirkt. Ihre Funktion ist einfach genug: Sie soll direkte und
strukturelle Gewalt legitimieren.
Es geht also um die Gewalt in Kultur, in Politik und Ökonomie sowie um
direkte Gewalt. Nun brauchen wir einen Begriff, der umfassender ist als Ge-
walt, umfassender auch als Frieden. Ein solcher Begriff ist der der Macht.
Diese kann sowohl für die Gewalt als auch für den Frieden genutzt werden.
Kulturelle Macht läßt die Menschen agieren, indem sie ihnen vorschreibt,
was richtig und was falsch ist; wirtschaftliche Macht arbeitet mit der
"Zuckerbrot-Methode" des quid pro quo, militärische Macht - wie jede
Zwangsgewalt - bedient sich der "Holzhammer"-Methode des "entweder -
oder!" und politische Macht fällt einfach Entscheidungen.
Es gibt also vier Arten von Macht bzw. Diskursen: kulturelle, ökonomi-
sche, militärische und politische. Bekannte Worte, die aber nicht durcheinan-
der gebracht werden sollten. Sie repräsentieren vier Bereiche der Macht und
vier Typen von Gewalt (die strukturelle hat politische und wirtschaftliche
Aspekte) und implizit vier Typen von Frieden. Bevor wir uns diese genauer
anschauen, noch einige Worte über die Beziehungen zwischen den vier Fel-
dern der Macht.
Sicher wirken sie alle gegenseitig aufeinander ein, so daß wir zwölf Pfeile
zeichnen können. Aber auch wenn dem so ist, hilft das wenig, weil so keine
Stellung bezogen wird. Wir müssen eine weitere Wahrheit hinzufügen. Es
gibt auch ein allgemeines Vertrauen in das Machtsystem: Die einzelnen Akte
direkter Gewalt entstammen den Strukturen der politischen Entscheidungen
und wirtschaftlichen Transaktionen, welch letztere sich gegenseitig bedingen.
Unter allem jedoch lauert die Kultur; sie legitimiert bestimmte Strukturen
und Taten und delegitimiert andere.
Die Annahme der "Realisten", daß nur die militärische Macht (wirklich)
zählt, ist die am wenigsten realistische. Aber der liberale Glaube an die richtige
politische Struktur und der marxistische Glaube an die richtige ökonomische
Struktur sind nicht besser. Diese sind alle wichtig, insbesondere aber die Kultur.
Aber einseitiger Kulturalismus reicht natürlich auch nicht. Meine Stellungnah-
me ist eklektisch, aber die Kausalität verläuft eher in der Richtung von Kultur
Friedensvisionenjür das 21. Jahrhundert 19
via Politik und Ökonomie zum Militär als umgekehrt: also von kultureller via
struktureller zu direkter Gewalt - als Hauptstoßrichtung.
Oben habe ich zwei Typen von Therapien oder Heilmitteln angedeutet, kura-
tive und präventive, die jeweils auf den negativen bzw. den positiven Frieden
abzielen. Und ich habe vier Typen (mit zwei Untertypen) von Gewalt identi-
fiziert. Das ergibt acht Kombinationsmöglichkeiten bzw. den "achtgliedrigen
Pfad" der Überschrift dieses Abschnitts. Jede Kombination, z.B. "kulturelle
Macht - positiver Frieden", stellt uns vor die Frage, was getan werden kann.
Der Leser/die Leserin wird einige Antworten in Tabelle 0.1 vorfinden und
kann dann hinzufügen und hinwegnehmen. Die sechs Stichworte um die Ta-
belle herum sind vielleicht wichtiger als ihr Inhalt: Sie sollen die Suche anre-
gen. Aber andere Einteilungen sind selbstverständlich auch möglich, z.B
durch Nutzung des Natur-Mensch-Gesellschaft-Welt-Zeit-Kultur-Schemas,
um Bedingungen friedenspolitischen HandeIns festzulegen.
Es gibt keinen bestimmten Ausgangspunkt für Friedensbemühungen und
erst recht keinen Endpunkt. Am besten wäre es, an allen acht Kästchen
gleichzeitig zu arbeiten. Besser einige Vorwärtsbewegungen in allen als ein
einziger (großer) Vorstoß in einem, in der Hoffnung, daß die anderen sich
dann von selbst erledigen werden oder wenigstens hinterher leichter zu hand-
haben sind. Die Erfahrung mit auf einen Faktor bauenden Friedenstheorien
ist im allgemeinen sehr negativ. Kant hoffte auf Republiken und Demokratie,
die Liberalen setzten auf Freihandel und Demokratie, die Marxisten auf so-
ziale Produktion und gelenkte Demokratie, die Mondialisten auf eine starke
UNO. Nichts davon hat zum Frieden geführt.
Die meisten Vorschläge richten sich an die Welt als ein System staatlich
verfaßter Länder, an das gewöhnlich so genannte zwischenstaatliche System.
Mit einigen Abwandlungen lassen sie sich jedoch auch auf zwischen ge-
schlechtliche oder auf Systeme von Generationen, Klassen und Nationen
(Ethnien) anwenden. Sie alle sind heute relevant.
Tabelle 0.1 erfordert selbstverständlich zahlreiche Kommentare. Men-
schen, die für den Weltfrieden arbeiten, sei es innerhalb staatlicher oder
nicht-staatlicher Organisationen, werden einiges wiedererkennen; nur wenige
werden sich in allen Punkten wiederfinden und wenn, dann nicht unbedingt
allen Argumenten zustimmen. Die Debatte ist von grundlegender Wichtig-
keit, wenn sich die Friedensbewegung ausweiten soll, um mindestens so ein-
flußreich zu werden wie zu ihrer Zeit die Anti-Sklaverei- und die Anti-Kolo-
nialismus-Bewegungen. Gegen den Krieg zu sein, ist eine moralisch über-
zeugende Haltung, aber die Fragen nach Alternativen zum Krieg und nach
20 Friedensvisionenjür das 21. Jahrhundert
Idealiter sollten alle Punkte gleichzeitig behandelt werden, um die hier ver-
tretene Synchronizität zu betonen. Aber eine derartige Kommunikation funk-
tioniert nicht besonders gut, so daß wir lieber Zeile für Zeile vorgehen, ohne
damit jedoch irgend eine Rangfolge zu verbinden.
Demokratie ist eine großartige Idee, die aber im Hinblick auf die Beziehun-
gen zwischen Staaten ziemlich mißverstanden wird. Wenn die Demokratie in
einem Land gut funktioniert, wird sie im Prinzip eine relativ zufriedene Be-
völkerung schaffen, deren Wünsche im allgemeinen und mit der Zeit im
Rahmen des Machbaren erfüllt werden. Im Prinzip sollte das zu einem
"Friedensüberschuß" im Land führen, wobei die Demokratie als gewaltlose
Friedensvisionenjür das 21. Jahrhundert 21
Ich vertrete hier nicht den Standpunkt, man müsse das Militär abzuschaffen,
sondern ich bin der Meinung, daß man ihm neue Aufgaben geben muß. Diese
Institution hat in der Vergangenheit sehr schlechte Angewohnheiten gehabt,
wie z.B. die, andere Länder und Nationen, auch bestimmte Klassen, anzu-
greifen, zu töten und zu verwüsten in inneren und äußeren Kriegen, und zwar
zumeist auf Geheiß der herrschenden Eliten. Das Militär hat aber auch Tu-
genden bewiesen: gute Organisation, Mut, Opferbereitschaft. Die schlechten
Gewohnheiten müssen verschwinden; nicht unbedingt das Militär und erst
recht nicht seine Tugenden.
Es geht darum, dem Militär neue Aufgaben zu geben, eine aggressive äußere
Kriegführung zu ersetzen durch eine defensive Verteidigung mit defensiven
Mitteln (konventionelle militärische, para-militärische und nicht-militärische
Verteidigung für den Nahbereich). Reine Verteidigung provoziert niemanden
und erzeugt keine Furcht, macht aber gleichzeitig deutlich, daß man gegen
Angriffe starken Widerstand leisten wird.
Friedenstruppen können zur Vermeidung von Aggressionen eingesetzt
werden, auch da, wo es noch nicht zu offenen Gewalthandlungen gekommen
ist (wo es aber gute Gründe gibt anzunehmen, daß etwas passieren könnte).
Es wäre auch möglich, sie zur Prävention in den (etwa 30) kleinen Ländern
ohne militärische Streitkräfte einzusetzen, um der Möglichkeit vorzubeugen,
daß irgendein ,Big Brother' in Krisenzeiten beansprucht, "Beschützer" zu
sein.
Aber das genügt nicht. Es muß eine weitere Entwicklung in Richtung Ge-
waltlosigkeit geben, durch die Waffen delegitimiert, konventionelle und pa-
ramilitärische Komponenten zugunsten gewaltloser Fertigkeiten reduziert
und zugleich nichtmilitärische Verteidigungsstrukturen aufgebaut werden,
und die in Krisengebieten auf die Karte ziviler Friedenssicherung und inter-
nationaler Friedensbrigaden setzt. Wir stehen an der Schwelle solch wichti-
Friedensvisionenfür das 21. Jahrhundert 23
ger Bemühungen, die noch sehr viel weiter entwickelt werden müssen. Das
Militär möge sich beteiligen!
Es gibt jedoch bei all dem einen negativen Aspekt. Das langfristige Ziel ist
die Abschaffung des Krieges als einer Institution, ein Ziel, das, wie die Ab-
schaffung der Institutionen Sklaverei und Kolonialismus, vollkommen rea-
listisch, aber anspruchsvoll, schwierig - und absolut notwendig ist. Es wird
natürlich weiterhin Gewalt geben, teilweise auch noch kollektiv organisiert
als Krieg. Die Gewalt wird aber nicht mehr institutionalisiert und internali-
siert und auch nicht mehr legitim sein.
Was läßt den Krieg fortbestehen? Viele Faktoren, von denen drei hier ge-
nannt werden sollen: das Patriarchat (Herrschaft des männlichen Geschlechts),
das Staatssystem mit seinem Gewaltmonopol und das Superstaaten- oder Su-
permächte-System mit dem ultimativen Gewaltmonopol der Hegemonial-
mächte. Männer neigen viel stärker als Frauen zur Gewalt, und diejenigen,
die im Besitz von Waffen sind, neigen dazu, getreu der alten Maxime zu den-
ken und zu handeln, nach der die Welt für denjenigen, der einen Hammer
hält, wie ein Nagel aussieht. Es lohnt der Hinweis, daß das nicht unbedingt
daran liegt, daß der Betreffende gewalttätig ist, sondern schlicht daran, daß er
die Ausübung militärischer Macht sowohl als Beruf wie als Monopol betreibt
und einfach in der Welt eine Rolle spielen möchte.
Das Patriarchat bekämpfen, bedeutet, patriarchalische Kulturen und Struk-
turen zu bekämpfen und dadurch zu einer ausgewogeneren Aufteilung der
Macht zwischen den Geschlechtern zu gelangen. Es besteht dabei natürlich
die Gefahr, daß Frauen im Verlauf des Kampfes einige der männlichen
Wertvorstellungen übernehmen, gegen die sie eigentlich ankämpfen.
Der Kampf gegen die Neigung von Staaten, bei militärischer Gewalt ihre
Zuflucht zu suchen, läuft über Alternativen, die zwingender sind. Und der
Kampf gegen hegemoniale Tendenzen in der Weltgesellschaft der Gesell-
schaften läuft über die Demokratisierung eben dieser Gesellschaft, indem
Bündnisse nicht-hegemonialer Länder geschaffen werden, und zwar inner-
halb von und über deren "Interessensphären" hinaus, ebenso wie über Ent-
scheidungsprozesse auf der Grundlage des Prinzips ,ein Staat/eine Stimme'.
Wir werden im 4. Kapitel von Teil I auf diesen Punkt zurückkommen.
Das Problem liegt hier nicht nur in der wirtschaftlichen Praxis, sondern auch
in der ökonomischen Theorie, die die Nebeneffekte von ökonomischen Ak-
tivitäten, die Externalitäten, sorgsam außer Acht läßt. Manche davon sind
positiv, wie die Herausforderung, die aus der Beschäftigung mit komplexen
Problemen entsteht, für die es keine sofortigen, routinemäßigen Lösungen
24 Friedensvisionenjür das 21. Jahrhundert
gibt. Und manche sind negativ, wie der ökologische Niedergang, ganz zu
schweigen von der Erniedrigung der Menschen. Darüber wird in der öko-
nomischen Theorie nicht gehandelt, und wenn doch, dann nur in Form von
Neben- oder nachträglichen Gedanken. Ökonomen konzentrieren sich auf
Quantitäten und Preise von Produkten, Gütern und Dienstleistungen, die auf
dem Markt angeboten werden und reflektieren nicht darüber, ob diese viel-
leicht ,Ungüter' und ,schlechte Dienste' sein könnten. Solche Variablen
könnte man Internalitäten nennen, da sie innerhalb des Paradigmas aufge-
arbeitet werden. Ein Beispiel sind die "Tauschbedingungen" (terms of
exchange), die Menge also, die von einem Produkt benötigt wird, um im
Austausch eine konstante Menge eines anderen Produkts zu erhalten, z.B. die
Menge Öl, für die man einen Traktor erhält. Ein anderer Ansatz bestünde
darin, die benötigten Arbeitsstunden zu vergleichen.
Ausbeutung bedeutet, daß einer der Beteiligten aus dem Handel viel mehr
Gewinn zieht als der andere, gemessen an der Summe der Internalitäten und
der Externalitäten. Die Bedingungen des Tausches können schlecht sein und
sich noch verschlechtern; dazu bekommt einer der Beteiligten die ganze Her-
ausforderung, während dem anderen die Routinearbeiten überlassen werden,
der doch schon die ökologische und menschliche Degradierung bei diesem
Handel tragen muß. Da dies eine ziemlich angemessene Beschreibung des
Handels zwischen den reichen (nicht alIe im Norden liegenden) und den ar-
men (nicht alIe im Süden liegenden) Ländern der Welt von heute ist, haben
wir es hier mit einem SchlüsselfalI strukturelIer Gewalt zu tun. Diese Situati-
on führt häufig zu direkter Gewalt, die die Strukturen verändern oder erhal-
ten solI, und die durch die kultureIle Gewalt der Mainstream-Theorie massiv
verteidigt wird. Ein Gewaltdreieck großen Ausmaßes.
Ein Ausweg wäre, weniger Handel zu treiben und sich mehr auf die eige-
nen Ressourcen (Faktoren) zu verlassen. Die positiven Externalitäten bleiben
dann im Lande; die negativen erträgt man selbst und schiebt sie nicht mehr
einfach auf andere ab. Die Hoffnung dabei wäre, daß das Eigeninteresse dann
zu verb\!sserten ökonomischen Handlungsweisen führt. Wenn dies ,Selbstän-
digkeit l' ist, dann bedeutet ,Selbständigkeit Ir, den Vorgang auf den Aus-
tausch mit anderen Ländern auszudehnen. Der entscheidende Punkt ist Sensi-
bilität gegenüber den Externalitäten. Die Kurzformel wäre, sie zu teilen. In
der Praxis bedeutet das, sich gegenseitig positive Externalitäten zu ermögli-
chen und bei der Reduzierung der negativen zusammenzuarbeiten. 7
Warum töten Menschen? Zum Teil sicher, weil sie so erzogen sind - zwar
nicht direkt zum Töten, aber doch dazu, das Töten unter bestimmten Bedin-
gungen als legitim zu betrachten. Wir kommen also zur Kultur, diesem großen
Rechtfertiger der Gewalt, aber auch des Friedens. Und wir stellen die Frage, in
welchen Manifestationen der Kultur wir die Hauptträger der Gewalt finden.
Die einfache Antwort wäre: "in Religion und Ideologie", da Menschen be-
kanntlich im Namen beider töten. Nicht alle deren Formen sind jedoch ge-
walttätig, einige plädieren sogar heftig für Gewaltlosigkeit.
Die von mir bevorzugte Formulierung lautet: Es gibt gewöhnlich harte
und weiche Varianten einer Religion und einer Ideologie, wobei die harten
sich auf irgendein abstraktes, transzendentes Ziel und die weichen auf Ein-
fühlungsvermögen oder gar Mitgefühl stützen. Beispiele für ersteres wäre der
Triumph eines transzendenten Gottes, z.B. der okzidentalen Version einer
männlichen Gottheit "im Himmel"; oder der endgültige Sieg einer politi-
schen Utopie auf der ganzen Welt (Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie,
Faschismus); oder die ,Größe' der Nation. Und Beispiele für weichere oder
sanftere Ziele wären ein immanenter Gott, etwa als das Göttliche in jedem
10 Vgl. Johan Galtung: Methodologie und Ideologie. Aufsätze zur Methodologie. Bd. I,
Frankfurt/M. 1978, Kap. 2.
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 33
nicht das Endprodukt, sondern nur der Beginn eines komplexen Prozesses,
der viel mehr Schwierigkeiten enthält als empirische Studien als solche.
DATEN
Empirismus Kritik
Die Welt wird durch Daten in das Beobachtete und das Nichtbeobachtete
aufgeteilt; durch die Theorie in das Vor(her)gesehene (d.h. "durch die Theo-
rie Begründete", was ein Element der Vorhersage beinhalten kann oder nicht)
und das Unvor(her)gesehene; und durch Werte in das Erwünschte und das
Abgelehnte. Die Logik der Empirie besteht darin, Theorien so zurechtzustut-
zen, daß das Beobachtete vorhergesehen und das Unvorhergesehene nicht
beobachtet wird. Die Logik der Kritik besteht darin, die Wirklichkeit so um-
zuformen, daß die Zukunft Daten produzieren wird, in deren Fall das Beob-
achtete erwünscht ist und das Abgelehnte nicht beobachtet wird. Die Logik
des Konstruktivismus besteht darin, neue Theorien zu konstruieren, die den
Wertmaßstäben derart angepaßt sind, daß das Erwünschte das Vorher ge sehe-
ne ist und das Abgelehnte das Unvorhergesehene. Daran ist nichts neu; Medi-
ziner, Architekten und Ingenieure handeln schon seit Generationen, seit Jahr-
hunderten so.
Wenn das Wahrgenommene vorhergesehen und erwünscht ist, das nicht
Wahrgenommene nicht vorhergesehen und abgelehnt wird, dann leben wir in
36 Friedenstheorie
der besten aller Welten. Die zweitbeste wäre eine Welt, in der das Erwünsch-
te zwar nicht beobachtet wird, aber durch einen einigermaßen automatisch
ablaufenden Prozess vorhergesehen wird, wie etwa: Auf längere Sicht "sind
wir zum Frieden verurteilt". Beides ist unwahrscheinlich.
Die weiteren sechs Kombinationen besitzen eine eingebaute Dissonanz,
wobei der Empiriker versucht, die Dissonanzen zwischen vorhergesehen/
nichtbeobachtet und unvorhergesehenlbeobachtet aufzulösen, und der Kriti-
ker, auf die wahrgenommen/abgelehnt- und nichtwahrgenommen/erwünscht-
Dissonanz hinzuweisen. Der Konstruktivist versucht, die drei einander anzu-
passen, um eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Der Ausgangspunkt sind die
erwünschtlunvorhergesehen- oder die abgelehntlvorhergesehen-Dissonanz;
das Ziel ist die Schaffung neuer Theorien, die das Erwünschte vorhersehbar
machen.
Früher oder später aber müssen die Theorien an der Wirklichkeit überprüft
werden; das Vorhergesehene muß auch wahrgenommen werden. Es ist eine
Sache, die UN-Friedenstruppen (UNPKF) als mit Handwaffen - wesentlich
als Symbolen der Autorität - ausgerüstet vorherzusehen bzw. sich vorzustel-
len, wodurch man zweierlei Erwünschtes, Gewaltfreiheit und Friedenserhalt,
verbunden hätte; etwas ganz anderes ist die Frage, ob das auch funktioniert,
also in der Realität beobachtet werden kann.
Nützlich ist hier die Unterscheidung zwischen empirischer, d.h. schon in
der Vergangenheit und/oder Gegenwart gegebener Realität, potentieller Rea-
lität, die in der Zukunft vorhanden sein kann, und Irrealität, die nie möglich
sein wird. Die an gewandte Wissenschaft erforscht die empirische Realität um
der Vorstellungen von einer potentiellen und mutmaßlich besseren Wirklich-
keit willen. Die kognitive Brücke ist eine Theorie, die offen genug ist, das
Nicht-Wahrgenommene vorherzusehen, und kein geschlossenes System dar-
stellt, das sich nur mit der schon wahrgenommenen empirischen Wirklichkeit
beschäftigt. Getragen wird die Brücke von Werten, die steile Gefälle zwi-
schen dem Erwünschten und dem Abgelehnten definieren und ständig fragen
lassen: "Aber könnte es nicht in Zukunft funktionieren?". Eine sinnlose Fra-
ge in einer Welt, von der man annimmt, sie sei unveränderbar oder würde
nach unveränderlichen Gesetzen funktionieren; in diesem Sinne haben wir
gelernt, über die physikalische Welt zu denken, nicht aber über biologische,
soziale und persönliche Welten.
Die endgültige Prüfung findet sich nur in der Logik der Empirie, der ge-
mäß die Daten das letzte Wort haben. Da keine Realität aber endgültig ist,
sondern immer wieder neu geschaffen wird (eher eine buddhistisch-humani-
stische als eine christliche und von Physikern vertretene Vorstellungt, gibt
12 Für eine Untersuchung des Unterschiedes zwischen einer christlich und einer bud-
dhistisch inspirierten Epistemologie s. Johan Galtung: "Back to the Origins: on
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 37
es immer einen neuen Ansatz, eine neue Wirklichkeit, neue Daten. Ein im-
merwährender Prozeß. Die Negation dieses Prozesses, bei der man davon
ausgeht, daß das erwünschte Potential nie empirisch sein kann, z.B. "weil
Gewalt in der Natur des Menschen liegt", oder daß das erwünschte Potential
per definitionem schon Wirklichkeit geworden ist, "weil wir revolutionär
sind, weil es bei uns eine Revolution gegeben hat", nennt man Dogmatismus.
Dieser in einer Spiral bewegung verlaufende Prozeß kann an irgendeinem
beliebigen Punkt des Dreiecks gestartet werden und in jede beliebige Richtung
arbeiten. Ein häufiger Ausgangspunkt ist aber die Dissonanz zwischen dem
Wahrgenommenen bzw. dem Vorhergesehenen und dem Abgelehnten. Etwas
Empirisches ist vielleicht gut erfaßt und theoretisch "erklärt". Es kann jedoch-
einfach ausgedrückt - "schlecht" sein, wie z.B. Krieg. Hier muß die Phantasie
einsetzen. Auch wenn man das Empirische erfassen will, braucht man dieses
Hilfsmittel. Sich mit dem Nicht-Existenten oder Noch-nicht-Existenten zu be-
schäftigen, verlangt jedoch noch mehr, da es dafür keine empirische Wirk-
lichkeit gibt, von der man angeregt werden und an der man sich festhalten
kann.
In diesem Fall wird man häufig versuchen, irgendeine winzig kleine em-
pirische Wirklichkeit in entfernten Winkeln der Gesellschaft, der Geschichte
oder der Geographie zu finden und die Bedingungen ihres Daseins zu erfor-
schen (die Bedingungen für ihre Nicht-Existenz einbegriffen, falls sie ver-
schwunden sein sollte) und dann darangehen zu verallgemeinern." Ein ande-
rer Ansatz, der mehr verspricht, ist die Untersuchung einer "ausgewachse-
nen" empirischen Wirklichkeit, die der potentiellen Wirklichkeit, die man her-
beiführen möchte, isomorph, strukturell vergleichbar ist (wie die Hypothe-
senbildung bezüglich des Friedens, die vom gesunden Leben ausgeht).
14 Benannt nach Sir Robert Giften (1837-1910); obgleich er eigentlich über arme Men-
schen arbeitete, die Brot kaufen, wenn der Brotpreis nach oben geht (sie kauften
mehr davon, weil sie sich nämlich keine Luxusgüter leisten konnten), und nicht über
reiche Leute, die sich Güter zur Befriedigung ihres Snob-Geschmacks leisten.
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 39
meIn, bearbeiten und analysieren), spielen Werte hier eine besondere, wenn
nicht gar einzigartige Rolle. Wie oben erwähnt, können Vergleiche mit der
Sozialarbeit und der Kriminologie gezogen werden. Hier einige Thesen zur
Rolle der Werte:
Wertethese Nr. 2: Der zentrale Wert, Frieden, muß klar, aber nicht zu klar
definiert werden.
Wenn man davon ausgeht, daß der Wert "Frieden" für die Friedensforschung
maßgeblich ist, und zwar für deren empirischen, deren kritischen und auch de-
ren konstruktiven Zweig, dann muß der Terminus definiert werden. Man muß
viel Arbeit darauf verwenden, den Terminus "Frieden" hinreichend abzuklären,
indem man Präzisierungen vornimmt und Indikatoren benennt, so daß eine ge-
gebene "Situation" (der entsprechende medizinische Terminus wäre "Fall", ca-
sus) in Bezug auf ihre Friedlosigkeit und Friedlichkeit klassifiziert und verstan-
den werden kann. Wir müssen uns im klaren sein, worüber wir sprechen und
nachdenken - und in der Lage sein, entsprechend handeln zu können.
Ein Wert ist nach der obigen Definition ein Maßstab, der die jeweils mög-
lichen Situationen in erwünschte und abzulehnende aufteilt, dabei aber auch
eine dritte Kategorie des IndifferentenfUnentschiedenen in Betracht zieht.
Definieren heißt auch verfeinern, über verschiedene Abstufungen sprechen
und ein- oder mehrdimensionale Typologien einführen. Ich werde dies alles
weiter unten tun, hoffentlich ohne dabei den roten Faden zu verlieren.
40 Friedenstheorie
15 Natürlich soll hier nicht behauptet werden, daß die Rede das Denken eindeutig de-
terminiert. Jeder Forscher ist - in Bezug auf den Frieden wie auf andere Dinge - dar-
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 41
ist abzulehnen, und sie ist auch in den Naturwissenschaften im Begriff aus-
zusterben. Uns geht es hier um Objektivität als auf expliziten Prämissen ba-
sierender intersubjektiver Dialog, anders gesagt, um das klare Bewußtsein
der je eigenen Voraussetzungen.
Theoriethese Nr. 1: Gehe von Dichotomien über zu YinlYang und von Vier-
felder- Tabellen zur doppelten Dialektik.
Nehmen wir einmal Frieden versus Gewalt. Selbstverständlich kann man je-
weils eines dieser beiden Worte als Negation des anderen definieren und
damit einen logischen Diskurs konstruieren. Aber die taoistische Epistemo-
logie vermittelt eine bessere Einsicht, weil sie auf die Gewalt im Frieden hin-
weist (z.B. durch zu große Passivität) und auf den Frieden in der Gewalt
(z.B. durch Aktivität). Yin ist in Yang enthalten und Yang in Yin; Yang ist
im Yin des Yang enthalten und Yin im Yang des Yin, usw., ad infinitum.
Man sollte ebenfalls, und das ist eher eine hinduistische/buddhistische/jaini-
stische Vorstellung, die Möglichkeiten des Sowohl-als-auch und des Weder-
noch vor Augen haben. Das strenge aristotelische tertium non datur ist eine
schlechte Anleitung bei der Konstruktion von Wirklichkeit, außer vielleicht
als logisches Spiel. Die Mann-Frau-Unterscheidung ist brauchbar, begrenzt
aber unsere Zurkenntnisnahme des breiten Spektrums der aktuellen (und erst
recht der potentiellen) Geschlechterrealität.
Kurz gesagt: Dichotomien sollten mit Vorsicht behandelt werden. Trotz-
dem sind sie sehr nützliche analytische Hilfsmittel, auch wenn sie weder
vollständig (das Weder-noch wird nicht berücksichtigt) noch ausschließend
(das Sowohl-als-auch wird nicht berücksichtigt, auch in der subtileren Yin-
Yang-Bedeutung nicht), sind. Das gleiche gilt für die Vierfelder-Tabelle oder
die doppelte Dichotomie, die es uns erlaubt, eine Dichotomie im Lichte einer
anderen zu sehen (z.B. Frieden/Gewalt im Lichte von FraulMann).
44 Friedenstheorie
Die Dichotomie als solche ist eine blutleere Angelegenheit; es gibt kein
Fortschreiten. Die manichäische Dichotomie, die im okzidentalen Denken so
häufig vorkommt, empfängt ihr Leben daraus, daß jemand gut ist, ein anderer
böse, und beide miteinander kämpfen, wobei der Ausgang des Kampfes nicht
von vornherein gesichert ist. Es gibt ein Gefälle. Im Idealfall wird das Gute
siegen, aber die bösen Kräfte können auch übermächtig sein; in beiden Fällen
endet die Dichotomie als Monotornie (die der Monotonie nahe ist, einer Art
geistiger Lobotomie). Zweifellos gibt es in der Friedensforschung, wie in der
Medizin zwischen Krankheit und Gesundheit, ein steiles Gefälle zwischen
Gewalt und Frieden, dennoch sollte sie für das YinIYang-Wesen dieser Wi-
dersprüche offen sein.
Der YinIYang-Gegensatz oder -Widerspruch besitzt mehr Leben. Yin und
Yang sind Gegensätze für einander, aber im komplementären Sinne, jedes ist im
anderen, nicht im Sinne eines Siegens über den anderen. Wenn eine Ausgewo-
genheit vorhanden ist, nicht einer sich gegen den anderen durchsetzt, dann ent-
steht ein Gleichgewichtszustand. Und dennoch ist dieses Gleichgewicht nicht
stabil. Der nachhängende Aspekt wird aufholen, bis er anfängt zu führen und
der andere nachhängt, dieser dann wieder aufholen, bis er anfängt zu führen, usw.
Das Resultat ist ein wogender Prozeß, bei dem zwischen den zwei Wende-
punkten ein instabiles Gleichgewicht herrscht. Anders als der lineare ma-
nichäische Prozeß hat der zyklische oder spiralförmige YinIYang-Prozeß kei-
nen Endpunkt, im Sinne eines endgültigen Sieges des Guten über das Böse
(oder umgekehrt). Die Perspektive ist reicher, aber fürs Handeln hinderlich,
da sie dem Yinl Yang-Prozeß freien Raum gewährt. Dagegen wird das Han-
deln vom simplizistischen okzidentalen Denken, das in die Auseinanderset-
zung zwischen Gut und Böse eingreift, begünstigt, allerdings mit dem Risiko,
größere Fehler zu machen.
Journalisten fragen immer wieder: "Wird irgendwann endlich Frieden auf
der Welt herrschen?" Man kann leicht erkennen, daß die Frage unbewußt von
der manichäischen Dichotomie zwischen Gewalt (oder genauer: Krieg) und
Frieden inspiriert ist: Wird das eine schließlich über das andere siegen? Oder
ähnlich: Wird es im Jahr 2000 Gesundheit geben? Natürlich nicht. Es wird
weder im Jahr 2000 noch irgendwann sonst totalen Frieden oder totale Ge-
sundheit geben. Was es geben könnte, wäre ein besseres Gleichgewicht zwi-
schen Frieden und Gewalt, d.h. mehr und besserer Frieden und weniger und
"bessere" (weniger bösartige) Gewalt, also eine Verbesserung der Lage der
Menschen. Und das gleiche gilt für die Gesundheit: Einige Krankheiten wer-
den vielleicht ausgerottet sein, neue könnten sich ausbilden; gerade so, wie
einige Formen von Gewalt ausgerottet und andere neu hinzugekommen sein
dürften. Die Friedensforschung hat die gleiche Aufgabe wie die Gesundheits-
forschung: keinen unrealistischen totalen Sieg des Guten über das Böse her-
beizuführen, aber bessere Bedingungen zu schaffen, weniger Leiden, sei die-
ses nun durch Gewalt oder durch Krankheit bedingt.
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 45
weicht, sie ist "sprunghaft". Dieser Sprung stellt sich als ein Ereignis dar.
Diese Variable ist eine diskontinuierliche Funktion der Zeit.
Es geht also um Ereignisse, Prozesse (im Sinne einer kontinuierlichen Funk-
tion der Zeit) und Permanenzen. Alle drei beziehen sich auf menschliche und
gesellschaftliche Zeit; in der Annales- bzw. Braudel- Tradition der neueren
französischen Historiographie werden sie histoire evenementielle, histoire
conjoncturelle und la longue duree genannt. All das wird aber interessanter,
wenn wir diese drei Modi temporaler Phänomene kombinieren; gerade dies
müssen wir tun, wollen wir eine Wirklichkeit (bzw. über diese) reflektieren,
in der sich alle Bestandteile bewegen, aber auf jeweils verschiedene Art und
Weise.
Es wird alles lebendiger, wenn wir uns mit Phänomenen beschäftigen, die
in verschiedenen Modi fortschreiten. Ereignisse können stark auf Prozesse
und Permanenzen einwirken. Wenn sie zum richtigen Zeitpunkt beginnen,
können sie prozyklisch und antizyklisch sein und die Prozesse beschleunigen
oder verlangsamen. Sie können auf die Permanenzen sogar noch stärker ein-
wirken, wie der sprichwörtliche Inuit, der einen Eisberg in instabilem Gleich-
gewicht in den Ozean beförderte.
Am interessantesten ist der Einfluß, den ein Prozeß auf eine Permanenz
ausüben kann. Wenn sich etwas nach und nach (kontinuierlich) verändert und
sich etwas anderes überhaupt nicht verändert und die zwei verbunden sind,
muß früher oder später etwas geschehen. Eines von beiden muß weichen.
Eine weichende Permanenz nennt man einen Bruch (frz. rupture). Ein
Beispiel ist der sprichwörtliche Schnee, der sich auf dem Zweig eines Kirsch-
baumes sammelt. Normalerweise fällt der Schnee wegen der gerundeten, rut-
schigen Oberfläche des Zweiges herunter. Wenn der Schnee aber naß ist, ist
er auch klebrig und haftet auf dem Zweig, dieser neigt sich und bietet dem
Schnee Gelegenheit herabzugleiten; der Zweig kann aber auch, wenn er zu
starr ist, brechen. Hier beginnen die Kriegskünste.
Das Bild kann auch als Illustration dessen dienen, wie eine Permanenz auf
einen Prozeß einwirkt: indem sie nämlich dessen Linearität verneint. Die li-
neare Akkumulation (von Schnee auf dem Zweig) erreicht ein Maximum (je
nach vorhandenem Platz), sie wird durchkreuzt und der Schnee fällt herunter,
schmilzt, verdunstet, kehrt wieder, um einen zweiten, dritten, vierten Versuch
zu machen. Ein lineares Phänomen wird zyklisch, d.h. es wird gedämpft; das
ist wichtig, da eine finite Welt für unbegrenzte Linearität keinen Platz haben
kann. Entweder Bruch oder Zyklizität oder beides.
Das Bruch-Prinzip, auf das oben hingewiesen wurde, ist auch aus der He-
gelschen Dialektik bekannt als Prinzip des Übergangs von der Quantität (Ak-
kumulation) zur Qualität (der Sprung, das Ereignis, der Bruch). Deshalb soll-
ten Friedensbewegungen z.B. nie aufgeben; der Bruch einiger Gewaltstruk-
turen wird früher oder später kommen. Andererseits müssen sie sich auf ei-
nen längeren Zeitraum, la longue duree, gefaßt machen, wie die Tiefenpolitik
ganz allgemein.
Wie wirken sich Prozesse und Permanenzen auf Ereignisse aus? Perma-
nenzen vermindern deren Wirkung. Führe eine Lehrplanreform durch oder
erhöhe die Lehrergehälter in einem Erziehungssystem, das von einem sich
nicht verändernden, stark antipädagogischen Mediensystem umgeben ist, und
paß auf, was passiert. Es bestehen gute Aussichten, daß die Permanenzen das
Ereignis verhindern - eine Interpretation des Mechanismus, der dem zyni-
schen, jedoch sehr realistischen französischen plus ra change, plus c' est la
meme chose zugrundeliegt.
Prozesse können sich auf Ereignisse jedoch anders auswirken. Sie können,
von hinten kommend sozusagen, seine Auswirkungen steigern, sie können
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 49
diese, von vorne gegensteuernd, dämpfen - gerade so, wie Ereignisse auf
Prozesse einwirken. Dieses Phänomen ist Politikern als das Prinzip der reifen
Zeit oder des richtigen timing wohlbekannt, d.h. man läßt das Ereignis auf
dem richtigen Prozeß sozusagen mitschwimmen. Oder der Prozeß läuft mit
etwas Glück von ganz allein. So oder so können Synergieeffekte dann be-
wußt herbeigeführt werden.
Theoriethese Nr. 4: Ziehe poly- und pantheistische Theorien den mono- und
atheistischen Theorien vor.
In jedem Theorietypus wird etwas, das explicandum, durch etwas anderes,
das explicans, erklärt. Die Beziehung ist eine logische und wird durch
Schlußfolgerungen hergestellt. Wie begründen wir den Satz: "Sokrates ist
sterblich"? Weil "alle Menschen sterblich sind" (Obersatz) und "Sokrates ein
Mensch ist" (Untersatz), ist Sokrates sterblich (der Syllogismus im Modus
barbara). Wie erklären wir den Frieden unter den Nordischen Ländern? Mit
dem "hohen Niveau der gerechten Symbiose" und dem "hohen Niveau der
Konfliktlösungsmechanismen"; beides sind Friedensmechanismen, und die
Nordischen Länder verfügen über sie.
Das explicans besitzt eine gewisse erklärerische Kraft. Im Kern des expli-
cans finden wir Axiome, Glaubensgrundsätze, die keiner weiteren Erklärung
bedürfen. Im allgemeinen sprechen wir hier von logischen Verkettungen, bei
denen das explicans eines bestimmten Kontextes das explicandum eines an-
50 Friedenstheorie
deren Kontextes ist. Ein Axiom hat kein explicans, sondern dient als seine
eigene Rechtfertigung. Es ist eher Selbst- als sich-selbst-erklärend.
Das aber verleiht Axiomen gottähnliche Qualitäten. Sie sind eigenständig
(in sich geschlossen), sind ihre eigene Erklärung, wie Gott seine/ihre eigene
Ursache ist. Sie sind allwissend in der Bedeutung, daß sie alles Wissen ent-
halten, auch wenn dieses nur teilweise enthüllt wird. Sie sind allmächtig und
allgegenwärtig, sind in der Lage, überall alles zu erklären. Sie strahlen Sinn
aus. Wie ein transzendenter Gott von der Spitze der Menschheit, agieren die
Axiome von der Spitze der axiomatischen Pyramide, dem deduktiven Sy-
stem, aus. Auch der bescheidenste kleine empirische Fund bekommt von den
Axiomen eine gewisse Bedeutung mitgeteilt und hat seinen Platz im großen
Plan, so wie jeder kleine Mensch im Plan Gottes seinen Platz hat.
Hinter jeder Theorie steckt ein Akt des Glaubens, aus einem einfachen
Grund. Auch wenn das explicandum logisch aus dem explicans folgt und
daraus, buchstäblich, einen Grund für seine empirische Existenz ableitet, ein
Zertifikat sozusagen, das es ihm gestattet, auf der Welt zu sein, muß das Ge-
genteil nicht unbedingt auch gelten. Aus "P impliziert Q" folgt nicht "Q
impliziert P" (das Umgekehrte), sondern nur "Nicht-Q impliziert Nicht-P"
(das Kontra-Positive). Fruchtbarkeit und Brauchbarkeit als explicans ergeben
noch keinen Existenz- oder Wahrheitsbeweis; das gilt für Axiome wie für
Gott (Götter).
Alternative Erklärungen kann es immer geben; deshalb ist dieser Text auch
"Friedensstudien" und nicht "Friedensstudie" überschrieben. Das spricht eher
für ein polytheistisches als für ein monotheistisches Konzept der Theoriebil-
dung in unserem Fach, in dem erklärende Kraft bzw. Aufklärung aus einer
Vielzahl von Quellen, nicht nur aus einer einzigen, gewonnen werden sollten.
Es sind viele Modelle denkbar: einen Gott/eine Theorie für dieses, eine(n)
für jenes, oder gar mehrere Götter/Theorien für das gleiche Phänomen. Aber
hieße das nicht, die Dinge übererklären? Und wenn schon. Wenn die Nordi-
sche Friedensgemeinschaft sowohl vermittels einer gerechten Symbiose (wenn
man diese "Interdependenz" nennt, sollte man zumindest "horizontale" voran-
stellen) wie vermittels einer konfliktverarbeitenden Maschinerie erklärt wer-
den kann, dann hebt man damit zwei Faktoren hervor, die verschiedene, sich
aber wenigstens teilweise überlappende Aspekte des Systems erklären kön-
nen. Oder zwei verschiedene Erklärungen ein und derselben Sache geben
können. Eine Theorie schließt eine andere nicht aus, außer in der Vorstellung
des Monotheisten.
Was würde dann dem Pantheismus und dem Atheismus entsprechen? Der
Pantheismus ist alles durchdringend: Gott ist nicht über allem, sondern im-
manent, in allem. Übersetzt: Der Sinn liegt im explicandum selbst, das, was
erklärt werden soll, ist seine eigene Erklärung - Sinn nicht von oben herlei-
tend, sondern aus sich selbst beziehend. Das läßt sich illustrieren durch das
buddhistische Rad, das Einsichten verbindet, keiner den Vorrang gibt und
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 51
keine vernachlässigt: Der Sinn liegt in dem Feld, das durch alle Einsichten
gewoben wird. Das entsprechende Symbol des monotheistischen Erklärungs-
modells wäre die Pyramide oder das Dreieck.
Der Atheismus verkündet, daß es keinen Gott gibt. Übersetzt: Es gibt kei-
nen Sinn. Alle Einsichten sind verstreute, nur für sich bestehende Funde, die
in keinem inneren Zusammenhang stehen. Es gibt keine Erklärung, nichts,
das erklärt werden müßte. In den Sozialwissenschaften würde das dem "Bar-
fuß-Empirismus" entsprechen; Hol' dir deine Funde aus dem Computer, füh-
re sie einzeln auf, aber klassifiziere sie nicht einmal, da das bereits ein unzu-
lässiges Licht verbreitet.
Man sollte die bei den extremen dieser vier Standpunkte ablehnen. Die
Vorstellung, es gäbe eine Theorie, die Theorie, ist eine offene Einladung zu
kultureller Gewalt; ist eine Mißachtung aller anderen Wahrheiten, ein Ver-
such, die Wirklichkeit in eine einzige Wahrheit hineinzuzwängen und alle
anderen als "nicht-westlich", "nicht-christlich", "nicht-marxistisch" usw. in
einen Topf zu werfen. Das führt fast zwangsläufig zu einer Schule, zu der
Schule, deren Leiter ein Prophet ist. Da diese Schule oder Kirche den einzig
wahren Gott, einzigartig und weltumfassend, repräsentiert, ist strukturelle
Gewalt in einer solchen Organisation unvermeidlich. Monoprophetismus ist
ein fast zwangsläufiger Begleiter des Monotheismus, obwohl der Judaismus
ein interessantes Beispiel dafür ist, daß Monotheismus mit Polyprophetismus
vereinbar ist, weil jeder andere Aspekte der Wahrheit sieht. Daher der hoch-
gradig dialogische Talmud!
Aber auch die Vorstellung, daß es keinen Sinn gibt, keine Wahrheit und
keine Aufklärung, ist mit der Friedensforschung unvereinbar. Losgelöste em-
pirische Funde, denen jeglicher Sinn abgesprochen wird, können faszinierend
sein; was höchstwahrscheinlich daran liegt, daß sie ohne mitgelieferte Erklä-
rung auftreten und deshalb die LeserlBetrachter einladen, sie auf seine/ihre
eigene Weise zu interpretieren. Mit anderen Worten, die Faszination entsteht
nicht durch den Mangel an Sinn, sondern durch den Akt der Sinnherstellung,
durch die Möglichkeit, toten Daten Leben einzuhauchen.
Für die Friedensforschung ist die Welt nicht neutral; sie steckt voller Be-
deutung und enthält ein Gefälle von der Gewalt zum Frieden; oder, um es
dramatischer zu formulieren, vom Tod zum Leben, auch wenn die Welt größ-
tenteils aus adiaphora, neutralen Tatbeständen, besteht.
Es bleiben uns also die polytheistische und die pantheistische Option - mit
theoretischem Pluralismus und geteiltem Sinn. Zwischen diesen beiden müs-
sen wir nicht wählen, da sie sich ziemlich gut ergänzen.
52 Friedenstheorie
nen Theorie des Friedenshandelns werden, und die ist ja unser Thema. Dafür
müssen wir die gesellschaftliche Realität vermessen, in der sich Gewalt und
Frieden entfalten können.
1. Friedensforschung - Elite, eigenes Land. Das ist der klassische Weg des
Einflusses, dem Kurfürsten etwas in die Ohrenjlüstern (dt. im Orig.), ob die
Initiative nun von den Eliten oder von den Forschern ergriffen wird. Das Ziel
muß der Dialog sein, aber Eliten suchen im allgemeinen einen Rat, den sie
innerhalb ihrer eigenen Paradigmen unterbringen können, und keinen, den
sie mit der Opposition oder mit gegnerischen Ländern assoziieren könnten.
Sie werden Forscher im allgemeinen als Prämissen-, nicht als Schlußfolge-
rungs-Produzenten betrachten und als Diener, nicht als Dialogpartner.
Wenn wir nun davon ausgehen können, daß die Folgerungen der Eliten
innerhalb des "Friedens mit friedlichen Mitteln" liegen, bestehen keine Pro-
bleme, solange der öffentliche Charakter von Friedenswissen im Auge behal-
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 61
ten wird. Wenn Wissen geheim gehalten werden muß, dann kann es kein
Friedenswissen sein, denn dann wird vorausgesetzt, daß andere nicht daran
teilhaben sollten. Das marginalisiert andere, was bedeuteten würde, daß
strukturelle Gewalt am Werk ist. Dahinter steckt die Möglichkeit oder zumin-
dest der Verdacht, daß direkte und/oder kulturelle Gewalt am Werk ist in der
Form von Wissen über Mittel zur Gewaltausübung oder über Denkmuster
usw., die nicht bekannt werden sollen. Dieser Verdacht ist nicht unsinnig in
einer Welt, in der die politische Klasse, als Besitzer oder Verwalter von Staa-
ten, sich als Monopolisten sowohl der entscheidenden Gewaltmittel als auch
der definitiven Entscheidungen in der Außenpolitik betrachten. Beides läßt
sich im Kriegsfallleicht kombinieren.
4. Modelle 1, 2 und 3, anderes Land. Alles wäre das gleiche, spielte sich nur
in einem anderen Land ab. Da die Friedensproblematik zwischen Ländern ei-
ne internationale ist, sollte dieses Modell in jeder Hinsicht gefördert werden.
Es gibt keinen triftigen Grund, sein auf ein globales Problem gerichtetes
Handeln auf das eigene Land zu beschränken, dessen Eliten womöglich sehr
62 Friedenstheorie
unnachgiebig sind, oder das auch dann relativ unbedeutend bliebe, wenn sich
dessen Eliten für Friedensstrategien einsetzen würden. Der Dialog mit Eliten
anderer Länder kann auch deshalb sehr sinnvoll sein, weil er keine nationale
Regierung-Opposition-Kluft überbrücken muß. Dialoge mit Menschen in an-
deren Ländern können bezüglich dieser Kluft im anderen Land die gleiche
Funktion haben. Und der indirekte Weg zu Eliten über deren eigene Bevöl-
kerung kann manchmal besser als im eigenen Land funktionieren und neue
Perspektiven bringen. Wenn eine doppelte Opposition am Werk ist, d.h. wenn
die Bevölkerung in B gegen die Eliten in B opponieren, die wiederum gegen
die Eliten in A sind, dann werden letztere sogar den Kontakt zur Bevölke-
rung in B begrüßen: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Was natür-
lich keine besonders friedliche Einstellung ist.
Wenn wir die Räume und das System kombinieren, bekommen wir 12
Faktoren, wie in der folgenden Tabelle 1.4 dargestellt. Das ganze wird dann
weiter konkretisiert unten in Tabelle 1.5.
Natur
Person
Soziales
Welt
Kultur
Zeit
keine Lösung - darum die Suche nach horizontalen Strukturen, äußeren wie
inneren.
Hier ist eine Typologie des positiven Friedens, die auch über sukha hin-
ausgeht:
können; eine Theorie besteht aus einem Satz miteinander verketteter Hypo-
thesen; eine Hypothese schließt gewisse Verbindungen aus und wird durch
deren Eintreten empirisch widerlegt. Ein Diskurs aber schließt das aus, was
nicht formuliert werden kann; er sollte dahin gebracht werden, sich dem Ge-
dachten zu akkommodieren, anstatt es abzuweisen oder zum Schweigen zu
bringen.
Folgende Theoreme können leicht innerhalb dieses Diskurses unterge-
bracht werden:
- Jede Art von Gewalt erzeugt irgendeine Art von Gewalt.
- Jede Art von Frieden erzeugt irgendeine Art von Frieden.
- Positiver Frieden ist der beste Schutz gegen Gewalt.
Genauer: Direkte Gewalt vermehrt sich durch Rache und offensive Ab-
schreckung; strukturelle Gewalt pflanzt sich fort durch Klonen und Vervoll-
ständigung ebenso wie kulturelle Gewalt. Direkte Gewalt kann zum Aufbau
struktureller Gewalt eingesetzt werden; strukturelle Gewalt führt zu revolu-
tionärer und konterrevolutionärer direkter Gewalt; und kulturelle Gewalt le-
gitimiert alles Vorgenannte.
Das Schema von Tabelle 1.5 ist in der Tat sehr simpel. DG und SG, DF
und SF haben als Unterabteilungen N, P, S, W, Kund Z; KG und KF haben
je elf Unterabteilungen; insgesamt also 46. Weiter gibt es Unter-Unterabtei-
lungen für N, P, S, W, Kund Z und für die kulturellen Unterabteilungen.
Und so weiter.
Ein entscheidender Gesichtspunkt ist der, daß Friedenstudien Gewaltstudi-
en voraussetzen. Wenn Gewalt das Problem und Frieden die Lösung, das
Heilmittel ist, dann bedürfen beide Seiten der Forschung, der Erziehung, des
Handeins. Um das Schema zu prüfen, wollen wir uns ansehen, wo Themen
wie Militarismus, Ökologie, Demokratie und Patriarchat untergebracht wer-
den können.
Den Militarismus könnte man in die DG-SG-KG-Spalte einsetzen und
zwar in Bezug auf Waffen und deren Einsatz für militärische W -Intervention,
unterstützt durch Strukturen wie Industriekomplexe in S, legitimiert durch
patriotische und patriarchalische Elemente in K und durch den Patriotismus
in Schulen und die militärische Ausbildung an Universitäten. Wie alles ande-
re muß dies in Raum und Zeit, Geographie und Geschichte untersucht wer-
den und zwar in dialektischem Bezug zur DF-SF-KF-Spalte: Demilitarisie-
rung.
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 69
Ökologie und Öko-Krise ganz allgemein bedeutet direkte Gewalt gegen die
Natur, z.B. im Krieg; weiterhin die strukturelle Gewalt von Industrie und
Agrarindustrie; und die kulturellen Muster, die das legitimieren - wieder im
Verhältnis zu den entsprechenden Friedenskategorien.
Die Demokratie (vergleichbar den Menschenrechten) ist eine Institution,
d.h. sie beruht auf einer Ansammlung von Rechtsbestimmungen, die als Kul-
tur direkten oder strukturellen Frieden oder Gewalt und Krieg legitimieren
oder delegitimieren kann. Das muß in allen sechs Räumen untersucht und
kann nicht apriori entschieden werden.
70 Friedenstheorie
Patriarchat bedeutet strukturelle Gewalt, bei der die Männer an der Spitze
stehen und die Frauen weiter unten; was sich in Sund W in zahllosen For-
men von Gewalt gegen Frauen ausdrückt, die durch bestimmte kulturelle
Muster legitimiert werden - wieder in Relation zu seinen friedlichen Nega-
tionen zu verstehen.
Eine Thematik ist also über mehrere Punkte des Systems verteilt, wobei eine
konkrete Untersuchung begrenzter sein kann. Die Systematik dient als Heraus-
forderung, die Untersuchung zu vervollständigen und weitere Aspekte einzu-
bringen.
Wie klassifizieren wir dann die achtzehn von der International Peace Re-
search Association eingesetzten Kommissionen?
20 Insbesondere heißt dies: Der Kalte Krieg konnte so dargestellt werden, als gäbe es in
ihm zwei Parteien und eine fundamentale Streitfrage: das nukleare Wettrüsten, wie
es den einen, die Menschenrechte, wie es anderen erschien. Ein beträchtliches
Fachwissen wurde angesammelt und wurde dann projiziert auf den Golf-Krieg und
die Kriege in Ex-Jugoslawien, als handele es sich auch in diesen Fällen allein um ei-
ne Frage zweier Parteien und eines einzigen militärischen Streitpunkts (vgl. Teil 11,
Kap. 1.4).
72 Friedenstheorie
die Erfahrung vertieft. Im Idealfall sollte das Stück einen ganzen Zyklus
sinnvoll aufeinander bezogener Ereignisse umfassen und natürlich nach der
Aufführung Gegenstand umfassender Diskussionen sein.
Zum Schluß: Wo in Sund W könnten Menschen mit einer derartigen
Ausbildung für den negativen und den positiven Frieden tätig werden? Die
Antwort ergibt sich aus einer weiteren Unterteilung von Sund W in Staat
(Regierung, Bürokratie), Kapital (Unternehmen) und Zivilgesellschajt, beste-
hend aus der Bevölkerung und ihren informellen und formellen Organisatio-
nen, welch letztere in W NGOs (non-governmental organizations) bzw. NROs
(Nicht-Regierungs-Organisationen) genannt werden. Einer dieser drei, der
Staat, besitzt ein Gewaltmonopol und neigt schnell dazu, in einer "Situation"
Gewalt einzusetzen ("dem Mann, der einen Hammer hat, erscheint die Welt
als Nagel"); und auf ziemlich ähnliche Weise würden Transnationale Kon-
zerne (TNCs) Kapital einsetzen und Bürgerorganisationen ihre moralische,
gewaltlose Macht nutzen, zivilen Ungehorsam einbegriffen.
Friedensspezialisten könnten in allen sechs Bereichen arbeiten:
- in staatlichen und zwischenstaatlichen Organisationen und in der UNO;
auch auf der kommunalen Ebene, die ein großes Friedenspotential besitzt;
- in nationalen und transnationalen Unternehmen (TNCs);
- in nationalen und internationalen Bürgerorganisationen (IPOs - interna-
tional people 's organizations).
Innerhalb des Staatensystems, inklusive der UNO, könnte es mehr um die
Verhinderung von Gewalt durch den Aufweis von Alternativen gehen, in an-
deren Räumen mehr um die Durchführung dieser Alternativen.
Eine kurze Liste von möglichen zukünftigen Arbeitgebern für Friedens-
spezialisten enthielte:
- lokale Verwaltungen, für lokale Konflikte;
Außen- und Verteidigungsministerien für eine kreativere Welt- und Au-
ßenpolitik;
- die UNO und andere zwischenstaatliche Organisationen, wo sie den idea-
len Arbeitsplatz hätten;
- nationale und transnationale Unternehmen, um die Wirtschaft kooperati-
ver zu machen und mehr auf menschliche Grundbedürfnisse auszurichten;
- nationale und internationale Bürgerorganisationen wie Kirchen und Ge-
werkschaften;
- Schulen, Universitäten und Medien.
76 Friedenstheorie
Man kann auch andere Dichotomien (oder, allgemeiner gesagt, Variablen) ver-
wenden, um die vier Syndrome zu erschließen; zum gegenwärtigen Zweck
werden wir den Diskurs aber in diese Richtungen spezifizieren.
Die bei den ersten Faktoren befinden sich auf der individuellen, die beiden
letzten auf der kollektiven Ebene. Körper und Struktur sind somatisch/mate-
riell (eine Struktur ist die Summe schematischer Transaktionen), Geist und
Kultur sind spirituell/nicht-materiell. Die Hypothese von der Vorrangstellung
der Kultur bestätigt sich darin, daß die Kultur den Geist ("Sozialisation") und
die Struktur, das Interaktionsmuster (Akkulturation), prägt. Der Körper emp-
fängt Befehle teils vom Geist, teils vom sozialen Kontext, der Struktur.
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 79
Aber der Einwand liegt auf der Hand: Der Geist kann die Mikrokultur (in
manchen Fällen sogar auch die Makrokultur) in einem und um einen Men-
schen herum beeinflussen; die Kultur kann widerspiegeln, was schon in der
Struktur vorhanden ist (z.B. im Falle einer Eroberung). Und daß sich der
Körper Befehlen des Geistes und der Struktur - den internalisierten und den
institutionalisierten Normen - widersetzen kann, ist bekannt. Kurz, Kausal-
pfeile zielen in alle zwölf Richtungen, und das wollen wir nun genauer unter-
suchen.
Im nächsten Kapitel (dieses ersten Teils über Frieden) über Unterschiede
der Geschlechter (N) wird der Körper als wesentlicher Faktor im Mittelpunkt
stehen, und in den darauf folgenden Kapiteln 4 und 5 über Demokratie (S)
und das Staatensystem (W), werden wir uns mit der politischen Struktur be-
schäftigen. In Teil 11, über Konflikt, geht es um Geist und Empathie; Teil III
über Entwicklung befaßt sich mit der ökonomischen Struktur; in Teil IV über
Zivilisation schließlich werden Auswirkungen der Tiefenkultur (Kosmologie)
auf den Frieden ermittelt.
3 Frau: Mann = Frieden: Gewalt?
Theorie hat wichtige Beiträge zur Friedenstheorie geleistet, indem sie dies
gezeigt hat." Da jeder Begriff durch seine spezifische Negation am besten
verständlich wird, soll sofort darauf hingewiesen werden, daß die friedliche
Negation von Patriarchat nicht Matriarchat bedeutet, sondern Parität oder
Gleichheit der Geschlechter - horizontale Strukturen, die die Geschlechter
als Partner in Beziehung setzen. 2'
Das Patriarchat kann man dann als Institutionalisierung männlicher Do-
minanz in vertikalen Strukturen erkennen, wobei hohe Korrelationen zwi-
schen sozialer Stellung und Geschlecht bestehen, die durch die Kultur (z.B.
Religion und Sprache) legitimiert werden und sich oft als direkte Gewalt dar-
stellen, bei der Männer die Subjekte und Frauen die Objekte sind. Das Pa-
triarchat kombiniert, wie jede andere zutiefst gewalttätige Sozialstruktur (wie
z.B. kriminelle Subkulturen oder militärische Strukturen), direkte, strukturelle
und kulturelle Gewalt in einem Teufelsdreieck. Die drei Gewaltformen verstär-
ken sich gegenseitig in Zyklen, die in jeder Ecke beginnen können. Direkte Ge-
walt, wie Vergewaltigung, schüchtert ein und unterdrückt; strukturelle Gewalt
institutionalisiert diese Beziehung, und kulturelle Gewalt führt zu deren Verin-
nerlichung, besonders bei den Opfern, den Frauen, und festigt so die Struktur. 2'
Es gibt unzählige Möglichkeiten für eine solche Unterdrückung, von denen
viele in feministischen Studien untersucht worden sind, und zwar meist durch
Frauen. 2' Männer sollten sich hier mehr beteiligen und vor allem die männli-
che Seite der Gleichung untersuchen. 2'
22 Siehe z.B. Betty A. Reardon: Sexism and the War System, New York 1985; Birgit
Broch-Utne: Educating for Peace. A Feminist Perspective, Oxford 1985.
23 Siehe Riane Eisler: The Chalice and the Blade: Dur History, Dur Future, San Fran-
cisco 1987. Es gibt eine schwächere (verteilungsbezogene) Interpretation der "Gleich-
heit der Geschlechter" als niedrige oder Null-Korrelation zwischen Geschlecht und
jeder beliebigen Gesellschaftsvariablen und eine stärkere (relationale) Definition als
ausgeglichene Interaktionsbeziehungen zwischen den Geschlechtern, zu Hause, am
Arbeitsplatz, in der Gesamtgesellschaft. Die Parität bezieht sich auf die stärkere In-
terpretation, über die 50%-Grenze und gleiche Möglichkeiten hinaus.
24 Ein fest institutionalisiertes Muster direkter Gewalt, wie die Vendetta, der Banden-
krieg oder der Infantizid an Mädchen könnte man "ritualisierte" oder "institutiona-
lisierte" Gewalt nennen. Diese Art von Gewalt ist meist gesellschaftlich akzeptiert,
da man sie als Teil der "Natur des Menschen" oder der gesellschaftlichen Realität
betrachtet. Die Vergewaltigung aus dieser Kategorie zu entfernen, erfordert Bewußt-
seinsbildung, Mobilisierung und Konfrontation der Art, wie sie insbesondere von
US-Feministinnen betrieben wird: ein Angehen gegen Internalisierung und Institutio-
nalisierung, um die Vergewaltigung als direkte Gewalt, gar als Krieg zwischen den
Geschlechtern zu entlarven. Kate Milletts Sexual Polities, New York 1969, gebührt
ein Platz neben Kar! Marx' Das Kapital.
25 Für mich war Marylin French: Beyond Power: On Women, Men and Morals, London
1985, besonders hilfreich.
26 In Norwegen ist die Arbeit von Öystein Gullväg Halter, die auf Harriet Halters Werk
über Geschlechterrol1en aufbaut, sehr vielversprechend.
Frau: Mann = Frieden: Gewalt? 83
Bei politischen Gewalttaten von unten sind mehr Frauen beteiligt, auch
Liebespaare, die als Terroristen aktiv sind.'" Und Kampfeinsätze, das Töten
durch Soldaten, sind immer noch ein männliches Vorrecht, sowohl was die
Ausgabe, als auch, was die Ausführung von Befehlen betrifft. Daß es eine
negative, gegen 0% tendierende weibliche Disposition bezüglich all dieser
Gewalttaten gibt, ist ebenso offensichtlich, wie daß es eine positive männli-
che Disposition zur Gewalt gibt." Aber warum?
Männer haben offenbar ein persönliches Interesse daran, in der Forschung
von dieser Frage abzulenken; die Forschungsergebnisse würden ein schlech-
tes Licht auf den Mensch als "Mann", nicht als Spezies, werfen. Es scheint
günstiger, "menschliche Aggressivität" zu untersuchen und das Geschlechts-
spezifische unter den Teppich zu kehren, indem man den Mann im Menschen
aufgehen läßt."
Frauen aber können auch ihre Gründe haben, vor diesem Thema zurück-
zuscheuen. Dabei ist ihr Problem nicht, daß sie die Tatsachen nicht wahrha-
ben wollen, sondern die Schwierigkeit, annehmbare Erklärungen zu finden.
Wenn man obige vier Faktoren einsetzt, kann man einige Erklärungen fin-
den: bezüglich der Kulturen, wenn die männliche Kultur reich an Aggressivi-
tät und Anmaßung, die weibliche Kultur reich an Mitleid und Demut ist; be-
züglich der Strukturen, wenn Männern mehr Ansporn und Gelegenheit zur
Gewaltausübung geboten werden; und bezüglich des Geistes, wenn Männer
über ein geringeres Maß an Empathie verfügen, da sie keinen Nachwuchs
großziehen und auch nicht darauf vorbereitet werden. Also unterschiedliche
Formen der Sozialisation", die tief verwurzelt, aber dennoch modifizierbar
sind. Wird die Biologie ins Spiel gebracht, scheint die Gewalt nicht modifi-
zierbar zu sein. Der Biologismus wird als kulturelle Gewalt gegen Frauen
eingesetzt, in ihm wird männliche Dominanz durch Muskelkraft und angebli-
che weibliche Instabilität und Rückzüge während der Menstruations- und
Fortpflanzungszyklen gerechtfertigt. Würde man den Biologismus gegen die
Männer einsetzen, könnte das zu einem Bumerang-Effekt führen; und außer-
dem, was kann man schon machen, bedenkt man die (verständlichen) Tabus,
sich mit allen Männern anzulegen.
Hier hätten wir also einen Sonderfall der allgemeinen menschlichen Nei-
gung, ein Problem erst in dem Moment als solches zu akzeptieren, in dem eine
Lösung in Sicht ist - wenn nicht in der Praxis, so doch auf dem Papier. Ein
schwerwiegendes Problem, für das es keine Lösung gibt, ist kaum zu ertragen,
also muß man es verdrängen, vergessen. Wahrscheinlich ist das der Mechanis-
mus, der der Unfähigkeit zugrundeliegt, diese überwältigende Korrelation ernst
zu nehmen, und was gemeint ist, wenn wir sagen, die Korrelation sei einfach
"zu hoch". Der Mechanismus funktioniert bei Männern und bei Frauen, auch
bei ForscherInnen, aber auf unterschiedliche Weise. Männer sind mit dem
Biologismus einverstanden, da sie nichts ändern wollen; Frauen akzeptieren ihn
nicht, da sie Veränderung wollen, z.B. in den Machtbeziehungen.
Die allgemeine These, die ich hier untersuchen will, besagt, daß ein Teil der
Erklärung der männlichen Prädominanz bezüglich der Gewalt in der Über-
lappung von männlicher Sexualität und männlicher Aggressivität zu finden
ist. Diese ist militärischen Planern sicher bekannt. Es kann kaum als ein Zu-
fall betrachtet werden, daß während des Golf-Krieges (männliche) US-Bom-
berpiloten auf dem Flugzeugträger Kennedy sich Porno videos angesehen ha-
ben, bevor sie ihre Einsätze flogen, bei denen sie militärische und zivile Ziele
zerstört und Soldaten und Zivilisten getötet haben (von Associated Press be-
richtet, aber von den Zensoren als "zu peinlich" gestrichen)." Im Krieg ist
die Vergewaltigung von Frauen der Feinde Teil der Eroberung. Wieso be-
steht diese Verbindung von Sexualität und Gewalt?
Eine Theorie wäre die, Sex als Kompensation für Risiko und Opferbereit-
schaft zu betrachten. Darin liegt sicher ein Stück Wahrheit. Wir wollen uns
hier jedoch auf die Nahtstellen zwischen der Sexualität und dem Beruf des
Soldaten, nämlich zu töten und zu zerstören (und nicht getötet und zerstört zu
werden), konzentrieren. Im folgenden also sechs Hypothesen.
35 Diese Erkenntnis verdanke ich einem privaten Gespräch mit Professor Herman Ten-
nessen.
36 Bei Robert Held: Inquisition, a.a.O., Teil 5: "On Woman and Torture", wird das sehr
deutlich, wenn er die Folterinstrumente analysiert.
37 Oder beides, ein Diskurs schließt den anderen nicht aus.
38 Statt diese Unterschiede aber als durch gesellschaftliche Rollenspiele in der Kindheit
und im Erwachsenenalter entstanden zu betrachten, ist die Perspektive hier eher die,
sie als durch frühe Erfahrungen im Mutter-Vater-Tochter-Sohn-Viereck geprägt an-
zusehen, wobei die Frauen lernen würden, Sex (= Hautkontakt) und Liebe (körperliche,
sinnliche, geistige Intimität) zu verbinden, Männer dagegen, Sex (=Genitalkontakt) mit
Untersuchung, Penetration, vielleicht auch mit Gewalt zu assoziieren.
Frau: Mann = Frieden: Gewalt? 87
Das ist jedoch keineswegs die einzige Verbindung von Sex und Gewalt.
Eine andere Möglichkeit, Sex und Gewalt zu kombinieren, ist der Sado-
Masochismus", das Zufügen und Erdulden von Schmerzen vor, während
und/oder nach dem Orgasmus. Dies als Perversion abzutun, schließt faktische
neurologische Beziehungen zum Sex nicht aus. Noch wichtiger ist vielleicht
die Beziehung zwischen Folter und Sex; sowohl der Folterer als auch sein
Opfer können eine gewisse sexuelle Erregung verspüren, auch wenn bei der
Folter keine explizit sexuellen Elemente vorhanden sind. Jungen und Männer
haben oft Erektionen, wenn sie über Folter lesen, oder haben zumindest Ge-
fühle, die nicht negativer, sondern eher angenehmer Art sind. Es gibt Berich-
te darüber, daß Soldaten in Kampfsituationen Erektionen haben, wie auch
Henker und ihre "Klienten". Das sind vor allem männliche Rollen!
3. Da sie neurologische Nachbarn sind, kann die Unterdrückung der einen
die andere auslösen. Aufgrund ihrer gemeinsamen neurologischen Basis
kann man sich Sexualität (S) und Gewalt (G) vielleicht als eine Art kommu-
nizierende Röhren vorstellen: S + G = K (konstant), als Gegenteil der vorher-
gehenden These: S löst Gaus, G löst S aus, in einer sich aufwärts windenden
Spirale.
Wilhelm Reich4• hat die Repression der Sexualität im nationalsozialisti-
schen Deutschland und den Einsatz von Männern bei extremen Gewalthand-
lungen, in der SS, als KZ-Wächter usw., untersucht. Das steht nicht im Wi-
derspruch zur Auslöser-Theorie, ebensowenig wie die Aussage: "Weil ich
den ganzen Tag über nichts gegessen habe, bin ich hungrig", im Widerspruch
steht zur Aussage: "Je mehr ich aß, desto hungriger wurde ich", da hier der
Auslöse-Mechanismus einfach auf einer höheren Ebene funktioniert.
Sigmund Freud41 verband gesellschaftlich inakzeptable Sexualität und Ge-
walt mit Kreativität (C) in einer Formel S + C = K, worin mittels Sublimati-
onsprozessen unterdrückte Energie als Kreativität figuriert. Reichs Einsicht
steht nicht im Widerspruch zu der Freuds, wenn man sich vor Augen hält,
39 Der Marquis de Sade (,Sadismus ') war besonders berüchtigt, nicht nur wegen seiner
schändlichen Mißhandlung der jungen Prostituierten Rose Keller, sondern auch we-
gen seiner Rechtfertigung der Sex-Gewalt-Verbindung in seinen Schriften, die Titel
trugen wie Les crimes de ['amour. Auch der zweite Begriffsbestandteil (,Maso-
chismus') leitet sich von einem Mann her, nämlich vom österreichischen Romancier
Leopold von Sacher-Masoch.
40 Reich war klassenbewußter als Freud, bei dem diese wichtige Dimension fehlt - so,
als ob die Gesellschaft horizontal wäre. Vgl. hierzu Reichs Massenpsychologie des
Faschismus (Köln 1971). Die Ziele der Führer sind verbunden mit den unbewußten
Wünschen der Massen.
41 Die Sublimierungstheorie kann als allgemeine Theorie der Verschiebung triebhafter
Energie in nicht-triebhaft geprägte Tätigkeitsbereiche begriffen werden, mit der man
versucht, die Evolution von "höheren Funktionen" aus niederen zu erklären; vgl.
Penguin Critical Dictionary 0/ Psychoanalysis, Artikel über Sublimierung.
88 Friedenstheorie
vergewaltigung. Was den Kommentar der Piloten angeht, so ließe sich wet-
ten, daß er lautete: "We sure fucked them, didn't we?"
Wenn wir nun von der Sprache zur Religion übergehen, einem weiteren
Schwergewicht im allgemeinen Syndrom kultureller Gewalt, könnten wir
fragen, welche christliche Glaubensrichtung - die orthodoxe, die katholische
oder die protestantische - am stärksten zur Gewalt neigt. Man könnte vermu-
ten, der Protestantismus: als Christentum ohne Maria, mit einer Trinität, be-
stehend aus zwei Männern, Vater und Sohn, und einem dritten Wesen von
zweifelhaftem, ja zweideutigem Geschlecht; Maria kommt hier nur als Mut-
ter vor. Ein defeminisiertes Christentum also, das dessen Entwicklung aus
nahöstlichen Ursprüngen" spezifisch vorantreibt und mit dem Auftreten der
Hexenprozesse'· koinzidiert. Nimmt man noch die Probleme dazu, die das
Christentum immer mit der Sexualität gehabt hat, dann erkennt man Bezie-
hungen zwischen Sexualität und Aggressivität, die nicht angeboren, sondern
kulturbedingt sind, und zwar in der Dehumanisierung von Frauen, die da-
durch erleichtert wird, daß Frauen im okzidentalen Pantheon nicht vertreten
sind.
Wenden wir uns nun, immer noch religionsnah, der Struktur zu, dann stellt
sich die Frage, wie Menschen über die Religion hinaus mit dem Problem fer-
tig werden, daß ihr Leben begrenzt ist. Frauen haben durch ihre Kinder, ihre
Nachkommen, ewiges Leben, besonders in Gesellschaften mit Matrilineari-
tät. Für Männer ist das Problem schwerer zu lösen. Patrilineare, patrilokale,
selbst patriarchalische Gesellschaften sind nur Teillösungen, die allesamt
damit beginnen, den Kindern den Namen des präsumptiven Vaters zu geben.
Darüberhinaus bietet das Konkurrenzwesen eine Lösung, nämlich die Mög-
lichkeit, mit korrosionssicherem Ruhm in die Ewigkeit einzugehen, ob nun
auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft, des Sports oder der Unterhal-
tung, des Geschäftslebens oder der Politik, oder durch militärische Tüchtig-
keit. Letztere hat einen Vorteil, daß nämlich dauerhafte geopolitische Verän-
derungen oft nach Schlachten und Generälen bezeichnet werden, zumindest
zeitweilig. Die am besten sichtbaren Denkmäler dieser Welt scheinen dem
Mann der Gewalt, dem Mann auf dem Pferd, gewidmet zu sein. Hierin, also
im Ruhm, der durch Konkurrenzstrukturen erlangt wird, liegt ein weiterer
Grund für Gewalttätigkeit. 47 Und jede größere Stadt der Welt scheint irgend-
45 Eine Analyse der Vorrangstellung von Göttinnen im Nahen und Mittleren Osten bei
Toni Liversage: Den Store Gudinde, Kopenhagen 1990; die klassische Arbeit zum
Thema ist Robert Graves' The White Goddess (New York 1948).
46 Siehe Gunnar Heinsahn und Otto Steiger: Die Vernichtung der weisen Frauen,
Hemsbach 1985, zum Zusammenhang von Bevölkerungswachstum und "Hexenpro-
zessen" (Hexen wurden oft beschuldigt, Geburtenkontrolle zu betreiben).
47 Es gibt einen eigenartigen Aspekt bezüglich des Berufssoldatentums als Karriere-
möglichkeit. Wo andere Berufe relativ stetig Gelegenheit bieten, sich selbst zu be-
weisen, muß ein Berufssoldat oft viele Jahre auf die sich dann plötzlich bietende
Frau: Mann = Frieden: Gewalt? 91
Gelegenheit, den Krieg, warten. Dieser wird dann natürlich begeistert begrüßt als
Chance, die eigenen Fertigkeiten einzusetzen; das ist etwa so, als hätte ein Schrift-
steller nur ein- oder zweimal im Leben Zugang zu Papier. Die Village Voice berich-
tete am 26. März 1991 von der Begeisterung unter den Desert-Shield-Soldaten, als
der Beginn von "Desert Storm" verkündet wurde.
48 Carol Gilligan zeigt in ihrem bekannten Werk: In a Different Voice: Psychological
Theory and Women's Development, Cambridge, MA 1982, wie Frauen dazu tendie-
ren, ethische Probleme in Begriffen der Fürsorge und in bezug auf die direkten Kon-
sequenzen für die Betroffenen, Männer dagegen, diese mittels abstrakter Prinzipien
anzugehen. Man könnte es auch anders formulieren: Frauen sehen eine Alternative
zur direkten Gewalt in der direkten Fürsorge und Liebe. Männer haben Angst vor ih-
ren eigenen gewalttätigen Neigungen (und vor denen anderer Männer) und ver-
suchen, sich in streng kontrollierten gesellschaftlichen Hierarchien zu engagieren
und überlassen denen an der Spitze das Monopol an (Befehls-) Gewalt; und/oder sie
engagieren sich in verbalen Hierarchien von Vorschriften, Befehlen und allgemeinen
Normen, wie sie von Theologie und Recht produziert werden. Sie versuchen also,
92 Friedenstheorie
chen bekommt eine Eintrittskarte für die Wärme; soziokulturell betrachtet, ist
es ihr erlaubt zu weinen, liebkost und getröstet zu werden. Der Junge ist sel-
tener im Besitz einer solchen Eintrittskarte, und er wird wahrscheinlich we-
niger Zeit in Hautkontakt mit seiner Mutter und mehr Zeit mit Herumstreu-
nen verbringen."
Dieser Hautkontakt ist psychosomatisch wahrscheinlich äußerst bedeut-
sam. Sexualität ist eine Kombination von Genital- und Hautkontakt, wobei
letzterer für die Frau beim Verkehr a tergo an Bedeutung abnimmt. Wenn wir
die Hypothese aufstellen, daß Männern der Genitalkontakt und Frauen der
Hautkontakt wichtiger ist, dann können wir die Frustration besser nachvoll-
ziehen, die Frauen verspüren, wenn sie vor und nach dem Koitus zu wenig
Zärtlichkeit bekommen, und die Frustration von Männern, wenn Frauen
hauptsächlich auf Hautkontakt aus sind. Besser verständlich wird auch die
fast sexuelle Natur des Stillens, wenn man dieses als intensive Form von
Hautkontakt begreift. Der sprichwörtliche Samstagmorgen, der in vielen Fa-
milien so verbracht wird, daß die Mutter intensiven Haut-zu-Haut-Kontakt
mit den Kindern und der Vater intensiven Haut-zu-Metall-Kontakt mit dem
Auto hat, zeigt, wie der Mann reichhaltige Erfahrungen entbehren muß, die
auch auf dem komplexen Zusammenwirken von Hormonen beruhen. so
Wenn ein junger Mann das Gefühl des Zurückgewiesenwerdens, ein Ge-
fühl, etwas geopfert zu haben oder Neid empfindet, kann er diese Gefühle
durch Überlegenheitsvorstellungen kompensieren; durch die Vorstellung, ei-
nem Geschlecht anzugehören, das zur Produktion, nicht "nur" zur Reproduk-
tion bestimmt ist. Wahrscheinlich gibt es einen Gebärmutterneid, der viel tie-
fer empfunden wird als irgendein Penisneid." Vielleicht wollen Vergewal-
tiger, Folterer und Soldaten also Frauen bestrafen? Vielleicht ist das, was sie
tun, nicht Ausdruck des Ausrufs Jesu: "Mein Vater, mein Vater, warum hast
Du mich verlassen?" (Matthäus 27, 46), sondern der Klage, "Meine Mutter,
meine Mutter, warum hast Du mich verlassen?" Tiefsitzende psychologische
und biologische Mechanismen können sich gegenseitig verstärken. Und ge-
nau das soll auch die allgemeine Botschaft dieser ganzen Erkundung sein:
Alle vier Faktoren/Syndrome funktionieren synergetisch, im negativen Falle
zugunsten der Gewalt, im positiven, so läßt sich hoffen, zugunsten des Frie-
dens.
52 Zur Einbeziehung von Frauen in die meisten Ministerien und ihren Ausschluß aus
Außen- und Verteidigungsministerien siehe Karin Lindgren: Participation of Wornen
in Decision-Making for Peace, New York/Wien 1989.
94 Friedenstheorie
53 Dieser Befund wie das zum Hautkontakt und zu den Endorphinen Gesagte lassen die
weibliche Sexualität schon als holistischer, im Gegensatz zur genitalen, auf einen
Höhepunkt ausgerichteten männlichen Sexualität, erscheinen. Es muß darauf hinge-
wiesen werden, daß auch letztere Tradition okzidental ist; eine chinesische Alterna-
tive für Männer wird bei Jolan Chang: The Tao of Love and Sex, New York 1977,
detailliert beschrieben.
54 Aber unter der Bedingung, daß alle vier vom Mann gleichviel geliebt werden - eine
Bedingung, die vielleicht nicht so leicht zu erfüllen ist.
55 Wenn sich Männer in emotionale Eheprobleme verstricken, die sie nicht lösen kön-
nen, sie aber keine Tradition der Intimität mit anderen Männern haben, besteht die
einzige Alternative darin, Freundinnen ins Vertrauen zu ziehen.
56 Siehe A. B. Titkin, R. M. Warshawsky und J. C. Engle: It All Adds Up, Englewood
Cliffs, NJ 1983, Kap. 9, über die synergistische Wirkung von Kaffee und Zucker.
Frau: Mann = Frieden: Gewalt? 95
In einem Punkt stimme ich mit Russett überein: Demokratien befassen sich mehr mit
der öffentlichen Meinung. Aber wenn sie aus irgendwelchen anderen Gründen belli-
zistisch gestimmt sind, werden sie sich wahrscheinlich nicht vom Kriegführen abhal-
ten lassen, aber diesbetreffend ,low intensity'-Versionen wählen, die weniger sicht-
bar sind für die unerprobten Augen der Öffentlichkeit und der Medien. Tatsächlich
ist eine viel plausiblere Hypothese wahrscheinlich die, daß Demokratisierung den
Charakter der Kriegsführung ändert, Kriege besser verbirgt, um der öffentlichen
Kritik zu entkommen.
59 Natürlich sind die USA im allgemeinen kein gutes Beispiel für eine Demokratie. In
ihrem Fall handelt es sich eher um eine Plutokratie und eine Mediakratie (aber auch
um eine Mediokratie). Diejenigen die zur Wahl aufgestellt werden, werden nominiert
von den Reichen und/oder Mächtigen (wenn sie nicht selbst dazu gehören), und das
Geld, hauptsächlich verwandt für idiotische Fernsehspots, determiniert weitgehend,
wer gewinnt. Gleichwohl konnte Reagan auf Grund einer starken, populären Opposi-
tion, keine Invasion Nicaraguas durchsetzen. Die USA initiierten und unterstützten
den brutalen Sturz der demokratisch gewählten Regierung Allende, taten dies aber
nicht offen, sondern eher durch eine verdeckte Operation des CIA, des diametralen
Gegensatzes von Demokratie. Demokratie ist offen, heißt öffentliche Debatten, heißt,
nichts zu verbergen, wohingegen der CIA im Dunkeln operiert und dabei die Öffent-
lichkeit uninformiert hält oder wohlbedacht desinformiert. Darüberhinaus wirft eine
Wahlbeteiligung von um die 50% bei Präsidentschaftswahlen (in mid-term -Wahlen
sind es noch weniger) ernsthafte Fragen nach der demokratischen Legitimität der
Führung auf. Reagan hatte in seiner ersten Amtszeit die Unterstützung von 27% der
Wählerschaft, in der zweiten waren es 31 %; diese Differenz bezeichnete man als ei-
nen Erdrutsch!
Demokratie.' Diktatur =Frieden.' Krieg? 99
damit ein Reagan und eine Thatcher, ein Bush oder ein Major wiedergewählt
wird. Das zeigt nur, daß Demokratien nicht immun sind gegenüber Strategi-
en, die auch Diktatoren anwenden und die später behandelt werden sollen;
und erfolgreiche Wahlen rechtfertigen keineswegs den Einsatz kriegerischer
Mittel.
Unsere Untersuchung führt uns zu einem ziemlich beunruhigenden Aspekt
in der Leistungsbilanz der nordamerikanischen und westeuropäischen Demo-
kratien (Australien und Neuseeland beziehen wir hier mit ein): Von ganz
wenigen Ausnahmen abgesehen haben sie alle jahrhundertelang international
Gewalt in Form von Sklaverei und Kolonialismus ausgeübt - und letzterer ist
noch kein abgeschlossenes Kapitel. Vieles hiervon geschah noch, nachdem
man solche Meilensteine auf dem Weg zur Demokratie wie 1688, 1776 und
1789 bereits passiert hatte. Bürger, die in diesen Ländern Nutznießer demo-
kratischer Rechte waren, wußten genau, was geschah. Zwar waren Spanien
und Portugal noch keine Demokratien, als sie mit diesen Praktiken begannen;
das wurden sie in relativ gefestigtem Maße erst in den 1970er Jahren. Aber
das ändert nichts an den Tatsachen: Was die Demokratien (USA, Großbri-
tannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande) taten,
war ähnlich, fast identisch, es bestanden nur geringfügige Unterschiede.
Man könnte den Einwand erheben, daß sowohl Sklaverei als auch Kolo-
nialismus gewalttätig, jedoch nicht kriegerisch waren. Kriege sind Regie-
rungshandlungen. Es gab auf der Gegenseite keine Regierung, bisweilen gab
es sie auch auf der demokratischen Seite nicht. Zumindest zu Beginn beruh-
ten Sklaverei und Kolonialismus auf Taten unternehmungslustiger Einzelper-
sonen und Handelsgesellschaften; die Regierungen beteiligten sich erst später
und übten oft einen mildernden Einfluß aus. Nur: Wer hat eine solche Defi-
nition vom Krieg aufgestellt? Und wird die Sache dadurch besser für die ein-
heimischen Völker, die man durch völkermordende Praktiken ausgerottet
hat? Darüberhinaus lebten die einheimischen Völker, die verschleppt oder
unterworfen, unterdrückt und ausgebeutet wurden, in politischen Gemeinwe-
sen mit irgendeiner Form von zentraler Herrschaft, wenn auch nicht in Staa-
ten westlichen Zuschnitts. Und warum haben demokratisch gewählte Regie-
rungen solche Praktiken nur gemildert, nicht aber abgeschafft? Warum
mußten sich die Unterjochten und Ausgebeuteten selbst erheben und gewalt-
sam oder gewaltlos gegen diese ganze demokratische Aggressivität kämpfen?
Warum sind sie in ihrem politischen Wollen so wenig unterstützt worden?
Seit Ende des 2. Weltkrieges haben die USA, Großbritannien, Frankreich
und Israel die meisten Kriege geführt; sie sind alle Demokratien."" Die mei-
60 Die Forschungen Istvan Kendes über lokale Kriege machen das klar. Siehe Istvan
Kende: "Twenty-five Years of Local Wars", in: Journal of Peace Research, 8/1971,
S. 5-22, und: "Wars of Ten years (1967-1976)", in: Journal of Peace Research,
15/1978, S. 227-241.
100 Friedenstheorie
sten Länder der "von den USA geführten Koalition" gegen den Irak im Golf-
krieg waren Demokratien:1 Diese haben aber die Verhandlungschancen des
August 1990 ignoriert. haben sich weniger kriegerischen Ansätzen. wie der
französischen Bemühung. Sanktionen einzusetzen. verschlossen. wie auch
dem sowjetischen Versuch. irakisehe Soldaten auf dem Rückzug zu schonen.
Die Demokratie ist also mit Gewaltausübung großen Ausmaßes kompatibel.
das heißt. sie führt nicht nur (gelegentlich) Kriege. sie ist bellizistisch.
61 Die wichtigsten Mitglieder waren die USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Ita-
lien, Türkei, Ägypten; und dazu Syrien, Saudi-Arabien und die Golf-Staaten, mit
Ausnahme des Jemen. Insgesamt 38 Staaten beteiligten sich direkt an den Koaliti-
onsstreitkräften, vier gewährten Unterstützung (Sowjetunion, Deutschland, Israel,
Japan), zwei waren neutral (Iran, Libanon); sieben Staaten gewährten dem Aggressor
(Irak) Unterstützung: Algerien, Jordanien, Libyen, Mauretanien, Sudan, Tunesien,
Jemen. Wie immer man Demokratie definiert: Es gibt eine deutliche Korrelation zwi-
schen der Unterstützung der Koalition und demokratischer Verfassung. Das Ergeb-
nis: ein befreites Kuwait und 310.500 getötete Iraker (laut IPPNW).
Hieraus wollen einige Leute den Schluß ziehen, daß Demokratien friedliebend sind
und bereit zu Opfern, um Frieden zu bewahren oder wieder zu erlangen. Die hier
vorgeschlagene Schlußfolgerung würde sich jedoch mehr konzentrieren auf die Be-
reitschaft, die Option Krieg der Option "Frieden mit friedlichen Mitteln" vorzuzie-
hen, eher den Status quo bewahren zu wollen als den Frieden. Allerdings gibt es
Platz für beide Interpretationen. Für eine andere Perspektive als die hier gewählte
vergleiche Jeffrey lan Ross: "Research Note: Hypotheses About Political Terrorism
During the Gulf Conflict, 1990-1991 ", in: Terrorism and Political Violence, 6/1994,
S.224-234.
Demokratie,' Diktatur = Frieden,' Krieg? 101
lung, in welchem Ausmaß und wie häufig ein Land in Krieg verwickelt ist;
dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Angriffs- oder Verteidigungskriege
handelt, d.h. ob ein Land den Krieg begonnen hat, indem es den ersten Stein
geworfen hat, oder ob es nur auf ein solches Handeln reagiert hat. Die Le-
benszyklen von Konflikten und Gewalt sind hochkomplex und lassen zeitli-
che Einschnitte zwecks Festlegung, wer Aggressor und wer Opfer ist, unan-
gesehen ihrer vorherigen Beziehung, als willkürlich erscheinen.
Es wird jetzt unsere Aufgabe sein, das Verhältnis zwischen den beiden Vari-
ablen D für Demokratie und B für kriegerisches Verhalten bzw. Belligerenz auf
einer eher theoretischen als statistischen Ebene zu untersuchen. Dabei werden
wir uns auf die Gründe konzentrieren, die eine positive oder eine negative Be-
ziehung erwarten lassen. Hierfür benötigen wir eine Gruppe dritter Variablen,
V, da man den Definitionen von D und B für sich genommen nichts weiter ent-
nehmen kann. Wenn D Antezedenz ist und B die Folge, dann kann V ein zu-
grunde liegender Faktor sein, der beiden vorangeht; oder eine Begleiterschei-
nung zu D; oder ein Faktor, der zwischen D und B interveniert.
Wir bekommen also sechs Typen von Theoremen als Bausteine einer Theo-
rie der Beziehung zwischen Demokratie und Belligerenz.
Positive Form:
Je mehr V, desto mehr D und desto mehr B (V liegt zugrunde, ist bei den ge-
meinsam).
Je mehr V undje mehr D, desto mehr B (V begleitender Faktor).
Je mehr D, desto mehr V, undje mehr V, desto mehr B (V interveniert).
Negative Form:
Je mehr V, desto mehr D und desto weniger B (V liegt zugrunde, ist gemein-
sam).
Je mehr V undje mehr D, desto weniger B (V begleitender Faktor).
Je mehr D, desto mehr V, undje mehr V, desto weniger B (V interveniert).
Die Schwierigkeit besteht jetzt darin, V aus den vielen Möglichkeiten auszu-
wählen. Wir beginnen mit zwei zugrundeliegenden und zwei begleitenden
Variablen und suchen nach Faktoren, die sowohl Demokratie als auch krie-
gerisches Verhalten produzieren, und nach Faktoren, die in Verbindung mit
Demokratie dazu tendieren, kriegerisches Verhalten zu produzieren. Danach
werden wir fünf Variablen identifizieren, die von Demokratien produziert
werden und ihrerseits wieder kriegerisches Verhalten hervorbringen. Die er-
sten bei den Variablensätze liegen außerhalb der Demokratie-Theorie als sol-
cher, wenn auch nicht außerhalb der konkreten Geschichtlichkeit von Demo-
kratien; der dritte Variablensatz liegt innerhalb der Demokratie-Theorie.
