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Galtung, Frieden mit friedlichen Mitteln

Friedens- und Konfliktforschung


Herausgegeben von
Peter Imbusch, Hajo Schmidt,
Georg Simonis und Ralf Zoll

Band 4
Johan Galtung

Frieden
mit friedlichen Mitteln
Friede und Konflikt,
Entwicklung und Kultur

Aus dem Englischen übersetzt


von Hajo Schmidt

Leske + Budrich, Opladen 1998


ISBN 978-3-322-95823-5 ISBN 978-3-322-95822-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-95822-8

© 1998 Leske + Budrich, Opladen

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unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi-
kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeber .................... ...................................................... 7


Vorrede...................................................................................................... 11

Einleitung: Friedensvisionen für das 21. Jahrhundert......................... 15

Teil I: Friedenstheorie............................................................................. 29
1. Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage................. 31
2. Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen .................. 55
3. Frau: Mann = Frieden : Gewalt?....................................................... 81
4. Demokratie: Diktatur =Frieden: Krieg? ........................................... 97
5. Das Staatensystem: dissoziativ, konföderativ, föderativ,
einheitsstaatlich - oder eine aussichtslose Sache? .............................. 115

Teil 11: Konflikltheorie ............................................................................ 131


1. Konfliktformationen ............................................................... ............ 133
2. Konfliktlebenszyklen ............................................................................ 151
3. Konflikttransformationen ................................................................... 165
4. Konfliktinterventionen........................................................................ 187
5. Gewaltfreie Konflikttransformation ................................................... 205

Teil 111: Entwicklungstheorie ................................................................. 227


1. Entwicklung: fünfzehn Thesen zu Theorie und Praxis. ...................... 229
2. Sechs ökonomische Schulen ............................................................... 247
3. Die Extemalitäten ............................................................................... 271
4. Zehn Thesen zu einer Eklektischen Entwicklungstheorie .................. 307
5. Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg ................. 321
Teil IV: Zivilisationstheorie .................................................................... 339
1. Kulturelle Gewalt.................. .............. .............. .................................. 341
2. Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung .................. 367
3. Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung ....................... 387
4. Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus ................. 417
5. Explorationen: Gibt es Therapien für pathologische Kosmologien?. 437

Schluß: Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur ....................... 457


Vorwort der Herausgeber

Mit Johan Galtungs "Frieden mit friedlichen Mitteln" liegt der interessierten
Öffentlichkeit der vierte Band der Reihe "Friedens- und Konfliktforschung"
vor, dessen Veröffentlichung in bezug auf letztere zugleich einen gewisserma-
ßen doppelten Einschnitt markiert. Die Erweiterung des Herausgeber-Gre-
miums um Georg Simonis und Hajo Schmidt verdankt sich dem gemeinsamen
Vorhaben, die auf eine verstärkte Implementierung friedenswissenschaftlicher
Lehre und Forschung an den bundesdeutschen Hochschulen gerichteteten
Kräfte auch publikatorisch zu bündeln. Inhaltlich dokumentiert der vorliegende
Band die programmatische Absicht der Herausgeber, die Reihe nicht nur für
der Grundlegung der Lehre dienende Textsammlungen und Einführungen, son-
dern zugleich auch für die friedenswissenschaftliche Forschung und Debatte
stimulierende Monographien offenzuhalten - und fortzusetzen.
Die Reihe mit einem Werk des norwegischen Friedensforschers, Konflikt-
beraters und Friedensaktivisten Johan Galtung fortführen zu können, ist den
Herausgebern eine besondere Freude. Seit nahezu vierzig Jahren hat Galtung,
durch das gesprochene Wort wie durch seine immense literarische Produk-
tivität - etwa siebzig Bücher und mehr als tausend Artikel dürften zur Stunde
zusammengekommen sein -, seinen Ruf als einer der "Gründungsväter" der
modemen Friedensforschung weltweit bestätigt; wie kaum ein anderer hat er
auch die deutschsprachige friedenswissenschaftliche und -politische Diskus-
sion mitgeprägt. Vieles spricht dafür, daß "Frieden mit friedlichen Mitteln"
eine neue Etappe in diesem Prozeß fruchtbarer Einwirkung und Auseinander-
setzung wird einleiten können.
"Frieden mit friedlichen Mitteln" stellt sich dar als ein Resümee jahrzehn-
telangen Nachdenkens über die Grundlagen, die Ziele und die Praxis der
Friedens- und Konfliktforschung. Als solches entwirft der konzentrierte, aber
dennoch gut lesbare Text den Grundriß und zentrale Bestimmungen einer
umfassenden, auf vier Pfeilern ruhenden Theorie des Friedens:

- Die Friedenstheorie i.e.S. erarbeitet den wissenschaftstheoretischen Grund-


riß wie zentrale Paradigmen der Friedenswissenschaft. Zugleich diskutieren
8 Vorwort

und bahnen ihre inhaltlichen Untersuchungen drei spezifische Wege zu


friedlicheren Verhältnissen: durch die Pazifizierung patriarchaler Ge-
schlechtsgewalt, durch die Verbesserung und Ausweitung demokratischer
Herrschaftsverhältnisse sowie durch eine überzeugendere Organisation des
Weltstaatensystems.
Die Konflikttheorie besteht auf der zerstörerisch-schöpferischen Doppelna-
tur des Konflikts, klärt Grundbegriffe und entwickelt praktisch bedeutsa-
me Typologien möglicher Konflikttransformationen und gewaltloser Kon-
fliktinterventionen. Der Einbezug kulturell vergleichender Studien wirft
dabei ein interessantes Licht auf den von Galtung durchgehend angemahn-
ten Holismus der Disziplin.
- Die Entwicklungstheorie erforscht Formen struktureller Gewalt und ent-
wickelt Prinzipien eines alternativen Entwicklungsverständnisses wie auch
Perspektiven einer gerechteren, nachhaltigen Ökonomie- und Wirtschafts-
theorie. Galtungs Theorie ökonomischer Externalitäten wie sein Vorschlag
einer eklektischen Kombination verschiedener Wirtschaftssysteme formu-
lieren eine praktisch bedeutsame Absage an westliche Mainstream-Model-
le von Ökonomie und Entwicklung nicht weniger als an die entwicklungs-
politisch weitgehend folgenlose Imperialismus- und Dependenzkritik der
Siebziger und Achtziger Jahre.
- Die Zivilisationstheorie schließlich entfaltet das jüngst eingeführte Kon-
zept "kultureller Gewalt" insbesondere hinsichtlich dessen tiefenkulturel-
ler Implikationen. Die Fokussierung auf Probleme des Krieges und des
Friedens stellt klar, daß und inwiefern Galtungs Friedenskonzept reicher,
seine Konfliktlehre differenzierter, sein Handlungsanspruch umfassender
geworden, seine Grundintention der Gewaltreduktion mit friedlichen Mit-
teln aber die gleiche geblieben ist.

Es ist gerade der (die eigentliche Herausforderung des vorliegenden Buches


darstellende) Anspruch auf systematische Vertiefung und Neuvermessung
der friedenswissenschaftlichen Grundlagen, der zahlreichen seiner Studien
ein besonderes Gewicht auch für aktuelle Diskussionen verleiht. So erscheint
Galtungs Problematisierung des Verhältnisses von Demokratie und Frieden
als ein durchdachter überfälliger Widerspruch in einer internationalen Debat-
te, die dazu neigt, den unbestreitbaren Bellizismus der Demokratien gegen-
über anderen Herrschaftsformen zugunsten ihrer intrasystemischen Friedfer-
tigkeit herunterzuspielen. Der seit kurzem hoch wogenden Diskussion über
zukünftige "Kriege der Kulturen" verleiht Galtung eine bisher kaum erreichte
Tiefendimension; zugleich zeigt er, daß und warum die Vermeidung künfti-
ger kulturbedingter Zusammenstöße wesentlich an die Selbstkritik der westli-
chen Zivilisation gebunden sein dürfte. Galtungs Aufriß einer mehrdimen-
sionalen Entwicklungstheorie schließlich verweist als solche auf die Ober-
flächlichkeit und Unterkomplexität gängiger Vorstellungen und Politiken
Vorwort 9

"nachhaltiger Entwicklung", die oft kaum mehr als ideologische Rechtferti-


gungen "entwickelter" Länder darstellen.
Es versteht sich von selbst, daß mit der Aufnahme des Bandes in die Reihe
keine inhaltliche Festlegung der Herausgeber auf die Ansätze und Begriffe
Galtungs verbunden ist. Seine Arbeiten bieten allerdings nicht nur einen fas-
zinierenden Einblick in den Stand der wissenschaftlichen Diskussion, son-
dern stellen zudem eine Herausforderung für die zukünftige theoretische Ent-
wicklung der Friedens- und Konfliktforschung dar.
Die vorliegende Buchfassung ist eine Übersetzung des 1996 bei SAGE
(LondonfThousand OakslNew Delhi) erschienenen englischen Originals, das
seinerseits auf ein früheres Kursprojekt der FernUniversität Hagen zurück-
ging; sie erscheint (nahezu) textidentisch wieder als Studienbrief der FernUni-
versität. Es ist erfreulich, daß dieser in der Vergangenheit von vielen Fach-
kollegen und -kolleginnen nachgefragte Text nun auf dem freien Markt und,
aufgrund der erfreulichen Preisgestaltung des Verlages, auch von einem grö-
ßeren Interessentenkreis erworben werden kann.
Für die langwierige und komplikationsreiche Arbeit an der Erstellung des
vorliegenden Textes gebührt Vera Kloppenberg, Corinna Herr, Heide-Marie
Hutschenreuter und nicht zuletzt Frank Dierdorf besonderer Dank.

Marburg und Hagen, im Juni 1997


Peter Imbusch
Hajo Schmidt
Georg Simonis
Ralf Zoll
Vorrede

Dieses Buch ist angelegt als eine Einführung in das Studium des Friedens, dies
jedoch mehr im Sinne der Eröffnung vieler Richtungen einschlägiger For-
schung als im Sinne eines elementaren, leicht zu lesenden Lehrbuchs. (Das Ein-
leitungskapitel hat diese Funktion.) Mehr Nutzen werden diejenigen Leser und
Leserinnen aus dem Text ziehen können, die schon einige Kenntnisse auf den
Gebieten haben, die in den folgenden vier Teilen genauer untersucht werden.
Friedenspolitik ist eine sanfte Politik - eine Politik, die in hohem Maße
abhängt von sehr konkreten Entscheidungen, getroffen von Eliten, aber zu-
nehmend auch von der ihre eigene Friedenspolitik betreibenden Bevölke-
rung: im Mikrobereich die des inneren Menschen und der Familie (wo es im-
mer genug zu tun gibt), im Mesobereich die der Gesellschaft und schließlich
auf der Makroebene die zwischengesellschaftlicher und überregionaler Kon-
flikte. Es gibt Raum für Politik, im Sinne einer friedlichen Steuerung in Rich-
tung Frieden, auf allen diesen Ebenen.
Aber diesen Entscheidungen liegen militärische und ökonomische Realitä-
ten zugrunde, die in diesem Buch unter den umfassenderen Titeln "Konflikt"
und "Entwicklung" untersucht werden. Jenen wiederum liegen die noch tie-
feren Realitäten unserer Zivilisationen zugrunde, speziell die Tiefenkulturen,
die Kosmologien, die unser Verhalten in den drei anderen Bereichen so wirk-
sam konditionieren.
Die vier Einheiten dieses Buches sind Ergebnisse umfassend angelegter
Forschungsprogramme für wesentliche Bereiche der Friedensforschung:
einer Theorie des Friedens
- einer Theorie des Konflikts
- einer Theorie der Entwicklung
- einer Theorie der Zivilisationen.
Dieses Buch ist allerdings der einzige Versuch, alle vier Bereiche zusammen-
zubringen. Um die vier Teile unabhängiger voneinander zu machen, gibt es
einige Wiederholungen. Es hängt aber alles zusammen, daher die vielen
Querverweise in den Einheiten sowie die Schlußausführungen.
12 Vorrede

Ein warnendes Wort noch. Meiner Erfahrung nach können die gängigen
Sicherheitsanalysen und Analysen der Internationalen Beziehungen, die Kon-
fliktstudien, die Wirtschafts- und Zivilisationstheorien nicht so, wie sie sind,
für Friedensstudien fruchtbar gemacht werden; es reicht nicht hin, sie einfach
zusammenzubringen und einen interdisziplinären Dialog zu starten. Im Ge-
genteil, sie müssen erneut ganz von vorn durchdacht werden und wahrschein-
lich noch umfassender, als dies - nach langer Vorlaufzeit: Die Aufgabe ist
problematisch, um das mindeste zu sagen - auf den folgenden Seiten mög-
lich war.
So müssen Frieden und Gewalt in ihrer Totalität gesehen werden, auf allen
Stufen der Organisation des Lebens (und nicht allein des menschlichen Le-
bens). Zwischenstaatliche Gewalt ist wichtig, wichtiger noch die zwischen
den Geschlechtern und den Generationen. Nicht zu vergessen die innerper-
sönliche Gewalt, als geistige (z.B. als Unterdrückung der Gefühle) sowohl
wie als körperliche (Krebs z.B.). Und weiter: Da der Zweck der ganzen
Übung in der Förderung des Friedens und nicht nur der Friedenswissenschaft
besteht, ist eine nicht-positivistische Auffassung von Wissenschaft ganz uner-
lässlich, die mit expliziten Werten und Therapien arbeitet und sich nicht mit
der Diagnostik begnügt.
Konflikte erschöpfen sich nicht in dem, was das bloße Auge als "Unru-
hen", als direkte Gewalt erkennt. Es gibt auch die Gewalt, die in den Struktu-
ren eingefroren ist, und die Kultur, die diese Gewalt rechtfertigt. Im übrigen
besteht die wichtigste Aufgabe beim Versuch, einen Konflikt zwischen Par-
teien zu transformieren, nicht allein darin, für deren Beziehungen eine neue
Architektur zu finden, sondern zugleich darin, den Parteien zu helfen, sich
selbst zu transformieren, damit ihre Konflikte sich nicht ewig reproduzieren.
Die meisten Konflikte zwischen Parteien haben innerparteiliche Aspekte.
Die herrschende Ökonomie wird in diesem Buch wesentlich als kulturelle
Gewalt begriffen, die verheimlicht und mystifiziert, was geschieht, wenn
Menschen produzieren, verteilen und konsumieren. Die meisten Ursachen
und Wirkungen werden dabei als "Externalitäten" unsichtbar gemacht und
ins Jenseits der ökonomischen Theorie und Praxis verwiesen. Wenn wir sie
jedoch benennen und in die Theorie und Praxis einbeziehen, dann mag es
gelingen, daß sich weniger gewaltträchtige Strukturen herausbilden.
Im Brennpunkt der Zivilisationstheorie schließlich stehen nicht das Sicht-
und Hörbare, die Artefakte, sondern die Tiefenkultur des kollektiven Unter-
bewußten, die Voraussetzungen mithin, die für eine gegebene Zivilisation de-
finieren, was als normal und natürlich zu gelten hat. Die Konzentration auf
Kultur sollte nicht verwechselt werden mit dem "Idealismus", den ein Hegel
sich zu eigen machte und den ein Marx verwarf. Der Ausgangspunkt besteht
eher in der Armut an Instinkten im menschlichen Organismus, bei fortwäh-
rendem Bedürfnis zu handeln und angesichts der Unmöglichkeit, bei jedem
Handeln zu entscheiden, als wäre es das erste Mal. Es muß so etwas wie eine
Vorrede 13

Programmierung geben, einen Automatismus, der das individuelle Bewußt-


sein umgeht. Für das einzelne Individuum ist dieses Programm bekannt als
"Persönlichkeit", verankert im individuellen Unterbewußten. Für die Mit-
glieder einer bestimmten Zivilisation wird das kollektive Programm hier be-
schrieben als ihre "Kosmologie", ihre kollektiv geteilten und im Unterbe-
wußtsein bereitgehaltenen Unterstellungen.
Als unterbewußte werden diese Grundvorstellungen nicht diskutiert, son-
dern gelebt und umgesetzt. Und da sie zugleich kollektiv geteilt werden, ver-
stärken sie sich wechselseitig, da jede(r) die anderen dasselbe tun sieht.
Handlungssteuerung erfolgt hier nicht durch die Zugkraft, die von Ideen aus-
geübt wird, sondern durch eine der Kosmologie, dem Code, dem kollektiven
Programm eigene Schubkraft. Das soll nicht heißen, daß Ideologien bzw. in-
dividuell oder kollektiv bewußt vertretene Überzeugungen und Glaubenssy-
steme nicht wichtig wären; sie stehen aber alles andere als allein, wenn es um
die Steuerung des menschlichen Handeins geht.
Gelingt es uns, das Unterbewußte bewußt zu machen, können wir uns viel-
leicht befreien von langwieriger struktureller und wiederholter direkter Ge-
walt. Vielleicht werden wir dann auch genauer erkennen, wie die moderne
westliche Wirtschaft funktioniert, und inwiefern die gängige Wirtschaftswis-
senschaft im Decodieren von Basisunterstellungen eines bestimmten Typus
Westlicher Zivilisation besteht. Und Vergleichbares gilt für die üblichen
Konflikt- und Sicherheitsanalysen: Vieles darin ist nicht mehr als ein Ent-
schlüsseln kollektiver und unterbewußten Voraussetzungen, die einer ernst-
haften Untersuchung nie unterzogen wurden.
Kurz, wenn wir Friedensforschung betrieben, besteht eine der ersten Auf-
gaben darin, uns von gewissen Formen einer akademischen kulturellen Ge-
walt zu befreien, die dadurch, daß sie allzu lange überlebt haben, stärker und
nicht schwächer geworden sind. Und dann gilt es, nicht ein Gefangener der-
jenigen zu werden, die sich selbst als Befreier präsentieren - den Verfasser
dieser Zeilen eingeschlossen.
Meinen herzlichen Dank aussprechen möchte ich den vielen Studenten
und Studentinnen an den Universitäten Alicante, Bern, Burg Schlaining
(European Peace University), CUNY New York, Duke, FLASCO Santiagol
Mexico, Florenz, der Freien Universität Berlin, Gujarat Vidyapith, Hawai'i,
ICU Tokio, Inter-University Center Dubrovnik, Kairo, Oslo, Princeton, Saar-
brücken, Sezuan, TromS!/l, Queensland, WittenlHerdecke und der (von letzte-
ren organisierten) Peace Studies Around the World für die zahllosen aktiven,
kritischen und konstruktiven Dialoge. Außerdem danke ich der Right Liveli-
hood Award Foundation für Unterstützung in einem kritischen Moment.
Herzlichen Dank an Dieter Fischer, Susan H!/livik, Hajo Schmidt und
Häkan Wiberg, außerdem an meinen Kritiker Peter Lawler (A Question 0/
Values: Johan Galtung's Peace Research). Es gibt in meinen Schriften Ant-
worten auf seine Kritik; aber die Streitpunkte bleiben bestehen.
14 Vorrede

Mein größter Dank aber gilt meiner Frau, Fumiko Nishimura, die mich über
Frieden und Konflikt mehr gelehrt hat als jede(r) andere.

Versonnex, im Mai 1997 Johan Galtung


Einleitung: Friedensvisionen für das 21. Jahrhundert

1 Frieden: das Diagnose - Prognose - Therapie - Dreieck


Die Friedensforschung ist der Gesundheitsforschung so ähnlich, daß das Drei-
eck Diagnose - Prognose - Therapie auch auf sie angewandt werden kann.
Beiden liegt die Vorstellung eines Systems (von Akteuren, von Zellen) zu-
grunde, von guten und von schlechten Zuständen.' Die Wortpaare "Gesund-
heit/Krankheit" aus dem Gesundheitswesen und "Frieden/Gewalt" aus der
Friedensforschung kann man als Spezifizierungen dieser allgemeineren Eti-
kettierungen betrachten.
Bei beiden Zustandsarten ist eine Diagnose (oder Analyse) nötig, nicht nur
bei Gewalt und Krankheit. Frieden und Gesundheit haben auch ihre Bedin-
gungen und Kontexte; diese können sich von den Bedingungen für Gewalt
und Krankheit unterscheiden, können aber auch mit ihnen in Zusammenhang
stehen. So sind eine Bedingung für den Frieden wahrscheinlich gerechte Be-
ziehungen; es kann aber auch in einer nicht-ausbeuterischen repressiven Ge-
sellschaft Gewalt geben, wenn etwas mit einem einzigen Akteur falsch läuft.
Und eine Bedingung für Gesundheit ist ein stabiles Gleichgewicht zwischen
den Schlüsselparametern des menschlichen Körpers. Dennoch kann mit einer
Zelle oder einer Zellenkolonie etwas schief laufen, Z.B. indem sie anfangen
zu wuchern.

Einem Menschen kann es gut oder schlecht gehen; Systeme von Akteuren können
natürlich nicht auf derartige Weise "fühlen". Dennoch kann es auch bei ihnen Zu-
stände des Wohl- oder Krank-Seins, des gut oder schlecht Funktionierens geben.
Aber wer entscheidet darüber und nach welchen Kriterien? Sollten wir hier dem
"Subjektivismus" zuneigen - die Betroffenen selbst entscheiden darüber, ob sie lei-
den oder nicht - oder eher dem "Objektivismus" - andere befinden, gemäß ihren
Kriterien, wann erstere leiden müßten? Ich neige zu einem ,sowohl-als-auch' und
zum Dialog - einzig möglicher Schluß aus einer yinlyang-Perspektive (keine Wonne
ohne Leiden, kein Leiden ohne Wonne). Oft gewinnen Menschen an Tiefe durch's
Krank-Sein und Gesellschaften mögen das Bewußtsein ihrer Stärken und Schwächen
einem heftigen Schock, einer Invasion z.B., verdanken. Nur, müssen wir dafür im-
mer einen so hohen Preis zahlen?
16 Friedensvisionenfür das 21. Jahrhundert

Der Friedensforscher* muß in den Räumen Natur, Mensch, Gesellschaft,


Welt, Zeit und Kultur nach Ursachen, Bedingungen und Zusammenhängen
suchen. Dieses fachübergreifende Spektrum macht die Friedensforschung auf
der intellektuellen Ebene sehr anregend, aber auch schwierig, und die Praxis
problematisch. Aber eine zu enge Sichtweise ist von vornherein zum Schei-
tern verurteilt. 2
Wenn nun das System aus irgendeinem Grund seine gute Verfassung auf-
gibt und Symptome schlechter Zustände zeigt, ist die offensichtliche Frage,
die mit einer akkuraten Prognose beantwortet werden muß, die, ob das Sy-
stem in der Lage ist, den positiven Zustand selbst wiederherzustellen, oder ob
eine Intervention deslr Anderen notwendig ist.
Intervention von außen sollte nicht mit Therapie gleichgesetzt werden.
Erstens könnte sie insgesamt das System verschlechtern, und zweitens könnte
auch das Selbst in der Lage sein, eine Therapie zu entwickeln. Drittens be-
deutet auch Selbstheilung nicht unbedingt bewußte, absichtliche Intervention.
Das System kann sich auch schlicht "um sich selbst kümmern". Unsere Kör-
per haben diese wunderbare Fähigkeit, mit Hilfe von überaus komplexen
Mechanismen, die wir kaum begreifen, geschweige denn beeinflussen kön-
nen, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wir können jedoch positive Be-
dingungen für diese wiederherstellenden Funktionen schaffen.'

* (Das Problem einer der Geschlechterdifferenz angemessen Rechnung tragenden


Übersetzung bleibt hier wie anderswo ungelöst; immerhin sollte es durch gelegentli-
che differenzierende Formulierungen explizit gemacht und präsent gehalten werden.
Anm. d. Übers.)
2 Zum Beispiel der verengte Blickwinkel bezüglich des Gleichgewichts von Terror
und Propaganda während des Kalten Krieges; und das, was begann, als der Kalte
Krieg beendet war. Multikausale oder mehrfach bedingte Problemlagen erfordern
vielschichtige Lösungsangebote in mehreren Räumen und auf mehreren Ebenen. Die
in der Medizin gängige Bezeichnung "psychosomatisch" erkennt dies an, könnte
aber, um sachlich angemesser zu sein, sofort zu "soziopsychosomatisch" erweitert
werden. Und doch orientieren sich die offiziellen Analysen z.B. der Konflikte in Ex-
Jugoslawien an den überkommenen Schemata des Kalten Krieges: Es gibt nur zwei
Parteien, diese Parteien sind Staaten, und jeder, der nicht offiziell als Taugenichts
eingestuft wird, steht automatisch auf der richtigen Seite usw.
Natürlich existierte dieses primitive Denken auch schon vor dem Kalten Krieg (vgl.
Kapitell. 4 des zweiten Teils). Aber eine zutreffende Vermutung dürfte wohl sein,
daß der Jugoslawien-Konfikt von Leuten, deren intellektuelle Haltung durch den
Kalten Krieg geformt wurde, als eben dieser Konfliktformation isomorph betrachtet
wird, wobei Serbien Russland, dem Herzland des Kommunismus, entspricht, Slowe-
nien den Baltischen Staaten, das katholische Kroatien dem katholischen Polen, und
dann gibt es noch einige Moslems im Süden ...
3 Typische Beispiele für die Wiederherstellung der Gesundheit wären angemessene
Ernährungsveränderungen und regelmäßige körperliche Ertüchtigung, mit anderen
Worten ein bestimmter Lebensstil. Hinsichtlich der Wiederherstellung von Frieden
wäre ein Beispiel das Offenhalten der Kommunikationskanäle.
Friedensvisionenfür das 21. Jahrhundert 17

Wir kommen nun zu dem dritten Winkel des Dreiecks, zur Therapie, d.h.
zu bewußten Bemühungen des Selbst oder des/r Anderen, das System wieder
zurückzuführen in einen positiveren Zustand. Die Unterscheidung zwischen
negativer und positiver Gesundheit und zwischen negativem und positivem
Frieden steht in enger Beziehung zu der zwischen heilender und präventiver
Therapie. Alle vier stehen für Zustände des Wohlbefindens; es gibt keine
(oder wenig) Krankheit oder Gewalt. Die Systeme sind (fast) symptomfrei.
Im negativen Fall ist das jedoch eigentlich alles, was man darüber aussagen
kann. Das Gleichgewicht ist so instabil, daß selbst ein geringfügiger Anlaß
das System in einen schlechten Zustand versetzen kann. Im positiven Fall ist
das Gleichgewicht stabiler, d.h. es gibt mehr Möglichkeiten zur Selbsthei-
lung, auch wenn das System nicht ganz symptomfrei sein sollte. Die heilende
Therapie zielt auf den erstgenannten, die präventive auf den letztgenannten
Fall. Beide sind für die Gesundheit wie für den Frieden notwendig.

2 Das Dreieck direkte - strukturelle - kulturelle - Gewalt


Offensichtlich bedeutet die Schaffung von Frieden die Reduzierung von Gewalt
(Heilung) wie die Vermeidung von Gewalt (Prävention). Und Gewalt heißt, je-
mandem schaden oder ihm Verletzungen zufügen. Wir setzen also die Existenz
von etwas voraus, das Verletzungen und Schädigungen erleiden kann, und fol-
gen der buddhistischen Tradition, wenn wir dieses Etwas als "Leben" definie-
ren. Das Lebendige kann Gewalt, die dem Körper und dem Geist zugefügt
wird, erleiden (dukkha), d.h. physische und geistige Gewalt. Aber das Lebendi-
ge kann auch Glück erfahren (sukha), die Freude, die Körper und Geist über-
kommt; manche würden nur diese Erfahrung "positiven Frieden" nennen:
Bisher haben wir Gewalt aus dem Blickwinkel dessen, der sie erleidet, be-
trachtet. Wenn es einen Sender gibt, einen Akteur, der die Folgen der Gewalt
beabsichtigt, können wir von direkter Gewalt sprechen, wenn nicht, sprechen
wir von indirekter oder struktureller Gewalt.' Elend ist Leiden, also muß ir-
gendwo Gewalt existieren. Wir gehen hier von der Gleichung indirekte Ge-
walt = strukturelle Gewalt aus. Indirekte Gewalt entspringt der Sozialstruk-

4 Einer der Gründe, weshalb wir das nicht tun, ist unser Versuch, Frieden hier nicht als
Maximal-, sondern eher als Minimalkonzept vorzustellen, als etwas, womit viele
Menschen einverstanden sind. Je mehr man hier spezifiziert, inhaltlich anreichert, je
weniger Konsens kann man erreichen.
5 Mit anderen Worten, die Struktur ist das Medium, welches die Gewalt übermittelt-
vergleichbar dem ,Feld' der Gravität, der Elektrizität oder des Magnetismus in der
Physik. Der Kolonialismus mag als ein Beispiel dienen: Es gab einen ursprünglichen
Input von Mega-Gewalt, der genutzt wurde, um die als Kolonialismus bekannte
Struktur aufzubauen, welche auch nach der Phase formeller Dekolonisation im gro-
ßen Ausmaß funktionstüchtig bleibt.
18 Friedensvisionenfür das 21. Jahrhundert

tur, als Gewalt zwischen Menschen, zwischen Gruppen von Menschen (Ge-
sellschaften), zwischen Gruppen von Gesellschaften (Bündnissen, Regionen).
Und im Inneren menschlicher Wesen stoßen wir auf eine indirekte, nicht in-
tendierte Gewalt, die ihrer Persönlichkeitsstruktur entstammt.
Die zwei Hauptformen der äußeren strukturellen Gewalt sind aus Politik
und Wirtschaft wohlbekannt: Es handelt sich um Repression und Ausbeu-
tung. Beide wirken auf Körper und Geist ein, sind aber nicht notwendiger-
weise beabsichtigt. Aus dem Blickwinkel des Opfers jedoch bietet diese Tat-
sache keinen Trost.
Hinter all dem aber steckt kulturelle Gewalt, die symbolisch ist und in Re-
ligion und Ideologie, in Sprache und Kunst, Wissenschaft und Recht, Medien
und Erziehung wirkt. Ihre Funktion ist einfach genug: Sie soll direkte und
strukturelle Gewalt legitimieren.
Es geht also um die Gewalt in Kultur, in Politik und Ökonomie sowie um
direkte Gewalt. Nun brauchen wir einen Begriff, der umfassender ist als Ge-
walt, umfassender auch als Frieden. Ein solcher Begriff ist der der Macht.
Diese kann sowohl für die Gewalt als auch für den Frieden genutzt werden.
Kulturelle Macht läßt die Menschen agieren, indem sie ihnen vorschreibt,
was richtig und was falsch ist; wirtschaftliche Macht arbeitet mit der
"Zuckerbrot-Methode" des quid pro quo, militärische Macht - wie jede
Zwangsgewalt - bedient sich der "Holzhammer"-Methode des "entweder -
oder!" und politische Macht fällt einfach Entscheidungen.
Es gibt also vier Arten von Macht bzw. Diskursen: kulturelle, ökonomi-
sche, militärische und politische. Bekannte Worte, die aber nicht durcheinan-
der gebracht werden sollten. Sie repräsentieren vier Bereiche der Macht und
vier Typen von Gewalt (die strukturelle hat politische und wirtschaftliche
Aspekte) und implizit vier Typen von Frieden. Bevor wir uns diese genauer
anschauen, noch einige Worte über die Beziehungen zwischen den vier Fel-
dern der Macht.
Sicher wirken sie alle gegenseitig aufeinander ein, so daß wir zwölf Pfeile
zeichnen können. Aber auch wenn dem so ist, hilft das wenig, weil so keine
Stellung bezogen wird. Wir müssen eine weitere Wahrheit hinzufügen. Es
gibt auch ein allgemeines Vertrauen in das Machtsystem: Die einzelnen Akte
direkter Gewalt entstammen den Strukturen der politischen Entscheidungen
und wirtschaftlichen Transaktionen, welch letztere sich gegenseitig bedingen.
Unter allem jedoch lauert die Kultur; sie legitimiert bestimmte Strukturen
und Taten und delegitimiert andere.
Die Annahme der "Realisten", daß nur die militärische Macht (wirklich)
zählt, ist die am wenigsten realistische. Aber der liberale Glaube an die richtige
politische Struktur und der marxistische Glaube an die richtige ökonomische
Struktur sind nicht besser. Diese sind alle wichtig, insbesondere aber die Kultur.
Aber einseitiger Kulturalismus reicht natürlich auch nicht. Meine Stellungnah-
me ist eklektisch, aber die Kausalität verläuft eher in der Richtung von Kultur
Friedensvisionenjür das 21. Jahrhundert 19

via Politik und Ökonomie zum Militär als umgekehrt: also von kultureller via
struktureller zu direkter Gewalt - als Hauptstoßrichtung.

3 Wege zum Frieden: der achtgliedrige Pfad

Oben habe ich zwei Typen von Therapien oder Heilmitteln angedeutet, kura-
tive und präventive, die jeweils auf den negativen bzw. den positiven Frieden
abzielen. Und ich habe vier Typen (mit zwei Untertypen) von Gewalt identi-
fiziert. Das ergibt acht Kombinationsmöglichkeiten bzw. den "achtgliedrigen
Pfad" der Überschrift dieses Abschnitts. Jede Kombination, z.B. "kulturelle
Macht - positiver Frieden", stellt uns vor die Frage, was getan werden kann.
Der Leser/die Leserin wird einige Antworten in Tabelle 0.1 vorfinden und
kann dann hinzufügen und hinwegnehmen. Die sechs Stichworte um die Ta-
belle herum sind vielleicht wichtiger als ihr Inhalt: Sie sollen die Suche anre-
gen. Aber andere Einteilungen sind selbstverständlich auch möglich, z.B
durch Nutzung des Natur-Mensch-Gesellschaft-Welt-Zeit-Kultur-Schemas,
um Bedingungen friedenspolitischen HandeIns festzulegen.
Es gibt keinen bestimmten Ausgangspunkt für Friedensbemühungen und
erst recht keinen Endpunkt. Am besten wäre es, an allen acht Kästchen
gleichzeitig zu arbeiten. Besser einige Vorwärtsbewegungen in allen als ein
einziger (großer) Vorstoß in einem, in der Hoffnung, daß die anderen sich
dann von selbst erledigen werden oder wenigstens hinterher leichter zu hand-
haben sind. Die Erfahrung mit auf einen Faktor bauenden Friedenstheorien
ist im allgemeinen sehr negativ. Kant hoffte auf Republiken und Demokratie,
die Liberalen setzten auf Freihandel und Demokratie, die Marxisten auf so-
ziale Produktion und gelenkte Demokratie, die Mondialisten auf eine starke
UNO. Nichts davon hat zum Frieden geführt.
Die meisten Vorschläge richten sich an die Welt als ein System staatlich
verfaßter Länder, an das gewöhnlich so genannte zwischenstaatliche System.
Mit einigen Abwandlungen lassen sie sich jedoch auch auf zwischen ge-
schlechtliche oder auf Systeme von Generationen, Klassen und Nationen
(Ethnien) anwenden. Sie alle sind heute relevant.
Tabelle 0.1 erfordert selbstverständlich zahlreiche Kommentare. Men-
schen, die für den Weltfrieden arbeiten, sei es innerhalb staatlicher oder
nicht-staatlicher Organisationen, werden einiges wiedererkennen; nur wenige
werden sich in allen Punkten wiederfinden und wenn, dann nicht unbedingt
allen Argumenten zustimmen. Die Debatte ist von grundlegender Wichtig-
keit, wenn sich die Friedensbewegung ausweiten soll, um mindestens so ein-
flußreich zu werden wie zu ihrer Zeit die Anti-Sklaverei- und die Anti-Kolo-
nialismus-Bewegungen. Gegen den Krieg zu sein, ist eine moralisch über-
zeugende Haltung, aber die Fragen nach Alternativen zum Krieg und nach
20 Friedensvisionenjür das 21. Jahrhundert

den Bedingungen für die Abschaffung des Krieges verschwinden dadurch


nicht. Beide müssen angesprochen werden.

Tabelle 0.1: Friedenspolitiken für das 21. Jahrhundert


negativer Frieden positiver Frieden
politisch Demokratisierung der Staaten Demokratisierung der UNO
überall Menschenrechte, aber ein Land, eine Stimme
..Entwestlichung" kein Großmacht-Veto
Bürgerinitiativen, Referenda, zweite UNO-Versammlung
direkte Demokratie direkte Wahlen (1 Sitz pro
Dezentralisierung 1 Million Einwohner)
Konföderationen
militärisch defensive Verteidigung Friedenstruppen
Delegitimation von Waffen nichtmilitärische Fertigkeiten
nichtmiIitärische Verteidigung Internationale Friedensbrigaden
ökonomisch Selbständigkeit I Selbständigkeit 11
Internalisierung von Externalitäten Teilen von Externalitäten
Nutzung eigener Produktionsfakto- horizontaler Austausch
ren (auch lokal) Süd-Süd-Kooperation
kulturell Herausforderung von globale Zivilisation
- Singularismus - überall ein Zentrum
- Universalismus - Zeitentspannung
- Vorstellungen von - holistisch, global
..auserwählten Völkern" - Partnerschaft mit
- Krieg, Gewalt der Natur
- Gleichheit, Gerechtigkeit
Dialog zwischen hart und weich - Lebenssteigerung

Idealiter sollten alle Punkte gleichzeitig behandelt werden, um die hier ver-
tretene Synchronizität zu betonen. Aber eine derartige Kommunikation funk-
tioniert nicht besonders gut, so daß wir lieber Zeile für Zeile vorgehen, ohne
damit jedoch irgend eine Rangfolge zu verbinden.

4 Die politische Dimension

Demokratie ist eine großartige Idee, die aber im Hinblick auf die Beziehun-
gen zwischen Staaten ziemlich mißverstanden wird. Wenn die Demokratie in
einem Land gut funktioniert, wird sie im Prinzip eine relativ zufriedene Be-
völkerung schaffen, deren Wünsche im allgemeinen und mit der Zeit im
Rahmen des Machbaren erfüllt werden. Im Prinzip sollte das zu einem
"Friedensüberschuß" im Land führen, wobei die Demokratie als gewaltlose
Friedensvisionenjür das 21. Jahrhundert 21

Vermittlerin zwischen den Teilen der Bevölkerung funktionieren sollte, die


miteinander um Macht und Privilegien konkurrieren. Es gibt aber keine Ga-
rantie dafür, daß dieser innerstaatliche Friedensüberschuß auch zu friedlichen
Aktivitäten im zwischenstaatlichen System führt. Die Demokratie muß global
sein, muß innerhalb des Staaten-Systems, im Weltsystem, bestehen; dieses
System ist heutzutage jedoch konservativ-feudal und nicht liberal-demokra-
tisch.
Das ermöglicht zwei Ansätze: Das zwischenstaatliche System muß demo-
kratischer, das innerstaatliche System mit demokratischen Mitteln noch fried-
fertiger gemacht werden. Beides sind lobenswerte Ziele und Ansätze, und
mehr Demokratie in einem Land muß nicht mit der - im besten Falle unbe-
wiesenen, im schlimmsten Falle eklatant falschen - Annahme gerechtfertigt
werden, daß innerer Friede sich automatisch in äußeren Frieden übersetzt.
Wenn das nämlich der Fall wäre, dann wären die führenden Demokratien der
Welt nicht auch Sklavenhalter, Kolonialisten und hochgradig kriegerisch ge-
wesen - mit Ausnahme der kleinen Demokratien, die wahrscheinlich eher
aus dem Grunde friedlich sind, weil sie klein, als weil sie demokratisch sind.
Das gilt aber auch umgekehrt: Ein demokratisches zwischenstaatliches Sy-
stem garantiert nicht automatisch, daß alle seine Teile über Nacht zu Demo-
kratien werden.
Der direkteste Ansatz wäre, das Staaten-System zu demokratisieren. Ein
Land - eine Stimme ist ein Rezept, das sich auf die Institutionen des Bretton-
Woods-Systems anwenden ließe und dadurch die Geldrnacht der reichsten Län-
der der Erde reduzierte. Wahrscheinlich würde das auch den verfügbaren Kre-
dit reduzieren. Im Hinblick auf die Geschäftsberichte der Weltbank scheint es
fraglich, ob diese Möglichkeit ganz und gar bedauerlich wäre. Daß dieses Re-
zept aber das Großmacht-Veto ausschließt, ist klar; dieses muß verschwinden.
Demokratie bedeutet aber vor allem "ein Mensch - eine Stimme", und das
weist ganz unzweideutig auf die Idee eines Weltparlaments, d.h. einer Zwei-
ten UN-Vollversammlung, einer Välkerversammlung der Vereinten Nationen
(UNPA - United Nations Peoples' Assembly), bei der die Mitgliedsstaaten
als Wahlkreise das Recht auf, zum Beispiel, einen Sitz pro Million Einwoh-
ner haben (Staaten mit weniger als einer Million Einwohner bekämen einen
Sitz), deren Inhaber aber nur vom Volk in geheimer Wahl gewählt und nicht
vom Staat bestimmt werden dürften. Das wäre dann eine zusätzliche Arti-
kulationsmöglichkeit neben der UNGA (United Nations General Assembly,
Generalversammlung der Vereinten Nationen), die man als eine Versamm-
lung von Regierungen ("Government Assembly") verstehen muß. Die beiden
Versammlungen könnten einen Zeitplan für die Transferierung eines Teils
der Macht von der UNGA zur UNPA ausarbeiten, damit in Zukunft eher Re-
gierungen den Völkern Rechenschaft ablegen müßten als umgekehrt.
Die Menschenrechte weisen schon in diese Richtung, obgleich sie das Staa-
tensystem auch stärken, indem sie die Staaten zu Menschenrechtsgaranten
22 Friedensvisionenjür das 21. Jahrhundert

machen, die sich gemäß UN-Mechanismen zu verantworten haben. Heute


sind diese eindeutig vom universalistischen Modell männlicher, erwachsener
Menschen westlichen Zuschnitts geprägt; das könnte aber alles verbessert
werden, ohne daß man dabei etwas von der Macht dieser guten Tradition an
Formen direkter und struktureller Gewalt abtreten müßte.
Es wäre auch hilfreich, wenn die Regierung dem Volk näherkäme mit Hilfe
konföderativer Formen des Zusammenlebens anstelle von Föderationen und
Einheitsstaaten durch Dezentralisierung innerhalb der Länder sowie durch In-
itiativen und Referenda. Dies sind jedoch keine Allheilmittel: Das Volk ist nicht
immer friedliebend; auch das Volk bzw. die ,Zivilgesellschaft' kann töten.

5 Die militärische Dimension

Ich vertrete hier nicht den Standpunkt, man müsse das Militär abzuschaffen,
sondern ich bin der Meinung, daß man ihm neue Aufgaben geben muß. Diese
Institution hat in der Vergangenheit sehr schlechte Angewohnheiten gehabt,
wie z.B. die, andere Länder und Nationen, auch bestimmte Klassen, anzu-
greifen, zu töten und zu verwüsten in inneren und äußeren Kriegen, und zwar
zumeist auf Geheiß der herrschenden Eliten. Das Militär hat aber auch Tu-
genden bewiesen: gute Organisation, Mut, Opferbereitschaft. Die schlechten
Gewohnheiten müssen verschwinden; nicht unbedingt das Militär und erst
recht nicht seine Tugenden.
Es geht darum, dem Militär neue Aufgaben zu geben, eine aggressive äußere
Kriegführung zu ersetzen durch eine defensive Verteidigung mit defensiven
Mitteln (konventionelle militärische, para-militärische und nicht-militärische
Verteidigung für den Nahbereich). Reine Verteidigung provoziert niemanden
und erzeugt keine Furcht, macht aber gleichzeitig deutlich, daß man gegen
Angriffe starken Widerstand leisten wird.
Friedenstruppen können zur Vermeidung von Aggressionen eingesetzt
werden, auch da, wo es noch nicht zu offenen Gewalthandlungen gekommen
ist (wo es aber gute Gründe gibt anzunehmen, daß etwas passieren könnte).
Es wäre auch möglich, sie zur Prävention in den (etwa 30) kleinen Ländern
ohne militärische Streitkräfte einzusetzen, um der Möglichkeit vorzubeugen,
daß irgendein ,Big Brother' in Krisenzeiten beansprucht, "Beschützer" zu
sein.
Aber das genügt nicht. Es muß eine weitere Entwicklung in Richtung Ge-
waltlosigkeit geben, durch die Waffen delegitimiert, konventionelle und pa-
ramilitärische Komponenten zugunsten gewaltloser Fertigkeiten reduziert
und zugleich nichtmilitärische Verteidigungsstrukturen aufgebaut werden,
und die in Krisengebieten auf die Karte ziviler Friedenssicherung und inter-
nationaler Friedensbrigaden setzt. Wir stehen an der Schwelle solch wichti-
Friedensvisionenfür das 21. Jahrhundert 23

ger Bemühungen, die noch sehr viel weiter entwickelt werden müssen. Das
Militär möge sich beteiligen!
Es gibt jedoch bei all dem einen negativen Aspekt. Das langfristige Ziel ist
die Abschaffung des Krieges als einer Institution, ein Ziel, das, wie die Ab-
schaffung der Institutionen Sklaverei und Kolonialismus, vollkommen rea-
listisch, aber anspruchsvoll, schwierig - und absolut notwendig ist. Es wird
natürlich weiterhin Gewalt geben, teilweise auch noch kollektiv organisiert
als Krieg. Die Gewalt wird aber nicht mehr institutionalisiert und internali-
siert und auch nicht mehr legitim sein.
Was läßt den Krieg fortbestehen? Viele Faktoren, von denen drei hier ge-
nannt werden sollen: das Patriarchat (Herrschaft des männlichen Geschlechts),
das Staatssystem mit seinem Gewaltmonopol und das Superstaaten- oder Su-
permächte-System mit dem ultimativen Gewaltmonopol der Hegemonial-
mächte. Männer neigen viel stärker als Frauen zur Gewalt, und diejenigen,
die im Besitz von Waffen sind, neigen dazu, getreu der alten Maxime zu den-
ken und zu handeln, nach der die Welt für denjenigen, der einen Hammer
hält, wie ein Nagel aussieht. Es lohnt der Hinweis, daß das nicht unbedingt
daran liegt, daß der Betreffende gewalttätig ist, sondern schlicht daran, daß er
die Ausübung militärischer Macht sowohl als Beruf wie als Monopol betreibt
und einfach in der Welt eine Rolle spielen möchte.
Das Patriarchat bekämpfen, bedeutet, patriarchalische Kulturen und Struk-
turen zu bekämpfen und dadurch zu einer ausgewogeneren Aufteilung der
Macht zwischen den Geschlechtern zu gelangen. Es besteht dabei natürlich
die Gefahr, daß Frauen im Verlauf des Kampfes einige der männlichen
Wertvorstellungen übernehmen, gegen die sie eigentlich ankämpfen.
Der Kampf gegen die Neigung von Staaten, bei militärischer Gewalt ihre
Zuflucht zu suchen, läuft über Alternativen, die zwingender sind. Und der
Kampf gegen hegemoniale Tendenzen in der Weltgesellschaft der Gesell-
schaften läuft über die Demokratisierung eben dieser Gesellschaft, indem
Bündnisse nicht-hegemonialer Länder geschaffen werden, und zwar inner-
halb von und über deren "Interessensphären" hinaus, ebenso wie über Ent-
scheidungsprozesse auf der Grundlage des Prinzips ,ein Staat/eine Stimme'.
Wir werden im 4. Kapitel von Teil I auf diesen Punkt zurückkommen.

6 Die ökonomische Dimension

Das Problem liegt hier nicht nur in der wirtschaftlichen Praxis, sondern auch
in der ökonomischen Theorie, die die Nebeneffekte von ökonomischen Ak-
tivitäten, die Externalitäten, sorgsam außer Acht läßt. Manche davon sind
positiv, wie die Herausforderung, die aus der Beschäftigung mit komplexen
Problemen entsteht, für die es keine sofortigen, routinemäßigen Lösungen
24 Friedensvisionenjür das 21. Jahrhundert

gibt. Und manche sind negativ, wie der ökologische Niedergang, ganz zu
schweigen von der Erniedrigung der Menschen. Darüber wird in der öko-
nomischen Theorie nicht gehandelt, und wenn doch, dann nur in Form von
Neben- oder nachträglichen Gedanken. Ökonomen konzentrieren sich auf
Quantitäten und Preise von Produkten, Gütern und Dienstleistungen, die auf
dem Markt angeboten werden und reflektieren nicht darüber, ob diese viel-
leicht ,Ungüter' und ,schlechte Dienste' sein könnten. Solche Variablen
könnte man Internalitäten nennen, da sie innerhalb des Paradigmas aufge-
arbeitet werden. Ein Beispiel sind die "Tauschbedingungen" (terms of
exchange), die Menge also, die von einem Produkt benötigt wird, um im
Austausch eine konstante Menge eines anderen Produkts zu erhalten, z.B. die
Menge Öl, für die man einen Traktor erhält. Ein anderer Ansatz bestünde
darin, die benötigten Arbeitsstunden zu vergleichen.
Ausbeutung bedeutet, daß einer der Beteiligten aus dem Handel viel mehr
Gewinn zieht als der andere, gemessen an der Summe der Internalitäten und
der Externalitäten. Die Bedingungen des Tausches können schlecht sein und
sich noch verschlechtern; dazu bekommt einer der Beteiligten die ganze Her-
ausforderung, während dem anderen die Routinearbeiten überlassen werden,
der doch schon die ökologische und menschliche Degradierung bei diesem
Handel tragen muß. Da dies eine ziemlich angemessene Beschreibung des
Handels zwischen den reichen (nicht alIe im Norden liegenden) und den ar-
men (nicht alIe im Süden liegenden) Ländern der Welt von heute ist, haben
wir es hier mit einem SchlüsselfalI strukturelIer Gewalt zu tun. Diese Situati-
on führt häufig zu direkter Gewalt, die die Strukturen verändern oder erhal-
ten solI, und die durch die kultureIle Gewalt der Mainstream-Theorie massiv
verteidigt wird. Ein Gewaltdreieck großen Ausmaßes.
Ein Ausweg wäre, weniger Handel zu treiben und sich mehr auf die eige-
nen Ressourcen (Faktoren) zu verlassen. Die positiven Externalitäten bleiben
dann im Lande; die negativen erträgt man selbst und schiebt sie nicht mehr
einfach auf andere ab. Die Hoffnung dabei wäre, daß das Eigeninteresse dann
zu verb\!sserten ökonomischen Handlungsweisen führt. Wenn dies ,Selbstän-
digkeit l' ist, dann bedeutet ,Selbständigkeit Ir, den Vorgang auf den Aus-
tausch mit anderen Ländern auszudehnen. Der entscheidende Punkt ist Sensi-
bilität gegenüber den Externalitäten. Die Kurzformel wäre, sie zu teilen. In
der Praxis bedeutet das, sich gegenseitig positive Externalitäten zu ermögli-
chen und bei der Reduzierung der negativen zusammenzuarbeiten. 7

6 "self-reliance"; die Bedeutung oszilliert zwischen Selbsthilfe und Selbstvertrauen


und meint in vergleichbaren Kontexten meist den Entschluß bzw. die Fähigkeit, auf
eigenen Beinen zu stehen, Eigenständigkeit. (Anm. d. Übers.)
7 Wenn A von B ein Produkt verlangt, das für diesen eine Herausforderung bedeutet
und anregend ist, dann sollte B von A ein ebenso anregendes Produkt verlangen,
kein Feld-Wald-und-Wiesen-Produkt. Und wenn einer oder beide Vorgänge zusam-
men zur ökologischen und/oder menschlichen Degradierung führen, dann sollten A
Friedensvisionenfür das 21. Jahrhundert 25

An dieser Stelle droht eine böse Falle. Rücksichtnahme, die Bereitschaft,


die Folgen von internationalen ökonomischen Transaktionen für andere (min-
destens) ebenso ernst zu nehmen wie die Folgen für einen selbst, setzt grund-
sätzlich voraus, daß man sich den anderen nahe, wie verwandt fühlt. Wie das
auch in harmonischen Familienverhältnissen der Fall sein sollte. Eine Formel
wäre "Nachbarländer", eine andere "gleichgesinnte Länder", eine weitere
"Länder auf der gleichen Entwicklungsstufe". "Selbständigkeit II" soll dazu
dienen, eine derartige Verbundenheit zu entwickeln, und doch ist eine solche
Verbundenheit gleichzeitig die Bedingung ihrer Entstehung.
Der beste Ansatz ist immer noch, einfach anzufangen, wie das die Nordi-
schen Länder, die ASEAN-Länder und die Länder der Europäischen Union
schon getan haben. Das ist wahrscheinlich auch der beste, vielleicht sogar der
einzige Weg zur Entwicklung der armen Länder im Süden - wenn man nicht
nur sich selbst, sondern sich gegenseitig aufhilft. In dieser Hinsicht ist die
Süd-Süd-Kooperation, für die die Nyerere-Kommission eintritt, nicht nur ein
Entwicklungsprogramm, sondern auch ein Friedensprogramm, zumindest
was den Süden betrifft.'

7 Die kulturelle Dimension

Warum töten Menschen? Zum Teil sicher, weil sie so erzogen sind - zwar
nicht direkt zum Töten, aber doch dazu, das Töten unter bestimmten Bedin-
gungen als legitim zu betrachten. Wir kommen also zur Kultur, diesem großen
Rechtfertiger der Gewalt, aber auch des Friedens. Und wir stellen die Frage, in
welchen Manifestationen der Kultur wir die Hauptträger der Gewalt finden.
Die einfache Antwort wäre: "in Religion und Ideologie", da Menschen be-
kanntlich im Namen beider töten. Nicht alle deren Formen sind jedoch ge-
walttätig, einige plädieren sogar heftig für Gewaltlosigkeit.
Die von mir bevorzugte Formulierung lautet: Es gibt gewöhnlich harte
und weiche Varianten einer Religion und einer Ideologie, wobei die harten
sich auf irgendein abstraktes, transzendentes Ziel und die weichen auf Ein-
fühlungsvermögen oder gar Mitgefühl stützen. Beispiele für ersteres wäre der
Triumph eines transzendenten Gottes, z.B. der okzidentalen Version einer
männlichen Gottheit "im Himmel"; oder der endgültige Sieg einer politi-
schen Utopie auf der ganzen Welt (Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie,
Faschismus); oder die ,Größe' der Nation. Und Beispiele für weichere oder
sanftere Ziele wären ein immanenter Gott, etwa als das Göttliche in jedem

und B zusammenarbeiten, um diese Folgen, wo immer sie auch auftreten, zu redu-


zieren.
8 Siehe The South Commission Report, Genf 1990.
26 Friedensvisionenfür das 21. Jahrhundert

Menschen, die Befriedigung der konkreten Grundbedürfnisse von konkreten


menschlichen Wesen oder auch die Fürsorge für alles Leben.
Offensichtlich tragen die größten okzidentalen Religionen und Ideologien,
der Islam und das Christentum, der Liberalismus und der Marxismus (dieser
wird wahrscheinlich eine Art von "Comeback" erleben) Merkmale beider
Formen an sich, so daß man besser von harten und weichen "Aspekten" spre-
chen sollte statt von harten und weichen Religionen und Ideologien. Oder
sogar von harten und weichen Varianten. Alle vier genannten sind aber sin-
gularistisch, d.h. sie erheben den Anspruch, der einzige wirkliche Träger der
Wahrheit zu sein, und sie sind universalistisch, d.h. sie beanspruchen auf der
ganzen Welt Gültigkeit für ihre Botschaft, und das für alle Zukunft.
Ein solcher Glaube wird besonders gefährlich, wenn einem auserwählten
Volk (ersetzbar durch: Geschlecht, Generation, Rasse, Klasse, Nation) das
Recht und die Pflicht zugesprochen wird, den Glauben zu verbreiten oder zu
verteidigen. Die okzidentalen Religionen bzw. Ideologien (aber nicht nur sie)
besitzen derartige Elemente; der Archetypus ist die jüdische Vorstellung von
einem Auserwählten Volk und einem Gelobten Land. Alle solche Ideen soll-
ten in Frage gestellt werden, sie sind durchtränkt von Gewalt und Krieg. Und
Gewalt selbst sollte direkt angegangen werden. Im pragmatischen Westen
macht man das am besten, indem man zeigt, wie Gewalt Gewalt sät, wahr-
scheinlich eine der gesicherteren sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse. Und
die beste Form der Infragestellung ist der Dialog. Das Christentum kennt
harte und weiche Varianten; ein Dialog innerhalb einer Religion kann für die
Gläubigen sinnvoller sein als ökumenische Dialoge zwischen Religionen. Ein
Ansatz schließt den anderen jedoch nicht aus.
Der beste Ansatz ist wahrscheinlich, wie gewöhnlich, ein positiver. Die
vier oben kritisierten Systeme sind Träger eines Glaubensmaximums, sie ha-
ben auf (fast) alles eine Antwort. Von jedem zu verlangen, hieran zu glauben,
ist so, als würde man allen Menschen die gleiche Schuhgröße vorschreiben.
Und doch braucht eine Weltzivilisation ein Minimum gemeinsamer Über-
zeugungen.
Tabelle 0.1 macht einige Vorschläge, die hilfreich sein könnten. Eine
Welt, in der jeder Ort ein Zentrum ist, und kein Ort auf der Peripherie liegt.
Ein weniger dramatisches Zeitkonzept; Hochs und Tiefs wären normal, soll-
ten aber innerhalb bestimmter Grenzen gehalten werden. Man kann die Welt
nur in einer einigermaßen ganzheitlichen und globalen Sicht begreifen. Part-
nerschaft mit der Natur; Mensch und Natur sollten sich wechselseitig zu
Diensten sein und gegenseitig ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Gleichheit
und Gerechtigkeit in und zwischen den Gesellschaften. Verbesserung der Le-
bensbedingungen als Endziel und als Mittel. Worte, Worte, Worte - und den-
noch unerläßlich.
Friedensvisionenjür das 21. Jahrhundert 27

8 Wer sind die Träger von Friedensstrategien?


Die Antwort versteht sich: im Prinzip jeder. In der Praxis gibt es aber Pro-
bleme, wenn das Staatensystem der Träger ist. Einen Grund habe ich oben
dargestellt: die Tendenz, das System oder wenigstens das Bild desselben zu
transformieren, so daß die Mittel, die diesem zur Verfügung stehen, wieder
relevant werden oder wenigstens so erscheinen: Knüppel, d.h. Gewalt, Be-
lohnungen und verhandelnde Eliten.
Es gibt aber auch schwerwiegende Probleme, wenn das nicht-staatliche
System der Träger von Friedensstrategien ist. Die Menschen sind, wie schon
oben gesagt, nicht immer friedfertig, und wenn sie es doch sind, so besitzen
sie hauptsächlich kulturelle Macht und nicht die Knüppel und Anreize der
militärischen und ökonomischen Macht des Staatensystems. Auch nicht-
staatliche Systeme tendieren dazu, die Welt als Nagel zu betrachten, nur ist
ihr Hammer sehr viel weicher, nämlich die Überzeugung durch Wort und
Beispiel. Das kann helfen, muß aber nicht. Es spricht einiges für ein zwei-
gleisiges Verfahren, wobei man noch einen potentiellen Friedensstifter hin-
zufügen sollte, der meist übersehen wird: das transnationale Unternehmen.
Anstatt den beiden größten Fehlern zu verfallen und anzunehmen, Friede
könne entweder nur von Eliten oder nur von Nicht-Eliten gestiftet werden,
sollte man also stets versuchen, beide Schienen zu nutzen. Vielleicht kann
das Ende des Kalten Krieges als Beispiel dienen. Das Staatensystem hat
wichtige Schritte in diese Richtung unternommen, besonders im Zusammen-
hang mit dem Helsinki-Prozeß. Aber noch wichtigere Schritte wurden vom
nicht-staatlichen System unternommen, von den Dissidentenbewegungen im
Osten, die das Illegitime am (Post-) Stalinismus aufdeckten, und von der
Friedensbewegung in Ost und West, die das gleiche in Bezug auf den Nu-
klearismus tat. Die beiden Trends haben sich in der Person und den Taten
von Gorbatschow vereinigt. Im Herbst 1989 kam es zu einem guten Ende;
Ließe sich ein solcher Erfolg nicht wiederholen?

9 Ein Versuch, das Geschehene zu analysieren, findet sich in meinem Aufsatz:


"Eastern Europe Fall 1989 - What Happened, and Why?", in: L. Kriesberg und D. R.
Segal: Research in Social Movements, Conflicts and Change, Bd. 14, 1992, S. 75 -
97, Greenwich, Conn. 1992, sowie in meinem Buch: Eurotopia. Die Zukunft eines
Kontinents, Wien 1993, S. 43-70.
Teil I: Friedenstheorie
1 Die Friedensforschung: eine epistemologische
Grundlage

1.1 Ein Ausgangspunkt: Frieden mit friedlichen Mitteln


Zu Beginn zwei miteinander vereinbare Definitionen von Frieden:
- Frieden bedeutet die Abwesenheit/die Reduktion jeglicher Gewalt.
- Frieden ist gewaltfreie und kreative Konflikttransformation.
Für beide Definitionen gilt auch das Folgende:
- Friedensarbeit ist die Arbeit, Gewalt mit friedlichen Mitteln zu reduzieren.
- Friedensforschung nennt man die Untersuchung der Bedingungen von
Friedensarbeit.
Die erste Definition ist gewaltorientiert, und Frieden meint die Negation von
Gewalt. Die zweite Definition ist konfliktorientiert, und Frieden bezeichnet
hier einen Rahmen, in dem Konflikte sich gewaltlos und kreativ entfalten
können. In diesem Fall müssen wir, um etwas über Frieden zu wissen, Kennt-
nisse von Konflikten haben und wissen, wie diese transformiert werden kön-
nen, und zwar gewaltlos und kreativ. Offensichtlich ist diese Definition dy-
namischer als die erste.
Beide Definitionen richten ihr Augenmerk auf Menschen in einem gesell-
schaftlichen Zusammenhang. Daher gehört die Friedensforschung zu den So-
zialwissenschaften, genauer gesagt, zu den angewandten Sozialwissenschaf-
ten, mit einer expliziten Wertorientierung. Bestimmte epistemologische oder
wissenschaftstheoretische Annahmen der Friedensforschung sind allen wis-
senschaftlichen Bemühungen gemein, einige teilt sie mit anderen Sozialwis-
senschaften, einige mit anderen angewandten Wissenschaften wie der Medi-
zin, der Architektur oder den technischen Wissenschaften.
Friedensstudien folgen also solch generellen Regeln der wissenschaftli-
chen Forschung wie intersubjektiver Vermittelbarkeit und Akzeptanz. Prä-
missen (Daten, Werte, Theorien), Folgerungen und ihre Zusammenhänge müs-
sen öffentlicher Nachprüfung zugängig sein. Wissenschaft und Idiosynkrasie
passen nicht zusammen. Auch Wissenschaft und Geheimniskrämerei nicht,
was man in den Sicherheitsstudien, die sich durch einen "vertraulich"-Stempel
schützen, gleichwohl immer wieder erlebt. Wissenschaft ist öffentlich.
32 Friedenstheorie

1.2 Eine Dreiteilung der Friedensforschung


Eine Unterscheidung zwischen drei Zweigen der Friedensforschung ist ein
geeigneter Ausgangspunkt: IO
1. Empirische Friedensstudien, die auf Empirismus beruhen, d.h. der syste-
matische Vergleich von Theorien mit empirischer Wirklichkeit (Daten),
wobei die Theorien revidiert werden, wenn sie mit den Daten nicht über-
einstimmen, da hier die Daten Vorrang haben vor der Theorie.
2. Kritische Friedensstudien, die auf Kritik basieren, d.h. der systematische
Vergleich von empirischer Wirklichkeit (Daten) und Werten, also der Ver-
such, mit Worten und/oder mit Taten die Wirklichkeit zu verändern, wenn
diese nicht mit den Werten übereinstimmt, da die Werte hier Vorrang ha-
ben vor den Daten.
3. Konstruktive Friedensstudien, die auf Konstruktivismus basieren, d.h. der
systematische Vergleich von Theorien mit Werten, der Versuch, die Theo-
rien bestimmten Werten anzupassen und Visionen einer neuen Wirklich-
keit zu schaffen, wobei die Werte stärker sind als die Theorie.
Ganz allgemein gesprochen, sind das Untersuchungen der Friedensproble-
matik, die sich jeweils auf Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftszeit-
formen bzw. -aspekte beziehen. In der Logik des Empirismus siegen die Da-
ten über die Theorie, in der der Kritik die Werte über die Daten. Und in der
Logik des Konstruktivismus wird die (transitive) Schlußfolgerung gezogen:
Werte gehen vor Theorien. Somit behalten in der Friedensforschung diejeni-
gen Werte, die unter der Überschrift "Frieden" zusammengewürfelt sind, die
Oberhand, das letzte Wort; mit ihnen wird der Aufbau der Theorien geleitet,
die man benutzt, um Daten zu erklären. Die Daten aber behalten auch das
letzte Wort, da man die Theorien benutzt, um sie zu erklären.
Wie ist das möglich, wie können sie beide die "Oberhand" behalten? Das
liegt daran, daß die Friedenswissenschaft, wie jede andere an gewandte Wis-
senschaft, in der Überzeugung gründet, daß die Welt veränderbar und form-
bar ist, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Wie daraus eine Epistemolo-
gie für die angewandte Wissenschaft wird, untersuche ich unten.
Empirische Friedensstudien informieren uns über Muster und Bedingun-
gen von Frieden bzw. Gewalt in der Vergangenheit, da nur die Vergangen-
heit Daten hergeben kann. Die Forschungsregeln sind die gleichen wie für
andere Sozialwissenschaften: sorgfältiges Sammeln, Bearbeiten und Analy-
sieren von Daten und induktive Theoriebildung; oder, anders herum, deduk-
tiv: der Vergleich von Daten und Theorien, wobei letztere ersteren angepaßt
werden, um eine Konsonanz zwischen Daten und Theorie zu erzielen.

10 Vgl. Johan Galtung: Methodologie und Ideologie. Aufsätze zur Methodologie. Bd. I,
Frankfurt/M. 1978, Kap. 2.
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 33

Wir können dadurch viel lernen, insbesondere über die Vergangenheit.


Die (positivistische) Annahme jedoch, daß das, was in der Vergangenheit
galt, auch in der Zukunft gelten wird, ist eine dramatische Annahme, die vor-
aussetzt, daß soziale Phänomene eine zeitliche Homogenität ohne größere
Veränderungen besitzen, seien diese nun kontinuierlich oder diskontinuier-
lich (Brüche). Kontinuierliche Veränderungen können mit Hilfe der Extrapo-
lation vorausgesagt werden, besonders wenn sie monoton sind und weder zu-
noch abnehmende Tendenzen zeigen. Diskontinuierliche Veränderungen sind
problematischer. Hätten die Menschen im Römischen Reich das Mittelalter,
dessen grundherrliche oder feudale Perioden, verstehen können? Hätten de-
ren Angehörige ihrerseits die "Moderne" verstehen können? Ja, verstehen wir
die "Post-Moderne"? Zukünfte, welche die uns aus empirischen Untersu-
chungen zugänglichen Erfahrungen der Vergangenheit transzendieren, sind
unbekannt und möglicherweise unerkennbar. Sie sind sui generis, von einer
neuen Art. Die Geschichte - von Gesellschaften oder einzelnen Menschen -
macht in der Tat "Quantensprünge", wie die physikalische Natur. Und nach
der Evolutionstheorie gilt das auch für die biologische Natur.
Begriffliche oder andere Hilfsmittel, die man benötigen würde, um sich
die Zukunft vorstellen zu können, finden wir nicht unbedingt in einem der
Gegenwart und der Vergangenheit angepaßten Forschungs-Werkzeugkasten,
obwohl ein makrohistorischer Überblick hilfreich sein kann. Das ist ein Ar-
gument für ein Verstehen der Zukunft mit Hilfe nicht-wissenschaftlicher
Mittel (Träume, Mythen, Intuition), wodurch Künstler und Mystiker die bes-
seren, weil einfallsreicheren Wissenschaftler würden.
Kritische Friedensstudien würden Daten oder Informationen, welche die
Gegenwart im allgemeinen, die zeitgenössische Politik im besonderen betref-
fen im Lichte von Werten, bezogen auf Frieden und Gewalt, evaluieren. Sol-
che Vergleiche können konsonant oder dissonant ausfallen (Übereinstim-
mung, Widerspruch). Im letzteren Falle ist die Schlußfolgerung nicht das
"Die TheorienlWerte waren falsch" des Empirikers, sondern das "Die Wirk-
lichkeit ist schlecht/falsch" des Kritikers, wie in der Literaturkritik oder im
(Straf-)Recht. Dissonanz ist kein Anlaß, Werte zu verändern, wohl aber der
Grund, die Wirklichkeit so zu ändern, daß zukünftige Daten eine Konsonanz
aufweisen können. Kritische Friedensstudien sollten, wie Kunstkritik, nicht
unbedingt zu negativen Schlußfolgerungen führen, auch wenn man oft das
Wort "Kritik" dahingehend interpretiert. Lobenswerte politische Sachverhalte
können und sollten gelobt werden. Und auch Angeklagte werden bisweilen
freigesprochen. In der Rechtsprechung jedoch wird selten Lob ausge-
sprochen, und Kritik endet selten mit einem "weder gut noch schlecht".
Konstruktive Friedensstudien bringen Theorien über das, was funktionie-
ren könnte, mit Werten zusammen, die bestimmen, was funktionieren sollte;
so wie auch Architekten und Ingenieure arbeiten, die ständig neue Gebäude
und Konstruktionen schaffen. Wären sie nur Empiriker gewesen, wären sie
34 Friedenstheorie

mit empirischen Studien über Höhlen und die Trageleistungen menschlicher


Wesen zufrieden gewesen; wären sie nur Kritiker gewesen, hätten sie sich
mit Äußerungen des Bedauerns über die Mängel von Höhlen und von Men-
schen begnügt. Der Konstruktivismus transzendiert, was die Empirie enthüllt
und macht konstruktive Vorschläge. Die Kritik aber ist eine unentbehrliche
Brücke zwischen beiden. Man braucht eine in Werten verankerte Motivation.
Empirische Friedensstudien gehören zur Mainstream-Sozialwissenschaft.
Werden sie z.B. auf internationale Beziehungen angewandt, dann ist das Er-
gebnis entsprechend, dann werden sie zur Disziplin "Internationale Bezie-
hungen"". Kritische Friedensforschung bezieht explizit Stellung. Die Ex-
plizitheit nicht nur von Daten, sondern auch von Werten, d.h. die Tatsache,
daß sie spezifiziert, was gut bzw. richtig und schlecht bzw. falsch ist, und wie
und warum das so ist, macht sie zur Forschung. Das wird sehr oft mit dem
Hinweis auf die Zukunft geschehen müssen: Was heute wie eine plausible
Friedensstrategie aussieht, kann sich als verheerend herausstellen; was heute
inakzeptabel aussieht, könnte auf lange Sicht funktionieren.
Eine Prognose wird hinzugefügt mit all ihren Unsicherheiten. Und kon-
struktive Friedensstudien fügen noch eine Dimension der Therapie oder Arz-
nei hinzu, indem sie Entwürfe für die Zukunft - Visionen, Bilder - erstellen.
Der Prognostiker setzt auf eine schlechte Prognose als sich selbst verneinen-
de Prophezeiung, der Therapeut auf die sich selbst erfüllende Natur einer the-
rapeutischen Vision als Prophezeiung. Beide transzendieren den Empirismus
als eine Art, epistemologische Grenzen zu definieren, die von manchen ver-
teidigt und von anderen durchbrochen werden. Das bedeutet nicht, daß jedes
einzelne Stück Friedensstudien explizite politische Implikationen aufweisen
muß. Solide empirische Friedensstudien sind unentbehrlich. Sie sind jedoch

11 Tatsächlich ist die Bezeichnung "Internationale Beziehungen" irreführend. "Zwi-


schenstaatliche Beziehungen" sind eigentlich gemeint, und selbst die Bezeichnung
"Beziehungen zwischen den Ländern" wäre angemessener, da der Staat ja nur eine
Organisation in einem Lande darstellt, die im übrigen - im Zeitalter transnationaler
Konzerne, was das Kapital betrifft, und internationaler Volks- und internationaler
Nichtregierungsorganisationen (IPOs; INGOs), was die Zivilgesellschaft betrifft -
kein Monopol mehr auf "auswärtige Angelegenheiten" hat. Sicherlich sind Men-
schen auch in Nationen organisiert und hängen als solche zusammen, wie Serben und
Kroaten in Ex-Jugoslavien. Ein möglicher Name dieser Disziplin wäre also ,Bezie-
hungen zwischen Nationen', wobei das Wort "ethnisch" vermieden werden sollte, da
man dieses (ebenso wie das Wort ,,(Volks-) Stamm") hauptsächlich in Bezug auf an-
dere Nationen verwendet. "Internationale Beziehungen" klingt, als wären mittler-
weile alle Länder Nationalstaaten, obwohl in Wirklichkeit doch nur von etwa zwan-
zig (von zweihundert) gesagt werden könnte, sie fielen in die Kategorie der aus einer
Nation gebildeten Staaten. Warum sollte man nicht, um all dem Rechnung zu tragen,
von "Weltwissenschaften" sprechen, in Analogie zu "Sozialwissenschaften" und
"Humanwissenschaften"?
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 35

nicht das Endprodukt, sondern nur der Beginn eines komplexen Prozesses,
der viel mehr Schwierigkeiten enthält als empirische Studien als solche.

1.3 Trilaterale Wissenschaft:


das Dreieck Daten-Theorien-Werte

Die drei Ansätze bauen aufeinander auf, da im Dreieck Daten-Theorien-Wer-


te innere Beziehungen bestehen (vgl. Abbildung 1.1).

Abbildung 1.1: Das Daten-Theorien-Werte-Dreieck

DATEN

Empirismus Kritik

THEORIEN Konstruktivismus WERTE

Die Welt wird durch Daten in das Beobachtete und das Nichtbeobachtete
aufgeteilt; durch die Theorie in das Vor(her)gesehene (d.h. "durch die Theo-
rie Begründete", was ein Element der Vorhersage beinhalten kann oder nicht)
und das Unvor(her)gesehene; und durch Werte in das Erwünschte und das
Abgelehnte. Die Logik der Empirie besteht darin, Theorien so zurechtzustut-
zen, daß das Beobachtete vorhergesehen und das Unvorhergesehene nicht
beobachtet wird. Die Logik der Kritik besteht darin, die Wirklichkeit so um-
zuformen, daß die Zukunft Daten produzieren wird, in deren Fall das Beob-
achtete erwünscht ist und das Abgelehnte nicht beobachtet wird. Die Logik
des Konstruktivismus besteht darin, neue Theorien zu konstruieren, die den
Wertmaßstäben derart angepaßt sind, daß das Erwünschte das Vorher ge sehe-
ne ist und das Abgelehnte das Unvorhergesehene. Daran ist nichts neu; Medi-
ziner, Architekten und Ingenieure handeln schon seit Generationen, seit Jahr-
hunderten so.
Wenn das Wahrgenommene vorhergesehen und erwünscht ist, das nicht
Wahrgenommene nicht vorhergesehen und abgelehnt wird, dann leben wir in
36 Friedenstheorie

der besten aller Welten. Die zweitbeste wäre eine Welt, in der das Erwünsch-
te zwar nicht beobachtet wird, aber durch einen einigermaßen automatisch
ablaufenden Prozess vorhergesehen wird, wie etwa: Auf längere Sicht "sind
wir zum Frieden verurteilt". Beides ist unwahrscheinlich.
Die weiteren sechs Kombinationen besitzen eine eingebaute Dissonanz,
wobei der Empiriker versucht, die Dissonanzen zwischen vorhergesehen/
nichtbeobachtet und unvorhergesehenlbeobachtet aufzulösen, und der Kriti-
ker, auf die wahrgenommen/abgelehnt- und nichtwahrgenommen/erwünscht-
Dissonanz hinzuweisen. Der Konstruktivist versucht, die drei einander anzu-
passen, um eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Der Ausgangspunkt sind die
erwünschtlunvorhergesehen- oder die abgelehntlvorhergesehen-Dissonanz;
das Ziel ist die Schaffung neuer Theorien, die das Erwünschte vorhersehbar
machen.
Früher oder später aber müssen die Theorien an der Wirklichkeit überprüft
werden; das Vorhergesehene muß auch wahrgenommen werden. Es ist eine
Sache, die UN-Friedenstruppen (UNPKF) als mit Handwaffen - wesentlich
als Symbolen der Autorität - ausgerüstet vorherzusehen bzw. sich vorzustel-
len, wodurch man zweierlei Erwünschtes, Gewaltfreiheit und Friedenserhalt,
verbunden hätte; etwas ganz anderes ist die Frage, ob das auch funktioniert,
also in der Realität beobachtet werden kann.
Nützlich ist hier die Unterscheidung zwischen empirischer, d.h. schon in
der Vergangenheit und/oder Gegenwart gegebener Realität, potentieller Rea-
lität, die in der Zukunft vorhanden sein kann, und Irrealität, die nie möglich
sein wird. Die an gewandte Wissenschaft erforscht die empirische Realität um
der Vorstellungen von einer potentiellen und mutmaßlich besseren Wirklich-
keit willen. Die kognitive Brücke ist eine Theorie, die offen genug ist, das
Nicht-Wahrgenommene vorherzusehen, und kein geschlossenes System dar-
stellt, das sich nur mit der schon wahrgenommenen empirischen Wirklichkeit
beschäftigt. Getragen wird die Brücke von Werten, die steile Gefälle zwi-
schen dem Erwünschten und dem Abgelehnten definieren und ständig fragen
lassen: "Aber könnte es nicht in Zukunft funktionieren?". Eine sinnlose Fra-
ge in einer Welt, von der man annimmt, sie sei unveränderbar oder würde
nach unveränderlichen Gesetzen funktionieren; in diesem Sinne haben wir
gelernt, über die physikalische Welt zu denken, nicht aber über biologische,
soziale und persönliche Welten.
Die endgültige Prüfung findet sich nur in der Logik der Empirie, der ge-
mäß die Daten das letzte Wort haben. Da keine Realität aber endgültig ist,
sondern immer wieder neu geschaffen wird (eher eine buddhistisch-humani-
stische als eine christliche und von Physikern vertretene Vorstellungt, gibt

12 Für eine Untersuchung des Unterschiedes zwischen einer christlich und einer bud-
dhistisch inspirierten Epistemologie s. Johan Galtung: "Back to the Origins: on
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 37

es immer einen neuen Ansatz, eine neue Wirklichkeit, neue Daten. Ein im-
merwährender Prozeß. Die Negation dieses Prozesses, bei der man davon
ausgeht, daß das erwünschte Potential nie empirisch sein kann, z.B. "weil
Gewalt in der Natur des Menschen liegt", oder daß das erwünschte Potential
per definitionem schon Wirklichkeit geworden ist, "weil wir revolutionär
sind, weil es bei uns eine Revolution gegeben hat", nennt man Dogmatismus.
Dieser in einer Spiral bewegung verlaufende Prozeß kann an irgendeinem
beliebigen Punkt des Dreiecks gestartet werden und in jede beliebige Richtung
arbeiten. Ein häufiger Ausgangspunkt ist aber die Dissonanz zwischen dem
Wahrgenommenen bzw. dem Vorhergesehenen und dem Abgelehnten. Etwas
Empirisches ist vielleicht gut erfaßt und theoretisch "erklärt". Es kann jedoch-
einfach ausgedrückt - "schlecht" sein, wie z.B. Krieg. Hier muß die Phantasie
einsetzen. Auch wenn man das Empirische erfassen will, braucht man dieses
Hilfsmittel. Sich mit dem Nicht-Existenten oder Noch-nicht-Existenten zu be-
schäftigen, verlangt jedoch noch mehr, da es dafür keine empirische Wirk-
lichkeit gibt, von der man angeregt werden und an der man sich festhalten
kann.
In diesem Fall wird man häufig versuchen, irgendeine winzig kleine em-
pirische Wirklichkeit in entfernten Winkeln der Gesellschaft, der Geschichte
oder der Geographie zu finden und die Bedingungen ihres Daseins zu erfor-
schen (die Bedingungen für ihre Nicht-Existenz einbegriffen, falls sie ver-
schwunden sein sollte) und dann darangehen zu verallgemeinern." Ein ande-
rer Ansatz, der mehr verspricht, ist die Untersuchung einer "ausgewachse-
nen" empirischen Wirklichkeit, die der potentiellen Wirklichkeit, die man her-
beiführen möchte, isomorph, strukturell vergleichbar ist (wie die Hypothe-
senbildung bezüglich des Friedens, die vom gesunden Leben ausgeht).

Christi an and Buddhist Epistemology", in: Methodology and Development, Kopen-


hagen 1988, Kap. 1.1, S. 15-27.
13 So bewegte Margaret Mead die Einbildungskraft ganzer Generationen durch ihre
Berichte von den sozialen Verhältnissen auf (in den Augen der meisten Menschen)
sehr abgelegenen Pazifischen Inseln: Growing Up in New Guinea; Sex and Tempera-
ment in Three Primitive Societies; Coming of Age in Samoa. Alle drei wurden aufge-
arbeitet in ihrem Buch Male and Female: a Study ofthe Sexes in aChanging World,
New York 1973. Auf Grund ihrer wesentlichen Einsicht wird Mead ihre Kritiker
überleben: welch unglaublich unterschiedlicher Gebrauch vom menschlichen Körper
gemacht werden kann, und welch unterschiedliche Verbindungen Geschlecht, Eigen-
schaften und Verhaltensweisen eingehen können in unterschiedlichen Gesellschaf-
ten.
38 Friedenstheorie

1.4 Wissenschaft als Invarianz suchende und brechende


Aktivität
Ein Rezept für den Durchbruch durch die Mauer, die Theorien um die empi-
rische Realität bilden (und je besser die Konstruktion, desto stärker die Mau-
er), ist die Einführung einer dritten (meist einer n + 1-) Variablen bzw. eines
Variablensets. Die passende Frage, die dabei zu stellen ist, lautet: Unter wel-
chen Bedingungen gilt dieser empirische Fund? Gilt er tatsächlich unabhän-
gig von allen Änderungen aller einzelnen Variablen? Ein Beispiel: Ist es
wirklich wahr, daß die Nachfrage mit sinkendem Preis steigt, oder könnte es
Waren geben, die besonders für reiche Leute attraktiv sind, die sie als posi-
tionelle Statusgüter benutzen, un deren Nachfrage mit steigenden Preisen
steigen würde? Die Antwort ist ja, solche gibt es: die Giffen-Gütd 4 •
Mit anderen Worten, ein "Fund", der eine Reihe von Variablen verknüpft
- in einer flachen Kurve (einem "Gesetz") oder in einer Menge mit einem
beachtlichen Korrelationskoeffizienten (einer "Tendenz"), ob diese Variablen
nun sinnvoll in unabhängige oder abhängige dichotomisiert werden können
oder nicht -, ist niemals wirklich invariabel, im Sinne von: er gilt, was auch
immer sonst der Fall sein mag. Der Rest der Welt ist immer zugleich da, der
Kontext, den man als Satz von Variablen, genannt Bedingungen, betrachten
kann. Diese wiederum können in relevante oder irrelevante aufgeteilt wer-
den, je nachdem, ob ihre Variation den Fund beeinflußt oder nicht. Es geht
nicht darum, ob Invarianzen aus Gummi oder aus Stahl sind. Es geht viel-
mehr darum, die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen sie aussehen, als
wären sie aus Stahl, und dann zu untersuchen, ob die Veränderung dieser Be-
dingungen mehr gummiähnliche Eigenschaften hervorbringt. Hiermit ver-
suchen wir, eine Wirklichkeit zu schaffen, die dem näher ist, was wir wollen,
und dringen in die Ecke des Erwünschten, aber noch nicht Wahrgenom-
menen vor.

1.5 Über Werte in der Friedensforschung

Während es keinen Anlaß gibt, in der Friedenswissenschaft irgendwelche


speziellen Annahmen bezüglich der Daten zu machen (für sie gilt dasselbe
wie für Daten in den Sozialwissenschaften ganz allgemein: man sollte sie den
anerkannten Validitäts- und Nachprüfbarkeitsstandards entsprechend sam-

14 Benannt nach Sir Robert Giften (1837-1910); obgleich er eigentlich über arme Men-
schen arbeitete, die Brot kaufen, wenn der Brotpreis nach oben geht (sie kauften
mehr davon, weil sie sich nämlich keine Luxusgüter leisten konnten), und nicht über
reiche Leute, die sich Güter zur Befriedigung ihres Snob-Geschmacks leisten.
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 39

meIn, bearbeiten und analysieren), spielen Werte hier eine besondere, wenn
nicht gar einzigartige Rolle. Wie oben erwähnt, können Vergleiche mit der
Sozialarbeit und der Kriminologie gezogen werden. Hier einige Thesen zur
Rolle der Werte:

Wertethese Nr. 1: Ohne Werte werden Friedensuntersuchungen zu sozialwis-


senschaftlichen Studien im allgemeinen und zu Welt-Studien im besonderen.
Die Wertedimension macht die Friedensforschung zu einer Disziplin sui ge-
neris. Ohne den Wert "Frieden" werden sowohl kritische als auch konstrukti-
ve Friedensstudien zu einer Unmöglichkeit; übrig bleibt dann nur das Spiel,
Theorien den Daten anzupassen. Das ist wichtig, aber nur ein Teil von Frie-
densforschung. Ausgedrückt in einer anderen Sprache, die später entwickelt
wird: Auch Prognose und Therapie wären unmöglich und damit die gesamte
Vorstellung einer Friedensprofession. Hierbei sollte beachtet werden, daß ei-
ne Prognose mehr ist als eine Voraussage; sie ist eine solche, aber auf der
Basis einer Wertdimension, die die Extreme Frieden und Gewalt umfaßt.
Und Therapie bedeutet natürlich eine bewußte Intervention, die darauf ab-
zielt, diese prognostische Kurve aufwärts zu lenken - hin zu den friedliche-
ren Regionen.
Die Logik ist eine konstruktivistische und zwar eine solche, die von der
kritischen Logik inspiriert und gemäß der empiristischen Logik geprüft wird.
Anleihen aus der medizinischen Theorie und Praxis bringen nichts Neues,
nur einen Hauch von Legitimation, da Gesundheitsstudien anerkannter sind
als Friedensstudien. Heute zumindest, denn gestern waren auch sie kaum an-
erkannt. Und morgen?

Wertethese Nr. 2: Der zentrale Wert, Frieden, muß klar, aber nicht zu klar
definiert werden.
Wenn man davon ausgeht, daß der Wert "Frieden" für die Friedensforschung
maßgeblich ist, und zwar für deren empirischen, deren kritischen und auch de-
ren konstruktiven Zweig, dann muß der Terminus definiert werden. Man muß
viel Arbeit darauf verwenden, den Terminus "Frieden" hinreichend abzuklären,
indem man Präzisierungen vornimmt und Indikatoren benennt, so daß eine ge-
gebene "Situation" (der entsprechende medizinische Terminus wäre "Fall", ca-
sus) in Bezug auf ihre Friedlosigkeit und Friedlichkeit klassifiziert und verstan-
den werden kann. Wir müssen uns im klaren sein, worüber wir sprechen und
nachdenken - und in der Lage sein, entsprechend handeln zu können.
Ein Wert ist nach der obigen Definition ein Maßstab, der die jeweils mög-
lichen Situationen in erwünschte und abzulehnende aufteilt, dabei aber auch
eine dritte Kategorie des IndifferentenfUnentschiedenen in Betracht zieht.
Definieren heißt auch verfeinern, über verschiedene Abstufungen sprechen
und ein- oder mehrdimensionale Typologien einführen. Ich werde dies alles
weiter unten tun, hoffentlich ohne dabei den roten Faden zu verlieren.
40 Friedenstheorie

Wertethese Nr. 3: Wertmaßstäbe kennen ist etwas anderes, als Wertmaßstäbe


vertreten.
Die Wissenschaft ist öffentlich, d.h. sie ist intersubjektiv, was mindestens be-
deutet, daß sie vermittelt und in etwa so rezipiert werden kann, wie sie übermit-
telt wurde. Die Kenntnis des Wertes bzw. der Werte des Friedens, wie man sie
in der Friedensforschung versteht, ist eine Bedingung für das Betreiben und das
Verstehen von Friedensforschung. An diesem Punkt jedoch muß eine wichtige
KlarsteIlung vorgenommen werden. Es ist durchaus möglich, einen Wert zu
kennen, ohne daß man diesen vertritt. Es ist möglich, den Frieden zu kennen,
ohne ein "friedlicher Mensch" zu sein, der an den Frieden glaubt oder gar den
Frieden wünscht, d.h. den Wert verinnerlicht hat.
Der Wert ist eine Norm, die man kennen kann, und in dem Moment bekannt,
in dem er übermittelt und rezipiert worden ist; die Überprüfung besteht darin zu
sehen, ob die gleichen Situationen als Zustände von Friedlich- oder von Fried-
losigkeit klassifiziert werden. Wissen ist ein kognitiver Prozeß, der immer dar-
aufhin überprüft werden kann, ob sein Inhalt korrekt oder nicht korrekt aufge-
nommen wurde. Die Verinnerlichung dagegen ist Teil eines emotiven Prozes-
ses, bei dem geprüft werden muß, ob die Friedlosigkeit - die eigene mit einbe-
griffen - weh tut oder nicht. Es geht um den Unterschied zwischen Bewußtsein
und Gewissen, wobei Paulo Freires "Bewußtmachung" (conscientization) beide
umfaßt, da sie sich nicht widersprechen.

Wertethese Nr. 4: Ein Minimum an Wert-Konsens ist notwendig, ein Maximum


an Wert-Konsens ist nicht erwünscht.
Ein Minimum ist nötig, um einen Diskurs über Denken, Sprache und Handeln
in Gang zu setzen; und das nicht nur unter denen, die auf dem Gebiet tätig sind,
sondern unter allen, die betroffen sind. Wenn man kommunizieren will, ist es
von geringer Bedeutung, ob man zu diesen Werten steht, oder ob sie einem nur
bekannt sind; wichtig ist, daß man konkrete Situationen ähnlich einschätzt. Das
Problem besteht darin, daß zwischen Erziehung und Indoktrination auf diesem
Gebiet nur ein geringer Unterschied besteht. Je differenzierter und reicher der
Wert des Friedens, je mehr Situationen werden im allgemeinen ausgeschlossen,
wenn wir davon ausgehen, daß die Denotata mit einer Vermehrung der Conno-
tata weniger werden. In anderen Worten: Je mehr Kriterien wir in die Definiti-
on des Begriffs "Frieden" einbauen, desto unwahrscheinlicher ist es, daß wir
empirischen Situationen begegnen, in denen alle unsere Kriterien erfüllt sind.
Wir sollten uns den Frieden lieber im Plural vorstellen, als die Frieden. Aber im
Englischen und im Deutschen z.B. ist dieser Plural unkorrekt, wohingegen die
Rede von "wars" und "Kriegen" unproblematisch ist - was wiederum Typolo-
gien der letzteren, aber nicht des ersteren ermöglicht. 15

15 Natürlich soll hier nicht behauptet werden, daß die Rede das Denken eindeutig de-
terminiert. Jeder Forscher ist - in Bezug auf den Frieden wie auf andere Dinge - dar-
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 41

Folglich scheint es sogar wünschenswert, daß es unter Friedensforschern


und anderen über die tieferen Bedeutungen von Frieden unterschiedliche
Meinungen gibt. Um ein Beispiel zu geben: Die meisten würden der Defini-
tion vom (negativen) Frieden als Absenz direkter Gewalt zustimmen, aber
nicht unbedingt einer zusätzlichen Definition von (positivem) Frieden als der
Präsenz von Symbiose und Gerechtigkeit in menschlichen Beziehungen; und
auch nicht unbedingt der These, daß positiver Frieden gleichbedeutend ist
mit dem Fehlen von struktureller und kultureller Gewalt. Diese und andere
Thesen und Definitionen sind Gegenstände eines informierten Dissenses, wo-
bei sich um verschiedene Definitionen und Thesen unterschiedliche Schulen
bilden. Uneinigkeit unter Gelehrten und Fachleuten kann die Sache erschwe-
ren und sowohl bei Insidern als auch bei Outsidern Verwirrung stiften bis hin
zum Verlust des Vertrauens in die ganze Forschungsrichtung. Andererseits
ist Einigkeit unter Gelehrten und Fachleuten eines Faches, insbesondere voll-
kommene Einstimmigkeit auch bezüglich kleinster Details, d.h. maximaler
Konsens, viel schlimmer. Er wird schnell zum massiven Dogmatismus, der
schulmeisterhaft und intolerant ist.
Der Vergleich mit der Medizin ist verlockend. Nichts ist gegen Medizin-
Schulen im Plural einzuwenden; ein Problem gibt es erst dann, wenn nur eine
einzige Schule existiert. Insider und Outsider gleichermaßen müssen die
Wahl haben dürfen. Das Fachgebiet kann nur dann von der Vielfalt profitie-
ren, wenn diese im allgemeinen interaktiv und im besonderen dialogisch an-
gelegt ist, mit dem Ziel einer gegenseitigen Bereicherung und manchmal ei-
ner Synthese. Eine stabile Synthese würde jedoch maximalen Konsens be-
deuten, daher sollten neue Uneinigkeiten ermutigt werden. Laßt hundert
Schulen blühen, aber keine Sekten. Sekten sind anderen verschlossen und be-
anspruchen eine Monopolstellung hinsichtlich der Wahrheit.

Wertethese Nr. 5: Objektivität bedeutet Intersubjektivität; die Bedingung für


Intersubjektivität ist Explizitheit.
Kann aber eine Disziplin, die so stark von Werten durchdrungen ist, objektiv
sein? Die Frage gründet auf einer ganz speziellen Auffassung von der Wis-
senschaft als Enthüllerin einer "objektiv existierenden" Realität, als würde
man diese sozusagen entschleiern (die maya, den Schleier, entfernen). Das
setzt eine Null- oder sehr niedrige Ebene der Beobachter-Wirklichkeits-Inter-
aktion voraus, eine Annahme, die noch einige Zeit für die naturwissenschaft-
lichen Forschungen, mit Ausnahme derer im subatomaren Bereich, fruchtbar

an gewöhnt mit Typen (Typ A, Typ B usw.) zu arbeiten. Aber im Allgemeinbe-


wußtsein dürfte die Singularform von Frieden auch zu einem singularistischen Den-
ken über den Frieden führen, man denke an die klassische Kinderdarstellung des
Friedens durch ein Feld, blauen Himmel, Sonnenschein und spielende Tiere und
Kinder - mit oder ohne Löwe und Lamm.
42 Friedenstheorie

sein könnte; im Falle der letzteren verleiht die Heisenberg'sche Unschärfen-


relation der Objektivität eine andere Bedeutung. Bei der Untersuchung bio-
logischer, sozialer, menschlicher oder allgemein lebendiger Subjekte kann
man die Voraussetzung einer Interaktion auf der Null- oder auf einer niedri-
gen Ebene nicht als wirklich haltbar betrachten, es sei denn, man schafft eine
künstliche Distanz zwischen Beobachter und Wahrgenommenem, wobei aber
dann der Andere, das Wahrgenommene, "objektiviert" (verdinglicht) wird.
Das impliziert aber nicht notwendigerweise, daß die Sozialwissenschaften
dazu verurteilt sind, ganz und gar subjektiv zu sein, auch wenn zwei Sozial-
wissenschaftler, die das gleiche Phänomen untersuchen, nur selten die glei-
chen Schlußfolgerungen in den gleichen Worten formulieren werden. Die
Sozialwissenschaften sind, wie alle Wissenschaften, einer Öffentlichkeit zu-
gänglich und stehen Dritten zur Überprüfung offen. Damit das geschehen
kann, muß alles explizit sein. Ich habe oben angewandte Wissenschaft als
dialektischen Prozeß definiert, der das Beobachtbare, das Vorher gesehene
und das Wünschenswerte einander anpaßt. Als allgemeine Regel gilt, daß das
Vorhergesehene dem Beobachteten und das Beobachtete dem Wünschens-
werten weichen muß; ersteres, indem die Theorie der empirischen Wirklich-
keit, letzteres, indem die empirische Wirklichkeit den Werten angepaßt wird,
wie oben gezeigt.
In allen drei Fällen ist Explizitheit vollständig möglich, indem man die
sechs Gruppen und die drei Zwischen zonen definiert. Explizitheit ermöglicht
Kommunikation, Kommunikation ihrerseits Intersubjektivität, Vergleich, Dia-
log, informierte Debatte. Subjektivität muß in dem Moment unterstellt wer-
den, in dem grundlegende Annahmen implizit sind, beziehen diese sich nun
auf das Wahrgenommene, das Vorher gesehene oder das Erwünschte. Das
kann aufgrund von Unterlassung so sein, d.h. die Annahmen werden nur des-
halb nicht explizit erwähnt, weil sie für denjenigen, der sie vertritt, so normal
und selbstverständlich sind, daß sie ihm nicht erwähnenswert erscheinen oder
von ihm selbst gar nicht bemerkt werden. Oder als Folge eines bewußten
Aktes in dem Sinne, daß die Annahmen unter den Teppich gekehrt werden.
Wenn grundlegende Annahmen verborgen sind, gibt es unerklärte Argu-
mentationssprünge. Diese verborgenen Annahmen ans Licht zu bringen, ist
ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Objektivität in der hier beschriebe-
nen Bedeutung. Ein weiterer Schritt wäre, die Annahmen in einem kohären-
ten, zwingenden Erzählzusammenhang zusammenzuführen, den man Para-
digma nennt.
Die Schlußfolgerung aus den Wertethesen NT. 4 und 5 ist schon in These 3
enthalten: Man muß viel an den Werten arbeiten, ebensoviel wie an den Da-
ten und Theorien. Friedensforschungskonferenzen sollten ruhig "Friedens-
definitionen" als permanenten Gegenstand auf ihrer Agenda führen.
Kurz gesagt, "Objektivität" im Sinne einer Widerspiegelung einer grund-
legend unveränderlichen Wirklichkeit, wie dynamisch diese auch sein mag,
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 43

ist abzulehnen, und sie ist auch in den Naturwissenschaften im Begriff aus-
zusterben. Uns geht es hier um Objektivität als auf expliziten Prämissen ba-
sierender intersubjektiver Dialog, anders gesagt, um das klare Bewußtsein
der je eigenen Voraussetzungen.

1.6 Über Theorie in den Friedensstudien

Der Tagesordnungspunkt "Friedenstheorien" sollte ebenfalls ständiger Be-


standteil von Friedensforschungskonferenzen sein. Es fragt sich, ob es bezüg-
lich der Theoriebildung im Zusammenhang mit dem Frieden irgendwe\che
Besonderheiten gibt, und ich möchte dafür votieren, daß das nicht der Fall
ist. Gute Friedenstheorie ist gute sozialwissenschaftliche Theorie, auch wenn
das Umgekehrte nicht unbedingt der Fall sein muß. Was mit einer "guten
sozialwissenschaftlichen Theorie" gemeint ist, ist jedoch nicht so eindeutig.
Einige meiner Ansichten, die mehr auf Erfahrungen auf dem Gebiet als auf
einer philosophischen Apriori-Argumentation beruhen, lassen sich in den
folgenden Thesen oder Perspektiven darstellen.

Theoriethese Nr. 1: Gehe von Dichotomien über zu YinlYang und von Vier-
felder- Tabellen zur doppelten Dialektik.
Nehmen wir einmal Frieden versus Gewalt. Selbstverständlich kann man je-
weils eines dieser beiden Worte als Negation des anderen definieren und
damit einen logischen Diskurs konstruieren. Aber die taoistische Epistemo-
logie vermittelt eine bessere Einsicht, weil sie auf die Gewalt im Frieden hin-
weist (z.B. durch zu große Passivität) und auf den Frieden in der Gewalt
(z.B. durch Aktivität). Yin ist in Yang enthalten und Yang in Yin; Yang ist
im Yin des Yang enthalten und Yin im Yang des Yin, usw., ad infinitum.
Man sollte ebenfalls, und das ist eher eine hinduistische/buddhistische/jaini-
stische Vorstellung, die Möglichkeiten des Sowohl-als-auch und des Weder-
noch vor Augen haben. Das strenge aristotelische tertium non datur ist eine
schlechte Anleitung bei der Konstruktion von Wirklichkeit, außer vielleicht
als logisches Spiel. Die Mann-Frau-Unterscheidung ist brauchbar, begrenzt
aber unsere Zurkenntnisnahme des breiten Spektrums der aktuellen (und erst
recht der potentiellen) Geschlechterrealität.
Kurz gesagt: Dichotomien sollten mit Vorsicht behandelt werden. Trotz-
dem sind sie sehr nützliche analytische Hilfsmittel, auch wenn sie weder
vollständig (das Weder-noch wird nicht berücksichtigt) noch ausschließend
(das Sowohl-als-auch wird nicht berücksichtigt, auch in der subtileren Yin-
Yang-Bedeutung nicht), sind. Das gleiche gilt für die Vierfelder-Tabelle oder
die doppelte Dichotomie, die es uns erlaubt, eine Dichotomie im Lichte einer
anderen zu sehen (z.B. Frieden/Gewalt im Lichte von FraulMann).
44 Friedenstheorie

Die Dichotomie als solche ist eine blutleere Angelegenheit; es gibt kein
Fortschreiten. Die manichäische Dichotomie, die im okzidentalen Denken so
häufig vorkommt, empfängt ihr Leben daraus, daß jemand gut ist, ein anderer
böse, und beide miteinander kämpfen, wobei der Ausgang des Kampfes nicht
von vornherein gesichert ist. Es gibt ein Gefälle. Im Idealfall wird das Gute
siegen, aber die bösen Kräfte können auch übermächtig sein; in beiden Fällen
endet die Dichotomie als Monotornie (die der Monotonie nahe ist, einer Art
geistiger Lobotomie). Zweifellos gibt es in der Friedensforschung, wie in der
Medizin zwischen Krankheit und Gesundheit, ein steiles Gefälle zwischen
Gewalt und Frieden, dennoch sollte sie für das YinIYang-Wesen dieser Wi-
dersprüche offen sein.
Der YinIYang-Gegensatz oder -Widerspruch besitzt mehr Leben. Yin und
Yang sind Gegensätze für einander, aber im komplementären Sinne, jedes ist im
anderen, nicht im Sinne eines Siegens über den anderen. Wenn eine Ausgewo-
genheit vorhanden ist, nicht einer sich gegen den anderen durchsetzt, dann ent-
steht ein Gleichgewichtszustand. Und dennoch ist dieses Gleichgewicht nicht
stabil. Der nachhängende Aspekt wird aufholen, bis er anfängt zu führen und
der andere nachhängt, dieser dann wieder aufholen, bis er anfängt zu führen, usw.
Das Resultat ist ein wogender Prozeß, bei dem zwischen den zwei Wende-
punkten ein instabiles Gleichgewicht herrscht. Anders als der lineare ma-
nichäische Prozeß hat der zyklische oder spiralförmige YinIYang-Prozeß kei-
nen Endpunkt, im Sinne eines endgültigen Sieges des Guten über das Böse
(oder umgekehrt). Die Perspektive ist reicher, aber fürs Handeln hinderlich,
da sie dem Yinl Yang-Prozeß freien Raum gewährt. Dagegen wird das Han-
deln vom simplizistischen okzidentalen Denken, das in die Auseinanderset-
zung zwischen Gut und Böse eingreift, begünstigt, allerdings mit dem Risiko,
größere Fehler zu machen.
Journalisten fragen immer wieder: "Wird irgendwann endlich Frieden auf
der Welt herrschen?" Man kann leicht erkennen, daß die Frage unbewußt von
der manichäischen Dichotomie zwischen Gewalt (oder genauer: Krieg) und
Frieden inspiriert ist: Wird das eine schließlich über das andere siegen? Oder
ähnlich: Wird es im Jahr 2000 Gesundheit geben? Natürlich nicht. Es wird
weder im Jahr 2000 noch irgendwann sonst totalen Frieden oder totale Ge-
sundheit geben. Was es geben könnte, wäre ein besseres Gleichgewicht zwi-
schen Frieden und Gewalt, d.h. mehr und besserer Frieden und weniger und
"bessere" (weniger bösartige) Gewalt, also eine Verbesserung der Lage der
Menschen. Und das gleiche gilt für die Gesundheit: Einige Krankheiten wer-
den vielleicht ausgerottet sein, neue könnten sich ausbilden; gerade so, wie
einige Formen von Gewalt ausgerottet und andere neu hinzugekommen sein
dürften. Die Friedensforschung hat die gleiche Aufgabe wie die Gesundheits-
forschung: keinen unrealistischen totalen Sieg des Guten über das Böse her-
beizuführen, aber bessere Bedingungen zu schaffen, weniger Leiden, sei die-
ses nun durch Gewalt oder durch Krankheit bedingt.
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 45

Wie können sich zwei so wogende YinIYang-Prozesse zu einer doppelten


Dialektik verbinden, der taoistischen Version einer aristotelisch-cartesischen
Vierfelder-Tabelle? Nehmen wir als Beispiel zwei sehr häufig auf internatio-
nale Beziehungen angewandte Dichotomien: Nord/Süd und West/Ost, beide
hier interpretiert als dominierend versus dominiert. Das mag dem Laien so
stabil erscheinen wie die Geographie selbst, mit ihren starren, vom Kompaß
inspirierten Kategorien.
Die YinIYang-Metapher lenkt unsere Aufmerksamkeit jedoch sofort auf
die "Unreinheiten" solcher Dichotomien; es gibt im Norden Dominierte, wie
z.B. die Nicht-Weißen, die Frauen und wie Ost-lMitteleuropa und die Nicht-
Russen in der früheren Sowjetunion; und es gibt im Süden Dominierende,
wie weiße Argentinier und Brasilianer, Südafrikaner und Australier. Es gibt
im Westen Dominierte, auch hier die Nicht-Weißen, Frauen und nationale
Minoritäten, und im Osten Dominierende, wie Russen, Han-Chinesen, Japa-
ner. Und innerhalb dieser Kategorien kann man wiederum Umkehrungen fin-
den: das Yin im Yang des Yin usw. Die Logik Chinesischer Kästchen ist hilf-
reich; sie spiegelt die gesellschaftliche Realität viel besser wider als eine
strikte aristotelische Dichotomie. Das sollte uns aber nicht zu einem dogma-
tischen Überlaufen von der aristotelischen zur taoistischen Denkweise verlei-
ten. Es ist viel besser, beide als mögliche Denkformen zu betrachten, oft mit
toten aristotelischen Dichotomien zu beginnen, immer aber nach taoistischer
Lebendigkeit Umschau zu halten.
Der springende Punkt ist der dialektische Prozeß, der von der taoistischen
Logik postuliert wird. Die YinIYang-Postulate, die in diese Denkform als
apodiktisches (synthetisch-apriorisches) Wissen eingebaut sind, werden hier
als Quelle von Hypothesen, als Intuition verstanden, die immer an der entste-
henden empirischen Realität überprüft werden müssen.
Genauer gesagt, die Basishypothese verlangt ein Gleichgewicht, eine Har-
monie des Herrschenden und des Beherrschten oder der dominierenden und
der dominierten Aspekte ihrer Beziehung. Wenn man dieses Gleichgewicht
aber nicht im Auge behält und beschützt, bleibt es nicht stabil und kann sich
umkehren. So könnte man eine langfristige Welt-Tendenz voraussagen, bei
der - nach einer Zeit des Ausgleichs - der Süden den Norden und der Osten
den Westen dominieren würde. Die Geschichte reitet auf Wellen in die Zu-
kunft, auf jede actio folgt eine reactio.
Wenn sie dies aber tut, dann reitet die Welt des Südostens, womit beson-
ders die buddhistisch-konfuzianischen Länder (China und Japan, Korea und
Vietnam) gemeint sind, auf einer doppelten Welle. Kurz gesagt, könnten wir
die Herausforderung der doppelt Dominierenden durch die doppelt Domi-
nierten erwarten, also durch ein erniedrigtes China, durch ein geschlagenes
bzw. nuklearisiertes Japan und durch Korea und Vietnam, die beide vom
Norden geteilt wurden. Und ebenso könnten wir eine Suche nach Gleichge-
wicht erwarten, das vielleicht von denen abgelehnt würde, die es gewohnt
46 Friedenstheorie

waren zu dominieren, und die Wellenbewegung würde weitergehen, bis es in


einer entfernteren Zukunft zur erneuten Wende käme.
Kurz gesagt, mit der taoistischen Logik wird das Leben zu Dichotomien
aufgewirbelt. Die Argumentation läuft darauf hinaus, daß man alle Dicho-
tomien und andere Klassifizierungen auf diese Weise betrachten sollte; ohne
jedoch diese Verfahrensweisen als ein apriorisches Wissen geltend zu ma-
chen, sondern als eine heuristische Methode zweck Hypothesenbildung. Ins-
besondere aber sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Diagonalen einer
Vierfelder-Tabelle richten, da dort zwei, meist unterschiedliche Prozesse ab-
laufen. Wäre man der subtileren taoistischen Logik gefolgt, hätte sich die zu
Zeiten des Kalten Krieges gängige Auffassung vom Nord-Süd- und vom Ost-
West-Konflikt als zwei getrennten Phänomenen als unhaltbar erwiesen, da
sie die inneren Widersprüche in allen Kategorien wie deren vorübergehenden
Charakter ebenso vergißt wie den Nordwest-Südost-Konflikt und die Auswir-
kungen, die ein Konflikt (oder eine Diagonale) auf den anderen (bzw. die an-
dere) haben kann. Nordost und Südwest werden dabei auch zu interessanten
Kategorien, ihr Verhältnis zueinander einbegriffen. Hier gäbe es aber zwei
Flutwellen in entgegengesetzter Richtung, wobei sich der Nordosten als Nor-
den im Rückzug befände und als Osten im Kommen wäre und der Südwesten
als Süden im Kommen wäre und sich als Westen zurückziehen würde, und
wobei beide Prozesse sich teilweise neutralisieren würden.
Die Geopolitik der letzten Zeit scheint solche Perspektiven zu bestätigen
und läßt die Ost-West- und Nord-Süd-Dichotomien als Farce erscheinen.