102 Friedenstheorie
62 Diese drei Phasen sind sehr gut identifiziert worden von Bert Röling, vgl. B.V.A.
Röling, Antonio Cassese: The Tokyo Trial and Beyond, Oxford 1993, Kap. 4: "A
,Miserable International Law'?", S. 133 ff.
Demokratie: Diktatur =Frieden: Krieg? 103
63 Ein Beispiel hierfür könnte die Art und Weise sein, in der die Hutus 1994 in Ruanda
über Radio zum Gemetzel an den Tutsis aufriefen, indem sie die Rache der Tutsi
vorhersagten, wenn diese nicht alle umgebracht würden.
104 Friedenstheorie
Macht und Privilegien" klang nicht so gut; Allianz christlicher oder friedlie-
bender oder demokratischer Länder klang besser, vorausgesetzt, diese Defi-
nition würde die "rechten" Länder einbeziehen und die auf Veränderung be-
dachten, "linken" Länder ausschließen. Wie bei Rotary-Club-Mitgliedern, die
eine Stadt oder ein Land de facto regieren, zahlt sich Solidarität aus.
Im Ersten Weltkrieg standen demokratische Länder gegeneinander; der
Zweite Weltkrieg jedoch war eher ein Krieg zwischen einer Oberschicht von
Demokratien und einer Unterschicht nicht-demokratischer Länder. Die
Kriegsrhetorik hat den ökonomischen Klassenfaktor verschleiert, nicht so die
Politik. Vieles an internationaler Gewalt, auch in Form von Krieg, ist Klas-
senkampf. Weiter unten in der Weltgesellschaft findet man, wie in der Bin-
nengesellschaft, seltener die Gentleman-Manieren demokratischer Prozesse.
Da die Pyramide sehr spitz ist, sind es hier nur wenige, die die Gewalt der
Vielen unten zu spüren bekommen; jedes Land, das direkten oder strukturel-
len Kolonialismus ausübt, ist ja meist im Besitz von mehr als einer Kolonie.
Folglich wird es mehr gewaltsame Reaktionen pro Land an der Spitze geben
als gewaltsame Angriffe pro Land unten in der Pyramide, was bis zu einem
gewissen Grad erklärt, weshalb Demokratien ganz oben stehen auf der Krieg-
führungsliste. Daran ändern auch ein paar kleine soziale Demokratien nichts,
die weder Kolonien noch Neo-Kolonien besitzen und die weder Kriege be-
ginnen noch mit Gewalt reagieren; sie sind einfach nur die Aushängeschilder
der Demokratie und meist zu klein zur Gewaltausübung.
als die derjenigen, die unten sind. Diese Unterstellung aber macht aus jedem
Land mit einer vergleichbaren inneren Struktur ein nervöses Land, da es
nicht nur Instabilität im Inneren, sondern auch ein Übergreifen der Instabili-
tät anderer Länder oder der Welt als ganzer befürchten muß.
Hier lauern drei Gefahren: interne Revolution, Weltrevolution und interne
Revolution in irgendeiner Ecke der Welt. Daß sich die Eliten mit ersterer be-
fassen, ist klar. Daß sie von einer Weltrevolution nicht viel halten, ist eben-
falls klar, da eine solche sie selbst treffen würde (vgl. Theorem 3). Aber wie
steht es mit dem dritten Fall, der im Ausland durchgestanden werden muß?
Worin besteht die Rechtfertigung für eine Selbstverteidigung gegen eine Re-
volution in einem fremden Land?
Die Antwort ist ziemlich naheliegend: Wenn Unterschichten in anderen
Gegenden der Welt die weiße Monopolstellung, die okzidentale Überlegen-
heit oder die ökonomischen Privilegien besiegen, könnte das einen rechtli-
chen Präzedenzfall in normenerzeugenden Organen wie der UNO schaffen,
es könnte einheimische Unterschichten ermutigen, ebenso zu handeln, und
darüberhinaus könnten diejenigen, die woanders gesiegt haben, ihre Revo-
lution womöglich exportieren.
Das bedeutet aber, daß die Eliten eines Landes, die über unterdrückte Ras-
sen, Völker ohne Staaten und wirkliches Elend herrschen, ihre eigene Lage
bei anderen wiedererkennen und versuchen werden, Revolutionen in anderen
Ecken der Welt zu verhindern, damit sie selbst davon verschont bleiben. Ein
Sieg im Ausland, um zu Hause an der Macht zu bleiben. Gehören denn De-
mokratien eher in diese Kategorie von Ländern, die die Weltlage in rassi-
scher, kultureller und ökonomischer Hinsicht widerspiegeln? Nein, aber so
lautete unsere These auch nicht, denn uns geht es hier um einen beitragenden
Faktor und nicht um intervenierende oder zugrundeliegende Faktoren. Man-
che Demokratien gehören jedoch ganz eindeutig in diese Kategorie, besitzen
eine solche Struktur, z.B. die USA und Israel: Sie sind beide in weltumfas-
senden antirevolutionären Bündnissen aktiv und nervös wegen Südafrika als
einem Welt-Mikrokosmos.
Zudem entwickelt sich in anderen Demokratien (Großbritannien; Deutsch-
land, Frankreich, Spanien und Italien; Belgien und die Niederlande) durch
die Immigration von schwarzen und braunen, von nicht-westlichen und/oder
sehr armen Gruppen eine derartige Sozialstruktur. Wie üblich, geht man auch
hier davon aus, daß der internationale Frieden durch andere und nicht durch
diese Länder selbst bedroht ist. Und multikulturelle Föderationen wie Jugo-
slawien, die Sowjetunion oder die Tschechoslowakei haben ihr Auseinander-
brechen als eine Begleiterscheinung der Demokratisierung erlebt, in der Hin-
sicht, daß die Spannungen deutlicher zum Vorschein gekommen sind. Auch
aus inneren Gründen ist es schwer, gleichzeitig demokratisch und wahrhaft
multikulturell (kein Schmelztiegel) zu sein. Aber auch wenn es Demokratien
gelingen sollte, die Spannungen unter Kontrolle zu halten, bleibt doch die
Demokratie: Diktatur = Frieden: Krieg? 107
Drohung bestehen, daß Instabilität in anderen Ländern oder in der Welt als
ganzer einheimische Gruppen inspirieren könnte. Wenn es die Demokratie
aber geschafft hat, die Underdogs auf ihre Seite zu bekommen, können diese
sogar dazu gebracht werden, in andern Ländern gegen ihresgleichen zu
kämpfen.
Nehmen wir wieder die USA als Beispiel: eine Gesellschaft, die die Welt be-
züglich der drei Dimensionen Rasse, Nation und Klasse widerspiegelt. Die Pro-
portionen entsprechen jedoch der Definition nicht: Wären sie die gleichen wie
auf der Weltebene, dann könnte das Land nur eine "Demokratie" in der alten
südafrikanischen Bedeutung sein können - für Blankes. In Israel sind die Juden
immer noch in der Mehrheit, so daß dort die Wahlen auf der Basis ,ein Mensch-
eine Stimme' durchgeführt werden können. Gelbe und braune Länder können
geduldet werden, wenn sie homogen und nicht anti-weiß sind; sogar schwarze
Länder kann man tolerieren, wenn sie unter Kontrolle zu halten sind (in dem
Moment, indem sie aufmüpfig werden, droht das Risiko einer Intervention).
Völker ohne Eigenstaatlichkeit können sogar unter Umständen zu ihrem Staat
kommen, wenn sie den gleichen Grundsätzen folgen.
Probleme machen multirassische Länder und Länder mit staatenlosen Na-
tionen, ähnlich wie staatenlose Nationen in Demokratien. Als Beispiel für er-
stere haben wir Südafrika angeführt; die Kurden und die Palästinenser könn-
ten wir als Beispiel für letztere nehmen. Eigenstaatlichkeit für die Kurden
würde wahrscheinlich den Palästinensern Mut machen, und Eigenstaatlich-
keit für die Palästinenser könnte eingeborene Amerikaner - hierbei wären die
eingeborenen Hawaiianer ein Sonderfall - ermutigen. Einer solchen Eigen-
staatlichkeit würden sich Israel und die USA folglich stark widersetzen.
Das gleiche könnte auch für die Klassenverhältnisse gelten. Umvertei-
lungs- und Sozialstaatspraktiken in anderen Ländern wird man Widerstand
entgegenbringen, damit sie nicht zu ähnlichen Forderungen in, sagen wir
mal, den USA führen. In dieser Hinsicht ist der Irak vielleicht ein Beispiel
gewesen; hier hat man sich unter dem Ba'ath-"Sozialismus" akzeptabler ma-
terieller Lebensbedingungen für die unteren 20% der Bevölkerung gerühmt.
Das gleiche gilt aber auch für die ehemaligen sozialistischen Länder und so-
gar für die Sozialdemokratien in Nordwesteuropa und Kanada. Also erfolgt
hier ein aggressiver Export von "Privatisierung".
Zu den drei schon behandelten Motivationen tritt eine weitere hinzu:
Wenn wir, die Demokratien, die Nummer eins sind, dann können wir es nie-
mandem gestatten, uns zu übertreffen. Dies zu verhindern, kann auf ver-
schiedene Art und Weise erfolgen. Man bestreitet schlicht eine solche Rang-
ordnung; man verbessert die eigene Demokratie oder zerstört die Nicht-
Demokratie der anderen, isoliert diese vom Welthandel, schikaniert sie. Und,
als letztes Mittel: man interveniert militärisch.
108 Friedenstheorie
man sie dafür bezahlt oder auf andere Weise belohnt; und durch Zwangsge-
walt, indem man sie zwingt zu kämpfen, und sie vielleicht sogar erschießt,
wenn sie das nicht tun.
Diese drei Möglichkeiten, eine Einwilligung zu erlangen, schließen sich
gegenseitig nicht aus. Es funktioniert offensichtlich am besten, wenn man auf
alle drei setzt; dem Soldaten also gute Gründe gibt zu kämpfen (Eigenliebe
und/ oder Haß auf Andere in Form von Nationalismus oder anderer Arten
von Fundamentalismus; Stolz auf und Liebe für die eigene Armee und Ver-
achtung für und Haß auf die Gegenseite); gute Bezahlung von Söldnern, be-
sonders, wenn sie siegreich sind, und schwere Strafen für Deserteure. Politi-
sche Systeme machen sich meist alle drei Möglichkeiten zunutze.
Da Demokratien definitionsgemäß Menschenrechte zunehmend verwirkli-
chen, verfügen sie über mehr quid, das sich ins quo menschlicher Pflichten
umwandeln läßt. Nach obiger Staatslogik gibt es drei Pflichten: Man muß ei-
ne allgemein positive Einstellung zum etat providence haben, und zwar ins-
besondere gegenüber dem demokratischen Staat als Erweiterung des eigenen
Ichs; man muß Steuern zahlen; und man muß dazu bereit sein, sein Leben zu
opfern, wenn man dazu aufgefordert wird. Also Krieg. Eine quid-pro-quo-
Logik beansprucht "nicht nur, was das Land für mich tun kann, sondern, was
ich für das Land tun kann". Auch nichtdemokratische Länder erwarten Dank-
barkeit für Wohlfahrtstaatspraktiken (Bismarck und Hitler). Der Unterschied
besteht aber darin, daß diese Mechanismen in Demokratien institutionalisiert
sind und nicht je nach Laune der Führer zum Tragen kommen. Wahr-
scheinlich ist ersteres ein erfolgversprechenderes Rezept.
verständigt, Z.B. durch Parteiensystem und Wahlen. Darunter kann sich eine
ungeheuer große Aggression und Ausbeutung auf der Linie Rasse, Nation
und Klasse verbergen. Aber Demokratien sind ZweidritteigeseIlschaften, wo-
gegen Diktaturen Eindrittelgesellschaften sind, mit Schwankungen um die
50%. Diktaturen beginnen in der Hoffnung einen Krieg, durch populäre oder
populistische Politik die Unterstützung von über 50% der Bevölkerung zu
bekommen.
Bei diesem Theorem geht es darum, daß Demokratien genauso handeln kön-
nen, "aus innenpolitischen Gründen", wie man so sagt, um damit von schwie-
rigen Fragen abzulenken, immer die nächste Wahl im Auge. Je organischer
und lebendiger die Demokratie, desto mehr wird um die Macht konkurriert.
Demokratien gründen auf Uneinigkeit. Wenn um die Macht wenig oder gar
nicht konkurriert wird (und eine niedrige Wahlbeteiligung kann ein Indiz da-
für sein), dann kann man annehmen, daß irgendetwas nicht in Ordnung ist.
Wahlen müssen ausgefochten und gewonnen werden. Mit Kriegen können
Wahlen gewonnen werden. Also werden Kriege ausgefochten.
gen Diktaturen mehr nach Innen gerichtet sein müssen, bemüht, innere Erhe-
bungen zu unterdrücken. Demokratien können Armeen zu kriegerischen
Zwecken ins Ausland schicken und müssen sich nicht darum sorgen, was in
der Zwischenzeit zu Hause passiert. Diktaturen können das weniger, sie be-
nötigen ihre Kräfte zu Hause. Aus Gründen der Arbeitsplatzsicherung muß
sich das demokratische Militär dagegen sogar manchmal etwas einfallen las-
sen, wenn zu Hause zu wenig zu tun ist.
Man beachte, daß die neun aufgelisteten Faktoren eine innere historische!
logische Kohärenz besitzen. Aus (1) folgt (2) und aus (2) folgen (3) und (4).
Das gibt uns die Grundlage, den konkreten historisch-kulturellen Kontext
und, ungeachtet aller Rhetorik, den Ausgangspunkt, um demokratische Geo-
politik zu verstehen.
Die nächsten vier Faktoren stehen in einem anderen kausalen Zusammen-
hang, der mit geteilten Entscheidungsprozessen und der Verwirklichung der
Menschenrechte beginnt, dann weitergeht mit der Akzeptanz des Macht-
kampfes und dessen Institutionalisierung, woraus sich schließlich ein Frie-
densüberschuß ergibt. Demokratien haben gute Gründe, stolz, aber nicht
selbstgerecht (9) zu sein, denn durch Selbstgerechtigkeit wird Faktor (1)
verstärkt. Auf diese Weise bekommen wir einen positiven Feedback, der be-
sonders gefährlich ist, da alles Genannte in Belligerenz umgewandelt werden
kann, zumal in Anbetracht des historisch-konkreten kritischen Kontextes von
Herausforderungen, die in der Gegenwartswelt entlang der Linien Rasse, Na-
tion und Klasse verlaufen.
Schlußfolgerung: Mehr Demokratien, mehr kriegerisches Verhalten -
zumindest, wenn letztgenannte fünf Faktoren gegeben sind. Und der innere
(OECD) und innerste (G-7) Kreis wird, falls die eigene Macht und die eige-
nen Privilegien bedroht sein sollten durch weniger mächtige und!oder jün-
gere Demokratien, wahrscheinlich die Regel verletzen, nach der Demokratien
einander nicht angreifen. Was sehr wohl der Fall sein kann, etwa, wenn Chile
kommunistisch (1973)64 oder Algerien islamisch (1992)"' wird.
64 Hierhin gehört das berühmte Zitat Henry Kissingers, seines Zeichen Außenminister
einer Demokratie, der USA: "Ich sehe nicht, warum wir dabeistehen und zusehen
sollten, wie ein Land zum Kommunismus übergeht, allein auf Grund der Unverant-
wortlichkeit seiner eigenen Bevölkerung", The Nation vom 28 März 1994 (in einem
Artikel über den CIA). Die Berühmheit des Satzes wurde noch dadurch gefördert,
daß er in der ersten Auflage von Victor Marchetti und John D. Marks: The CIA and
the Cult o/Intelligence, New York 1974 von der CIA zensiert wurde.
65 Bei den ersten parlamentarischen Wahlen am 26. Dezember 1991 gewann die Islami-
sche Heilsfront (FIS) 188 und die Nationale Befreiungsfront (FNL) nur 15 Sitze -
nachdem letztere 30 Jahre an der Macht war. Der zweite Durchgang war angesetzt
für den 16. Januar 1992, fiel aber aus, ohne daß man große Proteste von den führen-
den Demokratien der Welt gehört hätte.
5 Das Staatensystem: dissoziativ, konföderativ,
föderativ, einheits staatlich - oder eine
aussichtslose Sache?
66 Für eine Untersuchung der Bedeutung von "Primitivität" hinsichtlich des Charakters
der Kriegsführung s. Tom Broch und Johan Gattung: "Belligerence Among the Pri-
mitives", in des letzteren Peace, War and Defense, Essays in Peace Research, Bd. 11,
Kopenhagen 1976, S. 25-37.
67 So könnte man sich vorstellen, daß z.B. der Sexismus sich auf mehr als die beiden
Geschlechter beziehen könnte, worauf Schwule und Lesbierinnen hinweisen würden,
und auch ein Matriarchat (nicht nur matrilineare und/oder matrilokale Formen) wäre
denkbar; heute diskriminieren Menschen mittleren Alters Junge und Alte (ganz junge
Menschen werden durch AbtreibunglInfantizid getötet und ganz alte durch Euthana-
sie); Rassen werden nur durch Pigmente und Physiognomie definiert, aber der Be-
griff Rasse ist objektiv betrachtet in dem Maße unbedeutend, wie er subjektiv auf-
grund des hohen Grades an Sichtbarkeit bedeutsam ist; nationale Gruppierungen
werden definiert durch kulturelle Merkmale, insbesondere durch Religion, Sprache
und gemeinsame Mythen; die Definition des Begriffs Klasse variiert stark je nach
Raum und Zeit; ebenso verhält es sich mit der Bedeutung territorialer Aufteilungen
(Grenzen); der Staat ist eine Organisation, die innerhalb eines Territoriums ein Ge-
116 Friedenstheorie
waltmonopol besitzt, und ein Superstaat ist eine Organisation, die das Gewaltmono-
pol innerhalb eines Staatensystems besitzt.
68 Die Rolle des Nationalismus nach Beendigung des Kalten Krieges, einer vierzigjäh-
rigen Übung in Super-Etatismus, kann man schon heute (1996) als klassisch bezeich-
nen.
Das Staatensystem 117
69 Das gleiche gilt für das negative Extrem der Austauschbeziehungen zwischen Staa-
ten: Ein vollkommener Austausch negativer Akte in alle Richtungen zwischen allen
Mitgliedern des Staatensystems, das totale negative Hocherlebnis, wird auch nur
kurz währen, und zwar nicht nur wegen der Zerstörung, die damit verbunden ist,
sondern auch wegen der dafür nötigen Energieverausgabung.
Das Staatensystem 119
den gleichen Gewinn daraus ziehen. Nur in einem solchen Fall könnten wir ei-
nen friedensstiftenden Effekt annehmen, aber auch nur als eine Hypothese.
Die Vertrags- bzw. die Konventionswelt kann universal sein, auf die gan-
ze Welt, oder partikular, nur auf Teile der Welt, eine Region, bezogen, wobei
ein Paar, das bilaterale Verständigung sucht, die kleinste Einheit wäre. Sie
behält aber die jeweilige "Bestimmtheit" des Vertrags bzw. der Konvention,
welche die wechselseitigen Erwartungen definiert. Um zurückzukommen auf
die Analogie menschlicher Paare: wir befinden uns jetzt auf der - ziemlich
spezifischen - Ebene von Kollegen oder Nachbarn.
Hierauf können wir jetzt in zwei Richtungen aufbauen, indem wir die Be-
ziehungen fester und/oder diffuser, aspektreicher, anlegen. Durch ein Regime
wird ein System von Verträgen oder Konventionen dadurch institutionali-
siert, daß Belohnungen und Strafen eingebaut werden. Und eine Organisati-
on regelt ein breites Spektrum von Themen und Aufgaben. Mit dem UN-Sy-
stern wird versucht, Universalität mit einem Maximum an Mitgliedsstaaten,
M, zu erreichen; sehr diffus, da um eine große Anzahl von Themen oder
Aufgaben herumgebaut und gleichzeitig fest institutionalisiert. Es ist natür-
lich nicht nur fraglich, ob diese Kombination durchsetzbar ist (ob diese drei
Aspekte vereinbar sind), sondern auch, ob sie wünschenswert ist. Falls etwa
Zwang die Hauptantriebskraft für das Einhalten von Regeln wird, der Einsatz
direkter Gewalt, dann sind wir sicherlich nicht dabei, Frieden zu schaffen. 70
Friedensstudien geht es aber, das war ja unser Ausgangspunkt, um Friedens-
schaffung mit friedlichen, nicht mit gewaltsamen Mitteln.
Unter welchen Bedingungen wären Organisationen oder Regimes frie-
densschaffend? Was könnten wir der Symbiose und der Gerechtigkeit hinzu-
fügen? Nun, drittens: eine Vielfalt der Parteien. Wenn man eine diffuse Be-
ziehung wünscht, die Zusammenarbeit also viele Dimensionen/Themen/Fra-
gestellungen einbegreifen soll, dann müssen die Beteiligten verschiedenartige
Aktivposten und Ressourcen einbringen, sonst wäre der gegenseitige Nutzen
begrenzt. In der Natur ist Vielfalt Voraussetzung für Symbiose, und beides
zusammen führt zu ökologischer Elastizität.
Vierte Bedingung: Homologie. Sie müssen sich finden, sozusagen ineinan-
dergreifen. In Bezug auf unsere Paar-Metapher gehen wir damit eindeutig
von Beziehungen zwischen KollegenlNachbarn über zu Beziehungen zwi-
schen Freunden, und da muß es gemeinsame Interessen und zugleich Ver-
schiedenheit geben. Damit es zur Zusammenarbeit zwischen Staaten kommt,
muß jeder Bereich des Staates A sein Gegenstück im Staate B finden; was
deshalb kein Problem ist, weil heutige Staaten nach dem gleichen Grundmo-
70 Folglich sollte man den Gebrauch des Terminus "friedensstiftend" bei Zwangsan-
wendung ablehnen. Zwang bleibt Zwang und hat die Tendenz, Gegen-Zwang zu er-
zeugen. Somalia 1993 könnte das erste Beispiel dafür sein, daß ein Volk Gegen-
zwang einsetzt, um sich einer "Friedensschaffung" zu widersetzen.
Das Staatensystem 121
delI gebaut sind (Dreiteilung der Macht, wobei die Exekutive auf ungefähr
gleiche Art und Weise in Ministerien aufgeteilt ist, usw.).
Fünftens: kreative Konfliktläsung. Konflikte sind vorprogrammiert, und
zwar nicht nur zwischen den Parteien (Dispute), sondern auch zwischen ihren
Zielsetzungen und Themen (Dilemmata), von der Kombination beider ganz
zu schweigen. Bei realen Konflikten geht es niemals nur um ein Problem
zwischen zwei Parteien; sie sind viel komplexer. Dadurch bieten sich aber
andererseits auch mehr Gelegenheiten zu einer kreativen Konfliktlösung,
weil Möglichkeiten zu bilateralen, trilateralen, quadrilateralen usw. Tausch-
geschäften bezüglich zweier, dreier oder noch zahlreicherer Streitpunkte be-
stehen. Also haben wir zwei Unterbedingungen:
- der Bereich, die Zahl der Beteiligten m, muß höher als 2 sein.
- der Umfang, die Zahl der Streitfragen n, muß höher als 1 sein.
Sechstens: Mechanismen positiver Einwilligung, d.h. kein oder nur minimaler
Einsatz von Strafen, von Zwang. An Regeln muß man sich weitgehend hal-
ten, sonst funktioniert die Assoziation nicht. Am besten wäre Einwilligung
aus innerer Überzeugung, mit anderen Worten: Verinnerlichung. Auf der per-
sönlichen Ebene bedeutet das, daß man ein gutes oder ein schlechtes Gewissen
hat. Länder dagegen, d.h. Territorien mit einem Staatswesen im Mittelpunkt
und einer uni- oder multinationalen Bevölkerung, mögen zu selbstgerecht sein,
um ein kollektives schlechtes Gewissen zu entwickeln, außer vielleicht unter
extremen Umständen (Deutschland nach dem 11. Weltkrieg?). Sie können ande-
rerseits, und das ist oft der Fall, kollektiv von sich sehr überzeugt sein, leider
häufig aus Gründen, die anderen nicht einleuchten. Dann gibt es die Möglich-
keit der Belohnung (positiv institutionalisiertes Einverständnis), d.h. man be-
lohnt die Zusammenarbeit, anstatt sich auf die Bestrafung für verweigertes Ein-
verständnis zu konzentrieren. Mit anderen Worten: positive Sanktionen, wenn
der Austausch z.B. tatsächlich dem wechselseitigen Nutzen dient.
Siebtens: Transzendenz. Die Vorstellung, daß eine Assoziation mehr ist als
die Summe (richtiger: die Menge) seiner Mitgliedsstaaten, muß konkretisiert
werden. Das könnte in der ad hoc-Form periodischer Konferenzen geschehen
oder mittels eines institutionalisierten Sekretariats, in dem ein Mitarbeiterstab
die Interessen der Assoziation wahrnähme. Die Aufgabe einer solchen Konfe-
renz oder eines solchen Sekretariats ist definiert durch die sechs vorhergehen-
den Punkte.
Diese sieben Punkte also kennzeichnen ein ausgereiftes assoziatives Sy-
stem, das auf Symbiose und Vielfalt beruht. Damit stellen wir offensichtlich
ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten vor, das von Verträgen über Fische-
reirechte in einem Grenzfluß bis zum gesamten UN-System reicht, und Sub-
typologien haben wir schon angedeutet. Innerhalb dieses Paradigmas kann
viel Harmonie und Frieden geschaffen werden.
122 Friedenstheorie
Interaktion einspeisen, wodurch dieses sehr dicht, sehr lebendig wird und
über Grenzen hin verflochten. Dies kann man als eine Bedingung formulie-
ren, wie im folgenden geschehen.
Achtens also: Entropie, d.h. eine Verteilung der gesamten Interaktions-
masse auf alle Beziehungen, nicht nur auf die innerhalb von Ländern zwi-
schen Staat und Nicht-Staat oder, außerhalb, zwischen Regierungen. Wie bei
Paaren, die nicht nur durch eine tiefe Sympathie, die es auch in Freundschaf-
ten gibt, verbunden sind, sondern auch durch körperliche Vereinigung und
seelische Gemeinsamkeiten. Heute können die Europäische Gemeinschaft
(vor Abschluß des Maastricht-Vertrages), die Nordische Gemeinschaft (vor
dem Beitritt dreier ihrer Mitglieder zur Europäischen Union) und die Verei-
nigung Südostasiatischer Nationen (ASEAN) als Beispiele für Konföderatio-
nen dienen. Man zieht einen losen Kreis um "uns" und um "die anderen",
wobei manche kommen und andere gehen. In dem Maße, wie dies geschieht,
wird ein neuer Akteur geboren, ein Super-Akteur.
gebaut ist mit nicht zu erkennenden oder zumindest nicht erkannten Harmo-
niestellen, die politische Erdbeben verhindern können - wenn man sie findet.
zeitig die Organisation sein, die nach außen den Frieden am meisten bedroht.
Deutschland hat unter den deutschen Territorialeinheiten den Frieden wahren
können," aber um welchen Preis für das übrige Europa? Desgleichen die
USA,72 die die föderative Einheit durch den Bürgerkrieg gefestigt haben,
oder auch die Sowjetunion nach dem Bürgerkrieg von 1918-1922.
Die Logik ist simpel. Der Aufbau einer festen Staatsorganisation im Zen-
trum des Supersystems (also auf Föderations- oder Einheitsstaatsebene, denn
auf den anderen Stufen besteht der Staat als gemeinsame Organisation nur in
embryonaler Form) reguliert die Beziehungen zwischen den Bestandteilen,
und zwar häufig durch kreative Konfliktlösung und positive Einwilligungs-
mechanismen. Aber eben diese Staatsorganisation verleiht dem neuen System
auch Kohärenz nach außen. Eine potentielle Bedrohung des Friedens ist ent-
standen, da einige Staaten einbezogen und andere ausgeschlossen wurden.
Die gleichen Mechanismen, die auf Ebene E friedensstiftend sind, können
auf der Ebene E + I kontraproduktiv werden. Die hochproblematische
Schlußfolgerung lautet: Schließe niemanden aus, mache die ganze Welt föde-
rativ oder unitarisch. Machbar? Wünschenswert?
71 Die deutsche Konföderation, der Deutsche Bund, hatte als Nachfolger zwei Ein-
heitsstaaten, Das Zweite Reich (Bisl1Ulrck 1871-1918) und Das Dritte Reich (Hitler
1933-45), und danach eine Föderation, die Bundesrepublik Deutschland, seit 1949.
Eine begründete Vermutung: Das nächste Mal wird Deutschland wieder eine Konfö-
deration.
72 Ursprünglich auf der Grundlage der Articles of Confederation, 1781-89, als Vorbe-
reitung auf eine stärker föderative Verfassung. Die Schweiz begann ebenfalls als
Konföderation von Kantonen, wurde aber seit 1874 gemäß den hier benutzten Krite-
rien zu einer Föderation (die nationalen Autokennzeichen mit CH, Confederatio He/-
vetica, sind nicht korrekt; es sollte FH darauf stehen). Für eine exzellente Analyse
der Schweizer Struktur und Entwicklung, in vielerlei Hinsicht ein Modell für die
Welt, s. Wolf Linder: Swiss Democracy.· Possible Solutions to Conflict in Multicultu-
ral Societies, New York 1994.
126 Friedenstheorie
Die Kommentare gründen auf der allgemeinen Annahme, daß die menschli-
che Fähigkeit, sehr eng mit denen zu leben, die sehr verschieden sind, be-
grenzt ist; eine Annahme, die selbst Einschränkungen unterworfen ist." Neh-
men wir aber einmal an, sie besäße einige Gültigkeit. In diesem Fall werden
Dissoziationen stattfinden, und zwar auf der gesellschaftlichen Ebene in
Form von Schichtenbildung (oben 4, 7 und 8), und auf der räumlichen Ebene
in Form von Trennungen (2 und 5). Mehr-Klassen-Systeme dienen als Nähr-
boden für Schichtenbildung; Grenzen, die man auf der Landkarte zieht, die-
nen der Entstehung neuer Länder.
In einer Einklassen-Gesellschaft (d.h. einer mit nur wenigen Unterschie-
den in Lebensqualität und -quantität) wird man die territoriale Lösung bevor-
zugen, in einer Mehr-Klassen-Gesellschaft (mit ausgeprägten Unterschieden)
die Schichtenbildung. In der früheren Republik Südafrika kamen beide Mög-
lichkeiten in der Apartheid zusammen, gab es Schichtenbildung und territo-
riale Trennung in einem Land. Nun zu:
1. Uni - Uni - Uni. Die Einwohner sind oder empfinden sich als eine Rasse
und eine Nation und leben grundsätzlich in einer Ein-Klassen-Gesellschaft.
Im Prinzip heißt das, daß drei der Bruchlinien beseitigt sind (die Deutschen
73 Statt "multi-national" wird oft der Begriff "multi-ethnisch" verwendet, wobei das
Problem darin besteht, daß "ethnisch" meist auf den Anderen, nicht auf das Selbst,
angewendet wird, wie in ,,Let's go out and taste some ethnic cooking tonight". Eben-
so ruft die Modebranche von Zeit zu Zeit "ethnische" Kleidungsstile aus ("the ethnic
look").
74 Eine Einschränkung wäre, daß das besonders für den homo occidentalis mit seinem
manichäischen Paradigma gilt, dem eine Dichotomie mit einem starken Gefälle zwi-
schen schwarz und weiß, schlecht und gut fest eingeprägt ist. Anders = schlecht wäre
eine konkrete Lesart dieser Prägung.
Das Staatensystem 127
75 Ziemlich anders als die okzidentale Version patria 0 muerte, Vaterland oder Tod, der
Wahlspruch, den Castro berühmt gemacht hat. Patria ist widerspruchsfreier; aber
darum schon den Tod akzeptieren?
76 Um etwas Offensichtliches auch auszusprechen: Die USA sind kein Beispiel hierfür,
aufgrund der Tatsache, daß die eingeborenen Amerikaner ausgerottet wurden, eben-
so wie aufgrund der Art und Weise, in der einwandernde Rassen und Nationen in-
nerhalb eines soliden Klassensystems mit Kasten-Aspekten stratifiziert und dann
"amerikanisiert" werden. Bosnien-Herzegowina war multinational, aber die Kon-
struktion scheint der Diktatur Titos als Bedingung für den Zusammenhalt bedurft zu
haben (oder der Osmanen, der Okkupation/Annexion durch die Habsburger, der
kroatischen Diktatur unter Pavelic).
128 Friedenstheorie
1991-93, gesehen." Es wäre jedoch keine Lösung, wenn sie stattdessen Ein-
heitsstaaten gewesen wären! In diesem Fall hätten Klasse und Nation noch
stärker korreliert. Die genannten Staaten konnten nur mit viel Zwang als Fö-
deration zusammengehalten werden, und es hätte noch größeren Zwanges
bedurft, um die Einheitsstaats-(Nicht-)Lösung durchzusetzen.
Und damit ist zugleich die Frage nach der Lebensfähigkeit einer Weltre-
gierung an der Spitze einer Weltföderation oder eines Welteinheitsstaates be-
antwortet. Alle Bruchlinien bezüglich Rasse, Klasse und Nation verliefen
dann im Innern. Sie stehen schon heute miteinander in Wechselbeziehung
und dürften in einem solchen System noch enger korrelieren. In einem der-
artigen System würde die Machtausübung im wesentlichen nach unten ge-
richtet sein, und das Resultat wären zahllose Fälle, in denen das Zentrum in
der Peripherie intervenieren würde, um die Rasse-Klasse-Nation-Kombina-
tion unter Kontrolle zu halten. 78 Direkte Gewalt würde auf die strukturelle
Gewalt folgen; von oben, also vom Zentrum, aber auch von unten, aus der
Peripherie. Unter dem Strich hätte das mit Frieden nicht viel zu tun.
Das aber gilt auch für das entgegengesetzte Szenario: die totale Trennung,
das dissoziative Modell. In diesem Fall ist horizontale strukturelle Gewalt am
Werk, eine Territorialstruktur, die die Menschen auseinanderhält. Dieser gan-
ze Mechanismus des 20. Jahrhunderts aus Grenzen", Grenzkontrollen, Visa,
Pässen, Stempeln und anderen Ärgernissen verkörpert strukturelle Gewalt,
die den uneingeschränkten Kontakt jedes mit jedem anderen, den gänzlich
anderen eingeschlossen, verhindert. Das Problem ist jedoch, daß für manche
die enge Nähe zum Anderen auch Gewalt bedeutet, und man sollte solche
Menschen deshalb nicht unbedingt als Rassisten, als bigotte, als Antisemiten
usw., abstempeln. Hilfreicher wäre die Einsicht in die begrenzte Verarbei-
tungsfähigkeit der Menschen von Selbst-Andere-Unterschieden und dann -
die Suche nach neuen Ansätzen.
Gewalt also, wenn Menschen auseinandergehalten werden, und Gewalt,
wenn man sie zusammenbringt? Genau. Hier gibt es keinen (logischen) Wi-
77 Und man kann den vorherigen (fast vollständigen) Zusammenbruch des britischen
Empire und des französischen Kolonialsystems zu Systemen eher konföderativer Art,
des Commonwealth of Nations und der Communauu! Franraise, auch als Reaktion
betrachten auf die starke vertikale strukturelle Gewalt, die Föderationen eigen ist.
78 Die UNO-Aktion in Somalia, die gegen Ende des Jahres 1992 als humanitäre Aktion
begann und allmählich zur Frage wurde, wer letztlich die Macht besitzt, kann hier als
Beispiel dienen. Die Geschichte wird das, was geschehen ist, wahrscheinlich weniger
als humanitären Akt, sondern eher als ersten Unabhängigkeitskrieg eines Volkes ge-
gen das, was in der Welt einer Weltregierung am nächsten kommt, die UNO nach
dem Kalten Krieg, klassifizieren.
79 Mittelalterliche Systeme benötigten weniger Kontrolle über den Grenzverkehr von
Personen. Zusammenhalt könnte mit anderen Mittel gesichert werden, durch Ehen
zwischen königlichen Familien etwa und über den mächtigen Einfluss einer über-
greifenden nichtterritorialen Institution, der Katholischen Kirche (pax ecclesiae).
Das Staatensystem 129
derspruch, teils, weil alles Soziale mit Widersprüchen behaftet ist, und teils,
weil wir vielleicht über Gewalt gegenüber verschiedenen Menschen spre-
chen. Die beste allgemeine Lösung, die uns heute zur Verfügung steht, ist
wahrscheinlich das konföderative Schema. Multinationale Konföderationen
zwingen niemanden zur Nähe, erleichtern aber denen das Zusammenkom-
men, die dies wollen, indem sie die Grenzen durchlässig machen, also nicht
nur den Visums-, sondern auch den Paßzwang beseitigen. Darüberhinaus
kann, wie schon oben angedeutet, eine Konföderation leichter neu ausgehan-
delt werden, und es ist grundsätzlich möglich, sie zu verlassen; sie ist weder
zu freizügig noch zu eng, liegt sozusagen in der Mitte.
Was ist dann an einer Konföderation schlecht? Die Schwierigkeit besteht
darin, sie stabil zu halten, sie gegen die Scylla der Föderation und die Cha-
rybdis der elementaren Assoziation zu schützen. Die Konföderation ist nicht
sehr stabil, und es gilt noch, Mechanismen zu entwickeln, die ihr ein stabiles
Gleichgewicht verleihen.
Ich würde also konföderative Lösungen für die meisten Probleme des
territorialen Systems empfehlen, weil Konföderation die Gleichheit aller
impliziert und gleichzeitig ein starkes Zentrum fehlt, das Widerspenstige be-
strafen und Konflikte mit äußeren Akteuren in Gang setzen könnte. Folglich
spricht vieles für
- Bosnien-Herzegowina als Dreierkonföderation;
- Jugoslawien III als Konföderation nach dem Einheitsstaat Jugoslawien I
(1918 - 41) und dem föderalen Jugoslawien 11 (1945-91);
- Südosteuropa (der "Balkan") als Konföderation;
- die Europäische Union als Konföderation, die die föderalen Aspekte nicht
verwirklicht;"O
eine paneuropäische Konföderation vom Atlantik zum Pazifik, gestützt auf
die OSZE, den Europarat und die Economic Commission for Europe der
UNO;
- die Welt als Konföderation durch die Stärkung der horizontalen Bande in
der UNO und die Beibehaltung der schwachen Superstruktur: Global Go-
vernance eher als Weltregierung.
In der Welt von gestern konnte man drei Regionen als multinationale Konföde-
rationen und Friedenssysteme bezeichnen: die Nordischen Länder, die Europäi-
sche Gemeinschaft und die Vereinigung Südostasiatischer Nationen (ASEAN).
Dies bedeutete 5+ 12+6=23 Nationen der bald 190 UNO-Mitgliedsstaaten, die
den internen Krieg zwischen Mitgliedsstaaten zwar nicht "undenkbar", aber
Die Aussage: "hier besteht ein Konflikt", sollte immer als Hypothese be-
trachtet werden, nicht als etwas Offenkundiges oder gar Triviales, worüber
leicht ein Konsens herzustellen ist. Wahr ist, daß oft gefolgert wird, ein
Konflikt sei im Entstehen, wenn bestimmte destruktive Verhaltensweisen, V,
insbesondere in Form von gewaltsamen physischen oder verbalen Handlun-
gen oder einer feindlichen Körpersprache, auf der manifesten, offenkundigen
Ebene wahrgenommen werden können.
Aber: Wir haben gerade argumentiert, daß ein Konflikt, insofern er ein
Problem bezeichnet, auch zu konstruktivem Verhalten führen kann, wie z.B.
zu tiefdringenden meditativen Haltungen, bekannt auch als "innere Dialoge",
und zu "äußeren Dialogen" mit anderen bezüglich der Probleme. Das de-
struktive Verhalten zerstört, verletzt, schadet; das konstruktive Verhalten
baut etwas auf. Beide können zur gleichen Zeit und am gleichen Ort beste-
hen, in derselben Person; sie sind nicht inkompatibel.
Es gibt also keine einfache Beziehung zwischen Konflikt und Kon-
fliktverhalten, wenn man das Doppelwesen des Konflikts im Auge behält.
Ein Beispiel: Wenn man ehemals feindselige Antagonisten beobachtet, wie
sie zusammen und/oder mit einem Konflikthelfer sich auf kreative Weise auf
eine grundlegende Konflikttransformation hin bewegen, kann man hektische
Ausgelassenheit, sichtliche Erregung, tiefes Glück, ja sogar Liebe wahr-
nehmen. Und doch besteht der Konflikt weiter. Zweifellos erleben viele
Menschen ihre Sternstunde, wenn ein Konflikt sich entfaltet. Andererseits
haben wir es vielleicht mit einer neurotischen Persönlichkeit zu tun, wenn
Spannungen für diese zur notwendigen, nicht nur hinreichenden Vorausset-
zung des Wohlbefindens werden. Wenn jemand Konflikte schafft, um eine
Konfliktformationen 135
einen Lebenszyklus, der in Kapitel 2 untersucht werden soll. Ein Konflikt hat
außerdem eine manifeste und eine latente Seite, wobei der manifeste Aspekt
mit V gleichzusetzen ist und der latente mit A und W.
Auf der manifesten, empirischen, wahrgenommenen Ebene erleben, beob-
achten die Teilnehmer bestimmte Phänomene, V genannt. Dazu kommt
durch A und Weine latente, theoretische, erschlossene Ebene. Zusammenge-
nommen ergeben sie alle das Konfliktdreieck, wie abgebildet in der folgen-
den Tabelle:
Latente Ebene:
theoretisch, erschlossen, A, Einstellungen W, Widerspruch
unterbewußt Annahmen
81 Siehe Piero Giorgi: The Origin of Violence by Cultural Evolution in Humans (i.E.).
82 Der klassische Text ist lohn Dollard: Frustration and Aggression, Westport, CT
1980 (erstmals 1944). Siehe auch Aubrey l. Yates: Frustration and Conflict, New
York 1962.
Konfliktformationen 137
flikte spekulieren, die auf der Suche nach ihrer vollen Ausprägung oder Ver-
vollständigung sind, wobei wir in jeder beliebigen Ecke anfangen und dann
die anderen hinzufügen können, was augenscheinlich auf sechs verschiede-
nen Wegen geschehen kann. Wir können aber auch von unten nach oben le-
sen und uns Gedanken über die Zergliederung von Konflikten machen, bei
der Einstellungen verschwinden, Verhaltensmuster in Vergessenheit geraten
und Widersprüche sich auflösen. Manchmal geschieht so etwas von selbst,
häufig ist aber eine bewußte Intervention durch das Ich (Wir) oder durch
den/die Anderen vonnöten.
Ein (vollständiger) Konflikt ist ein Syndrom, reflektiert eine dreistellige
Relation. Man muß hier große Vorsicht walten lassen, denn die Aussage:
"Hier besteht ein Konflikt", kann zur "self-fullfilling" oder "self-denying
prophecy" werden. Wenn Menschen gesagt wird, sie befänden sich in einem
Konflikt, dann können sie anfangen, sich entsprechend zu verhalten, entspre-
chend zu empfinden und zu handeln, und können Widersprüche sehen, wo
gar keine sind. Sie können aber auch vor der Artikulation des Konflikts zu-
rückschrecken, z.B. weil sie die Konsequenzen fürchten, die aus der Annah-
me der Konfliktdiagnose folgen. Das Ergebnis kann dann sein, daß sie sich
ihren eigenen Konflikten nie zu stellen wagen.
Um die Dialektik vom Manifesten und Latenten, die teilweise auch eine Be-
wußtseins-/Unterbewußtseins-Dialektik ist, besser verstehen zu können,
sollten folgende Fragen bedacht werden: Kann man sich einen Konflikt vor-
stellen, der nur auf der manifesten Ebene besteht? Oder nur auf der latenten
Ebene? Die Antwort auf die erste Frage lautet nein und auf die zweite Frage
ja, was folgende Gründe hat.
Selbstverständlich können wir uns auf der V-Ebene einen Menschen/Ak-
teur oder zwei vorstellen, die miteinander in vollkommener Übereinstim-
mung oder Nicht-Übereinstimmung oder beides sind. Wenn kaum Überein-
stimmung besteht, können wir von "Spannung", im entgegengesetzten Fall
von "Ent-Spannung" reden, wobei angemerkt werden soll, daß sich die bei-
den Möglichkeiten nicht gegenseitig ausschließen. Jedoch setzen weder
Spannung noch Entspannung (oder deren positive Seite, Anziehung) voraus,
daß irgendwo ein Konflikt besteht. Menschen können sich je nach Charakter,
der gewiß von Konflikten der Vergangenheit geprägt sein kann, so verhalten,
wie sie sich normalerweise verhalten, nämlich wie Teufel oder Engel, wie
beide oder wie keiner von beiden. Wenn man zwei Menschen, die voller Res-
sentiment sind, zueinandergesellt, wird es zu verbaler und/oder physischer
Animosität kommen. Damit aber die Diagnose "Konflikt" gerechtfertigt ist,
Konfliktformationen 139
fessionelle Hilfe vonnöten sein. Ein Ansatz wäre, nach Freud, Träume zu
Hilfe zu nehmen, Trümmer aus dem Prozeß der seelischen Archivierung von
ErkenntnissenIWillensbestrebungeniGefühlen der Persönlichkeit (präpariert
durch die Prä-Emotionen, -Volitionen und -Kognitionen), um zu verstehen,
wie diese tieferen Schichten organisiert sind.
Nun zur W-Ecke, zum Widerspruch zwischen Ziel-Zuständen. W ans Ta-
geslicht zu holen, manifest zu machen, heißt, ein Bewußtsein davon schaffen,
wo die Inkompatibilität liegt, d.h. welche Zielzustände einander im Wege
sind. Durch seine/ihre Erkenntnisse verfügt der Akteur/die Akteurin über ei-
ne Art Plan des Widerspruchs. Wir haben es nun mit einem bewußten Men-
schen zu tun, der sich nicht nur über seine eigenen Vorstellungen, seine
Wünsche und seine Gefühle, sondern auch darüber im Klaren ist, was ihnen
im Wege steht. Mit anderen Worten, es handelt sich um ein Subjekt, das be-
reit ist, über einen Satz mit Prädikat und Objekt zu herrschen, also zielgerich-
tet zu handeln und nicht nur sich zu verhalten.
Wie können wir nun diesen Vorgang nennen, bei dem A und Waus dem
Unterbewußten, ja teils sogar aus dem Unbewußten hervorgeholt werden?
Nennen wir ihn mit Paulo Freire8l Bewußtmachung (conscientization) und
den entgegengesetzten Prozeß Unbewußtmachung (deconscientization). Das
ist ein absolut grundlegender Prozeß, denn wie soll ein Konflikt bewußt
transformiert werden, wenn die daran Beteiligten nicht bewußte Subjekte,
echte Akteure sind? Sind sie das nicht, wird der Konflikt den Akteur als Ob-
jekt, als Partei im Konflikt transformieren. Der Akteur ist dann Passagier, der
mitgenommen wird, aber kein Fahrer, der den Prozeß unter Kontrolle hält.
Und doch ist die Bewußtrnachung nur eine notwendige, keine hinrei-
chende Bedingung, wie in Kapitel 3 über Konflikttransformation deutlich
werden wird. Dazu kommt, daß der Akteur zwar sowieso transformiert wer-
den wird, aber bei vollem Bewußtsein eher in der Lage ist, die Transformati-
on in die gewünschte Richtung zu steuern, ihn/sie selbst mit einbegriffen. An
dieser Stelle soll ein sehr simpler Grund erwähnt werden, weshalb die Be-
wußtmachung nur eine notwendige Voraussetzung ist: Die Vorstellung, die
man vom Konflikt hat, kann ganz einfach falsch oder unzureichend sein. Es
gibt so etwas wie ein falsches Bewußtsein, das hat uns Marx gelehrt. Wir, ob
nun am Konflikt beteiligt oder nicht, machen uns von diesem ein Bild, mit A,
V und W, auf uns und die andere Partei bezogen. Ob dieses Bild nun im
Kopf der Beteiligten oder eines Beobachters entstanden ist, immer wird es
hypothetisch bleiben und immer und immer wieder geprüft und revidiert
werden müssen. Falsches Bewußtsein meint eine nicht bestätigte Hypothese
oder ein unrealistisches Bild (vom Konflikt), und ein solches können und
werden wir uns alle einmal machen.
Wenn die Bewußtmachung nun so sinnvoll ist, warum halten wir uns dann
begrifflich offen für ihre Negation, die Unbewußtmachung? Nun, nicht nur
weil es faktisch passiert - Konflikte werden vergessen oder verdrängt -, son-
dern auch, weil es notwendig, ja sogar wünschenswert sein kann. Wir können
uns nicht ständig all der Konflikte, an denen wir so oder so beteiligt sind,
bewußt sein. Wir sollten willens und fähig sein, sie neu zu laden (retrieve),
wenn wir sie ab gespeichert haben, um eine passende Computer-Metapher zu
verwenden, die heute Teil der Weltkultur ist. Wir können sie nicht alle glei-
chermaßen zu jeder Zeit und dauerhaft parat haben. Eine gewisse Selektivität
ist eine Bedingung für das menschliche und soziale Überleben. Aber
,abspeichern ' bitte, nicht ,löschen'!
Dann eine Schlüsselfrage, die alles andere als metaphysisch ist: Wer oder
was bringt das alles zustande, wer ist das Subjekt des Bewußtmachungs-
prozesses? Wer bringt Kenntnisse/Willensbestrebungen/Gefühle hinauf ins
Bewußtsein? Es kann nicht das UnterbewußtseinlUnbewußte selbst sein, so-
lange wir unterstellen, daß die Psyche (the mind) unmöglich gleichzeitig so-
wohl Subjekt als auch Objekt dieses Prozesses sein kann. Oder handelt es
sich hier eher um ein begriffliches bzw. linguistisches als um ein psychologi-
sches Problem? Die Antwort, die der Autor vorzieht, ist die, zu den Katego-
rien Körper und Psyche (= Persönlichkeit, Sitz von Prä-Kognitionen, -Vo-
litionen und -Emotionen) noch eine dritte als Konstituens des homo sapiens
hinzufügen: den Geist. Wir können uns den Geist als Ort der Reflexion über
und von allem, was in Körper und Verstand, in Soma und Psyche vorgeht,
vorstellen. 84 Wenn dies Reflexionsvermögen beginnt, auf A, W und Veinzu-
wirken, ist das Resultat im Prinzip eine - auch im Bewußtsein der Akteure -
voll artikulierte Konfliktvorstellung.
Verändert sich dieser Prozeß, je nachdem, ob wir es mit einem Disput
oder mit einem Dilemma zu tun haben? Nicht sehr. Das Dilemma wird einem
einzigen Beteiligten bewußt, durch den inneren Dialog. Beim Disput läuft die
Bewußtmachung bei mehr als einem Beteiligten ab; diese entwickeln mehr
oder weniger realistische Vorstellungen vom Konflikt, an dem sie beteiligt
sind. Sollten wir von ihnen verlangen, daß die Vorstellungen übereinstim-
84 Für uns Menschen wäre es eine angenehme Annahme, daß der Geist die differentia
specijica ist, durch die wir uns von Pflanzen und Tieren unterscheiden. Das mag
richtig sein. Da ich nie ein Delphin war, bevorzuge ich einen agnostischen Stand-
punkt.
142 Konflikttheorie
men? Nein, aber der Vergleich der Vorstellungen im äußeren Dialog ist na-
türlich ein sehr wichtiger Aspekt eines Konflikttransformationsprozesses,
wobei nur am Rande bemerkt werden soll, daß eine Übereinstimmung nicht
unbedingt bedeutet, daß die gemeinsame Vorstellung realistisch ist. Sie kann
z.B. auf die gleiche Art und Weise unrealistisch sein, weil die Beteiligten die
gleichen Prä-Kognitionen haben. 85 Die Überprüfung erfolgt durch das, was
später geschieht.
Wenden wir uns jetzt dem zu, was wir hier einen strukturellen oder in-
direkten Konflikt nennen, bei dem weder A noch W bewußt, sondern im
Unterbewußtsein verankert sind. Es mag schmerzlich, ja sogar fast unmög-
lich sein, sie aus dem Unterbewußtsein hervorzuholen. Es besteht ein Wider-
spruch, dieser wird aber nicht wahrgenommen. Es gibt nicht einmal das Be-
wußtsein eines Ziels, also kein Wollen und folglich auch keine zugänglichen
Gefühle, da kein Bewußtsein einer Sein/Sollen-Übereinstimmung oder -Dis-
krepanz vorhanden ist. Es existiert nicht einmal ein falsches Bewußtsein, da
es überhaupt kein Bewußtsein gibt. Was aber gibt es dann, mit welchem
Recht sprechen wir in einem solchen Fall überhaupt von einem Konflikt?
Bezüglich des Dilemmas eines Menschen ist die Antwort klar, geht es
doch genau um diesen Fall in der gesamten psychoanalytischen Tradition.
Der Widerspruch, z.B. zwischen Es und Über-Ich, liegt in den tieferen
Schichten der Persönlichkeit oder in der Struktur des (inneren) Person-
Systems, eine Formulierung, die im nächsten Absatz ihre Entsprechung hat.
Aber der Widerspruch zwischen diesen Prä-Volitionen ist dem Geist des
Trägers dieses Widerspruchs nicht zugänglich. Das bedeutet nicht, daß es
ihm/ihr nicht sehr schlecht gehen und er/sie sich nicht seltsam verhalten
kann; das Konfliktdreieck ist ihm/ihr aber nicht bewußt, oder wenn doch, so
ist die Vorstellung davon alles andere als realistisch. An der Oberfläche zei-
gen sich aber, für andere oft eher wahrnehmbar als für den Betroffenen
selbst, Verhaltensmuster, die als "Symptome" klassifiziert werden, die also
auf die Existenz von A und W in tieferen Schichten der Persönlichkeit deuten
lassen sollten. Eine Bewußtmachung derselben scheint jenseits der Möglich-
keiten der betroffenen Person zu liegen. Ein Eingreifen in Form professionel-
ler Hilfe kann dann erforderlich sein. Wie fachmännisch eine solche Behand-
lung tatsächlich ist, ist eine andere Frage, die in Kapitel 4 einigermaßen ein-
gehend behandelt werden soll.
Kommen wir nun zum Disput. Hier sind die Beteiligten auf Kollisions-
kurs, es besteht ein Widerspruch. Sie sind sich aber weder des Widerspruchs
noch der Zielzustände bewußt, die den Widerspruch definieren. Die Gefühle,
die sie haben, hängen für sie nicht mit dem Widerspruch zusammen, ihr Geist
85 Die ganze Theorie der Kosmologie, der Tiefenkultur einer Gesellschaft, dient dazu,
sich mit den allgemein geteilten Prä-Kognitionen des kollektiven Unterbewußtseins
zu befassen (in Teil IV).
Konfliktformationen 143
beschäftigt sich nicht einmal damit. Der Widerspruch liegt im System, das sie
zusammenbringt, oder, um die homologe Formulierung zu verwenden: in der
Struktur des sozialen Systems. Betrachten wir die zwei Geschlechter in einem
Patriarchat: Hier besteht eindeutig ein Widerspruch, und er bestand schon,
bevor Henrik Ibsen "Nora oder Ein Puppenheim" schrieb und damit das kol-
lektive Bewußtsein durch einen Quantensprung erweiterte. Auch entstand der
Widerspruch in der Weltsystemstruktur zwischen den USA und Cuba nicht
dadurch, daß Fidel Castro "Unruhe" (eine stark V-zentrierte Kategorie) stifte-
te, sowenig wie der internationale Konflikt zwischen bestimmten einheimi-
schen amerikanischen und angelsächsischen Stämmen in Nordamerika durch
"Indianerunruhen" entstand. Diese waren bloß Manifestationen.
Handelte es sich aber in den letztgenannten Fällen nicht um bewußte Zie-
le? In gewissem Maße ja, aber das gesamte Ausmaß dessen, was auf dem
Spiel stand, war kaum bewußt. Wir brauchen einen Begriff für im Unterbe-
wußtsein angestrebte Ziele, Ziele, die objektiv betrachtet existieren, auch
wenn sich das Subjekt ihrer nicht bewußt ist. Wir werden uns auf sie als In-
teressen beziehen, während wir bewußt angestrebte Ziele Werte nennen wer-
den. Beide können materieller oder nichtmaterieller Art sein. Wir unterstellen
nicht, daß die im Unterbewußtsein vorhandenen Interessen materiell und die
Werte "ideologisch" und damit nichtmateriell sind. Beide können beides
sein; in der Bewußtmachung liegt der Unterschied. 86
Wenn wir wollen, können wir jetzt sagen, daß der Mensch in einem intra-
personellen Konflikt ein Interesse daran hat, dem Es, aber gleichzeitig auch
dem Über-Ich zu seinem Recht zu verhelfen. Das Bewußtseinsniveau ist sehr
niedrig oder gleich null. Durch Bewußtmachung aber können diese Interessen
zu Werten werden, d.h. als Akteur, als Subjekt, kann die Person jetzt beide be-
wußt bewerten, kann feststellen, daß eine Inkompatibilität besteht und sich für
die eine oder die andere Seite entscheiden. Wenn jemand ständig dem Es den
Vorzug gibt, handelt es sich um einen sehr sinnlichen Menschen; bevorzugt
jemand dauerhaft das Über-Ich, haben wir es mit einer sehr weltentrückten
Person zu tun.
86 So soUte man unterscheiden zwischen dem, was die Akteure erklärtermaßen woUen
(hierbei läßt es die Politische Wissenschaft in der Regel bewenden), dem, wovon die
Akteure glauben, daß sie es woUen (hier intervenieren die Historiker und verweisen
auf die möglichen Unterschiede zu dem öffentlich Erklärten), dem, was sie im Un-
terbewußtsein wollen, was sie also woUen, ohne es selbst zu wissen (hier ist dann der
Ort für Vertreter der Psychoananlyse und funktionalistischer Soziologienl Anthropo-
logien) und schließlich dem, was sie vieUeicht - bei besserer Information, genauer
Analyse, höheren Bewußtseinsgraden - eigentlich woUen (hier bieten gern Marxi-
sten, aber auch Anhänger der Realistischen Schule in den Internationalen Beziehun-
gen und andere ihre Hilfe an). Ich unterstütze aUe diese Bemühungen, denen aUe-
samt analytisch wie praktisch Wichtiges entnommen werden kann. Auch wäre Frie-
densforschung nicht frei vom impliziten Moralismus der letzten Perspektive - sie
soUte es zumindest nicht sein.
144 Konflikttheorie
Wir sind jetzt in der Lage, vieles des oben Angesprochenen in einem übergrei-
fenden Schema zusammenzuführen, das auf zwei einfachen Variablen beruht:
m, die Zahl der Akteure eines Konfliktes, und n, die Zahl der Themen oder Fra-
gestellungen oder ganz einfach Ziele, die in deren (Intraaktions-) Dilemmata
und (Interaktions-) Dispute eingehen. Betrachten wir folgendes Schema:
Tabelle 2.2: Die Zahl der Akteure (m) und die Zahl der Ziele (n)
n=n X (1, n) (2, n) (3, n) (m,n)
n=3 X (1,3) (2,3) (3,3) (m,3)
n=2 X (1,2) (2,2) (3,2) (m,2)
n=1 X (1, 1) (2, 1) (3, 1) (m,l)
n=O (0,0) X X X X
m=O m=1 m=2 m=3 m=m
Die Tabelle ist sehr einfach aufgebaut: wir haben in Spalte (m, n) einen Kon-
flikt mit m Akteuren und n Zielen. Um mit einem (m, n)-Konflikt auf der in-
tellektuellen Ebene umgehen zu können, muß man sich zumindest die m Ak-
teure und die n Ziele vor Augen halten, d.h. m + n Elemente, Bausteine der
Konfliktformation.
Konfliktformationen 145
These 3: In der Hitze der Konfliktspannung ist eines der ersten Opfer die
Konfliktkomplexität.
Die Komplexität wird dann durch den Prozeß der Polarisierung reduziert,
was zur Nacktheit elementarer Konflikte führt, zur grausamen Entscheidung
für dieses oder jenes, für uns oder gegen uns. Offensichtlich enthält These 2
die gute und These 3 die schlechte Nachricht.
Je komplexer die Konfliktvorstellung, desto mehr Gelegenheiten zur Kon-
flikttransformation gibt es, wir werden darauf zurückkommen. Das sollte für
Komplexijizierung sprechen, für das Aufspalten von Akteuren und Zielen in
Unter-Akteure und -Ziele, das Einbringen weiterer Akteure und Ziele, den
Versuch, hier und dort zu transformieren, in der Hoffnung auf einen Sog-
Effekt.
Das Problem, die Skylla, besteht darin, daß die Komplexität so groß wer-
den kann, daß der menschliche Geist nicht mehr damit zurecht kommt. Wenn
wir die magische Zahl 7 als das Maximum an Faktoren betrachten, das die
meisten Menschen auf kreative Weise handhaben können, dann wäre die äu-
ßerste Grenze 3 oder 4 Akteure und 3 oder 4 Ziele, anders formuliert, sollte
K = 4, 5 oder 6 sein. Auch eine Vereinfachung kann also vonnöten sein, mit
der Gefahr, der Charybdis, daß die Vereinfachung zur Polarisierung wird, in
elementaren Konflikten endet. Die Schwierigkeit liegt darin, einen Kurs ein-
zuschlagen, der zwischen Skylla und Charybdis verläuft, d.h. um K = 5.
Wir haben Dilemmata und Dispute im Falle von Person, Gesellschaft und
Welt schon behandelt, wobei angemerkt werden soll, daß der Inter-Welt-
Disput zur Zeit eine empirisch leere Kategorie ist. Die Inter-Gesellschafts-
Kategorie dagegen ist empirisch gewiß sehr reichhaltig; mit dieser heiklen
Verbindung beschäftigt man sich unter dem Titel der "Internationalen Bezie-
hungen" ("Welt-Studien" wäre eine angemessenere Bezeichnung), wobei die
Beziehungen zwischen Staaten und die zwischen Nationen speziell interes-
sieren.
Über Natur, Kultur und Zeit muß jedoch mehr gesagt werden. Ein Beispiel
für Inter-Natur wäre der Inter-Spezies-Konflikt, dem Darwin durch seine
"survival of the fittest"-Metapher ein übergroßes Gewicht beigemessen hat,
das gemäßigt wird durch Kropotkins "gegenseitige Hilfe". Die Intra-Spezies-
Kombination macht uns auf tiefer liegende Widersprüche aufmerksam, z.B.
solche, die im genetischen Code einer Spezies angelegt sind.
Das gleiche gilt für Intra-Kultur. Damit wir aber das Konfliktparadigma
oder auch nur den Konfliktbegriff anwenden können, werden wir davon aus-
gehen, daß die Kontrahenten des kulturellen Dilemmas (im Falle etwa von
Freiheit versus Gleichheit in der westlichen politischen Kultur) Menschen
sind, wie wir das für interkulturelle Dispute annehmen würden. Der Leser
könnte ja den Versuch machen, die Bibel und den Koran nebeneinander auf
einen Tisch zu plazieren und darauf zu warten, daß in dem einen oder dem
anderen oder zwischen beiden Spannungen entstehen. Täte man das gleiche
(am Tisch statt auf dem Tisch) mit einem christlichen und einem islamischen
Theologen, wäre das Resultat sehr viel dynamischer. Ziele müssen von le-
benden Menschen angestrebt werden, soll wirklich ein Konflikt auftauchen.
Wie sieht es mit der Zeit aus? Eine sehr wichtige Interpretation behandelt
sie als synchronen und diachronen Konflikt, Z.B. als intra- und intergenera-
tionellen Konflikt; letzterer ist im Zusammenhang mit der Umweltzerstörung
von großer Bedeutung. Eine Generation lebt nicht nur auf Kosten der Natur,
sondern auch auf Kosten der Nachwelt, apres nous le deluge 88 •
88 Glaubt man The Concise Columbia Encyclopedia (New York 1983, S. 492), dann
wird dieser Ausspruch zu Unrecht Ludwig XV. (er regierte von 1714 bis 1774) zuge-
schrieben. Doch wer immer in jener Zeit "nach mir die Sintflut" sagte - es war keine
148 Konflikttheorie
Tabelle 2.3 kann zur Erläuterung vieler Prozesse der Entstehung und Ver-
arbeitung von Kontlikten und Kontliktvorstellungen dienen. Die letzte Kon-
sequenz eines intrapersonellen Dilemmas kann der Rückzug sein, der sich
unter Umständen zur Apathie oder Schizophrenie verdichtet und schließlich
in Selbstzerstörung bis hin zur Selbsttötung enden kann. Ebenso kann Rück-
zug das Resultat eines interpersonellen Disputs sein oder aber beständige
Spannung, die schließlich zur Zerstörung des anderen, bis hin zum Mord,
führen kann. Die Prozesse schließen sich gegenseitig nicht aus, sie können
zusammenfallen. Beide können aber in einem Kontlikt auch auf sehr kreative
und lebensverbessernde Art und Weise genutzt werden.
Das intra-gesellschaftliche Dilemma kann dann als intra-personelles Di-
lemma auf kollektiver Ebene betrachtet werden, wie z.B. das französisch-so-
zialistisch-jüdische/deutsch-Nazi-antisemitische Dilemma des französischen
Bürgertums. Das kann zur Apathie führen, wie im Falle der französischen
Reaktion auf die deutsche Invasion im Mai 1940. Nach einiger Zeit jedoch
wird der innere Widerspruch zu einem Widerspruch zwischen zwei Parteien,
in casu zwischen Resistance und Kollaborateuren.
Ähnliches gilt für intra-Welt-Dilemmata, die wir zur Zeit überall auf unse-
rem Planeten finden können: als Wachstum contra Verteilung oder Wachs-
tum contra Umwelt, bisweilen zur Apathie führend, meistens aber zu einer
starken Polarisierung; wie während des Kalten Krieges, als ein kapitalisti-
scher Block dem Wachstum (oft ohne jegliche Verteilung) und ein sozialisti-
scher Block der Verteilung (oft ohne jegliches Wachstum) besonderes Ge-
wicht beimaß. Das Wachstumslager hat den Sieg davongetragen und wird
wohl auch gegen das Umweltlager siegen, trotz oder wegen verbaler Kom-
promisse wie "nachhaltige Entwicklung".
Man hat oft versucht, kausale Prozesse in Tabelle 2.3 (oder ähnlichen
Darstellungen) ausfindig zu machen. Zu erwähnen wären hier insbesondere
Freuds intellektuell heroisches Bemühen, die Wurzeln solcher Prozesse in in-
tra-personellen Widersprüchen (zwischen Es und Über-Ich) aufzuzeigen,
oder Marx' Versuch, deren Wurzeln in intra-gesellschaftlichen Widersprü-
chen (zwischen Kapital und Arbeit, oder, subtiler, zwischen Produktionsmit-
teln und Produktionsverhältnissen) nachzuweisen. Auch wenn kausale Zu-
sammenhänge nicht bestritten werden sollen, sind reduktionistische Ver-
suche, sie alle im gleichen Typus wurzeln zu lassen, zum Scheitern verurteilt.
Man darf jedoch behaupten, daß ein hoher Grad an Isomorphie zwischen ver-
schiedenen Typen von Kontliktprozessen besteht. Wenn man einen davon als
Prototyp verwendet, kann der menschliche Beobachter einer kausalen Ver-
schlechte Prophezeiung. Brach doch fünfzehn Jahre nach Ludwigs Tod die Französi-
sche Revolution aus als einer jener großen Intra-Zeit-Widersprüche (Kairos) mit
enormen Intra-Zeit-Implikationen (Chronos).
Konfliktformationen 149
89 Hiermit bezeichne ich die kollektiv (wenn auch gewöhnlich nur auf der Ebene des
Unterbewußten) geteilten Unterstellungen einer Kultur hinsichtlich dessen, was als
natürlich und normal gilt - wie die Dinge ganz einfach sind.
90 So haben wir es, wenn in einem Konflikt zwei Personen zusammentreffen, um etwas
auszuhandeln, mit (mindestens) vier Ebenen zu tun: die personae, die Masken, die
sie einander zeigen; die bewußt verfolgten, aber nicht notwendigerweise offengeleg-
ten Strategien; das individuelle Unterbewußtsein beider Parteien; und schließlich das
kollektive Unterbewußte, das übereinstimmen kann, aber nicht muß, je nachdem, ob
beide Parteien derselben Kultur entstammen oder nicht. Eine Konflikttheorie, die
sich nur der Ebenen 1 und 2 annähme, wäre reichlich naiv.
152 Konflikttheorie
94 Rechtes Sehen, rechtes Wollen, rechtes Reden, rechtes Tun, rechtes Leben, rechtes
Streben, rechtes Bedenken, rechtes Sichversenken. Als eine schöne Diskussion bud-
dhistischer Ethik und Praxis liest sich Robert Aitken: The Practice of Perfection,
New York/San Francisco 1995, besonders S. 28-32. Die buddhistischen Vorschriften
des pancha shila und des pancha dhamma würden - wie die jüdisch-christlich-
islamischen Gebote - auch das Stehlen, den Ehebruch, das Lügen und den Gebrauch
berauschender Substanzen als Gewalt definieren. Dem Ansatz dieses Buches ent-
sprechend, fallen diese Verhaltensweisen unter dessen Definition von Gewalt, wie
alles, was schadet und verletzt, und insbesondere in den Fällen, in denen Grundbe-
dürfnisse mißachtet werden (so schadet bzw. verletzt, um hiermit zu beginnen, die
Einnahme berauschender Substanzen dem/das Selbst). In allen Fällen würden wir
von direkter Gewalt reden, als Akte des Unterlassens (des Versagens, um es beim
Wort zu nennen) wie des Nicht-Unterlassens (Lügen z.B.).
Konfliktlebenszyklen 155
Jeder Verstoß wird entdeckt. Der moralische Wert einer Tat wird immer
von einem allwissenden Gott wahrgenommen; deren Plus- und Minuspunkte
im allgegenwärtigen Karma vermerkt. Gott entscheidet über Rettung oder
Verdammnis. Das Karma wird besser oder schlechter. Was geschieht dann?
Von diesem Punkt an zerfallen die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden
Traditionen. Wir können diese nicht mehr zusammen interpretieren, wir müs-
sen zwei verschiedene Ablaufdiagramme aufsetzen, eines für das Christen-
tum und eines für den Buddhismus. Es gibt Ähnlichkeiten, aber auch auffal-
lende Unterschiede. So besteht Z.B. Ähnlichkeit zwischen dem christlichen
Wunsch, das eigene Ansehen bei Gott zu verbessern, nachdem man eine
Sünde begangen hat, und dem buddhistischen Wunsch, das Karma nach ver-
werflichen Taten zu verbessern. Die Einstellung, daß das auf sich gestellte
Individuum hilflos ist und der Unterstützung durch Gott (Christentum) oder
durch Andere (Buddhismus) bedarf, ist ähnlich. Hier gibt es aber schon in
den Herangehensweisen Unterschiede, und das hat auf die begriffliche Erfas-
sung von Konfliktlebenszyklen eine profunde Auswirkung.
Der christliche Prozeß besteht aus einer komplexen Kette von Sünde, Un-
terwerfung unter Gott, Beichte der begangenen Sünde, Reue, Buße, Sühne
und möglicher Vergebung (durch Gott). Die letzte Entscheidung liegt bei
Gott, und nur bei Ihm, Sein Wille ist Gesetz, Er allein entscheidet mit einem
Gnadenakt über Heil und Verdammnis.
Grundlegend für dieses Paradigma ist seine durchgängige Vertikalität.
Die Sünde, die begangen wurde, geht gegen Gottes Gesetz und gegen Seinen
Sohn: "Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan." (Matthäus 25, 40; vgl. auch Matthäus 25, 45.) Das
Verhältnis zu Gott muß wiederhergestellt werden, wohingegen das Opfer von
untergeordneter Bedeutung ist. Der moralische Gehalt einer Handlung liegt
in deren Bezug zu Gott, denn Sein ist das Gesetz. Wenn diese Beziehung
wiederhergestellt ist, ist die Sünde aufgehoben, und der Mensch gilt wieder
als unbescholten, als neu geboren.
Das Christentum unterscheidet zwischen peccatum und peccator, zwi-
schen Sünde und Sünder. Ersteres wird verurteilt, letzterem ein Ausweg ge-
boten. Das garantiert Begrenzung in der Zeit und Individualisierung im
Raum. Der Konfliktprozeß beginnt mit einem Akt der Sünde eines fehlbaren
menschlichen Akteurs und endet mit dem Gnadenakt des unfehlbaren Gottes.
Im Mittelpunkt steht die ganze Zeit über der Sünder, derjenige, der gegen das
Gesetz verstoßen hat; alles übrige ist Beiwerk. Die Bühne ist dann bereitet
für die mögliche Wiederholung des Ablaufs, für den Verzicht auf weitere
Sünden oder für die letzte, die Todsünde, den Punkt, von dem aus es kein
Zurück mehr gibt.
Der buddhistische Prozeß erweist sich als eine davon sehr verschiedene
Sequenz. Wenn es keinen Gott gibt, keinen Himmel, keine Hölle, kein ewi-
ges Heil und keine ewige Verdammnis, keine ewige und trennbare indivi-
156 Konflikttheorie
duelle Seele, dann steht eine Verfehlung nicht in Beziehung zu Gott oder zu
einem selbst, sondern zum Netzwerk der betroffenen Anderen. Allein in die-
ser Gemeinschaft kann die Verfehlung ausgelöscht werden. Ein Weg dahin
bestünde im Dialog durch Handeln, im Ungeschehen machen des Bösen als
einer Wiederherstellung der Verhältnisse durch Verdienste. Ein anderer Weg
wäre der verbale Dialog, die Ermittlung dessen, weshalb oder wie sich das
schlechte kollektive Karma entwickelt hat und wie man es auf immer höhere
Niveaus bringen kann - und dann würde entsprechend gehandelt.
Grundlegend für dieses Paradigma ist seine durchgängige Horizontalität.
Das Verwerfliche einer Tat besteht in deren Auswirkung auf andere Formen
empfindungsfähigen Lebens. Die Tat kann nicht ungeschehen gemacht, das
Verhältnis aber kann geändert werden. Die betroffenen Anderen müssen
nicht heute lebende Individuen sein; die Verfehlung kann sich auch auf
schon Totes oder noch nicht (Wieder-) Geborenes erstrecken. Mit anderen
Worten, es gibt keine Möglichkeit, das Verhältnis zu individualisieren. Das
Verhältnis liegt, ob es nun gut oder schlecht ist, in der Kollektivität, und dort
wird es bleiben, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Eine nicht-endliche Zeitperspektive ist geWährleistet durch die Verantwor-
tung nicht nur für Taten der Vergangenheit, sondern für alle verdienstvollen
Taten und für alle Verfehlungen, die dieses Karma betreffen, unangesehen
des Ortes und der Zeit. Nur dadurch, daß man für die Verdienste und Verfeh-
lungen dieser Kollektivität die volle Verantwortung übernimmt, wird die Il-
lusion individueller Separierung und Permanenz ausgeschlossen.
Karma ist ein sehr holistisches Konzept; es transzendiert die individuellen
Lebensspannen in Raum und Zeit. Zugleich ist es auch sehr dialektisch, inso-
fern die Verfehlung, die zu einem Widerspruch im Karma führt, dialogisch
überwunden werden kann, durch verdienstvolle Worte, Handlungen, Taten.
Sieht man die menschliche Lage auf solche Weise, dann bringt es wenig,
Konflikte voneinander zu trennen, sie mit individuellen Namensschildern zu
versehen und in Raum und Zeit einzuklammern. Einen Teil dieses Ganzen
(holon) als schuldig und den anderen als nicht schuldig zu bezeichnen, ist
nicht sinnvoller, als nach einer verbrecherischen Strangulierung mit zwei
Händen die rechte Hand schuldig und die linke unschuldig zu sprechen. Wer-
den Verdienst und Verfehlung gemeinsam getragen, wird ihre Verteilung auf
Individuen zu einer metaphysischen Frage. Jegliches Verdienst habe ich
(teilweise) auch der Veranlassung meiner Brüder und Schwestern (den ein-
schlägigen Anderen) zu verdanken; ebenso jegliche Verfehlung, denn sie
hätten mich davon abhalten sollen, vom rechten Weg abzukommen.
Nicht metaphysisch dagegen ist der Wille, etwas dafür zu tun, ist die Bereit-
schaft eines jeden Teil des Ganzen, das kollektive Ich, dessen Teile sterben und
wiedergeboren werden, durch die komplexe Topologie jenes buddhistischen
Lebensflusses zu navigieren. Der christliche Glaube bietet ewiges Leben in Heil
oder Verdammnis; in der Praxis aber geht es ihm um das endliche Leben zwi-
Konfliktlebenszyklen 157
schen biologischer Geburt und Tod. Der Buddhismus bietet keine resurrectio
camis95 ; dieses unser biologisches Leben endet mit dem Tod des Körpers.
Praktisch nimmt er jedoch das Leben als ewigen Energiefluß von Ewigkeit zu
Ewigkeit wahr, ein Leben, das desto weniger Leiden und desto mehr Glück für
das Ich oder den oder den Anderen beinhaltet, je enger die Verknüpfungen zur
Seite, nach hinten und nach vorne ausfallen. Für den Christen gibt es keine Be-
rufung, denn er hat kein zweiter Leben; der kurze Moment des Lebens hier auf
Erden bestimmt über seine Ewigkeit. Für den Buddhisten ist die Ewigkeit selbst
die Zeitperspektive der Verbesserung des Karma und das Leben eine zusam-
menhängende Kette von Gelegenheiten, dafür tätig zu sein. Nichts ist endgültig,
es wird immer Gelegenheit geben, das Karma zu verbessern.
Wenn man die beiden hier ein wenig überzeichneten Anschauungen ver-
gleicht, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Buddhismus
keine Grenze zieht, sondern eine gemeinsame Suche nach den Gründen für
ein schlechtes Karma bevorzugt, während das Christentum die Schuld zu
dichotom anlegt. Wo das Christentum zu asymmetrisch ist, ist der Buddhis-
mus zu symmetrisch. Und während das Christentum grausam ist in seinem
Bestehen darauf, daß das diesseitige, überaus begrenzte Leben das ewige Le-
ben nach dem Tode bestimmt, ist der Buddhismus zu sanft und mild, weil er
uns unbegrenzte Zeit gibt, unser Karma zu verbessern. Man könnte sich in
beiden Fällen Zwischenstufen vorstellen, und vielleicht wäre ein eklektischer
Komprorniß vorzuziehen.
Wir besitzen jedoch nicht die Freiheit, unsere Kulturen selbst zu gestalten;
sie sind uns vorgegeben. Tatsache ist, daß es diese beiden Perspektiven von
Konfliktlebenszyklen gibt; die eine als infinite Zahl finiter Konfliktlebenszy-
kIen zwischen der Geburt als einem Zustand ursprünglicher Sündhaftigkeit
und der Erlösung als göttlichem Gnadenakt, und die andere als finite Zahl
infiniter Lebenszyklen, die nirgends und überall beginnen, ihre Hochs und
Tiefs haben und zuletzt in das endlos bewegte Meer der Ewigkeit eingehen.
95 Auferstehung des Fleisches, nicht nur der Seele (das Grab Christi war leer).
158 Konflikttheorie
96 Plus fa change, plus c'est la mime chose, und die berühmte Philosophie in Guiseppe
Tomasi di lAmpedusas 11 Gattopardo: Wir ändern uns, so daß alles Übrige das Selbe
bleibt ("Perche tutto resti com'~", S. 29; "una di quelle battaglie combattute affinche
tutto rimanga come ~", S. 31 der FeltrineIli-Ausgabe)
Ist es vielleicht kein Zufall, daß beide Beispiele der romanischen Welt entstammen?
Weise und etwas zynisch? Würde ein Deutscher, ein Amerikaner oder ein Skandina-
vier nicht eher unterstellen, daß, wenn sich irgendetwas ändert, diese Änderung Wir-
kung, Konsequenzen zeigen soll? Je mehr sich ändert, desto mehr ändert sich? Wir
ändern uns, damit der Rest der Welt nicht unverändert bleibt? Klingt ein wenig tri-
vial, nicht sehr anspruchsvoll.
Die Kosmologietheorie in Teil IV befaßt sich genau mit den Dingen, die unverändert
bleiben, wenn sich die Oberfläche verändert. Und noch eine Beobachtung des Ver-
fassers: Während Menschen aus romanischen Ländern diese Kosmologietheorie
unmittelbar verstehen, neigen deutschsprachige Rezipienten zum Unverständnis oder
aber, falls sie sie verstehen, zur Ablehnung. In den beiden letzten Fällen sieht man
einen Widerspruch bei einem Autor, der solche Art romanischer Einsichten pflegt
und gleichzeitig so handlungsorientiert bleibt (für mich handelt es sich hier aber um
nichts weniger als um einen Widerspruch, sondern um den Versuch, Realist zu blei-
ben, wenn es um tiefsitzende Annahmen und Verhaltensweisen geht).
Konfliktlebenszyklen 159
Verbüßung seiner Strafe, zumindest aber nach einer Zeit der Bewährung,
wieder als unbescholten.
Kurzum, Übereinstimmungen in allen wesentlichen Punkten. Die Vertika-
lität besteht auch hier; die Sünde, jetzt Verbrechen genannt, wird nach oben
verübt, gegen König/Staat/V olk; das Opfer gerät in Vergessenheit. Die Sühne
aber, jetzt Strafe genannt, ist nur äußerlich, sie wird von außen auferlegt und
trifft den Täter nur äußerlich, nämlich seine Geldbörse oder seinen Körper.
Der komplexe geistige Prozeß, der sich christlichen Lehren verdankte, wurde
in den Gefängnissen noch einige Zeit am Leben erhalten, existiert jetzt aber
praktisch nicht mehr. Bezahlen, im Gefängnis sitzen, quitt sein. Erst in letzter
Zeit gibt es einen Trend, Gesetzesbrecher zu Arbeiten für die Allgemeinheit
einzusetzen und das Opfer zu entschädigen.
Ein vergleichbares Resultat würden wir in den säkularisierten Versionen
des Buddhismus erwarten, wobei das geschriebene Gesetz und der "Täter"
weniger bedeutsam sein sollten als im Westen, einer Versöhnung aber
mehr Gewicht beigemessen würde. Es sieht aber so aus, als ob die Suche
nach Ursachen durch ein In-sieh-gehen, eine Meditation über die Verfeh-
lung und dann der ausdauernde Dialog mit dem, dem man Unrecht getan
hatte, zunehmend auch einer dritten Instanz - in Japan häufig der sprich-
wörtlichen Polizei in der Polizei-Box - überlassen würden. Die Aufgabe
der Verbalisierung, die Suche nach der Konfliktdiagnose, -prognose und -
therapie überläßt man anderen, die zu Konfliktbearbeitern werden, ohne
selbst am Konflikt beteiligt zu sein. Seien diese nun Laien oder Fachleute,
man verläßt sich weniger auf sich selbst, und so werden die Beteiligten
nicht reifer, ihr Karma wird nicht besser, ihr Verhältnis zueinander nur
geglättet. Das Ziel ist äußerlicher (V), nicht innerlicher Wandel (A). Die
metaphysische, geistige Untermauerung des buddhistischen Konfliktpro-
zesses ist im Schwinden begriffen.
Die konzeptionelle Grundstruktur mag in tieferen Schichten immer noch
vorhanden sein: als geringere Neigung, den Konflikt so zu betrachten, als
beginne er mit einer Tat und ende mit einer anderen, als gründe er in einem
Akteur und nicht in einer Beziehung. Die Konfliktvorstellung wird jedoch
allmählich vertikalisiert, und das nicht allein in Japan, das eine lange feuda-
listische Tradition hat, die im Gegensatz steht zum idealen autonomen Dorf
mit "Tempel und Zisterne" des klassischen Buddhismus. In der Folge dürfen
wir erwarten, daß Recht, Juristen und Rechtsstreitigkeiten im buddhistischem
Teil der Welt in dem Maße auf dem Vormarsch sind, in dem die buddhisti-
sche Perspektive säkularisiert wird.
Gibt es eine Zwischenposition zwischen dem häufig sehr obskurantisti-
schen Spiritualismus der Vergangenheit und heutigen Formen der Konflikt-
transformation, gesteuert oft von zynischen Außenstehenden, die überhaupt
keine innere persönliche Bemühung fordern, sondern nur, wenn möglich, ein
Honorar? Im Westen gibt es die sanftere Version des Christentums als milde-
160 Konflikttheorie
97 Für eine Definition vgl. Teil IV, Kap. 2.1. Als Illustration kann die mittelalterliche
Periode der europäischen Geschichte dienen.
Konfliktlebenszyklen 161
die bösen Taten so klar definiert waren, war es ein Leichtes, die Initiatoren
dieser bösen Taten auszumachen.
Vertikalisierung wurde nicht allein durch Kapitulation und Waffen-
übergabe als eindeutige Unterwerfungshandlungen durchgesetzt, sondern
auch durch Gerichtsverhandlungen (von denen die Nürnberger und die Pro-
zesse in Fernost die bekanntesten sind), die so etwas ähnliches wie Geständ-
nisse hervorbrachten, die den Konflikt dann mittels des Begriffes von "Kriegs-
verbrechern", die "Verbrechen gegen die Menschheit" begingen, zu indivi-
dualisieren erlaubten. Das Besatzungsverhältnis diente dazu, die Vertikalität
zu institutionalisieren. Die Reparationen waren nur eine Form der Strafe; ei-
ne andere bestand in der Marginalisierung innerhalb der Weltgemeinschaft
dadurch, daß den Besiegten die UN-Mitgliedschaft verweigert wurde.
Da die Achsenmächte abscheuliche Verbrechen begangen hatten, wurden
Beweise für eine grundlegende Änderung ihrer Haltung verlangt. Die Gele-
genheit bot sich während der Berliner Blockade 1948/49 und während des
Korea-Krieges 1950-53, und die beiden besetzten Länder nahmen sie eifrig
wahr, um zu beweisen, daß sie die Sache der Besatzer, besonders der USA,
zu ihrer eigenen gemacht hatten, was nicht so schwierig war, da man ihnen
eine untadelige antikommunistische Haltung bescheinigen konnte. Die Alli-
ierten, zumal die USA, nutzten diese Gelegenheit, um ihr göttliches Privileg
des Gnadenerweises auszuüben und beiden Frieden zuteil werden zu lassen
(jedoch ohne formalen Friedensvertrag mit Deutschland), wodurch sie dann
in die internationale Normalität entlassen wurden (Japan 1951, Deutschland
1954, Österreich 1955).98 Daß der Vorgang allgemeine Zustimmung fand,
lag zweifellos daran, daß man dem westlichen Skript gefolgt war und die Ja-
paner schnell gelernt hatten, wie man sich zu verhalten hat.
Beim Vietnamkrieg fand sich nichts von alledem. Die USA gewannen
nicht, also konnte es keine Sequenz geben, die mit vietnamesischen Unter-
werfungshandlungen begonnen hätte. Die Vietnamesen gewannen aber auch
nicht und konnten daher keine Unterwerfung oder gar Kapitulation der USA
fordern, denen dann ,Washingtoner Prozesse' wegen von Kriegstreibern wie
Lyndon B. Johnson, Robert McNamara, Richard Nixon und Henry Kissinger
verübter vorsätzlicher Verbrechen gegen die Menschheit gefolgt wären.
Es besteht immer noch allgemeine Unsicherheit, wie die Situation nach
dem Vietnam-Krieg zu interpretieren ist. Was läßt sich angesichts zweier
unterschiedlicher Drehbücher und der Rolle des Buddhismus in der ostasiati-
98 Das Motiv hinter der sowjetischen Bereitschaft, die Rückkehr Österreichs zur Nor-
malität zu akzeptieren, war die Hoffnung, daß Vereinigung zusammen mit Neutrali-
tät als Modell auch für Deutschland gelten könnte. Hätte Westdeutschland nur ein
Drittel oder ein Viertel der Größe Ostdeutschlands gehabt, wäre dies vielleicht ein
Motiv der Amerikaner und nicht der Sowjets gewesen.
162 Konflikttheorie
99 "Das fang zieht sich, wenn es seinen Höhepunkt erreicht hat, zugunsten des fin zu-
rück; das fin zieht sich, wenn es seinen Höhepunkt erreicht hat, zugunsten des fang
zurück" (Wan Ch'ung). Das ist eine Beschreibung der Beteiligten an einem Wider-
spruch; man nimmt an, daß sie den (ihnen entgleitenden) Harmoniepunkt nicht fin-
den. Es muß betont werden, daß in dieser Formulierung auch der Taoismus etwas
von der westlichen Tendenz besitzt, Widersprüche nur als zwischen zwei Beteiligten
bestehend zu betrachten; selbstverständlich lassen sich generellere Formeln denken.
166 Konflikttheorie
sen ist. Nicht ohne Grund bezeichnet man ein solches "diplomatisches" Do-
kument als einen "Fetzen Papier". Wieso?
Erstens wäre es möglich, daß die Unterzeichner es nicht ehrlich meinen.
Zweitens, auch wenn sie es ehrlich meinen, wo bleiben die anderen Akteure,
wo bleibt das Volk? Drittens, auch wenn die Bevölkerungen einverstanden
sein sollten, wo sind die Stützen und Kräfte, die eine weniger konfliktuöse
Formation (und nicht wieder genau die alte) hervorbringen können? Eine
weniger widersprüchliche Formation (W) ist gut, sie muß aber durch die
richtigen Annahmen und Einstellungen (A) gestützt werden, sonst kann man
davon ausgehen, daß die Konfliktbeteiligten ihr falsches Verhalten (V) wie-
deraufnehmen und sich noch vorhandenem oder neuem Konfliktmaterial
(sprich: Widersprüchen) zuwenden werden. Eine böse Wiedergeburt!
Leider ist eine derartige Naivität weit verbreitet und das besonders unter
Diplomaten, was wahrscheinlich mit dem feudalen Charakter ihrer Institution
zusammenhängt und mit deren Funktion in einem zwischenstaatlichen Sy-
stem, das eindeutig feudale Züge trägt. Aber auch die entgegengesetzte Nai-
vität, nämlich davon auszugehen, daß nur "das Volk" Konflikte lösen kann,
indem es Akzeptanz und Haltbarkeit garantiert, bietet nicht die Lösung. So-
wohl-als-auch bzw. eine doppeigleisige Diplomatie (Elite-Gleis und Bevöl-
kerungs-Gleis, mit wechselseitiger Interaktion) wäre ein viel besseres Rezept.
Wir haben oben auch darauf bestanden, daß die Tragfähigkeit bzw. Nach-
haltigkeit endogen sein, also in der Formation wurzeln muß. Wenn Außen-
stehende, manchmal Vermittler genannt, Zuckerbrot und Peitsche einsetzen,
d.h. die Beteiligten belohnen, wenn diese einer Lösung zustimmen, und be-
strafen, wenn sie das nicht tun, dann kann man kaum von einer wirklichen
Zustimmung und Tragfähigkeit sprechen, es sei denn, man geht davon aus,
daß die "Vermittler" zur Konfliktformation gehören und nicht außerhalb oder
gar "über" ihr stehen. In dem Falle aber sollten sie ihre Ziele klar formulieren
und sie in die Konfliktformation einbringen, die dann zu einer Konfliktde-
formation werden mag.
In den Konfliktlebenszyklen gibt es ohne Zweifel auch Phasen, die man
"Lösungen" nennen kann, insofern sie beide obigen Kriterien annähernd er-
füllen. 1m Prinzip aber ist die Konflikttransformation ein niemals endender
Prozeß. Alte Widersprüche können wiederauftauchen, neue entstehen. Nega-
tive oder - so kann man hoffen - positive Konfliktenergie vom Typ A oder V
wird kontinuierlich der Formation injiziert. Eine Lösung in Form einer sta-
bilen, dauerhaften Formation ist bestenfalls zeitweilig das Ziel. Viel wichti-
ger ist das Erlangen einer Transformationskapazität, d.h. der Fähigkeit, mit
den Transformationen so umzugehen, daß sie nachhaltig und akzeptabel sind.
Der Weg ist das Ziel, sagte Gandhi. Wir könnten sagen: "Der Prozeß ist das
Ziel", und eine stabile Lösung geht in dem Moment wieder verloren, in dem
wir sie gefunden zu haben glauben. Wer meint, alle Widersprüche auflösen
und so die widerspruchs- und überraschungsfreie Gesellschaft schaffen zu
Konflikttransformationen 167
können, wird die größten Überraschungen erleben. Wie Samen unter Asphalt
oder die Radioaktivität unter dem Tschernobyl-Beton werden unterdrückte
Widersprüche anfangen zu sprießen. Es sei denn, die Formation ist tot.
Auf die Gefahr hin, dieses Argument zu oft zu wiederholen: Konflikte
entstehen nicht durch Parthenogenese, aus dem Nichts, ex nihilo, sie lösen
sich auch nicht in Luft auf, erschöpfen sich nicht von selbst und können auch
nicht durch Konflikteuthanasie vernichtet werden. Selbst wenn sich die drei
Gruppen in Bosnien-Herzegowina gegenseitig umbringen, wird der Konflikt,
wie der Holocaust, als Erinnerung weiterleben und Ex-Jugoslawien, Europa,
die ganze Welt transformieren, und zwar zum Schlechteren hin: ein kolossa-
ler Verfall des Karma. Unsere Verantwortung transzendiert die hier und jetzt
bestehenden Formationen. Wir sind an allen Konflikten beteiligt. Wie sie an
uns.
Transformationen finden in der Zeit statt, und Zeit ist chronos und kairos,
gleichmäßiger fluß der physikalischen Zeit und die Wirbel dieses Flusses, in
denen sich die Zeit sich selbst zuwendet und in einem andauernden Jetzt still-
steht, von dem aus sie zu einem neuen kairos springt. Oben in Kapitel 1 sind
fünf Prozesse mit potentiellem kairos-Charakter definiert und beschrieben
worden:
(Des- )Artikulation: komplettes versus beschnittenes Konfliktdreieck;
(Un- )Bewußtmachung: Erhöhung oder Verminderung des Bewußtseins von
A und W;
Komplexijizierung/ . Erhöhung oder Verminderung von AkteurenlZielen;
Simplijizierung:
(Ent- )Polarisierung: Wahrnehmung der Konflikte als elementar (2, 1)/
(1, 2) oder nicht;
(De- )Eskalation: zunehmende oder abnehmende Gewalt auf der V-
Ebene.
Es besteht eine relativ einfache Beziehung zwischen diesen Prozessen: Arti-
kulation und Bewußtrnachung gehören ebenso zusammen wie Polarisierung
und Eskalation, wohingegen die Vorgänge der Komplexifizierung und Simp-
lifizierung eine komplexe Beziehung zu beiden Prozeßtypen haben.
Mit dem Bewußtsein von A und W ist, definitionsgemäß, das Konflikt-
dreieck vervollständigt. Ein Bewußtsein der inneren und äußeren Widersprü-
che und der eigenen Einstellungen zu diesen wird fast unvermeidlich Verhal-
tenskonsequenzen haben, einschließlich der Null-Konsequenz gewollten
Nicht-Verhaltens. Der Konflikt mag einfach zu überwältigend sein, wie Na-
168 Konflikttheorie
100 Dieser treffende Begriff (etwa: sich freimachen zum Handeln - Anm. d. Übers.)
stammt von James S. Coleman.
101 Dieter Senghaas hat diese ausgezeichneten Begriffe und die ihnen entsprechenden
Perspektiven in die Friedensforschung eingebracht.
Konflikttransformationen 169
nerhalb jedes Lagers und aus jeweils endogenen Gründen - geht normaler-
weise aus von einer bipolaren Konfliktformation. Wenn das beide Parteien
tun, d.h. wenn es einen (Rüstungs-)Wettlauf gibt, dann wird eine Dialektik
zwischen gegenseitiger Provokation und gegenseitiger Abschreckung wirk-
sam, wahrscheinlich in Form einer Yin/Yang-Beziehung, und das heißt dann,
es wird zu äußerst bedrohlichen Phasen kommen, in denen die Provokation
die Oberhand behält, und zu weniger bedrohlichen Phasen, in denen die Ab-
schreckung vorherrscht. Das ist trivial, aber viele Autoren, die dieses Gebiet
behandeln, scheinen zu vergessen, daß Gewalt entstehen kann, wenn nur ein
Beteiligter stärker provoziert als abgeschreckt wird, wogegen beide Beteiligte
(und nicht nur der jeweils Andere) abgeschreckt werden müssen, damit "das
Gleichgewicht der Macht" den vielzitierten si vis pacem, para hellum-Effekt
haben kann.
Ebenso trivial, aber auch erwähnenswert: Es kann außer um das umkämpf-
te Ziel und die Gewaltvermeidung noch um andere Werte gehen. Selbstver-
ständlich mag ein Saddam Hussein Kuwait gewollt und dazu noch gehofft
haben, dabei ungeschoren davonzukommen; aber aus seiner eigenen Sicht
hätte er an Ehre, Mutbezeugung und Selbstachtung gewonnen, auch wenn
Kuwait und einiges Andere mehr verloren gehen würde. Es ist eine Menge
Indoktrinierung nötig, um unfähig zu sein, sich eine Kultur vorzustellen, in
der die erstgenannten drei Werte die anderen leicht aufwiegen, so daß selbst
die überwältigende Übermacht der "von den USA geführten Koalition" keine
abschreckende Wirkung mehr hat.
Viel wichtiger als diese Trivialitäten, die natürlich die Ideologie des
Gleichgewichts der Macht unterminieren (insbesondere wenn dazu noch
Faktoren wie Masochismus und Fehleinschätzungen sowohl des Selbst als
auch des Anderen berücksichtigt werden),102 ist die Annahme, es gäbe keine
Alternative zur Gewalt (mit den drei möglichen Ergebnissen "gewinnen",
"verlieren" und "Patt"), oder die, es läge keine Gewalt vor, nämlich im Falle
effektiver Abschreckung. Selbstverständlich gibt es noch das riesige tertium
der Gewaltlosigkeit, das unten in Kap. 5 detaillierter untersucht werden soll.
Die Briten waren der Meinung, die indische svaraj (Selbstregierungs)-
Bewegung hinlänglich durch den üblichen kolonialen Staatsterrorismus abge-
schreckt zu haben; Gandhis satyagraha eröffnete einen neuen Handlungsdis-
kurs (inklusive verbaler Handlungen). Der israelische Zionismus vertrat die-
selben Ansichten bezüglich der Palästinensischen Befreiungsbewegung und
war auf die Intifada geistig ebenso unvorbereitet. In beiden Fällen war man
nur von der Bedrohung durch "taugliche, bewaffnete junge Männer" ausge-
102 Für eine Untersuchung einiger der vielen Voraussetzungen, die gegeben sein müs-
sen, damit die Doktrin vom Gleichgewicht der Macht eine gewisse Plausibilität er-
hält, siehe Johan Galtung: "Balance of Power and the Problem of Perception", in:
Essays in Peace Research, Bd. 11, Kopenhagen 1976, S. 38-53.
170 Konflikttheorie
gangen und hatte die Macht von Frauen (im indischen Fall) und von Kindern
(im palästinensischen Fall) und in beiden Fällen die Macht der Gewaltlosig-
keit außer Acht gelassen. Kurzum, die Annahme, daß sich das Handlungsuni-
versum in gewaltsamen Handlungen und Nicht-Handlungen erschöpft, ist
ebenso falsch wie die Annahme, politische Gewalt müsse die Gestalt einer
räumlich aneinanderstoßenden "Front" annehmen, zeitliche Kontinuität be-
sitzen (traditionelle Kriegsführung) und könne nicht in Form punktueller
Aktivität - mal hier, mal dort (Terrorismus) - auftreten.
Polarisierung ist jedoch wahrscheinlich eine notwendige, wenn auch keine
hinreichende Bedingung für Eskalation, und Eskalation eine hinreichende,
wenn auch nicht notwendige Bedingung für Polarisierung.
Ob eine Komplexifizierung/Simplifizierung stattfindet, hängt offensicht-
lich davon ab, wie ein Konflikt wahrgenommen wird; wir stellen ihn hier dar
°
als Anzahl von Akteuren, m, Anzahl von Themen, n, und insbesondere als
Komplexität, K, definiert als K = m x n -1; wobei gelten soll: m > und n >
° bezüglich der Akteure und Werte; m = 0, wenn es sich nur um Parteien,
und n = 0, wenn es sich nur um Interessen handelt.
Wir hätten auch die einfache Formel K = m+n verwenden können, als die
Anzahl von Posten, die die Beteiligten als absolutes Minimum im Kopf be-
halten müssen, um sich ein Bild von der Konfliktformation machen zu kön-
nen. Die Parteien selbst müssen aber auch in Bezug zu den Themen gesetzt
werden, um dem Konflikt einen Inhalt zu geben, mit anderen Worten, die
Widersprüche zu benennen; das bedeutet, daß der kognitive Plan eine (m,n)
Matrix mit m x n Eintragungen ist (z.B. ,,1 ", wenn Thema Nr. j für die Partei
Nr. i relevant ist, ,,0", wenn das nicht der Fall ist). Das Multiplikationspro-
dukt ist also ein besserer Indikator des geforderten geistigen Einsatzes. Wir
subtrahieren dann 1, um zwischen komplexen Konflikten (K > 1), elementa-
ren Konflikten (K = 1), Frustrationen (K = 0; ein nichtrealer Konflikt) und
strukturellen Konflikten (K < 0; es gibt entweder keine Akteure oder keine
Werte oder beides nicht) unterscheiden zu können.
Das Problem läßt sich nun, wie in Kap. 1 dieses Buches begonnen, fol-
gendermaßen erörtern. Es gibt Skylla und Charybdis, die vermieden werden
müssen. Die Skylla besteht in zu großer Komplexität. Man kann darüber
streiten, wo die Obergrenze für K liegt, d.h. für eine effektive kognitive Ver-
arbeitung durch den menschlichen Verstand (bzw. durch den Verstand eines
Menschen, der einen Computerausdruck auswerten und das Programm kon-
trollieren soll). In der psychologischen Theorie neigt man dazu, K = 7 als
Obergrenze festzulegen, d.h. mund n liegen bei, sagen wir mal, 3 oder 4,
zumindest aber nicht viel höher (wenn wir uns der additiven Formel bedie-
nen).
Die Charybdis besteht in der Reduzierung auf K = 1; das ist eine zu gerin-
ge Komplexität. Das wäre eine Polarisierung, und auf die damit verbundenen
Gefahren wurde oben hingewiesen. So wie eine zu große Komplexität den
Konflikttransformationen 171
103 Zur Analyse des Verfassers, der Beobachter der norwegischen Delegation war, siehe
dessen "Human Needs, National Interest and World Politics", in: Peace Problems:
Some Case Studies. Essays in Peace Research, Bd. V, Kopenhagen 1980, S. 361-
380.
172 Konflikttheorie
aufzulockern, war eine äußerst wichtige Aufgabe, die in den kältesten Jahren,
vor Stalins Tod und in der Zeit der Angriffe auf Ungarn und die Tschecho-
slowakei, wahrscheinlich nicht durchführbar gewesen wäre. Zwei Methoden
gab es:
Erstens, die Einführung der NeutralenIBlockfreien Länder (NN: Neu-
trallNonaligned Countries) als dritte Gruppe. Sie waren natürlich mehr oder
weniger NN. Zwischen Finnland und der Sowjetunion bestand seit 1948 ein
Pakt, Jugoslawien hatte durch den Balkanpakt von 1953 mit Griechenland
und der Türkei enge Verbindungen zum Westen, der es, auch militärisch, un-
terstützte/ 04 Schweden war logistisch in den Westen integriert, die Schweiz
bespitzelte jeden, der im Verdacht stand, auch nur die geringsten Sympathien
für den Osten zu hegen,IOS usw. Trotz alledem hatten sie als Versammlung
einige unabhängige Standpunkte oder Nicht-Standpunkte, so daß man von
drei Gruppen sprechen konnte.
Zweitens die Auffächerung eines weitgespannten Problemkatalogs in drei
"Körbe": militärisch-politische Fragen (darunter Grenzprobleme), ökonomi-
sche Fragen (unter anderem Joint Ventures) und andere Themen (unter ande-
rem die Menschenrechte). Das Ergebnis war eine Komplexität, so hoch wie
im ersten Beispiel, diesmal aber herbeigeführt durch Komplexifizierung. Und
das Resultat hatte zweifellos für den Kalten Krieg einen gewissen Auftauef-
fekt: Grenzverläufe wurden bestätigt, es entwickelten sich Joint Ventures und
ein Prozeß, die Menschenrechte zu verwirklichen, kam im Ostblock langsam
in Gang. Die Widersprüche wurden ebenso abgeschwächt wie A und V auf
allen Seiten.
104 Vgl. z.B. Michael W. Weitmann: "Zwischen Orient und Okzident: Die Geschichte
der Konfliktregion Jugoslawien", in: Rudolf H. Dittel (Hg.): Ex-Jugoslawien: Ver-
such einer Bestandsaufnahme, Königsbrunn 1993, S. 56.
105 Z.B. den Autor dieser Zeilen, ein weiteres Opfer der "Fichocrates" jenes Landes.
Konflikttransformationen 173
Herr und Knecht (dt. i. Orig.), ist weder notwendig noch wünschenswert. Das
Ergebnis wäre nach der Unterdrückung des Gewalttraumas ein neuer struk-
tureller Konflikt. Camus sagt, er sei mit dem Knecht solidarisch, solange die-
ser Knecht bleibt; danach ergreife er für den neuen Knecht Partei. Das glei-
che kann der Friedensforscher sagen, und zwar aus dem einfachen Grunde,
weil ein Konflikt nur gelöst werden kann, wenn alle Beteiligten der Überzeu-
gung sind, daß sie den/die Anderen nicht zwingen können, sich zu unterwer-
fen. Gewaltlosigkeit, wie die Intifada der Palästinenser, hat diesen Willen der
Bevölkerung Briten und Israelis deutlich gemacht. 106
Entkopplung, das Kappen der strukturellen Bande mit dem Repressor
und/oder Ausbeuter. Das ist Gandhis berühmte Nicht-Kooperation; man soll-
te sich aber klar machen, daß er immer der Meinung war, die Verbindung
zum Menschen auf der anderen Seite - im Gegensatz zum Inhaber einer
strukturellen Position - müsse aufrecht erhalten werden (um einen Dialog zu
beginnen oder weiterzuführen). Es geht weniger darum, den Herrn zu treffen
und ihm zu schaden, indem man ihm (gewöhnlich handelt es sich um einen
Mann) die strukturelle Macht und die materiellen Güter nimmt und ihm die
Unterwürfigkeit versagt, die ihm strukturell von unten zufließen. Der eigent-
liche Zweck ist es, für Autonomie zu sorgen und die Fähigkeit zur Selbstän-
digkeit und Autonomie bei den unten Stehenden zu entwickeln. Damit er-
reicht man, daß diese weniger unterdrück- und ausbeutbar werden, und ver-
deutlicht, daß diejenigen, die an der Spitze stehen, sich dort nicht halten kön-
nen: Ermächtigung, mit einem Wort.
Wiederankopplung, Entkopplung ist langfristig kein Ziel. Auf lange Sicht
geht es darum, eine horizontale Struktur zu schaffen, in der Menschenrechte
an die Stelle der Repression, Gleichheit an die Stelle der Ausbeutung, Auto-
nomie an die Stelle der Penetration, Integration an die Stelle der Segmentie-
rung, Solidarität an die Stelle der Fragmentierung, Partizipation an die Stelle
der Marginalisierung tritt. Worte, Wortpaare. Nur durch Taten kann man das
alles erreichen. Entkopplung dient dazu, diese positiven Strukturen von unten
aufzubauen, Wiederankopplung dient dazu, neue, umfassendere, weniger
gewalthaltige Strukturen zu schaffen.
Derlei ist zwischen den ehemaligen Kolonialmächten und deren Kolonien
immer noch nicht erreicht worden. Die Repression von oben ist zwar redu-
106 Die Intifada ("Abschütteln") wird im Westen meist mit Steinewerfen assoziiert, was,
wenn damit auch nicht immer beabsichtigt wird, jemanden zu treffen, eindeutig ge-
walttätig ist, zumindestens als Ausdruck der Körpersprache; das gilt auch für die das
Werfen begleitenden Worte. Die Intifada bedeutet jedoch sehr viel mehr: General-
streik, geschlossene Läden, eine allgemeine Einstellung und ein Verhaltens syndrom,
das die volonte generale des palästinensischen Volkes sehr gut widerspiegelt. Siehe
Johan Galtung: Nonviolence and IsraellPalestina, Honolulu, HI 1989, S. 61-72:
"Intifada: The Palestinian Fight for Liberation".
Konflikttransformationen 175
ziert worden. Die ökonomische Ausbeutung jedoch könnte sogar unter dem,
was Kwame Nkrumah "Neokolonialismus" nannte, zugenommen haben. Und
die weiteren vier Kriterien bestehen nach wie vor. Kurz gesagt, die Therapie
für pathologische Strukturen ist ein langfristiges Problem und nicht blitzartig
zu lösen. Und Entkopplung ist nur ein Schritt.
Interessanterweise haben die meisten Menschen einen solchen Prozeß
durchlaufen und sind, ohne es selbst zu wissen, Experten für die Transforma-
tion struktureller Konflikte: während der Pubertät nämlich, ob man diese nun
gesellschaftlich oder biologisch definiert. Eine Familie ist nicht immer re-
pressiv und/oder ausbeuterisch. Aber gewiß konditioniert sie das Kind für
den Rest seines Lebens - eine gigantische Gehirnwäsche, bei der durch mas-
sive Beeinflussung eine nationale Gruppenidentität entsteht. Wie viele Eltern
versuchen denn aktiv, ihre Kinder anderen Sprachen und Kulturen als den ei-
genen auszusetzen und ihnen damit eine weitreichendere Kompetenz zu ge-
ben, Wahlmöglichkeiten und eklektische Kombinationen inbegriffen? Wie-
viele Eltern geben ihren Kindern einen vollständigen Einblick in die Fami-
liensituation anstelle ausgewählter, segmentierter, flüchtiger Einblicke?
Weithin werden darüber hinaus Geschwister durch Mechanismen der Bin-
dung an die Eltern gegeneinander ausgespielt in ihrem Kampf um Aufmerk-
samkeit, Liebe und materielle Dinge. Dazu kommt, daß sich die Eltern oft
entziehen und eher unter sich beraten statt im (Familien-)Plenum.
Die Pubertätsrevolte kann individuell, kollektiv im Verbund mit Geschwi-
stern oder im Kollektiv mit anderen Jugendlichen erfolgen. Ein Informati-
onsaustausch findet in jedem Falle statt. Individuelles Bewußtsein entsteht
durch Konfrontation; fast jeder kennt das Türenknallen als hörbaren und den
trotzigen Gesichtsausdruck als visuellen Indikator hierfür. Das neue Bewußt-
sein ist oft Spiegel des elterlichen Bewußtseins, indem es als dessen Negation
auftritt. Gleichzeitig werden horizontale Bindungen zu anderen in der glei-
chen Lage aufgebaut (Jugendgruppen, "Banden"); es entsteht eine jugendli-
che Subkultur, der sich die Jüngeren anschließen, und die die Älteren wieder
verlassen. Es entstehen umfassendere Betrachtungsweisen der Wirklichkeit,
gesellschaftliche Bühnen werden ohne elterliche Anleitung oder Hilfe er-
obert. Eine neue Generation ist entstanden.
Dies hängt natürlich davon ab, um welche Art Ziel und welche Art von
Blockierung es sich handelt. Drei allgemeine Formeln gibt es jedoch, die
auch für die allgemeine Konflikttransformationstheorie gelten.
Transzendenz: Die Blockierung wird überwunden, das Ziel erreicht, wenn
auch vielleicht in etwas abgewandelter Form. Ein Grund dafür kann der sein,
daß die Blockierung nicht ganz so massiv war, wie ursprünglich vermutet,
ein anderer, daß der Akteur im Besitz verborgener Ressourcen war, ein drit-
ter, daß er das Ziel neu zu definieren vermochte. Wenn ein Mensch, der auf
dem Nordpol steht, sich 20 cm weiter bewegen soll, aber nicht in Richtung
Süden, dann entsteht eine Frustration, bis er darauf kommt, daß er diese Zen-
timeter ja springen kann. Er hat dann eine vertikale Körperbewegung ge-
macht; die wichtigste Bewegung erfolgte aber auf geistiger Ebene und be-
stand in einer Erweiterung des Paradigmas, unter das die Frustration fiel. 107
Der Kompromiß: Die Ansprüche werden herabgesetzt, das Ziel wird so redu-
ziert, daß es erreichbar wird. Wenn das Ziel eine gehobenere gesellschaftli-
che Stellung ist oder Macht, Reichtum, Ruhm (oder all dies zusammen),
müssen die meisten Menschen irgend wann im Verlauf ihres Lebens einen
Komprorniß eingehen; das nennt man dann "anfangen, realistisch zu den-
ken".
Der Rückzug: Das Ziel wird einfach aufgegeben, Z.B. weil man meint, es sei
die Mühen nicht wert ("saure Trauben"), und in die tieferen unterbewußten
Schichten der Psyche verbannt (aus denen es dann zu einem späteren Zeit-
punkt wieder auftauchen kann, und dann mit Macht); oder es gelingt, das
Ziel erfolgreich zu eliminieren.
Diese drei sind Rezepte für Lebenskünstler, wenn man sie kombiniert, und
für Lebensstile, wenn man sein Leben nur um eine einzige Formel herum
baut. Der kreative Mensch folgt der Transzendenz als Formel, der angepaßte
dem Komprorniß und der scheue/feige/gedemütigte/einsame dem Rückzug.
Nur auf eine Karte zu setzen, könnte sich jedoch als kontraproduktiv erwei-
sen.
107 Das nennt man extra-paradigmatisches Denken; Edward de Bono nennt es "laterales
Denken" (in seinem Buch Lateral Thinking, London 1970 und New York 1970).
Konflikttransfonnationen 177
und gehen wir weiter davon aus, daß der Akteur (zu Recht oder Unrecht) der
Meinung ist, daß das Erreichen jenes Ziels (als Wert = bewußt angestrebtes
Ziel) durch ein anderes eigenes oder ein von anderen angestrebtes Ziel blockiert
ist, dann befinden wir uns im Bereich elementarer Akteurskonflikte. Wie schon
erwähnt, gibt es elementare Konflikte zwischen Akteuren hauptsächlich in
Lehrbüchern (wie hier) und kaum im wirklichen Leben. Wirkliche Konflikte
sind gigantische Konfliktmoleküle aus Dilemmata und Disputen, die oft ein un-
glaublich hohes Komplexitätsniveau besitzen. Wenn wir aber davon ausgehen,
daß sie bei ihrer Transformation einen gewissen Simplifizierungsprozeß durch-
laufen, dann werden elementare Konflikte realistischer, als Approximationen.
Und komplexe Konfliktmoleküle können bis zu einem gewissen Grad als aus
elementaren Konfliktatomen zusammengesetzt betrachtet werden, wodurch es
notwendig wird, deren Transformation zu durchschauen.
Hier nun eine elementare graphische Darstellung elementarer Konflikte:
An dieser Stelle muß auch vor einer Terminologie gewarnt werden, die im
US-Konfliktjargon einen gewissen Stellenwert hat: daß man die Punkte [1],
[3], [4], [5] als "gewinnen, gewinnen; verlieren, verlieren; gewinnen, verlie-
ren oder verlieren, gewinnen" kennzeichnet. Erstens sind diese Begriffe me-
chanistisch und weisen überhaupt nicht auf die darunter verborgenen Prozes-
se hin. Zweitens - was noch wichtiger ist - suggerieren sie etwas anderes,
nämlich daß ein Konflikt ein Spiel ist, wie z.B. in dem Konfliktdiskurs, der
als "Spieltheorie" bekannt ist (ursprünglich aus der Theorie und Praxis der
U-Boot-Kriegsführung entwickelt). Diese Terminologie wird den Problemen
nicht gerecht; sie vermittelt weder das Gefühl, es gehe um Leben und Tod,
noch bekommt man einen Eindruck von der Intensität des Engagements.
Stattdessen wird eine Gesellschaftsspielen angemessene Geschicklichkeit
aufgeblasen zur Metapher für existentielle Problemlagen, so wie Nachrichten
in den Massenmedien zur Unterhaltung werden (und dies nicht zufällig im
sei ben Land).108
[1] Transzendenz ist das Ergebnis, das mit dem stolzen Titel "kreative Kon-
flikttransformation" belegt werden kann. Etwas Neues, sui generis, gewöhn-
lich Unerwartetes, ist durch diesen Prozeß entstanden, d.h. man hat vom po-
sitiven Aspekt eines Konflikts Gebrauch gemacht, von der Herausforderung,
den zugrunde liegenden Widerspruch zu transzendieren (daher der Ausdruck).
Beide Ziele sind erreicht worden, wenn auch vielleicht in leicht abgewandel-
ter Form. Alle sind glücklich. Schlüsselwort: Kreativität.
[2] Ein Kompromiß ist herbeigeführt worden, wenn sich die Beteiligten hin-
sichtlich beider Ziele mit weniger als dem ursprünglichen Zielinhalt zufrie-
dengeben. Schlüsselwort: Mäßigung.
[3] Rückzug bedeutet, daß man beide Ziele aufgegeben hat, für immer oder
für eine gewisse Zeit, durch Erweiterung des Zeithorizonts. Schlüsselworte:
Apathie, Beharrlichkeit.
Diese drei Ergebnisse sind symmetrisch und meist durch ein gewisses Maß
an kooperativer Steuerung des Prozesses der Zielsuche zustande gekommen;
durch innere Dialoge (bei Dilemmata) und/oder äußere Dialoge (bei Dispu-
ten). Alle drei befinden sich auf der Hauptdiagonalen des Diagramms und
zeugen eher von Harmonie denn von Disharmonie (da sie symmetrisch sind,
108 Auf der anderen Seite hilft die Spieltheorie, wenn wir über die Terminologie hin-
wegsehen bzw. (wie hier geschehen) einen anderen Diskurs einführen, sehr dabei,
seine Gedanken über einen Konfliktprozeß zu ordnen. Jeder Diskurs kann miß-
braucht werden. Wie die Unmenge an Literatur über das Gefangenendilemma zeigt,
kann die Spieltheorie auch zur Klärung von Kooperationsproblemen genützt werden.
Als Mittel der KonfliktIösung wird sie jedoch wohl viel zu sehr gepriesen. Vgl. Ri-
chard B. Braithwaite: Theory ofGames as a Toolfor the Moral Philosopher. An in-
augurallecture delivered in Cambridge on 2 December 1954, Cambridge 1955.
Konflikttransformationen 179
ist es egal, was [4] oder [5] jeweils bedeuten würde). Die anderen beiden
zeugen von Disharmonie und bieten zwei Interpretationsmöglichkeiten.
Erstens sind das die Ecken, in denen sich einer durchsetzt und der andere
nachgibt, z.B. indem er die Fähigkeit oder Motivation des anderen Akteurs,
das Ziel weiter zu verfolgen, eliminiert. Die Sache ausfechten ist oft die ein-
zige Alternative zum Komprorniß im Konflikttransformationsrepertoire vie-
ler Menschen. Schlüsselwort: Gewalt (nicht friedlich).
Zweitens kann es jedoch in diesen Ecken sowohl Akzeptanz als auch
Tragfähigkeit geben, wenn für eine gewisse Kompensation gesorgt wäre. Für
manchen kontraintuitiv, könnten doch andere Konflikte genutzt werden, und
zwar durch Ausweitung, wenn mehr Akteure, und durch Vertiefung, wenn
mehr Streitfragen eingebracht werden, oder durch beides. Schlüsselworte:
erhöhte Komplexität.
Wenden wir uns nun vier Illustrationen dessen zu, was Transzendenz,
Komprorniß, Rückzug und Kompensation in der Praxis bedeuten könnten -
zwei Disputen und zwei Dilemmata, zwei pädagogisch, zwei realistisch ori-
entiert.
Erste Disput-Illustration: zwei Kinder, eine Apfelsine lO9
Die Kinder können natürlich eine Entscheidung mit Hilfe roher Gewalt
herbeiführen, und dies Ergebnis kann akzeptabel und nachhaltig sein, wenn
in der betreffenden Kultur diese Gewalt als Entscheidungsmechanismus ak-
zeptiert ist. Die meisten Kinder aber kämen sicherlich leicht zu einer Kom-
prornißlösung, indem sie die Apfelsine schälen und die Stücke aufteilen, oder
indem sie die Apfelsine aufschneiden und die beiden Hälften auspressen. In
beiden Fällen könnten sie gemeinschaftlich die Teile verwerten, nach der
bewährten Formel: "Du teilst auf und ich suche mir meinen Teil aus".
Die Transzendenz ist ein wenig anspruchsvoller: Man verwendet die Ker-
ne, um Apfelsinenbäume zu pflanzen, um dann zur gegebenen Zeit gemein-
sam die Früchte zu ernten. Eine weitere Möglichkeit wäre, die Schalen zum
Backen von Kuchen zu verwenden, die man dann gemeinsam verzehrt oder
verkauft und den Profit daraus teilt.
Um diese Resultate zu erreichen, muß man handeln. Beim Rückzug ließe
man die Apfelsine einfach liegen, als Orange an sich, nicht für mich (dt. i.
Orig.). Das wäre vereinbar mit einer anderen Art, die Apfelsine zu konsumie-
ren: nämlich mit den Augen statt mit dem Mund; in diesem Fall genösse man
dann deren ästhetische Eigenschaften, gemeinsam oder parallel (dies ist ein
109 Mein Interesse für dieses Beispiel wurde während eines Aufenthaltes als Gastprofes-
sor in Havanna, Cuba 1972, geweckt. Es ging um Experimente, in denen die Hypo-
these getestet wurde, nach der Kinder, die in privaten Familien aufgezogen werden,
zu asymmetrischen Ergebnissen, und Kinder, die in sozialistischen, öffentlichen
Kindergärten aufgezogen werden, zu kooperativen Ergebnissen kämen.
180 Konflikttheorie
110 Für weitere Details siehe die erste Version hiervon in Johan Galtung: "The Middle
East and the Theory of Conflict", in: Essays in Peace Research, Bd. V, Kopenhagen
1980, S. 77-116 (erstmalig 1971 im Journal 0/ Peace Research veröffentlicht), sowie
die zweite Version, in: ders. Solving Conflicts, Honolulu, HI 1989, S. 37-57: "The
Middle East Conflict".
111 Man beachte, wie plump dieses Wort im Gegensatz zu "Selbstregierung" klingt (im
eng!. Original: "together-rule" vs. "self-rule" - Anm. d. Übers.). Die Sprache wird
noch viel Zeit brauchen, um sich Friedens- und Konfliktstudien anzupassen; bis man
z.B. von "Frieden" im Plural (und nicht nur von Kriegen und Konflikten) sprechen
kann.
112 Näher ausgeführt in Teil I, Kap. 5.
Konflikttransformationen 181
113 Natürlich kann dies, wenn es zu einem Habitus wird, zur Trennung in einem tieferen
Sinne führen und zur Scheidung als endgültiger Desintegration des Paares. Eine ent-
sprechende Vermutung wäre, daß in der postmodernen Gesellschaft der gemeinsame
182 Konflikttheorie
der Transzendenz ein Gleichgewicht findet und dann die Extreme sucht, bis
daß dann äußerster Rückzug zum Gleichgewichtszustand wird?
Zwei Schlußfolgerungen sollte man aus diesen Illustrationen ziehen. Zum
ersten kann das hier entwickelte Paradigma der Konfliktanalyse sehr unter-
schiedliche Fälle unterbringen, von intrapersonalen Konfliktformationen bis
hin zu solchen in sehr unterschiedlichen sozialen Systemen. Dies ist so selt-
sam nicht. Wir befassen uns mit zielsuchenden Systemen, handle es sich hier-
bei um Werte oder Interessen, und solche "Systeme" kann man überall fin-
den, wo immer es Leben gibt und wie komplex auch immer die Organisations-
form ist. Die Balance zwischen Harmonie und Disharmonie mag kippen zu-
gunsten der letzteren. Die Vergleichbarkeiten sind nicht nur erzwungen
durch das Paradigma, es gibt sie auch "da draußen". Zumindest scheint es so.
Zum zweiten jedoch: Transzendenz, Kompromiß, Rückzug, Ausweitung,
Vertiefung, Fission und Fusion sind keine Lösungen in sich, sondern nur die
Formen von Lösungshypothesen; und "Lösungen" sind keine letztlichen Auf-
lösungen und Aufhebungen, sondern nur mehr oder weniger stabile Gleich-
gewichtszustände im Lebenszyklus eines Konflikts. In jedem dieser Ab-
schnitte mag es A- und V-Residuen geben, die nach einem neuen W (Wider-
spruch, Inhalt) suchen, um sich an ihm festzuhaken; es mag auch neues W-
Material geben, das sich aufbaut, indem es Fragmente des alten Inhalts oder
der alten Widersprüche zusammenstückelt (wenn z.B. eine neue Grenze zwar
einige historische Probleme löst, aber nicht das der Sicherheit oder die öko-
nomischen Probleme des Zugangs zu Rohstoffen und Märkten und auch
nicht die der sozialen Zusammengehörigkeit).
Gleichwohl, die fünf Punkte sind nützlich als Richtungsweiser für Bewe-
gungen im Konfliktraum (der generell m Akteure, Al, A2, ... Am und n Zie-
le, Zl, Z2, ... Zn, in anderen Worten: m + n Dimensionen haben wird). Sie
stellen Transformationen der Konfliktformation dar und dienen als solche der
Gewaltvermeidung und als Anziehungskraft für Herausforderungen. Auf
letztere ist gewöhnlich Transzendenz die beste Antwort. Aber ein gewaltfrei-
er Weg zur Transzendenz läßt sich nicht immer leicht finden.
Naheliegenderweise ist die einfachste Antwort auf das Problem, wie man mit
komplexen Akteurskonflikten umgehen sollte, die Simplifizierung; mit dem
Begleitproblem allerdings, daß Reduktionismus im Sinne von Polarisierung
hinter der Ecke lauert, mit der Gefahr der Eskalation in seinem Schlepptau.
Aber Polarisierung ist so verführerisch, Polarisierung hinunter auf zwei
Blöcke im sozialen System von Personen, Gruppen, Gesellschaften, Regio-
184 Konflikttheorie
nen usw. (mit allen posItIven Beziehungen innerhalb und allen negativen
zwischen denselben), auf zwei Blöcke auch im Person-System der Werte,
Neigungen, Bilder (und wieder mit allen positiven Beziehungen innerhalb
und allen negativen zwischen denselben), und mit den Freund-Feind-Bildern
im Person-System wird dann das umgebende soziale System strukturiert.
Wie bereits erwähnt, übertreibt der Reduktionismus die Konflikte zwi-
schen und unterschätzt die Konflikte innerhalb der Blöcke und Systeme.
Konkret bedeutet dies, daß, ganz gleich welche Transformation in Richtung
auf Transzendenz, Kompromiß usw. man für einen bestimmten Typ von
Konfliktformation erreicht hat, die Chancen gut sind, daß unterdrückte Kon-
flikte aufblühen werden, sobald die Luft aus dem polarisierten Konflikt her-
ausgenommen worden ist. Nicht nur in Osteuropa brachen nationale Konflik-
te aus, nachdem die Konfliktformation des Kalten Krieges verschwunden
war, nicht zuletzt deswegen, weil diese grotesk überschätzt wurde (so ist bis
heute - 1996 - noch kein Beweis aufgetaucht, daß die Sowjetunion jemals
ernsthaft einen unprovozierten Angriff auf Westeuropa geplant hätte). Hier
gibt es das Argument der Chinesischen Kästchen: Laßt uns zunächst mittels
Reduktion einen komplexen Konflikt so behandeln, als wäre er ein elemen-
tarer; dann diesen transformieren, die Kästchen öffnen, annehmen, daß zwei
neue Konflikte auftauchen, diese lösen, und dann weitermachen, also 2n zu
lösende Konflikte auf jeder Stufe n-l aufarbeiten. Für einen gerade denken-
den, dichotomen Verstand ist dies der natürliche bzw. normale Ansatz.
Die Position, die hier jedoch eingenommen wird, ist die, daß komplexe
Konfliktformationen solche sui generis sind und entsprechend behandelt
werden sollten. Die sieben oben entwickelten Ansätze, basierend auf den drei
Ansätzen von K =0, den zwei weiteren von K = 1 und dann auf Fission und
Fusion, sind gleicherweise bedeutungsvoll auch für komplexe Konflikte, nur
oft schwieriger (so nehmen wir jedenfalls an) durchzuhalten. Bosnien-Herze-
gowina zwischen Serben, Kroaten und slawischen Muslimen zu teilen, unter-
scheidet sich nicht so sehr von der Aufteilung der Krajina zwischen Kroaten
und Serben oder des Kosovo zwischen Serben und albanischen Muslimen.
Dies sind jedoch simplizistische Transformationen, mit niedrigen Graden
an Akzeptanz und Nachhaltigkeit aus all den oben erwähnten Gründen. Tran-
szendenz, z.B. in der Form neuer Typen von Konföderationen, oder konkret
als Konföderation des Europäischen Südostens, wird allgemein besser arbei-
ten bei höheren Komplexitätsgraden, die mehr Möglichkeiten der Auswei-
tung und Vertiefung bieten. Ganz fundamental ist ein Denktraining in Begrif-
fen von drei, vier Akteuren mit jeweils zwei oder drei Zielen, ohne wieder
auf niedrigere Komplexitätsniveaus herunterzugehen. 1I7
117 Es kostete die Internationale Gemeinschaft (was immer das genau ist) mindestens
zwei Jahre gewalttätiger Konflikte, um zu lernen, daß die Serben der Krajina und
Konflikttransformationen 185
Aber es gibt natürlich auch Ansätze, die bilaterale mit multilateralen Ver-
fahren kombinieren. Das Konfliktmolekül kann auf diese Weise gesehen
werden als zusammengesetzt aus Konfliktatomen, aber nicht nur aus zweien,
sondern aus jeder beliebigen Anzahl; wie z.B. Israel, das im Prinzip bilaterale
Konflikte mit allen arabischen Staaten hat, ganz besonders jedoch mit den
vier bzw. fünf, die an Israel (und an den Irak) grenzen. Diese Menge von
Konfliktatomen kann dann geteilt werden in zwei Untermengen: das Zentrum
(der Kern) und die Peripherie (der Rand) des Konflikts. Aus dieser Eintei-
lung ergeben sich dann ganz leicht drei Ansätze:
- ein diachroner Ansatz, der vom Zentrum mit seinen "fundamentalen Ver-
bindungen" ausgeht;
- ein diachroner Ansatz, der von der Peripherie mit ihren "leicht zu verän-
dernden Verbindungen" ausgeht;
- ein synchroner Ansatz, der von all diesen Verbindungen zugleich ausgeht.
Die bei den diachronen Ansätze leiden unter den allgemeinen Unzulänglich-
keiten der Linearität. Die ihnen unterliegenden Annahmen sind vergleichbar:
Vernichte den wesentlichen Widerspruch und der Rest wird sich von ganz
allein entwirren; und: Kläre zunächst die unproblematischen Tagesord-
nungspunkte, und der Rest wird, aufgrund der verbesserten "Atmosphäre",
leicht von der Hand gehen. Die erste Vorstellung beschwört Bilder marxisti-
schen Denkens: der Grundwiderspruch, der in der sozialen Infrastruktur liegt,
zwischen Arbeit und Kapital nämlich (bzw. zwischen Produktionsmitteln und
Produktionsverhältnissen). Die zweite Vorstellung erinnert an liberales Den-
ken: Die Welt ist eine Konflikt-Cafeteria, in der man seine Konflikte sam-
melt und zusammenbringt, um Agenden zu schaffen, wobei man mit den
leichteren Gerichten, den hors d'oeuvres sozusagen, beginnt, um eine "At-
mosphäre" zu schaffen vor dem eigentlichen oeuvre.
Auf Israel übertragen, spricht man vom letzteren Ansatz zuweilen als
"stückweise Frieden" ("peace by pieces"), der Prozeß selbst ist bekannt als
"Friedensprozeß" ("peace process"). Es sollte jedoch wenig Zweifel daran
bestehen, daß das Volk, das am meisten von der Gründung Israels als eines
jüdischen Staates in Mitleidenschaft gezogen wurde, das dort lebende Volk
war, insbesondere also die Palästinenser. Diesen Widerspruch ganz stark zu
machen, entspräche dem ersten Ansatz; wir müßten erst noch sehen, ob die-
ser die Gesamtformation einem stabilen Gleichgewicht eher annähert als der
zweite Ansatz.
Der dritte, mehr synchrone Ansatz wird hier vorgezogen. Etwas Fortschritt
in bezug auf alle Widersprüche ist besser als ein gigantischer Schritt in nur
eine Richtung, der dann zu einer größeren Konfliktdeformation führt. Die
Bosniens Ziele haben könnten, die nicht unbedingt mit den Zielen Belgrads/Serbiens
übereinstimmen müssen (wenngleich sie untereinander kompatibel sein können).
186 Konjlikttheorie
118 Für eine Einführung in C.O. Jungs diesbezügliches Denken siehe Ira Progroff: Jung,
Synchronicity, and Human Destiny, New York 1973.
4 Konfliktinterventionen
eine solche Deformation wäre die UN-Operation in Somalia 1992 - 199?, bei
der aufgrund eigenartiger Vorgänge das Hauptziel plötzlich die Erhaltung -
nicht einmal die Verbesserung - des UN-Prestiges wurde, für das man die
UN-Interpretation dieses Konfliktes durchsetzte, obwohl diese absurd war.
Wenn die grundlegende Methode aber Kommunikation ist, also die Dimen-
sion, die wir jetzt nutzen werden, um eine Typologie der Konfliktinterventio-
nen aufzustellen, dann bringt das Prinzip "weder gesehen noch gehört wer-
den" allerdings auch nichts.
A: Keine Kommunikation mit externen Parteien
Typ 0: Dissoziation: Auflösung, Spaltung. Die am Konflikt Beteiligten kom-
munizieren nicht miteinander, sondern trennen sich, lösen die Formation auf.
Es gibt keine Kommunikation, weder zwischen den Beteiligten noch mit ex-
ternen Parteien (obwohl letztere dieses Vorgehen empfohlen haben können).
Wenn das Medium die Botschaft ist, dann kann auch das Nicht-Medium Trä-
ger einer Botschaft sein: Die Beteiligten sind zur Zeit vielleicht noch nicht zu
einem Transformationsprozeß jenseits einer Nicht-Formation in der Lage.
Typ 1: Assoziation: Kommunikation innerhalb der Formation. Die Beteilig-
ten sind in der Lage, miteinander zu kommunizieren; die Kommunikation
verläuft einigermaßen symmetrisch, mag sogar als Dialog vor sich gehen.
B: Asymmetrische Kommunikation mit externen Parteien
Typ 2: Externe Parteien stellen den Verhandlungsort. Hier handelt es sich um
eine minimale Interventionsform; sie ist aber nicht zu verachten. Man stellt ei-
nen neutralen Treffpunkt zur Verfügung (Genf!), bietet Annehmlichkeiten,
kommt vielleicht sogar für die Kosten auf. Sonst im Prinzip wie Typ 1.
Typ 3: Externe Parteien bieten an, einfühlend zuzuhören. Jetzt nehmen sie
teil, aber nur am Rande. Vielleicht sind die Konfliktbeteiligten unfähig, den
Dialog in Gang zu halten, vielleicht sind sie nicht einmal in der Lage, sich
allein in einem Raum zusammen aufzuhalten. Außenstehende können dann
das soziale und kommunikative Bindeglied sein. Die Parteien können nicht
einfach den Raum verlassen, denn die Externen sind ja da; sie können ein
Gespräch nicht einfach beenden, da diese die Gesprächslücken füllen, wenn
auch nur mit einem ermunternden "aha?", ganz zu schweigen von der klassi-
schen Nachfrage: "Würden Sie diesen Punkt bitte etwas genauer erläu-
tern?,,119
119 Ein Modell wäre Rogers' nicht-direkte Beratung (non-direct counseling); siehe z.B.
W. U. Snyder unter Mitarbeit von earl R. Rogers u. a. : Case-book 0/ Non-directive
Counseling, Boston, MA 1947.
190 Konflikttheorie
120 Typ 4, 5 und 6 sind hier nicht näher ausgeführt. Da sie das Kernstück der Typologie
bilden, werden sie etwas ausführlicher behandelt in Kap. 4.4.
121 Dies ist die eher technische, harte Version des Begriffes "Vermittlung" (mediation).
Es gibt aber auch eine populärere, weichere Verwendung des Begriffs, der dann alle
Ansätze externer Parteien abdeckt und eher an "Konfliktarbeiter" oder "Konflikt-
helfer" denken läßt. Ich ziehe die technischere Verwendungsweise vor, weil wir ei-
nen Begriff für diese Art Aktivität benötigen. HAkan Wiberg unterscheidet aus diesen
Gründen zwischen "low key" und ,,high key mediation".
Konfliktinterventionen 191
den, den Prozeß verlassen, ganz gleich, an welcher Stelle. Gewichtige Grün-
de sprechen jedoch für oder gegen bestimmte Typen, mit der Einschränkung,
daß zuletzt natürlich alles von den Umständen abhängt.
als für den/die andere(n) Beteiligten ist, kann das Meta-Ziel des Recht-
Habens ("Siehst Du? Ich hab's Dir ja gesagt!") sogar die Freude darüber, daß
man das ursprüngliche Ziel erreicht hat, in den Schatten stellen. 122 Das ist
wahrscheinlich einer der Hauptgründe dafür, daß Leute vor Gericht gehen:
Nicht nur, um das Recht auf dieses oder jenes zugesprochen zu bekommen,
sondern um sich ihre moralische Rechtschaffenheit bestätigen zu lassen.
Ziehen wir aus allem den Schluß, daß wir uns für die niedrigen Zahlen ein-
setzen sollten: Die Herausforderungen sind da, wo sie sein sollten; die Pro-
zesse werden Menschen aller Gesellschaftsschichten zum Handeln ermächti-
gen, nicht nur eine Konfliktmanagerelite; die Akzeptanz wird hoch und die
innere Tragfähigkeit groß sein; der Konflikt wird im Mittelpunkt des Interes-
ses stehen und kein abstrakter Rechtsanspruch, der an Rechthaberei grenzt.
Vielleicht aber werden die Beteiligten nicht in der Lage sein, sich entspre-
chend zu verhalten; sie besitzen vielleicht weder die Fähigkeit dazu noch die
Motivation; es wäre sogar denkbar, daß sie das Erregende eines Konflikts im
allgemeinen und eine steigende Spannung im besonderen präferieren, selbst
wenn sie damit sich selbst und andere zerstören.
Die Typen mit niedrigen Zahlen sind also schön, einige Typen mit höherer
Zahl können aber notwendig sein. Man wird die Beteiligten vielleicht sogar
dazu zwingen müssen, eine Transformation durchzumachen, die Ähnlichkeit
mit einer Lösung hat. Da aber vieles gegen die höheren Zahlen spricht, wenn
man von einer allgemeinen in-medias-res-Einstellung ausgeht, sollten wir
uns auf die Typen 3 bis 6 konzentrieren. Bevor wir das jedoch tun, werden
wir uns als Kontrast, und um uns einige fundamentale Aspekte der Konflikt-
transformation vor Augen zu führen, erst einmal die Typen 0 bis 2 etwas ge-
nauer ansehen.
122 Eine Form der Konfliktlösung könnte dann sogar darin bestehen, dem einen das
Meta-Ziel und dem anderen das Ziel zu überlassen: "A, Du bist zwar im Recht, ich
werde das Stück Land jedoch B übereignen, da er es dringender braucht, und ich bin
davon überzeugt, daß Du, der Du ja weißt, daß Du im Recht bist, diese Entscheidung
großzügig akzeptieren wirst."
194 Konflikttheorie
123 Hinsichtlich einer Definition und Untersuchung des Dialogs, dessen Beziehung zur
Debatte (wie z.B. Brainstorming zur gegenseitigen Bereicherung versus verbale
Spiele, um zu gewinnen) und der These, daß man nicht behaupten kann, Sokrates
hätte Dialoge geführt (der Ausgang war vorprogrammiert), siehe Johan Galtung:
"Dialogues as Development", in: Methodology and Development, Kopenhagen 1988,
Kap. 2, S. 68-92.
124 Das Wort dia bezieht sich nicht auf die Zahl 2, sondern bedeutet "durch" (kann auch
,auseinander', ,entzwei' bedeuten), also durch das Wort, logos. Es können also be-
liebig viele an einem Dialog teilnehmen. Diejenigen, die wortgewandt sind, sind hier
natürlich im Vorteil. Deshalb sollte der nichtverbalen Kommunikation besondere
Aufmerksamkeit zukommen, einschließlich der Körpersprache, und zwar nicht nur in
negativer Hinsicht, d.h. um feindselige Haltungen zu vermeiden, sondern auch in
positiver Hinsicht, zur Schaffung einer Atmosphäre positiver Transformation.
Konfliktinterventionen 195
125 "Wer bist Du denn, daß Du denkst, Du könntest Dich aus dieser Sache durch Ent-
schuldigungen herauswinden?", und auf der anderen Seite: "Wer bist Du denn, daß
Du meinst, Du dürftest Vergebung austeilen?" Dennoch hat dieses Paradigma etwas
Schönes, da es die Möglichkeit zu einem Neubeginn bietet, der allerdings dazu ge-
nutzt werden müßte, sich vorwärts zu bewegen.
126 Die generell- besonders im Okzident - übliche Methode, eine Debatte zu gewinnen,
besteht darin, den anderen auf einen Widerspruch zwischen zwei oder mehr Daten-,
Theorie- oder Wertbehauptungen festzunageln. Bei einem Dialog geht es darum, sich
gegenseitig aus Widersprüchen herauszuhelfen, oder darum, die Widersprüche sinn-
voll zu nutzen.
196 Konflikttheorie
Verhältnis zu Gott oder zumindest zum Priester, zur Gerechtigkeit oder zu-
mindest zum Richter.
Zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt eine Eisschicht: die Gegen-
wart, ein schmales Zeitband, welches die Geschichte von der Zukunft trennt.
Die hiermit verbundene Einstellung können wir Präsentismus 121 nennen, der
eine Diagnose erschwert und stattdessen eine Art (journalistischer) Schnapp-
schußdarstellung dessen bietet, was jetzt gerade geschieht; dieser Präsentis-
mus ist blind gegenüber den Wurzeln in der Vergangenheit. Heraus kommen
dabei nur Rezepte, keine für künftige positive und negative Nebenwirkun-
gen sensible Therapie. Die Zukunft aber ist wie die Vergangenheit: Sie dau-
ert lange an.
Gleichwohl sind ein Beharren auf der Vergangenheit (pastism) wie auf der
Zukunft (futurism) nicht viel besser. In der Vergangenheit nach Wurzeln zu
suchen, wird das Verständnis verbessern, daher kann darauf nicht verzichtet
werden. Es kann aber auch zum Trugschluß des tout comprendre, c'est tout
pardonner auf der moralischen Ebene führen sowie zu einer Suche nach ver-
gangenen Lösungen bzw. zu Extrapolationen der Vergangenheit. Da aber in
der Vergangenheit offensichtlich Entscheidendes falsch gelaufen ist, kann sie
unmöglich als hinreichende Basis für den Entwurf einer besseren Zukunft
dienen (wenn sie das könnte, hätten wir diese Zukunft wahrscheinlich schon
längst erreicht; wir haben uns ja lange genug in der Vergangenheit auf-
gehalten). Und der einseitige Fokus auf die Gegenwart verführt zum entge-
gengesetzten Irrtum eines moralischen Urteils, das durch kein Verständnis
gemildert wird. Ein weiteres Mal also Skylla und Charybdis.
Andererseits kann die einseitige Beschäftigung mit der Zukunft zu etwas
führen, das wir mangels besserer Begriffe den "Cafeteria-Fehlschluß" nennen
können: Man denkt, die Zukunft sei offen, man könne sich jedes gewünschte
Lösungs-Gericht aussuchen. Die Zukunft ist vielleicht nicht vollkommen ver-
sperrt, sie kann selbst einem in der Vergangenheit Gefangenen noch eine
positive Öffnung bieten. Aber jeder lebende Organismus besitzt ein Gedächt-
nis, nicht nur Menschen, sondern auch soziale Systeme (vermittelt über Arte-
fakte, etwa Denkmäler) oder Weltsysteme (z.B. Grenzen, Staatsfeiertage).
Die Vergangenheit wird uns immer begleiten, insbesondere die unverar-
beitete Vergangenheit; sie ist in uns, um uns herum, überall. Wie kann man
die Zeitbarriere dann überwinden?
Mein Vorschlag lautet, bei der Analyse zu bleiben und die Teilnehmer
einfach dazu aufzufordern, Prognosen auf der Basis ihrer Diagnosen zu stel-
len. Die analytische Denkweise, gestützt auf Daten und anfechtbare Extra-
127 Diese treffende Formulierung einer bei vielen Außenstehenden des Konflikts in Ex-
Jugoslawien vorherrschenden Einstellung - die die Schatten der Vergangenheit völ-
lig mißachtet, von den Schatten der Zukunft gar nicht zu reden - verdanke ich Pro-
fessor Svetozar Stojanovic.
Konfliktinterventionen 199
polationen aus der Vergangenheit, kann beibehalten werden. Wichtig ist, daß
man das Land der Zukunft gemeinsam betritt. Wenn man sich erst einmal
dort eingefunden hat, kann noch sehr viel erreicht werden, wenn man den of-
fenen Dialog, an dem sich die Helfer ebenso beteiligen sollten wie alle ande-
ren, beständig aufrechterhält; in diesen Dialog sollten Wissen und Meinun-
gen einfließen und niemand sollte sich zurückhalten. Nicht zuviel Diagnose -
die kann später kommen.
Natürlich wird es Widerstände geben. Die Vergangenheit bietet Sicherheit,
nicht allein deshalb, weil die Beteiligten sie zu kennen glauben, sondern
auch, weil sie ihr Konfliktbild stark an der Vergangenheit ausgerichtet haben.
Und dennoch wollen sie dem Vergangenheitsgefängnis entfliehen. Die Ein-
ladung, geleitet von Prognosen, sich mit der Zukunft zu befassen, kann die-
sen Wunsch nach Transzendenz noch intensivieren. Wenn sich alle Beteilig-
ten einig sind, daß sich der Konflikt von selbst erledigen wird, können die
Helfer die Sache abbrechen. Wenn sie sich nicht einig sind, wird sich die
nächste Frage: "Wie können wir den Ereignisablauf so beeinflussen, daß eine
bessere Zukunft entsteht", praktisch von selbst stellen. Wenden wir uns er-
neut der Zukunft zu, durch die Tür der obigen Tabelle.
Der Schritt von der Analyse zur Praxis: Dieser Schritt sollte im Prinzip
leichter zu vollziehen sein, da ja alle Konfliktakteure (nicht nur Parteien) die
meiste Zeit handeln. Die Gegenwart ist aber eine mit starken Gefühlen ver-
minte Hürde, und die Zukunft ist bedrohlich, da das Ergebnis, das irgend wo
dort im Land der Zukunft wartet, vielleicht viel weniger als erhofft bieten
wird. Uns bleibt eine vierte Möglichkeit, die nicht im DPT-Dreieck, wie
normalerweise interpretiert, enthalten ist: die Zurückwendung in die Vergan-
genheit, aber auf der Ebene der Emotion und der Erfahrung und nicht der
Analyse - als erneutes Durchleben der Vergangenheit.
Das kann auf zweifache Weise, faktisch und kontrafaktisch, geschehen.
Stellen wir uns eine sexuelle Belästigung vor oder die Krise zwischen der
Sowjetunion und den USA um Cuba im Herbst 1962. Bringen wir die Akteu-
re zusammen, und zwar nicht nur, um zu analysieren, was damals geschah,
sondern um die Ereignisse nachzuspielen. Das geht natürlich nicht bei Kon-
flikten mit hohen V-Niveaus; die gewalttätigsten Teile könnte man aber aus-
lassen oder nur andeuten. Warum sollte man ein Trauma nochmals durchle-
ben? Um die Vergangenheit zu entmystifizieren, um zu zeigen, daß die Be-
teiligten gewöhnliche, fragile und verwundbare menschliche Wesen mit all
ihren Stärken und Schwächen waren und es da nichts Geheimnisvolles, vom
Himmel Gefallenes gab.
Zentral aber ist das kontrafaktische erneute Durchleben. Man sollte das
Drama bis zur Krise nachspielen und dann die Schlüsselfrage stellen: Was
hätte getan werden können? Im allgemeinen gelangt man irgendwann an ei-
nen Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt, einen Punkt, von dem aus
die Entscheidungsfreiheit eines oder mehrere Akteure drastisch beschnitten
200 Konflikttheorie
ist, aus Gründen des Gefühls oder des Interesses oder aus beiden. 128 Mit zu-
nehmendem Abstand von der Krise nimmt das Ausmaß an Entscheidungs-
möglichkeiten zu. Es gab Alternativen, wenn nicht in der A- oder W-Ecke, so
doch auf jeden Fall in der V-Ecke. Man hätte anders handeln können.
Was ist der Sinn einer solchen Übung? Zu zeigen, daß das, was geschah,
keinem Naturgesetz unterlag; daß die Ereignisse einen anderen Verlauf hät-
ten nehmen können. Voraussicht wäre eine Bedingung dafür gewesen, vor
allem aber Empathie, vielleicht sogar Mitleid mit anderen in der Formation,
um die Konsequenzen des eigenen Handeins besser einschätzen zu können.
Und um ein Gefühl der Verantwortung für sich selbst und für andere zu ent-
wickeln. Wenn die Akteure, die an einer solchen Sitzung teilnehmen, gewillt
sind, Ratschläge bezüglich der Vergangenheit von anderen Akteuren anzu-
nehmen, wenn sie bereit sind, das Für und Wider gegeneinander abzuwägen,
ohne zu behaupten, sie hätten keine andere Wahl gehabt, dann ist viel ge-
wonnen.
Der faktische Ansatz setzt ein gutes Erinnerungsvermögen voraus, der
kontrafaktische verlangt Phantasie. Ersteres kann durch Verzerrungen und
Projektionen getrübt sein, letztere ist sehr gefragt, aber oft nicht in ausrei-
chendem Maße vorhanden. Die Aufgabe der Helferin ist es also, Beistand zu
leisten, als sprichwörtliche Hebamme für Erinnerung und Phantasie zu die-
nen, wobei man letztere auch alternative Erinnerung nennen könnte. Sie muß
Fragen stellen und Vorschläge machen, dann wieder Vorschläge machen und
Fragen stellen. Der Zweck des faktischen Ansatzes ist es, die Vergangenheit
zu überwinden, indem man sie erneut durchlebt; der Zweck des kontrafak-
tischen Ansatzes ist es, die Zukunft zu erfinden, indem man die Geschichte
der Vergangenheit verändert. Beide Ansätze werden gebraucht.
Nach solchen Übungen, nach dem Niederreißen der Barrieren zwischen
Vergangenheit und Zukunft und zwischen Analyse und Praxis zumindest
hinsichtlich der Vergangenheit, dürfte das Aufsuchen der Therapieecke in
der obigen Tabelle weniger furchterregend wirken. Und an dieser Stelle ist
der Brainstorming-Dialog-Ansatz wahrscheinlich das beste Rezept. Die Hel-
fer werden natürlich die in Kapitel 3 dargestellten Formeln für eine Kon-
flikttransformation oder vergleichbare Rezepte im Kopf haben und eines oder
mehrere davon zu einem gegebenen Zeitpunkt vorschlagen. 129 Am gün-
128 Vergewaltiger, wie sexuell erregte Männer ganz allgemein, behaupten so etwas häu-
fig. Mit Recht oder nicht?
129 Unter den zahllosen Veröffentlichungen zu diesem Thema könnten Roger Fisher und
William Ury: Getting to Yes, Boston, MA 1982, John W. Burton: Resolving Deep-
Rooted Conflict, Lanham, MD 1987 und E. Victoria Shook, Ho'oponopono, Honolu-
lu, HI 1985, für den Leser hilfreich sein. Ich habe ernsthafte Vorbehalte gegenüber
Fishers Buch, die sich alle auf dessen Untertitel "Negotiating Agreement Without
Giving In" beziehen. Eine nicht-nachgebende Einstellung kann keine gute Grundlage
sein. Andererseits besteht das entsprechende Vorgehen natürlich darin, eine Trans-
Konfliktinterventionen 201
zendenz zu suchen, die es allen Konfliktparteien erlaubt, zuzustimmen, ohne sich ge-
schlagen zu geben. Burtons Buch enthält 56 sehr nützliche Regeln, inbesondere
Drittparteien, Sponsoren und Panels betreffend. Und Shooks Buch leistet seine
Dienste als eine Einführung in die Art und Weise, wie die hawaiische Kultur sich
bemüht, mit Konflikten umzugehen.
202 Konflikttheorie
überläßt, ob sie ihn akzeptieren wollen oder nicht. Es ist denkbar, daß sie den
Vorschlag eher akzeptieren, wenn sie alle den Prozeß durchgemacht haben,
der im letzten Abschnitt beschrieben wurde. Das gleiche gilt für den Schlich-
ter: Hier müssen die Beteiligten den Vorschlag akzeptieren; in diesem Fall
kann es aber sein, daß sie ihn befürworten, und daß das Resultat haltbar sein
wird. Wenn die Akteure aber die Repräsentanten kollektiver Akteure sind,
gar sogenannte Führer, ist das einzige, was erreicht worden ist, eine Akzep-
tanz auf der obersten Ebene, mit einigen Unterschriften. Laßt tausend Sit-
zungen stattfinden, wiederholt den Vorgang vielerorts mit maximaler Betei-
ligung. Aber lauft nicht in die "Wie-die-Führer-so-das-Volk" -Falle und
produziert nur wertlose Papiere.
Kann der Richter einen Dialog mit den Beklagten eingehen? Natürlich
kann er das; Z.B. kann er fragen, welche Strafe (Strafrecht) oder Entschei-
dung (Zivilrecht) sie für angemessen halten. Ein solcher Dialog kann unge-
heures Konfliktlösungspotential besitzen; und der Richter hat immer noch die
Möglichkeit, sein eigenes, gut begründetes Urteil zu fällen. Beide Seiten die-
ser vertikalen Konstellation könnten daraus Gewinn ziehen.
Kann der Konfliktdiktator dazu bewegt werden, solche Spiele mitzuma-
chen? Nur dann, wenn man sich seinen Wünschen mit solchen Taktiken wie
der der Nicht-Kooperation oder des zivilen Ungehorsams widersetzt. Nur
dann, wenn die gesamte Konfliktformation geschlossen auftritt (wenn z.B.
Serben, Kroaten und Muslime sich zusammentun würden, um gemeinsam ei-
ne UNINATO-Interventionstruppe zur Durchsetzung eines Sicherheitsratsbe-
schlusses zu bekämpfen), wird der Konfliktdiktator sich früher oder später
für Interventionstypen mit niedrigeren Zahlen entscheiden müssen - oder
sich zurückziehen.
Es gibt für alle genannten Rollenträger gute Gründe, eine dialogische
Konflikttransformation ins Spiel zu bringen. Sie machen sich vielleicht keine
allzu großen Gedanken über den Diebstahl von Herausforderungen; die Fra-
ge, ob sich die Machtdistanz durch eine aufgezwungene Konflikttransforma-
tion vergrößert, ist ihnen aus denselben Gründen wahrscheinlich auch nicht
so wichtig. Aber sie werden sich vielleicht Gedanken machen, wenn ihre Lö-
sung von den Beteiligten nicht akzeptiert wird oder intern nicht haltbar ist,
denn das könnte dem Ruf ihrer Ansätze schaden. Ein Meta- Konflikt um Kon-
fliktintervention also!
Ein zentrales Problem besteht in der geringen Wahrscheinlichkeit, daß
sich die Konfliktbeteiligten bei einer aufgezwungenen Konflikttransformati-
on ehrlich und konstruktiv verhalten werden. Sie müssen ja auf eine be-
stimmte Person Eindruck machen, weil diese Macht über sie hat. Ein ein-
schlägiges Verhalten bestünde darin, Informationen zurückzuhalten, Angst
zu haben, anstatt sich konstruktiv zu verhalten, auf ein Urteil zu warten, an-
statt sich an dessen Entstehung zu beteiligen. Vielleicht zeugen solche Ver-
haltensweisen von den Überresten alter Gesellschaftsordnungen, in denen die
Konfliktinterventionen 203
130 Siehe Johan Galtung: "Institutionalized Conflict Resolution", in: Essays in Peace
Research, Bd. 111, Kopenhagen 1978, Kap. 14
204 Konjlikttheorie
Dieser Bereich ist der schwierigste und hat daher am wenigsten Beachtung
gefunden; hier kann noch alles schiefgehen.
5 Gewaltfreie Konflikttransformation
131 Dieser Abschnitt basiert auf meinem Buch The Way is the Goal: Gandhi Today, Ah-
madabad 1992. Für weitere Details verweise ich den Leser auf diesen Titel, speziell
auf dessen Kapitel 3.4 "How Nonviolence Works: Some Hypotheses", S. 130-135.
206 Konflikttheorie
ausgelöst werden kann, in dem ein Konflikt oft genug steckenbleibt. Wenn A
in einem Konflikt mit B, B in einem Konflikt mit C und C in einem Konflikt
mit A steckt, dann können sie diese Konflikte alle zusammenwerfen und
vielleicht feststellen, daß sie sich gegenseitig aufheben.
Das System der Akteure kann aber auch statt durch eine Ausweitung durch
eine Kontraktion verändert werden. Es kann etwa von zwei Akteuren auf einen
reduziert werden. Das geschieht bei einer Integration, die nicht nur den Zusam-
menschluß zweier Akteure zu einem (Fusion), sondern auch die Harmonisie-
rung von deren Zielen, d.h. von deren Interessen und Werten, bezeichnet.
Es gibt dann noch eine letzte, aber keineswegs unwichtige Art der Verän-
derung im Akteurssystem: die Auflösung, Fission, Entkopplung. Diese Mög-
lichkeit besteht nur dann, wenn die Beteiligten schon verbunden sind. Bei ei-
nem Konflikt zwischen einem Eindringling und einem Volk ergibt Ent-
kopplung keinen Sinn. Zwischen einem Ausbeuter und den Ausgebeuteten
aber kann sie sehr sinnvoll sein. Und sinnvoll kann sie auch bei horizontalen
Beziehungen sein: Zwei Geschäftspartner können sich entscheiden, getrennte
Wege zu gehen; eine Ehe kann auseinanderbrechen. Kurzum, so wie es bei
Übereinstimmung der Ziele zu einer Fusion kommen kann, kann es bei Dis-
harmonie der Ziele zur Fission kommen.
Damit haben wir sechs Ansätze zur Konfliktlösung: Auflösung der In-
kompatibilität (Transzendenz), Komprorniß, Vertiefung, Ausweitung, Inte-
gration und Desintegration durch Entkoppeln. Hinzu tritt eine andere Familie
von Ansätzen, die nicht darauf abzielt, die Inkompatibilität aufzuheben, son-
dern die den Konflikt einzufrieren, zu verleugnen, in die Länge zu ziehen
versucht - mit allen möglichen Mitteln, einschließlich des Einsatzes struktu-
reller und direkter Gewalt.
Die Beteiligten können sich also mehr nach innen wenden, sich einander
positiv, oder aber auch auf eine negative Art und Weise zuwenden, indem sie
den bestehenden Konflikt durch die Einführung eines neuen in den Hinter-
grund schieben (wenn ich heute Dein Haus in Brand setze, kann es sein, daß
Du vergißt, daß ich Dir gestern die Brieftasche geklaut habe), oder sich ande-
ren Akteuren zuwenden. Und zu guter Letzt kann man Konflikte auch durch
direkte und strukturelle Gewalt "lösen", denn wenn ein Akteur beherrscht
wird, sind ihm seine eigenen Interessen vielleicht gar nicht bewußt, und er ist
schon daher nicht in der Lage, ihnen nachzugehen. Und wenn er "außer Ge-
fecht versetzt" (getötet, isoliert, verbannt) worden ist, wird er sein Ziel nicht
mehr verfolgen und dem anderen Akteur in die Quere kommen.
Nun, wo steht der führende Theoretiker und Praktiker der Gewaltfreiheit,
Gandhi, in bezug auf die Konflikttransformation? Er lehnt die meisten dieser
Ansätze ab. Man kann behaupten, daß Gandhi, wenn es um die Auswahl von
Ansätzen der Konfliktlösung geht, ein Puritaner ist - hier wie bei seinen Nah-
rungspräferenzen sozusagen ein Vegetarier, und zwar weitgehend aus den
gleichen Gründen.
Gewaltfreie Konflikttransformation 207
Dann die Integration (Fusion). Sie ist das Ziel, das in der Ram Raj-Ver-
einigung, dem Königreich Gottes, deutlich wird. Gandhi unterscheidet sich in
dieser Hinsicht von anderen Denkern, da für ihn keinerlei Grenzen wie Ge-
schlecht, Generation, Rasse, Klasse oder Nation bestehen, vor denen die In-
tegration halt machte. Integration ist universal, transzendiert sie alle. Sie ist
keine Integration gegen jemanden, also eine Allianz bzw. Gemeinschaft zur
Eindämmung struktureller Gewalt oder eine Übung in struktureller Gewalt.
Gandhi meint die Integration der Menschheit. Zudem ist Gandhi optimi-
stisch, was die Annäherung an dieses Ideal, wenn nicht sogar dessen voll-
kommene Erfüllung hier in dieser Welt betrifft. Jeder von uns kann in den
ozeanischen Kreisen der Kooperation seinen Platz finden, jeder hat hier die
gleichen Rechte und Pflichten.
Nun zum Kompromiß. Gandhi war oft für den Komprorniß, auch in Fällen,
in denen es ausah, als könne ein Sieg errungen werden in dem Sinne, daß alle
Mißstände beseitigt, alle Forderungen erfüllt werden könnten. Es ging ihm
nicht darum, die Auseinandersetzung zu gewinnen, sondern darum, sich wäh-
rend des gesamten Kampfes so zu verhalten, daß die bestmögliche Basis für
das Leben nach dem Konflikt gelegt werden würde. Die generelle Neigung,
Kompromisse einzugehen, impliziert jedoch nicht den Willen, hinsichtlich
fundamentaler Dinge Kompromisse einzugehen.
Zu guter Letzt: Auflösung der Inkompatibilität oder Transzendenz. Hier ist
oft Phantasie gefragt. Bezeichnenderweise machte Gandhi von diesem An-
satz Gebrauch, wenn er sich mit einem direkten Konflikt zwischen anderen
Parteien beschäftigte, aber auch, wenn er selbst der Hauptbeteiligte in einem
strukturellen Konflikt war. Der Konflikt wird transzendiert, das, was unver-
einbar erscheint, wird in einer neuen Struktur vereinbar. Beispiele hierfür
sind das horizontale Kastensystem, die Treuhandverwaltung, die Briten, die
in Indien bleiben, aber nicht mehr als Kolonialherren, das (Britische) Com-
monwealth gleichberechtigter und unabhängiger Nationen.
Warum hat Gandhi diese puritanische Einstellung zur Konfliktlösung? Im
Grunde deshalb, weil die Konfliktlösung nur ein Aspekt des gewünschten
Resultats des Konfliktaustrags ist. Mindestens ebenso wünschenswert ist die
positive Wirkung, die der Konflikt auf die daran Beteiligten haben soll. Eine
Konfliktlösung, aus der die Beteiligten unverändert, wenn nicht in noch
schlechterer Verfassung hervorgehen, ist kein Erfolg. Es gibt also drei Krite-
rien für eine erfolgreiche Konflikttransformation: eine neue Gesellschafts-
struktur als Ausdruck der Konfliktlösung im konventionellen Sinne und ein
höheres Selbstreinigungsniveau aller Akteure, sowohl der satyagraha-Gruppe
als auch der Gegner. Nicht allein W-, sondern auch A- und V-orientiert!
Letzteres wollen wir hier als höheres Selbständigkeitsniveau bei allen Be-
teiligten interpretieren; und genau hier führt die Zerstörung einer Ausbeu-
tungsstruktur auch zur Befreiung des Ausbeuters. Dieser war von seinen aus-
beuterischen Praktiken abhängig - durch den Kampf wird auch er lernen,
Gewaltfreie Konflikttransformation 209
selbständig zu werden. Das gleiche gilt für die anderen beiden Komponenten:
Der Kampf verhilft beiden Beteiligten dazu, furchtloser zu werden, und wird,
wenn richtig geführt, deren Bindungen stärken. Nur wenn klar ist, daß für
Gandhi viel weitgespanntere Erfolgskriterien gelten, kann man seine Einstel-
lung zur Konfliktlösung wirklich nachvollziehen.
Für Gandhi kommen zwei Drittel der Standard-Konfliktlösungsmodelle
nicht in Frage; die restlichen vier werden von ihm aber erheblich verfeinert. In
Begriffen moderner Strategien scheint Gandhi ein Anhänger der Doktrin der
stufen weisen und hinausgeschobenen Antwort zu sein. Der anderen Seite muß
Zeit gelassen werden, nachzudenken und die Gesamtsituation anders zu sehen;
ebenso wie die eigene Seite Zeit braucht, umzulernen und die eigene Position
zu transzendieren, um gemeinsam mit dem Gegner A und V zu verbessern.
Als Zusammenfassung kann die folgende Tabelle dem Leser/der Leserin
einen Überblick verschaffen:
Warum finden wir eigentlich nicht mehr gewaltlosen Kampf in der Welt, ge-
richtet gegen direkte Gewalt und gegen strukturelle Gewalt in den beiden
Standardformen der Repression und Ausbeutung? Die Antwort ist wahr-
scheinlich keine Frage moralischer Werte allein: Viele Menschen würden zu-
Gewaltfreie Konflikttransformation 211
stimmen, daß Ghandi moralisch sowohl Lenin wie Mao Zedong überlegen
ist, wenn diese Macht mit dem gleichsetzten, was aus dem Lauf der Gewehre
kommt. Die Antwort liegt auch in der Praxis der Gewaltfreiheit.
Die Behauptung "Gewaltfreiheit zeigt keine Wirkung" muß angesichts der
verblüffenden Erfolge in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts als unin-
formiert gelten; 132 das belegen
1. Ghandis svaraj-Kampagne seit 1920 für die Unabhängigkeit Indiens;133
2. die Befreiung arrestierter Juden im Februar 1943 in Berlin;
3. Martin Luther Kings Kampagne seit 1956 im Süden der USA;
4. die Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, innerhalb und außerhalb Viet-
nams;
5. das Vorgehen der Mütter gegen das Militär auf der Plaza de Mayo in
Buenos Aires;
6. die "People's Power"-Bewegung auf den Philippinen, 1986;
7. die "Children's Power"-Bewegung in Südafrika seit 1986;
8. die Intifada im besetzten Palästina, seit 1987;
9. die Demokratie-Bewegung in Peking, Frühjahr 1989, und
10. die SolidarnoscIDDR-Bewegungen, die zum Ende des Kalten Krieges
führten.
Natürlich ist kein Fall jemals ganz klar und rein. Aber in den genannten Fäl-
len wurde massive direkte Gewalt abgewehrt, und ebenso wurde größere
strukturelle Gewalt abgewehrt oder reduziert. Andere Faktoren spielten ge-
wiß mit, aber hätten die Bedrohten, die Ausgebeuteten und/oder Unterdrück-
ten anstatt auf Gewaltfreiheit auf die Karte größerer Gewalt gesetzt, dann
hätte dieses Verhalten nicht nur zum Einsatz größerer Gegengewalt Anreiz
gegeben, sondern die bedrückenden Verhältnisse wären wohl unverändert
geblieben. Zwar können wir dies nicht mit Sicherheit wissen, da wir die Ge-
schichte nicht noch einmal ablaufen lassen können. Gleichwohl erscheint
dies hoch plausibel. 134
132 S. z.B. mein Buch Nonviolence and IsraellPalestine, Honolulu, HI 1989, insbesonde-
re Kap. 2: "Principles of Nonviolent Action: the Great Chain of Nonviolence Hypo-
thesis", S. 13-34, sowie meinen Aufsatz "Eastern Europe Fall 1989 - What Happe-
ned, And Why? A Theory Sketch", in: Research in Social Movements, Conflicts and
Change, Greenwich, CT 1992, S. 75-97.
133 Diese schließt die Unabhängigkeit von Pakistan ein, auch wenn die Teilung des Lan-
des sehr stark dem widersprach, was Gandhi selbst wollte.
134 Einige Kommentare zur jeweiligen Komplexität der zehn Fälle:
1. Großbritannien war auch geschwächt durch den Zweiten Weltkrieg und durch
den Widerspruch, daß es einerseits den Autokratismus bekämpfte, andererseits
aber selbst dem Kolonialismus weiter anhing. Gandhis Tun schärfte diesen Wi-
derspruch.
2. Viele Juden kehrten zur Arbeit zurück, nachdem sie freigelassen worden waren,
wurden dann wieder eingesperrt - derart, daß gewaltfreies Handeln viel schwie-
212 Konflikttheorie
riger war - und wurden dann getötet. Anderen gelang es, sich zu verbergen. Ge-
waltfreiheit ist keine einmalige Angelegenheit!
3. Während die offizielle Rassentrennung in den USA aufgegeben wurde, ist die
inoffizielle geblieben; noch ein Argument dafür, daß Gewaltfreiheit ein Prozeß
und keine einmalige Aktion ist.
4. Im Grunde gewannen die Vietnamesen einen gewalttätigen Krieg, aber die Ge-
waltlosigkeit schwächte wahrscheinlich die Entschlossenheit auf Seiten der
USA.
5. Da diese Bewegung im wesentlichen führerlos agierte, wurde der Friedenpreis
stattdessen an einen hervorragenden Mann verliehen (Alfonso de Esquivel).
6. Hier handelte es sich wahrscheinlich mehr um ein Mittelklasse- Unternehmen
als um eine Bewegung der - und zugunsten der - wirklich Unterdrückten auf
den Philippinen; daher hätte man es fortsetzen sollen.
7. Hier sollte man den moralischen Einfluß hinzurechnen, den ökonomische Sank-
tionen, die Bloßstellung sowie das positive Beispiel Zimbabwes ausübten.
8. Zwar umfaßte das Handlungsrepertoire der Intifada das Steinewerfen, aber man
könnte argumentieren, daß dieses, gemessen an den regionalen Standards, als
fast gewaltlos gelten muß.
9. Größere Gewalt wurde angewandt von den Kräften der chinesischen Regierung,
aber wahrscheinlich stärker gegen die Gewerkschaftsbewegung der ArbeiterIn-
nen als gegen die Demokratiebewegung der Studierenden.
10. Die Tatsache, daß in Rumänien Gewalt angewandt wurde, läßt die Vorgänge in
Polen und in der DDR nicht weniger gewaltfrei erscheinen. In Ungarn war die
Transformation ein konventioneller, langsamer politischer Veränderungsprozeß,
und die Umwälzungen in der Tschechoslowakei und Bulgarien - ganz zu
schweigen von der Sowjetunion - können wahrscheinlich am besten erfaßt wer-
den als Dominoeffekte der Ereignisse in der DDR und Polen. In der DDR war
die Massenflucht eine bedeutsame gewaltlose Taktik. Auch der gewaltlose Ge-
gen-Coup in Moskau vom August 1991 gehört in diese Reihe, jedoch nicht ganz
zweifelsfrei: nicht weil der Jelzin-Gegencoup nicht gewaltlos gewesen wäre,
sondern weil der Coup als gewalttätiger vielleicht nicht ganz glaubwürdig, son-
dern möglicherweise inszeniert war (z.B., um auf diese Weise Gorbatschow los-
zuwerden, der zu dem Zeitpunkt zwar schon das sowjetische Imperium demon-
tiert hatte, aber noch nicht in die westlichen ökonomischen Forderungen einge-
willigt hatte). Der Coup wurde amateurhaft und halbherzig durchgeführt.
Gewaltfreie Konflikttransformation 213
3. Es besteht die klare und aktuelle Gefahr, daß Gewalt in irgendeiner Form
angewandt wird, wenn aktive Gewaltfreiheit praktiziert wird; mit ande-
ren Worten, das Selbst geht ein reales Risiko ein.
4. Die Verpflichtung auf Gewaltlosigkeit ist klar 13S und erstreckt sich nicht
allein auf Handlungen, sondern auch auf das Reden und, wenn möglich,
auf das Denken.
5. Es gibt im Selbst-Andere(r)-Verhältnis Akte der Freundlichkeit, der Lie-
be.
6. Gewaltfreies Handeln dient dann dazu, dem/den Anderen wie Außenste-
henden zu vermitteln, daß das Selbst niemals aufgeben wird vor der Ty-
rannei, daß es willens ist, die Konsequenzen auf sich zu nehmen, und
daß es eine positive Beziehung wünscht.
7. Die Dissoziation (Nicht-Kooperation und ziviler Ungehorsam) vom An-
deren als Unterdrücker und die Assoziation mit dem Anderen als Person
mag dann die Meinung - und vielleicht sogar das Herz - des Anderen
ändern.
8. Wenn der Bedrücker Gewalt einsetzt, um der Gewaltfreiheit entgegen-
zuwirken, dann mag die Demoralisierung des Anderen, der die Konse-
quenzen seiner Gewalt für seine gewaltfreien Gegner erkennen muß, da-
zu dienen, seine Auffassung zu ändern.
9. Wenn der Andere von fern wirkende Gewalt, eingeschlossen die Institu-
tion des ökonomischen Boykotts, einsetzt, um den Konsequenzen seines
Tuns nicht ins Auge sehen zu müssen, dann müssen auswärtige Parteien
mobilisiert werden, um ihm die Konsequenzen klarzumachen.
10. Wenn die soziopsychologische Distanz zwischen dem Selbst und dem
Anderen darauf basiert, daß letzterer das Selbst dehumanisiert, dann
müßte die Gewaltfreiheit vielleicht Auswärtige einschließen in einer
Großen Kette der Gewaltlosigkeit. 136 Einige der Vermittler werden viele
soziale Eigentümlichkeiten mit den Unterdrückten teilen, andere werden
sozial eher den Unterdrückern verbunden sein. 131
An erster Stelle muß die Beachtung der drei grundlegenden Aspekte gewalt-
freier Aktion stehen: daß diese Aktion gerichtet ist gegen das schlechte Ver-
hältnis zwischen dem Selbst und dem Anderen, nicht gegen den Anderen als
solchen; daß das Handeln eher zu Liebe als zu Haß und eher zu friedlichem
als zu gewalttätigem Verhalten führen soll;138 und daß der Andere zu jeder
Zeit eingeladen bleibt, diese bereichernde Erfahrung zu teilen, wozu nicht
zuletzt die Versicherung gehört, daß für ihn immer Platz sein wird in der zu-
künftigen Gesellschaft. Es kommt darauf an, sich so zu verhalten, daß die
Transformation des Konfliktes nach oben gerichtet bleibt. Die Parteien soll-
ten aus dem Konflikt nicht allein mit besseren sozialen Beziehungen hervor-
gehen, sie sollten auch bessere Personen als vorher sein, besser ausgerüstet,
neue Konflikte gewaltfrei durchzustehen. So können diejenigen, die gestern
oder heute noch zur Gewaltanwendung neigten, die Mediatoren von morgen
werden.
Natürlich funktioniert das nicht immer. Das Selbst mag ja die ersten sechs
Punkte unter Kontrolle haben, aber dann kann der Andere es unterlassen, so
zu reagieren, wie in den folgenden vier Punkten erhofft. Eine Möglichkeit
besteht in diesem Fall darin, es noch einmal zu versuchen; eine andere wäre
die Kapitulation, die aber nie als definitiv angesehen werden sollte. Gewalt
zu akzeptieren, ist selbst ein Akt der Gewalt.
Anhänger Ghandis würden die Bedeutung hervorheben, die einer stärke-
ren Reinigung des Selbst im Rahmen der Konflikttransformation zukommt.
Diese Auffassung hat den Vorteil, daß die Last auf das Selbst abgewälzt wird
und auf etwas, das man selber tun kann (z.B. durch Meditation), und sie ist
Rangdimensionen hinweg unmöglich ist, daß sie schwach ist zwischen Gruppen, die
hinsichtlich zweier Rangdimensionen getrennt sind und daß sie recht stark ausfallt
zwischen Gruppen, die sich nur hinsichtlich einer Dimension unterscheiden. Dies
einmal unterstellt, lassen sich leicht sechs Ketten durch diese sozialen Gruppen hin-
durch verfolgen:
3 T Reihen (Unterdrücker)
2 TReihen
1 T Reihe
o T Reihe (Unterdrückter)
In der Praxis werden alle möglichen zusätzlichen Faktoren zu bedenken sein, wie
eheliche Bande oder ideologische Bindungen (so waren in dem Berliner Fall die
Vermittlerinnen deutsche Frauen, die mit deutschen Juden verheiratet waren; im in-
dischen Fall verhielt es sich so, daß Gandhis Freunde in Britannien im großen und
ganzen eher links standen, aber sie waren weiß und gehörten der Mittel- oder Ober-
schicht an.)
138 Das klassische Beispiel, symbolisch anschaulich genug, um von den Medien aufge-
griffen zu werden, ist das Einsetzen von Blumen in die Mündungen der Gewehre der
Polizei bzw. der Soldaten (im Gegensatz etwa zum Verhalten der französischen Stu-
denten im Mai 1968, die Steine warfen und ihren Haß hinausschrien).
Gewaltfreie Konflikttransformation 215
zudem nicht falsifizierbar. ("Es hat keinen Wandel im Herzen des Anderen
gegeben? Dann bist du es, der mehr Selbstreinigung braucht!") Gewiß sollte
man diesen Faktor nicht ausschließen, da Gewaltfreiheit offensichtlich spiri-
tuell funktioniert, von Geist zu Geist. Aber darum braucht man nicht auf po-
litische Arbeit in Bezug auf und mit externe(n) Parteien verzichten. In den
obigen Mechanismen neun und zehn sind sie geradezu spielentscheidend.
Auf alle Fälle sollte man niemanden behaupten lassen, es gäbe keinen
Konflikt - ganz gleich, wie sehr der wechselseitige Haß verinnerlicht, wie
stark gewalttätiges Verhalten institutionalisiert, wie unzugänglich der Wider-
spruch, die Inkompatibilität, das Problem sei -, der nicht transformiert wer-
den könne durch Gewaltfreiheit. Wir behaupten nicht, daß Gewaltfreiheit
immer funktioniert, es gibt hier kein Patentrezept. Aber viele unterdrückte
Gruppen wären wahrscheinlich ihrer Autonomie viel näher gekommen, wä-
ren sie gewaltfrei vorgegangen. 139 Wofür man jedoch argumentieren kann, ist
die Hypothese, daß Gewalt sich niemals auszahlt.
Zunächst einmal muß man die Zahl der Getöteten und Hinterbliebenen in
Rechnung stellen, der Traumatisierten an Körper, Verstand und Geist und
derjenigen, die davon mitbetroffen sind; zuletzt auch den physischen Scha-
den, der dem menschlichen Habitat und der Natur angetan wird. Die meisten
dieser Schäden sind irreversibel. Und hier handelt es sich doch nur um die
sichtbaren Wirkungen der Gewalt, ohne daß man deren fundamentale Ne-
beneffekte zur Kenntnis nähme - wie Mainstream-Ökonomen, die die Ex-
ternalitäten ökonomischen Handeins einfach unberücksichtigt lassen. Nur
weil sie diesen lebenswichtigen Aspekt nicht zur Kenntnis nehmen, können
die Propheten der Gewalt hinsichtlich deren Einsatzes zu positiven Schluß-
folgerungen gelangen.
Wenn Gewalt, das ist das Zweite, zu einer Änderung in den Beziehungen
zwischen dem Selbst und den Anderen führt, dann wird das erreicht, indem
man den Anderen handlungsunfähig macht. Aber eine gewaltsam durchge-
setzte Lösung ist darum nicht tragfähig, weil sie niemals akzeptiert wird; und
sie ist schon darum inakzeptabel, weil ein besiegter Anderer nicht länger
mehr der Andere ist. l40
139 Als Beispiel mögen die Kurden dienen. Ihre Ziele sind legitim - nicht allein Respekt
vor ihren Menschenrechten und Autonomie innerhalb der Länder, in welche die
Grenzziehung stärkerer Mächte (wie die des Persischen und des Ottomanischen Rei-
ches) sie verschlagen hat, sondern auch ein Kurdistan. Aber ihr Einsatz von Gewalt
und speziell der der türkischen Kurden macht es ihren Unterdrückern leicht, die Be-
völkerung gegen sie zu mobilisieren, und verstrickt sie eher in tödliche Zirkel der
Rache, als daß sie von unten aus ein friedliches Kurdistan aufbaut.
140 So wird die "bedingungslose Kapitulation" nur dann zu akzeptablen Ergebnissen
führen, wenn die besiegte Partei ihre Niederlage nicht allein als ihrer militärischen
Unterlegenheit geschuldet interpretiert, sondern in ihr auch ein Zeichen ihrer morali-
216 Konflikttheorie
Zum dritten aber liegt hier keine positive Transformation des Selbst, son-
dern sogar eine negative vor, alldieweil ein Sieg eine Sucht nach Gewalt
auslösen und beim nächsten Mal zu noch mehr Gewalt führen kann. Und
viertens gab es auch keine positive Transformation des Anderen, möglicher-
weise aber eine negative, weil auch diese Niederlage eine Sucht nach Gewalt
auslösen und Rache nach sich ziehen kann - schon weil ein Hindernis hier-
gegen dadurch beseitigt wurde, daß man Objekt von Gewalt war und somit
ein moralisches Defizit auf sich zu nehmen nicht zu befürchten braucht.