Theoriethese Nr. 2: Identifiziere Prozesse, Ereignisse und Permanenzen, und


nutze dies, um Brüche aufzuspüren.
Ein Prozeß im Sinne von Veränderung ist normal und natürlich; alles bewegt
sich, fließt, panta rhei. Aber es gibt unterschiedliche Geschwindigkeiten, und
angesichts der menschlichen Lebenserwartung und unserer begrenzten Wahr-
nehmungsmöglichkeiten spielt der Unterschied zwischen der Geschwindig-
keit, in der Berge verwittern und Gletscher sich bewegen, und der Geschwin-
digkeit von elektromagnetischen Wellen eine gewichtige Rolle. Es gibt eine
Bergzeit, eine Gletscherzeit, eine biologische Zeit, es gibt gesellschaftliche
Zeit (Geschichte), menschliche Zeit (Biographie), Elektronenzeit. Wenn ein
in menschlicher Zeit gemessenes Phänom für alle praktischen Zwecke kon-
stant ist, dann können wir es eine Permanenz nennen. Diese Variable ist eine
Konstante als eine Funktion der Zeit.
Es muß aber noch eine weitere Unterscheidung vorgenommen werden.
Veränderungen können sich, an der chronologischen Zeit gemessen, als kon-
tinuierlich oder diskontinuierlich darstellen. Im Falle einer kontinuierlichen
Veränderung ist die Veränderung umso geringer, je kleiner der Zeitabschnitt
ist; bei einer diskontinuierlichen Veränderung wird die Veränderung nicht
mit sich verkleinernden Zeitabschnitten geringer. Die Veränderung ent-
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 47

weicht, sie ist "sprunghaft". Dieser Sprung stellt sich als ein Ereignis dar.
Diese Variable ist eine diskontinuierliche Funktion der Zeit.
Es geht also um Ereignisse, Prozesse (im Sinne einer kontinuierlichen Funk-
tion der Zeit) und Permanenzen. Alle drei beziehen sich auf menschliche und
gesellschaftliche Zeit; in der Annales- bzw. Braudel- Tradition der neueren
französischen Historiographie werden sie histoire evenementielle, histoire
conjoncturelle und la longue duree genannt. All das wird aber interessanter,
wenn wir diese drei Modi temporaler Phänomene kombinieren; gerade dies
müssen wir tun, wollen wir eine Wirklichkeit (bzw. über diese) reflektieren,
in der sich alle Bestandteile bewegen, aber auf jeweils verschiedene Art und
Weise.

Tabelle 1.2: Modi der Veränderung, zwei Variablen


Ereignisse Prozesse Permanenzen
Ereignisse actio-reactio sich beschleunigend Freisetzen instabiler
Gleichgewichte;
Ereignis-Dialog langsamer werdend Ereignisse
Prozesse steigernd, synergistisch Brüche, die Ereignisse
dämpfend +,0, - produzieren
Permanenzen Ereignisse dämpfend, Ko-Existenz
dämpfend linear bis zyklisch

Wie wirken sich Ereignisse (schnell), Prozesse (langsam) und Permanenzen


(sehr langsam) auf Ereignisse, Prozesse und Permanenzen im selben Systems
aus? Das hängt selbstverständlich ab von Grad und Art der Verbindung zwi-
schen den Phänomenen, einige Hypothesen sind aber in der Tabelle 1.2 dar-
gestellt.
Beginnen wir mit der Hauptdiagonale der Phänomene gleicher Art, die an-
hebt mit zwei Ereignisgruppen, die in zwei Teilen oder "Ecken" des Systems
entstanden sind. Da diese, topologisch betrachtet, menschliches Handeln im
allgemeinen und menschliches Sprechen im besonderen widerspiegeln - beides
diskontinuierliche Phänomene -, bestünde eine Darstellungsform derselben in
einem handlungs- oder einem sprachbezogenen Dialog, jeweils als actio-re-
actio. Die bei den mögen nicht in Beziehung zueinander stehen, betrachtet man
sie aber als aufeinander bezogen, wird man neue Aspekte ans Licht bringen.
Das gleiche gilt für zwei Prozesse: Die Synergie mag Null sein, man kann
aber dennoch die Hypothese in Erwägung ziehen und an der entstehenden
Wirklichkeit prüfen, daß sie sich gegenseitig verstärken oder dämpfen (oder
auch einen verstärken und den anderen dämpfen) könnten. Für zwei Perma-
nenzen aber kann man sich schlecht etwas anderes als Koexistenz vorstellen.
Hier ist etwas Konstantes und dort ist etwas Konstantes, das ist es dann; man
denke an Geographie und Rasse, gemessen in menschlicher Zeit.
48 Friedenstheorie

Es wird alles lebendiger, wenn wir uns mit Phänomenen beschäftigen, die
in verschiedenen Modi fortschreiten. Ereignisse können stark auf Prozesse
und Permanenzen einwirken. Wenn sie zum richtigen Zeitpunkt beginnen,
können sie prozyklisch und antizyklisch sein und die Prozesse beschleunigen
oder verlangsamen. Sie können auf die Permanenzen sogar noch stärker ein-
wirken, wie der sprichwörtliche Inuit, der einen Eisberg in instabilem Gleich-
gewicht in den Ozean beförderte.
Am interessantesten ist der Einfluß, den ein Prozeß auf eine Permanenz
ausüben kann. Wenn sich etwas nach und nach (kontinuierlich) verändert und
sich etwas anderes überhaupt nicht verändert und die zwei verbunden sind,
muß früher oder später etwas geschehen. Eines von beiden muß weichen.
Eine weichende Permanenz nennt man einen Bruch (frz. rupture). Ein
Beispiel ist der sprichwörtliche Schnee, der sich auf dem Zweig eines Kirsch-
baumes sammelt. Normalerweise fällt der Schnee wegen der gerundeten, rut-
schigen Oberfläche des Zweiges herunter. Wenn der Schnee aber naß ist, ist
er auch klebrig und haftet auf dem Zweig, dieser neigt sich und bietet dem
Schnee Gelegenheit herabzugleiten; der Zweig kann aber auch, wenn er zu
starr ist, brechen. Hier beginnen die Kriegskünste.
Das Bild kann auch als Illustration dessen dienen, wie eine Permanenz auf
einen Prozeß einwirkt: indem sie nämlich dessen Linearität verneint. Die li-
neare Akkumulation (von Schnee auf dem Zweig) erreicht ein Maximum (je
nach vorhandenem Platz), sie wird durchkreuzt und der Schnee fällt herunter,
schmilzt, verdunstet, kehrt wieder, um einen zweiten, dritten, vierten Versuch
zu machen. Ein lineares Phänomen wird zyklisch, d.h. es wird gedämpft; das
ist wichtig, da eine finite Welt für unbegrenzte Linearität keinen Platz haben
kann. Entweder Bruch oder Zyklizität oder beides.
Das Bruch-Prinzip, auf das oben hingewiesen wurde, ist auch aus der He-
gelschen Dialektik bekannt als Prinzip des Übergangs von der Quantität (Ak-
kumulation) zur Qualität (der Sprung, das Ereignis, der Bruch). Deshalb soll-
ten Friedensbewegungen z.B. nie aufgeben; der Bruch einiger Gewaltstruk-
turen wird früher oder später kommen. Andererseits müssen sie sich auf ei-
nen längeren Zeitraum, la longue duree, gefaßt machen, wie die Tiefenpolitik
ganz allgemein.
Wie wirken sich Prozesse und Permanenzen auf Ereignisse aus? Perma-
nenzen vermindern deren Wirkung. Führe eine Lehrplanreform durch oder
erhöhe die Lehrergehälter in einem Erziehungssystem, das von einem sich
nicht verändernden, stark antipädagogischen Mediensystem umgeben ist, und
paß auf, was passiert. Es bestehen gute Aussichten, daß die Permanenzen das
Ereignis verhindern - eine Interpretation des Mechanismus, der dem zyni-
schen, jedoch sehr realistischen französischen plus ra change, plus c' est la
meme chose zugrundeliegt.
Prozesse können sich auf Ereignisse jedoch anders auswirken. Sie können,
von hinten kommend sozusagen, seine Auswirkungen steigern, sie können
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 49

diese, von vorne gegensteuernd, dämpfen - gerade so, wie Ereignisse auf
Prozesse einwirken. Dieses Phänomen ist Politikern als das Prinzip der reifen
Zeit oder des richtigen timing wohlbekannt, d.h. man läßt das Ereignis auf
dem richtigen Prozeß sozusagen mitschwimmen. Oder der Prozeß läuft mit
etwas Glück von ganz allein. So oder so können Synergieeffekte dann be-
wußt herbeigeführt werden.

Theoriethese Nr. 3: Theorien gründen eher auf Struktur- und Mustererken-


nung bzw. auf Isomorphismus als auf einzelnen Variablen.
Stellt man die Diachronie - Phänomene im Ablauf der Zeit - in den Mittel-
punkt, sollte man dabei nicht vergessen, daß es ebenso wichtig ist, sich auf
die Synchronie - Phänomene in der Zeit, gleicher Zeit - zu konzentrieren.
Wenn die mathematische Sprache für diachrone Phänomene eine Zeitjolge
ist, die als (miteinander verkettete) Trajektorien dargestellt wird, dann wäre
die mathematische Sprache für synchrone Phänomene geometrisch. Das über-
greifende Konzept ist eine Struktur, S, definiert als eine Menge von Elemen-
ten, E, zusammen mit einer Menge von Relationen, R, die diese Elemente in
Beziehung zueinander setzt; S = S(E, R). Die Relationen kann man in syn-
chrone und diachrone aufteilen und damit beide Perspektiven berücksichti-
gen.
Ein anderes Wort für Struktur ist Muster. Systeme, die die gleiche Struktur
besitzen, nach dem gleichen Muster aufgebaut sind, sind isomorph. Hierbei
muß geprüft werden, ob die korrespondierenden Elemente der beiden Syste-
me durch korrespondierende Beziehungen miteinander in Verbindung stehen,
wie das Territorium und die Karte. Im wirklichen Leben sind Isomorphien
nie vollkommen, im Gegensatz zur Reinheit (aber auch Sterilität) der Ma-
thematik, sondern approximativ, wie Metaphern.

Theoriethese Nr. 4: Ziehe poly- und pantheistische Theorien den mono- und
atheistischen Theorien vor.
In jedem Theorietypus wird etwas, das explicandum, durch etwas anderes,
das explicans, erklärt. Die Beziehung ist eine logische und wird durch
Schlußfolgerungen hergestellt. Wie begründen wir den Satz: "Sokrates ist
sterblich"? Weil "alle Menschen sterblich sind" (Obersatz) und "Sokrates ein
Mensch ist" (Untersatz), ist Sokrates sterblich (der Syllogismus im Modus
barbara). Wie erklären wir den Frieden unter den Nordischen Ländern? Mit
dem "hohen Niveau der gerechten Symbiose" und dem "hohen Niveau der
Konfliktlösungsmechanismen"; beides sind Friedensmechanismen, und die
Nordischen Länder verfügen über sie.
Das explicans besitzt eine gewisse erklärerische Kraft. Im Kern des expli-
cans finden wir Axiome, Glaubensgrundsätze, die keiner weiteren Erklärung
bedürfen. Im allgemeinen sprechen wir hier von logischen Verkettungen, bei
denen das explicans eines bestimmten Kontextes das explicandum eines an-
50 Friedenstheorie

deren Kontextes ist. Ein Axiom hat kein explicans, sondern dient als seine
eigene Rechtfertigung. Es ist eher Selbst- als sich-selbst-erklärend.
Das aber verleiht Axiomen gottähnliche Qualitäten. Sie sind eigenständig
(in sich geschlossen), sind ihre eigene Erklärung, wie Gott seine/ihre eigene
Ursache ist. Sie sind allwissend in der Bedeutung, daß sie alles Wissen ent-
halten, auch wenn dieses nur teilweise enthüllt wird. Sie sind allmächtig und
allgegenwärtig, sind in der Lage, überall alles zu erklären. Sie strahlen Sinn
aus. Wie ein transzendenter Gott von der Spitze der Menschheit, agieren die
Axiome von der Spitze der axiomatischen Pyramide, dem deduktiven Sy-
stem, aus. Auch der bescheidenste kleine empirische Fund bekommt von den
Axiomen eine gewisse Bedeutung mitgeteilt und hat seinen Platz im großen
Plan, so wie jeder kleine Mensch im Plan Gottes seinen Platz hat.
Hinter jeder Theorie steckt ein Akt des Glaubens, aus einem einfachen
Grund. Auch wenn das explicandum logisch aus dem explicans folgt und
daraus, buchstäblich, einen Grund für seine empirische Existenz ableitet, ein
Zertifikat sozusagen, das es ihm gestattet, auf der Welt zu sein, muß das Ge-
genteil nicht unbedingt auch gelten. Aus "P impliziert Q" folgt nicht "Q
impliziert P" (das Umgekehrte), sondern nur "Nicht-Q impliziert Nicht-P"
(das Kontra-Positive). Fruchtbarkeit und Brauchbarkeit als explicans ergeben
noch keinen Existenz- oder Wahrheitsbeweis; das gilt für Axiome wie für
Gott (Götter).
Alternative Erklärungen kann es immer geben; deshalb ist dieser Text auch
"Friedensstudien" und nicht "Friedensstudie" überschrieben. Das spricht eher
für ein polytheistisches als für ein monotheistisches Konzept der Theoriebil-
dung in unserem Fach, in dem erklärende Kraft bzw. Aufklärung aus einer
Vielzahl von Quellen, nicht nur aus einer einzigen, gewonnen werden sollten.
Es sind viele Modelle denkbar: einen Gott/eine Theorie für dieses, eine(n)
für jenes, oder gar mehrere Götter/Theorien für das gleiche Phänomen. Aber
hieße das nicht, die Dinge übererklären? Und wenn schon. Wenn die Nordi-
sche Friedensgemeinschaft sowohl vermittels einer gerechten Symbiose (wenn
man diese "Interdependenz" nennt, sollte man zumindest "horizontale" voran-
stellen) wie vermittels einer konfliktverarbeitenden Maschinerie erklärt wer-
den kann, dann hebt man damit zwei Faktoren hervor, die verschiedene, sich
aber wenigstens teilweise überlappende Aspekte des Systems erklären kön-
nen. Oder zwei verschiedene Erklärungen ein und derselben Sache geben
können. Eine Theorie schließt eine andere nicht aus, außer in der Vorstellung
des Monotheisten.
Was würde dann dem Pantheismus und dem Atheismus entsprechen? Der
Pantheismus ist alles durchdringend: Gott ist nicht über allem, sondern im-
manent, in allem. Übersetzt: Der Sinn liegt im explicandum selbst, das, was
erklärt werden soll, ist seine eigene Erklärung - Sinn nicht von oben herlei-
tend, sondern aus sich selbst beziehend. Das läßt sich illustrieren durch das
buddhistische Rad, das Einsichten verbindet, keiner den Vorrang gibt und
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 51

keine vernachlässigt: Der Sinn liegt in dem Feld, das durch alle Einsichten
gewoben wird. Das entsprechende Symbol des monotheistischen Erklärungs-
modells wäre die Pyramide oder das Dreieck.
Der Atheismus verkündet, daß es keinen Gott gibt. Übersetzt: Es gibt kei-
nen Sinn. Alle Einsichten sind verstreute, nur für sich bestehende Funde, die
in keinem inneren Zusammenhang stehen. Es gibt keine Erklärung, nichts,
das erklärt werden müßte. In den Sozialwissenschaften würde das dem "Bar-
fuß-Empirismus" entsprechen; Hol' dir deine Funde aus dem Computer, füh-
re sie einzeln auf, aber klassifiziere sie nicht einmal, da das bereits ein unzu-
lässiges Licht verbreitet.
Man sollte die bei den extremen dieser vier Standpunkte ablehnen. Die
Vorstellung, es gäbe eine Theorie, die Theorie, ist eine offene Einladung zu
kultureller Gewalt; ist eine Mißachtung aller anderen Wahrheiten, ein Ver-
such, die Wirklichkeit in eine einzige Wahrheit hineinzuzwängen und alle
anderen als "nicht-westlich", "nicht-christlich", "nicht-marxistisch" usw. in
einen Topf zu werfen. Das führt fast zwangsläufig zu einer Schule, zu der
Schule, deren Leiter ein Prophet ist. Da diese Schule oder Kirche den einzig
wahren Gott, einzigartig und weltumfassend, repräsentiert, ist strukturelle
Gewalt in einer solchen Organisation unvermeidlich. Monoprophetismus ist
ein fast zwangsläufiger Begleiter des Monotheismus, obwohl der Judaismus
ein interessantes Beispiel dafür ist, daß Monotheismus mit Polyprophetismus
vereinbar ist, weil jeder andere Aspekte der Wahrheit sieht. Daher der hoch-
gradig dialogische Talmud!
Aber auch die Vorstellung, daß es keinen Sinn gibt, keine Wahrheit und
keine Aufklärung, ist mit der Friedensforschung unvereinbar. Losgelöste em-
pirische Funde, denen jeglicher Sinn abgesprochen wird, können faszinierend
sein; was höchstwahrscheinlich daran liegt, daß sie ohne mitgelieferte Erklä-
rung auftreten und deshalb die LeserlBetrachter einladen, sie auf seine/ihre
eigene Weise zu interpretieren. Mit anderen Worten, die Faszination entsteht
nicht durch den Mangel an Sinn, sondern durch den Akt der Sinnherstellung,
durch die Möglichkeit, toten Daten Leben einzuhauchen.
Für die Friedensforschung ist die Welt nicht neutral; sie steckt voller Be-
deutung und enthält ein Gefälle von der Gewalt zum Frieden; oder, um es
dramatischer zu formulieren, vom Tod zum Leben, auch wenn die Welt größ-
tenteils aus adiaphora, neutralen Tatbeständen, besteht.
Es bleiben uns also die polytheistische und die pantheistische Option - mit
theoretischem Pluralismus und geteiltem Sinn. Zwischen diesen beiden müs-
sen wir nicht wählen, da sie sich ziemlich gut ergänzen.
52 Friedenstheorie

1.7 Über den intellektuellen Stil von Friedensforschung


In gewisser Hinsicht soll der intellektuelle Stil alles oben Gesagte zusammen-
fassen und in einen kohärenten Rahmen bringen. Man könnte einen intellek-
tuellen Stil darstellen anhand seiner jeweiligen Betonung von Paradigmen
(Grundlagen), Daten (Beschreibungen dessen, was in der Welt ist), Theorien
(Erklärungen, weshalb etwas in der Welt ist), Kommentar (was sagen andere
darüber; die talmudische Tradition), Kritik (Betrachtung der gegenwärtigen
Wirklichkeit im Lichte der Friedenswerte), Konstruktivismus (Platz schaffen
für eine lebensfähige und erreichbare Zukunft), Erziehung (mehr Menschen
zum Studium und zur Erforschung des Friedens bringen), Handeln (die Um-
setzung all dieser Punkte in eine friedensrelevante Praxis).16Die Vertreter des
sogenannten angelsächsichen Stils legen besonderen Wert auf die Daten, die
Vertreter des teutonischen wie des gallischen Stils auf Theorie und Paradig-
men und die des japanischen Stils auf Kommentare, womit sich aber auch,
mehr zum Zeitvertreib, die anderen beschäftigen (zusätzlich werden noch der
jüdische, der islamische, der indische und der chinesische Stil untersucht).
Alle engagieren sich in der Erziehung, wahrscheinlich, weil sie diesen Preis
zahlen müssen, um in einer Universität Anstellung zu finden. Alle sind dar-
auf ausgerichtet, sich der Kritik, des Konstruktivismus und des Handeins zu
enthalten, wenn sie nicht zufällig in einschlägigen angewandten Wissenschaf-
ten arbeiten. Tun sie dies nicht, müssen sie sich den Weg dorthin freikämp-
fen, was keine einfache Aufgabe ist.
Was folgt aus dem letzten Absatz in bezug auf die gerade genannten acht
Punkte? Ganz allgemein gesagt, sollte man das intellektuelle Profil so aus-
dehnen, daß alle acht behandelt werden. Die gängige künstliche Wertbarriere
muß durchbrochen werden: sich mit Daten, Theorie und Erziehung von 9 bis
17 Uhr zu beschäftigen und alles, was irgendwie nach Werten riecht, von 17
bis 9 Uhr morgens zu betreiben. Es geht also um den Versuch, ein richtiger
Friedensforscher zu sein.
Im Prinzip ist das ein Plädoyer für Eklektizismus, für die kreative Verbin-
dung verschiedener Stile. Das wird sich vor allem bei der Konstruktion von
Theorien bemerkbar machen, die wiederum eine Funktion eines umfassenden
Wirklichkeitsverständnisses ist.
Zwei Standpunkte lassen sich wie folgt beschreiben. Der erste, eher okzi-
dentale: Die Wirklichkeit ist atomistisch, ihre Teile sind voneinander trenn-
bar und können einzeln untersucht werden; Behauptungen, die das Wahrge-
nommene widerspiegeln, können in deduktiven Theorien formuliert und ver-
bunden werden. Der zweite, eher orientalische: Die Wirklichkeit ist ganz-
heitlich, ihre Teile können nur jeweils als Teil eines Ganzen untersucht wer-

16 Siehe hierzu Johan Galtung: Methodology and Development, Kopenhagen 1988,


Kap. 1, sowie ders.: Essays in Peace Research, Vol. VI, Kopenhagen 1988, Kap. 14.
Die Friedensforschung: eine epistemologische Grundlage 53

den; in diesem System wird es Spannungen geben, wobei YinIYang eine


Form ist, Widersprüchen Ausdruck zu verleihen.
Die Friedensforschung vertritt zwei explizit holistische Standpunkte, einen
die Seite der Einheit, einen die der Variablen betreffend. So ist es nicht sinn-
voll, Länder (oder andere Weltakteure) so zu untersuchen, als bestünden zwi-
schen ihnen (und anderen Akteuren) keine Konflikt- und Kooperationsbin-
dungen. Friedensstudien sind nicht nur zwischenstaatlich und international,
sondern global ausgerichtet und dies in dem Sinne, daß sie versuchen, das
gesamte Weltsystem zu erfassen. Und es ist auch nicht sinnvoll, das System
nur hinsichtlich seiner militärischen oder politischen, seiner ökonomischen
oder kulturellen Variablen zu untersuchen: Alles muß berücksichtigt werden.
Nicht nur interdisziplinär, sondern holistisch; man muß versuchen, das dichte
Geflecht dieses Ganzen (holon)zu verstehen.
Andererseits kann auch die atomistisch-deduktive Kombination fruchtbar
sein, vielleicht als erste Annäherung (wie auch die holistisch-deduktive und
die atomistisch-dialektische Kombination). Deshalb werden wir hier alle Kom-
binationen innerhalb eines Diskurses darstellen und mit dem Ziel untersu-
chen, aus ihnen mögliche Einsichten zu gewinnen. Das ist begründbar und
vernünftig.
Noch einige Kommentare zur Gewichtung. Die Paradigmen der Friedens-
forschung sind von überragender Bedeutung. Konkret ist damit gemeint, daß
der Begriff "Frieden" selbst immer wieder untersucht werden muß, d.h. die
Diskurse über diesen Begriff müssen auf Über- und Unterbewertungen hin
geprüft werden; wichtig ist es auch festzustellen, ob Diskurse darüber unter-
drückt werden. Wir müssen Gebrauch von der Vielfalt der Bedeutungen von
"Frieden" in allen Ecken der Geschichte und Geographie machen und da-
durch den transnationalen Charakter von Friedensuntersuchungen ausschöp-
fen.
Was die Daten betrifft, so könnte man sagen, das transdisziplinäre Wesen
der Friedensforschung erlaube es, in Nachbardisziplinen gesammelte Daten
zu nutzen. Bis zu einem gewissen Punkt ist das auch möglich; über diesen
Punkt hinaus benötigt man Daten zur Verifizierung der triadischen Spirale
(vgl. o. Tab. 1.1 in Kap. 1.3).
Die Theorien-Bildung (Plural!) ist eine nie endende Unternehmung und ab-
solut unverzichtbar für diese Spirale. Kommentare dagegen sind weniger wich-
tig. Es spricht einiges dafür, vorhandenes Wissen nicht zu übernehmen, ganz
unvoreingenommen loszulegen und die einschlägige Literatur erst nach eigenen
Bemühungen zu konsultieren, um sich von ihr nicht zu sehr leiten zu lassen.
Kritik und Konstruktivismus sind für die Friedensforschung von ebenso
grundlegender Bedeutung wie die Empirie, daher sollte beiden ebenso große
Aufmerksamkeit zuteil werden wie dieser. Daß das der Friedenserziehung
dient, muß nicht eigens erwähnt werden. Der kritische Punkt aber ist das auf
Fähigkeiten gegründete Handeln für den Frieden.
54 Friedenstheorie

Diesbetreffend sind die geeignetsten Rollenvorbilder nicht Ingenieure und


Architekten, sondern Ärzte - aus Gründen, die eingehender untersucht wer-
den sollen. Zu diesem Zweck brauchen wir Paradigmen, solche für das Han-
deln mit einbegriffen. Ein Ausgangspunkt ist das Schema von Diagnose-
Prognose-Therapie, dem wir im nächsten Kapitel wieder begegnen werden.
Friedensstudien bedürfen einer Epistemologie, die die Welt als flexibel
betrachtet und entsprechend flexible Bilder derselben produziert.
2 Die Friedensforschung: einige grundlegende
Paradigmen

2.1 Noch einmal: das Diagnose - Prognose - Therapie -


Dreieck
Diese Ausdrucksweise stammt ganz offensichtlich aus der Medizin, einer an-
gewandten Wissenschaft, die so einige Jahrhunderte gebraucht hat, um von
der Scylla der Unterschätzung zur Charybdis der Überschätzung zu gelangen.
Die Friedensforschung kann aus allen drei Stadien viel lernen. Die Nicht-
Anerkennung nahm zwei grundlegende Formen an, die wir leicht im obigen
analytischen Rahmen verorten können: Das Abgelehnte, die Krankheit, sollte
eigentlich erwünscht sein, da dahinter ein Sinn steckt, nämlich Gottes Plan,
der schwer zu begreifen ist - das Leiden aber kann einen dahin bringen; und
schierer Dogmatismus, z.B. derart, den Aderlaß für eine Reihe von Krankhei-
ten zu verordnen und, ohne das tatsächlich zu prüfen, zu behaupten, daß das
hilft, oder sich mit den sehr niedrigen Erfolgsquoten abzufinden, da sie die
einzig erreichbaren seien. Darüber hinaus hat man es auch nicht geschafft,
alternative, miteinander konkurrierende Behandlungsweisen neuartiger, auf
neue Daten gestützter, Realitäten, zu erforschen und den spiralförmigen Drei-
ecksprozeß, der Empirie, Kritik und Konstruktivismus nutzt, als unbegrenzt
fruchtbar zu erkennen.
Damit sind wir schon am anderen Ende: bei einem Beruf, der möglicher-
weise ebenso dogmatisch ist wie die, die er ersetzte, ein leichtfertiges Opfer
der eigenen Erfolge, das sich neuen Ansätzen verschließt und sich an die
"Schulmedizin" klammert. Die Geschichte ist aufschlußreich und entmuti-
gend. Warum sollte andererseits irgendeiner bestimmten Gruppe oder irgend-
einer speziellen Betrachtungsweise ewiges Leben gewährt werden? Oder gar
die Reinkarnation? Warum nicht eine Wiedergeburt in anderer Form, geleitet
vom gleichen Wunsch nach Verbesserung der menschlichen Lage? Immerhin
gehören diskontinuierliche Brüche mit der Vergangenheit, die darin gründen,
daß alte Paradigmen keine neuen Daten, insbesondere aber keine neuen
Theorien aufnehmen können, zum normalen Prozeß der Wissenschaft, wie so
vieles andere auch.
Der im Entstehen begriffene Beruf des Friedensarbeiters klopft seit einiger
Zeit an die Tür solcher wissenschaftlichen Disziplinen, die im wesentlichen
den Interessen der Herrschenden in den Nationalstaaten dienen, des Interna-
56 Friedenstheorie

tionalen Rechts und der Internationalen Beziehungen, und verkündet: Eure


Zeit ist vorbei! Es spricht vieles gegen Sicherheitsstudien und Studien zum
Internationalen Recht mit ihrem ritualisierten Glauben an "nationale Interes-
sen" und ein "Gleichgewicht der Mächte" als Allheilmittel zur Machtregulie-
rung im Staatensystem, trotz des notorischen Blutvergießens im Gefolge je-
der Machtakkumulation. Caveat: Auch an die Tür der Friedensforschung
wird man klopfen, wenn sie sich anderen gegenüber verschließt...
Kommen wir zurück zum Diagnose-Prognose-Therapie-Dreieck, von dem
sich doch eine Menge lernen läßt. Es spiegelt das Daten-Theorie-Werte-
Dreieck wider. Die Diagnose ist eine auf Daten basierende Analyse, wobei
uns ein Teil der Daten als "Symptome", ein anderer als "Anamnese", d.h. als
Gesundheits-/Krankheitsgeschichte eines Patienten mit Kontext-Informatio-
nen, bekannt ist. Die Prognose ist die auf Theorie beruhende Voraussage des
wahrscheinlichen Verlaufs einer Krankheit unter Berücksichtigung der Kon-
textvariablen. Und Therapie ist auf Werten und Theorie basierende Interven-
tion, auf der Grundlage einer Verallgemeinerung anderer Fälle und geleitet
von Werten negativer (symptomfrei werden) und positiver Gesundheit (Ab-
wehrkräfte aufbauen).
Die diagnostische Aufgabe besteht darin, den Patienten oder, genauer aus-
gedrückt, einige Aspekte desselben zu vermessen mithilfe einer Gruppe von
Klassifizierungen, die man Krankheiten nennt und die in Texten der Pathologie
beschrieben sind. Es gibt weitere Unterteilungen, wie z.B. die Kategorisierung
von Schlaganfällen nach dem betroffenen Blutgefäß. Mit der Entwicklung der
Medizin als Wissenschaft wird das System zur Klassifizierung von Krankhei-
ten immer differenzierter; es gibt mehr Beschreibungen (connotata) und we-
niger Krankheiten (denotata) je Gruppe und Unter-(Unter-Unter-)Gruppe.
Das Ziel ist ein System, das so aufgebaut ist, daß man den Patienten, die
als an der gleichen Krankheit leidend klassifiziert werden, auch die gleiche
Prognose stellt, ceteris paribus, und die gleiche Therapie verordnet, auch
wieder ceteris paribus. Das heißt, daß die drei Bereiche Diagnose, D, Pro-
gnose, P, und Therapie, T, einander adjustiert werden müssen. Eine Ände-
rung in einem Bereich, z.B. die Entdeckung einer neuen Therapie, erfordert
Anpassungen in D und P, durch die die Bedingungen für die Anwendung oder
die Rechtfertigung der Therapie spezifiziert werden. Folglich gibt es immer die
Möglichkeit einer neuen Therapie, die nach einer neuen Diagnose sucht, wenn
die finanziellen und prestigemäßigen Gewinne aus der Therapie beträchtlich
sind und diese von einer düsteren Prognose gestützt wird - eine These, die der
Friedensforschung wohlbekannt ist (ein neues Waffensystem auf der Suche
nach einer Strategie auf der Suche nach einem Konflikt mit einer schlechten
Prognose). Die Dialektik des D-P-T-Dreiecks ist sehr dynamisch!
Eine Prognose ist ein Kurvenverlauf für kommende Zeiten (der Teil, der
Vergangenem nachspürt, ist die Anamnese), der die beste mögliche Ein-
schätzung des Krankheits-IGesundheitszustandes eines Patienten liefert. Eine
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 57

Grauzone zwischen Krankheit und Gesundheit ergibt einen Nullbereich auf


der Ordinate, wobei die Grenze zwischen akzeptablen und inakzeptablen Ni-
veaus von Krankheit darunter und die Grenze zwischen inakzeptablen und
akzeptablen Ebenen von Gesundheit darüber liegt. Auf der Abszisse bedeutet
t =0: Jetzt. Je ernster der Fall, desto weiter unten im inakzeptablen Krank-
heitsbereich beginnt die Kurve. Ein nach unten weisender oder stabiler Kur-
venverlauf erfordert ein Eingreifen mit dem Ziel der Heilung; und dies umso
schneller, je tiefer der Ausgangspunkt und je steiler die Neigung der Kurve.
Der Grund: es gibt eine Untergrenze, genannt Tod, Erlöschen. Wie bei der
Gewalt. Aber die Gesundheit kennt keine Grenzen - wie auch der Frieden
nicht.
Zielsetzung einer Intervention, des Selbst (des Patienten) oder Anderer
(Heiler), ist es, die Kurve aufwärts zu lenken:
das beste Ergebnis: in den Bereich "annehmbarer Gesundheit" hinein - nicht
nur die Krankheit heilen, sondern daraus mit einem Überschuß an Wohlbe-
finden, positiver Gesundheit, hervorgehen;
das zweitbeste: in den Bereich der "nicht akzeptablen Gesundheit" hinein -
der Patient ist symptomfrei, aber geht daraus ohne Überschuß an Wohlbefin-
den hervor;
das drittbeste: in den Bereich "akzeptabler Krankheit" hinein - der Patient
hat eine chronische, langwierige, aber annehmbare Krankheit;
das viertbeste: aus der Todeszone hinaus - der Patient hat eine nicht akzep-
table Krankheit, ist aber am Leben: Verlängerung des Lebens.
Alle vier Ergebnisse kann man, in unterschiedlichem Maße, als "Erfolge" be-
zeichnen, wobei für den vierten Fall als Standardkriterium die fünfjährige
Todesvermeidung gilt.
Dem folgenden liegt eine andere Einteilung in vier Kurvenverläufe zu-
grunde:
Selbst-Heilung: die Kurve geht von selbst nach oben, weil Körper, Psyche
und Geist des Menschen die Fähigkeit der Selbstheilung besitzen;
Fremdheilung: Es wird von außen eingegriffen, die Selbstheilungsfähigkeit
des Patienten als unzureichend empfunden;
der autistische Fall: die Kurve reagiert nicht auf eigene oder fremde Ein-
griffe; bleibt stabil oder neigt sich nach unten. Und schließlich:
der letale Fall: Die Kurve neigt sich von selbst nach unten, ungeachtet der
Selbst- oder Fremdheilungsversuche und erreicht die unterste Linie.
Selbstverständlich werden wir alle durch das Altern letzten Endes diese Linie
erreichen. Diese ganze Denkweise hat eine Reihe von Schwachpunkten. Es
58 Friedenstheorie

gibt für Krankheiten ein Klassifizierungssystem, K, aber keines für verschie-


dene Zustände des Wohlergehens. Warum gibt es "Gesundheit" nur im Sin-
gular, Krankheit aber auch im Plural? Wieso kann ein Mensch an verschie-
denen Krankheiten leiden, sich aber nur einer Gesundheit erfreuen? Weshalb
eine solche, im übrigen dem Verhältnis von Krieg und Frieden entsprechen-
de, Asymmetrie?
Wie alle korrekten Klassifizierungen will die Vierfelder-Aufteilung in
Krankheit/Gesundheit und akzeptabel/nicht akzeptabel erschöpfend und
wechselseitig ausschließend sein. Das Problem besteht darin, daß es auch in
einem Zustand von Wohlbefinden Krankheit (ein Gefühl von Überheblich-
keit? Nachlässigkeit? Unempfindlichkeit gegenüber Krankheiten sowohl des
Selbst als auch der anderen?) und Wohlbefinden im Krankheitszustand (die
Negation des Obigen und die seelischen Werte des Leidens, des Erprobens
der äußeren und inneren Grenzen des menschlichen Daseins) geben kann.
Dazu kommt das eigentliche Problem: Das D-P-T-Dreieck steht über dem
konkreten Leben mit seiner ungeheuren Komplexität und seinen vielfältigen
Kontexten. Der Ausgangspunkt ist nicht die Krankheit, sondern in der Hu-
manmedizin ein konkretes menschliches Wesen, das sich in einem konkreten
Kontext befindet. Wenn man diesen Menschen als Patienten definiert,
schreibt man ihm ein bestimmtes Rollenverhalten vor, bei dem der Patient
die Heilung durch Andere akzeptiert; man entfernt ihn aus seinem normalen
gesellschaftlichen Zusammenhang und steckt ihn in einen Gesundheitssy-
stemzusammenhang, wobei ersterer als wenig und letzterer als sehr relevant
betrachtet wird.
Dieser Abstraktionsprozeß läuft dann so weiter, daß der Patient, nach wie
vor ein Mensch, zum Fall wird, erfaßt durch Anamnese, Diagnose, Prognose
und empfohlener Therapie. Verallgemeinerung ist nur auf der Grundlage von
Abstraktion möglich, d.h. das Erfassen jenes Menschen durch ein Element
von D, das wiederum durch Elemente von P und T erfaßt wird. Die Abstrak-
tionNerallgemeinerung ist unverzichtbar, wenn das gesamte System funk-
tionieren soll. Es ist nur die Frage, wieviel an menschlich/gesellschaftlich
Belangvollem und an in bezug auf Krankheit/Gesundheit Bedeutungsvollem
im Verlauf dieses Prozesses verlorengeht.
Ein Problem kann man jedoch innerhalb dieses Paradigmas leicht lösen.
Man geht nicht von einer einwertigen Vermessung aus, d.h. davon, daß ein
Patient nur eine Krankheit hat, daß es für eine Krankheit nur eine Diagnose
gibt, daß es für eine Krankheits-/Prognosekombination nur eine Therapie
gibt. Der Patient kann an mehr als einer Krankheit leiden, mit wichtigen syner-
getischen Auswirkungen. Das ist bei alten Menschen oft der Fall, die chro-
nische und akute Krankheiten haben können. Im Alter zeigt sich oft eine Ak-
kumulation von mehreren Krankheiten, bei denen keine einzelne die Krank-
heit ist, die Wurzel eines Ursachen baumes, die sich zu anderen Krankheiten
verzweigt. Und selbst, wenn nur eine Krankheit erkannt wird, sind mehrere
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 59

Prognosen möglich, d.h. die Zukunft ist unsicher. Selbstverständlich können


auch mehrere Therapien verordnet werden, nicht nur für jeweils verschiedene
Krankheiten, sondern auch für die einzelne Krankheit, sozusagen "um si-
cherzugehen". Hinzu kommt schließlich noch die Unterscheidung zwischen
positiver und negativer Gesundheit.
Aus diesem Paradigma können Friedensforscher viel lernen. Um nur einen
Punkt festzuhalten: Man sollte sich Diagnose, Prognose und Therapie im Plu-
ral denken und sie aufeinander abstimmen. Viele Überlegungen, Reden und
Handlungen auf dem Gebiet von Gewalt und Frieden diagnostizieren Gewalt,
aber nur direkte und physische und vor allem die akuten Fälle. Die Prognose
lautet, daß Gewalt wiederholt werden wird, wenn man nichts dagegen tut, und
die Therapie besteht entweder im Unfähigmachen des Körper (durch Kastrati-
on, Lobotomie, Chemotherapie oder im Extremfall sogar durch Eliminierung)
oder in der Bestrafung nach einem gerichtlichen Urteil, zur individuellen und/
oder generellen Prävention, die oft so vollzogen wird, daß durch Exil oder Ein-
kerkerung der Zweck des Unschädlichrnachens erreicht wird.
Ein wahrlich simples Schema: eine Krankheit, eine Prognose, zwei The-
rapien. Die folkloristischen Aphorismen für die beiden Therapien lauten: Ge-
walt ist die einzige Sprache, die er versteht, und Angriff ist die beste Vertei-
digung, und als Prävention: si vis pacem, para bellum. Übersetzung: "Ich
weiß von keiner anderen Sprache, die er spricht."
Die Friedensforschung braucht für alle drei Bereiche ein sehr viel diffe-
renzierteres Klassifikationssystem. Der alles umfassende Begriff "Gewalt"
muß erheblich differenziert und spezifiziert werden. Was die Prognoseseite
betrifft, so ergeben alle erwähnten Kurvenverläufe einen Sinn, wenn wir Frie-
densüberschüsse und -defizite definiert haben. Und die prognostische Folk-
lore: Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten, dürfte empirisch haltbarer sein als
die zitierten gewalttätigen Therapiemaximen. Was wir brauchen, sind gewalt-
freie Therapien.
Die endgültige Überprüfung, ob die Friedensforschung mündig geworden
ist, erlauben aber erst die Therapien, die Antworten auf die Frage: "So - was
wirst du nun dagegen tun?" Wir brauchen ein ansehnliches Sortiment aktiver
Interventionsmuster, die den Diagnosen wirklich adäquat sind, und so weit
sind wir noch lange nicht. Oder doch? Geht es vielleicht nur darum, verstreu-
tes Wissen zusammenzutragen? Oder verschiedene gewaltfreie Therapien
einfach anzuwenden?
Oder ist es doch eine eher strategische Frage zu wissen, was zu tun ist,
wieso und wie, und dazu noch: wann und wo, durch wen und für wen oder
mit wem und vielleicht auch gegen wen? Das Was und das Warum sind die
Probleme einer Friedensforschung, die den obigen D-P-T-Ansatz als den un-
tersuchten Epistemologien unterliegendes Paradigma nutzt. Das Wie ist das
eigentliche Problem, wenn es darum geht, für den Frieden zu handeln. Aber
das Wenn und Wo, durch wen und für wen müssen auch Teil der allgemei-
60 Friedenstheorie

nen Theorie des Friedenshandelns werden, und die ist ja unser Thema. Dafür
müssen wir die gesellschaftliche Realität vermessen, in der sich Gewalt und
Frieden entfalten können.

2.2 Aufweiche Weise könnten Friedensforscher


Friedensarbeit leisten (sich an der Therapie beteiligen)?
Fragen wir zuerst: An welcher Stelle würden Friedensforscher für den Frie-
den handeln? Es gibt verschiedene Antworten. Aber einige können, unter
Verwendung eines sehr simplen Modells von Gesellschaft, als erste Approxi-
mation dienen. Später sollen vollständigere Entwürfe vorgestellt werden.
Benutzen wir ein Zwei-Klassen- und ein Zwei-Länder-Modell; wir nennen
die Klassen "Elite" und "Bevölkerung" und die Länder A und B (wenn wir
mehr Klassen und Länder verwenden, ändert das nichts). Wir fügen in beide
Länder Friedensforscher ein und bekommen:

Tabelle 1.3: Einflußkanäle


LandA LandB
Eliten Eliten A Eliten B
Forscher Friedensforschung A Friedensforschung B
Bevölkerung Bevölkerung A Bevölkerung B

Es gibt viele Möglichkeiten für Friedensforscher, tätig zu werden. Schließen


wir eine Nicht-Möglichkeit zunächst aus: Friedensforscher, die nur miteinan-
der reden, bei Institutsseminaren, bei nationalen oder internationalen akade-
mischen Zusammenkünften, usw. Abgesehen hiervon, gibt es dann sechs
mögliche Konstellationen.

1. Friedensforschung - Elite, eigenes Land. Das ist der klassische Weg des
Einflusses, dem Kurfürsten etwas in die Ohrenjlüstern (dt. im Orig.), ob die
Initiative nun von den Eliten oder von den Forschern ergriffen wird. Das Ziel
muß der Dialog sein, aber Eliten suchen im allgemeinen einen Rat, den sie
innerhalb ihrer eigenen Paradigmen unterbringen können, und keinen, den
sie mit der Opposition oder mit gegnerischen Ländern assoziieren könnten.
Sie werden Forscher im allgemeinen als Prämissen-, nicht als Schlußfolge-
rungs-Produzenten betrachten und als Diener, nicht als Dialogpartner.
Wenn wir nun davon ausgehen können, daß die Folgerungen der Eliten
innerhalb des "Friedens mit friedlichen Mitteln" liegen, bestehen keine Pro-
bleme, solange der öffentliche Charakter von Friedenswissen im Auge behal-
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 61

ten wird. Wenn Wissen geheim gehalten werden muß, dann kann es kein
Friedenswissen sein, denn dann wird vorausgesetzt, daß andere nicht daran
teilhaben sollten. Das marginalisiert andere, was bedeuteten würde, daß
strukturelle Gewalt am Werk ist. Dahinter steckt die Möglichkeit oder zumin-
dest der Verdacht, daß direkte und/oder kulturelle Gewalt am Werk ist in der
Form von Wissen über Mittel zur Gewaltausübung oder über Denkmuster
usw., die nicht bekannt werden sollen. Dieser Verdacht ist nicht unsinnig in
einer Welt, in der die politische Klasse, als Besitzer oder Verwalter von Staa-
ten, sich als Monopolisten sowohl der entscheidenden Gewaltmittel als auch
der definitiven Entscheidungen in der Außenpolitik betrachten. Beides läßt
sich im Kriegsfallleicht kombinieren.

2. Friedensforschung - Bevölkerung, eigenes Land. Diese Beziehung ist auch


bekannt als Friedenserziehung oder Volksbildung. Sie kann in außenpoliti-
schen Krisen wie dem Kalten Krieg oder der Golfkrise hinsichtlich der Frie-
densbewegung dreierlei Form annehmen.
Modell 2.1 würde die Vetreter der Friedensbewegung als essentiell unge-
bildet, möglicherweise sogar unbildbar betrachten und eine einseitige Beleh-
rung von oben betreiben: der Bewegung Vorträge halten.
Modell 2.2 würde die Friedensbewegung als unfehlbar, da volksverbun-
den, ansehen und versuchen, Prämissen für die von der Friedensbewegung
gezogenen Schlüsse (z.B. Abrüstung) zu liefern.
Modell 2.3 würde 2.1 als undemokratisch und 2.2 als Kapitulation ableh-
nen, weil darin die Freiheit aufgegeben wird, immer erneut zu forschen. Die
Alternative ist ein Dialog mit der Bevölkerung, bei dem die akademische Frei-
heit vollkommen gewahrt bleibt.

3. Friedensforschung - Bevölkerung - Eliten, eigenes Land. Das ist ein Zwei-


Stufen-Kanal, d.h. die Forscher kommunizieren mit der Bevölkerung, die
dann Druck auf die Eliten ausübt. Das könnte der wirkungsvollste Weg sein,
zumindest in den Fällen, in denen ein entsprechender Zugang zu den Medien
gewährleistet, das Land nicht zu groß und ein demokratisches Ethos verbrei-
tet ist. Letzteres ist nicht das gleiche wie ein demokratisches Wahlsystem, da
die Parteien oder Personen, die sich zur Wahl stellen, oft eher für ein ganzes
Bündel von Punkten eintreten als für eine einzelne Sache, und Friedensfragen
in den Köpfen der Menschen nicht unbedingt Vorrang haben. Ein Volksent-
scheid würde die Friedensfrage in den Vordergrund stellen.

4. Modelle 1, 2 und 3, anderes Land. Alles wäre das gleiche, spielte sich nur
in einem anderen Land ab. Da die Friedensproblematik zwischen Ländern ei-
ne internationale ist, sollte dieses Modell in jeder Hinsicht gefördert werden.
Es gibt keinen triftigen Grund, sein auf ein globales Problem gerichtetes
Handeln auf das eigene Land zu beschränken, dessen Eliten womöglich sehr
62 Friedenstheorie

unnachgiebig sind, oder das auch dann relativ unbedeutend bliebe, wenn sich
dessen Eliten für Friedensstrategien einsetzen würden. Der Dialog mit Eliten
anderer Länder kann auch deshalb sehr sinnvoll sein, weil er keine nationale
Regierung-Opposition-Kluft überbrücken muß. Dialoge mit Menschen in an-
deren Ländern können bezüglich dieser Kluft im anderen Land die gleiche
Funktion haben. Und der indirekte Weg zu Eliten über deren eigene Bevöl-
kerung kann manchmal besser als im eigenen Land funktionieren und neue
Perspektiven bringen. Wenn eine doppelte Opposition am Werk ist, d.h. wenn
die Bevölkerung in B gegen die Eliten in B opponieren, die wiederum gegen
die Eliten in A sind, dann werden letztere sogar den Kontakt zur Bevölke-
rung in B begrüßen: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Was natür-
lich keine besonders friedliche Einstellung ist.

5. Modell 4 im internationalen Rahmen. Konkret bedeutet das das gemein-


same Agieren von Friedensforschern in Verbindung mit einer - und teilweise
mittels einer - internationalisierten Friedensbewegung, die eine Diplomatie
des Volkes, der Zivilgesellschaft betreibt, um Druck auf Eliten auszuüben,
wo immer sich diese befinden und unabhängig davon, ob diese gemeinsame
Interessen haben oder nicht. Das ist in etwa das, was sich gegen Ende des
Kalten Krieges abgespielt hat, als die Friedensforscher als eine Intelligenzia
der Friedensbewegung wirkten und beide Gruppen lose verbunden waren,
um Druck auf stalinistische und nuklearistische Eliten auszuüben, die ihrer-
seits überhaupt nicht vereint waren. Die schwächste Gruppe ist zuerst zu-
sammengebrochen; mit der zweiten wäre unter Umständen das gleiche ge-
schehen, hätte man den Druck nur weiterhin aufrechterhalten können.

6. Eine Kombination aller Modelle. Offensichtlich ist hier der Eklektizismus


der beste Ansatz. Wir leben in einer militarisierten Welt, in der man dazu neigt,
direkte Gewalt einzusetzen, gestärkt durch die strukturelle und kulturelle
Gewalt von schwergewichtig institutionalisierten militärischen, bürokrati-
schen, korporativen und Intelligenzia-Komplexen sowie von stark verinner-
lichten militaristischen Ideologien. In allen genannten Fällen ist es sinnvoll,
auf das kontraproduktive Wesen von Gewalt hinzuweisen und darauf, daß es
Alternativen gibt - und alle Formen können sich gegenseitig nur stärken.
Man kann sogar sagen, daß eine der durch das Ende des Kalten Krieges ge-
wonnenen Einsichten die ist, daß Frieden weder durch das Handeln von Eli-
ten allein (der Helsinki-Prozeß, der in vielem beeindruckend war, hing am
Ende sozusagen in der Luft) noch allein durch das Handeln von Friedensbe-
wegungen erlangt werden kann (sowohl die Dissidenten- als auch die Frie-
densbewegung gab es schon lange vorher), sondern nur durch gemeinsames
Agieren beider (das Dreieck aus Dissidentenbewegung, Friedensbewegung
und Gorbatschow). Nicht nur auf diesem Gebiet sollte man Redundanz einer
allzu großen Knappheit vorziehen.
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 63

2.3 Paradigma I: sechs Räume, inter/intra-Systeme

Die Systematik ist in jeder Wissenschaft unverzichtbar, was Koryphäen wie


Linne für die Pflanzenwelt und Mendelejew-Meyer für die Elemente des Peri-
odensystems beispielhaft belegen. Der Stoff der Disziplin wird unterteilt, und
diese Unterteilung sollte die alten Kriterien für gute Klassifikationen erfüllen:
Sie sollte (zumindest im Prinzip) für wechselseitigen Ausschluß sorgen, sie
sollte erschöpfend sein, und sie sollte auf einem fundamentum divisionis be-
ruhen (bei Linne die Zahl von Blütenteilen, die männliche Geschlechtszellen
produzieren und aufnehmen, und bei Mendelejew die Atomzahl). Eine gute
Systematik sollte vier Zwecken dienen: Sie soll ein Plan des Fachgebietes
sein, das sie dadurch definiert, daß sie Unterteilungen gemäß der spezifischen
Optik der Disziplin aufstellt; sie soll als Anleitung für die Daten-Sammlung,
für die Theoriebildung und schließlich für die nachvollziehbare Anlage von
Forschungsberichten dienen. Allen vier Zwecken sollte das gleiche Schema
unterliegen; in den ersten drei Fällen soll es neue Forschung generieren, im
vierten die alte systematisieren.
Nun zunächst ein paar Worte zu den Wegen, die man nicht einschlagen
sollte. Konzeptualisierungen aufgrund geographischer Verortungen, sei es
des untersuchten Problems, sei es des Autors, sind mit dem Anspruch der
Friedensforschung auf Globalismus nicht vereinbar. Und eine Konzeptuali-
sierung nach Fachgebieten führt zu Systematiken, die disziplinären Ansätzen
- der Psychologie, der Ökonomie, der Soziologie, der Politologie und der
Ethnologie, der Lehre von den Internationalen Beziehungen und dem Völker-
recht - entwachsen, was mit dem Anspruch der Friedensforschung auf Ho-
lismus nicht vereinbar ist. Das hieße nämlich, eine überkommene Fachge-
bietseinteilung auf ein neues Fach zu übertragen, das seine eigenen Per-
spektiven sucht, unabhängig davon, ob man es als ein transdisziplinäres oder
als ein neues Fach begreift. Auch hilft Multidisziplinarität - mit einem Dia-
log über die Fachgrenzen hinweg - nur für eine frühe Phase.
Ein anderer Ansatz wäre, die Forscher des Gebiets zu befragen, wie sie
das, was sie tun, selbst definieren würden - nach dem Muster etwa der Kom-
missionen der International Peace Research Association (IPRA). Dieser Ansatz
ist demokratisch und hervorragend dazu geeignet, Forschungskommissionen zu
definieren. Dem läge dann aber noch kein konzeptuelles Schema zugrunde,
keinfundamentum divisionis, es gäbe keine übergreifende, möglicherweise ho-
listische Betrachtungsweise. Andererseits kann eine holistische Sicht auch
künstlich wirken, sogar als Zwangsjacke im Falle der Forscher, die selbst ihre
Fachgebiete nach Inhalt oder Umfang definiert haben. Beides ist legitim und
kann für Dialoge und wechselseitig für Checklisten verwendet werden.
Der von mir vorgeschlagene Ansatz setzt voraus, daß die Friedensfor-
schung eine an gewandte Wissenschaft ist wie die medizinische bzw. die Ge-
64 Friedenstheorie

sundheitsforschung, und daß ihr, wie diesen, ein DPT-Paradigma (Diagnose,


Prognose, Therapie) zugrundeliegt.Wiederholen wir das Essentielle:
Die Diagnose besteht in der Erfassung eines empirischen Systems durch
einen Satz von Leidenszuständen (dukkha, Krankheit, Leiden, Gewalt) und
einen Satz von Zuständen des Wohlbefindens, der Lebensverbesserung (sukha,
Wohlergehen, Ausgeglichenheit, Gesundheit, Frieden), definiert negativ als
Ausbleiben von Leiden und positiv als Verbesserung der Lebensbedingungen
oder als bei des.
Die Prognose ist eine Vorhersage des Kurvenverlaufs dieses Systems über
einen gewissen Zeitraum, normalerweise von dukkha hin zu sukha, von
Krankheit zu Gesundheit, von Gewalt zu Frieden, wobei zwischen Selbsthei-
lung bzw. Automatismus und Intervention unterschieden wird.
Die Therapie ist diese Intervention, ob sie nun durch das Selbst, durch
Andere oder durch beide erfolgt, und ist eng mit Diagnose und Prognose
verbunden. Therapien können präventiv sein, ex ante (dukkha), oder heilend,
ex post. Oder beides, aber nicht weder - noch.
Man kann den Reifegrad einer angewandten Wissenschaft anhand des Dif-
ferenzierungsniveaus - grob gesagt des Hauptmaßstabes - der Diagnosen, Pro-
gnosen und Therapien messen; ein zweiter Maßstab wäre die Präzision des
wechselseitigen aufeinander Abgestimmtseins der drei Verfahren; ein dritter
die Genauigkeit der Prognosen mit oder ohne Intervention; ein vierter die
Angemessenheit der Therapien. In der Friedensforschung sind wir noch weit
entfernt von all dem, und es müssen auch wichtige philosophische Fragen
bezüglich deren Erreichbarkeit und Wünschbarkeit noch geklärt werden. Der
gegenwärtige traurige Zustand aber (Diagnose: Es gibt Schwierigkeiten; Pro-
gnose: Es wird noch schlimmer; Therapie: Rufen wir nach der Polizei/dem
Marine-Corps/der UN-Intervention) ist des homo sapiens nicht würdig.
Unser Ausgangspunkt ist also folgender:
- Diagnose: Zustände der Gewalt;
- Prognose: Gewaltprozesse - zunehmend, gleichbleibend, abnehmend;
- Therapie: Prozesse der Gewaltreduzierung (negativer Frieden);
Prozesse der Verbesserung der Lebensbedingungen (positiver
Frieden).
Ein Ansatz für die Friedensforschung wäre die Schaffung von Klarheit über
Gewalt und Leiden, anhand der Fragen: Was ist die Ursache von Gewalt? Was
sind die Wirkungen von Gewalt? Wir können aber auch am anderen Ende star-
ten und fragen: Was ist die Ursache des Friedens? Was ist seine Wirkung?
So oder so brauchen wir eine Typologie, die weitreichend genug ist, um
Antworten zu lokalisieren. Eine Minimum-Typologie würde folgende sechs
Räume nutzen: Natur, Person, Soziales, Welt, Kultur, Zeit. Dazu kommt die
Unterscheidung von intra- und intersystemisch, wie Z.B. zwischen intraper-
soneller Dialektik und interpersonellen Beziehungen.
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 65

Wenn wir die Räume und das System kombinieren, bekommen wir 12
Faktoren, wie in der folgenden Tabelle 1.4 dargestellt. Das ganze wird dann
weiter konkretisiert unten in Tabelle 1.5.

Tabelle 1.4: Systematisierung I der Friedens- und Konfliktforschung


Raum Intra Inter Gewalt negativer Friede positiver Friede

Natur
Person
Soziales
Welt
Kultur
Zeit

innere äußere Lebens- Gewalt- Lebens-


Dialektik Beziehung einschränkung einschränkungen verbesserungen

Man kann jetzt Untertypologien aufstellen für alle Räume N, P, S, W, K, Z:


Natur: Menschen, Tiere, Pflanzen, Mikroorganismen, Viren;
Person: Bedürfnisse des Überlebens und des Wohlbefindens, Freiheits- und
Identitätsbedürfnisse (Kategorien, die auch für die empfindungsfähige Natur
gelten können);
Soziales: Wesensart, Geschlecht, Generation, Rasse, Klasse, Nation, Land;
Welt: Nordwesten, Nordosten, Südwesten, Südosten; territorial (Staaten-Sy-
stem), nicht territorial (Kapital, Zivilgesellschaft, Bevölkerung);
Kultur: Okzident I, Okzident 11, Indisch, Buddhisch, Sinisch, Nipponisch 17 ;
Zeit: Intra-Zeit, kairos, und Inter-Zeit, chronos.
Das Schema kann dann vereinfacht werden, indem unterschieden wird zwi-
schen Natur-, Akteurs-, Struktur- und Kultur-Gewalt bzw. -Frieden.
Naturgewalt hat ihren Ursprung in der Natur, auch im menschlichen Körper,
und ist unbeabsichtigt Akteurs- oder direkte Gewalt erfolgt in den Räumen
der Person, der Gesellschaft und der Welt; sie ist beabsichtigt von Individu-
en, die allein oder im Kollektiv handeln. Strukturelle oder indirekte Gewalt
muß man als der Person, dem sozialen und dem Raum der Welt inhärent defi-
nieren, sie ist unbeabsichtigt Kulturelle Gewalt dient der Legitimierung di-
rekter und struktureller Gewalt und motiviert Akteure, direkte Gewalt auszu-
üben oder darauf zu verzichten, struktureller Gewalt entgegenzuwirken; sie

17 Diese makrokulturellen Kategorien werden definiert in Teil IV, Kapitel 2.


66 Friedenstheorie

kann beabsichtigt wie unbeabsichtigt sein. Zeitgewalt bezeichnet Einflüsse


auf das Leben künftiger Generationen; mit dem Extremfall: Leben ist nicht
länger reproduzierbar ("nachhaltig").
Direkte Gewalt kann man in verbale und physische und in solche eintei-
len, die den Körper, die Psyche oder den Geist schädigt. Alle Kombinationen
hinterlassen Traumata und führen dadurch zur Perpetuierung von Gewalt.
Strukturelle Gewalt kann in politische, repressive, und ökonomische, ausbeu-
terische, unterteilt werden; sie wird gestützt durch strukturelle Penetrierung,
Segmentierung, Fragmentierung und Marginalisierung. Desweiteren gibt es
hier auch noch die horizontale strukturelle Gewalt zu enger, zu lockerer und
gänzlich fehlender Beziehungen. Strukturen und Beziehungen können über-
mächtig (vertikaler Fall), und sie können allzu eng sein (horizontaler Fall), es
kann zu viel und es kann zu wenig von ihnen geben. Kulturelle Gewalt unter-
teilt man anhand der Inhalte: Religion, Recht und Ideologie, Sprache, Kunst,
empirischeIJormale Wissenschaft, Kosmologie (Tiefenkultur), und anhand der
Träger: Schulen, Universitäten, Medien.
Beabsichtigte Gewalt hat ihren Ursprung allein in (menschlichen) Perso-
nen, treten diese nun als Individuen oder als Kollektive auf, im sozialen und im
Raum der Welt - wobei sie zu Zeiten natürliche, strukturelle und kulturelle
Gewalt verwenden können. Aber die schädlichen Folgen beabsichtigter Gewalt
findet man überall, bei Menschen, in der empfindungsHihigen Natur, in der
empfindungsunHihigen Natur und in beschädigten Strukturen und Kulturen,
auch als Zeitgewalt. Gewalt verletzt und schädigt auch die nicht empfindungs-
fähigen Teile der Welt und ist insofern weitreichender als dukkha. Es gibt spe-
zielle Termini für äußerste beabsichtigte Gewalt:
- Ökozid ist äußerste Gewalt gegen die Natur;
- Suizid ist direkte, finale Gewalt gegen das Selbst;
- Homizid ist direkte, finale Gewalt gegen einen anderen;
- Genozid ist direkte, finale Gewalt gegen ein ganzes Volk;
- Strukturozid ist die Destruktion einer StrukturlDestrukturierung 18 ;
- Kulturozid ist die Zerstörung einer KulturlDekulturation 19 ;
- Omnizid ist alles Obige zusammengenommen.
Negativer Frieden bedeutet die Abwesenheit aller Formen von Gewalt. Die
Absenz struktureller Gewalt kann man als Strukturlosigkeit interpretieren,
d.h. Beziehungslosigkeit nach innen wie nach außen. Die innere menschliche
Dialektik jedoch währt ewig; als Volk können wir zwar anderen, aber nicht
uns selbst entkommen. Und über keine äußeren Beziehungen zu verfügen, ist

18 Destrukturierung bedeutet Destruktion ohne Implantierung einer neuen Struktur; es


gibt gar keine Struktur mehr, nur isolierte menschliche Wesen.
19 Dekulturation bedeutet Destruktion ohne Implantierung einer neuen Kultur; es gibt
überhaupt keine Kultur mehr, nur noch egozentrische Kosten-Nutzen-Kalkulationen.
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 67

keine Lösung - darum die Suche nach horizontalen Strukturen, äußeren wie
inneren.
Hier ist eine Typologie des positiven Friedens, die auch über sukha hin-
ausgeht:

Naturfrieden meint Kooperation, nicht Kampf der Arten.


Direkter positiver Frieden bestünde in verbaler und physischer Freundlich-
keit, gut für Körper, Psyche und Geist des Selbst wie des Anderen, und beträ-
fe alle Grundbedürfnisse: Überleben, Wohlbefinden, Freiheit und Identität.
Dessen Inbegriff ist Liebe, eine Vereinigung von Körper, Psyche, Geist der
Menschen.
Der strukturelle positive Frieden würde Repression durch Freiheit und Aus-
beutung durch GerechtigkeitJBilligkeit ersetzen und dies dann durch Dialog
statt Penetration, Integration statt Segmentierung, Solidarität statt Fragmen-
tierung und Partizipation statt Marginalisierung stützen. Einige umfassende
vertikale (Alpha-) Strukturen mögen unerläßlich sein, aber kleine, horizonta-
le (Beta-) Strukturen sind schöner (weil sie ein Übermaß an Strukturierung
verhindern). Dasselbe gilt für den inneren Frieden; die Aufgabe besteht dar-
in, Harmonie zwischen Körper, Psyche und Geist herzustellen. Der Schlüssel
hierfür: äußere sowohl wie innere Dialoge (mit sich selbst).
Kultureller positiver Frieden würde die Legitimierung von Gewalt durch die
Legitimierung von Frieden ersetzen, in Religion, Recht und Ideologie, in
Sprache, Kunst und Wissenschaft, in Schulen, Universitäten und Medien,
und dadurch eine positive Friedenskultur aufbauen. Für den inneren Raum
des Selbst bedeutet das, sich für mehrere Neigungen und Fähigkeiten zu öff-
nen, nicht nur für eine.
Der sechste Raum, die Zeit, ist das Medium, in dem jedes System sich be-
wegt oder einem Prozeß unterliegt; in der Gewalt oder Frieden bzw. dukkha
und sukha vermehrt oder verringert werden - jenseits menschlicher Täter-
schaft wie der Intervention des Selbst und/oder der von anderen. Deswegen
ist Zeitgewalt oder "temporale Gewalt" auch ein sinnvoller Begriff zur Cha-
rakterisierung von Friedensprozessen, die zu langsam, und/oder von Gewalt-
prozessen, die zu schnell ablaufen; auch für Prozesse, die zeitlich schlecht
aufeinander abgestimmt sind. Es gibt jedenfalls für den Frieden keine Gren-
zen, ebensowenig aber auch für die Gewalt. Allfrieden ist ebenso bedeu-
tungsvoll wie Omnizid. Pax omnium cum omnibus, nicht bellum omnium
contra omnes sollte das Zentralmotto unserer Kultur sein. Ist es aber leider
nicht.
Dieser Diskurs, mit seinen sechs Räumen und der intralinter-systemaren
Unterscheidung (zwölf Kombinationen) ist nützlich. Ein Diskurs ist ein intel-
lektueller Rahmen, innerhalb dessen alternative Theorien aufgestellt werden
68 Friedenstheorie

können; eine Theorie besteht aus einem Satz miteinander verketteter Hypo-
thesen; eine Hypothese schließt gewisse Verbindungen aus und wird durch
deren Eintreten empirisch widerlegt. Ein Diskurs aber schließt das aus, was
nicht formuliert werden kann; er sollte dahin gebracht werden, sich dem Ge-
dachten zu akkommodieren, anstatt es abzuweisen oder zum Schweigen zu
bringen.
Folgende Theoreme können leicht innerhalb dieses Diskurses unterge-
bracht werden:
- Jede Art von Gewalt erzeugt irgendeine Art von Gewalt.
- Jede Art von Frieden erzeugt irgendeine Art von Frieden.
- Positiver Frieden ist der beste Schutz gegen Gewalt.
Genauer: Direkte Gewalt vermehrt sich durch Rache und offensive Ab-
schreckung; strukturelle Gewalt pflanzt sich fort durch Klonen und Vervoll-
ständigung ebenso wie kulturelle Gewalt. Direkte Gewalt kann zum Aufbau
struktureller Gewalt eingesetzt werden; strukturelle Gewalt führt zu revolu-
tionärer und konterrevolutionärer direkter Gewalt; und kulturelle Gewalt le-
gitimiert alles Vorgenannte.
Das Schema von Tabelle 1.5 ist in der Tat sehr simpel. DG und SG, DF
und SF haben als Unterabteilungen N, P, S, W, Kund Z; KG und KF haben
je elf Unterabteilungen; insgesamt also 46. Weiter gibt es Unter-Unterabtei-
lungen für N, P, S, W, Kund Z und für die kulturellen Unterabteilungen.
Und so weiter.
Ein entscheidender Gesichtspunkt ist der, daß Friedenstudien Gewaltstudi-
en voraussetzen. Wenn Gewalt das Problem und Frieden die Lösung, das
Heilmittel ist, dann bedürfen beide Seiten der Forschung, der Erziehung, des
Handeins. Um das Schema zu prüfen, wollen wir uns ansehen, wo Themen
wie Militarismus, Ökologie, Demokratie und Patriarchat untergebracht wer-
den können.
Den Militarismus könnte man in die DG-SG-KG-Spalte einsetzen und
zwar in Bezug auf Waffen und deren Einsatz für militärische W -Intervention,
unterstützt durch Strukturen wie Industriekomplexe in S, legitimiert durch
patriotische und patriarchalische Elemente in K und durch den Patriotismus
in Schulen und die militärische Ausbildung an Universitäten. Wie alles ande-
re muß dies in Raum und Zeit, Geographie und Geschichte untersucht wer-
den und zwar in dialektischem Bezug zur DF-SF-KF-Spalte: Demilitarisie-
rung.
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 69

Tabelle 1.5: Systematisierung 11 der Friedens- und Konfliktstudien: Beispie-


le für Erziehungs-, Forschungs- und Handlungsfelder
Direkte Gewalt (DG) Direkter (positiver) Frieden (DF)
N - ,Überleben der Tauglichsten' N - ,gegenseitige Hilfe und Kooperation'
P - Gewalt gegen das Selbst, Suizid P - intra-, interpersonelles Wachstum
S - Gewalt über Bruchlinien hinweg S - gewaltlose Befreiung
W - Kriegsgeographie; Genozid W - Friedensbewegungen; alternative
Verteidigung
K - Kulturozid K - kulturelle Befreiung
Z - Vergangenheit und Zukunft der Z - Geschichte und Zukunft des Friedens
Gewalt, des Krieges
Strukturelle Gewalt (SG) Struktureller (positiver) Frieden (SF)
N -Ökozid N - nicht-homozentrischer Öko-Frieden
P - Psychopathologien P - intra-, interpersoneller Frieden
S - Patriarchat, Rassismus, Klasse S - Entwicklung, Gleichstellung, Gerechtigkeit
W - Imperialismus, Handel W - Friedensregionen, ,global governance',
Vereinte Nationen
K - kultureller Imperialismus K - kulturelle Koexistenz
Z - Vergangenheit und Zukunft von Z - nachhaltige Entwicklung
Ausbeutung und Unterdrückung alles Vorgenannten
Kulturelle Gewalt (KG) Kultureller (positiver) Frieden (KF)
Religion: Betonung der Transzendenz Religion: Betonung der Immanenz
Recht: Demokratie, Menschenrechte Recht: Demokratie, Menschenrechte
Ideologie: universalistisch, singularistisch Ideologie: partikularistisch, pluralistisch
Sprache: sexistisch, rassistisch Sprache: humanistisch/nicht-anthropozentrisch
Kunst: patriotisch, patriarchalisch Kunst: humanistisch/nicht-anthropozentrisch
Wissenschaft I: westliche Logik? Wissenschaft I: Taoistisch? Buddhistisch?
Wissenschaft II: Zweck: Leben zu zerstö- Wissenschaft II: Zweck: Leben zu verbessern
ren
Kosmologie: Okzident I? Sinisch? Nip- Kosmologie: Okzident II? Indisch?
ponisch? Buddhisch?
Schule: Militarisierung Schule: Friedenserziehung
Universität: Militarisierung Universität: Friedensstudien, Friedensfor-
schung
Medien: GewaltlKriegsjournalismus Medien: Friedensjournalismus

Ökologie und Öko-Krise ganz allgemein bedeutet direkte Gewalt gegen die
Natur, z.B. im Krieg; weiterhin die strukturelle Gewalt von Industrie und
Agrarindustrie; und die kulturellen Muster, die das legitimieren - wieder im
Verhältnis zu den entsprechenden Friedenskategorien.
Die Demokratie (vergleichbar den Menschenrechten) ist eine Institution,
d.h. sie beruht auf einer Ansammlung von Rechtsbestimmungen, die als Kul-
tur direkten oder strukturellen Frieden oder Gewalt und Krieg legitimieren
oder delegitimieren kann. Das muß in allen sechs Räumen untersucht und
kann nicht apriori entschieden werden.
70 Friedenstheorie

Patriarchat bedeutet strukturelle Gewalt, bei der die Männer an der Spitze
stehen und die Frauen weiter unten; was sich in Sund W in zahllosen For-
men von Gewalt gegen Frauen ausdrückt, die durch bestimmte kulturelle
Muster legitimiert werden - wieder in Relation zu seinen friedlichen Nega-
tionen zu verstehen.
Eine Thematik ist also über mehrere Punkte des Systems verteilt, wobei eine
konkrete Untersuchung begrenzter sein kann. Die Systematik dient als Heraus-
forderung, die Untersuchung zu vervollständigen und weitere Aspekte einzu-
bringen.
Wie klassifizieren wir dann die achtzehn von der International Peace Re-
search Association eingesetzten Kommissionen?

Kommunikationen. Interaktionsformen in Sund W; und eine Untersu-


chung der Medien als Träger einer Friedens- oder Kriegskultur.
Konversions/ragen. Demilitarisierung von Hardware- und Software-
Aspekten des Militarismus zu zivilen Zwecken.
- Verteidigung und Abrüstung. Sicherheit (geringe Wahrscheinlichkeit von
Krieg in W), Zurückfahren der offensiven und Stärkung der defensiven
Verteidigung.
- Ökologische Sicherheit. Lösung von Konflikten in P, Sund W, die durch
Ökokrisen in N entstanden sind, um Ausbrüche von Gewalt zu verhin-
dern.
- Ernährungspolitik. Eins der grundlegenden Erfordernisse in P im Ver-
hältnis zum ganzen DG/DF-, SG/SF- und KG/KF-Schema.
- Marginalisierung von Menschen in der globalen politischen Ökonomie.
Ein grundlegender Aspekt der strukturellen Gewalt in W und deren Impli-
kationen.
- Menschenrechte und Entwicklung. Eine spezielle Institution (Ansammlung
von Rechtsbestimmungen) und deren Verhältnis zum strukturellen Frieden
in Kund S, potentiell auch in N und W, sowie in Z (Nachhaltigkeit).
- Interne Konflikte und deren Lösung. Kreative Konflikttransformation als
Alternative zur Gewalt in S (nicht in W).
- Internationale Konfliktläsung. Kreative Konflikttransformation als Alter-
native zur Gewalt in W (nicht in S).
- Kriegsbeendigung und Friedensschaffung im Nahen Osten. Alles oben
und unten Aufgeführte (und mehr), bezogen auf den Nahen Osten.
- Gewaltlosigkeit. Direkter Frieden auf allen Gebieten mit friedlichen Mit-
teln, im Kontext (von Drohungen mit) großer Gewalttätigkeit.
- Friedenserziehung und Friedensstudien an Universitäten. Erziehung und
Studien auf allen Stufen als ein Weg, die Kultur zu verändern.
Friedensbewegungen. Bewegungen in der zivilen Gesellschaft in Sund W
zur Schaffung von direktem, strukturellem und kulturellem Frieden in S
undW.
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 71

- Flüchtlinge. Die Misere von Menschen, die durch Krisen in N, Sund W


gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen; Gewaltopfer ganz allgemein.
Religion und Konflikt. Ein Hauptaspekt der Kultur in ihrer Rolle als Legi-
timationsinstanz direkter oder struktureller Gewalt bzw. direkten oder
strukturellen Friedens.
- Veränderungen in Osteuropa. Alles oben Genannte (und mehr) in Bezug
auf Osteuropa im gegenwärtigen Transformationsprozess.
Frauen und Frieden. Alles Obige (und mehr), bezogen auf einen Teilbe-
reich in S; Patriarchat und sein Abbau.
- Frieden und Japan. Alles Obige (und mehr), auf Japan bezogen.
Die achtzehn Kommissionen haben ihre eigenen Definitionen, wobei die Auf-
gabe der (Re-) Definierung immer einer der Hauptaspekte der Forschungsak-
tivitäten ist. Hier soll nur betont werden, daß alle IPRA-Kommissionen in-
nerhalb des hier vorgeschlagenen Diskurses untergebracht werden können.
Drei Kommissionen sind nicht-global, da sie sich mit spezifischen Gebieten
(Naher Osten, Osteuropa, Japan) befassen, was sehr sinnvoll ist; keine der
Kommissionen ist nicht-holistisch, indem sie nur fachspezifisch verführe.
Man könnte sich weitere Kommissionen vorstellen (in P etwa innerer Frie-
den; in Z z.B. Makro-Geschichte; in K: weitere kulturelle Aspekte). Es gibt
soviel zu tun!
Ernste Versäumnisse sind das Fehlen einer Allgemeinen Friedenstheorie
(Schutz und Verbesserung der Grundbedürfnisse von Natur und Mensch), ei-
ner Allgemeinen Konflikttheorie (was geschieht, wenn Ziele ziel suchender
Systeme nicht miteinander vereinbar sind) und einer Allgemeinen Entwick-
lungstheorie (nachhaltige Erfüllung von Bedürfnissen und Zielen). Das glei-
che gilt für die Grundlagen und für die Epistemologie/Methodologie, die
auch den beiden hier vorgestellten Schemata hinzuzufügen wären. Damit die
Friedensforschung neue Probleme (Golf, Osteuropa, Somalia, Ruanda, Chia-
pas) angehen kann, ist allgemeine Sachkenntnis unverzichtbar. Das Ende des
Kalten Krieges bedeutete leider auch das Aus für viele Friedensforscher. 20
Eine IPRA-Kommission Friedenstheorie entsteht gerade.

20 Insbesondere heißt dies: Der Kalte Krieg konnte so dargestellt werden, als gäbe es in
ihm zwei Parteien und eine fundamentale Streitfrage: das nukleare Wettrüsten, wie
es den einen, die Menschenrechte, wie es anderen erschien. Ein beträchtliches
Fachwissen wurde angesammelt und wurde dann projiziert auf den Golf-Krieg und
die Kriege in Ex-Jugoslawien, als handele es sich auch in diesen Fällen allein um ei-
ne Frage zweier Parteien und eines einzigen militärischen Streitpunkts (vgl. Teil 11,
Kap. 1.4).
72 Friedenstheorie

2.4 Friedensstudien: vom Friedenswissen zum


Friedenskönnen
Frieden ist das Überwechseln von links nach rechts innerhalb der beiden obi-
gen Systematisierungsschemata der Friedensforschung. Friedensstudien kön-
nen hierzu mittels des aus der Forschung gewonnenen Wissens beitragen.
Aber Studien allein können direkte Gewalt nicht stoppen, Gewaltstrukturen
nicht demontieren und auch keinen direkten, strukturellen oder kulturellen
Frieden schaffen. Dies können aber Leute mit den entsprechenden Fähigkei-
ten, und diese Fähigkeiten sind: ,Gewußt-wie' + schöpferische Phantasie +
Mitgefühl + Beharrlichkeit.
Man muß tätig werden, um Zustände direkten und strukturellen Friedens
zu verwirklichen, und das Medium, in dem sich das alles entwickelt, ist die
Zeit, als kairos wie als chronos. Ingenieure wissen vielleicht, was an einer
Brücke nicht in Ordnung ist, und wie eine vernünftige Brücke auszusehen
hat. Aber man muß handeln, Z.B. viel schweißen, um von A zu B zu gelan-
gen; eine Aufgabe, die "Arbeitern" überlassen wird, wohingegen in der Me-
dizin ein und dieselbe Person, der Chirurg mit seinem Skalpell, alle drei Auf-
gaben übernehmen kann. Beides sind Berufe. Im Ingenieurwesen werden viel
Wissen, aber wenige Fertigkeiten verlangt, daher braucht man Arbeiter, die
wenig Wissen, aber viele praktische Fähigkeiten besitzen. Der Beruf des Me-
diziners verlangt von beidem viel, wobei es natürlich nicht ohne Kranken-
schwestern und Muster interner Arbeitsteilung abgeht.
Es gibt zwingende Gründe für eine Vereinigung von Wissen und Fertig-
keiten in einer Person: die Aussicht auf einen direkten Transfer zwischen
Theorie und Praxis in beide Richtungen, die Übernahme persönlicher Verant-
wortung anstelle der Anforderung an andere zu handeln, damit Frieden auf
der Welt entsteht. Es gibt aber auch gute Gründe für Arbeitsteilung.
Es soll hier vor allem nichts gesagt werden gegen Friedensstudien, Frie-
densforschung, Friedenswissenschaft in Reinkultur, unbehindert durch die
Forderung nach sofortiger, gelingender Anwendung. Die Erfahrung zeigt,
daß es immer wieder Glückstreffer wie unbeabsichtigte praktische Gewinne
beim Streben nach reinem Wissen geben wird. Diese Tatsache jedoch spricht
nicht gegen eine zusätzliche Offenheit für Friedensfertigkeiten.
Anhand der oben dargestellten zweiten Systematisierung kann der Autor
leicht die Systematik eines einjährigen Kurses in Friedenswissen und Frie-
densfertigkeiten skizzieren:
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 73

GRUNDLAGEN: Allgemeine Gewalttheorie Allgemeine Friedenstheorie


Konflik~ormationen Konflikttransformationen
Epistemologie Methodologie
SPEZIALISIERUNG: direkte Gewalt direkter Frieden
strukturelle Gewalt I: struktureller Frieden I:
Ausbeutung ökonomische Gerechtigkeit
strukturelle Gewalt 11: struktureller Frieden 11:
Repression politische Gerechtigkeit
kulturelle Gewalt kultureller Frieden

Strukturelle Gewalt und struktureller Frieden werden hier in die gewaltsame


und die friedliche Ausübung ökonomischer und politischer Macht aufgeteilt,
und es kommen sechs Grundkurse dazu, so daß wir insgesamt 14 Kurse ha-
ben. In einer kürzeren Version könnten die fin- und die fang-Aspekte, die
Probleme und die Lösungen, in einem Kurs kombiniert werden, wodurch
sich sieben Kurse ergäben. Als eine ultrakurze Einführung könnte man sich
auch die ersten vier Kurse vorstellen.
Die klassische, von diplomatischen Akademien und dergleichen angebo-
tene Ausbildung versagt sich dem Globalismus, indem sie sich auf Regio-
nalstudien konzentriert, die so ausgerichtet sind, daß Zentrum und Peripherie
intellektuell auseinandergerissen werden ("Lateinamerika-Studien" ohne die
Einbeziehung der USA; "Osteuropa-Studien" ohne die Einbeziehung der EU),
wodurch man die Strukturen unsichtbar macht. Man trotzt dem Holismus, in-
dem man nur einen Menschen, der in einer traditionellen Disziplin ver-
wurzelt ist, als "Experten" betrachtet.
Konflikt und Frieden betrachtet man allgemein aus einer legalistischen
Perspektive, ohne das Recht als eine weitere Quelle struktureller und kultu-
reller Gewalt (aber auch eines möglichen strukturellen und kulturellen Frie-
dens) in Frage zu stellen; militärische Gewalt, Intervention, wird legitimiert
als letztes Mittel, weil Alternativen zu wenig bekannt sind und darauf zu
wenig Aufmerksamkeit verwandt wird; ökonomische Macht (Sanktionen und
positive Angebote als ,Zuckerbrot und Peitsche') bedenkt man im Rahmen
der Mainstream-Ökonomie, die ihrerseits ja eine der wichtigsten Legitimati-
onsinstanzen ökonomischer struktureller Gewalt ist; politische Macht be-
trachtet man im Lichte einer unkritischen demokratischen Theorie, und kul-
turelle Macht wird entweder gar nicht berücksichtigt oder verstärkt durch die
Haltung: "Wir erforschen die Leute ja" (Regionalstudien). Kurzum, diese
Ausbildung der Diplomaten garantiert nicht nur eine starke ideologische Vor-
eingenommenheit mit leicht voraussagbaren Konsequenzen, sie ist ganz ein-
fach überholt.
Es gibt reichlich Raum für eine Anpassung an heutige Verhältnisse, und
mein Schema wäre eine Möglichkeit. Die klassische Kombination von Re-
gionalstudien (linguistische Kompetenz eingeschlossen), Recht, "Realismus"
(bei dem Gewalt eher im Mittelpunkt steht als Gewaltlosigkeit) und einem
74 Friedenstheorie

oder zwei klassischen Mainstream-Fachgebieten läßt sich als Patentrezept für


eine inadäquate Herangehensweise beschreiben.
Was wir für unsere Welt dringend bräuchten, wäre eine Postgraduierten-
Ausbildung, wären so viele Studienplätze wie möglich für einen Magister-
studiengang in Friedensstudien und Konfliktlösung, vergleichbar dem Studi-
engang ,Master of Business Administration '. Beim Streben nach Frieden gibt
es für kreative Konfliktlösung keinen Ersatz. Ungelöste Konflikte können zu
Frustration führen, diese zu Aggressivität, die ihrerseits zur Gewaltanwen-
dung führen kann. Zugunsten einer weiteren Stärkung von Frieden und Kon-
fliktlösung könnte man noch Entwicklung(sforschung) hinzufügen, aber die-
ses Gebiet ist so umfassend, daß getrennte Abschlüsse vielleicht doch besser
sind. Bei beiden Abschlüssen sollte die gemeinsame Schnittfläche von Frie-
den und Entwicklung gebührend gewürdigt werden ebenso wie die Bedeu-
tung der Zivilisation (Kultur) als wichtiger Kontext und als eine Hauptursa-
che für Frieden wie Gewalt.
In all diesen Kursen würde sowohl Wissen als auch Können vermittelt.
Wissen kann vertikal (durch Vorlesungen), horizontal (durch Seminare und
Diskussionen) und horizontal unter Studenten oder unter Professoren (durch
Kolloquien) vermittelt werden; die beiden letztgenannten Möglichkeiten wer-
den an Universitäten oft nicht angeboten, was auf Kosten sowohl der Studen-
ten wie der Professoren geht. Wie aber steht es mit dem ,gewußt wie', mit
Phantasie, Mitgefühl und Beharrlichkeit? Hinsichtlich dieser vier Faktoren,
speziell aber der beiden letzten, läßt sich von Universitäten wenig erwarten.
Es gibt zuletzt keinen Ersatz für Training und praktische Ausbildung vor
Ort, also in der direkten, strukturellen und kulturellen gesellschaftlichen
Wirklichkeit. Und diese muß Teil der Ausbildung im zweiten Jahr werden,
und/oder einschlägige Praxis muß als Zulassungsbedingung für solche Studi-
en festgesetzt werden. Die Wirklichkeit kann aber auch mit Hilfe von Zeugen
oder audiovisuellen Medien in den Hörsaal gebracht werden; sie kann auch
auf dem Papier simuliert werden mittels Beschreibungen von Problemsitua-
tionen, die nach Lösungen, mit Handlungsdirektiven und Folgeanalysen,
verlangen. Desweiteren besteht die Möglichkeit, die Wirklichkeit via Spiel
oder Simulation darzustellen; ob nun auf der Ebene Computer - Computer,
Computer - Mensch oder Mensch - Mensch (Rollenspiel).
Zusätzlich zum (aber nicht anstelle des) Vorgenannten sollte man Thea-
terstücke (da holistischer als Rollenspiele) einsetzen, die Situationen aus dem
wirklichen oder vorgestellten Leben widerspiegeln, wobei die Teilnehmer die
Stücke selbst schreiben oder aufführen müßten. Eine Gruppe, aufgeteilt in
kleinere Einheiten, in denen das gleiche Thema schriftlich behandelt und
aufgeführt würde oder denen ,sechs Rollen auf der Suche nach einem Autor'
(frei nach Pirandello) gegeben würden, gäbe eine gute Grundlage für Ver-
gleiche und Weiterentwicklung. Ein Team, das darüber diskutiert, wie man
über einen Konflikt schreibt, befindet sich selbst in einer Art Konflikt, was
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 75

die Erfahrung vertieft. Im Idealfall sollte das Stück einen ganzen Zyklus
sinnvoll aufeinander bezogener Ereignisse umfassen und natürlich nach der
Aufführung Gegenstand umfassender Diskussionen sein.
Zum Schluß: Wo in Sund W könnten Menschen mit einer derartigen
Ausbildung für den negativen und den positiven Frieden tätig werden? Die
Antwort ergibt sich aus einer weiteren Unterteilung von Sund W in Staat
(Regierung, Bürokratie), Kapital (Unternehmen) und Zivilgesellschajt, beste-
hend aus der Bevölkerung und ihren informellen und formellen Organisatio-
nen, welch letztere in W NGOs (non-governmental organizations) bzw. NROs
(Nicht-Regierungs-Organisationen) genannt werden. Einer dieser drei, der
Staat, besitzt ein Gewaltmonopol und neigt schnell dazu, in einer "Situation"
Gewalt einzusetzen ("dem Mann, der einen Hammer hat, erscheint die Welt
als Nagel"); und auf ziemlich ähnliche Weise würden Transnationale Kon-
zerne (TNCs) Kapital einsetzen und Bürgerorganisationen ihre moralische,
gewaltlose Macht nutzen, zivilen Ungehorsam einbegriffen.
Friedensspezialisten könnten in allen sechs Bereichen arbeiten:
- in staatlichen und zwischenstaatlichen Organisationen und in der UNO;
auch auf der kommunalen Ebene, die ein großes Friedenspotential besitzt;
- in nationalen und transnationalen Unternehmen (TNCs);
- in nationalen und internationalen Bürgerorganisationen (IPOs - interna-
tional people 's organizations).
Innerhalb des Staatensystems, inklusive der UNO, könnte es mehr um die
Verhinderung von Gewalt durch den Aufweis von Alternativen gehen, in an-
deren Räumen mehr um die Durchführung dieser Alternativen.
Eine kurze Liste von möglichen zukünftigen Arbeitgebern für Friedens-
spezialisten enthielte:
- lokale Verwaltungen, für lokale Konflikte;
Außen- und Verteidigungsministerien für eine kreativere Welt- und Au-
ßenpolitik;
- die UNO und andere zwischenstaatliche Organisationen, wo sie den idea-
len Arbeitsplatz hätten;
- nationale und transnationale Unternehmen, um die Wirtschaft kooperati-
ver zu machen und mehr auf menschliche Grundbedürfnisse auszurichten;
- nationale und internationale Bürgerorganisationen wie Kirchen und Ge-
werkschaften;
- Schulen, Universitäten und Medien.
76 Friedenstheorie

2.5 Paradigma 11 der Friedensforschung: Körper - Geist -


Struktur - Kultur
Eine Schwierigkeit der Systematik und genauer des Paradigmas I, wie in
Kap. 2.3 entwickelt, ist dessen Komplexität. Der Diskurs ist sehr reichhaltig,
wie man in der folgenden Tabelle 1.6 sehen kann.
Die Unterscheidung zwischen intra und inter ist grundlegend, da sie zwei
verschiedene, aber sich gegenseitig nicht ausschließende analytische Per-
spektiven herausstellt: Dialektik, innere Spannungen, Widersprüche, fin -
fang; und eine Perspektive der Beziehung zwischen distinkten Einheiten.
Bruchlinien in den Räumen Gesellschaft und Welt spielen in der Konfliktana-
lyse eine herausragende Rolle.

Tabelle 1.6: Eine Synopse von Paradigma I: der 12-Faktoren-Diskurs

Raum Intra Inter


(innere Dialektik) (Außenbeziehungen)

Natur Intra-Spezies-Evolution Inter-Spezies-Antibiose und -


Symbiose
Mensch innerer Konflikt interpersonelle, z.B.
innerer Frieden eheliche, Beziehungen
GesellschaftI innergesellschaftliche internationale Beziehungen
Soziales Dialektik Konflikt und Kooperation
soziale Bruchlinien
Welt innerweltliche Dialektik interplanetare Beziehungen
Bruchlinien auf Weltebene (empirisch leer)
Kultur intrakulturelle Dialektik interkultureller Dialog
Geburt - Reife - Tod Antithese, Synthese
Zeit kairos: biologische Zeit, chronos: physikalische
subjektive Zeit Zeit, intersubjektive Zeit

Drei Perspektiven für Hypothesen über Gewalt und Frieden:


1. Kausalität: Gewalt wie Frieden haben einen bestimmten Ausgangspunkt,
z.B. in der Persönlichkeit (freudianisch) oder im Innergesellschaftlichen,
in der Klasse (marxistisch) oder im "Volk" (hitlerisch), und werden dann
woanders ausagiert.
2. Isomorphie: Jeder Raum kann als Metapher des anderen dienen, da er
strukturell ähnlich genug ist, um Hypothesen zu generieren.
3. Kausale Isomorphie: Bestimmte Muster werden aufgrund eines indivi-
duellen oder kollektiven, bewußten oder unbewußten Lernprozesses auf
andere Räume transferiert.
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 77

Tabelle 1.6 entsprechend wird die kausale Hypothese gewöhnlich horizontal


angewandt, wenn nämlich innerer Stress akkumuliert und dann im selben
Raum ausagiert wird: Innere persönliche Konflikte werden in der ehelichen
Gemeinschaft, Klassen- und nationale Konflikte werden auf internationaler
Ebene ausagiert; unsere sehr widersprüchliche Welt wird sich möglicherwei-
se gegen andere Planeten zusammenschließen; nicht-kreative Kulturen halten
sich schadlos an anderen Kulturen; und ein kairos (wie z.B. ein individuelles
oder ein kulturelles Trauma) wird durch chronos zu einer dauerhaften Dis-
position.
Die Isomorphismus-Hypothese wird meist vertikal, in der Intra- oder In-
ter-Spalte eingesetzt. Wenn wir von zehn Bruchlinien im gesellschaftlichen
Raum von Menschen ausgehen (Spezies/Natur, Geschlecht, Generation, Ras-
se, Klasse, Nation, Territorium und die Eckpunkte des Staat-Zivilgesellschaft-
Kapital-Triangels) und von neun Bruchlinien zwischen Ländern im Raum
Welt (Spezies/Natur, Altersrang, Rasse, Klasse, Zivilisation, Region und die
Eckpunkte des IGO-INGO-TNC-Dreiecks 21 - hier nur neun, weil das Ge-
schlecht von Menschen im Raum Gesellschaft keine eindeutige Entsprechung
im Raum Welt hat), dann ergeben sich viele belanglose und viele wichtige
Parallelen. Wenn wir einen Menschen dann noch unter dem somatischen
Aspekt als riesige Zellansammlung betrachten, in der manche Zellen sogar
auf Kosten von anderen wachsen (Krebs, in Sund Wals Ausbeutung be-
kannt), dann können wir viel lernen. Auch hat die freudianische Architektur
des Geistes, ausgedrückt in den Begriffen Es, Ich und Über-Ich, S- und W-
Parallelen.
Am interessantesten jedoch ist der kausale Gebrauch von Isomorphien durch
Lernen. Ein Beispiel wäre die "Sozialdarwinismus"-Hypothese aus dem Natur-
Raum, die als Norm der Tiefenkultur (Kosmologie) in andere Räume projiziert
wird und sich dabei als Ursache verselbständigt. Paradigma I ist für Friedens-
studien von grundlegender Wichtigkeit. Wir sollten die Sache aber vereinfa-
chen und den bisherigen Diskurs den Diskursen über direkte(n), strukturelle(n)
und kulturelle(n) GewaltlFrieden einerseits, über militärische, ökonomische,
politische und kulturelle Macht andererseits annähern. Diese Diskurse sind sich
sehr ähnlich, da strukturelle Gewalt sich ja in zwei Typen, in ökonomische
(Ausbeutung) und in politische Gewalt (Repression), aufspaltet.
Ein auf ein Mindestmaß reduzierter, Paradigma I entnommener Diskurs,
um Frieden und Gewalt in den Griff zu bekommen, müßte menschliche Na-
tur und Kultur, N und K, einbeziehen. Was aber ist mit P, Sund W, den Räu-
men der Person, der Gesellschaft und der Welt? Wir brauchen selbstverständ-
lich die ,innere Person' in ihrem Verhältnis zu anderen Personen aus P. Wir
können aber Sund W unter dem sehr allgemeinen Titel "Struktur" zusam-

21 IGO: International Governmental Organisation; INGO: International Non-Govern-


mental Organisation; TNC: Transnational Cooperation (Anm. d. Übers.).
78 Friedenstheorie

menfassen. Zeit, Z, kommt über das ebenfalls unerlässliche DPT-Dreieck


hinzu, da die Therapie ja ein auf Diagnose beruhender Versuch ist, eine Pro-
gnose in Richtung Frieden zu wenden.
Mit diesen vier Faktoren, nämlich Körper, Geist, Struktur und Kultur, ha-
ben wir Paradigma I zwar vereinfacht, aber nicht vollständig verlassen. Der
Diskurs ist jetzt so einfach, daß die Gefahr einer Reduzierung auf einen Fak-
tor, oder besser gesagt: auf ein Syndrom von Faktoren, sehr groß ist. Man
sollte auf jeden Fall zu vermeiden suchen, vereinseitigend die (menschliche)
Biologie ("Biologismus") oder die menschliche Psychologie ("Psychologis-
mus"), die Struktur ("Strukturalismus") oder die Kultur ("Kulturalismus") in
den Mittelpunkt zu stellen. Man muß dem Zusammenspiel zwischen diesen
Faktoren und der Gewalt/dem Frieden nachgehen.
Die Verknüpfung mit den anderen beiden Diskursen könnte einfacher
nicht sein: strukturelle und kulturelle Gewalt bzw. struktureller und kulturel-
ler Frieden sind schon da, die Schnittstelle von Körper und Geist führt aber
darüberhinaus geradewegs zu direkter Gewalt bzw. direktem Frieden. Bei ei-
ner Gewalttat sind Körper (Aggression) und Geist (Aggressivität) beteiligt;
bei einer friedlichen Tat ebenfalls, als Liebe (Körper) und Mitgefühl (Geist).
Wir können jetzt präziser werden, wie in Tabelle 1.7 geschehen, wo diese
generellen Hypothesen, Gewalt und Frieden betreffend, vertikal gelesen wer-
den können. Das Problem besteht darin, daß keine (post)moderne Welt allein
mit Elementen der rechten Kolumne aufgebaut werden könnte.

Tabelle 1.7: Paradigma 11: der Vier-Faktoren-Diskurs (mit Hypothesen)


Gewalt produzierend Frieden produzierend
N: Körper männlich weiblich
P: Geist ohne Einfühlungsvermögen mit Einfühlungsvermögen
(nicht emphatisch) (emphatisch)
S,W: Struktur vertikal (Alpha) horizontal (Beta)
K: Kultur zentrifugal zentripetal

Man kann auch andere Dichotomien (oder, allgemeiner gesagt, Variablen) ver-
wenden, um die vier Syndrome zu erschließen; zum gegenwärtigen Zweck
werden wir den Diskurs aber in diese Richtungen spezifizieren.
Die bei den ersten Faktoren befinden sich auf der individuellen, die beiden
letzten auf der kollektiven Ebene. Körper und Struktur sind somatisch/mate-
riell (eine Struktur ist die Summe schematischer Transaktionen), Geist und
Kultur sind spirituell/nicht-materiell. Die Hypothese von der Vorrangstellung
der Kultur bestätigt sich darin, daß die Kultur den Geist ("Sozialisation") und
die Struktur, das Interaktionsmuster (Akkulturation), prägt. Der Körper emp-
fängt Befehle teils vom Geist, teils vom sozialen Kontext, der Struktur.
Die Friedensforschung: einige grundlegende Paradigmen 79

Aber der Einwand liegt auf der Hand: Der Geist kann die Mikrokultur (in
manchen Fällen sogar auch die Makrokultur) in einem und um einen Men-
schen herum beeinflussen; die Kultur kann widerspiegeln, was schon in der
Struktur vorhanden ist (z.B. im Falle einer Eroberung). Und daß sich der
Körper Befehlen des Geistes und der Struktur - den internalisierten und den
institutionalisierten Normen - widersetzen kann, ist bekannt. Kurz, Kausal-
pfeile zielen in alle zwölf Richtungen, und das wollen wir nun genauer unter-
suchen.
Im nächsten Kapitel (dieses ersten Teils über Frieden) über Unterschiede
der Geschlechter (N) wird der Körper als wesentlicher Faktor im Mittelpunkt
stehen, und in den darauf folgenden Kapiteln 4 und 5 über Demokratie (S)
und das Staatensystem (W), werden wir uns mit der politischen Struktur be-
schäftigen. In Teil 11, über Konflikt, geht es um Geist und Empathie; Teil III
über Entwicklung befaßt sich mit der ökonomischen Struktur; in Teil IV über
Zivilisation schließlich werden Auswirkungen der Tiefenkultur (Kosmologie)
auf den Frieden ermittelt.
3 Frau: Mann = Frieden: Gewalt?

3.1 Das Patriarchat als direkte, strukturelle und kulturelle


Gewalt
Wir werden in diesem Kapitel die Beziehung zwischen Geschlecht und direk-
ter Gewalt und insbesondere zwischen männlicher Sexualität und männlicher
Aggressivität untersuchen. Wir werden teilweise auf der biologischen Ebene
argumentieren, aber nicht bio logistisch, denn das wäre ein Diskurs mit unab-
hängigen Variablen aus nur einer Disziplin, im vorliegenden Falle der Bio-
logie. Um Frieden/Gewalt als abhängige Variablen erklären zu können, wer-
den wir den Vier-Faktoren-Diskurs unabhängiger Variablen einsetzen, der
auf Körper und Geist, Struktur und Kultur baut. Der "Körper" soll hier hin-
sichtlich seiner Männlichkeit oder Weiblichkeit behandelt werden, der "Geist"
hinsichtlich hoher oder niedriger Empathie, die "Struktur" als horizontal oder
vertikal ("hierarchisch") und die "Kultur" als zentripetal oder zentrifugal
("expansionistisch"). Daß Weiblichkeitlhohe EmpathielHorizontalitätJZentri-
petalität Merkmale sind, die zu friedlichen Verhaltensweisen disponieren,
wohingegen Männlichkeit/niedrige EmpathieNertikalität/Zentrifugalität eher
zu Gewalttätigkeit führen, ist die zentrale Hypothese.
Selbstverständlich ist das sehr vereinfachend, und Studien über Gewalt
und Frieden sind beträchtlich komplexer. Aber ein solcher Diskurs reicht für
unsere momentanen Absichten. Was diesen als einen Diskurs über Gewalt
angeht, so werden wir die Unterscheidung zwischen direkter, struktureller und
kultureller Gewalt einsetzen, wobei direkte Gewalt darauf abzielt, die Grund-
bedürfnisse anderer (einschließlich der Natur) zu verletzen, strukturelle Ge-
walt solche Verletzungen in Form von in die Gesellschafts- und Welt-Struk-
turen eingebauter Ausbeutung und Repression mit sich bringt, und kulturelle
Gewalt über Aspekte der Kultur (wie Religion und Sprache) direkte und
strukturelle Gewalt legitimiert. Negativer Frieden wäre dann die Negation all
dessen.
Die quadrilaterale Verbindung von Geschlecht, Struktur, Kultur und Frie-
den/Gewalt führt uns auf direktem Wege zum Patriarchat als soziale Forma-
tion. Die Unfähigkeit, die Wirklichkeit des Patriarchats in der menschlichen
Gesellschaft wahrzunehmen, kann vielleicht am besten dadurch erklärt wer-
den, daß in diesem Falle kulturelle Gewalt am Werk ist. Die feministische
82 Friedenstheorie

Theorie hat wichtige Beiträge zur Friedenstheorie geleistet, indem sie dies
gezeigt hat." Da jeder Begriff durch seine spezifische Negation am besten
verständlich wird, soll sofort darauf hingewiesen werden, daß die friedliche
Negation von Patriarchat nicht Matriarchat bedeutet, sondern Parität oder
Gleichheit der Geschlechter - horizontale Strukturen, die die Geschlechter
als Partner in Beziehung setzen. 2'
Das Patriarchat kann man dann als Institutionalisierung männlicher Do-
minanz in vertikalen Strukturen erkennen, wobei hohe Korrelationen zwi-
schen sozialer Stellung und Geschlecht bestehen, die durch die Kultur (z.B.
Religion und Sprache) legitimiert werden und sich oft als direkte Gewalt dar-
stellen, bei der Männer die Subjekte und Frauen die Objekte sind. Das Pa-
triarchat kombiniert, wie jede andere zutiefst gewalttätige Sozialstruktur (wie
z.B. kriminelle Subkulturen oder militärische Strukturen), direkte, strukturelle
und kulturelle Gewalt in einem Teufelsdreieck. Die drei Gewaltformen verstär-
ken sich gegenseitig in Zyklen, die in jeder Ecke beginnen können. Direkte Ge-
walt, wie Vergewaltigung, schüchtert ein und unterdrückt; strukturelle Gewalt
institutionalisiert diese Beziehung, und kulturelle Gewalt führt zu deren Verin-
nerlichung, besonders bei den Opfern, den Frauen, und festigt so die Struktur. 2'
Es gibt unzählige Möglichkeiten für eine solche Unterdrückung, von denen
viele in feministischen Studien untersucht worden sind, und zwar meist durch
Frauen. 2' Männer sollten sich hier mehr beteiligen und vor allem die männli-
che Seite der Gleichung untersuchen. 2'

22 Siehe z.B. Betty A. Reardon: Sexism and the War System, New York 1985; Birgit
Broch-Utne: Educating for Peace. A Feminist Perspective, Oxford 1985.
23 Siehe Riane Eisler: The Chalice and the Blade: Dur History, Dur Future, San Fran-
cisco 1987. Es gibt eine schwächere (verteilungsbezogene) Interpretation der "Gleich-
heit der Geschlechter" als niedrige oder Null-Korrelation zwischen Geschlecht und
jeder beliebigen Gesellschaftsvariablen und eine stärkere (relationale) Definition als
ausgeglichene Interaktionsbeziehungen zwischen den Geschlechtern, zu Hause, am
Arbeitsplatz, in der Gesamtgesellschaft. Die Parität bezieht sich auf die stärkere In-
terpretation, über die 50%-Grenze und gleiche Möglichkeiten hinaus.
24 Ein fest institutionalisiertes Muster direkter Gewalt, wie die Vendetta, der Banden-
krieg oder der Infantizid an Mädchen könnte man "ritualisierte" oder "institutiona-
lisierte" Gewalt nennen. Diese Art von Gewalt ist meist gesellschaftlich akzeptiert,
da man sie als Teil der "Natur des Menschen" oder der gesellschaftlichen Realität
betrachtet. Die Vergewaltigung aus dieser Kategorie zu entfernen, erfordert Bewußt-
seinsbildung, Mobilisierung und Konfrontation der Art, wie sie insbesondere von
US-Feministinnen betrieben wird: ein Angehen gegen Internalisierung und Institutio-
nalisierung, um die Vergewaltigung als direkte Gewalt, gar als Krieg zwischen den
Geschlechtern zu entlarven. Kate Milletts Sexual Polities, New York 1969, gebührt
ein Platz neben Kar! Marx' Das Kapital.
25 Für mich war Marylin French: Beyond Power: On Women, Men and Morals, London
1985, besonders hilfreich.
26 In Norwegen ist die Arbeit von Öystein Gullväg Halter, die auf Harriet Halters Werk
über Geschlechterrol1en aufbaut, sehr vielversprechend.
Frau: Mann = Frieden: Gewalt? 83

3.2 Direkte Gewalt: ein wesentlich männliches Phänomen


Zu behaupten, daß 95% aller direkten Gewalt von Männern ausgeübt wird,
ist wahrscheinlich eine Untertreibung. Das soll nicht heißen, daß nicht auch
Frauen in kriminellen, sogar gewalttätigen Banden auftreten, für Krieg sind
uSW.; es soll nur heißen, daß wirklich gewaltsame Taten von Männern verübt
werden.
Die Korrelationen zwischen Geschlecht und Gewalttätigkeit sind nicht nur
sehr hoch, sie scheinen auch unabhängig von Zeit und Raum zu sein. Man
hat keine Beweise dafür gefunden, daß es "Amazonen"", wilde, kriegerische
Frauen, gegeben hat; das ist wahrscheinlich auch ein männlicher Mythos, wie
"Frauen wollen vergewaltigt werden", eine Art und Weise, hinsichtlich der
Gewalt mit den Frauen quitt zu werden. Aber solche Korrelationen sind zu
hoch, um sichtbar zu sein. Sozial wissenschaftler arbeiten meist mit kleineren
Prozentunterschieden. Dem Offensichtlichen ist nur allzu lange keine wirkli-
che Aufmerksamkeit zuteil geworden.
Auf allen gesellschaftlichen Ebenen wird massive direkte Gewalt von
Männern ausgeübt; in Form von krimineller Gewalt in Familie und Gesell-
schaft und in Form von politischer Gewalt innerhalb von und zwischen Ge-
sellschaften. Neuere schwedische Statistiken zeigen, daß pro Jahr 1.400 Ver-
gewaltigungen und 14.000 Fälle von Gewalt in der Familie, bei einer Ge-
samtbevölkerung von etwa acht Millionen, gemeldet werden, wobei die tat-
sächlichen Zahlen natürlich viel höher liegen." Bei Gewaltverbrechen ist das
Verhältnis 25 Männer : 1 Frau in der Kriminologie der Normalwert; bei se-
xuellen Übergriffen, einschließlich Vergewaltigung, ist es noch ausgeprägter.
Auf politische Gewalt von oben, auf staatlichen Terrorismus gegen Bürger,
haben Männer ein Monopol - ob diese Gewalt nun von Richtern und Fol-
terern zu Zeiten der Spanischen Inquisition vom späten 15. Jahrhundert an 29
(mit abnehmender Brutalität) oder heute in Form von Polizeigewalt und Fol-
ter (routinemäßig in 60 Ländern, in 30 weiteren gelegentlich) ausgeübt wird.