Kommen wir zurück zum Ausgangspunkt. Berücksichtigt man den wach-
senden Bankrott von Gewalt und Krieg als Institutionen, mit einer modernen
Technik, die gewiß weder Sieger noch Opfer adelt, sondern beide degradiert,
und berücksichtigt man die signifikanten Erfolge, die mit gewaltfreien Mit-
teln erzielt wurden: Warum sind dann nicht deren mehr im Einsatz? Um
Antworten zu bekommen, müssen wir wahrscheinlich die Tiefenkultur befra-
gen. Hier mag es verborgene Hindernisse geben, die verstanden und dann
angegangen werden müssen - gewaltfrei, versteht sich. Aber es könnte dort
auch verborgene Faktoren geben, die gewaltfreies Handeln eher begünstigen
als verhindern. Die müssen auch identifiziert und verstanden - und dann
vielleicht nur verstärkt werden.
sehen Unterlegenheit, somit des Wirkens Gottes z.B., erkennt. In säkularen Zeiten
bzw. Zivilisationen sind solche Interpretationen unwahrscheinlich.
Gewaltfreie Konflikttransformation 217
Gebrauch machen von Kropotkin und beim Menschen eher das Spirituelle als
das Tierische unter der Oberfläche hervorheben. Natürlich sind wir beides,
die Frage ist nur, was hervorzuheben wir uns entschließen. 141
Mensch: In der Freudschen Optik erscheint die innere Person als ein Schlacht-
feld, auf dem im Kampf zwischen Es und Über-Ich das Ich entsteht. Diese
Sicht bedeutete einen Durchbruch, gemessen an früheren Bildern von der in-
neren Person als einer tabula rasa, die beschrieben werden sollte mit Glau-
benssätzen, aufgestellt von Kirche und/oder Erziehung. Aber das Freudsche
Bild zeigt auch Defekte. So wird angenommen, Gewalt residiere als Verlan-
gen im Es, und Normsetzungen des Über-Ich verhinderten den Ausbruch all
dieser Gewalt. Das menschliche Wesen erscheint hier als ein Gefaß, in dem
es wimmelt von mehr oder weniger gezähmten Begierden, und hinsichtlich
dessen nur offen bleibt, wie dicht der Deckel hält.
Hierzu gibt es einen alternativen und realistischeren Diskurs (allerdings
nicht den Diskurs der "Realisten"): Man erforscht die Pragmatik und nicht
allein die Moralität von Gewalt und Gewaltlosigkeit. Dies führt zu derselben
Einsicht wie im Falle der Mainstream-Ökonomie: Bedeutende negative Ne-
beneffekte von Gewalt hat man außer Acht gelassen, und wichtige positive
Nebeneffekte der Gewaltlosigkeit sind nicht einmal bedacht worden. Dies
sollte niemanden überraschen. Gewaltfreiheit wird betrachtet als Bestandteil
eines moralischen Über-lchs;42 nicht aber als ernsthafter Vorschlag für prak-
tische Politik; und das Ich erscheint als "blowing in the wind" zwischen zwei
gigantischen Kräften, nicht aber als bewußter Geist, der die Energien von Es
und Über-Ich in neue und bessere Richtungen lenkt. Vielleicht ist das Es da-
bei weniger gewalttätig als das Über-Ich.
Gesellschaft: Die okzidentale Gesellschaft, gleich ob jüdisch, christlich oder
islamisch, ist individualistisch und vertikal aufgebaut, mit starken männli-
chen Wesen an der Spitze. Ereignisse werden leichter zur Kenntnis genom-
men, wenn sie verknüpft werden können mit männlichen, nicht der Unter-
klasse angehörigen Führern wie M. K. Gandhi oder Martin Luther King Jr.
Ein größeres Ereignis, verursacht von schwarzen Unterklassefrauen (wie Ro-
sa Parks) würde nicht so leicht bemerkt von Personen in entgegengesetzten
Status-Positionen. Da aber Frauen in Sachen Gewaltlosigkeit führend sind,
erklärt dieser Faktor allein schon einen Gutteil von deren Unauffalligkeit.
141 Ein gutes Beispiel für ein positives Verständnis der menschlichen Natur ist die unter
der Schirmherrschaft der UNESCO verabschiedete Erklärung von Sevilla, in der eine
Reihe von Sozial- und Naturwissenschaftlern feststellten, daß Gewalt kein der
menschlichen Natur angeborener Bestandteil sei. Natürlich neigen Militäranalytiker
eher zum gegenteiligen, negativen Verständnis.
142 Die schwedische Bezeichnung für Kriegsdienstverweigerer. samvetsöm1IUl. bringt
dies sehr schön zum Ausdruck, indem sie von Menschen mit einem besonders emp-
findlichen Gewissen spricht.
218 Konflikttheorie
Fall Nr. 2 liegt anders. Der Nationalsozialismus war auch der Feind des
Zentrums im Zentrum. Aber die erfolgreiche Anwendung von Gewaltfreiheit
in der Berliner Rosenstraße wirft einige Zweifel auf den militärischen An-
satz, den die koordinierten Zentren im Zentrum, die Alliierten, verwandten,
um die Achsenmächte niederzuwerfen - und besonders auf ihren Versuch,
oder besser das Fehlen desselben, die Juden vor dem Holocaust zu bewahren.
Wäre es besser gewesen, den Nationalsozialismus öffentlich anzuprangern
und innerhalb Deutschlands den Widerstand organisieren zu helfen, beson-
ders den Ghandischen Typus desselben, der ja dem Westen schon in den
dreißiger Jahren gut bekannt war? Oder wurde der in jeder Hinsicht kost-
spielige Krieg gegen den Nationalsozialismus gerechtfertigt durch die Un-
terstellung, es gäbe hier keine Alternative, schon um die Gewissen derjenigen
Deutschen zu beruhigen, die keine Nazis waren? Ist das immer noch der
traurige Stand der Dinge, was Moral und Handlungsbereitschaft betrifft? Und
ist dies vielleicht der Grund, daß die ganze Sache so unbekannt geblieben ist?
Auch Fall Nr. 9 liegt anders: Die chinesische kommunistische Partei war
auch ein Feind des Zentrums im Zentrum. Über die Kampagne wurde, mit
den zu erwartenden Entstellungen, berichtet, ohne das Wort "Gewaltlosig-
keit" zu verwenden. 143
Und schließlich stellt sich, aus verschiedenen bereits erwähnten Gründen,
auch Fall Nr. 10 anders dar. Wenn dies der Weg war, mit dem poststalinisti-
schen Autokratismus ein Ende zu machen, also von innen, was war dann ei-
gentlich die Bedeutung der Maschinerie des Kalten Krieges mit ihren Alli-
anzen, ihren kalkulierten Drohungen, ihrer nuklearen Abschreckung usw.?
Wäre es vielleicht besser gewesen, den Stalinismus öffentlich anzuprangern
und dann internes gewaltloses Tun zu ermutigen? Dieselbe Frage also wie
eben im Falle des Nationalsozialismus. Zweifelsohne gab es ein Zusammen-
spiel verschiedener Faktoren hinter der inneren Erosion, und einer der wich-
tigen war bestimmt der Tribut, den die Wirtschaft für den Rüstungswettlauf
zu zahlen hatte. Gleichwohl hatte die Kombination von MassenfIucht (die
auch vom Westen gefördert wurde), mutigen Demonstrationen l44 und der
143 Eine nach Auffassung des Verfassers korrektere Version der Ereignisse bietet, als
Frucht einer nur wenig später in Peking vorgenommenen Untersuchung, der Ab-
schnitt "What happened in Beijing on 3-4 June 1989: What Happens Now?": in: J.
GaltunglR. Vincent, Global Glasnost, Cresskill, NJ 1992, S. 240-244.
144 Das Schlüsselereignis war die Demonstration, die von der Leipziger Nikolai-Kirche
am 9. Oktober 1989, nach dem traditionellen Montagsgebet, ausging; die Teilnehmer
waren in hohem Maße Frauen, mit Kerzen in der Hand. "Die größte Demonstration
des heutigen Tages fand mit 75 000 Teilnehmern in Leipzig statt, trotz der Drohun-
gen der Partei, ,jegliche Demonstration zu unterbinden, falls nötig mit aller gebote-
nen Macht'. Die Polizei hatte, wie sich herausstellte, Anweisung zu schießen. Alles
bleibt friedlich an diesem Montagnachmittag." (Dirk Philipsen, We Were the People,
Voices From East Germany's Revolutionary Autumn 011989, Durham, NC 1993, S.
394f). Die Teilnehmerzahlen dieser gewaltlosen Demonstrationen, die doch ein be-
220 Konflikttheorie
(oder, alternativ, als Märtyrers, der besiegt wurde)147 gewissenhaft diesem li-
nearen, männlichen Erzählmuster. Und am Ende gibt es dann auch immer
jemanden, der die Niederlage eingesteht und dadurch zugleich ein Stopp-
schild setzt. 148
Das hier geltend zu machende Argument besteht darin, daß effektive Ge-
waltlosigkeit einer stärker zyklischen, weiblicheren Zeitkosmologie folgt.
Der Kampf gegen strukturelle Gewalt wie die Neigung, direkte Gewalt ein-
zusetzen, hören niemals auf, sind Bestandteil unseres menschlichen Daseins.
Strukturelle Gewalt reproduziert sich mit Leichtigkeit im Gesellschaftssy-
stem, das seinerseits direkte Gewalt erzeugt, um ihr zu widerstehen oder sie
zu schützen; und ebenso leicht erzeugt sich diese Gewalt in den Person-Sy-
stemen der Mitglieder des Gesellschaftssystems. Wie Liebe muß auch Ge-
waltlosigkeit erneuert, aufgefrischt werden;149 einen ,Sieg' sollte man niemals
als definitiv ansehen, es geht hier nicht um eine punktuelle Angelegenheit. Es
gibt nicht so etwas wie den schließlichen Sieg oder die endgültige Niederla-
ge, daher gibt es auch kein Halteschild. La lotta continua, der (gewaltfreie)
Kampf geht weiter.
Diese Kennzeichen aber lassen gewaltfreies Verhalten als fast hoffnungs-
los ungeeignet erscheinen, um von den Massenmedien behandelt zu werden.
Notwendigerweise gibt es keine Führer, und das Ziel besteht im strukturellen
Wandel und nicht darin, irgend jemandem eine Niederlage zuzufügen. Es
gibt keinen Anfang und gewiß auch kein Ende; die Berichterstattung wird
sich auf die Dramatik der Abschnitte dazwischen zu konzentrieren haben.
Das Transpersonale: Gewalt wird hauptsächlich zugefügt vom Körper, als
physische Gewalt, obwohl der Wille zu kämpfen - die "Moral" - eine bedeu-
tende Rolle spielt. Gewaltfreiheit stützt sich hauptsächlich auf den Geist, ob-
wohl physische Ausdauer und konkretes physisches Handeln auch eine be-
deutende Rolle spielen. Gewaltanwendung basiert auf der Unterstellung, daß
das, was mir schadet, auch dir schaden wird, und gerade diese Einsicht sucht
man auszunutzen. Diese Voraussetzung findet wir aber auch beim gewalt-
losen Verhalten, nur daß hier der Schaden (wie z.B. der Boykott von Waren
und Dienstleistungen oder der Versuch, sich den Herrschern durch Migration
zu entziehen) weniger irreversibel ausfällt.
147 Wie Milos, König der Serben, nach der Schlacht im Kosovo vom 28. Juni 1389; hier
haben wir ein deutliches Beispiel, das sich direkt mit der gegenwärtigen Krise Jugo-
slawiens verbindet.
148 Andere Beispiele für dieses generelIe Muster wären etwa Wahlen und Sportwettbe-
werbe; in beiden Bereichen wird die Arithmetik des Kampfes als ausschlaggebend
akzeptiert.
149 Repressive Regime sagen eigentlich das gleiche: Die Bevölkerung einmal zu terrori-
sieren, reicht nicht aus, um sie unterwürfig zu halten; sie können immer noch damit
beginnen, neue Ideen zu bekommen. Da das Gefäß leck ist, muß der Terror nachge-
fülIt werden: wie im FalIe der Liebe, der Ehe, der Gewaltfreiheit.
222 Konflikttheorie
Beim gewaltfreien Handeln gibt es die Unterstellung, daß das, was meinen
Wert steigert, auch den deinen erhöht. Gewaltfreiheit ist eine Form sanfter
Gewalt und eine Form der Kommunikation, mit einem Sender und einem
Empfänger. Praktisch mag der Kommunikationsprozeß über eine Kette der
Gewaltlosigkeit vermittelt werden müssen. Dieser Austausch beruht auf der
Voraussetzung eines tiefen Gemeinschaftsgefühls zwischen menschlichen
Wesen; auf der Unterstellung z.B., daß der Andere berührt wird durch das
Leiden des Selbst und sich als Ursache dieses Leidens zurückziehen möchte.
Sieht man in der Gewaltfreiheit nur eine Trickkiste, die man im wesentlichen
dazu braucht, das Leben für seine Unterdrücker unangenehm zu machen,
dann verfügt man in der Tat nur über eine sehr flache Version von Gewaltlo-
sigkeit. lso
Eine universelle menschliche Gemeinschaftlichkeit läßt sich postulieren,
dann aber auch eine je spezifische, auf dasselbe kulturelle Idiom bezogene.
Dies spiegelt sich in Europa klar wider: Protestantische Gewaltfreiheit gibt
sich mehr verbal, ernsthaft und individuell, wie im Falle von Luthers hier
steh ich, ich kann nicht anders. Katholische Gewaltfreiheit ist festlicher, ex-
pressiver, kollektiv, wie katholische Prozessionen durch Städte und Dörfer.
Das kulturelle Idiom auf den Kopf zu stellen, kann sich sehr schnell als kon-
traproduktiv erweisen. Das transpersonale Medium wirkt unterschiedlich;
was den einen berührt, muß darum noch lange nicht den anderen berühren.
Das Transpersonale - manchmal nennen wir es Gott - spricht zu uns in
verschiedener Weise. Von grundlegender Bedeutung ist es, ob Gewaltfreiheit
Teil dieses Idioms ist. Für den südasiatischen Buddhismus und Jainismus gilt
Gewaltfreiheit sehr unzweideutig und obligatorisch. Ähnliches kann vom
Hinduismus gesagt werden, jedoch ist dessen varna-Kastensystem eine Form
struktureller Gewalt, die unvermeidlich zweifeln läßt an der Aufrichtigkeit
der ahimsa-Botschaft.
In den drei abrahamitischen Religionen des Okzidents finden wir die
schreckliche Ambiguität eines das ganze Menschengeschlecht umfassenden
und liebenden Gottes, der doch zugleich eifersüchtig auf irgendwelche ande-
ren Götter ist, und der diejenigen bestraft, die Ihn herausfordern. Jesus Chri-
stus hat die gleiche Neigung. Die reiche Tradition der Gewalt im Okzident
wird sich stützen auf den exklusiven, den strafenden Gott; das gewaltfreie
Rinnsal darin (einschließlich u.a. der Quäker und Baha'i-Anhänger) wird
bauen auf die Tradition eines inklusiven, liebenden Gottes, was noch die dem
150 Hieran entzündet sich eine bedeutende Kontroverse innerhalb der Gemeinschaft der
Gewaltfreien, zwischen der Pragmatik der Gewaltlosigkeit nämlich - repräsentiert
durch Gene Sharp und dessem klassischen The Politics 0/ Nonviolent Action, Boston,
MA 1973 - und der Spiritualität der Gewaltlosigkeit, repräsentiert durch die Gandhi-
sche Tradition der Begegnung der Herzen und nicht nur der Köpfe, des "Aufwühlens
der trägen Gewissen". Meine eigene Position würde ich (wie üblich) beschreiben als
eklektisch: sowohl als auch.
Gewaltfreie Konflikttransformation 223
Ebenso wie jede Kultur über einen intellektuellen Stil verfügt, verfügt sie
über einen Rechtsstil. 1s1 In Bezug auf Gewaltlosigkeit scheint hier am viel-
versprechendsten die angelsächsische (UK/USA-) Tradition des Gewohnheits-
rechts, für die ein Gesetz oder genauer: eine Gesetzesformulierung nicht als
sakrosankt, sondern als Hypothese gilt, weIche überprüft werden muß. Ver-
letzen viele Menschen das Gesetz, dann folgt in dieser Sicht daraus nicht
automatisch, daß sie moralisch daneben liegen. Ebenso könnte es sein, daß
das Gesetz falsch, inadäquat, überholt und daher änderungsbedürftig ist.
Dieses Verständnis bedeutet eine implizite Einladung zu gewaltfreiem
Verhalten in der Form zivilen Ungehorsams. Natürlich gibt es Gewaltlosig-
keit als massive Nicht-Kooperation, eine Aufkündigung des Konsenses durch
die Beherrschten, weIcher doch die langfristige Bedingung für die Herrscher
ist, ihre Herrschaft auszuüben. Aber hier handelt es sich um gezielten bür-
gerlichen Ungehorsam, der sich gegen spezifische Gesetze oder Verfügungen
richtet, und der sich zweifach ausüben läßt: entweder als mächtiges kollekti-
ves satyagraha oder als individuelles satyagrahi einzelner Menschen, die in
ihrer Person die kollektive Angst zum Ausdruck bringen. Beide Fälle leben
von einer unausgesprochenen Voraussetzung, daß nämlich die Gewaltlosig-
keit kein Ausdruck einer generell nachlassenden Bereitschaft ist, den Geset-
zen zu gehorchen. Darüber hinaus muß eine Bereitwilligkeit bestehen, die
Konsequenzen, Bestrafung also, auf sich zu nehmen, um klarzustellen, daß
dieses Verhalten ernst gemeint ist, und um Prozesse in Gang zu setzen, die
den Gesetzgeber zur Änderung seiner Auffassungen bewegen können.
In anderen Rechtstraditionen (der römischen, der germanischen, der japa-
nischen) mögen Gesetze oder Rechtsformulierungen überzeitlich gemeint
sein, dennoch können sie interpretiert werden, und es können auch gewisse
Rechtspraktiken die Rechtstheorie durchaus unterlaufen. Der Vorteil der
Common-Law-Tradition besteht darin, daß sie klar zu erkennen gibt, daß die
Mißstände abgestellt sind, sobald man eine Gesetzesformulierung geändert
hat. Das bedeutet Sieg und damit ein Haltesignal für die gewaltfreie Kam-
pagne, die sich nun vielleicht anderen Aufgaben zuwenden wird.
151 Für eine genauere Erforschung dieser Beziehung vgl. Johan Galtung: Human Rights
in Another Key, Oxford 1994, S. 40-49: "Is the Legal Tradition Culture-Blind?".
(Vgl. in der deutschen Ausgabe Menschenrechte - anders gesehen, Frankfurt/M.
1994, S. 65-79: "Ist die Rechtstradition kulturblind?" (Anm. d. Übers.»
Gewalt/reie Konflikttransformation 225
bildet ist in der Common-Law-Tradition. Seine Kräfte maß Ghandi mit dem
vom Westen bewunderten Objekt seines Kampfes, dem britischen Imperia-
lismus. Einen kleineren Preis hatte er zu zahlen: kein Nobelpreis!ls Die
Theorie kann, mit derselben Begründung, auch den Erfolg von Martin Luther
King, Jr. voraussagen; in seinem Fall jedoch zeigte sich das Nobelpreis-
Kommitee seiner Aufgabe gewachsen.
Diese kleine Übung erlaubt uns zwei grundsätzliche Schlußfolgerungen.
Zunächst benötigen wir eine Theorie der Folgen von Gewalt im allgemeinen
und von Kriegen im besonderen, eine Theorie, die sich nicht zufrieden gibt
mit der Feststellung von Sieg und Niederlage, mit dem Zählen der Toten und
Verwundeten ("Verluste") und der Auflistung materieller Schäden. Die gän-
gige Bezeichnung: eine vom Kriege zerrissene Gesellschaft, erhält größere
Tiefe und Aussagekraft, wenn wir vom Krieg zerrissene Personen und Wel-
ten miteinbeziehen.
Zum zweiten sollte Gewaltlosigkeit Teil des normalen Diskurses werden,
insbesondere jedoch Bestandteil einer weniger gewalttätigen politischen Wis-
senschaftls3 , zusätzlich zu ihrer wachsenden Bedeutung als integraler Be-
standteil von Friedensstudien. Wie im Falle jeder menschlichen Bemühung
können auch hier Theorie und Praxis verbessert werden. Wichtiger als weite-
re empirische Studien über gewaltfreie Kampagnen sind kritische Studien
darüber, an welchen Stellen solche Kampagnen gescheitert sind, und kon-
struktive Studien darüber, wie gewaltfreies Verhalten in der Vergangenheit
hätte effektiver sein können, und wie es in der Zukunft wirkungsvoller wer-
den könnte. Und in solchen Studien könnten alle angeführten tiefenkul-
turellen Faktoren positiv gewandt werden, indem man sie an's Tageslicht
hebt und ihre Bedeutung für gewaltfreies Handeln in unserem gequälten
Jahrhundert der Bevölkerung allgemein, den Journalisten aber im besonderen
bewußt macht.
152 1954 führte ich ein Interview mit dem verstorbenen Jacob Worm-Müller, der Kon-
sulent des Nobelpreiskommitees gewesen war. Dieser stand nicht nur skeptisch je-
dem gegenüber, der seinerseits dem britischem Empire gegenüber hochgradig skep-
tisch eingestellt war, er hatte darüber hinaus an Gandhi auszusetzen, daß dieser sich
nicht konsequent gewaltfrei verhalten habe, indem er empfohlen habe, Gewalt der
Feigheit vorzuziehen, und die Soldaten angehalten habe, ihren Beruf auszuüben
(wenngleich sie sich vorzugsweise überhaupt nicht als Soldaten aufstellen lassen
sollten).
153 In seinem Buch To Nonviolent Political Science, From Seasons 0/ Violence, Honolu-
lu, HI 1993, plädiert Glenn D. Paige für eine gewaltfreie Politische Wissenschaft.
Teil 111: Entwicklungstheorie
1 Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und
Praxis
154 Siehe für eine hervorragende Einführung in viele der entsprechenden Themen und
deren Hintergrund Wolfgang Sachs (Hg.): The Development Dictionary. A Guide to
Knowledge as Power, London 1992. (Dt. Wie im Westen, so auf Erden. Ein polemi-
sches Handbuch zur Entwicklungspolitik, Reinbek bei Hamburg 1993.)
155 Diese werden hier definiert als nicht-manuelle "white-collar"-Arbeiter und als Selb-
ständige mit einigen wenigen Angestellten. Sie stammen vielleicht aus den Arbeiter-
schichten des primären, sekundären oder tertiären Sektors, streben jedoch zu den
oberen Klassen der Reichen, die für ihren Lebensunterhalt nicht arbeiten müssen,
und übernehmen dabei eher die gesellschaftlichen Werte der angestrebten als die ih-
rer Herkunftsklasse. Die lateinamerikanische Erfahrung lehrt, daß, wenn die Arbei-
terschichten versuchen, ihre Situation zu verbessern, die Mittelschichten sich eher zu
den Oberschichten und anderen (politischen, militärischen, kulturellen) Machteliten
schlagen und, wie diese, nach Hilfe aus dem Ausland rufen. Auf Weltebene scheint
dasselbe auch von den Mittelschichtländern zu gelten, die nicht der OECD und nicht
der Dritten Welt angehören, wie die früheren sozialistischen Länder.
230 Entwicklungstheorie
156 Jede dieser drei politischen Maßnahmen ist eine Form des Umgangs mit dem Mehr-
wert, den eine Gesellschaft geschaffen hat. Mehrwert ist ein gemeinsames Erzeugnis
aller, des Volkes und der Eliten, und kann auch von außen stammen (und auch nach
außen absickern). Das Problem: Wer entscheidet, wie es ausgegeben werden soll?
Bekommen Arbeiter für die Arbeit eines ganzen Tages nur einen Hungerlohn, dann
geht der Mehrwert an die Leute ganz oben, da er der Basis nicht zugänglich gemacht
wird. Erfahren die Eliten massive Steuernachlässe, dann entscheiden sie selbst dar-
über, wie der Mehrwert ausgegeben werden soll (und werden ihn üblicherweise nicht
für Volkserziehung und -gesundheit ausgeben - mit Ausnahme einiger Almosen).
Wird Geld eher für Flughäfen als für internationale Autobahnen ausgegeben (Afrika
ist hierfür ein gutes Beispiel), dann werden nur die Eliten profitieren.
157 Vgl. für diese Begriffe Teil IV, Kap. 1.
158 Die Geschichte des größten Völkermordes in der Weltgeschichte, der Eroberung der
westlichen Hemisphäre, kann nicht ohne die Erwähnung dieses zusätzlichen erklä-
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 231
Der Entzug der Bedürfnisstiller bedeutet Leiden, und dies umso mehr, je in-
tensiver (totales Defizit für ein Bedürfnis) und extensiver (verschiedene Be-
dürfnisse) der Entzug ist. Diejenigen, die Strafen über menschliche Wesen
verhängen, wissen dies. Das Gefängnis ist der Entzug der letzten drei Be-
dürfnisstiller, ein Konzentrationslager oder ein verschärfter Vollzug fügt die
vorhergehenden fünf hinzu, und Folterung greift den menschlichen Körper
an, um ihm ein Höchstmaß an Trauma zuzufügen, oft ein nicht tödliches und
nicht nachweisbares. Elend enthält Bestandteile aller drei Leidenstypen. Das
Minimum an Entwicklung besteht in der Beseitigung von Elend, wie das
Minimum des Friedens in der Abschaffung des Krieges besteht. I' 2
Die gesamte Natur hat Bedürfnisse. Die ersten fünf oben beziehen sich auf
Pflanzen, die nächsten vier auch auf Tiere. Das Reproduktionsbedürfnis wird
als ontogenetisches (individuelles), nicht als phylogenetisches Bedürfnis der
Spezies auf Nachkommen betrachtet; denn die Spezies ist eine Abstraktion,
die nicht fähig ist, Bedürfnisdefizite zu empfinden. Der Begriff des Bedürf-
nisses bezieht sich auf alle Arten des sensitiven Lebens, im buddhistischen
Denken definiert als all das, was fähig ist, Leiden, dukkha, und sukha, Steige-
rung des Lebens, zu erfahren. l "
Nun kann eine wichtige Schnittstelle im Entzug von Bedürfnisbefriedi-
gung definiert werden. Wie erwähnt, findet sich auf allen Ebenen des Ent-
zugs ein Element des Leidens. Die äußerste Form des Leidens ist Tod, die
Auslöschung eines Individuums; ob nun durch Traumata, die dem Körper
zugefügt wurden (direkte Gewalt), oder durch fehlenden Input (strukturelle
Gewalt). Doch noch vor der Auslöschung des Individuums kommt ein ande-
rer Schlüsselbegriff der Entwicklungstheorie und -praxis zum Tragen, der der
162 Elend ist nicht dasselbe wie Armut. Armut bedeutet, wenig zu haben; Elend
schmerzt.
163 Siehe für eine Untersuchung des Buddhismus Johan Galtung: Buddhism: A Quest/ar
Unity and Peace, Columbo 1993.
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 233
Ausbeutung, hier definiert als der Verbrauch von Leben über dessen Repro-
duktionsfähigkeit hinaus.
Was dies für menschliche Wesen bedeutet, liegt auf der Hand. Reproduk-
tion, das heißt, jeden Morgen, nach SchlafIRuhe, Ausscheidung und Essen,
wiedergeboren zu werden, frisch und fit, bereit zum Beginn eines neuen Ta-
ges. Keine Reproduktion heißt, jeden Morgen etwas weniger sein als am
Morgen zuvor, in einer abwärts weisenden Folge, die früher oder später mit
dem Tod endet. Geschieht dies mit allen Individuen, dann ist die Spezies in
Gefahr, von Ausrottung bedroht. Ein anderer Ausdruck für "Reproduktions-
fähigkeit" (reproducibility) ist "Nachhaltigkeit" (sustainability), doch ist er
von geringerer Vorstellungskraft, da er den Mechanismus verbirgt, die Re-
produktion durch eigene Kräfte, im Gegensatz zum Aufgepäppeltwerden
durch Hilfe, die von außen kommt, usw. "Erneuerungsfähigkeit" (renewabili-
ty) ist ein besserer Begriff und bezieht zudem die unbelebte Natur mit ein. l64
Ist Entwicklung die progressive Befriedigung von Bedürfnissen der
menschlichen und nichtmenschlichen Natur, dann wird das Problem der De-
gradierung der Umwelt vordringlich. Drei Positionen sind relativ deutlich:
Eine homozentrische Entwicklung, durch welche menschlichen Bedürfnissen
auf Kosten der Bedürfnisse der Natur Priorität beigemessen wird (oder ge-
nauer gesagt, auf Kosten der nicht-menschlichen Natur), eine naturzentrierte
Entwicklung, in der den Bedürfnissen der Natur auf Kosten der menschlichen
Bedürfnisse Priorität beigemessen wird, und eine Entwicklung der Balance
von Mensch und Natur, die einen Kompromiß schließt. Doch hinter dieser
wohlbekannten Auseinandersetzung steht eine einfache Tatsache, deren Be-
trachtung für menschliche Wesen höchst unerfreulich ist: Die Natur kann
sehr wohl ohne menschliche Wesen überleben, menschliche Wesen aber nur
eine Minute oder zwei ohne Luft, eine Woche ohne Wasser, höchstens einen
Monat ohne Nahrung.
In Kenntnis dieser Tatsache nimmt die homozentrische Entwicklung heut-
zutage oft die "aufgeklärte" Form des Umweltschutzes an, wobei man be-
dauert, daß die Natur "Wachstumsgrenzen" setze, und darüber räsoniert, wie
die Natur "erhalten" werden könne. Natur wird in diesem Sinne als ,,für
mich", nicht als "an sich" betrachtet. Dem liegt nun wieder eine Haltung ge-
genüber der Natur zugrunde, die derjenigen ganz ähnlich ist, die bestimmte
Eliten gegenüber dem Volk einnehmen: Das Volk ist um unsertwillen da, als
Mittel unserer Reproduktion. los
164 Oder das, was wir als unbelebt definieren. Die Hypothese von Mutter Gaia ändert
dies, indem sie den ganzen Planeten in teleologischer Perspektive betrachtet, mit Er-
neuerung als einem Weg, ein Gleichgewicht zu bewahren.
165 Dies umzudrehen, indem zumindest derartige Fragen gestellt werden, ist ein Ziel der
Tiefenökologie, die als Ansatz und als Bewegung von dem norwegischen Philoso-
phen Arne Naess begründet wurde. Für naturzentrierte Entwicklung könnte als Aus-
gangspunkt sprechen, daß menschliche Wesen, so wie sie sich heute verhalten, derart
234 Entwicklungstheorie
viel mehr Schaden als Nutzen stiften, daß der Natur und nicht den menschlichen We-
sen Priorität eingeräumt werden sollte, indem man deren Zahl drastisch reduziert.
Der dritte Ansatz würde zu harten Entscheidungen führen, wenn es zu einem Wett-
bewerb zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben kommt. Mehr über
Tiefenökölogie bei George Sessions (Hg.): Deep Ecology for the 21st Century, Bo-
ston, MA 1995.
166 Somit lautet eine grundlegende These der vorliegenden Untersuchung von "Entwick-
lung", daß die gängige Wirtschaftswissenschaft als ein Instrument der Theorie wie
der Praxis der Entwicklung schlichtweg inadäquat ist.
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 235
gibt es hier eine Unvereinbarkeit, selbst wenn man nur den Raum der Natur
betrachtet.
Doch deuten wir nun "ökonomisches Wachstum" als "ökonomisches Han-
deln", derart, daß Natur (materielle und energetische Ressourcen sowie Ab-
fallagerung), Produktion (die Verarbeitung von Natur) und Konsumtion Ged-
weder Endverbrauch von Produkten, so daß der Zyklus geschlossen wird und
der Abfall an die Natur zurückgeht) zyklisch verstanden werden, dann bein-
haltet ökonomisches Handeln nicht apriori Kosten. Die Aufgabe besteht dar-
in zu entdecken, wie dies möglich ist.
Offensichtlich sind die drei Definitionen, die wir jetzt von Entwicklung
gegeben haben: kulturzentriert, bedürfniszentriert und wachstumszentriert,
widersprüchlich. Was in der einen Hinsicht Entwicklung sein mag, muß dies
nicht auch für die andere(n) sein. Vielleicht stehen für eine bestimmte Kultur
weder Bedürfnisse noch Wachstum auf der verdeckten Tagesordnung oder
zwar das eine, aber nicht das andere. Frage: Welche Kulturen, Zivilisationen,
wenn überhaupt, sind echte Entwicklungskulturen?
167 Diejenigen, die andere als naive Gläubige, Fundamentalisten, o.ä. bezeichnen, soll-
ten über ihre eigene Bindung an die größte säkulare Religion in der heutigen Welt
nachdenken, die je nachdem als materialistischer Individualismus, individualistischer
Materialismus, Konsumismus oder einfach als bürgerlicher Lebensstil bezeichnet
wird. Besteht ein Kriterium für Fundamentalismus in der Bereitschaft zu töten, dann
würden sie dem entsprechen, wenn wir etwa annehmen, daß ein Motiv für den Golf-
236 Entwicklungstheorie
These Nr. 6: Die westliche Zivilisation versteht sich selbst als universelle Zi-
vilisation und universalisiert ihre eigene Geschichte als Entwicklungsge-
schichte für andere, und das heißt:
A Entwicklung = westliche Entwicklung = Modernisierung
B Entwicklung = Wachstum = wirtschaftliches Wachstum =
BSP-Wachstum.
Diese beiden Propositionen verweisen auf zwei grundlegende Aspekte west-
licher Theorien von Fortschritt oder allgemeiner Verbesserung, die schon in
krieg die Angst war, die Kontrolle über das Öl im Nahen Osten, "die Lebensader"
(George Bush), zu verlieren.
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 237
168 Dies war eine grundlegende Auffassung, die sehr einflußreiche westliche Makro-Hi-
storiker wie Adam Smith, Herbert Spencer, Emil Durkheim und Max Weber vertreten
haben. Vgl. Johan Gattung und Sohail lnayatullah: Macro-History and Macro-
Historians, im Erscheinen begriffen.
169 Im Gegensatz zum Judentum, als Ursprung der beiden anderen, das sich als singulär
begreift, aber weder universalisierend noch monoprophetisch ist.
170 Die Sache ist ganz einfach die: Wirtschaftliches Wachstum zu erreichen ist nicht
notwendigerweise einfach, doch sind die Schwierigkeiten gering im Vergleich zur
Quadratur des Kreises, nämlich wirtschaftliches Wachstum auf niemandes Kosten zu
erzielen. Nach wirtschaftlichem Wachstum zu streben, ohne nach dem Preis und
demjenigen, der (wenn überhaupt) dafür aufkommt, zu fragen, heißt, sich für den
Weg des geringsten Widerstands zu entscheiden.
238 Entwicklungstheorie
171 Die Begriffe internes Proletariat (für die inländische Arbeiterklasse) und externes
Proletariat (für die Außenwelt, die Barbaren, heute die Dritte Welt) stammen von
Toynbee. Ausbeutung wird hier als die überrnässige Ausnutzung des Lebens defi-
niert, und "Leben" wird dann in vier Teile unterteilt: Das Selbst, das die Ausbeutung
vornimmt, die inländische Arbeiterklasse, die äußere bzw. die Dritte Welt und die
Natur.
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 239
172 Dies ist natürlich durch Carol Gilligans In a Different Voice inspiriert. Doch bitte
ich, ein Beispiel geben zu dürfen, das der persönlichen Erfahrung entstammt. 1974
war ich Beobachter in der norwegischen Delegation bei der Konferenz der Vereinten
Nationen über das Seerecht (UNCLoS) in Caracas, Venezuela. Beteiligt waren etwa
150 Staaten zu etwa 150 Themen, und das heißt, daß die gesamte Tagesordnung ei-
nen sehr hohen Grad an Komplexität aufwies. Auch nur das intellektuelle Verständ-
nis der Themen, vom Auffinden von Lösungen ganz zu schweigen, überstieg die
Fähigkeiten der meisten Teilnehmer oder sogar Delegationen bei weitem. Es gab da-
her viele Sitzungen, die im wesentlichen der Reduktion von Komplexität gewidmet
waren.
Eines Tages wurde ich zu einer Sitzung von Sekretärinnen eingeladen. Sie hatten die
Dokumente geschrieben; verfaßt von Männern, getippt von Frauen. Eines der
grundlegenden Probleme war das der Mineralien auf und unter dem Meeresgrund.
Die Männer erörterten die Frage der "Ausbeutung", die Sekretärinnen wollten disku-
tieren, wer von ihnen profitieren sollte. Und ihre Antworten zeigten in Richtung der
notleidenden Frauen und Kinder in der Dritten Welt, in Lateinamerika, in Afrika, in
Südasien - Mitleid, Mitgefühl.
Doch die Männer, und das heißt fast alle Delegierten, hatten andere Perspektiven.
Deren erstes Problem bestand darin, wie man diese möglichen Ressourcen vom
Grund des Meeres, wie z. B. die berühmten Knollen, nahtlos in das Gebäude des in-
ternationalen Rechts einfügen konnte. Dazu bedürfe es viel neuer Forschung, mit an-
deren Worten neuer Institute, vielleicht neuer Doktorgrade, zumindest neuen Per-
sonals, ausgebildet in adäquaten intellektuellen Konstruktionen. Zusätzlich gab es
das Problem, wie nationale Interessen, nämlich die ihrer eigenen eher als die der an-
deren Nationen, und nicht etwa die menschlicher Wesen in irgendeinem direkten
Sinne, bedient werden könnten. Mit anderen Worten, verbale und gesellschaftliche
Hierarchien des Rechts und des Interesses, wie oben erwähnt. Und nicht Mitleid mit
den Bedürftigen.
173 Ebenso wie Das Kapital von Kar! Marx ist auch Max Webers Die protestantische
Ethik und der Geist des Kapitalismus immer noch höchst lesenswert, in Anbetracht
der Brillanz der Autoren wie der Bedeutung ihrer Ausführungen, denn allzusehr hat
sich die Welt seit damals nicht geändert.
240 Entwicklungstheorie
liert würde. Ganz im Gegenteil, wenn Gott Ursache seiner selbst ist, dann
bleibt den Menschen wenig oder gar keine Möglichkeit, den Hebel anzuset-
zen. Dies bedeutet Ungewißheit, doch auch Schlange-Stehen vor den Türen
des Paradieses. Angesichts der Über-Individualisierung der protestantischen
Seele bedeutet dann Schlange-Stehen den Wettbewerb um den Eintritt ins Pa-
radies.
Und dann ein zweiter Zug: der Protestantismus als entmarianisiertes Chri-
stentum; eine Verstümmelung der gewohnten christlichen Quaternität mit
Gottvater, der Mutter Maria, dem Heiligen Geist und dem Sohn Christus,
wobei Maria herausgeschnitten wird. Mit Maria verschwinden Mitleid und
Barmherzigkeit, die grundlegender sind als die göttliche Gnade, die Gott
über die Menschen ausbreitet, sowie generell Tugenden, die als weiblich
gelten. Übrig bleibt eine Trinität aus zwei Männern und einem Wesen zwei-
felhaften Geschlechts, aber keine Heilige Mutter, die ein Wort der Barmher-
zigkeit für einen Sünder einlegen könnte.
Ergebnis: Agonie, begleitet von der Hoffnung, daß Erfolg in diesem Le-
ben die Ankündigung von Erfolg im Nachleben sein könnte.
Drittens, Ökonomen. Die gängige Wirtschafts wissenschaft stellt, wie jede
Wissenschaft, den Versuch dar, bestimmte Aspekt der Realität transparent
und der Verarbeitung durch den menschlichen Geist im allgemeinen und des-
sen Fähigkeiten zur Abstraktion und Generalisierung im besonderen zugäng-
lich zu machen, immer jedoch um den Preis der Verdunkelung anderer
Aspekte der Realität. Es ist eine Besonderheit der Wirtschaftswissenschaften,
daß die unsichtbar gemachten Aspekte gerade im Feld der Ökonomie selbst
liegen: unmittelbare "Nebenwirkungen", positive und negative Konsequen-
zen wirtschaftlichen HandeIns, für die dieses jedoch keine Verantwortung
übernimmt. Mit anderen Worten: die "Externalitäten", so benannt, weil sie
nicht im Mittelpunkt, sondern im Schatten der intellektuellen Überprüfung
stehen oder in deren Jenseits, im Unter- oder Unbewußten der Mainstream-
Wirtschaftswissenschaft.
Dies sind die Löcher oder unentwickelten Gebiete an den Rändern des
ökonomischen Denkens. Es ist möglich, sechs von ihnen sofort zu identifi-
zieren, wenn man sich der Typologie der Räume bedient, auf die in der These
Nr. 3 verwiesen wurde:
- der Raum der Natur, der nicht in seinem Eigenrecht betrachtet wird, son-
dern nur als Ressource und als mögliche Abfallhalde für Schadstoffe;
der Raum des Menschen, verstanden im wesentlichen als Produktionsfak-
toren auf unterschiedlichen Ebenen und als Verbraucherpotential;
der Raum der Gesellschaft, hauptsächlich betrachtet als Ort der Zyklen
von Produktion - Distribution - Konsumtion und als Marktplatz;
- der Raum der Welt, im wesentlichen betrachtet als ein internationaler ge-
sellschaftlicher Raum;
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 241
konzentriert vielleicht die Ausbeutung auf den Rest der Welt, die Welt, die
außerhalb seiner eigenen liegt, und behandelt den eigenen Teil besser. Das
Nettoergebnis mag ungefähr dasselbe sein: wirtschaftliches Wachstum und
nicht Entwicklung im Sinne der These Nr. 3, Entwicklung auf niemandes
Kosten. Doch in der Verbindung des Mahayana-Buddhismus mit dem Kon-
fuzianismus liegt zumindest ein Potential für mehr Gleichheit in der BK-Re-
gion.
Das Hauptland in der Je-Region ist Deutschland mit der Europäischen
Union und mit Osteuropa/der Ex-Sowjetunion als Hinterland (deutsch i.
Orig.); und in der BK-Region Japan mit Ost-/Südostasien als Hinterland.
Frage: Bilden Deutschland - Japan eine Achse für Frieden oder für Krieg?
Und wie wird sich dieses Duo gegenüber den Vereinigten Staaten verhalten?
These Nr. 10: Der Rest der Welt ist zur Zeit zu einem peripheren Status im
System des Weltwirtschaftswachstums verdammt.
Es ist nicht unmöglich, diesem Verdikt zu entgehen. Doch bedarf es dazu
sicherlich harter Arbeit, intensiven Sparens und hoher Investitionen, der
Habgier und vielleicht auch einiger "ausgleichender Rücksichtslosigkeit",
selbst wenn dies ganz ohne Gewalt geschieht. Gandhi organisierte einen
Boykott englischer Handelswaren, insbesondere von Textilien, um den Weg
zu wirtschaftlicher Selbständigkeit zu ebnen, und sammelte sogar Geld, um
britische Kaufleute nicht zu verletzen. Es führte jedoch kein Weg um die
Tatsache herum, daß diese verletzt wurden, indem ihrem Expansionismus
Schach geboten wurde.
In der Welt der Gegenwart sind die beiden Supermächte des Kalten Krie-
ges einander bemerkenswert ähnlich. Habgier und Rücksichtslosgkeit sind
kein Problem, beide sind in diesem Feld hervorragend beleumdet. Doch sind
unter den gegebenen Umständen harte Arbeit und Sparen für beide ein Pro-
blem. Es ist jedoch schwer, die Zukunft vorherzusagen; sowohl die Ameri-
kaner als auch die Russen verfügen über verborgene Stärken, die sich zeigen
könnten, wenn sie einem wirklichen Härtetest unterzogen werden.
Ist dies das Profil auch anderer Bereiche der Weltperipherie, so gibt es
doch Regionen, die das entgegengesetzte Profil aufweisen: harte Arbeit, Spa-
ren als Schutzzaun gegenüber härteren Zeiten, wenig Habgier und Rück-
sichtnahme auf die Natur, das Selbst und den Anderen. Die meisten Eingebo-
renenvölker sind so, und das ist der Grund, warum sie so lange überlebt
haben. Und ebenso der Grund dafür, warum sie langsam ausgerottet werden.
Was die Situation verschärft, ist die allgemeine Homogeneisierung der
Welteliten im Hinblick auf das Thema des ökonomischen Wachstums, worin
sie mehr oder weniger erfolgreich sein mögen. Erfüllen sie nicht alle vier
Bedingungen, dann werden sie dazu tendieren, dem Zentrum zur Seite zu
stehen, indem sie dieses mit Rohnatur, Roharbeit und Rohmärkten versorgen.
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 243
These Nr. 11: Entwicklungshilfe ist das legitime Kind eines westlichen impe-
rialistischen Vaters und einer christlichen missionierenden Mutter, und das
Kind trägt den Code beider.
Entwicklungshilfe ist letztlich ein Weg, über die ganze Welt hinweg die
Reproduktion, ja das Überleben westlicher Kultur und Struktur zu sichern,
indem der soziokulturelle Samen mit diesem besonderen genetischen Code
überall eingepflanzt wird, unter Verwendung der örtlichen Armut und des
örtlichen Elends zu Zwecken der Rechtfertigung. Verfehlt Entwicklungshilfe
das Ziel, das Elend zu verringern, führt sie eher zu dessen Reproduktion,
dann wird dies als ein weiterer Grund dafür betrachtet, die Übung Entwick-
lungshilfe fortzusetzen. Der "Vater" ergreift die Gelegenheit zur Expansion,
diesmal eher ökonomisch und kulturell als nur politisch und militärisch, und
die "Mutter" fühlt sich gut, wenn sie soviel Nächstenliebe in alle Richtungen
verstreut.
Zeigt sich keine Besserung, sondern eine weitere Verschlechterung, dann
werden oft die Empfänger für die armseligen Ergebnisse schuldig gespro-
chen. Sie sind einfach zu "traditionell", ihre Kultur ist nicht die richtige, und
außerdem sind sie faul und/oder korrupt. All dies können richtige Beobach-
tungen sein, einmal unterstellt, daß es Sinn macht, Menschen einer Kultur
mit ihren Entwicklungszielen anhand der Kriterien einer anderen zu beurtei-
len. Die Menschen im Westen haben hiermit normalerweise kein Problem
und produzieren Unmengen "wissenschaftlicher" Berichte über die Entwick-
lungssituation jedes beliebigen nicht-westlichen Teils der Welt; leider ohne
zu verstehen, daß die westliche Wissenschaft, atomistisch und deduktiv, auch
eine Ethno-Wissenschaft ist. Doch Entwicklungshilfe bringt dem Empfänger
Ressourcen, setzt einen Wettbewerb in Gang, ja, sogar einen Kampf um ein
Stück des Kuchens; sie macht die Gewinner korrupt und die Verlierer zu trä-
gen Opfern der Schwächung ihrer eigenen Kultur.
beit auf hoher Ebene zwischen den miteinander handelnden Eliten der Geber-
und der Empfängerländer: Der Geber kann seinen Anteil vergrößern, wenn
der Empfänger annimmt, und umgekehrt.
Da haben wir sie also, die Entwicklungsagenturen, eine für jede Hügel-
spitze und für jedes Tal, manchmal miteinander zusammenarbeitend und
"koordinierend", manchmal im Wettbewerb miteinander und einander über-
bietend - im Handel mit den örtlichen Eliten, um die Projekte "erfolgreich"
zu machen. Die örtlichen Eliten sind sich ihrer Macht in dieser Hinsicht
ebenso bewußt wie der Wichtigkeit für die Agenturen, etwas vorweisen zu
können. Plötzlich ersinnt eine von ihnen, oft durch Organe der UNO, einen
neuen Slogan, der Möglichkeiten für neue Projekte und neues Geld eröffnen
kann. Doch konkurrierende Agenturen werden die Gefahr wittern und sofort
denselben Slogan akzeptieren (ja, dieselbe "Dekade" ausrufen); und diesen
Slogan vertreten dieselben Menschen, die im Jahr zuvor den entgegen-
gesetzten vertraten. Die ganze Übung ist slogan-unabhängig.
These Nr. 13: Entwicklungshilfe könnte die Form der Beseitigung des haupt-
sächlichen strukturellen Hindernisses annehmen, der Zentrum-Peripherie-
Strukturen, und Herausforderungen an der Peripherie ansiedeln.
Die ärmlichen Ergebnisse einiger Jahrzehnte Entwicklungshilfe können in
einem gewissen Ausmaß auf den grundlegenden Mangel an Verständnis ge-
genüber der oben angeführten zweiten grammatischen These, These Nr. 5,
zurückgeführt werden. Entwicklungshilfe ist der Versuch, jemand anderen zu
entwickeln, wo doch die Hauptanstrengung so offensichtlich von innen her
kommen muß. Der zugrundeliegende Mechanismus gehört zur Theorie der
Externalitäten: Wer greift in Verbindung mit einem Entwicklungsprojekt die
Herausforderung auf? Offensichtlich diejenigen, die die Macht haben, das
Problem zu definieren und es als Rohmaterial zu verwenden, das zu Problem-
lösungen, also zu Handlungsanweisungen umgearbeitet werden muß. Auf-
grund der Definition von technischer Hilfe wird es sich bei diesen Menschen
um die ausländischen, nicht aber um die örtlichen Experten handeln, deren
Expertise den gesamten Begriff der technischen Hilfe in Frage stellen würde.
Doch selbst wenn "entwickeln" als Verb nicht transitiv gefaßt werden
darf, so kann man es doch reflexiv verwenden. Die Geberländer, besonders
diejenigen aus dem Zentrum des Weltwirtschaftssystems, können sich selbst
entwickeln und auf diese Weise zur Entwicklung in anderen Ländern bei-
tragen, durch ein Wachstum zu geringeren Kosten nämlich. Verläuft ein Weg
zu materiellem Reichtum über ein hohes KIN-Verhältnis, dann müssen sich
die unterentwickelten Länder in der Verarbeitung engagieren und dürfen sich
nicht, trotz hoher QIP-Niveaus, mit halb- oder unverarbeiteten Produkten zu-
friedengeben, die ihnen durch die verheerende Doktrin der "komparativen
Vorteile" zugewiesen werden. Ändern die entwickelteren Länder (MDes -
more developed countries) dieses Handicap nicht, dann werden es die wen i-
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 245
ger entwickelten Länder (LDCs - less developed countries) selbst tun, so,
wie dies die South Commission (unter Vorsitz von Julius Nyerere) angedeutet
hat: durch eine Süd-Süd-Zusammenarbeit. Hilfreiche MDCs würden dem
folgen, indem sie herausfordernde Aufträge in den LDCs plazierten.
These Nr. 14: Eine notwendige Bedingung für Entwicklungshilfe ist Rezi-
prozität: Ich helfe Dir, Du hilfst mir; z.B. durch die Bitte an LDCs, Spender
von Entwicklungsberatung für MDCs zu werden.
Die zweite Alternative zur Transitivität ist nach der Reflexivität die Rezi-
prozität, und die übliche Frage in diesem Zusammenhang lautet, wie denn
LDCs helfen können, da sie doch kraft Definition so arm sind. Die Antwort
hierauf, die in den MDCs kaum verstanden wird, ist nicht-materielle Hilfe;
Z.B. das, was MDCs so gerne geben, nämlich erbetene und unerbetene Bera-
tung durch Experten. Die LDCs sind seit langer Zeit Objekte der Forschung
und der Evaluation. Geschieht dies auch andersherum, dann kann das ein
Dialog zwischen Gleichen über gemeinsame Probleme werden, zum Beispiel
über Kinder, die Alten und die Kranken oder über Entfremdung im allgemei-
nen.
Doch sind die MDCs hierfür empfänglich? Man stelle sich vor, was dies in
der Praxis bedeuten könnte. Eine indische Delegation erscheint in Manhattan,
um US-Muster der Fortpflanzung und Familienplanung zu untersuchen, in
der festen Überzeugung, daß, wenn 5% der Weltbevölkerung eine unver-
hältnismäßige Menge der Weltenergie verbrauchen und für unverhältnismä-
ßige Anteile der Weltverschmutzung verantwortlich sind, eine drastische
Verminderung der Bevölkerung nötig ist. Entsprechende Berichte über die
LDCs sind von den MDCs angefertigt worden. Warum nicht von den LDCs
über die MDCs, sogar über WDC (Washington, DC)?
Oder ein anderes Beispiel. Norwegen betrachtet sich selbst als hochent-
wickelt und war immer schon stolz auf seinen Wohlfahrtsstaat. Ein Aspekt
des Wohlfahrtsstaates war die Wohlfahrt für die Alten, inklusive Altershei-
men. Vom Standpunkt anderer Kulturen aus ist es abscheulich, die Alten von
ihren Nachkommen abzusondern. Eine LDC-Delegation kommt nach Nor-
wegen und schlägt eine Anzahl alternativer Maßnahmen vor. Sind die Nor-
weger willens, irgendeine Empfehlung anzunehmen? Oder die Amerikaner?
Negation der Regierung existierte, oder als ob man Regierungen als "Nicht-
Volk" bezeichnen würde) verfolgen in Entwicklungshilfezusammenhänge
vielleicht auch eigene Interessen. Doch diese Interessen werden wahrschein-
lich unschädlich, vielleicht sogar positiv sein für den Empfänger. "Geben"
Regierungen Hilfe, dann werden im allgemeinen nationale Interessen mit im
Spiel sein, so wie Regierungen sie verstehen, und diese sind durchaus nicht
unschädlich: Werbung für nationale Produkte, politische Reziprozität in der
Form von Unterstützung, sogar bei Abstimmungen in zwischenstaatlichen
Organisationen, militärische Rechte auf Basen, Abkommen zur gemeinsamen
Verteidigung, usw. All dies wird dem eigentlichen Gehalt von Entwicklung,
der Befriedigung von Grundbedürfnissen von Mensch und Natur einen ande-
ren Akzent verleihen, sogar dem Aspekt ökonomischen Wachstums.
Hinzu kommt der Unterschied zwischen Regierungsexperten und der Ex-
pertise, über die eine freiwillige Organisation verfügt. Erstere sind Experten
für etwas Hochrangiges in ihrem eigenen Land, und daher wird die Produkti-
on dieses Etwas in einem LDC normalerweise um des Exportes willen ge-
schehen. Der Weg vom Experten zum Export ist sehr kurz. Freiwillige Orga-
nisationen dagegen können Erfahrungen auf menschlicher Ebene von den
MDCs an die LDCs übermitteln und wieder zurück, sogar in unmittelbarer
Zusammenarbeit mit Freiwilligen der LDCs. Und es fällt ihnen leichter, dem
Primat der Grundbedürfnisse treu zu bleiben und der Solidarität mit Mensch
und Natur. Und nicht zuletzt: der Reziprozität.
2 Sechs ökonomische Schulen
Die Kultur ist wie der Boden, der Nährstoffe für einige Pflanzen und Ge-
wächse eher als für andere bereitstellt. Wir werden uns besonders mit einigen
Entscheidungen, die in und von einer Kultur getroffen werden,174 beschäfti-
gen:
174 Viele andere Variablen könnten eingesetzt werden. Aber die aufgeführten können di-
rekt genutzt werden, um grundlegende Muster in ökonomischen Systemen zu be-
schreiben. Vertikal können sie gelesen werden als Beschreibungen ,moderner' (im
üblichen Sinne von ,westlicher') versus weniger ,traditioneller' als viel mehr ,primi-
tiver' sozialer Formationen wie etwa nomadisierender Stämme. Es gibt gewisse
Ähnlichkeiten mit TaIcott Parsons Pattern-Variablen (The Social System, Glencoe,
IL 1951), von denen es auch fünf gibt. Aber darunter fallen weder VertikalitätlHo-
rizontalität noch Expansion/Stabilität.
175 Nicht zu verwechseln mit "Nationalisierung" oder "Kollektivierung der Produktions-
mittel" als eine Art und Weise der Organisation der Wirtschaft oder von Teilen der
Wirtschaft. "Kollektivismus", so wie er hier verstanden wird, ist eine viel tiefer lie-
gende Eigenschaft, die in die Kultur eingebettet ist. So bestand ein Problem der frü-
heren sozialistischen Länder in der Kollektivierung von Teilen der Wirtschaft inner-
halb einer individualisierenden Kultur (die Brüder Karamasow kann man in Rußland
immer noch antreffen, und sie sind kaum die ideale Belegschaft für landwirtschaft-
liche oder Industriebetriebe unter staatlicher Leitung). Ein Problem vieler indigener
Völker stellt das entgegengesetzte Muster dar: die Individualisierung von Teilen der
Wirtschaft, während die Kultur fundamental kollektivistisch ist.
Sechs ökonomische Schulen 249
che Gehirn mit Informationen neu versorgen. Das Gegenteil wäre der Zu-
stand der Natur, hier bezeichnet als "Naturbelassenheit". Die französischen
Begriffe le cru und le cuit decken dieselbe Dimension ab, von reiner Natur
zu reiner Kultur.
"Expansion" ist die Neigung, alles zu vermehren. Das Gegenteil ist "Stabi-
lität", da Kontraktion undenkbar ist.
Zum Schluß werden wir noch Natur hinzufügen. Deren Negation ist Nichts.
Wir wollen uns nun hierauf stützen, um etwas über jenes ökonomische Sy-
stem zu sagen, das als Bezugspunkt dienen kann, um sie alle zu diskutieren:
"Smithismus", benannt nach Adam Smith. Wie bei jedem Wirtschafts system
besteht die Aufgabe darin, Inputs in Outputs zu verwandeln und diese dann
zu verteilen. Die Hypothese lautet, daß das kulturelle Profil der Smith'schen
Ökonomie aus Individualismus - Vertikalität - Monetarisierung - Verarbei-
tung - Expansion besteht. Da der Begriff "Kapitalismus" nur den Aspekt der
Monetarisierung einfängt, ist dem des "Smithismus" der Vorzug zu geben. 176
Smiths intellektuelle Agenda war eindeutig inspiriert durch den Versuch ei-
nes wissenschaftlichen Positivismus in der Tradition Galileis und Newtons,
Machiavellis, Vicos und Hobbes', wobei er Schichten von Sentimentalität
und Moralismus abtrug bis hin auf das "Natürliche"177:
- eine Untersuchung der menschlichen Natur, die er letztlich verstand als
wesentlich durch Eigennutz gesteuert, jedoch gemäßigt durch moralisches
Empfinden; J78
- eine Untersuchung des natürlichen Wirtschaftssystems, in dem jeder dem
Eigennutz entsprechend handelt.
- Eine Untersuchung über die Natur und Ursachen des Wohlstands der Na-
tionen,179 beruhend auf der Praxis des natürlichen Wirtschaftssystems.
- Die Unsichtbare Hand: "Indem er (sc. der Mensch) seinen eigenen Nutzen
verfolgt, dient er oft demjenigen der Gesellschaft wirkungsvoller als dann,
wenn er wirklich beabsichtigt, diesem zu dienen" (folgt aus den drei vor-
genannten Untersuchungen).
Aus diesen Gegebenheiten folgen die kulturellen/strukturellen Bestandteile
von Smiths intellektueller Konstruktion. Also:
AI Individualismus, denn nur Individuen können ihrem Eigennutz entspre-
chend handeln. Betrieb und Staat werden als Makro-Individuen betrach-
176 In Analogie zum Marxismus; hierdurch wird der Verfasser insgesamt geehrt und
nicht auf einen Aspekt (s)eines reichen Gedankengebäudes reduziert.
177 Siehe Albert O. Hirschman: The Passions and the lnterests, Princeton, NJ 1977, be-
sonders Teil I.
178 Der Titel von Adam Smiths berühmtem Werk lautete The Theory 0/ Moral Senti-
ments, Erstausgabe London 1759.
179 Der Titel des berühmtesten Buches von Adam Smith, Erstausgabe London 1776.
250 Entwicklungstheorie
tet, was für eine einzelne Person an der Spitze von beiden spricht. Der
Staat besteht aus einer Menge von Individuen und die Welt aus einer
Menge von Staaten. Die Perspektive ist akteurs-, nicht strukturorien-
tiert. ".
A2 Privateigentum setzt eine Teilung der Welt in zwei Mengen voraus: freie
Akteure und Privateigentum, mit einer eins-zu-eins-Eigentumsbeziehung
zwischen freien Akteuren und privaten Besitztümern.
A3 Freiheit im engen wirtschaftlichen Sinne wird zu dem Recht, Privatei-
gentum zu besitzen und Privateigentum zu verwenden, um noch mehr
Privateigentum zu erwerben. Hieraus ergibt sich die grundlegende Rolle
des Staats: Polizei für den Schutz des Eigentums der Individuen und Be-
triebe; Militär für den Schutz (und die Erweiterung) des Eigentums der
Gesellschaft; Gerichtsbarkeit für Auseinandersetzungen zwischen den
Akteuren.
A4 Markt, damit freie Akteure die Nachfrage von Käufern und das Angebot
von Verkäufern artikulieren können; damit sich willige Käufer und Ver-
käufer, unter Einschluß der Produzenten und Verbraucher, treffen und
Geschäfte abschließen können.
Bi Arbeitsteilung zwischen Individuen und zwischen Gesellschaften, mit
unterschiedlichen Aufgaben für verschiedene Individuen und Gesell-
schaften.
B2 Abgestufte Entgelte zur Belohnung von Kompetenz und Risikobereit-
schaft.
B3 Wettbewerb zur Verbesserung der Geschäfte für Käufer und Verkäufer,
handle es sich dabei um Individuen (Haushalte), Firmen oder Länder.
C Monetarisierung all dessen, was eine Rolle in einer Produktionsfunktion
spielt, der Faktoren sowohl wie der Produkte: der Preise für Produkte,
der Pacht für Land (Natur); des Lohns für Arbeit; der Zinsen für flüs-
siges Kapital; der Verzinsung für festgelegtes Kapital; des Verkaufswerts
der Patente und allgemein des Eigentums.
D Verarbeitung (Herstellung), die Prägung der rohen Natur und des
menschlichen ,Rohmaterials' durch Kultur und Information.
E Expansion (Wachstum) in mehrerlei Hinsicht:
- in qualitativer Hinsicht, zumindest als Erweiterung der Vielfalt, der
Produktauswahl;
- in quantitativer Hinsicht, durch die Erweiterung der Produktmengen;
- im Hinblick auf den Wirtschaftsbereich, derart, daß ökonomische
Zyklen umfangreichere Territorien umspannen;
im Hinblick auf die Zielsetzung, durch gesteigerte Differenzierung der
Inputs und Outputs.
180 Siehe Johan Galtung: "Two Perspectives on Society", in: The True Worlds, New
York 1980, S. 41-61.
Sechs ökonomische Schulen 251
Abbildung 3.2:
~ZahlUngvon Löhnen
(
Produktion
Angebot
~. Konsumption
~ Nachfrage
Der Smithismus ist die Grundlage für die Mutter aller Schulen, die Blaue
Schule.'" Natürlich gab es Vorgänger (Merkantilisten, Physiokraten, die mit-
telalterliche Ökonomie, das Römische Reich, prähistorische und nicht-abend-
ländische Ökonomien). Doch für die letzten 200 Jahre dient diese immer
noch herrschende Schule als Anker für Theorie und Praxis.
Im obigen Schema ruht die Logik des Blauen (Smith'schen, kapitalisti-
schen) Systems auf 24 Füßen (die zumeist mehrere Zehen haben). Horizon-
tale Lesarten dienen eher dem Gesamtverständnis des Systems, vertikale Les-
arten eher einem eingegrenzteren ökonomischen Verständnis.
"Individualismus" bringt sich wegen der zugrundeliegenden Unterstellung
der dominio des Römischen Rechts über die Institution des Eigentums zum
Ausdruck. Sowohl die Produktionsfaktoren als auch die Produktionsverhält-
nisse"2 können besessen bzw. kontrolliert werden. Dieser Eigentumstitel be-
zieht sich auf alle Faktoren. Sklaverei - der Besitz menschlicher Arbeitskraft
und die Vermarktung von Sklaven (auf einem Faktorenmarkt) - steht voll-
kommen im Einklang mit der Logik der Blauen Schule. Die Sklavenbefrei-
ung ist eine Anomalie und stieß dementsprechend auf starke Widerstände.
Kampagnen gegen die Sklaverei können jedoch in Begriffen der Blauen Lo-
gik erklärt werden, wenn wir unten in der Spalte "Produktionsfaktoren" nach
einer anderen Schlüsselvariable suchen: der Faktor Mobilität, einschließlich
der der Arbeitskraft. Werden Arbeitskräfte statt Sklaven vermarktet, besteht
der zusätzliche Vorteil, daß Arbeiter oft für die Kosten eines Umzugs von ei-
181 Die Farben für die ökonomischen Schulen sind der europäischen Politik entnommen:
"blau" steht für konservativ, "rot" für kommunistisch, "grün" für grün. "Rosa" oder
"pink" sagt man oft für Sozialdemokraten, wenn weniger Blut und Revolution damit
verbunden werden soll. Wenn hier vom japanischen System als "gelb" gesprochen
wird, dann ist damit nichts rassistisches gemeint, sondern soll eher die "gelbe Ge-
fahr" im Sinne von "die gelbe Herausforderung" assoziiert werden. "Golden" wäre
vielleicht eine angemessenere Beschreibung der Realität, würde aber das Farben-
Schema durchbrechen. Da die Blaue und die Rote Schule die Gelbe konstituieren,
könnte man diese auch als "purpurn" bezeichnen - dunkler und weniger verwässert
als rosa bzw. pink.
182 Diese Begriffe kommen den marxistischen Begriffen der Produktionsmittel und -ver-
hältnisse sehr nahe. Die fundamentale marxistische These über einen möglichen Wi-
derspruch zwischen sich entwickelnden Produktionsmitteln und den starreren Pro-
duktionsverhältnissen kann auf die ersten beiden Spalten der Tabelle 3.3 Anwendung
finden, doch steht dies hier für uns nicht im Mittelpunkt. Auch neigt die marxistische
Theorie dazu, dies Paar zu betonen, und zwar derart, daß die Mittel die unabhängi-
gen und die Produktions-Verhältnisse die abhängigen Variablen darstellen, was die
Fruchtbarkeit dieses Paradigmas des Bruchs (wenn eine Variable starr und die andere
dynamisch ist) beträchtlich beeinträchtigt. Im marxistischen Denken wird die Tech-
nik zu der Maschine, die die soziale Organisation hinter sich herschleift. Was aber,
wenn es starke, für neue Gesellschaftsverhältnisse eintretende soziale Kräfte gäbe, in
deren Schlepptau sich auch neue Technologien entwickelten, die sehr wohl mit der
neuen Gesellschaftsorganisation kompatibel wären?
254 Entwicklungstheorie
183 Historisch gesehen, muß dieses Muster einen Vorgänger haben, und wenn der Markt
einer der weltlichen Nachfolger Gottes ist (der andere ist der Staat, mit dem Kai-
serlKönig, dem rex gratia dei, dazwischen), dann darf man wohl annehmen, daß die
neuen Priester, die Unternehmer, in ihrem Verhalten den alten Priestern gleichen und
in ähnlichen Strukturen operieren. Einweg-Kommunikation ist in der Kirche immer
noch die Regel und selbst in Demokratien, die im Prinzip doch Schauplätze des
Dialogs darstellen sollten.
Sechs ökonomische Schulen 255
Zentrum, in dem die Faktoren verarbeitet, und einer Peripherie, in der sie be-
schafft werden; ungleicher Tausch zwischen denen, die die Probleme (Her-
ausforderungen) definieren und lösen, und denen, die nach standardisierten
Verfahren ("standard operation procedures") arbeiten;'" ungleicher Tausch
im Handel, der mit dem ersten Typus zusammenfallen kann; und ungleicher
Tausch zwischen Generationen, in denen die späteren um Faktoren gebracht
werden. Zentrum und Peripherie treten hervor als zwei Aspekte des Blauen
Systems."5
"Monetarisierung" besteht in mehr als in der Preisauszeichnung von Fak-
toren und Produkten. Die Implikation, daß alles, was einen Preis hat, zum
Verkauf auf dem Markt steht,"6 macht alles miteinander vergleichbar, und
das heißt, daß alles für alles eingehandelt und auch "weggehandelt" werden
kann. Wird Rationalität als dem Eigeninteresse entsprechendes Handeln defi-
niert, durch das Nettogewinne durch ein Spektrum von Marktaktivitäten und
über eine gewisse Zeit hinweg maximiert werden, dann ist es die Monetari-
sierung, die dies ermöglicht. Gleichzeitig ist der Preis eine quantitative Va-
riable und erleichtert den Aufbau mathematischer Gebäude, die die Logik der
Schule widerspiegeln. 187
184 Die Vorstellung, daß die unterschiedliche Entlohnung in einer Organisation, in der
Praxis also in einem Unternehmen, mit Bauernhöfen und Einzelhandelsgeschäften
als Sonderfallen, auf unterschiedliche Risikobereitschaft zurückgeführt werden
könnte, grenzt ans Absurde. Wer geht denn heutzutage das größere Risiko ein, der
Arbeiter, der als unter dem Strich überflüssig und für entbehrlich erklärt werden
kann, oder ein Unternehmer, der zwar bankrott gehen kann, aber gegen die Ansprü-
che der Kapitalgeber durch "begrenzte Verantwortung", "begrenzte Haftung" (dt. i.
Orig.) geschützt ist? Die hier vorgebrachte These lautet, daß die unterschiedliche
Entlohnung eher auf die Unterschiede bei der Problemlösung zurückzuführen ist;
und dies heißt, daß diejenigen an der Spitze nicht nur ihren Nutzen aus dem Pro-
blemlösen ziehen, sondern auch noch besser bezahlt werden.
185 Es könnte das Argument vorgebracht werden, daß diese bei den sich so sehr vonein-
ander unterscheiden, daß wir es tatsächlich mit zwei Blauen Systemen und nicht nur
mit einem zu tun haben. Unsere These lautet jedoch, daß das Blaue System unwei-
gerlich ein Zentrum und eine Peripherie hervorbringt. Wie die zwei Seiten einer
Münze nicht zwei Münzen ausmachen, so machen die beiden Aspekte des Blauen
Systems nicht zwei Systeme aus. Von der Einführung des "Systems freier Marktwirt-
schaft" in ex-sozialistischen oder Ländern der Dritten Welt zu reden, wenn in Wirk-
lichkeit nur der Peripherie-Aspekt des Blauen Systems eingeführt wird, ist im we-
sentlichen reine Propaganda.
186 So hat etwa Arbeit einen Preis als Sklavenarbeit, Leibeigenenarbeit oder Lohnarbeit.
Und Kapital hat einen Preis, wenn es zeitlich (Zinsen) oder räumlich (Gebühren, be-
sonders über Währungsgrenzen hinweg) in Bewegung gesetzt wird.
187 Dies sollte nicht mit der Widerspiegelung ökonomischer Realität verwechselt wer-
den. Wenn wir annehmen, daß die Realität von Widersprüchen voll ist, dann stellt
sich die Frage, ob eine widersprüchliche Realität (die Wirtschaft) adäquat durch eine
nicht-widersprüchliche Sprache (Mathematik) abgebildet werden kann. Siehe hierzu
Johan Galtung: "Contradictory Reality and Mathematics: a Contradiction", Kap. 4.4.
256 Entwicklungstheorie
"Verarbeitung", das Aufprägen von Kultur (K) auf Natur (N), die Steige-
rung des KIN-Quotienten, hat ebenfalls durchgreifende Konsequenzen. Die
Organisation, das Unternehmen, muß höhere Formen der Verarbeitung wi-
derspiegeln, indem sie eine wachsende Anzahl von ihrerseits zunehmend
,verarbeiteten' Menschen aufnimmt, nämlich Forschungs- und Entwicklungs-
spezialisten. Die Produkte müssen in zunehmendem Ausmaß "elaboriert"
sein. Der Markt selbst muß diese Tendenz widerspiegeln, und zwar durch im-
mer komplexere Transaktionen, von immer komplexeren Produkten, was zu
einer Kostensteigerung für die Transaktionen führt'" und damit auch zum
Auspressen der unbedeutenderen und mehr an der Peripherie angesiedelten
Akteure (Individuen, Unternehmen, Länder)."·
"Expansion" zeigt sich in allen vier Feldern: zunehmende Vielfalt und zu-
nehmender Umfang von Produkten und Transaktionen, ökonomische Zyklen,
die immer größere (und bald auch außerterrestrische) Gebiete umfassen, mit
sich immer mehr ausweitenden und zunehmend differenzierteren ökono-
mischen Organisationen. Ein Mechanismus ist der der Faktormobilität, ver-
bunden mit einem aufwärts gerichteten Austarieren der Faktoren mit dem
Ziel einer ausbalancierten Mischung von Inputs: keine Überschüsse, kein
Mangel. '90 Expansion - ohne eingebautes Haltesignal.
in : Methodology and Development, Kopenhagen 1988, S. 162 - 175. Was sich auf
weniger philosophischem Niveau abspielte, war, daß die Ökonomen ihre Variablen
derart definierten und ihre Fragen derart formulierten, daß sich mathematisches Kal-
kül und lineare Algebra direkt anwenden ließen. Die auf diesen Seiten diskutierten
sechs oder sieben Räume sind zu ,fusselig' und unscharf (fuzzy), als daß sie mit der-
art anspruchsvollen mathematischen Werkzeugen behandelt werden könnten.
188 Siehe R. H. Coase: "The Problem of Social Cost", in: Journal of Law and Eco-
nomics, 1960, Nr.3, S. 1 - 44.
189 Hier liegt ein implizites Vier-Variablen-Modell vor, mit zunehmender Bearbeitung
der Faktoren, Organisationen, Produkte und Märkte, wobei unterstellt wird, daß kei-
ne Variable die treibende, die unabhängige Variable ist. So werden anspruchsvollere
Ingenieure das Recht verlangen, anspruchsvollere Produkte zu erforschen, zu ent-
werfen und zu entwickeln. Der Markt ermöglicht anspruchsvolleres Marketing und
verlangt dafür bessere Verkäufer etc. Kausalpfeile weisen in alle sechs möglichen
Richtungen - ein Netz von Variablen, das sich entweder aufwärts in Richtung grö-
ßerer Differenziertheit oder abwärts in Richtung Vereinfachung schraubt. Ein Bei-
spiel: Warum wurde mit einem Mal die Produktion des VW-Käfers eingestellt? Weil
die Ingenieure nach neuen, herausfordernden Aufgaben verlangten (Privatmitteilung
eines Betroffenen).
190 Einer gegebenen Quantität eines Faktors bzw. einiger Faktoren entspricht eine ge-
wisse Quantität anderer Faktoren, derer es bedarf, um ein Produktionsgleichgewicht
zu erhalten. Theoretisch wäre ein Ausbalancieren nach unten denkbar, unter Preis-
gabe eines überschüssigen Faktors. Ist dieser Faktor Arbeit, dann spricht man von
"überflüssigen Arbeitskräften", und das Ergebnis ist Arbeitslosigkeit. Natur, Kapital,
Technologie und Management werden nicht zerstört; interessanter- und kaum zufäl-
ligerweise ist Arbeit derjenige Faktor, der Verwendung findet, um einen Kontoaus-
gleich nach unten zu bewerkstelligen, wenn Ungleichgewicht besteht. Aber die gene-
Sechs ökonomische Schulen 257
Und schließlich "Natur", unter Einschluß der Menschen, wenn diese lang-
weiliger, entwürdigender, schmutziger oder gefährlicher Arbeit ausgesetzt
werden: die große Verliererin, ausgelaugt und verschmutzt in einem wirt-
schaftlichen Prozess, der zum Zweck an sich geworden ist.
Über die Blaue Schule und das Blaue System sind ganze Bibliotheken ver-
faßt worden. Die Fähigkeit zur umfassenden Vermarktung von Produkten in
unglaublichem Umfang und von ebenso unglaublicher Vielfalt liegt auf der
Hand und stellt eine bedeutende Leistung dar. Es gibt jedoch ebenso wohlbe-
kannte Probleme, worauf die einfache Logik der Tabelle 3.3 verweist.
Das System funktioniert, solange es funktioniert, was heißen soll, solange
die Produkte, die dem Markt angeboten werden, genügend Nachfrage erzeu-
gen, um für die Faktoren zu bezahlen und für das Wachstum oder zumindest
für den Bestand des Zyklus sorgen. Sei es aufgrund zu hoher Gestehungsko-
sten oder wegen zu hoher Preise der Produkte - es gibt für das Defizit, das
ein Individuum, ein Unternehmen oder ein Land anhäufen kann, eine Grenze,
es sei denn, ihnen stehen hinreichende Hilfsmittel von außen zur Verfügung,
um eine Krise zu meistern. Im Blauen System beruht dieser Typus des Bei-
stands auf der Kreditwürdigkeit in der Finanzwirtschaft; im Roten System
kann die Realwirtschaft auf den gesamten Staat zurückgreifen, und im Gel-
ben System, in Japan, können Individuen oder Betriebe ihre Ressourcen aus
miteinander verwobenen Netzen von Staat und Kapital beziehen. Ähnlich le-
bensverlängernde Institutionen hat die Welt für Länder, die Defizite an-
häufen.
Überproduktion ist ein besonderer und einschneidender Fall, der alle oder
viele Unternehmen betrifft, die in einem bestimmten Wirtschaftszeig produ-
zieren oder, noch schlimmer, alle oder viele Firmen eines Landes, ungeachtet
der Branche. Es gibt die Fähigkeit zur Überschußproduktion bzw. Unterkon-
sumtion, bezogen auf die effektive Nachfrage unter Einschluß der Lagerhal-
tung. Überschußprodukte werden dann durch Zerstörung unmittelbar zur Na-
tur zurückgeführt an statt über den Endverbrauch eines Konsumenten. Die
Überschußproduktionskapazität muß beseitigt werden. Nicht nur das Unter-
nehmen, sondern die Branche ist im Wettbewerb unterlegen; nicht nur die
Branche, sondern das ganze Land. Was folgt, ist die massive Schrumpfung,
wenn nicht der Verfall des wirtschaftlichen Systems.
relle Tendenz zielt auf Gleichgewichte auf immer höheren Niveaus, gilt doch Expan-
sion als Zeichen des Erfolgs.
258 Entwicklungstheorie
Die Krise des Blauen Systems ist der Ausgangspunkt für die Rote Schule. '"
Während das Blaue System auf dem Smithismus beruht, ist das Rote System
nicht im Marxismus begründet, der im wesentlichen eine brillante Analyse
und Kritik der Blauen Schule darstellt. Die Anziehungskraft des Smithismus
liegt in seinem konstruktiven Genie, das dem Marxismus abgeht. Die Rote
Schule entwickelte sich durch Improvisation; durch den Versuch, Blaue Un-
terstellungen in wesentlichen Punkten herauszufordern.
Das Rote System kann als schwache Negation des Blauen definiert wer-
den. Beide beruhen auf Alpha-Strukturen,'92 gewaltigen aufgipfelnden Hier-
archien, beherrscht von großen, oft transnationalen Korporationen, was Blau
angeht, und, was Rot betrifft, von gewaltigen, manchmal internationalen Bü-
rokratien. In beiden Systemen treffen einige wenige Menschen Entscheidun-
gen, die sehr viele berühren. Doch in Blau gibt es eine Rückkopplung: Die
Menschen haben Wahlmöglichkeiten auf dem Markt, und die Wahlen ent-
hüllen Präferenzen. Um in Blau überleben zu können, müssen die Präferen-
zen der Bevölkerung entweder manipuliert oder befolgt, jedenfalls aber in
Betracht gezogen werden. Im bestbekannten Roten System, dem geschei-
terten sozialistischen System der Ex-Sowjetunion und in Osteuropa, war die
staatliche Macht so absolut, daß für die Führung keine Notwendigkeit be-
stand, die Präferenzen der Bevölkerung in die Rechnung miteinzubeziehen.
Hier war es möglich, Angebote auf der Grundlage von "friß oder stirb" zu
machen. Andererseits sollte unsere Auffassung von Rot nicht an die Ge-
191 In letzter Zeit erwies sich die Rote Schule als viel krisenanfälliger, und es gab eine
Hinwendung zur Blauen Schule. Aber die Blaue Schule bildete sich nicht aus auf-
grund der Krise der Roten, sie war ja vor dieser da. In seinem Buch The Wasted Ge-
neration: Memoirs ofthe Romanian Journey from Capitalism to Socialism and Back
(Boulder, CO 1993) bringt es der rumänische Politologe Silviu Brucan auf den Be-
griff: "vom unterentwickelten Kapitalismus zum unterentwickelten Sozialismus und
wieder zurück". Der Begriff "Sozialismus" trifft das Wesen dieser Schule ebenso
schlecht wie "Kapitalismus" das der Blauen Schule. Der Begriff verweist auf Versu-
che, den Individualismus als Ethos in Kollektivismus zu verwandeln. Doch diese
Schulen sind hochkomplex und ziemlich kohärent, so daß wir für sie einfache Kenn-
zeichnungen in (politischen) Farb-Ausdrücken vorziehen.
192 Siehe Johan Galtung: "Sobre alfa y beta y sus muchas combinaciones", in: E. Masi-
ni, J. Galtung (Hgg.): Visiones de sociedades deseables, Mexico 1979, S. 19 - 95. In
beiden Fällen handelt es sich um Interaktionsstrukturen. Alpha ist die Pyramiden-
Struktur, eher vertikal und sehr ausgedehnt; Beta ist die Rad-Struktur, eher ho-
rizontal, kleiner und dicht angelegt, so daß jeder mit jedem interagiert und das oft in
verschiedenen Hinsichten. Im Falle des Roten Systems waren all diese Alpha-Hierar-
chien - die Ministerien und Kombinate - Teile einer Super-Alpha-Hierarchie, des
Gosplan als der staatlichen Planungsbehörde und damit letztlich der Partei. Formal
betrachtet, gibt es nichts Entsprechendes in der kapitalistischen Welt; der Kapitalis-
mus ist eher organisiert wie der Protestantismus (was man, im Sinne Webers, hätte
erwarten können), der Sozialismus im Sinne der Roten Schule eher wie die Ortho-
doxe Kirche, mit nur einem Gipfel (was man auch erwarten durfte).
260 Entwicklungstheorie
193 Sowohl das alte Ägypten wie das alte China hatten staatsgeführte Ökonomien, mit
gigantischen öffentlichen Bauten in deren Zentrum. Desweiteren gibt es Rote Kom-
ponenten in der Rosa sozialdemokratischen Schule. Betrachtet man gewisse ge-
genwärtige Trends in den ehemals sozialistischen Ländern, also nach der Übernahme
der Roten Ökonomie durch die Blaue, dann mag es dort zu einem Gegenschlag
kommen - mit der erneuten Möglichkeit von Staats-Ökonomien, diesmal aber fa-
schistischer Observanz.
Sechs ökonomische Schulen 261
lage für die Kündigung von Arbeitern, da Vollbeschäftigung ein noch höhe-
res ist,'95 in dem Sinne, daß jeder eine Arbeit hat, auch wenn deren Erledi-
gung ganz ohne Belang ist. Viele Arbeiter interpretieren das Rote System als
milde gegenüber den Arbeitern, da wenig Arbeit gefordert werde.
(5) Beschränkte Monetarisierung. Der Staat kontrolliert die Produktion im
Roten System. Produktionsfaktoren sind nicht käuflich. Weder können Ar-
beiter ihre Arbeitskraft einem von ihnen ausgesuchten Arbeitgeber verkau-
fen, noch steht der Boden zum Verkauf. Ein Manager hat ein festes Gehalt.
Produkte zur Befriedigung der Grundbedürfnisse sind billig, obwohl Mangel
für lange Einkaufsschlangen sorgen kann. Monetarisierung auf niedrigem Ni-
veau beschränkt die Finanzwirtschaft und macht sie zu einem verzerrten und
reduzierten monetären Bild der Realökonomie. 196
Alle fünf Positionen stellen Versuche dar, das Blaue System zu negieren.
Doch die schroffe Arbeitsteilung zwischen Befehlshabern und Befehlsemp-
fängern ist hier noch deutlicher und lädt zum Machtkampf ein. Das Blaue Sy-
stem ist imstande, Initiative und Kontrolle zu dezentralisieren. Kleine Unter-
nehmen können an vielen Orten entstehen, vielleicht werden sie ausgepresst,
vielleicht bleiben sie klein, doch es gibt die Möglichkeit, Erfahrungen zu ma-
chen. Originalität und Innovation werden in einem gewissen Ausmaß be-
lohnt. Im Roten System ist die Wirtschaft des ganzen Landes ein einziges
Unternehmen, das natürlich zu groß für die erforderliche Information ist, und
in dem alles viel zu sehr zusammenhängt, um echte Veränderungen zu er-
möglichen. Und die Herrschenden ganz oben sind kaum zu Risiken bereit.'97
194 Aber dies erwartete man nicht von allen. Im Sozialismus entstand eine Arbei-
teraristokratie, die (simulierte oder echte) Stachanow-Bewegung von Superarbeitern,
deren Stellung allerdings, anders als im Falle von Lenins gut bezahlter kapitalisti-
scher Arbeiteraristokratie, auf sehr harter Arbeit eher denn als überlegener Tech-
nologie beruhte.
195 Eine nützliche Frage an Blaue, Rote oder wie auch immer gefacbte Wirtschafts-
manager lautet: "Wie war das letzte Jahr?", um Auskünfte zu erhalten und um auch
etwas über ihre Kriterien zu erfahren. Eine typische und häufige Rote Feststellung:
"Das letzte Jahr war gut; wir waren imstande, die Anzahl der Beschäftigten zu ver-
doppeln". Blaue Manager berichten unweigerlich von Umsätzen, Übernahmen, Bi-
lanzen und Marktanteilen; und wenn von Arbeitern, dann mehr im Sinne von Ar-
beitsproduktivität. Das kann soweit gehen, daß man stolz ist, wenn man die Anzahl
der Arbeitenden verringern konnte ("wir haben es geschafft, die Anzahl unserer Be-
schäftigten zu halbieren").
196 Dies heißt nicht, daß eine aufgeblasene, überdimensionierte Finanzwirtschaft die
Realökonomie besser abbilden würde. Beide sollten einander widerspiegeln und syn-
chron sich weiten oder zusammenziehen.
197 Obwohl ein einzelner Herrschender hierzu bereit sein mag, da er niemandem als sei-
nem Gott verantwortlich ist und vermutlich annimmt, daß Gott auf seiner Seite steht.
Im Falle der kollektiven Führerschaft, die im großen und ganzen für die Roten Wirt-
schaftssysteme, die wir kennen, charakteristisch war, mögen die einzelnen nur ein-
262 Entwicklungstheorie
Den Roten Herrschern fällt das Monopol auf Herausforderung noch mehr
zu als denen im Blauen System. Und die Arbeiter können sich nicht der Ge-
werkschaften bedienen, um ihre Tauschbedingungen zu verbessern (zwi-
schen Arbeitsleistung und Arbeitsbedingungen, unter Einschluß der Löhne),
wenn die Gewerkschaften Teil eben jenes Staates sind, der die Arbeitsbedin-
gungen diktiert. Und jede neue ökonomische Aktivität irgend wo in einem
System dieser Art wird nicht ein neues Zentrum, sondern höchstens ein Sub-
Zentrum, das von oben seine Direktiven erhält.
Ohne Wettbewerb ist es schwierig, eine hinreichende Motivation zur Stei-
gerung von QfP oder KIN zu gewinnen. QfP kann wegen der subventionier-
ten Preise sehr hoch sein. Doch ohne oder nur mit geringen Wahlmöglich-
keiten für den Verbraucher und ohne Wettbewerb unter den Produzenten be-
steht das beste Mittel, auf neue Ideen zu kommen, darin, danach Ausschau zu
halten (oder auszuspionieren), was in anderen Wirtschaftssystemen geschieht
- in der Tat ein Eingeständnis, daß das System unfähig ist, eine eigene Dy-
namik zu entfalten.
Der Satz: "Es funktioniert, solange es funktioniert", hat für das Rote Sy-
stem keine Geltung. Dieses ist von Anfang an zum Untergang bestimmt, aus
Gründen, die im nächsten Kapitel noch näher erläutert werden. Wie in den
unteren Zeilen der Tabelle 3.4 angedeutet, zerstört sich das System selbst, in-
dem es auf einem niedrigen Niveau der Verbraucherbefriedigung expandiert,
ohne Haltesignale, unter allgemeiner Erschöpfung und Verschrnutzung in
Raum und Zeit. 19'
ander verantwortlich sein, doch bedeutet dies gerade, Risiken ausgesetzt zu sein. Ein
falscher Schritt und du bist draußen - gerade weil die Führung kollektiv ist und sich
lieber eines einzelnen entledigt, bevor die Bevölkerung die Führung als ganze in-
frage stellt oder gar (wie letztlich geschehen) das ganze System. Im Blauen System,
das stärker mit individualisierten und dezentralen Führungsstrukturen arbeitet,
könnte der Fehler mit größerer Berechtigung dem falschen Vorstand oder unglück-
lichen Umständen angelastet werden.
198 So sank einigen (mir in Moskau mitgeteilten) Schätzungen zufolge die Lebens-
erwartung im Gebiet von Moskau während der 70er und 80er Jahre um zehn Jahre
infolge der Verschlechterung der Umweltbedingungen.
Sechs ökonomische Schulen 263
Spezifizierung keine Monetari- keine vorrangige Garantie der auf die Bedürf-
sierung der Beachtung der Grundbe- nisse von
Faktoren; diese Produktivität dürfnisse; der Mensch und
sind nicht zum Markt für den Natur gerichtete
Verkauf be- Rest Rationalität
stimmt
Stellt die Rote Schule eine schwache Negation der Blauen dar, dann ist die
Grüne eine starke Negation. Da sie auf örtlichen wirtschaftlichen Zyklen und
der zivilen GesellschaftI" beruht, gibt es weder nationale Märkte noch natio-
nale Pläne und auch keine transnationalen oder internationalen Versionen der
beiden. Die grundlegende Idee besteht darin, lokal auf sich selbst zu bauen
oder gar sich selbst zu genügen: lokaler Verbrauch dessen, was produziert
wird, lokale Produktion dessen, was konsumiert wird.
Das Grüne System beruht eindeutig auf Beta-Strukturen: kleine, eher hori-
zontale Strukturen, die die Menschen zusammenhalten und sie nicht segmen-
tieren zwecks Erledigung beschränkter Aufgaben oder zerlegen in unter-
schiedliche Rollen. Stattdessen gibt es die Integration, die Rotation und die
Rekonstruktion von Beschäftigungsverhältnissen. 200
Konkret bedeutet dies kleine ökonomische Organisationen, sagen wir:
nicht mehr als dreißig Personen umfassend, so daß jeder für jeden wichtig ist
und keine Hierarchien entstehen. Dies eröffnet auch die Möglichkeit sich er-
weiternder Haushalte, von der heutigen Vier-Personen-Kernfamilie zu der
umfassenderen Familie oder "Kommune", mit der viele Menschen im We-
sten in jüngerer Zeit Erfahrungen gesammelt haben. In letzterer könnten a-,
hetero-, homo- und bisexuelle Beziehungen sehr wohl nebeneinander beste-
hen.
Kommune-ismus sollte nicht mit Kommunismus verwechselt werden. Das
grundlegende Ziel der Grünen Wirtschaft besteht nicht in materiellem wirt-
schaftlichen Wachstum, ob nun durch Blaue oder Rote Methoden erzielt,
sondern: in der Entwicklung der Natur (darin, die Natur zur Geltung zu brin-
gen, nicht nur für ihr Überleben zu sorgen); in der Entwicklung der Men-
schen, und dies bedeutet nicht nur körperliche Gesundheit, sondern auch
geistige und seelische Entwicklung; in der Entwicklung der Gesellschaft, die
auf Gesellschaften abzielt, die mit der Entwicklung von Natur und Mensch
vereinbar sind; und in der Entwicklung der Welt, was eine Weltordnung
199 Die moderne Gesellschaft wird hier als eine Gesellschaft betrachtet, die aus drei Be-
standteilen besteht: dem Kapital, dem Staat und dann den Menschen mit all ihren
Vereinigungen und Organisationen, die die zivile Gesellschaft bilden. In den Sozial-
wissenschaften werden diese Bestandteile jeweils als Fragmente durch die Wirt-
schaftswissenschaften, die Politische Wissenschaft und die Soziologie!Anthro-
pologie untersucht, so daß eine holistische Betrachtung der Gesellschaft verstellt ist.
200 Ein Mensch kann in mehreren Berufen tätig sein und diese mehr oder weniger er-
folgreich integrieren, indem er sie verschmilzt, sogar mit seiner!ihrer eigenen Per-
sönlichkeit. Es gibt auch die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Jobs zu rotieren
und im Laufe der Zeit die Unterschiede zwischen Herausforderung und Routine, ho-
hem und niedrigem Status, hohem und niedrigem Lohn usw. auszugleichen. Und
Jobs können neu konstruiert werden, etwa als Kombination von Verkäufer- und
Buchhaltungsfunktionen oder (Universitätsprofessoren wohlbekannt) von Lehre,
Forschung und Verwaltung (ein Professor der Medizin oder des Ingenieurwesens
würde zu dieser Liste die Praxis hinzufügen).
Sechs ökonomische Schulen 265
201 Dieser vielseitige Ansatz spiegelt sich in dem Slogan der verschiedenen Grünen Par-
teien wider: ökologisches Gleichgewicht, Menschenrechte, Emanzipation und Parti-
zipation, Frieden und Gewaltlosigkeit.
202 Siehe Romesh Diwan und Mark Lutz (Hgg.): Essays in Gandhian Economics, Neu
Delhi 1985, und Arnritananda Das: Foundations 0/ Gandhian Economics, Bombay
1979.
203 Genauer gesagt, arbeitet das Blaue System weiter, solange die Zyklen selbst-repro-
duktiv sind, sich selbst aufrechterhalten; tun sie dies nicht mehr, dann ist dies der
Moment einer Krise, und es werden Anstrengungen unternommen, neue Wege auf-
zutun, um sie auf höheren Ebenen der Expansion selbst-reproduktiv zu machen (z. B.
indem man die Faktorenprofile nach oben hin ausbalanciert). Das Ergebnis: kein
Halt. Nicht einmal der Bankrott von Firmen oder Ländern fungiert als ein solcher;
eher verlängert man deren Leben, nicht selten künstlich. Eine Vorstellung des Roten
Systems wie die vom "Einfangen und Übernehmen" bildet den Übergang von Blau
zu Rot. Leichter Zugang zu Krediten desselben Arbeitgebers, des Staates, bildet ei-
nen weiteren Mechanismus.
266 Entwicklungstheorie
204 Zur Zeit (1. Januar 1995) könnte man sagen, daß die meisten der fünfzehn Länder
der Europäischen Union, ja, daß der ganze Europäische Wirtschafts bereich vom
Nordkap bis Gibraltar, sieht man vom (post-)thatcheristischen Vereinigten König-
reich einmal ab, unter diese Kategorie fallen. Aber die Nordischen Länder erfüllen
eine Reihe von Bedingungen, die ohne Zweifel von Bedeutung sind: Sie sind klein,
homogen hinsichtlich Rasse und Nation und relativ egalitär (teilweise als Wirkung,
teilweise als Ursache des Wohlfahrtsstaates). Solidarität wird nicht ausgehöhlt durch
ein zu steiles gesellschaftliches Gefälle, wie es in den USA der Fall zu sein scheint.
Sechs ökonomische Schulen 267
tät nicht sichtbar. Dieses Grüne Element hat zum Teil wahrscheinlich deshalb
überlebt, weil diese Länder von den wichtigeren Schauplätzen des wirt-
schaftlichen, politischen, militärischen und kulturellen HandeIns weit ent-
fernt sind, und zum Teil deshalb, weil es sich bei ihnen im Vergleich zu den
Blauen und Roten Giganten, wie den Vereinigten Staaten und der Ex-So-
wjetunion, um kleine Gesellschaften handelt. Die Rosa Wirtschaft liegt also
am Schnittpunkt der drei anderen. Sie ist eine Mischform, und die Frage lau-
tet, ob sie auch ein Durcheinander, ob sie zu widersprüchlich ist? Anderer-
seits gilt auch: Was in der Theorie nicht funktioniert, kann doch in der Praxis
funktionieren.
Die Formel Rosa = Hellblau + Hellrot + Hellgrün ist vielleicht nützlich. 2• 5
Eine grundlegende Idee besteht darin, die Extreme all derjenigen Akteure,
die nach Kapital und Gegenständen streben, wie der Staaten, die Macht aus-
üben, um Menschen zu disziplinieren, ebenso zu vermeiden wie den Rück-
zug in kleine, isolierte und statische Gemeinschaften. Alle drei Schulen kön-
nen von Rosa genutzt werden, um sich wechselseitig zu verändern, indem
ihre Unterschiedlichkeit ausgespielt und versucht wird, Symbiosen zustande
zu bringen.
205 Wenn man sie nicht auf echte Farben bezieht, denn dann kommt eher ein ver-
waschenes Braun heraus. Dann aber bricht die Metaphorik zusammen - zumal, wenn
man bedenkt, daß wenige Systeme so konsequent gegen den Faschismus angegangen
sind wie die sozialdemokratischen.
206 Vielleicht sind die Japaner bessere Praktiker als Theoretiker. Zwei wichtige Ökono-
men sind Kaname Akamatsu und Saburo Okita. Siehe z. B. Saburo Okita: ,,Japan,
China and the United States: Economic Relations and Prospects", in: Foreign
Affairs, 5711979, H. 5, S. 1090 - 1110, mit Bezugnahme auf AkaTrUltsu (S. 1102).
207 Natürlich liegt Singapur nicht in Ostasien, aber der chinesische Hauptbevölke-
rungsanteil stammt aus Ostasien. Auch Nordkorea und Vietnam hätten erwähnt wer-
den können. Möglicherweise könnten diese vier zusammen: das (mit den Südkurilen)
vereinte Japan, das vereinigte Korea, das (mit Hongkong und auf die eine oder ande-
re Weise mit Taiwan) vereinte China und (das bereits vereinte) Vietnam, alles Maha-
yana-buddhistische und konfuzianische Länder, eines Tages der die Welt eindeutig
dominierende gemeinsame Markt werden.
268 Entwicklungstheo rie
Die Gelbe Schule unterscheidet sich von der Rosa Schule insofern, als ihr
das Grüne Element der Betonung des Lokalen und des bescheidenen Maßes
als modifizierende Faktoren fehlen. Zwei Alpha-Strukturen werden mitein-
ander verbunden, Markt und Staat, Kapital und Macht."" Offensichtlich ist
die Summe dieser beiden, in Harmonie miteinander, nicht nur unbehindert
durch Grün, sondern auch unbehindert voneinander, außerordentlich stark.
Dies ist, in einer einfachen Formel ausgedrückt, das Geheimnis des phäno-
menalen Wachstums von Japan gestern, von China heute und morgen, der
anderen schon immer, mehr oder weniger.""
Wie können Blau und Rot zusammenarbeiten, wenn sie Negationen von-
einander darstellen? Nur dann, wenn die Kultur Widersprüche zuläßt,2'o nicht
nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis, wenn sie harte Arbeie" und
Hingabe 2'2 fordert, und wenn die Struktur Eliten hervorbringt, die zur Zu-
sammenarbeit fähig sind 213 . Der Staat kann dann die für die Funktion des
Marktes optimalen Bedingungen planen, mit Anreizen hier und Entmutigun-
gen dort, indem er sich des Kapitals als Macht bedient - nicht der rohen Ge-
walt von Rot, so wie dies in der chinesischen Version von Gelb immer noch
praktiziert wird. Ein Plan für die Bedürfnisse und ein Markt für die Habgier,
das schließt einander nicht aus.
Doch ebensowenig tun dies die eher negativen Aspekte, die unter "Vertika-
lität", "Expansion" und "Natur" aufgeführt wurden, und eine Theorie könnte
lauten, daß, wenn sich die positiven Kräfte addieren, die negativen dies auch
tun werden. Dies wird jedoch im nächsten Kapitel weiter ausgeführt.
208 Der Kommentar eines Mitglieds des Gosplan (des Staatlichen Plankomitees der Ex-
Sowjetunion) im Januar 1968 über seine Untersuchung der japanischen Ökonomie:
"Und diese verdammten japanischen Kapitalisten machen den Sozialismus besser als
bei uns!" (dt. i. Orig.). Ein US-Nationalökonom könnte antworten: "Und die ver-
dammten japanischen Sozialisten sind bessere Kapitalisten als wir!"
209 Als einen Versuch, den japanischen Ansatz zu analysieren, siehe Johan Gattung:
"Japanese Industrialization Model", in: Sung-Jo Park (Hg.): The 21st Century - The
Asian Century?, Berlin 1985, S. 25 - 41.
210 Dies findet sich in den taoistischen und buddhistischen Elementen verschiedener
Kulturen, die sich von der aristotelischen und cartesischen Logik sehr unterscheiden.
211 Dies wird durch den konfuzianischen Aspekt der ostasiatischen Kultur abgedeckt,
vieUeicht mit den beiden Koreas als den am meisten konfuzianischen. Südkorea ist
wahrscheinlich der einzige Platz in der Welt, wo man machmal hören kann, die Japa-
ner seien zwar faul, aber vielversprechend, wenn sie mit der Arbeit denn erst begon-
nen hätten.
212 AUe vier Kulturen sind konfuzianisch und Mahayana-buddhistisch und enthalten ein
weiteres ,Hingabe-Element': den Shintoismus in Japan, das Christentum und den
Marxismus in den beiden Koreas, die aUgemeine VorsteUung von China als dem
auserwählten Reich der Mitte und in Vietnam den glühenden Nationalismus.
213 In Japan als Absolventen einiger führender Universitäten, ebenso in Südkorea; in
China wie in Nordkorea als Parteikader, und in Vietnam wahrscheinlich als eine Mi-
schung von beidem.
Sechs ökonomische Schulen 269
ROSA
(Kanada, EU, nicht UK)
GRÜN BLAU
(viele Länder der Dritten Welt) (USA)
Lokale, transnationale,
nationale Märkte
214 Der Begriff ist in der Medizin sehr geläufig. Es ist heute kaum möglich, irgendein
Medikament zu erstehen, ohne daß dieses von einer langen Abhandlung über Neben-
wirkungen begleitet wäre, zumindest, wenn das Medikament in der Ersten Welt ver-
marktet wird. Der Grund für diese Empfindlichkeit kann wahrscheinlich in der These
Nr. 7, Fehlfunktion I, gefunden werden: Treffen negative Externalitäten den inneren
Sektor (die Erste Welt), dann werden sie ernst genommen.
215 Ich bin dem verstorbenen Kenneth Boulding für eine Nebenbemerkung dankbar (die
er im September 1971 bei der Internationalen Friedensakademie in Wien machte, im
Rahmen einer Diskussion über Imperialismus): Wir müssen lernen, die Externalitä-
ten ernster zu nehmen! Diese Anmerkung wurde am Tag des Begräbnisses dieses
großen Mannes niedergeschrieben, am 28. März 1993. Ob er dieser oder einer ande-
ren Art und Weise, der Aufgabe nachzukommen, seine Zustimmung gegeben hätte,
ist eine andere Frage; Kenneth hat den Begriff der "Ausbeutung" nie geliebt, dem in
der vorliegenden Konstruktion von Externalitäten eine zentrale Stellung zukommt.
Vgl. hierzu Johan Galtung: "Only One Quarrel with Kenneth Boulding", Review Es-
say, in: Journal of Peace Research, 24/1987, H. 2, S. 199-203.
216 Ein anderer Begriff, der manchmal benutzt wird, "spin-offs" ("Nebenprodukte",
"Abfallprodukte"), stellt nicht klar genug heraus, auf welche Art und Weise diese
Aspekte ökonomischen Handeins bisher vernaChlässigt wurden. Für eine frühe Ana-
lyse solcher "spin-offs" durch den Verfasser siehe: "A Structural Theory of Imperia-
lism", in: Essays in Peace Research, Bd. IV, S. 437-481, insbesondere S. 447ff. Ein
weiterer Begriff, der in jenem Aufsatz Verwendung findet, ist "spill-over" ("Über-
fließeffekt"), von einer Nebenwirkung zur nächsten, eine Art Externalität zweiter
Ordnung (S. 462ff.).
272 Entwicklungstheorie
me" des vorhergehenden Kapitels; von diesen erzeugt jede im Prinzip be-
stimmte Typen ökonomischen Handeins eher als andere. Doch dies bedeutet,
daß die Externalitäten von System zu System jeweils andere sein werden, mit
einigen Überschneidungen, und dies wird einen der Analyseschwerpunkte
gegen Ende dieses Kapitels ausmachen.
Es ist der Mühe wert, den Hauptgrund noch einmal herauszuarbeiten, war-
um Externalitäten so viel Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Der wis-
senschaftliche Diskurs217 der Mainstream-Ökonomie macht vieles von dem,
was im Umfeld ökonomischen Handeins geschieht, undurchsichtig, indem er
zahlreiche Aspekte von der ernsthaften Betrachtung ausschließt. Durch eine
genaue Betrachtung der Externalitäten werden diese Aspekte ebenso durch-
sichtig wie jene, die durch den gängigen ökonomischen Diskurs klargestellt
werden.
Aus dem folgenden sehr einfachen Grunde ist dies zwar wichtig in Ver-
bindung mit allem ökonomischem Handeln, besonders aber im Kontext von
"Entwicklung". So viel Entwicklungstheorie und -praxis der letzten Jahr-
zehnte gründete auf einer allzu vereinfachenden Annahme: Gibt es einen an-
gemessenen Investitions-Input, dann folgt ökonomisches Wachstum; gibt es
ökonomisches Wachstum, dann wird die betreffende Gesellschaft den
"modernen", "westlichen" Gesellschaften ähnlicher werden. Doch normaler-
weise funktioniert es nicht auf diese Art. Die zu entwickelnde Gesellschaft
wird leicht zu einem Faß ohne Boden, in dem Investitionen beliebiger Höhe
verschwinden, ohne daß es zu nennenswertem ökonomischen Wachstum
kommen würde. 218 Kommt es aber zu ökonomischem Wachstum, dann haben
wir im Ergebnis die Karikatur einer Gesellschaft, die weder so, wie sie war,
"traditional" oder anders, noch "modern", "westlich" ist. 219
Der hier vertretenen Auffassung zufolge ist dies nicht deshalb so, weil das
Investitionsniveau falsch gewesen wäre oder irgendeine andere Korrektur des
gängigen ökonomischen Diskurses hätte vorgenommen werden müssen, auch
nicht darum, weil mehr Zeit nötig gewesen wäre, damit sich die positiven
Wirkungen hätten zeigen können. Dies stellt, nebenbei bemerkt, auch die
klassische Auffassung der vorwaltenden marxistischen Analyse dar: Die re-
217 Siehe für eine Untersuchung des Begriffs des "Diskurses" und insbesondere als
eng/weit, flach/tief Johan Galtung und Richard Vincent: Glasnost U.SA., Cresskill,
NJ 1996, Kapitel 4.
218 Eine andere nützliche Metapher, die man oft in Verbindung mit Investitionen im
kommunistischen Osteuropa hört: "Samen auf Asphalt aussäen." So unterstellt die
Vorstellung, daß der der Sowjetunion von den USA aufgezwungene Rüstungswett-
lauf deren notwendige Investitionen in einen umfänglicheren und besseren Konsum-
gütersektor (das ,Kanonen-oder-Butter'-Argument) verhinderte, daß (fehlendes) Ka-
pital den ,Flaschenhals' -Faktor darstellte.
219 Die Verwendung dieser stark abgegriffenen Begriffe soll nicht bedeuten, daß "mo-
dern" in irgendeiner Hinsicht besser als "traditional" sei oder umgekehrt.
Die Externalitäten 273
volutionären Inputs waren nicht die richtigen oder geschahen nicht im richti-
gen Augenblick, zudem sei mehr Zeit nötig, bevor sich die positiven Wir-
kungen des Sozialismus zeigen könnten."o
Der hier vertretenen Auffassung zufolge werden sich diese positiven Wir-
kungen nie zeigen, weder im Blauen noch im Roten Fall, und zwar aus dem
einfachen Grunde, weil die Theorie selbst falsch ist; und die Theorie ist
falsch, weil sie allzusehr vereinfacht, auf einem zu engen Diskurs gegründet
ist. Dies heißt keinesfalls, daß die Variablen dieser beiden ökonomischen
Diskurse irrelevant wären. Sie sind notwendig, aber nicht hinreichend, und
der Zweck einer Untersuchung der Externalitäten besteht darin, zu einem um-
fassenderen, adäquateren Diskurs beizutragen.'"
Die erste Aufgabe besteht offensichtlich in der Definition von "Externa-
litäten" und des (hier verwendeten) Gegenbegriffs der "Internalitäten". Man
nehme als Ausgangspunkt die folgende Definition: 222
220 Das berühmte "Prinzip der unreifen Zeit" - die Zeit war noch nicht reif - kann be-
nutzt werden, um irgendetwas, alles und daher nichts zu erklären und zu ent-
schuldigen. Doch zuweilen mag hieran auch etwas Wahres sein. Schließlich funk-
tioniert die menschliche Gesellschaft nicht wie eine Maschine, wo man einen Knopf
drückt und sofort eine Wirkung erzielt. Sie ähnelt eher einem Organismus. Es gibt
einen Input, dieser Input wird absorbiert, verarbeitet und wiederverarbeitet, und dann
gibt es eine Wirkung, die sich vielleicht von der beabsichtigten sehr unterscheidet.
Hegel hat dies den Übergang von der Quantität zur Qualität genannt, hier verstanden
als der quantitative Input und dann der qualitative Sprung, so etwas wie der berühm-
te "Quantensprung" .
221 Ein Diskurs ist in den Grundzügen adäquat, wenn wir im Diskurs all das richtig wie-
dergeben können, was wir über den Gegenstand mitteilen wollen; nichts ist verzerrt
oder unterdrückt oder schlicht abwesend (vgl. das in Anm. 217 genannte Kapitel von
Galtung und Vincent).
222 Hier sind zwei Beispiele für Definitionen aus der wissenschaftlichen Literatur:
"Wirtschaftswissenschaftler definieren als eine Externalität jeden Wert oder jede
Überlegung, die nicht in ein Kosten-Nutzen-Kalkül eingehen" (Denis Goulet:
"Biological Diversity and Ethical Development", in: [CIS FORUM 22/1992, H. 1
(Januar), S. 29); und: "Der Kern des Verschmutzungsproblems besteht in dem, was
Wirtschaftswissenschaftler als Externalitäten bezeichnen. Es handelt sich dabei um
spill-over-Kosten oder -Nutzen: Handlungsfolgen, die vom Akteur nicht mit in Be-
tracht gezogen werden und daher seine Entscheidungen nicht beeinflussen" (Paul
Heyne: The Economic Way ofThinking, Chicago, IL 1992, S. 253).
Unsere Definition steht diesen beiden nahe, abgesehen von der Verwendung der Be-
griffe "Kosten" und "Nutzen", die Monetarisierung konnotieren, wovon wir uns
fernhalten wollen, indem wir die weiteren Begriffe "negativer Wert" und "positiver
Wert" gebrauchen. Goulets Betonung des "Kalküls" setzt die Vergleichbarkeit der
Werte (Nutzen) voraus, und die Monetarisierung gibt hierauf eine - und zwar allge-
genwärtige - Antwort. Heynes "spill-over" ist unsere "Nebenwirkung". Beide Auto-
ren versäumen es jedoch, den Selbstimmunisierungscharakter des Problems klarzu-
stellen: Ökonomen ziehen Externalitäten nicht mit in Betracht, sie bestimmen aber
das wirtschaftliche Handeln durch die Definitionen ihres Diskurses, so daß naturge-
274 Entwicklungstheorie
Externalitäten sind bipolare Variablen, die positive und negative Inputs und
Outputs für Parteien in einem Wirtschaftszyklus widerspiegeln, die
(a) von der gängigen wirtschaftswissenschaftlichen Theorie nicht bedacht
werden, und/oder die
(b) in der üblichen ökonomischen Praxis nicht berücksichtigt werden, und/
oder die
(c) nicht monetarisiert sind (oder deren Monetarisierung unberechtigt ist).
Man kann die drei Punkte alternativ wie komplementär verstehen, jedenfalls
identifizieren sie dieselben Variablen. Internalitäten sind dann Variablen, die
in der ökonomischen Theorie explizit betrachtet und in der Praxis berück-
sichtigt werden; Z.B. durch die Beschreibung von Preisen und Quantitäten
von Faktoren und Produkten und, weitergehend, von Faktoren und Pro-
duktmärkten und von Konstrukten, die auf solchen Variablen beruhen.
Die Definition ist alles andere als unproblematisch. Wie etwa entscheidet
man darüber, was die gängige ökonomische Theorie ist? Die Ökonomie der
Nobelpreisträger? Standard-Textbücher?'23 Wirtschaftswissenschaften, wie
sie von führenden wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten gelehrt werden?
Zudem verändert sich die Mainstream-Theorie, wie immer man sie definiert,
in der nie endenden Dialektik mit den Gegenströmungen. Dasselbe gilt für
die ökonomische Praxis. Meinen wir hier die Praxis der großen Akteure, die
sich normalerweise von der des "Tante-Emma"-Ladens an der Ecke erheb-
lich unterscheidet?
Die Frage der Monetarisierung scheint weniger problematisch. Doch da
für die Mainstream-Theorie ein Hauptweg der Internalisierung der Externa-
litäten, d.h. der Einführung derselben in Theorie und Praxis, in deren Mone-
tarisierung besteht, geraten wir hier in einen fatalen Zirkel. Besteht das Kri-
terium in der Nicht-Monetarisierung, dann schrumpft die Menge der Exter-
nalitäten, wenn die Ökonomen die "nicht berücksichtigten Kosten und Nut-
mäß auch andere den Externalitäten nicht gestatten, "Eingang in einen Kalkül zu fin-
den" oder "Entscheidungen zu beeinf!ußen". Auch konzentrieren sie sich allein auf
Wirkungen ("Outputs") und nicht auf Ursachen ("Inputs"). Eine Externalität kann
aber bei des sein.
223 In diesem Fall sammelt sich vielleicht ein gewisser Konsens um das Schwer-
kraftzentrum, welches das allgegenwärtige Lehrbuch Paul Samuelsons (Economics,
New York, 13. Auf!. 1989, zusammen mit W. D. Nordhaus) darstellt. Am Ende die-
ses Buches gibt es ein nützliches Glossar der Begriffe. Unter dem Stichwort Ausbeu-
tung (exploitation) findet sich nichts, nicht einmal ein Hinweis auf ,Bergbau' oder
,Meeresgrund'. Unter ,Billigkeit'I,Gerechtigkeit' (equity): Eigenkapital (equity capi-
tal). Unter ,Externalitäten': die gewöhnliche Definition in Begriffen von unbezahlten
Kosten und Nutzen (was auf Monetarisierung verweist) sowie die Bemerkung, daß
"private Kosten und Nutzen den sozialen Kosten und Nutzen nicht entsprechen"
(was wiederum auf Quantifizierung als Vergleichsgrundlage verweist - wobei aber
nur zwei der sechs Räume Erwähnung finden).
Die Externalitäten 275
(1) Alle sechs Räume - Natur, Mensch, Gesellschaft, Welt, Zeit, Kultur-
müssen repräsentiert sein; kein Reduktionismus auf weniger als sechs kann
funktionieren. Die Bedeutung dieses Gedankens läßt sich sehr deutlich an der
gegenwärtigen Diskussion über die Wirtschaft erkennen. Die kritische De-
batte wechselt von einem Raum zum nächsten, von der Sorge um die Umwelt
(Natur) zur menschlichen Bereicherung (Mensch), zu mehr sozialer Gerech-
tigkeit, Gleichheit und Billigkeit (Gesellschaft), zur Kategorie der Dritten
Welt (Welt), zur Nachhaltigkeit (Zeit), zur Qualität des japanischen Mana-
gements (Kultur, vielleicht aber auch Struktur, d.h. Gesellschaft). Ihnen allen
kommt Bedeutung zu; einen von ihnen einzuführen, stellt gegenüber einem
engen, ökonomistischen Diskurs bereits einen Gewinn dar. Doch ebenso läuft
man, wenn man so verfährt, Gefahr, in die Falle des Theoretisierens mit nur
einem einzigen Faktor zu laufen. Es ist interessant, daß viele, die sich bis
noch vor wenigen Jahren marxistisch orientierten, sich heute gleichermaßen
einseitig ökologisch orientieren, eine Verwandlung, die man nicht zu Unrecht
224 Wie im vorherigen Kapitel ausgeführt, könnten dies Positionen sein, die die Rote
oder die Grüne Schule einnehmen.
225 So könnten vieJleicht Versicherungsgesellschaften die "verbleibende Erwerbs-
fähigkeit" als ein Preisetikett des menschlichen Lebens benutzen, in einer Weise al-
so, die höchst schicht-, geschlechts-, rassen- und altersspezifisch wäre. Ein Grund-
problem besteht darin, ob ein solches Vorgehen Implikationen etwa hinsichtlich der
Allokation von Flugzeugen für unterschiedliche Routen und Altersstufen hat, wenn
es einmal um vorwiegend junge, männliche, weiße Geschäftsleute, ein andermal um
alte, weibliche und farbige Beschäftigte geht.
276 Entwicklungstheorie
als politisches Recycling bezeichnet hat."· Dagegen ist die hier bezogene Po-
sition holistisch.
(2) Nur eine geringe Anzahl Extemalitäten, vielleicht zwei bis fünf pro Raum,
sollte identifiziert werden. Jeder Raum erinnert uns an eine oder mehrere
Disziplinen; sind wir mit diesen Disziplinen vertraut, dann kann das eine be-
liebige Anzahl von Aspekten nach sich ziehen. Die Absicht besteht nicht
darin, einen vollständigen Katalog zu verfassen, sondern Schlüsselvariablen
zu identifizieren, die außerhalb des gängigen ökonomischen Diskurses lie-
gen. 227 Natürlich ist jede derartige Liste revisionsbedürftig, wobei Überein-
stimmung weder möglich noch wünschenswert ist. Die Pointe besteht in der
Explizitheit: Hier sind die Variablen, die wir als wichtig betrachten; wie weit
tragen sie, um zu verstehen, was abläuft?
(3) Extemalitäten müssen entscheidende Wertdimensionen des betreffenden
Raumes sein. In obiger Definition benutzten wir die Ausdrücke positiv/ne-
gativ, Inputs/Outputs, nicht beachtetlberücksichtigt. Anders gesagt, Exter-
nalitäten sind nicht neutral; sie stellen nicht einfach irgendeine Variable im
Diskurs einer Disziplin dar. Zudem müssen sie entscheidende Wertdimensio-
nen sein, doch nicht unbedingt der Formulierung des gängigen politischen
Diskurses entsprechen. 228
(4) Extemalitäten müssen positive wie negative Bereiche umfassen. Eine
Wertdimension sollte identifizieren, was gut ist/was als gut verfolgt werden
sollte und was schlecht ist/was verworfen werden sollte, vielleicht mit einer
dazwischenliegenden neutralen Zone. Die Externalität sollte dasselbe leisten.
(5) Es sollte unterschieden werden zwischen flachen Extemalitäten, die ma-
nifeste beobachtete Aspekte, und tiefen Extemalitäten, die verborgene, noch zu
erschließende Aspekte von Schlüsselwerten widerspiegeln. Flache Externalitä-
ten können für die Sammlung von Daten und vielleicht für die Bildung von In-
dikatoren verwendet werden, während sich tiefere Externalitäten für den Bau
von Theorien eignen. Ein gutes Beispiel bietet der Raum der Natur; die laufen-
226 Andererseits betonen z. B. Die Grünen in Deutschland eine Mehrzahl von Werten
wie etwa ökologisches Gleichgewicht, Frauenemanzipation, allgemeine Partizipati-
on, Menschenrechte, Gewaltlosigkeit, S~lidarität mit der Dritten Welt; diese Aufzäh-
lung umfaßt zumindest die Räume der Natur, der Gesellschaft, der Welt und der Zeit.
227 Mit anderen Worten, greift hier Ockhams Messer: nicht mehr Begriffe als nötig
(entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem).
228 Dieser Punkt ist problematisch. Eine Funktion der Externalitätenanalyse besteht in
der Änderung der ökonomischen Praxis; für diesen Zweck sind vielleicht solche For-
mulierungen vorzuziehen, die dem normalen politischen Diskurs nahestehen oder
sogar mit ihm identisch sind. Eine andere Funktion besteht in der Änderung der öko-
nomischen Theorie, und für diesen Zweck sind vielleicht abstraktere Variablen dien-
licher. Der hier eingeschlagene Weg besteht im Einschluß beider Variablentypen.
Die Externalitäten 277
de Debatte spielt sich hier hauptsächlich in Begriffen der Erschöpfung von Res-
sourcen und der Verschrnutzung ab - beides meßbar und brauchbar für die Bil-
dung von Indikatoren. Hingegen dürften die Begriffe der Vielfalt (in den Klas-
sen des Unbelebten und des Belebten) und der Symbiose (des Unbelebten und
Belebten) sehr viel nützlicher für die Bildung von Theorien sein.
(6) Tiefe Externalitäten sollten der Erstellung Räume übergreifender Theori-
en dienen. Dies ist natürlich der Traum eines Intellektuellen: Variablen zu
gewinnen, die interdisziplinär verwandt werden können und die dennoch et-
was nicht Triviales für alle Räume aussagen.
(7) Externalitäten müssen den Abgrund zwischen Kritik und Konstruktion
überspannen, indem sie sich nicht nur für die Kritik, sondern auch für die Er-
stellung von Alternativen als nützlich erweisen.
Wir wollen also einen ersten Versuch unternehmen, einen Satz von Exter-
nalitäten aufzustellen, der den aufgeführten Desideraten entspricht:
on von Dukkha und in der Steigerung von Sukha. 229 Das ökonomisierende
Begriffspaar SchmerzlLust deckt diesen Sachverhalt nur schlecht ab. 230
Die manifesten Definitionen der Externalitäten in diesen Räumen bringen
die allgemeine Wertdimension in einer Art und Weise zum Ausdruck, die
diesen absoluten Werten sehr nahe kommt. "Entwicklung" wird in ihrem ne-
gativen Aspekt, als die Beseitigung von Elend, und in ihrem positiven Aspekt,
als Befriedigung und Entwicklung grundlegender Bedürfnisse, dargestellt.
"Frieden" und "Überlebensfähigkeit" erweitern diesen Ansatz in Raum und
Zeit, als synchrone und diachrone Solidarität mit den menschlichen oder
nicht-menschlichen Wesen, die unter Bedürfnisversagungen leiden. Geboten
wird ebenso in diesem Zusammenhang ein Vokabular der Gewalt, wonach
Entwicklung im gewöhnlichen Verständnis sich auf die Reduktion struktu-
reller Gewalt (mit Ausbeutung und Unterdrückung als hauptsächlichen Ma-
nifestationen) und Frieden auf die Vermeidung direkter Gewalt konzentriert.
In Tabelle 3.6 werden die Externalitäten negativ als drei Typen von Gewalt
aufgeführt, die reduziert und eingedämmt werden müssen; und positiv als
Vielfalt und (gerecht ausbalancierte) Symbiose, die gesteigert und erhalten
werden sollen. Nur unter diesen Bedingungen kann Interaktion innerhalb der
Räume reproduziert werden. Die Räume werden nachhaltig, und man kann
gemeinsam geteilte Werte festlegen.
Kehren wir zu den oben genannten Desiderata zurück. Alle Räume sind
repräsentiert; pro Raum gibt es nur zwei Externalitäten (die jedoch relativ
umfassend sind, also eher Syndrome oder so etwas wie Meta-Externalitäten
darstellen); ganz sicher handelt es sich bei ihnen um Wertdimensionen und
sogar um solche, die sehr häufig im gewöhnlichen Diskurs auftauchen (abge-
229 Mit diesen Begriffen lassen sich auch progressive und regressive Politiken bzw. poli-
tische Ideologien oder, was das betrifft, Links und Rechts definieren: Progressiv ist
dasjenige, was den Bedürfnissen der menschlichen und der nicht-menschlichen Natur
dient, regressiv all das, was dies nicht tut. Natürlich besteht das Problem darin, daß im
wirklichen Leben die Konsequenzen jeden HandeIns normalerweise doppeldeutig sind.
Doch dieser Ansatz dient dazu, die Politik an Grundlegendem festzumachen. Ob Post-
ämter verstaatlicht oder privatisiert werden sollten, ist weniger eine Frage des Dogmas
als danach, was den relevanten Bedürfnissen dient, und dies scheint eher eine empiri-
sche Frage mit je nach Ort und Zeit unterschiedlichen Antworten zu sein. Auf dieser
Grundlage kann man eine ganze humanistische Ideologie aufstellen.
230 Schmerz und Lust beziehen sich beide auf den Körper und spiegeln den engen Fokus
ökonomischer Theorie und Praxis adäquat wider. Doch dieser somatische/mate-
rialistische Fokus ist selbst einer der umstrittensten Aspekte der Mainstream-Öko-
nomie, und die Anwendung ihrer Instrumente, die für körperbezogene Güter und
Dienste geschaffen sind, auf das Reich des menschlichen Geistes ist selbst eine der
wesentlichen negativen Externalitäten im Raum der Kultur. Der Nobelpreisträger
Gary Becker sieht hier keine Grenzen: " Das rational-choice-Modell stellt ge-
genwärtig die vielversprechendste Basis eines einheitlichen Analyseansatzes der so-
zialen Welt für Sozialwissenschaftler dar" (so in seiner Nobel Lecture "The Econo-
mic Way 0/ Looking at Lire", Stockholm (Nobel Foundation) 1992, S. 27).
Die Externalitäten 279
sehen von "Adäquatio", von allen vielleicht die grundlegendste, die aber
vielleicht am ehesten Intellektuelle anspricht); es gibt positive und negative
Bereiche dieser Dimensionen; und es gibt zwei Mengen, nämlich flache
(manifeste) und tiefe Externalitäten.
Wie steht es nun um die raumübergreifende Theoriebildung? Unserem Ar-
gument zufolge wäre diese Bedingung erfüllt, denn die beiden Zwillings-
begriffe der Vielfalt und Symbiose können verwendet werden, um nicht-tri-
viale Theorien für alle Räume zu entwickeln. Der Annahme zufolge rühren
die Zwillingsbegriffe an tiefe Wirklichkeiten in allen sechs Räumen. Anders
gesagt: Sie stellen auch Schlüsselbegriffe in systemtheoretischer Hinsicht
dar. Die Berechtigung solcher Behauptungen muß erst noch erwiesen wer-
den. Dies ist aber möglich, zumindest auf der Ebene einer Räume übergrei-
fenden vergleichenden Theorie. 231 Der Begriff der Entwicklung deckt alle
Räume ab, und daher sollte die Theorie das auch tun.
Und wie steht es um den Aspekt der Kritik bzw. der Konstruktion? Durch-
laufen ökonomische Zyklen die negativen Bereiche eines Indikators, dann ist
die Grundlage für Kritik gegeben, und zwar einer strengen Kritik, wenn
grundlegende Bedürfnisse schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der
konstruktive Aspekt besteht nicht nur im Hinweis auf den positiven Bereich,
sondern auch in der Angabe, wie man zu ihm gelangen kann, in der Definition
von Strategien also, bezeichne man diese nun als ökonomische, politische oder
soziale. Ein Kriterium für die Anerkennungswürdigkeit einer Externalität wäre
eine Theorie darüber und vielleicht sogar eine erprobte Praxis, wie das Gelobte
Land denn zu erreichen sei. Und genau hier erhalten die ökonomischen Schulen
ihre besondere Bedeutung: Was nach der Logik der einen Schule nicht erreich-
bar ist, mag nach der einer anderen erreichbar sein, und es stellt sich dann die
eklektische Frage, wie Schulen miteinander kombiniert werden können. 232
231 Daß das Begriffspaar Vielfalt/Symbiose eine analytische Behandlung der Probleme
natürlicher Elastizität erlaubt, ist offensichtlich, gehört es doch zum Grundbestand
ökologischer Theorie. Aber dasselbe trifft zu für den inneren Personenbereich, in
dem zahlreiche unterschiedliche Neigungen stecken, die in einer reifen Person aus-
einandergehalten (aber nicht stark unterdrückt und kontrolliert), zugleich aber auf-
einander bezogen (nicht zu sehr getrennt, wie in einer gespaltenen Persönlichkeit)
sein sollten. Auch wäre der Raum der Gesellschaft viel belastbarer, wäre er Gastge-
ber für unterschiedliche Weisen, das soziale Leben zu organisieren. Ebenso verhält
es sich mit dem Raum Welt. Anders gesagt, die Begriffe sind sehr geeignet für Räu-
me übergreifende Theorien.
232 Das Problem steckt schon in der Idee, eklektisch sein zu wollen, als solcher - heißt
dies doch, mehr als einem Gotte dienen zu wollen, und das ist nicht leicht in den
monotheistischen Kulturen des Okzidents. Eine Ausnahme stellt die Rosa Schule dar,
die den Eklektizismus in ihre Grundlagen eingebaut hat, wenn sie je nach den Um-
ständen den Markt oder den Plan zu Hilfe ruft. Der Orient mit seiner allgemeinen
Tradition des Eklektizismus macht (wie die Sozialdemokratie) aus seinen polythei-
stischen Neigungen seinen Monotheismus.
280 Entwicklungstheorie
Doch auch wenn es in der Blauen Schule und ihrer Auffassung von Indivi-
dualismus - Vertikalität - Szientismus (Messweise) - Naturbeherrschung (Ver-
arbeitung) - weltweiter Expansion einen gemeinsamen kulturellen Code gibt,
bleibt die Blaue Schule unter Anklage. Was wäre von einer Alternative zu
fordern?
Die Spalte der Positiva in Tabelle 3.8 gibt eine Antwort auf unsere Frage.
Hinter dieser Spalte steht eine einfache Logik. Für den Raum der Natur wur-
den die bei den Bedingungen für ökologische Elastizität verwendet, für den
Raum der Person die vier Bedürfniskategorien (unter expliziter Hinzufügung
allerdings der Gesundheit zum Wohlbefinden und der Herausforderung zur
Identität); für den Raum Gesellschaft wurden die fünf Faktoren verwendet,
die Frieden bzw. Entwicklung strukturell definieren, jedoch unter Hinzufü-
gung von Dynamismus und sozialer Gerechtigkeit; genau dasselbe geschah
im Raum Welt, da es sich hier ebenfalls um einen gesellschaftlichen Raum,
nur von höherer Komplexität, handelt; für Geschichte/Zeit stehen Nachhal-
Die Extemalitäten 283
233 Das Blaue System kennt keine Grenze in Zeit und Raum, auch nicht im Raum Ge-
sellschaft, und ist doch zur gleichen Zeit ein sehr mächtiger Träger des kulturellen
Codes eines expansionistischen Okzidents. Das System hält sich selbst für universell
und überzeitlich, da kontextunabhängig. Natürlich schlägt es tiefere Wurzeln, wenn
der Boden schon empfänglich oder, etwa durch Kolonialismus, schon bereitet ist.
234 Der VorratlFluß (stocklflow)-Diskurs stellt das Externalitätenproblem in eine weitere
Perspektive: Erschöpft der Fluß den Vorrat/das Kapital oder füllt er sie wieder auf?
Die untere Reihe negativer Externalitäten in Tabelle 3.9 stellt diese Fragen hin-
sichtlich des Kapitals in den Bereichen Natur, Mensch, Gesellschaft, Welt, Zeit und
Kultur. Genauer: Übersteigen Raubbau und Verschmutzung das Maß, mit dem die
Natur umgehen kann, dann wird das Kapital dezimiert. Übersteigen Elend, Monoto-
nie und Entfemdung (einschließlich der einfachen Form der Einsamkeit) das Maß,
mit dem eine einzelne Person umgehen kann, dann wird das Kapital an vitaler Kraft,
Liebe und Kreativität dieser Person aufgezehrt. Zuviel Vertikalität und individuelle
Mobilität - wenn die Menschen also einander aus den Augen verlieren und sich nur
noch maschinelle Botschaften zukommen lassen - verschleißt das strukturelle Kapi-
tal einer solchen Gesellschaft (Destrukturierung). Im Falle der Welt, ärmlich, wie sie
strukturiert ist, im wesentlichen anarchisch/feudal, gibt es nicht allzuviel Kapital, das
sich erschöpfen könnte, aber gewiß zehrt der Nationalismus von dem bißchen, was
da ist.
Nimmt man alles zusammen, besteht das Ergebnis in allmählicher Degradierung, u.
U. mit zunehmender direkter und struktureller Gewalt. Atomismus und Materialis-
mus allein halten keine adäquaten kulturellen Antworten auf diese großen Probleme
bereit; sie selbst müssen gemildert werden durch Holismus und Spiritualität (um
Idealismus zu begründen). Anders gesagt, auch das kulturelle Kapital wird aufgefres-
sen, zumal durch die Ökonomie. Zusätzlich zur Destrukturierung findet sich also
noch Dekultivierung.
284 Entwicklungstheorie
Die mit der wirtschafts wissenschaftlichen Literatur mehr oder weniger Ver-
trauten sollte ein Blick auf die Tabellen 3.6 - 3.9 überzeugen, daß dies nicht
diejenigen Variablen sind, denen gemeinhin im Diskurs der Mainstream-
Ökonomie Beachtung geschenkt wird. Ebensowenig werden sie explizit von
den hauptsächlichen wirtschaftlichen Akteuren, etwa den Multis (TNCs), in
Betracht gezogen, noch werden sie monetarisiert. Eine Ausnahme stellen im
Hinblick auf diese drei Punkte die Externalitäten im Raum der Natur dar: Sie
werden, als Erschöpfung und Verschrnutzung, in die Theorie und Praxis ein-
bezogen, und sie werden monetarisiert, indem man die Wiederherstellung des
Dezimierten und die Säuberung des Verschmutzten kostenmäßig erfaßt. Wir
werden später untersuchen, warum von allen Externalitäten gerade diese in-
ternalisiert wurden.
Eine umfängliche Literatur versucht, die Beziehung zwischen einem öko-
nomischen System und diesen oder anderen Externalitäten zu dokumentieren.
Die meisten Hypothesen folgen aus der Definition der Schulen, was nicht
heißt, daß man sie nicht überprüfen sollte. Doch sind derartige Überprüfun-
gen in der Praxis schwierig angesichts der Komplexität konkreter Fälle. Un-
sere Aufmerksamkeit gilt jedoch hier eher den Ursachen und Wirkungen des
Ausschlusses dieser wichtigen Variablen aus der ökonomischen Theorie, und
eben dies ist das Thema des folgenden Abschnitts 3.3.
These Nr. 1: Variablen sind nicht deshalb Externalitäten, weil sie bedeu-
tungslos sind, sondern weil ihre Beachtung sich sowohl auf die ökonomische
Theorie als auch auf die ökonomische Praxis stark auswirken würde.
Schenkte man ihnen Beachtung, dann wären die Kosten in beiden Fällen be-
trächtlich: eine Meta-Externalität. Externalitäten werden also zu so etwas wie
dem unsichtbaren Teil des Eisbergs, sie sind immer da, doch dürfen sie nie
explizit erwähnt werden. Würde die ökonomische Theorie irgendetwas von
dem, was in den Tabellen 3.6-3.9 unterstellt wurde, in Betracht ziehen, viel-
leicht sogar derart, daß einigen dieser Gesichtspunkte - z.B. den grundle-
genden Bedürfnissen von Mensch und Natur - ein Platz im Herzen der öko-
nomischen Theorie eingeräumt würde, dann müßte diese Theorie vollständig
neu entwickelt werden und wäre nicht mehr ökonomische Theorie im ge-
wöhnlichen, engen Sinne. Dasselbe gilt für die ökonomische Praxis der großen
Akteure. Kleinere ökonomische Akteure können jedoch sehr viel ex-
ternalitätenbewußter sein, ebenso wie Politiker, da negative Externalitäten dazu
neigen werden, auf sie zurückzufallen, und dies oft mit allem Nachdruck.
Es steht daher nicht zu erwarten, daß die Mainstream-Ökonomien imstan-
de sein werden, selbst die Kosten dieser Meta-Externalität zu übernehmen.
Die Externalitäten 285
Eher werden sie die Aufgabe aufschieben, sie aufs Geratewohl angehen oder
den Fokus derart ändern, neu definieren, daß die Externalitäten der Theorie
entsprechen anstatt anders herum. Ein Umbau wird wahrscheinlich eher von
außen angestoßen werden müssen, durch die Produktion breiter angelegter
Diskurse und umfassenderer Theorien.
These Nr. 3: Externalitäten sind nicht nur Folgen und Wirkungen und Out-
puts, sondern auch Bedingungen und Ursachen und Inputs.
Insbesondere gibt es kulturelle Dispositionen, die sehr ernst genommen wer-
den müssen; einige finden Beifall, andere nicht. In tabellarischer Form:
Die Tabelle erfüllt eine sehr einfache Funktion: Sie veranschaulicht die Ge-
fahr, sich auf bloß eine Zeile oder bloß eine Spalte zu konzentrieren - von
der Beschränkung auf bloß ein Element der Tabelle ganz zu schweigen. All
diese Faktoren spielen bei der Konstitution der Totalität der ökonomischen
Zyklen zusammen, gemäß Myrdals berühmter "kumulativer und zirkulärer
Verursachung" .
286 Entwicklungstheorie
These Nr. 4: Je niedriger die Anzahl der Internalitäten, desto größer die
Freiheit des wirtschaftlichen Akteurs, da weniger Variablen berücksichtigt
werden müssen. Dem entspricht: Je niedriger die Anzahl der Internalitäten,
je einfacher die Konstruktion widerspruchsfreier, sogar mathematisierter
ökonomischer Theorien auf der Grundlage einer niedrigen Anzahl von Va-
riablen und von Axiomen und möglicherweise versehen mit hoher Erklä-
rungskraft. 235
In bei den Fällen dient die Bezeichnung einer Variablen als "Externalität" der
Entlastung des wirtschaftlichen Praktikers und Theoretikers, indem sie dazu
berechtigt, diese aus der Betrachtung auszuschließen. Offensichtlich ist es im
Interesse beider, die Menge der Internalitäten im Vergleich zur Menge der
Externalitäten sehr zu beschränken, vorausgesetzt, es gelingt ihnen, den Rest
der Gesellschaft davon zu überzeugen, daß Handeln im Rahmen der Pseudo-
realität der Internalitäten sinnvoll ist und im Interesse des Rests der Gesell-
schaft (oder zumindest ihrer Eliten) liegt.
Bedenken wir ein wichtiges Korollar dieser Einsicht. Eine gewisse progno-
stische Kraft einer ökonomischen Theorie, die auf einer nur geringen Anzahl
von Internalitäten beruht, beweist nicht die Irrelevanz von Externalitäten, da
sich selbst erfüllende Prophezeiungen am Werk gewesen sein könnten. Wer
darauf trainiert wurde, nur Internalitäten zu berücksichtigen, wird sich entspre-
chend verhalten und Konsequenzen bloß in Begriffen von Internalitäten bemer-
ken. Wenn Menschen nur oft genug gesagt wurde, "daß wir dieses Spiel wegen
des Profits spielen", dann werden sie glauben, daß Rücksichtnahme, hier ver-
standen als Sensibilität für negative Externalitäten, nur ein Zeichen von Charak-
terschwäche und mangelnder Eignung für den betreffenden Job ist. Natürlich
ist die ökonomische Theorie, die für Externalitäten blind ist, eine Abstraktion
einer höchst komplexen Realität, doch kann diese Pseudorealität, in der dann
der homo oeconomicus handelt, in ihren Folgen wirklich werden. 23•
235 Ist die Anzahl der Axiome n und die Anzahl der abgeleiteten Theoreme N, dann ist
die Formel I-nIN ein Maß der Erklärungskraft; je niedriger n und je höher N, desto
größer ist sie! Bevor der Druck erfunden wurde, muß diese Formel auch eine wich-
tige mnemotechnische Erfindung gewesen sein. Die Menschen müßten nur eine
Handvoll Axiome sowie die Deduktionsgesetze parat gehabt haben, um eine riesige
Menge an Wissen reproduzieren zu können. Jedoch liegt die eigentliche Macht eines
axiomatischen Systems eher in dessen Fähigkeit, neues Wissen zu produzieren mit-
tels der Deduktion neuer, überraschender Einsichten, die mit der Wirklichkeit über-
einstimmen. Dieses intellektuelle Verfahren hat Pyramidenform, mit einem mehr
oder weniger spitzen Scheitel (das hängt von der Anzahl der Axiome ab), und könnte
dem Bild eines Rades kontrastiert werden, gemäß dem die Theorien zu zweit, zu dritt
etc. kombiniert und dann auf mögliche neue, synergistische Einsichten hin überprüft
würden. S. hierzu Johan Galtung: "Back to the Origins: on Christian and Buddhist Epi-
stemology", in: ders.: Methodology and Development, Kopenhagen 1988, S. 15-27.
236 Hier handelt es sich um das berühmte Theorem der Soziologen Thomas und Zna-
niecki über sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Die angesprochene Pseudorealität
Die Extemalitäten 287
Tabelle 3.1 I: Eine Aufteilung der Räume in innere und äußere Sektoren
Innerer Sektor Äußerer Sektor
Natur Homosphäre (wir) alle anderen Sphären (es)
Person Körper/Materielles (ich) SeeleINichtmaterielles (es)
Gesellschaft Ober-/Mittelklassen Arbeiterklasse/U nterschicht
Sekundär-rrertiärsektoren Primärsektor
männliche, erwachsene Ökonomien weibliche, Kinderökonomien
Gruppenzugehörige (wir) Gruppenfremde (sie)
Welt Erste und Vierte Welt Zweite und Dritte Welt
hier;MDCs dort;WCs
Zeit Gegenwart Zukunft
;etzt, berechenbar dann, unberechenbar
Kultur gängige Auffassungen (unsere) Gegentendenzen (ihre)
hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Laboratorium der Naturwissenschaften. Der
Unterschied besteht darin, daß in der Pseudorealität des Laboratoriums die für die
Beziehungen zwischen X und Y relevanten Bedingungen, die unabhängigen und ab-
hängigen (Mengen von) Variablen, entweder konstant gehalten (Druck, Temperatur)
oder unwirksam gemacht werden (Lautstärke, Wind); in der Pseudorealität der gän-
gigen Ökonomie dagegen werden die relevanten Bedingungen unwirksam gemacht,
indem sie als Externalitäten verabschiedet werden.
288 Entwicklungstheorie
These Nr. 7: Die Einteilung der Räume in Sektoren bietet aus der Sicht des
inneren Sektors zwei Arten möglicher Fehlfunktionen ökonomischer Systeme:
Fehlertyp I: wenn negative Externalitäten den inneren Sektor treffen; und
Fehlertyp 11: wenn positive Externalitäten dem äußeren Sektor zugute kom-
men.
Fehler vom Typ I können zur Internalisierung der Externalität führen und!
oder zu politischem Handeln. Ein deutliches Beispiel stellt die Ober- und
Mittelschicht-Ökokrise der Ersten Welt in den 70er Jahren dar, mit der sich
nachdrückliche politische Forderungen nach einer neuen Praxis verbanden,
was so weit ging, daß Wirtschaftswissenschaftler die ökonomische Theorie
öffneten, um Erschöpfung und Verschrnutzung mitberücksichtigen zu kön-
nen. Natürlich hatten Ökokrisen und -katastrophen schon immer Notlagen für
die Unterschichten sowie die Zweite und die Dritte Welt mit sich gebracht,
ohne daß dies nennenswerte Konsequenzen für die Praxis und Theorie der
Ökonomie gehabt hätte.
Die wirtschaftliche Krise der Ersten Welt zu Anfang der 90er Jahre traf
auch die Ober- und die Mittelklassen mit Konkursen, der Aufdeckung anrü-
chiger Praktiken und der Bedrohung der sozialen Sicherheit und der Renten-
fonds. Wirtschaftliche Unsicherheit ist nichts Neues, doch ging die Debatte
nun los, der Diskurs weitete sich, und das nicht zu Erwähnende - einige der
Externalitäten -, wurde erwähnt. Zumindest zeitweise wurde die ,virtual
reality'-Illusion, die Illusion also, die Wirtschaft falle mit dem von der Wirt-
schaftstheorie Vorgesehenen zusammen, aufgegeben.
Fehlertyp 11 kann zu neu strukturierter Praxis führen; als Beispiel diene
hier der Versuch, die sozialistische und andere auf sich selbst vertrauende
Wirtschaften zu zerstören, wie etwa von den USA auf dem amerikanischen
Kontinent praktiziert. Die Hypothese würde lauten, daß dieser Versuch nicht
nur dem Ziel diente, diese Ökonomien wieder als Märkte zu öffnen, die ab-
hängig sind von Produkten der Ersten und der Vierten Welt. Er sollte auch
verhindern, daß diese Ökonomien von einer wichtigen positiven Externalität
Die Extemalitäten 289
These Nr. 8: Indem sie Extemalitäten gerade dann aus der Analyse aus-
schließen, wenn sie den inneren und den äußeren Sektor in unterschiedlicher,
jeweils tiefdringender Weise in Mitleidenschaft ziehen, werden die herr-
schenden Wirtschaftstheorien und -systeme zugleich auch geschützt, da die
Kritik nicht innerhalb des herrschenden und daher legitimen Diskurses for-
muliert werden kann.
Der Bluff besteht in der Vortäuschung, daß wirtschaftliche Transaktionen nur
in dem bestehen, was über den Tisch geht (die Spitze des Eisbergs), nicht in
dem, was sich unter dem Tisch abspielt (der unsichtbare Teil des Eisbergs).
Als Beispiel für eine Internalität können die Austauschbedingungen (terms of
trade) gelten, das Verhältnis zwischen den Mengen von Produkten, die in ei-
nem Kauf gehandelt werden."7 Als Beispiel einer positiven Externalität kann
die Herausforderung dienen, für negative Externalitäten mögen Erschöp-
fungNerschmutzung stehen. Kommt ein Handel zustande, indem Rohstoffe
von LDCs in MDCs exportiert werden, dann können drei Dinge geschehen:
Die Austauschbedingungen können für die LDCs schlecht, ihre Situation
vielleicht noch verschlimmernd, sein; die Herausforderung kann an die
MDCs gehen, die das Instrumentar für den Abbau der Rohstoffe ent-
wickelten; und zusätzlich mag ernsthafte Erschöpfung die Folge sein. Macht
die ökonomische Theorie nur die Internalität sichtbar (und diese Theorie, die
sich mit den Namen ECLA, der Wirtschaftskommission der UN für La-
teinamerika, und Raul Prebisch verbindet, hatte große Schwierigkeiten ak-
zeptiert zu werden), dann vergißt man die ungleiche Herausforderung und
die Erschöpfung, und nur die Tauschbedingungen finden Aufmerksamkeit.
Vom Standpunkt eines MDC aus betrachtet, könnte die Situation kaum
günstiger sein. Die Austauschbedingungen entwickeln sich, sieht man von
fossilen Brennstoffen (Öl usw.) einmal ab, zu ihren Gunsten; und zusätzlich
zu den günstigen Handelsbedingungen schlägt auch noch die positive Exter-
nalität der Herausforderung positiv bei ihnen zu Buche, während die negative
Externalität der Erschöpfung an die LDCs geht. Und das allerbeste: Da es
sich um Externalitäten handelt, bleibt der größte Teil des Vorgangs un-
sichtbar.
237 Wie etwa diejenige Menge Bananen, die für ein Barrel Öl, oder die Menge Öl, die
für einen Traktor, oder die Anzahl von Traktoren, die für eine(n) Bomber/Cruise
Missile!Atombombe benötigt wird.
290 Entwicklungstheorie
These Nr. 9: Negative Externalitäten vermögen mehr, als nur die Gewinne
zu beseitigen, die positiven Internalitäten zu verdanken sind.
Die heutige Weltwirtschaft ist Blau, mit ein paar Handvoll Rot und Grün und
Rosa und mit Gelb als der bedeutendsten Herausforderung für Blau. Sie alle
lösen einige Probleme und bringen andere hervor. Negative Externalitäten
gibt es überall. Wie werden diese negativen Externalitäten behandelt?
- In der Ersten Welt, indem für jede vom Kapital angerichtete ,Schweinerei'
staatliche Institutionen für deren Beseitigung eingerichtet werden, wie
Krankenhäuser und Gefängnisse für den Überschuß an Kranken· und
Kriminellen, Ministerien für Umweltschäden, soziale Sicherheit, Beschäf-
tigung, Krieg usw. Schließlich gibt es den Export von negativen Externa-
litäten in die Dritte Welt (z.B. Müll).
- In der Zweiten (ehemals sozialistischen) Welt erlaubten die undemokrati-
sehen Verhältnisse der kommunistischen Führung, Externalitäten zu igno-
rieren, indem sie sie unsichtbar hielten, und in der Konsequenz widmete
man ihnen keine ernsthafte Aufmerksamkeit. Auch herrschte die ideologi-
sche Einstellung vor, eine sozialistische Ökonomie könne keine negativen
Externalitäten haben.
- In der Dritten Welt werden negative Externalitäten gewiß empfunden,
doch gibt es nicht genug Geld, um Institutionen zu errichten, die imstande
wären, mit ihnen umzugehen. Die Folge ist eine allgemeine Verschlechte-
rung: nur geringer Profit aufgrund der Internalitäten, enorme Kosten auf-
grund von Externalitäten, daher Reproduktion der Unterentwicklung. Und
keine Möglichkeit des Exports von bearbeiteten (Fertig-)Produkten.
- In der Vierten Welt ist die Situation der der Ersten Welt relativ ähnlich, wo-
bei ein großer Unterschied darin zu sehen ist, daß der Staat mehr Kontrolle
über die Korporationen hat, alle Beziehungen koordinieren und auf negative
Externalitäten mit angemessenen wirtschaftlichen Anreizen reagieren kann -
wenn genügend politischer Druck von Rot, Rosa und Grün kommt.
Das globale Bild: Ungleichheit wird reproduziert und verstärkt, und das auf
mehr oder weniger gleichbleibender Grundlage, solange diese Entwicklung
zugelassen wird - bis jetzt also seit etwa 200 Jahren, seit Smith und Ricardo.
These Nr. 10: Positive Externalitäten vermögen mehr, als die Verluste aus-
zugleichen, die durch negative Internalitäten entstanden sind.
Die Kapazität, die entwickelt werden muß, um einem herausfordernden Auf-
trag zu entsprechen, kann es als wertvoller erscheinen lassen, eher für den
Erhalt des Auftrags zu zahlen, als für die Produkte bezahlt zu werden. Die
Frage ist, wie solche Herausforderungen aufgenommen werden:
In der Ersten Welt geht die Herausforderung an die Person, die über das
Kapital (der Finanzexperte oder der Besitzer) oder über die Technologie
Die Extemalitäten 291
238 Natürlich kann er etwas von dem, was er gelernt und erprobt hat, mit einer Person
vor Ort, seinem lokalen ,Gegenstück', teilen. Aber bei ihrem Versuch, ihr Wissen in
Status und Macht umzusetzen, wird diese sich leicht einsam fühlen und es zuletzt
vieIleicht vorziehen, ihrem Lehrmeister in dessen MDC-Land nachzuziehen.
239 Dies sind die berühmten "Qualitätszirkel". Vgl. auch W. E. Deming: Out 01 the Cri-
sis, Cambridge, MA 1991.
240 Die Tragödie der ehemals sozialistischen Länder besteht in der Umwandlung einer
schweren strukturellen Deformation in eine neue. An die SteIle der Monopolisierung
der Herausforderungen durch die Gosplan-Experten tritt nun die Monopolisierung
durch ausländische Experten.
292 Entwicklungstheorie
241 So fielen 1992 19.9% des Welthandels auf die Europäische Gemeinschaft und 16%
auf die Vereinigten Staaten; dies ist immer noch das Ergebnis des explosiven öko-
nomischen Wachstums des ersten, jüdisch-christlichen Wachstumspols. Doch dann
folgen: Japan 12.1 %, Kanada 4.8%, Hongkong 4.2%, die Volksrepublik China 3.0%,
die Republik China 2.9%, Südkorea 2.7%, Schweiz 2.3%, und Singapur 2.3%. Der
Anteil der Länder Ostasiens beläuft sich auf 24.9% (zusammen mit Singapur aus
Südostasien 27.2%, mehr als ein Viertel des Welthandels). Ein ostasiatischer ge-
meinsamer Markt der (Mahayana-) buddhistisch-konfuzianischen Länder Japan,
China (zusammen mit Hongkong und Taiwan), (das vereinigte) Korea und Vietnam
wäre bereits heute der Welt stärkster Handelspartner, und die Vereinigten Staaten
zusammen mit Kanada (und Mexiko, NAFfA) die Nummer 2. Die Europäische Uni-
on würde nur Nummer 3 werden, wenn nicht eine bedeutende Erweiterung der Mit-
gliedschaft stattfände - dies nur als Hinweis auf die weltweite Dynamik. (Nach
GATT-Sekretariat, in: Neue Zürcher Zeitung vom 29. März 1993.)
242 Siehe Abb. 3.10 oben. Nur wenige Kulturen beinhalten alle vier für ökonomisches
Wachstum als notwendig postulierten Elemente: harte Arbeit, Ersparnisse, Gier,
Rücksichtslosigkeit.
243 In der früheren Version in "A Structural Theory of Imperialism" werden Inter-
nalitäten als das bezeichnet, was dem Muster des Austausches gemäß geschieht, und
Externalitäten als das, was als Ursache oder Wirkung dieses Austausches als Ein-
tausch firmiert. Diese Perspektive ist zu beschränkt: Internalitäten wie Externalitäten
fallen innen sowohl wie außen an.
Die Externalitäten 293
These Nr. 11: Die Analyse von Externalitäten muß holistisch vorgenommen
werden, unter Vermeidung der einseitigen Betonung allein eines Raumes (und
innerhalb jedes Raumes nur des unterdrückten Sektors), wie sie sich findet etwa
in den Traditionen des Ökologismus (für die Natur), der Schule der menschli-
chen Bereicherung (für den Raum Person), des Sozialismus (für den gesell-
schaftlichen Raum), der Dritte-Welt-Ideologie (für den Raum Welt), der Nach-
haltigkeit (für den Raum der Zeit) und der Gegenkultur (für den Raum der
Kultur): All dies ist lobenswert, aber in Verbindung miteinander, nicht einzeln.
Eine wahrheitsliebendere Wirtschaftswissenschaft würde Wissenswertes über
alle sechs Räume zusätzlich zu den traditionellen Themen der Wirtschafts-
wissenschaftler umfassen. Da diese dann die Ökologie, Psychologie, Sozio-
logie, Anthropologie, Politologie, die Lehre von den internationalen Bezie-
hungen, die Geschichte sowie Futurologie und die noch ausstehende Kul-
turwissenschaft (heute aufgeteilt zwischen Theologie, Philosophie, Ideen-
geschichte, Kulturanthropologie, Ethnologie und den Geisteswissenschaften)
umgreifen würde, könnte es scheinen, als würde hier ein bißchen viel ver-
langt. Doch wenn Wirtschaftswissenschaftler gelernt haben, sich der Mathe-
matik zu bedienen, ohne professionelle Mathematiker zu sein, dann sollten
sie fähig sein, auch mit anderen anspruchsvollen Agenden umzugehen.
These Nr. 12: Die Analyse von Externalitäten muß synergistisch vorgenom-
men werden, indem die Interaktion zwischen zwei oder mehreren Externalitä-
ten in ein, zwei oder mehreren Räumen betrachtet wird; dasselbe gilt für
Ketten und Zyklen innerhalb und außerhalb der Räume.
Die Beschränkung auf eine zu niedrige Anzahl oder eine zu einseitige Stich-
probe von Externalitäten kann ebenso kontraproduktiv sein wie die einseitige
Beschränkung auf Internalitäten. Auch sollte die Liste der Externalitäten im-
mer offengehalten werden, nie als "endgültig" betrachtet werden, um jeder-
zeit neues Licht auf das wirtschaftliche Geschehen werfen zu können. Listen
kommen und gehen, die Probleme bleiben.
These Nr. 13: Externalitäten können und sollten nicht monetarisiert werden:
erstens, weil dies unmöglich/bedeutungslos ist; zweitens, um von vornherein
Kosten-Nutzen-Analysen in Bezug auf Externalitäten zu behindern, die auf
Geschäfte mit Entitäten hinauslaufen, die sui generis sind; drittens aber, um
die Suche nach echten Lösungen nicht zu demotivieren.
Insbesondere vernachlässigt die Kosten-Nutzen-Analyse auf der Grundlage
der Vergleichbarkeit von Externalitäten untereinander absolute negative oder
positive Werte, mit anderen Worten moralische Absoluta wie etwa die Erhal-
tung der Vielfalt des Lebens oder die Ausmerzung des Elends. Mit diesen
darf weder gehandelt, noch können sie mit Geld aufgewogen werden. Auf
diesen Seiten werden die Bedürfnisse des Lebens durchgehend als positive,
die der Gewalt als negative Absoluta angesehen. Der Rest folgt dann hieraus.
294 Entwicklungstheorie
These Nr. 14: Die pragmatische Funktion der Monetarisierung bei Geschäf-
ten sollte nicht als Gültigkeitsbeweis betrachtet werden, sondern als Beweis
für die Macht, die der Ökonomismus immer noch besitzt, wenn er Tagesord-
nungen besetzt und Diskurse beherrscht.
Ökonomische Akteure, Versicherungsgesellschaften, Politiker fragen heute
alle nach dem Preis bzw. dem erhofften Geldwert. Dieser Ansatz ist fatal. Je-
de Externalität konstituiert ihr eigenes ethisches Universum und muß eigens
und ernsthaft behandelt werden; sie darf jedoch nicht monetarisiert werden,
um die anderen Externalitäten zu kompensieren. 244
These Nr. 15: Dieselben Externalitäten können und sollten bezüglich unter-
schiedlicher Akteure und über die Zeit hinweg miteinander verglichen wer-
den. Vergleichbarkeit hinsichtlich der Akteure und über die Zeit hinweg
sollte nicht apriori unterstellt, sondern als Hypothese betrachtet werden, die
in der Praxis und in Gesprächen überprüft werden muß.
Wir müssen wissen, wie sich eine Externalität im Verlauf der Zeit für densel-
ben Akteur entwickelt, und imstande sein, zwischen den Akteuren zu verglei-
chen. Doch muß die Operationalisierung von Externalitäten in Einheiten ge-
schehen, die für jede Externalität jeweils angemessen sind, was bedeutet, daß
sie nicht für einen Vergleich zwischen Externalitäten taugen.
These Nr. 16: Die Aufnahme von Externalitäten in die Theorie bedeutet, die
Wirtschaftswissenschaft in die Sozialwissenschaften zurückzuführen, so daß
sie die Widersprüche und allgemeinen Verlegenheiten dieser Wissenschaften
teilt, die sie durch die Aufteilung der relevanten Variablen in Internalitäten
und Externalitäten zu vermeiden suchte.
Dies ist der angestammte Ort der Wirtschaftswissenschaft, die vom Anspruch
lassen sollte, eine Naturwissenschaft zu sein, eine Art Mechanik, gerade
heute, wo nicht einmal die Physik eine Physik im klassischen Sinne zu sein
beansprucht. Wie in These Nr. 11 herausgestellt, ist dies eine bedeutende
Herausforderung, und es wird nicht leicht sein, ihr von innen heraus ange-
messen zu entsprechen. Doch nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie,
und die Mainstream-Wirtschaftswissenschaft ist nicht gut genug, um eine
vernünftige Praxis anzuleiten.
Zu vermeiden ist der Wechsel von der einseitigen Betonung der Interna-
litäten zur einseitigen Betonung der Externalitäten. Beide sollten betont und
244 Man betrachte zum Beispiel den oben in These Nr. 8 beschriebenen Handel. Mit den
LDCs wird in dreierlei Hinsicht kurzer Prozess gemacht. Nun können freilich die
MDCs sagen: "Gut, wir zahlen euch mehr für die Handelsgüter und stabilisieren au-
ßerdem die Preise; der Rest bleibt, wie er ist". Dies ließe sich dann als der Versuch
betrachten, die Probleme der mangelnden Herausforderung und der Erschöpfung der
Lebensvielfalt mit Geld zu lösen, ein wahrhaft unmögliches Unterfangen.
Die Externalitäten 295
These Nr. 17: Wenn das Ziel Gerechtigkeit in ökonomischen Zyklen ist, setzt
die Internalisierung der Externalitäten in der Praxis voraus:
(a) das Explizitmachen der Externalitäten unter Beachtung ihrer Eigenart,
(b) die Einrichtung von Dialogforen für die jeweilige Art ökonomischer Zy-
klen,
(c) die Zusammenarbeit bei der Verringerung negativer Externalitäten und
(d) die Zusammenarbeit bei der gleichberechtigten Nutzung positiver Exter-
nalitäten.
Dies zu explizieren, wurde für das herrschende Blaue System anhand der Ex-
ternalitäten I - IV unternommen, man vergleiche die Tabellen 3.6 - 3.9. Un-
ten in den Abschnitten 3.4 bis 3.7 wird der Schwerpunkt der Darstellung auf
den Externalitäten der anderen ökonomischen Systeme liegen. Diese Listen
können als Vorschläge für Tagesordnungen von Gesprächen zwischen öko-
nomischen Akteuren betrachtet werden, die auf der Suche nach besseren
wirtschaftlichen Systemen sind.
Ökonomische Akteure, die imstande sind, wirtschaftliche Ziele und Strate-
gien zu formulieren und zu verfolgen, können in territoriale und nicht-
territoriale eingeteilt und als Akteure auf der Mikro-, der Meso- und der Ma-
kroebene plaziert werden. Tabelle 3.12 liefert eine mögliche Typologie:
Der Prototyp des Akteurs, das Handlungsatom, ist der Einzelne, und dieser
Akteur ist umso wichtiger, je individualistischer und vertikaler die zugrunde-
245 Aus vielen Gründen hat sich der vorliegende Text vor allem der Variablen QIP, KIN
und FIR bedient; QIP, weil sich hier genau widerspiegelt, wonach Käufer suchen und
wovon Verkäufer andere zu überzeugen versuchen, daß sie es anbieten; KIN, weil
sich diese mit vielen der Schlüsselexternalitäten verbindet; und FIR als begriffliches
Instrument, um das ökonomische Gesamtsystem in den Griff zu bekommen. Alle drei
können operationalisiert werden, doch ist dies nicht die Aufgabe des vorliegenden
Textes. Andere werden das weite Feld ökonomischen Handeins mit anderen Schlüs-
selvariablen betreten.
296 Entwicklungstheorie
246 Mit anderen Worten: eine Art ombudsltUln-System für ausgewähltes Belebtes und
Unbelebtes (deren Anzahl ist so groß, daß es nirgendwo genug Menschen geben
wird, um sie aUe zu repräsentieren).
Die Extemalitäten 297
sammenbrachen. In Anbetracht des Alters der Maschinen bedeutete dies mehr als
genug Anreiz zur Erhaltung, nicht aber zur Fortentwicklung. Ergebnis: Stagnation.
Die Externalitäten 299
These Nr. 18: Die Berücksichtigung von Externalitäten ist keine Antithese
zum Markt oder zum Wettbewerb, sondern gibt weiteren Erwägungen Raum,
bevor Käufer und Verkäufer einen Handel tätigen wollen. Das Ziel ist ethisch
bewußtes Marktverhalten.
Der Markt wird zum Forum eines viel breiter angelegten Dialogs - nicht nur
über Quantität, Qualität und Preis. Dies ist nicht neu. Menschen haben schon
immer auch anderes in Betracht gezogen, besonders bei Geschäften im inne-
ren Sektor (These Nr. 5), indem sie etwa bei Familien kauften, die sie unter-
stützen wollten, oder indem sie keine Sklaven mehr erwarben und dabei öko-
nomische Vorteile preisgaben.
Diese Dialoge müssen nicht jedesmal wiederholt werden, wenn ein Handel
getätigt wird. Gute Gespräche führen zu guten Geschäften, die für "ökonomi-
sche Zyklen derselben Art" eine Weile verbindlich bleiben können. Neue
Maßgaben entwickeln sich aus solchen Dialogen. Menschen verhalten sich
diesen Regeln entsprechend; es bedarf nicht eines permanent angespannten
ethischen Bewußtseins, vernünftiges Handeln einmal vorausgesetzt. Zum
Entscheiden und Handeln ist ein gewisses Maß an Vereinfachung nötig,
wenn nur die Bereitschaft zur späteren - und immer erneuten - Änderung ge-
geben ist.
These Nr. 19: Die Berücksichtigung der Externalitäten vermindert nicht unbe-
dingt die Freiheit des HandeIns, sie kann diese auch erweitern, indem sie neue
Ideen liefert und Beziehungen eher kooperativ und weniger kompetitiv gestaltet.
Man nehme als Beis.piel den Import von Äpfeln aus dem Land A oder C in
das Land J. A baut Apfel bioorganisch an, die Verarbeitung ist arbeitsinten-
siver, die Äpfel sind etwas teurer, dafür aber giftfrei; außerdem wird viel-
leicht der Boden, auf dem sie angebaut werden, in diesem Prozess angerei-
chert. C baut Äpfel in der traditionellen kapitalintensiven Weise an, mit
Kunstdünger und Pestiziden, vergiftet die Äpfel und entwertet den Boden.
Indem J Äpfel aus A importiert, hilft es A, sich in diesem Prozess zu entwic-
keln; indem J Äpfel aus C importiert, verhilft es C zu ökonomischem Wachs-
tum, verhindert jedoch zugleich dessen Entwicklung. Die ethisch bewußte
Wahl liegt auf der Hand, wenn es auch etwas mehr kostet, diese Wirkungen
zustande zu bringen - wobei möglicherweise jedoch J und A sich wech-
selweise zum innerem Sektor werden, woraus zahllose kooperative Unter-
nehmungen mit positiven Externalitäten sich ergeben. Entscheidend ist, wie
Externalitätenkataloge neue Zyklen der Erzeugung, der Verteilung und des
Verbrauchs inspirieren und nicht nur die Beseitigung der alten anleiten.
Unter idealen Bedingungen wären alle drei Akteure naturbewußt, und das
grundlegende Gespräch würde zwischen Verbrauchern und Erzeugern oder
300 Entwicklungstheorie
These Nr. 20: Entwicklung kann weitgehend verstanden werden als die pro-
gressive Anhäufung positiver Extemalitäten, hervorgebracht durch ethisch
bewußte ökonomische Transaktionen.
In demselben Sinne ist Unterentwicklung die Anhäufung negativer Externali-
täten. Ein bemerkenswerter Aspekt von Blau ist dessen Fähigkeit, die negati-
ven Externalitäten zu exportieren, die positiven dagegen zu bewahren oder
sogar zu importieren. Es sollte daher nie zugelassen werden, daß Blau, das
250 Die Wahl mit dem Stimmzettel ist ebenso unzureichend; es ist wesentlich, daß Bür-
ger mit Politikern, Konsumenten mit Produzenten, und am besten aUe miteinander
sprechen.
251 A Quiek and Easy Guide to Soeially Responsible Supermarket Shopping, jährlich
herausgegeben vom Couneil 0/ Eeonomie Priorities, [ne., 30 Irving Place, New
York, NY 10003.
Die Extemalitäten 301
System des "freien Marktes" (freier im Zentrum als in der Peripherie), allein
den ökonomischen Aspekt der Entwicklung bestimmt. 252
Die Konsequenzen dieser These lassen sich als gute und als schlechte
Nachricht formulieren. Die gute Nachricht: Es gibt keine Schranken für
Entwicklung! (Doch sicher gibt es "Grenzen des Wachstums".) Natürlich sto-
ßen wir an Grenzen etwa der Gerechtigkeit und Billigkeit, nicht aber der kul-
turellen und geistigen Entwicklung. Umstellungen in Richtung auf nicht ma-
teriell orientierte Aktivitäten könnten die menschliche Befindlichkeit ver-
bessern.
Doch die schlechte Nachricht ist gleichermaßen unmißverständlich: Es
gibt keine Grenzen der Fehlentwicklung! Oder, um es genauer zu sagen, es
gibt eine Grenze, die Ausrottung allen Lebens auf der Erde nämlich, werde
die Apokalypse nun herbeigeführt durch (1) schwerste Degradierung des
Ökosystems, durch (2) schwere Hungersnot und massive Migration oder
durch (3) Töten im Großmaßstab. Unglücklicherweise ist heute die Wahr-
scheinlichkeit nicht gleich Null, daß (1) zu (2) führt und (2) zu (3).
252 Die Gegenwart Mitte der Neunziger Jahre, mit dem geschlagenen Roten System,
dem in Deckung gegangenen Grünen, dem in Auflösung begriffenen Rosa und einem
Gelben System, das nur als Blaues mit einigen exotischen, orientalischen Zutaten er-
scheint, bietet dem Betrachter den Anblick einer öden ökonomischen Landschaft, die
im wesentlichen vom Blauen System, mit seinen Zentrums- und Peripherie-
Spielarten, bevölkert ist. Dabei wird es kaum lange bleiben. Die Komplexität der
Probleme verlangt nach komplexen Lösungen.
302 Entwicklungstheorie
253 Natürlich bezieht sich "billige Arbeit" nicht nur auf niedrige Löhne, sondern, we-
sentlicher, auf den Export negativer Externalitäten: langweilige, gefährliche, anrei-
zarme Arbeit usw., die nicht in Betracht gezogen oder kompensiert werden muß.
254 In diesem Sinne stellten siebzig Jahre Kommunismus eine Vorbereitung auf den Ka-
pitalismus dar. Was die Betroffenen nun kennenlernen, sind Blaue Externalitäten,
zusätzlich zu den alten Roten.
Die Externalitäten 303
Die Folgerung ist dieselbe wie für Blau: Grün sollte nicht allein für das gro-
ße Projekt der menschlichen Entwicklung verantwortlich sein. Es muß erstens
Transfermechanismen geben und zweitens ökonomische Interaktion zwischen
und innerhalb von Nationen, zusätzlich zu den lokalen Wirtschaften.
255 Für die Vorstellung von Wissenschaft als einer synergistischen Verbindung von
Empirizismus, Kritizismus und Konstruktivismus vgl. das gleichnamige Kapitel 2 in:
Johan Galtung: Methodology and Ideology, Kopenhagen 1977, S. 41-71.
308 Entwicklungstheorie
die Vorbedingung für diesen Schluß ist eindimensionales Denken, eine Art
wissenschaftstheoretischer Infantilismus.
Natürlich sind sehr viel komplexere Typologien als die in These Nr. 1
vorgestellte denkbar. Doch diese genießt den Vorzug, diejenigen Systeme und
Schulen, die es heute in der Welt gibt, recht gut unterzubringen. Das Blaue Sy-
stem, das Marktsystem, tritt in zwei Versionen auf: als Zentrum, das in der
Verarbeitung von Rohmaterialien und in der Zentralisierung des Kommu-
nikations- und Transportwesens hoch rangiert und vom kumulativen Effekt
positiver Externalitäten reichlich profitiert; und als Peripherie, die im Hinblick
auf den Verarbeitungsgrad und auf die Zentralisierung des Kommunikations-
und Transportwesens niedrig rangiert und unter dem kumulativen Effekt nega-
tiver Externalitäten leidet. Doch, wie ebenfalls unterstrichen wurde: Zentrum
und Peripherie des Blauen (oder des ebenfalls zentralisierenden Roten und Gel-
ben) Systems sind nur zwei Seiten ein und desselben Systems. Es bietet sich
uns also mehr Vielfalt und Reichtum dar, als man oft denkt, wenn eindimensio-
nale Diskurse das Denken verstellen. Die Frage ist, wie wir uns auf dieses
"Fenster der günstigen Gelegenheit" am besten einstellen.
These Nr. 2: Eher als die ideologische Hinwendung zu nur einem System
verspricht die eklektische Verwendung aller fünf in Zeit, Raum undfunktiona-
lem Raum die Freisetzung positiver Entwicklungssynergien.
Dies ist eindeutig ein Argument zugunsten der Eklektischen Schule. Oben
wurde diese Schule nur als eklektisches Amalgam dreier anderer Schulen de-
finiert, von denen zwei ihrerseits eklektische Amalgame darstellen. Im Fol-
genden wird der Versuch unternommen, deutlicher herauszuarbeiten, was
diese Definition besagt.
Die Grundbedingung des Eklektizismus findet sich nicht in der ökonomi-
schen Wirklichkeit, sondern in unseren Köpfen: als Übergang vom monothei-
stischen Glauben an einen säkularen, ökonomischen Gott, sei dies nun der
Markt oder der Plan, zu einem polytheistischen Setzen auf mehrere. Und wie
dies polytheistischen Systemen ganz generell entspricht, gibt es eine Zeit für
diesen Gott und eine Zeit für jenen: für den Schöpfer, den Schützer, den Zerstö-
rer."·
Die Systeme, die die Eklektische Schule konstituieren, können nacheinan-
der oder gleichzeitig oder sowohl als auch, sie können an denselben wie auch
an unterschiedlichen Orten und für dieselbe oder für verschiedene Funk-
tionen aktiviert werden. Die Eklektische Schule schließt jede zugrundelie-
gende Annahme aus, die darauf hinausliefe, daß eine der elementaren Schu-
len, Blau, Rot oder Grün, gleicher sei als die anderen und daher als Endzu-
stand der ökonomischen Entwicklung verwirklicht werden solle; oder daß die
Rolle der anderen nur darin bestehe, diesem Zustand ins Sein zu verhelfen,
um dann als Krücken weggeworfen zu werden.
Die komplexeste der zusammengesetzten Schulen ist die Eklektische. Die
ökonomischen Strategien werden innerhalb dieser Schule durchgespielt, doch
werden sie nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Sie aktivieren die
Struktur der elementaren Systeme und das Denken der entsprechenden ele-
mentaren Schulen, lassen jedoch keine von ihnen auf den Fahrersitz: Dort
sitzt Eklektik.
Ein Hauptgrund dafür, warum sich so viel ökonomische Initiative der Ge-
genwart im taoistisch-konfuzianisch-buddhistischen Ostasien findet, ist eine
viel ausgeprägtere Fähigkeit, eklektisch zu denken und zu handeln. Ein eher
sowohl-als-auch- als entweder-oder-Denken. Doch selbst wenn es dem
Abendland gelungen wäre, etwa das Judentum, das Christentum und den Is-
lam miteinander zu verbinden, so sind diese drei einander doch zu ähnlich,
um ihre Anhänger geistig auf einen echten ökonomischen (oder ge-
sellschaftlichen, kulturellen, politischen) Eklektizismus vorzubereiten.
These Nr. 3: Eine notwendige Bedingung für Entwicklung jeder Art ist die
dezentralisierte Verteilung von Produktionsfaktoren auf alle, so daß poten-
tiell jeder an irgendeiner Produktion und nicht nur am Verbrauch teilnimmt.
Der Kerngedanke ist Dezentralisation - bedeutsam für alle Systeme, auch das
Rote. Es gibt keinen inhärenten, zwingenden Grund, warum die in der So-
wjetunion praktizierte Rote Schule nicht anstatt des Etatismus eine Form des
Kommune-ismus oder zumindest eines Republik-ismus (state-ismlcommune-
ismlrepublic-ism) angenommen haben könnte (mit welchem Erfolg, ist eine
andere Frage). Der Hauptgrund war wahrscheinlich ein nicht bedachter Syl-
logismus etwa der folgenden Art:
Prämisse 1: Grundlegender Wandel setzt zentrale Macht auf staatlicher
Ebene voraus.
Prämisse 2: Öffentliches Eigentum bedeutet einen grundlegenden Wandel.
Schluß: Öffentliches Eigentum setzt zentrale Gewalt auf staatlicher
Ebene voraus.
Die erste Prämisse, daß absolute territoriale Kontrolle notwendig war, ist viel-
leicht akzeptabel; und ebenso die zweite Prämisse. Wenn jedoch der Schluß
nicht folgt und in seinen Konsequenzen verhängnisvoll war, dann liegt dies
daran, daß "grundlegender Wandel" in den beiden Prämissen verschiedenes
bedeutet. Doch ein System, das auf der Ebene der Gemeinden auf Planung be-
ruhte und von der Spitze her nur mit sehr schwacher Koordination und mit
wenig Er- und Entmutigungen arbeitete, ist alles andere als unvorstellbar. 2S7
257 Hier gäbe es im Vergleich mit Gelb sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede. In
Gelb arbeiten (Zentral-)Staat und (Zentral-)Markt Hand in Hand und koordinieren
310 Entwicklungstheorie
258 Siehe für mehr Details über lokale oder nationale Selbsthilfe Johan Galtung: "Self-
Reliance", Kapitel 9.2, in: The True Worlds, New York 1980, S. 398 - 413; "Self-
312 Entwicklungstheorie
These Nr. 6: Die dritte Produktionspriorität liegt beim Export; bei immer
höheren KIN- (Verarbeitungs- )Niveaus, am besten auf nationaler, (über- )re-
gionaler und internationaler Ebene und in einer Gelben Wirtschaft.
Die Grundregel lautet weiterhin, nie Rohmaterialien, unter Einschluß von
Roharbeit, zu exportieren, sondern der Natur (N) eine Form, mit anderen
Worten Kultur (K) aufzuprägen, immer im Streben nach einem höherem
KIN- Verhältnis. Exportintegrierte Kreisläufe also und Silikon-Chips, ganz
zu schweigen von Computern, usw., nie aber Rohmetalle, ganz zu schweigen
von Kartoffelchips.26' Doch dies erfordert Zusammenarbeit zwischen Wissen-
schaftlern und Technikern (für eine hohe KIN-Relation) und Arbeitern, um
eine gute Qualität bei vernünftigen Preisen (hohe QIP-Relation) zu erzielen.
Die Beziehungen zwischen Management und Arbeitern innerhalb der Firmen
müssen stimmen, und die Zusammenarbeit zwischen Staat und Kapital wird
alle Ressourcen der Gesellschaft zur Verstärkung des Exports bereitstellen -
nicht für alle möglichen Produkte, aber für Nischen mit besonders beachtli-
chen und qualitativ hochstehenden Erzeugnissen. Und dies sind alles grund-
legende Eigenschaften der Gelben Wirtschaft.
Eine gewisse internationale Koordination ist jedoch unverzichtbar. Wir
werben hier für die lokale Herstellung derjenigen Produkte, die der Natur
und den Grundbedürfnissen am nächsten stehen, und für die nationale Her-
stellung von Produkten der nächsten Ebene. Im nationalen Rahmen besteht
die Gefahr, daß eine oder mehrere lokale Gemeinschaften den nationalen
Markt beherrschen. Eine durchdachte nationale Entwicklungsplanung würde
jedem Teil des Landes, unter idealen Bedingungen jeder Gemeinde, eine
wichtige ökonomische Rolle in diesem Spiel zuweisen. 262 In eben diesem
Sinne sollte jedes Land in der Welt im Welthandel eine wichtige Rolle spie-
len, dies aber nicht nach Maßgabe der überholten und vertikalen, ungerech-
263 Diese Doktrin bedeutet in der Praxis, daß einigen Ländern Produktionsmuster zu-
gewiesen werden, die in hohem Maße natur- und arbeitsintensiv sind, und anderen
Ländern das entgegengesetzte Muster, das kapital-, technologie- und managementin-
tensiv ist.
264 Hier stellt sich das interessante Problem der Nahrungserzeugung in Städten, die of-
fensichtlich mit einer dreidimensionalen Landwirtschaft, Bewässerung, usw. erfol-
gen müßte, bedenkt man den begrenzten Raum. Es wird noch lange dauern, bis die
Vorstellung überwunden ist, daß Städte Nahrung verbrauchen und das "Land" zu ih-
rer Produktion da ist.
265 Kriege um den Ölnachschub, "die Lebensader der westlichen Welt", wären na-
heliegende Beispiele. Kriege um Wasser warten vielleicht um die nächste Ecke und
ebenso wahrscheinlich Kriege um unverseuchten Boden.
Zehn Thesen zu einer eklektischen Entwicklunstheorie 315
Ländern haben solche Defizite eine andere Folge: den allgemeinen Hunger-
tod, besonders derjenigen, die am meisten verletzlich sind, der Kinder und
der Alten. Beide Problemtypen schließen einander nicht aus.
Dieser Gedankengang gilt auch für die nichtmaterielle Verarbeitung. De-
ren Endprodukte wären hoch ausgebildete Berufstätige (Bearbeitung unbear-
beiteter Köpfe) und eine hochverfeinerte Kultur (Literatur, Kunst, Wissen-
schaft, usw.). Sowohl materieller als auch nichtmaterieller Export könnte
mehr in K und weniger in N stattfinden. In K zu handeln, bedeutet kulturel-
len Austausch, ob nun K einem integrierten Kreislauf oder einem hervorra-
genden Freiberufler inkorporiert ist"" oder in der Luft schwebt wie ein Lied.
Wenn Handel in N nötig ist, dann N gegen N, um die Externalitäten mög-
lichst ausgeglichen zu halten. Das schlimmste Handelsmuster, K gegen N, ist
ein kolonialistisches Residuum, Teil der kolumbianischen Ära der menschli-
chen Geschichte, die seit nunmehr 500 Jahren andauert. Und, um es einigen
Schweizern nachzusagen: 500 Jahre sind genug. 267
Handel ist Kommunikation und die Kommunikation von Kultur ist Kom-
munikation auf einer höheren Ebene als die Kommunikation von Natur. Zu-
sätzlich gibt es auch das Umwelt-Argument: Prinzipiell besteht umso we-
niger Gefahr für die Umwelt, je K-intensiver das ökonomische Handeln ist.