27 Die Encyclopaedia Britannica, Micropaedia, Bd. I, verortet Amazonen in der grie-


chischen Mythologie, mit dem Zusatz, daß "die den Amazonen zugeschriebene Hei-
mat notwendigerweise entlegener wurde, als das geographische Wissen der Griechen
zunahm." Der Mythos hatte offensichtlich starken Einfluß auf die spanische Kartho-
graphie Südamerikas im 16. Jahrhundert, nachdem Francisco de Orellana "behauptet
hatte, er habe sich mit kämpfenden Frauen bekriegt".
28 Zahlen zur Lage in Schweden aus einer Rede von Margot Wallström, damalige Mi-
ni sterin für Frauenfragen, auf der "Mannsmässa", Göteborg, 21. Mai 1991.
29 Siehe zur Inquisition Cecil Roth: The Spanish Inquisition, New York/London
(Barcelona) 1989; und Robert Held: Inquisition - Inquisicion: a Bilingual Guide to
the exhibition of torture instruments from the Middle Ages to the Industrial Era
presented in various European Cities in 1983 - 92, Florenz o. J. Alle Texte und Bil-
der zeigen Männer in den gewalttätigen Rollen und häufig Frauen unter den Opfern.
84 Friedenstheorie

Bei politischen Gewalttaten von unten sind mehr Frauen beteiligt, auch
Liebespaare, die als Terroristen aktiv sind.'" Und Kampfeinsätze, das Töten
durch Soldaten, sind immer noch ein männliches Vorrecht, sowohl was die
Ausgabe, als auch, was die Ausführung von Befehlen betrifft. Daß es eine
negative, gegen 0% tendierende weibliche Disposition bezüglich all dieser
Gewalttaten gibt, ist ebenso offensichtlich, wie daß es eine positive männli-
che Disposition zur Gewalt gibt." Aber warum?
Männer haben offenbar ein persönliches Interesse daran, in der Forschung
von dieser Frage abzulenken; die Forschungsergebnisse würden ein schlech-
tes Licht auf den Mensch als "Mann", nicht als Spezies, werfen. Es scheint
günstiger, "menschliche Aggressivität" zu untersuchen und das Geschlechts-
spezifische unter den Teppich zu kehren, indem man den Mann im Menschen
aufgehen läßt."
Frauen aber können auch ihre Gründe haben, vor diesem Thema zurück-
zuscheuen. Dabei ist ihr Problem nicht, daß sie die Tatsachen nicht wahrha-
ben wollen, sondern die Schwierigkeit, annehmbare Erklärungen zu finden.
Wenn man obige vier Faktoren einsetzt, kann man einige Erklärungen fin-
den: bezüglich der Kulturen, wenn die männliche Kultur reich an Aggressivi-
tät und Anmaßung, die weibliche Kultur reich an Mitleid und Demut ist; be-
züglich der Strukturen, wenn Männern mehr Ansporn und Gelegenheit zur
Gewaltausübung geboten werden; und bezüglich des Geistes, wenn Männer
über ein geringeres Maß an Empathie verfügen, da sie keinen Nachwuchs
großziehen und auch nicht darauf vorbereitet werden. Also unterschiedliche
Formen der Sozialisation", die tief verwurzelt, aber dennoch modifizierbar

30 Siehe Francesco Alberoni: lnnamoramento e amore, Garzanti 1979 (amerik. Ausgabe


Falling in Love, New York 1983). Das Muster verliebter Frauen, die zusammen mit
ihren Liebhabern Gewalttaten verüben, konnte man in der deutschen RAF, den ita-
lienischen Brigate Rosse und der japanischen sekigun finden. Man lese auch Robin
Morgan: The Demon Lover: On the Sexuality of Terrorism (New York 1989), zu
eben diesem Syndrom.
31 Es muß aber auf den indirekten Beitrag von Frauen als Mittäterinnen (dt. im Orig.)
hingewiesen werden. Siehe z.B. Tordis Batscheider, Susanne Lang, Ilse Petry:
"Kriegerische Männer - Friedliche Frauen?", in: Friedensforschung Aktuell, Winter
1990, Nr. 24. Die berühmten Gemälde der florentinischen Malerin des 17. Jahrhun-
derts, Artemisia Gentileschi, schockieren besonders deshalb, weil sie den Gewaltakt
selbst darstellt, bei dem Frauen Männer brutal und leidenschaftslos töten.
32 Konrad Lorenz scheint nach der Darstellung eines seiner ehemaligen Assistenten,
Norbert Bischof' Gescheiter als alle die Laffen, Hamburg 1990, ein konservativer
Extremist gewesen zu sein. Lorenz sprach immer von "Mensch", wenn "Mann" an-
gebrachter gewesen wäre. Oder war beides für ihn dasselbe?
33 Wie später im Text dargestellt, kommt zur unterschiedlichen Einübung von Kindern
in stereotype Geschlechterrollen der Zugang zur Mutterliebe in der konkreten Form
des Hautkontaktes hinzu. Wenn Jungen von solcher Liebe weniger bekommen als
Mädchen, werden sie vielleicht auch als Väter weniger in der Lage sein, ihren Kin-
dern solche Liebe zu geben, wodurch sie das Muster diachron reproduzieren.
Frau: Mann = Frieden: Gewalt? 85

sind. Wird die Biologie ins Spiel gebracht, scheint die Gewalt nicht modifi-
zierbar zu sein. Der Biologismus wird als kulturelle Gewalt gegen Frauen
eingesetzt, in ihm wird männliche Dominanz durch Muskelkraft und angebli-
che weibliche Instabilität und Rückzüge während der Menstruations- und
Fortpflanzungszyklen gerechtfertigt. Würde man den Biologismus gegen die
Männer einsetzen, könnte das zu einem Bumerang-Effekt führen; und außer-
dem, was kann man schon machen, bedenkt man die (verständlichen) Tabus,
sich mit allen Männern anzulegen.
Hier hätten wir also einen Sonderfall der allgemeinen menschlichen Nei-
gung, ein Problem erst in dem Moment als solches zu akzeptieren, in dem eine
Lösung in Sicht ist - wenn nicht in der Praxis, so doch auf dem Papier. Ein
schwerwiegendes Problem, für das es keine Lösung gibt, ist kaum zu ertragen,
also muß man es verdrängen, vergessen. Wahrscheinlich ist das der Mechanis-
mus, der der Unfähigkeit zugrundeliegt, diese überwältigende Korrelation ernst
zu nehmen, und was gemeint ist, wenn wir sagen, die Korrelation sei einfach
"zu hoch". Der Mechanismus funktioniert bei Männern und bei Frauen, auch
bei ForscherInnen, aber auf unterschiedliche Weise. Männer sind mit dem
Biologismus einverstanden, da sie nichts ändern wollen; Frauen akzeptieren ihn
nicht, da sie Veränderung wollen, z.B. in den Machtbeziehungen.

3.3 Männliche Gewalt: die Schnittfläche zwischen


Sexualität und Gewalt

Die allgemeine These, die ich hier untersuchen will, besagt, daß ein Teil der
Erklärung der männlichen Prädominanz bezüglich der Gewalt in der Über-
lappung von männlicher Sexualität und männlicher Aggressivität zu finden
ist. Diese ist militärischen Planern sicher bekannt. Es kann kaum als ein Zu-
fall betrachtet werden, daß während des Golf-Krieges (männliche) US-Bom-
berpiloten auf dem Flugzeugträger Kennedy sich Porno videos angesehen ha-
ben, bevor sie ihre Einsätze flogen, bei denen sie militärische und zivile Ziele
zerstört und Soldaten und Zivilisten getötet haben (von Associated Press be-
richtet, aber von den Zensoren als "zu peinlich" gestrichen)." Im Krieg ist
die Vergewaltigung von Frauen der Feinde Teil der Eroberung. Wieso be-
steht diese Verbindung von Sexualität und Gewalt?
Eine Theorie wäre die, Sex als Kompensation für Risiko und Opferbereit-
schaft zu betrachten. Darin liegt sicher ein Stück Wahrheit. Wir wollen uns
hier jedoch auf die Nahtstellen zwischen der Sexualität und dem Beruf des
Soldaten, nämlich zu töten und zu zerstören (und nicht getötet und zerstört zu
werden), konzentrieren. Im folgenden also sechs Hypothesen.

34 Vgl. Village Voice vom 26. März 1991.


86 Friedenstheorie

1. Männlicher Orgasmus und männliche Gewalt haben physiologisch viel


gemeinsam. Man stelle sich vor, daß der physiologische Zustand des männli-
chen Körpers über eine gewisse Zeit gemessen wird; man würde einen hohen
Adrenalinspiegel feststellen, einen rasenden Puls, Schwitzen, Stöhnen, un-
kontrollierte Artikulation und einen hohen Blutdruck, der zur Reduktion des
Seh- und Hörvermögens führt. Im Verlauf einiger Tage, Wochen oder zu-
mindest Monate wird ein typischer erwachsener Mensch männlichen Ge-
schlechts einige Orgasmen und einige Momente der Wut haben. Seine phy-
siologischen Kurven werden dabei parallel laufen, da beide Zustände viele
gemeinsame physiologische Grundlagen haben; in dem einen Zustand wer-
den sie als lustvoll erlebt, als ängstigend in dem anderen. 35 Die ent-
sprechenden zielbewußten Geisteszustände sind vielleicht auch nicht so ver-
schieden.
2. Da sie neurologisch gesehen Nachbarn sind, kann das Auslösen des/r ei-
nen zur Auslösung des/r anderen führen. Die physiologischen Modi von Or-
gasmus und Wut werden durch Impulse aus den gleichen Zentren des Sympa-
thikussystems vermittelt; das verlangt ein Modell, bei dem "Energie" (ilan
vital?) vom einen zum anderen fließt, wenn eine Hemmschwelle niedriger
wird. Ein Beispiel wäre die Folter: Folterer sind Männer, ihre Opfer oft Frau-
en, und die Folterung von Frauen richtet sich gegen den Genital- und Brust-
bereich. 3. Ein weiteres Beispiel wäre die Vergewaltigung, ob man diese nun
als gewaltsame Möglichkeit zur sexuellen Befriedigung betrachtet oder als
sexuelle Möglichkeit, Gewalt auszuüben." Der Transfer - und zwar in beide
Richtungen - fällt leicht, wenn die Hemmschwelle erst einmal gesunken ist.
Pornofilmproduzenten wissen das und stellen neurologische Nachbarn als vi-
suelle Nachbarn dar. Man kann viel Geld verdienen mit der Verbindung von
Sex und Gewalt, eine Verbindung, die in der Öffentlichkeit aus soziokulturel-
len Gründen tabuisiert ist; solche Filme sehen sich dann männliche Zuschau-
er auf privaten Videoschirmen an, wobei Alkohol mit dazu beiträgt, die
Hemmschwelle herabzusetzen. Viel Geld kann aber auch mit einer Ver-
bindung von Sex und Liebe in gesellschaftlich akzeptierten Filmen verdient
werden, die mit Abstand von Frauen bevorzugt werden."

35 Diese Erkenntnis verdanke ich einem privaten Gespräch mit Professor Herman Ten-
nessen.
36 Bei Robert Held: Inquisition, a.a.O., Teil 5: "On Woman and Torture", wird das sehr
deutlich, wenn er die Folterinstrumente analysiert.
37 Oder beides, ein Diskurs schließt den anderen nicht aus.
38 Statt diese Unterschiede aber als durch gesellschaftliche Rollenspiele in der Kindheit
und im Erwachsenenalter entstanden zu betrachten, ist die Perspektive hier eher die,
sie als durch frühe Erfahrungen im Mutter-Vater-Tochter-Sohn-Viereck geprägt an-
zusehen, wobei die Frauen lernen würden, Sex (= Hautkontakt) und Liebe (körperliche,
sinnliche, geistige Intimität) zu verbinden, Männer dagegen, Sex (=Genitalkontakt) mit
Untersuchung, Penetration, vielleicht auch mit Gewalt zu assoziieren.
Frau: Mann = Frieden: Gewalt? 87

Das ist jedoch keineswegs die einzige Verbindung von Sex und Gewalt.
Eine andere Möglichkeit, Sex und Gewalt zu kombinieren, ist der Sado-
Masochismus", das Zufügen und Erdulden von Schmerzen vor, während
und/oder nach dem Orgasmus. Dies als Perversion abzutun, schließt faktische
neurologische Beziehungen zum Sex nicht aus. Noch wichtiger ist vielleicht
die Beziehung zwischen Folter und Sex; sowohl der Folterer als auch sein
Opfer können eine gewisse sexuelle Erregung verspüren, auch wenn bei der
Folter keine explizit sexuellen Elemente vorhanden sind. Jungen und Männer
haben oft Erektionen, wenn sie über Folter lesen, oder haben zumindest Ge-
fühle, die nicht negativer, sondern eher angenehmer Art sind. Es gibt Berich-
te darüber, daß Soldaten in Kampfsituationen Erektionen haben, wie auch
Henker und ihre "Klienten". Das sind vor allem männliche Rollen!
3. Da sie neurologische Nachbarn sind, kann die Unterdrückung der einen
die andere auslösen. Aufgrund ihrer gemeinsamen neurologischen Basis
kann man sich Sexualität (S) und Gewalt (G) vielleicht als eine Art kommu-
nizierende Röhren vorstellen: S + G = K (konstant), als Gegenteil der vorher-
gehenden These: S löst Gaus, G löst S aus, in einer sich aufwärts windenden
Spirale.
Wilhelm Reich4• hat die Repression der Sexualität im nationalsozialisti-
schen Deutschland und den Einsatz von Männern bei extremen Gewalthand-
lungen, in der SS, als KZ-Wächter usw., untersucht. Das steht nicht im Wi-
derspruch zur Auslöser-Theorie, ebensowenig wie die Aussage: "Weil ich
den ganzen Tag über nichts gegessen habe, bin ich hungrig", im Widerspruch
steht zur Aussage: "Je mehr ich aß, desto hungriger wurde ich", da hier der
Auslöse-Mechanismus einfach auf einer höheren Ebene funktioniert.
Sigmund Freud41 verband gesellschaftlich inakzeptable Sexualität und Ge-
walt mit Kreativität (C) in einer Formel S + C = K, worin mittels Sublimati-
onsprozessen unterdrückte Energie als Kreativität figuriert. Reichs Einsicht
steht nicht im Widerspruch zu der Freuds, wenn man sich vor Augen hält,

39 Der Marquis de Sade (,Sadismus ') war besonders berüchtigt, nicht nur wegen seiner
schändlichen Mißhandlung der jungen Prostituierten Rose Keller, sondern auch we-
gen seiner Rechtfertigung der Sex-Gewalt-Verbindung in seinen Schriften, die Titel
trugen wie Les crimes de ['amour. Auch der zweite Begriffsbestandteil (,Maso-
chismus') leitet sich von einem Mann her, nämlich vom österreichischen Romancier
Leopold von Sacher-Masoch.
40 Reich war klassenbewußter als Freud, bei dem diese wichtige Dimension fehlt - so,
als ob die Gesellschaft horizontal wäre. Vgl. hierzu Reichs Massenpsychologie des
Faschismus (Köln 1971). Die Ziele der Führer sind verbunden mit den unbewußten
Wünschen der Massen.
41 Die Sublimierungstheorie kann als allgemeine Theorie der Verschiebung triebhafter
Energie in nicht-triebhaft geprägte Tätigkeitsbereiche begriffen werden, mit der man
versucht, die Evolution von "höheren Funktionen" aus niederen zu erklären; vgl.
Penguin Critical Dictionary 0/ Psychoanalysis, Artikel über Sublimierung.
88 Friedenstheorie

daß sie bezüglich der Formel S + G + C = K verschiedene Gesellschafts-


schichten untersucht haben und C den unteren, G den höheren Schichten ver-
sperrt war.
4. Die Testosteronkurve bei Männern fällt mit dem militärischen Alter zu-
sammen. Wenn wir uns eine Kurve vorstellen, die mit der Präpubertät an-
fängt zu steigen und nach dem mittleren Lebensalter wieder abfällt, bekom-
men wir ein Intervall von etwa 12 bis 65 Jahren, was derjenigen Altersgruppe
entspricht, die Nazi-Deutschland gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mobi-
lisierte. Das kann man vielleicht als belanglos abtun, da ein dritter Faktor be-
rücksichtigt werden muß, die Muskelkraft. Diese benötigt man jedoch nicht
bei allen militärischen Aufgaben. Wahrscheinlich hängt es eher damit zusam-
men, daß man meint, ein richtiger Mann sei jemand, der zu gesellschaftlich
akzeptierten Erektions-Ejakulations-Sequenzen fähig ist, was auf sehr junge
und sehr alte Männer nicht zutrifft. Der Mann, der am besten für Gewalttaten
eingesetzt werden kann, ist der geschlechtsreife Mann, dessen Höhepunkt se-
xueller Kraft bei einem Alter von etwa 18-20 Jahren liegt, was auch die Haupt-
altersklasse für das Militär ist:'
5. Die Östrogenkurve bei Frauen verläuft zyklisch und ist komplexer. Frau-
en scheinen während der prämenstruellen Phase bis zum Eisprung aggressi-
ver zu sein in der Hinsicht, daß sie extrovertiert, geistreich, strahlend, gesell-
schaftlich aktiv und kreativ sind; was soziobiologisch gesehen vielleicht eine
Strategie ist, Männer zur Befruchtung einzufangen. Das Einsetzen der Men-
struation würde dann bedeuten, daß die Strategie (in diesem Monat) versagt
hat, was zu einer gewissen nach innen gerichteten Trägheit führt; eine Akti-
vierung erfolgt dann wieder im nächsten Zyklus.
Folglich müßte ein militärischer Gebrauch der erhöhten Gewaltbereit-
schaft von Frauen auf den Menstruationszyklus abgestimmt werden, um die
präovulative weibliche Aggressivität nutzbar zu machen. Der Gipfel aggres-
siver Gewaltbereitschaft im monatlichen Zyklus einer Durchschnittsfrau liegt
jedoch weit unter dem entsprechenden Gipfel im Lebenszyklus eines Durch-
schnittsmannes. Wir sollten auch sehen, daß mit Beginn des Alterns die
männliche Prädisposition für Gewalt erheblich geringer wird, wodurch der
Mann "menschlicher" wird, etwa wie ein männliches Kind oder zumindest
ein männlicher Minderjähriger. Die Verwendung von Steroiden im Sport
baut auf diese Zusammenhänge, nutzt sie aber für jüngere Leute."

42 Sowie das HauptaIter für ein verwandtes Phänomen, den Kampfsport.


43 Sportlerinnen versuchen manchmal, vor wichtigen Wettkämpfen schwanger zu wer-
den, um die Hormonauswirkungen der frühen Schwangerschaft zu nutzen, und trei-
ben danach dann ab; es gibt Berichte darüber, daß das zuweilen in der DDR prakti-
ziert wurde, wo man leicht abtreiben konnte.
Frau.' Mann = Frieden.' Gewalt? 89

6. Der Monoamino-Oxidase(MAO)-Spiegel ist bei den beiden Geschlech-


tern unterschiedlich hoch. Ein niedriger Spiegel dieser Enzyme prädisponiert
für Aggressivität. Dieser Spiegel ist bei 90% aller Männer niedrig, erhöht
sich aber mit zunehmendem Alter; bei 10% aller Frauen ist er niedrig. Die
MAO sorgen für die metabolische Aufspaltung von Aminen, insbesondere
der biogenen Amine, die als entscheidende Komponenten der Genese be-
stimmter psychotischer Erkrankungen gelten." Ein niedriger MAO-Spiegel
weist hin auf ein herabgesetztes Aufspaltungsvermögen biogener Amine, wo-
raus sich eine stärkere Neigung zu psychotischen Erkrankungen ergibt. Man
könnte Gewalttätigkeit als präpsychotisch oder psychotisch betrachten; sie
könnte ein Hinweis auf eine zugrundeliegende ernsthafte Störung sein.

3.4 Kulturelle und strukturelle Faktoren


Wir gehen hier nicht davon aus, daß die Biologie auf diesem Gebiet allein
tonangebend ist, vielleicht erkärt sie nur 10 - 20%. Andere Faktoren wirken
jedoch der männlichen Prädisponiertheit zur Gewalt nicht unbedingt entge-
gen; sie können, sie können aber auch nicht in die gleiche Richtung gehen.
Fangen wir bei der Kultur an, und zwar bei der Sprache. Ein sehr häufig -
von Männern viel häufiger als von Frauen - benutzter Ausdruck der engli-
schen Sprache ist ,,fuck". Bei einigen amerikanischen Männern hat man
schnell den Eindruck, ihre Sprache sei auf ein einziges Wort reduziert, das
sie als Verb, Substantiv, Adverb, Adjektiv usw. verwenden. Daß man dieses
Wort zur Beschreibung von Formen sexueller Aktivität benutzen kann, ist
klar. Der Satz "My car got fucked up yesterday" ist jedoch auch korrektes
Englisch, auch wenn er keine Beschreibung einer sexuellen Handlung enthält
- sowenig wie der noch phantasievollere Satz "I had my car defucked", der
wahrscheinlich den erfolgreichen Besuch einer Kfz-Werkstatt zum Ausdruck
bringt. Was ich sagen möchte, ist klar: Neurologische Nachbarn werden mit
dem gleichen Begriff belegt, der also sowohl für sexuelle als auch für de-
struktive Aktivitäten einsteht. Hierin steckt auch eine Ambivalenz der Se-
xualität gegenüber, da ein starker Wunsch und eine starke Ablehnung auf der
psychologischen Ebene Nachbarn sind.
Auf die Phallusform von Raketen und Bomben ist genügend hingewiesen
worden. Was aber ist mit den neuen, den "intelligenten" Bomben? Während
des Golfkrieges bestand eine ihrer Hauptfunktionen darin, stark befestigte
Ziele durch eine Öffnung (einen Belüftungsschacht etwa oder eine Tür),
häufig nachts, zu durchdringen und dann zu explodieren - manchmal sogar
zwei Bomben in derselben Öffnung. In anderen Worten: eine Gruppen-

44 Siehe Penguin Medical Dictionary, Artikel über Monoamino-Oxidase.


90 Friedenstheorie

vergewaltigung. Was den Kommentar der Piloten angeht, so ließe sich wet-
ten, daß er lautete: "We sure fucked them, didn't we?"
Wenn wir nun von der Sprache zur Religion übergehen, einem weiteren
Schwergewicht im allgemeinen Syndrom kultureller Gewalt, könnten wir
fragen, welche christliche Glaubensrichtung - die orthodoxe, die katholische
oder die protestantische - am stärksten zur Gewalt neigt. Man könnte vermu-
ten, der Protestantismus: als Christentum ohne Maria, mit einer Trinität, be-
stehend aus zwei Männern, Vater und Sohn, und einem dritten Wesen von
zweifelhaftem, ja zweideutigem Geschlecht; Maria kommt hier nur als Mut-
ter vor. Ein defeminisiertes Christentum also, das dessen Entwicklung aus
nahöstlichen Ursprüngen" spezifisch vorantreibt und mit dem Auftreten der
Hexenprozesse'· koinzidiert. Nimmt man noch die Probleme dazu, die das
Christentum immer mit der Sexualität gehabt hat, dann erkennt man Bezie-
hungen zwischen Sexualität und Aggressivität, die nicht angeboren, sondern
kulturbedingt sind, und zwar in der Dehumanisierung von Frauen, die da-
durch erleichtert wird, daß Frauen im okzidentalen Pantheon nicht vertreten
sind.
Wenden wir uns nun, immer noch religionsnah, der Struktur zu, dann stellt
sich die Frage, wie Menschen über die Religion hinaus mit dem Problem fer-
tig werden, daß ihr Leben begrenzt ist. Frauen haben durch ihre Kinder, ihre
Nachkommen, ewiges Leben, besonders in Gesellschaften mit Matrilineari-
tät. Für Männer ist das Problem schwerer zu lösen. Patrilineare, patrilokale,
selbst patriarchalische Gesellschaften sind nur Teillösungen, die allesamt
damit beginnen, den Kindern den Namen des präsumptiven Vaters zu geben.
Darüberhinaus bietet das Konkurrenzwesen eine Lösung, nämlich die Mög-
lichkeit, mit korrosionssicherem Ruhm in die Ewigkeit einzugehen, ob nun
auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft, des Sports oder der Unterhal-
tung, des Geschäftslebens oder der Politik, oder durch militärische Tüchtig-
keit. Letztere hat einen Vorteil, daß nämlich dauerhafte geopolitische Verän-
derungen oft nach Schlachten und Generälen bezeichnet werden, zumindest
zeitweilig. Die am besten sichtbaren Denkmäler dieser Welt scheinen dem
Mann der Gewalt, dem Mann auf dem Pferd, gewidmet zu sein. Hierin, also
im Ruhm, der durch Konkurrenzstrukturen erlangt wird, liegt ein weiterer
Grund für Gewalttätigkeit. 47 Und jede größere Stadt der Welt scheint irgend-

45 Eine Analyse der Vorrangstellung von Göttinnen im Nahen und Mittleren Osten bei
Toni Liversage: Den Store Gudinde, Kopenhagen 1990; die klassische Arbeit zum
Thema ist Robert Graves' The White Goddess (New York 1948).
46 Siehe Gunnar Heinsahn und Otto Steiger: Die Vernichtung der weisen Frauen,
Hemsbach 1985, zum Zusammenhang von Bevölkerungswachstum und "Hexenpro-
zessen" (Hexen wurden oft beschuldigt, Geburtenkontrolle zu betreiben).
47 Es gibt einen eigenartigen Aspekt bezüglich des Berufssoldatentums als Karriere-
möglichkeit. Wo andere Berufe relativ stetig Gelegenheit bieten, sich selbst zu be-
weisen, muß ein Berufssoldat oft viele Jahre auf die sich dann plötzlich bietende
Frau: Mann = Frieden: Gewalt? 91

ein Denkmal in Phallusform aufgestellt zu haben (die Nelsonsäule, die Place


de la Concorde oder der Eiffelturm, das Washington-Denkmal, usw.).
Dann ist da noch der vierte unabhängige Faktor, der Geist. Wenn wir vor-
aussetzen, daß Pflege und Kinderaufzucht bei der Entstehung und der Ver-
breitung von menschlicher Empathie eine Rolle spielen, dann haben Frauen
fast so etwas wie eine Monopolstellung bezüglich einiger grundlegender
Merkmale physiologischer Art. Nichtsdestotrotz profitieren auch Männer im
Kleinkindalter von der Bemutterung, von Wärme und Geborgenheit und Für-
sorge, davon, höchste Priorität zu haben. In einem frühen Stadium jedoch
setzt schon eine sehr unterschiedliche Erziehung ein. Jungen werden härter
angefaßt als Mädchen, weil man davon ausgeht, daß sie das schon vertragen
können, oder sie werden mit mehr Sorgfalt behandelt, weil man sie als wert-
voller betrachtet.
Ein allgemeiner Prozeß der physischen und emotionalen Distanzierung
zwischen Mutter und weiblichem oder männlichem Nachwuchs setzt mit der
Geburt ein und endet mit dem biologischen Tod. Wir dürfen aber gewiß die
Hypothese aufstellen, daß ein größerer Abstand zum männlichen Nachwuchs
hergestellt wird, wenn auch nur aus dem Grunde, daß der Mann niemals voll-
ständig die Rolle der Mutter übernehmen wird. Das Leben eines Mädchens
dagegen kann sich durchgehend - als Kleinkind, Mutter, Großmutter - um
das Leitmotiv hoher Empathie ranken. Um ein niedrigeres Niveau von Empa-
thie bei Jungen postulieren zu können, müssen wir nicht voraussetzen, daß
sie zu höherer Risikobereitschaft, zu weniger Rücksichtnahme oder gar zur
Gewalt erzogen wurden. Es reicht die Unterstellung, daß ihnen weniger ver-
mittelt wurde, sich wie Mütter zu verhalten. Kleinkinder kommen alle aus
der Wärme innerhalb in die Wärme außerhalb des mütterlichen Körpers.
Dem Mädchen bietet man aber an zu bleiben, der Junge wird aufgefordert,
diese Wärme zu verlassen, was tiefgreifende Folgen haben muß." Das Mäd-

Gelegenheit, den Krieg, warten. Dieser wird dann natürlich begeistert begrüßt als
Chance, die eigenen Fertigkeiten einzusetzen; das ist etwa so, als hätte ein Schrift-
steller nur ein- oder zweimal im Leben Zugang zu Papier. Die Village Voice berich-
tete am 26. März 1991 von der Begeisterung unter den Desert-Shield-Soldaten, als
der Beginn von "Desert Storm" verkündet wurde.
48 Carol Gilligan zeigt in ihrem bekannten Werk: In a Different Voice: Psychological
Theory and Women's Development, Cambridge, MA 1982, wie Frauen dazu tendie-
ren, ethische Probleme in Begriffen der Fürsorge und in bezug auf die direkten Kon-
sequenzen für die Betroffenen, Männer dagegen, diese mittels abstrakter Prinzipien
anzugehen. Man könnte es auch anders formulieren: Frauen sehen eine Alternative
zur direkten Gewalt in der direkten Fürsorge und Liebe. Männer haben Angst vor ih-
ren eigenen gewalttätigen Neigungen (und vor denen anderer Männer) und ver-
suchen, sich in streng kontrollierten gesellschaftlichen Hierarchien zu engagieren
und überlassen denen an der Spitze das Monopol an (Befehls-) Gewalt; und/oder sie
engagieren sich in verbalen Hierarchien von Vorschriften, Befehlen und allgemeinen
Normen, wie sie von Theologie und Recht produziert werden. Sie versuchen also,
92 Friedenstheorie

chen bekommt eine Eintrittskarte für die Wärme; soziokulturell betrachtet, ist
es ihr erlaubt zu weinen, liebkost und getröstet zu werden. Der Junge ist sel-
tener im Besitz einer solchen Eintrittskarte, und er wird wahrscheinlich we-
niger Zeit in Hautkontakt mit seiner Mutter und mehr Zeit mit Herumstreu-
nen verbringen."
Dieser Hautkontakt ist psychosomatisch wahrscheinlich äußerst bedeut-
sam. Sexualität ist eine Kombination von Genital- und Hautkontakt, wobei
letzterer für die Frau beim Verkehr a tergo an Bedeutung abnimmt. Wenn wir
die Hypothese aufstellen, daß Männern der Genitalkontakt und Frauen der
Hautkontakt wichtiger ist, dann können wir die Frustration besser nachvoll-
ziehen, die Frauen verspüren, wenn sie vor und nach dem Koitus zu wenig
Zärtlichkeit bekommen, und die Frustration von Männern, wenn Frauen
hauptsächlich auf Hautkontakt aus sind. Besser verständlich wird auch die
fast sexuelle Natur des Stillens, wenn man dieses als intensive Form von
Hautkontakt begreift. Der sprichwörtliche Samstagmorgen, der in vielen Fa-
milien so verbracht wird, daß die Mutter intensiven Haut-zu-Haut-Kontakt
mit den Kindern und der Vater intensiven Haut-zu-Metall-Kontakt mit dem
Auto hat, zeigt, wie der Mann reichhaltige Erfahrungen entbehren muß, die
auch auf dem komplexen Zusammenwirken von Hormonen beruhen. so
Wenn ein junger Mann das Gefühl des Zurückgewiesenwerdens, ein Ge-
fühl, etwas geopfert zu haben oder Neid empfindet, kann er diese Gefühle
durch Überlegenheitsvorstellungen kompensieren; durch die Vorstellung, ei-
nem Geschlecht anzugehören, das zur Produktion, nicht "nur" zur Reproduk-
tion bestimmt ist. Wahrscheinlich gibt es einen Gebärmutterneid, der viel tie-
fer empfunden wird als irgendein Penisneid." Vielleicht wollen Vergewal-
tiger, Folterer und Soldaten also Frauen bestrafen? Vielleicht ist das, was sie
tun, nicht Ausdruck des Ausrufs Jesu: "Mein Vater, mein Vater, warum hast
Du mich verlassen?" (Matthäus 27, 46), sondern der Klage, "Meine Mutter,
meine Mutter, warum hast Du mich verlassen?" Tiefsitzende psychologische
und biologische Mechanismen können sich gegenseitig verstärken. Und ge-

sich selbst in strukturelle und kulturelle Gewaltverhältnisse einzuordnen, um der di-


rekten Gewalt und deren Alternative, der direkten Fürsorge, entrinnen zu können.
49 Das Mädchen würde folglich im Erwachsenenalter Sex eher mit Liebe verbinden und
der Junge mit Entdeckung, Eroberung oder gar Gewalt. Siehe Nancy Chorodow: The
Reproduction of Mothering: Psychoanalysis and the Sociology of Gender, Berkeley,
CA 1978.
50 Siehe Anthony Walsh: .. The Biological Relationship Between Sex and Love", in:
Free Inquiry, Sommer 1991, S. 20-24, zur Rolle der Endorphine im Zusammenhang
mit Genital- und Hautkontakten.
51 Die Kritik an Freud hinsichtlich des Penisneides hat schon eine lange Tradition. Ich
möchte darauf hinweisen, daß es hier nicht nur um "Gebärmutter-Neid", sondern
auch um eine GebärmutterlMutter-Sehnsucht und einen doppelten Vorteil von Frau-
en geht: die Nähe zur Mutter länger genießen zu dürfen und eine solche durch die ei-
gene Mutterschaft selbst wieder herstellen zu können.
Frau.' Mann =Frieden.' Gewalt? 93

nau das soll auch die allgemeine Botschaft dieser ganzen Erkundung sein:
Alle vier Faktoren/Syndrome funktionieren synergetisch, im negativen Falle
zugunsten der Gewalt, im positiven, so läßt sich hoffen, zugunsten des Frie-
dens.

3.5 Zusammenfassung: Was können wir tun?


Diese Frage ist vollkommen berechtigt und betrifft den Kern der Friedensfor-
schung; ihre Beantwortung sollte nicht aufgeschoben werden ("Wir müssen
erst noch forschen ... "). Wir werden nie ein endgültiges Wissen erlangen, am
allerwenigsten auf einem so komplizierten Gebiet. Gleich, was wir tun, letz-
ten Endes sind wir nur dabei, Hypothesen zu prüfen, um neue entwickeln zu
können.
Hypothesen können aber, wie Begriffe, nur verstanden werden, wenn man
sie vollständig, mit ihrer Negation, darstellt. Nur wenn wir die Bedingungen
besser kennen, unter denen eine Hypothese falsch ist, verfügen wir über die
Bedingungen, die die Richtigkeit der Hypothese garantieren. Und da wir uns
auf vier Faktoren gestützt haben, sollte uns im Prinzip eine ganze Reihe von
Ansätzen zur Verfügung stehen.
Erstens gäbe es die Möglichkeit einer medikamentösen Behandlung von
Männern, z.B. mit einem Antitestosteronpräparat. Es gäbe dabei ein Problem:
Wenn S(ex) und G(ewalt) wirkliche Nachbarn sind, dann könnte die Unter-
drückung der/s einen auch die Unterdrückung der/s anderen bedeuten, und
wenige Männer wären willens, ihr Gewaltpotential auf Kosten ihrer sexuellen
Potenz reduzieren zu lassen. Männer würden von diesem Präparat eine spe-
zifische Anti-G-Wirksamkeit verlangen. Männer waren mehr als bereit, der
weiblichen Hälfte der Menschheit Medikamente in Form von Verhütungsmit-
teln auf biochemischer Basis zu verabreichen, zu ihrem eigenen Vorteil, wa-
ren aber weniger geneigt, eine entsprechende männliche Verhütung zu ent-
wickeln. Vielleicht ist die Zeit dafür reif, daß die Frauen mit den Männern
gleichziehen? In Schweden sind 38% der Parlamentarier Frauen, damit nä-
hert sich die Machtzusammensetzung der Parität; bei 83% würde sie eher
dem entsprechen, was Männer gewohnt waren. Nur 2% Frauen aber sitzen in
den Vorständen schwedischer Unternehmen; und das schwedische Verteidi-
gungs- wie das Außenministerium sind nach wie vor reine Männerclubs."
Zweitens gäbe es die Möglichkeit, das Empathieniveau von Männern mit
Hilfe eines Sozialisierungsschemas, das dem der Frauen ähnlich wäre, zu he-
ben. Um Gewalt zu reduzieren, ist es nicht angebracht zu versuchen, eine

52 Zur Einbeziehung von Frauen in die meisten Ministerien und ihren Ausschluß aus
Außen- und Verteidigungsministerien siehe Karin Lindgren: Participation of Wornen
in Decision-Making for Peace, New York/Wien 1989.
94 Friedenstheorie

Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, indem man Mädchen so erzieht


wie Jungen, oder indem man beide zu einer Art Zwischenposition erzieht;
stattdessen sollte man auf dieser äußerst wichtigen psycho-physiologischen
Ebene Jungen wie Mädchen erziehen und Väter stärker den Müttern anglei-
chen. So könnte man die Gewalt beträchtlich reduzieren, wobei zu bedenken
ist, daß die Topologie des physiologischen Bereichs immer noch relativ ähn-
lich bleiben und nur die Hemmschwelle möglicherweise erhöht würde. Eini-
ges hiervon muß auch für Frauen gelten; weiblicher Orgasmus und weibliche
Wut sind auch nicht so unterschiedlich, wenn auch weniger gewaltsam und
weniger auf einen Höhepunkt ausgerichtet."
Drittens gäbe es die Möglichkeit, das Mutter-Sohn-Verhältnis zeitlich zu
verlängern, indem Frauen die Aufgabe übernähmen, Männer auf einer eins-
zu-eins-, viele-zu-einem-, eine-zu-vielen- oder viele-zu-vielen-Basis zu hu-
manisieren. Polygyne Alternativen würden wahrscheinlich von Männern mit
Begeisterung aufgenommen werden; diese sind im Islam ja institutionalisiert,
vielleicht sogar aus oben genanntem Grund, wobei vier Frauen als klassi-
sches Maximum gelten.'4 So etwas könnte zu neuen Strukturen im Mann-
Frau-Verhältnis führen, vielleicht teilweise denen ähnlicher, die unter Frauen
herrschen. Dadurch könnte das Schema aufgebrochen werden, nach dem
Frauen mehr engere Freundschaften mit anderen Frauen haben als Männer
Freundschaften mit anderen Männern; die engsten Vertrauten von Männern
sind ja meist Frauen, aber häufig eher ihre Geliebten als ihre Ehefrauen."
Der Nachteil hierbei: Alle Last fällt auf die Frauen.
Viertens sollten wir, statt die verbleibenden zwei Faktoren einzeln durch-
zugehen, lieber die Gesamtkonfiguration betrachten und den Multifaktoren-
diskurs zu Hilfe nehmen. Stellen wir uns eine stark vertikale Struktur vor in
einem hoch expansionistischen, bezüglich Geschlecht - Klasse - Nation sich
"auserwählt" fühlenden Land, und stellen wir an dessen Spitze einen Mann
mit wenig Empathie, hinreichend stimuliert durch Pornographie, vielleicht
auch durch AlkoholIDrogen und eine Kombination von Kaffee und Süßem
(die überall zu findenden "Danish Cookies")." Das ergibt dann ein hohes

53 Dieser Befund wie das zum Hautkontakt und zu den Endorphinen Gesagte lassen die
weibliche Sexualität schon als holistischer, im Gegensatz zur genitalen, auf einen
Höhepunkt ausgerichteten männlichen Sexualität, erscheinen. Es muß darauf hinge-
wiesen werden, daß auch letztere Tradition okzidental ist; eine chinesische Alterna-
tive für Männer wird bei Jolan Chang: The Tao of Love and Sex, New York 1977,
detailliert beschrieben.
54 Aber unter der Bedingung, daß alle vier vom Mann gleichviel geliebt werden - eine
Bedingung, die vielleicht nicht so leicht zu erfüllen ist.
55 Wenn sich Männer in emotionale Eheprobleme verstricken, die sie nicht lösen kön-
nen, sie aber keine Tradition der Intimität mit anderen Männern haben, besteht die
einzige Alternative darin, Freundinnen ins Vertrauen zu ziehen.
56 Siehe A. B. Titkin, R. M. Warshawsky und J. C. Engle: It All Adds Up, Englewood
Cliffs, NJ 1983, Kap. 9, über die synergistische Wirkung von Kaffee und Zucker.
Frau: Mann = Frieden: Gewalt? 95

Gewaltpotential, wobei wir beachten sollten, daß Pornographie und Dro-


gen/Alkohol eher etwas für die unteren und Kaffe/Gebäck eher etwas für die
höheren Schichten sein könnten. Stellen wir dann eine Frau mit wenig Empa-
thie für andere Gesellschaftsschichten und ethnische Gruppen an die Spitze
dieser Struktur, eine Frau, die die gleiche Kultur verinnerlicht hat, dann be-
kommen wir eine Margaret Thatcher, eine Golda Meir oder eine Indira
Gandhi. Der Geschlechterfaktor genügt also nicht, wenn man ihn isoliert.
Verändern wir also die Gleichung. Stellen wir uns die Struktur als schon
in der frühen Kindheit horizontal vor, als Spielraum für Teilnahme, Solidari-
tät, Kooperation, und die Kultur als weniger exklusiv - d.h. mit einem weni-
ger steilen Gefälle vom Selbst zum Anderen -, sondern als stärker inklusiv,
mit der Möglichkeit, das Selbst im Anderen und den Anderen im Selbst zu
erkennen. Wenn wir eine Frau in eine solche Struktur stecken, wird sie sich
wahrscheinlich dort buchstäblich zu Hause fühlen. Stecken wir einen Mann
in eine solche Struktur, könnte er sich nach menschlichem Ermessen allmäh-
lich daran gewöhnen und sich ebenfalls darin wohlfühlen. Seine Physiologie
würde etwa die gleiche bleiben. Aber Hemmschwellen, Motivationen, Fähig-
keiten und Möglichkeiten wären damit drastisch verändert; zumindest könn-
ten wir das annehmen. Das Resultat: Eine Reduzierung direkter Gewalt, die
allen zugute käme, wobei die Reduzierung struktureller und kultureller Ge-
walt dazu beitrüge, das zu erreichen." Und die Männer stünden nicht mehr
derart in der Versuchung, ihre Physiologie als Entschuldigung zu benutzen.
Und damit kommen wir zu einer Schlußfolgerung bezüglich der wissen-
schaftstheoretischen Angemessenheit: Feministische Studien und Friedens-
studien sollten immer im Rahmen von Multifaktoren-Diskursen betrieben
werden. Wenn man bei nur einem der Faktoren bleibt, leiden nicht nur Dis-
kurs und Theorie darunter, die Praxis kann sogar kontraproduktiv werden. In
interdisziplinären, neuen Sozialwissenschaften wie Frauenforschung und
Friedensstudien wird das kein Problem sein. Ältere Wissenschaften sollten
jedoch aufhorchen: Sie haben nichts als schlechte, monodisziplinäre Diskurse
zu verlieren.

57 Wenn sich diese drei Gewaluypen in einem Teufelskreis gegenseitig verstärken,


dann könnten sie sich in einem ,Tugendkreis' auch gegenseitig auflösen.
4 Demokratie Diktatur = Frieden Krieg?

4.1 Sind Demokratien kriegerisch oder friedlich?


Im folgenden sollen einige Aspekte einer etwaigen Verbindung zwischen In-
nen- und Außenpolitik hinsichtlich eines entscheidenden Punktes untersucht
werden: Demokratie im Inneren, Kriegführung im Ausland."

58 Keinesfalls sollte die skeptische Grundtendenz dieses Abschnitts interpretiert werden


als Einwand gegen Demokratie. Aus der Erkenntnis "Demokratien sind nicht not-
wendigerweise friedlich" folgt nicht, daß "Nicht-Demokratien notwendigerweise
friedlich sind". Die Schlußfolgerung könnte darin bestehen, daß PazifismuslBellizis-
mus von anderen Variablen abhängen, wie z.B. der Tiefenkultur (Expansionismus,
Manicheismus, Singularismus/Universalismus), die quer stehen zur Demokratie/
Nicht-Demokratie-Unterscheidung. Und zweifellos ist die demokratische Herrschaft
eine der größten Innovationen der Menschheit.
Für eine exzellente Darstellung von weit weniger skeptischer Warte aus siehe Bruce
Russetts Grasping the Demoeratie Peaee (Princeton, NJ 1993). Russett stützt sich
auf die schwache Interpretation der These vom demokratischen Frieden: "Demokra-
tien bekriegen fast nie einander." Ich glaube nicht einmal dieser Version. Ich fürchte,
wenn sie sich nicht bekriegen, dann darum, weil sie mehr zu gewinnen haben, wenn
sie zusammenhalten zwecks Verteidigung ihrer Privilegien im Weltsystem, als wenn
sie einander bekämpfen; darüber hinaus mögen sie bedroht sein von unten (Zweiter
Weltkrieg, Entkolonialisierungskriege, der Kalte Krieg), das fördert den Zusammen-
halt. (Methodologisch neigt Russett dazu, sich auf Paare von Ländern zu konzentrie-
ren und dabei den Kontext zu vernachlässigen.)
Darüber hinaus kann ich der Auffassung nicht zustimmen, Deutschland habe sich in
den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges so sehr von England und Frank-
reich unterschieden. Jedenfalls gilt: Wenn die These die sein soll, daß die Bevölke-
rung auf heißblütige Führer einen mässigenden Einfluß haben könne, dann ist der
entscheidende Punkt, ob es demokratisch zugeht hinsichtlich der Gestaltung und
Ausführung der Außenpolitik; jedoch scheint gerade dieser Sektor in Krisenzeiten
immer geheimnisvoll verhüllt zu sein - wenn Demokratie doch am nötigsten wäre.
Russett beschäftigt sich nicht ernsthaft mit globaler Demokratie, eine Position, die
mir vielversprechender scheint. Allerdings setzt das Institutionen voraus, die gegen-
wärtig noch nicht existieren, zum Beispiel eine direkt gewählte United Nations Peo-
ple's Assembly, der gegenüber die United Nations General Assembly eines Tages
verantwortlich sein sollte, und so weiter. Dies habe ich weiter entwickelt in einem
Papier für die Commission on Global Governance, das diese auch veröffentlicht hat.
98 Friedenstheorie

Ihrem Selbstbild nach sind Demokratien nicht kriegerisch, beschäftigt mit


Krieg; auch nicht bellizistisch, geneigt, auf den Krieg zurückzugreifen. Sie
lieben den Frieden und wollen ihre Ziele, auch den Frieden, nur mit friedli-
chen Methoden erreichen. Nur äußerst widerwillig und unfreiwillig setzen sie
gelegentlich im Ausland Waffen ein. Und doch haben die USA z.B. 59 im
Ausland über 200mal Waffen eingesetzt (im Durchschnitt ca. einmal pro
Jahr) und jedesmal angeblich gegen die eigene starke isolationistische und
pazifistische Neigung. Ist das glaubwürdig?
Kriegerische Handlungen wurden oft anders bezeichnet, z.B. als "Strafex-
peditionen" (eine über 200jährige britische Tradition, in der die Teilnahme
am Golfkrieg nur ein Glied in einer langen Kette von Ereignissen war); oder
als "Aktivitäten, die unsere Bürger und unsere ökonomischen Interessen im
Ausland schützen sollen" (eine US-amerikanische Tradition). Aber warum
auf so kriegerische Art und Weise? Steckt dahinter nicht doch eine bellizisti-
sche Neigung? Stimmt vielleicht etwas nicht mit der Verteilung von Bürgern
und Investitionen im Ausland, wenn deren "Schutz" mit kriegerischen Mit-
teln so unverzichtbar ist? Und hat man es überhaupt wirklich mit friedlichen
Mitteln versucht?
Ein drittes Argument zur Rechtfertigung der Kriegführung von Demokra-
tien können wir schnell ausschließen. Dieses bezieht sich auf die Wahlen:

In einem Punkt stimme ich mit Russett überein: Demokratien befassen sich mehr mit
der öffentlichen Meinung. Aber wenn sie aus irgendwelchen anderen Gründen belli-
zistisch gestimmt sind, werden sie sich wahrscheinlich nicht vom Kriegführen abhal-
ten lassen, aber diesbetreffend ,low intensity'-Versionen wählen, die weniger sicht-
bar sind für die unerprobten Augen der Öffentlichkeit und der Medien. Tatsächlich
ist eine viel plausiblere Hypothese wahrscheinlich die, daß Demokratisierung den
Charakter der Kriegsführung ändert, Kriege besser verbirgt, um der öffentlichen
Kritik zu entkommen.
59 Natürlich sind die USA im allgemeinen kein gutes Beispiel für eine Demokratie. In
ihrem Fall handelt es sich eher um eine Plutokratie und eine Mediakratie (aber auch
um eine Mediokratie). Diejenigen die zur Wahl aufgestellt werden, werden nominiert
von den Reichen und/oder Mächtigen (wenn sie nicht selbst dazu gehören), und das
Geld, hauptsächlich verwandt für idiotische Fernsehspots, determiniert weitgehend,
wer gewinnt. Gleichwohl konnte Reagan auf Grund einer starken, populären Opposi-
tion, keine Invasion Nicaraguas durchsetzen. Die USA initiierten und unterstützten
den brutalen Sturz der demokratisch gewählten Regierung Allende, taten dies aber
nicht offen, sondern eher durch eine verdeckte Operation des CIA, des diametralen
Gegensatzes von Demokratie. Demokratie ist offen, heißt öffentliche Debatten, heißt,
nichts zu verbergen, wohingegen der CIA im Dunkeln operiert und dabei die Öffent-
lichkeit uninformiert hält oder wohlbedacht desinformiert. Darüberhinaus wirft eine
Wahlbeteiligung von um die 50% bei Präsidentschaftswahlen (in mid-term -Wahlen
sind es noch weniger) ernsthafte Fragen nach der demokratischen Legitimität der
Führung auf. Reagan hatte in seiner ersten Amtszeit die Unterstützung von 27% der
Wählerschaft, in der zweiten waren es 31 %; diese Differenz bezeichnete man als ei-
nen Erdrutsch!
Demokratie.' Diktatur =Frieden.' Krieg? 99

damit ein Reagan und eine Thatcher, ein Bush oder ein Major wiedergewählt
wird. Das zeigt nur, daß Demokratien nicht immun sind gegenüber Strategi-
en, die auch Diktatoren anwenden und die später behandelt werden sollen;
und erfolgreiche Wahlen rechtfertigen keineswegs den Einsatz kriegerischer
Mittel.
Unsere Untersuchung führt uns zu einem ziemlich beunruhigenden Aspekt
in der Leistungsbilanz der nordamerikanischen und westeuropäischen Demo-
kratien (Australien und Neuseeland beziehen wir hier mit ein): Von ganz
wenigen Ausnahmen abgesehen haben sie alle jahrhundertelang international
Gewalt in Form von Sklaverei und Kolonialismus ausgeübt - und letzterer ist
noch kein abgeschlossenes Kapitel. Vieles hiervon geschah noch, nachdem
man solche Meilensteine auf dem Weg zur Demokratie wie 1688, 1776 und
1789 bereits passiert hatte. Bürger, die in diesen Ländern Nutznießer demo-
kratischer Rechte waren, wußten genau, was geschah. Zwar waren Spanien
und Portugal noch keine Demokratien, als sie mit diesen Praktiken begannen;
das wurden sie in relativ gefestigtem Maße erst in den 1970er Jahren. Aber
das ändert nichts an den Tatsachen: Was die Demokratien (USA, Großbri-
tannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande) taten,
war ähnlich, fast identisch, es bestanden nur geringfügige Unterschiede.
Man könnte den Einwand erheben, daß sowohl Sklaverei als auch Kolo-
nialismus gewalttätig, jedoch nicht kriegerisch waren. Kriege sind Regie-
rungshandlungen. Es gab auf der Gegenseite keine Regierung, bisweilen gab
es sie auch auf der demokratischen Seite nicht. Zumindest zu Beginn beruh-
ten Sklaverei und Kolonialismus auf Taten unternehmungslustiger Einzelper-
sonen und Handelsgesellschaften; die Regierungen beteiligten sich erst später
und übten oft einen mildernden Einfluß aus. Nur: Wer hat eine solche Defi-
nition vom Krieg aufgestellt? Und wird die Sache dadurch besser für die ein-
heimischen Völker, die man durch völkermordende Praktiken ausgerottet
hat? Darüberhinaus lebten die einheimischen Völker, die verschleppt oder
unterworfen, unterdrückt und ausgebeutet wurden, in politischen Gemeinwe-
sen mit irgendeiner Form von zentraler Herrschaft, wenn auch nicht in Staa-
ten westlichen Zuschnitts. Und warum haben demokratisch gewählte Regie-
rungen solche Praktiken nur gemildert, nicht aber abgeschafft? Warum
mußten sich die Unterjochten und Ausgebeuteten selbst erheben und gewalt-
sam oder gewaltlos gegen diese ganze demokratische Aggressivität kämpfen?
Warum sind sie in ihrem politischen Wollen so wenig unterstützt worden?
Seit Ende des 2. Weltkrieges haben die USA, Großbritannien, Frankreich
und Israel die meisten Kriege geführt; sie sind alle Demokratien."" Die mei-

60 Die Forschungen Istvan Kendes über lokale Kriege machen das klar. Siehe Istvan
Kende: "Twenty-five Years of Local Wars", in: Journal of Peace Research, 8/1971,
S. 5-22, und: "Wars of Ten years (1967-1976)", in: Journal of Peace Research,
15/1978, S. 227-241.
100 Friedenstheorie

sten Länder der "von den USA geführten Koalition" gegen den Irak im Golf-
krieg waren Demokratien:1 Diese haben aber die Verhandlungschancen des
August 1990 ignoriert. haben sich weniger kriegerischen Ansätzen. wie der
französischen Bemühung. Sanktionen einzusetzen. verschlossen. wie auch
dem sowjetischen Versuch. irakisehe Soldaten auf dem Rückzug zu schonen.
Die Demokratie ist also mit Gewaltausübung großen Ausmaßes kompatibel.
das heißt. sie führt nicht nur (gelegentlich) Kriege. sie ist bellizistisch.

4.2 Eine Theorie, die Demokratie und Belligerenz in


Beziehung zueinander setzt
Im folgenden meinen wir mit Demokratie ein Gemeinwesen. in dem die Re-
gierenden den Regierten anhand eines Feedbackprozesses auf der Grundlage
.ein Mensch - eine Stimme' Rechenschaft ablegen müssen. Die Regierenden
bleiben an der Macht. wenn sie positiv. und sie werden abgesetzt. wenn sie
negativ beurteilt werden. Heute geschieht das durch geheime Wahlen; die
Wählerschaft besteht aus der erwachsenen Bevölkerung. der das Recht auf
Freiheit des Denkens. Redens. Sich-Organisierens und Handeins zugunsten
der eigenen Belange und der eigenen Person eingeräumt wird. Es gibt direk-
tere Wege. diese allgemeine Bestimmung durchzusetzen. wie z.B. (Bürger-)
Initiativen bzw. -Referenda. die die Schweiz zu einem besseren demos kraton
machen.
Mit Belligerenz meinen wir die Teilnahme an Krieg und kriegsähnlichen
Handlungen. mit "Bellizismus" eine allgemeine Neigung dazu. also das Ge-
genteil von "Pazifismus". Ein Indikator für Bellizismus wäre die Feststel-

61 Die wichtigsten Mitglieder waren die USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Ita-
lien, Türkei, Ägypten; und dazu Syrien, Saudi-Arabien und die Golf-Staaten, mit
Ausnahme des Jemen. Insgesamt 38 Staaten beteiligten sich direkt an den Koaliti-
onsstreitkräften, vier gewährten Unterstützung (Sowjetunion, Deutschland, Israel,
Japan), zwei waren neutral (Iran, Libanon); sieben Staaten gewährten dem Aggressor
(Irak) Unterstützung: Algerien, Jordanien, Libyen, Mauretanien, Sudan, Tunesien,
Jemen. Wie immer man Demokratie definiert: Es gibt eine deutliche Korrelation zwi-
schen der Unterstützung der Koalition und demokratischer Verfassung. Das Ergeb-
nis: ein befreites Kuwait und 310.500 getötete Iraker (laut IPPNW).
Hieraus wollen einige Leute den Schluß ziehen, daß Demokratien friedliebend sind
und bereit zu Opfern, um Frieden zu bewahren oder wieder zu erlangen. Die hier
vorgeschlagene Schlußfolgerung würde sich jedoch mehr konzentrieren auf die Be-
reitschaft, die Option Krieg der Option "Frieden mit friedlichen Mitteln" vorzuzie-
hen, eher den Status quo bewahren zu wollen als den Frieden. Allerdings gibt es
Platz für beide Interpretationen. Für eine andere Perspektive als die hier gewählte
vergleiche Jeffrey lan Ross: "Research Note: Hypotheses About Political Terrorism
During the Gulf Conflict, 1990-1991 ", in: Terrorism and Political Violence, 6/1994,
S.224-234.
Demokratie,' Diktatur = Frieden,' Krieg? 101

lung, in welchem Ausmaß und wie häufig ein Land in Krieg verwickelt ist;
dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Angriffs- oder Verteidigungskriege
handelt, d.h. ob ein Land den Krieg begonnen hat, indem es den ersten Stein
geworfen hat, oder ob es nur auf ein solches Handeln reagiert hat. Die Le-
benszyklen von Konflikten und Gewalt sind hochkomplex und lassen zeitli-
che Einschnitte zwecks Festlegung, wer Aggressor und wer Opfer ist, unan-
gesehen ihrer vorherigen Beziehung, als willkürlich erscheinen.
Es wird jetzt unsere Aufgabe sein, das Verhältnis zwischen den beiden Vari-
ablen D für Demokratie und B für kriegerisches Verhalten bzw. Belligerenz auf
einer eher theoretischen als statistischen Ebene zu untersuchen. Dabei werden
wir uns auf die Gründe konzentrieren, die eine positive oder eine negative Be-
ziehung erwarten lassen. Hierfür benötigen wir eine Gruppe dritter Variablen,
V, da man den Definitionen von D und B für sich genommen nichts weiter ent-
nehmen kann. Wenn D Antezedenz ist und B die Folge, dann kann V ein zu-
grunde liegender Faktor sein, der beiden vorangeht; oder eine Begleiterschei-
nung zu D; oder ein Faktor, der zwischen D und B interveniert.
Wir bekommen also sechs Typen von Theoremen als Bausteine einer Theo-
rie der Beziehung zwischen Demokratie und Belligerenz.

Positive Form:
Je mehr V, desto mehr D und desto mehr B (V liegt zugrunde, ist bei den ge-
meinsam).
Je mehr V undje mehr D, desto mehr B (V begleitender Faktor).
Je mehr D, desto mehr V, undje mehr V, desto mehr B (V interveniert).

Negative Form:
Je mehr V, desto mehr D und desto weniger B (V liegt zugrunde, ist gemein-
sam).
Je mehr V undje mehr D, desto weniger B (V begleitender Faktor).
Je mehr D, desto mehr V, undje mehr V, desto weniger B (V interveniert).

Die Schwierigkeit besteht jetzt darin, V aus den vielen Möglichkeiten auszu-
wählen. Wir beginnen mit zwei zugrundeliegenden und zwei begleitenden
Variablen und suchen nach Faktoren, die sowohl Demokratie als auch krie-
gerisches Verhalten produzieren, und nach Faktoren, die in Verbindung mit
Demokratie dazu tendieren, kriegerisches Verhalten zu produzieren. Danach
werden wir fünf Variablen identifizieren, die von Demokratien produziert
werden und ihrerseits wieder kriegerisches Verhalten hervorbringen. Die er-
sten bei den Variablensätze liegen außerhalb der Demokratie-Theorie als sol-
cher, wenn auch nicht außerhalb der konkreten Geschichtlichkeit von Demo-
kratien; der dritte Variablensatz liegt innerhalb der Demokratie-Theorie.
102 Friedenstheorie

Theorem 1: Je individualistischer und von Konkurrenzdenken geprägter die


Kultur, desto wahrscheinlicher ist es, daß das Land demokratisch ist; und
desto wahrscheinlicher ist es, daß das Land, wenn es die Möglichkeit hat,
sich kriegerisch verhält.
Historisch gesehen, entstanden die westlichen Demokratien, nach den Vor-
läufern in Griechenland und auf Island, im Nord-Westen der Welt, d.h. in
Westeuropa und Nordamerika. Dieser Prozeß kann nicht losgelöst werden
von der Kultur des Protestantismus, die die Beziehung der Menschen zu Gott
neu definierte, diese individualisierte, direkter machte und auch vermännlich-
te durch die periphere Rolle, die sie Maria, der einzigen weiblichen christli-
chen Gottheit, zuwies; die die Erlösung als äußerst knappe Ware betrachtete
und mehr mit wahrem Glauben und Gottes Gnade verband als mit guten Ta-
ten und richtigen Ritualen. Darüber hinaus wurde ErfolgNersagen als Hin-
weis auf gleiches im Leben nach dem Tode betrachtet.
Das Individuum wurde befreit, blieb aber besessen von einem schlechten
Gewissen und dem ständigen Bedürfnis, sich zu beweisen. Als Folge ent-
standen kreative und individualistische bzw. Konkurrenz-Handlungsweisen,
mit denen man sich eine Nische im Paradies sichern wollte - im ökonomi-
schen Bereich als Unternehmertum, im kulturellen Bereich als Wissenschaft.
Die politische Macht von Klerus und Aristokratie wurde geschmälert durch
das individualisierende Köpfe-Zählen in Wahlen, wobei die Wählerschaft so
ausgedehnt wurde, daß alle überkommenen Eliten überstimmt werden konn-
ten, und durch die Menschenrechte, die verkündeten, daß alle Menschen von
Geburt an gleich seien. Auf militärischem Gebiet folgten nationalistische
Armeen von Wehrpflichtigen. Diese Veränderungen zahlten sich aus in der
ganzen Kultur des Unternehmertums, die in der Verbindung mit Kreativität
in Wissenschaft und Technik zum ökonomischen Wachstum führte, in der
politischen Befreiung der angestauten Energien immer größerer Kreise der
Bevölkerung und schließlich in der modernen Kriegsführung.
Die Demokratie schützte die Träger dieses ganzen aggressiven Konkur-
renzverhaltens vor sich selbst, allerdings nur im Inneren, nicht aber im Aus-
land. Sie zogen also in den Krieg, im Namen von Christentum und Zivilisa-
tion und als Freunde des Friedens:' aber vielleicht doch eher, um privates
Eigentum im Ausland zu schaffen und zu schützen. Als der Staat die Macht
übernahm, wurde der Kolonialismus zur Entsprechung des Privateigentums
im Weltrnaßstab und führte zur Inbesitznahme ganzer Länder und zu all dem,
was das mit sich brachte. Beides ging Hand in Hand.

62 Diese drei Phasen sind sehr gut identifiziert worden von Bert Röling, vgl. B.V.A.
Röling, Antonio Cassese: The Tokyo Trial and Beyond, Oxford 1993, Kap. 4: "A
,Miserable International Law'?", S. 133 ff.
Demokratie: Diktatur =Frieden: Krieg? 103

Theorem 2: Je häufiger ein Land in seiner Geschichte anderen Traumata zu-


gefügt hat, und je demokratischer dieses Land ist, desto eher wird es Krieg
führen.
Das geht über die Binsenwahrheit hinaus, daß ein Land, das Krieg führt, sich
das zur Gewohnheit machen wird. Hier geht es darum, daß das Zufügen von
Traumata oft eine Situation zwischen dem Selbst und dem Anderen schafft
oder eine vorher existierende Situation verstärkt, die, kulturell gefaßt, eine
maßlose Aufwertung des Ich bedeutet und eine Erniedrigung des Anderen,
bis hin zur Entmenschlichung; diese läuft darauf hinaus, daß der andere aus-
gebeutet, unterdrückt und sogar ausgerottet werden kann. Traumata werden
das Opfer noch mehr erniedrigen und die Theorie bestätigen.
Aber ein derartiges Trauma betrifft nicht nur den Anderen, sondern auch
das Selbst: "Vielleicht werden sie eines Tages kommen und uns das antun,
was wir ihnen angetan haben!" Hier, in Theorem 2, geht es um direkte Ge-
walt: Je schlechter man die übrige Welt behandelt oder behandelt hat, desto
mehr Gründe hat man, Vergeltung zu fürchten. In Theorem 3 soll es um
strukturelle Gewalt auf der Weltebene, in Theorem 4 um strukturelle Gewalt
im Inland gehen. An dieser Stelle lautet die These, daß direkte Gewalt direkte
Gewalt erzeugt, aber nicht unbedingt als Rache der Opfer, sondern auch als
Vorkehrung, um einer solchen Rachegefahr, sei sie nun real oder eingebildet,
vorzubeugen:3 Die Theoreme 3 und 4 behaupten das gleiche im Hinblick auf
strukturelle Gewalt.
Nehmen wir die USA als Beispiel. Wenige Länder der Welt haben soviel
Grund, eine Invasion zu fürchten; hier weiß man genau, was eine solche be-
deuten könnte: Genozid, die Ausrottung ganzer Völker. Wenige Länder ha-
ben so gute Gründe, Verschleppungen und jede Form der Sklaverei zu fürch-
ten; die USA wissen genau, was Sklaverei heißt. US-amerikanische Wert-
vorstellungen bezüglich Sicherheit und Freiheit sind Negationen dessen, was
sie anderen angetan haben; sie sind existentieller, historischer, nicht nur theo-
retischer Art und können eingesetzt werden, um die Bevölkerung für deren
eigene gewalttätige Verteidigung zu mobilisieren. Amerikaner kennen ihre
eigenen Existenzsorgen. Und die beste Verteidigung wäre, ,sie' zu stoppen,
bevor ,sie' überhaupt anfangen.

Theorem 3: Je höher der Status in der ökonomischen Weltpyramide der Völ-


ker, desto wahrscheinlicher, daß das Land demokratisch und daß es krie-
gerisch ist.
Sie zogen in den Krieg, und Kriege brachten sie an die Spitze der Weltpy-
ramide der Völker. Dort sind sie immer noch. Als sie an der Spitze der Welt

63 Ein Beispiel hierfür könnte die Art und Weise sein, in der die Hutus 1994 in Ruanda
über Radio zum Gemetzel an den Tutsis aufriefen, indem sie die Rache der Tutsi
vorhersagten, wenn diese nicht alle umgebracht würden.
104 Friedenstheorie

angelangt waren, gab es zwei naheliegende Probleme: nicht wieder herunter-


zufallen und nicht zu viele andere hinaufzulassen. Der Wunsch, möglichst
wenige andere hinaufzulassen, ließ eine ziemlich spitze Pyramide entstehen,
bei der sich wenige Länder an der Spitze, aber viele in der Mitte und unten
befinden. Der Wunsch, nicht abzusteigen, schuf eine Reihe von Mechanis-
men, mit deren Hilfe die kulturelle, ökonomische, politische und militärische
Kontrolle der Spitze bewahrt werden konnte. Also meist eine "Arbeitstei-
lung" zwischen Vermittlern und Empfängern von (religiöser und wissen-
schaftlicher) Wahrheit; zwischen le cuit and le cru im ökonomischen Sinne
von verarbeiteten versus Roh-Stoffen und Dienstleistungen; zwischen Ent-
scheidungsträgern und denen, die von den Entscheidungen betroffen sind;
zwischen denen, die im Besitz der Gewaltmittel sind, und denen, die sie tref-
fen werden. Die Demokratien haben immer versucht, das Beste herauszuho-
len, an die Spitze zu kommen. (Sie tun das immer noch, bauen aber nicht
mehr auf den Kolonialismus, sondern nutzen internationale ökonomische
Beziehungen (man sehe Teil II1).
Kurz gesagt, wenn man an der Spitze ist, verspürt man eine starke Motiva-
tion, dort zu bleiben, und zwar ohne allzu große Konkurrenz. Für die, die an
der Spitze sind, ist die Weltordnung natürlich alles andere als schlecht, sie ist
es wert, daß man sie verteidigt gegen ,Fundamentalisten', die alles durch eine
Abflachung der Pyramide ändern, wie gegen Aufsteiger, die sich selbst hoch-
ziehen und dabei andere herunterziehen wollen, ob nun absolut oder relativ
betrachtet. Burgen auf Hügeln fangen mit der Gewalt nicht an: Sie reagieren
nur, aber nachdem sie die Struktur eingefroren haben.
Der homo occidentalis reiste, erst als Katholik und dann als Protestant, um
die ganze Welt, er machte "Entdeckungen" und setzte direkte Gewalt ein, um
diese gigantische Weltpyramide struktureller Gewalt zu errichten, an deren
Spitze immer noch Demokratien stehen. Es folgte weitere direkte Gewalt, zur
Selbstverteidigung, als revolutionärer Versuch, die Ordnung zu ändern, wie
als konterrevolutionäre Gewalt, um sie aufrechtzuerhalten. Wenn man den-
jenigen, der nicht angefangen hat, als nicht-kriegerisch betrachtet, ist das
nicht nur schlechte Politik, sondern auch schlechte Sozialwissenschaft, denn
damit läßt man dritte Variablen außer acht. Wenn jemand auf einem anderen
sitzt, ist es wahrscheinlich, daß sich der letztere zuerst bewegt; das dann "Ag-
gression" zu nennen, ist ein wenig weit hergeholt.
Schrecken Demokratien davor zurück, untereinander Krieg zu führen?
Traditionellerweise bekämpften sie sich, wie schon ein ganz flüchtiger Blick
auf die Geschichte der Demokratien bestätigen wird, insbesondere, wenn es
um ihre Kolonialreiche ging. Aber damals (die Berliner Konferenz zur Tei-
lung Afrikas 1884-5) wie heute (OECD, die Trilaterale mit der G-7 als Exe-
kutivkomitee) haben sie entdeckt, daß die prekäre Position an der Spitze der
Pyramide sich besser gemeinsam als auf sich allein gestellt halten läßt. Eine
Lösungsmöglichkeit ist eine relativ enge Allianz. "Allianz zur Wahrung von
Demokratie: Diktatur = Frieden: Krieg? 105

Macht und Privilegien" klang nicht so gut; Allianz christlicher oder friedlie-
bender oder demokratischer Länder klang besser, vorausgesetzt, diese Defi-
nition würde die "rechten" Länder einbeziehen und die auf Veränderung be-
dachten, "linken" Länder ausschließen. Wie bei Rotary-Club-Mitgliedern, die
eine Stadt oder ein Land de facto regieren, zahlt sich Solidarität aus.
Im Ersten Weltkrieg standen demokratische Länder gegeneinander; der
Zweite Weltkrieg jedoch war eher ein Krieg zwischen einer Oberschicht von
Demokratien und einer Unterschicht nicht-demokratischer Länder. Die
Kriegsrhetorik hat den ökonomischen Klassenfaktor verschleiert, nicht so die
Politik. Vieles an internationaler Gewalt, auch in Form von Krieg, ist Klas-
senkampf. Weiter unten in der Weltgesellschaft findet man, wie in der Bin-
nengesellschaft, seltener die Gentleman-Manieren demokratischer Prozesse.
Da die Pyramide sehr spitz ist, sind es hier nur wenige, die die Gewalt der
Vielen unten zu spüren bekommen; jedes Land, das direkten oder strukturel-
len Kolonialismus ausübt, ist ja meist im Besitz von mehr als einer Kolonie.
Folglich wird es mehr gewaltsame Reaktionen pro Land an der Spitze geben
als gewaltsame Angriffe pro Land unten in der Pyramide, was bis zu einem
gewissen Grad erklärt, weshalb Demokratien ganz oben stehen auf der Krieg-
führungsliste. Daran ändern auch ein paar kleine soziale Demokratien nichts,
die weder Kolonien noch Neo-Kolonien besitzen und die weder Kriege be-
ginnen noch mit Gewalt reagieren; sie sind einfach nur die Aushängeschilder
der Demokratie und meist zu klein zur Gewaltausübung.

Theorem 4: Je mehr Isomorphie zwischen inländischer und Welt-Sozialstruk-


tur und je demokratischer das Land, desto eher wird es Krieg führen.
Betrachten wir drei Aspekte der Weltsystemstruktur: Rasse, Nation und Klas-
se. Hinsichtlich der Verteilung der Rassen hat die Welt eine weiße Ober-
schicht, gelbe und braune Mittelschichten (Japaner, Chinesen, Inder), eine
schwarze Unterschicht (Afrika) und darunter noch eine rote, fast ausgerottete
Schicht (der beiden Amerikas).
Kulturell betrachtet, ist die Welt in Zivilisationen und Nationen unterteilt;
dabei steht Okzident I an der Spitze; es folgen die japanische, die chinesische
und die indische Zivilisation, und ganz unten stehen die Zivilisationen Afri-
kas, des Pazifiks und der amerikanischen Ureinwohner.
In ökonomischer Sicht besteht die Welt aus einer kleinen Wohlstands-
klasse von Menschen, die sich über Geld keine großen Sorgen machen müs-
sen, einer gewaltigen Mittelklasse von Menschen, die sich über Geld viele
Sorgen machen, und einer etwas kleineren Klasse von in Armut und Elend
lebenden Menschen, die sich um ihr Überleben mehr Sorgen machen als um
Geld, das sie sowieso nicht besitzen.
Diese drei Aspekte stehen in engem Zusammenhang, und die gesamte
Struktur gründet zum Zwecke ihrer Erhaltung auf der Unterstellung, daß die-
jenigen in der Mitte eher die Partei derjenigen an der Spitze ergreifen werden
106 Friedenstheorie

als die derjenigen, die unten sind. Diese Unterstellung aber macht aus jedem
Land mit einer vergleichbaren inneren Struktur ein nervöses Land, da es
nicht nur Instabilität im Inneren, sondern auch ein Übergreifen der Instabili-
tät anderer Länder oder der Welt als ganzer befürchten muß.
Hier lauern drei Gefahren: interne Revolution, Weltrevolution und interne
Revolution in irgendeiner Ecke der Welt. Daß sich die Eliten mit ersterer be-
fassen, ist klar. Daß sie von einer Weltrevolution nicht viel halten, ist eben-
falls klar, da eine solche sie selbst treffen würde (vgl. Theorem 3). Aber wie
steht es mit dem dritten Fall, der im Ausland durchgestanden werden muß?
Worin besteht die Rechtfertigung für eine Selbstverteidigung gegen eine Re-
volution in einem fremden Land?
Die Antwort ist ziemlich naheliegend: Wenn Unterschichten in anderen
Gegenden der Welt die weiße Monopolstellung, die okzidentale Überlegen-
heit oder die ökonomischen Privilegien besiegen, könnte das einen rechtli-
chen Präzedenzfall in normenerzeugenden Organen wie der UNO schaffen,
es könnte einheimische Unterschichten ermutigen, ebenso zu handeln, und
darüberhinaus könnten diejenigen, die woanders gesiegt haben, ihre Revo-
lution womöglich exportieren.
Das bedeutet aber, daß die Eliten eines Landes, die über unterdrückte Ras-
sen, Völker ohne Staaten und wirkliches Elend herrschen, ihre eigene Lage
bei anderen wiedererkennen und versuchen werden, Revolutionen in anderen
Ecken der Welt zu verhindern, damit sie selbst davon verschont bleiben. Ein
Sieg im Ausland, um zu Hause an der Macht zu bleiben. Gehören denn De-
mokratien eher in diese Kategorie von Ländern, die die Weltlage in rassi-
scher, kultureller und ökonomischer Hinsicht widerspiegeln? Nein, aber so
lautete unsere These auch nicht, denn uns geht es hier um einen beitragenden
Faktor und nicht um intervenierende oder zugrundeliegende Faktoren. Man-
che Demokratien gehören jedoch ganz eindeutig in diese Kategorie, besitzen
eine solche Struktur, z.B. die USA und Israel: Sie sind beide in weltumfas-
senden antirevolutionären Bündnissen aktiv und nervös wegen Südafrika als
einem Welt-Mikrokosmos.
Zudem entwickelt sich in anderen Demokratien (Großbritannien; Deutsch-
land, Frankreich, Spanien und Italien; Belgien und die Niederlande) durch
die Immigration von schwarzen und braunen, von nicht-westlichen und/oder
sehr armen Gruppen eine derartige Sozialstruktur. Wie üblich, geht man auch
hier davon aus, daß der internationale Frieden durch andere und nicht durch
diese Länder selbst bedroht ist. Und multikulturelle Föderationen wie Jugo-
slawien, die Sowjetunion oder die Tschechoslowakei haben ihr Auseinander-
brechen als eine Begleiterscheinung der Demokratisierung erlebt, in der Hin-
sicht, daß die Spannungen deutlicher zum Vorschein gekommen sind. Auch
aus inneren Gründen ist es schwer, gleichzeitig demokratisch und wahrhaft
multikulturell (kein Schmelztiegel) zu sein. Aber auch wenn es Demokratien
gelingen sollte, die Spannungen unter Kontrolle zu halten, bleibt doch die
Demokratie: Diktatur = Frieden: Krieg? 107

Drohung bestehen, daß Instabilität in anderen Ländern oder in der Welt als
ganzer einheimische Gruppen inspirieren könnte. Wenn es die Demokratie
aber geschafft hat, die Underdogs auf ihre Seite zu bekommen, können diese
sogar dazu gebracht werden, in andern Ländern gegen ihresgleichen zu
kämpfen.
Nehmen wir wieder die USA als Beispiel: eine Gesellschaft, die die Welt be-
züglich der drei Dimensionen Rasse, Nation und Klasse widerspiegelt. Die Pro-
portionen entsprechen jedoch der Definition nicht: Wären sie die gleichen wie
auf der Weltebene, dann könnte das Land nur eine "Demokratie" in der alten
südafrikanischen Bedeutung sein können - für Blankes. In Israel sind die Juden
immer noch in der Mehrheit, so daß dort die Wahlen auf der Basis ,ein Mensch-
eine Stimme' durchgeführt werden können. Gelbe und braune Länder können
geduldet werden, wenn sie homogen und nicht anti-weiß sind; sogar schwarze
Länder kann man tolerieren, wenn sie unter Kontrolle zu halten sind (in dem
Moment, indem sie aufmüpfig werden, droht das Risiko einer Intervention).
Völker ohne Eigenstaatlichkeit können sogar unter Umständen zu ihrem Staat
kommen, wenn sie den gleichen Grundsätzen folgen.
Probleme machen multirassische Länder und Länder mit staatenlosen Na-
tionen, ähnlich wie staatenlose Nationen in Demokratien. Als Beispiel für er-
stere haben wir Südafrika angeführt; die Kurden und die Palästinenser könn-
ten wir als Beispiel für letztere nehmen. Eigenstaatlichkeit für die Kurden
würde wahrscheinlich den Palästinensern Mut machen, und Eigenstaatlich-
keit für die Palästinenser könnte eingeborene Amerikaner - hierbei wären die
eingeborenen Hawaiianer ein Sonderfall - ermutigen. Einer solchen Eigen-
staatlichkeit würden sich Israel und die USA folglich stark widersetzen.
Das gleiche könnte auch für die Klassenverhältnisse gelten. Umvertei-
lungs- und Sozialstaatspraktiken in anderen Ländern wird man Widerstand
entgegenbringen, damit sie nicht zu ähnlichen Forderungen in, sagen wir
mal, den USA führen. In dieser Hinsicht ist der Irak vielleicht ein Beispiel
gewesen; hier hat man sich unter dem Ba'ath-"Sozialismus" akzeptabler ma-
terieller Lebensbedingungen für die unteren 20% der Bevölkerung gerühmt.
Das gleiche gilt aber auch für die ehemaligen sozialistischen Länder und so-
gar für die Sozialdemokratien in Nordwesteuropa und Kanada. Also erfolgt
hier ein aggressiver Export von "Privatisierung".
Zu den drei schon behandelten Motivationen tritt eine weitere hinzu:
Wenn wir, die Demokratien, die Nummer eins sind, dann können wir es nie-
mandem gestatten, uns zu übertreffen. Dies zu verhindern, kann auf ver-
schiedene Art und Weise erfolgen. Man bestreitet schlicht eine solche Rang-
ordnung; man verbessert die eigene Demokratie oder zerstört die Nicht-
Demokratie der anderen, isoliert diese vom Welthandel, schikaniert sie. Und,
als letztes Mittel: man interveniert militärisch.
108 Friedenstheorie

Theorem 5: Je demokratischer das Land, desto mehr Menschen sind am Ent-


scheidungsprozess beteiligt; je mehr Menschen am Entscheidungsprozess
beteiligt sind, desto weniger kriegerisch ist das Land.
Das ist die bekannteste Rechtfertigung der verbreiteten These, nach der De-
mokratien weniger kriegerisch sind. Das Problem ist nur, daß keine der obi-
gen Behauptungen haltbar ist (was nicht heißen soll, daß das Gegenteil zu-
trifft). In Vorkriegssituationen trifft in jedem politischen System ein enger
innerer Kreis die Entscheidungen, schon aus Gründen der Geheimhaltung
bzw. Sicherheit. Noch problematischer ist die zweite Behauptung, die besagt,
daß solche Länder weniger kriegerisch sind, in denen Entscheidungen zwi-
schen unterschiedlichen Typen und Ebenen von Entscheidungsträgern geteilt
werden, einschließlich eines möglichen Volksentscheids darüber, ob Krieg
geführt werden soll oder nicht. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, ge-
wöhnliche Menschen seien natürlicher Weise weniger kriegswillig als ihre
Führer.
Wenn der Kreis der Entscheidungsträger von einem Führer auf die Ge-
samtbevölkerung ausgeweitet wird, hängt die Entscheidung zunehmend von
etwas ab, was allen gemeinsam ist, zumindest der überwältigenden Mehrheit,
da soviel auf dem Spiel steht. Dieses Etwas kann nicht struktureller Art sein,
wie z.B. Klasseninteressen, da diese per definitionem nicht allgemein geteilt
werden. Sie können sogar in Widerspruch zueinander stehen, wenn etwa jun-
ge Männer aus der Arbeiterklasse ihr Leben opfern und Waffenfabrikanten
und -händler enorme Profite machen.
Die nationale Kultur ist ein geeigneterer Kandidat. Die kriegswilligsten
Kulturen der Welt scheinen die jüdisch-christlich-islamisch inspirierten Kul-
turen zu sein, mit ihrem Auserwähltheitsglauben, ihrem Singularismus (An-
spruch auf eine einzige Wahrheit) und ihrem Universalismus (Anspruch auf
deren Weltgeltung, wobei der Judaismus hier eine Ausnahme macht). Das
Jüdisch-Christliche bestätigt sich aber auch an einer Kultur, die Demokratien
durch einen kompetitiven Individualismus beflügelt, wie oben schon darge-
legt. So gelangen wir also zu einem gemeinsamen kulturellen Faktor, der
Demokratie mit Bellizismus verbindet und nicht mit dem Pazifismus der
buddhistischen Zivilisation, der weniger individualistisch ist und daher auch
weniger demokratisierend im westlichen Sinne wirkt.

Theorem 6: Je demokratischer das Land, desto mehr Menschenrechte sind


verwirklicht, und je mehr Menschenrechte verwirklicht sind, desto mehr
menschliche Pflichten können daraus abgeleitet werden.
Damit internationale Kriege geführt werden können, muß die Regierung, die
meist aus älteren und relativ gerissenen Männern besteht, junge Männer dazu
bringen, in diesen Kriegen zu kämpfen und unter Umständen zu sterben. Es
gibt drei Möglichkeiten, das zu erreichen: normativ, indem man sie dazu
bringt, aus innerer Überzeugung zu kämpfen; durch Vereinbarungen, indem
Demokratie: Diktatur = Frieden: Krieg? 109

man sie dafür bezahlt oder auf andere Weise belohnt; und durch Zwangsge-
walt, indem man sie zwingt zu kämpfen, und sie vielleicht sogar erschießt,
wenn sie das nicht tun.
Diese drei Möglichkeiten, eine Einwilligung zu erlangen, schließen sich
gegenseitig nicht aus. Es funktioniert offensichtlich am besten, wenn man auf
alle drei setzt; dem Soldaten also gute Gründe gibt zu kämpfen (Eigenliebe
und/ oder Haß auf Andere in Form von Nationalismus oder anderer Arten
von Fundamentalismus; Stolz auf und Liebe für die eigene Armee und Ver-
achtung für und Haß auf die Gegenseite); gute Bezahlung von Söldnern, be-
sonders, wenn sie siegreich sind, und schwere Strafen für Deserteure. Politi-
sche Systeme machen sich meist alle drei Möglichkeiten zunutze.
Da Demokratien definitionsgemäß Menschenrechte zunehmend verwirkli-
chen, verfügen sie über mehr quid, das sich ins quo menschlicher Pflichten
umwandeln läßt. Nach obiger Staatslogik gibt es drei Pflichten: Man muß ei-
ne allgemein positive Einstellung zum etat providence haben, und zwar ins-
besondere gegenüber dem demokratischen Staat als Erweiterung des eigenen
Ichs; man muß Steuern zahlen; und man muß dazu bereit sein, sein Leben zu
opfern, wenn man dazu aufgefordert wird. Also Krieg. Eine quid-pro-quo-
Logik beansprucht "nicht nur, was das Land für mich tun kann, sondern, was
ich für das Land tun kann". Auch nichtdemokratische Länder erwarten Dank-
barkeit für Wohlfahrtstaatspraktiken (Bismarck und Hitler). Der Unterschied
besteht aber darin, daß diese Mechanismen in Demokratien institutionalisiert
sind und nicht je nach Laune der Führer zum Tragen kommen. Wahr-
scheinlich ist ersteres ein erfolgversprechenderes Rezept.

Theorem 7: Je demokratischer das Land, desto mehr innere Machtkonkur-


renz ist vorhanden, und je mehr innere Machtkonkurrenz vorhanden ist, de-
sto größer ist die Verlockung, Unterstützung durch äußere Aggression erlan-
gen.
Dies ist eine Formulierung der berühmten These: "Aggression nach außen,
um inneren Zusammenhalt zu sichern", die, oberflächlich betrachtet, im Wi-
derspruch zum vorangegangenen Theorem zu stehen scheint. Sehen wir sie
uns genauer an.
Zweifellos hat es immer autokratisch Regierende gegeben, die sich diesen
Mechanismus zunutze gemacht haben. Nach der Argumentation des folgen-
den Theorems jedoch gehen sie damit ein großes Risiko ein, da sie über kei-
nen ausreichenden Friedensüberschuß verfügen. Zwischen Repression in
Diktaturen und in Demokratien gibt es einen Unterschied: Vereinfacht aus-
gedrückt, können Diktaturen Menschen in höheren Positionen und Demo-
kratien Menschen in niedrigen Positionen unterdrücken. In einer Diktatur
gibt es miteinander konkurrierende Eliten, die oft von der jeweils machtha-
benden Gruppe vertrieben werden; in einer Demokratie haben sich diese
Gruppen über einen "geordneten", turnusmäßigen Wechsel untereinander
110 Friedenstheorie

verständigt, Z.B. durch Parteiensystem und Wahlen. Darunter kann sich eine
ungeheuer große Aggression und Ausbeutung auf der Linie Rasse, Nation
und Klasse verbergen. Aber Demokratien sind ZweidritteigeseIlschaften, wo-
gegen Diktaturen Eindrittelgesellschaften sind, mit Schwankungen um die
50%. Diktaturen beginnen in der Hoffnung einen Krieg, durch populäre oder
populistische Politik die Unterstützung von über 50% der Bevölkerung zu
bekommen.
Bei diesem Theorem geht es darum, daß Demokratien genauso handeln kön-
nen, "aus innenpolitischen Gründen", wie man so sagt, um damit von schwie-
rigen Fragen abzulenken, immer die nächste Wahl im Auge. Je organischer
und lebendiger die Demokratie, desto mehr wird um die Macht konkurriert.
Demokratien gründen auf Uneinigkeit. Wenn um die Macht wenig oder gar
nicht konkurriert wird (und eine niedrige Wahlbeteiligung kann ein Indiz da-
für sein), dann kann man annehmen, daß irgendetwas nicht in Ordnung ist.
Wahlen müssen ausgefochten und gewonnen werden. Mit Kriegen können
Wahlen gewonnen werden. Also werden Kriege ausgefochten.

Theorem 8: Je demokratischer das Land, desto größer der innere Friedens-


überschuß, der zu Aktivitäten im Ausland eingesetzt werden kann, seien diese
kriegerischer Natur oder nicht.
Man geht im allgemeinen davon aus, daß Bürger von Demokratien zufrie-
dener sind als Bürger von nichtdemokratischen Ländern. Man erwartet ja,
daß sie, oder zumindest ihre Mehrheit, durch demokratische Prozesse das be-
kommen, was sie wünschen, mit entsprechenden Anpassungen, wenn sich die
Wünsche ändern. Da in Demokratien mehr öffentliche Debatten zugelassen
sind als in Nicht-Demokratien, kann der oberflächliche Betrachter daraus den
Schluß ziehen, daß in ersteren Unzufriedenheit herrscht und in letzteren Zu-
friedenheit. In Demokratien verfügt die Bevölkerung jedoch über Beschwer-
demöglichkeiten. Deshalb dürfen wir erwarten, daß die Menschen in Demo-
kratien im großen und ganzen konservativer sind als in nichtdemokratischen
Ländern, und daß bei ihnen weniger grundlegende soziale Veränderungen
auf der politischen Tagesordnung stehen. Das Gewaltpotential ist in Demo-
kratien zwar nicht gleich null, aber doch niedrig; in Diktaturen ist es hoch, da
ja viel Zwang eingesetzt werden muß, um die autoritäre Repression, auch ge-
gen Revolten, durchzusetzen.
Wem kommt dieser innere Friedensüberschuß zugute, und wie wird er ein-
gesetzt? Theorem 8 behauptet nicht, daß er zu kriegerischen Zwecken im
Ausland eingesetzt wird, nur, daß es ihn gibt; wogegen nicht-demokratische
Länder ein Friedensdefizit haben und ihre Zwangsenergie im Inland einset-
zen müssen. Wenn wir die Existenz einer bestimmten Menge solcher Zwangs-
energie in allen "modernen" Staaten postulieren, dann können wir folgern,
daß der Energieüberschuß, der durch den inneren Friedensüberschuß von De-
mokratien erzeugt wird, zu äußeren Zwecken eingesetzt werden kann, woge-
Demokratie: Diktatur = Frieden: Krieg? 111

gen Diktaturen mehr nach Innen gerichtet sein müssen, bemüht, innere Erhe-
bungen zu unterdrücken. Demokratien können Armeen zu kriegerischen
Zwecken ins Ausland schicken und müssen sich nicht darum sorgen, was in
der Zwischenzeit zu Hause passiert. Diktaturen können das weniger, sie be-
nötigen ihre Kräfte zu Hause. Aus Gründen der Arbeitsplatzsicherung muß
sich das demokratische Militär dagegen sogar manchmal etwas einfallen las-
sen, wenn zu Hause zu wenig zu tun ist.

Theorem 9: Je demokratischer das Land, desto selbstgerechter seine Regie-


renden/seine Bevölkerung; und je selbstgerechter die Regierenden/die Bevöl-
kerung, desto kriegswilliger das Land.
Diese Unterstellung unterscheidet sich von der, in der es darum ging, daß
selbstgerechte Völker, die sich von transzendenten Gottheiten auserwählt
fühlen, oft in Demokratien leben. An dieser Stelle geht es darum, daß Men-
schen, die in Demokratien leben, selbstgerecht sind, eben weil sie in Demo-
kratien leben. Wenn wir davon ausgehen, daß das führende politische System
das der führenden Länder ist, dann hat es einen hohen Prestigewert, in einer
Demokratie zu leben. In einem nichtdemokratischen Land zu leben, ist ein
Stigma, verleiht etwas, wofür man sich schämen muß; es bedeutet, einer in-
ternationalen Paria-Kaste anzugehören und sich auf eine Marginalisierung
durch politischen und ökonomischen Boykott, sogar auf Sanktionen gefaßt
machen zu müssen. In der Folge versuchen Menschen, dem zu entfliehen, um
an der mutmaßlichen Sicherheit und am Prestige von Demokratien teilhaben
zu können.
Auf demokratischer Seite ist man nur zu willig, dem Ruf zu folgen und zu
versuchen, Diktaturen mit Hilfe von politischen und ökonomischen Sank-
tionen auf den richtigen Weg zu bringen, wenn nötig, auch mit militärischen
Mitteln. Ein derartiger Krieg wird mehr als Pflicht denn als Recht betrachtet;
man führt ihn ja nicht aus egoistischen Gründen, sondern um andere Länder
vor gefährlichen, expansionistischen Diktatoren zu retten. Als weiterer Grund
gilt der, daß man den Menschen, die unter solchen Diktaturen leiden, zu Hil-
fe kommen will. Und diese leidenden Menschen werden im allgemeinen
mehr Gehör in der Welt finden, wenn sie den höheren Schichten angehören,
wie z.B. die Opfer sozialistischer Nicht-Demokratien. Nach oben hin zu un-
terdrücken, gar zu töten, schafft internationale Solidarität; nach unten hin zu
unterdrücken und zu töten, bleibt unbemerkt. Demokratien führen also Krieg
gegen bösartige Diktaturen und projizieren auf diese ihre eigene Repressivi-
tät und ihren eigenen Expansionismus, so wie das wahrhaft Selbstgerechte
immer tun.
112 Friedenstheorie

4.3 Schlußfolgerung: Was kann man dagegen tun?


Sehen wir uns erst einmal an, was wir haben. Neun Faktoren sind untersucht
worden als mögliche Bindeglieder zwischen Demokratie als Form innenpo-
litischen Handeins und Belligerenz als Form außenpolitischen Handeins:
(1) eine individualistische, kompetitive, aggressive Kultur;
(2) eine Geschichte, in der anderen Traumata zugefügt wurden;
(3) eine hohe Stellung in der Weltpyramide;
(4) Isomorphie zwischen Binnenstruktur und Weltstruktur;
(5) geteilte Entscheidungsmacht;
(6) Verwirklichung der Menschenrechte;
(7) innerer Machtkampf;
(8) innerer Friedensüberschuß;
(9) Selbstgerechtigkeit von Demokratien als Demokratien.
Diese Faktoren sind nicht leicht veränderbar.
Der erste Faktor bezieht sich auf die gesamten kulturellen Grundlagen der
meisten Länder, die man heute Demokratien nennt. (Japan unterscheidet sich
dadurch, daß es kollektivistisch, kompetitiv und aggressiv ist.) Diese Kultur
ist weit davon entfernt, eine Kultur der Toleranz zu sein - mit Ausnahme der
Toleranz gegenüber anderen, die der gleichen Kultur angehören, d.h. in erster
Linie gegenüber sich selbst; es handelt sich um eine Kultur der Intoleranz,
die zu einem starken Selbst-Andere-Gefälle führt, das gewaltkanalisierend
wirken kann.
Der zweite Faktor bezieht sich auf das grundlegende, schmerzliche Dilem-
ma so vieler Demokratien dieser Welt. Da sie auf höchst undemokratischen,
gewaltsamen Wegen entstanden sind, müssen sie nun befürchten, daß sie von
ihrer Vergangenheit eines Tages eingeholt werden, daß "die anderen uns ei-
nes Tages das antun werden, was wir ihnen angetan haben".
Die folgenden bei den Faktoren spiegeln die gegenwärtige Verteilung von
Macht und Privilegien in der Binnen- und in der Weltgesellschaft wider. Ob-
gleich diese Verteilung gelegentlich Gegenstand einer kritischen Reflexion
ist, hat sich in der jüngsten Geschichte gezeigt, daß sie nicht leicht zu ändern
ist und leicht Gewalt - präemptive, revolutionäre oder konterrevolutionäre
Gewalt - mobilisiert.
Die nächsten vier Faktoren - geteilte Entscheidungsmacht und Verwirkli-
chung der Menschenrechte, innerer Machtkampf und innerer Friedensüber-
schuß - gehören zur eigentlichen Substanz dessen, worauf Demokratien am
meisten stolz sind. Niemand wird daran etwas ändern wollen, trotz der Tat-
sache, daß alle vier zu Mechanismen kriegerischen Verhaltens umgewandelt
werden können. Aus dieser demokratischen Substanz entwickelt sich jedoch
auch die Selbstgerechtigkeit von Demokratien, das Gefühl, zu einem "Bund
der Demokratien" zu gehören, mit dem Recht und der Pflicht, Krieg zu führen.
Demokratie: Diktatur = Frieden: Krieg? 113

Man beachte, daß die neun aufgelisteten Faktoren eine innere historische!
logische Kohärenz besitzen. Aus (1) folgt (2) und aus (2) folgen (3) und (4).
Das gibt uns die Grundlage, den konkreten historisch-kulturellen Kontext
und, ungeachtet aller Rhetorik, den Ausgangspunkt, um demokratische Geo-
politik zu verstehen.
Die nächsten vier Faktoren stehen in einem anderen kausalen Zusammen-
hang, der mit geteilten Entscheidungsprozessen und der Verwirklichung der
Menschenrechte beginnt, dann weitergeht mit der Akzeptanz des Macht-
kampfes und dessen Institutionalisierung, woraus sich schließlich ein Frie-
densüberschuß ergibt. Demokratien haben gute Gründe, stolz, aber nicht
selbstgerecht (9) zu sein, denn durch Selbstgerechtigkeit wird Faktor (1)
verstärkt. Auf diese Weise bekommen wir einen positiven Feedback, der be-
sonders gefährlich ist, da alles Genannte in Belligerenz umgewandelt werden
kann, zumal in Anbetracht des historisch-konkreten kritischen Kontextes von
Herausforderungen, die in der Gegenwartswelt entlang der Linien Rasse, Na-
tion und Klasse verlaufen.
Schlußfolgerung: Mehr Demokratien, mehr kriegerisches Verhalten -
zumindest, wenn letztgenannte fünf Faktoren gegeben sind. Und der innere
(OECD) und innerste (G-7) Kreis wird, falls die eigene Macht und die eige-
nen Privilegien bedroht sein sollten durch weniger mächtige und!oder jün-
gere Demokratien, wahrscheinlich die Regel verletzen, nach der Demokratien
einander nicht angreifen. Was sehr wohl der Fall sein kann, etwa, wenn Chile
kommunistisch (1973)64 oder Algerien islamisch (1992)"' wird.

64 Hierhin gehört das berühmte Zitat Henry Kissingers, seines Zeichen Außenminister
einer Demokratie, der USA: "Ich sehe nicht, warum wir dabeistehen und zusehen
sollten, wie ein Land zum Kommunismus übergeht, allein auf Grund der Unverant-
wortlichkeit seiner eigenen Bevölkerung", The Nation vom 28 März 1994 (in einem
Artikel über den CIA). Die Berühmheit des Satzes wurde noch dadurch gefördert,
daß er in der ersten Auflage von Victor Marchetti und John D. Marks: The CIA and
the Cult o/Intelligence, New York 1974 von der CIA zensiert wurde.
65 Bei den ersten parlamentarischen Wahlen am 26. Dezember 1991 gewann die Islami-
sche Heilsfront (FIS) 188 und die Nationale Befreiungsfront (FNL) nur 15 Sitze -
nachdem letztere 30 Jahre an der Macht war. Der zweite Durchgang war angesetzt
für den 16. Januar 1992, fiel aber aus, ohne daß man große Proteste von den führen-
den Demokratien der Welt gehört hätte.
5 Das Staatensystem: dissoziativ, konföderativ,
föderativ, einheits staatlich - oder eine
aussichtslose Sache?

5.1 Zehn Bruchlinien der conditio humana


Wir Menschen sind Teil der Natur, der "Erde", aus der wir stammen und zu
der wir zurückkehren. Wie kann dieses MenschlNatur-Ganze (holon) in
Harmonie leben, frei von direkter und struktureller Gewalt? Als kleine Grup-
pen menschlicher Sammler (nicht als Jäger, denn diese üben direkte Gewalt
gegen ihre Mitkreaturen aus) in einem hinreichend freigiebigen Naturkon-
text?" Unsere gegenwärtige Wirklichkeit ist weit davon entfernt. Wenn wir
analytisch vorgehen, müssen wir sogar davon ausgehen, daß mindestens zehn
Bruchlinien dieses MenschlNatur-Ganze durchziehen: Menschen/Nicht-Men-
sehen; Geschlecht (Mann/Frau); Generation (alt/jung); Rasse (weißlfarbig);
Klasse (hoch/ niedrig); Nation (hoch/niedrig); Länder (Zentrum/Peripherie);
und dann die drei Ecken des Staat-Zivilgesellschaft-Kapital-Dreiecks, auf ge-
sellschaftlicher wie auf Weltebene.
Die Begriffe Anthropozentrik, Sexismus (Patriarchat), Altersdiskriminie-
rung (oder Gerontokratie), Rassismus, Klassismus, Nationalismus, Territo-
rialismus, Etatismus, Anarchismus, Kapitalismus und Super-Etatismus (Im-
perialismus) transportieren, bei Hinzufügung einiger Klarstellungen'7, unmit-

66 Für eine Untersuchung der Bedeutung von "Primitivität" hinsichtlich des Charakters
der Kriegsführung s. Tom Broch und Johan Gattung: "Belligerence Among the Pri-
mitives", in des letzteren Peace, War and Defense, Essays in Peace Research, Bd. 11,
Kopenhagen 1976, S. 25-37.
67 So könnte man sich vorstellen, daß z.B. der Sexismus sich auf mehr als die beiden
Geschlechter beziehen könnte, worauf Schwule und Lesbierinnen hinweisen würden,
und auch ein Matriarchat (nicht nur matrilineare und/oder matrilokale Formen) wäre
denkbar; heute diskriminieren Menschen mittleren Alters Junge und Alte (ganz junge
Menschen werden durch AbtreibunglInfantizid getötet und ganz alte durch Euthana-
sie); Rassen werden nur durch Pigmente und Physiognomie definiert, aber der Be-
griff Rasse ist objektiv betrachtet in dem Maße unbedeutend, wie er subjektiv auf-
grund des hohen Grades an Sichtbarkeit bedeutsam ist; nationale Gruppierungen
werden definiert durch kulturelle Merkmale, insbesondere durch Religion, Sprache
und gemeinsame Mythen; die Definition des Begriffs Klasse variiert stark je nach
Raum und Zeit; ebenso verhält es sich mit der Bedeutung territorialer Aufteilungen
(Grenzen); der Staat ist eine Organisation, die innerhalb eines Territoriums ein Ge-
116 Friedenstheorie

telbar Konnotationen sowohl zu direkter und struktureller als auch zu kul-


tureller Gewalt. Die Reihenfolge spiegelt die Evolution der conditio humana
wider: erst Nichtmenschliches (Abiota und Biota, die sich aufteilen in Mikro-
organismen, Pflanzen und Tiere), dann Menschen zweierlei Geschlechts, die
sich generationsmäßig fortpflanzen und die möglicherweise als verschiedene
Rassen in verschiedenen Gegenden auftauchen; dann Klassenunterschiede,
als Nomaden erst nichtseßhafte, dann seßhafte Hirten werden in Gebieten mit
Grenzen; dann der Staat als Territorialmacht, der zunächst auf einem be-
stimmten Gebiet über den Nicht-Staat und dann, als Super-Staat, über andere
Staaten herrscht.
Das moderne Territorialsystem besteht aus Ländern mit staatlicher Verfas-
sung, in denen Menschen der gleichen Nationalität leben, Nationalstaaten -
zumindest an der Spitze. Überall Bruchlinien, Widersprüche, finlYang. Bei
einer Analyse dem Territorialismus auf Kosten der anderen neun Begriffe
den Vorrang zu geben, wird nicht nur zu Überraschungen führen, wenn die
soziale Tektonik der weiteren Bruchlinien nicht mehr außer acht gelassen
werden kann," sondern wäre auch intellektuell einfach zu primitiv. Man
kann die Welt nicht einfach als eine Menge von Ländern betrachten. Wenn
wir trotzdem zunächst Territorialismus und Frieden zentral in den Blick neh-
men, so hat das vor allem pädagogische Gründe; das Friedens-/Kriegs-Vo-
kabular muß aus den territorialen Diskursen vorsichtig herausgelöst werden.
Die taoistische Epistemologie, die der Friedensforschung zugrunde liegt,
vermittelt uns ein Gefühl von Bewegung, von Dynamik. Stabilität, bei der
fin und fang miteinander in Harmonie verschränkt sind, ist möglich; die Dy-
namik wird dann von anderen Widersprüchen getragen. Das Mißlingen des
Versuchs, Harmonie herzustellen, zeigt sich in der Zunahme der einen und
im Abnehmen der anderen Seite, bis es zu einem Bruch, einem Wendepunkt
kommt, bei dem sich die Anordnung umkehrt und ein neues Streben nach
Harmonie beginnt. Konkret kann dieser Bruch Krieg, Revolution, coup
d'Etat und die Harmonie einen neuen Gesellschaftsvertrag bedeuten.
Wenn wir Harmonie als Absenz direkter und struktureller Gewalt definie-
ren, wie kann dann das gegenwärtige Staatensystem, das moderne Territorial-
system, zu einem Friedenssystem - oder zumindest einem weniger gewalt-
tätigen System - werden? Einige Antworten, vielleicht eher notwendige als
hinreichende Bedingungen, sollen später in diesem Abschnitt gegeben wer-
den, Antworten, die weitere Widersprüche und Harmonien zwecks Über-
windung der analytischen Begrenztheit des Territorialismus einbringen.

waltmonopol besitzt, und ein Superstaat ist eine Organisation, die das Gewaltmono-
pol innerhalb eines Staatensystems besitzt.
68 Die Rolle des Nationalismus nach Beendigung des Kalten Krieges, einer vierzigjäh-
rigen Übung in Super-Etatismus, kann man schon heute (1996) als klassisch bezeich-
nen.
Das Staatensystem 117

5.2 Dissoziative und assoziative Friedenssysteme


Es gibt zwei traditionelle Antworten: die Länder räumlich auseinanderhalten,
durch Distanz (Meere, Wüsten), Hindernisse (Flüsse, Gebirge) oder Drohun-
gen (defensive oder offensive Abschreckung) - oder sie zusammenbringen,
räumlich durch Überwindung von Entfernungen und Hindernissen mittels
Transport und Kommunikation und sozial durch Kooperation. "Auseinander"
und "zusammen" bezeichnen wir als den dissoziativen und den assoziativen
Ansatz. Während des Kalten Krieges waren sie wohlbekannt als der Falken-
und der Tauben-Ansatz in den Ost-West-Beziehungen.
Eine erste Überlegung wäre, daß dissoziative Ansätze immer irrelevanter
werden, wenn Entfernungen und Hindernisse allmählich durch Transport und
Kommunikation überwunden werden. Drohungen können jedoch als Kom-
pensation verwendet werden - ein Grund für Rüstungsspiralen. Und soziale
Dissoziation wirkt einstellungsmäßig durch Vorurteile und verhaltensmäßig
durch Diskriminierung, als solide Klassenbildung, um "gefährliche Unter-
schichten" in multinationalen Staaten und Imperien in Schach zu halten.
Räumliche Dissoziation ist horizontal und verträgt sich mit gleichzeitiger
Evolution; soziale Dissoziation ist vertikal und klassen- oder kastenorientiert,
ist vertikale strukturelle Gewalt - ein Staat etwa, der seine Bevölkerung, oder
ein Superstaat, der andere Staaten - oder eins wie das andere - unterdrückt.
Bei räumlicher Dissoziation besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß
direkte Gewalt eingesetzt wird, wenn Entfernung, Hindernisse oder Drohun-
gen entfallen oder versagen. Die gesellschaftliche Dissoziation beruht auf
struktureller Gewalt, die präemptive, revolutionäre oder konterrevolutionäre
Gewalt hervorrufen kann. Das sind gute Gründe dafür, die Dissoziation als
unzureichend bei der Suche nach Harmonie und Frieden im Staatensystem zu
betrachten.
Wir können uns aber die Dissoziation als Lösung in vacuo vorstellen.
Wenn wir nicht wissen, wie eine harmonische Beziehung zwischen Staaten,
die hauptsächlich positiven Austausch hätten, aussehen könnte, und wir kei-
nen negativen Austausch, also Disharmonie und Gewalt wollen, dann können
wir uns als ein Minimum mit einer Nicht-Beziehung zufriedengeben. Ein
Paar, das unfahig ist, Harmonie oder ein positives Gleichgewicht zu erlan-
gen, und das bedenkt, wie komplex und vielschichtig das Streben zweier
Menschen nach Harmonie von Körper, Geist und Seele in der Praxis ist,
kommt vielleicht mit einer Nicht-Beziehung (Trennung, Scheidung) besser
zurecht als mit einer negativen Beziehung voller geistiger Gewalt (z.B. wü-
tende innere Dialoge), verbaler Gewalt oder sogar physischer Gewalt, die zur
normalen strukturellen und kulturellen Gewalt der patriarchalen Gesellschaft
noch hinzutritt.
Dissoziativer Frieden ist aber bestenfalls eine Antwort auf das Problem
des negativen Friedens als eines gewaltfreien Systems. Mit positivem Frieden
118 Friedenstheorie

meinen wir ein Kooperationssystem jenseits einer "passiven friedlichen Ko-


existenz", ein Frieden, der positive synergistische Früchte der Harmonie her-
vorzubringen erlaubt. Bezogen auf eine Gruppe von Staaten, führt das zu ei-
nem Kontinuum von totaler Trennung, Dissoziation, bis hin zu totaler Asso-
ziation. Ein Paar kann die totale Vereinigung von Körper, Geist und Seele in
Situationen höchsten Glücks finden, die der sexuellen Vereinigung verbun-
den sind, mit allen Zuständen partieller Erfüllung dazwischen. Es muß nicht
eigens erwähnt werden, daß auch im AssoziativenlHarmonischen/Symbioti-
schen Elemente des Negativen, des DissoziativenlDisharmonischeniAnti-
Biotischen enthalten sein werden. Wir sprechen über Gleichgewicht. Und ei-
ne vollkommene Vereinigung ist vielleicht nicht aufrecht zu erhalten, da sie
zu intensiv, zu eng ist, um mehr zu sein als ein vorübergehendes Hocherleb-
nis. Wie wir später sehen werden, gilt das wahrscheinlich auch für Staaten-
systeme.""