N-intensives Handeln treibt Raubbau und verschmutzt. Intellektuelle zerstö-
ren Wälder, um ihre Bücher gedruckt zu bekommen; doch zeigt dies auch,
wie eng verbunden wir immer noch N-intensiven Formen der Kommunika-
tion sind. Vielleicht ist die elektronische Kommunikation ein Schritt vor-
wärts. Und dies ist auch ein Argument zugunsten der Finanzökonomie im
Vergleich zur Realökonomie: Sie ist im großen und ganzen weniger N-inten-
siv: Papier weicht hier dem Plastik, das immer und immer wieder benutzt
werden kann, wenn elektronische Buchführung dIe Regle übernimmt. Doch
dann sollten auch alle Länder an einer ausgeglicheneren Form der Welt-Fi-
nanzökonomie teilnehmen und dadurch den Begriff der "Weltfinanzmetro-
polen" aushöhlen.
266 Jordanien ist ein Land, das seine Wirtschaft zum großen Teil hierauf stützt. Ange-
sichts seiner fehlenden Ausstattung mit Rohmaterialien, seiner fehlenden oder ge-
ringen Fabrikationskapazitäten, seines Reichtums jedoch an Menschen (flüchtlin-
gen), lautete dessen Lösung, Universitäten zu errichten und Berufstätige zu exportie-
ren gegen Überweisungen in die Heimat. Offensichtlich bringt ein Arzt mehr Geld
als ein Tagelöhner.
267 In Verbindung mit dem siebenhundertsten Jahrestag der Schweizer Republik, 1991,
wurde der Slogan Sieben Hundert Jahre sind genug (dt. i. Orig.) recht häufig geäu-
ßert, auch wenn die konkreten Implikationen nicht ganz deutlich waren. Mehr Parti-
zipation an trans- und supranationalen Organisationen? Die Auflösung der Schweiz
in Regionen oder Kantone?
316 Entwicklungstheorie
These Nr. 10: Und wenn! falls der Prozess scheitert, dann gib nie auf, son-
dern beginne dort neu, wo er fehlgelaufen ist, vielleicht sogar beim Anfang.
1st er erfolgreich, so beginne auch neu, z.B. mit nichtmateriellen Produkten.
Oder sage einfach, das ist es, laß es uns genießen - nur achte darauf, daß die
Wirtschaft nicht degeneriert, sondern dynamisch und reproduktionsfähig
bleibt. Auch Ersatz bzw. Ersetzung ist eine Formel für Entwicklung. Die alte
Geschichte vom westlichen Experten, der den "Eingeborenen" antreibt, här-
ter zu arbeiten, anstatt einige Früchte der Natur im Schatten eines Baumes zu
genießen, und dem "Eingeborenen", der wiederholt nach dem "Warum"
fragt, bis der Experte sagt: "Damit du genug Geld hast, um im Alter dein Le-
ben im Schatten eines Baumes genießen zu können!", hebt einen wichtigen
Punkt hervor. Doch die Ethik des Ersetzens kann ebensowenig zur univer-
sellen Norm stilisiert werden wie die Ethik der Dynamik, ohne vielleicht die
Hälfte der Menschheit zu kolonialisieren.
Eine allgemeine Formel wird sichtbar: Eklektizismus. Besitzen menschli-
che Wesen ein unendliches Potential zur Differenzierung, nicht nur im Ver-
gleich zu anderen, sondern auch relativ zum eigenen Lebenszyklus, dann ist
eine Gesellschaft zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht zumindest einen
Teil dieser Vielfalt widerspiegele" Drückt der Schuh, dann sollten Schuhe
einer anderen Größe leicht erhältlich sein. Daher also die These, daß kreative
Verbindungen der Schulen stärker sind als ihre einfache Summierung.
Grün ist für die Grundbedürfnisse unabdingbar, wie wir in den kommen-
den Jahrzehnten wahrscheinlich in zunehmendem Maße spüren werden. Blau
und Rot sind zu einseitig, zu monotheistisch. Rosa und Gelb sind besser.
Doch am besten ist das Spiel auf der gesamten Klaviatur, so wie sie auf der
Hauptdiagonale erscheinen (Kapitel 2, Appendix): Grün, Rosa und Gelb. Je-
der und jede sollte jederzeit seinen/ihren Platz finden und Lebensbahnen in-
nerhalb und außerhalb der Systeme weben können - und stets versuchen, die
Logik aller fünf Räume zu achten.
268 Ich beziehe mich hier auf Sorokins berühmtes "Grenzprinzip" (die Grenzen der Ge-
sellschaft, bezogen auf die individuelle Vielfalt), die grundlegende These seines Bu-
ches Sodal and Cultural Dynamics, Boston, MA 1957.
5 Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume
hinweg
Angeboten wird uns also eine "Theorie" der Entwicklung, die unfähig ist,
ökologische Ungleichgewichte vorherzusehen, unfähig, die Modernisierungs-
erkrankungen zu berücksichtigen, denen der menschliche Körper (kardiovas-
culäre Erkrankungen und bösartige Tumore), die Psyche (seelische Erkran-
kungen) und der menschliche Geist (ein allgemeines Gefühl der Bedeutungs-
losigkeit) ausgesetzt sind, unfähig, mit Problemen großer Fehlentwicklungen
auf gesellschaftlicher und globaler Ebene umzugehen (man denke an Patriar-
chat, Bürokratisierung, Militarisierung und andere Formen der Kopflastig-
keit, an den Mangel an Partizipation im allgemeinen und handgreifliche Un-
gleichheiten). Der springende Punkt ist nicht, daß die Praxis sich als unfähig
erwies, diese Probleme zu lösen, sondern daß dieser krisengeschüttelte Kör-
per der Theorie sich den Problemen nicht zu stellen vermochte.
Es folgen dementsprechend einige Gedanken zu alternativen Theorien
bzw. einer alternativen Theorie. Es handelt sich um eine völlig andere Be-
trachtungsweise, derzufolge Indien z.B. plötzlich als in grundlegenden Hin-
sichten viel entwickelter erscheint als etwa Norwegen, obwohl letzteres pro
Kopf in konventionellen ökonomischen Begriffen viel reicher ist (jedoch
nicht im Sinne jenes Begriffs von Reichtum, der unten entwickelt werden
soll).
priori sogar noch mehr Verständnis für die anderen drei Räume erwarten, da
wir in ihnen, durch sie und von ihnen leben. Doch aus eben diesem Grund ist
es vielleicht schwieriger, jenen Abstand zu gewinnen, der nötig ist, um zu ei-
nigen fruchtbaren allgemeinen Begriffsbildungen zu gelangen. Wir stehen
uns zu nahe, um uns wahrnehmen zu können, und zuviel steht bei unseren
subjektiven Bewertungen und Interessen auf dem Spiel. Ferner: Ist es nicht
möglich, daß Naturwissenschaftler ganz einfach das Spiel Wissenschaft bes-
ser beherrschen als Geistes- und Sozialwissenschaftler? Oder daß, wie Ein-
stein suggerierte, Naturwissenschaft am leichtesten fällt?
Alles in allem soll jedoch gelten, daß, wenn aus diesen drei Gründen der
Raum Natur in unserem Kontext als Modell der anderen drei gewählt wird,
dies nur einen möglichen Ansatz darstellt, einen, der auf seinen heuristischen
Wert hin überprüft werden soll, wenn wir uns auf die Untersuchung der Be-
dingungen von Reproduktionsfähigkeit bzw. Nachhaltigkeit einlassen.
zeIn der nächsten Ebene finden, öffne dieses, und du wirst das nächste fin-
den, usw. Doch jeder Raum wird durch seine eigene Logik gesteuert; jeder
Raum verfügt über das, was in der dritten Zeile als Code oder als Programm
bezeichnet wird. Die Programme stellen Transformationsregeln dar, sie de-
finieren Prozesse dieses Raumes als ziel suchende Entitäten, eingebunden in
komplexe Rückkopplungsbeziehungen.
So ist jeder Organismus in der Biosphäre des Raums Natur Träger eines
genetischen Codes, der durch Reproduktion übermittelt werden kann. Der ge-
netische Code gibt uns die oberen und unteren Grenzen der Spezies in Be-
griffen von Differenzierung, Komplexität, usw. Dies gilt auch für den kör-
perlichen Aspekt menschlicher Wesen. Doch zusätzlich verfügen Menschen
über ein tieferliegendes Selbst, was wir als Code für den nicht-körperlichen
Aspekt ansehen können, zusammengefaßt im Begriff "Persönlichkeit". Dies
ist es, was uns in den Stand versetzt, eine Person von einem Tag auf den
nächsten wiederzuerkennen, da die Persönlichkeit mehr oder weniger diesel-
be bleibt, auch wenn sich ein Teil ihres Verhaltens ändert, in Abhängigkeit
vom Wetter, von dem, was früh am Morgen geschah, vom Essen, das sie spät
am Abend zu sich oder nicht zu sich genommen hat. Ein dramatischer Aspekt
der geistigen Fähigkeiten des menschlichen Lebewesens besteht in seinem
Vermögen, über die eigene Person nachzudenken und vielleicht sogar die
Persönlichkeit durch eine geistige Transformation zu verändern.
Sodann gibt es den Raum Gesellschaft. Der Code wird hier als in Struktur
und Kultur eingebaut betrachtet, in impliziter Form als Programm, und in die
Ideologie auch in einer expliziten Form - wobei "explizit" soviel heißen soll
wie "ausbuchstabiert".
Im Raum Welt erhöht sich die Komplexität sogar nochmals, da wir es hier
mit umfangreicheren Systemen zu tun haben, die viele Entitäten aus dem ge-
sellschaftlichen Raum zusammenführen. Auf dieser Ebene ist es sinnvoll,
von "Tiefenstruktur" und von "Tiefenkultur" zu reden, womit jene strukturel-
len und kulturellen Elemente gemeint sind, die scheinbar verschiedene Ge-
sellschaften oder Systeme einer Region teilen. Vielleicht kann man sie als
Ausdruck einer "Tiefenideologie" betrachten, die ich als Kosmologie be-
zeichne: die "Persönlichkeit einer Kultur", um es einmal so zu sagen. Und
dies wirft natürlich die Frage auf, ob es so etwas wie einen Code für den ge-
samten Raum Welt gibt, der alles umfasst - eine tiefe menschliche Ideologie
jenseits des genetischen Codes, die die meisten Menschen teilen.
Systemerhaltung: Die beiden Schlüsselbegriffe in der Spalte "System-
erhaltung" sind "Bedürfnisse" für die Räume Natur und Mensch sowie "In-
teressen" für die Räume Gesellschaft und Welt. Wir werden sie als die condi-
tio sine qua non für die Erhaltung eines Systems definieren. Werden die Be-
dürfnisse eines Organismus nicht befriedigt, dann löst sich dieser Organis-
mus auf; dies gilt auch für Menschen. Am besten lassen sich unsere Bedürf-
nisse wahrscheinlich verstehen, wenn wir die Struktur und Funktion des
328 Entwicklungstheorie
sterns sozialer Systeme, handele es sich bei letzteren nun um ein regionales
oder um ein weltumfassendes Gebilde? Wie könnte man z.B. heute "nationa-
le Interessen" verstehen? Um eine lange Debatte abzukürzen: Die hier bezo-
gene Position besteht ganz einfach darin, daß ein soziales System nur ein
einziges legitimes Interesse hat: dasjenige der Befriedigung der grundlegen-
den Bedürfnisse seiner Mitglieder, seien diese nun biologischer oder nicht-
biologischer Art. Hier läßt sich darüber streiten, um welche Mitglieder es
sich handelt: Geht es nur um menschliche Lebewesen oder auch um andere
biologische Organismen? Um alle Tiere oder nur um einige von ihnen? Ich
will nicht behaupten, hier eine Antwort zu haben, fühle allerdings, daß diese
Fragen nie von der Agenda einer friedlichen, entwickelten Gesellschaft ge-
strichen werden sollten.
Die Zurückführung von Interessen auf Bedürfnisse gilt gleichermaßen im
Falle komplexerer Räume, einschließlich des Raumes Welt. Dessen Interesse
besteht in der Befriedigung der Interessen seiner Mitglieder, die Interessen
dieser Mitglieder wiederum bestehen darin, die Bedürfnisse ihrer Mitglieder
zu befriedigen. Da aber letztere schließlich vom endlichen Raum der Natur
abhängen, gibt es eine Grenze für die Bio-Bedürfnisse aller Organismen. Und
da die Bedürfnisse der Organismen auch vom Unbelebten abhängen, ist das
Ausmaß, in dem man dieses zerstören kann, notwendigerweise begrenzt. So
sind wir letztlich abhängig von einem ökologischen Gleichgewicht in einem
Super-Raum, der alle vier Räume umfaßt. Kurz gesagt: der Primat der Natur.
Systemreife: In der fünften Zeile "Systemreife" kommt die kühne An-
nahme in's Spiel, Systemreife sei abhängig vom Ausmaß der Vielfalt, ver-
bunden mit dem Ausmaß an Symbiose zwischen jenen Komponenten, die für
Viefalt sorgen. Je höher der Grad der Systemreife, umso elastischer ist das
System und umso reproduktionsfähiger, letzteres sowohl im Sinne der
Selbsterhaltung und der Erschaffung neuer Generationen wie auch im Sinne
der Entwicklung von Widerstandskraft gegenüber unterschiedlichen Typen
von Beschädigungen, ja, sogar im Sinne eines sich-selbst-Ziele-Setzens im
vorgegebenen Rahmen der Systemreife.
In allen Räumen erfordert dies eine Vielfalt von Typen und Symbiosen.
Im Raum der Natur wollen wir diese Typen als Biotope, im menschlichen
Raum als Homatope und in den Räumen Gesellschaft und Welt als Soziotope
bezeichnen. Wir wollen ferner von einer Logik der Chinesischen Kästchen
ausgehen. Der Raum der Welt ist ein extrem reiches Soziotop, steht jedoch
bis jetzt mit keiner anderen Welt in Interaktion. (Wir hätten sonst von Mun-
datapen gesprochen.) Innerhalb dieses Soziotops befinden sich soziale Sy-
steme, die Exemplare ein und desselben Soziotops oder verschiedener Sozio-
tope sein können; innerhalb dieser sozialen Systeme können sich auf niedri-
geren Komplexitätsebenen wieder gleiche oder unterschiedliche Soziotope
befinden, bis wir an der Basis Homotope erreichen, menschliche Lebewesen,
die denselben oder verschiedenen Typen angehören können und die in sich
330 Entwicklungstheorie
ten einer philosophischen Wildnis: Die Weisheit der Natur läßt sich überset-
zen in moralische Befehle und Normen, aber diese sind nicht die Normen so-
zialer Gerechtigkeit oder Gleichheit. Zudem meint der Begriff der Symbiose
auch keinen Ausgleich zwischen mehr oder weniger günstig ausgestatteten
Entitäten; darum geht es aber bei den Begriffen sozialer Gerechtigkeit und
Gleichheit. Gerechte Symbiose ist eher ein relationales Konzept, das sich auf
die Interaktion zwischen Entitäten bezieht, wobei "gerecht" meint, daß alle
Parteien etwa gleich viel profitieren sollten. Diese Gerechtigkeit sollte der In-
teraktion selbst entstammen, als strukturell und nicht durch Verteilung er-
zeugte Gleichheit.
Es liegt hierin ein Element zirkulärer Argumentation. Einerseits sind wir an
entwickelten und gleichzeitig friedlichen Systemen interessiert; andererseits
stellt die Bereitschaft, in billige und gerechte Beziehungen einzutreten, eine
Entwicklungsbedingung des Systems dar. Dies ist nicht unbedingt problema-
tisch. Man kann vermuten, daß, wenn das System einmal eine gewisse Ebene
der Differenzierung erreicht hat, diese Differenzierung, durch Symbiose, ein
Mehr an Differenzierung erzeugen würde. Differenzierung speist sich gewis-
sermaßen aus sich selbst. Als Ergebnis entsteht ein mehr und mehr elastisches
System, widerstandsfähig gegenüber Beschädigungen von innen und von au-
ßen. Es gibt eine positive Dialektik zwischen Frieden und Entwicklung, in der
Bedeutung, die hier diesen komplexen Begriffen gegeben wurde.
Eine Konsequenz ist hier das Bild eines starken Individuums im Raum
Mensch: eines Individuums, das innerhalb seines bzw. ihres Selbst das Auf-
tauchen, Interagieren, Entwickeln und Reifen verschiedener Tendenzen be-
günstigt. Der innere Dialog menschlicher Lebewesen ist ebenso wichtig wie
derjenige zwischen ihnen. Man betrachte Gandhi als Beispiel: Der Heilige
und der Politiker gehen in eins über, wobei beide miteinander auf hochsym-
biotische Art und Weise interagieren, ohne daß der Heilige den Politiker aus-
getrieben oder der Politiker den Heiligen eliminiert hätte. Man sehe den
Kontrast zu anderen Tendenzen in vielen Gesellschaften, vielleicht insbe-
sondere in der modernen abendländischen Kultur, menschliche Wesen in ein
Prokrustes-Bett zu zwingen, in dem eine begrenzte Anzahl von Eigenschaf-
ten als karrierefördernd und nützlich für die Gesellschaft entwickelt, und dem
Menschen im übrigen beigebracht wird, sich selbst dazu zu bringen, andere
Neigungen zu unterdrücken. Die nachdrückliche Dichotomisierung von Leib
und Seele verlangt entweder den Heiligen oder den Politiker, den Priester
oder den Kaufmann, die Kathedrale oder die Börse - niemals beide.
Natürlich gibt es einen Ausweg: die Segmentierung der Neigungen, d.h.,
eine Person bei der Arbeit zu sein, eine ganz andere in der Familie und wie-
der eine ganz andere in dem Leben, das sie oder er in der Zeit der Muße,
beim Hobby, unter Gleichgesinnten führt. Dieser Formel fehlender Aus-
tauschzyklen bzw. ausfallender Interaktion zwischen den Homotopen inner-
halb des menschlichen Lebewesens haftet etwas Schizophrenes an. Er oder
332 Entwicklungstheorie
sie bezahlt vielleicht teuer: Der Preis für die Unterdrückung wichtiger Nei-
gungen im Inneren des Menschen, die aufzutauchen und sich zu entwickeln
streben, kann in bösartigen Tumoren, aber auch in Schizophrenie oder ande-
ren Formen seelischer Erkrankungen bestehen.
Von hier aus ist es bis zum Raum Gesellschaft nur ein kurzer Schritt. Eine
starke Gesellschaft im hier entwickelten Sinne verbände Soziotope miteinan-
der und ließe sie in kreativer Weise miteinander in Austausch treten. Dies
würde nicht allein auf Marktmechanismen oder allein auf Planungsprozessen
beruhen, sondern auf beiden, auf verschiedenen Ebenen und in verschiede-
nen Verbindungen. Es würde nicht allein auf Zentralismus oder auf Dezen-
tralisierung beruhen, sondern auf beidem. Das Nettoergebnis wäre eine Ge-
sellschaft mit sehr viel komplexerer ökonomischer und politischer Aktivität,
als man heute in den meisten "entwickelten" Ländern findet, in der sich etwa
ein stärker kapitalistischer und ein mehr sozialistischer Sektor, auf lokaler
Ebene wie auf den Makroebenen sozialer Organisation, miteinander verbän-
den. Grün, Rosa und Gelb zugleich, doch nur insoweit sie einander in relativ
sanften Formen tolerieren. Der Autoritarismus von Dunkelblau und Dun-
kelrot allein würde als Verletzung der "Weisheit der Natur" ausgeschlossen,
zugunsten einer ökonomischen Artikulation im lokalen wie im nationalen
Rahmen als Markt sowohl wie als Plan. Und zugunsten einer politischen Ar-
tikulation, ebenfalls lokal wie national, als indirekte und als direkte Demo-
kratie - als Auswahlmechanismus für Repräsentanten und Delegierte wie
auch als ein Weg allgemeiner Partizipation. Partizipation ist ein möglicher
Input, dessen Output nicht nur in gesellschaftlicher, sondern auch in mensch-
licher Entwicklung besteht.
Doch wie steht es um den Raum Welt? Wo haben wir eine Theorie dieser
Art für die globale Ebene? Merkwürdig genug, sind wir wahrscheinlich mit
der sowjetischen Theorie (der Dreißiger Jahre) einer "aktiven und friedlichen
Koexistenz zwischen den zwei Systemen" einer solchen Theorie am nächsten
gekommen. Der Grundgedanke ist der, daß Sozialismus und Kapitalismus
weltweit "koexistieren" können, mit anderen Worten, daß die Welt mehr als
ein Soziotop enthalten kann; daß die Koexistenz "aktiv", und das heißt sym-
biotisch, und zugleich "friedlich", duldsam gegen diese Unterschiede sein
sollte. So finden sich in der sowjetischen Formel beide Komponenten des
ökologischen Denkens.
Doch bedarf diese Feststellung sofort der Qualifizierung durch drei kriti-
sche Hinweise:
(1) Ist dies wirklich eine so gute Theorie für die Welt, warum sollte man sie
dann nicht auch innerhalb der Gesellschaft verwenden? Warum gab es in-
nerhalb der früheren Sowjetunion nicht einige kapitalistische und einige so-
zialistische Republiken - auch wenn dies bedeutet hätte, den Namen des
Landes zu ändern?
Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg 333
(2) Warum sollte es nur Koexistenz zwischen zwei Systemen geben? Warum
nicht zwischen verschiedenen Systemen, auch wenn man die Annahme preis-
geben müßte, daß Kapitalismus und Sozialismus den Bereich der menschli-
chen Vorstellungskraft erschöpfen, was sicherlich nicht der Fall ist. Oder ha-
ben wir es hier mit der üblichen okzidentalen Fixierung auf die Zahl 2 als
Teil der manichäischen Faszination von Dichotomien zu tun (wie sie in
Russland als Bogomilismus besonders gut bekannt ist)?
(3) Und weiter, war dies eine Theorie für den Zielzustand der Welt oder nur
für den Übergang zu einer Welt mit bloß einem Soziotop, den sozialistischen
Ländern? War dies einfach eine bequeme Formel, weil der Kapitalismus zu
stark und noch nicht hinreichend in der Krise war, um sich sein eigenes Grab
zu schaufeln?
Trotz der Gültigkeit dieser drei Einwände weist die Formel ganz ohne Zwei-
fel auf etwas sehr Wichtiges hin. Und sie gibt eine Grundlage für die Konver-
genz des Denkens nicht nur zwischen den vier Räumen, so wie dies hier be-
schrieben wurde, sondern auch zwischen den ideologischen Lagern der Welt
von gestern, indem sie die Toleranz und den Pluralismus, den die kapi-
talistisch-liberalen Gesellschaften proklamieren, mit Gedankengut des sozia-
listischen Lagers verbindet. Hätte die Sowjetunion ihrer eigenen Theorie im
eigenen Land die entsprechende Praxis folgen lassen, dann wäre es ihr nach
1990 bedeutend besser ergangen. Und dasselbe könnte man über die Verei-
nigten Staaten sagen.
geschert haben. Gleichgewicht ist der Schlüssel zur Gesundheit, aber dies ist
nur eine andere Redewendung dafür, in sich selbst viele Blumen wachsen zu
lassen.
Die Logik bleibt dieselbe, wenn wir nun zum Raum Gesellschaft überge-
hen. Eine Gesellschaft, die sich der Marktkräfte wie der Kräfte der Planung
bedient, ist stärker, vorausgesetzt, sie hat nicht nur Vielfalt im quantitativen
Sinne erreicht, sondern auch Symbiose der beiden im Sinne von Inteniktion.
Sie ist stärker wegen des Zusammenflusses der Energien, der der Interaktion
entwächst, wobei die Planung eine milde Steuerungsfunktion auf den Markt
ausübt und einige der Schäden beseitigt, die dessen Sozialdarwinismus ent-
stammen, während zugleich der Markt der Planung Kraft einflößt, nicht zu-
letzt dadurch, daß er ihr etwas zu planen gibt. Doch es gibt auch noch ein
weiteres Moment: Scheitert eine der beiden Komponenten, z.B. weil der
Weltmarkt zusammenbricht oder weil die Planung zu starr wird, so gibt es
immer noch die andere. Auf zwei Beinen steht es sich besser als auf einem;
auf drei (vier, fünf) Beinen noch besser, wenn man die lokale Grundlage der
Ökonomie miteinschließt.
Und die politische Ordnung? Tatsächlich liefert dieser Ansatz als ganzer
sogar eine theoretische Basis für Demokratie, denn was ist Demokratie an-
deres als gerade die symbiotische Interaktion zwischen verschiedenen Par-
teien?
Festzustellen ist, daß beide Bedingungen zu jenen Pfeilern gehören, die
die Grundlage der Demokratie darstellen. Gibt es keine Vielfalt, sondern nur
Uniformität, Homogeneität, nicht nur im Hinblick auf Einstellungen und
Überzeugungen, sondern auch im Hinblick auf Handlungen und Strukturen
innerhalb der Grenzen einer Gesellschaft, wozu soll Interaktion dann gut
sein? Und gibt es nur einen Pluralismus der Einstellungen und der Soziotope,
aber keine Interaktion zwischen ihnen, dann mag man natürlich eine Demo-
kratie im Sinne des Abzählens von Mehrheiten zwischen den individuellen
und kollektiven Akteuren bekommen, doch nicht den ganzen Reichtum des
Systems, der sich gründet auf Geben und Nehmen, Lernen und Lehren, auf
dem Sich-Aneinander-Reiben von Einstellungen, Handlungen und Struktu-
ren, dem gemeinsamen dialektischen Sich~Entwickeln, auf der Achtung, ja
auf dem Genuß des Lebensrechts der anderen Einstellung und des anders
Handelnden. Kurzum, dieser Diskurs umfaßt nicht nur die Liebe und sexuelle
Reproduktion, sondern auch schon die ganze Grundlage des demokratischen
Denkens. Und dies betrachte ich wieder als eine Bestätigung seiner Gültig-
keit.
Sind dies nun die Kennzeichen einer Gesellschaft, dann sollte die Rekon-
struktion im Prinzip leicht fallen. Das gesamte System ist in Bewegung, or-
ganisch. Wird es an einem Punkt getroffen, ist es vielleicht beschädigt, doch
steht in einem reifen System rundherum viel Material zur Rekonstruktion zur
Verfügung. Und im Prinzip gilt das gleiche für den Raum Welt: je einheitli-
Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg 335
lang jeden Morgen den Zustand von Körper, Psyche und Geist eines Men-
schen überprüft, bis hinreichend deutlich ist, daß keine weitere Erholung
stattfindet. Freilich ist das menschliche Reproduktionsvermögen von einer
Generation zur nächsten extrem widerstandsfähig, so daß es im Raum
Mensch eher eine ontogenetische als eine phylogenetische Ausbeutung gibt,
um es einmal so auszudrücken. Die biogenetische Übertragung ist robust, so-
gar nach dem nuklearen Genozid an zwei japanischen Städten.
Eine Gesellschaft, die nicht länger imstande ist, sich selbst zu rekonstruie-
ren, ist eine Gesellschaft, die ihrer Fähigkeit zur autonomen Reproduktion
beraubt wurde. Hier liegt nicht nur eine Schädigung von Interessen vor, es
mangelt zugleich an der Fähigkeit, diese Schädigung aufzuheben. Dies ge-
schieht auch im Raum Welt. Es ist bekannt, daß Kulturen entstehen, reifen,
expandieren und dann schrumpfen, altersschwach werden, bevor sie schließ-
lich sterben. Die Metapher, die Naipaul für Indien gewählt hat: eine "ver-
wundete Kultur", ist angemessen. Doch vielleicht trifft sie für Indien nicht
zu, angesichts der extremen Widerstandskraft dieser besonderen Zivilisation,
die ein sehr einfacher Indikator bezeugt: Sie besteht zumindest 3500 Jahre,
und das ist mehr, als von den meisten anderen Kulturen gesagt werden kann.
Die Verletzung der Reproduktionsfähigkeit bedeutet nicht notwendiger-
weise Tod. Reproduktion ist selbsterzeugt, autonom; doch können Anstöße
auch von außen kommen, wenn das System nicht geschlossen ist. Der Raum
Natur kann künstlich am Leben erhalten, aufrecht erhalten werden durch
Dünger und Pestizide; der Raum Mensch durch biochemische und andere
Arten des ,human engineering', ebenso der Raum Gesellschaft, wie es heute
etwa mit der Dritten Welt mittels Entwicklungshilfe und Verschuldungspro-
grammen geschieht.
Eine notwendige Bedingung besteht natürlich darin, daß es in den vier
Räumen andere Entitäten gibt, die imstande sind, diese Hilfe auszubauen. Im
allgemeinen besteht das Ergebnis wahrscheinlich darin, daß das "verletzte
System" als autonomes System verschwindet, einem Supersystem, dessen
Bestandteil der Spender ist, einverleibt wird und dabei einige Eigenschaften
des Gebers übernimmt. Als ein autonomes System ist es nun allerdings tot. In
gängiger Terminologie: Hier handelt es sich vielleicht um Nachhaltigkeit,
nicht aber um Reproduktionsfähigkeit.
Erhaltungsziel: Dies bringt uns zur letzten Reihe: Was ist das Ziel dieser gan-
zen Übung in Systemerhaltung? Dieses Ziel besteht nicht in der Reife des
Systems als solcher - diese ist eher eine Bedingung, auf der aufzubauen ist.
Für den Raum Natur besteht das Ziel in der ökologischen Stabilität, und das
heißt in einem System, das die Menschen auch als Ressource benutzen kön-
nen, ohne seine Reproduktionsfähigkeit zu verletzen. Reife ist eine Bedin-
gung dieser Stabilität. Doch Stabilität reicht weiter, sie muß gehegt und dar-
über hinaus entwickelt werden.
Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg 337
zwar umfassend, müssen aber nicht totalitär sein. Besser kleine Bewegungen
in allen Räumen in Richtung Entwicklung als große Sprünge in nur eine
Richtung.
Teil IV: Zivilisationstheorie
1 Kulturelle Gewalt
269 Das Konzept der "kulturellen Gewalt" tritt in die Fußstapfen des Konzepts der
"strukturellen Gewalt"; vgl. Johan Galtung: Violence, Peace and Peace Research, in:
Journal 0/ Peace Research, Bd. 6, 1969, Nr. 3, S. 167-191. Für eine neuere, sehr
konstruktive Kritik und Bemühung, den Ansatz weiterzuentwickeln, s. Michael Roth:
Strukturelle und personale Gewalt: Probleme der Operationalisierung des Ge-
waltbegriffs von Johan Galtung. HSFK-Forschungsbericht, Nr. I, April 1988. Ein
ähnliches Konzept hat Hans Saner eingeführt: Personale, strukturelle und symboli-
sche Gewalt, in: ders.: Hoffnung und Gewalt. Zur Ferne des Friedens. Basel 1982, S.
73-95.
342 Zivilisationstheorie
270 Es hat viele Versuche gegeben, den "neuen Menschen" zu schaffen. In der westli-
chen Welt stellte jeder neue Zweig des Christentums einen solchen Versuch dar, aber
das gilt auch vom Humanismus oder Sozialismus. Aber die Imprägnierung irgend-
welcher Menschen mit irgendeiner Kultur ist in sich selbst ein Akt direkter Gewalt
(da vom Akteur beabsichtigt), der in der Regel die Desozialisierung aus einer und die
Resozialisierung in einer anderen Kultur impliziert - einschließlich der allerersten
Sozialisation des jungen (wehrlosen) Kindes. Wenn Kultur jedoch conditio sine qua
non eines menschlichen Wesens ist, wir ohne diese (nur mit Dispositionen dazu) ge-
boren wurden und der Vorgang kultureller Sozialisation ein Akt der Gewalt ist, dann
sind wir mit dem Grundproblem von Erziehung konfrontiert: Ist "bilden" (to edu-
cate) ein transitives oder ein intransitives Verb? Natürlich ist es beides, hermeneu-
tisch betrachtet. Friedliche Erziehung, Sozialisation eingeschlossen, würde wahr-
scheinlich, wie unten begründet, ein Sich-verschiedenen-Kulturen-Aussetzen mit
nachfolgendem Dialog bedeuten. Weder das Christentum noch der Humanismus
überzeugen hierin, und tatsächlich wissen wir immer noch nicht, wie man es tun
sollte. Festgehalten werden sollte, daß der Vorgang, jemandem, gleich ob direkt oder
strukturell, eine Kultur aufzuzwingen, nicht das ist, was hier mit kultureller Gewalt
gemeint ist. Kulturelle Aspekte jedoch, die diesen Zwang rechtfertigen, mit der Be-
gründung etwa, diese Kultur sei "höher" (oder monotheistisch, modern, wissen-
schaftlich etc.), würden in diese Kultur eingebaute Gewalt darstellen, mit anderen
Worten: kulturelle Gewalt. "Tatsächliche oder potentielle Legitimation von Gewalt"
ist also das Erkennungszeichen kultureller Gewalt.
Kulturelle Gewalt 343
nismus wäre der einer Internalisierung. 271 Die Analyse kultureller Gewalt
hebt die Art und Weise hervor, in der der Akt direkter und die Gegebenheit
struktureller Gewalt legitimiert und so für die Gesellschaft akzeptabel ge-
macht werden. Kulturelle Gewalt funktioniert zum einen dadurch, daß sie die
"moralische Färbung" einer Handlung von rot/falsch auf grün/richtig oder
zumindest auf gelb/akzeptabel schaltet; ein Beispiel hierfür wäre: "Töten zu-
gunsten seines Landes ist gerechtfertigt, zu eigenen Gunsten jedoch unge-
rechtfertigt." Zum anderen macht sie die Realität so undurchsichtig, daß wir
eine gewalttätige Handlung oder Tatsache überhaupt nicht wahrnehmen oder
sie zumindest nicht als solche erkennen. Das ist bei manchen Formen von
Gewalt offensichtlich einfacher als bei anderen (man denke etwa an den ab-
ortus provocatus). Deshalb benötigt die Friedensforschung in ähnlicher Wei-
se eine Gewalttypologie, wie die Pathologie zu den Voraussetzungen der Me-
dizin gehört.
Das Ergebnis besteht in acht Typen von Gewalt mit einigen Untertypen, die
im Falle direkter Gewalt leicht identifiziert werden können, im Falle struktu-
reller Gewalt jedoch komplexer sind.
Eine erste Anmerkung zu Tabelle 4.1 könnte sein, daß sie anthropozen-
trisch ist. Wir könnten damit beginnen, eine fünfte Spalte für den "Rest" der
Natur, als sine qua non des menschlichen Daseins, hinzuzufügen. "Ökolo-
gisches Gleichgewicht" ist wohl die am häufigsten verwendete Bezeichnung
für die Erhaltung des Umweltsystems. Wird dieses nicht gewahrt, kommt es
zu Degradation, Zusammenbruch oder Unausgewogenheit der Ökosphäre.
Für die grundlegende Erhaltung des Menschen ist das ökologische Gleich-
gewicht von der gleichen Bedeutung wie die Summe aus Überleben + Wohl-
befinden + Freiheit + Identität. Die Summe aller fünf zusammengenommen
definiert "Frieden".
"Ökologisches Gleichgewicht" ist jedoch eine sehr weite Kategorie, die
Belebtes (Biota) und Unbelebtes (Abiota) gleichermaßen umfaßt. Gewalt,
definiert als Beeinträchtigung des Lebens, wäre auf die belebte und nur indi-
rekt auf die unbelebte Natur gerichtet. Darüber hinaus ergeben sich schwieri-
ge und wichtige Fragen, wie zum Beispiel: Gleichgewicht für wen? Für die
Menschen, um sich zu reproduzieren? Auf welcher Stufe wirtschaftlicher
Aktivität und für welche Anzahl? Oder gälte die Gleichgewichtsforderung
für die "Umwelt" (was für ein anthropozentrischer Begriff!), um sich selbst
zu reproduzieren? Für alle Teile, gleichgewichtig, auf welcher Stufe, in wel-
cher Anzahl? Oder gälte sie für Mensch und Umwelt?
Zweitens sollten auch die Mega-Versionen der obigen unscheinbaren
Worte betrachtet werden, die die verschiedenen Arten von Gewalt bezeich-
nen. Für "Töten" setze man ein Auslöschung, Holocaust, Völkermord. Für
"Elend" stiller Holocaust. Für "Entfremdung" geistig-seelischer Tod. Für
"Repression" Gulag/KZ. Für "ökologische Degradierung" Ökozid. Für alles
zusammen: Omnizid. Diese Worte mögen sich anhören wie der Versuch, apo-
kalyptisch zu sein, wäre da nicht die Tatsache, daß die Welt allein in den ver-
gangenen 50 Jahren all diese Dinge erlebt hat - eng verbunden mit den Na-
Kulturelle Gewalt 345
men Hitler, StaUn und Reagan 27J sowie mit dem japanischen Militarismus 274 •
Kurz gesagt, mögen Gewaltstudien als unerläßlicher Teil von Friedensstu-
dien auch ein Horrorkabinett sein, so reflektieren sie doch, der Pathologie
vergleichbar, eine Realität, die man kennen und verstehen muß.
Noch einige weitere Anmerkungen zum Inhalt der oben dargestellten Ta-
belle. Die erste Gewaltkategorie "Töten" ist klar genug, ebenso wie die des
Verstümmeins. Zusammengenommen bilden sie die der Abschätzung des
Ausmaßes eines Krieges dienenden "Verluste". Aber "Krieg" ist nur eine be-
stimmte Form orchestrierter Gewalt, an der normalerweise mindestens ein
Akteur, eine Regierung, beteiligt ist. Deshalb ist es völlig unzureichend, Frie-
den nur als das Gegenteil von Krieg zu betrachten und Friedensforschung auf
Analysen zur Verhinderung von Kriegen und insbesondere auf die Vermei-
dung von Groß- oder Superkriegen (als Kriegen zwischen Groß- oder Super-
mächten) oder noch enger auf die Begrenzung, Abschaffung oder Kontrolle
von Super-Waffen zu beschränken. Wichtige Querverbindungen zwischen
verschiedenen Arten von Gewalt bleiben dabei unberücksichtigt, insbe-
sondere aber die Art und Weise, wie die Reduktion oder Kontrolle eines Ge-
walttyps um den Preis der Aufrechterhaltung oder gar Verstärkung eines an-
deren durchgesetzt wird. Ebenso wie die sogenannten "Nebenwirkungen" in
der Krankheitsbekämpfung sind sie von großer Bedeutung, werden aber
leicht übersehen. Die Friedensforschung sollte diesen Fehler vermeiden.'"
Unter den Begriff des Verstümmelns fällt auch die durch Belagerung/
Blockade (klassischer Begriff) und Sanktionen (moderner Begriff) hervorge-
rufene Verletzung menschlicher Bedürfnisse. Manchen gilt dies als "Gewalt-
losigkeit", weil direktes und unmittelbares Töten vermieden wird. Für die
Opfer kann es jedoch bedeuten, durch Unterernährung und das Fehlen medi-
zinischer Versorgung langsam, aber absichtlich getötet zu werden, wobei die
Schwächsten, die Kinder, die Alten, die Armen, die Frauen, zuerst betroffen
sind. Indem er die Ursachenkette verlängert, vermeidet es der Akteur, sich
der Gewalt direkt stellen zu müssen. Er gibt seinen Opfern sogar "eine Chan-
ce", die normalerweise darin besteht, sich zu ergeben, was den Verlust der
Freiheit und Identität anstelle des Verlustes von Leben und Gliedmaßen, oder
273 Als einen Versuch des Vergleichs dieser drei Systeme (und nicht einfach des Hitle-
rismus und Stalinismus, wie im Glasnost-Revisionismus üblich) s. J. Galtung: Hitle-
rismus, Stalinismus, Reaganismus. Drei Variationen zu einem Thema von Orwell,
Baden-Baden 1987.
274 Es gibt hier starke Ähnlichkeiten, die sich um die Shinto-Themen der Erwähltheit
herum aufbauen. Für eine Analyse derselben vgl. Saburo Ienaga: The Pacific War:
1931-45, New York 1978, besonders S. 154, den Begriff hakko ichiu (die acht Wei-
tenden unter einem Dache) betreffend.
275 Ein bequemer Ansatz ist es, alle "Nebeneffekte" an der Schwelle anderer Disziplinen
abzuladen und von diesen zu verlangen, für konzeptionelle Klarheit zu sorgen, theo-
retisch und praktisch - wie Ökonomen es zu tun pflegen.
346 Zivilisationstheorie
anders: den Eintausch der letzten zwei genannten Arten direkter Gewalt ge-
gen die ersten zwei bedeutet. Der dahinterliegende Mechanismus bleibt je-
doch die durch Belagerung, Boykott oder Sanktionen hervorgerufene Bedro-
hung der Lebensgrundlage. Der in der Tradition Gandhis stehende Typ des
Wirtschaftsboykotts kombinierte die Weigerung, britische Textilien zu kau-
fen, mit der Sammlung von Geld für die vom Boykott betroffenen Händler,
um seine Absichten nicht durch die Bedrohung deren Überlebens zu entstel-
len.
Die Kategorie ..Entfremdung" kann sozialisationstheoretisch im Sinne ei-
ner spezifischen Internalisierung von Kultur definiert werden. Dies beinhaltet
einen Doppelaspekt: von der eigenen Kultur weg- und in eine andere Kultur
hineinsozialisiert zu werden; ein Beispiel wäre das Verbot der eigenen und
der Zwang zur Verwendung einer fremden Sprache. Zwar setzt das eine das
andere nicht voraus, aber oft treten sie zusammen auf, was sich fassen läßt
durch die Kategorie der Staatsbürgerschaft zweiter Klasse. Dabei wird die
unterdrückte Gruppe, nicht notwendigerweise eine ..Minderheit", gezwun-
gen, zumindest in der Öffentlichkeit anstatt der eigenen einer dominanten
Kultur Ausdruck zu verleihen. Das Problem besteht natürlich darin, daß jede
Sozialisierung eines Kindes - in der Familie, in der Schule, in der Gesell-
schaft generell - mit Zwang durchgesetzt wird, also eine Art Gehirnwäsche
darstellt, die dem Kind keine Wahl läßt. Konsequenterweise ließe sich dar-
aus, und das wäre nicht allzu weit hergeholt, schließen, daß eine nicht ge-
walttätige Sozialisation darin bestünde, dem Kind eine Wahl zu lassen, ihm
also z.B. mehr als ein kulturelles Idiom anzubieten.
Die Kategorie ..Repression" weist einen ähnlichen Doppelsinn auf: die
..Freiheit von" und die ..Freiheit zu", wie sie, mit historischen und kulturellen
Begrenzungen/76 in der Internationalen Menschenrechtscharta277 verankert
ist. Zwei weitere Kategorien habe ich wegen ihrer Bedeutung als Begleiter-
scheinungen anderer Arten von Gewalt explizit hinzugefügt: Haft, das heißt,
Menschen einzusperren (in Gefängnisse, Konzentrationslager), und Vertrei-
bung/Ausweisung, was bedeutet, Menschen auszusperren (sie ins Ausland
oder an abgelegene Orte zu verbannen).
Um die Kategorien struktureller Gewalt diskutieren zu können, benötigen
wir die Vorstellung einer Gewaltstruktur und ein Vokabular, einen Diskurs,
um ihre einzelnen Aspekte identifizieren und feststellen zu können, in wel-
cher Beziehung sie zu den Bedürfniskategorien stehen. Meines Erachtens
bildet Ausbeutung den Kernbereich der archetypischen Gewaltstruktur. Dies
276 Vgl. hierzu J. Galtung: Menschenrechte - anders gesehen, Frankfurt/M. 1994, Kap.
2.
277 Ein Dokument, das aus der Allgemeinen Erklärung von 1948, den beiden Ergänzun-
gen von 1966 und dem Freiwilligen Protokoll besteht. Die Charta hat noch nicht die
Anerkennung gefunden, die sie verdient, neben anderen Gründen auch deswegen,
weil die USA es nicht geschafft haben, alle Ergänzungen zu ratifizieren.
Kulturelle Gewalt 347
bedeutet nichts anderes, als daß manche, nämlich die sogenannten Topdogs,
aus der innerhalb dieser Struktur stattfindenden Interaktion einen wesentlich
höheren Gewinn ziehen (hier gemessen in Bedürfniseinheiten) als andere, die
sogenannten Underdogs. 278 Es besteht ein "ungleicher Austausch", was al-
lerdings einen Euphemismus darstellt. Die Underdogs können nämlich fak-
tisch derart benachteiligt sein, daß sie daran sterben (verhungern oder infolge
Krankheiten dahinsiechen): Ausbeutung A. Ausbeutung B bedeutet, die Un-
derdogs einem permanenten ungewollten Elendszustand zu überlassen, der
normalerweise Unterernährung und Krankheit mit einschließt. Die Art und
Weise, wie Menschen sterben, variiert; sterben sie in der Dritten Welt an Di-
arrhöe und Immunschwächen, so in den "entwickelten" Ländern, verfrüht
und vermeidbar, an Herzgefäßerkrankungen und malignen Tumoren. All dies
geschieht innerhalb komplexer Strukturen und am Ende langer, verzweigter
Kausalketten und Zyklen.
Eine Gewaltstruktur hinterläßt ihre Spuren nicht nur auf dem menschli-
chen Körper, sondern auch in seinem Gedächtnis und in seinem Geist. Die
nächsten vier Begriffe können als Bestandteile der Ausbeutung oder als in
der Ausbeutungsstruktur enthaltene verstärkende Komponenten verstanden
werden. Ihre Funktion ist es, Bewußtseinsbildung und Mobilisierung, zwei
Bedingungen für einen erfolgreichen Kampf gegen Ausbeutung, zu verhin-
dern. Ersteres wird erreicht durch die Penetration des Underdog-Bewußt-
seins durch Topdog-Ideologien in Verbindung mit der Segmentierung, die
dem Underdog nur einen sehr beschränkten Blick auf die Wirklichkeit er-
laubt. Letzteres ist das Ergebnis zweier Prozesse, der Marginalisierung und
der Fragmentierung. Dabei werden die Underdogs zum einen an den Rand
gedrängt und zur Bedeutungslosigkeit verurteilt, zum anderen entzweit und
voneinander ferngehalten.
Jedoch bezeichnen diese vier Begriffe auch Formen struktureller Gewalt
ganz eigenen Rechts und, spezieller noch, Variationen strukturell eingebauter
Repression. Sie alle kommen auch im Zusammenhang mit der Geschlechter-
frage zur Anwendung - auch dann, wenn Frauen nicht immer höhere Sterbe-
und Krankheitsraten aufweisen, sondern in der Tat höhere Lebenserwartun-
gen haben mögen als Männer, vorausgesetzt, sie überleben die (ihrem Ge-
schlecht) drohende Abtreibung und Kindstötung sowie die ersten Jahre der
Kindheit. Kurz gesagt, als Formen von Gewalt gehen Ausbeutung und Un-
terdrückung Hand in Hand, ohne jedoch identisch zu sein.
Wie sieht es nun mit der Gewalt gegenüber der Natur aus? Auch hier gibt
es, wie im Krieg, direkte Gewalt, in der Form des Fällens, des Verbrennens
usw. der Bäume. Die strukturelle Form derartiger Gewalt ist schleichender,
sie zielt nicht darauf ab, die Natur zu zerstören, aber führt genau zu diesem
278 Mehr dazu bei J. Galtung: Peace anti Social Structure. Essays in Peace Research.
Bd. 4. besonders Teil 1-3. Kopenhagen 1978.
348 Zivilisationstheorie
279 Es ist also diese Ebene, auf der der Umweltzerstörung entgegengearbeitet werden
muß, durch Prozesse der De-Industrialisierung und der De-Kommerzialisierung und
nicht durch die Umwandlung eines Typs von Naturverschmutzung und -erschöpfung
in einen anderen, durch Flickschusterei an diesem großen globalen Problem.
280 Vgl. J. Galtung: Methodology and Ideology. Essays in Methodology, Bd. I, Kopen-
hagen 1977, Kap. 9.
Kulturelle Gewalt 349
halten sich also auf der Zeitachse unterschiedlich, vergleichbar etwa mit der
in der Erdbeben-Theorie vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem
Erdbeben als Ereignis, der Bewegung der tektonischen Platten als einem Pro-
zeß und der Bruchlinie als einem eher permanenten Zustand.
Dies führt zu einem Gewaltschichtenmodell (in Ergänzung zu dem Drei-
ecksmodell) der Gewaltphänomenologie, das sich als Paradigma zur Herstel-
lung vielfältiger Hypothesen eignet. Auf dem Grund findet sich der stetige
Fluß kultureller Gewalt, der Nährboden, von dem die zwei anderen zehren.
In der nächsten Schicht sind die Rhythmen struktureller Gewalt lokalisiert.
Unter dem Begleitschutz von Penetration und Segmentierung, die die Be-
wußtseinsbildung verhindern, sowie von Fragmentierung und Marginalisie-
rung, die die Organisation gegen Ausbeutung und Unterdrückung verhin-
dern, werden Ausbeutungsmechanismen aufgebaut, abgetragen oder nieder-
gerissen. Und ganz oben, für das bloße Auge und den blanken Empirismus
sichtbar, befindet sich die Schicht der direkten Gewalt, in der die ganze Pa-
lette von Grausamkeiten angesiedelt ist, die Menschen einander sowie an-
derem Leben und der Natur im allgemeinen antun.
Im allgemeinen läßt sich ein Kausalzusammenhang feststellen, der sich
von der kulturellen über die strukturelle hin zur direkten Gewalt erstreckt.
Die Kultur predigt, lehrt, ermahnt, stachelt auf und stumpft uns ab, bis hin zu
dem Punkt, an dem wir Ausbeutung und/oder Repression als etwas Normales
und Natürliches betrachten oder sie gar überhaupt nicht mehr wahrnehmen
(insbesondere nicht die Ausbeutung). Darauf folgen die Gewaltausbrüche,
die Versuche, direkte Gewalt einzusetzen, um aus dem strukturellen eisernen
Käfig auszubrechen,281 und Gegengewalt, um den Käfig in Funktion zu hal-
ten. Alltagskriminalität ist teilweise der Versuch des Underdogs, "auszubre-
chen", den Wohlstand neu zu verteilen, gleichzuziehen, Rache zu nehmen
(blue-collar-Kriminalität), oder es ist der Versuch, ein Topdog zu werden
oder zu bleiben, indem man sich bemüht, das Äußerste aus der Struktur her-
auszuholen (white-collar-Kriminalität).
Sowohl direkte als auch strukturelle Gewalt schaffen Bedürfnisdefizite.
Treten diese unerwartet und plötzlich auf, so sprechen wir von einem Trau-
ma Stößt es einer Gruppe, einem Kollektiv zu, so handelt es sich um ein
kollektives Trauma, das sich im kollektiven Unterbewußtsein ablagern und
dort zu Rohmaterial für bedeutende historische Prozesse und Ereignisse wer-
den kann. Die zugrundeliegende Annahme ist einfach: "Gewalt erzeugt Ge-
walt." Gewalt ist Bedürfnisdeprivation; Bedürfnisdeprivation ist schwerwie-
gend; eine Reaktion darauf ist direkte Gewalt. Das ist jedoch nicht die einzig
mögliche Reaktion.
281 Vgl. hierzu Hans-Ruedi Weber: "The Promise of the Land. Biblical Interpretation
and the Present Situation in the Middle East", in: Study Encounter, Bd. 7, Nr. 4, S. 1-
16.
350 Zivilisationstheorie
282 Tatsächlich ist es fast unglaublich, wie friedlich es an dieser Grenze hoch oben im
Norden geblieben ist zwischen einem so kleinen und einem so großen Land, von
dem einige meinten, es sei nur zu begierig, irgendein "Machtvakuum" zu füllen.
283 Dies ist der generelle Ansatz des Stockholm International Peace Research Institute,
im SIPRI-Jahrbuch sowohl wie in anderen Publikationen. Als Dokumentation der
Oberflächenebene ist das nützlich, aber es vertieft das Verständnis nicht hinreichend,
352 Zivilisationstheorie
287 Eine andere theologische Unterscheidung von gleicher Wichtigkeit ist diejenige, ob
wir (wie manche Christen behaupten) mit einer Erbsünde oder (wie andere meinen)
mit einem Ursegen zur Welt kommen, vielleicht auch mit beidem (die Karma-Lehre
des HinduismuslBuddhismus?) oder ohne alles (eine atheistische Position). Die
Kombination von transzendentem Gott und Erbsünde hat gewaltige Konsequenzen in
bezug auf die Kontrolle der Menschen, wie Luther gut wußte.
354 Zivilisationstheorie
Ein immanentes Konzept von einem in uns wohnenden Gott würde eine sol-
che Dichotomie zu einem gegen Gott gerichteten Akt machen. Mit einem
transzendenten Gott jedoch gewinnt all dies an Bedeutung. Die ersten drei in
Tabelle 4.2 aufgelisteten Auswahlalternativen gehen zurück bis auf die
Schöpfungsgeschichte. Die letzte Möglichkeit ist typischer für das Neue Te-
stament, das den richtigen Glauben und nicht nur die richtigen Taten betont.
Die zwei anderen kennen wir als verstärkte Bezugnahme auf die Sklaverei
und darauf, Gott zu geben, was Gottes ist, und dem Kaiser zu geben, was des
Kaisers ist. Traditionell handelt es sich bei den Oberschichten, die als näher
zu Gott stehend betrachtet werden, um drei Klassen: den Klerus, weil er of-
fensichtlich über besondere Kenntnisse darüber verfügt, wie man sich mit
Gott verständigt; die Aristokratie, insbesondere den König von Gottes Gna-
den, und die Kapitalisten, wenn sie wirtschaftlich erfolgreich sind. Die unte-
ren Schichten und die Armen sind ebenfalls auserwählt, sogar die Ersten zu
sein, die ins Paradies eingehen (Bergpredigt) - allerdings erst im Leben nach
dem Tod.
Alle sechs Optionen zusammen konstituieren die harte Linie innerhalb des
Judentums, des Christentums und des Islams, die durch die Aufgabe einiger
Positionen weicher gefaßt werden können und dies durch Annahme eines
immanenteren Konzeptes von Gott auch tatsächlich wurden (im Sufismus,
bei Franz von Assisi oder bei Spinoza). Die in der rechten Spalte der Tabelle
4.2 aufgezeigten Konsequenzen könnten genauso gut auch Folgen anderer
Prämissen als einer Auserwähltheitstheologie sein; die Tabelle liefert allein
Teil- und hinreichende Gründe.
Betrachten wir, als ein zeitgenössisches Beispiel, die Politik Israels gegen-
über den Palästinensern. Das Auserwählte Volk hat sogar ein Versprochenes
Land, Eretz Israel. Es benimmt sich, wie zu erwarten, indem es seine Auser-
wähltheit, diesen fürchterlichen Typ kultureller Gewalt, in alle in Tabelle 4.1
aufgeführten Typen direkter und struktureller Gewalt übersetzt. Da findet
sich Töten, Verstümmeln und materielle Deprivation, wenn den Bewohnern
der West Bank das Lebensnotwendige versagt wird. Da gibt es soziale Ab-
wertung innerhalb des theokratischen Israel, Bürgerrechte zweiter Klasse für
Nichtjuden, Haft, individuelle Vertreibung und die Dauerdrohung massenhaf-
ter Vertreibung. Und es gibt Ausbeutung, zumindest vom Typ B.
Kulturelle Gewalt 355
288 Für weitere Details siehe J. Galtung: "The ,Middle East' Conflict", in: ders.: Solving
Conflicts: A Peace Research Perspective, Honolulu, HI 1989, Kap. 3, S. 37-57, und
ders.: Nonviolence and IsraellPalestine, Honolulu, Hi 1989. Eine exzellente Behand-
lung der Auserwähltheitsproblematik liefert Hans-Ruedi Weber, s. seine oben (Anm.
13) zitierte Studie.
356 Zivilisationstheorie
delt worden ist, das jeder Menschlichkeit entbehrt, ist der Weg frei für jede
Art direkter Gewalt, für die dann die Opfer verantwortlich gemacht werden.
Dies wird verstärkt durch die Einführung von Kategorien wie "bedrohliches
Es", "Ungeziefer" oder "Bakterien" (wie Hitler die Juden beschrieb), ,,Klas-
senfeind" (wie Stalin die Kulaken bezeichnete), "tollwütiger Hund" (wie
Reagan Gaddafi bezeichnete) oder "gestörte Kriminelle" (wie "Terroristen"
von Experten in Washington genannt zu werden pflegen). Ausrottung wird
zu einer psychologisch möglichen Pflicht. Die SS-Wachen werden Helden,
die es verdienen, für ihre hingebungsvolle Pflichterfüllung gefeiert zu wer-
den.
Wenn wir auf die sechs in Tabelle 4.2 aufgeführten Dimensionen zurück-
greifen, können wir leicht erkennen, wie es dazu kommt, daß die Auser-
wählten auch ohne einen transzendenten Gott Auserwählte bleiben. So wer-
den nur Menschen als zur Selbstreflexion fähige Wesen betrachtet; Männer
sind stärker und denken logischer als Frauen; bestimmte Nationen sind mo-
derner als andere bzw. gelten als die tragenden Säulen der Zivilisation und
des historischen Prozesses; Weiße sind intelligenter und denken logischer als
Nicht-Weiße; in der modernen, auf Chancengleichheit aufgebauten Gesell-
schaft gelangen nur die Besten an die Spitze und sind somit berechtigt, Macht
auszuüben und Privilegien zu besitzen. Bestimmte Glaubenssätze zu Moder-
nisierung, Entwicklung und Fortschritt gelten als unumstößlich. Glaubt je-
mand nicht an sie, wirft das ein schlechtes Licht auf den Nicht-Gläubigen,
nicht aber auf das Geglaubte.
Alle diese Vorstellungen waren und sind in der westlichen Kultur nach
wie vor vorherrschend, obwohl das Vertrauen in die natürliche männliche,
westliche und weiße Überlegenheit in der letzten Zeit stark erschüttert wurde
durch die Emanzipationsbewegungen von Frauen, von nicht-westlichen Völ-
kern (der japanische wirtschaftliche Erfolg gegenüber dem Westen!) und von
Farbigen innerhalb westlicher Gesellschaften. Die Vereinigten Staaten, die
christlichste Nation dieser Erde, dienten im Innern wie nach außen als ein
Hauptaustragungsort dieser Kämpfe. Gerade, weil dieses Land gegenüber
anderen Ländern als Vorbild fungiert, ist es besonders wichtig, die kulturelle
US-amerikanische Gewalt zu reduzieren.
Diese drei Annahmen - die alle auf von Geburt an vorhandenen Unter-
schieden, nämlich Geschlecht, Rasse und Nation beruhen - sind in einer lei-
stungsorientierten Gesellschaft nur schwer aufrechtzuerhalten. Geht man je-
doch davon aus, daß die moderne Gesellschaft eine Meritokratie ist, dann
bedeutet die Verweigerung von Macht und Privilegien für jene an der Spitze
die Leugnung des Verdienstes als solchem. Die Verweigerung eines Mini-
mums an "moderner Orientierung" ebnet den Weg für jeden Glauben, ein-
schließlich der Verweigerung von Macht und Privilegien für die Verdienten
und der Ablehnung einer strikten Abgrenzung von menschlichem Leben und
anderen Lebensformen. Kurz gesagt, Residualkategorien von Auserwähltheit
Kulturelle Gewalt 357
wird es unabhängig vom Status Gottes oder Satans noch für eine ganze Weile
geben, und zwar in der Form von Herrschaft über die Natur, von Klas-
senherrschaft und von Meritokratie.
Die Ideologie des Nationalismus, dessen Wurzeln in der Vorstellung vom
auserwählten Volk liegen, und der mit Hilfe von Religion oder Ideologie ge-
rechtfertigt wird, sollte in Verbindung mit der Ideologie des Nationalstaates,
dem Etatismus, betrachtet werden. Artikel 9 der nach dem Krieg verfaßten
japanischen Friedensverfassung, jenes kurzlebigen Versuchs in Richtung
,kulturellen Friedens', setzte fest, daß "das Recht des (japanischen) Staates
zur Kriegsführung nicht anerkannt wird". Offensichtlich hatte Japan dieses
Recht verwirkt - während andere, die Sieger vermutlich, dieses Recht wei-
terhin, aufgrund des Kriegsausgangs vielleicht noch verstärkt, für sich bean-
spruchten.
Woher kam dieses Recht, Krieg zu führen? Es hat zum Teil feudale Ur-
sprünge und ist die direkte Übertragung des Vorrechts des rex gratia dei auf
eine ultima ratio regis. Der Staat kann dann als eine dem Herrscher unent-
behrliche Organisation angesehen werden, welche die zur Finanzierung der
ständig teurer werdenden Armeen und Flotten (bzw., nach 1793, der Wehr-
pflichtigen) erforderlichen Steuern eintreibt. Eher wurde, wie Krippendorff
behauptet,289 der Staat zur Erhaltung des Militärs geschaffen als andersher-
um. Andererseits kann er auch als einer der Nachfolger Gottes betrachtet
werden, der von diesem das Recht geerbt hat, Leben zu zerstören (Exeku-
tion), wenn nicht sogar das Recht, Leben zu schaffen. Viele behaupten denn
auch, daß der Staat das Recht habe, durch die Ausübung einer der schwan-
geren Frau überlegenen Autorität Kontrolle über die Schaffung von Leben
auszuüben. 290
Verbindet man nun den Nationalismus mit dem steilen Gefalle zwischen
dem Selbst und demln Anderen und den Etatismus mit dem Recht oder gar
der Pflicht ultimativer Machtausübung, so erhält man die häßliche Ideologie
des Nationalstaats, eine weitere katastrophische Idee. Von nun an wird wäh-
rend eines Krieges im Namen der "Nation" getötet, der alle Bürger einer
Ethnizität zugerechnet werden. Die neu aufkommende Idee von der Demo-
kratie kann mit Übergangsformeln wie vax populi, vox dei, ausgestattet wer-
den. Auch Hinrichtungen werden im "Namen des Volkes von Staat X" vor-
genommen. Genau wie beim Krieg muß aber auch hierzu die Anordnung des
Staates vorliegen. Ein Gutteil der Entscheidung gegen die Abtreibung und für
die Erhaltung des ungeborenen Lebens entspringt wahrscheinlich dem Ge-
289 Vgl. Ekkehart Krippendorff: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Un-
vernunft, FrankfurtJM. 1985.
290 Dies ist ein Hauptthema einer faszinierenden und unheimlichen (jetzt auch verfilm-
ten) Novelle von Margaret Atwood: The Handmaid's Tale, New York 1997. Ich
schulde Carolyn DiPalma Dank für diesen Hinweis.
358 Zivilisationstheorie
fühl, daß durch ein auf der freien Entscheidung der Mutter basierendes Ab-
treibungsrecht das Machtmonopol des Staates über das Leben untergraben
würde. Wäre die Gegnerschaft gegen die Abtreibung wirklich in dem Re-
spekt vor der Heiligkeit des Fötus (homo res sacra hominibus) begründet, so
wären die Vertreter des "Pro-Leben"-Gedankens in ihrer Tendenz ebenfalls
Pazifisten: Sie wären gegen die Todesstrafe und empört über die hohe Sterb-
lichkeitsrate von Schwarzen in den USA und anderer Gruppen auf der gan-
zen Welt. Natürlich ist auch die Bevorzugung der freien Entscheidung ge-
genüber dem Leben eine Form der kulturellen Gewalt, basiert sie doch auf
der Weigerung, das ungeborene Leben als menschliches Leben zu betrachten,
und macht den Fötus zu einer Sache. 291
Kombiniert man nationalstaatliche Ideologie mit einem theologisch be-
gründeten Komplex vom auserwählten Volk, kann das Unheil seinen Lauf
nehmen. Israel (Yahweh), Iran (Allah), Japan (Amaterasu-Omikami), Süd-
afrika (ein niederländisch-"reformierter" Gott), die Vereinigten Staaten (der
jüdisch-christliche Yahweh-Gott) sind dafür relativ klare Beispiele, in Kri-
sensituationen zu allem fähig. Ebenfalls unter diese Kategorie wäre Nazi-
Deutschland gefallen (der OdinIWotan-Gott der Nazis). Rußland nach Gorba-
tschow - der sich nach 61 Jahren Stagnation als Nachfolger von Lenin ver-
stand - hat wahrscheinlich immer noch zu kämpfen mit seiner Berufung zu
einem auserwählten Volk, das von der Geschichte für eine spezielle Mission
ausgewählt wurde. Auch Frankreich hat diesen Überlegenheitskomplex, nur
gilt hier, daß alleine schon die Vorstellung, von jemandem auserwählt zu
sein, implizieren würde, daß es etwas gibt, das über Frankreich steht - ein
nicht zu tolerierender Gedanke. Frankreich hat sich selbst gewählt: un peuple
ilu, mais par lui-meme, konkretisiert in dem archetypischen Akt des Jahres
1804, als Napoleon vom Papst gekrönt werden sollte: Er nahm die Krone aus
dessen Händen und krönte sich selbst.
3. Sprache: Bestimmte Sprachen - nämlich die mit einem lateinischen Wort-
stamm, wie zum Beispiel Italienisch, Spanisch, Französisch (und modernes
Englisch), nicht jedoch jene mit einem germanischen Stamm wie Deutsch
oder die skandinavischen Sprachen - machen Frauen dadurch unsichtbar, daß
sie zur Bezeichnung der Gesamtheit der Menschheit dasselbe Wort verwen-
den wie zur Bezeichnung des männlichen Geschlechts. Ein gutes Beispiel für
eine bewußte Transformation der Kultur weg von kultureller Gewalt ist die
wichtige Bewegung für die Einführung einer nicht-sexistischen Schreibwei-
291 Meine eigene, nicht sehr originelle Position ist diese: Ein Fötus ist Leben, also heilig.
Man sollte alles Erdenkliche tun, um eine Situation zu vermeiden, in der Leben, ob
willentlich oder nicht, zerstört wird. Wenn alle Alternativen erschöpft sind, obliegt
die Entscheidung denjenigen, die dieses Leben geschaffen haben, normalerweise al-
so einer Frau und einem Mann, wobei der Frau ein Veto- und dem Mann das Recht,
gehört zu werden, zukommt.
Kulturelle Gewalt 359
se. 292 Zu Beginn, als einige mutige Frauen diese Aufgabe in Angriff nahmen,
muß sie ihnen als schier unlösbares Problem erschienen sein, aber bereits
heute tragen diese Bemühungen Früchte.
Es gibt dann subtilere Aspekte von Sprache, bei denen die Gewalt weniger
deutlich, sondern eher implizit ist. Ein Vergleich der Grundzüge der indo-
germanischen Sprachen mit dem Chinesischen und dem Japanischen fördert
in den indogermanischen Sprachen bestimmte Unbeweglichkeiten bezüglich
Raum und Zeit zutage;293 eine korrespondierende Rigidität der logischen
Struktur mit ihrer Betonung der Möglichkeit, zu gültigen Schlüssen zu ge-
langen (daher auch der westliche Stolz, so "logisch" zu sein); desweiteren ei-
ne Tendenz, linguistisch zwischen Wesen und Erscheinung zu unterscheiden,
wodurch Raum für die Unsterblichkeit des Wesens und implizit die Legiti-
mation geschaffen wird, das zu zerstören, was nur Erscheinung ist. Hierbei
handelt es sich jedoch um Tiefenkultur, um die tieferen Schichten der unter-
sten Schicht des Gewaltdreiecks. Die Verbindungen zur direkten und struktu-
rellen Gewalt werden wesentlich feiner.
4. Kunst: Lassen Sie mich nur ein Problem anführen, das für die Herausbil-
dung der Europäischen Union als Nachfolger der Europäischen Gemein-
schaft von 1967 wichtig ist. 294 Wie versteht sich Europa? Die mit der "Euro-
pa" der griechischen Mythologie verbundene Geschichte erweist sich als
wenig hilfreich. Die Auffassung von Europa als der Negation seiner nichteu-
ropäischen Umwelt bringt uns da wesentlich weiter. Zur Zeit des Übergangs
vom Mittelalter zur Moderne bestand diese Umwelt in Richtung Osten und
Süden aus dem gigantischen Osmanischen Reich, das sich bis vor die Mauern
Wiens erstreckte (1683), Syrien und Ägypten eroberte (1517), Tripolis, Tu-
nesien und Algerien danach zu Vasallen machte und nur die Sultanate von
Fez und Marokko mit den kleinen Spanisch-Habsburgischen Enklaven (von
denen es immer noch zwei gibt) verschonte. Die einzige nicht-orientalische
(das heißt nicht-arabische, nicht-moslemische) Umwelt war Rußland, das
arm war, aber gewaltig in bezug auf Raum und Zeit, schlafend, aber gigan-
tisch. 295
Europa mußte sich somit in Abgrenzung zu dem Feind im Süden und
Südosten verstehen. So entwickelte sich die Metapher vom "orientalischen
292 Mehr darüber bei Casey Miller & Kate Smith: The Handbook of Nonsexist Writing.
New York '1988.
293 Vgl. Johan Galtung & Fumiko Nishimura: "Structure, Culture and Languages: An
Essay Comparing the Indo-European, Chinese and Japanese Languages", in: Social
Science Information, Dezember 1983, Bd. 22, S. 895-925.
294 Die ganze Frage wird mit größerer Gründlichkeit behandelt in meinem Buch Europe
in the Making, New York und London 1989.
295 Wie ausgeführt von Mogens Trolle Larsen: "Europas Lys ("Europas Licht")", in:
Hans Boll-Johansen & Michael Harbsmeier (Hgg.): Europas Opdagelse, Kopenha-
gen 1988, S. 9-37, bes. S. 21, 23.
360 Zivilisationstheorie
296 Vgl. auch J. Galtung: "A Structural Theory of Imperialism ", in: Journal of Peace
Research, Bd. 8, Nr. 2, S. 81-117, abgedruckt auch in Peace and World Structure.
Essays in Peace Research, Bd. IV, Kopenhagen 1980; und ders.: ",A Structural
Theory of Imperialism' Ten Years Later", in: Transarmament and the Cold War:
Peace Research and the Peace Movement. Essays in Peace Research, Bd. VI, Ko-
penhagen 1988, S. 298-310.
297 Bei ihm läuft alles ganz einfach darauf hinaus: Benutze den gesamten akkumulierten
Mehrwert, um die Produktionsfaktoren zu verbessern, nicht aber für den Luxuskon-
sum der Produktionsfaktorenbesitzer, wenn du der Falle entkommen willst. Einfach
und weise und genau das, was Japan tat - aber kaum das, wovon Japan heute wün-
schen würde, daß allzuviele das Gleiche täten.
362 Zivilisationstheorie
298 Vgl. J. Galtung: Methodology and Development. Essays in Methodology, Bd. III,
Kopenhagen 1988, Kap. 4, besonders Abschnitt 4.4.
299 Eine wichtige poststrukturalistische Position: Tief, unterhalb der Oberfläche zu gra-
ben, bedeutet nicht, von der Vielheit zur EinheitlEinfachheit überzugehen. Die "ok-
zidentale Tiefenstruktur" z.B. ist nicht unzweideutig. So würde ich etwa argumen-
tieren, daß das Christentum nur in den Begriffen von zumindest zwei verschiedenen
Lektüren verstanden werden kann - einer harten (mehr auf Transzendenz und auf
Erbsünde ausgerichteten) und einer weichen (die Immanenz und den ursprünglichen
Gnadenstand hervorhebenden) Lesart. Andere erkennen eine noch komplexere Man-
nigfaltigkeit der Tiefenstrukturen. Von einer auf zwei überzugehen, ist jedoch auch
hierfür notwendige Voraussetzung.
300 Kosmologie wird dann grob definiert als "die tiefverwurzelten kulturellen Unterstel-
lungen einer Zivilisation, unter Einschluß der generellen Annahmen, die den Tiefen-
strukturen zugrundeliegen und festlegen, was normal und natürlich ist".
Kulturelle Gewalt 363
301 Wann hat denn eine Kultur, insbesondere Tiefenkultur, hinreichend Plastizität
(Schalem), um geformt, neu geformt zu werden? In Krisenzeiten? Nachdem ihr ein
tiefes Trauma zugefügt wurde - das spezifische Trauma, anderen schwere Traumata
zugefügt zu haben, eingeschlossen? Wir wissen kaum mehr, als daß es sich hier um
entscheidende Fragen handelt.
364 Zivilisations theorie
scheidet sich die Lehre von der Einheit des Lebens nicht unwesentlich von
der Lehre vom ökologischen Gleichgewicht, da sie auf die Verbesserung al-
len Lebens und nicht nur des menschlichen Lebens zielt, und ebenso allen
menschlichen Lebens und nicht nur jener Gruppen, die von irgend welchen
(Gandhis Ansicht nach entstellten oder mißverstandenen) Religionen oder
Ideologien auserwählt sind. Die Einheit von Mittel und Zweck sollte im Ge-
gensatz zur Diachronie eines Riesenschritts, von dem angenommen wird, daß
er die force motrice auslöst, zu einer Lehre der Synchronie führen, die nach
gleichzeitiger Arbeit an allen Problemen verlangt. 102 Als Archetypus kann das
buddhistische Rad gelten, bei dem die Elemente des Denkens, des Sprechens
und des HandeIns dazu tendieren, auf derselben Prioritätenebene zu stehen,
nicht aber eine christliche Pyramide, die einigen Dingen eine entschieden
größere Bedeutung als anderen (z.B. Glaube vs. Taten) zuschreibt. lol
1.6 Schlußfolgerung
Gewalt kann ihren Ausgang nehmen an jeder Ecke des Dreiecks direkte-
strukturelle-kulturelle Gewalt und leicht zu den anderen Ecken überspringen.
Ist die Gewaltstruktur institutionalisiert und die Gewaltkultur internalisiert,
dann tendiert auch die direkte Gewalt dazu, sich zu institutionalisieren, sich
zu wiederholen und, einer Vendetta gleich, zu einem Ritual zu werden. Die-
sem dreieckig angelegten Gewaltsyndrom sollte dann im Geiste ein triangu-
läres Friedenssyndrom gegenübergestellt werden, in dem der kulturelle Frie-
de strukturellen Frieden, mit symbiotischen, gerechten Beziehungen zwi-
schen verschiedenen Partnern, und direkten Frieden, erkennbar an Akten der
Kooperation, der Freundlichkeit und Liebe, hervorbringt. Es könnte ein sich
ebenfalls selbst verstärkendes Tugend- statt eines Teufelsdreiecks sein. Die-
ses Tugenddreieck ließe sich dadurch schaffen, daß man an allen drei Ecken
gleichzeitig arbeitet und nicht annimmt, daß grundlegende Veränderungen in
einer Ecke automatisch zu Veränderungen in den beiden anderen Ecken füh-
ren.
Aber erweitert die Einbeziehung der Kultur die friedenswissenschaftliche
Agenda nicht erheblich? Natürlich tut sie das. Warum sollten Friedensanaly-
sen auch enger gefaßt werden als zum Beispiel Gesundheitsanalysen (Medi-
302 Man betrachte Gandhis Leben. Die politische Agenda, die er sich vornahm, war
schwindelerregend: swaraj; die Erforschung von satyagraha und sarvodaya; die so-
ziale Besserstellung der Inder in Südafrika, der harijan in Indien und der Frauen; der
Kampf zwischen Hindus und Muslimen in den Städten. Niemals sagte Gandhi: Ich
will mich auf eine Sache konzentrieren, und der Rest kommt danach.
303 Vgl. Johan Galtung: Methodology and Development. Essays in Methodology, Bd. III,
Kopenhagen 1988, Kap. 1.1, insbes. S. 25ff.
366 Zivilisations theorie
zin)? Ist der Frieden vielleicht leichter zu verstehen als die Gesundheit, ist er
etwa weniger komplex? Und wie steht es mit der Biologie, dem Studium des
Lebens; der Physik, dem Studium der Materie; der Chemie, dem Studium der
Zusammensetzung der Materie; der Mathematik, dem Studium der abstrakten
Form? Das sind doch alles umfängliche Forschungsfelder! Warum sollte die
Friedensforschung bescheidener sein? Warum sollte man in einem Feld
Grenzen ziehen, das in seinen Konsequenzen so furchtbar wichtig und zu-
gleich so attraktiv für den wissensdurstigen Geist ist? Falls die Kultur für
Gewalt und Frieden von Bedeutung ist, und davon gehe ich aus, dann wird
nur der Dogmatiker sie von Untersuchungen ausschließen, die ebenso tief-
dringend und verläßlich sind wie die zahllosen Studien, die sich den vielen
Aspekten direkter und struktureller Gewalt widmen. Das einzig Neue ist, daß
sich die Friedensforschung neuen Disziplinen, wie Z.B. den Geisteswissen-
schaften, der Ideengeschichte, der Philosophie und der Theologie, öffnet. Mit
anderen Worten: eine Einladung an andere Disziplinen, sich der Suche nach
den Bedingungen des Friedens anzuschließen, und an die etablierte For-
schung, sich ein paar neue Werkzeuge zu beschaffen.
Wenn das geschieht, könnte die Friedensforschung sogar einen Beitrag
dazu leisten, ein im Pantheon der Wissenschaft offensichtlich fehlendes
wichtiges wissenschaftliches Unterfangen ins Leben zu rufen, nämlich die
Wissenschaft von der menschlichen Kultur, die "Kulturologie". Heutzutage
ist dieses Feld aufgeteilt in die "Geisteswissenschaften" zur Erforschung "hö-
herer" und die Sozialanthropologie (cultural anthropology) zur Untersuchung
der "niedrigeren" Zivilisationen; Philosophie, Ideengeschichte und Theologie
füllen einige der verbleibenden Lücken. Konzepte wie das der "kulturellen
Gewalt" schließen alle diese Disziplinen mit ein, gerade so, wie das Konzept
der "strukurellen Gewalt" das ganze Spektrum der Sozialwissenschaften um-
faßt. Die Friedensforschung hat so viel zu lernen, so viel zu gewinnen und
aufzunehmen. Vielleicht werden auch wir zu gegebener Zeit einige Beiträge
leisten: im Geiste der Vielfalt, der Symbiose und der Angemessenheit.
2. Sechs Kosmologien: eine impressionistische
Darstellung
304 Dieser Definition zufolge besitzt jede Person P in einer Situation S eine bestimmte
Kultur, jedoch keine Zivilisation. Eine Zivilisation wird geteilt, sowohl synchron als
auch diachron, und die Betrachtung richtet sich hier auf weite raum-zeitliche Ge-
biete, nicht nur auf P in S. Der Terminus "Zivilisation" hat keine Konnotationen von
hoch und niedrig oder gut und schlecht im Verhältnis zu irgendetwas.
368 Zivilisationstheorie
305 In einem gewissen Ausmaß werde ich sie darlegen in meinem Buch A Theory of
Civilizations (im Erscheinen begriffen).
306 Indisch, Buddhisch, Sinisch und Nipponisch sind Begriffe, die Toynbees Terminologie
nachahmen, und die als nützlich betrachtet werden, weil sie alle Idealtypen in Webers
Sinn darstellen. So gibt es etwa einen hohen Anteil nipponischer Kosmologie in Japan,
doch darüber liegt auch z.B. eine Schicht vom Typ Okzident I. Daher sind die sechs zu
untersuchenden Kosmologien theoretische Konstrukte, die sich auf konkrete Regionen
in Raum und Zeit beziehen, ohne jedoch mit diesen zusammenzufallen.
307 Alice A. Bailey nimmt in The Reappearance of the Christ, London 1948, einen ähnli-
chen Standpunkt im Hinblick auf die Trennung von Orient und Okzident ein: "Die am
ehesten bekannten und anerkannten Avatars [definiert als "göttliche Boten", a.a.O., S.
7] sind Buddha im Osten und Christus im Westen. Mit Ihren Botschaften sind alle ver-
traut, und die Früchte Ihres Lebens und Ihrer Worte haben das Denken und die Kultur
beider Hemisphären bestimmt" (S. 10; ich bin Cliff Goalstone dafür verpflichtet, mich
auf diese faszinierende Autorin aufmerksam gemacht zu haben). Natürlich ist Moham-
med der Avatar für den Islam, und es gäbe deren mehrere für das Judentum, das im Ge-
gensatz zum Monoprophetismus des Christentums (orthodox, katholisch oder protestan-
tisch) und des Islams (Suni oder Schi'a) multiprophetisch ist. Auch spielt es eine Rolle,
ob der Buddhismus (der südliche: Hinayana, Theravada, der östliche: Mahayana, oder
der nördliche: lamaistische) allein auftritt oder verschmolzen mit anderen Weltsichten.
308 Dieser Definition zufolge, die eher in kulturellen als in geographischen Begriffen ge-
faßt ist, gehören daher die Philippinen (katholisch/muslimisch) und Indonesien (mus-
limisch) zum Okzident.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 369
Es gibt zwei abendländische Zivilisationen, die durch die Zeit, nicht durch
den Raum getrennt sind, da die Unterschiede zwischen den drei Religionen in
dieser Makroperspektive vernachlässigt werden können. Okzident 11 wird
zum Teil als orientalische Enklave in der Geschichte des Abendlandes begrif-
fen. 309 Für diese Asymmetrie gibt es Gründe, wie sich zeigen wird, sobald
wir bei der Zeit-Perspektive der Zivilisationen angekommen sind.
Bei dieser Konzentration auf sechs Zivilisationen finden die afrikanischen,
amerikanisch-indianischen und asiatisch-pazifischen Eingeborenen-Kulturen
keine Berücksichtigung; aber auch, z.B. in Ostasien, die vietnamesischen und
koreanischen Kulturen. Dies sind Mängel, und es wird einige Hinweise auf
"eingeborene Kulturen" und auf Vietnam/Korea geben. Doch auch so läßt
sich vieles sagen. 3lO
Aber worüber? Über die gemeinsamen Annahmen über normale und na-
türliche Aspekte der Wirklichkeit, darüber, was ist, im Sinne, daß es wahr,
daß es der Fall ist - unter Auslassung der Annahmen darüber, was gut und
rechtens, was schön und heilig ist. Zu diesem Zweck muß die Wirklichkeit
unterteilt werden, und diese Unterteilung wird durchgeführt entlang der sechs
"Räume" Natur, Selbst, Gesellschaft, Welt, Zeit, Kultur. 311 "Kultur" wird
309 So gibt es Okzident im Orient (wie die Philippinen, Indonesien und den Aufsatz von
Okzident I), und es gibt Orient im Okzident (wie die mittelalterliche Periode von et-
wa 250-1250 in Westeuropa). Der Ausgangspunkt für diese gesamte Übung besteht
also mit anderen Worten nicht in einer schlichten geographischen Unterteilung in
West und Ost.
310 Ein einfacher Grund für diesen Ausschluß hängt mit den Begrenzungen des Autors
zusammen: einige Vertrautheit mit den für die Untersuchung ausgewählten sechs
Zivilisationen, fast keine mit eingeborenen Kulturen. Zudem ist es mir um unmittel-
baren Kontakt zu tun, nicht um den über Anthropologen als Vermittler durch den
Raum der Gesellschaft. Ein Einwand hiergegen könnte lauten, daß es hier doch zu-
nächst ein gewisses Vertrauen gegenüber Historikern als Vermittlern über die gesell-
schaftliche Zeit hinweg gibt. Doch den, der über historisches Bewußtsein verfügt,
setzt das Leben im Abendland der Vergangenheit aus, so wie sie sich schichtweise in
unserem Geist abgesetzt hat und sich überall in unserer Umgebung, zumindest in ge-
schichtsträchtigen Regionen, widerspiegelt.
311 Der Leser wird die Räume aus Teil 3 (Entwicklungstheorie) wiedererkennen, wobei
dem Begriff "Selbst" gegenüber "Mensch" oder "Person" der Vorzug gegeben wur-
de, um zu unterstreichen, daß die Betonung hier mehr auf dem Inneren des Men-
schen liegt. Andere Analytiker verwenden einige dieser Kategorien und fügen weite-
re hinzu, z.B. Florence R. Klickhohn und Fred L. Strodtbeck in: Variations in Value
Orientations, Evanston, IL 1961. Der Aufbau der Matrix ist inspiriert von Kant
(hinsichtlich Raum, Zeit und Wissen, wobei Raum hier "Welt" und Wissen "Episte-
me" genannt wird) und vom eher augenfälligen Kontext, in dem jedes menschliche
Lebewesen steht: Natur, andere Personen (hier Gesellschaft genannt) und Gott (hier
als das Transpersonale bezeichnet, ohne damit theistische oder gar monotheistische
Interpretationen des Transpersonalen verbindlich machen zu wollen). Das "Selbst"
mußte hinzukommen als etwas, auf das sich jeder, ob er es weiß oder nicht, beziehen
muß. Es steckt eine Menge ,Versuch und Irrtum' in der Tabelle, die sich für die Fra-
370 Zivilisationstheorie
ge von Frieden und Konflikt ebenso fruchtbar machen läßt wie für die von Entwick-
lung und Kultur.
312 Ich habe in früheren Untersuchungen der Annahmen, die Zivilisationen zugrunde-
liegen, mit deren fünf begonnen (Raum, Zeit, Wissen, Person-Natur, Person-Person),
dann Nr. 6 hinzugefügt (Person-Jenseits), und schließlich Nr. 7 (Selbst). Viele weite-
re könnten hinzugefügt werden, um ein dichteres Gitter für die Beschreibung und
Theoriebildung zu gewinnen, doch ein Grundziel würde dann vielleicht in noch grö-
ßere Ferne rücken: einen Überblick zu geben, der doch reichhaltig genug ausfällt,
um auch Spezifisches mitzuteilen.
In den ursprünglichen Listen waren die ersten drei Begriffe: Raum, Zeit und Wissen,
die Kategorien, die Kants apriorischen Annahmen entsprechen, und die nächsten drei
erschienen als ebenso unerläßlich, um eine Zivilisation zu beschreiben: die Be-
ziehung zur Natur, zu anderen Menschen und zum Transpersonalen (eine umfas-
sendere Formulierung als "Gott" qua Begriff mit personifizierender, anthropomor-
pher und daher okzidentaler Färbung). Doch "Beziehung zu" wurde fallengelassen,
daja alle Dimensionen das einzufangen versuchen, worauf sich diejenigen, die in ei-
ner Zivilisation leben und ihren Diskurs teilen, beziehen. Zudem verschwand in der
Person-Natur-, Person-Person- und Person-jenseits-Liste entweder das Selbst oder
die Gesellschaft (abhängig von der Interpretation von "Person-Person"), und so er-
klärt sich die gegenwärtige Unterscheidung.
313 Andere würden dies anders machen, doch habe ich die folgenden Diskurse als nütz-
lich empfunden: Natur: wie sich der Mensch auf anderes Leben bezieht, einschließ-
lich der Ernährungsgewohnheiten; Selbst: Freuds Triade von Über-Ichllch/Es; Ge-
sellschaft: vertikaUhorizontal und individuell/kollektiv; Welt: wie Zivilisationen die
Welt geopolitisch unterteilen; Zeit: wie sich Höhen und Tiefen über die Zeit ver-
teilen; Jenseits: immanent vs. transzendent und die Struktur des Transzendenten;
Episteme: atomistisch/holistisch und deduktiv/dialektisch.
314 Dies heißt, daß (für den Autor; eben dies habe ich als besonders interessanten Unter-
suchungsgegenstand empfunden) die Liste der Zivilisationen und Räume geschlos-
sen ist, während der Wertediskurs offen bleibt. Lavori in corso - work in progress.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 371
/ / / /
ZErr:
-- "7 "/
Selbst
L;r L;r
begrenzt begrenzt unbegrenzt unbegrenzt
1f\J
Gesellschaft
L;r
begrenzt begrenzt begrenzt unbegrenzt unbegrenzt unbegrenzt
TRANSPERSONAL
transzendent transzendent transzendent immanent transzendent transzendent
und immanent und immanent und immanent und immanent
ein Gott ein Gott mehrere Götter kein Gott kein Gott (k)ein Gott
auserwählte(s) auserwählte(s) auserwähltes
Volk! Völker Volk! Völker Volk
ein Satan ein Satan kein Satan kein Satan kein Satan kein Satan
eine Seele eine Seele eine Seele keine Seele keine Seele? keine Seele?
ewigeIr HimmelewigeIr Himrnelmoksha moksha Ruhe Ruhe
oder Hölle oder Hölle Reinkarnation Wiedergeburt gemischt gemischt
singularistisch! singularistisch/ pluralistisch! pluralistisch! pluralistisch! pluralistisch!
universalistisch universalistisch universalistisch partikularistisch partikularistisch partikularistisch
EPISTEME
atomistisch holistisch eklektisch holistisch eklektisch eklektisch
deduktiv deduktiv eklektisch dialektisch eklektisch eklektisch
wider- wider- eklektisch Widersprüche Widersprüche Widersprüche
spruchsfrei spruchsfrei
372 Zivilisations theorie
Die Tabelle kann vertikal gelesen werden, als Versuch, das Wesen und d.h.
die Kosmologie jeder der sechs Zivilisationen zu verstehen, oder horizontal,
um die Zivilisationen miteinander in jedem einzelnen Raum zu vergleichen.
Der Vergleich zweier Spalten sollte einiges von den Unterschieden und Ähn-
lichkeiten zwischen zwei Zivilisationen verständlich machen. Und der Ver-
gleich zweier Zeilen könnte zum Verständnis beitragen, wie die Zivilisatio-
nen diese Räume in ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden auffassen.
Doch am besten ist es, die Matrix als ein holon zu sehen. Viel Glück.
Kosmologie von Okzident I Wenn wir die Spalte 1 betrachten, mit welcher
Art von "Person" haben wir es dann im Falle von Okzident I zu tun?
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 373
315 Vgl. Raimundo Panikkar: "La notion des droits de I'homrne, est-elle un concept oc-
cidental?", in: Diogenes 120 (1982), S. 87-115.
316 Vgl. Johan Galtung: "Two perspectives on society", Kap. 2.1, in: The True Worlds,
New York 1980, S. 41-44 und die folgenden beiden Abschnitte dieses Kapitels.
374 Zivilisationstheorie
dern das "System Welt") hat ein Zentrum, sodann eine Peripherie, die darauf
hofft, vom Zentrum akzeptiert und diesem ähnlicher zu werden, und einen
Rand, an dem das Böse angesiedelt ist. Die bösen Kräfte lehnen das Zentrum
und alles ab, wofür es steht, und wollen ihr eigenes Zentrum sein. Wie das
Böse keine Begrenzung hat, ist auch die Welt grenzenlos und dies nicht nur
in geographischer Hinsicht.