5.3 Fünf Modelle der Assoziation: von Null zur Einheit


Wir werden im folgenden fünf Stufen eines Assoziations-Kontinuums unter-
suchen: dissoziative, assoziative, konföderative, föderative und unitarische
Staatensysteme, wobei die letzten drei avancierte Formen der Assoziation
darstellen.

( 1) Dissoziative Staatensysteme: Anarchie, Hierarchie. Jeder Staat kümmert


sich um seine eigenen Angelegenheiten; es bestehen keine inhärenten asso-
ziativen Bande. Das bedeutet kein Hobbessches bellum omnium contra om-
nes, es sei denn unter ganz besonderen gesellschaftlichen und kulturellen
Voraussetzungen. Eine gegenseitige Isolation bis hin zur Beziehungslosigkeit
ist nicht nur denkbar, sie ist empirisch betrachtet in der Menschheitsge-
schichte meistens vorherrschend gewesen. Gegenwärtig sind wir jedoch so
viele, leben so dicht beieinander und haben so dichtgewobene Verkehrs- und
Kommunikationsnetze, daß man sich nicht um seine eigenen Angelegen-
heiten kümmern kann, ohne ständig anderen ins Gehege zu kommen. Man
kann aber nicht von vornherein davon ausgehen, daß daraus Krieg folgen
muß, wie das so oft im Fach Internationale Beziehungen geschieht. Da es je-
doch eine Asymmetrie der Machtressourcen gibt, kann die Anarchie Elemen-
te von Hierarchie mit sich bringen, d.h. strukturelle Gewalt (was nicht meint,

69 Das gleiche gilt für das negative Extrem der Austauschbeziehungen zwischen Staa-
ten: Ein vollkommener Austausch negativer Akte in alle Richtungen zwischen allen
Mitgliedern des Staatensystems, das totale negative Hocherlebnis, wird auch nur
kurz währen, und zwar nicht nur wegen der Zerstörung, die damit verbunden ist,
sondern auch wegen der dafür nötigen Energieverausgabung.
Das Staatensystem 119

was Hobbes und moderne Hobbesianer denken), in Form von Ausbeutung,


Repression und Kontrolle anderer.

(2) Assoziative Staatensysteme: Verträge - Konventionen - Regimes - Orga-


nisationen. Das Staatensystem ist ein soziales System, in dem die Akteure
Staaten sind, die interagieren. Damit daraus ein System wird, muß ein gewis-
ses Maß an Stabilität eingebaut werden. Verträge und Konventionen sind da-
zu da, das System mit einer Reihe von wechselseitig bindenden normativen
Erwartungen zu versehen. Jedes soziale System braucht solche Erwartungen,
sie dienen dazu, die Welt vorhersehbar zu machen, "das macht man so", "so
haben wir das immer gemacht", "jetzt werden wir das anders machen".
Die Welt wird grundsätzlich stabiler, wenn das Selbst und das Andere,
Ego und Alter, durch ein normatives System verbunden sind (aber nicht un-
bedingt weniger gewalttätig, die Vendetta ist auch ein normatives System).
Damit über die Normen aber ein bestimmtes Verhalten nicht nur vorge-
schrieben, sondern auch vorausgesagt werden kann, müssen diese innerhalb
des kulturellen Systems verinnerlicht sein ("ich halte mich an die Norm, weil
das richtig ist") und/oder (vorzugsweise und) in der sozialen Struktur institu-
tionalisiert sein ("ich halte mich an die Regel, da ich hoffe, dafür belohnt zu
werden, oder weil ich fürchte, bestraft zu werden, wenn ich mich nicht daran
halte"). Verträge und Konventionen sind bi- und multilaterale Anstrengun-
gen, Harmonie durch normative, belohnende und strafende Macht (Erzwin-
gung) herbeizuführen. Universelle Konventionen beziehen (fast) alle Staaten
ein; dem kommen das System der Vereinten Nationen im allgemeinen, die
Charta derselben und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im be-
sonderen sehr nahe.
Unter welchen Bedingungen könnten Verträge und Konventionen zur
Friedensschaffung beitragen? "Gemeinsamer Nutzen" gilt in der Diskussion
oft als erste Voraussetzung; die Negation davon heißt "ungleiche Verträge",
eine Möglichkeit, hierarchische Beziehungen einzufrieren, mit der Hierarchie
zwischen Kriegsgewinner und Verlierer als Sonderfall. Man nennt den Ver-
trag, wie den von Versailles, dann falschlieh "Friedensvertrag", obwohl "Waf-
fenstillstand", "Kriegsbeendigung" oder "strukturelle Gewalt" angemessene-
re Bezeichnungen wären.
Wir werden den Begriff Symbiose hier etwa in der gleichen Bedeutung
verwenden wie "gemeinsamer Nutzen", d.h. alle Beteiligten gewinnen etwas
dabei, was den Grund dafür abgeben dürfte, daß sie den Vertrag bzw. die
Konvention eingehen und diese nicht nur aushandeln, sondern auch ratifi-
zieren, im Rahmen der ihnen intern zur Verfügung stehenden Prozesse.
Wir werden jedoch noch eine zweite Voraussetzung hinzufügen: die Ge-
rechtigkeit, Billigkeit. Zur Schaffung von Harmonie reicht es nicht, daß beide
Parteien "etwas" gewinnen, also keine von beiden schlechter dasteht als vor-
her. Die Übereinkunft muß gerecht sein, nicht-ausbeuterisch, so daß beide etwa
120 Friedenstheorie

den gleichen Gewinn daraus ziehen. Nur in einem solchen Fall könnten wir ei-
nen friedensstiftenden Effekt annehmen, aber auch nur als eine Hypothese.
Die Vertrags- bzw. die Konventionswelt kann universal sein, auf die gan-
ze Welt, oder partikular, nur auf Teile der Welt, eine Region, bezogen, wobei
ein Paar, das bilaterale Verständigung sucht, die kleinste Einheit wäre. Sie
behält aber die jeweilige "Bestimmtheit" des Vertrags bzw. der Konvention,
welche die wechselseitigen Erwartungen definiert. Um zurückzukommen auf
die Analogie menschlicher Paare: wir befinden uns jetzt auf der - ziemlich
spezifischen - Ebene von Kollegen oder Nachbarn.
Hierauf können wir jetzt in zwei Richtungen aufbauen, indem wir die Be-
ziehungen fester und/oder diffuser, aspektreicher, anlegen. Durch ein Regime
wird ein System von Verträgen oder Konventionen dadurch institutionali-
siert, daß Belohnungen und Strafen eingebaut werden. Und eine Organisati-
on regelt ein breites Spektrum von Themen und Aufgaben. Mit dem UN-Sy-
stern wird versucht, Universalität mit einem Maximum an Mitgliedsstaaten,
M, zu erreichen; sehr diffus, da um eine große Anzahl von Themen oder
Aufgaben herumgebaut und gleichzeitig fest institutionalisiert. Es ist natür-
lich nicht nur fraglich, ob diese Kombination durchsetzbar ist (ob diese drei
Aspekte vereinbar sind), sondern auch, ob sie wünschenswert ist. Falls etwa
Zwang die Hauptantriebskraft für das Einhalten von Regeln wird, der Einsatz
direkter Gewalt, dann sind wir sicherlich nicht dabei, Frieden zu schaffen. 70
Friedensstudien geht es aber, das war ja unser Ausgangspunkt, um Friedens-
schaffung mit friedlichen, nicht mit gewaltsamen Mitteln.
Unter welchen Bedingungen wären Organisationen oder Regimes frie-
densschaffend? Was könnten wir der Symbiose und der Gerechtigkeit hinzu-
fügen? Nun, drittens: eine Vielfalt der Parteien. Wenn man eine diffuse Be-
ziehung wünscht, die Zusammenarbeit also viele Dimensionen/Themen/Fra-
gestellungen einbegreifen soll, dann müssen die Beteiligten verschiedenartige
Aktivposten und Ressourcen einbringen, sonst wäre der gegenseitige Nutzen
begrenzt. In der Natur ist Vielfalt Voraussetzung für Symbiose, und beides
zusammen führt zu ökologischer Elastizität.
Vierte Bedingung: Homologie. Sie müssen sich finden, sozusagen ineinan-
dergreifen. In Bezug auf unsere Paar-Metapher gehen wir damit eindeutig
von Beziehungen zwischen KollegenlNachbarn über zu Beziehungen zwi-
schen Freunden, und da muß es gemeinsame Interessen und zugleich Ver-
schiedenheit geben. Damit es zur Zusammenarbeit zwischen Staaten kommt,
muß jeder Bereich des Staates A sein Gegenstück im Staate B finden; was
deshalb kein Problem ist, weil heutige Staaten nach dem gleichen Grundmo-

70 Folglich sollte man den Gebrauch des Terminus "friedensstiftend" bei Zwangsan-
wendung ablehnen. Zwang bleibt Zwang und hat die Tendenz, Gegen-Zwang zu er-
zeugen. Somalia 1993 könnte das erste Beispiel dafür sein, daß ein Volk Gegen-
zwang einsetzt, um sich einer "Friedensschaffung" zu widersetzen.
Das Staatensystem 121

delI gebaut sind (Dreiteilung der Macht, wobei die Exekutive auf ungefähr
gleiche Art und Weise in Ministerien aufgeteilt ist, usw.).
Fünftens: kreative Konfliktläsung. Konflikte sind vorprogrammiert, und
zwar nicht nur zwischen den Parteien (Dispute), sondern auch zwischen ihren
Zielsetzungen und Themen (Dilemmata), von der Kombination beider ganz
zu schweigen. Bei realen Konflikten geht es niemals nur um ein Problem
zwischen zwei Parteien; sie sind viel komplexer. Dadurch bieten sich aber
andererseits auch mehr Gelegenheiten zu einer kreativen Konfliktlösung,
weil Möglichkeiten zu bilateralen, trilateralen, quadrilateralen usw. Tausch-
geschäften bezüglich zweier, dreier oder noch zahlreicherer Streitpunkte be-
stehen. Also haben wir zwei Unterbedingungen:
- der Bereich, die Zahl der Beteiligten m, muß höher als 2 sein.
- der Umfang, die Zahl der Streitfragen n, muß höher als 1 sein.
Sechstens: Mechanismen positiver Einwilligung, d.h. kein oder nur minimaler
Einsatz von Strafen, von Zwang. An Regeln muß man sich weitgehend hal-
ten, sonst funktioniert die Assoziation nicht. Am besten wäre Einwilligung
aus innerer Überzeugung, mit anderen Worten: Verinnerlichung. Auf der per-
sönlichen Ebene bedeutet das, daß man ein gutes oder ein schlechtes Gewissen
hat. Länder dagegen, d.h. Territorien mit einem Staatswesen im Mittelpunkt
und einer uni- oder multinationalen Bevölkerung, mögen zu selbstgerecht sein,
um ein kollektives schlechtes Gewissen zu entwickeln, außer vielleicht unter
extremen Umständen (Deutschland nach dem 11. Weltkrieg?). Sie können ande-
rerseits, und das ist oft der Fall, kollektiv von sich sehr überzeugt sein, leider
häufig aus Gründen, die anderen nicht einleuchten. Dann gibt es die Möglich-
keit der Belohnung (positiv institutionalisiertes Einverständnis), d.h. man be-
lohnt die Zusammenarbeit, anstatt sich auf die Bestrafung für verweigertes Ein-
verständnis zu konzentrieren. Mit anderen Worten: positive Sanktionen, wenn
der Austausch z.B. tatsächlich dem wechselseitigen Nutzen dient.
Siebtens: Transzendenz. Die Vorstellung, daß eine Assoziation mehr ist als
die Summe (richtiger: die Menge) seiner Mitgliedsstaaten, muß konkretisiert
werden. Das könnte in der ad hoc-Form periodischer Konferenzen geschehen
oder mittels eines institutionalisierten Sekretariats, in dem ein Mitarbeiterstab
die Interessen der Assoziation wahrnähme. Die Aufgabe einer solchen Konfe-
renz oder eines solchen Sekretariats ist definiert durch die sechs vorhergehen-
den Punkte.
Diese sieben Punkte also kennzeichnen ein ausgereiftes assoziatives Sy-
stem, das auf Symbiose und Vielfalt beruht. Damit stellen wir offensichtlich
ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten vor, das von Verträgen über Fische-
reirechte in einem Grenzfluß bis zum gesamten UN-System reicht, und Sub-
typologien haben wir schon angedeutet. Innerhalb dieses Paradigmas kann
viel Harmonie und Frieden geschaffen werden.
122 Friedenstheorie

(3) Konföderative Staatensysteme. An welchem Punkt sind wir nun ange-


langt? Wie unterscheidet sich ein konföderatives System, eine Konfödera-
tion, von einer Staatenorganisation, bei der die obigen sieben Grundprinzi-
pien erfolgreich umgesetzt worden sind? Das ist eine entscheidende Frage
und einer der Hauptgründe, weshalb dieser Schritt wichtiger ist als der Un-
terschied zwischen einem Vertrag und einer Konvention bzw. Organisation,
wie eben diskutiert; deshalb sollten wir ein weiteres Mal mit Hilfe der Paar-
Metapher an diese Frage herangehen.
Wir haben verfolgt, wie sich das Paar vom Zustand der Beziehungslosig-
keit (Dissoziation) über das Verhältnis von Kollegen/Nachbarn zur Freund-
schaft (Assoziation) hin bewegt hat, wobei das Gefühl der Verpflichtung ge-
genüber der Verbindung immer stärker geworden ist. Im konföderativen Sta-
dium sind sie aber nicht mehr "nur Freunde". Sie werden als Paar betrachtet.
Dies ist eine höhere Ebene der Beständigkeit, obwohl sie sich immer noch
zur Trennung entschließen können. Sie betrachten ihre Beziehung eher als in
sich gefestigt denn als institutionalisiert im gesamten Staatensystem. Auf der
Paar-Ebene wäre "Kohabitation" heute das entsprechende Modell, "wir ent-
scheiden, nicht die Gesellschaft".
Hinter einer solchen Entscheidung stehen tiefere Beziehungen als eine
Kollegen/Nachbarn-Rationalität, die auf kompatiblen Interessen beruht. Nen-
nen wir es Liebe. Das Verhältnis ist auch sehr vielschichtig, umfaßt viele Be-
reiche, und was sehr wichtig ist: Der Spielraum ist unbegrenzt, es gibt keine
Grenzen für Kooperation. Es existiert keine Kodifizierung, die die Bereiche
wechselseitiger Kooperation festlegt und dadurch alle anderen Bereiche als
irrelevant und in normativer Hinsicht als bedeutungslos erklärt. In einer Kon-
föderation kann alles Gegenstand einer Zusammenarbeit werden; überdies er-
wartet jeder Beteiligte, daß ihn der jeweils andere als bevorzugten Ko-
operationspartner behandeln wird.
Soll dies funktionieren, müssen die Beteiligten in irgendeiner Form zu-
sammenwachsen, muß die Verbindung verinnerlicht werden. Bei einem Paar
müssen beide die Belange des/r jeweils anderen verinnerlichen, so, als wären
es die eigenen. Das Verbindende bewegt sich über den Bereich einer berech-
nenden, auf Nützlichkeit ausgerichteten (egozentrischen) Rationalität hinaus
in den der tiefen Gefühle; es werden tiefere Schichten der Psyche, des Gei-
stes, der Seele angesprochen.
Damit etwas Ähnliches im Rahmen von Staatensystemen geschehen kann,
reicht es nicht hin, daß sich Regierungsvertreter der von ihnen geschaffenen
zwischenstaatlichen Organisation tief verbunden fühlen. Dazu gehört mehr.
Und hier erscheint nun das nicht-staatliche System auf der Bildfläche: die
Bürger aller betroffenen Länder und deren Assoziationen, die nationale und
internationale Zivilgesellschaft. Positive Verbindungen sollen demnach nicht
allein zwischen Regierungen bestehen, sondern auch zwischen Nicht-Regie-
rungen, NGOs, die in das Gesamtsystem alle Arten hauptsächlich positiver
Das Staatensystem 123

Interaktion einspeisen, wodurch dieses sehr dicht, sehr lebendig wird und
über Grenzen hin verflochten. Dies kann man als eine Bedingung formulie-
ren, wie im folgenden geschehen.
Achtens also: Entropie, d.h. eine Verteilung der gesamten Interaktions-
masse auf alle Beziehungen, nicht nur auf die innerhalb von Ländern zwi-
schen Staat und Nicht-Staat oder, außerhalb, zwischen Regierungen. Wie bei
Paaren, die nicht nur durch eine tiefe Sympathie, die es auch in Freundschaf-
ten gibt, verbunden sind, sondern auch durch körperliche Vereinigung und
seelische Gemeinsamkeiten. Heute können die Europäische Gemeinschaft
(vor Abschluß des Maastricht-Vertrages), die Nordische Gemeinschaft (vor
dem Beitritt dreier ihrer Mitglieder zur Europäischen Union) und die Verei-
nigung Südostasiatischer Nationen (ASEAN) als Beispiele für Konföderatio-
nen dienen. Man zieht einen losen Kreis um "uns" und um "die anderen",
wobei manche kommen und andere gehen. In dem Maße, wie dies geschieht,
wird ein neuer Akteur geboren, ein Super-Akteur.

(4) Föderative Staatensysteme. In einer Föderation soll ein solcher Super-


Akteur ewig Bestand haben, wie ein Paar, das verheiratet bleiben soll, "bis
daß der Tod uns scheidet". Das Verhältnis wird innerhalb des Gesamtsystems
institutionalisiert und nicht nur von den Beteiligten verinnerlicht. Lassen sich
Konföderationen zweieiigen Zwillingen vergleichen, dann sind föderale Sy-
steme nicht nur eineiige, sondern in der Tat Siamesische Zwillinge, die le-
benswichtige Organe in dem Ausmaß teilen, daß man sie nicht mehr trennen
kann; trennte man sie dennoch, wäre wenigstens einer von beiden irreparabel
beschädigt. Generell gilt, daß Staaten gerade dort zusammenwachsen, wo es
nötig ist, um im Gesamtsystem ein Super-Akteur zu werden:
politisch: durch eine gemeinsame Außenpolitik (Entscheidungen);
ökonomisch: durch eine gemeinsame Finanzpolitik (Währung, Zentralbank);
militärisch: durch eine gemeinsame Sicherheitspolitik (Armee);
kulturell: durch geteilte kulturelle Identitäten (Werte, Überzeugungen).
So entsteht innerhalb der Föderation ein Zentrum durch Zusammenwachsen,
durch gemeinsame außenpolitische Entscheidungen, eine gemeinsame Wäh-
rung (und eine Zentralbank), eine gemeinsame Armee und durch den Aufbau
einer Super-Nation im Wege der Betonung einer gemeinsamen Kultur ("Ame-
rikaner" für die USA, "der neue Sowjetmensch" für die Sowjetunion, "Euro-
päer" für die Europäische Union, "Südslawen" für Jugoslawien). Zusätzlich
zur Teilhabe an einem gemeinsamen Zentrum kann man viel Kooperation
zwischen den Peripherien unterstellen.
Eine Föderation ist eine intensive Beziehung. Eine Trennung wird jetzt als
"Umsturz" gebrandmarkt, und man wirkt ihr mit Normen entgegen, die bein-
halten, daß die Föderation "ewig" ist. Wie bei einem Paar kann das funk-
tionieren, aber auch nicht, je nachdem, ob die Föderation über Bruchlinien
124 Friedenstheorie

gebaut ist mit nicht zu erkennenden oder zumindest nicht erkannten Harmo-
niestellen, die politische Erdbeben verhindern können - wenn man sie findet.

(5) Einheitsstaatssysteme. Hier wachsen die Staaten, freiwillig oder nicht, zu


einem Staat zusammen, und dies nicht nur im Zentrum, sondern auch an der
Peripherie: vereinheitlichte Wirtschaftssysteme, Erziehungssysteme usw. An
der Peripherie werden keine wichtigen Entscheidungen getroffen, nur Ent-
scheidungen darüber, wie das, was im Zentrum beschlossen wurde, durchge-
führt werden soll. Dies kommt dem Zustand von Paaren, die in vollkomme-
ner Harmonie leben, sogar anfangen, sich ähnlich zu sehen, sehr nahe. Reicht
die Größe aus, können wir sagen, daß ein Super-Staat entstanden ist. Viele
heute bestehende Staaten waren einmal Super-Staaten, aber der Maßstab ver-
ändert sich im Laufe der Zeit.
Wir haben also im wesentlichen fünf Alternativen zu gewalttätigen Staa-
tensystemen: dissoziative, elementar assoziative (mit vier Untertypen) und
fortgeschritten assoziative: konföderative, föderative und einheitsstaatliche.
Die Frage ist nun, in welchem Ausmaß diese Friedenssysteme sind. Die Fra-
ge besitzt offensichtlich einen Innen- und einen Außen-Aspekt: Schafft es
das System, im Inneren Gewalt einzudämmen und Konflikte zu transformie-
ren, und in welcher Beziehung steht das System zum übrigen Staatensystem?
Viele der heutigen Staaten waren einmal Staatensysteme (Deutschland), und
sie können zu diesem Zustand zurückkehren (die Sowjetunion, Jugoslawien);
viele der heutigen Staaten könnten morgen Komponenten von Superstaaten
werden (die fünfzehn Mitglieder der Europäischen Union, die konföderative,
föderative und unitarische Aspekte verbindet).
Es gibt keinen Grund zu glauben, daß Super-Staaten friedlicher sind als
Staaten. Solange sich die Umwelt eines Superstaates nicht verändert hat, führt
die Bildung von Superstaaten nur zu einer Transformation des Gewaltproblems
oder gar des Krieges auf eine proportional höhere Ebene, wenn es sich um ei-
nen Akteur mit Bindekraft, also um ein föderatives oder ein unitarisches Sy-
stem handelt. Ceteris paribus gilt: Je mehr sich die Assoziation einer Einheit
nähert, desto größer wird die Bedrohung derer, die außerhalb stehen.
Wir können die Schlüsselhypothesen wie folgt zusammenfassen:

Staatensystem friedensstiftende friedensbedrohende


Kapazität im Inneren Kapazität nach außen
1. dissoziativ gering gering
2. assoziativ gering bis mittelgroß gering bis mittelgroß
3. konföderativ mittelgroß mittelgroß
4. föderativ groß groß
5. unitarisch sehr groß sehr groß

Das Dilemma ist deutlich: Die Organisation desjenigen Territorialsystems,


das am besten in der Lage ist, im Inneren Frieden zu schaffen, kann gleich-
Das Staatensystem 125

zeitig die Organisation sein, die nach außen den Frieden am meisten bedroht.
Deutschland hat unter den deutschen Territorialeinheiten den Frieden wahren
können," aber um welchen Preis für das übrige Europa? Desgleichen die
USA,72 die die föderative Einheit durch den Bürgerkrieg gefestigt haben,
oder auch die Sowjetunion nach dem Bürgerkrieg von 1918-1922.
Die Logik ist simpel. Der Aufbau einer festen Staatsorganisation im Zen-
trum des Supersystems (also auf Föderations- oder Einheitsstaatsebene, denn
auf den anderen Stufen besteht der Staat als gemeinsame Organisation nur in
embryonaler Form) reguliert die Beziehungen zwischen den Bestandteilen,
und zwar häufig durch kreative Konfliktlösung und positive Einwilligungs-
mechanismen. Aber eben diese Staatsorganisation verleiht dem neuen System
auch Kohärenz nach außen. Eine potentielle Bedrohung des Friedens ist ent-
standen, da einige Staaten einbezogen und andere ausgeschlossen wurden.
Die gleichen Mechanismen, die auf Ebene E friedensstiftend sind, können
auf der Ebene E + I kontraproduktiv werden. Die hochproblematische
Schlußfolgerung lautet: Schließe niemanden aus, mache die ganze Welt föde-
rativ oder unitarisch. Machbar? Wünschenswert?

5.4 Territoriale Friedenssysteme und Rasse - Klasse -


Nation
Die Schwierigkeiten mit einer Weltregierung, sei sie föderativer oder unita-
rischer Art, werden in dem Moment offensichtlich, in dem wir obige Analyse
verkomplizieren und andere Bruchlinien einbeziehen. Wenn ein Territorium
eine Gesellschaft beherbergt, dann müssen Natur für die Produktion, zwei
Geschlechter für die Reproduktion und mehrere Generationen vorhanden
sein. Hier gibt es keine Wahl. Gesellschaften kommen mit diesen drei Bruch-
linien mehr oder weniger gut zurecht. Bezüglich der nächsten drei: Rasse,
Klasse und Nation, gibt es jedoch Wahlmöglichkeiten, gibt es uni- oder multi-

71 Die deutsche Konföderation, der Deutsche Bund, hatte als Nachfolger zwei Ein-
heitsstaaten, Das Zweite Reich (Bisl1Ulrck 1871-1918) und Das Dritte Reich (Hitler
1933-45), und danach eine Föderation, die Bundesrepublik Deutschland, seit 1949.
Eine begründete Vermutung: Das nächste Mal wird Deutschland wieder eine Konfö-
deration.
72 Ursprünglich auf der Grundlage der Articles of Confederation, 1781-89, als Vorbe-
reitung auf eine stärker föderative Verfassung. Die Schweiz begann ebenfalls als
Konföderation von Kantonen, wurde aber seit 1874 gemäß den hier benutzten Krite-
rien zu einer Föderation (die nationalen Autokennzeichen mit CH, Confederatio He/-
vetica, sind nicht korrekt; es sollte FH darauf stehen). Für eine exzellente Analyse
der Schweizer Struktur und Entwicklung, in vielerlei Hinsicht ein Modell für die
Welt, s. Wolf Linder: Swiss Democracy.· Possible Solutions to Conflict in Multicultu-
ral Societies, New York 1994.
126 Friedenstheorie

rassische, Ein- oder Viel-Klassen- und uni- oder multinationale Gesellschaf-


ten."
Wir erhalten acht Kombinationsmöglichkeiten, die alle von Bedeutung sind:

Rasse Klasse Nation Kommentar


1. Uni Uni Uni Geschlechter-/Generationengegensatz?
2. Uni Uni Multi Nationale territoriale Separation?
3. Uni Multi Uni Klassengesellschaft mit großer Mobilität
4. Uni Multi Multi Nationen werden zur Schichtenbildung neigen
5. Multi Uni Uni Rassische territoriale Separation?
6. Multi Uni Multi Die Friedensutopie
7. Multi Multi Uni Rassen werden zur Schichten bildung neigen
8. Multi Multi Multi Rassen und Nationen werden Schichten bilden

Die Kommentare gründen auf der allgemeinen Annahme, daß die menschli-
che Fähigkeit, sehr eng mit denen zu leben, die sehr verschieden sind, be-
grenzt ist; eine Annahme, die selbst Einschränkungen unterworfen ist." Neh-
men wir aber einmal an, sie besäße einige Gültigkeit. In diesem Fall werden
Dissoziationen stattfinden, und zwar auf der gesellschaftlichen Ebene in
Form von Schichtenbildung (oben 4, 7 und 8), und auf der räumlichen Ebene
in Form von Trennungen (2 und 5). Mehr-Klassen-Systeme dienen als Nähr-
boden für Schichtenbildung; Grenzen, die man auf der Landkarte zieht, die-
nen der Entstehung neuer Länder.
In einer Einklassen-Gesellschaft (d.h. einer mit nur wenigen Unterschie-
den in Lebensqualität und -quantität) wird man die territoriale Lösung bevor-
zugen, in einer Mehr-Klassen-Gesellschaft (mit ausgeprägten Unterschieden)
die Schichtenbildung. In der früheren Republik Südafrika kamen beide Mög-
lichkeiten in der Apartheid zusammen, gab es Schichtenbildung und territo-
riale Trennung in einem Land. Nun zu:
1. Uni - Uni - Uni. Die Einwohner sind oder empfinden sich als eine Rasse
und eine Nation und leben grundsätzlich in einer Ein-Klassen-Gesellschaft.
Im Prinzip heißt das, daß drei der Bruchlinien beseitigt sind (die Deutschen

73 Statt "multi-national" wird oft der Begriff "multi-ethnisch" verwendet, wobei das
Problem darin besteht, daß "ethnisch" meist auf den Anderen, nicht auf das Selbst,
angewendet wird, wie in ,,Let's go out and taste some ethnic cooking tonight". Eben-
so ruft die Modebranche von Zeit zu Zeit "ethnische" Kleidungsstile aus ("the ethnic
look").
74 Eine Einschränkung wäre, daß das besonders für den homo occidentalis mit seinem
manichäischen Paradigma gilt, dem eine Dichotomie mit einem starken Gefälle zwi-
schen schwarz und weiß, schlecht und gut fest eingeprägt ist. Anders = schlecht wäre
eine konkrete Lesart dieser Prägung.
Das Staatensystem 127

haben den schönen Ausdruck "aufgehoben"). Die taoistische These aber,


formulieren wir sie als "Widerspruch oder Tod"", würde uns zu der Hypo-
these veranlassen, daß die Dynamik der Gesellschaft von den ersten drei auf
der Liste der Bruchlinien getragen wird oder von der Bruchlinie Staat/Nicht-
Staat.
3. Uni - Multi - Uni. Das wäre eine homogene Gesellschaft mit weichen
Klassengrenzen; weich, weil sie nicht durch Rasse sichtbar oder durch Natio-
nalität hörbar gemacht werden (wenn wir davon ausgehen, daß Sprach-
unterschiede und kulturelle Rituale hörbar sind). Mobilität sollte im Prinzip
einfacher sein als in Gesellschaften, in denen Klassen eine Rassen- und/oder
nationale Grundlage haben, was die Klasse einer Kaste ähnlicher macht. Dies
ist der westliche Prototyp, die nationalstaatliehe Klassengesellschaft.
6. Multi - Uni - Multi. Das wäre die viel gelobte multirassische und multi-
ethnische, aber zugleich Einklassen-Gesellschaft. Sie unterscheidet sich von
(1) darin, daß Rasse und Nation subjektiv und objektiv vorhanden sind, die
Menschen es aber fertigbringen, innerhalb eines Landes und einer Klasse zu-
sammen zu leben. Daß es hierfür auf der Welt keine empirische Beispiele
gibt, sollte man ernst nehmen, aber es sollte nicht dazu führen, daß man auf-
hörte, nach dieser dreifachen Harmonie zu suchen.'·
Wenn man folgert, daß multirassische bzw. -nationale Gesellschaften meist
vertikal gegeneinander isoliert und/oder horizontal separiert sind, dann ist die
nächste Frage: wie sehr? Eine Hypothese wäre, daß multirassische bzw. -na-
tionale Gesellschaften ein besonders steiles Klassengefälle besitzen; eine an-
dere, daß horizontal separierte Föderationen, bei denen die Teile in einem
starken Zentrum zusammenhängen, unzureichend sind.
Mit anderen Worten, multinationale (und multirassische) Föderationen (in
denen Nationen und Rassen sich auf Staaten oder Republiken, oder wie man
sie auch immer nennt, verteilen) sind nicht lebensfähig; sie sind zu unbe-
weglich. Europa hat den Zusammenbruch dreier von ihnen (Sowjetunion, Ju-
goslawien und Tschechoslowakei) innerhalb von zwei Jahren, zwischen

75 Ziemlich anders als die okzidentale Version patria 0 muerte, Vaterland oder Tod, der
Wahlspruch, den Castro berühmt gemacht hat. Patria ist widerspruchsfreier; aber
darum schon den Tod akzeptieren?
76 Um etwas Offensichtliches auch auszusprechen: Die USA sind kein Beispiel hierfür,
aufgrund der Tatsache, daß die eingeborenen Amerikaner ausgerottet wurden, eben-
so wie aufgrund der Art und Weise, in der einwandernde Rassen und Nationen in-
nerhalb eines soliden Klassensystems mit Kasten-Aspekten stratifiziert und dann
"amerikanisiert" werden. Bosnien-Herzegowina war multinational, aber die Kon-
struktion scheint der Diktatur Titos als Bedingung für den Zusammenhalt bedurft zu
haben (oder der Osmanen, der Okkupation/Annexion durch die Habsburger, der
kroatischen Diktatur unter Pavelic).
128 Friedenstheorie

1991-93, gesehen." Es wäre jedoch keine Lösung, wenn sie stattdessen Ein-
heitsstaaten gewesen wären! In diesem Fall hätten Klasse und Nation noch
stärker korreliert. Die genannten Staaten konnten nur mit viel Zwang als Fö-
deration zusammengehalten werden, und es hätte noch größeren Zwanges
bedurft, um die Einheitsstaats-(Nicht-)Lösung durchzusetzen.
Und damit ist zugleich die Frage nach der Lebensfähigkeit einer Weltre-
gierung an der Spitze einer Weltföderation oder eines Welteinheitsstaates be-
antwortet. Alle Bruchlinien bezüglich Rasse, Klasse und Nation verliefen
dann im Innern. Sie stehen schon heute miteinander in Wechselbeziehung
und dürften in einem solchen System noch enger korrelieren. In einem der-
artigen System würde die Machtausübung im wesentlichen nach unten ge-
richtet sein, und das Resultat wären zahllose Fälle, in denen das Zentrum in
der Peripherie intervenieren würde, um die Rasse-Klasse-Nation-Kombina-
tion unter Kontrolle zu halten. 78 Direkte Gewalt würde auf die strukturelle
Gewalt folgen; von oben, also vom Zentrum, aber auch von unten, aus der
Peripherie. Unter dem Strich hätte das mit Frieden nicht viel zu tun.
Das aber gilt auch für das entgegengesetzte Szenario: die totale Trennung,
das dissoziative Modell. In diesem Fall ist horizontale strukturelle Gewalt am
Werk, eine Territorialstruktur, die die Menschen auseinanderhält. Dieser gan-
ze Mechanismus des 20. Jahrhunderts aus Grenzen", Grenzkontrollen, Visa,
Pässen, Stempeln und anderen Ärgernissen verkörpert strukturelle Gewalt,
die den uneingeschränkten Kontakt jedes mit jedem anderen, den gänzlich
anderen eingeschlossen, verhindert. Das Problem ist jedoch, daß für manche
die enge Nähe zum Anderen auch Gewalt bedeutet, und man sollte solche
Menschen deshalb nicht unbedingt als Rassisten, als bigotte, als Antisemiten
usw., abstempeln. Hilfreicher wäre die Einsicht in die begrenzte Verarbei-
tungsfähigkeit der Menschen von Selbst-Andere-Unterschieden und dann -
die Suche nach neuen Ansätzen.
Gewalt also, wenn Menschen auseinandergehalten werden, und Gewalt,
wenn man sie zusammenbringt? Genau. Hier gibt es keinen (logischen) Wi-

77 Und man kann den vorherigen (fast vollständigen) Zusammenbruch des britischen
Empire und des französischen Kolonialsystems zu Systemen eher konföderativer Art,
des Commonwealth of Nations und der Communauu! Franraise, auch als Reaktion
betrachten auf die starke vertikale strukturelle Gewalt, die Föderationen eigen ist.
78 Die UNO-Aktion in Somalia, die gegen Ende des Jahres 1992 als humanitäre Aktion
begann und allmählich zur Frage wurde, wer letztlich die Macht besitzt, kann hier als
Beispiel dienen. Die Geschichte wird das, was geschehen ist, wahrscheinlich weniger
als humanitären Akt, sondern eher als ersten Unabhängigkeitskrieg eines Volkes ge-
gen das, was in der Welt einer Weltregierung am nächsten kommt, die UNO nach
dem Kalten Krieg, klassifizieren.
79 Mittelalterliche Systeme benötigten weniger Kontrolle über den Grenzverkehr von
Personen. Zusammenhalt könnte mit anderen Mittel gesichert werden, durch Ehen
zwischen königlichen Familien etwa und über den mächtigen Einfluss einer über-
greifenden nichtterritorialen Institution, der Katholischen Kirche (pax ecclesiae).
Das Staatensystem 129

derspruch, teils, weil alles Soziale mit Widersprüchen behaftet ist, und teils,
weil wir vielleicht über Gewalt gegenüber verschiedenen Menschen spre-
chen. Die beste allgemeine Lösung, die uns heute zur Verfügung steht, ist
wahrscheinlich das konföderative Schema. Multinationale Konföderationen
zwingen niemanden zur Nähe, erleichtern aber denen das Zusammenkom-
men, die dies wollen, indem sie die Grenzen durchlässig machen, also nicht
nur den Visums-, sondern auch den Paßzwang beseitigen. Darüberhinaus
kann, wie schon oben angedeutet, eine Konföderation leichter neu ausgehan-
delt werden, und es ist grundsätzlich möglich, sie zu verlassen; sie ist weder
zu freizügig noch zu eng, liegt sozusagen in der Mitte.
Was ist dann an einer Konföderation schlecht? Die Schwierigkeit besteht
darin, sie stabil zu halten, sie gegen die Scylla der Föderation und die Cha-
rybdis der elementaren Assoziation zu schützen. Die Konföderation ist nicht
sehr stabil, und es gilt noch, Mechanismen zu entwickeln, die ihr ein stabiles
Gleichgewicht verleihen.
Ich würde also konföderative Lösungen für die meisten Probleme des
territorialen Systems empfehlen, weil Konföderation die Gleichheit aller
impliziert und gleichzeitig ein starkes Zentrum fehlt, das Widerspenstige be-
strafen und Konflikte mit äußeren Akteuren in Gang setzen könnte. Folglich
spricht vieles für
- Bosnien-Herzegowina als Dreierkonföderation;
- Jugoslawien III als Konföderation nach dem Einheitsstaat Jugoslawien I
(1918 - 41) und dem föderalen Jugoslawien 11 (1945-91);
- Südosteuropa (der "Balkan") als Konföderation;
- die Europäische Union als Konföderation, die die föderalen Aspekte nicht
verwirklicht;"O
eine paneuropäische Konföderation vom Atlantik zum Pazifik, gestützt auf
die OSZE, den Europarat und die Economic Commission for Europe der
UNO;
- die Welt als Konföderation durch die Stärkung der horizontalen Bande in
der UNO und die Beibehaltung der schwachen Superstruktur: Global Go-
vernance eher als Weltregierung.
In der Welt von gestern konnte man drei Regionen als multinationale Konföde-
rationen und Friedenssysteme bezeichnen: die Nordischen Länder, die Europäi-
sche Gemeinschaft und die Vereinigung Südostasiatischer Nationen (ASEAN).
Dies bedeutete 5+ 12+6=23 Nationen der bald 190 UNO-Mitgliedsstaaten, die
den internen Krieg zwischen Mitgliedsstaaten zwar nicht "undenkbar", aber

80 Maastricht-Vertrag, Abschnitt V, Artikel J, insbesondere 1,4 und 4,1. Abschnitt 11,


Artikel 3 dieses Vertrages definiert 20 Aktivitäten der EU, welche die einheitsstaat-
lichen Aspekte derselben sehr deutlich machen. Begründete Annahme: Die Lebens-
erwartung dieser multinationalen Föderation wird sehr begrenzt sein.
130 Friedenstheorie

doch höchst unwahrscheinlich gemacht haben. Alle neun obigen Kriterien


waren hier einigermaßen zufriedenstellend erfüllt. Diese Leistung sollte nicht
heruntergespielt werden. Auch sollte die aus nichtstaatlicher Sicht solide In-
frastruktur, die Bürgerorganisationen, die die Mitgliedsstaaten von unten ver-
binden, nicht unterschätzt werden, da sie der achten Bruchlinie entgegen-
wirken, dies vielleicht auch international (im Falle der EU und sogar der UN
als Superstaaten).

5.5 Schlußfolgerung: Was können wir tun?


Oben haben wir einige der relevanten friedensschaffenden und friedensbe-
drohenden Dimensionen gestreift. Hier noch eine weitere: die morpho-
logischen Neigungen der Kulturen. Die unitarische und die föderale Lösung
sind deutlich unizentrisch, die konföderale ist polyzentrisch, die assoziative
Lösung braucht eine Art generellen gesellschaftlichen Bindemittels, um die
Teile zusammenzuhalten, und die dissoziative Lösung hält nichts zusammen.
Wenn wir das, was Länder in einem Staaten system zusammenhält, Gott nen-
nen, dann geht es hier jeweils um monotheistische, polytheistische, panthei-
stische und atheistische Strukturen. Und die allgemeine Behauptung ist dann
offensichtlich die folgende: "Sage mir, welcher Religion du angehörst, und
ich sage dir, an welche Friedensordnung du glaubst." Monotheisten werden
in der Regel für eine Weltregierung sein (der unitarischen oder der föderalen
Art), Poly theisten werden multizentrische Konföderationen bevorzugen, Pan-
theisten werden, wie Gandhi, nach "ozeanischen Kreisen" suchen, die alles
zusammenhalten, und Atheisten werden Ungläubige sein, "Realisten", und
die Staaten, die Teile, auseinanderhalten.
Auf der individuellen Ebene läßt sich das natürlich nicht so einfach vor-
aussagen, aber vielleicht doch auf der Ebene von Welt-Kulturen. Im allge-
meinen würden wir eine Vorliebe für eine Weltregierung und auch für Disso-
ziation im monotheistischen, auch im säkularen, Okzident erwarten und eine
Vorliebe für lockerere Assoziationen im polytheistischen, pantheistischen
und eklektischen Orient. Die Debatte verläuft also nicht unbedingt auf der
friedensrationalen Ebene entlang Kantischer oder Weberscher Argumenta-
tionslinien, sondern sie ist eher Ausdruck schon eingenommener Positionen
der Zivilisationen; daher ist es schwer, hier etwas beizutragen. Somit schlie-
ßen wir mit der These vom Primat der Kultur.
Teil 11: Konflikttheorie
1 Konfliktformationen

1.1 Der Konflikt als schöpferische und als zerstörerische


Kraft
Eine Konflikttheorie ist für Entwicklungsstudien ebenso unverzichtbar wie
für Friedensstudien. Entwickeln heißt schöpferisch tätig sein. Das gilt auch
für den Frieden, aber hier liegt eine besondere Betonung auf der Gewaltmin-
derung und der nicht-gewalttätigen Konflikttransformation. Tief im Inneren
eines jeden Konflikts besteht ein Widerspruch, es gibt etwas, was etwas an-
derem im Weg steht. Mit anderen Worten, es gibt ein Problem. Und was
könnte einem beliebigen Akteur, einem individuellen oder einem kollektiven
Akteur, besser als force motrice dienen als ein Problem, das nach einer Lö-
sung verlangt?
Es gibt aber auch etwas Bedrohliches, insbesondere dann, wenn das Pro-
blem hochgradig lösungsresistent ist. "Etwas, das etwas anderem im Weg
steht." Ich habe ein starkes Verlangen nach etwas, aber ein anderer hat das
auch. Ich habe ein starkes Verlangen nach etwas, aber mich verlangt auch
nach etwas anderem. Diese klassischen Ausgangslagen werden wir die ele-
mentaren Konfliktformationen oder Konfliktatome nennen:
Disput: Zwei Menschen oder Akteure verfolgen das gleiche knappe
Ziel/Gut
Dilemma: Ein Mensch oder Akteur verfolgt zwei nicht miteinander zu ver-
einbarende Ziele/Güter.
Der Disput kann leicht zum Versuch führen, dem Akteur, dessen Streben als
hinderlich empfunden wird, Schaden zuzufügen oder ihn zu verletzen; mit
anderen Worten zur Zerstörung des Anderen. Das Dilemma dagegen kann
dazu führen, daß man versucht, sich selbst etwas zu versagen, mit anderen
Worten, zur Selbstzerstörung. Aber auch im Disput kann es zur Selbstzerstö-
rung kommen (man versagt es sich selbst, ein schwer greifbares Ziel zu ver-
folgen, z.B. die Führung einer Gruppe), und im Dilemma kann es zur Zerstö-
rung des Anderen kommen (man läßt "etwas", die Frustration, an einem an-
deren aus). Wir erleben fast alle täglich beide Versionen. Ein Konflikt er-
zeugt Energie. Die Schwierigkeit liegt darin, diese Energie in konstruktive
Bahnen zu lenken.
134 Konflikttheorie

Das erinnert an die klassische chinesische doppelte Definition von "Krise"


- ein Begriff, der dem des "Konflikts" verwandt ist - als "Gefahr" und
"Chance". Die "Gefahr" steht in enger Beziehung zur "Gewalt", und die
"Chance" kommt der "Herausforderung", der Wurzel allen schöpferischen
Tuns, ziemlich nahe. Eine alte chinesische Weisheit, ganz anders als die ein-
seitige Angst in Bezug auf Konflikte, die zum Versuch führt, diese durch Lö-
sung/AuflösunglÜberwindung loszuwerden, ja sogar, sie zu verstecken, in-
dem man sie "unter den Teppich kehrt", d.h. aus dem persönlichen und so-
zialen Bewußtsein entfernt.
Eine diesem Zugang zur Konfliktproblematik zugrundeliegende These ist
die, daß es zu einer kreativen Konfliktlösung keine brauchbare Alternative
gibt. Die Frage ist, wie man eine solche zuwege bringt.

1.2 Die Dialektik des Manifesten und Latenten und das


Konfliktdreieck

Die Aussage: "hier besteht ein Konflikt", sollte immer als Hypothese be-
trachtet werden, nicht als etwas Offenkundiges oder gar Triviales, worüber
leicht ein Konsens herzustellen ist. Wahr ist, daß oft gefolgert wird, ein
Konflikt sei im Entstehen, wenn bestimmte destruktive Verhaltensweisen, V,
insbesondere in Form von gewaltsamen physischen oder verbalen Handlun-
gen oder einer feindlichen Körpersprache, auf der manifesten, offenkundigen
Ebene wahrgenommen werden können.
Aber: Wir haben gerade argumentiert, daß ein Konflikt, insofern er ein
Problem bezeichnet, auch zu konstruktivem Verhalten führen kann, wie z.B.
zu tiefdringenden meditativen Haltungen, bekannt auch als "innere Dialoge",
und zu "äußeren Dialogen" mit anderen bezüglich der Probleme. Das de-
struktive Verhalten zerstört, verletzt, schadet; das konstruktive Verhalten
baut etwas auf. Beide können zur gleichen Zeit und am gleichen Ort beste-
hen, in derselben Person; sie sind nicht inkompatibel.
Es gibt also keine einfache Beziehung zwischen Konflikt und Kon-
fliktverhalten, wenn man das Doppelwesen des Konflikts im Auge behält.
Ein Beispiel: Wenn man ehemals feindselige Antagonisten beobachtet, wie
sie zusammen und/oder mit einem Konflikthelfer sich auf kreative Weise auf
eine grundlegende Konflikttransformation hin bewegen, kann man hektische
Ausgelassenheit, sichtliche Erregung, tiefes Glück, ja sogar Liebe wahr-
nehmen. Und doch besteht der Konflikt weiter. Zweifellos erleben viele
Menschen ihre Sternstunde, wenn ein Konflikt sich entfaltet. Andererseits
haben wir es vielleicht mit einer neurotischen Persönlichkeit zu tun, wenn
Spannungen für diese zur notwendigen, nicht nur hinreichenden Vorausset-
zung des Wohlbefindens werden. Wenn jemand Konflikte schafft, um eine
Konfliktformationen 135

solche Zufriedenheit zu erlangen, bewegen wir uns vielleicht schon im Be-


reich des Psychotischen. Und wenn der betreffende Mensch darüber hinaus
diese Konflikte nutzt, um seine Lösungen zu diktieren, kann man ihn viel-
leicht als "Psychopathen" bezeichnen.
In allen diesen Fällen und in anderen, in denen Konfliktverhalten zutage
tritt, steckt offensichtlich etwas Bestimmtes dahinter. Nennen wir dieses Ver-
steckte Annahmen (Erkenntnisse) und Einstellungen (Gefühle), und fassen
wir diese unter dem Buchstaben A zusammen. Dann gibt es den Inhalt des
Konflikts, des Pudels Kern, um Goethes Worte zu benutzen, von dem wir an-
nehmen, daß es sich um einen Widerspruch, W, handelt. Beim Widerspruch
muß etwas Gewünschtes im Spiel sein. Nennen wir es ein Ziel und seine Er-
füllung einen Ziel-Zustand. Dann haben wir:
Widerspruch: inkompatible Zielzustände in einem zielsuchenden System;
Konflikt: Annahmen! Einstellungen + Verhalten + Widerspruch/Inhalt.
Mit anderen Worten: Konflikt = A + V + W Der Konflikt ist ein triadisches
Konstrukt. Hat man nur einen der drei Bestandteile im Auge, wird einem
selbst dessen Bedeutung wahrscheinlich entgehen.
Wir werden nur lebende Systeme als zielsuchend akzeptieren, da nur sol-
che in der Lage sind, das Erreichen eines Ziels als Glück (sukha) und dessen
Verfehlen als Leiden (dukkha) zu empfinden. Wir werden also niemals vor-
aussetzen, daß ein Geschlecht, eine Generation, eine Rasse, eine Klasse, eine
Nation, eine territoriale Einheit (eine Gemeinde, ein Verwaltungsbezirk, ein
Land, eine Region oder die Welt insgesamt), ein Staat oder ein Superstaat
Ziele haben können. Sie sind allesamt Abstraktionen. Das Glück, das durch
das Erreichen eines Ziels, und das Leiden, das durch das Nichterreichen des-
selben entsteht, setzen das Vorhandensein eines Subjekts voraus, wie primitiv
dieses auch sein mag, das in der Lage ist, ein sukha-dukkha-Gefälle zu emp-
finden. Somalia hat keine Ziele, auch die USA haben sie nicht, aber be-
stimmte Eliten in beiden Ländern (und nicht nur diese) können sogar sehr
klar formulierte Ziele haben. Mineralien, Wasser, Luft sind keine Abstrak-
tionen, aber wir gehen im allgemeinen kaum davon aus, daß sie das erwähnte
Gefälle wahrnehmen. Beim Konflikt geht es uns um alles Lebende, aber wir
müssen Nicht-Lebendes davon ausnehmen.
Ein Konflikt hat also mit Leben zu tun, es geht um Widersprüche, die le-
bensschaffend und lebenszerstörend sind. Eine Konflikttheorie muß in phä-
nomenologischer Hinsicht auf dieser Ebene angesiedelt werden. Man kann
sich darüber auseinandersetzen, wie nah am Kern des Lebens, aber dieser
Aspekt muß in den Diskursen um den Konflikt, die jetzt entwickelt werden,
immer präsent sein. Wenn der Konflikt für das Leben eine essentielle Bedeu-
tung hat, dann könnte das Leben auch für den Konflikt von essentieller Be-
deutung sein. Ein Konflikt kann GlücklLeiden nicht empfinden. Dennoch
kann ein Konflikt dem Leben vergleichbare Eigenschaften besitzen, wie z.B.
136 Konflikttheorie

einen Lebenszyklus, der in Kapitel 2 untersucht werden soll. Ein Konflikt hat
außerdem eine manifeste und eine latente Seite, wobei der manifeste Aspekt
mit V gleichzusetzen ist und der latente mit A und W.
Auf der manifesten, empirischen, wahrgenommenen Ebene erleben, beob-
achten die Teilnehmer bestimmte Phänomene, V genannt. Dazu kommt
durch A und Weine latente, theoretische, erschlossene Ebene. Zusammenge-
nommen ergeben sie alle das Konfliktdreieck, wie abgebildet in der folgen-
den Tabelle:

Abbildung 2.1: Das Konfliktdreieck

Manifeste Ebene: V, Verhalten


empirisch, wahrgenommen,
bewußt

Latente Ebene:
theoretisch, erschlossen, A, Einstellungen W, Widerspruch
unterbewußt Annahmen

Man kann das Dreieck verwenden, um Bewegungen in alle sechs Richtungen


zu verfolgen und festzumachen, und kann dabei an einem beliebigen Punkt
beginnen. Ein Widerspruch kann also z.B. als Frustration erlebt werden,
wenn ein Ziel durch irgendetwas versperrt wird; das kann zu einer aggressi-
ven Einstellung (A) und zu aggressivem Verhalten (V) führen,81 nach einer
wohlbekannten und fruchtbaren Hypothese,82 die nützlich ist, solange man
sie nicht als ehernes Gesetz begreift. Aggressives Verhalten mag mit den
Glücksvorstellungen der Gegenpartei unvereinbar sein (sofern es sich nicht
um eine sado-masochistische Verbindung handelt), wodurch zum alten Wi-
derspruch ein neuer hinzukommt, der unter Umständen eine aggressive Ein-
stellung und aggressives Verhalten bei allen Beteiligten weiter stimuliert.
Gewalt produziert Gewalt, das Dreieck reproduziert sich als Spirale, die
vielleicht den gleichen Weg nimmt wie ein Feuer: Es erlischt, wenn das Haus
abgebrannt ist. Die Beteiligten können in der Ecke A durch emotionale Er-
schöpfung oder in der Ecke V durch physische Unfähigkeit ausgebrannt sein.
A und V können jedoch auch gezügelt, und/oder der Widerspruch, W, mag
überwunden werden. Es besteht also kein ehernes Gesetz, daß eine bestimmte
Eskalation bis zum bitteren Ende laufen muß, solange noch menschliche We-
sen da sind.

81 Siehe Piero Giorgi: The Origin of Violence by Cultural Evolution in Humans (i.E.).
82 Der klassische Text ist lohn Dollard: Frustration and Aggression, Westport, CT
1980 (erstmals 1944). Siehe auch Aubrey l. Yates: Frustration and Conflict, New
York 1962.
Konfliktformationen 137

Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht darin, daß solche Prozesse auch


in A oder V einsetzen können. Eine Partei mag negative Einstellungen (Ag-
gressivität) angestaut oder über eine negative Verhaltensdisposition (eine
Neigung, Prädisponiertheit zur Aggressivität) verfügen, und wenn dann et-
was "auftaucht", das nach einem Problem aussieht, können A oder V oder
beide aktiviert werden und sich mit dem neuen Problem verbinden. Wenn
sich A als Aggressivität zeigt, sowohl in Form feindseliger Gefühle als auch
negativer Wahrnehmungen ("Feindbild"), dann können wir von negativer
Konfliktenergie reden, die sich an einen Widerspruch bindet, möglicherweise
als Folge akkumulierter Erfahrungen der Vergangenheit, in der man viel-
leicht zu negativ an Konflikte herangegangen ist. Aber nach der obigen In-
terpretation kann die Konfliktenergie auch positiver Art sein, in einer allge-
mein liebevollen, mitfühlenden, den anderen gelten lassenden Einstellung
und einer positiven Wahrnehmung des anderen und des Ich bestehen ("Freund-
bilder"). Akkumulierte Konflikterfahrungen können zu positiven Persönlich-
keitsveränderungen führen, aber sicherlich auch zu negativen Veränderungen
und zu verbitterten Persönlichkeiten, die voller Ressentiment sind.
Wir gehen davon aus, daß vieles hier im Unterbewußtsein abläuft, den
Personen und Akteuren selbst verborgen bleibt. Beim Disput können die bei-
den Akteure jeweils das Verhalten des anderen wahrnehmen und vielleicht
auch ihr eigenes. Anhand von inneren Dialogen können sie ihre eigene
Wahrnehmung von A und W verbessern und mit Hilfe von äußeren Dialogen
ihre Erkenntnisse miteinander überprüfen und sich so gegenseitig dabei hel-
fen, einander besser zu verstehen. Bei einem Dilemma ist der Mensch!Akteur
eher auf sich selbst gestellt. Innere und äußere Dialoge decken sich, und es
ist so, als würde jemand mit sich selbst Schach spielen. Übung kann hilfreich
sein; das Ziel einer solchen Übung des inneren Dialogs ist aber eine ausge-
glichene, keine gespaltene Persönlichkeit.
Wir können jetzt also von auf A, V oder Wausgerichteten Konfliktan-
sätzen und von A-, V- und W-Realitäten sprechen, was eine Summe von acht
Möglichkeiten ergibt:

1. A=O V=O W=O totaler Nicht-Konflikt. Zustand des Todes


2. A V=O W=O Einstellungen/Annahmen gegeben
3. A=O V w=o Verhaltensmuster gegeben
4. A V w=o Einstellungen/Annahmen und Verhalten gegeben
5. A=O v=o W Es gibt einen Widerspruch und sonst nichts
6. A V=O W Die Unterbewußtseinsebene ist präpariert
7. A=O V W ritualistisches Konfliktverhalten
8. A V W ein voll ausgeprägter Konflikt

Jeder Fall erzählt seine Geschichte, wie hier schlagwortartig angedeutet.


Wenn wir die Aufstellung von oben nach unten lesen, können wir über Kon-
138 Konflikttheorie

flikte spekulieren, die auf der Suche nach ihrer vollen Ausprägung oder Ver-
vollständigung sind, wobei wir in jeder beliebigen Ecke anfangen und dann
die anderen hinzufügen können, was augenscheinlich auf sechs verschiede-
nen Wegen geschehen kann. Wir können aber auch von unten nach oben le-
sen und uns Gedanken über die Zergliederung von Konflikten machen, bei
der Einstellungen verschwinden, Verhaltensmuster in Vergessenheit geraten
und Widersprüche sich auflösen. Manchmal geschieht so etwas von selbst,
häufig ist aber eine bewußte Intervention durch das Ich (Wir) oder durch
den/die Anderen vonnöten.
Ein (vollständiger) Konflikt ist ein Syndrom, reflektiert eine dreistellige
Relation. Man muß hier große Vorsicht walten lassen, denn die Aussage:
"Hier besteht ein Konflikt", kann zur "self-fullfilling" oder "self-denying
prophecy" werden. Wenn Menschen gesagt wird, sie befänden sich in einem
Konflikt, dann können sie anfangen, sich entsprechend zu verhalten, entspre-
chend zu empfinden und zu handeln, und können Widersprüche sehen, wo
gar keine sind. Sie können aber auch vor der Artikulation des Konflikts zu-
rückschrecken, z.B. weil sie die Konsequenzen fürchten, die aus der Annah-
me der Konfliktdiagnose folgen. Das Ergebnis kann dann sein, daß sie sich
ihren eigenen Konflikten nie zu stellen wagen.

1.3 Akteurskonflikte und strukturelle Konflikte

Um die Dialektik vom Manifesten und Latenten, die teilweise auch eine Be-
wußtseins-/Unterbewußtseins-Dialektik ist, besser verstehen zu können,
sollten folgende Fragen bedacht werden: Kann man sich einen Konflikt vor-
stellen, der nur auf der manifesten Ebene besteht? Oder nur auf der latenten
Ebene? Die Antwort auf die erste Frage lautet nein und auf die zweite Frage
ja, was folgende Gründe hat.
Selbstverständlich können wir uns auf der V-Ebene einen Menschen/Ak-
teur oder zwei vorstellen, die miteinander in vollkommener Übereinstim-
mung oder Nicht-Übereinstimmung oder beides sind. Wenn kaum Überein-
stimmung besteht, können wir von "Spannung", im entgegengesetzten Fall
von "Ent-Spannung" reden, wobei angemerkt werden soll, daß sich die bei-
den Möglichkeiten nicht gegenseitig ausschließen. Jedoch setzen weder
Spannung noch Entspannung (oder deren positive Seite, Anziehung) voraus,
daß irgendwo ein Konflikt besteht. Menschen können sich je nach Charakter,
der gewiß von Konflikten der Vergangenheit geprägt sein kann, so verhalten,
wie sie sich normalerweise verhalten, nämlich wie Teufel oder Engel, wie
beide oder wie keiner von beiden. Wenn man zwei Menschen, die voller Res-
sentiment sind, zueinandergesellt, wird es zu verbaler und/oder physischer
Animosität kommen. Damit aber die Diagnose "Konflikt" gerechtfertigt ist,
Konfliktformationen 139

muß zwischen den beiden ein identifizierbarer Widerspruch bestehen, den


man zur Formulierung plausibler Hypothesen über die Gesamtformation und
deren Dynamik unter bestimmten Umständen, also deren Transformation,
verwenden kann.
Stellen wir uns dann vor, daß wir einen Widerspruch erkannt haben und
vielleicht auch bestimmte AnnahmenlEinsteIlungen, und daß die Partei(en)
sich nicht darüber im Klaren ist/sind, was in ihr/ihnen und zwischen ihnen
vorgeht. Welche Art von Prognose würde auf eine solche Diagnose folgen?
Die, daß früher oder später Manifestationen desselben im Verhalten auftreten
werden.
Wir können nun den direkten und den indirekten Konflikt bzw. den Kon-
flikt zwischen Akteuren und den strukturellen Konflikt klar voneinander un-
terscheiden, je nach dem Umfang, in dem der Konflikt nicht nur ausgeprägt
ist, sondern auch manifest, d.h. offenkundig, explizit, wahrnehmbar, bewußt
geworden ist. Beginnen wir mit dem Dilemma (eine Partei, zwei Ziele) und
gehen dann weiter zum Disput (zwei Parteien, ein Ziel, "bone of contention",
Zankapfel).
Akteurskonflikt: A und W bewußt.
Struktureller Konflikt: A und W im Unterbewußtsein.
Selbstverständlich ist V, das Verhalten, immer manifest, wahrnehmbar und
nicht nur erschlossen, sonst wäre es kein Verhalten. Wie oben erwähnt, kann
es vollkommen autistisch sein, ohne irgendeinen Bezug zu einem adäquat
aufgebauten AVW-Dreieck. Der Beteiligte verhält sich einfach, etwas ist in
Bewegung; hierzu gehört auch der Sonderfall des Stillstandes. Im Mittel-
punkt des Interesses stehen A und W; wir beginnen mit A, dem "Inneren" des
betreffenden Menschen, seinen Einstellungen und Unterstellungen. Also mit
seiner Persönlichkeit.
Hilfreich ist hier die Unterteilung der Persönlichkeit in Erkenntnisse,
Willensstrebungen und Gefühle. Natürlich stehen intellektuelle Landkarten,
Wünsche und Antriebskräfte sowie Gefühle in enger Beziehung zueinander.
In einem Akteurskonflikt ist der Akteur ein Subjekt, dem bewußt ist, was ist
(Erkenntnis), was er/sie wünscht (Wollen) und deshalb sein sollte, was er/sie
empfindet (Gefühle), nämlich bezüglich des Verhältnisses zwischen ist und
sollte. Wenn das, was sein sollte, auch ist, dann kann er/sie berichten: "Mir
geht es ausgezeichnet, danke", wenn nicht, wäre eine adäquate verbale For-
mulierung des peinigenden inneren Zustandes: "Mir geht es sehr schlecht".
Im Normalfalle gehen wir davon aus, daß Gefühle bessere Wegweiser zu den
wahren Zielen sind als Erkenntnisse.
Wir haben unter A jedoch auch "Annahmen", "Unterstellungen" plaziert
und können diese nun als Prä-Kognitionen, Prä-Volitionen und Prä-Emotio-
nen in den tieferen Schichten der Persönlichkeit interpretieren, zwischen dem
Bewußten und dem Unbewußten, also nicht leicht abrufbar. Hier mag pro-
140 Konflikttheorie

fessionelle Hilfe vonnöten sein. Ein Ansatz wäre, nach Freud, Träume zu
Hilfe zu nehmen, Trümmer aus dem Prozeß der seelischen Archivierung von
ErkenntnissenIWillensbestrebungeniGefühlen der Persönlichkeit (präpariert
durch die Prä-Emotionen, -Volitionen und -Kognitionen), um zu verstehen,
wie diese tieferen Schichten organisiert sind.
Nun zur W-Ecke, zum Widerspruch zwischen Ziel-Zuständen. W ans Ta-
geslicht zu holen, manifest zu machen, heißt, ein Bewußtsein davon schaffen,
wo die Inkompatibilität liegt, d.h. welche Zielzustände einander im Wege
sind. Durch seine/ihre Erkenntnisse verfügt der Akteur/die Akteurin über ei-
ne Art Plan des Widerspruchs. Wir haben es nun mit einem bewußten Men-
schen zu tun, der sich nicht nur über seine eigenen Vorstellungen, seine
Wünsche und seine Gefühle, sondern auch darüber im Klaren ist, was ihnen
im Wege steht. Mit anderen Worten, es handelt sich um ein Subjekt, das be-
reit ist, über einen Satz mit Prädikat und Objekt zu herrschen, also zielgerich-
tet zu handeln und nicht nur sich zu verhalten.
Wie können wir nun diesen Vorgang nennen, bei dem A und Waus dem
Unterbewußten, ja teils sogar aus dem Unbewußten hervorgeholt werden?
Nennen wir ihn mit Paulo Freire8l Bewußtmachung (conscientization) und
den entgegengesetzten Prozeß Unbewußtmachung (deconscientization). Das
ist ein absolut grundlegender Prozeß, denn wie soll ein Konflikt bewußt
transformiert werden, wenn die daran Beteiligten nicht bewußte Subjekte,
echte Akteure sind? Sind sie das nicht, wird der Konflikt den Akteur als Ob-
jekt, als Partei im Konflikt transformieren. Der Akteur ist dann Passagier, der
mitgenommen wird, aber kein Fahrer, der den Prozeß unter Kontrolle hält.
Und doch ist die Bewußtrnachung nur eine notwendige, keine hinrei-
chende Bedingung, wie in Kapitel 3 über Konflikttransformation deutlich
werden wird. Dazu kommt, daß der Akteur zwar sowieso transformiert wer-
den wird, aber bei vollem Bewußtsein eher in der Lage ist, die Transformati-
on in die gewünschte Richtung zu steuern, ihn/sie selbst mit einbegriffen. An
dieser Stelle soll ein sehr simpler Grund erwähnt werden, weshalb die Be-
wußtmachung nur eine notwendige Voraussetzung ist: Die Vorstellung, die
man vom Konflikt hat, kann ganz einfach falsch oder unzureichend sein. Es
gibt so etwas wie ein falsches Bewußtsein, das hat uns Marx gelehrt. Wir, ob
nun am Konflikt beteiligt oder nicht, machen uns von diesem ein Bild, mit A,

83 In seiner Pedagogy of the Oppressed (dt. Pädagogik der Unterdrückten, Stuttgart


1970); wir sollten uns nicht allzuviele Gedanken darüber machen, ob der glücklich
gewählte Begriff, den Freire eingeführt hat, hier in der gleichen Bedeutung verwen-
det wird. Wir hätten auch auf einen Terminus zurückgreifen können, der auf "con-
sciousness" basiert, wie etwa "consciousness-formation" (im Deutschen: Bewußtma-
chung). Dieser Terminus läßt sich jedoch im Englischen schwer nur negieren (im
Deutschen könnte es Unbewußtmachung heißen). Wichtig ist jedoch, daß Freires
Rückgriff auf conscience eher als auf consciousness auch auf Wollen und Gefühl -
und nicht allein auf ErkenntnislWissen - verweist.
Konfliktformationen 141

V und W, auf uns und die andere Partei bezogen. Ob dieses Bild nun im
Kopf der Beteiligten oder eines Beobachters entstanden ist, immer wird es
hypothetisch bleiben und immer und immer wieder geprüft und revidiert
werden müssen. Falsches Bewußtsein meint eine nicht bestätigte Hypothese
oder ein unrealistisches Bild (vom Konflikt), und ein solches können und
werden wir uns alle einmal machen.
Wenn die Bewußtmachung nun so sinnvoll ist, warum halten wir uns dann
begrifflich offen für ihre Negation, die Unbewußtmachung? Nun, nicht nur
weil es faktisch passiert - Konflikte werden vergessen oder verdrängt -, son-
dern auch, weil es notwendig, ja sogar wünschenswert sein kann. Wir können
uns nicht ständig all der Konflikte, an denen wir so oder so beteiligt sind,
bewußt sein. Wir sollten willens und fähig sein, sie neu zu laden (retrieve),
wenn wir sie ab gespeichert haben, um eine passende Computer-Metapher zu
verwenden, die heute Teil der Weltkultur ist. Wir können sie nicht alle glei-
chermaßen zu jeder Zeit und dauerhaft parat haben. Eine gewisse Selektivität
ist eine Bedingung für das menschliche und soziale Überleben. Aber
,abspeichern ' bitte, nicht ,löschen'!
Dann eine Schlüsselfrage, die alles andere als metaphysisch ist: Wer oder
was bringt das alles zustande, wer ist das Subjekt des Bewußtmachungs-
prozesses? Wer bringt Kenntnisse/Willensbestrebungen/Gefühle hinauf ins
Bewußtsein? Es kann nicht das UnterbewußtseinlUnbewußte selbst sein, so-
lange wir unterstellen, daß die Psyche (the mind) unmöglich gleichzeitig so-
wohl Subjekt als auch Objekt dieses Prozesses sein kann. Oder handelt es
sich hier eher um ein begriffliches bzw. linguistisches als um ein psychologi-
sches Problem? Die Antwort, die der Autor vorzieht, ist die, zu den Katego-
rien Körper und Psyche (= Persönlichkeit, Sitz von Prä-Kognitionen, -Vo-
litionen und -Emotionen) noch eine dritte als Konstituens des homo sapiens
hinzufügen: den Geist. Wir können uns den Geist als Ort der Reflexion über
und von allem, was in Körper und Verstand, in Soma und Psyche vorgeht,
vorstellen. 84 Wenn dies Reflexionsvermögen beginnt, auf A, W und Veinzu-
wirken, ist das Resultat im Prinzip eine - auch im Bewußtsein der Akteure -
voll artikulierte Konfliktvorstellung.
Verändert sich dieser Prozeß, je nachdem, ob wir es mit einem Disput
oder mit einem Dilemma zu tun haben? Nicht sehr. Das Dilemma wird einem
einzigen Beteiligten bewußt, durch den inneren Dialog. Beim Disput läuft die
Bewußtmachung bei mehr als einem Beteiligten ab; diese entwickeln mehr
oder weniger realistische Vorstellungen vom Konflikt, an dem sie beteiligt
sind. Sollten wir von ihnen verlangen, daß die Vorstellungen übereinstim-

84 Für uns Menschen wäre es eine angenehme Annahme, daß der Geist die differentia
specijica ist, durch die wir uns von Pflanzen und Tieren unterscheiden. Das mag
richtig sein. Da ich nie ein Delphin war, bevorzuge ich einen agnostischen Stand-
punkt.
142 Konflikttheorie

men? Nein, aber der Vergleich der Vorstellungen im äußeren Dialog ist na-
türlich ein sehr wichtiger Aspekt eines Konflikttransformationsprozesses,
wobei nur am Rande bemerkt werden soll, daß eine Übereinstimmung nicht
unbedingt bedeutet, daß die gemeinsame Vorstellung realistisch ist. Sie kann
z.B. auf die gleiche Art und Weise unrealistisch sein, weil die Beteiligten die
gleichen Prä-Kognitionen haben. 85 Die Überprüfung erfolgt durch das, was
später geschieht.
Wenden wir uns jetzt dem zu, was wir hier einen strukturellen oder in-
direkten Konflikt nennen, bei dem weder A noch W bewußt, sondern im
Unterbewußtsein verankert sind. Es mag schmerzlich, ja sogar fast unmög-
lich sein, sie aus dem Unterbewußtsein hervorzuholen. Es besteht ein Wider-
spruch, dieser wird aber nicht wahrgenommen. Es gibt nicht einmal das Be-
wußtsein eines Ziels, also kein Wollen und folglich auch keine zugänglichen
Gefühle, da kein Bewußtsein einer Sein/Sollen-Übereinstimmung oder -Dis-
krepanz vorhanden ist. Es existiert nicht einmal ein falsches Bewußtsein, da
es überhaupt kein Bewußtsein gibt. Was aber gibt es dann, mit welchem
Recht sprechen wir in einem solchen Fall überhaupt von einem Konflikt?
Bezüglich des Dilemmas eines Menschen ist die Antwort klar, geht es
doch genau um diesen Fall in der gesamten psychoanalytischen Tradition.
Der Widerspruch, z.B. zwischen Es und Über-Ich, liegt in den tieferen
Schichten der Persönlichkeit oder in der Struktur des (inneren) Person-
Systems, eine Formulierung, die im nächsten Absatz ihre Entsprechung hat.
Aber der Widerspruch zwischen diesen Prä-Volitionen ist dem Geist des
Trägers dieses Widerspruchs nicht zugänglich. Das bedeutet nicht, daß es
ihm/ihr nicht sehr schlecht gehen und er/sie sich nicht seltsam verhalten
kann; das Konfliktdreieck ist ihm/ihr aber nicht bewußt, oder wenn doch, so
ist die Vorstellung davon alles andere als realistisch. An der Oberfläche zei-
gen sich aber, für andere oft eher wahrnehmbar als für den Betroffenen
selbst, Verhaltensmuster, die als "Symptome" klassifiziert werden, die also
auf die Existenz von A und W in tieferen Schichten der Persönlichkeit deuten
lassen sollten. Eine Bewußtmachung derselben scheint jenseits der Möglich-
keiten der betroffenen Person zu liegen. Ein Eingreifen in Form professionel-
ler Hilfe kann dann erforderlich sein. Wie fachmännisch eine solche Behand-
lung tatsächlich ist, ist eine andere Frage, die in Kapitel 4 einigermaßen ein-
gehend behandelt werden soll.
Kommen wir nun zum Disput. Hier sind die Beteiligten auf Kollisions-
kurs, es besteht ein Widerspruch. Sie sind sich aber weder des Widerspruchs
noch der Zielzustände bewußt, die den Widerspruch definieren. Die Gefühle,
die sie haben, hängen für sie nicht mit dem Widerspruch zusammen, ihr Geist

85 Die ganze Theorie der Kosmologie, der Tiefenkultur einer Gesellschaft, dient dazu,
sich mit den allgemein geteilten Prä-Kognitionen des kollektiven Unterbewußtseins
zu befassen (in Teil IV).
Konfliktformationen 143

beschäftigt sich nicht einmal damit. Der Widerspruch liegt im System, das sie
zusammenbringt, oder, um die homologe Formulierung zu verwenden: in der
Struktur des sozialen Systems. Betrachten wir die zwei Geschlechter in einem
Patriarchat: Hier besteht eindeutig ein Widerspruch, und er bestand schon,
bevor Henrik Ibsen "Nora oder Ein Puppenheim" schrieb und damit das kol-
lektive Bewußtsein durch einen Quantensprung erweiterte. Auch entstand der
Widerspruch in der Weltsystemstruktur zwischen den USA und Cuba nicht
dadurch, daß Fidel Castro "Unruhe" (eine stark V-zentrierte Kategorie) stifte-
te, sowenig wie der internationale Konflikt zwischen bestimmten einheimi-
schen amerikanischen und angelsächsischen Stämmen in Nordamerika durch
"Indianerunruhen" entstand. Diese waren bloß Manifestationen.
Handelte es sich aber in den letztgenannten Fällen nicht um bewußte Zie-
le? In gewissem Maße ja, aber das gesamte Ausmaß dessen, was auf dem
Spiel stand, war kaum bewußt. Wir brauchen einen Begriff für im Unterbe-
wußtsein angestrebte Ziele, Ziele, die objektiv betrachtet existieren, auch
wenn sich das Subjekt ihrer nicht bewußt ist. Wir werden uns auf sie als In-
teressen beziehen, während wir bewußt angestrebte Ziele Werte nennen wer-
den. Beide können materieller oder nichtmaterieller Art sein. Wir unterstellen
nicht, daß die im Unterbewußtsein vorhandenen Interessen materiell und die
Werte "ideologisch" und damit nichtmateriell sind. Beide können beides
sein; in der Bewußtmachung liegt der Unterschied. 86
Wenn wir wollen, können wir jetzt sagen, daß der Mensch in einem intra-
personellen Konflikt ein Interesse daran hat, dem Es, aber gleichzeitig auch
dem Über-Ich zu seinem Recht zu verhelfen. Das Bewußtseinsniveau ist sehr
niedrig oder gleich null. Durch Bewußtmachung aber können diese Interessen
zu Werten werden, d.h. als Akteur, als Subjekt, kann die Person jetzt beide be-
wußt bewerten, kann feststellen, daß eine Inkompatibilität besteht und sich für
die eine oder die andere Seite entscheiden. Wenn jemand ständig dem Es den
Vorzug gibt, handelt es sich um einen sehr sinnlichen Menschen; bevorzugt
jemand dauerhaft das Über-Ich, haben wir es mit einer sehr weltentrückten
Person zu tun.

86 So soUte man unterscheiden zwischen dem, was die Akteure erklärtermaßen woUen
(hierbei läßt es die Politische Wissenschaft in der Regel bewenden), dem, wovon die
Akteure glauben, daß sie es woUen (hier intervenieren die Historiker und verweisen
auf die möglichen Unterschiede zu dem öffentlich Erklärten), dem, was sie im Un-
terbewußtsein wollen, was sie also woUen, ohne es selbst zu wissen (hier ist dann der
Ort für Vertreter der Psychoananlyse und funktionalistischer Soziologienl Anthropo-
logien) und schließlich dem, was sie vieUeicht - bei besserer Information, genauer
Analyse, höheren Bewußtseinsgraden - eigentlich woUen (hier bieten gern Marxi-
sten, aber auch Anhänger der Realistischen Schule in den Internationalen Beziehun-
gen und andere ihre Hilfe an). Ich unterstütze aUe diese Bemühungen, denen aUe-
samt analytisch wie praktisch Wichtiges entnommen werden kann. Auch wäre Frie-
densforschung nicht frei vom impliziten Moralismus der letzten Perspektive - sie
soUte es zumindest nicht sein.
144 Konflikttheorie

Andere Wortpaare wären somatisch/geistig, materialistisch/idealistisch,


epikureisch/platonisch oder "sinnlich geleitet/ideengeleitet", um Sorokins
Begriffe ("sensate", "ideational") zu verwenden. Sorokin definiert die ausge-
wogene Kombination der beiden Begriffe als "idealistisch" und die unausge-
wogene als eklektisch/amalgamiert/zusammengewürfelt. Freud erfaßt die in-
tegrierende Synthese als Werden eines starken Ich, das in die Persönlichkeit
als ein typisches Kognitions-lWillens-lEmotionssyndrom eingebettet und in der
Lage ist, ein Verhalten zu produzieren und zu reproduzieren, das beiden
Aspekten in einer vernünftigen Balance Raum gibt. Eine unausgewogenen Mi-
schung von Es und Über-Ich, bei der das Ich sehr schwach ist, ist jedoch auch
vorstellbar; aber das alles gehört doch schon zur Transformationstheorie. An
dieser Stelle sollte nur der Begriffsapparat überprüft werden.
Konflikte zwischen Akteuren sind bewußte Konflikte, strukturelle Kon-
flikte sind das nicht; beide können zum Dilemma- oder zum Disputtypus ge-
hören. Und oben wurde schon darauf hingewiesen, daß es einige Zwischen-
typen und abgeflachte Konflikte gibt, die auf der bewußten Ebene nicht voll
oder die überhaupt nicht artikuliert sind. Für unsere Zwecke jedoch reicht
diese Unterscheidung aus.

1.4 Komplexität: elementare und komplexe Konflikte

Wir sind jetzt in der Lage, vieles des oben Angesprochenen in einem übergrei-
fenden Schema zusammenzuführen, das auf zwei einfachen Variablen beruht:
m, die Zahl der Akteure eines Konfliktes, und n, die Zahl der Themen oder Fra-
gestellungen oder ganz einfach Ziele, die in deren (Intraaktions-) Dilemmata
und (Interaktions-) Dispute eingehen. Betrachten wir folgendes Schema:

Tabelle 2.2: Die Zahl der Akteure (m) und die Zahl der Ziele (n)
n=n X (1, n) (2, n) (3, n) (m,n)
n=3 X (1,3) (2,3) (3,3) (m,3)
n=2 X (1,2) (2,2) (3,2) (m,2)
n=1 X (1, 1) (2, 1) (3, 1) (m,l)
n=O (0,0) X X X X
m=O m=1 m=2 m=3 m=m

Die Tabelle ist sehr einfach aufgebaut: wir haben in Spalte (m, n) einen Kon-
flikt mit m Akteuren und n Zielen. Um mit einem (m, n)-Konflikt auf der in-
tellektuellen Ebene umgehen zu können, muß man sich zumindest die m Ak-
teure und die n Ziele vor Augen halten, d.h. m + n Elemente, Bausteine der
Konfliktformation.
Konfliktformationen 145

Wir könnten jetzt die Komplexität, K, eines Konfliktes einfach als m + n


formulieren, aber wir werden die Formel K = m + n - 2 (oder auch K = m x n
- 1) vorziehen:
K < 0: struktureller Konflikt, weder Akteure noch Ziele (0,0);
K = 0: ein Akteur, ein nicht erreichtes Ziel: Frustration (1, 1);
K = 1: elementare Konflikte: Dilemmata (1,2) oder Dispute (2,1);
K> 1: komplexe Konflikte (m, n).
Hier wird eine eindimensionale Perspektive eingeführt, bei der die Komplexität
die Schlüsseldimension des Konflikts ist. Diese eindimensionale Perspektive
verschafft eine beträchtliche Erklärungs- und Handlungsrnacht. Struktureller
Konflikt, Frustration, elementare und komplexe Konflikte zwischen Akteuren,
ob nun vom Typus Dilemma oder Disput oder beides, sind sehr unterschiedli-
che Phänomene. Diese Perspektive hilft uns aber, sie zusammen zu behandeln
und zwar auf eine dynamisch hochrelevante Art und Weise.
Die Transformation vom strukturellen zum Akteurs-Konflikt (und um-
gekehrt) haben wir oben unter dem Titel Bewußtrnachung/Unbewußtma-
chung untersucht. Neu hier ist die Vorstellung, daß diese Transformation ein
Frustrationsstadium durchlaufen kann, in dem ein Akteur ein Ziel hat, der
Zielzustand aber blockiert ist: Es gibt ein Hindernis. Der Konflikt ist gleich
Null, aber bedeutsam genug, um ein wichtiger Teil der allgemeinen Konflikt-
theorie zu sein, unter anderem wegen der Frustrations-Aggressions- (bzw.
Destruktions-) Hypothese und wegen der ebenso wichtigen Frustrations-
Kreativitäts-Hypothese.
Ein Akteur, der nicht gewahr wird, was mit ihm aufgrund der Struktur des
Persönlichkeits-, des Gesellschafts- oder des Weltsystems geschieht, kann als
ein vorübergehendes Stadium ein Frustrationsgefühl haben, bevor die Vor-
stellung eines ausgewachsenen Konfliktes entsteht - wie die Frustration von
Mitgliedern der Arbeiterklasse, weil sie Mittelklassen-Ziele niemals errei-
chen, oder die Frustration von Frauen, weil sie ihre eigene Lage nicht unter
Kontrolle haben. Später können die Betroffenen deutlicher erkennen, daß ih-
nen etwas sehr Konkretes im Weg steht: die Klassengesellschaft, das Patriar-
chat, mit sehr konkreten Akteuren auf der Gegenseite. Die Frustrationsphase
ist vergleichbar einer Eisschicht an einem frostigen Tag, wenn das Bewußt-
sein aus den unterirdischen kalten Wassern hoch in die klare Luft steigt.
Ist aber das Bewußtsein (also der menschliche Geist) erst einmal da, steht
es vor einem ebenso entscheidenden Problem: Vereinfachung versus Kom-
plexifizierung. Hier sind nun drei grundlegende Konflikthypothesen:

These 1: Konflikte im wirklichen Leben sind meist sehr komplex; ele-


mentare Konflikte (1, 2) oder (2, 1) gibt es nur in Lehrbüchern.
These 2: Je komplexer der Konflikt, desto mehr Möglichkeiten gewalt-
loser, kreativer Konflikttransformation bieten sich an.
J46 Konflikttheorie

These 3: In der Hitze der Konfliktspannung ist eines der ersten Opfer die
Konfliktkomplexität.
Die Komplexität wird dann durch den Prozeß der Polarisierung reduziert,
was zur Nacktheit elementarer Konflikte führt, zur grausamen Entscheidung
für dieses oder jenes, für uns oder gegen uns. Offensichtlich enthält These 2
die gute und These 3 die schlechte Nachricht.
Je komplexer die Konfliktvorstellung, desto mehr Gelegenheiten zur Kon-
flikttransformation gibt es, wir werden darauf zurückkommen. Das sollte für
Komplexijizierung sprechen, für das Aufspalten von Akteuren und Zielen in
Unter-Akteure und -Ziele, das Einbringen weiterer Akteure und Ziele, den
Versuch, hier und dort zu transformieren, in der Hoffnung auf einen Sog-
Effekt.
Das Problem, die Skylla, besteht darin, daß die Komplexität so groß wer-
den kann, daß der menschliche Geist nicht mehr damit zurecht kommt. Wenn
wir die magische Zahl 7 als das Maximum an Faktoren betrachten, das die
meisten Menschen auf kreative Weise handhaben können, dann wäre die äu-
ßerste Grenze 3 oder 4 Akteure und 3 oder 4 Ziele, anders formuliert, sollte
K = 4, 5 oder 6 sein. Auch eine Vereinfachung kann also vonnöten sein, mit
der Gefahr, der Charybdis, daß die Vereinfachung zur Polarisierung wird, in
elementaren Konflikten endet. Die Schwierigkeit liegt darin, einen Kurs ein-
zuschlagen, der zwischen Skylla und Charybdis verläuft, d.h. um K = 5.

1.5 Typologie: Konflikträume

Ein Konflikt hat zielsuchende Systeme zur Voraussetzung, zielsuchende Sy-


steme setzen Leben voraus, und Leben gibt es vielerorts. Der Typologie, die
hier entwickelt werden soll, liegen die sechs Räume, die an vielen Stellen
dieses Kurses zu finden sind, zugrunde: Natur, Person, Gesellschaft, Welt,
Kultur und Zeit,87 kombiniert mit der Dilemma-Disput-Unterscheidung, die
wir als intra/inter kennzeichnen werden. Wir haben also folgende Typologie:

87 An manchen Stellen wird "Person" "Selbst", an anderen "Mensch" genannt, hier


aber benutzen wir den Begriff Person, da die Unterscheidung von intrapersonellen
und interpersonellen Konflikten häufig angezeigt ist. Auch könnte die Gesell-
schaftlWelt-Rubrizierung sehr verfeinert werden im Ausgang von der MikrolMe-
solMakro-Unterscheidung, die sich dann weiter spezifizieren ließe in FarnilielHaus-
halt-lokale Ebene-Bezirk -Land-Region-Welt.
Konfliktformationen 147

Tabelle 2.3: Eine Typologie von Konflikträumen


Raum intra: Dilemma inter: Disput
Natur
Person
Gesellschaft
Welt keine Fälle
Kultur
Zeit

Wir haben Dilemmata und Dispute im Falle von Person, Gesellschaft und
Welt schon behandelt, wobei angemerkt werden soll, daß der Inter-Welt-
Disput zur Zeit eine empirisch leere Kategorie ist. Die Inter-Gesellschafts-
Kategorie dagegen ist empirisch gewiß sehr reichhaltig; mit dieser heiklen
Verbindung beschäftigt man sich unter dem Titel der "Internationalen Bezie-
hungen" ("Welt-Studien" wäre eine angemessenere Bezeichnung), wobei die
Beziehungen zwischen Staaten und die zwischen Nationen speziell interes-
sieren.
Über Natur, Kultur und Zeit muß jedoch mehr gesagt werden. Ein Beispiel
für Inter-Natur wäre der Inter-Spezies-Konflikt, dem Darwin durch seine
"survival of the fittest"-Metapher ein übergroßes Gewicht beigemessen hat,
das gemäßigt wird durch Kropotkins "gegenseitige Hilfe". Die Intra-Spezies-
Kombination macht uns auf tiefer liegende Widersprüche aufmerksam, z.B.
solche, die im genetischen Code einer Spezies angelegt sind.
Das gleiche gilt für Intra-Kultur. Damit wir aber das Konfliktparadigma
oder auch nur den Konfliktbegriff anwenden können, werden wir davon aus-
gehen, daß die Kontrahenten des kulturellen Dilemmas (im Falle etwa von
Freiheit versus Gleichheit in der westlichen politischen Kultur) Menschen
sind, wie wir das für interkulturelle Dispute annehmen würden. Der Leser
könnte ja den Versuch machen, die Bibel und den Koran nebeneinander auf
einen Tisch zu plazieren und darauf zu warten, daß in dem einen oder dem
anderen oder zwischen beiden Spannungen entstehen. Täte man das gleiche
(am Tisch statt auf dem Tisch) mit einem christlichen und einem islamischen
Theologen, wäre das Resultat sehr viel dynamischer. Ziele müssen von le-
benden Menschen angestrebt werden, soll wirklich ein Konflikt auftauchen.
Wie sieht es mit der Zeit aus? Eine sehr wichtige Interpretation behandelt
sie als synchronen und diachronen Konflikt, Z.B. als intra- und intergenera-
tionellen Konflikt; letzterer ist im Zusammenhang mit der Umweltzerstörung
von großer Bedeutung. Eine Generation lebt nicht nur auf Kosten der Natur,
sondern auch auf Kosten der Nachwelt, apres nous le deluge 88 •

88 Glaubt man The Concise Columbia Encyclopedia (New York 1983, S. 492), dann
wird dieser Ausspruch zu Unrecht Ludwig XV. (er regierte von 1714 bis 1774) zuge-
schrieben. Doch wer immer in jener Zeit "nach mir die Sintflut" sagte - es war keine
148 Konflikttheorie

Tabelle 2.3 kann zur Erläuterung vieler Prozesse der Entstehung und Ver-
arbeitung von Kontlikten und Kontliktvorstellungen dienen. Die letzte Kon-
sequenz eines intrapersonellen Dilemmas kann der Rückzug sein, der sich
unter Umständen zur Apathie oder Schizophrenie verdichtet und schließlich
in Selbstzerstörung bis hin zur Selbsttötung enden kann. Ebenso kann Rück-
zug das Resultat eines interpersonellen Disputs sein oder aber beständige
Spannung, die schließlich zur Zerstörung des anderen, bis hin zum Mord,
führen kann. Die Prozesse schließen sich gegenseitig nicht aus, sie können
zusammenfallen. Beide können aber in einem Kontlikt auch auf sehr kreative
und lebensverbessernde Art und Weise genutzt werden.
Das intra-gesellschaftliche Dilemma kann dann als intra-personelles Di-
lemma auf kollektiver Ebene betrachtet werden, wie z.B. das französisch-so-
zialistisch-jüdische/deutsch-Nazi-antisemitische Dilemma des französischen
Bürgertums. Das kann zur Apathie führen, wie im Falle der französischen
Reaktion auf die deutsche Invasion im Mai 1940. Nach einiger Zeit jedoch
wird der innere Widerspruch zu einem Widerspruch zwischen zwei Parteien,
in casu zwischen Resistance und Kollaborateuren.
Ähnliches gilt für intra-Welt-Dilemmata, die wir zur Zeit überall auf unse-
rem Planeten finden können: als Wachstum contra Verteilung oder Wachs-
tum contra Umwelt, bisweilen zur Apathie führend, meistens aber zu einer
starken Polarisierung; wie während des Kalten Krieges, als ein kapitalisti-
scher Block dem Wachstum (oft ohne jegliche Verteilung) und ein sozialisti-
scher Block der Verteilung (oft ohne jegliches Wachstum) besonderes Ge-
wicht beimaß. Das Wachstumslager hat den Sieg davongetragen und wird
wohl auch gegen das Umweltlager siegen, trotz oder wegen verbaler Kom-
promisse wie "nachhaltige Entwicklung".
Man hat oft versucht, kausale Prozesse in Tabelle 2.3 (oder ähnlichen
Darstellungen) ausfindig zu machen. Zu erwähnen wären hier insbesondere
Freuds intellektuell heroisches Bemühen, die Wurzeln solcher Prozesse in in-
tra-personellen Widersprüchen (zwischen Es und Über-Ich) aufzuzeigen,
oder Marx' Versuch, deren Wurzeln in intra-gesellschaftlichen Widersprü-
chen (zwischen Kapital und Arbeit, oder, subtiler, zwischen Produktionsmit-
teln und Produktionsverhältnissen) nachzuweisen. Auch wenn kausale Zu-
sammenhänge nicht bestritten werden sollen, sind reduktionistische Ver-
suche, sie alle im gleichen Typus wurzeln zu lassen, zum Scheitern verurteilt.
Man darf jedoch behaupten, daß ein hoher Grad an Isomorphie zwischen ver-
schiedenen Typen von Kontliktprozessen besteht. Wenn man einen davon als
Prototyp verwendet, kann der menschliche Beobachter einer kausalen Ver-

schlechte Prophezeiung. Brach doch fünfzehn Jahre nach Ludwigs Tod die Französi-
sche Revolution aus als einer jener großen Intra-Zeit-Widersprüche (Kairos) mit
enormen Intra-Zeit-Implikationen (Chronos).
Konfliktformationen 149

kettung nachgehen, die ihnen allen denselben (metaphorischen) Prozeßcha-


rakter aufprägt.

1.6 Konfliktformationen und Konflikttransformationen


Oben habe ich viel über Akteure und Ziele gesagt, über deren Anzahl und
darüber, in welchen Beziehungen sie stehen in der Struktur des Persönlich-
keits-, des Gesellschafts- und des Weltsystems (wir können hinzufügen: in
der Natur, in der Kultur und im Verlauf der Zeit). Es ist jetzt Zeit, hervorzu-
heben, daß Ziele ganz sicher nicht inkompatibel sein müssen, und daß Akteu-
re sich nicht unbedingt in Dilemmata oder Disputen oder mehr oder weniger
komplexen Verbindungen derselben befinden müssen.
Nennen wir jegliche Art zielsuchender Systeme einfach eine Formation.
Hierbei handelt es sich nicht einfach um eine Anhäufung oder eine Aufli-
stung von Akteuren und Zielen; die oben behandelten Systeme besitzen eine
Struktur (z.B. eine Interaktionsstruktur). Es besteht Interdependenz. Eine
Formation kann Z.B. bis zu dem Grad harmonisch oder symbiotisch (d.h. ge-
meinsam lebenssteigernd) sein, daß das Erreichen eines Zielzustandes mit
dem Erreichen eines anderen zusammenhängt. Eine harmonische Ehe hat
diese Eigenschaft, das sukha des/r einen steht in enger Verbindung mit dem
sukha des/r anderen. Wenn aber das sukha der einen Person von dem dukkha
(Leiden) der anderen abhängt, dann handelt es sich eindeutig um eine dishar-
monische oder antibiotische Formation, lebensverbessernd für eine Person,
lebenszerstörend eben darum für die andere. Diese Formation ist eine Kon-
fliktformation geworden.
Wir müssen immer wieder auf das Offensichtliche hinweisen: Im wirkli-
chen Leben besitzt jede Formation sowohl harmonische als auch disharmoni-
sche Aspekte. Konflikt und Kooperation - Darwin und Kropotkin - existie-
ren nebeneinander. In einer Konfliktformation dominiert der disharmonische
Aspekt der Formation. Wir dürfen darum aber keinesfalls die kooperativen,
harmonischen Aspekte übersehen, die sehr wohl die Basis sein können, auf
die eine Konflikttransformation bauen kann.
2 Konfliktlebenszyklen

2.1 Tiefenkultur, Zeitkosmologie und


Gesellschaftskosmologie
Wir haben eine Konfliktformation, und wir brauchen eine Konflikttransfor-
mation - dazwischen liegt die Konfliktdynamik, also der Lebenszyklus eines
Konflikts. Dieser Begriff führt uns auf Gedankengebilde wie Geburt/Genese,
ReifungIDynamik und Tod/(Auf-)Lösung. Wie wir unten aber sehen werden,
können diese Begriffe auch sehr irreführend oder zumindest mit kulturell
bedingten Vorurteilen belegt sein.
Die Tiefenkultur oder Kosmologie einer Kultur8• beeinflußt offensichtlich
nicht nur die Wahrnehmung von Konfliktlebenszyklen, sondern auch das tat-
sächliche Verhalten in einem Konflikt und ist von großer Bedeutung für die
Konflikttransformation. Das Wissensniveau sowohl der Beteiligten als auch
der Außenstehenden bezüglich dieses Faktors wird das Ergebnis mitbestim-
men. Dieses Niveau muß bei den Angehörigen der betreffenden Kultur nicht
unbedingt höher sein als unter Außenstehenden, denn die Kosmologie ist de-
finitionsgemäß im kollektiven Unterbewußtsein verwurzelt und nicht im in-
dividuellen Bewußtsein. Ein solches Wissen ist für jeden, der menschliche
Konflikte untersuchen will, von grundlegender Wichtigkeit. 90
Im folgenden sollen zwei Zivilisationen, die harte okzidentale Variante
und die buddhische Zivilisation, hinsichtlich ihrer Vorstellungen von Kon-
fliktlebenszyklen untersucht werden. Das Christentum (zusammen mit dem
Judentum und dem Islam) und der Buddhismus sind in der Tat Mega-
Kulturen, welche Okzident und Orient prägen. Genauere Vorstellungen dar-

89 Hiermit bezeichne ich die kollektiv (wenn auch gewöhnlich nur auf der Ebene des
Unterbewußten) geteilten Unterstellungen einer Kultur hinsichtlich dessen, was als
natürlich und normal gilt - wie die Dinge ganz einfach sind.
90 So haben wir es, wenn in einem Konflikt zwei Personen zusammentreffen, um etwas
auszuhandeln, mit (mindestens) vier Ebenen zu tun: die personae, die Masken, die
sie einander zeigen; die bewußt verfolgten, aber nicht notwendigerweise offengeleg-
ten Strategien; das individuelle Unterbewußtsein beider Parteien; und schließlich das
kollektive Unterbewußte, das übereinstimmen kann, aber nicht muß, je nachdem, ob
beide Parteien derselben Kultur entstammen oder nicht. Eine Konflikttheorie, die
sich nur der Ebenen 1 und 2 annähme, wäre reichlich naiv.
152 Konflikttheorie

über, wie diese grundlegenden Religionen Konflikte wahrnehmen, könnten


uns daher weiterbringen. 91
Wenn wir die Zeitvorstellung als Ausgangspunkt nehmen, kommen wir
schnell zu bestimmten Einsichten. Wenn die christliche Zeit begrenzt ist, ei-
nen Beginn, eine Genese, und ein Ende in der Apokalypse bzw. Katharsis
hat, dann dürfen wir erwarten, daß auch ein Konfliktlebenszyklus als zeitlich
begrenzt begriffen wird. In dieser Sicht hätte ein Konflikt einen eindeutigen
Beginn, gäbe es Geburt oder Genesis, und nach einer Krise ein eindeutiges
Ende, in Form einer Apokalypse oder Katharsis oder von beidem. Die Kos-
mologie wird sich von selbst aufdrängen und ein entsprechendes Verhalten
und entsprechende Einstellungen verlangen.
Im Gegensatz dazu ist die buddhistische Zeit infinit, sie hat praktisch kei-
nen Beginn und kein Ende, obwohl es die Transzendenz des Nirwana gibt,
eine Transformation in andere unbekannte und nicht vorhersehbare Weisen
der Existenz. Dementsprechend können wir hier eine Sichtweise erwarten, in
der der Konflikt als unendlich, als ohne Beginn und ohne Ende erscheinen
wird, wie ein endloser Fluß, von Ewigkeit zu Ewigkeit fließend; vielleicht
hat er irgendwo in unendlicher Ferne ein Delta, wo die in diesem Fluß ange-
sammelten Energien in den Ozean münden und andere Formen annehmen.
Der Konflikt wird transformiert, wenn möglich auf ein höheres (gewaltär-
meres) Niveau, er verschwindet aber darum nicht. 92 Wieder wird sich die
Zeitkosmologie dem Konfliktverständnis aufdrängen und nach einem korre-
spondierenden Bild des Prozesses verlangen; wir können also erwarten, daß
die Akteure und Kommentatoren entsprechend empfinden, sich verhalten, re-
den und schreiben; daß es in ihrer Wahrnehmung keinen Beginn und kein
Ende gibt.
Fügen wir jetzt der Zeitkosmologie ein Element gesellschaftlicher Kosmo-
logie hinzu: individuell vs. kollektiv/gesellschaftlich. Wenn wir hier die Kno-
ten-Netz-Metapher93 verwenden, was entspricht dann eher der Realität, die
Knoten oder das Netz? Da die christliche Seele als einzigartig gilt, wird man

91 Als Einführung in Texte des Buddhismus s. Edward Conze: Buddhist Scriptures,


London 1959. Als elementare Einführung kann dienen Johan Galtung: Buddhism: a
Questfor Unity and Peace, Colombo 1993.
92 Ein Beispiel: Ein Umwandlung multinationaler Staaten in eine Föderation läßt die
Konflikte zwischen nationalen Gruppen nicht verschwinden. Aber etwas Trennung
und Autonomie kann weniger gewalttätige Ansätze erleichtern, wobei das Zentrum
der Föderation als letzte Entscheidungsinstanz fungiert. Da dieser Entscheidungs-
prozeß aber häufig recht vertikal verläuft, bedeutet dies, daß es sich hierbei auch um
eine Übung in struktureller Gewalt handeln könnte. Folglich dürfte es sich bei einer
Konföderation mit einem sehr schwachen Zentrum um eine Transformation auf eine
höhere Ebene handeln, insofern sie sich von der Ausübung struktureller Gewalt ab-
setzt. Unnötig zu betonen, daß es sich hierbei um eine empfindliche Balance handelt.
93 Vgl. Raimon Panikkar: "La notion des droits de l'homme, est-elle un concept occi-
dental?", in: Diogenes, 1982, Nr. 120, S. 87-115.
Konfliktlebenszyklen 153

im Christentum die gesellschaftliche Wirklichkeit eher als individuelle Kno-


ten denn als soziales Netz wahrnehmen. Im Mahayana-Buddhismus besteht
die Wirklichkeit aus der Verbindung des einzelnen mit den anderen, und die
Vorstellung einer separierten, ewigen individuellen Seele ist hier eine Illusi-
on. Realität haben die Netze, nicht die Knoten.
Das wird wieder einen Einfluß auf die Konfliktwahrnehmung haben. Das
Christentum wird dazu neigen, Konflikte zu individualisieren, bis hin zu der
Vorstellung, daß sie ihren Ursprung in einem einzelnen Menschen haben, der
durch einen Konflikt das Leben anderer beeinflußt, wohingegen der Buddhis-
mus den Konflikt als innerhalb eines Kollektivs wichtiger Anderer entste-
hend betrachten würde. Ein solches Kollektiv muß nicht unbedingt synchron
verstanden werden. Nicht der Knoten ist wichtig, sondern das Netz, das sich
zur Seite wie diachron nach vorn und nach hinten erstreckt und dabei das
empfindungsfähige Leben in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ver-
knüpft. Die Wirklichkeit ist grenzenlos, sowohl im Bereich des Sozialen als
auch in der Zeit.
Das Christentum bestreitet nicht das Verbundensein des Individuums mit
anderen, in dem Sinne, daß die Taten eines Menschen einen Einfluß auf das
Leben Anderer haben können. Die ethische Maßeinheit aber ist das Individu-
um, dem ein Wille gegeben ist; das sich folglich nicht einfach verhält, son-
dern handelt. Ein Individuum ist ein Akteur. Im Buddhismus ist die ethische
Maßeinheit das Kollektiv, was nicht heißt, daß es keine individuelle Existenz
und keinen individuellen Willen gibt. Die Verantwortung aber liegt nicht al-
lein beim Individuum.
Um zur Flußmetapher zurückzukehren: Der buddhistische Konfliktfluß
fließt von Ewigkeit zu Ewigkeit, mal schnell, mal langsam; bildet Strö-
mungen, die mal zurückfließen, sich mal kreisförmig bewegen, mal riesige
Wasserfälle bilden, die mal aufwärts fließen, dann wieder nicht, dann wieder
Nebenarme bilden und sich gabeln. Wie das samsara, der Geburt-Wiederge-
burt-Zyklus. Wie sähe eine entsprechende christliche Wasser-Metapher aus?
Vielleicht ein Geysir, der aus bewegtem Wasser aufsteigt, zu einem Höhe-
punkt (vielleicht verdampfend) kommt, sich dann zurückzieht, verschwindet
oder aber sich ausdehnt und andere Geysire zu einer Überschwemmung ver-
anlaßt?
Für die Konflikttheorie und -praxis bedeutet "Konfliktindividualisierung
in einer finiten Zeit" einen ganz anderen Ausgangspunkt als "Konfliktkollek-
tivierung in einer infiniten Zeit". Das erste Bild spiegelt gut den okzidentalen
Atomismus, die nomothetische (verallgemeinernde) Konfliktologie mit de-
duktiver Theoriebildung, die unter Umständen auf einer Typologie von Ak-
teuren beruht. Das zweite Bild bringt die Dialektik des orientalischen Holis-
mus mit seiner ideographischen Konfliktologie zum Ausdruck, für die gilt,
daß es eine einzige zusammenhängende Menschheit oder Art von Leben gibt.
154 Konflikttheorie

2.2 Christliche und buddhistische Zeit- und


Konfliktkosmologie
Diesen allgemeinen Begriffsapparat können wir jetzt auf einige konkrete
Vorstellungen von Konflikttransformation anwenden. Beide Kulturen haben
klare Ansichten über Disharmonie, verbunden mit Vorschriften; beide sind
der Meinung, daß Harmonie demjenigen Menschen zuteil wird, der den letz-
teren - den Zehn Geboten des christlichen Glaubens und dem ,Edlen Acht-
gliedrigen Pfad ,94 des Buddhismus - treu bleibt. Konflikte oder Disharmoni-
en werden dem Menschen zuteil, der vom Gesetz abkommt, im Christentum
vom Gesetz Gottes und im Buddhismus vom Gesetz des Karma. Gott ist all-
gegenwärtig, allwissend und allmächtig, ist causa sui und zieht die Menschen
zur Rechenschaft. Und das Karma ist eine allgegenwärtige Dialektik zwi-
schen einem ethischem Determinismus, bei dem die Menschen sich selbst
Rechenschaft ablegen müssen ("Alles, was Du sagst und alles, was Du tust,
wird früher oder später auf Dich zurückfallen"), und der Möglichkeit, das
Karma durch Willensakte, den individuellen Willen zu verbessern.
Das Gesetz wird von den Menschen empfangen, nicht nur in der Hinsicht,
daß es gehört und verstanden, sondern auch in der Hinsicht, daß es als ver-
pflichtend verinnerlicht wird. Was Moses und Christus für den judäo-christli-
ehen Glauben taten, hat Buddha für den Buddhismus getan; da das Gesetz über
allen steht, gilt es auch für sie. Was sie taten, war, das Gesetz zu verdeutlichen,
in Form von Glaubensartikeln und Geboten, drei und zehn im Christentum (und
fünf in den Säulen des Islam), vier und acht im Buddhismus. Damit war die
moralische Grundlage bzw. der moralische Bezugspunkt geschaffen. Gegen sie
zu verstoßen, führt zu Disharmonie. Wenn man das tut, entstehen Konflikte,
vielleicht mit anderen, ganz sicher mit dem Gesetz, und dadurch auch mit sich
selbst. Im Christentum zusätzlich mit Gott, mit Christus; und im Buddhismus
derart, daß man ein schlechtes Karma schafft, womit sowohl das individuelle
als auch das mit anderen geteilte Karma gemeint ist.