Zeit ist in der abendländischen Kosmologie höchst dramatisch. Es gibt
Chronos, den Fluß der physikalischen ("objektiven") Zeit, vom Anfang
(Genesis) bis zum Ende (Apokalypse), was bedeutet, daß die Zeit in Okzi-
dent I begrenzt ist. 317 Doch gibt es auch Zeitkapseln des Kairos, organische
("subjektive") Zeit: der Sündenfall nach dem Verfließen der Zeit des Paradie-
ses, das Licht nach dem Verfließen der Zeit der Finsternis, die Krise nach
dem Verfließen der Zeit des Fortschritts - mit starken Dichotomien: Himmel
oder Hölle, Erlösung oder Verdammnis ("Friß oder stirb"). Darauf folgt, für
alle Zeit, der Fluß der ewigen Seligkeit oder des ewigen Leidens. Und all
dies in der kurzen Zeitspanne zwischen Geburt und Tod in der Biographie
(Mikro-Geschichte) des individuellen Menschen, in der Geschichte einer Ge-
sellschaft, in der Makro-Geschichte einer Zivilisation oder der ganzen Welt,
von der Genesis bis zur Apokalypse. Was wäre dramatischer, zumal, wenn es
der ganzen Welt auferlegt wird?
Das Transpersonale ist eindeutig dichotom, mit individuellen Personen,
alle ausgestattet mit einer immerwährenden und unsterblichen Seele zwi-
schen dem einen Gott und dem einen Satan, die beide transzendent und über
bzw. unter demjenigen zu Hause sind, was in anderen Religionen vielleicht
die Mutter Erde wäre, und die um den Besitz dieser Seele kämpfen und zwar
für nichts weniger als für die Ewigkeit - wobei ihnen nur ein Sekunden-
bruchteil dieser Ewigkeit, die Spanne des menschlichen Lebens, für diesen
Kampf zur Verfügung steht. Der konkrete Glaube oder die konkrete Religion
ist die einzige Wahrheit (Singularismus) und gültig an allen Orten und für
alle Zeiten (Universalismus),318 so wie dies im Missionsbefehl zum Ausdruck
kommt. 319 Was könnte stärker sein?
317 Der grundlegende Text des Abendlandes (das Buch, Kitab im Arabischen), die Bibel,
und besonders das Alte Testament ist dieser Formel entsprechend konstruiert.
318 Der Judaismus stellt hier eine Ausnahme dar, da er nicht universalistisch ist. Der Ju-
daismus muß partikularistisch sein, nur für Juden gelten und Bekehrungen be-
schränken. Die Hauptglaubenssätze betreffen ein erwähltes Volk, die Juden, sowie
ein Gelobtes Land im östlichen Teil des Mittelmeers, und daher ist der Judaismus als
einzig richtiger Glauben (Singularismus) möglich, doch nicht für alle (Universalis-
mus). Das Gelobte Land, im Alten Testament mit einem hohen Grad an geographi-
scher Genauigkeit beschrieben (Genesis 15: 18, Genesis 17: 5-14, Numeri 34: 1-12),
ist einfach nicht groß genug, um jedermann aufzunehmen.
319 Matthäus 28: 19-20: "Geht daher hin und macht alle Völker zu Jüngern - und ich bin
bei Euch alle Tage bis ans Ende der Welt." (Hervorhebungen J. G.).
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 375
als durch die Menschen, eher durch Frauen als durch Männer, eher durch
Junge und Alte als durch die Menschen mittleren Alters. 323
Da es sich hierbei um eine Abzweigung von Okzident I handelt, der dieser
Auffassung der westlichen Makro-Geschichte nach 324 seinerseits eine Ab-
zweigung von Okzident 11 wurde, und zugleich um eine alternative Kosmo-
logie, die in der herrschenden Kosmologie von Okzident I weiterlebt, muß es
eine Anzahl von Ähnlichkeiten geben, nicht nur Unähnlichkeiten. Sogar
während der beiden wichtigsten Brüche der abendländischen Geschichte,
dem Niedergang und Fall des Römischen Reiches und dem des Mittelalters,
gab es wichtige Kontinuitäten. Doch in bei den Fällen zeigte sich die herr-
schende Kosmologie unfähig, die enormen Probleme aus eigener Kraft zu lö-
sen. Die Stärke des Okzidents besteht in einer Reserve-Kosmologie, auf die
er immer zurückgreifen kann, wenn die jeweils andere scheitert.
So wird in Tabelle 4.3 die Konstruktion der Natur als ganz allgemein okzi-
dental betrachtet, und das gleiche gilt für die persönliche Zeit Das Transperso-
nale unterscheidet sich in einem Punkt, und zwar insofern, als das Christentum
nun auch die Botschaft von einem immanenten Gott mit sich bringt, etwa in der
Tradition des Hl. Franz von Assisi. 325 Dies bedeutet, daß in bezug auf die Natur
und auf Gott das Leben nicht so anders war; wobei die Qual angesichts der Kri-
sen aus dem Kairos ein entscheidendes Gestaltungsmoment des persönlichen
Lebens machte. Doch kommen wir nun zu den Unähnlichkeiten.
Das Knotenmodell der Gesellschaft wird stark modifiziert. Sicher hat die
Sorge um die individuelle Seele Bestand, doch der kollektive Aspekt der ge-
sellschaftlichen Organisation tritt sehr viel stärker hervor: die Kirchenge-
meinde, das Kloster, das Dorf, die örtliche Gemeinschaft ganz allgemein.
Ansammlungen von Knoten, in anderen Worten. Die Gemeinschaft wird zu
einem Zentrum zusätzlich zu Gott und der Krise, etwas Festes, so wie sich
dies in der flachen Konstruktion der gesellschaftlichen Zeit ausdrückt. Tat-
sächlich wird die Gemeinschaft zur Welt und, die begrenzt ist, wobei man
annimmt, daß andere auch ihr Zentrum haben, ihre Bühne, um ihr persönli-
ches Drama zu entfalten, und daß ein Zuviel an gesellschaftlichem Wandel
323 Die Beziehung zwischen Kosmologie und dem Gesamt der Gesellschaftsformation ist
ein wichtiges Problem, das untersucht werden wird in A Theory of Civilizations, doch
hier aus Raumgründen ausgespart bleibt. Insbesondere wird die These Mann: Frau =
Okzident: Orient weitgehend verifiziert, was etwa die Möglichkeit eines potentiellen
Bündnisses der Frauen von überall mit dem Orient gegen die derzeitige Beherrschung
der Welt durch die Männer und die Kosmologie von Okzident I zur Folge hat.
324 Siehe Johan Galtung, Erik Rudeng und Tore Heiestad: "On the Last 2500 Years in
Western History. And Some Remarks on the Coming 500", in: Peter Burke (Hg.):
The New Cambridge Modern History, Companion Volurne, Bd. XIII, Cambridge
1979, S. 318-361.
325 Siehe das wunderbare Buch von Leonardo Boff. Saint Francis: a Model for Human
Liberation, New York 1984.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 377
die Erlösung behindern und nicht fördern werde. Dies gilt gleichermaßen für
die vertikale Dimension. Gesellschaftliche Positionen werden in einem Ka-
stensystem eingefroren, das den Klerus, die Aristokratie, Bürger und Ar-
beiterlLeibeigene in dieser Anordnung organisiert, dann fortgeht zu den Aus-
gestoßenen (Juden, Mauren, Zigeunern usw.) und schließlich zu den Tieren,
Pflanzen, Mineralien, Wasser, Luft und Raum.
All dies ist bestens vereinbar mit einem starken Über-Ich, das in das Selbst
eingebaut ist und das Ich unterdrückt (der Soziologe würde vielleicht von einer
starken gesellschaftlichen Kontrolle in der örtlichen Gemeinschaft sprechen,
und zwar besonders durch Gottes Repräsentanten, den lokalen Klerus). Doch
das Es bleibt heftig bewegt - vielleicht wegen übermäßigen Fleischgenusses?
Mit Ausnahme des Dramas der persönlichen Zeit ist Okzident 11 eine ge-
sellschaftliche Konstruktion der Stabilität, und die Epistemologie trägt zu
dieser Zementierung der Wirklichkeit bei. Descartes' Atome unterteilen die
Wirklichkeit gerade ebenso wie der Individualismus die Gesellschaft. Doch
gerade dadurch eröffnen sie auch Möglichkeiten zur Dynamik/26 für Kräfte,
die nicht gebändigt wurden durch die Zwangsjacke eines Ganzen (holon), das
die scholastische Vorliebe für den Holismus erbaute. Auch der Holismus
kann dynamisiert werden, wenn man nämlich davon ausgeht, daß in seinem
Inneren Widersprüche am Werk sind, so wie dies z.B. der Buddhismus un-
terstellt, und wie es besonders im Taoismus entwickelt wird. Der Holismus
der Epistemologie von Okzident 11 ist in hohem Maß deduktiv, taxonomisch
und syllogistisch - und statisch. Die grundlegende Vorstellung besagt, daß es
all das einzufangen gilt, was unter ein generelles Klassifikationsschema fällt.
Eine Kosmologie also für stabile Verhältnisse, so wie dies die Entwicklung
des Römischen Rechts etwa veranschaulicht.
Zur Indischen Kosmologie Reisen wir von den beiden Okzidenten, die in den
drei abrahamitischen Religionen Ausdruck finden, ostwärts, dann treffen wir
auf den Indischen Raum. So wie es Kontinuitäten in der Zeit gibt (westliche
Makro-Geschichte), so gibt es Kontinuitäten im Raum (Welt-Makro-Geogra-
phie). So finden wir z.B. einen großen Teil derselben Konstruktion von Ge-
sellschaft wieder, sogar mit denselben Gesellschaftsrängen für die Menschen
und in derselben Anordnung: Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas, Shudras
und dann die Ausgestoßenen, die Parias. Auch die Konstruktion des Selbst
ist ähnlich, doch flexibler, wie in Tabelle 4.3 beschrieben. Das Schwache und
Starke Seite an Seite, in anderen Worten eklektischer, ein Thema von wach-
sender Bedeutung, je weiter wir uns nach Osten bewegen. Seine besondere
Betonung findet dies in der Episteme, die das Atomistische mit dem Holisti-
schen und das Deduktive mit dem Dialektischen verbindet.
327 Eine Beobachtung der frühen achtziger Jahre an der Mauer in Berlin, zwischen
zahlosen Graffiti: Karma:
"Whatever you say, ("Was immer Du sagst,
Whatever you do, und was immer du tust,
sooner or later kommt früher oder später
comes back to you." zu dir zurück".)
328 Die Religion der Sikhs, ein hochinteressanter Komprorniß, wenn dies die angemes-
sene Bezeichnung ist, zwischen dem Islam und dem Hinduismus, kennt die Reinkar-
nation - jedoch nur für einige Generationen, danach wird die Seele ins Paradies auf-
genommen.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 379
beide ihren Platz - ein Ausdruck des indischen Geschicks, eine Vielzahl von
Kosmologien zu beherbergen.
Die Einheit der Welt ist grundlegend für die Gesamtkonstruktion. Die
Sanskrit-Redensart Vasudaiva Kuttumbakam (die Welt ist meine Familie)
bringt das sehr gut zum Ausdruck. Doch wird die Grundlage dieser Einheit
wahrscheinlich nicht nur in der sozialen Interaktion gesehen, die uns alle zu-
nehmend vom Anderen abhängig macht, einschließlich des Anderen der
Vergangenheit und des Anderen in der Zukunft; die Grundlage besteht wahr-
scheinlich auch in einer unterstellten, imputierten Ähnlichkeit. "Kratze an ir-
gendeinem Menschenwesen, und du wirst einen Hindu finden", ist es das?
Wenn es das ist, dann gibt es dafür gute Gründe. Hinduismus als eine
Sammlung religiöser Glaubensbekenntnisse ist vielleicht das reichste Reser-
voir an Archetypen und Metaphern unter allen Weltregionen, das solche Di-
lemmata wie Mono-, Poly-, Pan- oder A-theismus in ein voll tönendes und
umwandelt, indem es allen derartigen Vorstellungen, agnostizistischen einge-
schlossen, Raum gewährt. Wiege oder Kreuzung der Kulturen, der Hinduis-
mus umfaßt sie alle. In dieser Sicht ist die Welt in der Tat eine einzige, wobei
in Indien vielleicht eher als anderswo ein Zentrum ausgemacht werden kann.
Indische Kosmologie operiert mit eher begrenzten Vorstellungen des Raumes
Welt und verkörpert darum in einem gewissen Sinne gerade das Gegenteil
der Konstruktion von Okzident I, deren Träger zwar behaupten, daß der Na-
tionalstaat ihre Heimat sei, aber gleichzeitig versuchen, das gesamte Universum
auszufüllen. Der indischen Konstruktion zufolge ist das Universum vielleicht
die Heimat der Inder wie die Heimat aller Menschen, doch kleben sie im gro-
ßen und ganzen an ihrer eigenen, oft ganz lokalen Lebensstätte. Es gibt überall
auf der Welt Inder, doch nicht zugunsten oder im Namen Indiens.
Hierfür mag es gute Gründe geben. Auch die gesellschaftliche Zeit ist be-
grenzt. Nach einem Kalpa-Zyklus (2000 Mahayugas, große Zeitalter, von de-
nen jedes 2160 Jahre dauert, insgesamt 4 320000 menschliche Jahre, "ein Tag
im Leben Brahmas") werden das Universum, die Götter und Brahma zerstört -
mit einem geringeren Ausmaß an Zerstörung nach den kürzeren Zyklen. Die
Richtung zeigt in der Regel nach unten, dann Apokalypse, dann eine Ruhepha-
se, dann der Neubeginn nach einem Aufwärtssprung, dem Auftritt der Avatars.
Zur Buddhischen Kosmologie Auf unserer Reise haben wir, ausgehend von
Okzident I, nun etwa die Hälfte zurückgelegt und sind im Bereich des südli-
chen, nördlichen und östlichen Buddhismus angelangt, von Sri Lanka bis zur
Mongolei und bis nach Japan. Eine reine Form nimmt der Buddhismus in den
Hinayana-Ländern Sri Lanka, Burma, Thailand, Kambodscha und Laos und
in den lamaistischen Ländern Tibet und der Mongolei an. 329 Hingegen tritt er
329 Natürlich kann hier das Argument vorgebracht werden, daß es sich beim Lamaismus,
der ja auf dem Begriff eines lebenden Gottes, des Dalai Lama, und der Aufeinan-
380 Zivilisationstheorie
derfolge der Reinkarnationen eher als der Wiedergeburt beruht, nicht um Buddhis-
mus handelt.
330 Honolulu, HI 1964. Nakamura vergleicht den Buddhismus Indiens, Chinas, Tibets
und Japans miteinander, um die nicht-buddhistischen Aspekte dieser Glaubenssy-
steme besser zu verstehen.
331 Siehe für eine kritische und sehr gut unterrichtete Auffassung Diana Y. Paul: Women
in Buddhism: Images of the Feminine in the Mahayana Tradition, Berkeley, CA
1988.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 381
Zur Sinischen Kosmologie Weiter im Osten treffen wir auf die Verfeinerung
der san Ja, die chinesische Version einer Verbindung von Taoismus-Konfu-
zianismus-Buddhismus. Die sinische Kosmologie zeigt ihrer aller Spuren, so
daß ein hoch differenziertes Weltbild entsteht, und dies ist wahrscheinlich ein
wichtiger Grund dafür, daß China, länger noch als das oft von Invasionen
geplagte Indien, die Zeiten überdauert hat. Der Taoismus arbeitet den bud-
dhischen Schwerpunkt auf einer holistisch- dialektisch- widersprüchlichen
Episteme sogar noch weiter aus, indem er auf der alten Yin/Yang-Auffassung
der Wirklichkeit aufbaut. Der Schwerpunkt auf dem Ganzen (holon) bleibt
erhalten, doch wird er unter dem Einfluß des Taoismus noch dynamischer
gestaltet. So war z.B. Über den Widerspruch ein wichtiges, unter Mao Ze-
dongs Namen veröffentlichtes Werk, das auf der chinesischen Tradition auf-
baut, auch wenn diese nicht explizit erwähnt wird - nicht unbedingt deshalb,
weil sie vernachlässigt wird, sondern weil sie für ausgemacht gilt, als "nor-
mal und natürlich".
Der Taoismus verschmilzt mit dem pragmatischen Empirismus des Kon-
fuzianimus, der auch die Vermeidung der Extreme betont und in der Mitte
verbleibt;332 daher die häufige Verwendung von "gemischt" und "eklektisch"
zur Beschreibung der sinischen Kosmologie. Chinesen hätten vielleicht den
Begriff "ausbalanciert" vorgezogen, der hier als zu wertbeladen vermieden
wird.
Deutlich wird das zuletzt Gesagte in der Konstruktion der Natur: Men-
schen sind an der Macht, doch nicht so sehr, wie sich deutlich auf chinesi-
schen Gemälden zeigt, die die Natur als kolossal abbilden, sogar als über-
wältigend im Vergleich zu den winzigen menschlichen Gestalten. Und was
den Karnismus bzw. Vegetismus angeht: warum nicht beides? Das Fleisch
als Würze, dann viel Reis und Gemüse und Suppen.
Seine wichtigsten Spuren hinterließ der Konfuzianismus in der Konstruk-
tion von Gesellschaft und Welt. Die Gesellschaft wird in Begriffen des tat-
sächlich bestehenden chinesischen Feudalsystems konstruiert, das vier Ka-
sten mit Rechten und Pflichten für alle Gruppen umfaßt: shi'h (Intellek-
tuelleIBürokraten), nung (Bauern), kung (Handwerker) und shang (Kauf-
leute). Dies läßt die Außenseiter außen vor, die Ausländer, die Barbaren, und
auch sie werden in vier Gruppen unterteilt: die Barbaren des Nordens, des
Ostens, des Südens und des Westens, sie alle mit wenig schmeichelhaften
Merkmalen versehen, besonders die Barbaren des Nordens (zur Zeit die Rus-
sen) auf der anderen Seite der Großen Mauer.
Die Barbaren verschwinden im Nebel der Geographie, die Welt ist ohne
Grenzen. Wichtig ist nur, daß die Chinesen wissen, wo diese sind, und daß
sie Abstand halten können. An der Spitze dieser gesamten Konstruktion ste-
hen die führenden shi'h, die das Reich der Mitte beherrschen, zhong guo, in
333 Diese Konstruktion erfuhr für eine kurze Zeit nach der japanischen Kapitulation von
1945 einen gewissen Niedergang. Involviert waren noch weitere Länder, aber nur
von geringerer Bedeutung.
334 Buschido ist ein Kodex für den Krieger oder insgesamt die samurai-Kaste oder -Klasse,
der die Furchtlosigkeit betont, den Gehorsam gegenüber der Autorität sowie Freund-
lichkeit und Tugendhaftigkeit gegenüber den niedrigeren Klassen.
335 Dies ist de facto die Japanische Lesart von shi. Chinesische Schriftzeichen haben oft
eine der chinesischen ähnliche und eine nur japanische Auslegung.
336 Andererseits gibt es auch das Element des "Ritters" in der Übersetzung von shi'h.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 385
Wie in der sinischen Kosmologie gibt es Höhen und Tiefen in der Zeit,
wobei die Tiefen als ebenso normal wie die Höhen erscheinen und daher
nichts sind, um dessen willen man hysterisch werden müßte. Doch gibt es
auch einen alles umfassenden Optimismus, die Variante eines "Fortschritt-
glaubens", und zwar sowohl für die persönliche als auch für die gesellschaft-
liche Zeit.
337 Dies ist die Definition aus These Nr. 1 im 1. Kap. von Teil III.
338 Dies kommt der dynamischeren Definition des Friedens nahe, die ich in Kap. 1.1 von
Teil I gegeben habe, wobei dort der Nachdruck auf den Konfliktaspekt gelegt wurde.
388 Zivilisationstheorie
Welche Entwicklungen (Plural!) finden wir, wenn wir von Tabelle 4.3
ausgehen?
Okzident I. Der Konstruktion der Zeit unterliegt eine Idee des Fortschritts,
sowohl auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene, die im Angesicht
einer drohenden Krise, die den Okzident I vor die Wahl "friß, oder stirb"
stellt, für starke Menschen und starke Gesellschaften sorgt. Starke, erfolgrei-
che Menschen werden zu gesellschaftlichen Eliten, und starke, erfolgreiche
Gesellschaften rücken in das Weltzentrum ein. In diesem Prozeß wird die
Natur unterworfen, auch durch eine anti-holistische und anti-dialektische
Episteme im Dienste von Entwicklung als einer technischen Formierung der
Natur, des Menschen, der Gesellschaft und der Welt. Es ist ein einziges, uni-
versell gültiges Prinzip, das die Entwicklung anleitet: in der religiösen Ver-
sion die Herrschaft Gottes, individuell und gesellschaftlich (mit dem Klerus
an der Spitze), und in der weltlichen Version die individuelle und ge-
sellschaftliche Verwirklichung der Herrschaft des Wachstums (mit Geld an
der Spitze).
Die Peripherie von Gesellschaft und Welt besteht aus den Menschen und
Gesellschaften, die das leitende Prinzip akzeptieren; andere, die das Prinzip
nicht akzeptieren, sind (das) Böse. Frieden bedeutet, sie außer Gefecht zu
setzen, sie zu eliminieren oder zu marginalisieren, so daß die Entwicklung
ungehindert durch die bösen Kräfte ihren Fortgang nehmen kann. Mit unter
Umständen katastrophalen Folgen für den/die Anderen.
Okzident Il: Es gibt Fortschritt und Krise, doch stehen sie im Dienste der
göttlichen Herrschaft und der spirituellen Entwicklung des Menschen, dienen
sie desweiteren dem Zugang zur Elite für den Klerus und allfällige Heilige.
Die Entfaltung der Person findet lokal statt und setzt keine gesellschaftliche
Veränderung voraus. Auch ist die räumliche Perspektive, die das Zentrum
definiert, begrenzt, beschränkt auf die lokale Ebene. Die hauptsächlich theo-
logische Episteme dient dieser Entwicklung; sie vernachlässigt die Natur, mit
womöglich katastrophalen Folgen für dieselbe, für die Gesellschaft und
letztlich für das Selbst: Niedergang und Fall von Okzident 11.
Indisch: In Anbetracht der Idee des Rückschritts, die den zyklischen (Kalpa-)
Theorien der Gesellschaft und der Welt anscheinend unvermeidlich inne-
wohnt, sollte der Schwerpunkt der Entwicklung auf der individuellen Ebene
liegen. Hier treten nun die vier grundlegenden, leitenden Prinzipien des Hin-
duismus als Wegweiser zur Entwicklung in Erscheinung: dharma (morali-
sche Pflicht), artha (Reichtum, Lebensunterhalt), kama (Lust) und moksha
(Befreiung). Das Leben ist in vier Phasen eingeteilt. Sobald es sich entfaltet,
wird auch moksha selbst, Befreiung als eine Seinsweise, freigesetzt. In der
ersten Phase liegt der Schwerpunkt allein auf dharma, in der zweiten wird
das Individuum ganz in diese Welt gestoßen, in der dritten liegt der Schwer-
lmplikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 389
punkt auf dem Dienst in dieser Welt und in der Schlußphase auf der Selbst-
verwirklichung. Moksha spielt während der gesamten Zeit eine Rolle, in
höchstem Maße aber während der letzten Phase. Das gesellschaftliche Leben
sollte dem entsprechen, und zwar vielleicht derart, daß diejenigen, die in der
letzten Phase stehen, ihre Weisheit an die weitergeben, die in der ersten ste-
hen, und daß arthalkama dharmalmoksha nicht behindern. Es gibt zwei Ar-
ten der Episteme, wobei die eine artha/kama dient und eher der abendländi-
schen Wissenschaft ähnelt, die andere aber dharmalmoksha. Nur das Selbst
steht moksha (und einer besseren Reinkarnation) im Wege, nicht ein böser
Anderer: Frieden hält man wesentlich mit sich selbst.
Buddhisch: Entwicklung soll dem persönlichen Wachstum im Sinne von
moksha dienen. Da sich dieses auf der lokalen Ebene abspielt, allein oder in
Gesellschaft mit anderen im sangha, bedeutet die Entfaltung der Kosmologie
keinen Wandel der Gesellschaft oder der Welt über das hinaus, was auf der
lokalen Ebene benötigt wird, um jedermanns Bedürfnissen im rechten Maße
nachzukommen. Die Episteme dient dieser Funktion und sorgt dabei für eine
solche Beziehung zur Natur, daß eine lokal begründete Befriedigung der
menschlichen Bedürfnisse und derjenigen anderer Lebensformen möglich ist.
Frieden hält man mit sich selbst und mit allen anderen Wesen.
Sinisch: Es gibt persönliche und gesellschaftliche Entwicklung, beides mit
Höhen und Tiefen. Es besteht eine alles andere überragende Aufgabe: die
Erhaltung und Stärkung des Reichs der Mitte. Entwicklung ist vor allem die
Entwicklung Chinas. Sind interne Transformationen der Gesellschaft für die-
sen Zweck nötig, dann sollen sie auch sein. Wird China ernsthaft durch Bar-
baren irgendeiner Art bedroht, dann müssen die äußersten Mittel zur Vertei-
digung Teil der gesellschaftlichen Konstruktion sein. Da das Transpersonale
nur schwach artikuliert ist, kann der Sinn persönlicher Entwicklung nicht in
der individuellen Erlösung, Reinkarnation oder Wiedergeburt bestehen. Zeit-
liche Kontinuität beruht auf dem Überleben der Großfamilie, der lokalen
Gemeinschaft und Chinas. Die Episteme soll diesem Zwecke dienen und
stellt China in den Mittelpunkt.
Nipponisch: Diese Kosmologie teilt die transzendente Erwähltheit mit dem
Okzident (I und 11) und positive, defensive Erwähltheit mit China (wie
Frankreich un peuple ilu, mais par lui-meme), die sich gegen Einmischungen
richtet, ohne jedoch überall in der Welt das Böse, wie etwa Mohammedaner,
Heiden oder Kommunisten, zu identifizieren und im Namen des Friedens zu
attackieren als etwas, das eliminiert werden muß (wie es Okzident 1 macht,
der sich selbst als christlich, zivilisiert und demokratisch betrachtet). Der
Schwerpunkt wird auf der Entwicklung Japans liegen, doch weniger als im
Falle Chinas allein im Vertrauen auf sich selbst, sondern auch auf der
Grundlage des Austauschs mit Resourcia und einer gewissen Japanisierung
390 Zivilisationstheorie
339 Dies wird näher untersucht bei Johan Galtung: Buddhism. A Quest for Unity and Pe-
ace, Colombo 1993, Kap. 4 über Natur.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 391
Wir wollen nun den Frieden miteinbeziehen, so wie er sich in den Kos-
mologien zeigt, und Begriffe des Friedens überall in der Welt untersuchen,340
um Hypothesen intrinsischer kosmologischer Zusammenhänge zwischen Ent-
wicklung und Frieden zu überprüfen. Wir beginnen mit Okzident I und zwar
mit dem Begriff pax des Römischen Reiches. Pax meint hier Frieden im en-
gen Sinne als absentia belli, Abwesenheit von Krieg, d.h. von organisierter
Gewalt zwischen Gruppen, die durch ihre Klasse, Rasse, Kultur (Nationalität,
einschl. Sprache, Religion und Ideologie) und territoriale Lage definiert sind.
Internationaler oder externer Frieden meint die Abwesenheit externer Kriege
zwischen Ländern, zwischen Staaten oder zwischen Nationen (im Sinne von
Kulturen). Gesellschaftlicher oder innerer Frieden ist die Abwesenheit von
inneren Kriegen, bei denen Klassen, Rassen, nationale oder territoriale Grup-
pen die zentrale Regierung oder sich untereinander herausfordern. Da die
zentrale Regierung ein Spätankömmling in der menschlichen Geschichte ist,
kamen auch Kriege zwischen und gegen Regierungen spät. Kriege können
also vermieden, Frieden kann im Prinzip errungen werden.
Das lateinische pax ist mit Pakt verwandt, wie in pacta sunt servanda,
"Verträge müssen eingehalten werden". Die implizite Theorie, daß es sich
beim Frieden um eine vertragliche, bewußte, auf gegenseitiger Vereinbarung
beruhende Beziehung handelt, ist die Quelle der westlichen Tradition inter-
nationalen Rechts. Doch das römische Erbe drückt sich auch aus im si vis
pacem, para bellum, "willst Du Frieden, dann bereite den Krieg vor" - eine
Quelle der westlichen Militärtradition und ein weiterer Strang der gängigen
abendländischen Friedenstheorie: Frieden durch die Abschreckung eines je-
den potentiellen Angreifers. Man begegnet dem Angreifer zu Hause mit de-
fensiver Abwehr und/oder außerhalb mit offensiver Verteidigung oder offe-
ner Aggression. Das gängige abendländische Denken über Frieden hat sich
während der letzten 2000 Jahre kaum verändert, sieht man ab von einigen
Elementen orientalischen Typs, die während des Mittelalters, während der
Epoche von Okzident 11 Einfluß gewannen.
Weitere Definitionen des Friedens umfassen üblicherweise den Begriff
pax, erweitern ihn jedoch, indem sie drei Fragen stellen: "Welcher Typus von
Gewalt?", "Gewalt durch wen?" und "Frieden mit wem?". Die erste Frage
führt zu einer Unterscheidung zwischen Gewalt gegen den Körper und Ge-
walt gegen Seele und Geist. Ein Beispiel für letztere stellt das Leben unter
der Bedrohung dar, in einem Krieg mit Massenvernichtungswaffen ausgerot-
tet zu werden (z.B. einem atomaren Krieg), so daß die Definition des Frie-
dens als Abwesenheit von Krieg so ausgeweitet wird, daß diese auch die
340 Man betrachte für eine detailliertere Darstellung A. C. Bouquet und K. S. Murty:
Studies in the Problems 0/ Peace, Bombay 1960, und Takeshi Ishida: "Beyond Tra-
ditional Concepts of Peace in Different Cultures", in: Journal 0/ Peace Research,
6/1969, H. 2, S. 133-145.
392 Zivilisationstheorie
341 In der Tat ist dies eine sehr interessante Hypothese, die empirisch überprüft werden
könnte. Eine andere Frage ist, ob denjenigen, die diese Hypothese aufstellen, an ir-
gendeiner Überprüfung derselben etwas gelegen ist. Für die Hypothese dürfte spre-
chen, daß Menschen mit innerem Frieden über weniger unverarbeitetes Konfliktma-
terial verfügen, das auf eine Konfliktformation projiziert werden und zur Konfliktde-
formation führen könnte. Gegen die Hypothese könnte sprechen, daß jemand mit un-
gelösten inneren Konflikten ein tieferes Verständnis des eigentlichen Konfliktgehal-
tes und zugleich mehr Erfahrung damit haben könnte, wie sich Konflikte ohne Ge-
waltanwendung transformieren lassen. Es gibt hier eine Parallele zur Krankheit: Ein
Mensch mit wenig oder gar keiner persönlichen Erfahrung mit Krankheit wird die
Frühwarnzeichen, die Symptome einer ernsthafteren Erkrankung nicht rechtzeitig er-
kennen.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 393
342 Diese Auffassung wird weiterentwickelt in Johan Galtung: "Social Cosmology and
the Concept of Peace", Teil 11 von Kap. 15, der Essays in Peace Research, Bd. V,
Kopenhagen 1980, S. 415-436.
394 Zivilisations theorie
staltet nach westlicher Theorie und Praxis, Z.B. im Zusammenhang mit dem
Internationalen Recht (dem Haager System).343
Die zweite Konzeption läßt entsprechend ein System von Verträgen und
Bündnissen gegen das Böse entstehen, ausgerichtet auf das Zentrum der
westlichen Hauptmacht, Z.Zt. die Vereinigten Staaten (mit NATO, TIAP,
SEATO, CENTO, ANZUS, AMPO, usw.). Sie alle binden die Peripherie an
das Zentrum, im Bündnis gegen solche Übel wie den "Internationalen Kom-
munismus", den "Terrorismus" oder "muslimische Fanatiker". Eine Wider-
spiegelung hiervon fand sich früher in jenem System, das um die Haupt-
macht im östlichen Teil des Okzidents, die Sowjetunion und die Organisation
des Warschauer Paktes, errichtet worden war, gegen "Faschismus" und "Im-
perialismus", das Böse in ihrer Weltkonstruktion.
Das Prinzip des Bösen organisierte sich in der Sicht des Okzidents um
zwei Achsen der Geschichte, eine nationale und eine ideologische. Die Na-
tionen, die als Kandidaten für diese wichtige Position in der abendländischen
Konstruktion der Welt ausgesucht wurden, sind vor allem die "Barbaren und
Wilden", die Juden, Araber, Türken und Russen; und die entsprechenden
Ideologien sind das Heidentum, das Judentum, der Islam (im Falle der Ara-
ber und Türken), das orthodoxe Christentum und der Kommunismus, sogar
der "atheistische Kommunismus". "Westlicher Imperialismus" ergibt die öst-
liche Version. Beide fügen vielleicht noch die "Gelbe Gefahr" hinzu. Das
Böse wird auf diese Weise einmal im Nicht-Okzident angesiedelt, ein ande-
res Mal in konkurrierenden Religionen und Ideologien innerhalb des Ok-
zidents selbst.
Das Ausmaß an Gewalt, das im Namen von Frieden und Sicherheit gegen
diese "Kräfte des Bösen" in der Geschichte ausgeübt wurde, ist unglaublich:
Juden töteten Christus, Juden töteten Muslime, Muslime töteten Juden, Mus-
lime töteten Christen, Christen töteten Muslime, Christen töteten Juden in
Pogromen und im Holocaust. 344 Die Bühne war bereitet für die weltliche
Fortsetzung: Liberalismus-Kapitalismus versus Marxismus-Sozialismus, bei-
de bereit, einander umzubringen. 345 Später, ausgesöhnt, wenden sich viel-
343 Vgl. Chad Alger: The United Nations in a Historical Perspective: What We Have Le-
arned about Peace Building, Tokio (United Nations University) 1985.
344 Wie es scheint, besteht das Problem der Bedrohung des Friedens in der abrahamiti-
sehen Religion nicht im Monotheismus, sondern in der Vorstellung, im Besitz des
einzig gültigen Glaubens für das gesamte Universum zu sein, mit anderen Worten, in
der Verbindung von Singularismus und Universalismus im Falle von Christentum
und Islam, in der Verbindung von Singularismus und Partikularismus (das partiku-
läre Gelobte Land) im Falle des Judentums.
345 Man vergleiche für eine Untersuchung, wie dies Thema benutzt wird, um einen Kon-
flikt in Gang zu halten, Johan Galtung: There are Alternatives!, Nottingham 1984,
Kap. 2.1.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 395
leicht beide gegen den Islam (oder die Gelbe Gefahr?) als einem gemeinsa-
men Bösen.
Kommt man auf Zeit zu sprechen, so kann man eine okzidentale Friedens-
und Sicherheitsordnung erwarten, die sich mit der Idee des Fortschritts ver-
trägt, sowie eine Idee der Krise, die entweder zum ewigen Frieden (dt. i.
Orig.) oder zur vollständigen Zerstörung führen könnte; mit anderen Worten,
eine apokalyptische Vision. Mit beiden Vorstellungen verträgt sich das Ver-
trauen auf militärische Mittel im allgemeinen und auf offensive militärische
Mittel im besonderen, sei es für Zwecke der Abschreckung durch Vergeltung
oder einfach für aggressive Attacken, um das Übel an der Wurzel zu packen.
Einerseits erfordert es sorgfältige Arbeit, Bündnisse und ein vollkomme-
nes Gleichgewicht der Macht aufzubauen; andererseits ist dies ein Spiel mit
dem Feuer. Die Warnung, die so oft von allen möglichen Arten von Frie-
densbewegungen durch alle Zeitalter hindurch ausgesprochen wurde - daß
die Politik der Aufrüstung gefährlich sei und nicht nur zerstörerisch, sondern
auch selbstzerstörerisch -, enthält für die Mehrheit der Spezies, die hier als
homo occidentalis bezeichnet wird, nichts Neues. Ganz im Gegenteil er-
scheint eine solche Politik vielleicht gerade deshalb als akzeptabel, weil sie
gefährlich ist, und weil man Gefahr als normal und natürlich betrachtet, ver-
einbar zudem mit der allgemeinen Idee vom Fortschritt durch Krise, ja, Apo-
kalypse. Abrüstung, sollte sie denn je stattfinden, ganz zu schweigen von ei-
nem Wettabrüsten, würde dem Lauf der Natur widersprechen und vermutlich
Gegenmaßnahmen provozieren. Frieden sollte sich wie eine Bekehrung er-
eignen, eine plötzliche Transformation, hervorgebracht durch eine Krise,
vielleicht sogar durch die Gnade der Vorsehung: als Epiphanie. Und wer ist
es, der der Bekehrung bedarf? Das Böse natürlich, nicht der okzidentale Mit-
telpunkt. Also: Stark bleiben, wachsam bleiben!
Hier nun kommt die okzidentale Episteme ins Spiel: einige einfache Ge-
danken an der Spitze und eine Menge besonders anschaulicher, mehr oder
weniger logischer Satelliten ganz unten im Denksystem. Vorstellungen wie
"willst du Frieden, so rüste für den Krieg" oder "Angriff ist die beste Vertei-
digung" bekommen axiomatischen Charakter, dürfen nie falsifiziert werden,
sind nicht einmal falsifizierbar. Bricht der Krieg trotz all der Arbeit aus, die
zur Abschreckung des Bösen verrichtet wurde, dann gilt dies nur als weiterer
Beweis dafür, daß wir in einer gefährlichen Welt leben, nicht aber dafür, daß
das Böse provoziert wurde. In dieser Welt bedeutet Gleichgewicht schließ-
lich "Überlegenheit", die, wenn sie von beiden Parteien verfolgt wird, den
Zirkel von Konflikt und Wettrüsten schließt. Der Einwand, daß die Theorie
des "Friedens durch Stärke" die Dinge vereinfacht, verfehlt die Pointe: Sie
soll die Dinge ja gerade vereinfachen.
Krieg ist offensichtlich mit der biblischen Vier-Klassen-Gesellschaft ver-
einbar, mit Gott an der Spitze, dann die Menschheit, unterteilt in zwei Grup-
pen, Männer und Frauen, schließlich die Natur. Überwältigende Kraft und
396 Zivilisationstheorie
347 Hier handelt es sich sozusagen um das Kleingedruckte auf der Rückseite jeder Men-
schenrechtsdeklaration, um die Menschenpflichten denen gegenüber, die als Garan-
ten dieser Rechte betrachtet werden, den Staaten (und d.h. den Regierungen). Vgl. zu
dieser Thematik Kap. 1.2 meines Buches Menschenrechte - anders gesehen, Frank-
furtIM. 1994.
348 Hierzu A. H. Westing: Warfare in a Fragile World, London 1980, und Johan Gal-
tung: Environment, Development and Military Activity, Oslo 1982.
349 Dies ist eins der Grundthemen, die untersucht werden bei Johan Galtung, Erik Ru-
deng und Tore Heiestad: "On the Last 2.500 Years in Western History. And Some
Remarks on the Coming 500", in: Peter Burke (Hg.): New Cambridge Modern Histo-
ry, Companion Volume, Bd. XIII, Cambridge 1979.
398 Zivilisationstheorie
sehen Wachstums und für den Frieden innerhalb des Ansatzes eines Gleich-
gewichts der Macht.
Konzentrieren wir uns nun auf Zeit und Raum zugleich. "Entwicklung" ist
ein Sonderfall der allgemeinen Idee des Fortschritts, und zwar derart defi-
niert, daß der Westen sich darstellt als die "weiter entwickelten Länder"
(MDCs) und der Nicht-Westen als die "weniger entwickelten Länder" (LDCs),
wenn nicht als unterentwickelte/unentwickelte Länder. Es muß Zentrum und
Peripherie geben, beide "in der Entwicklung begriffen", da es eine universel-
le Dynamik in diesen Dingen gibt. Weiter gibt es das Versprechen auf Fort-
schritt für jeden, der die grundlegenden Bestandteile des westlichen Codes
akzeptiert.,50 Hier stoßen wir jedoch auf einen Widerspruch: Könnte der
Nicht-Westen mit dem Westen gleichziehen, dann könnten dies auch LDCs
mit MDCs und MDCs sogar mit Washington, D.C. (WDC). Eine bedenkliche
Vorstellung!
Doch genau hier kommt der andere Aspekt der abendländischen Zeitkos-
mologie ins Spiel: die Idee der Krise. Ja, vielleicht gibt es eine Krise: Die
LDCs könnten aufholen (wie China). Es ergeben sich zwei Möglichkeiten:
Entweder entwickeln die entwickelten Länder sich in dieselbe Richtung wei-
ter wie zuvor oder vielleicht in eine neue Richtung; oder aber der Nicht-
Westen übernimmt das Steuer und verdrängt den Westen aus seiner zentralen
Position. Gerade diese erschreckende Möglichkeit, in gewissem Maße auf-
grund der raschen Entwicklung Japans und benachbarter Länder bereits
Wirklichkeit, bestätigt die okzidentale Theorie der Entwicklung, wegen der
starken Identifikation des Okzidents mit der Krise, als die normale und natür-
liche. Ein nicht-westliches Zentrum, definiert durch Entwicklung, ist anti-
kosmologisch, ist ein Verbrechen wider die Natur. Der Westen muß als Mo-
dell dienen, nicht der Nicht-Westen.
Was die dazugehörige Episteme angeht, so sind wir in einer Situation
ähnlich derjenigen, die mit Frieden und Sicherheit verbunden ist. Einfache
Vorstellungen, wie die des "ökonomischen Wachstums" und der "Arbeits-
produktivität", stehen an der Spitze eines Denkgebäudes, das Entwicklung
für alle im Rahmen einer mathematisierten Wirtschaftstheorie garantiert. Die
unterste Zeile ist vielversprechend: Fortschritt. Es gibt Varianten dieses
Themas, verschiedene Denkschulen, was den Aufbau der Theorie betrifft,
mit verschiedenen Annahmen; doch die Grundidee bleibt dieselbe. Der Wirt-
schaftsprozeß verwüstet die Natur, doch die Degradierung der Umwelt ist ein
bereits vertrauter Teil der zeitgenössischen Wirklichkeit. Er ist vereinbar mit
Vertikalität und Individualismus, auch damit, daß Frauen niedrigere Positio-
nen zugewiesen bekommen (eher Reproduktion als Produktion), sowie mit
350 Natürlich gibt es mehr als einen westlichen Code, und was hier herausgehoben wur-
de, gilt sowohl für den Marxismus/Sozialismus als auch für den Liberalismus/Kon-
servatismus/Kapitalismus.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 399
Welt, das Zentrum, der Nordwesten der Welt definiert Entwicklung und be-
trachtet sich selbst als Modell; die Zweite Welt, die ehemals sozialistische
Welt, der Nordosten war böse, weil sie behauptete, über einen alternativen
Ansatz zu verfügen und ist jetzt eine neue Peripherie; die Dritte Welt, der
Südwesten ist die alte Peripherie und bleibt weiterhin die Peripherie; und die
Vierte Welt, der Südosten der Welt in Ost- und Südostasien glich einst der
Dritten Welt, droht jetzt jedoch, die Erste Welt zu überholen. Es gibt also
Probleme, gerade so wie im Falle des Strebens nach Frieden. All diese Pro-
bleme wohnen schon der okzidentalen Kosmologie inne und sind nicht not-
wendigerweise unwillkommen, denn sie alle bedeuten: Krise.
Schlußfolgerung: Wir haben gerade die Theorie und Praxis in Sachen
Frieden und Entwicklung, die wir verdienen. Jeder, der hier nicht mitmacht,
muß verstehen, daß der Kampf für "einen anderen Frieden" oder "eine ande-
re Entwicklung" nicht einfach der Kampf um eine andere Ideologie oder ein
Kampf zwischen Rechts und Links ist. Denn wenn die Linke einen neuen
Friedens- oder Entwicklungsvorschlag unterbreitet, etwa im Kontext eines
marxistischen Bezugsrahmens, dann neigt dieser in der Praxis sehr oft dazu,
gerade dem zu entsprechen, was oben skizziert wurde. 354 Warum? Gerade
deshalb, weil der kosmologische Aspekt des Problems nicht hinreichend be-
achtet wurde. Der Kampf für eine andere Entwicklung muß wie der Kampf
um einen anderen Frieden auch als Herausforderung, ja als Transformation
der abendländischen Kosmologie geführt werden - als Transformation all je-
ner tiefsitzenden Überzeugungen also, die die dazu dienen, Frieden über
Waffen und Entwicklung über Geld zu definieren. 355
354 S. für eine höchst interessante Untersuchung des Themas R. N. Batra: The Downfall
ofCapitalism and Communism, London 1972, insbes. Kap. 8 und 9.
355 Dies ist in der Tat ein typisches Beispiel für den Ökonomismus, der sich mit so wich-
tigen und komplexen Externalitäten wie Frieden und Entwicklung auseinanderzuset-
zen versucht, indem er sie erfaßt in Begriffen abnehmender Waffen- und steigender
Entwicklungshilfebudgets. Vgl. hierzu Kap. 3 des dritten Teils über Externalitäten
ganz allgemein.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 401
Aufgabenstellung dieses Abschnitts - der Leser wird auf die anderen Kapitel
verwiesen.
Wir werden uns stattdessen einer begrenzteren Aufgabe unterziehen, in-
dem wir nur von einem Aspekt der zivilisatorischen Codes Gebrauch ma-
chen, der Konstruktion des Raums Welt. Es ist schließlich der Raum Welt, in
dem sich Frieden und Krieg abspielen, so daß die Konstruktion des Raums
Welt einen wichtigen Aspekt darstellen muß, obwohl auch die anderen sechs
eine bedeutende Rolle spielen und mehr oder weniger systematisch Erwäh-
nung finden sollen.
Die zu betrachtenden Zivilisationen sind wie üblich die okzidentale Zivili-
sation im Modus der Expansion, Okzident I; die okzidentale Zivilisation im
Modus der Kontraktion, Okzident 11; die indische Zivilisation, die bud-
dhische, die sinische und die nipponische Zivilisation. Diesen sechs habe ich
hier die "Indigene Zivilisation" hinzugefügt. Es ist überflüssig zu bemerken,
daß die letztere keine kulturelle Einheit hat, außer in einer entscheidenden
Hinsicht, die hier als einzige bedacht wird: Sie existiert in relativ kleinem
Maßstab und ist Bestandteil eines Netzwerks mit vielen Zentren.
Zur besseren Erinnerung wiederhole ich noch einmal die jeweils spezifi-
sche Konstruktion des Raumes in den sechs Kosmologien, wobei ich die der
"indigenen" Kosmologie für diesen Versuch zu begreifen, in welchem Maße
Frieden und Krieg verstanden werden können als Umsetzung kosmologischer
Raum Welt-Aspekte, noch hinzufüge:
Okzident I: Die Welt ist dreifach unterteilt: ein okzidentales Zentrum, eine
Peripherie, die darauf wartet, okzidentalisiert zu werden, und eine wider-
spenstige, randständige, äußere Peripherie des Bösen;
Okzident II: Die Welt ist in viele Teile unterteilt, von denen jede ein Zentrum
eigenen Rechts ist; mit anderen Worten: eine Welt mit vielen Zentren;
indische Zivilisation: Unter dem Einfluß der grundlegenden Doktrin von der
Einheit aller Menschen wird die Welt als eine große Einheit betrachtet - eine
Doktrin, die in Indien jedoch besser verstanden wurde als irgendwo sonst;
buddhische Zivilisation: Es gibt eine grundlegende Unterstellung der Einheit
aller Menschen, doch auch eine Konstruktion des Raums mit vielen Zentren,
wobei jedes Zentrum wesentlich mit sich selbst und weniger mit der Kontrol-
le durch andere oder von anderen befaßt ist;
sinische Zivilisation: Die Welt ist zunächst in zwei Teile unterteilt, China als
Zentrum und Nicht-China oder Barbaria, welche sodann nochmals vierfach
unterteilt ist, in die nördlichen Barbaren (die schlimmsten), die östlichen
Barbaren, die südlichen Barbaren (wahrscheinlich die besten) und die westli-
chen Barbaren;
402 Zivilisationstheorie
nipponische Zivilisation: Sie teilt die Welt in drei Teile: ein Zentrum, näm-
lich Japan, eine innere Peripherie, die aus einigen Ländern des Südostens der
Welt besteht, grob gesprochen aus der Greater East Asia Co-prosperity Sphe-
re (dai-to-a kyoeiken), und eine äußere Peripherie, der Rest der Welt, der als
ein weites Resourcia für Rohmaterialien und andere Produktionsfaktoren und
als ein großer Markt betrachtet wird;
indigene Zivilisation: Wieder wird die Welt als eine mit vielen Zentren be-
trachtet, bei mehr oder weniger explizitem Wissen über diese anderen Zen-
tren. In dieser multizentrischen Konstruktion kann es auch Elemente der an-
deren, bereits erwähnten Kosmologien geben.
Bevor wir weitergehen, wollen wir die Darstellung vereinfachen, indem wir
Okzident 11, die buddhische und die indigene Zivilisation zusammenbringen,
da sie alle mit derselben Konfiguration eines Raumes mit vielen Zentren re-
lativ kleiner Gesellschaften operieren. Im Vergleich zu den anderen vier Zi-
viIisationen, die der Welt als ganzer irgendeine Struktur unterstellen, sind sie
nicht wirklich weltumgreifend. Sie betrachten die Welt eher als in viele, fun-
damental auf sich selbst bezogene Teile aufgesplittet und andere Teile nicht
als peripheren Teil ihrer selbst oder als notwendigen Gegner oder als etwas,
wovon sie sich Nutzen verschaffen sollten. Vielleicht gibt es auch bei ihnen
Elemente solcher Vorstellungen, doch nicht als grundlegende und überdau-
ernde Konzeptualisierungen. Wir werden daher diese drei kombinieren als
Zivilisationen, die den Raum Welt mit vielen Mittelpunkten konstruieren.
(Sicherlich wird hier einer Vielfalt Gewalt angetan, die zu reich ist, sie in das
vorliegende Schema zu pressen, doch sehe ich im gegenwärtigen Kontext
keine andere Möglichkeit.)
Die zu untersuchende Matrix liefert Tabelle 4.5 (die Ausrufungszeichen
signalisieren Gefahr).
In der Tabelle ist die Hauptdiagonale klar erkennbar: die intri\zivilisatori-
schen Begegnungen. Die Kombinationen sind in der Reihenfolge numeriert,
in der sie untersucht werden, insgesamt fünfzehn bilaterale Beziehungen.
Man könnte einwenden, die Matrix sei nicht symmetrisch, eine bilaterale
Beziehung könne immer von zwei Seiten betrachtet werden, und das ist na-
türlich richtig. Die Nuancen aber, die solchen Betrachtungen abgewonnen
werden können, sind im vorliegenden Kontext von minderer Bedeutung. Es
bleiben also fünfzehn Aufgaben zu erledigen, fünfzehn Beziehungen, die
untersucht werden müssen.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 403
356 Und daraus folgt, daß alle anderen Länder Abweichungen von den Vereinigten Staa-
ten als Norm darstellen. S. für einige vorläufige Untersuchungen dieses Themas Jo-
han Galtung: "The United States in Indochina: The Paradigm for a Generation", in:
Essays in Peace Research, Bd. V, Kopenhagen 1980, Kap. 8, S. 219-228. Und für
den Einfluß der Kosmologie auf die Vereinigten Staaten s. ders.: The United States
Foreign Policy As Manifest Theology, San Diego, CA 1987.
357 Dies ist ein Grundthema in Johan Galtung: There Are Alternatives!, Nottingham
1984, Kap. 3.2.
404 Zivilisationstheorie
zur sich selbst erfüllenden Prophezeihung werden, die genau die Umstände
hervorbringt, die sie selbst vorhergesagt hat (z.B. "die Welt ist ein gefährli-
cher Ort").
Es ist schwer zu berechnen, wie hoch der Protenzsatz kriegerischer Aktivi-
tät der Menschheit in dieser ersten Kombination ist, doch muß er beträchtlich
sein. Die Alternative liegt auf der Hand: eine Politik des Friedens durch As-
soziation, wie in der Europäischen Union, bis hin zu Föderationen und Ein-
heitsstaaten, die sich dem Problem öffnet, in welchen Beziehungen Okzident
I zum Rest der Welt steht (Nummer (6), (7), (8) und (9) in Tabelle 4.5). Kann
Okzident I sich egalitäre Beziehungen mit anderen überhaupt vorstellen?
(2) Multizentrisch - Multizentrisch: Wir haben es hier mit einer ganz anderen
geopolitischen Logik zu tun. Idealerweise kann jedes Zentrum alle anderen
als Teile einer multizentrischen Welt betrachten und es dabei bewenden las-
sen, inspiriert durch eine Doktrin des "leben und leben lassen". In der Praxis
gab es jedoch Krieg in der Epoche des Mittelalters, obwohl hier viel rein ri-
tueller Natur war. Gegen Ende dieser Epoche setzte der Expansionismus ein,
doch könnte man sagen, daß die betroffenen Länder zu diesem Zeitpunkt be-
reits in die Zivilisation von Okzident I eintraten. Auch gab es buddhistische
Königreiche mit beträchtlicher kriegerischer Aktivität (Burma, Thailand).358
Doch ebenso könnte man argumentieren, daß es sich hierbei nur um Verir-
rungen handelt, jedenfalls um Lappalien im Vergleich zur Konstellation Ok-
zident I - Okzident I.
Über eine friedliche Welt läßt sich vermutlich sehr viel mehr aus dem ler-
nen, was (2) verspricht, als aus dem einigermaßen gründlich bewiesenen
Scheitern von (1): allein zwei Weltkriege in der ersten Hälfte dieses Jahrhun-
derts. Doch eine der Prärogativen der okzidentalen Zivilisation in Expansion
besteht darin, der eigenen kriegerischen Vergangenheit gleichgültig gegen-
über zu stehen und trotz allem zu glauben, das Zentrum jeder friedlichen
Konstruktion zu sein, die für die Welt möglich ist. Die Logik ist einfach: nur
das Gute (Okzident I) kann die Ursache einer guten Wirkung sein (Frieden).
(3) Indisch - Indisch: Man muß unterscheiden: "Indisch", wie es hier ge-
braucht wird, bezieht sich auf die Hindu-Zivilisation, nicht aber auf Indien in
seinen gegenwärtigen oder seinen früheren britischen raj-Grenzen, vor der
Teilung. Innerhalb dieser Gebiete gab und gibt es zwischen den Nationen
massenweise Kriege und Kriegsdrohungen. Aber wir konzentrieren uns ja
hier auf den hinduistischen Teil, und da ist festzuhalten, daß nur ein einziges,
relativ fest zusammenhaltendes Hindu-Land, in Indien nämlich, und nur eine
358 Den Imperialismus etwa des Inka- und des Aztekenreiches in Südamerika ebenso
wie den des Zulureiches in Afrika muß ich hier nicht erwähnen: "Indigen" waren
diese Völker einzig in der Hinsicht, daß sie kein Bestandteil des Okzidents waren,
aber wahrscheinlich teilten sie viele Aspekte der Kosmologie von Okzident I.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 405
Hindu-Welt existiert. Nun kann nicht behauptet werden, daß die Teile der
hinduistischen Welt in der Moderne innerhalb und außerhalb Indiens sich in
konsequenter Weise in Kriege gegeneinander eingelassen hätten. Es gibt hier
weder etwas, das an den Ersten und Zweiten Weltkrieg im Okzident erinnern
würde noch an die Vorbereitung auf einen möglichen Weltkrieg zwischen
den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion samt ihren jeweiligen Alliier-
ten zwischen 1949 und 1989. Hier mag man einwenden, dies verhalte sich
deshalb so, weil der größte Teil der hinduistischen Länder bis vor kurzem
fremder Herrschaft unterstanden habe (britische Herrschaft und davor die
Herrschaft des Mogul), was friedliche Wirkungen gezeitigt habe. Doch die-
ses Argument ist nicht sehr überzeugend.
Die Dinge stellen sich vielmehr eher so dar, daß das hinduistische Indien
als ein zwischenstaatliches System, als Zusammenhang einer Anzahl hin-
duistischer Nationen, die ebenso verschiedene Sprachen sprechen wie die,
die man in Europa findet, und insgesamt in etwa derselben Anzahl, sehr viel
größere Erfolge als das christliche Europa darin verzeichnen konnte, Frieden
zu stiften. Natürlich gibt es Konflikte, doch nichts von der Art einer Aufspal-
tung der Indischen Union in zwei Bündnisse mit einer Handvoll neutraler,
bündnisfreier Staaten dazwischen. Das soll nicht heißen, daß es in Indien
keine Gewalt gäbe, sondern nur, daß diese die Form einer sporadisch ausbre-
chenden direkten Gewalt annimmt, die sich mit dem interkommunalen Sy-
stem verbindet, oder die einer institutionalisierten strukturellen Gewalt, die
verbunden ist mit dem Kastensystem. 3S9 Die bemerkenswerte Tatsache jedoch
ist die Stabilität des Systems insgesamt.
(4) Sinisch - Sinisch: Es gibt zwar nur ein China, aber dieses hat eine lange,
von ,warlordism' und internen Teilungen gekennzeichnete Geschichte hinter
sich. Die Brutalität des Bürgerkrieges zwischen Nationalisten und Maoisten
ist ebenso notorisch wie die der Kulturrevolution und des Massakers auf dem
Platz des Himmlischen Friedens am 3.14. Juni 1989. An der Bereitschaft der
Chinesen, Gewalt anzuwenden, besteht kein Zweifel, aber dies doch viel
häufiger gegen sich selbst und ihre engen Nachbarn (Tibet, Vietnam, Korea)
359 Ein unvollendetes Forschungsprojekt, das jemand aufgreifen sollte: Indien als ein
internationales System, mit einem systematischen Vergleich Indiens und Europas.
Etwa der gleiche Umfang an Bevölkerung und Territorium (oder doch nicht sehr
voneinander unterschieden), und doch geht Indien so viel erfolgreicher mit der glei-
chen Größenordnung von Nationen um, international gesehen; doch so viel schlech-
ter intranational. Beide haben eine universelle Religion, und so ist es sehr ver-
führerisch, einige dieser Unterschiede zu beziehen auf die Toleranz des Hinduismus
im Gegensatz zum Christentum, wenn es um andere Lehren geht, bei gleichzeitiger
Intoleranz innerhalb des Systems, bis hin zu massiver struktureller Gewalt. Ich bin
K.P. Misra zu Dank verpflichtet, der mir 1971 einige diesbezügliche vorläufige Ar-
beiten während meines Aufenthalts als Visiting Professor an der School of Interna-
tional Studies der lawaharlal-Nehru-Universität ermöglicht hat.
406 Zivilisationstheorie
als gegen andere. Ist dies vielleicht eine Konsequenz der Trennung von Han-
Chinesen und Barbaren, die letztere nicht einmal als Objekte der Gewaltan-
wendung ernstnimmt?360
(5) Nipponisch - Nipponisch: Es gibt nur ein Japan, welches sich heute als
bemerkenswert kohäsiv erweist, obwohl dieser Zusammenhalt kaum älter als
ein Jahrhundert ist. Einige der Beziehungen vor diesem Zeitpunkt könnten
vielleicht andeuten, was geschehen würde, wenn es im Weltsystem mehr als
nur ein Japan gäbe. Zwei Japans, jedes von ihnen in ökonomischer und mög-
licherweise auch in militärischer und politischer Hinsicht expansionistisch,
darum bemüht, das andere als Ressource oder zumindest als Peripherie ein-
zufangen, könnten einander eine ziemlich unerträgliche Situation bereiten,
ähnlich vielleicht der Verbindung (1) okzidentaler, expansionistischer Län-
der, die versuchen, aus konkurrierenden Zentren, die sie als böse zu betrach-
ten belieben, Peripherien zu machen. Doch alle prä-meiji-japanische han
(Clans) wurden im heutigen Japan auf der höchsten Ebene der Assoziation,
dem Einheitsstaat, mit eingeschlossen. Es bleibt das Problem, in welches
Verhältnis sich das Nipponische zur übrigen Welt setzt (vgl. Nr. (9), (12),
(14) und (15) der Tabelle. Und damit schließt diese Übung in intrazivilisato-
rischen Beziehungen.
Schlußfolgerung: Die Hauptgefahrenzone ist die okzidentale Zivilisation im
Modus der Expansion. Ein besonderer Grund hierfür besteht darin, daß der
Nationalstaat, selbst eine Konstruktion, die dieser Zivilisation entstammt, ein
höchst taugliches Instrument für jene Beziehungen darstellt, die bereits in
diesen zivilisatorischen Code eingebettet sind. Der Nationalstaat konstituiert
gereinigte Okzident I-Akteure auf Weltebene: der Neigung nach expansio-
nistisch, Fortschritt mit Expansion identifizierend, Krisen eigener Machart
ansteuernd und diese als normal betrachtend, inspiriert durch übereinfache
Theorien von Expansion, rücksichtslos gegenüber der Natur, begierig darauf,
die eigene Peripherie durch die Eroberung anderer Völker zu erweitern, poli-
tisch, militärisch, wirtschaftlich und/oder kulturell getrieben entweder durch
abendländische Götter (Jahwe, Gottvater, Allah), deren erwählte Völker sie
sind (Juden, Deutsche, Engländer, Buren, Amerikaner, Sowjets, Muslime),
oder durch solch weltliche Versionen wie den Nationalismus. Heute fügt sich
dies alles zusammen zu einem dreigeteilten Europa als einer Umsetzung ok-
zidentaler Kosmologie und zwar in Form einer (katholisch-protestantischen)
Europäischen Union, die einer (slawisch-orthodoxen) Russischen Union ge-
genübersteht, und die beide einer (muslimischen) Türkischen Union gegen-
überstehen.
360 Für eine hervorragende Einführung in die chinesische Geschichte auch unter diesem
Blickwinkel s. A. Cotterell und D. Morgan: China, an lntegrated Study, London
1975.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 407
Da sich Okzident I als relativ erfolgreich darin erwiesen hat, diese Kon-
struktion durch Kolonialisierung und tiefe Neokolonialisierung auf die Peri-
pherie zu übertragen, besteht wenig Zweifel daran, daß vieles hiervon heute
die Welt im allgemeinen kennzeichnet. Der Okzident hat seine selbstzerstö-
rerische Neigung immer exportiert.
Am anderen Ende des Spektrums erkennen wir eine weitere Gefahrenzo-
ne: Japan. Die Gefahr entstammt denselben grundlegenden zivilisatorischen
Merkmalen. Die Japaner betrachten sich als ein auserwähltes Volk. Zudem
neigen sie dazu, andere Teile der Welt als Peripherie oder Ressource zu ver-
stehen. Daß es sich bei einem der größeren Kriege dieses Jahrhunderts, dem
Pazifischen Krieg, um eine Auseinandersetzung zwischen Japan und den
Vereinigten Staaten handelt, ist alles andere als erstaunlich, ging es doch um
einen Kampf im Auftrage Gottes einerseits, der Sonnengöttin Amaterasu-
Omikami andererseits, um die Kontrolle über die Peripherien, wobei jeder
den anderen als das Böse betrachtete. Gott gewann diesen Kampf.
Dazwischen liegen die anderen drei Kosmologien, beträchtlich weniger
gefährlich, außer vielleicht für sich selbst. Doch sind sie ungefährlich aus
drei sehr verschiedenen Gründen. Im sinischen und im indischen Fall gibt es
jeweils nur ein Exemplar; sie haben bereits den Status eines Superstaates er-
reicht. Doch das ist nicht alles: Im sinischen Fall sind die Barbaren wegen ih-
rer Minderwertigkeit vielleicht nicht einmal einen Feldzug wert. Es ist nur
nötig, durch in hohem Maße defensive Verteidigungsmittel eine glaubhafte
Abschreckung aufrecht zu erhalten. Im indischen Falle lohnt es sich viel-
leicht deshalb nicht, Krieg zu führen, weil sich der Hinduismus bereits im
Mittelpunkt des religiösen Universums befindet, als reichste aller in der
menschlichen Gesellschaft anzutreffenden Religionen. Und die übrigen aner-
kennen vielleicht, wie erwähnt, bei allen bestehenden Unterschieden das
"leben und leben lassen" als ihre grundlegende Doktrin.
Wir wollen diese Ideen weiterverfolgen, indem wir nun die Beziehungen
zwischen den Zivilisationen betrachten.
(6) Okzident 1- Multizentrisch: Es handelt sich hierbei natürlich um die lan-
ge Geschichte der Penetration von Okzident I in das, was er als seine recht-
mäßige Peripherie betrachtete, sowohl in der griechisch-römischen Periode
als auch in der Moderne, dem Zeitalter des westlichen Imperialismus. Ein
Teil dieser Aktivität kann als Beweis dafür herangezogen werden, daß die
Theorie vom Gleichgewicht der Macht so falsch nicht sein kann: Die meisten
eingeborenen Völker waren und sind einfach zu schwach, um dem Angriff
von Okzident I Widerstand zu leisten und enden demzufolge, indem sie an
die Peripherie gedrängt und/oder vernichtet werden, so wie dies in weiten
Teilen der beiden Amerikas geschah. Doch einfache Logik belehrt uns dar-
über, daß aus der möglichen Gültigkeit der Feststellung: "Die Abwesenheit
eines Gleichgewichts der Macht stiftet Unfrieden" (in irgendeiner möglichen
408 Zivilisations theorie
Interpretation dieses Wortes), nicht folgt: "Das Gleichgewicht der Macht stif-
tet Frieden".
Man sollte nicht übersehen, daß die beiden anderen Kategorien, Okzident
11 und die buddhische Zivilisation, Alternativen für uns bereithalten. Die
grundherrlichen und feudalen Konstruktionen, die für die Zeit des Mittelal-
ters typisch sind, wurden absorbiert von der gleichermaßen typischen Kon-
struktion von Okzident I im Modus der Expansion im "modernen Zeitalter"
des Nationalstaates. Der Euphemismus für diesen Prozeß lautet "Nationbil-
dung". Dieser Prozeß hat bemerkenswert lange gedauert und ist sicherlich
noch nicht zum Abschluß gekommen. Vielleicht hat es nicht viel militäri-
schen, mit Sicherheit jedoch beträchtlichen kulturellen, ökonomischen und
politischen Widerstand gegeben. 361 Und das gleiche gilt für die buddhische
Zivilisation: Vielleicht blieb sie gerade wegen ihrer Gewaltlosigkeit unbe-
siegt; jedenfalls hat sich der Buddhismus gerade wegen seiner Fähigkeit zum
Rückzug in das sangha als so bemerkenswert widerstandsfähig gegenüber
kultureller, wirtschaftlicher und politischer Einverleibung erwiesen. Wir ha-
ben es hier also mit raffinierteren Beziehungen zwischen Zivilisationen zu
tun. Diese haben sich jedoch auch insofern als hilfreich erwiesen, als für
Okzident I weder Okzident 11 noch der Buddhismus als böse "Wilde" galten.
Die indigenen Völker dagegen wurden als böse betrachtet oder zumindest als
Angehörige einer dem Bösen benachbarten Kategorie, dem "Primitiven".
(7) Okzident I-Indisch: Eines der "auserwählten Völker" des Okzidents, die
Briten, eroberten Indien und hinterließen unauslöschliche Spuren, bis sie
schließlich, weitgehend durch Gandhische Gewaltlosigkeit, 1947 zum Rück-
zug gezwungen wurden. Doch Indien übernahm von den Eroberern auch,
was von Nutzen sein konnte und schmolz Elemente von Okzident I in seine
unglaublich reiche Kultur ein. Und mittlerweile erweisen sich die Briten als
fast ebenso stark durch Indien wie die Inder durch Britannien geprägt. Bri-
tannien eroberte Indien, aber Indien eroberte auch durch Migration große
Teile Britanniens und die Briten, wie für jeden Besucher von Albions Küsten
heute sichtbar ist. Tatsächlich könnte Indien diesen Vorgang sogar wiederho-
len, die Kulturen erobernder Zivilisationen aufnehmen und sich am Ende als
kulturell reicher denn je zuvor erweisen. Wer ist stärker, derjenige, der sich
361 Nur wenige haben dieses Thema so gründlich untersucht wie der verstorbene Stein
Rokkan, z.B. in "Dimensions of State Formation and Nation-Building: A Possible Pa-
radigm for Research on Variations within Europe", in: CharIes Tilly (Hg.): The For-
mation of National States in Europe, Princeton 1976, und in seinem Beitrag
"Territories, Centers and Peripheries: Toward a Geoethnic, Geoeconomic, Geopoliti-
cal Model of Differentiation within Western Europe", in lean Gottmand (Hg.): Cen-
ter and Peripherie. Spatial Variations in Politics, London 1980. Sehr nützlich war
mir auch Charles Tillys Stein Rokkan's Conceptual Map of Europe, Ann Arbor, MI
(University of Michigan) 1981.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 409
aufmacht, um aus anderen eine Peripherie zu machen, oder derjenige, der die
anderen bereits als umschlossen betrachtet, als Bestandteil des eigenen Uni-
versums? Zwei verschiedene Arten, sich aufeinander zu beziehen: einerseits
militärische Eroberung, wirtschaftliche Penetration, kulturelle Prägung, poli-
tische Institutionen; und andererseits Absorption, Auswahl des Nützlichen,
Rausschmiß des Eroberers, Warten auf den nächsten ...
(8) Okzident I - Sinisch: Hier liegen die Dinge anders. Als Okzident I in sei-
ner westlichen (christlichen) Erscheinungsform nach China kam (und die
Vereinigten Staaten gehörten, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, si-
cherlich zum Westen), da besetzten seine Emissäre die Position, die für sie
als westliche Barbaren vorgesehen war. Sie verhielten sich entsprechend und
wurden entsprechend wahrgenommen. Dies heißt in keiner Weise, daß die
Chinesen nicht auch von Barbaren das lernen können, was sie lernen wollen,
so wie sie gewiß von den nördlichen Barbaren, den Russen, während der er-
sten Jahre der kommunistischen Dynastie lernten. Doch während die indische
Zivilisation mit fast unglaublicher Toleranz zur Übernahme und Umarmung
imstande ist, wurde die sinische Zivilisation durch den Angriff schwer ver-
wundet. Sie rächte sich, ja, trieb die fremden Teufel aus.
Wir haben es hier mit einer asymmetrischen Beziehung zu tun. Okzident I
will eindringen, expandieren; alles, was die Chinesen (und die Vietnamesen)
taten, war, sich gemäß dem alten französischen Sprichwort zu verhalten:
Cet animal est tres mechant;
quand on l'attaque, il se defend.
Die Chinesen expandieren nicht über ihren traditionellen Herrschaftsbereich
hinaus, der unglücklicherweise offenbar auch Tibet einschließt. Ganz anders
als Okzident I, der die ganze Welt als seine Domäne betrachtet.
(9) Okzident I - Nipponisch: Diese Beziehung ist wesentlich symmetrischer.
Anders als China geht es Japan darum, andere Teile der Welt zur Peripherie
zu machen, obwohl man für die äußere Peripherie, Resourcia, sagen könnte,
daß dies "nur" im wirtschaftlichen Sinne gilt. Hingegen wird die innere Peri-
pherie etwa in der Art und Weise behandelt, wie der westliche Imperialismus
fast die gesamte Welt zu behandeln versuchte.
Die Möglichkeiten für Zusammenstösse liegen auf der Hand, und sicher
wurden sie nicht dadurch beseitigt, daß man Japan zu einem Teil nicht nur
des Okzidents, sondern sogar des westlichen Okzidents erklärte, weil dies
einfach eine leere Behauptung mit schmaler faktischer Basis darstellt, und
weil, selbst wenn es sich so verhielte, Beziehungen innerhalb des Okzidents I
historisch nicht als friedliche bekannt sind. Auf der einen Seite haben wir die
Mächte des Okzidents, für die der Expansionismus definitorisches Attribut
einer Großmacht bildet, auf der anderen Seite Japan, für das das gleiche gilt.
Das Kapitel Krieg im Pazifik USA - Japan war vorprogrammiert und ebenso
410 Zivilisationstheorie
362 S. das Kapitel über Hinduismus in Huston Smith: The Religions 0/ Man, New York
1958.
363 Sicherlich hat sich die Situation mit dem Trauma gewandelt, und dies wahrscheinlich
für Generationen, wenn nicht für Jahrhunderte, das dieser religiösen Gemeinschaft
durch das Sakrileg der antiterroristisch begründeten Invasion des Goldenen Tempels
in Arnritsar im Jahre 1984 zugefügt wurde. Man stelle sich einen muslimischen Sa-
botageakt auf den Petersdom in Rom vor!
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 411
Barbaren betrachten und in relativem Frieden leben lassen, etwa in den wei-
ten Räumen für Nicht-Han-Völker im westlichen China. Sicher bedeutete die
Kulturrevolution hier eine Ausnahme, indem sie okzidentale Importe attak-
kierte sowie Buddhisten und ihre Tempel, auch eingeborene Völker, jedoch,
soweit man dies beurteilen kann, nicht bis hin zur Vernichtung, wenn die
Angriffe auch gewalttätig waren. Offensichtlich gibt es tiefe Konflikte in
China nach der langen Phase westlicher Herrschaft, die mit dem Opiumkrieg
begann, und der 2.500 Jahre währenden Beherrschung durch die shi'h.
(12) Multizentrisch - Nipponisch: Nichts von dieser Toleranz findet sich in
Japan, das eher Okzident I ähnelt. Natürlich darf man Japan besuchen. Doch
das Leben in Japan, gar die Niederlassung dort, setzt die Bereitschaft voraus,
Japaner zu werden, zumindest in solchen äußerlichen Erscheinungsformen
wie der Bereitschaft, den eigenen Namen gegen einen japanischen zu tau-
schen, der dann der offizielle wird, oder am Ende der Tafel zu sitzen (im Ge-
gensatz zum Besucher, den man vielleicht an deren Kopf setzt, und der als
ein Zeichen der Achtung interpretiert, was tatsächlich, wie ehrende Worte,
eher ein Zeichen der Distanz sein mag). Auf diese Weise wurde der Bud-
dhismus ,japanisiert" und, besonders in Form des Zen-Buddhismus, zu ei-
nem Teil der expansionistischen Natur der nipponischen Kosmologie. Indi-
gene Völker wurden absorbiert und japanisiert, bis hin zur faktischen Auf-
lösung (das Beispiel der Ainu).
(13) Indisch - Sinisch: Zwei große Zivilisationen, zwei große Gruppen der
Menschheit, tatsächlich die beiden größten, Nachbarn sogar - und doch so
wenig Beziehungen! Für die Chinesen gehören die Inder zu den südlichen
Barbaren und erscheinen als nicht gefährlich, sieht man einmal ab von den
Geschehnissen in Ladakh im Herbst 1962. 364 Für die Inder leben die Chine-
sen "irgendwo dort oben", doch da diese Indien nicht erobert haben, fehlt je-
ne traditionelle hinduistische Grundlage für einen Kontakt. Glücklicherweise
ist keine dieser beiden großen Nationen wirklich expansionistisch, denn wäre
Indien expansionistisch im okzidentalen Sinne und hätte China eine nipponi-
364 Die Inder schienen in der Sicht der Chinesen die umstrittene McMahon-Linie über-
schritten zu haben, eine Erbschaft des britischen Imperialismus und veralteter karto-
graphischer Techniken für einen problematischen Abschnitt des Himalaja. Heide
Parteien hatten unterschiedliche Wahrnehmungen in bezug auf die Geschehnisse,
und vielleicht hat ein antikommunistischer Westen mehr der indischen Version ge-
glaubt: daß nämlich die Chinesen mit einem Mal, und ohne provoziert worden zu
sein, weite Teile des indischen Territoriums im Norden und Nordosten annektiert
hätten. Der Krieg war beinahe so schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Mehr als
dreißig Jahre später setzten sich beide Seiten zusammen, um über den aktuellen
Verlauf der Linie zwischen den jeweils kontrollierten Gebieten und über Truppen-
stationierungen gemeinsam zu beschließen, als ein erster Schritt in Richtung auf die
gemeinsame FestIegung des Grenzverlaufs (vgl. Global Times vom 30. Juli 1994).
412 Zivilisationstheorie
365 Nicht genau diese Idee, doch das Potential für eine Erneuerung der Gewalt muß die
grundlegende Überlegung gewesen sein, die den japanischen Historiker Saburo
lenaga inspiriert hat zur Niederschrift seines Buches The Pacific War: 1931-45, New
York 1975, das in diesem Zusammenhang außerordentlich nützlich ist (vgl. bes. die
Seiten 135-139, 154-155, 188-189,200-201).
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 4/3
netlSchumann-Plan über den Vertrag von Rom bis (einstweilen) zu dem von
Maastricht.
Und dies beschließt unsere Untersuchung der Interaktion von Zivilisatio-
nen. Wir wollen nun nochmals einen Blick auf die Tabelle 4.5 werfen und
den Versuch unternehmen, das Gesagte zusammenzufassen. An den Orten
möglicher Gefahr wurden Ausrufungszeichen gesetzt, zum einen, weil sich
dies in der Vergangenheit so gezeigt hat, zum anderen, weil es aus der kos-
mologischen Analyse folgt. Man wird bemerken, daß alle Ausrufungszeichen
sich auf zwei der fünf Zivilisationen beziehen: Okzident I und Nipponisch,
die große und die kleine Familie erwählter Völker. Es gibt nur eine Ausnah-
me: Japan erscheint für sich selbst als ungefährlich und ist in der Tat die am
besten integrierte Zivilisation. Doch ist der Grund dieser Ungefährlichkeit,
wie im Falle Chinas, ein negativer: Es gibt heutzutage nur ein Japan.
Es sollte auch beachtet werden, daß die Gefahrenzonen in Tabelle 4.5 von
zweierlei Art sind: stark - stark und stark - schwach, wobei "schwach" mul-
tizentrisch bedeutet. Militärisch starke und expansionistische Zivilisationen,
die ihre Kräfte messen, tun dies im Krieg: um sich wechselseitig zur Peri-
pherie zu machen bzw. als Ressource zu nutzen oder um den jeweils anderen
in eine Peripherie zu verwandeln, die für andere Mächte des Zentrums nicht
zugänglich ist.
Doch dann geht ein zweites von den Zentren der Gefahren aus: Penetrati-
on, zuweilen endend mit Absorption und Vernichtung, ins Werk gesetzt ge-
genüber den militärisch schwächeren Zivilisationen. Diese können sich je-
doch zweier defensiver Strategien bedienen: durch ein System vollkommen
defensiver Verteidigung zurückzuschlagen und/oder sich zurückzuziehen,
sich der Absorption zu verweigern und zu versuchen, die Eroberung durch-
zustehen. Dies mag erfolgreich sein oder auch nicht, jedenfalls setzt es eine
langfristige Perspektive voraus, Geduld und vielleicht auch eine bewußte
Politik der Gewaltlosigkeit - drei Merkmale, die den expansionistischen Zi-
vilisationen Okzident I und, in geringerem Maße, auch Nippon fehlen. 366
Und daher kommt es, daß das Zentrum der Tabelle, in sechs von fünfzehn
Zellen, eine bemerkenswerte Anzahl relativ positiver oder zumindest nicht
negativer Beziehungen aufweist. Bei näherer Betrachtung zeigte sich mehr
Gewalt, jedoch nicht jene Gewalt im Großmaßstab, die man in den neun
Zellen entlang des Randes der Tabelle bemerkt (doch in Nipponisch-Nippo-
nisch nur in latenter Form, daher steht das Ausrufungszeichen in Klammern).
Im großen und ganzen gibt Tabelle 4.5, die auf einfach gefaßten Unterstel-
lungen in den Kosmologien der Zivilisationen basiert, die Geopolitik von
366 Und doch gibt es bei allen offensichtlichen und nicht so offensichtlichen Unzuläng-
lichkeiten auch den sanften Unterton abendländischer Zivilisationen, wofür etwa die
Akte der Gewaltlosigkeit auf den Philippinen 1986, der Kampf um die Bürgerrechte
in den Vereinigten Staaten usw. stehen.
414 Zivilisationstheorie
Krieg und Frieden recht gut wieder. Dies wird noch klarer, wenn wir weitere
Kosmologiedimensionen mit hinzunehmen (vgl. u. Kap. 5).
Doch sind wir nicht in dieser Lage. Fast alle Nuklearmächte sind Teil von
Okzident I (USA, UK, Frankreich, Rußland, Weißrußland, Ukraine, Kasach-
stan, Israel, Südafrika, Pakistan); Indien und China sind dies nicht, doch sind
sie unserer Analyse zufolge weniger gefährlich. Die Supermächte des Kalten
Krieges befinden sich dort und ebenso die "Großmächte" (doch wieder ge-
hört China, ohne zwingenden Grund, dazu). Die wichtigsten der wichtigsten
Industrienationen, die G 7, sind alle Teil von Okzident I oder Nipponisch. Es
ist nicht leicht, sie zu beseitigen. Daher die zweite Frage: Können Zivil i-
sationen geändert werden? Nicht im oberflächlichen Sinne der Unterzeich-
nung irgend welcher Verträge oder Konventionen, des Eintritts in irgendwel-
che Regime oder Organisationen, sondern im Sinne der Änderung ihrer
Codes, der Transformation ihrer Kosmologien?
Die Antwort auf diese Frage ist alles andere als klar. Doch ist die Frage
gewiß eine der wichtigsten, die in der Friedensforschung aufgeworfen wer-
den können. Wir wissen, daß sich Zivilisationen ändern, in dem Sinne, daß
wir tieferliegende Aspekte, die Kosmologie, als verändert betrachten dürfen.
Doch solche Änderungen wurden durch eine Reihe historischer Umstände,
nicht durch willentliche Planung hervorgebracht. Wir verfügen heute nur
über vage Anfänge einer Therapie exzessiv kriegerischer Zivilisationen, ein
Thema, das wir unten, in Kap. 5, untersuchen werden. Aber zuerst müssen
wir uns in Kap. 4 drei Ernstfälle von Okzident I ansehen: Hitlerismus, Stali-
nismus und Reaganismus (amerikanischer Fundamentalismus).
Doch schon die Einsicht, daß ein großer, ja der größte Teil des Kriegswe-
sens in der Zivilisation selbst wurzelt, ist ein Anfang. Es kann zum Wandel
kommen, doch wahrscheinlich nur, indem man dem Problem an die Wurzeln
geht.
Im Lichte dieser Art von Untersuchung wird deutlich, wie oberflächlich
der Glaube ist, die Übertragung der Produktionsmittel aus privater in die öf-
fentliche Hand könne die Menschheit von der Geißel des Krieges befreien.
Ob in privater oder öffentlicher Hand - die Produktionsmittel können so oder
so für expansionistische Ziele benutzt werden, wenn dies der Kosmologie
entspricht und Mittel zur Zerstörung produziert werden. Das gleiche gilt für
den oberflächlichen Glauben, daß die Demokratisierung von Nationalstaaten
den Frieden hervorbringt. Im Gegenteil könnte sie dazu dienen, die Kosmo-
logie, das kollektive Unterbewußte der Zivilisation, deutlicher zu artikulie-
ren.
Wir brauchen also Analysen, die sich eher auf Zivilisationen als auf Staa-
ten oder ökonomische oder politische Systeme als Einheiten beziehen. Und
dies sollte im Geiste der Suche nach Lösungen geschehen und nicht in dem
der Verurteilung. Gewiß gibt es kein letztes Wort zu diesem entscheidenden
Thema. Und manchmal ist es gut, sich daran zu erinnern, daß es in der Wis-
senschaft ein letztes Wort nicht gibt. Jedoch: Selbst wenn Gewalt und Krieg
tief verankert sind in der Kosmologie, einer kollektiv geteilten und unterbe-
416 Zivilisationstheorie
wußten Kosmologie, mag es Wege geben, aus der harten Kruste des Kollek-
tivs Sub-Kollektive und Individuen herauszubrechen und aus Unterbewuß-
tem Bewußtes zu machen.
4 Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus,
Reaganismus 367
367 Dieses Kapitel basiert auf meinem Buch Hitlerism, Stalism, Reaganism: Three Va-
riations an a Theme by Orwell (Norwegische Ausgabe Oslo 1984, spanische Ausga-
be Alicante 1985, deutsche Ausgabe Baden-Baden 1987; eine revidierte englische
Ausgabe erscheint in Kürze, und zwar unter dem Titel Hitlerism, Stalinism and
American Fundamentalism: Dark Variations 0/ Western Civilization). Für weitere
Details verweise ich den Leser auf dieses Buch.
* hinter einem Begriff bedeutet in diesem Kapitel: deutsch im Original. Anm. d. Übers.
418 Zivilisationstheorie
derte auf die frühen, die Spanier und die Portugiesen. Aus diesen Gründen
war es nicht möglich, ihn ebenso zu rechtfertigen wie den westlichen Kolo-
nialismus im allgemeinen. Eine neue Rechtfertigung mußte erfunden werden.
Rassismus und Heidentum waren keine hinreichende Grundlage für die
Konstruktion eines zu unterwerfenden Anderen. Eine neue, auf der alten auf-
bauende Ideologie mußte schnell geboren und im kollektiven Unterbewußt-
sein internalisiert werden. Der Nazismus war die gesuchte Antwort. Man be-
schwor eine Theorie des Herrenvolks*, die die anderen, auch Menschen im
weißen Okzident, als geborene Underdogs, Untertanen*, ja als Ungeziefer
betrachtete, so daß sie des Rechts auf staatliche Anstellung, auf Zugang zum
öffentlichen Raum, dann auf die Staatsbürgerschaft, schließlich auf ihre
Seele beraubt werden konnten. All dies erleichterte ihre Auslöschung. Logi-
sche Folgen: Wannsee, Auschwitz.
Zeit: Außerordentlich dramatisch. Es gibt die Vision einer germanischen
Vergangenheit, kreisend um die nordische Mythologie, vermischt mit mit-
telalterlichen Zügen, germanischen Sagen, Walhalla, Wagnerscher Mystik.
Es gibt den Sündenfall und die Dunkle Zeit, hervorgebracht durch die Ver-
mischung des Blutes, durch rassische Unreinheit. Es gibt den Erlöser, Ihn,
Der Sah: Adolf Hitler, und die Heilige Schrift, Mein Kampf Es gibt die Ex-
pansion, sowohl im Sinne rassischer Reinigung als auch im territorialen Sin-
ne, die mit Sicherheit in eine Krise führt. Blut und Boden*, beides ge-
meinsam als Grundthemen der deutschen Geschichte. Und es gibt die Vision
einer hochgradig dichotomisierten Zukunft, ganz ähnlich wie sie in der Bibel,
im Alten wie im Neuen Testament ins Auge gefaßt wird: entweder vollstän-
dige Katharsis, eine vollkommene, widerspruchsfreie Existenz (Paradies) -
oder vollkommene Verdammnis, Apokalypse, die Zerstörung von allem und
jedem (Hölle). So zeichnet sich der Nazismus aus als eine späte Inkarnation
der allgemeinen okzidentalen Zeitkosmologie, unter Einschluß ihrer eschato-
logischen Aspekte. Er entsprang einem fruchtbaren Boden, den lutheranische
Eschatologie und germanisch-nostalgische Ambitionen bereitet hatten.
Episteme: Im teutonischen Typus okzidentalen Denkens werden Theorie-
Pyramiden so wichtig, daß sie weitgehend vom Kontakt mit der empirischen
Realität losgelöst sind. Deduktives Ableiten aus nur ganz wenigen Axiomen,
idealiter nur aus einem einzigen, wird zur entscheidenden Aufgabe der Intel-
lektuellen. Der Essentialismus beherrscht den intellektuellen Stil, unbehindert
durch irgendeinen Bezug auf Beispiele oder auf empirische Analyse im all-
gemeinen.
Wieder fällt es nicht schwer, hier den Hitlerismus zu erkennen. Es gibt ein
leitendes Prinzip: den Widerspruch zwischen dem Reinen und dem Unreinen,
zwischen den Ariern einerseits und auf der anderen Seite zunächst den Juden
(und der Verjudung*), dann den "Bolschewisten"*, dann den Geldmenschen,
den Plutokraten *. Die Verunreinigung der Deutschen stammte nicht nur von
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 419
den Juden, sondern auch von der Einflußnahme der Bolschewiken her, zuerst
auf die Kommunisten, dann auch auf die Sozialdemokraten. Der Wider-
spruch ist "antagonistisch", um einen maoistischen Begriff zu verwenden -
er kann nur durch Gewalt aufgelöst werden.
In der Zwischenzeit dient er epistemologisch wichtigen intellektuellen
Funktionen: Er erklärt alles. Die Nazi-Theorie besteht in der Erklärung, daß
und wie alles Übel von den Nicht-Ariern oder von den nicht-arischen Ele-
menten stammt. Zwar waren nicht alle Bolschewiki und Plutokraten Juden,
doch ihr Denken war nicht-arisch. Der Andere ist ein Feind. Das Bild von
diesem Feind, das Feindbild*, ist nicht nur eine gesellschaftliche Dichotomie
mit fatalen Folgen, sondern auch ein höchstes geistiges Prinzip, das Axiom,
aus dem alle Einsichten strömen. Hitler wird zum teutonischen Intellektu-
ellen, ein Mensch mit der Fähigkeit, die Sprache meisterhaft zu handhaben
auf seine essentialistische Art und Weise des Auf- und Abstiegs in seiner Ge-
dankenpyramide, mit jenem entscheidenden Widerspruch an der Spitze, der
die Übel der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft ebenso wie die Verspre-
chungen der Zukunft erklärt und beleuchtet.
Natur: Die allgemeine okzidentale Kosmologie stellt menschliche Wesen,
Personen, fest an die Spitze der Natur. Natur fungiert als Hilfsmittel für eine
zutiefst anthropozentrische Unternehmung. Doch gibt es in diesem Muster
auch einen anderen Strang: die schöne Natur, Natur als Ort der Zuflucht,
nicht nur als Ressource. Der Nazismus griff beides auf: die völlige Zerstö-
rung der Natur durch die Auswirkungen des Industrialismus und des Milita-
rismus (Manöver und Kriegsführung) und den Kult der Natur, die Romantik
der Wandervögel*, den bayerischen Naturmystizismus der Berge und Wäl-
der, der mit der preußischen Staatsverehrung so gut zusammenging in jenem
Amalgam, das dann zum Nazismus wurde. Und die geschickte Verwaltung
der Sexualität in Lagern, mit Frauen als Teil der Natur, rein, unbefleckt, den
Samen empfangend im sakramentalen Akt der Reproduktion der arischen
Rasse.
Selbst: Ein sehr starkes Über-Ich, zum Teil (in der Hauptsache?) bezogen
von einem ganz buchstäblich verstandenen Christentum, macht das Ich zu ei-
nem schwachen Schlachtfeld zwischen moralischer Autorität und dem Es.
Die Deutschen lassen sich leicht von denen in Bewegung setzen, die morali-
sche Autorität beanspruchen können und sich die starken Kräfte des Es nutz-
bar machen.
Gesellschaft: Die generelle moderne Kosmologie von Okzident I ist vertikal
und individualistisch: ein Kampf jeder gegen jeden um die Sicherung seiner
Position in einer vertikalen Hierarchie, bestehend aus unterschiedlich vielen
Schichten, mehr oder weniger pyramidenförmig angeordnet, mehr oder we-
niger breit an der Basis und mehr oder weniger durchlässig.
420 Zivilisationstheorie
erfüllt, daher ist ihr Leben nicht lebenswert. Das Volk* hat den Führer* im
Stich gelassen.
Selbstaufopferung, Opferbereitschaft* wird zu einem wesentlichen Aspekt
der gesamten Ideologie. Werden die Ziele nicht erreicht, der Feind nicht aus-
gerottet, der Expansionismus nicht in die Tat umgesetzt, dann folgt unser
Selbstopfer, und dies nicht nur als das Ergebnis der Logik der Kriegsführung.
Andere wurden geopfert. Diejenigen, die dem Untergang geweiht waren oder
zumindest der Unterwerfung als Untertanen* für alle Zeiten, wurden belehrt,
daß dies einfach ihrem unglücklichen Schicksal entspräche. Es galt, eine Art
Naturgesetz auszuführen, und hieran war nichts Persönliches, wie der SS-
Mann hätte sagen können. Die Ausrottung war ein gottgleicher Akt, eine
Frage des In-Ordnung-Bringens des Universums, mit der SS als dem In-
strument der Neuen Ordnung: die Umsetzung der Apokalypse.
den wir die gemeinsamen unter diesen Wurzeln hervorheben, die weniger
vergänglichen Elemente.
Wenn wir den Marxismus als vergänglicheres Element außen vor ließen,
könnten wir eine Beschreibung des homo russicus bekommen; schließen wir
den Marxismus ein, bekommen wir eine des - ebenfalls vergänglichen - ho-
mo sovieticus. So werden wir die ersten beiden Perspektiven kombinieren,
um auf eine systematischere Art und Weise den Hintergrund des homo so-
vieticus auszuleuchten, indem wir das siebenfältige Schema der Kosmologie-
analyse nun für den homo russicus fruchtbar machen.
Welt: Rußland als der wirkliche Mittelpunkt des Okzidentalen Zentrums
der Weit, der Ort, an dem der wahre Glaube überlebt hat, getreu seinen
Wurzeln, die Heimat des Dritten Roms, nachdem zunächst der erste und
dann der andere Teil des Römischen Reiches untergegangen waren. Ver-
letzlich, weil Heiden und Häretiker und andere Feinde seine Phasen der
Schwäche für eine immerwährende Bedingung nehmen. Sie greifen an und
unterschätzen dabei die enorme Widerstandskraft der Menschen in diesen
weiten Räumen. Sie verwechseln den wirklichen Mittelpunkt der Weit mit
dessen Peripherie. Sie verstehen nicht, daß Rußland, der schlafende Riese,
auf seine Zeit wartet.
Zeit: Rußland wartet, mit unglaublicher Geduld und Zeitperspektiven, die so
umfänglich sind wie sein geographischer Raum, unterstützt durch das Paar
aus Katharsis und Apokalypse, versprochen vom orthodoxen Christentum
wie vom orthodoxen Marxismus. Die Revolution wird zur Gelegenheit für
die Letzten, wieder die Ersten zu werden, für die Peripherie, wieder als Zen-
trum eingesetzt zu werden, für das neue Zeitalter (Novaya Vremja), das über
diesem leidenden, aber auch so fruchtbaren russischen Boden eingeläutet
werden soll, der eine bessere Behandlung durch die Geschichte verdient.
Episteme: Doch dies kann nur im radikalen Bruch mit der Vergangenheit ge-
schehen, indem "vor der Revolution/nach der Revolution", "unter dem Kom-
munismus/nach dem Kommunismus" zu modernen Versionen der HöllelPa-
radies-Dichotomie werden. Eine besonders dichotome, ja sogar manichäische
Denkstruktur oder, um uns auf die slawische Version dieses Typs von
Schwarz-Weiß/Gut-Böse-Denken zu beziehen: bogomil. Unter dem Einfluß
der schwachen dialektischen Tendenz im marxistischen und hegelianischen
Denken gab es Anwandlungen von Dialektik in der Art und Weise, in der
man die Sozialgeschichte anging. Doch dieser Trend verschwand sehr bald
zugunsten einer Sichtweise, der die sowjetische Gesellschaft in allen wesent-
lichen Zügen als Endzustand' , ohne autonome innere Dialektik, galt, in dem
nur noch einige wenige Operationen von geringer Bedeutung auszuführen
wären, in technokratischer Manier, von oben herab, inspiriert durch die wis-
senschaftlich-technische Revolution.
424 Zivilisationstheorie
daran, daß es viele sein würden), die Sowjetunion als Heimat des Sozialis-
mus, verwurzelt in Mutter Rußland, betrachteten und ihr angemessenen Tri-
but leisteten.
Stalin selbst vermochte das "Peripherie-wird-Zentrum"-Theorem zu ver-
körpern. Er stammte aus Georgien, erblickte das Licht der Welt im un-
bedeutenden Gori, nicht weit von Tiflis, als Sohn eines früheren Leibeigenen,
und wurde dennoch im Kreml selbst zum Vater aller Völker der Sowjetuni-
on. Der letzte wurde der erste, Modell jener weiten Landmasse, die auch,
obwohl letzte, die erste werden sollte.
Im Schatten Lenins brauchte Stalin seine eigene Apokalypse, seine eigene
Wiedergeburt. Dies alles bekam er im Großen Vaterländischen Krieg von
1941- 45. Ob er erwartete, daß Hitler angreifen würde oder nicht, mag um-
stritten sein. Der wichtige Punkt ist, wie er die Situation ausnutzte, um sich in
die Position eines Erlöser-Nachfolgers zu katapultieren, wie er die Person
wurde, die jenes Werk würde sichern können, das der große Erlöser Lenin
begonnen hatte, so wie dies Paulus für Jesus Christus tat.
Auch Stalin bemühte sich, den revolutionären Prozeß zu komprimieren in
einem Ausbruch furchtbarer Ungeduld, indem er nicht nur versuchte, Dinge
so schnell wie möglich zum Abschluß zu bringen, sondern schneller als
möglich, so daß der Abschluß zur Unmöglichkeit wurde und er seine eigenen
unaufhörlichen Krisen schuf. Es muß ihn der unbezwingbare Glaube beseelt
haben, daß die Morgendämmerung gekommen sei. Man mußte nur dem Me-
chanismus seinen Lauf lassen, sich der Fesseln entledigen und eine schrei-
ende Bevölkerung ins "Paradies" des Sozialismus stoßen, treten, ob sie es
nun verdienten oder nicht, durch die Auslösung dessen, was ihm als die rich-
tigen Mechanismen erschienen.
Sogar die Natur mußte gezwungen werden, weit über ihre Möglichkeiten
hinaus. Die Genetik war als Wissenschaft nicht sehr hilfreich, sie mußte in
die Lyssenko-Genetik umgewandelt werde, die versprach, daß erworbene
Merkmale ererbt werden konnten - die Beschwörung einer nicht existenten
Natur. Dasselbe geschah mit der Gesellschaft. Industrialisierung überall.
Nichts sollte die Reglementierung und Organisation der LandleutelBauern
um der erwähnten Zwecke willen behindern: keine unabhängige Bauern-
schaft, nichts, was auch nur von Ferne an Gutsherrenart hätte erinnern kön-
nen. Alle Widerstände und Behinderungen wurden zusammengefaßt unter
dem Begriff Kulaken, um ausgerottet zu werden. Und ebenso sollte dem
PMP- und dem BSI-Komplex nichts im Wege stehen: Zwei Drittel des Zen-
tralkomitees der Partei auf dem 15. Kongress von 1927 wurden bis 1939 um-
gebracht. Das gleiche galt für die Intelligentsia: Jeder, der sich nicht or-
thodox/loyal verhielt, sollte verschwinden, sozial gesehen im Gulag und/oder
biologisch, indem er umgebracht wurde. Jeder Widerstand war Widerstand
gegen die Geschichte als solche; wer immer sich der Geschichte widersetzte,
verhielt sich nicht nur antihistorisch, sondern a-historisch, un-menschlich.
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 427
Wie auch anders? Wie könnte sich denn ein normales, gesundes menschli-
ches Lebewesen dem neuen Zeitalter, dem Paradies auf Erden widersetzen?
Wie könnte dies irgendein Wesen tun, es sei denn, es handele sich um Unge-
ziefer? War nicht dieser Widerstand selbst ein Zeichen, fast eine Garantie da-
für, daß es sich um Ungeziefer handelte, das es verdiente, ausgerottet zu
werden? Die definitive Sicherung des Heils war keine Frage der Bekämpfung
von Widerstand, keine Frage deiner Auffassung im Gegensatz zu unse-
rer/meiner, sondern eine Frage der richtigen Auffassung im Gegensatz zum
Wahnsinn. Wahnsinn muß letztlich beseitigt werden, so wie man Schmutz
ganz allgemein los wird: durch Vernichtung, Gulag oder politische Psycha-
trie. Die Kur dauert so lange, bis die richtige Meinung sich durchgesetzt hat.
Der letzte Schritt dieser faschistischen Einstellung gegenüber anderen
menschlichen Lebewesen - wie wirklicher Faschismus nicht nur massiv ge-
walttätig, sondern auch durch eine Art transzendenter Ideologie gerechtfertigt
- war klein: Stalin als Gott, der "Persönlichkeitskult". Ganz sicher machte
Stalin sich allmächtig durch die erschreckende Macht-über-andere, über die
er verfügte, und in großem Ausmaß allwissend durch sein System von Infor-
manten und die Art und Weise, in der die Polizei die eigene Bevölkerung
ausforschte. Als auf so gut wie jeder Mauer zu findendes Photo war er allge-
genwärtig. Doch natürlich scheiterte er in einer durchaus wichtigen Hinsicht.
Gott wird zumindest teilweise als wohlwollend vorgestellt, nicht als stets
übelwollend. Er wird vorgestellt als Verteiler von Gutem, nicht nur von
Schlechtem; er hilft, läßt nicht nur im Stich. Es muß Edelmut und Gnade geben.
Für die stalinistische Epoche senkte sich die Waage zu tief auf die negative
Seite. Daher endete er eher als der Interpret Lenins, als Theologe und Bürokrat.
Nur als Paulus, nicht als Gott, als Nachfolger, nicht als Überlegener. Bis er mit
der Implosion des ganzen Sowjetsystems seine Apokalypse fand.
Für jede Analyse des Reaganismus bzw. der umfassenderen Kategorie des
amerikanischen Fundamentalismus brauchen wir die Textur der Kosmologie
des amerikanischen Glaubens ganz allgemein, der Ausstattung des homo
americanus, betrachtet als homo occidentalis in extremis.
Die Welt hat ihr Zentrum eindeutig im Westen und besonders in den Verei-
nigten Staaten, wie zur Zufriedenheit so vieler Amerikaner durch Millionen und
Abermillionen Immigranten, auf der Suche nach einem Neubeginn, einer neuen
Geburt, bewiesen und weiter bestätigt wird durch den Umstand, daß dasjenige,
was amerikanisch ist, dazu neigt, sich über die ganze Welt auszubreiten.
Zeit ist hier versehen mit einem aufwärts weisenden Pfeil: eine nicht sehr
bedeutende, weit abgelegene Kolonie wird zur stärksten Macht der Welt,
428 Zivilisations theorie
Präsidenten, von Johnson, Nixon, Carter, Reagan, Bush und Clinton (und von
Newt Gingrich). Doch zugleich ist der Süd(west)en der Vereinigten Staaten
auch eine Heimstatt reaktionärer, selbstgefälliger, immer wieder zu Kreuzzügen
aufbrechender Ideologien und Bewegungen. Der wenden wir uns jetzt zu.
Die Juden und der Staat Israel stehen auf der Seite dieses fundamentalisti-
schen US-Gottes; von den Muslimen, üblicherweise als "moslemische Fana-
tiker", "Fundamentalisten" oder "Terroristen" bezeichnet, und von den Län-
dern des Islam im allgemeinen, vom Irak und dem Iran im besonderen kann
man dies nicht behaupten (auch dann nicht, wenn es sich bei ihnen nur weni-
ge Meilen weiter, in Afghanistan, um "heldenhafte Freiheitskämpfer" han-
delt). Kurzum, die ganze Konzeption verstärkt die westliche Front gegen den
Islam.
Reagans Gott ähnelt Khomeinis Allah darin, daß er der Sexualität sehr en-
ge Grenzen zieht. Trotz politischer Differenzen will es so scheinen, als ob
Reagan die Antwort des Westens auf Khomeini wäre. - mit einer ganz ähnli-
chen Neigung zu Rache und Strafe und dem Wunsch nach strengen Regeln
bezüglich der Sexualität und der Stellung der Frau in der Gesellschaft.
Es gibt auch ein weicheres Element im Reaganismus: einen Glauben an
Demokratie oder, genauer gesagt: einen Glauben an Wahlen und gewisse
demokratische Rituale. Wahlen sind kein Problem: Sind es wirklich freie
Wahlen, dann werden die Menschen aus eigenem freien Willen heraus einer
Gesellschaft den Vorzug geben, in der die Kräfte des Marktes die wichtigsten
Kräfte der Gesellschaft sind. Mit anderen Worten: Wirtschaftliche Freiheit ist
die grundlegende Freiheit. Fällt ihre Entscheidung anders aus, dann müssen
sie einer Gehirnwäsche unterzogen, der "Politisierung" durch "Ideologen"
ausgesetzt worden sein, und man muß sie in den Schoß der wahren Kirche
zurückholen.
Wichtig sind nun die Folgen dieses ideologisch-theologischen Musters.
Offensichtlich beinhaltet es gewichtige Implikationen für eine bestimmte
Auffassung vom Raum Welt im Reaganismus. Das wichtigste Element be-
steht natürlich darin, daß die Vereinigten Staaten Gott näher stehen als alle
anderen Länder. Aus diesem Grunde sind die Vereinigten Staaten nicht nur
berechtigt, eine Hauptrolle zu spielen, sie sind hierzu verpflichtet. Auf den
Schauplätzen der Welt erscheinen die Vereinigten Staaten als Gottes eigenes
Land. Auf Geldmünzen und Geldscheinen findet sich in klarem Druck: Gott
ist unsere Zuversicht, wodurch eine wechselseitige Beziehung hergestellt
wird.
Dies bedeutet, daß die Vereinigten Staaten ebenso wie ihr Präsident als ein
Instrument Gottes die Pflicht haben, gottähnliche Züge anzunehmen. Zu die-
sen gehört die Pflicht, nicht nur allmächtig, sondern auch allgegenwärtig und
allwissend zu sein. Um allwissend zu sein, muß das Land Spionagesatelliten
im Weltraum und Spionageorganisationen überall in der Welt haben, wie das
FBI, die CIA, die NSA und das Nationale Amt für Aufklärung (National Re-
connaissance Office). Um allmächtig zu sein, muß das Land einfach auf allen
möglichen Kriegsschauplätzen und in allen möglichen Waffen systemen
überlegen sein. In Reagans Epoche gab es in all diesem nur eine Lücke:
land gestützte Mittelstreckenraketen in Europa, das Thema zwischen 1979
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 431
und 1983 - bis Gott Seinen Willen bekam. Das Sowjet-"Monopol" - eine
Wertung, die sowohl die eigenen see- und luftgestützten Systeme wie dieje-
nigen Frankreichs und des Vereinigten Königreichs unberücksichtigt ließ -
wurde eliminiert, mit der Null-Null-Lösung als einzig akzeptabler Alternati-
ve, die schließlich auch herauskltIIJ..
All dies verbindet sich mit dem Umstand, daß eine monolithische Auffas-
sung von Gott eine ebenso monolithische Konzeptualisierung Satans impli-
ziert. Es ist der Teufel, der alle drei Elemente der Reaganschen Dreifaltigkeit
verwirft. Die Sowjetunion war ein sozialistisches Land mit Planung statt
Markt, offiziell atheistisch und eine Diktatur ohne Wahlfreiheit in allge-
meinen Wahlen. Dies heißt, daß es in der Welt zwei extreme Länder gab: die
Sowjetunion, nur schwarz und schlecht und in einer berühmten Rede von
Reagan geradezu als das Zentrum des Bösen definiert, und die Vereinigten
Staaten, nur weiß und gut und aus diesem Grunde ausersehen, eine höchst
wichtige, führende Rolle in der Weltgeschichte zu spielen. Dies bedeutet aber
nicht, daß man nicht auch in den Vereinigten Staaten Elemente des Bösen
finden könnte, Menschen, die an "große Bewegungen", und Menschen, die
nicht an Gott glauben, und totalitäre, antidemokratische Kräfte. Kommuni-
sten in einem weiten Sinne sind, wie Satan, ebenfalls allgegenwärtig.
Es scheint, als habe Reagan selbst in seinem Leben zwei wichtige Trauma-
ta erfahren: durch die "Kommunisten" in der Schauspielergewerkschaft mit
ihrem Machtstreben, und, nachdem er mehr Erfolg hatte, durch das Big Go-
vernment, das ihm, in Form von Steuern, ans Geld wollte. Reagan sah wahr-
scheinlich sich selbst bzw. sein Leben an als eine Verkörperung der Erfah-
rung des Bösen, einer Erfahrung, die notwendig und hinreichend zum
Verständnis der Werke des Teufels war.
Die Sowjetunion als "gleichwertig", als eine von "zwei Supermächten" zu
betrachten, wäre einfach Gotteslästerung gewesen. Wie könnte das Böse mit
dem Guten gleichgesetzt werden? Zusätzlich spielt der Teufel ein Spiel:
Domino. In allen Teilen der Welt versucht er, Länder zu übernehmen, Ket-
tenreaktionen in Gang zu setzen, die die USA erreichen, sogar in Washington
D.C. enden könnten, sofern sich die Vereinigten Staaten nicht als allwissend
und allmächtig genug erweisen.
Aus dieser überaus deutlichen Konzeptualisierung folgt eine ebenso deut-
liche Politik. Auf der Welt gibt es nur einen wirklichen Feind. Geradeso wie
Hitler glaubte auch Reagan, daß man die Bevölkerung nicht mit einem
komplizierten Feindbild verwirren sollte. "Es ist ein und derselbe Feind, dem
wir in Grenada und im Libanon gegenüber stehen", sagte er, und nicht etwa
1.000 Millionen Mohammedanern und 2 Milliarden Armen oder 300 Millio-
nen Südamerikanern. Nein, es ging um die Sowjetunion, oder genauer: um
Moskau, oder noch genauer: um den Kreml.
Die gottgegebene Rolle der Vereinigten Staaten besteht darin, alles zu
wissen und Bestrafungen dort zu verhängen, wo dies gerechtfertigt ist, um
432 Zivilisations theorie
die Menschen gegen die Werke des Teufels zu schützen. Diese Einstellung
ähnelt derjenigen, der man während der Kreuzzüge, zwischen 1095 und
1291, begegnen konnte. Deren gab es mindestens acht, z. T. in gerade jenem
Teil der Welt, in denen auch Reagan aktiv war, und dann Bush: in Westasien
(Syrien, Libanon, Palästina, Irak). Auch damals waren die Mohammedaner
die Teufel. Freilich hat der Teufel in der Zwischenzeit sein Einsatzgebiet er-
weitert, so daß die Vereinigten Staaten in der Karibischen See (Grenada, Cu-
ba, Panama) tätig werden mußten, in Mittelamerika (Guatemala, EI Salvador,
Nicaragua), in Nordafrika (Lybien, Tschad) und in der Golfregion (wegen
des Öls, und auch gegen den Iran und den Irak). Und morgen?
Der Teufel ist aktiv. Es fällt nicht leicht, das Instrument Gottes zu sein. Es
bedarf einer Menge Geld, selbst wenn sich als Folge ein Haushaltsdefizit
und/oder hohe Zinsen oder sogar eine ökonomische Krise einstellen. Diese
ökonomischen Kalamitäten sind ebenfalls Werke des Teufels, wenn auch
eher mittelbar, indem sie die Kräfte des Guten zwingen, sich über Gebühr
anzuspannen.
All dies berührt die Konzeptualisierung der Zeit. Reagan war nie ein be-
dingungsloser Optimist. Als Apokalyptiker glaubte er an die Möglichkeit von
Armageddon - im Unterschied zu anderen Präsidenten der Vereinigten Staa-
ten nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie alle betrachteten den Kommunismus als
böse, hielten jedoch ein anderes Übel für noch schlimmer, nämlich einen
weltweiten atomaren Holocaust.
Die Epistemologie des Reaganismus kann nur im Lichte seiner Trinitäts-
auffassung verstanden werden. Im Kampf mit dem Teufel kommt natürlich
die erste und wichtigste Aufgabe dem Militär zu, die Ausübung gottgleicher
Gewalt bis hin zur Möglichkeit der Verwüstung' (im Sinne der Lutherbibel):
Ausrottung mit atomaren Waffen, sollte sich dies als notwendig erweisen.
Um dies fundamentalistische Gesamtbild der Welt, mit Gott, den Men-
schen und der Natur zu verstehen, müssen wir eigentlich nur die Schöpfung
im Sinne der christlichen Bibel untersuchen, die Genesis. Sie verweist ein-
deutig auf eine Vier-Klassen-Gesellschaft. Gott steht an der Spitze, allwis-
send, allgegenwärtig und allmächtig. Er hat alles verstanden und alles er-
schaffen. Unten ist Natur, und dazwischen stehen die Menschen, zweigeteilt:
die Männer und unter ihnen die Frauen. Wo steht Reagan selbst? Sehr hoch
oben, unter den Männern, als Erster in der Ersten Nation der Welt, also ganz
nah bei Gott selbst. Auch glaubte er daran, daß Frauen stärker Teil der Natur,
und daß Männer göttlicher seien.
Ebenso wie Gott mit der Natur tun kann, was er will, so verfuhr auch der
Reaganismus, der seinem Wesen nach antiökologisch und gegen die Ökolo-
gen eingestellt war. Die Gesellschaft war dem Darwinismus entsprechend
aufgebaut, bot Wettbewerb für starke Egos in einem schwachen sozialen
Netz. Führte dies dennoch zu Elend, dann sollte christliche Caritas das Heil-
mittel sein. Ob dies System funktioniert oder nicht, ist kein empirisches Pro-
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 433
blem. Das System ist einfach das richtige, und was sich aus ihm ergibt, ist
ebenso richtig, auch wenn es sich für viele Menschen als unangenehm er-
weist. Das ist ihr Fehler, nicht der des Systems. Arbeite hart, das ist alles. Ar-
beite nicht, werde krank oder obdachlos, und du verdienst es, an den Folgen
zu leiden.
Es gibt in all dem eine gewisse Konsistenz. Der Reaganismus besteht in
der Ausarbeitung grundlegender US-amerikanischer Dogmen, die er dem
Nuklearismus und dem ökonomischen Niedergang der Vereinigten Staaten
anpaßt. Am wichtigsten sind die Maßgaben für das wirtschaftliche, gesell-
schaftliche, politische und militärische Handeln, die Hinweise darauf, wie der
Raum Welt in Begriffen von Gut und Böse organisiert ist, und die Vorstel-
lung, daß der Holocaust vielleicht nicht vermeidbar und nicht notwendiger-
weise das schlimmste aller möglichen Übel sei. An der Spitze stehen die
"Magie des Marktes", eine fundamentalistische Konzeptualisierung Gottes
und die Demokratie.
Während seiner Präsidentschaft verpaßte Reagan den Vereinigten Staaten
eine komplette amerikanisch-fundamentalistische Ideologie. Natürlich war er
nie Ideologe in dem Sinne, daß er ein Intellektueller gewesen wäre, doch war
er es in dem wichtigeren der Verwendung der richtigen Metaphern für das
amerikanische Volk. Die führende Ideologie eines sehr antiintellektuellen
Landes muß selbst antiintellektuell sein. Die Vereinigten Staaten sind ein
Land, in welchem Intellektuelle, die zumeist im Nordosten leben, auf einem
gesellschaftlichen Nebengleis kaltgestellt werden, in einem Ghetto, das man
Campus nennt, und die auf das, was geschieht, mit Furcht, Bestürzung und,
in einem gewissen Ausmaß, auch mit Ehrfurcht schauen.
Die Vereinigten Staaten sind ein sehr ,außengeleitetes ' Land, in dem das
Individuum großen Respekt empfindet vor der Mehrheit - ein Über-Ich für
viele. Proteste dürften sich nicht gegen die Mehrheit richten, sondern gegen
konkrete Menschen oder anonyme gesellschaftliche Kräfte und Strukturen, um
dann die Mehrheit zur Teilnahme am Kampf einzuladen. An kurzfristigen Be-
wegungen, die einzelnen Themen gelten, nehmen vielleicht viele Menschen
teil, doch nicht an solchen, die Überzeugungen der Mehrheit herausfordern.
Mit dieser Struktur ist der Reaganismus sichtlich kompatibel; er ist die
eindeutige Artikulation der Kräfte, die der US-Struktur und -Kultur bereits
eingebaut sind. Die Annahme war daher ein Irrtum, er würde in dem Au-
genblick verschwinden, in dem Reagan selbst von der politischen Bühne ver-
schwand. Reaganismus war ein fundamentalistischer Ausdruck beider Ten-
denzen, der eines niedergehenden Reiches wie der des neuen Schwungs, der
im Lande durch die Verlagerung des wirtschaftlichen und demographischen
Schwerpunkts Gestalt annahm, um diesen Niedergang zu bekämpfen. Was
sich im amerikanischen Südwesten abspielt, ist so neu wie roh. Es ist die
Meuterei der Peripherie des Landes gegen den alten Mittelpunkt oben im
Nordosten.
434 Zivilisations theorie
Wir befassen uns hier mit Tiefenkultur, und diese betrachte ich als das wich-
tigste Grenzgebiet der Friedensforschung. Anders als die Probleme politi-
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 435
368 Ich verweise beispielhaft auf Tabelle 0.1 in der Einleitung dieses Buches. Übrigens
sollte man die Tatsache, auf dem Papier eine Lösung gefunden zu haben, nicht un-
terschätzen; damit fangt gewöhnlich alles an.
369 Viel mehr wird mein bald erscheinendes Buch A Theory of Civilizations enthalten.
5 Explorationen: Gibt es Therapien für
pathologische Kosmologien?
370 "The Emerging Conflict Formations", in: Tehranian. Majid und Katharine: Re-
structuring for World Peace, Cresskill, NJ 1992.
371 Wie die meisten anderen Menschen (wie Avicenna bemerkt hat) versuchte Saddam
wahrscheinlich, mehr als ein Ziel gleichzeitig zu erreichen. Doch zweifellos war die
Rivalität in der Arabischllslamischen Welt zwischen den alten Reichen, mit ihren
Wurzeln in Damaskus, Bagdad, Kairo, Teheran, Istanbul und, in etwas geringerem
Ausmaß, in Saudi-Arabien, von besonderer Bedeutung. Der Irak grenzt an vier von
ihnen, liegt aber zentraler als irgendein anderes Land des Islams.
438 Zivilisationstheorie
ziehen. 372 Mit anderen Worten wird hier die allgemeine These vom Primat
der Kultur oder der Zivilisation vertreten und nicht die marxistische These
vom Primat der Ökonomie, die "realistische" These des militärischen Primats
oder die liberale These vom Primat politischer Institutionen (wie sie z.B. in
der Dichotomie von Demokratie und Diktatur konzeptionalisiert ist)373. Fer-
ner werden die Zivilisationen in diesem Kapitel hinsichtlich ihres Auser-
wähltseins, ihrer Mythen und Traumata charakterisiert. 374
372 Dies ist ein grundlegendes Thema meines im Erscheinen begriffenen Buches World
Politics of Peace and War, das sich mit Machtgleichgewichten, Machtprofilen und
der Beziehung zwischen diesen beiden befaßt.
373 Staaten neigen jedoch dazu, sich in etwa auf die gleiche Art und Weise zu verhalten,
wenn sie dieselbe Stellung im internationalen System einnehmen, unabhängig von
ihrer politischen Binnenstruktur. Vielleicht müssen demokratische Eliten mehr Phan-
tasie entfalten, um kriegerische Absichten zu legitimieren.
374 Um der größeren Nähe zur gegenwärtigen Geopolitik willen.
Explorationen 439
375 Natur, Person, Gesellschaft, Welt (Raum), Zeit, das Transpersonale und Episteme
sind stärker ,philosophische' Kategorien (drei davon stammen von Kant), während
Auserwähltheit, Traumata und Mythen eher psycho-sozial zu verstehen sind. Offen-
sichtlich bezieht sich Auserwähltheit in dem Sinne auf das Transpersonale, daß hier
eine direkte Beziehung zwischen den erwählten Personen und Gesellschaften und
dem Transpersonalen hergestellt wird, wohingegen Traumata und Mythen unsere
440 Zivilisationstheorie
Kultur und deren Träger, die Nationen, im konkreten Raum- und Zeitgeschehen
gründen lassen, im Wo und Wann der jeweiligen Nation.
376 Der okzidentale Archetyp ist die jüdische Auserwähltheit, der orientalische Archetyp
die japanische.
377 Leo Baeck, der berühmte deutsche Rabbi, definierte die jüdische Besonderheit fast in
Begriffen einer "Erwähltheit zum Leiden", in seinem The Essence of ludaism, New
York 1961. Was mag dies wohl für einen deutschen Juden bedeutet haben, der von
der SS abgeführt wurde? Die Zeit des Leidens ist gekommen?
378 Wie Israel (vgl. Leo Baeck (1961, S. 67): "AII Israel is the messenger of the Lord,
the ,servant of God', who is to guard religion for all lands and from whom the light
shall radiate to all nations", oder ganz einfach in der Bibel Numeri 23, 9 oder Exodus
34, 24), die USA (lohn Winthrops und Ronald Reagans "City Upon a Hili"), Nazi-
Deutschland.
Explorationen 441
379 Dies sind meiner Erfahrung nach im Nahen Osten die drei hauptsächlichen Interpre-
tationen der Palästinenser. Außerdem ziehen es die Palästinenser vor, ihr eigenes
Licht zu sein.
380 Ein häufiges Argument im amerikanisch-jüdischen politischen Diskurs.
381 Es scheint, daß die Sumerer zu dieser Kategorie gehörten, überzeugt von der eigenen
Vortrefflichkeit, aber auch vom bevorstehenden eigenen Untergang.
382 Demzufolge muß Satan stark sein, vielleicht wie Gott in vielen Erscheinungsformen,
doch als eine Einheit. Die einzige Gegenkraft, die effektiv ein Gegengewicht gegen
den Monotheismus bilden kann, ist der Monosatanismus.
383 Der verlorene Krieg in Vietnam paßte für fundamentalistische Amerikaner in dieses
Denkraster, während der Golfkrieg die Bestätigung dafür war, daß Gott ihnen seine
Gunst weiter gewährte.
384 Von den sechs Hegemonen sind drei global (USA, EU und Japan) und drei regional
(Moskau, Peking und Indien). Israel weist nur einige militärische Charakteristika ei-
nes subregionalen Hegemons auf.
442 Zivilisations theorie
und er vermeidet Situationen, die die Illusionen der eigenen Größe falsifizie-
ren könnten. 385 Der Paranoide muß rechtfertigen, warum er so häufig Ge-
genstand von Feindseligkeiten ist, und warum sein außerordentliches Talent
so wenig Anerkennung erfährt. Solche Menschen oder Völker können sehr
gefährlich werden, wenn sie die sofortige Bestätigung dafür suchen, daß ihre
Talente anerkannt werden. 386
385 Dies ist ein Hauptpunkt der Dantziger-Psychotherapie, derzufolge viele Patienten
(1.) die Vorstellung haben, andere in irgendeiner Art und Weise zu übertreffen, (2.)
enorm darunter leiden, wenn irgendetwas auf das Gegenteil hindeutet und (3.) ihr
Bestes tun, solche Situationen zu vermeiden, was das gesellschaftliche Leben er-
schwert. Vgl. S. und R. Dantziger: You Are Your Own Best Counselor, Honolulu, HI
1989
386 In dieser Hinsicht war der Golfkrieg ein guter Krieg, da er sowohl Saddam Hussein
als auch George Bush, dem Irak und den Vereinigten Staaten, umfassende Gelegen-
heiten bot.
387 Dies war ein Kernpunkt der Untersuchung von Ähnlichkeiten und Unterschieden
zwischen Kriminellen und Patienten, die der verstorbene norwegische Soziologe Vil-
helm Aubert unternahm.
Explorationen 443
licher Eliminierung. 388 Doch dann gibt es da auch die subtilere und für unsere
Belange wichtigere Restrukturierung der sozialen Beziehung. Ein Ansatz be-
steht darin, den Devianten in eine soziotherapeutische Gemeinschaft mit an-
deren Devianten zu stecken, etwa in ein Rehabilitationszentrum. Viele ur-
sprüngliche bzw. traditionelle Gesellschaften sind selbst diese tolerante
therapeutische Gemeinschaft. Noch wichtiger ist die Verfahrensweise, den
Devianten "die Treppe hinauf zu befördern", indem entschieden wird, daß
seine Devianz Kompetenz auf einer höheren Ebene darstellt, so etwa seine
Identifizierung als Schamane. 389 An der Spitze von Hierarchien besteht keine
Notwendigkeit mehr, Menschen zu treffen, nur Worte. 390
Man stelle sich eine megalo-paranoide Person in einer megalo-paranoiden
Kultur vor. Die Person leide an Größen- und an Verfolgungswahn; der Kul-
tur gehe es ebenso. Dies qualifiziert nicht unmittelbar für hohe Positionen, es
gibt einige zusätzliche Bedingungen. Die Person muß das Idiom der Kosmo-
logie sprechen, sie muß ihre Stimme sowohl der Erwähltheit als auch den
Mythen und den Traumata der Gesellschaft leihen, und zwar in Begriffen, die
vom Volk verstanden und von den Eliten akzeptiert werden, und sie daif nie
irgendeinen Zweifel an diesen Überzeugungen äußern. 391 Auch egozentrisch
von der eigenen Erwähltheit zu sprechen, ist noch nicht ausreichend. Es muß
eine annehmbare Verbindung zwischen der individuellen und der kollektiven
Megalo-Paranoia geben. Das Individuum muß als erwählter Repräsentant
betrachtet werden, dessen persönliche Mythen und Traumata um der Gesell-
schaft willen zustande kamen, als individuelle Manifestationen oder Projek-
tionen des gemeinsamen Schicksals. Im Idealfall sollte das Individuum eine
Mikro-Repräsentation des Kollektivs der Makro-Ebene sein, Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft umfassend. 392 Die Ontogenese sollte die Phylo-
388 Jedoch ist die gesellschaftliche Definition des Devianten entscheidend dafür, daß
dies geschehen kann - wie Michel Foucault in seinen vielen Büchern, etwa in Ar-
chäologie des Wissens, Geburt der Klinik oder Überwachen und Strafen. Die Geburt
des Gefängnisses, so meisterhaft gezeigt hat.
389 Dies Thema wurde von Lewis Yablonsky in Robopaths (Indianapolis, IN 1972) un-
tersucht.
390 Wie Weber oft unterstrichen hat, verfährt Bürokratie generalisierend, nicht indivi-
dualisierend. Das Persönliche ist immer singulär.
391 Vielleicht bedarf es also eines negativen Vertrauens. Ein Kandidat für die amerika-
nische Präsidentenschaft muß nicht jeden Tag sagen, die USA seien das erwählte
Land; doch sagt er: "Die USA sind ein gewöhnliches Land, wie alle anderen auch",
oder sogar: "Amerika ist eine kranke Gesellschaft", dann ist er aus dem Rennen
(Carter?).
392 Ist also das Land arm und gebildet, dann sollte der (zukünftige) Führer dasselbe Pro-
fil aufweisen. Ich verdanke diese wichtige Einsicht dem verstorbenen Schweizer So-
ziologen Peter Heintz.
444 Zivilisationstheorie
genese widerspiegeln. Jesus Christus stellt hierfür ein Beispiel dar und auch
Mohammed, aber auch Adolf Hitler, Josef Stalin und Ronald Reagan. 393
Mit dieser Selbstdarstellung kann ein mit megalo-paranoiden Syndromen
ausgestatteter Psychopath als starker Führer betrachtet werden, ungeeignet
zwar für den täglichen Umgang mit Menschen, die auf derselben Stufe ste-
hen, doch ideal für die höheren Ebenen einer unpersönlichen, papierorientier-
ten Bürokratie nach Art der Ministerien, der Korporationen und des Militärs.
Das Einfühlungsvermögen in andere wäre äußerst niedrig, und dies läuft
wieder auf das Urteil von der "sozialen Inkompetenz" hinaus. Die Eignung
für vertikale Organisationen kann hingegen hoch sein, aufgrund der (Män-
nern eher als Frauen eignenden) Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen. 394 Je
steiler die Bürokratien und je fortgeschrittener die Geisteskrankheit, desso
schlimmer ist die Situation. 395
Das Vorgenannte hilft weiter beim Versuch, Nazi-Deutschland besser zu
verstehen. Hitler allein und seine mögliche "Verrücktheit" erklären nicht,
warum er so viele Anhänger fand. Erklärungen, die sich nur auf das deutsche
Volk beziehen, vernachlässigen die Notwendigkeit einer kompetenten Exe-
kutive, da das Volk unfähig ist zur längerfristigen Selbstverwaltung einer
Megalo-Paranoia. Massenphänomene wie die hysterische Menge oder der
Mob sind kurzfristige Erscheinungen. 396 Hitler, alles andere als sozial inkom-
petent, war in privater Gesellschaft eher umgänglich, wie rücksichtslos auch
immer er in politischen Dingen gewesen ist. Seine grundlegenden Charakter-
züge bestanden darin, daß er wirklich an das glaubte, was er sagte, und daß er
eine krankmachende Ideologie mit unerschöpflicher Energie durchsetzte. 397
Am Ende produzierte er psychosomatische Symptome, wie dies jeder unter
vergleichbarem Stress tun würde. Doch ohne Zweifel betrachtete er sich
selbst als auserwählt, war doch seine eigene Vergangenheit reichlich verse-
hen mit Traumata und Ruhmesmythen. Mit anderen Worten: Sein Seelenbild
glich bis zur Identität dem Sozialcharakter des deutschen Volkes. Man ver-
fehlt diesen Punkt, wenn man sagt, daß die Deutschen Autoritäre auf der Su-
che nach einem Führer waren und er eine Autorität auf der Suche nach einem
zu beherrschenden Volk. Vielmehr erkannte sich einer im anderen, "Du und
393 Siehe mein bereits erwähntes Buch: Hitlerism, Stalinism, Reaganism: Three Variati-
ons on a Theme by Orwell sowie das vorhergehende Kapitel.
394 Dies ist eines der Hauptthemen in Carol Gilligans, In a Different Voice: Psychologi-
cal Theory and Women's Development, Cambridge, MA 1982.
395 Dies Thema wird untersucht in meinem Buch Health and Development, im Erschei-
nen begriffen.
396 Dabei handelt es sich um hochgradig überhitzte Formen des Verhaltens, die nicht
über eine längere Zeit hinweg aufrecht erhalten werden können.
397 Dies wurde besonders von Dr. Kelley unterstrichen, dem amerikanischen Militär-
psychologen, der die Nürnberger Kriegsverbrecher untersuchte. S. Douglas M. Kel-
ley: 22 Cells in Nuremberg, New York 1961.
Explorationen 445
Ich, wir sind von derselben Art", Spezies desselben Genus. Paßte bestens zu-
sammen!
An der Peripherie dieses Systems der germanischen Neuordnung (dt. i.
Orig.) nahm ein Mini-Hitler Gestalt an, der Norweger Vidkun Quisling. Er
hatte einen eigenen gut entwickelten AMT-Komplex und erhob Anspruch auf
den Status eines förer (norwegisch für Führer). Anders als Hitler hätte er nie
freie Wahlen gewonnen, da sich sein AMT-Komplex in der norwegischen
Kosmologie nicht widerspiegelte. 398 Hätte Norwegen andere Dimensionen,
wäre es zehn mal oder hundertmal größer, dann hätte es diese Kosmologie
vielleicht auch entwickelt und Beifall gespendet. Wie die Dinge nun einmal
lagen, war Quisling ein Diktator mit dem falschen Drehbuch.
Gehen wir nun über zu den Somatherapien, müssen wir zunächst die hier
implizierte Idee der Reversibilität erwähnen. Die Auffassung: Therapie ist
möglich, steht im Gegensatz zur soziotherapeutischen Vorstellung der Hei-
lung nicht des Devianten, sondern der Gesellschaft, indem diese den Devian-
ten abschiebt oder sich dessen außerordentliche Talente zunutze macht.
Zweitens aber der implizite Individualismus dieses Ansatzes: Nicht der ge-
samte Kontext, nur der Körper des Individuums wird verändert. Jeder Ein-
griff ist im Prinzip denkbar: physico-mechanisch (Lobotomie), physico-elek-
trisch (Elektroschock), biochemisch (Ruhigstellung) usw., usf. Aus einem
bestimmten Blickwinkel können diese Eingriffe in zwei Arten unterteilt wer-
den: diejenigen, die offen schmerzhaft sind und daher Elemente von Bestra-
fung an sich tragen, und die anderen. Sind die Therapeuten Instrumente ge-
sellschaftlicher Kontrolle im Dienste der sozialen Ordnung, dann werden sie,
wie andere Autoritäten auch, dazu neigen, die Apathie der Revolte vorzuzie-
hen und ihre "Therapien" entsprechend zu organisieren. Ein apathischer Pati-
ent ist wie ein Baby, das nicht schreit, "gut". Lobotomie und Ruhigstellung
führen diesen Zustand herbei; wie im Falle der Tötung, Verbannung und
Einweisung werden die Patienten entmachtet und bestraft. Apathie induzie-
rende Ansätze gelten aber als humaner. 399
All dies sollte dann den psychotherapeutischen Ansätzen gegenüberge-
stellt werden. Anders als im Falle der beiden anderen stehen wir hier erst am
Beginn, obgleich es doch schon ein Jahrhundert her ist, daß Freud das indivi-
duelle Unterbewußte öffnete. Die Schulen wuchern, ein gutes Zeichen für
Pluralismus. Sie betrachten Geistesstörungen als mehr oder weniger reversi-
bel. Einige Ansätze sind individuumszentriert, andere eher soziotherapeu-
398 Auch die norwegische Kosmologie hätte Elemente glorreicher Mythen, das Goldene
Zeitalter der Wikinger, und Traumata: den Schwarzen Tod, die Zeit unter dänischer
und die unter schwedischer Herrschaft, aufzuweisen. Doch die meisten Norweger
würden bei des - auf welcher Bewußtseinsebene auch immer - nicht allzu erst neh-
men.
399 Ist die Wahl die zwischen lebenslänglicher Einkerkerung oder Verbannung, dann
mag einiges hierfür sprechen; doch warum sollte man das Problem so definieren?
446 Zivilisationstheorie
tisch bis hin zu den therapeutischen Gemeinschaften, auf die ich oben hin-
gewiesen habe. Somatherapie muß individualistisch sein, da es keine Ver-
bindungen zwischen den K~ern gibt; Psychotherapie steht nicht unter dem
Zwang derselben Annahme.
Der Schwerpunkt liegt hier auf individuumszentrierter Psychotherapie. Es
gibt ein allgemeines Paradigma I, das diesem Ansatz unterliegt und hoch re-
levant ist für das Problem, das im Titel dieses Kapitels formuliert wurde - ein
Prozess mit einander überlagernden, doch klar ausgeprägten notwendigen
Phasen 4V! :
Phase 1: Das Individuum erkennt und akzeptiert, daß es in der Krise steckt.
Phase 2: Das Individuum akzeptiert, daß die Krise im eigenen Selbst vor-
programmiert ist.
Phase 3: Das Individuum akzeptiert, daß es der Hilfe durch kompetente
Andere bedarf.
Phase 4: Das Individuum akzeptiert, in eine Patient-Heiler-Beziehung ein-
zutreten.
Phase 5: Kooperation von Patient und Heiler bei der Identifikation des
verborgenen Programms.
Phase 6: Kooperation von Patient und Heiler bei der Abänderung des Pro-
gramms des Selbst.
Phase 7: Der Patient wird NeuGeboren, mit einem neuen Selbst, Katharsis.
400 Gewiß gibt es interpersonelle Verbindungen sowohl auf der Ebene der Psyche als
auch auf der des Geistes; wie diese Verbindungen funktionieren, und wie sie für die
Psychotherapie von Bedeutung sein können, ist eine andere Frage. In der westlichen
Kosmologie ist der Individualismus eine Grundannahme, und daher wird das Inter-
personale zumeist als jene Spuren konstruiert, die Menschen, die von Bedeutung
sind, wie etwa die Eltern, in der Psyche hinterlassen. In der japanischen Kosmologie
folgt aus dem Kollektivismus, daß das Interpersonale einer stärker synchronen und
weniger diachronen Interpretation offen steht. Die westliche Psychotherapie unter-
nimmt typischerweise den Versuch, die Spuren der Vergangenheit aufzudecken, die
japanische könnte es typischerweise mit Gruppentherapie versuchen.
401 Das folgende ist z. T. inspiriert durch Talcott Parsons Arbeit über medizinische So-
ziologie.
402 "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben: Niemand kommt zum Vater als
durch mich" (Johannes 14,6) - sehr starke Worte.
Explorationen 447
tholische Christentum würde die Kirche als notwendige Bedingung, die Be-
ziehung mit dem Höchsten Heiler herzustellen, hinzufügen: extra ecclesiam
nulla salus. Die Kräfte hinter den begangenen Sünden müssen erkannt, ge-
standen und dann durch Reue, Buße und Unterwerfung ausgetrieben werden.
Es muß um Vergebung gebeten und eine neue Führung akzeptiert werden,
was Wiedergeburt in Christus bedeutet: Katharsis. Erfolgt diese nicht, dann
die Apokalypse der ewigen Verdammnis.
Kein Wunder, daß die Psychoanalyse auf Widerstände stieß. Das christli-
che Paradigma wurde säkularisiert, mit dem individuellen Psychoananlytiker
in der Rolle des Priesters und mit Freud in der Rolle Christi, ausgestattet mit
gottgleichen Zügen. Und mit dem Versprechen der Wiedergeburt auf Erden!
Diesem jüdisch-christlich inspirierten Paradigma I läßt sich nun ein eher
buddhistisch orientiertes Paradigma II gegenübergestellen. Erstens gibt es
hier ein Element der Bewußtseinsbildung oder, mit dem Begriff, den Paulo
Freire populär gemacht hat, der Bewußtmachung. 403 Das unterbewußt Ge-
wußte, doch im Bewußtsein nicht Gewußte wird bewußt gewußt, wird ver-
fügbar und explizit, so daß man es gutheißen oder bekämpfen kann. Die all-
gemeine Formel würde lauten: Selbsterkenntnis durch Meditation.
Zweitens gibt es ein Element der Mobilisierung, wenn das individuelle
Selbst zunehmend bewußt wird. Es gibt einen Glauben an die Fähigkeit des
Selbst, sich seine eigenen Anderen zum Zwecke eines inneren Dialogs zu be-
schaffen, wobei der innere Andere z.B. das Über-Ich oder das Es sein kann -
eine Betrachtungsweise, die sich mit einem gewissen mittelalterlichen und
protestantischen Christentum vertragen würde. Im Falle eines äußeren Ande-
ren besteht ein Unterschied zwischen einem höheren Anderen und dem An-
deren auf derselben Ebene. Das Christentum von Okzident I versteht Gott als
transzendent und oben befindlich eher denn als immanent und innerlich wir-
kend. Das Bedürfnis, menschliche Wesen von oben zu führen, spiegelt sich
in der klassischen Psychoanalyse darin wider, daß sie auf der Unentbehr-
lichkeit eines den Anderen anleitenden Psychoanalytikers besteht, im Gegen-
satz zur klientenzentrierten, selbstanleitenden Therapie und der humanisti-
schen Psychologie. 404 Das Paradigma 11 verlangt weder das eine noch das an-
dere, begrüßt jedoch äußere Dialoge mit anderen, die sich in der gleichen
Lage befinden.
Drittens gibt es ein Element der Konfrontation, der Herausforderung jener
unbewußten Kräfte, die das Selbst angetrieben haben, wofür man eine be-
stimmte Krise als exemplarisch herausgreift. Viertens gibt es den Kampf, die
Dialektik der Befreiung vom alten und der gleichzeitigen Erschaffung des
neuen Selbst. Und dies endet, fünftens, mit moksha, satori, Selbst- Vertrauen,
der Wiedergeburt, einem Neubeginn, der fähig macht zur bewußten Selbst-
bestimmung anstelle des Getrieben-Werdens durch verborgene Codes.
Paradigma 11 weist große Ähnlichkeit auf mit einem Paradigma für den
revolutionären Kampf, auch von unten, zur Überwindung struktureller Ge-
walt. 405 In diesem Fall gilt die Bewußtmachung nicht dem Verständnis der
inneren Kräfte, die sich in tieferen Schichten der Persönlichkeit, sondern der
Kräfte, die sich in den tieferen Schichten der Gesellschaft verbergen. In bei-
den Fällen ist das Wort Struktur nützlich; die Persönlichkeit hat eine Struktur
und ebenso die Gesellschaft. Eine Struktur kann nicht nur in der Gesellschaft
menschlichen Wesen Gewalt - an Körper, Seele und Geist - antun, sondern
auch in der Persönlichkeit. Und hier schließt sich dann die Frage an, ob es
vielleicht strukturelle Gewalt in jeder Persönlichkeit gibt, nur weil es sich um
eine Persönlichkeit handelt, und in jeder Gesellschaft, weil es sich um eine
Gesellschaft handelt? Die Antwort könnte Grenzen des inneren wie des äu-
ßeren Friedens zu erkennen geben. 406
Nun läßt sich die Verbindung mit dem Problem pathologischer Kosmo-
logien herstellen. In diesem Fall wurzelt die Pathologie weder in der Struktur
der Persönlichkeit noch in der Struktur der Gesellschaft, sondern in beiden.
Es gibt ähnliche Elemente im Unterbewußten von Mitgliedern der Eliten
("die herrschende Kosmologie ist die Kosmologie der herrschenden Klasse",
um Marx zu paraphrasieren) wie anderer Gesellschaftsmitglieder und in der
Tiefenkultur dieser Gesellschaft, man denke an das AMT-Syndrom. Der Be-
griff der Kosmologie verbindet die Struktur dieser Kultur mit der Struktur
der Persönlichkeiten, indem die tieferen Aspekte der Kultur in der Gesell-
schaft als Träger der Kosmologie institutionalisiert407 und von den Individuen
als Annahmen darüber, was normal und natürlich sei, internalisiert werden.
Mit anderen Worten, das gemeinsame kollektive Unterbewußte. Das zwei-
schichtige Wesen der kollektiven Megalo-Paranoia, sowohl in der Gesell-
schaft als auch in den Personen beheimatet zu sein, gestaltet die Therapie,
das Heilen, sehr schwierig.
405 Als Beispiel für eine Untersuchung des Sachverhalts s. Johan Galtung: "From Vio-
lent to Nonviolent Revolution", in: ders.: The True Worlds, New York 1980, Kap.
4.2, S. 139-149.
406 Das Problem besteht darin, einen Weg zu finden zwischen dem "zu viel" und dem
"zu wenig" vertikaler und dem "zu eng" und dem "zu weit" horizontaler struktureller
Gewalt. Dies bedeutet im persönlichen wie im sozialen und im globalen Raum einen
Balanceakt, bei dem an allen Ecken und Enden Schwierigkeiten lauern.
407 Etwa qua Sprache und Religion, Ernährung und Sex, Wissenschaft und Technik.
Explorationen 449
Zwei Auffassungen können hier gleich eingangs verworfen werden: die au-
tomatische Anwendbarkeit wie die automatische Nichtanwendbarkeit. Wir
wollen lieber Schritt für Schritt vorgehen und die Typologie therapeutischer
Ansätze, die oben vorgestellt wurde, auf Kollektive anwenden, insbesondere
auf Nationen und ihre Beziehungen, mit anderen Worten, auf internationale
Beziehungen.
Soziotherapien: Es gibt hier keine Schwierigkeit in der Übersetzung der An-
sätze, und ihr gewalttätiges Wesen wird sogar noch deutlicher, wenn sie als
internationale Beziehungen interpretiert werden. Worum ging es bei der na-
tionalsozialistischen Ausrottung der europäischen Juden? Nicht um die Klei-
nigkeit irgendeiner ökonomischen oder kulturellen Auseinandersetzung zwi-
schen Juden und anderen Deutschen, sondern um die Vorstellung, daß auf
deutschem Boden nur Raum für ein einziges auserwähltes Volk sei, die
"Arier". Hitler verglich die Juden mit Mikroorganismen408 und wendete die
,search-and-destroy'-Strategie an, die nicht nur von der "Ausmerzung" an-
steckender Krankheiten her bekannt ist, sondern auch vom Umgang der USA
mit dem "Kommunismus" in Indochina. Jeder einzelne Jude wurde als Über-
träger der Krankheit nicht-arischer Auserwähltheit betrachtet und mußte da-
her eliminiert werden. Der Prozess kommt dem Versuch409 der (spanischen)
Inquisition nahe, Häresie durch die Eliminierung der Häretiker auszurotten,
selbst dann, wenn sie ihrem Glauben abgeschworen hatten. 410
Doch Hitler bediente sich, wie die Inquisition, auch der Verbannung und
Einweisung. Ausrottung war Mittel zum Zweck, um Deutschland und das be-
setzte Europajudenrein (dt. i. Orig.) zu machen; die Welt interessierte erst in
zweiter Linie. Das Exil war eine mögliche Alternative, mit der die Nazis
Geld verdienten 411 - eine Lösung, die für potentielle Opfer von offensichtli-
chem Vorteil war, falls sie es sich leisten konnten (hier spielt, wie gewöhn-
lich die Klassenzugehörigkeit ihre Rolle). Und nicht nur vor der Exekution
nutzte man das Gefängnis - ein auserwähltes Volk, um ein anderes auszurot-
ten, ebenso wie auserwählte Personen, um andere zu eliminieren.
408 Tatsächlich verglich er die "Entdeckung" der Rolle der Juden im gesellschaftlichen
Organismus mit Robert Kochs Entdeckung der Rolle von TBC-Bakterien für die Tu-
berkulose.
409 In der Kriminologie ist dies bekannt als Bestrafung zwecks individueller Prävention.
410 Natürlich steckte hierin auch ein Element, Bestrafung zur Generalprävention, zur
Abschreckung anderer zu nutzen.
411 Bei diesem Handel gibt es auch eine versteckte Botschaft über die eigentliche Natur
des ,,Auslands": jedenfalls unrein, und so gehören unrein und unrein zusammen.
450 Zivilisationstheorie
412 Dies wird in einem gewissen Ausmaß ausgearbeitet in meinem United States Foreign
Policy as Manifest Theology, San Diego, CA (University of California, IGCC) 1987.
413 Das archetypische Beispiel hierfür ist natürlich Henry Kissinger.
414 Siehe Russel Jacoby: The Last lntellectuals: American Culture in the Age 0/ Acade-
me, New York 1987.
415 Es ist jedoch nicht so leicht zu entscheiden, wie genau dies funktioniert. Was sich
1989 in Europa zugetragen hat, geschah im wesentlichen in der Beziehung zwischen
den Herrschern und den Beherrschten innerhalb der Länder selbst. Doch die Herr-
scher waren als Ergebnis einer Marginalisierung geschwächt und die Beherrschten
durch ihre Kontakte mit auswärtigen Akteuren gestärkt. Ökonomische Sanktionen
sind viel1eicht weniger wichtig gewesen.
416 Und in diesem Sehnen gibt es faschistische Elemente, ein Wohlgefal1en daran, daß
die USA einem Land wie dem Irak das antun, was sie selbst ihm gerne angetan hät-
ten, doch zu tun nie wagten. Vgl. für eine Analyse der zugrundeliegenden Strukturen
Johan Galtung: "The Cold War as Autism", Essays in Peace Research, Bd. VI, Ko-
penhagen 1988, S. 81-106.
Explorationen 451
417 Sicherlich: Wahrscheinlich hätte man es weiterhin als eine normale Demokratie be-
trachtet, die sich aufopfert, um Recht und Ordnung zu bewahren.
418 Die Ausdrücke "Aderlaß" und "chirurgischer Schnitt" verbinden die beiden Arenen,
indem sie jede zur Metapher für die jeweils andere machen.
419 Das Problem besteht natürlich darin, daß die Wohltaten der Konsumgesellschaft zu-
meist den Reichen zur Verfügung stehen; und diese sind nicht der Ursprung des
Problems für Therapeuten, die sich an Recht und Ordnung orientieren.
452 Zivilisationstheorie
420 Diesem Ansatz ist offenbar die Gruppe der Sieben im Hinblick auf die Sowjetunion
gefolgt: erst Exorzismus (des Kommunismus), dann Hilfe.
Explorationen 453
von der einen Seite des Parlaments auf die andere wechselt. Wir sprechen
vielmehr von der Anerkenntnis, daß etwas grundsätzlich falsch läuft.
Das beste Beispiel der neueren Zeit stellt wahrscheinlich der Sinneswandel
dar, den Chruschtschow anläßlich des XX. Parteitags der KPdSU (B) im Fe-
bruar 1956 in Gang setzte und dem sich Gorbatschow später anschloß - in
einem Prozeß, der vierzig Jahre später immer noch andauert. Vermutlich
kann dies als ein Eingeständnis in Etappen gelten. Chruschtschow verwarf im
wesentlichen den Stalinismus, unter Einschluß dessen, was man die Tiefen-
struktur des Stalinismus nennen könnte; Gorbatschow verwarf zusätzlich die
Tiefenstruktur des Leninismus. Zunächst Ideologien, setzten sich beide als
Kosmologien im sowjetischen kollektiven Unterbewußten vieler, vielleicht
der meisten fest und vermischten sich mit Kosmologieresten zaristischer For-
mationen, die auch bei vielen Dissidenten einen festen Platz einnehmen. 421
Warum machten die Genannten das? Offensichtlich, weil das Gesamtsy-
stem sich in einer Krise befand; ebenso offensichtlich, daß es sich dabei um
eine Krise des eigenen Programms, der eigenen Kosmologie handelte. Ver-
suche, die Schuld auf andere abzuwälzen, wie z.B. auf interventionistische
Kriege, Konterrevolution, Hunger und Elend nach dem Ersten Weltkrieg,
Sabotage, die Schrecken des Nazi-Angriffs im Zweiten Weltkrieg (dem Gro-
ßen Vaterländischen Krieg), schlechte Ernten - all dies hatte einige Erklä-
rungskraft. Doch es blieb ein nicht erklärter Rest, nachdem man alle anderen
Erklärungen und Heilmittel versucht hatte. 422
Sozialistische Formationen produzieren Krisen für sich selbst; der Kapita-
lismus ist stärker darin, andere in die Krise zu stürzen (wogegen man nicht
mit dem russischen bzw. sowjetischen Imperialismus argumentieren sollte,
der eher zaristisch als sozialistisch ist). Der Sozialismus tötet nach oben hin
beim Versuch, die Mittel- und Oberschichten, einschließlich der von ihm
selbst geschaffenen, zu kontrollieren; der Kapitalismus tötet nach unten hin
beim Versuch der Kontrolle unruhiger Arbeiter, auch wenn diese das Produkt
seiner eigenen Dynamik darstellen. Der Kapitalismus verschiebt seine Krisen
nach unten, indem er das innere Proletariat der Arbeiterklasse, das äußere
Proletariat der Randländer und die Natur ausbeutet; der Sozialismus beutet
alle drei, zusätzlich zu sich selbst, aus. Letztlich sprach Chruschtschow
hauptsächlich von den stalinistischen Opfern in der Kommunistischen Partei
und meinte dabei Menschen seiner eigenen Art.
421 Und die grundlegende Frage lautet jetzt, wie dies nach dem Exorzismus des Kommu-
nismus zum Ausdruck kommen wird; gibt es ein Neues Zeitalter russischer Erwählt-
heit, das die Mythen des mir neu erschafft, wie bei Solschenizyn?
422 Dies ist eine grundlegende erklärende Formel für fundamentale makrohistorische
Transformationen bei Johan Galtung, Erik Rugend, Tore Heiestad: "On the Last 2.500
Years in Western History. And Some Remarks on the Coming 500", in: Peter Burke
(Hg.): New Cambridge Modern History, Companion Volume, Bd. XIII, Cambridge
1979, Kap. 12, S. 318-361.
454 Zivilisationstheorie
Eine "klare und aktuelle" Krise ist also eine Vorbedingung; die andere ist
eine aufgeklärte, ehrliche, mutige Führung, die die moralischen Risiken der
Anerkenntnis und des Eingeständnisses eines tiefen Scheiterns auf sich
nimmt. Es stellt sich dann das Problem der Heilung, das der eigenen Fähig-
keit dazu bzw. der Anerkenntnis, daß man vielleicht dazu den Anderen
braucht, vielleicht sogar jenen grundlegend Anderen. Die Vereinigten Staa-
ten versuchten dieser Andere für das geschlagene Deutschland und Japan
nach dem Zweiten Weltkrieg zu sein, heute sind sie mehr als gewillt, dieselbe
Rolle für Sowjetrußland zu spielen und die dreifache Medizin der pluralisti-
schen Demokratie, der Ökonomie des freien Marktes und des Christentums
mittels Regierungshandeln, Unternehmensinvestitionen und US-Missionaren
zu verabreichen. Doch die Deutschen ermangelten der inneren Bereitschaft,
die sich erst durch die Jugendrevolte eine Generation später einstellte. Japa-
nische Eliten haben vermutlich nie einen grundlegenden inneren Wandel
durchgemacht. Und ein von der USA herbeigeführter Wandel in der Sowjet-
union setzt Unterwürfigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten voraus, eine
Bedingung, die in den anderen Fällen erfüllt war. Daher das teilweise Schei-
tern der Versuche; doch die sowjetische Selbstheilung hält an. 423
Wir wollen es also mit dem Paradigma 11 versuchen, das näher bei der
realen Politik liegt, und annehmen, daß das Problem der Bewußtmachung in
der Weise gelöst wurde, auf die oben verwiesen wurde. Die Figur der "Mobi-
lisierung" ist wesentlich, da sie eine konkrete kollektive Deutung kennt: die
Organisation der Menschen, die transformiert wurden, um den verbleibenden
Rest zu bearbeiten. Dies ist eine aus allen Religionen und Ideologien wohl-
bekannte Figur, die aber nicht so einfach auf die individuelle Ebene ange-
wendet werden kann, es sei denn, wir dürften bewußt geführte innere Dialoge
voraussetzen, etwas, was viele Menschen zum Zweck der Selbsttherapie tun,
auch wenn sie vielleicht nur ein Tagebuch schreiben. Doch dieser Prozeß
riecht vielleicht etwas nach Schizophrenie. Im Falle einer Nation, die patho-
logische Charakterzüge entwickelt hat, sprechen wir von etwas ganz Konkre-
tem: einem neuen Geschlecht, einer neuen Generation, Rasse, Klasse oder
Nation oder irgendeiner anderen Gruppe als Träger einer neuen Botschaft.
Nun zur Formel der "Konfrontation". Ausschlaggebend ist die Auswahl
des Testfalls, des Beispiels, das gewählt werden muß wegen seines pädagogi-
schen Werts, indem man die Art und Weise, wie es einmal war, der Art und
Weise gegenüberstellt, wie es aufgrund der neuen Botschaft sein wird. Beide,
das Alte und das Neue, müssen geprüft werden So ist, war und wird der Test-
423 Andererseits mag die wenig bekannte Arbeit der "German Youth Administration",
die die Deutschen in den späten Vierziger Jahren in Demokratie unterrichtete, eine
gewisse Rolle gespielt haben. Als studentischer Anhalter hatte ich im Juni 1949 in
der damaligen Amerikanischen Zone Gelegenheit, mit einem dieser Lehrer für De-
mokratie, einem sehr enthusiastischen und engagierten jungen Amerikaner, zu fah-
ren.
Explorationen 455
fall für die Sowjetunion bleiben die Unabhängigkeit der Republiken und der
Nationalitäten im Innern der Republiken, die sowohl Wandel als auch Wi-
derstand verursachen. Ein weiterer Testfall ist der friedliche Machttransfer
durch geheime Wahlen, ein dritter die Privatisierung. Alle drei stellen einen
Versuch von innen wie auch von außen dar, westliche Ideologie in die so-
wjetische Kosmologie einzupflanzen und die Kosmologie dadurch zu ändern.
Die sowjetischen Führer waren einem Druck sowohl von oben als auch von
unten ausgesetzt und scheiterten; ihr Versuch, an die Macht zurückzugelan-
gen (wahrscheinlich eher pro forma, am 19. August 1991), schlug ebenso
fehl. Am Ende wurde derjenige, der den ganzen Prozeß in Gang gesetzt hatte,
Gorbatschow nämlich, auch noch gestürzt.
Es ist eine grundlegende Frage, ob dies alles grundlegend genug ist. So
würde ja die eigentliche Frage, die sich aus der vorliegenden Argumentation
ergibt, lauten müssen, ob sich die Ex-Sowjetvölker im allgemeinen und die
Russen im besonderen immer noch als ein auserwähltes Volk sehen, mit allen
Rechten und Pflichten, die sich hieraus ergeben. Tun sie dies, dann wird sich
mit Sicherheit eine neue Aufgabe finden, die man mit demselben missionari-
schen Eifer propagieren und durch den Hinweis auf Mythen und Traumata
(einschließlich der allerjüngsten) legitimieren wird.
Sodann zum Stichwort "Kampf', Kampf um die Unabhängigkeit von dem,
was zuvor war: schnell oder langsam, gewaltsam oder gewaltlos - wobei das
Langsame und das Gewaltlose die Präferenzen des Friedensforschers sind,
wenn er nach den Bedingungen für einen Frieden durch friedliche Mittel
sucht. 424 All diejenigen zu töten, zu exilieren, einzusprerren oder auf andere
Weise zu marginalisieren, die tief im Unterbewußten die Samen der alten
Ordnung tragen könnten, so wie dies Nazi-Deutschland machte (und in un-
vergleichlich geringerem Umfang, doch in derselben Struktur, das zioni-
stische Israel), bedeutet, eine Megalo-Paranoia in Szene zu setzen, aber nicht,
sich für Transformationen zu engagieren. Nur durch eine tiefe Transforma-
tion läßt sich die innere Kohärenz einer neuen Kosmologie erreichen, was zu
Selbstvertrauen und Autonomie und damit zur Unabhängigkeit von allen au-
ßenstehenden Heilern führt, wenn man nur über hinreichende Selbstheilungs-
kräfte verfügt, wie etwa im Fall einer fest verwurzelten Demokratie.
Ein Beispiel hierfür könnte Deutschland sein, wo die Demokratie etwa 50
Jahre nach dem Nationalsozialismus fest etabliert erscheint, wenn denn eine
hohe politische Beteiligung und ein Parteienpluralismus, der eine echte Wabl
zwischen mehr als zwei Alternativen erlaubt, überzeugende Kriterien sind.
Doch der Test wird auch darin bestehen, ob es in der deutschen Nation im-
424 Europa 1989 zeigt jedoch, daß auch Gewaltlosigkeit sehr schnell wirken kann, zu-
mindest in der letzten Phase. Im allgemeinen dürfte jedoch der Vergleich zwischen
Antibiotika und traditionellen Kräutern gelten: Erstere sind schneller, können aber
auch mehr zerstören.
456 Zivilisationstheorie
mer noch expansionistische und Herrschaftstendenzen gibt, und die Art und
Weise, in der die Westdeutschen ihre eigene Nation in der früheren DDR be-
handeln: die Penetration auf der ganzen Bandbreite von Ökonomie, Kultur
und Politik gibt manchem Zweifel Raum.
425 Die Frage lautet natürlich, ob Spanien heute seinen Fehler nicht wiederholt, indem es
allzu sehr auf die Karte Tourismus setzt, anstalt sich der schwierigen Aufgabe an-
spruchsvoller Verarbeitung und Industrialisierung zu unterziehen.
426 Wann werden wir etwa eine Rede aus Washington vernehmen, die sich für die hinter
den mehr als 200 militärischen Interventionen überall in der Welt stehende Kriegs-
lüsternheit entschuldigt?
Schluß: Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur
Mit weniger als allen vier Teilen dieses Buches kommen wir nicht aus: Frie-
de und Konflikt, Entwicklung und Zivilisation. Liegt ein dynamischer Friede,
als Prozeß, immer dann vor, wenn ein Konflikt - stets zugleich Zerstörer wie
Schöpfer - ohne Gewalteinsatz und kreativ transformiert werden kann, dann
spielen Struktur und Kultur eine Rolle. Höchst wichtig sind die Tiefenstruk-
turen und die Tiefenkulturen, weil sie unreflektiert bleiben, ja unbekannt
sind. Da sie im kollektiven Unterbewußtsein der Menschen zuhause sind, bil-
den sie deren kleinsten gemeinsamen Nenner, etwas, auf das sich alle Men-
schen beziehen können.
Positive Bezeichnungen wie "Entwicklung" und "Zivilisation" habe ich
hier genutzt, um bestimmte Diskurse über Struktur und Kultur vorzustellen.
Der Begriff Entwicklung deckt nicht allein ökonomische, sondern auch poli-
tische und institutionelle Faktoren ab. Und durchgehend wird der Leser die-
ses Buches auf die vier Räume Natur, Selbst, Gesellschaft und Welt stoßen -
und dann auf Zeit und Kultur. In allen sechs spielen Gewalt und Frieden eine
wichtige Rolle, weil das Leben in ihnen in Mitleidenschaft gezogen, aber
auch gesteigert werden kann. Die Probleme der Schmerzvermeidung und der
Verbesserung der menschlichen Lage sind hier allgegenwärtig. Kausale Zy-
klen, mit Gewalt und Frieden in ihrem Schlepptau, finden ihren Weg in allen
Räumen.
Die Friedensforschung erweitert sich gegenwärtig, umfaßt alle genannten
Räume und schließt den inner- wie den zwischenmenschlichen Frieden ein;
zugleich gewinnt sie eine neue Tiefe, indem sie an das individuelle und das
kollektive Unterbewußtsein reicht. Hier finden wir Freud und Jung; auf
Smith und Marx, Locke und Mill stoßen wir in Fragen der ökonomischen
und der politischen Entwicklung; auf Weber und Nakamura, Toynbee und
Sorokin in Fragen der Zivilisation. Und doch besteht das Ziel nicht in der
Theoriebildung - das Ziel liegt im Handeln, um Gewalt zu reduzieren und
den Frieden zu stärken. Nur: Um in Diagnose und Prognose akkurat und in
der Therapie adäquat zu verfahren, benötigen wir eine ebenso breit wie tief
angelegte Theorie.
458 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur
hier viel lernen von Klöstern und Militärschulen: In beide Institutionen wird
die einzelne Person viel umfassender einbezogen. Natürlich vermittelt das
Militär Wissen darüber, wie man das Leiden verlängert und das Leben ver-
kürzt, und dies in einer Einstellung, die Mitgefühl für die eigene und Haß für
die andere Seite reserviert. Gleichwohl sind Phantasie und Ausdauer hier
Schlüsseltugenden. Man lege ein Handbuch für Soldaten - das im wesentli-
chen beibringt, wie man mordet, ohne dasselbe Schicksal zu erleiden - neben
Handbücher für gewaltfreies Handeln: Die Unterschiede zu identifizieren, ist
einfach, aber die Gemeinsamkeiten gehen viel tiefer. Tatsächlich gibt es hier
reichlich Raum, voneinander zu lernen, sobald man das Militär abbringt von
seiner Gewalttätigkeit und seinen Attacken auf andere Nationen und andere
soziale Klassen.
Das Problem liegt beim ersten und beim letzten Satz. Beide sind eklatant
falsch und werden wahrscheinlich vornehmlich vertreten von Menschen mit
einer Geistesverfassung, wie im ersten Satz dieses Abschnitts beschrieben.
Die Überzeugung, daß Menschen, die geübt sind in der Beförderung natio-
naler Interessen (und die gerade dafür bezahlt werden), ipso Jacto geeignet
seien, die Welt- und menschlichen Interessen zu befördern, verdankt sich ei-
nem Glaubensakt (wieder einmal: Apodiktizität).
427 Dies wird detaillierter untersucht in meinem Buch There are Alternatives!, Notting-
harn 1984, Kap. 3 und 4.
464 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur
Kann man sagen, da es ja keinen Krieg gab, daß "die Abschreckung funk-
tionierte"? Lassen wir einmal beiseite, daß eine solche Behauptung voraus-
setzt, daß eine, wenn nicht beide Seiten tatsächlich einen Nuklearkrieg ge-
plant, sich aber vor den Konsequenzen gefürchtet hätte(n), bleibt das funda-
mentale Problem, wie sehr Planer und Verplante durch dieses, eine Mega-
Gewalt legitimierende Vorgehen brutalisiert wurden.
Stellen wir uns ein Auschwitz vor, ausgestattet mit Gaskammern und Kre-
matorium, aber gebaut, um Menschen, Juden eingeschlossen, einen Schrek-
ken einzujagen, um sie von "Devianz" abzuhalten. Würden wir dies als letzt-
lich unschuldig verzeihen? Oder nähmen wir die enorme psychologische
Gewalt wahr, die hier an potentiellen Opfern ausgeübt würde, auch wenn
man die Drohung nicht ausführte, und die Brutalisierung aller an dieser
monströsen Übung Beteiligten?
Kaum war der Kalte Krieg vorüber, besetzte Paradigma 11 die Szene, das Pa-
radigma, mit inneren Konflikten vor allem mittels Bestrafung derjenigen um-
zugehen, die innerhalb des Systems dessen Bestimmungen verletzen, eher als
mittels Abschreckung von Außenstehenden. Das Paradigma startet mit legi-
tim produzierten Normen, geht dann über zu deren Anwendung, um be-
stimmte Handlungen als Verstöße zu klassifizieren, zu diesen Verstößen als
Gründen, Akteure vor Gericht zu stellen, zum Einsatz dieser Gerichte, um
freizusprechen oder zu verurteilen, zum Gebrauch der Urteile, um Schmerzen
zuzufügen, schließlich zum Einsatz von Schmerzen, um der Opfer unter-
stelltes Bedürfnis nach Rache zu befriedigen und zugleich den Funktionen
individueller und genereller Prävention zu dienen. Es handelt sich hier um
ein Paradigma mit religiösen Wurzeln, das nun aber den Staat an Gottes
Stelle sieht. Es gibt der Versöhnung zwischen Täter und Opfer keinen Raum,
sorgt aber für reinen Tisch nach Abbüßung der Strafe.
Die Internationalisierung dieses Paradigmas verlangt nach internationalen
Normen (Internationales Recht) und der Konzeptionalisierung des Weltsy-
stems als eines Binnensystems. Auf dieser Linie folgen dann Kap. VI und
VII der UN-Charta, die von diplomatischen und ökonomischen Sanktionen
über Maßnahmen der Friedenserhaltung bis zur Friedenserzwingung reichen.
Dies verschafft dann die Möglichkeit, Länder zu isolieren, zu marginalisie-
ren, als Ausgestoßene zu stigmatisieren und dabei langsam die Alten und
Kranken, die Frauen und die Kinder - oder kurz: entlang der Ränder patriar-
chaler bzw. meritokratischer Gesellschaften - zu töten, wobei man "sie" zu-
letzt zurückbomben kann in vorindustrielle oder Steinzeiten. Vom militäri-
Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur 465
schen Standpunkt aus bedeutet das Ganze die Chance, ungestraft Gewalt zu
entfesseln, da die andere Partei schwächer ist; wäre sie dies nicht, hätte man
Paradigma I angewandt. Für eher zur Gewalt Neigende muß dies wunderbar
sein, eine Gelegenheit, das zu praktizieren, was sie gelernt, aber ausüben
nicht gedurft hatten zur Zeit der Geltung von Paradigma I (wie in einem
Kloster, in dem es Sexualerziehung gibt, aber in dem man sich nach etwas
Praxis sehnt).
Dieses gewalttätige, rachebeladene Paradigma 11 - mit seiner Inanspruch-
nahme einer apodiktischen Kenntnis dessen, was rechtens bzw. rechtsstaat-
lich ist - sollte man nicht als eine friedliche Alternative zu Paradigma I will-
kommen heißen. Empirische Untersuchungen zu den Thesen der Individual-
und Generalprävention im Rahmen inländischer Rechtssysteme lassen er-
kennen, daß Bestrafung innerstaatlich schlecht funktioniert; wie könnten wir
annehmen, daß sie besser funktioniert auf der zwischenstaatlichen Ebene, wo
die Normen noch weniger internalisiert sind? Diplomatische Sanktionen iso-
lieren den Akteur, mit dem wir den Dialog am dringensten benötigen. Öko-
nomische Sanktionen sind ein langsam wirkendes Mittel, jedermann zu töten,
diejenigen kräftigen männlichen Wesen ausgenommen, die man durch di-
rekte Gewalt töten kann. Beide Maßnahmen zusammengenommen stigmati-
sieren ein Land als ein Paria-Land und präparieren es, mit Unterstützung der
Massenmedien, als ein Empfängerland für "alle notwendigen Mittel".
Kriegsverbrechertribunale, wie das International Crimes Tribunal for
Former Yugoslawia (ICTFY) in Den Haag mit seinen 24 Gefängniszellen,
stellen zugleich ein Mittel dar, Märtyrer zu schaffen. Hier werden Täter für
gräßliche Taten bestraft, wenn es sich um Unterklassen-Menschen aus Un-
terklassen-Ländern ("der Balkan") handelt und sie direkt, von Angesicht zu
Angesicht töten, nachdem sie vorher oft gefoltert und vergewaltigt haben -
im Gegensatz zu denen, die kühl aus der Distanz töten, und zu denen ,ganz
oben', die ihre Befehle von außen geben oder im Innern politische Situatio-
nen manipulieren. Die verhängnisvolle vorzeitige Anerkennung Sloweniens
und Kroatiens, ausgesprochen vom Ministerrat der Europäischen Union
(damals Gemeinschaft) Mitte Dezember 1991, war ein Fehler von vielleicht
dreifacher V-Größenordnung, wobei V den Fehler des Versailler Vertrags
von 1919 bezeichen soll. (Ein Fehler gleicher Größenordnung war übrigens
die versagte Anerkennung der algerischen Wahlergebnisse zugunsten der
FIS, einige Wochen später, Ende Dezember 1991.) Gleich ob im Falle der
EU oder der Herrscher in Algerien, es handelte sich um autokratische Ent-
scheidungen, die von manipulierenden und manipulierten Medien begrüßt
wurden.
Aber sollten wir denn individuelle Verbrechen einfach geschehen lassen
und uns allein, mit Hilfe von Dialogen und Versöhnungsübungen, auf das
schlechte kollektive karma, auf das sinkende Schiff und seine Löcher anstatt
auf Schuld-Zuschreibung konzentrieren? Haben die Opfer kein Recht zur
466 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur
um das schlechte Gewissen zu beseitigen, das sich dem eigenen Einsatz von
Gewalt verdankt.
Ein Ansatz bestünde nun darin, den Raum für die Akteure zu erweitern,
innerhalb dessen sie im Falle eines Konfliktes gewaltfrei vorgehen können,
indem man in die Verfahren der Friedensbewahrung (peace-keeping) mehr
gewaltfreie Rollen (bzw. mehr Rollen mit niedrigem Gewaltanteil) einbaut.
Militärisches Training bleibt weiterhin unersetzlich: um Gewalt einzudäm-
men. Notwendig sind Kenntnisse über die Instrumente der Gewalt und die
Mentalität, die hinter ihrem Einsatz steht. Um "die Massen zu kontrollieren",
dürfte jedoch eine angemessene Ausbildung der Polizei besser sein, insofern
deren Tun mehr auf einer Zurschaustellung von Autorität und nur auf mini-
malem Gewalteinsatz beruht. Hinzu käme aktives gewaltfreies Training, das
auch vermitteln sollte, wie die lokale Bevölkerung entsprechend trainiert
werden müßte, sowie ein Training in Techniken der Konfliktvermittlung,
damit man weiß, was man sagen und tun sollte, wenn man sich plötzlich in
einem Raum mit Konfliktparteien befindet, die erfüllt sind von wechselseiti-
gem, gut begründbarem Haß.
Da Frauen stärker darin sind, Beziehungen herzustellen, und zugleich
weniger geneigt, technische Ausrüstung zum Einsatz zu bringen, sollte man
sicherstellen, daß 50 Prozent der FriedensbewahrerInnen Frauen sind. Frie-
densbewahrung ist jetzt 40 Jahre alt, die nächsten 40 könnten noch einiges
besser werden.
Friedensschaffung (peace-making) kann man identifizieren mit der Suche
nach kreativen und zugleich akzeptablen und dauerhaften Resultaten eines
Konflikts. Es gibt immer noch einen Fehler, den man nicht länger verzeihen
sollte: die Konzentration auf das ,Spitzengespräch " den runden Tisch für die
"Führer". Laßt statt dessen tausend Konferenzen ,blühen', benutzt moderne
Kommunikationstechnologien, um unter Einbezug der ganzen Gesellschaft
einen sichtbaren Fluß von Friedensideen zu erzeugen. Die Vorschläge mögen
widersprüchlich sein, aber warum sollte der Frieden überall das gleiche Ge-
sicht tragen? Zapft alle Einsichten an, marginalisiert niemanden und ver-
sucht, aus dem Prozeß des Friedenschaffens selbst ein Modell strukturellen
Friedens zu machen. Anzunehmen, daß eine Handvoll Diplomaten dies allein
bewirken könne, ähnelt dem (post-)stalinistischen Glauben, 400 Appa-
ratschiks könnten eine Ökonomie für 400 Millionen Menschen planen. Oder
schaut nach Israel/Palästina, wo die politischen Führer beider Seiten offen-
sichtlich die Friedensbewegungen deaktivieren. Die Aufgaben hier sind so
furchtbar komplex, daß man die Beteiligung der Massen an ihrer Lösung
braucht. Und Kreativität kann man überall finden, wenn man sie nur ange-
messen stimuliert.
Maßnahmen der Friedenskonsolidierung, des Friedensaufbaus (peace-
building) fallen zusammen mit der Implementierung eines strukturellen und
kulturellen Friedens. Man benötigt die Fähigkeit, die nicht-artikulierten
468 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur
428 Dies ist eine der destruktiven Phantasien in Samuel Huntingtons These vom "Zu sam-
menprall der Nationen".
Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur 469
Es gibt eine Entropie des Krieges und der Gewalt, es gibt aber auch eine
Entropie des Friedens. 43o Ich habe länger dafür argumentiert, daß chaotische,
höchst unterschiedliche Strukturen - und Kulturen (!) - mit allen möglichen
Verbindungen untereinander viel bessere Träger eines Friedens mit friedli-
chen Mitteln darstellen als klar umrissene Strukturen (z.B. polarisierte Alli-
anzen) und Kulturen (mit DMA-Syndromen) von niedriger Entropie, aber
hoher Energie: bereit für die Entscheidungsschlacht. Ein Widerspruch? Nein,
denn die Entropie des Friedens setzt intaktes, ja gestärktes Leben voraus,
aber dann derart organisiert, daß die spirituelle Entropie eines komplexen
Selbst wie die soziale Entropie höchst komplexer gesellschaftlicher und glo-
baler Unordnungen zunehmen kann. Die Entropie des Friedens ist eine Bar-
riere gegen die physische und spirituelle Entropie des Todes und der Gewalt.
Und in der Natur kennen wir die Entropie in Form reifer Ökosysteme, die auf
429 So ist das Wissen, wie Pyramiden zu bauen sind, weiterhin vorhanden oder kann
leicht wiedergewonnen werden; und doch sind in letzter Zeit wenig Pyramiden ge-
baut worden.
430 Für eine Untersuchung dieses Sachverhalts vergleiche "Entropy and the General
Therapy of Peace", S. 47-75 in Band I meiner Essays in Peace Research, Kopenha-
gen 1975.
Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur 471
sollen? Selbstbestimmung als solche ist nicht problematisch, aber wo war das
jeweilige Selbst, und wie hing es mit allen anderen nach dieser Bestimmung
zusammen? Selbstbestimmung für Kroaten impliziert Selbstbestimmung für
in Kroatien lebende Serben; dasselbe gilt für Kroaten und Serben in Bosnien
und für Albanier in Serbien und Mazedonien usw. Die Abstimmung auf Be-
zirksebene, wie in den entsprechenden dänisch-deutschen Abstimmungspro-
zessen von 1920, mag das geeignete Instrument sein; die dabei entstehenden
Unabhängigkeiten können sich dann nach den Abstimmungen konföderativ
zusammenschließen. Aber wenn die EU, die USA oder der Sicherheitsrat ei-
nen Fehler begehen, dann wird er nicht so leicht zurückgenommen; hier sind
Ansprüche auf Unfehlbarkeit im Spiel, was nichts anderes bedeutet als Irre-
versibilität.
431 Beispielhaft wäre etwa die Linie, die Sir Percy Cox 1922 in den Wüstensand zog, als
Grenze zwischen dem Irak und Kuwait.
432 Ich schulde Häkan Wiberg Dank für diese nur annähernd richtigen, aber gut zu be-
haltenen Zahlen.
Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur 473
Wählerschaft auf ein eigenes Parlament zu gründen. Dieses hätte dann ein
Monopol auf die Verwaltung der Heiligtümer in Raum und Zeit, auf Sprache,
Religion, Ideologie und Idiom (also auf den Großteil der Erziehung), auf Po-
lizeigewalt und Gerichtshöfe zum Zwecke polizeilicher und gerichtlicher
Selbstverwaltung sowie für einige Aspekte der Ökonomie. Denken ließe sich
hier an die Art und Weise, in der US-Demokraten und -Republikaner in den
Primaries wählen, oder auch an die Sami in Norwegen, wenn es um ihr Sami-
Parlament geht.
Frieden ist eine revolutionäre Idee; "Frieden mit friedlichen Mittel" defi-
niert diese Revolution als gewaltfrei. Diese Revolution findet fortwährend
statt; unsere Arbeit besteht darin, sie sachlich und geographisch zu entfalten.
Es gibt unendlich viele Aufgaben, die Frage ist nur, ob wir ihnen gewachsen
sind.
Ich habe oben dafür votiert, daß wir uns, eingeladen oder nicht, sehr weit-
gehend auf Konflikte einlassen und dabei wesentlich am Staatssystem vor-
beihandeln; die Legitimität hierzu erwüchse uns teilweise aus dem Recht, das
aus dem Mitleid mit Opfern stammt (zu denen wir schließlich alle gehören
können, insofern Konflikte sich immer weniger abgrenzen lassen), teilweise
aber aus der Inanspruchnahme eines Basisprinzips friedlichen Handeins, der
Reversibilität, demgemäß wir nur das tun, was sich wieder ungeschehen ma-
chen läßt, weil wir uns auch geirrt haben könnten. Fast überflüssig zu sagen,
setzt dies jene seltene Ware, die Fähigkeit, Fehler zuzugeben, ebenso wie die
weitere Fähigkeit voraus, auf das Urteil der empirischen Welt mehr zu geben
als auf die "selbstevidenten", apodiktischen Wahrheiten unseres Verstandes,
unserer Ratio.
Aber Frieden ist auch eine Übung in Beharrlichkeit. Dekaden mögen ver-
gehen, bevor eine gute Idee umgesetzt ist, wenn es überhaupt geschieht; und
selbst wenn sie verwirklicht wird, ist ungewiss, ob ihr Urheber je davon er-
fährt. Mag sein, daß er zu diesem Zeitpunkt tot ist; mag sein, daß seine Idee
übernommen wurde von jemandem, der "schon immer dieser Meinung war".
Friedensarbeit ist kein Weg, auf dem sich eine unmittelbare Belohnung er-
warten läßt. Das Ziel ist Frieden und nicht Berühmtheit.
Früher oder später werden darum die FriedensarbeiterInnen - ganz gleich,
welche der vielen anerkannten oder potentiellen Friedensprofessionen sie
ausüben (und es gibt ein ganze Reihe, die gerade jetzt Gestalt annehmen) -
auf das Problem stoßen, einem Verhaltenskodex Geltung zu verschaffen. Tun
sie es nicht, wird es gewiss jemand anderes machen, z.B. ein Staatensystem,
das eifersüchtigst besorgt ist um sein vorgebliches Monopol auf Konflikte.
Dies ist eine entscheidende Aufgabe, und man sollte sie lieber früher als spä-
ter angehen.
Anhang
Friede mit friedlichen Mitteln: die Praxis-Triade
Konfliktdreieck Verbalten Widerspruch Einstellungen!
Annahmen
Problem =Gewalt Direkte Gewalt Strukturelle Gewalt Kulturelle Gewalt
Diagnose Geschichte der vertikal: Kosmologie:
direkten Gewalt, Repression / das AMT-Syndrom
Geschichte der Ausbeutung das DMA-Syndrom
strukturellen Gewalt, Penetration Universalismus plus
Geschichte der Segmentierung Singularismus
kulturellen Gewalt: Fragmentierung Utopisches Denken
Alle drei definieren Ausschluß; mit Endzuständen
die Gegenwart horizontal:
zuviel oder zuwenig
Interaktion
Thorsten Bonacker:
Konflikttheorien. Eine sozialwissenschajtliche Einführung mit Quellen,
Opladen: Leske + Budrich, 1996. (Friedens- und Konfliktforschung Bd. 2)
Das Buch gibt einen Überblick darüber, mit welchen unterschiedlichen theo-
retischen Ansätzen die Sozialwissenschaften den Gegenstand ,gesellschaft-
liche Konflikte' betrachten. Dabei wird nicht nur die Breite der entwickelten
Konfliktbegriffe deutlich, sondern auch die unterschiedliche Reichweite von
Konfliktkonzeptionen einzelner Autoren wie z.B. Hobbes, Marx, Weber,
Simmel, Coser, Dahrendorf, Lorenz, Morgenthau, Deutsch, Habermas oder
Luhmann. Neben der Darstellung und Analyse der Konflikttheorien enthält
der Band einen ausführlichen Readerteil mit Originaltexten der diskutierten
Autoren.
Berthold Meyer:
Formen der Konfliktregelung. Eine sozialwissenschajtliche Einführung mit
Quellen, Opladen: Leske & Budrich, 1997. (Friedens- und Konfliktforschung
Bd.3)
Das Buch gibt einen Überblick über die wichtigsten Konfliktregelungsfor-
men sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf internationaler Ebene. Da
Konflikte ein allgegenwärtiges Phänomen menschlicher Gesellschaften sind,
kommt ihren Bearbeitungsformen und Regelungsmechanismen zentrale Be-
deutung zu, weil von ihnen abhängig ist, ob Konflikte gewaltsam oder ge-
waltfrei ausgetragen werden. Ausgehend von den Hindernissen für eine kon-
struktive Konfliktbearbeitung werden theoretische Überlegungen zur Kon-
fliktregelung erörtert. Anhand von Fallstudien aus dem gesellschaftlichen
und internationalen Bereich wird verdeutlicht, daß Zivilisierung Weg und
Ziel von Konflikttransformationen sein soll.