94 Rechtes Sehen, rechtes Wollen, rechtes Reden, rechtes Tun, rechtes Leben, rechtes
Streben, rechtes Bedenken, rechtes Sichversenken. Als eine schöne Diskussion bud-
dhistischer Ethik und Praxis liest sich Robert Aitken: The Practice of Perfection,
New York/San Francisco 1995, besonders S. 28-32. Die buddhistischen Vorschriften
des pancha shila und des pancha dhamma würden - wie die jüdisch-christlich-
islamischen Gebote - auch das Stehlen, den Ehebruch, das Lügen und den Gebrauch
berauschender Substanzen als Gewalt definieren. Dem Ansatz dieses Buches ent-
sprechend, fallen diese Verhaltensweisen unter dessen Definition von Gewalt, wie
alles, was schadet und verletzt, und insbesondere in den Fällen, in denen Grundbe-
dürfnisse mißachtet werden (so schadet bzw. verletzt, um hiermit zu beginnen, die
Einnahme berauschender Substanzen dem/das Selbst). In allen Fällen würden wir
von direkter Gewalt reden, als Akte des Unterlassens (des Versagens, um es beim
Wort zu nennen) wie des Nicht-Unterlassens (Lügen z.B.).
Konfliktlebenszyklen 155

Jeder Verstoß wird entdeckt. Der moralische Wert einer Tat wird immer
von einem allwissenden Gott wahrgenommen; deren Plus- und Minuspunkte
im allgegenwärtigen Karma vermerkt. Gott entscheidet über Rettung oder
Verdammnis. Das Karma wird besser oder schlechter. Was geschieht dann?
Von diesem Punkt an zerfallen die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden
Traditionen. Wir können diese nicht mehr zusammen interpretieren, wir müs-
sen zwei verschiedene Ablaufdiagramme aufsetzen, eines für das Christen-
tum und eines für den Buddhismus. Es gibt Ähnlichkeiten, aber auch auffal-
lende Unterschiede. So besteht Z.B. Ähnlichkeit zwischen dem christlichen
Wunsch, das eigene Ansehen bei Gott zu verbessern, nachdem man eine
Sünde begangen hat, und dem buddhistischen Wunsch, das Karma nach ver-
werflichen Taten zu verbessern. Die Einstellung, daß das auf sich gestellte
Individuum hilflos ist und der Unterstützung durch Gott (Christentum) oder
durch Andere (Buddhismus) bedarf, ist ähnlich. Hier gibt es aber schon in
den Herangehensweisen Unterschiede, und das hat auf die begriffliche Erfas-
sung von Konfliktlebenszyklen eine profunde Auswirkung.
Der christliche Prozeß besteht aus einer komplexen Kette von Sünde, Un-
terwerfung unter Gott, Beichte der begangenen Sünde, Reue, Buße, Sühne
und möglicher Vergebung (durch Gott). Die letzte Entscheidung liegt bei
Gott, und nur bei Ihm, Sein Wille ist Gesetz, Er allein entscheidet mit einem
Gnadenakt über Heil und Verdammnis.
Grundlegend für dieses Paradigma ist seine durchgängige Vertikalität.
Die Sünde, die begangen wurde, geht gegen Gottes Gesetz und gegen Seinen
Sohn: "Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan." (Matthäus 25, 40; vgl. auch Matthäus 25, 45.) Das
Verhältnis zu Gott muß wiederhergestellt werden, wohingegen das Opfer von
untergeordneter Bedeutung ist. Der moralische Gehalt einer Handlung liegt
in deren Bezug zu Gott, denn Sein ist das Gesetz. Wenn diese Beziehung
wiederhergestellt ist, ist die Sünde aufgehoben, und der Mensch gilt wieder
als unbescholten, als neu geboren.
Das Christentum unterscheidet zwischen peccatum und peccator, zwi-
schen Sünde und Sünder. Ersteres wird verurteilt, letzterem ein Ausweg ge-
boten. Das garantiert Begrenzung in der Zeit und Individualisierung im
Raum. Der Konfliktprozeß beginnt mit einem Akt der Sünde eines fehlbaren
menschlichen Akteurs und endet mit dem Gnadenakt des unfehlbaren Gottes.
Im Mittelpunkt steht die ganze Zeit über der Sünder, derjenige, der gegen das
Gesetz verstoßen hat; alles übrige ist Beiwerk. Die Bühne ist dann bereitet
für die mögliche Wiederholung des Ablaufs, für den Verzicht auf weitere
Sünden oder für die letzte, die Todsünde, den Punkt, von dem aus es kein
Zurück mehr gibt.
Der buddhistische Prozeß erweist sich als eine davon sehr verschiedene
Sequenz. Wenn es keinen Gott gibt, keinen Himmel, keine Hölle, kein ewi-
ges Heil und keine ewige Verdammnis, keine ewige und trennbare indivi-
156 Konflikttheorie

duelle Seele, dann steht eine Verfehlung nicht in Beziehung zu Gott oder zu
einem selbst, sondern zum Netzwerk der betroffenen Anderen. Allein in die-
ser Gemeinschaft kann die Verfehlung ausgelöscht werden. Ein Weg dahin
bestünde im Dialog durch Handeln, im Ungeschehen machen des Bösen als
einer Wiederherstellung der Verhältnisse durch Verdienste. Ein anderer Weg
wäre der verbale Dialog, die Ermittlung dessen, weshalb oder wie sich das
schlechte kollektive Karma entwickelt hat und wie man es auf immer höhere
Niveaus bringen kann - und dann würde entsprechend gehandelt.
Grundlegend für dieses Paradigma ist seine durchgängige Horizontalität.
Das Verwerfliche einer Tat besteht in deren Auswirkung auf andere Formen
empfindungsfähigen Lebens. Die Tat kann nicht ungeschehen gemacht, das
Verhältnis aber kann geändert werden. Die betroffenen Anderen müssen
nicht heute lebende Individuen sein; die Verfehlung kann sich auch auf
schon Totes oder noch nicht (Wieder-) Geborenes erstrecken. Mit anderen
Worten, es gibt keine Möglichkeit, das Verhältnis zu individualisieren. Das
Verhältnis liegt, ob es nun gut oder schlecht ist, in der Kollektivität, und dort
wird es bleiben, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Eine nicht-endliche Zeitperspektive ist geWährleistet durch die Verantwor-
tung nicht nur für Taten der Vergangenheit, sondern für alle verdienstvollen
Taten und für alle Verfehlungen, die dieses Karma betreffen, unangesehen
des Ortes und der Zeit. Nur dadurch, daß man für die Verdienste und Verfeh-
lungen dieser Kollektivität die volle Verantwortung übernimmt, wird die Il-
lusion individueller Separierung und Permanenz ausgeschlossen.
Karma ist ein sehr holistisches Konzept; es transzendiert die individuellen
Lebensspannen in Raum und Zeit. Zugleich ist es auch sehr dialektisch, inso-
fern die Verfehlung, die zu einem Widerspruch im Karma führt, dialogisch
überwunden werden kann, durch verdienstvolle Worte, Handlungen, Taten.
Sieht man die menschliche Lage auf solche Weise, dann bringt es wenig,
Konflikte voneinander zu trennen, sie mit individuellen Namensschildern zu
versehen und in Raum und Zeit einzuklammern. Einen Teil dieses Ganzen
(holon) als schuldig und den anderen als nicht schuldig zu bezeichnen, ist
nicht sinnvoller, als nach einer verbrecherischen Strangulierung mit zwei
Händen die rechte Hand schuldig und die linke unschuldig zu sprechen. Wer-
den Verdienst und Verfehlung gemeinsam getragen, wird ihre Verteilung auf
Individuen zu einer metaphysischen Frage. Jegliches Verdienst habe ich
(teilweise) auch der Veranlassung meiner Brüder und Schwestern (den ein-
schlägigen Anderen) zu verdanken; ebenso jegliche Verfehlung, denn sie
hätten mich davon abhalten sollen, vom rechten Weg abzukommen.
Nicht metaphysisch dagegen ist der Wille, etwas dafür zu tun, ist die Bereit-
schaft eines jeden Teil des Ganzen, das kollektive Ich, dessen Teile sterben und
wiedergeboren werden, durch die komplexe Topologie jenes buddhistischen
Lebensflusses zu navigieren. Der christliche Glaube bietet ewiges Leben in Heil
oder Verdammnis; in der Praxis aber geht es ihm um das endliche Leben zwi-
Konfliktlebenszyklen 157

schen biologischer Geburt und Tod. Der Buddhismus bietet keine resurrectio
camis95 ; dieses unser biologisches Leben endet mit dem Tod des Körpers.
Praktisch nimmt er jedoch das Leben als ewigen Energiefluß von Ewigkeit zu
Ewigkeit wahr, ein Leben, das desto weniger Leiden und desto mehr Glück für
das Ich oder den oder den Anderen beinhaltet, je enger die Verknüpfungen zur
Seite, nach hinten und nach vorne ausfallen. Für den Christen gibt es keine Be-
rufung, denn er hat kein zweiter Leben; der kurze Moment des Lebens hier auf
Erden bestimmt über seine Ewigkeit. Für den Buddhisten ist die Ewigkeit selbst
die Zeitperspektive der Verbesserung des Karma und das Leben eine zusam-
menhängende Kette von Gelegenheiten, dafür tätig zu sein. Nichts ist endgültig,
es wird immer Gelegenheit geben, das Karma zu verbessern.
Wenn man die beiden hier ein wenig überzeichneten Anschauungen ver-
gleicht, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Buddhismus
keine Grenze zieht, sondern eine gemeinsame Suche nach den Gründen für
ein schlechtes Karma bevorzugt, während das Christentum die Schuld zu
dichotom anlegt. Wo das Christentum zu asymmetrisch ist, ist der Buddhis-
mus zu symmetrisch. Und während das Christentum grausam ist in seinem
Bestehen darauf, daß das diesseitige, überaus begrenzte Leben das ewige Le-
ben nach dem Tode bestimmt, ist der Buddhismus zu sanft und mild, weil er
uns unbegrenzte Zeit gibt, unser Karma zu verbessern. Man könnte sich in
beiden Fällen Zwischenstufen vorstellen, und vielleicht wäre ein eklektischer
Komprorniß vorzuziehen.
Wir besitzen jedoch nicht die Freiheit, unsere Kulturen selbst zu gestalten;
sie sind uns vorgegeben. Tatsache ist, daß es diese beiden Perspektiven von
Konfliktlebenszyklen gibt; die eine als infinite Zahl finiter Konfliktlebenszy-
kIen zwischen der Geburt als einem Zustand ursprünglicher Sündhaftigkeit
und der Erlösung als göttlichem Gnadenakt, und die andere als finite Zahl
infiniter Lebenszyklen, die nirgends und überall beginnen, ihre Hochs und
Tiefs haben und zuletzt in das endlos bewegte Meer der Ewigkeit eingehen.

2.3 Säkulare Versionen der christlichen und der


buddhistischen Perspektive
So viel zu den christlichen und buddhistischen Perspektiven, die beide reli-
giöser Art sind in dem Sinne, daß sie mit dem da draussen in Verbindung
stehen, mit Gott oder mit dem Karma. Die eine verlangt, daß wir uns Gottes
Willen beugen, die andere, daß wir das Karma unserem Verlangen nach
Sartori, Erleuchtung, unterwerfen. Wie viele und welche Menschen glauben
aber heute noch wirklich, daß es ein Gesetz Gottes und ein Gesetz des Karma

95 Auferstehung des Fleisches, nicht nur der Seele (das Grab Christi war leer).
158 Konflikttheorie

gibt? Sowohl in der christlichen als auch in der buddhistischen Zivilisation


gibt es Prozesse der Säkularisierung, welche beiden Perspektiven viele ih-
rer Inhalte entziehen. Dennoch würden wir gemäß der allgemeinen Kosmo-
logietheorie erwarten, daß die formale Gestalt dieser Perspektiven, wie
z.B. finit-atomistisch versus infinit-holistisch, Veränderungen der Inhalte
überlebt. 96
Die säkulare Perspektive des Okzidents ist bekannt als Westliche
Rechtstradition, die das umfaßt, was der römischen, der deutschen und der
englischen Rechtstradition gemeinsam ist. Man bezieht sich noch auf
Transzendentes, dies aber in ritualisierter Form. Im Prinzip finden sich die
Ursprünge des Rechts bei den Nachfolgern Gottes als des Ersten Bewegers,
d.h. im konstituierenden Rechtsakt eines Königs oder einer Versammlung,
konstituiert kraft eigenen Rechts als Ursachen ihrer selbst und Quelle des
inneren und, im Falle der Vereinten Nationen, des Internationalen Rechts.
Rezipienten sind Nachfolge-Könige, -Versammlungen und -Vollversamm-
lungen; diese schaffen nachrangige Gesetze, mit denen das Gebotene, das
Erlaubte und das Verbotene ausgelegt wird. Eine entdeckte und als verbo-
ten registrierte Tat ist eine Gesetzesübertretung; der Täter wird dann auf
der Grundlage einer anderen Art von Gesetzen, ein ordentliches Gerichts-
verfahren betreffend, verurteilt. Der Richterspruch bleibt gleichermaßen
dichotom: schuldig oder nicht schuldig. Es folgt die Strafe, heute in Form
von Geld (Geldstrafe) oder Zeit (Gefängnis), die dazu dienen kann, die
schuldig/nichtschuldig-Dichotomie abzumildern. Eine schwere Strafe kann
durch Begnadigung gemildert werden. Theoretisch gilt der Mensch nach

96 Plus fa change, plus c'est la mime chose, und die berühmte Philosophie in Guiseppe
Tomasi di lAmpedusas 11 Gattopardo: Wir ändern uns, so daß alles Übrige das Selbe
bleibt ("Perche tutto resti com'~", S. 29; "una di quelle battaglie combattute affinche
tutto rimanga come ~", S. 31 der FeltrineIli-Ausgabe)
Ist es vielleicht kein Zufall, daß beide Beispiele der romanischen Welt entstammen?
Weise und etwas zynisch? Würde ein Deutscher, ein Amerikaner oder ein Skandina-
vier nicht eher unterstellen, daß, wenn sich irgendetwas ändert, diese Änderung Wir-
kung, Konsequenzen zeigen soll? Je mehr sich ändert, desto mehr ändert sich? Wir
ändern uns, damit der Rest der Welt nicht unverändert bleibt? Klingt ein wenig tri-
vial, nicht sehr anspruchsvoll.
Die Kosmologietheorie in Teil IV befaßt sich genau mit den Dingen, die unverändert
bleiben, wenn sich die Oberfläche verändert. Und noch eine Beobachtung des Ver-
fassers: Während Menschen aus romanischen Ländern diese Kosmologietheorie
unmittelbar verstehen, neigen deutschsprachige Rezipienten zum Unverständnis oder
aber, falls sie sie verstehen, zur Ablehnung. In den beiden letzten Fällen sieht man
einen Widerspruch bei einem Autor, der solche Art romanischer Einsichten pflegt
und gleichzeitig so handlungsorientiert bleibt (für mich handelt es sich hier aber um
nichts weniger als um einen Widerspruch, sondern um den Versuch, Realist zu blei-
ben, wenn es um tiefsitzende Annahmen und Verhaltensweisen geht).
Konfliktlebenszyklen 159

Verbüßung seiner Strafe, zumindest aber nach einer Zeit der Bewährung,
wieder als unbescholten.
Kurzum, Übereinstimmungen in allen wesentlichen Punkten. Die Vertika-
lität besteht auch hier; die Sünde, jetzt Verbrechen genannt, wird nach oben
verübt, gegen König/Staat/V olk; das Opfer gerät in Vergessenheit. Die Sühne
aber, jetzt Strafe genannt, ist nur äußerlich, sie wird von außen auferlegt und
trifft den Täter nur äußerlich, nämlich seine Geldbörse oder seinen Körper.
Der komplexe geistige Prozeß, der sich christlichen Lehren verdankte, wurde
in den Gefängnissen noch einige Zeit am Leben erhalten, existiert jetzt aber
praktisch nicht mehr. Bezahlen, im Gefängnis sitzen, quitt sein. Erst in letzter
Zeit gibt es einen Trend, Gesetzesbrecher zu Arbeiten für die Allgemeinheit
einzusetzen und das Opfer zu entschädigen.
Ein vergleichbares Resultat würden wir in den säkularisierten Versionen
des Buddhismus erwarten, wobei das geschriebene Gesetz und der "Täter"
weniger bedeutsam sein sollten als im Westen, einer Versöhnung aber
mehr Gewicht beigemessen würde. Es sieht aber so aus, als ob die Suche
nach Ursachen durch ein In-sieh-gehen, eine Meditation über die Verfeh-
lung und dann der ausdauernde Dialog mit dem, dem man Unrecht getan
hatte, zunehmend auch einer dritten Instanz - in Japan häufig der sprich-
wörtlichen Polizei in der Polizei-Box - überlassen würden. Die Aufgabe
der Verbalisierung, die Suche nach der Konfliktdiagnose, -prognose und -
therapie überläßt man anderen, die zu Konfliktbearbeitern werden, ohne
selbst am Konflikt beteiligt zu sein. Seien diese nun Laien oder Fachleute,
man verläßt sich weniger auf sich selbst, und so werden die Beteiligten
nicht reifer, ihr Karma wird nicht besser, ihr Verhältnis zueinander nur
geglättet. Das Ziel ist äußerlicher (V), nicht innerlicher Wandel (A). Die
metaphysische, geistige Untermauerung des buddhistischen Konfliktpro-
zesses ist im Schwinden begriffen.
Die konzeptionelle Grundstruktur mag in tieferen Schichten immer noch
vorhanden sein: als geringere Neigung, den Konflikt so zu betrachten, als
beginne er mit einer Tat und ende mit einer anderen, als gründe er in einem
Akteur und nicht in einer Beziehung. Die Konfliktvorstellung wird jedoch
allmählich vertikalisiert, und das nicht allein in Japan, das eine lange feuda-
listische Tradition hat, die im Gegensatz steht zum idealen autonomen Dorf
mit "Tempel und Zisterne" des klassischen Buddhismus. In der Folge dürfen
wir erwarten, daß Recht, Juristen und Rechtsstreitigkeiten im buddhistischem
Teil der Welt in dem Maße auf dem Vormarsch sind, in dem die buddhisti-
sche Perspektive säkularisiert wird.
Gibt es eine Zwischenposition zwischen dem häufig sehr obskurantisti-
schen Spiritualismus der Vergangenheit und heutigen Formen der Konflikt-
transformation, gesteuert oft von zynischen Außenstehenden, die überhaupt
keine innere persönliche Bemühung fordern, sondern nur, wenn möglich, ein
Honorar? Im Westen gibt es die sanftere Version des Christentums als milde-
160 Konflikttheorie

rer ,Okzident 11,97, im Orient könnte es möglicherweise zu einem Wiederauf-


leben des buddhistischen Konfliktverarbeitungskonzeptes kommen. Bud-
dhistischer Spiritualismus mag auch den Menschen des Westens, deren Gott
gestorben ist, akzeptabler erscheinen als das Christentum mit einem sehr le-
bendigen Gott dem Osten.

2.4 Einige Folgen auf der internationalen Ebene


Um zu untersuchen, welche Auswirkungen bestimmte Auffassungen von
Konflikt auf internationaler Ebene haben, wollen wir den Vietnamkrieg (den
Zweiten Indochinakrieg) und den Golfkrieg vergleichen. In beiden Kriegen
waren die USA eine der Hauptbeteiligten. Zwischen den beiden Kriegen gab
es aber einen wesentlichen Unterschied. Während des Vietnamkrieges waren
die USA immer weniger davon überzeugt, daß "Nordvietnam" eines Verbre-
chens schuldig war, und sie zweifelten zunehmend an der eigenen Berechti-
gung, Krieg zu führen. Das lag nicht nur daran, daß sie den Krieg verloren,
aus welchen Gründen auch immer (größeres militärisches Talent auf der vi-
etnamesischen Seite, an deren Spitze eines der militärischen Genies dieses
Jahrhunderts stand; der Einsatz von Wehrpflichtigen, unter ihnen auch Col-
lege-Studenten, von denen einige gegen den Krieg mobilisiert waren; Me-
dien, die nahezu wahrheitsgemäß, nicht "patriotisch" berichteten).
Im Golfkrieg dagegen waren die USAlBush von der eigenen Berechtigung
und von der Schuld des Irak/Saddams absolut überzeugt. Da sie möglicher-
weise das christlichste Land der Welt sind, konnte man von den USA erwar-
ten, daß beide Kriege ilUS ihrer Sicht mit "Sünden", Überschreitungen der
Gegenseite begonnen hatten. Ob das von den Entscheidungsträgern auf der
höchsten Ebene wirklich geglaubt wird, spielt eine geringe Rolle, solange der
Konfliktdiskurs in dieser Geisteslage stattfindet. "Den ersten Stein werfen"
kennzeichnet häufig das Verhalten christlicher Staaten, ungeachtet der War-
nung, dies zu unterlassen, wenn man selbst nicht unschuldig ist und im Glas-
haus sitzt: Du könntest dich nämlich selber treffen, wie ein Buddhist (oder
auch Jesus) sofort hinzufügen würde.
Als Hintergrund des Vergleichs mag ein kurzer Blick auf zwei Fälle der
jüngsten Vergangenheit, die dem westlichen Drehbuch folgten, erhellend
sein: USA-Japan und USA-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs.
Überschreitungen markierten den Beginn: Pearl Harbor am 7. Dezember
1941 und der Überfall auf Polen am 1. September 1939. Es gab Handlungen,
die das Ende markierten: die Kapitulationen, die in Rheims am 8. Mai 1945
bzw. in der Tokyo-Bucht am 2. September 1945 unterzeichnet wurden. Da

97 Für eine Definition vgl. Teil IV, Kap. 2.1. Als Illustration kann die mittelalterliche
Periode der europäischen Geschichte dienen.
Konfliktlebenszyklen 161

die bösen Taten so klar definiert waren, war es ein Leichtes, die Initiatoren
dieser bösen Taten auszumachen.
Vertikalisierung wurde nicht allein durch Kapitulation und Waffen-
übergabe als eindeutige Unterwerfungshandlungen durchgesetzt, sondern
auch durch Gerichtsverhandlungen (von denen die Nürnberger und die Pro-
zesse in Fernost die bekanntesten sind), die so etwas ähnliches wie Geständ-
nisse hervorbrachten, die den Konflikt dann mittels des Begriffes von "Kriegs-
verbrechern", die "Verbrechen gegen die Menschheit" begingen, zu indivi-
dualisieren erlaubten. Das Besatzungsverhältnis diente dazu, die Vertikalität
zu institutionalisieren. Die Reparationen waren nur eine Form der Strafe; ei-
ne andere bestand in der Marginalisierung innerhalb der Weltgemeinschaft
dadurch, daß den Besiegten die UN-Mitgliedschaft verweigert wurde.
Da die Achsenmächte abscheuliche Verbrechen begangen hatten, wurden
Beweise für eine grundlegende Änderung ihrer Haltung verlangt. Die Gele-
genheit bot sich während der Berliner Blockade 1948/49 und während des
Korea-Krieges 1950-53, und die beiden besetzten Länder nahmen sie eifrig
wahr, um zu beweisen, daß sie die Sache der Besatzer, besonders der USA,
zu ihrer eigenen gemacht hatten, was nicht so schwierig war, da man ihnen
eine untadelige antikommunistische Haltung bescheinigen konnte. Die Alli-
ierten, zumal die USA, nutzten diese Gelegenheit, um ihr göttliches Privileg
des Gnadenerweises auszuüben und beiden Frieden zuteil werden zu lassen
(jedoch ohne formalen Friedensvertrag mit Deutschland), wodurch sie dann
in die internationale Normalität entlassen wurden (Japan 1951, Deutschland
1954, Österreich 1955).98 Daß der Vorgang allgemeine Zustimmung fand,
lag zweifellos daran, daß man dem westlichen Skript gefolgt war und die Ja-
paner schnell gelernt hatten, wie man sich zu verhalten hat.
Beim Vietnamkrieg fand sich nichts von alledem. Die USA gewannen
nicht, also konnte es keine Sequenz geben, die mit vietnamesischen Unter-
werfungshandlungen begonnen hätte. Die Vietnamesen gewannen aber auch
nicht und konnten daher keine Unterwerfung oder gar Kapitulation der USA
fordern, denen dann ,Washingtoner Prozesse' wegen von Kriegstreibern wie
Lyndon B. Johnson, Robert McNamara, Richard Nixon und Henry Kissinger
verübter vorsätzlicher Verbrechen gegen die Menschheit gefolgt wären.
Es besteht immer noch allgemeine Unsicherheit, wie die Situation nach
dem Vietnam-Krieg zu interpretieren ist. Was läßt sich angesichts zweier
unterschiedlicher Drehbücher und der Rolle des Buddhismus in der ostasiati-

98 Das Motiv hinter der sowjetischen Bereitschaft, die Rückkehr Österreichs zur Nor-
malität zu akzeptieren, war die Hoffnung, daß Vereinigung zusammen mit Neutrali-
tät als Modell auch für Deutschland gelten könnte. Hätte Westdeutschland nur ein
Drittel oder ein Viertel der Größe Ostdeutschlands gehabt, wäre dies vielleicht ein
Motiv der Amerikaner und nicht der Sowjets gewesen.
162 Konflikttheorie

schen san fa (drei Lehren, in Vietnam komplettiert durch den Konfuzianis-


mus und den Nationalismus) hier ausmachen?
Wir würden erwarten, daß die Vietnamesen sich wenig um Schuldeinge-
ständnisse scheren, solange die andere Seite nicht auf ihrer Unschuld be-
steht, und ein großes Interesse daran haben, einen Dialog zu beginnen, der
herausfinden sollte, was schiefgegangen ist, und wie die Beziehungen ver-
bessert werden können. Zweifellos würden die Vietnamesen einen solchen
Dialog, wie die anderen drei mahayana-buddhistischen Länder (China, Ko-
rea, Japan) auch, in säkularen Begriffen führen; der buddhistische Aspekt lä-
ge in der Tiefenstruktur, nicht an der Oberfläche. Man würde von uner-
gründlicher "östlicher Weisheit" reden - "unergründlich" allerdings nur für
diejenigen, die kein Interesse am Ergründen haben. All dies würde, solange
die vorgenannte Regel beachtet wird, ohne allen Groll und mit lächelndem
Gesicht geschehen (obgleich man sich vor Augen halten sollte, daß die Se-
mantik, Syntax und Pragmatik des Lächelns im Orient nicht-westlich sind).
Die wesentlichen Bestandteile bleiben die gleichen: viel innerer Dialog (auch
Meditation genannt), viele äußere Dialoge zwischen den Beteiligten.
Was für einen Eindruck würde das alles auf die USA machen? Zunächst
könnten sie die Bitte um Gespräche als Zeichen ökonomischer Verzweiflung
betrachten, sich aber weigern, darauf einzugehen, damit sie nicht "zu Propa-
gandazwecken" mißbraucht werden - aus Angst vor deutlichen Worten.
Wenn die Vietnamesen nicht mit dem Finger auf die USA zeigen und sagen:
"Ihr seid schuldig", wird man das in einem dichotomen Null-Summen-
Diskurs als Zeichen dafür werten, daß die Vietnamesen ihre Meinung geän-
dert haben und die USA nicht mehr als schuldig und sich selbst nicht mehr
als unschuldig betrachten. Die Tausende von Flüchtlingen bestätigen in die-
ser Sicht grundlegende Mängel im sozialistischen Vietnam. Daraus folgt
nicht, daß die USA recht hatten, aber auch nicht, daß die Vietnamesen recht
hatten. Und das feinsinnige Lächeln könnte als Zeichen einer Vergebung
möglicher Untaten der USA betrachtet werden. Anders formuliert, jeder der
Beteiligten interpretiert das gleiche Phänomen innerhalb des je eigenen
Rahmens, und beide bleiben sich so fremd wie eh und je.
Beim Golfkrieg ist die Sache zumindest bisher weniger zweideutig. Es gab
jedenfalls einen eindeutigen Beginn mit der Angriffshandlung der Okkupati-
on Kuwaits durch den Irak am 2. August 1990. Von einem mustergültigen
Ende könnte man sprechen, wäre es nicht nur zum Rückzug aus Kuwait und
zur Kapitulation einiger irakischer Truppeneinheiten, sondern zur Kapitulati-
on des Ba'ath-Regimes generell und zu einem Baghdad-Tribunal gegen Sad-
dam Hussein und einige andere wegen "Verbrechens gegen die Menschheit"
gekommen, gefolgt von der üblichen Japan-Deutschland-Prozedur. Es hätte
sich das Gefühl einer Vollendung der christlichen Gestalt (dt. i. Orig.) des
Konfliktlebenszyklus eingestellt; man hätte das Buch zuklappen können. Die
Versuchung muß enorm gewesen sein.
Konjliktlebenszyklen 163

Betrachten wir nun den Golfkrieg aus einer buddhistischen Perspektive. In


dieser fehlen weder der 2. August 1990 noch der 17. Januar 1991 noch die
zwölf Sicherheitsratsbeschlüsse im allgemeinen und die Resolution 678 ("mit
allen notwendigen Mitteln") im besonderen. Die Konfliktformation weitet
sich aber aus, zu den Seiten nach hinten und nach vorne, verbindet sich mit
weiteren Akteuren und Beteiligten, mit vergangener Geschichte und zukünf-
tigen Konsequenzen: eine viel komplexere Sichtweise als die Schlichtheit des
internationalen Rechts, das auf die irakische Rechtsverletzung (korrekt) an-
gewendet wurde. Einer solchen rückwärts gewandten Sichtweise haben sich
auch Deutschland (Versailles als Aggressionshandlung) und Japan (ökono-
mische Sanktionen des Westens als Aggressionshandlungen) bedient, aber
zwecks Selbstentschuldung und nicht auf holistische Weise; sie haben nur
das herausgesucht, was ihrem jeweiligen Schuld-Budget diente.
Die engste westliche Annäherung an eine buddhistische Konflikttrans-
formation wäre eine multilaterale Konferenz, vorbereitet durch Meditation
und ohne weitere Vorbedingungen, bei der alle Beteiligten um einen Tisch
säßen und alle Fragen auf den Tisch kämen; und bei der Zeit genug wäre, alle
Konflikte des Systems zu artikulieren und zu bearbeiten. Sehr holistisch und
dialektisch, von Reife zeugend, aber selten während eines Konflikts prakti-
ziert.
3 Konflikttransformationen

3.1 Die Formations-ffransformations-lDeformations-


Dialektik
Bei einem Konflikt besteht irgendwo ein Widerspruch, und bei einem Wider-
spruch gibt es irgendwo eine Dynamik. Die taoistische Vorstellung des finl
fang, gemäß der das eine wächst, während das andere sich zurückzieht auf
der Suche nach einem Harmoniepunkt, ist, wie man auch von der Kausalität
sagt, kein Gesetz, sondern die Form eines Gesetzes. 99 Sie hilft uns aber zu-
mindest dabei, den Konflikt als etwas sich ständig Veränderndes zu betrach-
ten, etwas, das immer in Bewegung ist. Der eine mag gerade in Harmonie mit
sich selbst, der andere im Begriff sein, sich nach außen zu öffnen. Wir haben
den Konflikt intellektuell im Griff, wenn wir in der Lage sind, die Konflikt-
formation zu beschreiben, d.h. folgende Frage zu beantworten: Wer sind die
m AkteureIParteien, welche die n Ziele, was sind die Inkompatibilitäten, die
Widersprüche? Die Konfliktformation ist jedoch nie ganz greifbar; während
wir sie beschreiben, finden schon irgend wo Veränderungen statt vor unseren
(inneren und äußeren) Augen.
In welche Richtung gehen sie? Wie wir im vorangegangenen Kapitel be-
tont haben: Die okzidentale Art zu denken (vgl. auch Teil IV, Kap. 2) macht
uns glauben, es gäbe einen Endzustand (dt. i. Orig.), ein letztes Stadium, in
dem der Konflikt entweder gelöst ist oder als hoffnungslos, langwierig, ewig
dauernd, aufgegeben wird. Eine Konfliktlösung kann man als eine neue For-
mation definieren, die (1) für alle Akteure akzeptabel ist, und die (2) von al-
len Akteuren getragen werden kann. Die allernaivste Konfliktbetrachtung
wäre demnach die zu glauben, daß ein Konflikt gelöst ist, wenn sich die Eli-
ten der Konfliktparteien einig sind, und das mit ihren Unterschriften auf ei-
nem Dokument bekräftigt haben, in dem die neue Konfliktformation umris-

99 "Das fang zieht sich, wenn es seinen Höhepunkt erreicht hat, zugunsten des fin zu-
rück; das fin zieht sich, wenn es seinen Höhepunkt erreicht hat, zugunsten des fang
zurück" (Wan Ch'ung). Das ist eine Beschreibung der Beteiligten an einem Wider-
spruch; man nimmt an, daß sie den (ihnen entgleitenden) Harmoniepunkt nicht fin-
den. Es muß betont werden, daß in dieser Formulierung auch der Taoismus etwas
von der westlichen Tendenz besitzt, Widersprüche nur als zwischen zwei Beteiligten
bestehend zu betrachten; selbstverständlich lassen sich generellere Formeln denken.
166 Konflikttheorie

sen ist. Nicht ohne Grund bezeichnet man ein solches "diplomatisches" Do-
kument als einen "Fetzen Papier". Wieso?
Erstens wäre es möglich, daß die Unterzeichner es nicht ehrlich meinen.
Zweitens, auch wenn sie es ehrlich meinen, wo bleiben die anderen Akteure,
wo bleibt das Volk? Drittens, auch wenn die Bevölkerungen einverstanden
sein sollten, wo sind die Stützen und Kräfte, die eine weniger konfliktuöse
Formation (und nicht wieder genau die alte) hervorbringen können? Eine
weniger widersprüchliche Formation (W) ist gut, sie muß aber durch die
richtigen Annahmen und Einstellungen (A) gestützt werden, sonst kann man
davon ausgehen, daß die Konfliktbeteiligten ihr falsches Verhalten (V) wie-
deraufnehmen und sich noch vorhandenem oder neuem Konfliktmaterial
(sprich: Widersprüchen) zuwenden werden. Eine böse Wiedergeburt!
Leider ist eine derartige Naivität weit verbreitet und das besonders unter
Diplomaten, was wahrscheinlich mit dem feudalen Charakter ihrer Institution
zusammenhängt und mit deren Funktion in einem zwischenstaatlichen Sy-
stem, das eindeutig feudale Züge trägt. Aber auch die entgegengesetzte Nai-
vität, nämlich davon auszugehen, daß nur "das Volk" Konflikte lösen kann,
indem es Akzeptanz und Haltbarkeit garantiert, bietet nicht die Lösung. So-
wohl-als-auch bzw. eine doppeigleisige Diplomatie (Elite-Gleis und Bevöl-
kerungs-Gleis, mit wechselseitiger Interaktion) wäre ein viel besseres Rezept.
Wir haben oben auch darauf bestanden, daß die Tragfähigkeit bzw. Nach-
haltigkeit endogen sein, also in der Formation wurzeln muß. Wenn Außen-
stehende, manchmal Vermittler genannt, Zuckerbrot und Peitsche einsetzen,
d.h. die Beteiligten belohnen, wenn diese einer Lösung zustimmen, und be-
strafen, wenn sie das nicht tun, dann kann man kaum von einer wirklichen
Zustimmung und Tragfähigkeit sprechen, es sei denn, man geht davon aus,
daß die "Vermittler" zur Konfliktformation gehören und nicht außerhalb oder
gar "über" ihr stehen. In dem Falle aber sollten sie ihre Ziele klar formulieren
und sie in die Konfliktformation einbringen, die dann zu einer Konfliktde-
formation werden mag.
In den Konfliktlebenszyklen gibt es ohne Zweifel auch Phasen, die man
"Lösungen" nennen kann, insofern sie beide obigen Kriterien annähernd er-
füllen. 1m Prinzip aber ist die Konflikttransformation ein niemals endender
Prozeß. Alte Widersprüche können wiederauftauchen, neue entstehen. Nega-
tive oder - so kann man hoffen - positive Konfliktenergie vom Typ A oder V
wird kontinuierlich der Formation injiziert. Eine Lösung in Form einer sta-
bilen, dauerhaften Formation ist bestenfalls zeitweilig das Ziel. Viel wichti-
ger ist das Erlangen einer Transformationskapazität, d.h. der Fähigkeit, mit
den Transformationen so umzugehen, daß sie nachhaltig und akzeptabel sind.
Der Weg ist das Ziel, sagte Gandhi. Wir könnten sagen: "Der Prozeß ist das
Ziel", und eine stabile Lösung geht in dem Moment wieder verloren, in dem
wir sie gefunden zu haben glauben. Wer meint, alle Widersprüche auflösen
und so die widerspruchs- und überraschungsfreie Gesellschaft schaffen zu
Konflikttransformationen 167

können, wird die größten Überraschungen erleben. Wie Samen unter Asphalt
oder die Radioaktivität unter dem Tschernobyl-Beton werden unterdrückte
Widersprüche anfangen zu sprießen. Es sei denn, die Formation ist tot.
Auf die Gefahr hin, dieses Argument zu oft zu wiederholen: Konflikte
entstehen nicht durch Parthenogenese, aus dem Nichts, ex nihilo, sie lösen
sich auch nicht in Luft auf, erschöpfen sich nicht von selbst und können auch
nicht durch Konflikteuthanasie vernichtet werden. Selbst wenn sich die drei
Gruppen in Bosnien-Herzegowina gegenseitig umbringen, wird der Konflikt,
wie der Holocaust, als Erinnerung weiterleben und Ex-Jugoslawien, Europa,
die ganze Welt transformieren, und zwar zum Schlechteren hin: ein kolossa-
ler Verfall des Karma. Unsere Verantwortung transzendiert die hier und jetzt
bestehenden Formationen. Wir sind an allen Konflikten beteiligt. Wie sie an
uns.

3.2. Kontlikttransformationen: ein erster Überblick

Transformationen finden in der Zeit statt, und Zeit ist chronos und kairos,
gleichmäßiger fluß der physikalischen Zeit und die Wirbel dieses Flusses, in
denen sich die Zeit sich selbst zuwendet und in einem andauernden Jetzt still-
steht, von dem aus sie zu einem neuen kairos springt. Oben in Kapitel 1 sind
fünf Prozesse mit potentiellem kairos-Charakter definiert und beschrieben
worden:
(Des- )Artikulation: komplettes versus beschnittenes Konfliktdreieck;
(Un- )Bewußtmachung: Erhöhung oder Verminderung des Bewußtseins von
A und W;
Komplexijizierung/ . Erhöhung oder Verminderung von AkteurenlZielen;
Simplijizierung:
(Ent- )Polarisierung: Wahrnehmung der Konflikte als elementar (2, 1)/
(1, 2) oder nicht;
(De- )Eskalation: zunehmende oder abnehmende Gewalt auf der V-
Ebene.
Es besteht eine relativ einfache Beziehung zwischen diesen Prozessen: Arti-
kulation und Bewußtrnachung gehören ebenso zusammen wie Polarisierung
und Eskalation, wohingegen die Vorgänge der Komplexifizierung und Simp-
lifizierung eine komplexe Beziehung zu beiden Prozeßtypen haben.
Mit dem Bewußtsein von A und W ist, definitionsgemäß, das Konflikt-
dreieck vervollständigt. Ein Bewußtsein der inneren und äußeren Widersprü-
che und der eigenen Einstellungen zu diesen wird fast unvermeidlich Verhal-
tenskonsequenzen haben, einschließlich der Null-Konsequenz gewollten
Nicht-Verhaltens. Der Konflikt mag einfach zu überwältigend sein, wie Na-
168 Konflikttheorie

tionalitätenkonflikte in Osteuropa während der sozialistischen Periode. Hier


gab es sowohl ein Bewußtsein der Widersprüche wie der eigenen Einstellun-
gen dazu, aber keine verhaltensmäßige Entsprechungen - der Konflikt war
tabu. Als ein weiteres Beispiel für Null-Verhalten, das gleichwohl Verhalten
ist, kann das ungeheure Schweigen über Klassenkonflikte in den USA gelten.
Polarisierung meint die Reduktion einer Konfliktformation auf ihren ein-
fachsten Level, wobei alle m Parteien zwei Lagern zugewiesen und alle n
Themen zu einem Superthema zusammengepackt werden. Alle positiven, ko-
operativen Beziehungen bestehen innerhalb der Lager und alle negativen
zwischen diesen (obwohl es neutrale Beziehungen sowohl innerhalb der La-
ger wie zwischen ihnen geben mag, solange es keine negativen in ihnen oder
positive zwischen ihnen gibt).
Der Kalte Krieg war das klassische Beispiel, mit der unvermeidlichen
Folge, daß Konflikte innerhalb der Lager heruntergespielt, Konflikte zwi-
schen den Lagern überzeichnet wurden und der Inhalt des Konflikts vom
Westen zum Anti-Totalitarismus und vom Osten zum Anti-Imperialismus
vulgarisiert wurde. Selbstverständlich enthalten solche Formeln auch etwas
Wahres. Man steckt die Konfliktformation damit aber in eine Zwangsjacke;
sie wird so zur Konfliktdeformation. Wenn diese dann gelöst oder vielmehr
aufgelöst, d.h. die Zwangsjacke entfernt worden ist, werden die herunterge-
spielten oder unterdrückten Widersprüche wieder an die Oberfläche dringen.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie Konflikte vielerorts, in positivem wie nega-
tivem Sinne, neugeboren werden, wie sie also weder sterben, noch ewiges
Leben haben, noch reinkarniert werden.
Muß Polarisierung unbedingt zur Eskalation führen, d.h. zu mehr Gewalt
auf der V-Ebene? Das ist immer möglich, geschieht aber nicht immer.
Auf individueller Ebene meint Polarisierung kognitive Vereinfachung;
Vieldeutigkeit wird eliminiert und so der Boden bereitet für schwarz-weiß-,
Freund-Feind-Unterscheidungen und entsprechende Gefühle und Wünsche,
die auf Schlechtes für den/die Anderen und auf Gutes für sich selbst zielen -
einfach darum, weil durch Polarisierung das Ich und der Andere deutliche
Gestalt annehmen.
Auf kollektiver Ebene bedeutet Polarisierung eine Simplifizierung der Or-
ganisation, durch die die Lager und die Sache, für die gekämpft wird, defi-
niert werden. Wenn das Denken der Menschen also auf der kognitiven, emo-
tionalen und Willensebene entsprechend vorbereitet ist und ihre Körper
kollektiv organisiert sind, bedeutet das gewiß "stripping for action"loo. Die
Theorie des Wettrüstens als actio-reactio und nicht als Eigendynamik lOl - in-

100 Dieser treffende Begriff (etwa: sich freimachen zum Handeln - Anm. d. Übers.)
stammt von James S. Coleman.
101 Dieter Senghaas hat diese ausgezeichneten Begriffe und die ihnen entsprechenden
Perspektiven in die Friedensforschung eingebracht.
Konflikttransformationen 169

nerhalb jedes Lagers und aus jeweils endogenen Gründen - geht normaler-
weise aus von einer bipolaren Konfliktformation. Wenn das beide Parteien
tun, d.h. wenn es einen (Rüstungs-)Wettlauf gibt, dann wird eine Dialektik
zwischen gegenseitiger Provokation und gegenseitiger Abschreckung wirk-
sam, wahrscheinlich in Form einer Yin/Yang-Beziehung, und das heißt dann,
es wird zu äußerst bedrohlichen Phasen kommen, in denen die Provokation
die Oberhand behält, und zu weniger bedrohlichen Phasen, in denen die Ab-
schreckung vorherrscht. Das ist trivial, aber viele Autoren, die dieses Gebiet
behandeln, scheinen zu vergessen, daß Gewalt entstehen kann, wenn nur ein
Beteiligter stärker provoziert als abgeschreckt wird, wogegen beide Beteiligte
(und nicht nur der jeweils Andere) abgeschreckt werden müssen, damit "das
Gleichgewicht der Macht" den vielzitierten si vis pacem, para hellum-Effekt
haben kann.
Ebenso trivial, aber auch erwähnenswert: Es kann außer um das umkämpf-
te Ziel und die Gewaltvermeidung noch um andere Werte gehen. Selbstver-
ständlich mag ein Saddam Hussein Kuwait gewollt und dazu noch gehofft
haben, dabei ungeschoren davonzukommen; aber aus seiner eigenen Sicht
hätte er an Ehre, Mutbezeugung und Selbstachtung gewonnen, auch wenn
Kuwait und einiges Andere mehr verloren gehen würde. Es ist eine Menge
Indoktrinierung nötig, um unfähig zu sein, sich eine Kultur vorzustellen, in
der die erstgenannten drei Werte die anderen leicht aufwiegen, so daß selbst
die überwältigende Übermacht der "von den USA geführten Koalition" keine
abschreckende Wirkung mehr hat.
Viel wichtiger als diese Trivialitäten, die natürlich die Ideologie des
Gleichgewichts der Macht unterminieren (insbesondere wenn dazu noch
Faktoren wie Masochismus und Fehleinschätzungen sowohl des Selbst als
auch des Anderen berücksichtigt werden),102 ist die Annahme, es gäbe keine
Alternative zur Gewalt (mit den drei möglichen Ergebnissen "gewinnen",
"verlieren" und "Patt"), oder die, es läge keine Gewalt vor, nämlich im Falle
effektiver Abschreckung. Selbstverständlich gibt es noch das riesige tertium
der Gewaltlosigkeit, das unten in Kap. 5 detaillierter untersucht werden soll.
Die Briten waren der Meinung, die indische svaraj (Selbstregierungs)-
Bewegung hinlänglich durch den üblichen kolonialen Staatsterrorismus abge-
schreckt zu haben; Gandhis satyagraha eröffnete einen neuen Handlungsdis-
kurs (inklusive verbaler Handlungen). Der israelische Zionismus vertrat die-
selben Ansichten bezüglich der Palästinensischen Befreiungsbewegung und
war auf die Intifada geistig ebenso unvorbereitet. In beiden Fällen war man
nur von der Bedrohung durch "taugliche, bewaffnete junge Männer" ausge-

102 Für eine Untersuchung einiger der vielen Voraussetzungen, die gegeben sein müs-
sen, damit die Doktrin vom Gleichgewicht der Macht eine gewisse Plausibilität er-
hält, siehe Johan Galtung: "Balance of Power and the Problem of Perception", in:
Essays in Peace Research, Bd. 11, Kopenhagen 1976, S. 38-53.
170 Konflikttheorie

gangen und hatte die Macht von Frauen (im indischen Fall) und von Kindern
(im palästinensischen Fall) und in beiden Fällen die Macht der Gewaltlosig-
keit außer Acht gelassen. Kurzum, die Annahme, daß sich das Handlungsuni-
versum in gewaltsamen Handlungen und Nicht-Handlungen erschöpft, ist
ebenso falsch wie die Annahme, politische Gewalt müsse die Gestalt einer
räumlich aneinanderstoßenden "Front" annehmen, zeitliche Kontinuität be-
sitzen (traditionelle Kriegsführung) und könne nicht in Form punktueller
Aktivität - mal hier, mal dort (Terrorismus) - auftreten.
Polarisierung ist jedoch wahrscheinlich eine notwendige, wenn auch keine
hinreichende Bedingung für Eskalation, und Eskalation eine hinreichende,
wenn auch nicht notwendige Bedingung für Polarisierung.
Ob eine Komplexifizierung/Simplifizierung stattfindet, hängt offensicht-
lich davon ab, wie ein Konflikt wahrgenommen wird; wir stellen ihn hier dar

°
als Anzahl von Akteuren, m, Anzahl von Themen, n, und insbesondere als
Komplexität, K, definiert als K = m x n -1; wobei gelten soll: m > und n >
° bezüglich der Akteure und Werte; m = 0, wenn es sich nur um Parteien,
und n = 0, wenn es sich nur um Interessen handelt.
Wir hätten auch die einfache Formel K = m+n verwenden können, als die
Anzahl von Posten, die die Beteiligten als absolutes Minimum im Kopf be-
halten müssen, um sich ein Bild von der Konfliktformation machen zu kön-
nen. Die Parteien selbst müssen aber auch in Bezug zu den Themen gesetzt
werden, um dem Konflikt einen Inhalt zu geben, mit anderen Worten, die
Widersprüche zu benennen; das bedeutet, daß der kognitive Plan eine (m,n)
Matrix mit m x n Eintragungen ist (z.B. ,,1 ", wenn Thema Nr. j für die Partei
Nr. i relevant ist, ,,0", wenn das nicht der Fall ist). Das Multiplikationspro-
dukt ist also ein besserer Indikator des geforderten geistigen Einsatzes. Wir
subtrahieren dann 1, um zwischen komplexen Konflikten (K > 1), elementa-
ren Konflikten (K = 1), Frustrationen (K = 0; ein nichtrealer Konflikt) und
strukturellen Konflikten (K < 0; es gibt entweder keine Akteure oder keine
Werte oder beides nicht) unterscheiden zu können.
Das Problem läßt sich nun, wie in Kap. 1 dieses Buches begonnen, fol-
gendermaßen erörtern. Es gibt Skylla und Charybdis, die vermieden werden
müssen. Die Skylla besteht in zu großer Komplexität. Man kann darüber
streiten, wo die Obergrenze für K liegt, d.h. für eine effektive kognitive Ver-
arbeitung durch den menschlichen Verstand (bzw. durch den Verstand eines
Menschen, der einen Computerausdruck auswerten und das Programm kon-
trollieren soll). In der psychologischen Theorie neigt man dazu, K = 7 als
Obergrenze festzulegen, d.h. mund n liegen bei, sagen wir mal, 3 oder 4,
zumindest aber nicht viel höher (wenn wir uns der additiven Formel bedie-
nen).
Die Charybdis besteht in der Reduzierung auf K = 1; das ist eine zu gerin-
ge Komplexität. Das wäre eine Polarisierung, und auf die damit verbundenen
Gefahren wurde oben hingewiesen. So wie eine zu große Komplexität den
Konflikttransformationen 171

Intellekt überfordert, ist eine zu geringe Komplexität eine Unterforderung.


Wenn Eskalation jedoch eine hinreichende Bedingung für Polarisierung ist,
dann kann man davon ausgehen, daß die Akteure, je intensiver der Konflikt
ist, desto eher dazu tendieren werden, direkt auf die Charybdis zuzusteuern;
womit sie die Spannung erhöhen und sich selbst mögliche Auswege einer er-
folgreichen Konflikttransformation versperren.
Die Komplexifizierung hilft, der Charybdis des Reduktionismus zu ent-
kommen; die Simplifizierung hilft, der Skylla einer zu großen Komplexität
zu entkommen. Anders ausgedrückt: Versuche, das zu Komplexe einfacher
machen, aber im Bewußtsein der Gefahren einer Polarisierung! Da weiteres
Konfliktmaterial immer vorhanden sein wird, ebenso wie auch zusätzliche
Akteure und weitere Themen, muß eine Komplexifizierung also keineswegs
künstlich sein.

Zwei Beispiele aus der jüngsten Weltpolitik:


1974 fand in Caracas, Venezuela, eine wichtige Sitzung der United Nati-
ons Conference on the Law of the Sea, UNCLoS, statt. 103 Etwa 5000 Dele-
gierte aus ca. 150 Ländern setzten sich mit einem Katalog von etwa 150
Themen auseinander. Selbstverständlich konnte niemand bei einer derartigen
kognitiven Komplexität den Überblick behalten: 300 (oder 298) nach der
Additionsformel, 22.500 (oder 22.499) nach der Multiplikationsformel. Hier
hilft auch die Datenverarbeitung nicht, denn irgend jemand muß ja die Com-
puterausdrucke auswerten; desweiteren besitzt jedes einzelne Thema für je-
des einzelne Land eine einzigartige Bedeutung.
Eine gewisse Simplifizierung war unverzichtbar. Die kognitive Lösung
bestand in einer Einteilung der Akteure (Länder) und Themen (Streitfragen)
in jeweils drei Gruppen: Länder ohne Zugang zum Meer, Küstenländer, In-
seln (keine Küste, Küste, nur Küste) einerseits, territoriale Grenzen und
Rechte, Rechte auf den Meeresboden und darunter sowie militärische Fragen
andererseits. Bei drei Kommissionen und einer Gruppeneinteilung nach Län-
dern mit ähnlichen Interessen konnte die Komplexität auf 6 (4) im additiven
bzw. 9 (8) im multiplikativen Verfahren vereinfacht werden.
Beim zweiten Beispiel handelt es sich um eine erfolgreiche Komplexifi-
zierung: die Konferenz für Sicherheit und Kooperation in Europa (KSZE) in
Helsinki 1972 (Vorbereitungsphase) und 1973. Der Kalte Krieg war durch
Reduktionismus auf die polarisierte (2,1 )-Formel simplifiziert worden: Osten
(Sowjetunion/WVO), Westen (USAINATO) und ein Thema: Freiheit/Fa-
schismus, je nachdem, wer gerade redete. Diese Art von Propagandasprache

103 Zur Analyse des Verfassers, der Beobachter der norwegischen Delegation war, siehe
dessen "Human Needs, National Interest and World Politics", in: Peace Problems:
Some Case Studies. Essays in Peace Research, Bd. V, Kopenhagen 1980, S. 361-
380.
172 Konflikttheorie

aufzulockern, war eine äußerst wichtige Aufgabe, die in den kältesten Jahren,
vor Stalins Tod und in der Zeit der Angriffe auf Ungarn und die Tschecho-
slowakei, wahrscheinlich nicht durchführbar gewesen wäre. Zwei Methoden
gab es:
Erstens, die Einführung der NeutralenIBlockfreien Länder (NN: Neu-
trallNonaligned Countries) als dritte Gruppe. Sie waren natürlich mehr oder
weniger NN. Zwischen Finnland und der Sowjetunion bestand seit 1948 ein
Pakt, Jugoslawien hatte durch den Balkanpakt von 1953 mit Griechenland
und der Türkei enge Verbindungen zum Westen, der es, auch militärisch, un-
terstützte/ 04 Schweden war logistisch in den Westen integriert, die Schweiz
bespitzelte jeden, der im Verdacht stand, auch nur die geringsten Sympathien
für den Osten zu hegen,IOS usw. Trotz alledem hatten sie als Versammlung
einige unabhängige Standpunkte oder Nicht-Standpunkte, so daß man von
drei Gruppen sprechen konnte.
Zweitens die Auffächerung eines weitgespannten Problemkatalogs in drei
"Körbe": militärisch-politische Fragen (darunter Grenzprobleme), ökonomi-
sche Fragen (unter anderem Joint Ventures) und andere Themen (unter ande-
rem die Menschenrechte). Das Ergebnis war eine Komplexität, so hoch wie
im ersten Beispiel, diesmal aber herbeigeführt durch Komplexifizierung. Und
das Resultat hatte zweifellos für den Kalten Krieg einen gewissen Auftauef-
fekt: Grenzverläufe wurden bestätigt, es entwickelten sich Joint Ventures und
ein Prozeß, die Menschenrechte zu verwirklichen, kam im Ostblock langsam
in Gang. Die Widersprüche wurden ebenso abgeschwächt wie A und V auf
allen Seiten.

3.3 Konflikttransformation bei strukturellen Konflikten;


K<O
In einem strukturellen Konflikt wird, per definitionem, strukturelle Gewalt
ausgeübt. Der Grundwiderspruch/-inhalt des Konflikts liegt in der Vertikal i-
tät der Struktur, im politischen Fall in der Unterdrückung (von Freiheit) und
im ökonomischen Fall in der Ausbeutung (des Wohlbefindens). Diese repres-
sive/ausbeuterische Struktur wird dann von weiteren strukturellen (d.h. un-
abhängig von bestimmten Absichten wirkenden) Vorkehrungen geschützt.
Genauer formuliert durch

104 Vgl. z.B. Michael W. Weitmann: "Zwischen Orient und Okzident: Die Geschichte
der Konfliktregion Jugoslawien", in: Rudolf H. Dittel (Hg.): Ex-Jugoslawien: Ver-
such einer Bestandsaufnahme, Königsbrunn 1993, S. 56.
105 Z.B. den Autor dieser Zeilen, ein weiteres Opfer der "Fichocrates" jenes Landes.
Konflikttransformationen 173

Verhinderung von Bewußtseinsbildung, Bewußtmachung: Penetrierung,


von oben erfolgende Konditionierung des Denkens; Segmentierung, wo-
durch die unten Stehenden die Realität nur begrenzt wahrnehmen können;
Verhinderung der Mobilisierung, des Zusammenschlusses der unten Ste-
henden: Fragmentierung, Auseinanderbringen der unten Stehenden; Mar-
ginalisierung, ihre Trennung vom Rest der Bevölkerung.
Dabei sind Bewußtmachung und Mobilisierung genau die Vorgänge, die nötig
sind, um die Interessen in einem strukturellen Konflikt in bewußt vertretene
Werte umzuwandeln und eine nicht-organisierte, sozusagen formlose Partei (in
einem strukturellen Konflikt) zu einem Akteur (in einem Konflikt) zu machen.
Folglich müssen alle vier Präventionsmaßnahmen überwunden werden, damit
man an die grundlegenden Fragen der Repression und Ausbeutung kreativ her-
angehen kann. Die Frage ist, wie so etwas zuwege gebracht werden kann.
Beiläufig sei erst einmal bemerkt, daß wohlwollendes Handeln von oben
zwecks Abschwächung von Repression und Ausbeutung notwendig, aber
nicht hinreichend sein kann. Eine menschenfreundlichere Struktur, in der die
vier Präventionsmodi immer noch intakt sind, bleibt gewalttätig. Wenn diese
vier neuen Formen der Repression da sind, kann es wieder zur Ausbeutung
kommen, z.B. durch eine weitverzweigte Wohlfahrtsstaatsbürokratie statt
durch eine gierige Oberschicht. Das wäre zwar eine Verbesserung, aber, wie
Kritiker sagen, immer noch sehr vertikal.
Hier nun vier Schritte zur Überwindung struktureller Gewalt:
Konfrontation, das Auswählen eines Problems, in dem der allgemeine Kon-
flikt zum Ausdruck kommt, also z.B. das "Quentehen Salz" für Gandhi im
berühmten Salzmarsch (nach Dandi in Gujarat am 5. April 1930), wodurch
das Problem und das gewünschte Ergebnis klar formuliert werden.
Kampf zur Überwindung von Repression und/oder Ausbeutung. Die Frage
ist, wie dieser Kampf vor sich gehen sollte. Die Antwort der Friedensfor-
schung ist klar: ohne Gewalt, nach der allgemeinen Formel "Frieden mit
friedlichen Mitteln". Das besondere Talent eines Gandhi bestand genau dar-
in, eine Alternative zu bieten zu zwei krassen Gegensätzen: der Unterwürfig-
keit (gegenüber Repression und Ausbeutung) und dem gewaltsamen Kampf,
diese zu überwinden - ein Kampf, der im besten Falle zu schrecklichen Ver-
lusten auf beiden Seiten und zu Racheforderungen führen, langandauernden
Haß säen, neue Widersprüche wegen des Einsatzes von Gewalt entstehen las-
sen würde und im schlimmsten Falle dazu noch verloren werden könnte. Der
Herr (dt. i. Orig.) verfügt zusätzlich zu der seiner Position an der Spitze ent-
sprechenden strukturellen Macht auch über die Macht seiner Ressourcen,
über Zuckerbrot und Peitsche zur Belohnung und als Strafe.
Überdies, und das ist von grundlegender Bedeutung: "Gewinnen" im Sin-
ne einer Umkehrung der Verhältnisse, d.h. das Vertauschen der Rollen von
174 Konflikttheorie

Herr und Knecht (dt. i. Orig.), ist weder notwendig noch wünschenswert. Das
Ergebnis wäre nach der Unterdrückung des Gewalttraumas ein neuer struk-
tureller Konflikt. Camus sagt, er sei mit dem Knecht solidarisch, solange die-
ser Knecht bleibt; danach ergreife er für den neuen Knecht Partei. Das glei-
che kann der Friedensforscher sagen, und zwar aus dem einfachen Grunde,
weil ein Konflikt nur gelöst werden kann, wenn alle Beteiligten der Überzeu-
gung sind, daß sie den/die Anderen nicht zwingen können, sich zu unterwer-
fen. Gewaltlosigkeit, wie die Intifada der Palästinenser, hat diesen Willen der
Bevölkerung Briten und Israelis deutlich gemacht. 106
Entkopplung, das Kappen der strukturellen Bande mit dem Repressor
und/oder Ausbeuter. Das ist Gandhis berühmte Nicht-Kooperation; man soll-
te sich aber klar machen, daß er immer der Meinung war, die Verbindung
zum Menschen auf der anderen Seite - im Gegensatz zum Inhaber einer
strukturellen Position - müsse aufrecht erhalten werden (um einen Dialog zu
beginnen oder weiterzuführen). Es geht weniger darum, den Herrn zu treffen
und ihm zu schaden, indem man ihm (gewöhnlich handelt es sich um einen
Mann) die strukturelle Macht und die materiellen Güter nimmt und ihm die
Unterwürfigkeit versagt, die ihm strukturell von unten zufließen. Der eigent-
liche Zweck ist es, für Autonomie zu sorgen und die Fähigkeit zur Selbstän-
digkeit und Autonomie bei den unten Stehenden zu entwickeln. Damit er-
reicht man, daß diese weniger unterdrück- und ausbeutbar werden, und ver-
deutlicht, daß diejenigen, die an der Spitze stehen, sich dort nicht halten kön-
nen: Ermächtigung, mit einem Wort.
Wiederankopplung, Entkopplung ist langfristig kein Ziel. Auf lange Sicht
geht es darum, eine horizontale Struktur zu schaffen, in der Menschenrechte
an die Stelle der Repression, Gleichheit an die Stelle der Ausbeutung, Auto-
nomie an die Stelle der Penetration, Integration an die Stelle der Segmentie-
rung, Solidarität an die Stelle der Fragmentierung, Partizipation an die Stelle
der Marginalisierung tritt. Worte, Wortpaare. Nur durch Taten kann man das
alles erreichen. Entkopplung dient dazu, diese positiven Strukturen von unten
aufzubauen, Wiederankopplung dient dazu, neue, umfassendere, weniger
gewalthaltige Strukturen zu schaffen.
Derlei ist zwischen den ehemaligen Kolonialmächten und deren Kolonien
immer noch nicht erreicht worden. Die Repression von oben ist zwar redu-

106 Die Intifada ("Abschütteln") wird im Westen meist mit Steinewerfen assoziiert, was,
wenn damit auch nicht immer beabsichtigt wird, jemanden zu treffen, eindeutig ge-
walttätig ist, zumindestens als Ausdruck der Körpersprache; das gilt auch für die das
Werfen begleitenden Worte. Die Intifada bedeutet jedoch sehr viel mehr: General-
streik, geschlossene Läden, eine allgemeine Einstellung und ein Verhaltens syndrom,
das die volonte generale des palästinensischen Volkes sehr gut widerspiegelt. Siehe
Johan Galtung: Nonviolence and IsraellPalestina, Honolulu, HI 1989, S. 61-72:
"Intifada: The Palestinian Fight for Liberation".
Konflikttransformationen 175

ziert worden. Die ökonomische Ausbeutung jedoch könnte sogar unter dem,
was Kwame Nkrumah "Neokolonialismus" nannte, zugenommen haben. Und
die weiteren vier Kriterien bestehen nach wie vor. Kurz gesagt, die Therapie
für pathologische Strukturen ist ein langfristiges Problem und nicht blitzartig
zu lösen. Und Entkopplung ist nur ein Schritt.
Interessanterweise haben die meisten Menschen einen solchen Prozeß
durchlaufen und sind, ohne es selbst zu wissen, Experten für die Transforma-
tion struktureller Konflikte: während der Pubertät nämlich, ob man diese nun
gesellschaftlich oder biologisch definiert. Eine Familie ist nicht immer re-
pressiv und/oder ausbeuterisch. Aber gewiß konditioniert sie das Kind für
den Rest seines Lebens - eine gigantische Gehirnwäsche, bei der durch mas-
sive Beeinflussung eine nationale Gruppenidentität entsteht. Wie viele Eltern
versuchen denn aktiv, ihre Kinder anderen Sprachen und Kulturen als den ei-
genen auszusetzen und ihnen damit eine weitreichendere Kompetenz zu ge-
ben, Wahlmöglichkeiten und eklektische Kombinationen inbegriffen? Wie-
viele Eltern geben ihren Kindern einen vollständigen Einblick in die Fami-
liensituation anstelle ausgewählter, segmentierter, flüchtiger Einblicke?
Weithin werden darüber hinaus Geschwister durch Mechanismen der Bin-
dung an die Eltern gegeneinander ausgespielt in ihrem Kampf um Aufmerk-
samkeit, Liebe und materielle Dinge. Dazu kommt, daß sich die Eltern oft
entziehen und eher unter sich beraten statt im (Familien-)Plenum.
Die Pubertätsrevolte kann individuell, kollektiv im Verbund mit Geschwi-
stern oder im Kollektiv mit anderen Jugendlichen erfolgen. Ein Informati-
onsaustausch findet in jedem Falle statt. Individuelles Bewußtsein entsteht
durch Konfrontation; fast jeder kennt das Türenknallen als hörbaren und den
trotzigen Gesichtsausdruck als visuellen Indikator hierfür. Das neue Bewußt-
sein ist oft Spiegel des elterlichen Bewußtseins, indem es als dessen Negation
auftritt. Gleichzeitig werden horizontale Bindungen zu anderen in der glei-
chen Lage aufgebaut (Jugendgruppen, "Banden"); es entsteht eine jugendli-
che Subkultur, der sich die Jüngeren anschließen, und die die Älteren wieder
verlassen. Es entstehen umfassendere Betrachtungsweisen der Wirklichkeit,
gesellschaftliche Bühnen werden ohne elterliche Anleitung oder Hilfe er-
obert. Eine neue Generation ist entstanden.

3.4 Konflikttransformation von Frustrationen; K = 0

Wie erwähnt, sind Frustrationen konzeptionell an den Rändern von Konflik-


ten angesiedelt. Das grundlegende Merkmal ist vorhanden: Es gibt ein Ziel,
und etwas, das den Zugang dazu blockiert, etwas, das "im Wege" ist. Es gibt
aber keine Bemühungen, andere Ziele zu erreichen, eigene (Dilemma) oder
Ziele anderer (Disput). Wie kann man einen solchen Zustand ändern?
176 Konflikttheorie

Dies hängt natürlich davon ab, um welche Art Ziel und welche Art von
Blockierung es sich handelt. Drei allgemeine Formeln gibt es jedoch, die
auch für die allgemeine Konflikttransformationstheorie gelten.
Transzendenz: Die Blockierung wird überwunden, das Ziel erreicht, wenn
auch vielleicht in etwas abgewandelter Form. Ein Grund dafür kann der sein,
daß die Blockierung nicht ganz so massiv war, wie ursprünglich vermutet,
ein anderer, daß der Akteur im Besitz verborgener Ressourcen war, ein drit-
ter, daß er das Ziel neu zu definieren vermochte. Wenn ein Mensch, der auf
dem Nordpol steht, sich 20 cm weiter bewegen soll, aber nicht in Richtung
Süden, dann entsteht eine Frustration, bis er darauf kommt, daß er diese Zen-
timeter ja springen kann. Er hat dann eine vertikale Körperbewegung ge-
macht; die wichtigste Bewegung erfolgte aber auf geistiger Ebene und be-
stand in einer Erweiterung des Paradigmas, unter das die Frustration fiel. 107
Der Kompromiß: Die Ansprüche werden herabgesetzt, das Ziel wird so redu-
ziert, daß es erreichbar wird. Wenn das Ziel eine gehobenere gesellschaftli-
che Stellung ist oder Macht, Reichtum, Ruhm (oder all dies zusammen),
müssen die meisten Menschen irgend wann im Verlauf ihres Lebens einen
Komprorniß eingehen; das nennt man dann "anfangen, realistisch zu den-
ken".
Der Rückzug: Das Ziel wird einfach aufgegeben, Z.B. weil man meint, es sei
die Mühen nicht wert ("saure Trauben"), und in die tieferen unterbewußten
Schichten der Psyche verbannt (aus denen es dann zu einem späteren Zeit-
punkt wieder auftauchen kann, und dann mit Macht); oder es gelingt, das
Ziel erfolgreich zu eliminieren.
Diese drei sind Rezepte für Lebenskünstler, wenn man sie kombiniert, und
für Lebensstile, wenn man sein Leben nur um eine einzige Formel herum
baut. Der kreative Mensch folgt der Transzendenz als Formel, der angepaßte
dem Komprorniß und der scheue/feige/gedemütigte/einsame dem Rückzug.
Nur auf eine Karte zu setzen, könnte sich jedoch als kontraproduktiv erwei-
sen.

3.5 Konflikttransformation für elementare


Akteurskonflikte ; K =1
Gehen wir davon aus, daß strukturelle Konflikte soweit transformiert worden
sind, daß Interessen zu Werten und Beteiligte zu Akteuren geworden sind,

107 Das nennt man extra-paradigmatisches Denken; Edward de Bono nennt es "laterales
Denken" (in seinem Buch Lateral Thinking, London 1970 und New York 1970).
Konflikttransfonnationen 177

und gehen wir weiter davon aus, daß der Akteur (zu Recht oder Unrecht) der
Meinung ist, daß das Erreichen jenes Ziels (als Wert = bewußt angestrebtes
Ziel) durch ein anderes eigenes oder ein von anderen angestrebtes Ziel blockiert
ist, dann befinden wir uns im Bereich elementarer Akteurskonflikte. Wie schon
erwähnt, gibt es elementare Konflikte zwischen Akteuren hauptsächlich in
Lehrbüchern (wie hier) und kaum im wirklichen Leben. Wirkliche Konflikte
sind gigantische Konfliktmoleküle aus Dilemmata und Disputen, die oft ein un-
glaublich hohes Komplexitätsniveau besitzen. Wenn wir aber davon ausgehen,
daß sie bei ihrer Transformation einen gewissen Simplifizierungsprozeß durch-
laufen, dann werden elementare Konflikte realistischer, als Approximationen.
Und komplexe Konfliktmoleküle können bis zu einem gewissen Grad als aus
elementaren Konfliktatomen zusammengesetzt betrachtet werden, wodurch es
notwendig wird, deren Transformation zu durchschauen.
Hier nun eine elementare graphische Darstellung elementarer Konflikte:

Abbildung 2.4: Basisdiagramm für elementare Konflikttransformation


A2 Z2
[4,5] [1] Transzendenz,
Ausweitung, Wonnepunkt
Vertiefung
[2] Komprorniß

[3] Rückzug Al, ZI


[4,5]
Ausweitung,
Vertiefung

In diesem Diagramm wird eine Konfliktformation mit zwei Akteuren, Al


und A2, und zwei Zielen, Zl und Z2 (Al, A2; Zl, Z2) dargestellt. Wenn Al
= A2 =A ist, dann ist die Formation ein Dilemma (für A; wenn dazu noch Zl
= Z2 ist, dann handelt es sich um eine Frustration), wenn nicht, handelt es
sich um einen Disput; wenn dann Zl = Z2 = Z ist, geht es beim Disput um
das gleiche umkämpfte Ziel ("Mein Bruder und ich sind uns in einer Sache
einig, wir wollen beideMailand.. ).MankanndasDiagrammverwenden.um
eine Trajektorie zu ziehen, d.h. um die Geschichte der Konfliktformation
nachzuvollziehen. Die allgemeine Hypothese lautet, daß die fünf angezeigten
Punkte gute Kandidaten für ein zeitweiliges Gleichgewicht sind, in dem Sin-
ne, daß Akzeptanz und Tragfähigkeit erreicht werden können, wobei aber
darauf hingewiesen werden muß, daß keine Lösung dauerhaft sein kann; da-
her auch der Begriff Transformation. Fast immer werden Konfliktreste in den
A-, V- oder W-Ecken des Konfliktdreiecks übrigbleiben, und diese Reste
werden sich an benachbarte Konfliktformationen heften, auch an Moleküle,
von denen die Konfliktatome Teile sind.
178 Konflikttheorie

An dieser Stelle muß auch vor einer Terminologie gewarnt werden, die im
US-Konfliktjargon einen gewissen Stellenwert hat: daß man die Punkte [1],
[3], [4], [5] als "gewinnen, gewinnen; verlieren, verlieren; gewinnen, verlie-
ren oder verlieren, gewinnen" kennzeichnet. Erstens sind diese Begriffe me-
chanistisch und weisen überhaupt nicht auf die darunter verborgenen Prozes-
se hin. Zweitens - was noch wichtiger ist - suggerieren sie etwas anderes,
nämlich daß ein Konflikt ein Spiel ist, wie z.B. in dem Konfliktdiskurs, der
als "Spieltheorie" bekannt ist (ursprünglich aus der Theorie und Praxis der
U-Boot-Kriegsführung entwickelt). Diese Terminologie wird den Problemen
nicht gerecht; sie vermittelt weder das Gefühl, es gehe um Leben und Tod,
noch bekommt man einen Eindruck von der Intensität des Engagements.
Stattdessen wird eine Gesellschaftsspielen angemessene Geschicklichkeit
aufgeblasen zur Metapher für existentielle Problemlagen, so wie Nachrichten
in den Massenmedien zur Unterhaltung werden (und dies nicht zufällig im
sei ben Land).108
[1] Transzendenz ist das Ergebnis, das mit dem stolzen Titel "kreative Kon-
flikttransformation" belegt werden kann. Etwas Neues, sui generis, gewöhn-
lich Unerwartetes, ist durch diesen Prozeß entstanden, d.h. man hat vom po-
sitiven Aspekt eines Konflikts Gebrauch gemacht, von der Herausforderung,
den zugrunde liegenden Widerspruch zu transzendieren (daher der Ausdruck).
Beide Ziele sind erreicht worden, wenn auch vielleicht in leicht abgewandel-
ter Form. Alle sind glücklich. Schlüsselwort: Kreativität.
[2] Ein Kompromiß ist herbeigeführt worden, wenn sich die Beteiligten hin-
sichtlich beider Ziele mit weniger als dem ursprünglichen Zielinhalt zufrie-
dengeben. Schlüsselwort: Mäßigung.
[3] Rückzug bedeutet, daß man beide Ziele aufgegeben hat, für immer oder
für eine gewisse Zeit, durch Erweiterung des Zeithorizonts. Schlüsselworte:
Apathie, Beharrlichkeit.
Diese drei Ergebnisse sind symmetrisch und meist durch ein gewisses Maß
an kooperativer Steuerung des Prozesses der Zielsuche zustande gekommen;
durch innere Dialoge (bei Dilemmata) und/oder äußere Dialoge (bei Dispu-
ten). Alle drei befinden sich auf der Hauptdiagonalen des Diagramms und
zeugen eher von Harmonie denn von Disharmonie (da sie symmetrisch sind,

108 Auf der anderen Seite hilft die Spieltheorie, wenn wir über die Terminologie hin-
wegsehen bzw. (wie hier geschehen) einen anderen Diskurs einführen, sehr dabei,
seine Gedanken über einen Konfliktprozeß zu ordnen. Jeder Diskurs kann miß-
braucht werden. Wie die Unmenge an Literatur über das Gefangenendilemma zeigt,
kann die Spieltheorie auch zur Klärung von Kooperationsproblemen genützt werden.
Als Mittel der KonfliktIösung wird sie jedoch wohl viel zu sehr gepriesen. Vgl. Ri-
chard B. Braithwaite: Theory ofGames as a Toolfor the Moral Philosopher. An in-
augurallecture delivered in Cambridge on 2 December 1954, Cambridge 1955.
Konflikttransformationen 179

ist es egal, was [4] oder [5] jeweils bedeuten würde). Die anderen beiden
zeugen von Disharmonie und bieten zwei Interpretationsmöglichkeiten.
Erstens sind das die Ecken, in denen sich einer durchsetzt und der andere
nachgibt, z.B. indem er die Fähigkeit oder Motivation des anderen Akteurs,
das Ziel weiter zu verfolgen, eliminiert. Die Sache ausfechten ist oft die ein-
zige Alternative zum Komprorniß im Konflikttransformationsrepertoire vie-
ler Menschen. Schlüsselwort: Gewalt (nicht friedlich).
Zweitens kann es jedoch in diesen Ecken sowohl Akzeptanz als auch
Tragfähigkeit geben, wenn für eine gewisse Kompensation gesorgt wäre. Für
manchen kontraintuitiv, könnten doch andere Konflikte genutzt werden, und
zwar durch Ausweitung, wenn mehr Akteure, und durch Vertiefung, wenn
mehr Streitfragen eingebracht werden, oder durch beides. Schlüsselworte:
erhöhte Komplexität.
Wenden wir uns nun vier Illustrationen dessen zu, was Transzendenz,
Komprorniß, Rückzug und Kompensation in der Praxis bedeuten könnten -
zwei Disputen und zwei Dilemmata, zwei pädagogisch, zwei realistisch ori-
entiert.
Erste Disput-Illustration: zwei Kinder, eine Apfelsine lO9
Die Kinder können natürlich eine Entscheidung mit Hilfe roher Gewalt
herbeiführen, und dies Ergebnis kann akzeptabel und nachhaltig sein, wenn
in der betreffenden Kultur diese Gewalt als Entscheidungsmechanismus ak-
zeptiert ist. Die meisten Kinder aber kämen sicherlich leicht zu einer Kom-
prornißlösung, indem sie die Apfelsine schälen und die Stücke aufteilen, oder
indem sie die Apfelsine aufschneiden und die beiden Hälften auspressen. In
beiden Fällen könnten sie gemeinschaftlich die Teile verwerten, nach der
bewährten Formel: "Du teilst auf und ich suche mir meinen Teil aus".
Die Transzendenz ist ein wenig anspruchsvoller: Man verwendet die Ker-
ne, um Apfelsinenbäume zu pflanzen, um dann zur gegebenen Zeit gemein-
sam die Früchte zu ernten. Eine weitere Möglichkeit wäre, die Schalen zum
Backen von Kuchen zu verwenden, die man dann gemeinsam verzehrt oder
verkauft und den Profit daraus teilt.
Um diese Resultate zu erreichen, muß man handeln. Beim Rückzug ließe
man die Apfelsine einfach liegen, als Orange an sich, nicht für mich (dt. i.
Orig.). Das wäre vereinbar mit einer anderen Art, die Apfelsine zu konsumie-
ren: nämlich mit den Augen statt mit dem Mund; in diesem Fall genösse man
dann deren ästhetische Eigenschaften, gemeinsam oder parallel (dies ist ein

109 Mein Interesse für dieses Beispiel wurde während eines Aufenthaltes als Gastprofes-
sor in Havanna, Cuba 1972, geweckt. Es ging um Experimente, in denen die Hypo-
these getestet wurde, nach der Kinder, die in privaten Familien aufgezogen werden,
zu asymmetrischen Ergebnissen, und Kinder, die in sozialistischen, öffentlichen
Kindergärten aufgezogen werden, zu kooperativen Ergebnissen kämen.
180 Konflikttheorie

häufig erwähntes Resultat, wenn man das Apfelsinen-Beispiel im Orient


bringt).
Dann gibt es noch die Möglichkeit der Ausweitung: Es kommt ein drittes
Kind hinzu, A3, mit dem beide in Konflikt stehen. Al gibt A2 die Apfelsine
und geht davon aus, daß A2 A3 nachgeben wird und A3 Al, wodurch alle
zufrieden wären. In einem Prozeß der Vertiefung führten Al und A2 einen
weiteren Zankapfel ein. Einer von beiden gibt in diesem Fall nach und be-
kommt als Kompensation die Apfelsine oder vice versa: bekommt die Ap-
felsine und gibt dann nach.
Zweite Disput-Illustration: IsraellPalästina llO
Al und A2 sind Israel und Palästina, Z ist das umkämpfte Gebiet östlich
des Mittelmeers, dessen legitimen Besitz die Israelis reklamieren, weil sie
nach ihrer Theologie das Auserwählte Volk im Gelobten Land sind, und die
Palästinenser, weil sie vor den Israelis da waren.
Offensichtlich wäre eine Zwei-Staaten-Lösung (wie Z.B. vom Palästinen-
sischen Nationalrat in seiner Resolution vom 15. November 1988 vorge-
schlagen) ein Komprorniß, durch den deutlich würde, daß ein Komprorniß
nicht unbedingt ein 50-50-Verhältnis bedeuten muß, sondern auch 70-30
oder 90-10 sein kann, nur nicht 100-0. Ein Rückzug würde bedeuten, daß
beide Beteiligten ihre Ansprüche aufgeben und das Gebiet Dritten (histo-
rische Beispiele wären in diesem Falle das Römische Reich, die Seldschuken,
die Ottomanen, der Völkerbund/die Briten, die UNO/die Briten) überlassen
würden.
Was wäre hier die konkrete Interpretation von Transzendenz? Offensicht-
lich ginge es nicht um zwei Fälle von Selbstregierung, sondern um einen Fall
von "Gemeinschaftsregierung"lII. Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten
zwischen dem Kompromiß- und dem Transzendenz-Punkt der vorigen Tabel-
le. 1I2 Wenn der Komprorniß in einem dissoziativen, "anarchischen" System
bestünde, dann wäre ein Beginn die assoziative Kooperation, aufgebaut auf
Verträgen zwischen Israel und Palästina (was, wohlgemerkt, die Unterstel-
lung eines unabhängigen Palästinensischen Staates beinhaltet, wären wir
doch sonst weiterhin in den falschen Ecken der Abbildung 2.4); dann käme

110 Für weitere Details siehe die erste Version hiervon in Johan Galtung: "The Middle
East and the Theory of Conflict", in: Essays in Peace Research, Bd. V, Kopenhagen
1980, S. 77-116 (erstmalig 1971 im Journal 0/ Peace Research veröffentlicht), sowie
die zweite Version, in: ders. Solving Conflicts, Honolulu, HI 1989, S. 37-57: "The
Middle East Conflict".
111 Man beachte, wie plump dieses Wort im Gegensatz zu "Selbstregierung" klingt (im
eng!. Original: "together-rule" vs. "self-rule" - Anm. d. Übers.). Die Sprache wird
noch viel Zeit brauchen, um sich Friedens- und Konfliktstudien anzupassen; bis man
z.B. von "Frieden" im Plural (und nicht nur von Kriegen und Konflikten) sprechen
kann.
112 Näher ausgeführt in Teil I, Kap. 5.
Konflikttransformationen 181

eine Konföderation, dann eine Föderation und schließlich ein Einheitsstaat,


welch letzterer die äußerste Transzendenz darstellte. In den Augen des Ver-
fassers ist diese Position für die Gegenwart unrealistisch (man soll jedoch nie
"niemals" sagen!). Aber für eine Konföderation IsraellPalästina, mit beiden
als gleichberechtigten Partnern in einer politischen, ökonomischen, militäri-
schen und kulturellen Kooperation, lohnte sich auch harte Arbeit, wobei un-
ausgemacht bleiben kann, ob Jordanien als dritter Partner hinzugezogen wür-
de oder nicht.
Erste Dilemma-Illustration: Das ferienplanende Paar
Das Paar hat vier Wochen Urlaub; der Mann bevorzugt die Berge, die
Frau den Strand; sie leben in Dänemark oder in den Alpen. Die beiden Nicht-
Lösungs-Punkte liegen auf der Hand: Man tut, was die eine Person will, die
andere leidet, schweigend oder nicht. Die Kunst besteht nun darin, diese
Punkte in Lösungen zu verwandeln durch Ausweitung ("Du hast das Pro-
blem, daß die Kinder in der Urlaubszeit allein sein wollen, ich habe das Pro-
blem, daß ihr Urlaub zuviel kostet; ich gebe Dir nach, Du läßt die Kinder al-
lein, und die Kinder stutzen ihre Wünsche zurück") oder Vertiefung ("Ich
gehe zu diesem anderen Platz, vorausgesetzt, Du gibst nach in dem Streit,
den wir um die Möbel haben"). Eine Vertiefungsalternative könnte darin be-
stehen, jeweils jedes zweite Jahr in die Berge bzw. an den Strand zu fahren,
was nicht ganz dasselbe wäre wie der Kompromiß "zwei Wochen in die Ber-
ge, zwei Wochen an den Strand".
Ein Transzendenzpunkt könnte Taormina auf Sizilien, mit Strand und Ber-
gen, sein. Dieses Beispiel illustriert den Gebrauch konkreten, empirischen
Wissens: was existiert, ist möglich. Ein Mensch, der durch extensives Lesen
und/oder Reisen in Geographie versiert ist, wäre eine bessere Hilfe in Kon-
flikten als jemand, der dies nicht ist - ein Hinweis auf die Qualifikation eines
Konflikthelfers ganz allgemein. Aber Transzendenz könnte auch dadurch er-
reicht werden, daß man beide fragt, was sie wirklich wollen; und wenn der
Mann klettern und die Frau braun werden will, dann könnte ein modernes
Sommerhotel oder ein moderner Campingplatz für beide gerade das Richtige
sein. Die Ziele ein klein wenig umzudefinieren, kann helfen!
Was Rückzug bedeutet, ist klar: "Wenn wir uns jedes Jahr so wie dieses
Mal streiten, dann kann ich auf meinen Urlaub gleich verzichten!" Oder das
Ausweichen vor dem Dilemma, indem man die der Inkompatibilität zugrun-
deliegende Verbindung kappt: Man fährt getrennt in den Urlaub, also Fis-
sionlDesintegration. l13 Oder andersherum: Fusion/Integration, durch Verzicht
auf den je individuellen Geschmack. 114

113 Natürlich kann dies, wenn es zu einem Habitus wird, zur Trennung in einem tieferen
Sinne führen und zur Scheidung als endgültiger Desintegration des Paares. Eine ent-
sprechende Vermutung wäre, daß in der postmodernen Gesellschaft der gemeinsame
182 Konflikttheorie

Zweite Dilemma-Illustration: der Kampf zwischen Es und Über-Ich


In diesem Fall befinden sich Zl und Z2 im Person-System. Zwei Seelen
wohnen, ach! in meiner Brust, wie Goethe sagt; eine will in diese, die andere
in jene Richtung, eine ist ätherisch, eine sinnlich. Vielleicht gibt es sogar
mehr als zwei! Um noch einmal Sorokins Begriffe zu verwenden: In der ide-
engeleiteten ("ideational") Mentalität dominiert das Über-Ich das Ich voll-
ständig, in der sinnlich geleiteten ("sensate") Persönlichkeit dagegen führt das
Es das Kommando, was bedeutet, daß diese Persönlichkeit die andere Men-
talität unterdrückt. Wenn man im Freudschen Schema bleibt, ist es schwierig,
auszuweiten und zu vertiefen.
Freuds Lösung, sein Reifekriterium, ist natürlich Transzendenz, worunter
er die Ausbildung eines Ich zu verstehen scheint, das fähig ist zu einer Syn-
these, einer Synthese von Biologie und Religion, wie es einmal heißt, unter
Hinzufügung von Individualität. 1l5 Beide bekommen das ihnen Gebührende,
auf eher langweilige Art beim Kompromiß und auf eine vollentwickelte Art
im Falle der Transzendenz - so etwas wie Sozialdemokratie im Falle des ja-
panischen Modells, wenn es zur Integration von Plan und Markt kommt.
Aber die Bewegung kann auch in die entgegengesetzte Richtung erfolgen,
wenn sowohl das Es wie das Über-Ich sich zusammenziehen und keiner von
beiden den Weg für den jeweils anderen freimacht. Selbsttötung? Tod? Oder
eine ernsthafte Geistesstörung?
Die Trennung als ein Ausweg aus dem Dilemma des Paares im vor-
hergehenden Beispiel läßt Bilder der Schizophrenie in unserem Kopf er-
scheinen: der manisch-depressive Mensch, der die Fission zu praktizieren
versucht, der hin und her oszilliert zwischen den von der Diagonale entfern-
ten Ecken des Konfliktdiagramms und weder die Reife der Integration noch
die Ruhe des Todes (so stellen wir uns das jedenfalls vor)116 erreicht. Sollten
Geistesstörungen vielleicht verzweifelte Versuche sein, aus diesem existen-
tiellen Dilemma herauszukommen, wenn man weder im Kompromiß noch in

Urlaub ein Substitut für das gemeinsame Arbeiten in früheren Gesellschaftsordnun-


gen (als Nomaden z.B. oder in der Landwirtschaft) darstellt.
114 Auch wenn sich dieses Dilemma in der Art eines Disputs, ja, eines Streites präsen-
tiert, muß festgehalten werden, daß es sich hier um einen (1, 2)- und nicht um einen
(2, 1)-Konflikt handelt, alldieweil der Widerspruch innerhalb des Paares als eines
Akteurs lokalisiert ist. Offensichtlich verschwindet diese Art von Inkompatibilität,
wenn die Urlaubswahl des einen Teils dieses Paares ganz unabhängig von der des
anderen ist. Und dasselbe gilt, sollten sie zu einer völligen Übereinstimmung hin-
sichtlich ihrer Werte und Interessen gelangen: zur völligen Fusion/Integration in an-
deren Worten.
115 Vgl. Sigmund Freud: The Ego and the ld, New York 1960.
116 The Tibetan Book of the Dead (BostonlLondon 1992) enthält eine der entscheiden-
den Unterstellungen des tibetanischen Buddhismus, Sterben und Tod seien nur Ab-
schnitte auf unserem Weg.
Konflikttransformationen 183

der Transzendenz ein Gleichgewicht findet und dann die Extreme sucht, bis
daß dann äußerster Rückzug zum Gleichgewichtszustand wird?
Zwei Schlußfolgerungen sollte man aus diesen Illustrationen ziehen. Zum
ersten kann das hier entwickelte Paradigma der Konfliktanalyse sehr unter-
schiedliche Fälle unterbringen, von intrapersonalen Konfliktformationen bis
hin zu solchen in sehr unterschiedlichen sozialen Systemen. Dies ist so selt-
sam nicht. Wir befassen uns mit zielsuchenden Systemen, handle es sich hier-
bei um Werte oder Interessen, und solche "Systeme" kann man überall fin-
den, wo immer es Leben gibt und wie komplex auch immer die Organisations-
form ist. Die Balance zwischen Harmonie und Disharmonie mag kippen zu-
gunsten der letzteren. Die Vergleichbarkeiten sind nicht nur erzwungen
durch das Paradigma, es gibt sie auch "da draußen". Zumindest scheint es so.
Zum zweiten jedoch: Transzendenz, Kompromiß, Rückzug, Ausweitung,
Vertiefung, Fission und Fusion sind keine Lösungen in sich, sondern nur die
Formen von Lösungshypothesen; und "Lösungen" sind keine letztlichen Auf-
lösungen und Aufhebungen, sondern nur mehr oder weniger stabile Gleich-
gewichtszustände im Lebenszyklus eines Konflikts. In jedem dieser Ab-
schnitte mag es A- und V-Residuen geben, die nach einem neuen W (Wider-
spruch, Inhalt) suchen, um sich an ihm festzuhaken; es mag auch neues W-
Material geben, das sich aufbaut, indem es Fragmente des alten Inhalts oder
der alten Widersprüche zusammenstückelt (wenn z.B. eine neue Grenze zwar
einige historische Probleme löst, aber nicht das der Sicherheit oder die öko-
nomischen Probleme des Zugangs zu Rohstoffen und Märkten und auch
nicht die der sozialen Zusammengehörigkeit).
Gleichwohl, die fünf Punkte sind nützlich als Richtungsweiser für Bewe-
gungen im Konfliktraum (der generell m Akteure, Al, A2, ... Am und n Zie-
le, Zl, Z2, ... Zn, in anderen Worten: m + n Dimensionen haben wird). Sie
stellen Transformationen der Konfliktformation dar und dienen als solche der
Gewaltvermeidung und als Anziehungskraft für Herausforderungen. Auf
letztere ist gewöhnlich Transzendenz die beste Antwort. Aber ein gewaltfrei-
er Weg zur Transzendenz läßt sich nicht immer leicht finden.

3.6 Konflikttransformation für komplexe Akteurskonflikte;


K>l

Naheliegenderweise ist die einfachste Antwort auf das Problem, wie man mit
komplexen Akteurskonflikten umgehen sollte, die Simplifizierung; mit dem
Begleitproblem allerdings, daß Reduktionismus im Sinne von Polarisierung
hinter der Ecke lauert, mit der Gefahr der Eskalation in seinem Schlepptau.
Aber Polarisierung ist so verführerisch, Polarisierung hinunter auf zwei
Blöcke im sozialen System von Personen, Gruppen, Gesellschaften, Regio-
184 Konflikttheorie

nen usw. (mit allen posItIven Beziehungen innerhalb und allen negativen
zwischen denselben), auf zwei Blöcke auch im Person-System der Werte,
Neigungen, Bilder (und wieder mit allen positiven Beziehungen innerhalb
und allen negativen zwischen denselben), und mit den Freund-Feind-Bildern
im Person-System wird dann das umgebende soziale System strukturiert.
Wie bereits erwähnt, übertreibt der Reduktionismus die Konflikte zwi-
schen und unterschätzt die Konflikte innerhalb der Blöcke und Systeme.
Konkret bedeutet dies, daß, ganz gleich welche Transformation in Richtung
auf Transzendenz, Kompromiß usw. man für einen bestimmten Typ von
Konfliktformation erreicht hat, die Chancen gut sind, daß unterdrückte Kon-
flikte aufblühen werden, sobald die Luft aus dem polarisierten Konflikt her-
ausgenommen worden ist. Nicht nur in Osteuropa brachen nationale Konflik-
te aus, nachdem die Konfliktformation des Kalten Krieges verschwunden
war, nicht zuletzt deswegen, weil diese grotesk überschätzt wurde (so ist bis
heute - 1996 - noch kein Beweis aufgetaucht, daß die Sowjetunion jemals
ernsthaft einen unprovozierten Angriff auf Westeuropa geplant hätte). Hier
gibt es das Argument der Chinesischen Kästchen: Laßt uns zunächst mittels
Reduktion einen komplexen Konflikt so behandeln, als wäre er ein elemen-
tarer; dann diesen transformieren, die Kästchen öffnen, annehmen, daß zwei
neue Konflikte auftauchen, diese lösen, und dann weitermachen, also 2n zu
lösende Konflikte auf jeder Stufe n-l aufarbeiten. Für einen gerade denken-
den, dichotomen Verstand ist dies der natürliche bzw. normale Ansatz.
Die Position, die hier jedoch eingenommen wird, ist die, daß komplexe
Konfliktformationen solche sui generis sind und entsprechend behandelt
werden sollten. Die sieben oben entwickelten Ansätze, basierend auf den drei
Ansätzen von K =0, den zwei weiteren von K = 1 und dann auf Fission und
Fusion, sind gleicherweise bedeutungsvoll auch für komplexe Konflikte, nur
oft schwieriger (so nehmen wir jedenfalls an) durchzuhalten. Bosnien-Herze-
gowina zwischen Serben, Kroaten und slawischen Muslimen zu teilen, unter-
scheidet sich nicht so sehr von der Aufteilung der Krajina zwischen Kroaten
und Serben oder des Kosovo zwischen Serben und albanischen Muslimen.
Dies sind jedoch simplizistische Transformationen, mit niedrigen Graden
an Akzeptanz und Nachhaltigkeit aus all den oben erwähnten Gründen. Tran-
szendenz, z.B. in der Form neuer Typen von Konföderationen, oder konkret
als Konföderation des Europäischen Südostens, wird allgemein besser arbei-
ten bei höheren Komplexitätsgraden, die mehr Möglichkeiten der Auswei-
tung und Vertiefung bieten. Ganz fundamental ist ein Denktraining in Begrif-
fen von drei, vier Akteuren mit jeweils zwei oder drei Zielen, ohne wieder
auf niedrigere Komplexitätsniveaus herunterzugehen. 1I7

117 Es kostete die Internationale Gemeinschaft (was immer das genau ist) mindestens
zwei Jahre gewalttätiger Konflikte, um zu lernen, daß die Serben der Krajina und
Konflikttransformationen 185

Aber es gibt natürlich auch Ansätze, die bilaterale mit multilateralen Ver-
fahren kombinieren. Das Konfliktmolekül kann auf diese Weise gesehen
werden als zusammengesetzt aus Konfliktatomen, aber nicht nur aus zweien,
sondern aus jeder beliebigen Anzahl; wie z.B. Israel, das im Prinzip bilaterale
Konflikte mit allen arabischen Staaten hat, ganz besonders jedoch mit den
vier bzw. fünf, die an Israel (und an den Irak) grenzen. Diese Menge von
Konfliktatomen kann dann geteilt werden in zwei Untermengen: das Zentrum
(der Kern) und die Peripherie (der Rand) des Konflikts. Aus dieser Eintei-
lung ergeben sich dann ganz leicht drei Ansätze:
- ein diachroner Ansatz, der vom Zentrum mit seinen "fundamentalen Ver-
bindungen" ausgeht;
- ein diachroner Ansatz, der von der Peripherie mit ihren "leicht zu verän-
dernden Verbindungen" ausgeht;
- ein synchroner Ansatz, der von all diesen Verbindungen zugleich ausgeht.
Die bei den diachronen Ansätze leiden unter den allgemeinen Unzulänglich-
keiten der Linearität. Die ihnen unterliegenden Annahmen sind vergleichbar:
Vernichte den wesentlichen Widerspruch und der Rest wird sich von ganz
allein entwirren; und: Kläre zunächst die unproblematischen Tagesord-
nungspunkte, und der Rest wird, aufgrund der verbesserten "Atmosphäre",
leicht von der Hand gehen. Die erste Vorstellung beschwört Bilder marxisti-
schen Denkens: der Grundwiderspruch, der in der sozialen Infrastruktur liegt,
zwischen Arbeit und Kapital nämlich (bzw. zwischen Produktionsmitteln und
Produktionsverhältnissen). Die zweite Vorstellung erinnert an liberales Den-
ken: Die Welt ist eine Konflikt-Cafeteria, in der man seine Konflikte sam-
melt und zusammenbringt, um Agenden zu schaffen, wobei man mit den
leichteren Gerichten, den hors d'oeuvres sozusagen, beginnt, um eine "At-
mosphäre" zu schaffen vor dem eigentlichen oeuvre.
Auf Israel übertragen, spricht man vom letzteren Ansatz zuweilen als
"stückweise Frieden" ("peace by pieces"), der Prozeß selbst ist bekannt als
"Friedensprozeß" ("peace process"). Es sollte jedoch wenig Zweifel daran
bestehen, daß das Volk, das am meisten von der Gründung Israels als eines
jüdischen Staates in Mitleidenschaft gezogen wurde, das dort lebende Volk
war, insbesondere also die Palästinenser. Diesen Widerspruch ganz stark zu
machen, entspräche dem ersten Ansatz; wir müßten erst noch sehen, ob die-
ser die Gesamtformation einem stabilen Gleichgewicht eher annähert als der
zweite Ansatz.
Der dritte, mehr synchrone Ansatz wird hier vorgezogen. Etwas Fortschritt
in bezug auf alle Widersprüche ist besser als ein gigantischer Schritt in nur
eine Richtung, der dann zu einer größeren Konfliktdeformation führt. Die

Bosniens Ziele haben könnten, die nicht unbedingt mit den Zielen Belgrads/Serbiens
übereinstimmen müssen (wenngleich sie untereinander kompatibel sein können).
186 Konjlikttheorie

hier in Anspruch genommene Vorstellung von Prozeß ist eher orientalisch,


buddhistisch, und unterstellt, daß kreisförmige, synchrone Beziehungen an-
gemessener die Lebenswirklichkeit auf jedem Organisationsniveau wider-
spiegeln. 1l8 Auch haben wir hier den Vorteil, die Ungewißheiten zu vermei-
den, die sich mit der Einteilung in Zentrum und Peripherie verbinden sowie
mit der Schwierigkeit zu wissen, wo man beginnen sollte.

3.7 Konflikttransformation: ein zweiter Überblick


Konflikttransformation vollzieht sich in der Zeit, der physikalischen, chro-
nos, und der organischen, kairos; wenn die Zeit ganz ruhig fließt, ganz ohne
alle Turbulenzen, aber auch in diesen Turbulenzen. Letztere sind dramati-
scher, lassen uns denken an Unterhändler, die die Nacht hindurch gegen
Termine anarbeiten und dann in den frühen Morgenstunden auftauchen, mit
erhobenen Gläsern und dickem Lob für einander. Aber erstere sollte nicht
unterschätzt werden, neben anderen Gründen schon darum nicht, weil soviel
passiert, wenn chronos fließt. Es gibt eine Grenze, wieviele Konflikte jemand
im Kopf haben, an wievielen er teilnehmen, nicht zu erwähnen, wieviele er
zu lösen versuchen kann. Konfliktermüdung mag einsetzen und einen Kon-
flikt dem Vergessen anheimgeben.
Die zweite Achse des generellen Denkens über Konflikttransformation ist
Komplexität: eine Art von Unidimensionalität, die Phänomenen übergestülpt
wird, die sehr verschieden, aber auch vergleichbar sind. Dukkha entfaltet sich
in sehr unterschiedlichen Rahmen. Man braucht - manchmal sehr viel - Zeit,
sowohl als chronos als auch in der kairos-Form innerer und äußerer Dialoge,
wenn es um Bewegungen in Richtung sukha geht.
Transformationen ereignen sich nicht einfach. Sie werden gewollt, und
nur wenn sie gewollt werden, sind sie real. Sie müssen subjektiv erzwungen
werden, das Subjekt ist und bleibt die force motrice. Die Prozesse der Artiku-
lation und Bewußtmachung sind folglich absolut wesentlich; sie zielen auf
die A-, V- und W-Ecken des Konfliktdreiecks und durchbrechen dabei die
Dunkelheit des strukturellen Konflikts sowie, wenn nötig, auch den Eisdek-
kel des Frustrations-Bildes der Realität.
Problematisch wird es immer, wenn das Bild zu komplex wird, um noch
bearbeitet werden zu können. Hier heißt das Gegengift Simplifizierung,
Simplifizierung jedoch, die eine Polarisierung vermeidet und die Formation
vorsichtig höheren Graden der Transformation zuführt, möglicherweise auch
durch Intervention.

118 Für eine Einführung in C.O. Jungs diesbezügliches Denken siehe Ira Progroff: Jung,
Synchronicity, and Human Destiny, New York 1973.
4 Konfliktinterventionen

4.1 Konfliktintervention in Form von Kommunikation: elf


Ansätze
Nehmen wir an, es bestehe eine Konfliktformation mit m Akteuren und n
Zielen und das Spannungsniveau sei hoch. Der Konflikt verzehrt immer mehr
der eingesetzten Ressourcen (vielleicht sogar mehr, als die Ziele wert sind);
er verzehrt schießlich die Akteure selbst. Die Frage ist nicht mehr, wer am
meisten gewinnt, sondern wer am wenigsten verliert. Die Konfliktwirklich-
keit sieht schon schlimm genug aus, die Prognose verheißt noch Schlimme-
res. Die Akteure sind unfahig, den Prozeß aufzuhalten und umzukehren. Der
Schaden, den die Akteure materiellen Dingen, sich selbst und anderen zufü-
gen, ist unerträglich, auch für Außenstehende. Es gibt triftige Gründe für eine
Intervention von außen, ob die Beteiligten eine solche nun wünschen oder
nicht. Das erinnert an Jugoslawien 1991-199? Weshalb etwas getan werden
muß, ist klar. Aber was sollte getan werden? Wer soll es tun? Wie? Wann?
Wo? Zu wessen Gunsten, auf wessen Kosten?
Ein paar schnelle, oberflächliche Antworten als erste Richtschnur für eine
Intervention:
Weshalb? Um weiteres Leiden und weitere materielle und nicht-materielle
Zerstörung zu verhindern; des weiteren, wenn möglich, um eine Lösung zu
finden, d.h. eine einigermaßen akzeptable und tragfahige Formation zu schaf-
fen.
Was? Hier gibt es drei ziemlich hilfreiche Antworten:
- Friedenssicherung (peace-keeping): Die Akteure müssen unter Kontrolle
gehalten werden, damit sie zumindest aufhören, materielle Werte, andere
und sich selbst zu zerstören (V-orientiert).
- Friedensstiftung (peace-making): Die Akteure müssen in einer neuen
Formation verankert, ihre Einstellungen und Unterstellungen darüber hin-
aus transformiert werden (A-orientiert).
- Friedenskonsolidierung (peace-building): Der Widerspruch an der Wurzel
der Konfliktformation muß überwunden werden (W-orientiert).
188 Konflikttheorie

Wer: Im Prinzip jeder: der Staat (auf - auch zwischenstaatlicher - Regie-


rungsebene), die Zivilgesellschaft (Nicht-Regierungsorganisationen, auch
zwischenstaatlich agierende), das Kapital (Unternehmen, auch multinationa-
le) oder Einzelpersonen jeglicher Provenienz.
Wie: Durch einen Kommunikationsprozeß mit den an der Konfliktformation
beteiligten Akteuren und durch Ausweitung dieser Formation.
Wann: Jederzeit, wenn es nur den negativen und positiven Zwecken der Kon-
fliktintervention dient.
Wo: An jedem beliebigen Ort; nicht unbedingt an einem Tisch und nicht not-
wendigerweise bei gleichzeitiger Anwesenheit aller.
Zu wessen Gunsten: Zugunsten der an der Konfliktformation Beteiligten,
aber auch zugunsten anderer in ähnlichen Formationen.
Au/wessen Kosten: auf Kosten derer, die von weiterer Zerstörung profitieren
(würden).
Um nachvollziehen zu können, wie eine Konfliktintervention funktioniert,
brauchen wir eine Typologie, und zwar eine solche, die aus einemfundamen-
turn divisionis abgeleitet werden kann und die nicht nur Wörter auflistet, die
auf diesem Gebiet herum schwirren (Vermittlung, Schlichtung, Versöhnung,
usw.). Überdies werden wir, wie gewöhnlich, den "Null-Fall" mit einbezie-
hen, also die Nicht-Intervention, die auch verschiedene Formen annehmen
kann. Die Parteien, die von außen dazukommen und beim Konflikt interve-
nieren, werden wir nicht "Dritte" nennen, da dieser unglückliche Begriff den
Eindruck erweckt, es handele sich bei einem Konflikt immer um zwei Partei-
en. Besser sagt man einfach externe Parteien, da sie ja von außen dazukom-
men, sich aber dennoch auf den Konflikt einlassen.
Eine erste Frage wäre die nach deren Zielen. Suchen sie die Herausforde-
rung? Wollen sie Erfahrungen sammeln? Den Friedensnobelpreis oder ir-
gen deinen anderen Preis bekommen? Wollen sie zeigen, wer letztlich der ei-
gentliche Konfliktmanager ist? Wollen sie den Konflikt nutzen, um Konflikt-
ressourcen zu vermarkten, als "Peitschen" (militärische Mittel) zur allgemei-
nen Einschüchterung oder als "Zuckerbrot" (humanitäre Hilfe, technische
Unterstützung), um im Kielwasser des Angebots eine Nachfrage zu schaffen?
All das, um ein hegemoniales System, die Stellung des Hegemons oder des
Hegemonialsystems ganz allgemein zu stärken oder die Interessen anderer
Hegemonen zu besorgen?
Oder wollen sie ganz einfach dienen? Nur handeln, ohne gesehen oder ge-
hört zu werden? Diskret also, in Formen, die weiter unten beschrieben wer-
den? Dafür spricht einiges, würde damit doch erreicht, daß die Ziele der ex-
ternen Parteien die Konfliktformation nicht so entstellen, daß sie zu einer
Konfliktdeformation wird und der ganze Prozeß entgleitet. Ein Beispiel für
Konfliktinterventionen 189

eine solche Deformation wäre die UN-Operation in Somalia 1992 - 199?, bei
der aufgrund eigenartiger Vorgänge das Hauptziel plötzlich die Erhaltung -
nicht einmal die Verbesserung - des UN-Prestiges wurde, für das man die
UN-Interpretation dieses Konfliktes durchsetzte, obwohl diese absurd war.
Wenn die grundlegende Methode aber Kommunikation ist, also die Dimen-
sion, die wir jetzt nutzen werden, um eine Typologie der Konfliktinterventio-
nen aufzustellen, dann bringt das Prinzip "weder gesehen noch gehört wer-
den" allerdings auch nichts.
A: Keine Kommunikation mit externen Parteien
Typ 0: Dissoziation: Auflösung, Spaltung. Die am Konflikt Beteiligten kom-
munizieren nicht miteinander, sondern trennen sich, lösen die Formation auf.
Es gibt keine Kommunikation, weder zwischen den Beteiligten noch mit ex-
ternen Parteien (obwohl letztere dieses Vorgehen empfohlen haben können).
Wenn das Medium die Botschaft ist, dann kann auch das Nicht-Medium Trä-
ger einer Botschaft sein: Die Beteiligten sind zur Zeit vielleicht noch nicht zu
einem Transformationsprozeß jenseits einer Nicht-Formation in der Lage.
Typ 1: Assoziation: Kommunikation innerhalb der Formation. Die Beteilig-
ten sind in der Lage, miteinander zu kommunizieren; die Kommunikation
verläuft einigermaßen symmetrisch, mag sogar als Dialog vor sich gehen.
B: Asymmetrische Kommunikation mit externen Parteien
Typ 2: Externe Parteien stellen den Verhandlungsort. Hier handelt es sich um
eine minimale Interventionsform; sie ist aber nicht zu verachten. Man stellt ei-
nen neutralen Treffpunkt zur Verfügung (Genf!), bietet Annehmlichkeiten,
kommt vielleicht sogar für die Kosten auf. Sonst im Prinzip wie Typ 1.
Typ 3: Externe Parteien bieten an, einfühlend zuzuhören. Jetzt nehmen sie
teil, aber nur am Rande. Vielleicht sind die Konfliktbeteiligten unfähig, den
Dialog in Gang zu halten, vielleicht sind sie nicht einmal in der Lage, sich
allein in einem Raum zusammen aufzuhalten. Außenstehende können dann
das soziale und kommunikative Bindeglied sein. Die Parteien können nicht
einfach den Raum verlassen, denn die Externen sind ja da; sie können ein
Gespräch nicht einfach beenden, da diese die Gesprächslücken füllen, wenn
auch nur mit einem ermunternden "aha?", ganz zu schweigen von der klassi-
schen Nachfrage: "Würden Sie diesen Punkt bitte etwas genauer erläu-
tern?,,119

119 Ein Modell wäre Rogers' nicht-direkte Beratung (non-direct counseling); siehe z.B.
W. U. Snyder unter Mitarbeit von earl R. Rogers u. a. : Case-book 0/ Non-directive
Counseling, Boston, MA 1947.
190 Konflikttheorie

C: Symmetrische, dialogische Kommunikation mit externen Parteien 120


Typ 4: Externe Parteien beteiligen sich am Dialog über die Konfliktdiagnose.
Typ 5: Wie Typ 4, plus Konfliktprognose.
Typ 6: Wie Typ 5, plus Konflikttherapie.
D: Asymmetrische, von externen Parteien durchgesetzte Kommunikation
Typ 7: Vermittlung (mediation). An diesem Punkt hören sich die externen
Parteien an, wie die Beteiligten D(iagnose), P(rognose) und T(herapie) wahr-
nehmen und stellen dann klar, wie sie sich die Lösung vorstellen; es bleibt
den Beteiligten dann überlassen, ob sie diese Lösung akzeptieren wollen oder
nicht. 121
Typ 8: Schlichtung/Schiedsgerichtsbarkeit (arbitration). Wie Typ 7, aber mit
der vorher von den Parteien übernommenen Verpflichtung, die vorgeschla-
gene Lösung zu akzeptieren.
Typ 9: Rechtsförmige Entscheidung. Wie Typ 8, doch besser vorhersehbar
(aber auch rigider durchgeführt!), da begründet durch rechtliche Vorschrif-
ten, rechtliche Präzedenzfälle usw.
Typ 10: Entscheidung durch Menschen. Hier regiert der Konfliktdiktator, der
den Beteiligten eine Lösung aufzwingt und diese mit Hilfe von Zuckerbrot
und/oder Peitsche durchsetzt, also
- der "sanfte" Konfliktdiktator: Wenn Ihr tut, was ich sage, werdet Ihr be-
lohnt (Bargeld, technische Unterstützung, "Meistbegünstigten"-Status,
usw.); oder
der "harte" Konfliktdiktator: Wenn Ihr nicht tut, was ich Euch sage, wer-
det Ihr bestraft "mit allen erforderlichen Mitteln" in des Wortes militäri-
scher Bedeutung.
Wir haben bewußt den Begriff "Typ" und nicht den Begriff "Schritt" ver-
wendet, da hier kein "Fortschritt" von den niedrigen zu den höheren Zahlen
unterstellt wird und auch keine Zeitfolge, in dem Sinne, daß man an einem
beliebigen Punkt anfangen und dann andere dazunehmen solle. Ein Prozeß
kann irgendwo beginnen. So setzt z.B. Typ 6 nicht Typ 5 voraus (obwohl
einiges für eine solche Reihenfolge spricht). Sie unterscheiden sich darin, daß
die Agenda von Typ 6 reichhaltiger ist. Man kann, zumindest im Prinzip, ir-
gendwo beginnen, dort bleiben, zu anderen Punkten springen, Punkte verbin-

120 Typ 4, 5 und 6 sind hier nicht näher ausgeführt. Da sie das Kernstück der Typologie
bilden, werden sie etwas ausführlicher behandelt in Kap. 4.4.
121 Dies ist die eher technische, harte Version des Begriffes "Vermittlung" (mediation).
Es gibt aber auch eine populärere, weichere Verwendung des Begriffs, der dann alle
Ansätze externer Parteien abdeckt und eher an "Konfliktarbeiter" oder "Konflikt-
helfer" denken läßt. Ich ziehe die technischere Verwendungsweise vor, weil wir ei-
nen Begriff für diese Art Aktivität benötigen. HAkan Wiberg unterscheidet aus diesen
Gründen zwischen "low key" und ,,high key mediation".
Konfliktinterventionen 191

den, den Prozeß verlassen, ganz gleich, an welcher Stelle. Gewichtige Grün-
de sprechen jedoch für oder gegen bestimmte Typen, mit der Einschränkung,
daß zuletzt natürlich alles von den Umständen abhängt.

4.2 Vier Korrelate der Konfliktinterventionsansätze


Wenn wir uns von Typ 0 zu Typ 10 bewegen, begleiten uns eine Reihe von
wichtigen Variablen, die alle für das Ergebnis hochrelevant sind; alle stehen
auf die eine oder andere Weise mit der kommunikativen Beziehung in Zu-
sammenhang.
1. Externe Parteien übernehmen zunehmend die von der Konfliktlösung aus-
gehende Herausforderung.
In Typ 0-2 monopolisieren offensichtlich die Konfliktinsider diese Heraus-
forderung; in Typ 3-6 partizipieren andere daran, wobei ein zunehmender
Anteil an die immer aktiver werdenden externen Parteien geht; in Typ 7-10
monopolisieren die externen Parteien diese Herausforderung. Um das mehr-
fach verwendete Argument noch einmal zu wiederholen: Wenn ein Konflikt
"gut" ist, weil der Widerspruch als force motrice für die kreative Verände-
rung des persönlichen, des sozialen oder des Weltsystems dienen kann, dann
entfällt zunehmend dieser positive Aspekt, wenn wir von Typ 0 zu Typ 10
vorrücken.
In Typ 0-2 haben die Beteiligten Konfliktautonomie; in Typ 3-6 kommen
externe Parteien als Konflikthelfer hinzu; in Typ 7-10 sind sie dann Kon-
fliktmanager oder auch Konfliktdiebe, wenn man mal Klartext reden will. Sie
nehmen den Beteiligten den Konflikt weg. Bezüglich Typ 7 kann man das so
formulieren: "Das ist aber ein interessanter Konflikt, den Ihr da austragt; ich
werde ihn mal für Euch lösen." Bei Typ 10 könnte sich das dann so anhören:
"Ich habe die Nase voll von diesem Blödsinn, ich werde Euch jetzt sagen,
was passieren muß."
1l. In dem Maße, in dem die Vertikalisierung der Konflikttransformationswei-
se zunimmt, nimmt die Machtdistanz innerhalb des Systems zu.
Bezüglich Typ 7-10 kann man annehmen, daß sich der Vermittler, der
Schlichter, der Richter oder der Diktator alle in gehobenen Stellungen befin-
den - um so höher, je mehr Autorität und Ressourcen sie in die Waagschale
werfen können, um den Ausschlag bezüglich des Resultats zu geben. Auch in
Typ 3-6 kann man Ansätze davon finden, vorausgesetzt, die externen Partei-
en setzen Ressourcen ein wie Ausbildung, Fertigkeiten und Erfahrungen, die
sich darstellen
als kognitive Ressourcen (Fähigkeit, aus ähnlichen und andersartigen
Konfliktverarbeitungen gewonnene Einsichten zu übertragen),
192 Konflikttheorie

- als emotionale Ressourcen (Empathie, Sympathie, Mitgefühl) und


als Willensressourcen (Durchhaltevermögen, Fähigkeit, den Transforma-
tionsprozeß zu steuern oder gar voranzutreiben).
Die Summe all dessen ist Autorität. Von außen sich an diesen Prozessen zu
beteiligen, bedeutet in der Regel, die Ressourcen zu vermehren. Hat eine Ge-
sellschaft Mitglieder mit Konfliktkenntnissen und entsprechenden Fertigkei-
ten, verfügt sie als solche bereits über Ressourcen, nur ist das Problem hier
die ungleiche Verteilung derselben. Dann gibt es aber auch den Konflikt-
diktator, von dem vielleicht mehr Zerstörungsmittel (Peitsche) und Aufbau-
mittel (Zuckerbrot) gefordert werden. Das Ergebnis ist gewachsene Macht-
distanz, und die ist um so größer, je höher die Typzahl ausfällt.
111. Mit zunehmender Typzahl kann sich die innere Akzeptanz verringern und
die externe Tragfähigkeit vergrößern.
Wird die Partizipation geringer und mehr von oben diktiert, dann ist klar, daß
sich die Akzeptanz verringern, daß sie sogar sprunghaft zurückgehen kann.
Der innere Prozeß - die Qual, sich Schritt für Schritt zu einer Lösung vorar-
beiten zu müssen und die Nebel zu vertreiben, die sich über alle akzeptablen
Transformationen gelegt haben - ist einfach nicht da. Andererseits können
externe Parteien Ressourcen einbringen, mit deren Hilfe die zum Schluß er-
reichte Konstruktion aufrechterhalten werden kann; sie können diese auch
durch ihre Autorität stützen und implizit oder explizit moralische Macht so
einsetzen, daß es unmoralisch erscheint, in den Plan nicht einzuwilligen
und/oder sich der belohnenden und strafenden Macht nicht zu unterwerfen.
Damit haben wir zwei extreme Erscheinungformen, die wir bei den nied-
rigen Typzahlen einerseits und bei den höheren Typzahlen andererseits fin-
den können: eine Transformation mit so hoher Akzeptanz, daß zu ihrer Auf-
rechterhaltung wenig oder gar keine externe Unterstützung nötig ist, zum ei-
nen, und eine von den Beteiligten innerlich nicht angenommene Transfor-
mation, die von außen aufrechterhalten werden muß, zum anderen. Verein-
facht formuliert: In Typ 0 - 2 haben die Beteiligten moralisch die Einwilli-
gung nur sich selbst zu verdanken, in Typ 3 - 6 sich selbst und den Konflikt-
helfern, in Typ 7 - 10 tun sie es, weil sie es den externen Parteien moralisch
schuldig sind oder weil sie Belohnung/Strafe erwarten.
IV. Bei zunehmender Typzahl wird die Wahrscheinlichkeit größer, daß man
den Zielzustand erreicht, Recht zu haben.
Es kann innerhalb einer Partei das Gefühl geben, daß man im Recht ist
und daher das Recht auf dieses oder jenes hat; es kann zweitens so sein, daß
beide Parteien einer Konfliktformation ähnlich über die Verteilung dieses
wertvollen Guts denken; drittens kann das "Du hast Recht" einer Partei von
oben, vertikal, bescheinigt werden, sogar mit unterschriebenem Zertifikat.
Wenn der Vermittler, Schlichter, Richter oder Diktator mehr für den einen
Konfliktinterventionen 193

als für den/die andere(n) Beteiligten ist, kann das Meta-Ziel des Recht-
Habens ("Siehst Du? Ich hab's Dir ja gesagt!") sogar die Freude darüber, daß
man das ursprüngliche Ziel erreicht hat, in den Schatten stellen. 122 Das ist
wahrscheinlich einer der Hauptgründe dafür, daß Leute vor Gericht gehen:
Nicht nur, um das Recht auf dieses oder jenes zugesprochen zu bekommen,
sondern um sich ihre moralische Rechtschaffenheit bestätigen zu lassen.
Ziehen wir aus allem den Schluß, daß wir uns für die niedrigen Zahlen ein-
setzen sollten: Die Herausforderungen sind da, wo sie sein sollten; die Pro-
zesse werden Menschen aller Gesellschaftsschichten zum Handeln ermächti-
gen, nicht nur eine Konfliktmanagerelite; die Akzeptanz wird hoch und die
innere Tragfähigkeit groß sein; der Konflikt wird im Mittelpunkt des Interes-
ses stehen und kein abstrakter Rechtsanspruch, der an Rechthaberei grenzt.
Vielleicht aber werden die Beteiligten nicht in der Lage sein, sich entspre-
chend zu verhalten; sie besitzen vielleicht weder die Fähigkeit dazu noch die
Motivation; es wäre sogar denkbar, daß sie das Erregende eines Konflikts im
allgemeinen und eine steigende Spannung im besonderen präferieren, selbst
wenn sie damit sich selbst und andere zerstören.
Die Typen mit niedrigen Zahlen sind also schön, einige Typen mit höherer
Zahl können aber notwendig sein. Man wird die Beteiligten vielleicht sogar
dazu zwingen müssen, eine Transformation durchzumachen, die Ähnlichkeit
mit einer Lösung hat. Da aber vieles gegen die höheren Zahlen spricht, wenn
man von einer allgemeinen in-medias-res-Einstellung ausgeht, sollten wir
uns auf die Typen 3 bis 6 konzentrieren. Bevor wir das jedoch tun, werden
wir uns als Kontrast, und um uns einige fundamentale Aspekte der Konflikt-
transformation vor Augen zu führen, erst einmal die Typen 0 bis 2 etwas ge-
nauer ansehen.

4.3 Typ 0 - 2: autonome Konflikttransformation

Wann sind die Beteiligten zu einer autonomen Konflikttransformation in der


Lage? Was sind die Vorbedingungen?
Erstens: Sie werden tief im Inneren über eine Art Prognose verfügen, wie
der Prozeß enden, sie werden mehr oder weniger klare Vorstellungen davon
haben, wie das Resultat aussehen wird. Diese sind ihnen selbst vielleicht
nicht ganz deutlich, und noch schwerer kann es sein, sie anderen Parteien zu

122 Eine Form der Konfliktlösung könnte dann sogar darin bestehen, dem einen das
Meta-Ziel und dem anderen das Ziel zu überlassen: "A, Du bist zwar im Recht, ich
werde das Stück Land jedoch B übereignen, da er es dringender braucht, und ich bin
davon überzeugt, daß Du, der Du ja weißt, daß Du im Recht bist, diese Entscheidung
großzügig akzeptieren wirst."
194 Konflikttheorie

vermitteln, denn diese könnten sie auch in der Auseinandersetzung verwen-


den.
Es gibt, langfristig oder kurzfristig betrachtet, die Dimension "Gewinnen -
Verlieren"; je nachdem, wie die Beteiligten mit der V-Ebene zurechtkom-
men. Natürlich wird kurzfristiges "Gewinnen", langfristiges "Verlieren" die
Bereitschaft stärken, einen Dialog einzugehen; die gegenteilige Perspektive
eher nicht.
Es gibt jedoch noch eine andere Dimension: divergierende versus kon-
vergierende Prognosen der Akteure der Konfliktformation. Zwei Akteure
können in vielem sehr verschiedener Meinung sein, dennoch tief in ihrem In-
neren spüren, wer "gewinnen" wird. Oder aber, daß keiner von ihnen gewin-
nen wird. In beiden Fällen gibt es gute Gründe dafür, den Konfliktprozeß zu
verkürzen und einfach zu sagen: "Da die Sache etwa so ausgehen wird, soll-
ten wir versuchen, eine Phase zu umgehen, die für uns alle nur destruktiv wä-
re, und stattdessen direkt die kreativere Phase ansteuern, in der wir zu einem
akzeptablen und dauerhaften Resultat kommen können." Ein Gedanke, der
von Reife zeugt, aber so lange nicht entstehen wird, wie sie verschiedener
Meinung darüber sind, wer "gewinnen" wird, ob sie nun jeweils glauben, das
werden sie selbst sein ("machen wir weiter, dann können wir noch bessere
Bedingungen aushandeln!") oder die anderen ("machen wir weiter, damit wir
wenigstens ehrenhaft unterliegen!").
Die Konvergenz der Prognosen mag leichter von externen Parteien er-
kannt und dann den Beteiligten mitgeteilt werden. Die Akteure selbst können
aber auch intuitiv eine Konvergenz erkennen, z.B. weil sie beide konfliktmü-
de sind, oder weil die Konfliktintensität irgendwie zurückgegangen ist.
Zweitens: Das Schlüsselwort heißt Dialog. 123 Eine solche Verbindung ist
zutiefst horizontal, alle Akteure kommunizieren miteinander. 124 In Kapitel 2
haben wir im Zusammenhang mit den Konfliktlebenszyklen behauptet, daß
das EntschuldigungsNergebungs-Paradigma nur sehr begrenzte Anwendbar-
keit besitzt; es kann sich um reine Lippenbekenntnisse ohne jegliche Gewis-

123 Hinsichtlich einer Definition und Untersuchung des Dialogs, dessen Beziehung zur
Debatte (wie z.B. Brainstorming zur gegenseitigen Bereicherung versus verbale
Spiele, um zu gewinnen) und der These, daß man nicht behaupten kann, Sokrates
hätte Dialoge geführt (der Ausgang war vorprogrammiert), siehe Johan Galtung:
"Dialogues as Development", in: Methodology and Development, Kopenhagen 1988,
Kap. 2, S. 68-92.
124 Das Wort dia bezieht sich nicht auf die Zahl 2, sondern bedeutet "durch" (kann auch
,auseinander', ,entzwei' bedeuten), also durch das Wort, logos. Es können also be-
liebig viele an einem Dialog teilnehmen. Diejenigen, die wortgewandt sind, sind hier
natürlich im Vorteil. Deshalb sollte der nichtverbalen Kommunikation besondere
Aufmerksamkeit zukommen, einschließlich der Körpersprache, und zwar nicht nur in
negativer Hinsicht, d.h. um feindselige Haltungen zu vermeiden, sondern auch in
positiver Hinsicht, zur Schaffung einer Atmosphäre positiver Transformation.
Konfliktinterventionen 195

sensprüfung seitens der Beteiligten handeln, voller Anmaßung '25 vielleicht,


und vor allem: Nach Entschuldigung und möglicher Vergebung sucht man
vielleicht gar nicht mehr nach einer Lösung.
Hilfreicher erscheint die doppelte buddhistische Formel. Erst innerer
Dialog, auf der persönlichen Ebene, auch als Meditation bekannt, um die ei-
genen Standpunkte und Voraussetzungen zu klären, dann äußerer Dialog,
auf der gesellschaftlichen Ebene, Dialog tout court. Wenn man diese Formel
verwendet, muß das nicht heißen, daß nicht auch der christliche Ansatz eini-
ge Gültigkeit besitzen kann. Die Meditation ist aber unverzichtbar. Raum und
Zeit dafür sollten zur Verfügung gestellt werden. Meditation bedeutet Kon-
zentration, und man sollte sie ernst nehmen. Körperhaltung, Atmung usw.
können helfen, ebenso ein Mantra. Zentral aber ist die Klärung der eigenen
inneren Motive und eigenen allgemeinen Konfliktphilosophie, ein oft schmerz-
liches In-sich-gehen, da jeder potentiell sich selbst am besten beurteilen
kann. Wenn man den Konfliktdialog mit nur einem einzigen Gedanken auf-
nimmt, nämlich mit einer klugen Strategie, wie man "gewinnen" könnte,
dann wird das kaum zu einer Lösung beitragen und nicht einmal dazu, daß
man "gewinnt".
Was den äußeren Dialog betrifft, so gibt es bereits ein gutes Modell: das
Seminar. Vielleicht gibt es einen oder zwei oder mehr einführende Vorträge,
generell aber steht die meiste Zeit dem wechselseitigen Brainstorming zur
Verfügung. Die Suche hat begonnen. Im Prinzip benötigt man dafür nur ei-
nen Raum mit einem runden Tisch, an dem alle Akteure sitzen und auf den
alle ThemenlProbleme/Ziele kommen, und ZEIT. Entscheidend ist, den Geist
gemeinsamer Suche aufrecht zu erhalten und daran zu denken, daß alle mehr
davon haben, wenn niemand versucht, zu "gewinnen", indem er den Dialog
zur Debatte macht und dabei andere in die Enge treibt. '26
Menschen sind nicht nur auditive, sondern auch visuelle Wesen, und mit
Hilfe von Diagrammen können Strukturmuster vielleicht besser vermittelt
werden, so wie die verbale Präsentation vielleicht konsequenzlogisches Den-
ken besser vermitteln kann. Viel Papier und volle Füllfederhalter sollten zur
allgemeinen Verfügung stehen. Der gemeinsamen Suche nach kreativen
Auswegen aus einem destruktiven Konflikt steht nichts mehr im Wege.

125 "Wer bist Du denn, daß Du denkst, Du könntest Dich aus dieser Sache durch Ent-
schuldigungen herauswinden?", und auf der anderen Seite: "Wer bist Du denn, daß
Du meinst, Du dürftest Vergebung austeilen?" Dennoch hat dieses Paradigma etwas
Schönes, da es die Möglichkeit zu einem Neubeginn bietet, der allerdings dazu ge-
nutzt werden müßte, sich vorwärts zu bewegen.
126 Die generell- besonders im Okzident - übliche Methode, eine Debatte zu gewinnen,
besteht darin, den anderen auf einen Widerspruch zwischen zwei oder mehr Daten-,
Theorie- oder Wertbehauptungen festzunageln. Bei einem Dialog geht es darum, sich
gegenseitig aus Widersprüchen herauszuhelfen, oder darum, die Widersprüche sinn-
voll zu nutzen.
196 Konflikttheorie

4.4 Typ 3 - 6: dialogische Konflikttransformation


Wir kommen nun zu Typ 3 - 6. Ein Konflikthelfer tritt auf den Plan, von
dem wir annehmen, daß er sich mit dieser Art menschlicher Situation aus-
kennt; der vorzugsweise Erfahrungen hat mit persönlichen, gesellschaftlichen
und Weltsystemen, und nicht nur mit einem von diesen. Wir werden eine sol-
che Person "sie" nennen, wollen deshalb Männer aber nicht unbedingt aus-
schließen. Es gibt jedoch Grund zur Annahme, daß Frauen für eine solche
Rolle geeigneter sind als Männer: Sie sind einfühlsamer und holistischer,
weniger aggressiv in ihrer verbalen Ausdrucksweise und in ihrer Körperspra-
che.
Sie sollte einige Vorgespräche geführt haben zur Klärung grundlegender
Tatsachen in Bezug auf das DPT-Dreieck, wie es von den Konfliktbeteiligten
wahrgenommen wird - unter anderem um herauszufinden, ob sie speziell für
diesen bestimmten Fall geeignet ist. Dabei sollte sie insbesondere auf das
Konvergenzniveau der Prognosen geachtet haben, ohne bei niedrigem Ni-
veau eine weitere Konflikthilfe (conflict facilitation) auszuschließen.
In anderen Worten ist sie mit dem Konflikt bereits vertraut; vielleicht
sollte sie die Beteiligten selbst zu einer ersten Einführung in den Konflikt
nutzen, eher als allgemeine oder auch speziellere Literatur. Deren Lektüre
kann zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Was oben über die Meditation
gesagt wurde, ist für sie ebenso relevant wie für die Beteiligten; damit ordnet
sie ihre Gedanken, versteht ihre eigenen präkognitiven, präemotionalen und
vorwillentlichen Voraussetzungen, die ihre Sensibilität für die positiven und
negativen Aspekte des betreffenden Falls mindern könnten. Eine Metapher:
Säubere vor einer schwierigen Arbeit das dafür benötigte Gerät, wie das jeder
gute Küchenchef oder Chirurg oder jeder andere Handwerker täte. Das ist
sehr schwierig, aber kaum unmöglich.
Die Kernfrage auf dem Weg zu einem annehmbaren und haltbaren Resul-
tat (nicht mit einer Versöhnung zu verwechseln, die eher auf der A-Ebene
liegt) ist die, wie man den Dialog einsetzen kann, um das DPT-Dreieck ab-
zuklären. Wenden wir uns aber erst einmal der Typologie der folgenden Ta-
belle zu:

Tabelle 2.5: Das DPT-Dreieck und die Zeitdimension.


Analyse Praxis
Vergangenheit Diagnose erneutes Durchleben,
das sich an die Faktenl
nicht an die Fakten hält
Gegenwart Beschreibung Vorschrift
Zukunft Prognose Therapie
Konfliktinterventionen 197

In der Regel konzentrieren sich Konfliktteilnehmer auf die Vergangenheit


und auf die Analyse. Dafür gibt es triftige Gründe. Es steht dabei die V-
Ebene im Vordergrund: "Er hat dies getan, und darauf habe ich jenes getan";
man stellt die Lage meist sehr detailliert dar, manchmal einseitig, darum nicht
unbedingt falsch, aber unvollständig. Wenn der Außenstehende ein qualifizier-
ter Zuhörer ist, den Analysen empathisch folgt, sie dann zusammenbringt, kann
er ein ziemlich angemessenes Bild bekommen, vorausgesetzt, er läßt zu, ja
erzwingt, daß sich die Bilder ergänzen.
Wir haben es hier jedoch nicht mit einem sozialwissenschaftlichen Projekt
mit einer historischen Dimension zu tun, bei dem Daten für ein Oral-History-
Projekt gesammelt werden. Bei einer Konflikttransformation kann es um Le-
ben und Tod, die Extreme von Schöpfung und Zerstörung, gehen. Daher
müssen alle, die daran teilhaben, also die ursprüngliche Konfliktformation
und die externen Parteien, die Helfer, auf irgendeine Weise in die entgegen-
gesetzte Ecke gelangen, sich also an der Zukunft und an der Praxis orientie-
ren statt an der Vergangenheit und an der Diagnose. Nicht in dem Sinne nun,
daß eine lineare oder krummlinige Einweg-Trajektorie von der oberen linken
Ecke zur rechten unteren gezogen werden muß. Man kann und sollte zur
Seite, nach hinten oder wohin auch immer springen und gleichzeitig an allen
sechs Kombinationen arbeiten. Aber die allgemeine Erwartung wird wie be-
schrieben sein, d.h. es gilt, die beiden Hürden einer zu großen Betonung der
Vergangenheit einerseits, der Analyse andererseits, zu überwinden.
Beide Hürden gleichzeitig nehmen zu wollen, ist vielleicht ein zu ehrgei-
ziges Unterfangen, obwohl solche Sprünge ("Also, wie können wir das in
Zukunft vermeiden oder lösen?") empfohlen werden können, wenn auf sie
eine Analyse der Vergangenheit folgt. Es ist aber wahrscheinlich eine siche-
rere Methode, Schritt für Schritt, von der Vergangenheit zur Zukunft und von
der Analyse zur Praxis voranzuschreiten.
Die Bewegung von der Vergangenheit zur Zukunft: Diese Bewegung ist
unverzichtbar, da die Vergangenheit Erinnerungen an alles weckt, was schief-
gegangen ist, an alle Formen direkter und struktureller Gewalt. Man kann
davon ausgehen, daß die Akteure in dieser Hinsicht Experten sind. Die Ver-
gangenheit ist die ideale Basis für Schuldverteilungen und zwar sowohl zwi-
schen den Akteuren selbst als auch von oben, da erstere hoffen können, daß
die Helfer "Ihr-habtlIhr-hattet-Recht"-Zertifikate ausstellen und damit nicht
nur eher die Diagnose der einen Seite akzeptieren, sondern auch deren ver-
gangene Taten legitimieren werden, indem sie so den einen die Schuld neh-
men und sie den anderen aufbürden.
Man kann in der Vergangenheit nach Daten schürfen und diese Daten nüt-
zen; ja diese sind sogar unverzichtbar für moralische Prozesse und rechtliche
Verfahren. Das sind aber sehr spezifische Therapieansätze, denn damit wird
die Aufmerksamkeit vom Konflikt zwischen den Beteiligten auf das Verhält-
nis eines oder einiger von ihnen zu höheren Autoritäten gelenkt, z.B. auf ihr
198 Konflikttheorie

Verhältnis zu Gott oder zumindest zum Priester, zur Gerechtigkeit oder zu-
mindest zum Richter.
Zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt eine Eisschicht: die Gegen-
wart, ein schmales Zeitband, welches die Geschichte von der Zukunft trennt.
Die hiermit verbundene Einstellung können wir Präsentismus 121 nennen, der
eine Diagnose erschwert und stattdessen eine Art (journalistischer) Schnapp-
schußdarstellung dessen bietet, was jetzt gerade geschieht; dieser Präsentis-
mus ist blind gegenüber den Wurzeln in der Vergangenheit. Heraus kommen
dabei nur Rezepte, keine für künftige positive und negative Nebenwirkun-
gen sensible Therapie. Die Zukunft aber ist wie die Vergangenheit: Sie dau-
ert lange an.
Gleichwohl sind ein Beharren auf der Vergangenheit (pastism) wie auf der
Zukunft (futurism) nicht viel besser. In der Vergangenheit nach Wurzeln zu
suchen, wird das Verständnis verbessern, daher kann darauf nicht verzichtet
werden. Es kann aber auch zum Trugschluß des tout comprendre, c'est tout
pardonner auf der moralischen Ebene führen sowie zu einer Suche nach ver-
gangenen Lösungen bzw. zu Extrapolationen der Vergangenheit. Da aber in
der Vergangenheit offensichtlich Entscheidendes falsch gelaufen ist, kann sie
unmöglich als hinreichende Basis für den Entwurf einer besseren Zukunft
dienen (wenn sie das könnte, hätten wir diese Zukunft wahrscheinlich schon
längst erreicht; wir haben uns ja lange genug in der Vergangenheit auf-
gehalten). Und der einseitige Fokus auf die Gegenwart verführt zum entge-
gengesetzten Irrtum eines moralischen Urteils, das durch kein Verständnis
gemildert wird. Ein weiteres Mal also Skylla und Charybdis.
Andererseits kann die einseitige Beschäftigung mit der Zukunft zu etwas
führen, das wir mangels besserer Begriffe den "Cafeteria-Fehlschluß" nennen
können: Man denkt, die Zukunft sei offen, man könne sich jedes gewünschte
Lösungs-Gericht aussuchen. Die Zukunft ist vielleicht nicht vollkommen ver-
sperrt, sie kann selbst einem in der Vergangenheit Gefangenen noch eine
positive Öffnung bieten. Aber jeder lebende Organismus besitzt ein Gedächt-
nis, nicht nur Menschen, sondern auch soziale Systeme (vermittelt über Arte-
fakte, etwa Denkmäler) oder Weltsysteme (z.B. Grenzen, Staatsfeiertage).
Die Vergangenheit wird uns immer begleiten, insbesondere die unverar-
beitete Vergangenheit; sie ist in uns, um uns herum, überall. Wie kann man
die Zeitbarriere dann überwinden?
Mein Vorschlag lautet, bei der Analyse zu bleiben und die Teilnehmer
einfach dazu aufzufordern, Prognosen auf der Basis ihrer Diagnosen zu stel-
len. Die analytische Denkweise, gestützt auf Daten und anfechtbare Extra-

127 Diese treffende Formulierung einer bei vielen Außenstehenden des Konflikts in Ex-
Jugoslawien vorherrschenden Einstellung - die die Schatten der Vergangenheit völ-
lig mißachtet, von den Schatten der Zukunft gar nicht zu reden - verdanke ich Pro-
fessor Svetozar Stojanovic.
Konfliktinterventionen 199

polationen aus der Vergangenheit, kann beibehalten werden. Wichtig ist, daß
man das Land der Zukunft gemeinsam betritt. Wenn man sich erst einmal
dort eingefunden hat, kann noch sehr viel erreicht werden, wenn man den of-
fenen Dialog, an dem sich die Helfer ebenso beteiligen sollten wie alle ande-
ren, beständig aufrechterhält; in diesen Dialog sollten Wissen und Meinun-
gen einfließen und niemand sollte sich zurückhalten. Nicht zuviel Diagnose -
die kann später kommen.
Natürlich wird es Widerstände geben. Die Vergangenheit bietet Sicherheit,
nicht allein deshalb, weil die Beteiligten sie zu kennen glauben, sondern
auch, weil sie ihr Konfliktbild stark an der Vergangenheit ausgerichtet haben.
Und dennoch wollen sie dem Vergangenheitsgefängnis entfliehen. Die Ein-
ladung, geleitet von Prognosen, sich mit der Zukunft zu befassen, kann die-
sen Wunsch nach Transzendenz noch intensivieren. Wenn sich alle Beteilig-
ten einig sind, daß sich der Konflikt von selbst erledigen wird, können die
Helfer die Sache abbrechen. Wenn sie sich nicht einig sind, wird sich die
nächste Frage: "Wie können wir den Ereignisablauf so beeinflussen, daß eine
bessere Zukunft entsteht", praktisch von selbst stellen. Wenden wir uns er-
neut der Zukunft zu, durch die Tür der obigen Tabelle.
Der Schritt von der Analyse zur Praxis: Dieser Schritt sollte im Prinzip
leichter zu vollziehen sein, da ja alle Konfliktakteure (nicht nur Parteien) die
meiste Zeit handeln. Die Gegenwart ist aber eine mit starken Gefühlen ver-
minte Hürde, und die Zukunft ist bedrohlich, da das Ergebnis, das irgend wo
dort im Land der Zukunft wartet, vielleicht viel weniger als erhofft bieten
wird. Uns bleibt eine vierte Möglichkeit, die nicht im DPT-Dreieck, wie
normalerweise interpretiert, enthalten ist: die Zurückwendung in die Vergan-
genheit, aber auf der Ebene der Emotion und der Erfahrung und nicht der
Analyse - als erneutes Durchleben der Vergangenheit.
Das kann auf zweifache Weise, faktisch und kontrafaktisch, geschehen.
Stellen wir uns eine sexuelle Belästigung vor oder die Krise zwischen der
Sowjetunion und den USA um Cuba im Herbst 1962. Bringen wir die Akteu-
re zusammen, und zwar nicht nur, um zu analysieren, was damals geschah,
sondern um die Ereignisse nachzuspielen. Das geht natürlich nicht bei Kon-
flikten mit hohen V-Niveaus; die gewalttätigsten Teile könnte man aber aus-
lassen oder nur andeuten. Warum sollte man ein Trauma nochmals durchle-
ben? Um die Vergangenheit zu entmystifizieren, um zu zeigen, daß die Be-
teiligten gewöhnliche, fragile und verwundbare menschliche Wesen mit all
ihren Stärken und Schwächen waren und es da nichts Geheimnisvolles, vom
Himmel Gefallenes gab.
Zentral aber ist das kontrafaktische erneute Durchleben. Man sollte das
Drama bis zur Krise nachspielen und dann die Schlüsselfrage stellen: Was
hätte getan werden können? Im allgemeinen gelangt man irgendwann an ei-
nen Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt, einen Punkt, von dem aus
die Entscheidungsfreiheit eines oder mehrere Akteure drastisch beschnitten
200 Konflikttheorie

ist, aus Gründen des Gefühls oder des Interesses oder aus beiden. 128 Mit zu-
nehmendem Abstand von der Krise nimmt das Ausmaß an Entscheidungs-
möglichkeiten zu. Es gab Alternativen, wenn nicht in der A- oder W-Ecke, so
doch auf jeden Fall in der V-Ecke. Man hätte anders handeln können.
Was ist der Sinn einer solchen Übung? Zu zeigen, daß das, was geschah,
keinem Naturgesetz unterlag; daß die Ereignisse einen anderen Verlauf hät-
ten nehmen können. Voraussicht wäre eine Bedingung dafür gewesen, vor
allem aber Empathie, vielleicht sogar Mitleid mit anderen in der Formation,
um die Konsequenzen des eigenen Handeins besser einschätzen zu können.
Und um ein Gefühl der Verantwortung für sich selbst und für andere zu ent-
wickeln. Wenn die Akteure, die an einer solchen Sitzung teilnehmen, gewillt
sind, Ratschläge bezüglich der Vergangenheit von anderen Akteuren anzu-
nehmen, wenn sie bereit sind, das Für und Wider gegeneinander abzuwägen,
ohne zu behaupten, sie hätten keine andere Wahl gehabt, dann ist viel ge-
wonnen.
Der faktische Ansatz setzt ein gutes Erinnerungsvermögen voraus, der
kontrafaktische verlangt Phantasie. Ersteres kann durch Verzerrungen und
Projektionen getrübt sein, letztere ist sehr gefragt, aber oft nicht in ausrei-
chendem Maße vorhanden. Die Aufgabe der Helferin ist es also, Beistand zu
leisten, als sprichwörtliche Hebamme für Erinnerung und Phantasie zu die-
nen, wobei man letztere auch alternative Erinnerung nennen könnte. Sie muß
Fragen stellen und Vorschläge machen, dann wieder Vorschläge machen und
Fragen stellen. Der Zweck des faktischen Ansatzes ist es, die Vergangenheit
zu überwinden, indem man sie erneut durchlebt; der Zweck des kontrafak-
tischen Ansatzes ist es, die Zukunft zu erfinden, indem man die Geschichte
der Vergangenheit verändert. Beide Ansätze werden gebraucht.
Nach solchen Übungen, nach dem Niederreißen der Barrieren zwischen
Vergangenheit und Zukunft und zwischen Analyse und Praxis zumindest
hinsichtlich der Vergangenheit, dürfte das Aufsuchen der Therapieecke in
der obigen Tabelle weniger furchterregend wirken. Und an dieser Stelle ist
der Brainstorming-Dialog-Ansatz wahrscheinlich das beste Rezept. Die Hel-
fer werden natürlich die in Kapitel 3 dargestellten Formeln für eine Kon-
flikttransformation oder vergleichbare Rezepte im Kopf haben und eines oder
mehrere davon zu einem gegebenen Zeitpunkt vorschlagen. 129 Am gün-

128 Vergewaltiger, wie sexuell erregte Männer ganz allgemein, behaupten so etwas häu-
fig. Mit Recht oder nicht?
129 Unter den zahllosen Veröffentlichungen zu diesem Thema könnten Roger Fisher und
William Ury: Getting to Yes, Boston, MA 1982, John W. Burton: Resolving Deep-
Rooted Conflict, Lanham, MD 1987 und E. Victoria Shook, Ho'oponopono, Honolu-
lu, HI 1985, für den Leser hilfreich sein. Ich habe ernsthafte Vorbehalte gegenüber
Fishers Buch, die sich alle auf dessen Untertitel "Negotiating Agreement Without
Giving In" beziehen. Eine nicht-nachgebende Einstellung kann keine gute Grundlage
sein. Andererseits besteht das entsprechende Vorgehen natürlich darin, eine Trans-
Konfliktinterventionen 201

stigsten wäre es aber, gemeinsam zu möglichen Lösungen zu finden, handele


es sich dabei nun um den Typ Transzendenz, Kompromiß, Rückzug, Kom-
pensation, FissionlFusion oder um irgendeinen anderen Typ. Bei größerer
Komplexität kann eine Vereinfachung angebracht sein, bei geringer Kom-
plexität eine Komplexifizierung, immer auf den konkreten Fall bezogen.
Welche Persönlichkeit und welches Verhalten sollte man von Konflikthel-
ferInnen erwarten? Ganz allgemein betrachtet, sind die besten und allen be-
kannten Rollenvorbilder wahrscheinlich Arzt und Priester. Deren gemein-
sames Merkmal ist die Akzeptanz, daß jemand in Nöten ist, Hilfe braucht.
Sie können die Betreffenden wegen deren falschen Entscheidungen kritisie-
ren, danach werden sie sich aber mit deren Problem auseinandersetzen und
ihre Sachkenntnis einbringen. Bezüglich der Konfliktintervention heißt das,
daß die allgemeine Konflikttheorie, vergleichbare Fälle und die Besonderhei-
ten des vorliegenden Falles dem Helfer bekannt sein müssen. "Euer Konflikt
erinnert mich an ... " sollte nur mit Vorsicht eingesetzt werden, denn sonst
könnten die Konfliktbeteiligten einen Identitätsverlust erleiden, wenn sie sich
auf eine allgemeine Formel reduziert fühlen. Ein Konflikthelfer muß auch
durch offengelegtes Wissen Kompetenz ausstrahlen, damit die Beteiligten
das Gefühl bekommen, in ihrer Mitte einen guten Reiseführer für die kom-
plexe Landschaft der Tabelle 2.5 zu haben. Kurz, sie/er braucht Wissen
(insbesondere über Gewaltlosigkeit), Vorstellungskraft (Kreativität), Mitge-
fühl (Empathie) und Beharrlichkeit.

4.5 Typ 7 -10: aufgezwungene Konflikttransformation


Hier haben wir ein ganz anderes Spiel. Die Beteiligten sind einen faustischen
Pakt mit dem Teufel eingegangen, sie müssen sich unterwerfen, damit ihnen
jemand die Lösung bietet. Auch mit dem Konfliktdiktator besteht ein Pakt:
totale Unterwerfung gegen totales Diktat. Es gibt immer die Möglichkeit,
sich zu weigern, das, was der Diktator sagt, zu akzeptieren, anzunehmen oder
gar nur anzuhören, auch wenn der Preis dafür ungeheuer hoch sein kann.
Unterwerfung aber heißt Einwilligung.
Die vier Haupt-Rollenträger in den Paradigmen "Vermittlung", "Schlich-
tung", "Rechtsförmige Entscheidung" und "Entscheidung durch Menschen"
(Typen 7-10) könnten alle viel lernen von den Typen 3 bis 6. Der Vermittler
kann immer noch einen Vorschlag machen, bei dem er es den Beteiligten

zendenz zu suchen, die es allen Konfliktparteien erlaubt, zuzustimmen, ohne sich ge-
schlagen zu geben. Burtons Buch enthält 56 sehr nützliche Regeln, inbesondere
Drittparteien, Sponsoren und Panels betreffend. Und Shooks Buch leistet seine
Dienste als eine Einführung in die Art und Weise, wie die hawaiische Kultur sich
bemüht, mit Konflikten umzugehen.
202 Konflikttheorie

überläßt, ob sie ihn akzeptieren wollen oder nicht. Es ist denkbar, daß sie den
Vorschlag eher akzeptieren, wenn sie alle den Prozeß durchgemacht haben,
der im letzten Abschnitt beschrieben wurde. Das gleiche gilt für den Schlich-
ter: Hier müssen die Beteiligten den Vorschlag akzeptieren; in diesem Fall
kann es aber sein, daß sie ihn befürworten, und daß das Resultat haltbar sein
wird. Wenn die Akteure aber die Repräsentanten kollektiver Akteure sind,
gar sogenannte Führer, ist das einzige, was erreicht worden ist, eine Akzep-
tanz auf der obersten Ebene, mit einigen Unterschriften. Laßt tausend Sit-
zungen stattfinden, wiederholt den Vorgang vielerorts mit maximaler Betei-
ligung. Aber lauft nicht in die "Wie-die-Führer-so-das-Volk" -Falle und
produziert nur wertlose Papiere.
Kann der Richter einen Dialog mit den Beklagten eingehen? Natürlich
kann er das; Z.B. kann er fragen, welche Strafe (Strafrecht) oder Entschei-
dung (Zivilrecht) sie für angemessen halten. Ein solcher Dialog kann unge-
heures Konfliktlösungspotential besitzen; und der Richter hat immer noch die
Möglichkeit, sein eigenes, gut begründetes Urteil zu fällen. Beide Seiten die-
ser vertikalen Konstellation könnten daraus Gewinn ziehen.
Kann der Konfliktdiktator dazu bewegt werden, solche Spiele mitzuma-
chen? Nur dann, wenn man sich seinen Wünschen mit solchen Taktiken wie
der der Nicht-Kooperation oder des zivilen Ungehorsams widersetzt. Nur
dann, wenn die gesamte Konfliktformation geschlossen auftritt (wenn z.B.
Serben, Kroaten und Muslime sich zusammentun würden, um gemeinsam ei-
ne UNINATO-Interventionstruppe zur Durchsetzung eines Sicherheitsratsbe-
schlusses zu bekämpfen), wird der Konfliktdiktator sich früher oder später
für Interventionstypen mit niedrigeren Zahlen entscheiden müssen - oder
sich zurückziehen.
Es gibt für alle genannten Rollenträger gute Gründe, eine dialogische
Konflikttransformation ins Spiel zu bringen. Sie machen sich vielleicht keine
allzu großen Gedanken über den Diebstahl von Herausforderungen; die Fra-
ge, ob sich die Machtdistanz durch eine aufgezwungene Konflikttransforma-
tion vergrößert, ist ihnen aus denselben Gründen wahrscheinlich auch nicht
so wichtig. Aber sie werden sich vielleicht Gedanken machen, wenn ihre Lö-
sung von den Beteiligten nicht akzeptiert wird oder intern nicht haltbar ist,
denn das könnte dem Ruf ihrer Ansätze schaden. Ein Meta- Konflikt um Kon-
fliktintervention also!
Ein zentrales Problem besteht in der geringen Wahrscheinlichkeit, daß
sich die Konfliktbeteiligten bei einer aufgezwungenen Konflikttransformati-
on ehrlich und konstruktiv verhalten werden. Sie müssen ja auf eine be-
stimmte Person Eindruck machen, weil diese Macht über sie hat. Ein ein-
schlägiges Verhalten bestünde darin, Informationen zurückzuhalten, Angst
zu haben, anstatt sich konstruktiv zu verhalten, auf ein Urteil zu warten, an-
statt sich an dessen Entstehung zu beteiligen. Vielleicht zeugen solche Ver-
haltensweisen von den Überresten alter Gesellschaftsordnungen, in denen die
Konfliktinterventionen 203

Weisheit der Obrigkeit oder zumindestens deren Beauftragung durch höhere


Mächte als selbstverständlich angesehen wurde. Der Vermittler und der
Schlichter unterscheiden sich jedoch nicht so sehr von Konfliktlösungsma-
schinen, die nach dem Zufallsprinzip entscheiden 130 - es scheint also noch
viel Vertrauen in Weisheit und Beauftragung zu geben. Eine allgemeine Ho-
rizontalisierung der Konflikttransformation wäre jedoch eine revolutionäre
Veränderung. Rechtsanwälte mögen unbeliebt sein. Aber Aufstände gegen
Richter wird es wohl erst in der Zukunft geben.

4.6 Konfliktinterventionen und das Konfliktdreieck


Kommen wir zum Konfliktdreieck zurück: Was bedeutet ein erfolgreicher
Konfliktinterventionsprozeß, sei er nun getragen von den Beteiligten oder
von externen Parteien oder von beiden in einer symmetrischen kommunikati-
ven Beziehung, für die Ecken des Dreiecks?
Erstens haben wir den friedenserhaltenden Aspekt, wenn V, das Zerstö-
rungsniveau, gesenkt wird. Vielleicht zäumt man aber das Pferd beim Schwanz
auf, wenn man vor Beginn eines Kommunikationsprozesses eine Waffenruhe
oder ganz allgemein gutes Betragen fordert. Man sollte Kommunikations-
kanäle immer für eine mögliche Konflikttransformation offenhalten.
Zweitens haben wir in der A-Ecke den friedens stiftenden Aspekt, die Ver-
änderung von Einstellungen und Unterstellungen, aber auch sehr konkrete
Maßnahmen, um die neue Formation tragfähig zu machen. Die Einstellungen
müssen positiver werden und die Unterstellungen müssen stärker zu einer
friedlichen Koexistenz innerhalb der neuen Formation beitragen. Eine Vor-
bedingung ist wahrscheinlich ein emotionales Ventil; hier kommt die Praxis,
die Vergangenheit noch einmal zu durchleben, in's Spiel. Alle Beteiligten
müssen aber auch einigermaßen überzeugt sein, daß eine tiefgehende Verän-
derung der Unterstellungen erfolgt, so daß eine Wiederholung des gleichen
Konfliktverhaltens gegebenenfalls weniger wahrscheinlich wird. Eine Neu-
programmierung, an der beide Parteien gleichermaßen beteiligt wären, wäre
ideal. (Eine Ausführung dieser Idee findet sich in Kapitel 5 des letzten Teils.)
Drittens haben wir den friedensaufkonsolidierenden Aspekt des Versuchs,
W, den Widerspruch, zu überwinden. In Kapitel 3 haben wir allgemeine
Formeln gegeben; Konfliktinterventionen sind bewußte Bemühungen, diese
zu implementieren. Während solcher Versuche wird und muß eine Bewußt-
machung, eine Anhebung des allgemeinen Bewußtseinsniveaus, stattfinden.
Ziel ist eine akzeptable Formel, die eine neue Formation definiert: neue
Strukturen, neue Institutionen.

130 Siehe Johan Galtung: "Institutionalized Conflict Resolution", in: Essays in Peace
Research, Bd. 111, Kopenhagen 1978, Kap. 14
204 Konjlikttheorie

Dieser Bereich ist der schwierigste und hat daher am wenigsten Beachtung
gefunden; hier kann noch alles schiefgehen.
5 Gewaltfreie Konflikttransformation

5.1 Konflikttheorie, Konflikttransformation - und


Gandhi l3l
Konflikttheorie könnte ihren Ausgang nehmen von einer Inkompatibilität auf
der einen, von den Akteuren und deren Konfliktformation auf der anderen
Seite. Bisweilen ist es möglich, eine Inkompatibilität aufzulösen, ohne dabei
die Akteure oder deren Verhältnis zueinander oder auch nur die Konfliktfor-
mation als solche zu tangieren. Genau das geschieht in einem Komprorniß.
Die Akteure sind noch da, und ihre Beziehung bleibt im Prinzip unberührt.
Der Konflikt wird jedoch dadurch beigelegt, daß beide Parteien nun ihre An-
sprüche herabsetzen können, wodurch ihre jetzt gemäßigten Ziele kompatibel
werden. Ein noch besseres Beispiel ist in gewisser Weise der gegenteilige
Ansatz: Die Grenze des Kompatiblen wird immer weiter hinausgeschoben,
bis sie in den Bereich des Annehmbaren gerät. Die Inkompatibilität selbst
wird dadurch transzendiert.
Beim klassischen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Disput um die Löhne bestün-
de der erste Ansatz in einer neuen Methode zur Teilung eines vorhandenen
Kuchens, der zweite Ansatz dagegen in der Vergrößerung dieses Kuchens,
möglicherweise unter Beibehaltung der alten Teilungsmethode. Beide Ansät-
ze schließen sich gegenseitig nicht aus. Desweiteren gibt es den Rückzug,
aber auch noch andere Ansätze. Man kann die Konfliktformation, ohne die
Akteure selbst zu verändern, grundlegend durch eine Erweiterung des Aus-
maßes der Interaktion zwischen ihnen verändern, indem man die Anzahl der
Konflikte zwischen ihnen vergrößert. Werfen wir hierauf einen erneuten
Blick, um zugleich Gandhi einzuführen.
In den bisher dargestellten Fällen ist das System der Akteure nicht tangiert
worden, aber auch dieses kann erweitert werden, und wenn zu den ursprüng-
lichen beiden Akteuren, durch die ein Konflikt oft definiert ist, weitere hin-
zukommen, gibt es mehr Möglichkeiten. Die Ausweitung eines Konflikts
führt dazu, daß dieser aus dem bilateralen oder gar bipolaren Rahmen her-

131 Dieser Abschnitt basiert auf meinem Buch The Way is the Goal: Gandhi Today, Ah-
madabad 1992. Für weitere Details verweise ich den Leser auf diesen Titel, speziell
auf dessen Kapitel 3.4 "How Nonviolence Works: Some Hypotheses", S. 130-135.
206 Konflikttheorie

ausgelöst werden kann, in dem ein Konflikt oft genug steckenbleibt. Wenn A
in einem Konflikt mit B, B in einem Konflikt mit C und C in einem Konflikt
mit A steckt, dann können sie diese Konflikte alle zusammenwerfen und
vielleicht feststellen, daß sie sich gegenseitig aufheben.
Das System der Akteure kann aber auch statt durch eine Ausweitung durch
eine Kontraktion verändert werden. Es kann etwa von zwei Akteuren auf einen
reduziert werden. Das geschieht bei einer Integration, die nicht nur den Zusam-
menschluß zweier Akteure zu einem (Fusion), sondern auch die Harmonisie-
rung von deren Zielen, d.h. von deren Interessen und Werten, bezeichnet.
Es gibt dann noch eine letzte, aber keineswegs unwichtige Art der Verän-
derung im Akteurssystem: die Auflösung, Fission, Entkopplung. Diese Mög-
lichkeit besteht nur dann, wenn die Beteiligten schon verbunden sind. Bei ei-
nem Konflikt zwischen einem Eindringling und einem Volk ergibt Ent-
kopplung keinen Sinn. Zwischen einem Ausbeuter und den Ausgebeuteten
aber kann sie sehr sinnvoll sein. Und sinnvoll kann sie auch bei horizontalen
Beziehungen sein: Zwei Geschäftspartner können sich entscheiden, getrennte
Wege zu gehen; eine Ehe kann auseinanderbrechen. Kurzum, so wie es bei
Übereinstimmung der Ziele zu einer Fusion kommen kann, kann es bei Dis-
harmonie der Ziele zur Fission kommen.
Damit haben wir sechs Ansätze zur Konfliktlösung: Auflösung der In-
kompatibilität (Transzendenz), Komprorniß, Vertiefung, Ausweitung, Inte-
gration und Desintegration durch Entkoppeln. Hinzu tritt eine andere Familie
von Ansätzen, die nicht darauf abzielt, die Inkompatibilität aufzuheben, son-
dern die den Konflikt einzufrieren, zu verleugnen, in die Länge zu ziehen
versucht - mit allen möglichen Mitteln, einschließlich des Einsatzes struktu-
reller und direkter Gewalt.
Die Beteiligten können sich also mehr nach innen wenden, sich einander
positiv, oder aber auch auf eine negative Art und Weise zuwenden, indem sie
den bestehenden Konflikt durch die Einführung eines neuen in den Hinter-
grund schieben (wenn ich heute Dein Haus in Brand setze, kann es sein, daß
Du vergißt, daß ich Dir gestern die Brieftasche geklaut habe), oder sich ande-
ren Akteuren zuwenden. Und zu guter Letzt kann man Konflikte auch durch
direkte und strukturelle Gewalt "lösen", denn wenn ein Akteur beherrscht
wird, sind ihm seine eigenen Interessen vielleicht gar nicht bewußt, und er ist
schon daher nicht in der Lage, ihnen nachzugehen. Und wenn er "außer Ge-
fecht versetzt" (getötet, isoliert, verbannt) worden ist, wird er sein Ziel nicht
mehr verfolgen und dem anderen Akteur in die Quere kommen.
Nun, wo steht der führende Theoretiker und Praktiker der Gewaltfreiheit,
Gandhi, in bezug auf die Konflikttransformation? Er lehnt die meisten dieser
Ansätze ab. Man kann behaupten, daß Gandhi, wenn es um die Auswahl von
Ansätzen der Konfliktlösung geht, ein Puritaner ist - hier wie bei seinen Nah-
rungspräferenzen sozusagen ein Vegetarier, und zwar weitgehend aus den
gleichen Gründen.
Gewaltfreie Konflikttransformation 207

So würde er eindeutig die letztgenannten beiden Ansätze ablehnen, die


Anwendung direkter und struktureller Gewalt, denn diese liefen seinen gan-
zen Vorstellungen von Gewaltlosigkeit zuwider. Gewaltlosigkeit bedeutet ei-
ne Ermahnung, gegen beide Arten von Gewalt anzukämpfen. Gewaltlosigkeit
bedeutet ebenso strikt, sie auch während dieses Kampfes nicht einzusetzen.
Gandhi würde auch die vier Möglichkeiten zur Verzögerung der Konflikt-
lösung ablehnen, da sie zu seiner Verfügung, Konflikte zu lösen, im Wider-
spruch stünden. Sie bedeuten ein Weglaufen vor dem Konflikt, einen Aus-
weg für diejenigen, die nicht willens sind, sich dem Konflikt voll zu stellen.
Deshalb gehören sie nicht zum satyiigraha, zu Gandhis Weise des Kampfes.
Zum Frieden führt kein Weg, der Frieden ist der Weg - und man muß ihn
jetzt gehen.
Ein Satyiigrahi versucht, gegen das Unrecht anzukämpfen, nicht, es unter
den Teppich zu kehren. Diese Haltung widerspricht nicht dem Einsatz des
Zeitelements beim satyiigraha. Der Kampf darf in die Länge gezogen wer-
den, damit genug Zeit für Veränderungen bei beiden Beteiligten gegeben ist;
er darf aber keineswegs in Vergessenheit geraten, an Bedeutung verlieren.
Von den ersten sechs Ansätzen, bei denen allen es irgendwo um wirkliche
Konfliktlösung geht, würde Gandhi zweifelsohne die Vertiefung und auch
deren Zwillingsschwester, die Ausweitung, ablehnen; und zwar deshalb, weil
hier die Inkompatibilitäten bestehen bleiben. Diese Ansätze etablieren nur
Märkte für den Handel mit Widersprüchen. Bei weniger grundlegenden Kon-
flikten kann derlei zulässig sein. Wenn dergleichen aber als Methode einge-
setzt wird, um mit grundlegenden Ungerechtigkeiten fortzufahren, wie wenn
man als Gegenleistung für eine unerhebliche Bodenreform auf weiterer Aus-
beutung besteht, oder wenn im Austausch für Unabhängigkeit die Teilung
Indiens erfolgt, dann kann man nicht von wirklichem Fortschritt sprechen.
Diese Ansätze können bei geringfügigen Anlässen zulässig sein, aber nicht,
wenn es um grundlegende Werte geht. Und Gandhi ging es im reifen Alter
gerade um Grundsatzkonflikte.
Für Gandhi bleiben also vier unserer zwölf Ansätze - eine erhebliche Re-
duzierung. Alle vier jedoch sind für Gandhis Ansatz außerordentlich wichtig,
und er hat sie alle weiterentwickelt.
Fangen wir unten auf unserer Liste an, mit Desintegration, Entkoppeln,
Fission. Hier tritt die gesamte Theorie der Nicht-Kooperation auf den Plan.
Das ist für Gandhi viel mehr als nur ein einfaches Abbrechen von Beziehun-
gen, wie wenn z.B. diplomatische Beziehungen und Handelsverbindungen
suspendiert werden oder eine Ehe mit Scheidung endet. Für Gandhi handelt
es sich in diesen Fällen nur um eine Entkopplung innerhalb einer Struktur,
die beide verbindet, nämlich der Sozialstruktur. Die tiefere Struktur, in der
die Einheit der Menschen zum Ausdruck komm.t, wäre damit nicht berührt,
und es ist Aufgabe des Satyiigrahi, sich auf dieser Ebene, von Mensch zu
Mensch, noch stärker zu engagieren.
208 Konflikttheorie

Dann die Integration (Fusion). Sie ist das Ziel, das in der Ram Raj-Ver-
einigung, dem Königreich Gottes, deutlich wird. Gandhi unterscheidet sich in
dieser Hinsicht von anderen Denkern, da für ihn keinerlei Grenzen wie Ge-
schlecht, Generation, Rasse, Klasse oder Nation bestehen, vor denen die In-
tegration halt machte. Integration ist universal, transzendiert sie alle. Sie ist
keine Integration gegen jemanden, also eine Allianz bzw. Gemeinschaft zur
Eindämmung struktureller Gewalt oder eine Übung in struktureller Gewalt.
Gandhi meint die Integration der Menschheit. Zudem ist Gandhi optimi-
stisch, was die Annäherung an dieses Ideal, wenn nicht sogar dessen voll-
kommene Erfüllung hier in dieser Welt betrifft. Jeder von uns kann in den
ozeanischen Kreisen der Kooperation seinen Platz finden, jeder hat hier die
gleichen Rechte und Pflichten.
Nun zum Kompromiß. Gandhi war oft für den Komprorniß, auch in Fällen,
in denen es ausah, als könne ein Sieg errungen werden in dem Sinne, daß alle
Mißstände beseitigt, alle Forderungen erfüllt werden könnten. Es ging ihm
nicht darum, die Auseinandersetzung zu gewinnen, sondern darum, sich wäh-
rend des gesamten Kampfes so zu verhalten, daß die bestmögliche Basis für
das Leben nach dem Konflikt gelegt werden würde. Die generelle Neigung,
Kompromisse einzugehen, impliziert jedoch nicht den Willen, hinsichtlich
fundamentaler Dinge Kompromisse einzugehen.
Zu guter Letzt: Auflösung der Inkompatibilität oder Transzendenz. Hier ist
oft Phantasie gefragt. Bezeichnenderweise machte Gandhi von diesem An-
satz Gebrauch, wenn er sich mit einem direkten Konflikt zwischen anderen
Parteien beschäftigte, aber auch, wenn er selbst der Hauptbeteiligte in einem
strukturellen Konflikt war. Der Konflikt wird transzendiert, das, was unver-
einbar erscheint, wird in einer neuen Struktur vereinbar. Beispiele hierfür
sind das horizontale Kastensystem, die Treuhandverwaltung, die Briten, die
in Indien bleiben, aber nicht mehr als Kolonialherren, das (Britische) Com-
monwealth gleichberechtigter und unabhängiger Nationen.
Warum hat Gandhi diese puritanische Einstellung zur Konfliktlösung? Im
Grunde deshalb, weil die Konfliktlösung nur ein Aspekt des gewünschten
Resultats des Konfliktaustrags ist. Mindestens ebenso wünschenswert ist die
positive Wirkung, die der Konflikt auf die daran Beteiligten haben soll. Eine
Konfliktlösung, aus der die Beteiligten unverändert, wenn nicht in noch
schlechterer Verfassung hervorgehen, ist kein Erfolg. Es gibt also drei Krite-
rien für eine erfolgreiche Konflikttransformation: eine neue Gesellschafts-
struktur als Ausdruck der Konfliktlösung im konventionellen Sinne und ein
höheres Selbstreinigungsniveau aller Akteure, sowohl der satyagraha-Gruppe
als auch der Gegner. Nicht allein W-, sondern auch A- und V-orientiert!
Letzteres wollen wir hier als höheres Selbständigkeitsniveau bei allen Be-
teiligten interpretieren; und genau hier führt die Zerstörung einer Ausbeu-
tungsstruktur auch zur Befreiung des Ausbeuters. Dieser war von seinen aus-
beuterischen Praktiken abhängig - durch den Kampf wird auch er lernen,
Gewaltfreie Konflikttransformation 209

selbständig zu werden. Das gleiche gilt für die anderen beiden Komponenten:
Der Kampf verhilft beiden Beteiligten dazu, furchtloser zu werden, und wird,
wenn richtig geführt, deren Bindungen stärken. Nur wenn klar ist, daß für
Gandhi viel weitgespanntere Erfolgskriterien gelten, kann man seine Einstel-
lung zur Konfliktlösung wirklich nachvollziehen.
Für Gandhi kommen zwei Drittel der Standard-Konfliktlösungsmodelle
nicht in Frage; die restlichen vier werden von ihm aber erheblich verfeinert. In
Begriffen moderner Strategien scheint Gandhi ein Anhänger der Doktrin der
stufen weisen und hinausgeschobenen Antwort zu sein. Der anderen Seite muß
Zeit gelassen werden, nachzudenken und die Gesamtsituation anders zu sehen;
ebenso wie die eigene Seite Zeit braucht, umzulernen und die eigene Position
zu transzendieren, um gemeinsam mit dem Gegner A und V zu verbessern.
Als Zusammenfassung kann die folgende Tabelle dem Leser/der Leserin
einen Überblick verschaffen:

Tabelle 2.6: Zwölf Ansätze der Konfliktlösung - und Gandhis vier


System von Konfliktsystem Inkompatibilität Imkompatibilität
Akteuren beseitigt beibehalten
beibehalten beibehalten 1. Transzendenz 7. positive Intraaktion
hinzufügen
2. Kompromiß 8. positive Interaktion
hinzufügen
beibehalten erweitert 3. Vertiefung 9. negative Interaktion
hinzufügen
erweitert beibehalten 4. Ausweitung 10. Interaktion mit
anderen Akteuren
Kontraktion auf einen 5. Integration Wie- 11. Herrschaft
Akteur derankopplunglFusion(strukturelle Gewalt)
entkoppelt 6. Desintegration 12. Unfähigmachen
Entkopplung/Fission (direkte Gewalt)

Es braucht Zeit, Lösungsmöglichkeiten für Unvereinbarkeiten zu finden, die


offensichtlich trotz aller Bemühungen um eine Einigung bestehen. Konflikt-
lösung im Sinne Gandhis kommt nicht in erster Linie durch Gegenüberstel-
lung von Standpunkten, durch Dialog, Handeln und Kompromisse zustande,
sondern durch Experimentieren mit neuen Formen gesellschaftlichen Lebens.
Eine niedrige Konfliktgeschwindigkeit wird derlei eher erlauben und verhin-
dern, daß menschliche und soziale Energie in destruktiven Handlungen ver-
geudet wird. Gewaltlosigkeit braucht Zeit: von 2 zu 1.
In diesem Punkt gibt es jedoch erhebliche Unterschiede - so erheblich,
daß sie zu einer echten Kluft führen - zwischen modemen strategischen
210 Konflikttheorie

Überlegungen und Gandhis Art zu argumentieren. "Gestufte Antwort" heißt


Eskalierung, eine zunehmende Bedrohung des Gegners. Man fängt mit einer
milden Drohung an, setzt diese dann in die Tat um, setzt dies fort auf immer
höheren Ebenen, bis "die Verluste inakzeptabel werden". Der Gegner "wird
weich". Ohne weiter zu verfolgen, weshalb so etwas in der Praxis oft nicht
funktioniert, sondern kontraproduktiv wirkt, müssen wir darauf hinweisen,
daß Gandhis Eskalierung sich so verstehen läßt, daß man selbst und der Geg-
ner mehr Autonomie und Selbständigkeit erlangt, es sich also hier nicht dar-
um handelt, den Grad der dem Gegner zugefügten Verletzungen zu steigern.
Mit anderen Worten: Wenn die satyagraha-Gruppe spürt, daß die Einheit
nicht wiederhergestellt, sondern nur neu hergestellt werden kann, dann ist der
Zeitpunkt gekommen, Autonomie zu erlangen, indem man die Bande der
Abhängigkeit kappt. Das kann für den Gegner wie eine gesteigerte Drohung
aussehen. Für die satyagraha-Gruppe ist das mehr als eine Unabhängigkeits-
erklärung; es bedeutet Unabhängigkeit, aber auch für den Gegner, und es ist
ein bleibendes Angebot, sich nach der Entkopplung, wenn beide Beteiligten
so weit sind, wieder anzukoppeln.
Beiden wird die Möglichkeit gegeben sich weiterzuentwickeln, wenn auch
für eine gewisse Zeit eher jeder für sich und nicht in Kooperation miteinan-
der. In gewisser Weise besteht hier ein Widerspruch zu Gandhis Auffassung,
es sei schlimmer, keine Beziehung zu haben, als eine Beziehung voller Ge-
walt. Dahinter steht aber sicherlich die Idee, so bald wie möglich wieder zu-
sammenzufinden, vielleicht unter anderen Bedingungen, wie Ehepartner, die
es aus irgendeinem Grunde für notwendig halten, eine Weile getrennt zu le-
ben. Die Entkopplung kann nie eine Dauerlösung sein, das Ziel ist Integrati-
on, Vereinigung, Fusion: von 6 zu 5.
Zusammenfassung: vom Komprorniß in untergeordneten Fragen zur
Transzendenz in entscheidenden Fragen; von der Entkopplung (Fission) zur
Wiederankopplung und Integration (Fusion). Dies braucht Zeit. Mit der Zeit
aber verändert sich vieles. Es ist schwer, konsistent zu bleiben. Ist aber Kon-
sistenz so wichtig? Gandhi verlangte durchweg Gewaltlosigkeit von sich
selbst - als Weg wie als langfristiges Ziel. Für ihn war Gewaltlosigkeit
(ahimsa) = Liebe (satya) = Wahrheit = Gott. Andere lud er ein mitzumachen.
Über alles Übrige kann verhandelt werden.

5.2 Gewaltfreiheit und Gewalt

Warum finden wir eigentlich nicht mehr gewaltlosen Kampf in der Welt, ge-
richtet gegen direkte Gewalt und gegen strukturelle Gewalt in den beiden
Standardformen der Repression und Ausbeutung? Die Antwort ist wahr-
scheinlich keine Frage moralischer Werte allein: Viele Menschen würden zu-
Gewaltfreie Konflikttransformation 211

stimmen, daß Ghandi moralisch sowohl Lenin wie Mao Zedong überlegen
ist, wenn diese Macht mit dem gleichsetzten, was aus dem Lauf der Gewehre
kommt. Die Antwort liegt auch in der Praxis der Gewaltfreiheit.
Die Behauptung "Gewaltfreiheit zeigt keine Wirkung" muß angesichts der
verblüffenden Erfolge in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts als unin-
formiert gelten; 132 das belegen
1. Ghandis svaraj-Kampagne seit 1920 für die Unabhängigkeit Indiens;133
2. die Befreiung arrestierter Juden im Februar 1943 in Berlin;
3. Martin Luther Kings Kampagne seit 1956 im Süden der USA;
4. die Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, innerhalb und außerhalb Viet-
nams;
5. das Vorgehen der Mütter gegen das Militär auf der Plaza de Mayo in
Buenos Aires;
6. die "People's Power"-Bewegung auf den Philippinen, 1986;
7. die "Children's Power"-Bewegung in Südafrika seit 1986;
8. die Intifada im besetzten Palästina, seit 1987;
9. die Demokratie-Bewegung in Peking, Frühjahr 1989, und
10. die SolidarnoscIDDR-Bewegungen, die zum Ende des Kalten Krieges
führten.
Natürlich ist kein Fall jemals ganz klar und rein. Aber in den genannten Fäl-
len wurde massive direkte Gewalt abgewehrt, und ebenso wurde größere
strukturelle Gewalt abgewehrt oder reduziert. Andere Faktoren spielten ge-
wiß mit, aber hätten die Bedrohten, die Ausgebeuteten und/oder Unterdrück-
ten anstatt auf Gewaltfreiheit auf die Karte größerer Gewalt gesetzt, dann
hätte dieses Verhalten nicht nur zum Einsatz größerer Gegengewalt Anreiz
gegeben, sondern die bedrückenden Verhältnisse wären wohl unverändert
geblieben. Zwar können wir dies nicht mit Sicherheit wissen, da wir die Ge-
schichte nicht noch einmal ablaufen lassen können. Gleichwohl erscheint
dies hoch plausibel. 134

132 S. z.B. mein Buch Nonviolence and IsraellPalestine, Honolulu, HI 1989, insbesonde-
re Kap. 2: "Principles of Nonviolent Action: the Great Chain of Nonviolence Hypo-
thesis", S. 13-34, sowie meinen Aufsatz "Eastern Europe Fall 1989 - What Happe-
ned, And Why? A Theory Sketch", in: Research in Social Movements, Conflicts and
Change, Greenwich, CT 1992, S. 75-97.
133 Diese schließt die Unabhängigkeit von Pakistan ein, auch wenn die Teilung des Lan-
des sehr stark dem widersprach, was Gandhi selbst wollte.
134 Einige Kommentare zur jeweiligen Komplexität der zehn Fälle:
1. Großbritannien war auch geschwächt durch den Zweiten Weltkrieg und durch
den Widerspruch, daß es einerseits den Autokratismus bekämpfte, andererseits
aber selbst dem Kolonialismus weiter anhing. Gandhis Tun schärfte diesen Wi-
derspruch.
2. Viele Juden kehrten zur Arbeit zurück, nachdem sie freigelassen worden waren,
wurden dann wieder eingesperrt - derart, daß gewaltfreies Handeln viel schwie-
212 Konflikttheorie

Eine Geschichte dieses gewalttätigen Jahrhunderts zu schreiben und seine


Politik zu untersuchen, ohne zugleich seine Gewaltfreiheit zu erforschen,
hieße, dieses Jahrhundert noch weitergehend verleumden. Eine solche Miß-
achtung verrät ideologische Voreingenommenheit und intellektuelle Inkom-
petenz - aus Gründen, die untersucht werden müßten.
Hier ist eine Auflistung von zehn grundlegenden Mechanismen, die hinter
der Gewaltfreiheit stehen:
1. Die Androhung direkter Gewalt oder die Tatsache struktureller Gewalt
ist für bedeutende Gruppen im Lande unerträglich.
2. Eine konstruktive Alternative wurde formuliert und dem/den Anderen
mitgeteilt, in Rede und Schrift, durch Demonstrationen etc.

riger war - und wurden dann getötet. Anderen gelang es, sich zu verbergen. Ge-
waltfreiheit ist keine einmalige Angelegenheit!
3. Während die offizielle Rassentrennung in den USA aufgegeben wurde, ist die
inoffizielle geblieben; noch ein Argument dafür, daß Gewaltfreiheit ein Prozeß
und keine einmalige Aktion ist.
4. Im Grunde gewannen die Vietnamesen einen gewalttätigen Krieg, aber die Ge-
waltlosigkeit schwächte wahrscheinlich die Entschlossenheit auf Seiten der
USA.
5. Da diese Bewegung im wesentlichen führerlos agierte, wurde der Friedenpreis
stattdessen an einen hervorragenden Mann verliehen (Alfonso de Esquivel).
6. Hier handelte es sich wahrscheinlich mehr um ein Mittelklasse- Unternehmen
als um eine Bewegung der - und zugunsten der - wirklich Unterdrückten auf
den Philippinen; daher hätte man es fortsetzen sollen.
7. Hier sollte man den moralischen Einfluß hinzurechnen, den ökonomische Sank-
tionen, die Bloßstellung sowie das positive Beispiel Zimbabwes ausübten.
8. Zwar umfaßte das Handlungsrepertoire der Intifada das Steinewerfen, aber man
könnte argumentieren, daß dieses, gemessen an den regionalen Standards, als
fast gewaltlos gelten muß.
9. Größere Gewalt wurde angewandt von den Kräften der chinesischen Regierung,
aber wahrscheinlich stärker gegen die Gewerkschaftsbewegung der ArbeiterIn-
nen als gegen die Demokratiebewegung der Studierenden.
10. Die Tatsache, daß in Rumänien Gewalt angewandt wurde, läßt die Vorgänge in
Polen und in der DDR nicht weniger gewaltfrei erscheinen. In Ungarn war die
Transformation ein konventioneller, langsamer politischer Veränderungsprozeß,
und die Umwälzungen in der Tschechoslowakei und Bulgarien - ganz zu
schweigen von der Sowjetunion - können wahrscheinlich am besten erfaßt wer-
den als Dominoeffekte der Ereignisse in der DDR und Polen. In der DDR war
die Massenflucht eine bedeutsame gewaltlose Taktik. Auch der gewaltlose Ge-
gen-Coup in Moskau vom August 1991 gehört in diese Reihe, jedoch nicht ganz
zweifelsfrei: nicht weil der Jelzin-Gegencoup nicht gewaltlos gewesen wäre,
sondern weil der Coup als gewalttätiger vielleicht nicht ganz glaubwürdig, son-
dern möglicherweise inszeniert war (z.B., um auf diese Weise Gorbatschow los-
zuwerden, der zu dem Zeitpunkt zwar schon das sowjetische Imperium demon-
tiert hatte, aber noch nicht in die westlichen ökonomischen Forderungen einge-
willigt hatte). Der Coup wurde amateurhaft und halbherzig durchgeführt.
Gewaltfreie Konflikttransformation 213

3. Es besteht die klare und aktuelle Gefahr, daß Gewalt in irgendeiner Form
angewandt wird, wenn aktive Gewaltfreiheit praktiziert wird; mit ande-
ren Worten, das Selbst geht ein reales Risiko ein.
4. Die Verpflichtung auf Gewaltlosigkeit ist klar 13S und erstreckt sich nicht
allein auf Handlungen, sondern auch auf das Reden und, wenn möglich,
auf das Denken.
5. Es gibt im Selbst-Andere(r)-Verhältnis Akte der Freundlichkeit, der Lie-
be.
6. Gewaltfreies Handeln dient dann dazu, dem/den Anderen wie Außenste-
henden zu vermitteln, daß das Selbst niemals aufgeben wird vor der Ty-
rannei, daß es willens ist, die Konsequenzen auf sich zu nehmen, und
daß es eine positive Beziehung wünscht.
7. Die Dissoziation (Nicht-Kooperation und ziviler Ungehorsam) vom An-
deren als Unterdrücker und die Assoziation mit dem Anderen als Person
mag dann die Meinung - und vielleicht sogar das Herz - des Anderen
ändern.
8. Wenn der Bedrücker Gewalt einsetzt, um der Gewaltfreiheit entgegen-
zuwirken, dann mag die Demoralisierung des Anderen, der die Konse-
quenzen seiner Gewalt für seine gewaltfreien Gegner erkennen muß, da-
zu dienen, seine Auffassung zu ändern.
9. Wenn der Andere von fern wirkende Gewalt, eingeschlossen die Institu-
tion des ökonomischen Boykotts, einsetzt, um den Konsequenzen seines
Tuns nicht ins Auge sehen zu müssen, dann müssen auswärtige Parteien
mobilisiert werden, um ihm die Konsequenzen klarzumachen.
10. Wenn die soziopsychologische Distanz zwischen dem Selbst und dem
Anderen darauf basiert, daß letzterer das Selbst dehumanisiert, dann
müßte die Gewaltfreiheit vielleicht Auswärtige einschließen in einer
Großen Kette der Gewaltlosigkeit. 136 Einige der Vermittler werden viele
soziale Eigentümlichkeiten mit den Unterdrückten teilen, andere werden
sozial eher den Unterdrückern verbunden sein. 131

135 Je tiefer diese Verbindlichkeit grundet in fundamentalen, säkularen oder religiösen


Werten, desto wahrscheinlicher ist es, daß gewaltlose Aktivisten nicht zu gewalttäti-
gem Handeln provoziert werden können oder auf eben dieses umschwenken, nur
weil "Gewaltfreiheit nicht funktioniert" habe (wodurch Gewaltfreiheit ja nur als eine
Taktik neben anderen gehandelt würde); desto wahrscheinlicher auch, und das ist
vielleicht noch wichtiger, daß der Andere wirklich glauben wird, daß hier eine Ver-
bindlichkeit jenseits taktischer Erwägungen vorliegt, in anderen Worten, daß die
Gruppe nicht kapitulieren wird.
136 Vgl. Johan Galtung, Nonviolence and IsraellPalestine, Honolulu, HI 1989: "The
Great Chain of Nonviolence Hypothesis", S. 13-34
137 Man stelle sich eine Gesellschaft vor, die sich durch drei Rangdimensionen aus-
zeichnet (z.B. Geschlecht, Rasse, Klasse) und die klar definierte Unterdrückte, Un-
derdogs (U), und Unterdrücker, Topdogs (T) kennt. Letztere haben das Profil TTT,
erstere UUU. Man nehme desweiteren an, daß Kommunikation über die Kluft dreier
214 Konflikttheorie

An erster Stelle muß die Beachtung der drei grundlegenden Aspekte gewalt-
freier Aktion stehen: daß diese Aktion gerichtet ist gegen das schlechte Ver-
hältnis zwischen dem Selbst und dem Anderen, nicht gegen den Anderen als
solchen; daß das Handeln eher zu Liebe als zu Haß und eher zu friedlichem
als zu gewalttätigem Verhalten führen soll;138 und daß der Andere zu jeder
Zeit eingeladen bleibt, diese bereichernde Erfahrung zu teilen, wozu nicht
zuletzt die Versicherung gehört, daß für ihn immer Platz sein wird in der zu-
künftigen Gesellschaft. Es kommt darauf an, sich so zu verhalten, daß die
Transformation des Konfliktes nach oben gerichtet bleibt. Die Parteien soll-
ten aus dem Konflikt nicht allein mit besseren sozialen Beziehungen hervor-
gehen, sie sollten auch bessere Personen als vorher sein, besser ausgerüstet,
neue Konflikte gewaltfrei durchzustehen. So können diejenigen, die gestern
oder heute noch zur Gewaltanwendung neigten, die Mediatoren von morgen
werden.
Natürlich funktioniert das nicht immer. Das Selbst mag ja die ersten sechs
Punkte unter Kontrolle haben, aber dann kann der Andere es unterlassen, so
zu reagieren, wie in den folgenden vier Punkten erhofft. Eine Möglichkeit
besteht in diesem Fall darin, es noch einmal zu versuchen; eine andere wäre
die Kapitulation, die aber nie als definitiv angesehen werden sollte. Gewalt
zu akzeptieren, ist selbst ein Akt der Gewalt.
Anhänger Ghandis würden die Bedeutung hervorheben, die einer stärke-
ren Reinigung des Selbst im Rahmen der Konflikttransformation zukommt.
Diese Auffassung hat den Vorteil, daß die Last auf das Selbst abgewälzt wird
und auf etwas, das man selber tun kann (z.B. durch Meditation), und sie ist

Rangdimensionen hinweg unmöglich ist, daß sie schwach ist zwischen Gruppen, die
hinsichtlich zweier Rangdimensionen getrennt sind und daß sie recht stark ausfallt
zwischen Gruppen, die sich nur hinsichtlich einer Dimension unterscheiden. Dies
einmal unterstellt, lassen sich leicht sechs Ketten durch diese sozialen Gruppen hin-
durch verfolgen:

3 T Reihen (Unterdrücker)
2 TReihen
1 T Reihe
o T Reihe (Unterdrückter)
In der Praxis werden alle möglichen zusätzlichen Faktoren zu bedenken sein, wie
eheliche Bande oder ideologische Bindungen (so waren in dem Berliner Fall die
Vermittlerinnen deutsche Frauen, die mit deutschen Juden verheiratet waren; im in-
dischen Fall verhielt es sich so, daß Gandhis Freunde in Britannien im großen und
ganzen eher links standen, aber sie waren weiß und gehörten der Mittel- oder Ober-
schicht an.)
138 Das klassische Beispiel, symbolisch anschaulich genug, um von den Medien aufge-
griffen zu werden, ist das Einsetzen von Blumen in die Mündungen der Gewehre der
Polizei bzw. der Soldaten (im Gegensatz etwa zum Verhalten der französischen Stu-
denten im Mai 1968, die Steine warfen und ihren Haß hinausschrien).
Gewaltfreie Konflikttransformation 215

zudem nicht falsifizierbar. ("Es hat keinen Wandel im Herzen des Anderen
gegeben? Dann bist du es, der mehr Selbstreinigung braucht!") Gewiß sollte
man diesen Faktor nicht ausschließen, da Gewaltfreiheit offensichtlich spiri-
tuell funktioniert, von Geist zu Geist. Aber darum braucht man nicht auf po-
litische Arbeit in Bezug auf und mit externe(n) Parteien verzichten. In den
obigen Mechanismen neun und zehn sind sie geradezu spielentscheidend.
Auf alle Fälle sollte man niemanden behaupten lassen, es gäbe keinen
Konflikt - ganz gleich, wie sehr der wechselseitige Haß verinnerlicht, wie
stark gewalttätiges Verhalten institutionalisiert, wie unzugänglich der Wider-
spruch, die Inkompatibilität, das Problem sei -, der nicht transformiert wer-
den könne durch Gewaltfreiheit. Wir behaupten nicht, daß Gewaltfreiheit
immer funktioniert, es gibt hier kein Patentrezept. Aber viele unterdrückte
Gruppen wären wahrscheinlich ihrer Autonomie viel näher gekommen, wä-
ren sie gewaltfrei vorgegangen. 139 Wofür man jedoch argumentieren kann, ist
die Hypothese, daß Gewalt sich niemals auszahlt.
Zunächst einmal muß man die Zahl der Getöteten und Hinterbliebenen in
Rechnung stellen, der Traumatisierten an Körper, Verstand und Geist und
derjenigen, die davon mitbetroffen sind; zuletzt auch den physischen Scha-
den, der dem menschlichen Habitat und der Natur angetan wird. Die meisten
dieser Schäden sind irreversibel. Und hier handelt es sich doch nur um die
sichtbaren Wirkungen der Gewalt, ohne daß man deren fundamentale Ne-
beneffekte zur Kenntnis nähme - wie Mainstream-Ökonomen, die die Ex-
ternalitäten ökonomischen Handeins einfach unberücksichtigt lassen. Nur
weil sie diesen lebenswichtigen Aspekt nicht zur Kenntnis nehmen, können
die Propheten der Gewalt hinsichtlich deren Einsatzes zu positiven Schluß-
folgerungen gelangen.
Wenn Gewalt, das ist das Zweite, zu einer Änderung in den Beziehungen
zwischen dem Selbst und den Anderen führt, dann wird das erreicht, indem
man den Anderen handlungsunfähig macht. Aber eine gewaltsam durchge-
setzte Lösung ist darum nicht tragfähig, weil sie niemals akzeptiert wird; und
sie ist schon darum inakzeptabel, weil ein besiegter Anderer nicht länger
mehr der Andere ist. l40

139 Als Beispiel mögen die Kurden dienen. Ihre Ziele sind legitim - nicht allein Respekt
vor ihren Menschenrechten und Autonomie innerhalb der Länder, in welche die
Grenzziehung stärkerer Mächte (wie die des Persischen und des Ottomanischen Rei-
ches) sie verschlagen hat, sondern auch ein Kurdistan. Aber ihr Einsatz von Gewalt
und speziell der der türkischen Kurden macht es ihren Unterdrückern leicht, die Be-
völkerung gegen sie zu mobilisieren, und verstrickt sie eher in tödliche Zirkel der
Rache, als daß sie von unten aus ein friedliches Kurdistan aufbaut.
140 So wird die "bedingungslose Kapitulation" nur dann zu akzeptablen Ergebnissen
führen, wenn die besiegte Partei ihre Niederlage nicht allein als ihrer militärischen
Unterlegenheit geschuldet interpretiert, sondern in ihr auch ein Zeichen ihrer morali-
216 Konflikttheorie

Zum dritten aber liegt hier keine positive Transformation des Selbst, son-
dern sogar eine negative vor, alldieweil ein Sieg eine Sucht nach Gewalt
auslösen und beim nächsten Mal zu noch mehr Gewalt führen kann. Und
viertens gab es auch keine positive Transformation des Anderen, möglicher-
weise aber eine negative, weil auch diese Niederlage eine Sucht nach Gewalt
auslösen und Rache nach sich ziehen kann - schon weil ein Hindernis hier-
gegen dadurch beseitigt wurde, daß man Objekt von Gewalt war und somit
ein moralisches Defizit auf sich zu nehmen nicht zu befürchten braucht.
Kommen wir zurück zum Ausgangspunkt. Berücksichtigt man den wach-
senden Bankrott von Gewalt und Krieg als Institutionen, mit einer modernen
Technik, die gewiß weder Sieger noch Opfer adelt, sondern beide degradiert,
und berücksichtigt man die signifikanten Erfolge, die mit gewaltfreien Mit-
teln erzielt wurden: Warum sind dann nicht deren mehr im Einsatz? Um
Antworten zu bekommen, müssen wir wahrscheinlich die Tiefenkultur befra-
gen. Hier mag es verborgene Hindernisse geben, die verstanden und dann
angegangen werden müssen - gewaltfrei, versteht sich. Aber es könnte dort
auch verborgene Faktoren geben, die gewaltfreies Handeln eher begünstigen
als verhindern. Die müssen auch identifiziert und verstanden - und dann
vielleicht nur verstärkt werden.

5.3 Tiefenkulturelle Faktoren, die Gewaltfreiheit


verhindern oder begünstigen
Wir wollen im folgenden einige Faktoren untersuchen, die in sieben Räumen
lauern, welche die conditio humana formen. Genauer wollen wir sehen, wel-
che Vorstellungen wir von diesen Räumen haben, und wie das wiederum un-
sere Verhältnisse prägt (viel weiter ausgeführt dann in Teil IV).
Natur: Das Wort "natürlich" bezieht sich offensichtlich auf Natur, die dabei
als Norm in Anspruch genommen wird. Aber die Natur ist kein unzweideuti-
ges Modell für das, was als natürlich und normal gelten könnte. Es gibt
Konflikt und Kooperation, Antibiosis und Symbiosis, Darwin und Kropotkin.
Die westliche Kultur scheint dazu zu neigen, den ersten Term dieser Be-
griffspaare hervorzuheben, und läuft dabei ein beträchtliches Risiko, den
zweiten - und damit die Realität - aus dem Blick zu verlieren.
Die entscheidende Frage besteht jedoch nicht darin, wieviel Gewalt und
wieviel Fürsorge es in der nichtrnenschlichen, sondern wieviel davon es in
der menschlichen Natur gibt. Eine vorurteilsbelastete Ansicht der Natur läßt
Gewalt als "natürlich/normal" erscheinen. Die Gegenposition würde stärker

sehen Unterlegenheit, somit des Wirkens Gottes z.B., erkennt. In säkularen Zeiten
bzw. Zivilisationen sind solche Interpretationen unwahrscheinlich.
Gewaltfreie Konflikttransformation 217

Gebrauch machen von Kropotkin und beim Menschen eher das Spirituelle als
das Tierische unter der Oberfläche hervorheben. Natürlich sind wir beides,
die Frage ist nur, was hervorzuheben wir uns entschließen. 141
Mensch: In der Freudschen Optik erscheint die innere Person als ein Schlacht-
feld, auf dem im Kampf zwischen Es und Über-Ich das Ich entsteht. Diese
Sicht bedeutete einen Durchbruch, gemessen an früheren Bildern von der in-
neren Person als einer tabula rasa, die beschrieben werden sollte mit Glau-
benssätzen, aufgestellt von Kirche und/oder Erziehung. Aber das Freudsche
Bild zeigt auch Defekte. So wird angenommen, Gewalt residiere als Verlan-
gen im Es, und Normsetzungen des Über-Ich verhinderten den Ausbruch all
dieser Gewalt. Das menschliche Wesen erscheint hier als ein Gefaß, in dem
es wimmelt von mehr oder weniger gezähmten Begierden, und hinsichtlich
dessen nur offen bleibt, wie dicht der Deckel hält.
Hierzu gibt es einen alternativen und realistischeren Diskurs (allerdings
nicht den Diskurs der "Realisten"): Man erforscht die Pragmatik und nicht
allein die Moralität von Gewalt und Gewaltlosigkeit. Dies führt zu derselben
Einsicht wie im Falle der Mainstream-Ökonomie: Bedeutende negative Ne-
beneffekte von Gewalt hat man außer Acht gelassen, und wichtige positive
Nebeneffekte der Gewaltlosigkeit sind nicht einmal bedacht worden. Dies
sollte niemanden überraschen. Gewaltfreiheit wird betrachtet als Bestandteil
eines moralischen Über-lchs;42 nicht aber als ernsthafter Vorschlag für prak-
tische Politik; und das Ich erscheint als "blowing in the wind" zwischen zwei
gigantischen Kräften, nicht aber als bewußter Geist, der die Energien von Es
und Über-Ich in neue und bessere Richtungen lenkt. Vielleicht ist das Es da-
bei weniger gewalttätig als das Über-Ich.
Gesellschaft: Die okzidentale Gesellschaft, gleich ob jüdisch, christlich oder
islamisch, ist individualistisch und vertikal aufgebaut, mit starken männli-
chen Wesen an der Spitze. Ereignisse werden leichter zur Kenntnis genom-
men, wenn sie verknüpft werden können mit männlichen, nicht der Unter-
klasse angehörigen Führern wie M. K. Gandhi oder Martin Luther King Jr.
Ein größeres Ereignis, verursacht von schwarzen Unterklassefrauen (wie Ro-
sa Parks) würde nicht so leicht bemerkt von Personen in entgegengesetzten
Status-Positionen. Da aber Frauen in Sachen Gewaltlosigkeit führend sind,
erklärt dieser Faktor allein schon einen Gutteil von deren Unauffalligkeit.

141 Ein gutes Beispiel für ein positives Verständnis der menschlichen Natur ist die unter
der Schirmherrschaft der UNESCO verabschiedete Erklärung von Sevilla, in der eine
Reihe von Sozial- und Naturwissenschaftlern feststellten, daß Gewalt kein der
menschlichen Natur angeborener Bestandteil sei. Natürlich neigen Militäranalytiker
eher zum gegenteiligen, negativen Verständnis.
142 Die schwedische Bezeichnung für Kriegsdienstverweigerer. samvetsöm1IUl. bringt
dies sehr schön zum Ausdruck, indem sie von Menschen mit einem besonders emp-
findlichen Gewissen spricht.
218 Konflikttheorie

Der Okzident ist exzessiv individualistisch und vertikalitätsbewußt. Am


Grunde finden wir eine Vorstellung von Gesellschaft als einer Ansammlung
von Individuen, die sich ihren Weg nach oben erkämpfen. Aber in Wirklich-
keit ist eine Gesellschaft auch eine Struktur, ein Netz, das die Menschen
durch Billionen von Interaktionen zusammenbindet. Diese unsichtbare
Struktur verteilt die Lebenschancen sehr ungleichmäßig. Die Menschen rea-
gieren darauf, und einige diese "Reaktionen" können die Form der Gewaltlo-
sigkeit annehmen, wie aufgeführt in unserer Liste entsprechender Kampa-
gnen. Der Kampf verläuft von unten nach oben, er wird ausgefochten von
Underdogs, Angehörigen der Arbeiterklasse, von Nicht-Weißen und Frauen
und wird unsichtbar gehalten nicht allein aufgrund des niedrigen Status der
Akteure und der Absenz identifizierbarer Führer, sondern auch darum, weil
der Kampf bedrohlich wird. Ein Krieg stößt nicht notwendigerweise eine so-
ziale Ordnung um, möglicherweise bringt er nur einige Ausländer an die
Spitze, im Rahmen einer Okkupation. Eine größere Kampagne jedoch, wie
etwa ein Generalstreik vom Grunde der Gesellschaft aus, verrät, ob gewalttä-
tig oder nicht, eine massive Unzufriedenheit da unten. Lauert die Revolution
schon an der nächsten Ecke?
Betont man, wie üblich, die Akteursorientierung auf Kosten der Struk-
turorientierung, wird man solche Akte vielleicht nicht einmal wahrnehmen
als politische, sondern Z.B. als "fundamentalistische", inspiriert durch mora-
lische Normen eher als durch politisches Denken. In der Folge mögen die
Menschen eines Tages aufwachen und entdecken, daß sie in einer ganz ande-
ren Gesellschaft leben - geformt vielleicht von der feministischen Revoluti-
on, die sich gegenwärtig vollzieht. Vielleicht versuchen sie dann, sich eine
führende Person herauszugreifen und zu befragen, um durch deren Darstel-
lung zu verstehen, was passiert ist. Ein gutes Beispiel gibt die ostdeutsche
Revolte des Jahres 1989, welche die DDR-Gesellschaft erschütterte, aber
auch die der BRD, weil die Vorstellungen der gewaltfreien Revolutionäre
gleichermaßen anwendbar waren auf die kapitalistische Gesellschaft.
Welt: In der Sichtweise des Okzidents und all derjenigen, die diese Sichtwei-
se zu der ihrigen gemacht haben, hat die Welt ein Zentrum im Okzident, eine
Peripherie, die diesen akzeptiert, ja, die sich ihm unterwirft, und dann eine
Sphäre des Bösen, die sich ihm weder unterwirft, noch sich mit den Ver-
hältnissen abfindet. In dem Maße, in dem Gewaltfreiheit sich richtet gegen
die direkte oder indirekte Macht des Zentrums dieser Konstruktion (die Fälle
1, 3, 4, 5, 6, 7, 8 des vorigen Abschnitts), mag diese Gewaltfreiheit ersicht-
lich einer Situation vorzuziehen sein, in der dieselben Leute dieselben Dinge
unter Anwendung von Gewalt tun - gleichwohl bleibt sie subversiv. Jede
moralische wie praktische Überlegenheit hebt sich auf durch ihren Trotzcha-
rakter, ihre Weigerung sich zu unterwerfen; und je wirksamer sie ist, um so
gefährlicher wäre es, wenn andere Gruppen solche Ideen aufgreifen würden.
Gewaltfreie Konflikttransformation 219

Fall Nr. 2 liegt anders. Der Nationalsozialismus war auch der Feind des
Zentrums im Zentrum. Aber die erfolgreiche Anwendung von Gewaltfreiheit
in der Berliner Rosenstraße wirft einige Zweifel auf den militärischen An-
satz, den die koordinierten Zentren im Zentrum, die Alliierten, verwandten,
um die Achsenmächte niederzuwerfen - und besonders auf ihren Versuch,
oder besser das Fehlen desselben, die Juden vor dem Holocaust zu bewahren.
Wäre es besser gewesen, den Nationalsozialismus öffentlich anzuprangern
und innerhalb Deutschlands den Widerstand organisieren zu helfen, beson-
ders den Ghandischen Typus desselben, der ja dem Westen schon in den
dreißiger Jahren gut bekannt war? Oder wurde der in jeder Hinsicht kost-
spielige Krieg gegen den Nationalsozialismus gerechtfertigt durch die Un-
terstellung, es gäbe hier keine Alternative, schon um die Gewissen derjenigen
Deutschen zu beruhigen, die keine Nazis waren? Ist das immer noch der
traurige Stand der Dinge, was Moral und Handlungsbereitschaft betrifft? Und
ist dies vielleicht der Grund, daß die ganze Sache so unbekannt geblieben ist?
Auch Fall Nr. 9 liegt anders: Die chinesische kommunistische Partei war
auch ein Feind des Zentrums im Zentrum. Über die Kampagne wurde, mit
den zu erwartenden Entstellungen, berichtet, ohne das Wort "Gewaltlosig-
keit" zu verwenden. 143
Und schließlich stellt sich, aus verschiedenen bereits erwähnten Gründen,
auch Fall Nr. 10 anders dar. Wenn dies der Weg war, mit dem poststalinisti-
schen Autokratismus ein Ende zu machen, also von innen, was war dann ei-
gentlich die Bedeutung der Maschinerie des Kalten Krieges mit ihren Alli-
anzen, ihren kalkulierten Drohungen, ihrer nuklearen Abschreckung usw.?
Wäre es vielleicht besser gewesen, den Stalinismus öffentlich anzuprangern
und dann internes gewaltloses Tun zu ermutigen? Dieselbe Frage also wie
eben im Falle des Nationalsozialismus. Zweifelsohne gab es ein Zusammen-
spiel verschiedener Faktoren hinter der inneren Erosion, und einer der wich-
tigen war bestimmt der Tribut, den die Wirtschaft für den Rüstungswettlauf
zu zahlen hatte. Gleichwohl hatte die Kombination von MassenfIucht (die
auch vom Westen gefördert wurde), mutigen Demonstrationen l44 und der

143 Eine nach Auffassung des Verfassers korrektere Version der Ereignisse bietet, als
Frucht einer nur wenig später in Peking vorgenommenen Untersuchung, der Ab-
schnitt "What happened in Beijing on 3-4 June 1989: What Happens Now?": in: J.
GaltunglR. Vincent, Global Glasnost, Cresskill, NJ 1992, S. 240-244.
144 Das Schlüsselereignis war die Demonstration, die von der Leipziger Nikolai-Kirche
am 9. Oktober 1989, nach dem traditionellen Montagsgebet, ausging; die Teilnehmer
waren in hohem Maße Frauen, mit Kerzen in der Hand. "Die größte Demonstration
des heutigen Tages fand mit 75 000 Teilnehmern in Leipzig statt, trotz der Drohun-
gen der Partei, ,jegliche Demonstration zu unterbinden, falls nötig mit aller gebote-
nen Macht'. Die Polizei hatte, wie sich herausstellte, Anweisung zu schießen. Alles
bleibt friedlich an diesem Montagnachmittag." (Dirk Philipsen, We Were the People,
Voices From East Germany's Revolutionary Autumn 011989, Durham, NC 1993, S.
394f). Die Teilnehmerzahlen dieser gewaltlosen Demonstrationen, die doch ein be-
220 Konflikttheorie

Formulierung von Alternativen im universellen Diskurs über Menschen-


rechte besonderes Gewicht. 14s
Aber noch wichtiger als all dies: Was geschieht, wenn gewaltfreie Strö-
mungen, die kein Geld, sondern ,nur' Mut, Wissen, Mitleid und Ausdauer
benötigen, sich gegen das Zentrum im Zentrum richten an statt gegen dessen
Feinde? Für Solidarnosc in Polen war dies weniger ein Problem, da die darin
engagierte Bevölkerung hauptsächlich aus ,konventionellen' gewerkschaft-
lich organisierten ArbeiternehmerInnen und katholischen Intellektuellen und
weniger aus nicht im Trend liegenden Grünen ("Ökologen") und Gewalt-
freien ("Pazifisten") bestand. Aber wie sähe das in Deutschland aus?
Die Bewegung der Gewaltlosigkeit ist umstellt von Zweideutigkeiten,
über die man sich früher oder später Klarheit verschaffen muß. Ja, mehr
noch, diese Zweideutigkeiten findet man in der Bewegung selbst und in dem
Schockerlebnis, den ihr Erfolg auslöst. Ihre Mitglieder, daran gewöhnt, eine
kleine Minderheit zu sein, für die sich niemand interessiert, und in gewissem
Maße darin geübt, ihre Ablehnung als Bestätigung ihrer Reinheit zu empfin-
den, fanden sich plötzlich in einer Position, die ihnen die Fäden der Macht an
die Hand gab, ohne daß sie doch für die Ausübung dieser Möglichkeit ge-
kämpft hätten. Weil sie an ihre eigene Macht nicht geglaubt hatten? Oder war
ihre Gewaltfreiheit eher expressiv als instrumentellt46
Zeit: In der sozialen Kosmologie verbindet sich der Kampf gegen das Übel
oft nicht nur mit einem Helden oder Führer, sondern mit einer bestimmten
Zeitkosmologie. Gegen das Dunkel der Unterdrückung beginnt sich Wider-
stand zu regen, dieser wird stärker und stärker und kulminiert in der finalen
Konfrontation bzw. Krise. Es gibt hier nur zwei Möglichkeiten - mach es
oder ertrag es, Sieg oder Niederlage. Weltweit folgen traditionelle Erzählun-
gen und Epen von gewalttätigem Widerstand, endend mit einer Entschei-
dungsschlacht und der Geburt eines Helden als neuen nationalen Führers

trächtliches Risiko beinhalteten, waren am 2. Oktober 20 000, am 9. Oktober 75000,


am 16. Oktober 150000 und am 23. Oktober 300 000. Natürlich gab es im Westen
größere Demonstrationen, doch worauf es ankommt, ist so etwas wie das Produkt aus
Gri)ße, Prominenz der Demonstrierenden und Risikofaktoren.
145 Gemäß einer Studie des Historikers Walter Süss, über welche Der Spiegel (Nr.
49/1994, S. 69-73) berichtete, funktionierte die Gewaltlosigkeit genau so, wie sie es
unterstelltermaßen tun sollte: indem sie die Unterdrücker demoralisierte, und indem
sich einfache Stasi-Mitglieder gegen ihre Vorgesetzten wandten. Etwas Vergleichba-
res passierte auch schon in den Beziehungen Moskaus zur DDR am 7. und 8. No-
vember, bereits vor dem Fall der Mauer; vgl. Der Spiegel Nr. 44/1994, S. 43-46.
146 Als instrumenteller Modus ist Gewaltfreiheit ein Weg zur Erlangung der drei er-
wähnten Ziele: Verbesserung des Selbst, Verbesserung des/der Anderen und Ver-
besserung der Beziehung zwischen beiden. Der expressive Modus stellt ab auf den
Ausdruck von Verzweiflung, von Frustration, vielleicht auch auf die Verbesserung
des Selbst, aber viel weniger auf die beiden anderen Ziele.
Gewaltfreie Konflikttransformation 221

(oder, alternativ, als Märtyrers, der besiegt wurde)147 gewissenhaft diesem li-
nearen, männlichen Erzählmuster. Und am Ende gibt es dann auch immer
jemanden, der die Niederlage eingesteht und dadurch zugleich ein Stopp-
schild setzt. 148
Das hier geltend zu machende Argument besteht darin, daß effektive Ge-
waltlosigkeit einer stärker zyklischen, weiblicheren Zeitkosmologie folgt.
Der Kampf gegen strukturelle Gewalt wie die Neigung, direkte Gewalt ein-
zusetzen, hören niemals auf, sind Bestandteil unseres menschlichen Daseins.
Strukturelle Gewalt reproduziert sich mit Leichtigkeit im Gesellschaftssy-
stem, das seinerseits direkte Gewalt erzeugt, um ihr zu widerstehen oder sie
zu schützen; und ebenso leicht erzeugt sich diese Gewalt in den Person-Sy-
stemen der Mitglieder des Gesellschaftssystems. Wie Liebe muß auch Ge-
waltlosigkeit erneuert, aufgefrischt werden;149 einen ,Sieg' sollte man niemals
als definitiv ansehen, es geht hier nicht um eine punktuelle Angelegenheit. Es
gibt nicht so etwas wie den schließlichen Sieg oder die endgültige Niederla-
ge, daher gibt es auch kein Halteschild. La lotta continua, der (gewaltfreie)
Kampf geht weiter.
Diese Kennzeichen aber lassen gewaltfreies Verhalten als fast hoffnungs-
los ungeeignet erscheinen, um von den Massenmedien behandelt zu werden.
Notwendigerweise gibt es keine Führer, und das Ziel besteht im strukturellen
Wandel und nicht darin, irgend jemandem eine Niederlage zuzufügen. Es
gibt keinen Anfang und gewiß auch kein Ende; die Berichterstattung wird
sich auf die Dramatik der Abschnitte dazwischen zu konzentrieren haben.
Das Transpersonale: Gewalt wird hauptsächlich zugefügt vom Körper, als
physische Gewalt, obwohl der Wille zu kämpfen - die "Moral" - eine bedeu-
tende Rolle spielt. Gewaltfreiheit stützt sich hauptsächlich auf den Geist, ob-
wohl physische Ausdauer und konkretes physisches Handeln auch eine be-
deutende Rolle spielen. Gewaltanwendung basiert auf der Unterstellung, daß
das, was mir schadet, auch dir schaden wird, und gerade diese Einsicht sucht
man auszunutzen. Diese Voraussetzung findet wir aber auch beim gewalt-
losen Verhalten, nur daß hier der Schaden (wie z.B. der Boykott von Waren
und Dienstleistungen oder der Versuch, sich den Herrschern durch Migration
zu entziehen) weniger irreversibel ausfällt.

147 Wie Milos, König der Serben, nach der Schlacht im Kosovo vom 28. Juni 1389; hier
haben wir ein deutliches Beispiel, das sich direkt mit der gegenwärtigen Krise Jugo-
slawiens verbindet.
148 Andere Beispiele für dieses generelIe Muster wären etwa Wahlen und Sportwettbe-
werbe; in beiden Bereichen wird die Arithmetik des Kampfes als ausschlaggebend
akzeptiert.
149 Repressive Regime sagen eigentlich das gleiche: Die Bevölkerung einmal zu terrori-
sieren, reicht nicht aus, um sie unterwürfig zu halten; sie können immer noch damit
beginnen, neue Ideen zu bekommen. Da das Gefäß leck ist, muß der Terror nachge-
fülIt werden: wie im FalIe der Liebe, der Ehe, der Gewaltfreiheit.
222 Konflikttheorie

Beim gewaltfreien Handeln gibt es die Unterstellung, daß das, was meinen
Wert steigert, auch den deinen erhöht. Gewaltfreiheit ist eine Form sanfter
Gewalt und eine Form der Kommunikation, mit einem Sender und einem
Empfänger. Praktisch mag der Kommunikationsprozeß über eine Kette der
Gewaltlosigkeit vermittelt werden müssen. Dieser Austausch beruht auf der
Voraussetzung eines tiefen Gemeinschaftsgefühls zwischen menschlichen
Wesen; auf der Unterstellung z.B., daß der Andere berührt wird durch das
Leiden des Selbst und sich als Ursache dieses Leidens zurückziehen möchte.
Sieht man in der Gewaltfreiheit nur eine Trickkiste, die man im wesentlichen
dazu braucht, das Leben für seine Unterdrücker unangenehm zu machen,
dann verfügt man in der Tat nur über eine sehr flache Version von Gewaltlo-
sigkeit. lso
Eine universelle menschliche Gemeinschaftlichkeit läßt sich postulieren,
dann aber auch eine je spezifische, auf dasselbe kulturelle Idiom bezogene.
Dies spiegelt sich in Europa klar wider: Protestantische Gewaltfreiheit gibt
sich mehr verbal, ernsthaft und individuell, wie im Falle von Luthers hier
steh ich, ich kann nicht anders. Katholische Gewaltfreiheit ist festlicher, ex-
pressiver, kollektiv, wie katholische Prozessionen durch Städte und Dörfer.
Das kulturelle Idiom auf den Kopf zu stellen, kann sich sehr schnell als kon-
traproduktiv erweisen. Das transpersonale Medium wirkt unterschiedlich;
was den einen berührt, muß darum noch lange nicht den anderen berühren.
Das Transpersonale - manchmal nennen wir es Gott - spricht zu uns in
verschiedener Weise. Von grundlegender Bedeutung ist es, ob Gewaltfreiheit
Teil dieses Idioms ist. Für den südasiatischen Buddhismus und Jainismus gilt
Gewaltfreiheit sehr unzweideutig und obligatorisch. Ähnliches kann vom
Hinduismus gesagt werden, jedoch ist dessen varna-Kastensystem eine Form
struktureller Gewalt, die unvermeidlich zweifeln läßt an der Aufrichtigkeit
der ahimsa-Botschaft.
In den drei abrahamitischen Religionen des Okzidents finden wir die
schreckliche Ambiguität eines das ganze Menschengeschlecht umfassenden
und liebenden Gottes, der doch zugleich eifersüchtig auf irgendwelche ande-
ren Götter ist, und der diejenigen bestraft, die Ihn herausfordern. Jesus Chri-
stus hat die gleiche Neigung. Die reiche Tradition der Gewalt im Okzident
wird sich stützen auf den exklusiven, den strafenden Gott; das gewaltfreie
Rinnsal darin (einschließlich u.a. der Quäker und Baha'i-Anhänger) wird
bauen auf die Tradition eines inklusiven, liebenden Gottes, was noch die dem

150 Hieran entzündet sich eine bedeutende Kontroverse innerhalb der Gemeinschaft der
Gewaltfreien, zwischen der Pragmatik der Gewaltlosigkeit nämlich - repräsentiert
durch Gene Sharp und dessem klassischen The Politics 0/ Nonviolent Action, Boston,
MA 1973 - und der Spiritualität der Gewaltlosigkeit, repräsentiert durch die Gandhi-
sche Tradition der Begegnung der Herzen und nicht nur der Köpfe, des "Aufwühlens
der trägen Gewissen". Meine eigene Position würde ich (wie üblich) beschreiben als
eklektisch: sowohl als auch.
Gewaltfreie Konflikttransformation 223

Christus der Passionsgeschichte zugefügte äußerste Gewalt einbezieht. Die


Ambiguität wird nicht aufgelöst durch die zwei Regimenten (dt. i. Orig.),
Gewalt in diesem Leben und Gewaltfreiheit in dem danach. Hier, auf der Er-
de, müssen wir gewaltfreiere Wege finden, um Konflikte zu transformieren.
Die eklektischen religiösen Systeme des Fernen Ostens nutzen, zusätzlich
zum Buddhismus, den Daoismus, den Konfuzianismus und den Shintoismus als
Bausteine. Während die südasiatischen Religionen besonderen Nachdruck auf
ahimsa legen und die okzidentalen Religionen mit Zweideutigkeit durchtränkt
sind, ist die GewaltlGewaltfreiheit-Problematik weniger explizit im Fernen
Osten, außer im Falle der buddhistischen Komponente. Und doch unterscheidet
sich Sun Tzu sehr von Clausewitz, ebenso wie der Daoismus sich sehr unter-
scheidet von den weltumfassenden Megastrukturen, die der Westen aufgebaut
hat. Andererseits sind gewaltlose Arbeiterstreiks auch westlicher Herkunft.
Episteme: Einen speziellen Aspekt der Kultur bildet die Epistemologie: Was
konstituiert sicheres Wissen? Die Antwort darauf unterscheidet sich nun von
einer Kultur zur anderen. Man nehme z.B. die Idee des "Gesetzes", sowohl
im Sinne deskriptiver Regelmäßigkeit als auch im Sinne einer normativen
Vorschrift. Der westliche Zugang zu ersterer ist beeinflußt durch die Natur-
wissenschaften und Laboratoriumsexperimente, durch Regelmäßigkeiten al-
so, die Geltung haben unter reinen, ja künstlich hergestellten Bedingungen.
Kontrolliert man alle wesentlichen Bedingungen, dann stellt man eine biva-
riate Beziehung zwischen X und Y her, als Prototyp eines Gesetzes: X ist da-
bei der Grund/die Bedingung und Y die Wirkung/die Folge.
Die Gesellschaft im allgemeinen und die Komplexität gewaltfreien Ver-
haltens im besonderen öffnen sich nicht solchen simplen Wissensformen.
Hier - wie in allen zu Beginn erwähnten Fällen - haben wir es mit sehr
komplexen Syndromen als X und Y zu tun; zudem sind X und Y Teile von-
einander. Dieses zu erfassen, stellt die Yin/Yang-Zyklizität eine bessere Wis-
sensform dar als die cartesische Linearität, aber da ein solches Verständnis
im Okzident unterentwickelt ist, wirkt die Komplexität überwältigend, er-
scheint eine klare Beziehung zwischen Gewaltfreiheit und der Beendigung
entmutigender Repression und/oder Ausbeutung schwer nachweisbar. Eine
bestimmte Gewißheit jedoch, daß Gewaltfreiheit eine - notwendige, wenn
nicht hinreichende - Rolle spielte, wird ausreichen; es gibt hier keinen Be-
darf an (X, Y-) Laboratoriumsbeweisen.
Die Metapher von der Gewaltlosigkeit als einer Kraft wäre auch darum
wenig glücklich gewählt, als sie die newtonische Physik vom Typ X, Y her-
aufbeschwört. Eine Kraft bewegt hiernach Körper mit einer Beschleunigung,
die sich proportional zur Kraft und umgekehrt zur Masse, (Massen-)Trägheit
(in der Tat kein schlechter Ausdruck für Unterdrückung), verhält, sie prallt
auf andere Körper und überträgt ihre Kraft auf diese. Aber Gewaltlosigkeit
ist holistischer, wirkt dialektisch, zirkulär.
224 Konflikttheorie

Ebenso wie jede Kultur über einen intellektuellen Stil verfügt, verfügt sie
über einen Rechtsstil. 1s1 In Bezug auf Gewaltlosigkeit scheint hier am viel-
versprechendsten die angelsächsische (UK/USA-) Tradition des Gewohnheits-
rechts, für die ein Gesetz oder genauer: eine Gesetzesformulierung nicht als
sakrosankt, sondern als Hypothese gilt, weIche überprüft werden muß. Ver-
letzen viele Menschen das Gesetz, dann folgt in dieser Sicht daraus nicht
automatisch, daß sie moralisch daneben liegen. Ebenso könnte es sein, daß
das Gesetz falsch, inadäquat, überholt und daher änderungsbedürftig ist.
Dieses Verständnis bedeutet eine implizite Einladung zu gewaltfreiem
Verhalten in der Form zivilen Ungehorsams. Natürlich gibt es Gewaltlosig-
keit als massive Nicht-Kooperation, eine Aufkündigung des Konsenses durch
die Beherrschten, weIcher doch die langfristige Bedingung für die Herrscher
ist, ihre Herrschaft auszuüben. Aber hier handelt es sich um gezielten bür-
gerlichen Ungehorsam, der sich gegen spezifische Gesetze oder Verfügungen
richtet, und der sich zweifach ausüben läßt: entweder als mächtiges kollekti-
ves satyagraha oder als individuelles satyagrahi einzelner Menschen, die in
ihrer Person die kollektive Angst zum Ausdruck bringen. Beide Fälle leben
von einer unausgesprochenen Voraussetzung, daß nämlich die Gewaltlosig-
keit kein Ausdruck einer generell nachlassenden Bereitschaft ist, den Geset-
zen zu gehorchen. Darüber hinaus muß eine Bereitwilligkeit bestehen, die
Konsequenzen, Bestrafung also, auf sich zu nehmen, um klarzustellen, daß
dieses Verhalten ernst gemeint ist, und um Prozesse in Gang zu setzen, die
den Gesetzgeber zur Änderung seiner Auffassungen bewegen können.
In anderen Rechtstraditionen (der römischen, der germanischen, der japa-
nischen) mögen Gesetze oder Rechtsformulierungen überzeitlich gemeint
sein, dennoch können sie interpretiert werden, und es können auch gewisse
Rechtspraktiken die Rechtstheorie durchaus unterlaufen. Der Vorteil der
Common-Law-Tradition besteht darin, daß sie klar zu erkennen gibt, daß die
Mißstände abgestellt sind, sobald man eine Gesetzesformulierung geändert
hat. Das bedeutet Sieg und damit ein Haltesignal für die gewaltfreie Kam-
pagne, die sich nun vielleicht anderen Aufgaben zuwenden wird.

5.4 Schlußfolgerung: Was können wir tun?


Obige Theorie enthält die Voraussage des Erfolgs und der Erscheinungswei-
se Ghandis: ein charismatischer Führer von hohem sozialem Rang, der in ei-
ner Kultur lebt mit ahimsa als wichtigem Element, und der zugleich aus ge-

151 Für eine genauere Erforschung dieser Beziehung vgl. Johan Galtung: Human Rights
in Another Key, Oxford 1994, S. 40-49: "Is the Legal Tradition Culture-Blind?".
(Vgl. in der deutschen Ausgabe Menschenrechte - anders gesehen, Frankfurt/M.
1994, S. 65-79: "Ist die Rechtstradition kulturblind?" (Anm. d. Übers.»
Gewalt/reie Konflikttransformation 225

bildet ist in der Common-Law-Tradition. Seine Kräfte maß Ghandi mit dem
vom Westen bewunderten Objekt seines Kampfes, dem britischen Imperia-
lismus. Einen kleineren Preis hatte er zu zahlen: kein Nobelpreis!ls Die
Theorie kann, mit derselben Begründung, auch den Erfolg von Martin Luther
King, Jr. voraussagen; in seinem Fall jedoch zeigte sich das Nobelpreis-
Kommitee seiner Aufgabe gewachsen.
Diese kleine Übung erlaubt uns zwei grundsätzliche Schlußfolgerungen.
Zunächst benötigen wir eine Theorie der Folgen von Gewalt im allgemeinen
und von Kriegen im besonderen, eine Theorie, die sich nicht zufrieden gibt
mit der Feststellung von Sieg und Niederlage, mit dem Zählen der Toten und
Verwundeten ("Verluste") und der Auflistung materieller Schäden. Die gän-
gige Bezeichnung: eine vom Kriege zerrissene Gesellschaft, erhält größere
Tiefe und Aussagekraft, wenn wir vom Krieg zerrissene Personen und Wel-
ten miteinbeziehen.
Zum zweiten sollte Gewaltlosigkeit Teil des normalen Diskurses werden,
insbesondere jedoch Bestandteil einer weniger gewalttätigen politischen Wis-
senschaftls3 , zusätzlich zu ihrer wachsenden Bedeutung als integraler Be-
standteil von Friedensstudien. Wie im Falle jeder menschlichen Bemühung
können auch hier Theorie und Praxis verbessert werden. Wichtiger als weite-
re empirische Studien über gewaltfreie Kampagnen sind kritische Studien
darüber, an welchen Stellen solche Kampagnen gescheitert sind, und kon-
struktive Studien darüber, wie gewaltfreies Verhalten in der Vergangenheit
hätte effektiver sein können, und wie es in der Zukunft wirkungsvoller wer-
den könnte. Und in solchen Studien könnten alle angeführten tiefenkul-
turellen Faktoren positiv gewandt werden, indem man sie an's Tageslicht
hebt und ihre Bedeutung für gewaltfreies Handeln in unserem gequälten
Jahrhundert der Bevölkerung allgemein, den Journalisten aber im besonderen
bewußt macht.

152 1954 führte ich ein Interview mit dem verstorbenen Jacob Worm-Müller, der Kon-
sulent des Nobelpreiskommitees gewesen war. Dieser stand nicht nur skeptisch je-
dem gegenüber, der seinerseits dem britischem Empire gegenüber hochgradig skep-
tisch eingestellt war, er hatte darüber hinaus an Gandhi auszusetzen, daß dieser sich
nicht konsequent gewaltfrei verhalten habe, indem er empfohlen habe, Gewalt der
Feigheit vorzuziehen, und die Soldaten angehalten habe, ihren Beruf auszuüben
(wenngleich sie sich vorzugsweise überhaupt nicht als Soldaten aufstellen lassen
sollten).
153 In seinem Buch To Nonviolent Political Science, From Seasons 0/ Violence, Honolu-
lu, HI 1993, plädiert Glenn D. Paige für eine gewaltfreie Politische Wissenschaft.
Teil 111: Entwicklungstheorie
1 Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und
Praxis

Ein heiß umkämpftes Feld, diese theoretische Disziplin, genannt "Entwick-


lungsforschung", und dieses Politikfeld, genannt "Entwicklungspraxis"!l54
Das theoretische Feld ist mit intellektuellen Bomben vermint, das praktische
mit antistaatlichem Terrorismus und den Instrumenten der staatlichen Folter-
praxis. Warum? Weil wir es damit zu tun haben, wie starke und reiche Län-
der geschaffen werden können, starke und reiche Eliten, aber auch starke
Menschen und Völker - wenn nicht reich, dann doch zumindest in ihren
grundlegenden Bedürfnissen zufriedengestellt.
Wie einfach wäre es doch, wenn diese drei Ziele nicht nur miteinander
kompatibel wären, sondern sogar durch ein und dieselben politischen Maß-
nahmen erreicht werden könnten; wenn der Bau eines modernen Flughafens,
massiver Steuernachlaß für die Eliten sowie ein kostenloses Erziehungs- und
Gesundheitswesen für die Bevölkerung alle in dieselbe Richtung weisen
würden. In der Praxis sind die Eliten, unter Einschluß der MittelschichtenISS ,
vielleicht auf ihre eigene Bereicherung aus, empfindet das Volk die Eliten
womöglich als Hindernis auf seinem Weg, wenn es versucht, seine Lebens-

154 Siehe für eine hervorragende Einführung in viele der entsprechenden Themen und
deren Hintergrund Wolfgang Sachs (Hg.): The Development Dictionary. A Guide to
Knowledge as Power, London 1992. (Dt. Wie im Westen, so auf Erden. Ein polemi-
sches Handbuch zur Entwicklungspolitik, Reinbek bei Hamburg 1993.)
155 Diese werden hier definiert als nicht-manuelle "white-collar"-Arbeiter und als Selb-
ständige mit einigen wenigen Angestellten. Sie stammen vielleicht aus den Arbeiter-
schichten des primären, sekundären oder tertiären Sektors, streben jedoch zu den
oberen Klassen der Reichen, die für ihren Lebensunterhalt nicht arbeiten müssen,
und übernehmen dabei eher die gesellschaftlichen Werte der angestrebten als die ih-
rer Herkunftsklasse. Die lateinamerikanische Erfahrung lehrt, daß, wenn die Arbei-
terschichten versuchen, ihre Situation zu verbessern, die Mittelschichten sich eher zu
den Oberschichten und anderen (politischen, militärischen, kulturellen) Machteliten
schlagen und, wie diese, nach Hilfe aus dem Ausland rufen. Auf Weltebene scheint
dasselbe auch von den Mittelschichtländern zu gelten, die nicht der OECD und nicht
der Dritten Welt angehören, wie die früheren sozialistischen Länder.
230 Entwicklungstheorie

bedingungen zu verbessern, kann der Flughafen von beiden benutzt werden,


um den jeweils anderen zu bombardieren."·
Dies sind sehr reale Probleme der heutigen Welt. Doch die Überschnei-
dung zwischen der Entwicklungsforschung und der Friedensforschung ist
viel weitreichender, als das Beispiel andeutet. Eng definiert, hat die Friedens-
forschung eine negative Bestimmung: die Reduktion direkter Gewalt = die
Reduktion des Leidens, wenn Grundbedürfnisse verletzt werden. Die Ent-
wicklungsforschung reicht hierüber hinaus, nicht nur, indem sie sich mit die-
sen Bedürfnissen befaßt, sondern auch, indem sie sie weiterentwickelt. Doch
an diesem Punkt tritt die Friedensforschung wieder hinzu, wenn sie sich mit
der Verminderung struktureller und kultureller Gewalt beschäftigt. "7 Die Be-
deutung dieses Tuns für die Entwicklungsforschung ist das Thema der fol-
genden fünfzehn kritischen Thesen, die in den Kapiteln 2 und 3 eingehender
untersucht und konstruktiv dann in den Kapiteln 4 und 5 behandelt werden
sollen. Was ich zu zeigen versuchen will: Es gibt Alternativen!

These Nr. 1: Entwicklung - erste Definition:


Entwicklung ist die Entfaltung einer Zivilisation, die Verwirklichung des Co-
des oder der Kosmologie dieser Zivilisation.
Es gibt viele Kulturen in der Welt, sogar Zivilisationen oder Makro-Kulturen,
die weite Bereiche in Raum und Zeit umspannen, so daß eine Konsequenz
der Wahl dieser Definition darin besteht, daß es viele Entwicklungen gibt.
Mit anderen Worten: Zwingt eine Kultur einer anderen ihre Definition von
Entwicklung auf, dann haben wir es eindeutig mit einem wichtigen Fall von
kultureller Gewalt zu tun, mit dem Einpfropfen eines fremden kulturellen
Codes in eine gegebene Kultur, so daß etwas zuvor vielleicht Illegitimes le-
gitimiert wird und umgekehrt; wodurch ein ganzes Volk bestenfalls in Ver-
wirrung gerät, schlimmstenfalls sich einem Kulturozid ausgesetzt sieht, dem
Mord der eigenen Kultur, was zu tiefer Entfremdung und vielleicht sogar zu
physischem individuellen und kollektiven Selbstmord führt. 1s8 Ein Grund

156 Jede dieser drei politischen Maßnahmen ist eine Form des Umgangs mit dem Mehr-
wert, den eine Gesellschaft geschaffen hat. Mehrwert ist ein gemeinsames Erzeugnis
aller, des Volkes und der Eliten, und kann auch von außen stammen (und auch nach
außen absickern). Das Problem: Wer entscheidet, wie es ausgegeben werden soll?
Bekommen Arbeiter für die Arbeit eines ganzen Tages nur einen Hungerlohn, dann
geht der Mehrwert an die Leute ganz oben, da er der Basis nicht zugänglich gemacht
wird. Erfahren die Eliten massive Steuernachlässe, dann entscheiden sie selbst dar-
über, wie der Mehrwert ausgegeben werden soll (und werden ihn üblicherweise nicht
für Volkserziehung und -gesundheit ausgeben - mit Ausnahme einiger Almosen).
Wird Geld eher für Flughäfen als für internationale Autobahnen ausgegeben (Afrika
ist hierfür ein gutes Beispiel), dann werden nur die Eliten profitieren.
157 Vgl. für diese Begriffe Teil IV, Kap. 1.
158 Die Geschichte des größten Völkermordes in der Weltgeschichte, der Eroberung der
westlichen Hemisphäre, kann nicht ohne die Erwähnung dieses zusätzlichen erklä-
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 231

hierfür ist der Glaube, die Wirtschaftswissenschaften seien "kulturunabhän-


gig""9 und daher neutral.
Das Wort "Entfaltung" (unfolding) spiegelt sich sehr deutlich im deut-
schen Entwicklung oder im norwegischen utvikling wider, und auch im engli-
schen develop, wenn dies als Antonym zu envelop betrachtet wird. Nutzen
wir die Metapher von der Blume, soweit sie taugt. Die Entfaltung ist bereits
in den Samen vorprogrammiert, als ein genetischer Code in der Blume, als
kultureller Code oder Kosmologie!'" in der Zivilisation. Es gibt ein Programm,
das verwirklicht werden soll; weder die Blume noch die Zivilisation haben
hier eine echte Wahlfreiheit. Ist das Programm realisiert, hat sich die Blume
vollendet; sie beginnt zu welken und mag aussterben, wenn kein neuer Sa-
men ausgesät wird. Ebenso mag es Zivilisationen ergehen, wenn es ihnen
nicht gelingt, ihren Samen auszusäen, ihren Code zu erweitern oder einen
Code mit offenem Ende zu übernehmen. Wie dies möglich ist, wird in den
folgenden Thesen erörtert werden

These Nr. 2: Entwicklung - zweite Definition:


Entwicklung ist die progressive Befriedigung der Bedürfnisse der menschli-
chen und der nichtmenschlichen Natur, beginnend bei den Hauptbedürjtigen.
Menschen haben Bedürfnisse. Werden diese nicht befriedigt oder wird ihnen
nicht entsprochen, dann sind sie keine menschlichen Wesen mehr, und das
heißt im Hinblick auf die eher materiellen/somatischen Bedürfnisse, daß sie
keine (Lebe-)Wesen, und im Hinblick auf die nicht materiellen/geistigen Be-
dürfnisse, daß sie nicht länger menschlich sind. Wir können hier die körperli-
chen Bedürfnisse mit den physiologischen Funktionen des menschlichen
Körpers identifizieren, unter Einschluß der menschlichen Haut.!·!

renden Faktors geschrieben werden. Siehe David Stannard: American Holocaust,


Oxford 1992.
159 Für eine Untersuchung dieser Thesen s. J. Galtung, K. Käufer, C. O. Scharmer: Eco-
nomics in a New Key, im Erscheinen begriffen, Kap. 2.6: "Culture: Mainstream Eco-
nomics and Occidental Cosmology".
160 Siehe für eine frühe Vorstellung dieses Begriffs: J. Galtung, T. Heiestad und R. Ru-
deng: "On the Last 2500 Years in Western History: And Some Remarks on the
Coming 500", in: Peter Burke (Hg.): New Cambridge Modern History, Companion
Volume, Bd. XIII, Cambridge 1979, S. 318 - 361.
161 Siehe für eine eingehendere Erörterung Johan Galtung: "The Basic Needs Ap-
proach", in: K. Lederer u.a. (Hg.): Human Needs: a Contribution to the Current De-
bate, Cambridge, MA 1980.
232 Entwicklungstheorie

Tabelle 3.1: Menschliche Bedürfnisse und ihre Stillung


Grundlegende menschliche Bedürfnisse befriedigt durch
- Unversehrtheit des menschlichen Körpers Schutz vor Verletzung
- Input an (sauberer) Luft, Wasser und Nahrung Luft, Wasser, Nahrung
- Input (angenehmer) visueller, auditiver, olfaktorischer angenehme Umwelt
Anreize
- Output an Abfall, Ausscheidung Latrinen usw.
- Temperatur, Feuchtigkeit, Beherrschung des Wetters Kleidung, Schutzraum
- Schlaf, Erholung Stille
- Bewegung Raum
- Sex Privatsphäre
- Reproduktion alles Vorherige

Der Entzug der Bedürfnisstiller bedeutet Leiden, und dies umso mehr, je in-
tensiver (totales Defizit für ein Bedürfnis) und extensiver (verschiedene Be-
dürfnisse) der Entzug ist. Diejenigen, die Strafen über menschliche Wesen
verhängen, wissen dies. Das Gefängnis ist der Entzug der letzten drei Be-
dürfnisstiller, ein Konzentrationslager oder ein verschärfter Vollzug fügt die
vorhergehenden fünf hinzu, und Folterung greift den menschlichen Körper
an, um ihm ein Höchstmaß an Trauma zuzufügen, oft ein nicht tödliches und
nicht nachweisbares. Elend enthält Bestandteile aller drei Leidenstypen. Das
Minimum an Entwicklung besteht in der Beseitigung von Elend, wie das
Minimum des Friedens in der Abschaffung des Krieges besteht. I' 2
Die gesamte Natur hat Bedürfnisse. Die ersten fünf oben beziehen sich auf
Pflanzen, die nächsten vier auch auf Tiere. Das Reproduktionsbedürfnis wird
als ontogenetisches (individuelles), nicht als phylogenetisches Bedürfnis der
Spezies auf Nachkommen betrachtet; denn die Spezies ist eine Abstraktion,
die nicht fähig ist, Bedürfnisdefizite zu empfinden. Der Begriff des Bedürf-
nisses bezieht sich auf alle Arten des sensitiven Lebens, im buddhistischen
Denken definiert als all das, was fähig ist, Leiden, dukkha, und sukha, Steige-
rung des Lebens, zu erfahren. l "
Nun kann eine wichtige Schnittstelle im Entzug von Bedürfnisbefriedi-
gung definiert werden. Wie erwähnt, findet sich auf allen Ebenen des Ent-
zugs ein Element des Leidens. Die äußerste Form des Leidens ist Tod, die
Auslöschung eines Individuums; ob nun durch Traumata, die dem Körper
zugefügt wurden (direkte Gewalt), oder durch fehlenden Input (strukturelle
Gewalt). Doch noch vor der Auslöschung des Individuums kommt ein ande-
rer Schlüsselbegriff der Entwicklungstheorie und -praxis zum Tragen, der der

162 Elend ist nicht dasselbe wie Armut. Armut bedeutet, wenig zu haben; Elend
schmerzt.
163 Siehe für eine Untersuchung des Buddhismus Johan Galtung: Buddhism: A Quest/ar
Unity and Peace, Columbo 1993.
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 233

Ausbeutung, hier definiert als der Verbrauch von Leben über dessen Repro-
duktionsfähigkeit hinaus.
Was dies für menschliche Wesen bedeutet, liegt auf der Hand. Reproduk-
tion, das heißt, jeden Morgen, nach SchlafIRuhe, Ausscheidung und Essen,
wiedergeboren zu werden, frisch und fit, bereit zum Beginn eines neuen Ta-
ges. Keine Reproduktion heißt, jeden Morgen etwas weniger sein als am
Morgen zuvor, in einer abwärts weisenden Folge, die früher oder später mit
dem Tod endet. Geschieht dies mit allen Individuen, dann ist die Spezies in
Gefahr, von Ausrottung bedroht. Ein anderer Ausdruck für "Reproduktions-
fähigkeit" (reproducibility) ist "Nachhaltigkeit" (sustainability), doch ist er
von geringerer Vorstellungskraft, da er den Mechanismus verbirgt, die Re-
produktion durch eigene Kräfte, im Gegensatz zum Aufgepäppeltwerden
durch Hilfe, die von außen kommt, usw. "Erneuerungsfähigkeit" (renewabili-
ty) ist ein besserer Begriff und bezieht zudem die unbelebte Natur mit ein. l64
Ist Entwicklung die progressive Befriedigung von Bedürfnissen der
menschlichen und nichtmenschlichen Natur, dann wird das Problem der De-
gradierung der Umwelt vordringlich. Drei Positionen sind relativ deutlich:
Eine homozentrische Entwicklung, durch welche menschlichen Bedürfnissen
auf Kosten der Bedürfnisse der Natur Priorität beigemessen wird (oder ge-
nauer gesagt, auf Kosten der nicht-menschlichen Natur), eine naturzentrierte
Entwicklung, in der den Bedürfnissen der Natur auf Kosten der menschlichen
Bedürfnisse Priorität beigemessen wird, und eine Entwicklung der Balance
von Mensch und Natur, die einen Kompromiß schließt. Doch hinter dieser
wohlbekannten Auseinandersetzung steht eine einfache Tatsache, deren Be-
trachtung für menschliche Wesen höchst unerfreulich ist: Die Natur kann
sehr wohl ohne menschliche Wesen überleben, menschliche Wesen aber nur
eine Minute oder zwei ohne Luft, eine Woche ohne Wasser, höchstens einen
Monat ohne Nahrung.
In Kenntnis dieser Tatsache nimmt die homozentrische Entwicklung heut-
zutage oft die "aufgeklärte" Form des Umweltschutzes an, wobei man be-
dauert, daß die Natur "Wachstumsgrenzen" setze, und darüber räsoniert, wie
die Natur "erhalten" werden könne. Natur wird in diesem Sinne als ,,für
mich", nicht als "an sich" betrachtet. Dem liegt nun wieder eine Haltung ge-
genüber der Natur zugrunde, die derjenigen ganz ähnlich ist, die bestimmte
Eliten gegenüber dem Volk einnehmen: Das Volk ist um unsertwillen da, als
Mittel unserer Reproduktion. los

164 Oder das, was wir als unbelebt definieren. Die Hypothese von Mutter Gaia ändert
dies, indem sie den ganzen Planeten in teleologischer Perspektive betrachtet, mit Er-
neuerung als einem Weg, ein Gleichgewicht zu bewahren.
165 Dies umzudrehen, indem zumindest derartige Fragen gestellt werden, ist ein Ziel der
Tiefenökologie, die als Ansatz und als Bewegung von dem norwegischen Philoso-
phen Arne Naess begründet wurde. Für naturzentrierte Entwicklung könnte als Aus-
gangspunkt sprechen, daß menschliche Wesen, so wie sie sich heute verhalten, derart
234 Entwicklungstheorie

Die körperlichen Bedürfnisse fallen unter zwei Rubriken: Überleben, als


Gegensatz zur Auslöschung, und ein Minimum an Wohlbefinden. Aber
menschliche Wesen haben auch geistige Bedürfnisse, die hier zusammenge-
faßt werden unter den Überschriften der Identität einerseits - etwas, womit
man sich in den Räumen der Natur, des Persönlichen, des Gesellschaftlichen,
der Welt, der Zeit und der Kultur identifiziert und dadurch dem Leben Be-
deutung verleiht; und der Freiheit andererseits, definiert als Mobilität einmal
im Raum der Gesellschaft und der Welt, einmal im inneren, persönlichen
Raum - jeweils mit der Möglichkeit zu wählen. Kennen Tiere und Pflanzen
so etwas auch ? Wer weiß?

These Nr. 3: Entwicklung - dritte Definition:


Entwicklung ist wirtschaftliches Wachstum, doch auf niemandes Kosten.
Diese Definition bringt uns dem Begriff Entwicklung, so wie er gemeinhin
aufgefaßt wird, näher, jedoch mit der wichtigen und problematischen Bedin-
gung, die in der einschränkenden Klausel aufgeführt ist. Die Kosten sind
wohlbekannt. Im Raum der Natur treten sie auf als Raubbau (Vernichtung
belebter und unbelebter Natur) und als (toxische) Verschmutzung; im Raum
des Menschen als auf die menschlichen Bedürfnisse bezogene Defizite bis
hin zur Bedrohung der Reproduktion; im Raum der Gesellschaft, und das
heißt in den Systemen menschlicher Interaktion, als Defizite an Vielfalt und
Symbiose; im Raum der Welt, und das heißt in den Interaktionssystemen von
Gesellschaften, ebenfalls als Defizite an Vielfalt und Symbiose; im Raum der
Zeit (der Zukunft) als Defizite an Reproduktionsfähigkeit (Erneuerungsfähig-
keit, Nachhaltigkeit) und im Raum der Kultur als geistige inadaequatio.'66
Das Problem besteht natürlich darin, ob ökonomisches Wachstum ohne
derartige Kosten möglich, ja, auch nur vorstellbar ist. Wird wirtschaftliches
Wachstum als Pro-Kopf-Steigerungsrate des Bruttosozialproduktes definiert,
wobei das Bruttosozialprodukt vor allem die wirtschaftlichen Aktivitäten wi-
derspiegelt, die als "Industrie" und "Handel" bekannt sind, und neigt die In-
dustrie dazu, anorganischen und/oder synthetisch-organischen Abfall zu pro-
duzieren, der nicht biologisch abbaubar ist, der Handel aber dazu, Ursache
und Wirkung kontinente- und jahrzehnteweit auseinander zu rücken, dann

viel mehr Schaden als Nutzen stiften, daß der Natur und nicht den menschlichen We-
sen Priorität eingeräumt werden sollte, indem man deren Zahl drastisch reduziert.
Der dritte Ansatz würde zu harten Entscheidungen führen, wenn es zu einem Wett-
bewerb zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben kommt. Mehr über
Tiefenökölogie bei George Sessions (Hg.): Deep Ecology for the 21st Century, Bo-
ston, MA 1995.
166 Somit lautet eine grundlegende These der vorliegenden Untersuchung von "Entwick-
lung", daß die gängige Wirtschaftswissenschaft als ein Instrument der Theorie wie
der Praxis der Entwicklung schlichtweg inadäquat ist.
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 235

gibt es hier eine Unvereinbarkeit, selbst wenn man nur den Raum der Natur
betrachtet.
Doch deuten wir nun "ökonomisches Wachstum" als "ökonomisches Han-
deln", derart, daß Natur (materielle und energetische Ressourcen sowie Ab-
fallagerung), Produktion (die Verarbeitung von Natur) und Konsumtion Ged-
weder Endverbrauch von Produkten, so daß der Zyklus geschlossen wird und
der Abfall an die Natur zurückgeht) zyklisch verstanden werden, dann bein-
haltet ökonomisches Handeln nicht apriori Kosten. Die Aufgabe besteht dar-
in zu entdecken, wie dies möglich ist.
Offensichtlich sind die drei Definitionen, die wir jetzt von Entwicklung
gegeben haben: kulturzentriert, bedürfniszentriert und wachstumszentriert,
widersprüchlich. Was in der einen Hinsicht Entwicklung sein mag, muß dies
nicht auch für die andere(n) sein. Vielleicht stehen für eine bestimmte Kultur
weder Bedürfnisse noch Wachstum auf der verdeckten Tagesordnung oder
zwar das eine, aber nicht das andere. Frage: Welche Kulturen, Zivilisationen,
wenn überhaupt, sind echte Entwicklungskulturen?

These Nr. 4: Erste grammatische These:


Das Nomen "Entwicklung" kann nur im Plural, als Entwicklungen, nicht im
Singular verstanden werden.
Dies folgt aus der ersten Definition: verschiedene Kulturen, verschiedene
Entwicklungen. Die These ist grundlegend und liefert den Hintergrund einer
Reihe negativer Phänomene in unserer Welt. Wird etwa die Entwicklung ei-
ner Kultur einer anderen aufgezwungen, dann wird sie früher oder später als
Zwangsjacke erfahren, auch wenn sie eine Befreiung darstellt, einige Frei-
heitsgrade in einigen neuen Richtungen bereitstellt. Für Eliten, die diese aus-
ländische, ja fremde Kultur bereits internalisiert haben, wird es kein Problem
geben, außer demjenigen mit ihren "rückständigen Massen". Doch das Volk
wird z.T. mit passiver, unterbewußter Sabotage oder zumindest mit Ineffizi-
enz reagieren, wenn es innerhalb einer sozio-kulturellen Matrix arbeiten soll,
die es nicht als die eigene erfährt, z.T. mit aktivem Widerstand, unter Ein-
schluß von Gewalt, den die dominierende Kultur als "Terrorismus" bezeich-
net. Ein anderer Begriff, den die dominierende Kultur heutzutage gebraucht,
ist "Fundamentalismus", der sich auf Menschen bezieht, die genug an ihre
eigene Kultur glauben, um für sie einzustehen und einer dominierenden
Kultur von außerhalb nicht nachzugeben. Auch aus solchen Überzeugungen
erwächst passiver und aktiver Widerstand.'·'

167 Diejenigen, die andere als naive Gläubige, Fundamentalisten, o.ä. bezeichnen, soll-
ten über ihre eigene Bindung an die größte säkulare Religion in der heutigen Welt
nachdenken, die je nachdem als materialistischer Individualismus, individualistischer
Materialismus, Konsumismus oder einfach als bürgerlicher Lebensstil bezeichnet
wird. Besteht ein Kriterium für Fundamentalismus in der Bereitschaft zu töten, dann
würden sie dem entsprechen, wenn wir etwa annehmen, daß ein Motiv für den Golf-
236 Entwicklungstheorie

These Nr. 5: Zweite grammatische These:


Das Verb" entwickeln" kann nur als intransitives oder reflexives oder rezi-
prokes Verb, nicht als transitives Verb verstanden werden.
Entwicklung ist im wesentlichen Selbst-Entwicklung. Ein Anderer kann nicht
die Ursache einer Entwicklung in einem Selbst sein, ohne die Autonomie die-
ses Selbst zu beschädigen. Autonomie ist ein Entwicklungsziel im Sinne aller
Definitionen. Ich entwickle, ich entwickle mich, wir entwickeln einander.
Man versuche einmal, die eigenen Kinder aufzuziehen, ohne ihnen jemals
die Erfahrung der Selbstbestimmung zu verschaffen. Vielleicht funktioniert
dieses Rezept für die ersten zehn Jahre. Doch danach werden es die Eltern
mit einer reichlich verdienten pubertären Revolte zu tun bekommen. Was
dann geschieht, kann auch grammatisch formuliert werden: Man selbst, ein
eigenes Selbst zu werden, bedeutet, das S in einem indoeuropäischen Stan-
dardsatz SPO (Subjekt - Prädikat - Objekt) zu sein; nicht ewig das O.
Man versuche, ein Kind fast ohne Herausforderungen aufzuziehen. Das
Kind wird nichts aus sich selbst heraus meistern, es wird nur einiges an
Hausarbeiten entsprechend den vorher festgelegten Regeln ausführen, etwa
den Abfalleimer ausleeren, die Betten machen oder ein bißchen putzen. Dies
tue man 70 Jahre und füge ein bißchen Taschengeld hinzu, wenn das ehema-
lige Kind das durchmacht, was ein Lebenszyklus hätte sein können. Das Er-
gebnis wäre tragisch. Tu dies mit ganzen Ländern, und Du erreichst genau
das, worum es bei der Entwicklungshilfe geht - bei dem Versuch nämlich,
jemand anderen zu entwickeln.
Entwicklungshilfe wird zu einem Abkommen, bei dem der Empfänger et-
was Taschengeld für elementare Dienste bekommt und der Spender jenes in-
nere Wachstum, das die Folge aller Herausforderungen ist. Doch Entwick-
lung bedeutet gerade die Übernahme von Herausforderungen durch Dich
selbst, und nicht, sie jemand anderem zu überlassen oder zuzulassen, daß je-
mand anderer Dich ihrer beraubt. "Entwicklungshilfe" ist eine contradictio in
adiecto.

These Nr. 6: Die westliche Zivilisation versteht sich selbst als universelle Zi-
vilisation und universalisiert ihre eigene Geschichte als Entwicklungsge-
schichte für andere, und das heißt:
A Entwicklung = westliche Entwicklung = Modernisierung
B Entwicklung = Wachstum = wirtschaftliches Wachstum =
BSP-Wachstum.
Diese beiden Propositionen verweisen auf zwei grundlegende Aspekte west-
licher Theorien von Fortschritt oder allgemeiner Verbesserung, die schon in

krieg die Angst war, die Kontrolle über das Öl im Nahen Osten, "die Lebensader"
(George Bush), zu verlieren.
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 237

das Wort "Entwicklung" eingebaut sind: Differenzierung und Wachstum. Er-


sterer entsprechend, besteht Fortschritt vor allem in zunehmender Arbeits-
teilung, und das heißt, zunehmender Spezialisierung; letzterem entsprechend,
besteht Wachstum in der steigenden Produktion von Gütern und Dienstlei-
stungen. Manche betrachten erstere als notwendige und hinreichende Bedin-
gung des letzteren. '68
Doch das abendländische Denken, Sitz jener beiden Weltreligionen, die
mit einem Anspruch auf Universalität und (konsequenterweise) als missio-
nierende Religionen (Christentum und Islam) auftreten, und die sich zudem
als singulär (die einzige Wahrheit) und monoprophetisch (Jesus und Moham-
med) geben, '69 ist mit einer Formel nicht zufriedenzustellen, die auf sie selbst
nur Anwendung finden mag oder auch nicht. Jede Formel muß universell
gültig sein, und dies führt zu der oben zitierten allgemeinen These. In ihrem
Gefolge zieht die Modernisierungsformel die westliche, die aristotelisch-car-
tesische Logik nach sich, die Logik des Staates, mit Kabinett, Ministerien,
Zentralisierung usw., und die Logik des Kapitals mit der Konsequenz ökono-
mischen Wachstums.
Hier angekommen, wird das Potential, das dem Begriff "Entwicklung" in-
newohnt, einfach trivialisiert. Es wird in bekömmlicher und hochoperationa-
ler Weise ad absurdum geführt, so daß eine Menge von Projekten im Namen
von Entwicklung in Angriff genommen werden können."o Alle drei Defini-
tionen und die semantischen Thesen werden dabei außer acht gelassen.

These Nr. 7: Die Hauptbedingungen für wirtschaftliches Wachstum sind


harte Arbeit, Sparen/Investieren, Habgier und Rücksichtslosigkeit.
Der Weg zum wirtschaftlichen Wachstum verläuft über Verarbeitung (Indu-
strie) und Vermarktung (Binnen- und Außenhandel). Will man erfolgreich
sein, dann müssen drei Variablen beachtet werden: QIP (höchstrnögliche
Qualität zu niedrigstrnöglichen Preisen); KIN (die höchste Menge an Kultur,
eingeprägt der niedrigsten Menge an "Roh"-Natur; mit anderen Worten: der

168 Dies war eine grundlegende Auffassung, die sehr einflußreiche westliche Makro-Hi-
storiker wie Adam Smith, Herbert Spencer, Emil Durkheim und Max Weber vertreten
haben. Vgl. Johan Gattung und Sohail lnayatullah: Macro-History and Macro-
Historians, im Erscheinen begriffen.
169 Im Gegensatz zum Judentum, als Ursprung der beiden anderen, das sich als singulär
begreift, aber weder universalisierend noch monoprophetisch ist.
170 Die Sache ist ganz einfach die: Wirtschaftliches Wachstum zu erreichen ist nicht
notwendigerweise einfach, doch sind die Schwierigkeiten gering im Vergleich zur
Quadratur des Kreises, nämlich wirtschaftliches Wachstum auf niemandes Kosten zu
erzielen. Nach wirtschaftlichem Wachstum zu streben, ohne nach dem Preis und
demjenigen, der (wenn überhaupt) dafür aufkommt, zu fragen, heißt, sich für den
Weg des geringsten Widerstands zu entscheiden.
238 Entwicklungstheorie

höchstmögliche Grad an Verarbeitung) und F/R (ein gutes Gleichgewicht


zwischen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft).
Für alle drei ist harte Arbeit notwendig, besonders in einer Wettbewerbs-
wirtschaft. Doch auch SparenlInvestieren, also die Bereitschaft, nicht das Ge-
samteinkommen für den materiellen und nicht-materiellen Verbrauch zu nut-
zen, ist notwendig, da sonst kein einmal erzielter Wettbewerbsvorteil gehal-
ten werden kann. Den Kosten viel Aufmerksamkeit zu widmen, etwa hin-
sichtlich der Ausbeutung (der Reproduktionsdefizite) der Natur, des inneren
Proletariats im gesellschaftlichen Raum und des äußeren Proletariats im
Weltrnaßstab und sogar des Selbst,'" wird nur Energien vom eigentlichen
Unternehmen abziehen. Nebenbei bemerkt, ist dies deren Problem. Das Schlüs-
selthema, die überwältigende Motivation hinter all dem Handeln ist einfach:
Habgier.
Es muß in dieser Kultur einen gewissen "Aufschub der Belohnung" ge-
ben: "Arbeite hart, genieße später". Hieraus folgt das Muster von Ferien und
Rückzug aus dem Berufsleben, vermutlich "harte Arbeitlkeine Freude" für
den größten Teil des JahreslLebens, und "keine Arbeit/viel Freude" für einen
Teil des JahreslLebens. Doch jeder Genuß entzieht der harten Arbeit und der
vollen Aufmerksamkeit, die dem Sparen/dem Investieren gewidmet wird, of-
fensichtlich Zeit, so daß die Menge an Zeit, die für Muße aufgewendet wird,
zu einem möglichen Hinweis gerät auf ein Weicher-Werden als Konsequenz
des beginnenden Niedergangs, ob man das nun auf das Römische Reich vor
2000 Jahren oder auf das heutige Japan bezieht.

These Nr. 8: Am stärksten verkörpern die Rücksichtslosigkeit Protestanten,


Männer und Ökonomen, besonders in dieser Verbindung.
Wollten wir dies gründlich untersuchen, dann würde es uns tief in die Theo-
logie, in die Zusammenhänge von Biologie/Kultur/Struktur und in die gän-
gige Wirtschafts wissenschaft verstricken. Hier sollen nur einige Punkte be-
rührt werden.
Erstens, Männer. Bedenkt man, daß 95 - 98% der direkten Gewalt in der
Welt von Männern ausgeübt wird, dann gibt es schon eine solide Tradition
der Rücksichtslosigkeit, "toughness". Männer versuchen, ihre eigene Gewalt-
tätigkeit zu kontrollieren, indem sie direkte Gewalt durch strukturelle und
kulturelle Gewalt ersetzen. Sie bauen sich selbst in Hierarchien ein, um die
Ausübung der direkten Gewalt zu kontrollieren, indem sie diese auf die Ge-
walt von Oben gegen Unten und der Gruppenzugehörigen gegen die Nicht-

171 Die Begriffe internes Proletariat (für die inländische Arbeiterklasse) und externes
Proletariat (für die Außenwelt, die Barbaren, heute die Dritte Welt) stammen von
Toynbee. Ausbeutung wird hier als die überrnässige Ausnutzung des Lebens defi-
niert, und "Leben" wird dann in vier Teile unterteilt: Das Selbst, das die Ausbeutung
vornimmt, die inländische Arbeiterklasse, die äußere bzw. die Dritte Welt und die
Natur.
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 239

Gruppenzugehörigen beschränken; sie schützen so das interne ,hohe Tier'.


Der Archetypus hierfür ist das Militär, und die Ausbeutung des internen und
externen Proletariats ist eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.
Und Männer ziehen deduktive Systeme wie die christlichen und islamischen
Doktrinen des gerechten Kriegs und das internationale Recht spontanen Ak-
ten menschlichen Mitleids vor. 172
Zweitens, Protestanten. In der Weberschen Tradition 173 (Max Weber war
selbst Protestant) ist viel über deren Gründe gesagt worden, hart zu arbeiten
und zu sparen, oder über den Aufschub an Belohnung ganz allgemein. War-
um sollten sie aber zugleich auch weniger rücksichtsvoll sein? Zwei Faktoren
erscheinen als besonders wichtig.
So war einer der Grundzüge des Lutheranischen Gottesbildes die Konstruk-
tion des Paradieses als einer Mangelware. Der Zugang sollte nicht als durch
irgendeine Formel garantiert gelten, die durch die Menschen selbst kontrol-

172 Dies ist natürlich durch Carol Gilligans In a Different Voice inspiriert. Doch bitte
ich, ein Beispiel geben zu dürfen, das der persönlichen Erfahrung entstammt. 1974
war ich Beobachter in der norwegischen Delegation bei der Konferenz der Vereinten
Nationen über das Seerecht (UNCLoS) in Caracas, Venezuela. Beteiligt waren etwa
150 Staaten zu etwa 150 Themen, und das heißt, daß die gesamte Tagesordnung ei-
nen sehr hohen Grad an Komplexität aufwies. Auch nur das intellektuelle Verständ-
nis der Themen, vom Auffinden von Lösungen ganz zu schweigen, überstieg die
Fähigkeiten der meisten Teilnehmer oder sogar Delegationen bei weitem. Es gab da-
her viele Sitzungen, die im wesentlichen der Reduktion von Komplexität gewidmet
waren.
Eines Tages wurde ich zu einer Sitzung von Sekretärinnen eingeladen. Sie hatten die
Dokumente geschrieben; verfaßt von Männern, getippt von Frauen. Eines der
grundlegenden Probleme war das der Mineralien auf und unter dem Meeresgrund.
Die Männer erörterten die Frage der "Ausbeutung", die Sekretärinnen wollten disku-
tieren, wer von ihnen profitieren sollte. Und ihre Antworten zeigten in Richtung der
notleidenden Frauen und Kinder in der Dritten Welt, in Lateinamerika, in Afrika, in
Südasien - Mitleid, Mitgefühl.
Doch die Männer, und das heißt fast alle Delegierten, hatten andere Perspektiven.
Deren erstes Problem bestand darin, wie man diese möglichen Ressourcen vom
Grund des Meeres, wie z. B. die berühmten Knollen, nahtlos in das Gebäude des in-
ternationalen Rechts einfügen konnte. Dazu bedürfe es viel neuer Forschung, mit an-
deren Worten neuer Institute, vielleicht neuer Doktorgrade, zumindest neuen Per-
sonals, ausgebildet in adäquaten intellektuellen Konstruktionen. Zusätzlich gab es
das Problem, wie nationale Interessen, nämlich die ihrer eigenen eher als die der an-
deren Nationen, und nicht etwa die menschlicher Wesen in irgendeinem direkten
Sinne, bedient werden könnten. Mit anderen Worten, verbale und gesellschaftliche
Hierarchien des Rechts und des Interesses, wie oben erwähnt. Und nicht Mitleid mit
den Bedürftigen.
173 Ebenso wie Das Kapital von Kar! Marx ist auch Max Webers Die protestantische
Ethik und der Geist des Kapitalismus immer noch höchst lesenswert, in Anbetracht
der Brillanz der Autoren wie der Bedeutung ihrer Ausführungen, denn allzusehr hat
sich die Welt seit damals nicht geändert.
240 Entwicklungstheorie

liert würde. Ganz im Gegenteil, wenn Gott Ursache seiner selbst ist, dann
bleibt den Menschen wenig oder gar keine Möglichkeit, den Hebel anzuset-
zen. Dies bedeutet Ungewißheit, doch auch Schlange-Stehen vor den Türen
des Paradieses. Angesichts der Über-Individualisierung der protestantischen
Seele bedeutet dann Schlange-Stehen den Wettbewerb um den Eintritt ins Pa-
radies.
Und dann ein zweiter Zug: der Protestantismus als entmarianisiertes Chri-
stentum; eine Verstümmelung der gewohnten christlichen Quaternität mit
Gottvater, der Mutter Maria, dem Heiligen Geist und dem Sohn Christus,
wobei Maria herausgeschnitten wird. Mit Maria verschwinden Mitleid und
Barmherzigkeit, die grundlegender sind als die göttliche Gnade, die Gott
über die Menschen ausbreitet, sowie generell Tugenden, die als weiblich
gelten. Übrig bleibt eine Trinität aus zwei Männern und einem Wesen zwei-
felhaften Geschlechts, aber keine Heilige Mutter, die ein Wort der Barmher-
zigkeit für einen Sünder einlegen könnte.
Ergebnis: Agonie, begleitet von der Hoffnung, daß Erfolg in diesem Le-
ben die Ankündigung von Erfolg im Nachleben sein könnte.
Drittens, Ökonomen. Die gängige Wirtschafts wissenschaft stellt, wie jede
Wissenschaft, den Versuch dar, bestimmte Aspekt der Realität transparent
und der Verarbeitung durch den menschlichen Geist im allgemeinen und des-
sen Fähigkeiten zur Abstraktion und Generalisierung im besonderen zugäng-
lich zu machen, immer jedoch um den Preis der Verdunkelung anderer
Aspekte der Realität. Es ist eine Besonderheit der Wirtschaftswissenschaften,
daß die unsichtbar gemachten Aspekte gerade im Feld der Ökonomie selbst
liegen: unmittelbare "Nebenwirkungen", positive und negative Konsequen-
zen wirtschaftlichen HandeIns, für die dieses jedoch keine Verantwortung
übernimmt. Mit anderen Worten: die "Externalitäten", so benannt, weil sie
nicht im Mittelpunkt, sondern im Schatten der intellektuellen Überprüfung
stehen oder in deren Jenseits, im Unter- oder Unbewußten der Mainstream-
Wirtschaftswissenschaft.
Dies sind die Löcher oder unentwickelten Gebiete an den Rändern des
ökonomischen Denkens. Es ist möglich, sechs von ihnen sofort zu identifi-
zieren, wenn man sich der Typologie der Räume bedient, auf die in der These
Nr. 3 verwiesen wurde:
- der Raum der Natur, der nicht in seinem Eigenrecht betrachtet wird, son-
dern nur als Ressource und als mögliche Abfallhalde für Schadstoffe;
der Raum des Menschen, verstanden im wesentlichen als Produktionsfak-
toren auf unterschiedlichen Ebenen und als Verbraucherpotential;
der Raum der Gesellschaft, hauptsächlich betrachtet als Ort der Zyklen
von Produktion - Distribution - Konsumtion und als Marktplatz;
- der Raum der Welt, im wesentlichen betrachtet als ein internationaler ge-
sellschaftlicher Raum;
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 241

- Zeit, im Sinne kürzerer Zeithorizonte, nach vorn und zurück,


- Kultur, so hergerichtet, daß sie der Wirtschaft dient, wie sie von den Öko-
nomen konstruiert wurde (und nicht umgekehrt), z.B. durch die Relativie-
rung aller Werte und ihre Vergleichbarmachung durch Monetarisierung,
um Kosten-Nutzen-Analysen zwischen Personen und zwischen Werten zu
gestatten.
Und dann, an der Spitze des Ganzen, das siebte Loch:
- Wissenschaft/Erkenntnis, die mangelnde Fähigkeit, Aufmerksamkeit für
die Löcher im eigenen Denken zu entwickeln, die anderen sechs Löcher
wahrzunehmen.
Man stelle sich nun eine Welt vor, in der ökonomisches Wachstum im mo-
dernen Sinne dieses Wortes, so wie es durch das Pro-Kopf-Bruttosozialpro-
dukt ansprechend operationalisiert erscheint, in jenem Teil Europas seinen
Anfang nimmt, der durch den Protestantismus beherrscht wird, und dies in
einer Epoche eines stark ausgeprägten Patriarchats. Ein enormes Ausmaß an
Gewalt begleitet das Phänomen, wie etwa Sklaverei und der Dreieckshandel
sowie KolonialismuslImperialismus für das externe Proletariat, mit Unter-
drückung der Arbeiterklasse, des internen Proletariats, sobald dieses ver-
sucht, seine Bedingungen zu verbessern.
Woran es hier fehlt, ist das gute Gewissen, das der festen Überzeugung
entspricht, auf dem richtigen rechten und Weg zu sein, auch wenn es unter-
wegs Leiden gibt, besonders am Wegesrand. Die gängige Wirtschaftswissen-
schaft produzierte und reproduziert diese Rechtfertigung, als ein kohärentes,
glänzendes Muster kultureller Gewalt.

These Nr. 9: Es gibt zwei Hauptregionen wirtschaftlichen Wachstums in der


Welt, den jüdisch-christlichen (JC) Nordwesten und den buddhistisch-
konfuzianischen (BK) Südosten.
Lauten die Bedingungen auf harte Arbeit, SparenlInvestieren, Habgier und
Rücksichtslosigkeit, dann besteht wenig Zweifel daran, daß der Nordwesten
der Welt sie erfüllt, mit dem protestantischen Teil im Zentrum, etwas weicher
in den jüdischen und moslemischen Teilen, mit ihrer Betonung der sozialen
Gerechtigkeit, und im katholischen und orthodoxen Christentum, mit der er-
haltenen weiblichen Gottheit.
Doch auch der Südosten der Welt, d.h. Japan - China - Korea - Vietnam,
erfüllt die Bedingungen. Harte Arbeit und eine gewisse Bedürfnislosigkeit
sind in der konfuzianischen Ethik tief verankert, Rücksichtnahme und Soli-
darität in der buddhistischen Ethik, besonders in der Ethik des Mahayana-
Buddhismus mit seiner starken Betonung des größeren, transpersonalen
Kontextes. Dennoch umfasst dieser größere Kontext nicht die ganze Welt.
Nur die abendländischen Unternehmungen, insbesondere das Christentum
und der Islam, beanspruchen universelle Gültigkeit. Der Südosten der Welt
242 Entwicklungstheorie

konzentriert vielleicht die Ausbeutung auf den Rest der Welt, die Welt, die
außerhalb seiner eigenen liegt, und behandelt den eigenen Teil besser. Das
Nettoergebnis mag ungefähr dasselbe sein: wirtschaftliches Wachstum und
nicht Entwicklung im Sinne der These Nr. 3, Entwicklung auf niemandes
Kosten. Doch in der Verbindung des Mahayana-Buddhismus mit dem Kon-
fuzianismus liegt zumindest ein Potential für mehr Gleichheit in der BK-Re-
gion.
Das Hauptland in der Je-Region ist Deutschland mit der Europäischen
Union und mit Osteuropa/der Ex-Sowjetunion als Hinterland (deutsch i.
Orig.); und in der BK-Region Japan mit Ost-/Südostasien als Hinterland.
Frage: Bilden Deutschland - Japan eine Achse für Frieden oder für Krieg?
Und wie wird sich dieses Duo gegenüber den Vereinigten Staaten verhalten?

These Nr. 10: Der Rest der Welt ist zur Zeit zu einem peripheren Status im
System des Weltwirtschaftswachstums verdammt.
Es ist nicht unmöglich, diesem Verdikt zu entgehen. Doch bedarf es dazu
sicherlich harter Arbeit, intensiven Sparens und hoher Investitionen, der
Habgier und vielleicht auch einiger "ausgleichender Rücksichtslosigkeit",
selbst wenn dies ganz ohne Gewalt geschieht. Gandhi organisierte einen
Boykott englischer Handelswaren, insbesondere von Textilien, um den Weg
zu wirtschaftlicher Selbständigkeit zu ebnen, und sammelte sogar Geld, um
britische Kaufleute nicht zu verletzen. Es führte jedoch kein Weg um die
Tatsache herum, daß diese verletzt wurden, indem ihrem Expansionismus
Schach geboten wurde.
In der Welt der Gegenwart sind die beiden Supermächte des Kalten Krie-
ges einander bemerkenswert ähnlich. Habgier und Rücksichtslosgkeit sind
kein Problem, beide sind in diesem Feld hervorragend beleumdet. Doch sind
unter den gegebenen Umständen harte Arbeit und Sparen für beide ein Pro-
blem. Es ist jedoch schwer, die Zukunft vorherzusagen; sowohl die Ameri-
kaner als auch die Russen verfügen über verborgene Stärken, die sich zeigen
könnten, wenn sie einem wirklichen Härtetest unterzogen werden.
Ist dies das Profil auch anderer Bereiche der Weltperipherie, so gibt es
doch Regionen, die das entgegengesetzte Profil aufweisen: harte Arbeit, Spa-
ren als Schutzzaun gegenüber härteren Zeiten, wenig Habgier und Rück-
sichtnahme auf die Natur, das Selbst und den Anderen. Die meisten Eingebo-
renenvölker sind so, und das ist der Grund, warum sie so lange überlebt
haben. Und ebenso der Grund dafür, warum sie langsam ausgerottet werden.
Was die Situation verschärft, ist die allgemeine Homogeneisierung der
Welteliten im Hinblick auf das Thema des ökonomischen Wachstums, worin
sie mehr oder weniger erfolgreich sein mögen. Erfüllen sie nicht alle vier
Bedingungen, dann werden sie dazu tendieren, dem Zentrum zur Seite zu
stehen, indem sie dieses mit Rohnatur, Roharbeit und Rohmärkten versorgen.
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 243

These Nr. 11: Entwicklungshilfe ist das legitime Kind eines westlichen impe-
rialistischen Vaters und einer christlichen missionierenden Mutter, und das
Kind trägt den Code beider.
Entwicklungshilfe ist letztlich ein Weg, über die ganze Welt hinweg die
Reproduktion, ja das Überleben westlicher Kultur und Struktur zu sichern,
indem der soziokulturelle Samen mit diesem besonderen genetischen Code
überall eingepflanzt wird, unter Verwendung der örtlichen Armut und des
örtlichen Elends zu Zwecken der Rechtfertigung. Verfehlt Entwicklungshilfe
das Ziel, das Elend zu verringern, führt sie eher zu dessen Reproduktion,
dann wird dies als ein weiterer Grund dafür betrachtet, die Übung Entwick-
lungshilfe fortzusetzen. Der "Vater" ergreift die Gelegenheit zur Expansion,
diesmal eher ökonomisch und kulturell als nur politisch und militärisch, und
die "Mutter" fühlt sich gut, wenn sie soviel Nächstenliebe in alle Richtungen
verstreut.
Zeigt sich keine Besserung, sondern eine weitere Verschlechterung, dann
werden oft die Empfänger für die armseligen Ergebnisse schuldig gespro-
chen. Sie sind einfach zu "traditionell", ihre Kultur ist nicht die richtige, und
außerdem sind sie faul und/oder korrupt. All dies können richtige Beobach-
tungen sein, einmal unterstellt, daß es Sinn macht, Menschen einer Kultur
mit ihren Entwicklungszielen anhand der Kriterien einer anderen zu beurtei-
len. Die Menschen im Westen haben hiermit normalerweise kein Problem
und produzieren Unmengen "wissenschaftlicher" Berichte über die Entwick-
lungssituation jedes beliebigen nicht-westlichen Teils der Welt; leider ohne
zu verstehen, daß die westliche Wissenschaft, atomistisch und deduktiv, auch
eine Ethno-Wissenschaft ist. Doch Entwicklungshilfe bringt dem Empfänger
Ressourcen, setzt einen Wettbewerb in Gang, ja, sogar einen Kampf um ein
Stück des Kuchens; sie macht die Gewinner korrupt und die Verlierer zu trä-
gen Opfern der Schwächung ihrer eigenen Kultur.

These Nr. 12: Entwicklungshilfe stellt einen außerordentlich kompetitiven


internationalen Markt dar, auf dem Geber- und Empfängerländer ihre Ange-
bote machen, indem sie Projekte unter verschiedenen Schlagwörtern anbie-
ten und annehmen (Vorinvestition, Infrastruktur, Transaktionskosten, Ge-
meindeentwicklung, Partizipation, Import-Substitution, Export-Substitution,
Grundbedürfnisse, für die ärmsten Länder, für die ärmsten Menschen, für die
ärmsten Menschen in den ärmsten liindern, für Frauen, für die ärmsten
Landfrauen, für die Umwelt, für nachhaltige Entwicklung), um ihren Anteil
an dem zu vergrößern, was angeboten und angenommen wird.
Das Maß der Partizipation an dieser Übung ist vielleicht wichtiger als das
Erreichen des Zieles, dessen Proklamation den jeweiligen Slogan ausmacht.
Anders gesagt, es setzt ein Prozess der Bürokratisierung ein, aufgrund dessen
Projekte eher in Begriffen der Quantität der Mittel als in solchen der Qualität
der Ziele beurteilt werden. Dies eröffnet die Möglichkeit zur Zusammenar-
244 Entwicklungstheorie

beit auf hoher Ebene zwischen den miteinander handelnden Eliten der Geber-
und der Empfängerländer: Der Geber kann seinen Anteil vergrößern, wenn
der Empfänger annimmt, und umgekehrt.
Da haben wir sie also, die Entwicklungsagenturen, eine für jede Hügel-
spitze und für jedes Tal, manchmal miteinander zusammenarbeitend und
"koordinierend", manchmal im Wettbewerb miteinander und einander über-
bietend - im Handel mit den örtlichen Eliten, um die Projekte "erfolgreich"
zu machen. Die örtlichen Eliten sind sich ihrer Macht in dieser Hinsicht
ebenso bewußt wie der Wichtigkeit für die Agenturen, etwas vorweisen zu
können. Plötzlich ersinnt eine von ihnen, oft durch Organe der UNO, einen
neuen Slogan, der Möglichkeiten für neue Projekte und neues Geld eröffnen
kann. Doch konkurrierende Agenturen werden die Gefahr wittern und sofort
denselben Slogan akzeptieren (ja, dieselbe "Dekade" ausrufen); und diesen
Slogan vertreten dieselben Menschen, die im Jahr zuvor den entgegen-
gesetzten vertraten. Die ganze Übung ist slogan-unabhängig.

These Nr. 13: Entwicklungshilfe könnte die Form der Beseitigung des haupt-
sächlichen strukturellen Hindernisses annehmen, der Zentrum-Peripherie-
Strukturen, und Herausforderungen an der Peripherie ansiedeln.
Die ärmlichen Ergebnisse einiger Jahrzehnte Entwicklungshilfe können in
einem gewissen Ausmaß auf den grundlegenden Mangel an Verständnis ge-
genüber der oben angeführten zweiten grammatischen These, These Nr. 5,
zurückgeführt werden. Entwicklungshilfe ist der Versuch, jemand anderen zu
entwickeln, wo doch die Hauptanstrengung so offensichtlich von innen her
kommen muß. Der zugrundeliegende Mechanismus gehört zur Theorie der
Externalitäten: Wer greift in Verbindung mit einem Entwicklungsprojekt die
Herausforderung auf? Offensichtlich diejenigen, die die Macht haben, das
Problem zu definieren und es als Rohmaterial zu verwenden, das zu Problem-
lösungen, also zu Handlungsanweisungen umgearbeitet werden muß. Auf-
grund der Definition von technischer Hilfe wird es sich bei diesen Menschen
um die ausländischen, nicht aber um die örtlichen Experten handeln, deren
Expertise den gesamten Begriff der technischen Hilfe in Frage stellen würde.
Doch selbst wenn "entwickeln" als Verb nicht transitiv gefaßt werden
darf, so kann man es doch reflexiv verwenden. Die Geberländer, besonders
diejenigen aus dem Zentrum des Weltwirtschaftssystems, können sich selbst
entwickeln und auf diese Weise zur Entwicklung in anderen Ländern bei-
tragen, durch ein Wachstum zu geringeren Kosten nämlich. Verläuft ein Weg
zu materiellem Reichtum über ein hohes KIN-Verhältnis, dann müssen sich
die unterentwickelten Länder in der Verarbeitung engagieren und dürfen sich
nicht, trotz hoher QIP-Niveaus, mit halb- oder unverarbeiteten Produkten zu-
friedengeben, die ihnen durch die verheerende Doktrin der "komparativen
Vorteile" zugewiesen werden. Ändern die entwickelteren Länder (MDes -
more developed countries) dieses Handicap nicht, dann werden es die wen i-
Entwicklung: fünfzehn Thesen zur Theorie und Praxis 245

ger entwickelten Länder (LDCs - less developed countries) selbst tun, so,
wie dies die South Commission (unter Vorsitz von Julius Nyerere) angedeutet
hat: durch eine Süd-Süd-Zusammenarbeit. Hilfreiche MDCs würden dem
folgen, indem sie herausfordernde Aufträge in den LDCs plazierten.

These Nr. 14: Eine notwendige Bedingung für Entwicklungshilfe ist Rezi-
prozität: Ich helfe Dir, Du hilfst mir; z.B. durch die Bitte an LDCs, Spender
von Entwicklungsberatung für MDCs zu werden.
Die zweite Alternative zur Transitivität ist nach der Reflexivität die Rezi-
prozität, und die übliche Frage in diesem Zusammenhang lautet, wie denn
LDCs helfen können, da sie doch kraft Definition so arm sind. Die Antwort
hierauf, die in den MDCs kaum verstanden wird, ist nicht-materielle Hilfe;
Z.B. das, was MDCs so gerne geben, nämlich erbetene und unerbetene Bera-
tung durch Experten. Die LDCs sind seit langer Zeit Objekte der Forschung
und der Evaluation. Geschieht dies auch andersherum, dann kann das ein
Dialog zwischen Gleichen über gemeinsame Probleme werden, zum Beispiel
über Kinder, die Alten und die Kranken oder über Entfremdung im allgemei-
nen.
Doch sind die MDCs hierfür empfänglich? Man stelle sich vor, was dies in
der Praxis bedeuten könnte. Eine indische Delegation erscheint in Manhattan,
um US-Muster der Fortpflanzung und Familienplanung zu untersuchen, in
der festen Überzeugung, daß, wenn 5% der Weltbevölkerung eine unver-
hältnismäßige Menge der Weltenergie verbrauchen und für unverhältnismä-
ßige Anteile der Weltverschmutzung verantwortlich sind, eine drastische
Verminderung der Bevölkerung nötig ist. Entsprechende Berichte über die
LDCs sind von den MDCs angefertigt worden. Warum nicht von den LDCs
über die MDCs, sogar über WDC (Washington, DC)?
Oder ein anderes Beispiel. Norwegen betrachtet sich selbst als hochent-
wickelt und war immer schon stolz auf seinen Wohlfahrtsstaat. Ein Aspekt
des Wohlfahrtsstaates war die Wohlfahrt für die Alten, inklusive Altershei-
men. Vom Standpunkt anderer Kulturen aus ist es abscheulich, die Alten von
ihren Nachkommen abzusondern. Eine LDC-Delegation kommt nach Nor-
wegen und schlägt eine Anzahl alternativer Maßnahmen vor. Sind die Nor-
weger willens, irgendeine Empfehlung anzunehmen? Oder die Amerikaner?

These Nr. 15: Vermutlich sind die besten Entwicklungshelfer Organisationen


von Freiwilligen, die sich in Dialogen von Mensch zu Mensch und nicht in
Dialogen von Experte zu Experte engagieren, die für stärker an den Grund-
bedüifnissen orientierte Hilfe sorgen, und die bereit sind, Reziprozität zu ak-
zeptieren. Besonders hilfreich sind vermutlich freiwillige Frauenorganisatio-
nen.
Ein Grund ist höchst einfach: Volksorganisationen (von Regierungen als
"Nicht-Regierungsorganisationen" abgestempelt - so, als ob das Volk nur als
246 Entwicklungstheorie

Negation der Regierung existierte, oder als ob man Regierungen als "Nicht-
Volk" bezeichnen würde) verfolgen in Entwicklungshilfezusammenhänge
vielleicht auch eigene Interessen. Doch diese Interessen werden wahrschein-
lich unschädlich, vielleicht sogar positiv sein für den Empfänger. "Geben"
Regierungen Hilfe, dann werden im allgemeinen nationale Interessen mit im
Spiel sein, so wie Regierungen sie verstehen, und diese sind durchaus nicht
unschädlich: Werbung für nationale Produkte, politische Reziprozität in der
Form von Unterstützung, sogar bei Abstimmungen in zwischenstaatlichen
Organisationen, militärische Rechte auf Basen, Abkommen zur gemeinsamen
Verteidigung, usw. All dies wird dem eigentlichen Gehalt von Entwicklung,
der Befriedigung von Grundbedürfnissen von Mensch und Natur einen ande-
ren Akzent verleihen, sogar dem Aspekt ökonomischen Wachstums.
Hinzu kommt der Unterschied zwischen Regierungsexperten und der Ex-
pertise, über die eine freiwillige Organisation verfügt. Erstere sind Experten
für etwas Hochrangiges in ihrem eigenen Land, und daher wird die Produkti-
on dieses Etwas in einem LDC normalerweise um des Exportes willen ge-
schehen. Der Weg vom Experten zum Export ist sehr kurz. Freiwillige Orga-
nisationen dagegen können Erfahrungen auf menschlicher Ebene von den
MDCs an die LDCs übermitteln und wieder zurück, sogar in unmittelbarer
Zusammenarbeit mit Freiwilligen der LDCs. Und es fällt ihnen leichter, dem
Primat der Grundbedürfnisse treu zu bleiben und der Solidarität mit Mensch
und Natur. Und nicht zuletzt: der Reziprozität.
2 Sechs ökonomische Schulen

2.1 Über die Definition von Schulen


Bei aller Skepsis gegenüber den gängigen Wirtschaftswissenschaften kann
doch nicht bestritten werden, daß die Ökonomie, die Organisation der Zyklen
Natur - Produktion - Verbrauch, in jeder Gesellschaft eine bedeutende Rolle
spielt. Aber dasselbe läßt sich auch von der Politik sagen, der Organisation
von Macht; von der Kultur, unter anderem, weil Kultur eine wichtige Rolle
in der Definition dessen spielt, was produziert und verbraucht werden soll
und auf welche Weise; und vom Militär, der Organisation von Zwangsge-
walt.
Die Grundthese dieses Kapitels besagt, daß die Ökonomien überall auf der
Welt in ihrer Organisation einer bestimmten Logik folgen, entsprechend öko-
nomischen Schulen. Zur Erforschung dieser Schulen bedarf es bestimmter
Diskurse, Blickwinkel, unter denen die Schulen betrachtet und ihre grundle-
genden Eigenschaften besser verstanden werden können. Wir werden uns
hierzu des ökonomischen Zyklus und der diesem zugrundeliegenden Kultur
bedienen.
Der ökonomische Zyklus soll bestehen aus den Inputs, den Verarbeitungen
im System, den Outputs und der Verteilung. Wir sprechen über die Produkti-
on von Gütern und Dienstleistungen (und deren Gegenteil: goods and servi-
ces - bads and disservices). Um zu produzieren, braucht man Inputs, Pro-
duktionsfaktoren. Fünf an der Zahl werden Verwendung finden: Natur, Ar-
beit, Kapital, Technologie und Management. Die Produktionsfunktion lautet
Pr = Pr (Na, Ar, Ka, Te, Ma), wobei Pr der Output an Produkten ist. Um Pro-
dukte zu erhalten, benötigt man Produktionsbeziehungen oder Organisation.
Der Ausdruck "Verarbeitung im System" (throughput) ist unbeholfen, doch
bezieht er Inputs auf Outputs. Sodann werden die Produkte verteilt. Sie kön-
nen als Inputs für eine neue Produktion verwendet werden, zur Bevorratung
oder zum Endverbrauch, was darauf hinausläuft, daß nichts als Abfall übrig
bleibt, der an die Natur zurückgegeben wird: der Ausgangs- und der End-
punkt von allem, das Alpha und Omega des ökonomischen Zyklus - ein
Kapital, das durch Recyclingprozesse immer wieder erneuert werden muß
und nicht aufgezehrt werden darf.
248 Entwicklungstheorie

Die Kultur ist wie der Boden, der Nährstoffe für einige Pflanzen und Ge-
wächse eher als für andere bereitstellt. Wir werden uns besonders mit einigen
Entscheidungen, die in und von einer Kultur getroffen werden,174 beschäfti-
gen:

Individualismus versus Kollektivismus


Vertikalität versus Horizontalität
Monetarisierung versus Spezifizierung
Verarbeitung versus Naturbelassenheit
Expansion versus Stabilität.

"Individualismus" privilegiert und betont das Individuum; im "Kollektivis-


mus"l75 sind das Kollektiv, Gruppen, Clans, Stämme, Nationen privilegiert,
und das Individuum tritt in den Hintergrund zurück. Das Netz, nicht die Kno-
ten, werden betont.
"Vertikalität" meint die Neigung zur Hierarchie, zu einer klaren Eintei-
lung in hoch und niedrig; "Horizontalität" ist die Anlage dazu, Dinge, von
welcher Art auch immer, auf ein und derselben Ebene anzusiedeln.
"Monetarisierung" heißt, diesem, irgendeinem oder einem jeglichen Ding
einen Geldwert zuzuweisen, versteht sich, mittels Generalisierung und Ab-
straktion. Das Gegenteil von Monetarisierung in diesem Sinne ist Spezifizie-
rung, das Festhalten am einzelnen und konkreten Charakter von diesem, je-
nem, allem.
"Verarbeiten" bedeutet, etwas mit dem "Natürlichen" zu tun, dem Natürli-
chen eine Form oder Kultur aufzuprägen. Ganz generell befaßt der Begriff
auch Pädagogik oder Erziehung ganz allgemein unter sich, die das menschli-

174 Viele andere Variablen könnten eingesetzt werden. Aber die aufgeführten können di-
rekt genutzt werden, um grundlegende Muster in ökonomischen Systemen zu be-
schreiben. Vertikal können sie gelesen werden als Beschreibungen ,moderner' (im
üblichen Sinne von ,westlicher') versus weniger ,traditioneller' als viel mehr ,primi-
tiver' sozialer Formationen wie etwa nomadisierender Stämme. Es gibt gewisse
Ähnlichkeiten mit TaIcott Parsons Pattern-Variablen (The Social System, Glencoe,
IL 1951), von denen es auch fünf gibt. Aber darunter fallen weder VertikalitätlHo-
rizontalität noch Expansion/Stabilität.
175 Nicht zu verwechseln mit "Nationalisierung" oder "Kollektivierung der Produktions-
mittel" als eine Art und Weise der Organisation der Wirtschaft oder von Teilen der
Wirtschaft. "Kollektivismus", so wie er hier verstanden wird, ist eine viel tiefer lie-
gende Eigenschaft, die in die Kultur eingebettet ist. So bestand ein Problem der frü-
heren sozialistischen Länder in der Kollektivierung von Teilen der Wirtschaft inner-
halb einer individualisierenden Kultur (die Brüder Karamasow kann man in Rußland
immer noch antreffen, und sie sind kaum die ideale Belegschaft für landwirtschaft-
liche oder Industriebetriebe unter staatlicher Leitung). Ein Problem vieler indigener
Völker stellt das entgegengesetzte Muster dar: die Individualisierung von Teilen der
Wirtschaft, während die Kultur fundamental kollektivistisch ist.
Sechs ökonomische Schulen 249

che Gehirn mit Informationen neu versorgen. Das Gegenteil wäre der Zu-
stand der Natur, hier bezeichnet als "Naturbelassenheit". Die französischen
Begriffe le cru und le cuit decken dieselbe Dimension ab, von reiner Natur
zu reiner Kultur.
"Expansion" ist die Neigung, alles zu vermehren. Das Gegenteil ist "Stabi-
lität", da Kontraktion undenkbar ist.
Zum Schluß werden wir noch Natur hinzufügen. Deren Negation ist Nichts.
Wir wollen uns nun hierauf stützen, um etwas über jenes ökonomische Sy-
stem zu sagen, das als Bezugspunkt dienen kann, um sie alle zu diskutieren:
"Smithismus", benannt nach Adam Smith. Wie bei jedem Wirtschafts system
besteht die Aufgabe darin, Inputs in Outputs zu verwandeln und diese dann
zu verteilen. Die Hypothese lautet, daß das kulturelle Profil der Smith'schen
Ökonomie aus Individualismus - Vertikalität - Monetarisierung - Verarbei-
tung - Expansion besteht. Da der Begriff "Kapitalismus" nur den Aspekt der
Monetarisierung einfängt, ist dem des "Smithismus" der Vorzug zu geben. 176
Smiths intellektuelle Agenda war eindeutig inspiriert durch den Versuch ei-
nes wissenschaftlichen Positivismus in der Tradition Galileis und Newtons,
Machiavellis, Vicos und Hobbes', wobei er Schichten von Sentimentalität
und Moralismus abtrug bis hin auf das "Natürliche"177:
- eine Untersuchung der menschlichen Natur, die er letztlich verstand als
wesentlich durch Eigennutz gesteuert, jedoch gemäßigt durch moralisches
Empfinden; J78
- eine Untersuchung des natürlichen Wirtschaftssystems, in dem jeder dem
Eigennutz entsprechend handelt.
- Eine Untersuchung über die Natur und Ursachen des Wohlstands der Na-
tionen,179 beruhend auf der Praxis des natürlichen Wirtschaftssystems.
- Die Unsichtbare Hand: "Indem er (sc. der Mensch) seinen eigenen Nutzen
verfolgt, dient er oft demjenigen der Gesellschaft wirkungsvoller als dann,
wenn er wirklich beabsichtigt, diesem zu dienen" (folgt aus den drei vor-
genannten Untersuchungen).
Aus diesen Gegebenheiten folgen die kulturellen/strukturellen Bestandteile
von Smiths intellektueller Konstruktion. Also:
AI Individualismus, denn nur Individuen können ihrem Eigennutz entspre-
chend handeln. Betrieb und Staat werden als Makro-Individuen betrach-

176 In Analogie zum Marxismus; hierdurch wird der Verfasser insgesamt geehrt und
nicht auf einen Aspekt (s)eines reichen Gedankengebäudes reduziert.
177 Siehe Albert O. Hirschman: The Passions and the lnterests, Princeton, NJ 1977, be-
sonders Teil I.
178 Der Titel von Adam Smiths berühmtem Werk lautete The Theory 0/ Moral Senti-
ments, Erstausgabe London 1759.
179 Der Titel des berühmtesten Buches von Adam Smith, Erstausgabe London 1776.
250 Entwicklungstheorie

tet, was für eine einzelne Person an der Spitze von beiden spricht. Der
Staat besteht aus einer Menge von Individuen und die Welt aus einer
Menge von Staaten. Die Perspektive ist akteurs-, nicht strukturorien-
tiert. ".
A2 Privateigentum setzt eine Teilung der Welt in zwei Mengen voraus: freie
Akteure und Privateigentum, mit einer eins-zu-eins-Eigentumsbeziehung
zwischen freien Akteuren und privaten Besitztümern.
A3 Freiheit im engen wirtschaftlichen Sinne wird zu dem Recht, Privatei-
gentum zu besitzen und Privateigentum zu verwenden, um noch mehr
Privateigentum zu erwerben. Hieraus ergibt sich die grundlegende Rolle
des Staats: Polizei für den Schutz des Eigentums der Individuen und Be-
triebe; Militär für den Schutz (und die Erweiterung) des Eigentums der
Gesellschaft; Gerichtsbarkeit für Auseinandersetzungen zwischen den
Akteuren.
A4 Markt, damit freie Akteure die Nachfrage von Käufern und das Angebot
von Verkäufern artikulieren können; damit sich willige Käufer und Ver-
käufer, unter Einschluß der Produzenten und Verbraucher, treffen und
Geschäfte abschließen können.
Bi Arbeitsteilung zwischen Individuen und zwischen Gesellschaften, mit
unterschiedlichen Aufgaben für verschiedene Individuen und Gesell-
schaften.
B2 Abgestufte Entgelte zur Belohnung von Kompetenz und Risikobereit-
schaft.
B3 Wettbewerb zur Verbesserung der Geschäfte für Käufer und Verkäufer,
handle es sich dabei um Individuen (Haushalte), Firmen oder Länder.
C Monetarisierung all dessen, was eine Rolle in einer Produktionsfunktion
spielt, der Faktoren sowohl wie der Produkte: der Preise für Produkte,
der Pacht für Land (Natur); des Lohns für Arbeit; der Zinsen für flüs-
siges Kapital; der Verzinsung für festgelegtes Kapital; des Verkaufswerts
der Patente und allgemein des Eigentums.
D Verarbeitung (Herstellung), die Prägung der rohen Natur und des
menschlichen ,Rohmaterials' durch Kultur und Information.
E Expansion (Wachstum) in mehrerlei Hinsicht:
- in qualitativer Hinsicht, zumindest als Erweiterung der Vielfalt, der
Produktauswahl;
- in quantitativer Hinsicht, durch die Erweiterung der Produktmengen;
- im Hinblick auf den Wirtschaftsbereich, derart, daß ökonomische
Zyklen umfangreichere Territorien umspannen;
im Hinblick auf die Zielsetzung, durch gesteigerte Differenzierung der
Inputs und Outputs.

180 Siehe Johan Galtung: "Two Perspectives on Society", in: The True Worlds, New
York 1980, S. 41-61.
Sechs ökonomische Schulen 251

Diese Komponenten werden im folgenden als "Syndrome" A, B, C, D und E


aufgeführt.
Das A-Syndrom des Individualismus unterstellt, daß das Individuum der
eigentlich Handelnde sei, ausgestattet nicht nur mit Eigeninteressen, sondern
auch mit der Fähigkeit, entsprechend zu handeln. Zwei andere Akteure, der
Betrieb und das Land (Gesellschaft, Staat), werden aus anthropomorpher Per-
spektive betrachtet. Dieses Bild gibt strukturelle Beziehungen nur schwach
wieder, abgesehen von den Marktbeziehungen qua Geschäfte zwischen Käu-
fern und Verkäufern. Eine Bedingung für Marktverhalten bildet Eigentum,
und in der idealen Welt besitzen diesem Bild zufolge alle Individuen irgen-
detwas und jedes Etwas wird besessen. Es gibt kein kollektives Besitztum,
res communis = res nullius (was jedem gehört, gehört keinem, wie es im
Römischen Recht heißt). Das Recht, Eigentum zu besitzen und es zu nutzen,
um noch mehr Eigentum zu schaffen, ist grundlegend und wird hier als Frei-
heit bezeichnet.
Im B-Syndrom der Vertikalität besteht der Ausgangspunkt in der Arbeits-
teilung, die die Position (den "Job") zum Rang erhebt, in der Nachfolge des
Rangs qua Status ("Geburt"). Unterschiedliche Belohnung ist ein Hauptme-
chanismus des ,Ranking' bzw. der Vertikalität; sie findet ihre Rechtfertigung
in unterschiedlicher Risikobereitschaft. Wettbewerbsmäßiges Verhalten auf
dem Markt eröffnet dann Bewegungsmöglichkeiten, nach oben wie nach un-
ten.
In den Syndromen C, D, und E treten Geld, Verarbeitung und Expansion
hinzu, die in enger Verbindung miteinander stehen. Das Ergebnis besteht
dann in monetarisierten ökonomischen Zyklen mit hohen Verarbeitungsgra-
den von Inputs (ein Hersteller von Chips, eine Universität), Zyklen, die sich
wiederholen und ausgeweitet werden sollen: Im Idealfall entsprechen sich
Angebot und Nachfrage, bezahlte Preise und zu zahlende Löhne. Das Ziel
besteht darin, den Zyklus zumindest sich selbst erhaltend zu gestalten.

Abbildung 3.2:

~ZahlUngvon Löhnen
(
Produktion
Angebot
~. Konsumption

~ Nachfrage

" ' - - - Zahlung von Preisen


252 Entwicklungstheorie

2.2. Die Blaue Schule: Markt und Kapital

Tabelle 3.3: Die Blaue Schule: Markt und Kapital


Produktions- Produktions- Produkte Verteilung
faktoren verhältnisse
Individualismns Privateigentum an Privateigentum Produkte für indi- - Marktmecha-
Natur (oder private viduellen oder auf nismen
- Arbeit Kontrolle) den Haushalt be- - der Nachfrage
- Kapital zogenen Ver- entsprechendes
- Technologie brauch Angebot
- Management - Käufer trifft
Verlcäufer: Ge-
schäft, Handel
Vertikalität - Entscheidung - Entscheidung - Entscheidung - Vetbraucher-
des Eigentü- des Eigentü- des Eigentü- manipulation
mers über den mers über mers über Pro- in der Ver-
Vetbrauch der Menschen und dukte und ihre marktung
Faktoren und Arbeitsbedin- Qualität - Einweg-Kom-
den Mehrwert gungen - Rangordnung munikation
- Mobilität der - Monopol der der Produkte - Monopol der
Faktoren Herausforde- und Preis Herausforde-
- Ausbeutung der rung - Maximierung rung
Peripherie - Ausnutzung vonQIP - Ausnutzung
durch das Zen- der Handels- der Handels-
trum bedingungen bedingungen
- Ausbeutung der - Wettbewerb - Wettbewetb
zukünftigen - Arbeitsteilung nach Qualität
Generationen
Monetarisierung Monetarisierung Produktivität = Monetarisierung- rationales Fällen
aller Faktoren Output : Input aller Produkte von Entscheidun-
gen
Verarbeitung Maximierung von Berabeitung der immer komplizier- immer komplizier-
KIN Probleme auf im- tere Produkte tere Produkte
mer höherer Ebene
Expansion - Einbeziehung - Expanierende - Steigerung der - Weltmarktpro-
auch fernliegen- Organisationen Mengen dukte und-
der Faktoren - Steigerung der - Steigerung der faktoren
- Ausbalancier- Differenzie- Vielfalt - Marktanteil
ung der Fakto- rung - kein Haltesi- - kein Haltesi-
ren - kein Haltesi- gnal gnal
- kein Haltesignal gnal
Natur allgemeine Erschöp- Entleerung und industrielle Ver- Verschmutzung
fung Abwertung der schmutzung durch Haushalte
menschlichen
Beziehungen
Sechs ökonomische Schulen 253

Der Smithismus ist die Grundlage für die Mutter aller Schulen, die Blaue
Schule.'" Natürlich gab es Vorgänger (Merkantilisten, Physiokraten, die mit-
telalterliche Ökonomie, das Römische Reich, prähistorische und nicht-abend-
ländische Ökonomien). Doch für die letzten 200 Jahre dient diese immer
noch herrschende Schule als Anker für Theorie und Praxis.
Im obigen Schema ruht die Logik des Blauen (Smith'schen, kapitalisti-
schen) Systems auf 24 Füßen (die zumeist mehrere Zehen haben). Horizon-
tale Lesarten dienen eher dem Gesamtverständnis des Systems, vertikale Les-
arten eher einem eingegrenzteren ökonomischen Verständnis.
"Individualismus" bringt sich wegen der zugrundeliegenden Unterstellung
der dominio des Römischen Rechts über die Institution des Eigentums zum
Ausdruck. Sowohl die Produktionsfaktoren als auch die Produktionsverhält-
nisse"2 können besessen bzw. kontrolliert werden. Dieser Eigentumstitel be-
zieht sich auf alle Faktoren. Sklaverei - der Besitz menschlicher Arbeitskraft
und die Vermarktung von Sklaven (auf einem Faktorenmarkt) - steht voll-
kommen im Einklang mit der Logik der Blauen Schule. Die Sklavenbefrei-
ung ist eine Anomalie und stieß dementsprechend auf starke Widerstände.
Kampagnen gegen die Sklaverei können jedoch in Begriffen der Blauen Lo-
gik erklärt werden, wenn wir unten in der Spalte "Produktionsfaktoren" nach
einer anderen Schlüsselvariable suchen: der Faktor Mobilität, einschließlich
der der Arbeitskraft. Werden Arbeitskräfte statt Sklaven vermarktet, besteht
der zusätzliche Vorteil, daß Arbeiter oft für die Kosten eines Umzugs von ei-

181 Die Farben für die ökonomischen Schulen sind der europäischen Politik entnommen:
"blau" steht für konservativ, "rot" für kommunistisch, "grün" für grün. "Rosa" oder
"pink" sagt man oft für Sozialdemokraten, wenn weniger Blut und Revolution damit
verbunden werden soll. Wenn hier vom japanischen System als "gelb" gesprochen
wird, dann ist damit nichts rassistisches gemeint, sondern soll eher die "gelbe Ge-
fahr" im Sinne von "die gelbe Herausforderung" assoziiert werden. "Golden" wäre
vielleicht eine angemessenere Beschreibung der Realität, würde aber das Farben-
Schema durchbrechen. Da die Blaue und die Rote Schule die Gelbe konstituieren,
könnte man diese auch als "purpurn" bezeichnen - dunkler und weniger verwässert
als rosa bzw. pink.
182 Diese Begriffe kommen den marxistischen Begriffen der Produktionsmittel und -ver-
hältnisse sehr nahe. Die fundamentale marxistische These über einen möglichen Wi-
derspruch zwischen sich entwickelnden Produktionsmitteln und den starreren Pro-
duktionsverhältnissen kann auf die ersten beiden Spalten der Tabelle 3.3 Anwendung
finden, doch steht dies hier für uns nicht im Mittelpunkt. Auch neigt die marxistische
Theorie dazu, dies Paar zu betonen, und zwar derart, daß die Mittel die unabhängi-
gen und die Produktions-Verhältnisse die abhängigen Variablen darstellen, was die
Fruchtbarkeit dieses Paradigmas des Bruchs (wenn eine Variable starr und die andere
dynamisch ist) beträchtlich beeinträchtigt. Im marxistischen Denken wird die Tech-
nik zu der Maschine, die die soziale Organisation hinter sich herschleift. Was aber,
wenn es starke, für neue Gesellschaftsverhältnisse eintretende soziale Kräfte gäbe, in
deren Schlepptau sich auch neue Technologien entwickelten, die sehr wohl mit der
neuen Gesellschaftsorganisation kompatibel wären?
254 Entwicklungstheorie

ner Produktionsstätte zur nächsten selbst aufkommen. Und afrikanische Ar-


beitskraft konnte auch in situ genutzt werden, d.h. auf Plantagen in Afrika
mit weniger mobilen Faktormärkten.
"Individualismus" tritt auch an den für den individuellen Verbrauch ge-
stalteten Produkten in Erscheinung, wie etwa am Verhältnis zwischen pro-
duzierten PKWs und Bussen ersichtlich wird. Und dann gibt es den Markt,
dieses heftig umkämpfte, nicht tödliche, wirtschaftliche Schlachtfeld, auf
dem Individuen und Makro-Individuen (Firmen, Länder) ihre urwüchsige
Kraft ausspielen können. Unter Wettbewerbsbedingungen kämpfen Verkäu-
fer um den besten Verkauf und Käufer um den besten Kauf. Verkäufer tref-
fen auf Käufer, handeln, und wenn sie zu "willigen" Verkäufern und "willi-
gen" Käufern geworden sind, dann schließen sie den Handel ab - in dieser
Logik ähnelnd einem Liebesakt, ein Ereignis, das das Universum mit seiner
Schönheit erleuchtet.
"Vertikalität" besteht vor allem in der Ausübung der Vorrechte der Eigen-
tümer unter Bedingungen privaten Eigentums (oder privater Kontrolle). Sie
können die Faktoren kontrollieren (unter Einschluß des Kapitals, das sie
selbst erzeugen, des Mehrwerts): die Arbeitsbedingungen in der Organisa-
tion, die Qualität und Quantität der Produkte, unter Einschluß ihrer Anpas-
sung an die Bedürfnisse einer geschichteten Gesellschaft, und schließlich de-
ren Vermarktung, indem sie über den Geschmack der Verbraucher entschei-
den oder diesen zumindest beeinflussen, unter Ausnutzung eines sehr interes-
santen Kennzeichens der Blauen Schule: der Einweg-Werbung in den Medi-
en (auch durch Poster und Aufkleber), bei geringer oder nicht vorhandener
Möglichkeit, diese in Frage zu stellen oder ihr zu widersprechen. I' 3
Es ist eine der Konsequenzen dieses Arrangements, daß Eigentümer (in ei-
nem weiten Sinne) und insbesondere die ersten oder die Eigentümer früherer
Generationen, die Entrepreneurs, die Rolle der Problemlöser einnehmen, und
zwar in dem Maße, daß sie de facto das Monopol auf Herausforderungen er-
halten. Im System treten Probleme auf; die Lösung umgibt ein Schleier der
Ungewißheit. Eine Entscheidung beseitigt diese Ungewißheit und verringert
die Entropie. Doch dieser Akt erfordert einen Input an Energie, die vom Pro-
blemlöser genommen wird. Dafür bekommt er jedoch ein inneres Abfall-
produkt als Gegengabe, nämlich Training im Problemlösen, "Erfahrung".
Ein weiterer Aspekt der Vertikalität ist Ausbeutung oder Ungleichheit, in
der Abbildung unterteilt in vier Typen: ungleicher Tausch zwischen einem

183 Historisch gesehen, muß dieses Muster einen Vorgänger haben, und wenn der Markt
einer der weltlichen Nachfolger Gottes ist (der andere ist der Staat, mit dem Kai-
serlKönig, dem rex gratia dei, dazwischen), dann darf man wohl annehmen, daß die
neuen Priester, die Unternehmer, in ihrem Verhalten den alten Priestern gleichen und
in ähnlichen Strukturen operieren. Einweg-Kommunikation ist in der Kirche immer
noch die Regel und selbst in Demokratien, die im Prinzip doch Schauplätze des
Dialogs darstellen sollten.
Sechs ökonomische Schulen 255

Zentrum, in dem die Faktoren verarbeitet, und einer Peripherie, in der sie be-
schafft werden; ungleicher Tausch zwischen denen, die die Probleme (Her-
ausforderungen) definieren und lösen, und denen, die nach standardisierten
Verfahren ("standard operation procedures") arbeiten;'" ungleicher Tausch
im Handel, der mit dem ersten Typus zusammenfallen kann; und ungleicher
Tausch zwischen Generationen, in denen die späteren um Faktoren gebracht
werden. Zentrum und Peripherie treten hervor als zwei Aspekte des Blauen
Systems."5
"Monetarisierung" besteht in mehr als in der Preisauszeichnung von Fak-
toren und Produkten. Die Implikation, daß alles, was einen Preis hat, zum
Verkauf auf dem Markt steht,"6 macht alles miteinander vergleichbar, und
das heißt, daß alles für alles eingehandelt und auch "weggehandelt" werden
kann. Wird Rationalität als dem Eigeninteresse entsprechendes Handeln defi-
niert, durch das Nettogewinne durch ein Spektrum von Marktaktivitäten und
über eine gewisse Zeit hinweg maximiert werden, dann ist es die Monetari-
sierung, die dies ermöglicht. Gleichzeitig ist der Preis eine quantitative Va-
riable und erleichtert den Aufbau mathematischer Gebäude, die die Logik der
Schule widerspiegeln. 187

184 Die Vorstellung, daß die unterschiedliche Entlohnung in einer Organisation, in der
Praxis also in einem Unternehmen, mit Bauernhöfen und Einzelhandelsgeschäften
als Sonderfallen, auf unterschiedliche Risikobereitschaft zurückgeführt werden
könnte, grenzt ans Absurde. Wer geht denn heutzutage das größere Risiko ein, der
Arbeiter, der als unter dem Strich überflüssig und für entbehrlich erklärt werden
kann, oder ein Unternehmer, der zwar bankrott gehen kann, aber gegen die Ansprü-
che der Kapitalgeber durch "begrenzte Verantwortung", "begrenzte Haftung" (dt. i.
Orig.) geschützt ist? Die hier vorgebrachte These lautet, daß die unterschiedliche
Entlohnung eher auf die Unterschiede bei der Problemlösung zurückzuführen ist;
und dies heißt, daß diejenigen an der Spitze nicht nur ihren Nutzen aus dem Pro-
blemlösen ziehen, sondern auch noch besser bezahlt werden.
185 Es könnte das Argument vorgebracht werden, daß diese bei den sich so sehr vonein-
ander unterscheiden, daß wir es tatsächlich mit zwei Blauen Systemen und nicht nur
mit einem zu tun haben. Unsere These lautet jedoch, daß das Blaue System unwei-
gerlich ein Zentrum und eine Peripherie hervorbringt. Wie die zwei Seiten einer
Münze nicht zwei Münzen ausmachen, so machen die beiden Aspekte des Blauen
Systems nicht zwei Systeme aus. Von der Einführung des "Systems freier Marktwirt-
schaft" in ex-sozialistischen oder Ländern der Dritten Welt zu reden, wenn in Wirk-
lichkeit nur der Peripherie-Aspekt des Blauen Systems eingeführt wird, ist im we-
sentlichen reine Propaganda.
186 So hat etwa Arbeit einen Preis als Sklavenarbeit, Leibeigenenarbeit oder Lohnarbeit.
Und Kapital hat einen Preis, wenn es zeitlich (Zinsen) oder räumlich (Gebühren, be-
sonders über Währungsgrenzen hinweg) in Bewegung gesetzt wird.
187 Dies sollte nicht mit der Widerspiegelung ökonomischer Realität verwechselt wer-
den. Wenn wir annehmen, daß die Realität von Widersprüchen voll ist, dann stellt
sich die Frage, ob eine widersprüchliche Realität (die Wirtschaft) adäquat durch eine
nicht-widersprüchliche Sprache (Mathematik) abgebildet werden kann. Siehe hierzu
Johan Galtung: "Contradictory Reality and Mathematics: a Contradiction", Kap. 4.4.
256 Entwicklungstheorie

"Verarbeitung", das Aufprägen von Kultur (K) auf Natur (N), die Steige-
rung des KIN-Quotienten, hat ebenfalls durchgreifende Konsequenzen. Die
Organisation, das Unternehmen, muß höhere Formen der Verarbeitung wi-
derspiegeln, indem sie eine wachsende Anzahl von ihrerseits zunehmend
,verarbeiteten' Menschen aufnimmt, nämlich Forschungs- und Entwicklungs-
spezialisten. Die Produkte müssen in zunehmendem Ausmaß "elaboriert"
sein. Der Markt selbst muß diese Tendenz widerspiegeln, und zwar durch im-
mer komplexere Transaktionen, von immer komplexeren Produkten, was zu
einer Kostensteigerung für die Transaktionen führt'" und damit auch zum
Auspressen der unbedeutenderen und mehr an der Peripherie angesiedelten
Akteure (Individuen, Unternehmen, Länder)."·
"Expansion" zeigt sich in allen vier Feldern: zunehmende Vielfalt und zu-
nehmender Umfang von Produkten und Transaktionen, ökonomische Zyklen,
die immer größere (und bald auch außerterrestrische) Gebiete umfassen, mit
sich immer mehr ausweitenden und zunehmend differenzierteren ökono-
mischen Organisationen. Ein Mechanismus ist der der Faktormobilität, ver-
bunden mit einem aufwärts gerichteten Austarieren der Faktoren mit dem
Ziel einer ausbalancierten Mischung von Inputs: keine Überschüsse, kein
Mangel. '90 Expansion - ohne eingebautes Haltesignal.

in : Methodology and Development, Kopenhagen 1988, S. 162 - 175. Was sich auf
weniger philosophischem Niveau abspielte, war, daß die Ökonomen ihre Variablen
derart definierten und ihre Fragen derart formulierten, daß sich mathematisches Kal-
kül und lineare Algebra direkt anwenden ließen. Die auf diesen Seiten diskutierten
sechs oder sieben Räume sind zu ,fusselig' und unscharf (fuzzy), als daß sie mit der-
art anspruchsvollen mathematischen Werkzeugen behandelt werden könnten.
188 Siehe R. H. Coase: "The Problem of Social Cost", in: Journal of Law and Eco-
nomics, 1960, Nr.3, S. 1 - 44.
189 Hier liegt ein implizites Vier-Variablen-Modell vor, mit zunehmender Bearbeitung
der Faktoren, Organisationen, Produkte und Märkte, wobei unterstellt wird, daß kei-
ne Variable die treibende, die unabhängige Variable ist. So werden anspruchsvollere
Ingenieure das Recht verlangen, anspruchsvollere Produkte zu erforschen, zu ent-
werfen und zu entwickeln. Der Markt ermöglicht anspruchsvolleres Marketing und
verlangt dafür bessere Verkäufer etc. Kausalpfeile weisen in alle sechs möglichen
Richtungen - ein Netz von Variablen, das sich entweder aufwärts in Richtung grö-
ßerer Differenziertheit oder abwärts in Richtung Vereinfachung schraubt. Ein Bei-
spiel: Warum wurde mit einem Mal die Produktion des VW-Käfers eingestellt? Weil
die Ingenieure nach neuen, herausfordernden Aufgaben verlangten (Privatmitteilung
eines Betroffenen).
190 Einer gegebenen Quantität eines Faktors bzw. einiger Faktoren entspricht eine ge-
wisse Quantität anderer Faktoren, derer es bedarf, um ein Produktionsgleichgewicht
zu erhalten. Theoretisch wäre ein Ausbalancieren nach unten denkbar, unter Preis-
gabe eines überschüssigen Faktors. Ist dieser Faktor Arbeit, dann spricht man von
"überflüssigen Arbeitskräften", und das Ergebnis ist Arbeitslosigkeit. Natur, Kapital,
Technologie und Management werden nicht zerstört; interessanter- und kaum zufäl-
ligerweise ist Arbeit derjenige Faktor, der Verwendung findet, um einen Kontoaus-
gleich nach unten zu bewerkstelligen, wenn Ungleichgewicht besteht. Aber die gene-
Sechs ökonomische Schulen 257

Und schließlich "Natur", unter Einschluß der Menschen, wenn diese lang-
weiliger, entwürdigender, schmutziger oder gefährlicher Arbeit ausgesetzt
werden: die große Verliererin, ausgelaugt und verschmutzt in einem wirt-
schaftlichen Prozess, der zum Zweck an sich geworden ist.
Über die Blaue Schule und das Blaue System sind ganze Bibliotheken ver-
faßt worden. Die Fähigkeit zur umfassenden Vermarktung von Produkten in
unglaublichem Umfang und von ebenso unglaublicher Vielfalt liegt auf der
Hand und stellt eine bedeutende Leistung dar. Es gibt jedoch ebenso wohlbe-
kannte Probleme, worauf die einfache Logik der Tabelle 3.3 verweist.
Das System funktioniert, solange es funktioniert, was heißen soll, solange
die Produkte, die dem Markt angeboten werden, genügend Nachfrage erzeu-
gen, um für die Faktoren zu bezahlen und für das Wachstum oder zumindest
für den Bestand des Zyklus sorgen. Sei es aufgrund zu hoher Gestehungsko-
sten oder wegen zu hoher Preise der Produkte - es gibt für das Defizit, das
ein Individuum, ein Unternehmen oder ein Land anhäufen kann, eine Grenze,
es sei denn, ihnen stehen hinreichende Hilfsmittel von außen zur Verfügung,
um eine Krise zu meistern. Im Blauen System beruht dieser Typus des Bei-
stands auf der Kreditwürdigkeit in der Finanzwirtschaft; im Roten System
kann die Realwirtschaft auf den gesamten Staat zurückgreifen, und im Gel-
ben System, in Japan, können Individuen oder Betriebe ihre Ressourcen aus
miteinander verwobenen Netzen von Staat und Kapital beziehen. Ähnlich le-
bensverlängernde Institutionen hat die Welt für Länder, die Defizite an-
häufen.
Überproduktion ist ein besonderer und einschneidender Fall, der alle oder
viele Unternehmen betrifft, die in einem bestimmten Wirtschaftszeig produ-
zieren oder, noch schlimmer, alle oder viele Firmen eines Landes, ungeachtet
der Branche. Es gibt die Fähigkeit zur Überschußproduktion bzw. Unterkon-
sumtion, bezogen auf die effektive Nachfrage unter Einschluß der Lagerhal-
tung. Überschußprodukte werden dann durch Zerstörung unmittelbar zur Na-
tur zurückgeführt an statt über den Endverbrauch eines Konsumenten. Die
Überschußproduktionskapazität muß beseitigt werden. Nicht nur das Unter-
nehmen, sondern die Branche ist im Wettbewerb unterlegen; nicht nur die
Branche, sondern das ganze Land. Was folgt, ist die massive Schrumpfung,
wenn nicht der Verfall des wirtschaftlichen Systems.

relle Tendenz zielt auf Gleichgewichte auf immer höheren Niveaus, gilt doch Expan-
sion als Zeichen des Erfolgs.
258 Entwicklungstheorie

2.3 Die Rote Schule: Staat und Macht


Tabelle 3.4: Die Rote Schule: Staat und Macht
Produktions- Produktions- Produkte Verteilung
faktoren verhältnisse
Individualismus öffentliches! - öffentliches! Produkte für den - Plan-
staatliches staatliches kollektiven Ver- wirtschaft
Eigentum der Eigentum brauch - Angebot für
Faktoren - Vollbe- die Bedürf-
schäftigung nisse, dann
erst für die
Nachfrage
Vertikalität - staatliche - staatliche - staatliche - geplante Pro-
Entscheidung Entscheidung Entscheidung dukte, um
über die über Men- über Art und den unter-
Verwendung schen und Menge der stellten Be-
der Faktoren Arbeitsbedin- Produkte dürfnissen
und den gungen - Uniformität nach-
Mehrwert - Monopol auf der Produkte zukommen
- Mobilität der Herausforde- im Hinblick - Einwegkom-
Faktoren rung auf Qualität munikation
- Ausbeutung - Ausnutzung und Preis - keine Ver-
der Periphe- der Tausch- - Planerfüllung marktung
rie durch das bedingungen - Bemühung - kein Wettbe-
Zentrum - Kampf um um die Stei- werb
- Ausbeutung die Macht gerung von - festgelegtes
der zukünfti- - Arbeits- Q/P Gehalt für
gen Genera- teilung alle
tionen
Monetarisie- keine Monetari- Produktivität der Preisauszeichnun Rationalität des
rung sierung der Arbeit unwesent- g der Produkte Plans
Faktoren; diese lieh entsprechend den
stehen nicht zum Bedürfnissen
Verkauf
Verarbeitung Bemühen um Bemühen um Bemühen um Bemühen um
Steigerung von Probleme auf Probleme auf Pläne auf höhe-
KIN höherem Niveau höherem Niveau rem Niveau
Expansion - Fortsetzung - Expansion der - Steigerung der - Konzentration
der Produk- Organisatio- Mengen auf den natio-
tion nen nalen Markt
- kein Halte- - kein Halte - kein Halte- - kein Halte-
signal signal signal signal
Natur allgemeine Entleerung und industrielle Ver- Verschrnutzung
Erschöpfung Abwertung der schmutzung durch Haushalte
menschlichen
Beziehungen
Sechs ökonomische Schulen 259

Die Krise des Blauen Systems ist der Ausgangspunkt für die Rote Schule. '"
Während das Blaue System auf dem Smithismus beruht, ist das Rote System
nicht im Marxismus begründet, der im wesentlichen eine brillante Analyse
und Kritik der Blauen Schule darstellt. Die Anziehungskraft des Smithismus
liegt in seinem konstruktiven Genie, das dem Marxismus abgeht. Die Rote
Schule entwickelte sich durch Improvisation; durch den Versuch, Blaue Un-
terstellungen in wesentlichen Punkten herauszufordern.
Das Rote System kann als schwache Negation des Blauen definiert wer-
den. Beide beruhen auf Alpha-Strukturen,'92 gewaltigen aufgipfelnden Hier-
archien, beherrscht von großen, oft transnationalen Korporationen, was Blau
angeht, und, was Rot betrifft, von gewaltigen, manchmal internationalen Bü-
rokratien. In beiden Systemen treffen einige wenige Menschen Entscheidun-
gen, die sehr viele berühren. Doch in Blau gibt es eine Rückkopplung: Die
Menschen haben Wahlmöglichkeiten auf dem Markt, und die Wahlen ent-
hüllen Präferenzen. Um in Blau überleben zu können, müssen die Präferen-
zen der Bevölkerung entweder manipuliert oder befolgt, jedenfalls aber in
Betracht gezogen werden. Im bestbekannten Roten System, dem geschei-
terten sozialistischen System der Ex-Sowjetunion und in Osteuropa, war die
staatliche Macht so absolut, daß für die Führung keine Notwendigkeit be-
stand, die Präferenzen der Bevölkerung in die Rechnung miteinzubeziehen.
Hier war es möglich, Angebote auf der Grundlage von "friß oder stirb" zu
machen. Andererseits sollte unsere Auffassung von Rot nicht an die Ge-

191 In letzter Zeit erwies sich die Rote Schule als viel krisenanfälliger, und es gab eine
Hinwendung zur Blauen Schule. Aber die Blaue Schule bildete sich nicht aus auf-
grund der Krise der Roten, sie war ja vor dieser da. In seinem Buch The Wasted Ge-
neration: Memoirs ofthe Romanian Journey from Capitalism to Socialism and Back
(Boulder, CO 1993) bringt es der rumänische Politologe Silviu Brucan auf den Be-
griff: "vom unterentwickelten Kapitalismus zum unterentwickelten Sozialismus und
wieder zurück". Der Begriff "Sozialismus" trifft das Wesen dieser Schule ebenso
schlecht wie "Kapitalismus" das der Blauen Schule. Der Begriff verweist auf Versu-
che, den Individualismus als Ethos in Kollektivismus zu verwandeln. Doch diese
Schulen sind hochkomplex und ziemlich kohärent, so daß wir für sie einfache Kenn-
zeichnungen in (politischen) Farb-Ausdrücken vorziehen.
192 Siehe Johan Galtung: "Sobre alfa y beta y sus muchas combinaciones", in: E. Masi-
ni, J. Galtung (Hgg.): Visiones de sociedades deseables, Mexico 1979, S. 19 - 95. In
beiden Fällen handelt es sich um Interaktionsstrukturen. Alpha ist die Pyramiden-
Struktur, eher vertikal und sehr ausgedehnt; Beta ist die Rad-Struktur, eher ho-
rizontal, kleiner und dicht angelegt, so daß jeder mit jedem interagiert und das oft in
verschiedenen Hinsichten. Im Falle des Roten Systems waren all diese Alpha-Hierar-
chien - die Ministerien und Kombinate - Teile einer Super-Alpha-Hierarchie, des
Gosplan als der staatlichen Planungsbehörde und damit letztlich der Partei. Formal
betrachtet, gibt es nichts Entsprechendes in der kapitalistischen Welt; der Kapitalis-
mus ist eher organisiert wie der Protestantismus (was man, im Sinne Webers, hätte
erwarten können), der Sozialismus im Sinne der Roten Schule eher wie die Ortho-
doxe Kirche, mit nur einem Gipfel (was man auch erwarten durfte).
260 Entwicklungstheorie

schichte Rußlands/der Sowjetunion/Osteuropas von 1917, 1922 oder 1945-48


bis zum Ende von 1989 gebunden bleiben. Die Kategorie umfasst viel
mehr. 193
Da so vieles in Rot Blau ähnelt, wollen wir uns auf die Hauptgegensätze
konzentrieren.
(1) Staatseigentum, zumindest im Sinne der Kontrolle des gesamten Zyklus;
und das heißt Kontrolle der Natur (Ressourcen), der Arbeit (überwacht durch
Beschäftigungs- und Aufenthaltsgenehmigungen), des Kapitals (mit Aus-
nahme des Kapitals für den Haushaltsbedarf) und von Technologie und Ma-
nagement; darüber hinaus noch die der konkreten Produktionsanlagen (abge-
sehen von denjenigen, die vom Kollektiv besessen, jedoch staatlich über-
wacht wurden) und die der Verteilungsmechanismen (Kommunikation, Trans-
port). Diese Konzentration der Eigentumstitel bedeutet nicht, daß alles in der
Hand ein und derselben Behörde war: Die Vermehrung der Ministerien in
Rot stellte stattdessen den Versuch dar, die Branchen einer Blauen Ökonomie
nachzubilden.
(2) Planwirtschaft, die Planung der Produktion, der Verteilung und des Ver-
brauchs, wobei es offiziell keine Alternative für die Verbraucher gab. Wie
der Gott der Religion war auch dieser weltliche Gott allgegenwärtig (die
Partei), allwissend ("wissenschaftlicher Sozialismus"), allmächtig (die Macht
des Staates, l' etat gendarme, in der Ex-Sowjetunion der KGB und die Ar-
mee) und wohlwollend (I 'etat providence gibt diese Vorstellung vollkommen
wieder). Und natürlich die Einweg-Kommunikation der Propaganda.
(3) Die erste Priorität: Produktion für die Grundbedürfnisse. Hier sollte es
einen Sockel der Erfüllung der Grundbedürfnisse geben, verbunden mit Ver-
suchen zur Errichtung eines Daches (über die Anzahl der Häuser z.B.). Das
Rote Produktionsprofil sollte höher ausfallen bei Nahrung, Kleidung und
Hausbau sowie den Mitteln für Gesundheitsvorsorge und Erziehung und
mehr Produkte anbieten für den kollektiven Verbrauch (man denke wieder an
das Verhältnis von Pkw: Bus oder das Verhältnis von Eigenheim: Wohn-
block). Wie der Profit in der Blauen Wirtschaft wird die Planerfüllung leicht
zum Selbstzweck.
(4) Vollbeschäftigung als Selbstzweck. Obwohl hohe Arbeitsproduktivität ein
wünschenswertes Ziel '" der Roten Wirtschaft darstellt, ist sie keine Grund-

193 Sowohl das alte Ägypten wie das alte China hatten staatsgeführte Ökonomien, mit
gigantischen öffentlichen Bauten in deren Zentrum. Desweiteren gibt es Rote Kom-
ponenten in der Rosa sozialdemokratischen Schule. Betrachtet man gewisse ge-
genwärtige Trends in den ehemals sozialistischen Ländern, also nach der Übernahme
der Roten Ökonomie durch die Blaue, dann mag es dort zu einem Gegenschlag
kommen - mit der erneuten Möglichkeit von Staats-Ökonomien, diesmal aber fa-
schistischer Observanz.
Sechs ökonomische Schulen 261

lage für die Kündigung von Arbeitern, da Vollbeschäftigung ein noch höhe-
res ist,'95 in dem Sinne, daß jeder eine Arbeit hat, auch wenn deren Erledi-
gung ganz ohne Belang ist. Viele Arbeiter interpretieren das Rote System als
milde gegenüber den Arbeitern, da wenig Arbeit gefordert werde.
(5) Beschränkte Monetarisierung. Der Staat kontrolliert die Produktion im
Roten System. Produktionsfaktoren sind nicht käuflich. Weder können Ar-
beiter ihre Arbeitskraft einem von ihnen ausgesuchten Arbeitgeber verkau-
fen, noch steht der Boden zum Verkauf. Ein Manager hat ein festes Gehalt.
Produkte zur Befriedigung der Grundbedürfnisse sind billig, obwohl Mangel
für lange Einkaufsschlangen sorgen kann. Monetarisierung auf niedrigem Ni-
veau beschränkt die Finanzwirtschaft und macht sie zu einem verzerrten und
reduzierten monetären Bild der Realökonomie. 196
Alle fünf Positionen stellen Versuche dar, das Blaue System zu negieren.
Doch die schroffe Arbeitsteilung zwischen Befehlshabern und Befehlsemp-
fängern ist hier noch deutlicher und lädt zum Machtkampf ein. Das Blaue Sy-
stem ist imstande, Initiative und Kontrolle zu dezentralisieren. Kleine Unter-
nehmen können an vielen Orten entstehen, vielleicht werden sie ausgepresst,
vielleicht bleiben sie klein, doch es gibt die Möglichkeit, Erfahrungen zu ma-
chen. Originalität und Innovation werden in einem gewissen Ausmaß be-
lohnt. Im Roten System ist die Wirtschaft des ganzen Landes ein einziges
Unternehmen, das natürlich zu groß für die erforderliche Information ist, und
in dem alles viel zu sehr zusammenhängt, um echte Veränderungen zu er-
möglichen. Und die Herrschenden ganz oben sind kaum zu Risiken bereit.'97

194 Aber dies erwartete man nicht von allen. Im Sozialismus entstand eine Arbei-
teraristokratie, die (simulierte oder echte) Stachanow-Bewegung von Superarbeitern,
deren Stellung allerdings, anders als im Falle von Lenins gut bezahlter kapitalisti-
scher Arbeiteraristokratie, auf sehr harter Arbeit eher denn als überlegener Tech-
nologie beruhte.
195 Eine nützliche Frage an Blaue, Rote oder wie auch immer gefacbte Wirtschafts-
manager lautet: "Wie war das letzte Jahr?", um Auskünfte zu erhalten und um auch
etwas über ihre Kriterien zu erfahren. Eine typische und häufige Rote Feststellung:
"Das letzte Jahr war gut; wir waren imstande, die Anzahl der Beschäftigten zu ver-
doppeln". Blaue Manager berichten unweigerlich von Umsätzen, Übernahmen, Bi-
lanzen und Marktanteilen; und wenn von Arbeitern, dann mehr im Sinne von Ar-
beitsproduktivität. Das kann soweit gehen, daß man stolz ist, wenn man die Anzahl
der Arbeitenden verringern konnte ("wir haben es geschafft, die Anzahl unserer Be-
schäftigten zu halbieren").
196 Dies heißt nicht, daß eine aufgeblasene, überdimensionierte Finanzwirtschaft die
Realökonomie besser abbilden würde. Beide sollten einander widerspiegeln und syn-
chron sich weiten oder zusammenziehen.
197 Obwohl ein einzelner Herrschender hierzu bereit sein mag, da er niemandem als sei-
nem Gott verantwortlich ist und vermutlich annimmt, daß Gott auf seiner Seite steht.
Im Falle der kollektiven Führerschaft, die im großen und ganzen für die Roten Wirt-
schaftssysteme, die wir kennen, charakteristisch war, mögen die einzelnen nur ein-
262 Entwicklungstheorie

Den Roten Herrschern fällt das Monopol auf Herausforderung noch mehr
zu als denen im Blauen System. Und die Arbeiter können sich nicht der Ge-
werkschaften bedienen, um ihre Tauschbedingungen zu verbessern (zwi-
schen Arbeitsleistung und Arbeitsbedingungen, unter Einschluß der Löhne),
wenn die Gewerkschaften Teil eben jenes Staates sind, der die Arbeitsbedin-
gungen diktiert. Und jede neue ökonomische Aktivität irgend wo in einem
System dieser Art wird nicht ein neues Zentrum, sondern höchstens ein Sub-
Zentrum, das von oben seine Direktiven erhält.
Ohne Wettbewerb ist es schwierig, eine hinreichende Motivation zur Stei-
gerung von QfP oder KIN zu gewinnen. QfP kann wegen der subventionier-
ten Preise sehr hoch sein. Doch ohne oder nur mit geringen Wahlmöglich-
keiten für den Verbraucher und ohne Wettbewerb unter den Produzenten be-
steht das beste Mittel, auf neue Ideen zu kommen, darin, danach Ausschau zu
halten (oder auszuspionieren), was in anderen Wirtschaftssystemen geschieht
- in der Tat ein Eingeständnis, daß das System unfähig ist, eine eigene Dy-
namik zu entfalten.
Der Satz: "Es funktioniert, solange es funktioniert", hat für das Rote Sy-
stem keine Geltung. Dieses ist von Anfang an zum Untergang bestimmt, aus
Gründen, die im nächsten Kapitel noch näher erläutert werden. Wie in den
unteren Zeilen der Tabelle 3.4 angedeutet, zerstört sich das System selbst, in-
dem es auf einem niedrigen Niveau der Verbraucherbefriedigung expandiert,
ohne Haltesignale, unter allgemeiner Erschöpfung und Verschrnutzung in
Raum und Zeit. 19'

ander verantwortlich sein, doch bedeutet dies gerade, Risiken ausgesetzt zu sein. Ein
falscher Schritt und du bist draußen - gerade weil die Führung kollektiv ist und sich
lieber eines einzelnen entledigt, bevor die Bevölkerung die Führung als ganze in-
frage stellt oder gar (wie letztlich geschehen) das ganze System. Im Blauen System,
das stärker mit individualisierten und dezentralen Führungsstrukturen arbeitet,
könnte der Fehler mit größerer Berechtigung dem falschen Vorstand oder unglück-
lichen Umständen angelastet werden.
198 So sank einigen (mir in Moskau mitgeteilten) Schätzungen zufolge die Lebens-
erwartung im Gebiet von Moskau während der 70er und 80er Jahre um zehn Jahre
infolge der Verschlechterung der Umweltbedingungen.
Sechs ökonomische Schulen 263

2.4 Die Grüne Schule: Zivile Gesellschaft und Dialog

Tabelle 3.5: Die Grüne Schule: Zivilgesellschaft und Dialog


Produktions- Produktions- Produkte Verteilung
faktoren verhältnisse
Kollektivismus kollektives Ei- privates oder ko- individuelle und lokaler Markt
genturn an den operatives Ei- kollektive Pro- lokaler Plan
Faktoren genturn dukte Austausch
Horizontalität - kollektive - kollektive - kollektive - erste Priorität
Entscheidung Entscheidung Entscheidung bei den Be-
über Faktoren über Men- über Umfang dürfnissen
und Mehr- sehen und und Art der - zweite bei
wert Arbeitsbedin- Produkte der Nachfra-
- begrenzte gungen - Unterschied- ge
Faktorenmo- - Teilen der Iichkeit der - dritte beim
bilität Herausforde- Produkte im Austausch
- überall ist ein rung Hinblick auf - Dialog über
Zentrum - Gleichheit als Qualität und alle Aspekte
- synchrone wichtigste Preis - Selbsthilfe
und diachro- Norm - Maximierung
ne Solidarität - Jobrotation vonQIP
- Jobrekon-
struktion

Spezifizierung keine Monetari- keine vorrangige Garantie der auf die Bedürf-
sierung der Beachtung der Grundbe- nisse von
Faktoren; diese Produktivität dürfnisse; der Mensch und
sind nicht zum Markt für den Natur gerichtete
Verkauf be- Rest Rationalität
stimmt

Verarbeitung Steigerung von angemessene geistige Ent- geistige Ent-


KIN, wenn nütz- Technologie wicklung wicklung
lieh

Stabilität - Produktion - Organisation - Produktion - Betonung des


für die Be- nach mensch- für den Ersatz lokalen Plans
dürfnisse, IichemMaß - Haltesignal und Marktes
nicht um der - Haltesignal - Haltesignal
Habgier wil-
len
- Haltesignal

Natur im wesentlichen menschliche nur wiederver-


emeuerbare Entwicklung wertbarer Abfall
Faktoren
264 Entwicklungstheorie

Stellt die Rote Schule eine schwache Negation der Blauen dar, dann ist die
Grüne eine starke Negation. Da sie auf örtlichen wirtschaftlichen Zyklen und
der zivilen GesellschaftI" beruht, gibt es weder nationale Märkte noch natio-
nale Pläne und auch keine transnationalen oder internationalen Versionen der
beiden. Die grundlegende Idee besteht darin, lokal auf sich selbst zu bauen
oder gar sich selbst zu genügen: lokaler Verbrauch dessen, was produziert
wird, lokale Produktion dessen, was konsumiert wird.
Das Grüne System beruht eindeutig auf Beta-Strukturen: kleine, eher hori-
zontale Strukturen, die die Menschen zusammenhalten und sie nicht segmen-
tieren zwecks Erledigung beschränkter Aufgaben oder zerlegen in unter-
schiedliche Rollen. Stattdessen gibt es die Integration, die Rotation und die
Rekonstruktion von Beschäftigungsverhältnissen. 200
Konkret bedeutet dies kleine ökonomische Organisationen, sagen wir:
nicht mehr als dreißig Personen umfassend, so daß jeder für jeden wichtig ist
und keine Hierarchien entstehen. Dies eröffnet auch die Möglichkeit sich er-
weiternder Haushalte, von der heutigen Vier-Personen-Kernfamilie zu der
umfassenderen Familie oder "Kommune", mit der viele Menschen im We-
sten in jüngerer Zeit Erfahrungen gesammelt haben. In letzterer könnten a-,
hetero-, homo- und bisexuelle Beziehungen sehr wohl nebeneinander beste-
hen.
Kommune-ismus sollte nicht mit Kommunismus verwechselt werden. Das
grundlegende Ziel der Grünen Wirtschaft besteht nicht in materiellem wirt-
schaftlichen Wachstum, ob nun durch Blaue oder Rote Methoden erzielt,
sondern: in der Entwicklung der Natur (darin, die Natur zur Geltung zu brin-
gen, nicht nur für ihr Überleben zu sorgen); in der Entwicklung der Men-
schen, und dies bedeutet nicht nur körperliche Gesundheit, sondern auch
geistige und seelische Entwicklung; in der Entwicklung der Gesellschaft, die
auf Gesellschaften abzielt, die mit der Entwicklung von Natur und Mensch
vereinbar sind; und in der Entwicklung der Welt, was eine Weltordnung

199 Die moderne Gesellschaft wird hier als eine Gesellschaft betrachtet, die aus drei Be-
standteilen besteht: dem Kapital, dem Staat und dann den Menschen mit all ihren
Vereinigungen und Organisationen, die die zivile Gesellschaft bilden. In den Sozial-
wissenschaften werden diese Bestandteile jeweils als Fragmente durch die Wirt-
schaftswissenschaften, die Politische Wissenschaft und die Soziologie!Anthro-
pologie untersucht, so daß eine holistische Betrachtung der Gesellschaft verstellt ist.
200 Ein Mensch kann in mehreren Berufen tätig sein und diese mehr oder weniger er-
folgreich integrieren, indem er sie verschmilzt, sogar mit seiner!ihrer eigenen Per-
sönlichkeit. Es gibt auch die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Jobs zu rotieren
und im Laufe der Zeit die Unterschiede zwischen Herausforderung und Routine, ho-
hem und niedrigem Status, hohem und niedrigem Lohn usw. auszugleichen. Und
Jobs können neu konstruiert werden, etwa als Kombination von Verkäufer- und
Buchhaltungsfunktionen oder (Universitätsprofessoren wohlbekannt) von Lehre,
Forschung und Verwaltung (ein Professor der Medizin oder des Ingenieurwesens
würde zu dieser Liste die Praxis hinzufügen).
Sechs ökonomische Schulen 265

meint, die unterschiedliche Gesellschaften symbiotisch miteinander interagie-


ren und einander stützen läßeOl Dies ist ein gewaltiges Programm, doch ty-
pisch für Grünes Denken, mit Gandhis sarvodaya-Dörfern und "ozeanischen
Zyklen" als Modellen. 202
Produktion für den Profit oder Planerfüllung sind keine Ziele um ihrer
selbst willen. Die typische Produktionseinheit wäre eine selbstverwaltete Ko-
operative, wobei jedermann, unter Einschluß der Kunden, am Dialog und an
der Entscheidung beteiligt wäre. Obwohl die Produktion grundlegend für den
Verbrauch und nicht für den Austausch bestimmt ist, wären auch die Bezie-
hungen zu den Handelspartnern kooperativ. Und harmonische Beziehungen
zur Natur wären eine Bedingung sine qua non.
Der eigentlich grundlegende Aspekt der grünen Schule kann nun erwähnt
und untersucht werden: es gibt vier Haltesignale, die sowohl in der Blauen
als auch in der Roten Schule fehlen:"' Es sind dies gleichzeitig Versprechen
wie Beschränkungen oder zumindest Probleme der Grünen Schule.
(1) Produktion um der Bedürfnisse, nicht um der Habgier willen. Natürlich
gibt es eine Grauzone zwischen der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse
und der Habgier und die Frage lautet, wo die Habgier beginnt. Die letzten
zwanzig Jahre haben diese Fragestellung nicht geklärt, abgesehen von allge-
meinen - wahrscheinlich vergeblichen - Ermahnungen an die Reichen und
Superreichen, ihren Lebensstil zu ändern.
(2) Organisationen, die menschlichem Maß entsprechen. Hier ist die Vorstel-
lung, alle Organisationen, nicht nur die wirtschaftlichen, zu ändern, so daß
die Menschen sich in ihnen wohl und zu Hause fühlen. Dies beinhaltet ein
Maximum und vielleicht auch ein Minimum an Größe, da Menschen auch
arbeiten, um andere Menschen zu treffen, um die Enge der Familie und der
kleinen Dörfer hinter sich zu lassen. Es bedeutet jedoch nicht die Reduktion

201 Dieser vielseitige Ansatz spiegelt sich in dem Slogan der verschiedenen Grünen Par-
teien wider: ökologisches Gleichgewicht, Menschenrechte, Emanzipation und Parti-
zipation, Frieden und Gewaltlosigkeit.
202 Siehe Romesh Diwan und Mark Lutz (Hgg.): Essays in Gandhian Economics, Neu
Delhi 1985, und Arnritananda Das: Foundations 0/ Gandhian Economics, Bombay
1979.
203 Genauer gesagt, arbeitet das Blaue System weiter, solange die Zyklen selbst-repro-
duktiv sind, sich selbst aufrechterhalten; tun sie dies nicht mehr, dann ist dies der
Moment einer Krise, und es werden Anstrengungen unternommen, neue Wege auf-
zutun, um sie auf höheren Ebenen der Expansion selbst-reproduktiv zu machen (z. B.
indem man die Faktorenprofile nach oben hin ausbalanciert). Das Ergebnis: kein
Halt. Nicht einmal der Bankrott von Firmen oder Ländern fungiert als ein solcher;
eher verlängert man deren Leben, nicht selten künstlich. Eine Vorstellung des Roten
Systems wie die vom "Einfangen und Übernehmen" bildet den Übergang von Blau
zu Rot. Leichter Zugang zu Krediten desselben Arbeitgebers, des Staates, bildet ei-
nen weiteren Mechanismus.
266 Entwicklungstheorie

des Produktionsvolumens, da kleinere Organisationen durchaus viel produk-


tiver sein können.
(3) Produktion für den Ersatz. Dies ist eine klare Absage an die einfache
Fortsetzung des gedankenlosen Expansionismus. Was geschieht aber, wenn
die Wiederherstellung von Produkten bereits zu viel ist, analog dem Fall der
Ersetzung der menschlichen Bevölkerung? Mit anderen Worten, es muß viel
Dialog über das Ausmaß dessen geben, was ersetzt werden soll.
(4) Lokaler Markt als primäres Zentrum. Jeder lokale Markt ist begrenzt.
Lautet die erste Priorität, die örtliche Nachfrage zu befriedigen, nicht nach
den nationalen und Weltmärkten zu streben, den gegenwärtigen Trend von
der lokalen zur Weltwirtschaft also umzuwenden, dann würde die Produktion
begrenzt. Und schließlich:
(5) Belastbarkeit des Planeten. Die Grüne Schule hat, gerade als grüne, diese
Frage aufgeworfen, und nun tun es die Blaue und die Rosa Schule ihr nach.
Als eine Konsequenz dieser Vorgänge entwickelt sich gegenwärtig ein welt-
weiter Dialog über dieses Problem.

2.5 Die Rosa Schule: Blau, Rot und Grün


Der Leser sei nun eingeladen, die drei Schemata der Tabellen 3.3 - 3.5
übereinander zu legen, um zu versuchen, hieraus eine ökonomische Theorie
und eine ökonomische Praxis abzuleiten. Diese Übung wird hier nicht unter-
nommen. Offensichtlich sprechen wir von den sozialdemokratischen Wirt-
schaften des Nordens Amerikas und Europas, von Kanada und den Skandi-
navischen Ländern. 2IM Sicherlich kann diese ökonomische Praxis, wie oft ge-
schehen, als eine gemischte Wirtschaft oder eine Wirtschaft des Verhandelns
beschrieben werden, wobei ersterer Begriff auf deren eklektische Natur ver-
weist, der letztere auf einen wichtigen Mechanismus derselben: Dialoge zwi-
schen den Eliten des privaten (Markt) und des öffentlichen Sektors (Staat).
Doch in dieser Kurzformel wird das Grüne Element des bescheidenen
Maßes, der Kooperativen, der menschlichen Gleichheit, der Achtung vor der
Natur und vielleicht auch einer gewissen (nicht näher bestimmten) Spirituali-

204 Zur Zeit (1. Januar 1995) könnte man sagen, daß die meisten der fünfzehn Länder
der Europäischen Union, ja, daß der ganze Europäische Wirtschafts bereich vom
Nordkap bis Gibraltar, sieht man vom (post-)thatcheristischen Vereinigten König-
reich einmal ab, unter diese Kategorie fallen. Aber die Nordischen Länder erfüllen
eine Reihe von Bedingungen, die ohne Zweifel von Bedeutung sind: Sie sind klein,
homogen hinsichtlich Rasse und Nation und relativ egalitär (teilweise als Wirkung,
teilweise als Ursache des Wohlfahrtsstaates). Solidarität wird nicht ausgehöhlt durch
ein zu steiles gesellschaftliches Gefälle, wie es in den USA der Fall zu sein scheint.
Sechs ökonomische Schulen 267

tät nicht sichtbar. Dieses Grüne Element hat zum Teil wahrscheinlich deshalb
überlebt, weil diese Länder von den wichtigeren Schauplätzen des wirt-
schaftlichen, politischen, militärischen und kulturellen HandeIns weit ent-
fernt sind, und zum Teil deshalb, weil es sich bei ihnen im Vergleich zu den
Blauen und Roten Giganten, wie den Vereinigten Staaten und der Ex-So-
wjetunion, um kleine Gesellschaften handelt. Die Rosa Wirtschaft liegt also
am Schnittpunkt der drei anderen. Sie ist eine Mischform, und die Frage lau-
tet, ob sie auch ein Durcheinander, ob sie zu widersprüchlich ist? Anderer-
seits gilt auch: Was in der Theorie nicht funktioniert, kann doch in der Praxis
funktionieren.
Die Formel Rosa = Hellblau + Hellrot + Hellgrün ist vielleicht nützlich. 2• 5
Eine grundlegende Idee besteht darin, die Extreme all derjenigen Akteure,
die nach Kapital und Gegenständen streben, wie der Staaten, die Macht aus-
üben, um Menschen zu disziplinieren, ebenso zu vermeiden wie den Rück-
zug in kleine, isolierte und statische Gemeinschaften. Alle drei Schulen kön-
nen von Rosa genutzt werden, um sich wechselseitig zu verändern, indem
ihre Unterschiedlichkeit ausgespielt und versucht wird, Symbiosen zustande
zu bringen.

2.6 Die Gelbe Schule: Blau und Rot


Worauf wir uns hier beziehen, ist das Wirtschaftssystem, das heute in der
Welt die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht: die ökonomische Praxis 2. '
Japans und anderer Länder in Ostasien, der Volksrepublik China, sowie der
kleineren Ausgaben Japans bzw. Chinas: Südkorea, Taiwan, Hongkong und
Singapur. 207 Der Leser ist jetzt zu einer einfacheren Übung eingeladen: Blau
und Rot, die Tabellen 3.3 und 3.4 aufeinander abzubilden.

205 Wenn man sie nicht auf echte Farben bezieht, denn dann kommt eher ein ver-
waschenes Braun heraus. Dann aber bricht die Metaphorik zusammen - zumal, wenn
man bedenkt, daß wenige Systeme so konsequent gegen den Faschismus angegangen
sind wie die sozialdemokratischen.
206 Vielleicht sind die Japaner bessere Praktiker als Theoretiker. Zwei wichtige Ökono-
men sind Kaname Akamatsu und Saburo Okita. Siehe z. B. Saburo Okita: ,,Japan,
China and the United States: Economic Relations and Prospects", in: Foreign
Affairs, 5711979, H. 5, S. 1090 - 1110, mit Bezugnahme auf AkaTrUltsu (S. 1102).
207 Natürlich liegt Singapur nicht in Ostasien, aber der chinesische Hauptbevölke-
rungsanteil stammt aus Ostasien. Auch Nordkorea und Vietnam hätten erwähnt wer-
den können. Möglicherweise könnten diese vier zusammen: das (mit den Südkurilen)
vereinte Japan, das vereinigte Korea, das (mit Hongkong und auf die eine oder ande-
re Weise mit Taiwan) vereinte China und (das bereits vereinte) Vietnam, alles Maha-
yana-buddhistische und konfuzianische Länder, eines Tages der die Welt eindeutig
dominierende gemeinsame Markt werden.
268 Entwicklungstheo rie

Die Gelbe Schule unterscheidet sich von der Rosa Schule insofern, als ihr
das Grüne Element der Betonung des Lokalen und des bescheidenen Maßes
als modifizierende Faktoren fehlen. Zwei Alpha-Strukturen werden mitein-
ander verbunden, Markt und Staat, Kapital und Macht."" Offensichtlich ist
die Summe dieser beiden, in Harmonie miteinander, nicht nur unbehindert
durch Grün, sondern auch unbehindert voneinander, außerordentlich stark.
Dies ist, in einer einfachen Formel ausgedrückt, das Geheimnis des phäno-
menalen Wachstums von Japan gestern, von China heute und morgen, der
anderen schon immer, mehr oder weniger.""
Wie können Blau und Rot zusammenarbeiten, wenn sie Negationen von-
einander darstellen? Nur dann, wenn die Kultur Widersprüche zuläßt,2'o nicht
nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis, wenn sie harte Arbeie" und
Hingabe 2'2 fordert, und wenn die Struktur Eliten hervorbringt, die zur Zu-
sammenarbeit fähig sind 213 . Der Staat kann dann die für die Funktion des
Marktes optimalen Bedingungen planen, mit Anreizen hier und Entmutigun-
gen dort, indem er sich des Kapitals als Macht bedient - nicht der rohen Ge-
walt von Rot, so wie dies in der chinesischen Version von Gelb immer noch
praktiziert wird. Ein Plan für die Bedürfnisse und ein Markt für die Habgier,
das schließt einander nicht aus.
Doch ebensowenig tun dies die eher negativen Aspekte, die unter "Vertika-
lität", "Expansion" und "Natur" aufgeführt wurden, und eine Theorie könnte
lauten, daß, wenn sich die positiven Kräfte addieren, die negativen dies auch
tun werden. Dies wird jedoch im nächsten Kapitel weiter ausgeführt.

208 Der Kommentar eines Mitglieds des Gosplan (des Staatlichen Plankomitees der Ex-
Sowjetunion) im Januar 1968 über seine Untersuchung der japanischen Ökonomie:
"Und diese verdammten japanischen Kapitalisten machen den Sozialismus besser als
bei uns!" (dt. i. Orig.). Ein US-Nationalökonom könnte antworten: "Und die ver-
dammten japanischen Sozialisten sind bessere Kapitalisten als wir!"
209 Als einen Versuch, den japanischen Ansatz zu analysieren, siehe Johan Gattung:
"Japanese Industrialization Model", in: Sung-Jo Park (Hg.): The 21st Century - The
Asian Century?, Berlin 1985, S. 25 - 41.
210 Dies findet sich in den taoistischen und buddhistischen Elementen verschiedener
Kulturen, die sich von der aristotelischen und cartesischen Logik sehr unterscheiden.
211 Dies wird durch den konfuzianischen Aspekt der ostasiatischen Kultur abgedeckt,
vieUeicht mit den beiden Koreas als den am meisten konfuzianischen. Südkorea ist
wahrscheinlich der einzige Platz in der Welt, wo man machmal hören kann, die Japa-
ner seien zwar faul, aber vielversprechend, wenn sie mit der Arbeit denn erst begon-
nen hätten.
212 AUe vier Kulturen sind konfuzianisch und Mahayana-buddhistisch und enthalten ein
weiteres ,Hingabe-Element': den Shintoismus in Japan, das Christentum und den
Marxismus in den beiden Koreas, die aUgemeine VorsteUung von China als dem
auserwählten Reich der Mitte und in Vietnam den glühenden Nationalismus.
213 In Japan als Absolventen einiger führender Universitäten, ebenso in Südkorea; in
China wie in Nordkorea als Parteikader, und in Vietnam wahrscheinlich als eine Mi-
schung von beidem.
Sechs ökonomische Schulen 269

2.7 Die Eklektische Schule: Grün, Rosa und Gelb


Die intellektuelle Strategie dieses Kapitels sollte klar sein: Blau, Rot und
Grün sind die Bausteine. Alle drei haben eine gewisse Reinheit und theoreti-
sche Kohärenz, und gerade dies macht sie problematisch. Sie sind verwund-
bar. Der Weltmarkt kollabiert, und eine Export-Import-abhängige Blaue
Ökonomie ist hilflos, da ihr kein starker Staat oder eine sich selbst tragende
lokale Ebene zur Verfügung stehen, auf die sie zurückgreifen kann. In einem
Roten Wirtschaftssystem erleidet der Staat das Unvermeidliche: Die Unter-
stützung oder die Disziplin des Volkes kollabiert, und es gibt keinen reifen
Markt und keine lokale Wirtschaft, auf die man zurückgreifen kann. Die Ro-
sa Schule erkennt dies und leitet ihre Stärke aus einer Kombination von allen
dreien ab; scheitert die eine, dann gibt es noch die beiden anderen. Auch die
Gelbe Schule "geht auf zwei Beinen", um die chinesische Formulierung zu
gebrauchen. Beide Komponenten sind verwundbar, doch sie werden kaum
gleichzeitig kollabieren.
Die Eklektische oder "Regenbogen"-Schule, auf die hier verwiesen wird,
und die in Kapitel 4 weiter entwickelt wird, geht noch einen Schritt weiter,
indem sie Grün, Rosa und Gelb kombiniert. Die Idee ist klar: mit einer grö-
ßeren Anzahl sehr unterschiedlicher Bestandteile in symbiotischer Interak-
tion sollte die Wirtschaft elastischer werden. Sind Blau und Rot die ver-
wundbarsten Systeme, dann sollten sie nicht unmittelbar, sondern nur mittel-
bar, in Kombination mit anderen, als Bausteine benutzt werden. Nie Markt,
Staat oder das Lokale allein; verbinde sie miteinander, um der Widerstands-
fähigkeit und der Synergie willen: das berühmte ,,(das Ganze ist) mehr als die
Summe der Teile".
Blau wird durch die Vereinigten Staaten vertreten; Rot durch die Ex-So-
wjetunion; Grün durch Teile der Dritten Welt, durch den größten Teil der
menschlichen Geschichte und in diesem Jahrhundert durch Ideologien und
Experimente, die allmählich Gestalt annehmen; Rosa durch die Nordischen
und EU-Länder (aber nicht durch das Vereinigte Königreich) und Gelb durch
Ostasien. Aber das Eklektische hat keinen eindeutigen Vertreter - eine echte
Herausforderung!
270 Entwicklungstheorie

Appendix: Die sechs Schulen: eine Übersicht


internationale, ROT GELB
nationale Pläne (Ex-SU) (Japan,Ostasien)

ROSA
(Kanada, EU, nicht UK)

GRÜN BLAU
(viele Länder der Dritten Welt) (USA)

Lokale, transnationale,
nationale Märkte

Die Eklektische, Pan/Polytheistische Schule beinhaltet die Hauptdiagonale


des Diagramms: Grün, Rosa und Gelb. Blau und Rot halten es mit nur einem
Gott (Markt bzw. Plan) und sind allein zu verwundbar; gleiches gilt für das
eher pantheistische Grün. Die konkreten geographischen Bezüge sollten nur
Hinweise geben und nicht zu wörtlich genommen werden. Jede konkrete
Volkswirtschaft wird immer auch auf Elemente der nicht-dominierenden
Farben zurückgreifen, etwa auf Rot im Falle des US-Militärs oder auf Blau,
Rot oder Rosa in den Zentren der Dritte-Welt-Ökonomien. Ein abschließen-
der Überblick:

Blau Rot Grün Rosa Gelb Eklektisch

Individua- Individua- Individua- Kollekti- sowohl als Kollekti- sowohl als


lismusIKol- !ismus lismus vismus auch vismus auch
lektivismus
Vertikali- Vertikalität Vertika!ität Horizonta- sowohl als Vertika- sowohl als
tätJHorizonta- !ität auch lität auch
lität
Monetari- Monetari- Monetari- Spezifizie- Monetari- Monetari- sowohl als
sierungl Spe- sierung sierung rung sierung sierung auch
zifizierung
Verarbei- Verarbei- Verarbei- viel weni- Verarbei- Verarbei- weniger
tungINatur- tung tung ger tung tung
belassenheit
Expansion! Expansion Expansion Halte- Expansion Expansion emlge
Stabilität kein Halte- kein Halte- signale kein Hal- kein Halte- Halte-
signal signal tesignal signal signale
Natur beherrscht beherrscht Partner sowohl als beherrscht sowohl als
auch auch
3 Die Extemalitäten

3.1 Über die Definition von Externalitäten


Dieses Kapitel ist insgesamt den Externalitäten gewidmet, den Nebenwirkun-
gen'l4 und Nebenbedingungen wirtschaftlichen Handelns. 215 Was wir anstre-
ben, ist ein Inventar von Externalitäten.'16 In welchem Ausmaß diese Exter-
nalitäten im einzelnen Falle Anwendung finden, ist ein empirisches Problem.
Das Inventar dient als eine Checkliste von Hypothesen, wobei die grundle-
gende Hypothese nicht lautet, daß sie alle in allen Fällen Anwendung finden.
Außerdem liegt zwischen der allgemeinen Formulierung "ökonomisches
Handeln" und einem besonderen "ökonomischen Zyklus", unserer Analyse-
einheit, die Ebene der "ökonomischen Schulen" oder "ökonomischen Syste-

214 Der Begriff ist in der Medizin sehr geläufig. Es ist heute kaum möglich, irgendein
Medikament zu erstehen, ohne daß dieses von einer langen Abhandlung über Neben-
wirkungen begleitet wäre, zumindest, wenn das Medikament in der Ersten Welt ver-
marktet wird. Der Grund für diese Empfindlichkeit kann wahrscheinlich in der These
Nr. 7, Fehlfunktion I, gefunden werden: Treffen negative Externalitäten den inneren
Sektor (die Erste Welt), dann werden sie ernst genommen.
215 Ich bin dem verstorbenen Kenneth Boulding für eine Nebenbemerkung dankbar (die
er im September 1971 bei der Internationalen Friedensakademie in Wien machte, im
Rahmen einer Diskussion über Imperialismus): Wir müssen lernen, die Externalitä-
ten ernster zu nehmen! Diese Anmerkung wurde am Tag des Begräbnisses dieses
großen Mannes niedergeschrieben, am 28. März 1993. Ob er dieser oder einer ande-
ren Art und Weise, der Aufgabe nachzukommen, seine Zustimmung gegeben hätte,
ist eine andere Frage; Kenneth hat den Begriff der "Ausbeutung" nie geliebt, dem in
der vorliegenden Konstruktion von Externalitäten eine zentrale Stellung zukommt.
Vgl. hierzu Johan Galtung: "Only One Quarrel with Kenneth Boulding", Review Es-
say, in: Journal of Peace Research, 24/1987, H. 2, S. 199-203.
216 Ein anderer Begriff, der manchmal benutzt wird, "spin-offs" ("Nebenprodukte",
"Abfallprodukte"), stellt nicht klar genug heraus, auf welche Art und Weise diese
Aspekte ökonomischen Handeins bisher vernaChlässigt wurden. Für eine frühe Ana-
lyse solcher "spin-offs" durch den Verfasser siehe: "A Structural Theory of Imperia-
lism", in: Essays in Peace Research, Bd. IV, S. 437-481, insbesondere S. 447ff. Ein
weiterer Begriff, der in jenem Aufsatz Verwendung findet, ist "spill-over" ("Über-
fließeffekt"), von einer Nebenwirkung zur nächsten, eine Art Externalität zweiter
Ordnung (S. 462ff.).
272 Entwicklungstheorie

me" des vorhergehenden Kapitels; von diesen erzeugt jede im Prinzip be-
stimmte Typen ökonomischen Handeins eher als andere. Doch dies bedeutet,
daß die Externalitäten von System zu System jeweils andere sein werden, mit
einigen Überschneidungen, und dies wird einen der Analyseschwerpunkte
gegen Ende dieses Kapitels ausmachen.
Es ist der Mühe wert, den Hauptgrund noch einmal herauszuarbeiten, war-
um Externalitäten so viel Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Der wis-
senschaftliche Diskurs217 der Mainstream-Ökonomie macht vieles von dem,
was im Umfeld ökonomischen Handeins geschieht, undurchsichtig, indem er
zahlreiche Aspekte von der ernsthaften Betrachtung ausschließt. Durch eine
genaue Betrachtung der Externalitäten werden diese Aspekte ebenso durch-
sichtig wie jene, die durch den gängigen ökonomischen Diskurs klargestellt
werden.
Aus dem folgenden sehr einfachen Grunde ist dies zwar wichtig in Ver-
bindung mit allem ökonomischem Handeln, besonders aber im Kontext von
"Entwicklung". So viel Entwicklungstheorie und -praxis der letzten Jahr-
zehnte gründete auf einer allzu vereinfachenden Annahme: Gibt es einen an-
gemessenen Investitions-Input, dann folgt ökonomisches Wachstum; gibt es
ökonomisches Wachstum, dann wird die betreffende Gesellschaft den
"modernen", "westlichen" Gesellschaften ähnlicher werden. Doch normaler-
weise funktioniert es nicht auf diese Art. Die zu entwickelnde Gesellschaft
wird leicht zu einem Faß ohne Boden, in dem Investitionen beliebiger Höhe
verschwinden, ohne daß es zu nennenswertem ökonomischen Wachstum
kommen würde. 218 Kommt es aber zu ökonomischem Wachstum, dann haben
wir im Ergebnis die Karikatur einer Gesellschaft, die weder so, wie sie war,
"traditional" oder anders, noch "modern", "westlich" ist. 219
Der hier vertretenen Auffassung zufolge ist dies nicht deshalb so, weil das
Investitionsniveau falsch gewesen wäre oder irgendeine andere Korrektur des
gängigen ökonomischen Diskurses hätte vorgenommen werden müssen, auch
nicht darum, weil mehr Zeit nötig gewesen wäre, damit sich die positiven
Wirkungen hätten zeigen können. Dies stellt, nebenbei bemerkt, auch die
klassische Auffassung der vorwaltenden marxistischen Analyse dar: Die re-

217 Siehe für eine Untersuchung des Begriffs des "Diskurses" und insbesondere als
eng/weit, flach/tief Johan Galtung und Richard Vincent: Glasnost U.SA., Cresskill,
NJ 1996, Kapitel 4.
218 Eine andere nützliche Metapher, die man oft in Verbindung mit Investitionen im
kommunistischen Osteuropa hört: "Samen auf Asphalt aussäen." So unterstellt die
Vorstellung, daß der der Sowjetunion von den USA aufgezwungene Rüstungswett-
lauf deren notwendige Investitionen in einen umfänglicheren und besseren Konsum-
gütersektor (das ,Kanonen-oder-Butter'-Argument) verhinderte, daß (fehlendes) Ka-
pital den ,Flaschenhals' -Faktor darstellte.
219 Die Verwendung dieser stark abgegriffenen Begriffe soll nicht bedeuten, daß "mo-
dern" in irgendeiner Hinsicht besser als "traditional" sei oder umgekehrt.
Die Externalitäten 273

volutionären Inputs waren nicht die richtigen oder geschahen nicht im richti-
gen Augenblick, zudem sei mehr Zeit nötig, bevor sich die positiven Wir-
kungen des Sozialismus zeigen könnten."o
Der hier vertretenen Auffassung zufolge werden sich diese positiven Wir-
kungen nie zeigen, weder im Blauen noch im Roten Fall, und zwar aus dem
einfachen Grunde, weil die Theorie selbst falsch ist; und die Theorie ist
falsch, weil sie allzusehr vereinfacht, auf einem zu engen Diskurs gegründet
ist. Dies heißt keinesfalls, daß die Variablen dieser beiden ökonomischen
Diskurse irrelevant wären. Sie sind notwendig, aber nicht hinreichend, und
der Zweck einer Untersuchung der Externalitäten besteht darin, zu einem um-
fassenderen, adäquateren Diskurs beizutragen.'"
Die erste Aufgabe besteht offensichtlich in der Definition von "Externa-
litäten" und des (hier verwendeten) Gegenbegriffs der "Internalitäten". Man
nehme als Ausgangspunkt die folgende Definition: 222

220 Das berühmte "Prinzip der unreifen Zeit" - die Zeit war noch nicht reif - kann be-
nutzt werden, um irgendetwas, alles und daher nichts zu erklären und zu ent-
schuldigen. Doch zuweilen mag hieran auch etwas Wahres sein. Schließlich funk-
tioniert die menschliche Gesellschaft nicht wie eine Maschine, wo man einen Knopf
drückt und sofort eine Wirkung erzielt. Sie ähnelt eher einem Organismus. Es gibt
einen Input, dieser Input wird absorbiert, verarbeitet und wiederverarbeitet, und dann
gibt es eine Wirkung, die sich vielleicht von der beabsichtigten sehr unterscheidet.
Hegel hat dies den Übergang von der Quantität zur Qualität genannt, hier verstanden
als der quantitative Input und dann der qualitative Sprung, so etwas wie der berühm-
te "Quantensprung" .
221 Ein Diskurs ist in den Grundzügen adäquat, wenn wir im Diskurs all das richtig wie-
dergeben können, was wir über den Gegenstand mitteilen wollen; nichts ist verzerrt
oder unterdrückt oder schlicht abwesend (vgl. das in Anm. 217 genannte Kapitel von
Galtung und Vincent).
222 Hier sind zwei Beispiele für Definitionen aus der wissenschaftlichen Literatur:
"Wirtschaftswissenschaftler definieren als eine Externalität jeden Wert oder jede
Überlegung, die nicht in ein Kosten-Nutzen-Kalkül eingehen" (Denis Goulet:
"Biological Diversity and Ethical Development", in: [CIS FORUM 22/1992, H. 1
(Januar), S. 29); und: "Der Kern des Verschmutzungsproblems besteht in dem, was
Wirtschaftswissenschaftler als Externalitäten bezeichnen. Es handelt sich dabei um
spill-over-Kosten oder -Nutzen: Handlungsfolgen, die vom Akteur nicht mit in Be-
tracht gezogen werden und daher seine Entscheidungen nicht beeinflussen" (Paul
Heyne: The Economic Way ofThinking, Chicago, IL 1992, S. 253).
Unsere Definition steht diesen beiden nahe, abgesehen von der Verwendung der Be-
griffe "Kosten" und "Nutzen", die Monetarisierung konnotieren, wovon wir uns
fernhalten wollen, indem wir die weiteren Begriffe "negativer Wert" und "positiver
Wert" gebrauchen. Goulets Betonung des "Kalküls" setzt die Vergleichbarkeit der
Werte (Nutzen) voraus, und die Monetarisierung gibt hierauf eine - und zwar allge-
genwärtige - Antwort. Heynes "spill-over" ist unsere "Nebenwirkung". Beide Auto-
ren versäumen es jedoch, den Selbstimmunisierungscharakter des Problems klarzu-
stellen: Ökonomen ziehen Externalitäten nicht mit in Betracht, sie bestimmen aber
das wirtschaftliche Handeln durch die Definitionen ihres Diskurses, so daß naturge-
274 Entwicklungstheorie

Externalitäten sind bipolare Variablen, die positive und negative Inputs und
Outputs für Parteien in einem Wirtschaftszyklus widerspiegeln, die
(a) von der gängigen wirtschaftswissenschaftlichen Theorie nicht bedacht
werden, und/oder die
(b) in der üblichen ökonomischen Praxis nicht berücksichtigt werden, und/
oder die
(c) nicht monetarisiert sind (oder deren Monetarisierung unberechtigt ist).
Man kann die drei Punkte alternativ wie komplementär verstehen, jedenfalls
identifizieren sie dieselben Variablen. Internalitäten sind dann Variablen, die
in der ökonomischen Theorie explizit betrachtet und in der Praxis berück-
sichtigt werden; Z.B. durch die Beschreibung von Preisen und Quantitäten
von Faktoren und Produkten und, weitergehend, von Faktoren und Pro-
duktmärkten und von Konstrukten, die auf solchen Variablen beruhen.
Die Definition ist alles andere als unproblematisch. Wie etwa entscheidet
man darüber, was die gängige ökonomische Theorie ist? Die Ökonomie der
Nobelpreisträger? Standard-Textbücher?'23 Wirtschaftswissenschaften, wie
sie von führenden wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten gelehrt werden?
Zudem verändert sich die Mainstream-Theorie, wie immer man sie definiert,
in der nie endenden Dialektik mit den Gegenströmungen. Dasselbe gilt für
die ökonomische Praxis. Meinen wir hier die Praxis der großen Akteure, die
sich normalerweise von der des "Tante-Emma"-Ladens an der Ecke erheb-
lich unterscheidet?
Die Frage der Monetarisierung scheint weniger problematisch. Doch da
für die Mainstream-Theorie ein Hauptweg der Internalisierung der Externa-
litäten, d.h. der Einführung derselben in Theorie und Praxis, in deren Mone-
tarisierung besteht, geraten wir hier in einen fatalen Zirkel. Besteht das Kri-
terium in der Nicht-Monetarisierung, dann schrumpft die Menge der Exter-
nalitäten, wenn die Ökonomen die "nicht berücksichtigten Kosten und Nut-

mäß auch andere den Externalitäten nicht gestatten, "Eingang in einen Kalkül zu fin-
den" oder "Entscheidungen zu beeinf!ußen". Auch konzentrieren sie sich allein auf
Wirkungen ("Outputs") und nicht auf Ursachen ("Inputs"). Eine Externalität kann
aber bei des sein.
223 In diesem Fall sammelt sich vielleicht ein gewisser Konsens um das Schwer-
kraftzentrum, welches das allgegenwärtige Lehrbuch Paul Samuelsons (Economics,
New York, 13. Auf!. 1989, zusammen mit W. D. Nordhaus) darstellt. Am Ende die-
ses Buches gibt es ein nützliches Glossar der Begriffe. Unter dem Stichwort Ausbeu-
tung (exploitation) findet sich nichts, nicht einmal ein Hinweis auf ,Bergbau' oder
,Meeresgrund'. Unter ,Billigkeit'I,Gerechtigkeit' (equity): Eigenkapital (equity capi-
tal). Unter ,Externalitäten': die gewöhnliche Definition in Begriffen von unbezahlten
Kosten und Nutzen (was auf Monetarisierung verweist) sowie die Bemerkung, daß
"private Kosten und Nutzen den sozialen Kosten und Nutzen nicht entsprechen"
(was wiederum auf Quantifizierung als Vergleichsgrundlage verweist - wobei aber
nur zwei der sechs Räume Erwähnung finden).
Die Externalitäten 275

zen" monetarisieren und die Praktiker, Korporationen oder Staaten, diese in


ihr Kalkül einarbeiten.
Unsere letzte Zuflucht besteht dann in der oben unter (c) aufgeführten
Klausel: "unberechtigte Monetarisierung". Doch wer entscheidet darüber,
was unberechtigt ist? Mainstream- oder Außenseiter-Ökonomen? Beide oder
keiner von ihnen? Ist die Monetarisierung von "Raubbau" unberechtigt, dann
vielleicht auch die Monetarisierung von "Land" oder von "Arbeit"?224 Sind
aber alle drei legitim, dann ist es vielleicht auch die Monetarisierung des
"menschlichen Lebens"?225 Hier gibt es genügend Probleme, doch mag die
Definition weiterhin nützen, einen Anfang zu machen.

3.2 Übersicht für Externalitäten in den sechs Räumen


Eine Möglichkeit, einen Anfang zu machen, besteht darin, einige Desiderate
für eine Aufstellung von Externalitäten zu nennen. Was wollen wir, was
brauchen wir?

(1) Alle sechs Räume - Natur, Mensch, Gesellschaft, Welt, Zeit, Kultur-
müssen repräsentiert sein; kein Reduktionismus auf weniger als sechs kann
funktionieren. Die Bedeutung dieses Gedankens läßt sich sehr deutlich an der
gegenwärtigen Diskussion über die Wirtschaft erkennen. Die kritische De-
batte wechselt von einem Raum zum nächsten, von der Sorge um die Umwelt
(Natur) zur menschlichen Bereicherung (Mensch), zu mehr sozialer Gerech-
tigkeit, Gleichheit und Billigkeit (Gesellschaft), zur Kategorie der Dritten
Welt (Welt), zur Nachhaltigkeit (Zeit), zur Qualität des japanischen Mana-
gements (Kultur, vielleicht aber auch Struktur, d.h. Gesellschaft). Ihnen allen
kommt Bedeutung zu; einen von ihnen einzuführen, stellt gegenüber einem
engen, ökonomistischen Diskurs bereits einen Gewinn dar. Doch ebenso läuft
man, wenn man so verfährt, Gefahr, in die Falle des Theoretisierens mit nur
einem einzigen Faktor zu laufen. Es ist interessant, daß viele, die sich bis
noch vor wenigen Jahren marxistisch orientierten, sich heute gleichermaßen
einseitig ökologisch orientieren, eine Verwandlung, die man nicht zu Unrecht

224 Wie im vorherigen Kapitel ausgeführt, könnten dies Positionen sein, die die Rote
oder die Grüne Schule einnehmen.
225 So könnten vieJleicht Versicherungsgesellschaften die "verbleibende Erwerbs-
fähigkeit" als ein Preisetikett des menschlichen Lebens benutzen, in einer Weise al-
so, die höchst schicht-, geschlechts-, rassen- und altersspezifisch wäre. Ein Grund-
problem besteht darin, ob ein solches Vorgehen Implikationen etwa hinsichtlich der
Allokation von Flugzeugen für unterschiedliche Routen und Altersstufen hat, wenn
es einmal um vorwiegend junge, männliche, weiße Geschäftsleute, ein andermal um
alte, weibliche und farbige Beschäftigte geht.
276 Entwicklungstheorie

als politisches Recycling bezeichnet hat."· Dagegen ist die hier bezogene Po-
sition holistisch.
(2) Nur eine geringe Anzahl Extemalitäten, vielleicht zwei bis fünf pro Raum,
sollte identifiziert werden. Jeder Raum erinnert uns an eine oder mehrere
Disziplinen; sind wir mit diesen Disziplinen vertraut, dann kann das eine be-
liebige Anzahl von Aspekten nach sich ziehen. Die Absicht besteht nicht
darin, einen vollständigen Katalog zu verfassen, sondern Schlüsselvariablen
zu identifizieren, die außerhalb des gängigen ökonomischen Diskurses lie-
gen. 227 Natürlich ist jede derartige Liste revisionsbedürftig, wobei Überein-
stimmung weder möglich noch wünschenswert ist. Die Pointe besteht in der
Explizitheit: Hier sind die Variablen, die wir als wichtig betrachten; wie weit
tragen sie, um zu verstehen, was abläuft?
(3) Extemalitäten müssen entscheidende Wertdimensionen des betreffenden
Raumes sein. In obiger Definition benutzten wir die Ausdrücke positiv/ne-
gativ, Inputs/Outputs, nicht beachtetlberücksichtigt. Anders gesagt, Exter-
nalitäten sind nicht neutral; sie stellen nicht einfach irgendeine Variable im
Diskurs einer Disziplin dar. Zudem müssen sie entscheidende Wertdimensio-
nen sein, doch nicht unbedingt der Formulierung des gängigen politischen
Diskurses entsprechen. 228
(4) Extemalitäten müssen positive wie negative Bereiche umfassen. Eine
Wertdimension sollte identifizieren, was gut ist/was als gut verfolgt werden
sollte und was schlecht ist/was verworfen werden sollte, vielleicht mit einer
dazwischenliegenden neutralen Zone. Die Externalität sollte dasselbe leisten.
(5) Es sollte unterschieden werden zwischen flachen Extemalitäten, die ma-
nifeste beobachtete Aspekte, und tiefen Extemalitäten, die verborgene, noch zu
erschließende Aspekte von Schlüsselwerten widerspiegeln. Flache Externalitä-
ten können für die Sammlung von Daten und vielleicht für die Bildung von In-
dikatoren verwendet werden, während sich tiefere Externalitäten für den Bau
von Theorien eignen. Ein gutes Beispiel bietet der Raum der Natur; die laufen-

226 Andererseits betonen z. B. Die Grünen in Deutschland eine Mehrzahl von Werten
wie etwa ökologisches Gleichgewicht, Frauenemanzipation, allgemeine Partizipati-
on, Menschenrechte, Gewaltlosigkeit, S~lidarität mit der Dritten Welt; diese Aufzäh-
lung umfaßt zumindest die Räume der Natur, der Gesellschaft, der Welt und der Zeit.
227 Mit anderen Worten, greift hier Ockhams Messer: nicht mehr Begriffe als nötig
(entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem).
228 Dieser Punkt ist problematisch. Eine Funktion der Externalitätenanalyse besteht in
der Änderung der ökonomischen Praxis; für diesen Zweck sind vielleicht solche For-
mulierungen vorzuziehen, die dem normalen politischen Diskurs nahestehen oder
sogar mit ihm identisch sind. Eine andere Funktion besteht in der Änderung der öko-
nomischen Theorie, und für diesen Zweck sind vielleicht abstraktere Variablen dien-
licher. Der hier eingeschlagene Weg besteht im Einschluß beider Variablentypen.
Die Externalitäten 277

de Debatte spielt sich hier hauptsächlich in Begriffen der Erschöpfung von Res-
sourcen und der Verschrnutzung ab - beides meßbar und brauchbar für die Bil-
dung von Indikatoren. Hingegen dürften die Begriffe der Vielfalt (in den Klas-
sen des Unbelebten und des Belebten) und der Symbiose (des Unbelebten und
Belebten) sehr viel nützlicher für die Bildung von Theorien sein.
(6) Tiefe Externalitäten sollten der Erstellung Räume übergreifender Theori-
en dienen. Dies ist natürlich der Traum eines Intellektuellen: Variablen zu
gewinnen, die interdisziplinär verwandt werden können und die dennoch et-
was nicht Triviales für alle Räume aussagen.
(7) Externalitäten müssen den Abgrund zwischen Kritik und Konstruktion
überspannen, indem sie sich nicht nur für die Kritik, sondern auch für die Er-
stellung von Alternativen als nützlich erweisen.
Wir wollen also einen ersten Versuch unternehmen, einen Satz von Exter-
nalitäten aufzustellen, der den aufgeführten Desideraten entspricht:

Tabelle 3.6: Externalitäten I: flache und tiefe Externalitäten


Raum Wertdimension Flach Tief
Natur ökologisches Erschöpfung/Raubbau Vielfalt
Gleichgewicht Verschmutzung Symbiose
Person grundlegende mensch- somatische Bedürfnisse Vielfalt
liehe Bedürfnisse geistige Bedürfnisse Symbiose
Gesellschaft Entwicklung: Reduzierung und Eindämmung Vielfalt
Beseitigung von Elend, - direkter Gewalt Symbiose
Erfüllung grund- - struktureller Gewalt
legender Bedürfnisse
Welt Frieden Reduzierung und Eindämmung Vielfalt
(Raum) synchrone Solidarität - direkter Gewalt Symbiose
- struktureller Gewalt
Geschichte! Nachhaltigkeit Reduzierung und Eindämmung Vielfalt
Zukunft diachrone Solidarität - direkter Gewalt Symbiose
(Zeit) - struktureller Gewalt
Kultur Adaequatio Reduzierung und Eindämmung Vielfalt
kultureller Gewalt Symbiose

Diesem Vorschlag liegt der folgende Kerngedanke zugrunde. Ökologisches


Gleichgewicht und grundlegende menschliche Bedürfnisse stellen selbst-
zweckhafte Werte dar; EntwicklunglFriedenlNachhaltigkeitJAdäquatheit da-
gegen sind heteronome Werte, sind Mittel, um die Bedürfnisse der men-
schlichen und der nicht-menschlichen Natur zu befriedigen. Hiermit wird
dann auch schon eine ganze Ideologie explizit gemacht. Das Ziel menschli-
chen Handeins, einschließlich des wirtschaftlichen Handeins, besteht in der
Steigerung des Lebens, besteht, in buddhistischen Begriffen, in der Redukti-
278 Entwicklungstheorie

on von Dukkha und in der Steigerung von Sukha. 229 Das ökonomisierende
Begriffspaar SchmerzlLust deckt diesen Sachverhalt nur schlecht ab. 230
Die manifesten Definitionen der Externalitäten in diesen Räumen bringen
die allgemeine Wertdimension in einer Art und Weise zum Ausdruck, die
diesen absoluten Werten sehr nahe kommt. "Entwicklung" wird in ihrem ne-
gativen Aspekt, als die Beseitigung von Elend, und in ihrem positiven Aspekt,
als Befriedigung und Entwicklung grundlegender Bedürfnisse, dargestellt.
"Frieden" und "Überlebensfähigkeit" erweitern diesen Ansatz in Raum und
Zeit, als synchrone und diachrone Solidarität mit den menschlichen oder
nicht-menschlichen Wesen, die unter Bedürfnisversagungen leiden. Geboten
wird ebenso in diesem Zusammenhang ein Vokabular der Gewalt, wonach
Entwicklung im gewöhnlichen Verständnis sich auf die Reduktion struktu-
reller Gewalt (mit Ausbeutung und Unterdrückung als hauptsächlichen Ma-
nifestationen) und Frieden auf die Vermeidung direkter Gewalt konzentriert.
In Tabelle 3.6 werden die Externalitäten negativ als drei Typen von Gewalt
aufgeführt, die reduziert und eingedämmt werden müssen; und positiv als
Vielfalt und (gerecht ausbalancierte) Symbiose, die gesteigert und erhalten
werden sollen. Nur unter diesen Bedingungen kann Interaktion innerhalb der
Räume reproduziert werden. Die Räume werden nachhaltig, und man kann
gemeinsam geteilte Werte festlegen.
Kehren wir zu den oben genannten Desiderata zurück. Alle Räume sind
repräsentiert; pro Raum gibt es nur zwei Externalitäten (die jedoch relativ
umfassend sind, also eher Syndrome oder so etwas wie Meta-Externalitäten
darstellen); ganz sicher handelt es sich bei ihnen um Wertdimensionen und
sogar um solche, die sehr häufig im gewöhnlichen Diskurs auftauchen (abge-

229 Mit diesen Begriffen lassen sich auch progressive und regressive Politiken bzw. poli-
tische Ideologien oder, was das betrifft, Links und Rechts definieren: Progressiv ist
dasjenige, was den Bedürfnissen der menschlichen und der nicht-menschlichen Natur
dient, regressiv all das, was dies nicht tut. Natürlich besteht das Problem darin, daß im
wirklichen Leben die Konsequenzen jeden HandeIns normalerweise doppeldeutig sind.
Doch dieser Ansatz dient dazu, die Politik an Grundlegendem festzumachen. Ob Post-
ämter verstaatlicht oder privatisiert werden sollten, ist weniger eine Frage des Dogmas
als danach, was den relevanten Bedürfnissen dient, und dies scheint eher eine empiri-
sche Frage mit je nach Ort und Zeit unterschiedlichen Antworten zu sein. Auf dieser
Grundlage kann man eine ganze humanistische Ideologie aufstellen.
230 Schmerz und Lust beziehen sich beide auf den Körper und spiegeln den engen Fokus
ökonomischer Theorie und Praxis adäquat wider. Doch dieser somatische/mate-
rialistische Fokus ist selbst einer der umstrittensten Aspekte der Mainstream-Öko-
nomie, und die Anwendung ihrer Instrumente, die für körperbezogene Güter und
Dienste geschaffen sind, auf das Reich des menschlichen Geistes ist selbst eine der
wesentlichen negativen Externalitäten im Raum der Kultur. Der Nobelpreisträger
Gary Becker sieht hier keine Grenzen: " Das rational-choice-Modell stellt ge-
genwärtig die vielversprechendste Basis eines einheitlichen Analyseansatzes der so-
zialen Welt für Sozialwissenschaftler dar" (so in seiner Nobel Lecture "The Econo-
mic Way 0/ Looking at Lire", Stockholm (Nobel Foundation) 1992, S. 27).
Die Externalitäten 279

sehen von "Adäquatio", von allen vielleicht die grundlegendste, die aber
vielleicht am ehesten Intellektuelle anspricht); es gibt positive und negative
Bereiche dieser Dimensionen; und es gibt zwei Mengen, nämlich flache
(manifeste) und tiefe Externalitäten.
Wie steht es nun um die raumübergreifende Theoriebildung? Unserem Ar-
gument zufolge wäre diese Bedingung erfüllt, denn die beiden Zwillings-
begriffe der Vielfalt und Symbiose können verwendet werden, um nicht-tri-
viale Theorien für alle Räume zu entwickeln. Der Annahme zufolge rühren
die Zwillingsbegriffe an tiefe Wirklichkeiten in allen sechs Räumen. Anders
gesagt: Sie stellen auch Schlüsselbegriffe in systemtheoretischer Hinsicht
dar. Die Berechtigung solcher Behauptungen muß erst noch erwiesen wer-
den. Dies ist aber möglich, zumindest auf der Ebene einer Räume übergrei-
fenden vergleichenden Theorie. 231 Der Begriff der Entwicklung deckt alle
Räume ab, und daher sollte die Theorie das auch tun.
Und wie steht es um den Aspekt der Kritik bzw. der Konstruktion? Durch-
laufen ökonomische Zyklen die negativen Bereiche eines Indikators, dann ist
die Grundlage für Kritik gegeben, und zwar einer strengen Kritik, wenn
grundlegende Bedürfnisse schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der
konstruktive Aspekt besteht nicht nur im Hinweis auf den positiven Bereich,
sondern auch in der Angabe, wie man zu ihm gelangen kann, in der Definition
von Strategien also, bezeichne man diese nun als ökonomische, politische oder
soziale. Ein Kriterium für die Anerkennungswürdigkeit einer Externalität wäre
eine Theorie darüber und vielleicht sogar eine erprobte Praxis, wie das Gelobte
Land denn zu erreichen sei. Und genau hier erhalten die ökonomischen Schulen
ihre besondere Bedeutung: Was nach der Logik der einen Schule nicht erreich-
bar ist, mag nach der einer anderen erreichbar sein, und es stellt sich dann die
eklektische Frage, wie Schulen miteinander kombiniert werden können. 232

231 Daß das Begriffspaar Vielfalt/Symbiose eine analytische Behandlung der Probleme
natürlicher Elastizität erlaubt, ist offensichtlich, gehört es doch zum Grundbestand
ökologischer Theorie. Aber dasselbe trifft zu für den inneren Personenbereich, in
dem zahlreiche unterschiedliche Neigungen stecken, die in einer reifen Person aus-
einandergehalten (aber nicht stark unterdrückt und kontrolliert), zugleich aber auf-
einander bezogen (nicht zu sehr getrennt, wie in einer gespaltenen Persönlichkeit)
sein sollten. Auch wäre der Raum der Gesellschaft viel belastbarer, wäre er Gastge-
ber für unterschiedliche Weisen, das soziale Leben zu organisieren. Ebenso verhält
es sich mit dem Raum Welt. Anders gesagt, die Begriffe sind sehr geeignet für Räu-
me übergreifende Theorien.
232 Das Problem steckt schon in der Idee, eklektisch sein zu wollen, als solcher - heißt
dies doch, mehr als einem Gotte dienen zu wollen, und das ist nicht leicht in den
monotheistischen Kulturen des Okzidents. Eine Ausnahme stellt die Rosa Schule dar,
die den Eklektizismus in ihre Grundlagen eingebaut hat, wenn sie je nach den Um-
ständen den Markt oder den Plan zu Hilfe ruft. Der Orient mit seiner allgemeinen
Tradition des Eklektizismus macht (wie die Sozialdemokratie) aus seinen polythei-
stischen Neigungen seinen Monotheismus.
280 Entwicklungstheorie

Im Mittelpunkt der Betrachtung standen bisher Dimensionen von Exter-


nalitäten, und Externalitäten I gab einen Überblick über Möglichkeiten.
Doch die oben gegebene Definition definiert Externalitäten nicht nur als po-
sitiv und negativ, sondern auch im Hinblick auf Parteien eines ökonomischen
Zyklus, und zwar insofern diese in solchen Zyklen lokalisierbar sind, entwe-
der als Akteure, mit Zielen und Strategien, oder auch nur als Bereiche, weI-
che die Zyklen durchlaufen. Entsprechend soll der Begriff "Parteien" alle
möglichen Fälle abdecken. Was es festzustellen gilt, ist die Verbindung zwi-
schen verschiedenen Aspekten ökonomischer Systeme und den Dimensionen
der Externalitäten, dies zumindest als zu überprüfende Hypothesen.
Die Externalitäten werden nun unter denselben Überschriften angeordnet
wie im Falle der Schulen: Individualismus versus Kollektivismus, Vertika-
lität versus Horizontalität, Monetarisierung, Verarbeitung und Expansion.
Wir werden mit den der Blauen Schule zugeschriebenen Externalitäten be-
ginnen, und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem wir oben mit der Blauen
Schule begannen: weil sie die Mutter aller zeitgenössischen Schulen ist.
Die nachstehende Tabelle kann horizontal gelesen werden, als Zusammen-
fassung der Hypothesen über die Schäden, die in den sechs Räumen verur-
sacht werden, und vertikal, als Zusammenfassung der Externalitäten, die ei-
nem besonderem Aspekt der Blauen Ökonomie zugeschrieben werden. Das
Gesamtschema gliedert die Blaue Ökonomie in fünf Komponenten und faßt
deren Auswirkungen in den sechs Räumen zusammen. Das Schema erfaßt
die meisten Defizite des "Kapitalismus" und versucht zugleich, sie auf die
Komponenten (die "Syndrome") zurückzuführen. Doch wird, wie oben dar-
gelegt, der Begriff "Kapitalismus" der Komplexität des Blauen Wirtschafts-
systems bzw. des "Smithismus" kaum gerecht.
Ist dieses Schema nicht zu negativ? Zunächst ist zu sagen, daß die Interna-
litäten nicht mit aufgeführt sind. Es ist nicht zu leugnen, daß die Blaue Öko-
nomie eine überwältigende Menge an Gütern und Dienstleistungen von
überwältigender Unterschiedlichkeit und hoher Qualität produziert und damit
einen materiellen Lebensstandard ermöglicht, von dem frühere Zeitalter nicht
einmal geträumt hätten. Zudem erwähnt die Tabelle mit den Auswirkungen
von Verarbeitung und Expansion in den Räumen Person, Gesellschaft und
Welt einige der Hauptvorzüge des Blauen Systems (zusätzlich zu dem ziem-
lich offensichtlichen, dem Profit, doch gehört dieser zu den Internalitäten):
Herausforderung, Ungewißheit, Kreativität, Risikobereitschaft, Anregung
ganz allgemein. Kapitalismus macht Spaß, um es einmal so zu sagen. Natür-
lich macht er Arbeitern weniger Spaß, die bei Industrieunfällen (wie er-
wähnt) getötet werden; und Forschung, Ausbildung, Wissen, militärische
Macht, allgemeine Macht und Kompetenz sind vielleicht hauptsächlich den
Eliten zugänglich.
Die Externalitäten 281

Tabelle 3.7: Extemalitäten 11: Externalitäten der Blauen Ökonomie


Raum Individualismus Vertikalität Monetarisie- Verarbeitung Expansion
rung

Erschöpfung Erschöpfung Ver-


Natur Verschmutzung schmutzung

Person Einsamkeit Entfremdung Materialismus Herausforderung Herausforderung


Alkoholismus Drogensucht Konsumismus Ungewißheit Risikoübernahme
Wurzellosigkeit Langeweile Korruption Kreativität Erregung
Scheidung Elend Prostitution Unfälle Handelskrieg
gespaltene Tod Kriminalität Krankheiten Tod
Farnilien
GeseU- Fragmentierung Segmentierung Warenkultur Herausforderung Herausforderung
schaft Marginali- Penetration internes Dynamismus Dynamismus
sierung Ausbeutung Wettrüsten Forschung militärische
Unterdrückung Ausbildung Macht
Ungleichheit allgemeine Wissen
innere Schuld Kompetenz allgemeine Macht
Gewalt
innerer Krieg
Vertikalität
bzgl. Alter,
Geschlecht,
Rasse, Klasse
und Kultur
Welt Fragmentierung Segmentierung Warenkultur Herausforderung Herausforderung
(Raum) Margina- Penetration externes Dynamismus Dynamismus
lisierung Ausbeutung Wettrüsten Forschung militärische
Unterdrückung Ausbildung Macht
Ungleichheit allgemeine Wissen
äußere Schuld Kompetenz allgemeine Macht
Gewalt
äußerer Krieg
Vertikalität
bzgl. Alter,
Geschlecht,
Rasse, Klasse
und Kultur
Ge- Fragmentierung Kolonialisier- Warenkultur totale Degradie- totale Revolte
schichte Marginalisie- ung der Zu- rung
(Zeit) rung kunft
Kultur epistemlogischerepistemologi- Kosten- Nut- Mittel-Zweck- Welt- Monokultur
Atomismus scher Dedukti- zen- Analyse Orientierung
vismus
282 Entwicklungstheorie

Doch auch wenn es in der Blauen Schule und ihrer Auffassung von Indivi-
dualismus - Vertikalität - Szientismus (Messweise) - Naturbeherrschung (Ver-
arbeitung) - weltweiter Expansion einen gemeinsamen kulturellen Code gibt,
bleibt die Blaue Schule unter Anklage. Was wäre von einer Alternative zu
fordern?

Tabelle 3.8: Externalitäten III: positive und negative Externalitäten


Raum Positiv Negativ
Natur Vielfalt ErschöpfunglRaubbau
Symbiose Verschmutzung
Person Überleben Tod, Unfälle
Gesundheit Modernisierungskrankheiten
Wohlbefinden, Lebensunterhalt Elend, Entbehrung
Herausforderung, Vergnügen Monotonie, Langeweile
Identität, Selbst- Entfremdung, Selbst-
Steuerung Verkümmerung
Freiheit Unterdrückung
Gesellschaft Horizontalität, Gerechtigkeit Vertikalität, Ausbeutung
Autonomie Penetration, Konditionierung
Integration Segmentierung
Solidarität Fragmentierung
Partizipation Marginalisierung
Mobilität, Dynamismus Stagnation
soziale Gerechtigkeit soziale Ungerechtigkeit
Weit Horizontalität, Gerechtigkeit Vertikalität, Ausbeutung
Autonomie Penetration, Konditionierung
Integration Segmentierung
Solidarität Fragmentierung
Partizipation Marginalisierung
Mobilität, Dynamismus Stagnation
soziale Gerechtigkeit soziale Ungerechtigkeit
Zeit Nachhaltigkeit Degradierung
Kultur Pluralismus Singularismus

Die Spalte der Positiva in Tabelle 3.8 gibt eine Antwort auf unsere Frage.
Hinter dieser Spalte steht eine einfache Logik. Für den Raum der Natur wur-
den die bei den Bedingungen für ökologische Elastizität verwendet, für den
Raum der Person die vier Bedürfniskategorien (unter expliziter Hinzufügung
allerdings der Gesundheit zum Wohlbefinden und der Herausforderung zur
Identität); für den Raum Gesellschaft wurden die fünf Faktoren verwendet,
die Frieden bzw. Entwicklung strukturell definieren, jedoch unter Hinzufü-
gung von Dynamismus und sozialer Gerechtigkeit; genau dasselbe geschah
im Raum Welt, da es sich hier ebenfalls um einen gesellschaftlichen Raum,
nur von höherer Komplexität, handelt; für Geschichte/Zeit stehen Nachhal-
Die Extemalitäten 283

tigkeit oder Reproduktionsfähigkeit und für Kultur schließlich Pluralismus


als Gegensatz zur Welt-Monokultur als einer Ursache wie Wirkung des
Blauen Systems. 233
Die Liste ist immer noch kompliziert, die folgende Tabelle fällt einfacher
aus. Die Externalitäten finden sich alle in den Tabellen 3.7 und 3.8, aber die-
se Kurzversion mag auch der Kontrolle dienen, ob und wie ökonomische
Ströme den Vorrat abtragen. 234

Tabelle 3.9: Externalitäten IV: positive und negative Externalitäten


Natur Mensch Gesellschaft Weit Zeit Kultur
Vielfalt Wohlbefinden Horizontalität Horizontalität Reproduk- Holismus
Symbiose Herausforde- Solidarität Solidarität tionsfähigkeit Idealismus
rung, Identität

Erschöpfung Elend Vertikalität Vertikalität Degradierung Atomismus


Verschmut- Monotonie Individua- Nationalismus Materialis-
zung Entfremdung lismus mus

233 Das Blaue System kennt keine Grenze in Zeit und Raum, auch nicht im Raum Ge-
sellschaft, und ist doch zur gleichen Zeit ein sehr mächtiger Träger des kulturellen
Codes eines expansionistischen Okzidents. Das System hält sich selbst für universell
und überzeitlich, da kontextunabhängig. Natürlich schlägt es tiefere Wurzeln, wenn
der Boden schon empfänglich oder, etwa durch Kolonialismus, schon bereitet ist.
234 Der VorratlFluß (stocklflow)-Diskurs stellt das Externalitätenproblem in eine weitere
Perspektive: Erschöpft der Fluß den Vorrat/das Kapital oder füllt er sie wieder auf?
Die untere Reihe negativer Externalitäten in Tabelle 3.9 stellt diese Fragen hin-
sichtlich des Kapitals in den Bereichen Natur, Mensch, Gesellschaft, Welt, Zeit und
Kultur. Genauer: Übersteigen Raubbau und Verschmutzung das Maß, mit dem die
Natur umgehen kann, dann wird das Kapital dezimiert. Übersteigen Elend, Monoto-
nie und Entfemdung (einschließlich der einfachen Form der Einsamkeit) das Maß,
mit dem eine einzelne Person umgehen kann, dann wird das Kapital an vitaler Kraft,
Liebe und Kreativität dieser Person aufgezehrt. Zuviel Vertikalität und individuelle
Mobilität - wenn die Menschen also einander aus den Augen verlieren und sich nur
noch maschinelle Botschaften zukommen lassen - verschleißt das strukturelle Kapi-
tal einer solchen Gesellschaft (Destrukturierung). Im Falle der Welt, ärmlich, wie sie
strukturiert ist, im wesentlichen anarchisch/feudal, gibt es nicht allzuviel Kapital, das
sich erschöpfen könnte, aber gewiß zehrt der Nationalismus von dem bißchen, was
da ist.
Nimmt man alles zusammen, besteht das Ergebnis in allmählicher Degradierung, u.
U. mit zunehmender direkter und struktureller Gewalt. Atomismus und Materialis-
mus allein halten keine adäquaten kulturellen Antworten auf diese großen Probleme
bereit; sie selbst müssen gemildert werden durch Holismus und Spiritualität (um
Idealismus zu begründen). Anders gesagt, auch das kulturelle Kapital wird aufgefres-
sen, zumal durch die Ökonomie. Zusätzlich zur Destrukturierung findet sich also
noch Dekultivierung.
284 Entwicklungstheorie

Die mit der wirtschafts wissenschaftlichen Literatur mehr oder weniger Ver-
trauten sollte ein Blick auf die Tabellen 3.6 - 3.9 überzeugen, daß dies nicht
diejenigen Variablen sind, denen gemeinhin im Diskurs der Mainstream-
Ökonomie Beachtung geschenkt wird. Ebensowenig werden sie explizit von
den hauptsächlichen wirtschaftlichen Akteuren, etwa den Multis (TNCs), in
Betracht gezogen, noch werden sie monetarisiert. Eine Ausnahme stellen im
Hinblick auf diese drei Punkte die Externalitäten im Raum der Natur dar: Sie
werden, als Erschöpfung und Verschrnutzung, in die Theorie und Praxis ein-
bezogen, und sie werden monetarisiert, indem man die Wiederherstellung des
Dezimierten und die Säuberung des Verschmutzten kostenmäßig erfaßt. Wir
werden später untersuchen, warum von allen Externalitäten gerade diese in-
ternalisiert wurden.
Eine umfängliche Literatur versucht, die Beziehung zwischen einem öko-
nomischen System und diesen oder anderen Externalitäten zu dokumentieren.
Die meisten Hypothesen folgen aus der Definition der Schulen, was nicht
heißt, daß man sie nicht überprüfen sollte. Doch sind derartige Überprüfun-
gen in der Praxis schwierig angesichts der Komplexität konkreter Fälle. Un-
sere Aufmerksamkeit gilt jedoch hier eher den Ursachen und Wirkungen des
Ausschlusses dieser wichtigen Variablen aus der ökonomischen Theorie, und
eben dies ist das Thema des folgenden Abschnitts 3.3.

3.3 Zwanzig Thesen über Externalitäten

These Nr. 1: Variablen sind nicht deshalb Externalitäten, weil sie bedeu-
tungslos sind, sondern weil ihre Beachtung sich sowohl auf die ökonomische
Theorie als auch auf die ökonomische Praxis stark auswirken würde.
Schenkte man ihnen Beachtung, dann wären die Kosten in beiden Fällen be-
trächtlich: eine Meta-Externalität. Externalitäten werden also zu so etwas wie
dem unsichtbaren Teil des Eisbergs, sie sind immer da, doch dürfen sie nie
explizit erwähnt werden. Würde die ökonomische Theorie irgendetwas von
dem, was in den Tabellen 3.6-3.9 unterstellt wurde, in Betracht ziehen, viel-
leicht sogar derart, daß einigen dieser Gesichtspunkte - z.B. den grundle-
genden Bedürfnissen von Mensch und Natur - ein Platz im Herzen der öko-
nomischen Theorie eingeräumt würde, dann müßte diese Theorie vollständig
neu entwickelt werden und wäre nicht mehr ökonomische Theorie im ge-
wöhnlichen, engen Sinne. Dasselbe gilt für die ökonomische Praxis der großen
Akteure. Kleinere ökonomische Akteure können jedoch sehr viel ex-
ternalitätenbewußter sein, ebenso wie Politiker, da negative Externalitäten dazu
neigen werden, auf sie zurückzufallen, und dies oft mit allem Nachdruck.
Es steht daher nicht zu erwarten, daß die Mainstream-Ökonomien imstan-
de sein werden, selbst die Kosten dieser Meta-Externalität zu übernehmen.
Die Externalitäten 285

Eher werden sie die Aufgabe aufschieben, sie aufs Geratewohl angehen oder
den Fokus derart ändern, neu definieren, daß die Externalitäten der Theorie
entsprechen anstatt anders herum. Ein Umbau wird wahrscheinlich eher von
außen angestoßen werden müssen, durch die Produktion breiter angelegter
Diskurse und umfassenderer Theorien.

These Nr. 2: Externalitäten sind nicht notwendigerweise negativ, sondern


können auch positiv sein; und Internalitäten sind nicht zwangsläufig positiv,
sondern können auch negativ sein.
Für die Externalitäten ist dieser Punkt zu einem Teil der Definition gemacht
worden, er ist jedoch der Wiederholung wert wegen der Tendenz (in der Kri-
tik der Linken), den Kapitalismus als stets nur auf Profit ausgerichtet und
seine Nebenwirkungen als ausschließlich negativ zu charakterisieren. In bei-
derlei Hinsicht ist eine ausgewogenere Betrachtungsweise erforderlich. Die
Geschichten aller Wirtschaftssyteme sind auch in roter und nicht nur in
schwarzer Tinte geschrieben; es gibt Konkurse und Tragödien, nicht nur
pralle Geldbörsen und fette Bankkonten. Jene Aspekte der wirtschaftlichen
Realität und der Wirtschafts wissenschaft, denen kein Beifall gezollt wird,
sollten zusammen mit jenen Aspekten erwähnt werden, die gefeiert werden,
bei den Externalitäten ebenso wie bei den Internalitäten. Die Produkte wirt-
schaftlichen Handeins sind sowohl gut als auch schlecht (both goods and
bads), sowohl nützlich als auch schädlich (both services and disservices).
Sich in der Darstellung auf "Güter und Dienstleistungen" zu beschränken, ist
bloße Propaganda, das entgegengesetzte Muster aber auch.

These Nr. 3: Externalitäten sind nicht nur Folgen und Wirkungen und Out-
puts, sondern auch Bedingungen und Ursachen und Inputs.
Insbesondere gibt es kulturelle Dispositionen, die sehr ernst genommen wer-
den müssen; einige finden Beifall, andere nicht. In tabellarischer Form:

Tabelle 3.10: Externalitäten V: positiv/negativ; Input/Output


Positiv Negativ
Inputs Harte Arbeit Ersparnisse Habgier Rücksichtslosigkeit
Outputs Herausforderung Dynamismus Erschöpfung Verschmutzung

Die Tabelle erfüllt eine sehr einfache Funktion: Sie veranschaulicht die Ge-
fahr, sich auf bloß eine Zeile oder bloß eine Spalte zu konzentrieren - von
der Beschränkung auf bloß ein Element der Tabelle ganz zu schweigen. All
diese Faktoren spielen bei der Konstitution der Totalität der ökonomischen
Zyklen zusammen, gemäß Myrdals berühmter "kumulativer und zirkulärer
Verursachung" .
286 Entwicklungstheorie

These Nr. 4: Je niedriger die Anzahl der Internalitäten, desto größer die
Freiheit des wirtschaftlichen Akteurs, da weniger Variablen berücksichtigt
werden müssen. Dem entspricht: Je niedriger die Anzahl der Internalitäten,
je einfacher die Konstruktion widerspruchsfreier, sogar mathematisierter
ökonomischer Theorien auf der Grundlage einer niedrigen Anzahl von Va-
riablen und von Axiomen und möglicherweise versehen mit hoher Erklä-
rungskraft. 235
In bei den Fällen dient die Bezeichnung einer Variablen als "Externalität" der
Entlastung des wirtschaftlichen Praktikers und Theoretikers, indem sie dazu
berechtigt, diese aus der Betrachtung auszuschließen. Offensichtlich ist es im
Interesse beider, die Menge der Internalitäten im Vergleich zur Menge der
Externalitäten sehr zu beschränken, vorausgesetzt, es gelingt ihnen, den Rest
der Gesellschaft davon zu überzeugen, daß Handeln im Rahmen der Pseudo-
realität der Internalitäten sinnvoll ist und im Interesse des Rests der Gesell-
schaft (oder zumindest ihrer Eliten) liegt.
Bedenken wir ein wichtiges Korollar dieser Einsicht. Eine gewisse progno-
stische Kraft einer ökonomischen Theorie, die auf einer nur geringen Anzahl
von Internalitäten beruht, beweist nicht die Irrelevanz von Externalitäten, da
sich selbst erfüllende Prophezeiungen am Werk gewesen sein könnten. Wer
darauf trainiert wurde, nur Internalitäten zu berücksichtigen, wird sich entspre-
chend verhalten und Konsequenzen bloß in Begriffen von Internalitäten bemer-
ken. Wenn Menschen nur oft genug gesagt wurde, "daß wir dieses Spiel wegen
des Profits spielen", dann werden sie glauben, daß Rücksichtnahme, hier ver-
standen als Sensibilität für negative Externalitäten, nur ein Zeichen von Charak-
terschwäche und mangelnder Eignung für den betreffenden Job ist. Natürlich
ist die ökonomische Theorie, die für Externalitäten blind ist, eine Abstraktion
einer höchst komplexen Realität, doch kann diese Pseudorealität, in der dann
der homo oeconomicus handelt, in ihren Folgen wirklich werden. 23•

235 Ist die Anzahl der Axiome n und die Anzahl der abgeleiteten Theoreme N, dann ist
die Formel I-nIN ein Maß der Erklärungskraft; je niedriger n und je höher N, desto
größer ist sie! Bevor der Druck erfunden wurde, muß diese Formel auch eine wich-
tige mnemotechnische Erfindung gewesen sein. Die Menschen müßten nur eine
Handvoll Axiome sowie die Deduktionsgesetze parat gehabt haben, um eine riesige
Menge an Wissen reproduzieren zu können. Jedoch liegt die eigentliche Macht eines
axiomatischen Systems eher in dessen Fähigkeit, neues Wissen zu produzieren mit-
tels der Deduktion neuer, überraschender Einsichten, die mit der Wirklichkeit über-
einstimmen. Dieses intellektuelle Verfahren hat Pyramidenform, mit einem mehr
oder weniger spitzen Scheitel (das hängt von der Anzahl der Axiome ab), und könnte
dem Bild eines Rades kontrastiert werden, gemäß dem die Theorien zu zweit, zu dritt
etc. kombiniert und dann auf mögliche neue, synergistische Einsichten hin überprüft
würden. S. hierzu Johan Galtung: "Back to the Origins: on Christian and Buddhist Epi-
stemology", in: ders.: Methodology and Development, Kopenhagen 1988, S. 15-27.
236 Hier handelt es sich um das berühmte Theorem der Soziologen Thomas und Zna-
niecki über sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Die angesprochene Pseudorealität
Die Extemalitäten 287

These Nr. 5: Die Einteilung in IntemalitäteniExtemalitäten wird reflektiert


von und ist eine Widerspiegelung der kognitiven Topographie, die ökonomi-
sche Praktiker und Theoretiker unbewußt in ihren Köpfen mit sich herumtra-
gen, und die einige Bereiche der Räume Natur, Person, Gesellschaft, Welt,
Zeit und Kultur herabstuft und ökonomische Bereiche, die durch die In-
temalitäten definiert werden, höherstuft.
Diese Geographie stammt größtenteils von der abendländischen Kosmologie
ab, mit ihrer Herabstufung der Natur, dem tiefen Riß zwischen Körper und
Seele (der den Händlern/Ökonomen den Dienst am Körper und den Priestern!
Künstlern den Dienst an der Seele überlässt), dem Individualismus bzw. der
Vertikalität in Gesellschaft und Welt, der Vorstellung vom Fortschritt in der
Zeit und mit ihrer Kultur der nur einen Wahrheit, die stets und überall Gel-
tung beansprucht und alle anderen Systeme bedeutungslos macht.
Die Herabstufung einiger Bereiche kann auch als Trennung der sechs
Räume in innere (Kern) und äußere Sektoren zum Ausdruck gebracht wer-
den, wie die folgende Tabelle deutlich macht. Hier reflektiert die linke Spalte
das Zentrum der globalen Wirklichkeit dieser Konstruktion, die rechte Spalte
die Peripherie. Und die gängige Ökonomie wird gemacht im, für das und
vom Zentrum.

Tabelle 3.1 I: Eine Aufteilung der Räume in innere und äußere Sektoren
Innerer Sektor Äußerer Sektor
Natur Homosphäre (wir) alle anderen Sphären (es)
Person Körper/Materielles (ich) SeeleINichtmaterielles (es)
Gesellschaft Ober-/Mittelklassen Arbeiterklasse/U nterschicht
Sekundär-rrertiärsektoren Primärsektor
männliche, erwachsene Ökonomien weibliche, Kinderökonomien
Gruppenzugehörige (wir) Gruppenfremde (sie)
Welt Erste und Vierte Welt Zweite und Dritte Welt
hier;MDCs dort;WCs
Zeit Gegenwart Zukunft
;etzt, berechenbar dann, unberechenbar
Kultur gängige Auffassungen (unsere) Gegentendenzen (ihre)

hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Laboratorium der Naturwissenschaften. Der
Unterschied besteht darin, daß in der Pseudorealität des Laboratoriums die für die
Beziehungen zwischen X und Y relevanten Bedingungen, die unabhängigen und ab-
hängigen (Mengen von) Variablen, entweder konstant gehalten (Druck, Temperatur)
oder unwirksam gemacht werden (Lautstärke, Wind); in der Pseudorealität der gän-
gigen Ökonomie dagegen werden die relevanten Bedingungen unwirksam gemacht,
indem sie als Externalitäten verabschiedet werden.
288 Entwicklungstheorie

These Nr. 6: Externalitäten sind sektorenbewußt, was impliziert, daß negati-


ve Werte die äußeren Sektoren treffen und positive Werte dem inneren Sektor
zukommen werden.
Dieser innere, auf die Gruppe bezogene Sektor ist derjenige, in dem Externa-
litäten implizit oder sogar explizit mitbedacht werden. "Nur-Internalitäten"-
Ansätze betreffen Transaktionen mit dem äußeren Sektor. Wie in den Sozial-
wissenschaften: Fragebögen sind nicht für den internen Gebrauch bestimmt.
Die Befragung der eigenen Ehefrau: "Wie hast Du letzte Nacht geschlafen?
Sehr gut, schlecht, sehr schlecht, weiß nicht, keine Antwort", könnte in's
Auge gehen und den Fragesteller selbst in's Spiel bringen.

These Nr. 7: Die Einteilung der Räume in Sektoren bietet aus der Sicht des
inneren Sektors zwei Arten möglicher Fehlfunktionen ökonomischer Systeme:
Fehlertyp I: wenn negative Externalitäten den inneren Sektor treffen; und
Fehlertyp 11: wenn positive Externalitäten dem äußeren Sektor zugute kom-
men.
Fehler vom Typ I können zur Internalisierung der Externalität führen und!
oder zu politischem Handeln. Ein deutliches Beispiel stellt die Ober- und
Mittelschicht-Ökokrise der Ersten Welt in den 70er Jahren dar, mit der sich
nachdrückliche politische Forderungen nach einer neuen Praxis verbanden,
was so weit ging, daß Wirtschaftswissenschaftler die ökonomische Theorie
öffneten, um Erschöpfung und Verschrnutzung mitberücksichtigen zu kön-
nen. Natürlich hatten Ökokrisen und -katastrophen schon immer Notlagen für
die Unterschichten sowie die Zweite und die Dritte Welt mit sich gebracht,
ohne daß dies nennenswerte Konsequenzen für die Praxis und Theorie der
Ökonomie gehabt hätte.
Die wirtschaftliche Krise der Ersten Welt zu Anfang der 90er Jahre traf
auch die Ober- und die Mittelklassen mit Konkursen, der Aufdeckung anrü-
chiger Praktiken und der Bedrohung der sozialen Sicherheit und der Renten-
fonds. Wirtschaftliche Unsicherheit ist nichts Neues, doch ging die Debatte
nun los, der Diskurs weitete sich, und das nicht zu Erwähnende - einige der
Externalitäten -, wurde erwähnt. Zumindest zeitweise wurde die ,virtual
reality'-Illusion, die Illusion also, die Wirtschaft falle mit dem von der Wirt-
schaftstheorie Vorgesehenen zusammen, aufgegeben.
Fehlertyp 11 kann zu neu strukturierter Praxis führen; als Beispiel diene
hier der Versuch, die sozialistische und andere auf sich selbst vertrauende
Wirtschaften zu zerstören, wie etwa von den USA auf dem amerikanischen
Kontinent praktiziert. Die Hypothese würde lauten, daß dieser Versuch nicht
nur dem Ziel diente, diese Ökonomien wieder als Märkte zu öffnen, die ab-
hängig sind von Produkten der Ersten und der Vierten Welt. Er sollte auch
verhindern, daß diese Ökonomien von einer wichtigen positiven Externalität
Die Extemalitäten 289

profitierten, von der Herausforderung nämlich, schwierige Verarbeitungs-


probleme selbständig lösen zu müssen, wodurch sie sich schließlich selber,
stetige Verbesserung dieser Kapazitäten einmal unterstellt, weiterentwickeln
würden.

These Nr. 8: Indem sie Extemalitäten gerade dann aus der Analyse aus-
schließen, wenn sie den inneren und den äußeren Sektor in unterschiedlicher,
jeweils tiefdringender Weise in Mitleidenschaft ziehen, werden die herr-
schenden Wirtschaftstheorien und -systeme zugleich auch geschützt, da die
Kritik nicht innerhalb des herrschenden und daher legitimen Diskurses for-
muliert werden kann.
Der Bluff besteht in der Vortäuschung, daß wirtschaftliche Transaktionen nur
in dem bestehen, was über den Tisch geht (die Spitze des Eisbergs), nicht in
dem, was sich unter dem Tisch abspielt (der unsichtbare Teil des Eisbergs).
Als Beispiel für eine Internalität können die Austauschbedingungen (terms of
trade) gelten, das Verhältnis zwischen den Mengen von Produkten, die in ei-
nem Kauf gehandelt werden."7 Als Beispiel einer positiven Externalität kann
die Herausforderung dienen, für negative Externalitäten mögen Erschöp-
fungNerschmutzung stehen. Kommt ein Handel zustande, indem Rohstoffe
von LDCs in MDCs exportiert werden, dann können drei Dinge geschehen:
Die Austauschbedingungen können für die LDCs schlecht, ihre Situation
vielleicht noch verschlimmernd, sein; die Herausforderung kann an die
MDCs gehen, die das Instrumentar für den Abbau der Rohstoffe ent-
wickelten; und zusätzlich mag ernsthafte Erschöpfung die Folge sein. Macht
die ökonomische Theorie nur die Internalität sichtbar (und diese Theorie, die
sich mit den Namen ECLA, der Wirtschaftskommission der UN für La-
teinamerika, und Raul Prebisch verbindet, hatte große Schwierigkeiten ak-
zeptiert zu werden), dann vergißt man die ungleiche Herausforderung und
die Erschöpfung, und nur die Tauschbedingungen finden Aufmerksamkeit.
Vom Standpunkt eines MDC aus betrachtet, könnte die Situation kaum
günstiger sein. Die Austauschbedingungen entwickeln sich, sieht man von
fossilen Brennstoffen (Öl usw.) einmal ab, zu ihren Gunsten; und zusätzlich
zu den günstigen Handelsbedingungen schlägt auch noch die positive Exter-
nalität der Herausforderung positiv bei ihnen zu Buche, während die negative
Externalität der Erschöpfung an die LDCs geht. Und das allerbeste: Da es
sich um Externalitäten handelt, bleibt der größte Teil des Vorgangs un-
sichtbar.

237 Wie etwa diejenige Menge Bananen, die für ein Barrel Öl, oder die Menge Öl, die
für einen Traktor, oder die Anzahl von Traktoren, die für eine(n) Bomber/Cruise
Missile!Atombombe benötigt wird.
290 Entwicklungstheorie

These Nr. 9: Negative Externalitäten vermögen mehr, als nur die Gewinne
zu beseitigen, die positiven Internalitäten zu verdanken sind.
Die heutige Weltwirtschaft ist Blau, mit ein paar Handvoll Rot und Grün und
Rosa und mit Gelb als der bedeutendsten Herausforderung für Blau. Sie alle
lösen einige Probleme und bringen andere hervor. Negative Externalitäten
gibt es überall. Wie werden diese negativen Externalitäten behandelt?
- In der Ersten Welt, indem für jede vom Kapital angerichtete ,Schweinerei'
staatliche Institutionen für deren Beseitigung eingerichtet werden, wie
Krankenhäuser und Gefängnisse für den Überschuß an Kranken· und
Kriminellen, Ministerien für Umweltschäden, soziale Sicherheit, Beschäf-
tigung, Krieg usw. Schließlich gibt es den Export von negativen Externa-
litäten in die Dritte Welt (z.B. Müll).
- In der Zweiten (ehemals sozialistischen) Welt erlaubten die undemokrati-
sehen Verhältnisse der kommunistischen Führung, Externalitäten zu igno-
rieren, indem sie sie unsichtbar hielten, und in der Konsequenz widmete
man ihnen keine ernsthafte Aufmerksamkeit. Auch herrschte die ideologi-
sche Einstellung vor, eine sozialistische Ökonomie könne keine negativen
Externalitäten haben.
- In der Dritten Welt werden negative Externalitäten gewiß empfunden,
doch gibt es nicht genug Geld, um Institutionen zu errichten, die imstande
wären, mit ihnen umzugehen. Die Folge ist eine allgemeine Verschlechte-
rung: nur geringer Profit aufgrund der Internalitäten, enorme Kosten auf-
grund von Externalitäten, daher Reproduktion der Unterentwicklung. Und
keine Möglichkeit des Exports von bearbeiteten (Fertig-)Produkten.
- In der Vierten Welt ist die Situation der der Ersten Welt relativ ähnlich, wo-
bei ein großer Unterschied darin zu sehen ist, daß der Staat mehr Kontrolle
über die Korporationen hat, alle Beziehungen koordinieren und auf negative
Externalitäten mit angemessenen wirtschaftlichen Anreizen reagieren kann -
wenn genügend politischer Druck von Rot, Rosa und Grün kommt.
Das globale Bild: Ungleichheit wird reproduziert und verstärkt, und das auf
mehr oder weniger gleichbleibender Grundlage, solange diese Entwicklung
zugelassen wird - bis jetzt also seit etwa 200 Jahren, seit Smith und Ricardo.

These Nr. 10: Positive Externalitäten vermögen mehr, als die Verluste aus-
zugleichen, die durch negative Internalitäten entstanden sind.
Die Kapazität, die entwickelt werden muß, um einem herausfordernden Auf-
trag zu entsprechen, kann es als wertvoller erscheinen lassen, eher für den
Erhalt des Auftrags zu zahlen, als für die Produkte bezahlt zu werden. Die
Frage ist, wie solche Herausforderungen aufgenommen werden:
In der Ersten Welt geht die Herausforderung an die Person, die über das
Kapital (der Finanzexperte oder der Besitzer) oder über die Technologie
Die Extemalitäten 291

(der technische Manager) verfügt, oder an den Manager (den Vorstand).


Diese Person kann einen Teil der Herausforderung mit anderen Personen
auf derselben Ebene teilen. Die allgemeinen Effekte werden im Innern der
herausgeforderten Person verbleiben, die dadurch z.B. ihren Job wechseln
und die erworbenen Fähigkeiten, als ihr Eigentum, woanders einbringen
kann.
In der Zweiten (ehedem sozialistischen) Welt betraf die Herausforderung
eine sehr kleine Gruppe von Planem, und zwar derart, daß diese über-
fordert und der Rest der Bevölkerung unterfordert waren. Die Auswirkun-
gen verblieben vielleicht in den staatlichen Planungsinstanzen, waren je-
doch nicht so positivaufgrund des übermäßigen Herausforderungsan-
spruchs.
In der Dritten Welt ist sehr oft der Außenseiter, der Experte für Entwick-
lungshilfe, herausgefordert, der die Aufgabe als höchst anregend empfin-
det, besonders, wenn er über mehr Macht als zu Hause verfügt und sich
solcher Methoden bedienen kann, die in seinem Heimatland verworfen
worden wären. Wenn er abreist, reisen freilich die positiven Nebenwir-
kungen mit ihm und werden seinem MDC-Land zugute kommen."·
In der Vierten Welt wird die Herausforderung wahrscheinlich an dieselben
Menschen gehen wie in der Ersten Welt, aber dann in Gruppendiskussio-
nen unter Einschluß der Arbeiter"> aufgeteilt werden, jedenfalls aber in
der Firma oder dem Ministerium verbleiben. Im Ergebnis kommt der Fir-
ma die geteilte Bearbeitung der Herausforderung zugute, derart, daß die
Ungewißheit verringert wird, bis eine Antwort, eine "Lösung" des Pro-
blems gefunden ist. Die positiven Wirkungen bleiben.
In diesem Vergleich des Umgangs mit Herausforderungen erscheinen der
individualistische Ansatz der Ersten und der eher kollektivistische der Vier-
ten Welt der Zuweisung von Herausforderungen nur an eine Handvoll Men-
schen, wie in der früheren Zweiten Welt, oder der Delegation an ausländi-
sche Experten, wie in der Dritten Welt, klar überlegen.2<O
Die Kernpunkte der Thesen 8, 9 und 10 können in der folgenden Weise
zusammengefaßt werden: Es ist kaum verwunderlich, daß der Abstand zwi-
schen den LDCs und den MDCs wächst. Es ist hier nicht die Rede von einer

238 Natürlich kann er etwas von dem, was er gelernt und erprobt hat, mit einer Person
vor Ort, seinem lokalen ,Gegenstück', teilen. Aber bei ihrem Versuch, ihr Wissen in
Status und Macht umzusetzen, wird diese sich leicht einsam fühlen und es zuletzt
vieIleicht vorziehen, ihrem Lehrmeister in dessen MDC-Land nachzuziehen.
239 Dies sind die berühmten "Qualitätszirkel". Vgl. auch W. E. Deming: Out 01 the Cri-
sis, Cambridge, MA 1991.
240 Die Tragödie der ehemals sozialistischen Länder besteht in der Umwandlung einer
schweren strukturellen Deformation in eine neue. An die SteIle der Monopolisierung
der Herausforderungen durch die Gosplan-Experten tritt nun die Monopolisierung
durch ausländische Experten.
292 Entwicklungstheorie

bewußten Verschwörung, um die LDCs unten zu halten, sondern von einem


Zusammenspiel der kulturellen Gewalt der herrschenden ökonomischen Theo-
rie und der strukturellen Gewalt der herrschenden ökonomischen Praxis.
Die Länder, die dies verstanden haben, sind die der Vierten Welt, die
schon seit langer Zeit ein ganz anderes Profil aufweisen als die LDCs in Zen-
tral- und Süd amerika und der Karibik, in Afrika und der Arabischen Welt, in
West- und in Südasien.'" Wenn diese Länder Erfolg gehabt haben, dann
müßte es auch für andre Auswege geben, obwohl wir nicht annehmen, daß
die Gesamtverursachung der Unterentwicklung durch die Handelsbeziehun-
gen gegeben ist. Kultur spielt ebenfalls eine bedeutsame Rolle."2
Und nun kann ich eine Definition von vielleicht dem Schlüsselbegriff je-
der Wirtschaft in Blau, Rot, Grün usw. geben, der zumindest so wichtig ist
wie der des Wachstums für die gängige Wirtschaftswissenschaft: Ausbeutung
(genauer gesagt: "schwache" Ausbeutung), auch bekannt als Ungerechtig-
keit, mit ihrer Negation, Gerechtigkeit:
Es besteht (schwache) Ausbeutung oder Ungerechtigkeit in einem wirt-
schaftlichen Zyklus, wenn die Totalität der positiven und negativen Wirkun-
gen von Internalitäten und Extemalitäten als Resultat wirtschaftlicher Aktivi-
tät ungleich verteilt ist. Andernfalls besteht Gerechtigkeit.
Diese Definition ist kreislauforientiert, sie beruht nicht nur auf Sätzen wie
"A beutet B aus,,"3 und beleuchtet auch die Ausbeutung der Natur. Dieser
Ausbeutung muß ein Schnippchen geschlagen werden. Danach kommt die
starke Ausbeutung: Diese zerstört zusätzlich die Fähigkeit zur Reproduktion.

241 So fielen 1992 19.9% des Welthandels auf die Europäische Gemeinschaft und 16%
auf die Vereinigten Staaten; dies ist immer noch das Ergebnis des explosiven öko-
nomischen Wachstums des ersten, jüdisch-christlichen Wachstumspols. Doch dann
folgen: Japan 12.1 %, Kanada 4.8%, Hongkong 4.2%, die Volksrepublik China 3.0%,
die Republik China 2.9%, Südkorea 2.7%, Schweiz 2.3%, und Singapur 2.3%. Der
Anteil der Länder Ostasiens beläuft sich auf 24.9% (zusammen mit Singapur aus
Südostasien 27.2%, mehr als ein Viertel des Welthandels). Ein ostasiatischer ge-
meinsamer Markt der (Mahayana-) buddhistisch-konfuzianischen Länder Japan,
China (zusammen mit Hongkong und Taiwan), (das vereinigte) Korea und Vietnam
wäre bereits heute der Welt stärkster Handelspartner, und die Vereinigten Staaten
zusammen mit Kanada (und Mexiko, NAFfA) die Nummer 2. Die Europäische Uni-
on würde nur Nummer 3 werden, wenn nicht eine bedeutende Erweiterung der Mit-
gliedschaft stattfände - dies nur als Hinweis auf die weltweite Dynamik. (Nach
GATT-Sekretariat, in: Neue Zürcher Zeitung vom 29. März 1993.)
242 Siehe Abb. 3.10 oben. Nur wenige Kulturen beinhalten alle vier für ökonomisches
Wachstum als notwendig postulierten Elemente: harte Arbeit, Ersparnisse, Gier,
Rücksichtslosigkeit.
243 In der früheren Version in "A Structural Theory of Imperialism" werden Inter-
nalitäten als das bezeichnet, was dem Muster des Austausches gemäß geschieht, und
Externalitäten als das, was als Ursache oder Wirkung dieses Austausches als Ein-
tausch firmiert. Diese Perspektive ist zu beschränkt: Internalitäten wie Externalitäten
fallen innen sowohl wie außen an.
Die Externalitäten 293

These Nr. 11: Die Analyse von Externalitäten muß holistisch vorgenommen
werden, unter Vermeidung der einseitigen Betonung allein eines Raumes (und
innerhalb jedes Raumes nur des unterdrückten Sektors), wie sie sich findet etwa
in den Traditionen des Ökologismus (für die Natur), der Schule der menschli-
chen Bereicherung (für den Raum Person), des Sozialismus (für den gesell-
schaftlichen Raum), der Dritte-Welt-Ideologie (für den Raum Welt), der Nach-
haltigkeit (für den Raum der Zeit) und der Gegenkultur (für den Raum der
Kultur): All dies ist lobenswert, aber in Verbindung miteinander, nicht einzeln.
Eine wahrheitsliebendere Wirtschaftswissenschaft würde Wissenswertes über
alle sechs Räume zusätzlich zu den traditionellen Themen der Wirtschafts-
wissenschaftler umfassen. Da diese dann die Ökologie, Psychologie, Sozio-
logie, Anthropologie, Politologie, die Lehre von den internationalen Bezie-
hungen, die Geschichte sowie Futurologie und die noch ausstehende Kul-
turwissenschaft (heute aufgeteilt zwischen Theologie, Philosophie, Ideen-
geschichte, Kulturanthropologie, Ethnologie und den Geisteswissenschaften)
umgreifen würde, könnte es scheinen, als würde hier ein bißchen viel ver-
langt. Doch wenn Wirtschaftswissenschaftler gelernt haben, sich der Mathe-
matik zu bedienen, ohne professionelle Mathematiker zu sein, dann sollten
sie fähig sein, auch mit anderen anspruchsvollen Agenden umzugehen.

These Nr. 12: Die Analyse von Externalitäten muß synergistisch vorgenom-
men werden, indem die Interaktion zwischen zwei oder mehreren Externalitä-
ten in ein, zwei oder mehreren Räumen betrachtet wird; dasselbe gilt für
Ketten und Zyklen innerhalb und außerhalb der Räume.
Die Beschränkung auf eine zu niedrige Anzahl oder eine zu einseitige Stich-
probe von Externalitäten kann ebenso kontraproduktiv sein wie die einseitige
Beschränkung auf Internalitäten. Auch sollte die Liste der Externalitäten im-
mer offengehalten werden, nie als "endgültig" betrachtet werden, um jeder-
zeit neues Licht auf das wirtschaftliche Geschehen werfen zu können. Listen
kommen und gehen, die Probleme bleiben.

These Nr. 13: Externalitäten können und sollten nicht monetarisiert werden:
erstens, weil dies unmöglich/bedeutungslos ist; zweitens, um von vornherein
Kosten-Nutzen-Analysen in Bezug auf Externalitäten zu behindern, die auf
Geschäfte mit Entitäten hinauslaufen, die sui generis sind; drittens aber, um
die Suche nach echten Lösungen nicht zu demotivieren.
Insbesondere vernachlässigt die Kosten-Nutzen-Analyse auf der Grundlage
der Vergleichbarkeit von Externalitäten untereinander absolute negative oder
positive Werte, mit anderen Worten moralische Absoluta wie etwa die Erhal-
tung der Vielfalt des Lebens oder die Ausmerzung des Elends. Mit diesen
darf weder gehandelt, noch können sie mit Geld aufgewogen werden. Auf
diesen Seiten werden die Bedürfnisse des Lebens durchgehend als positive,
die der Gewalt als negative Absoluta angesehen. Der Rest folgt dann hieraus.
294 Entwicklungstheorie

These Nr. 14: Die pragmatische Funktion der Monetarisierung bei Geschäf-
ten sollte nicht als Gültigkeitsbeweis betrachtet werden, sondern als Beweis
für die Macht, die der Ökonomismus immer noch besitzt, wenn er Tagesord-
nungen besetzt und Diskurse beherrscht.
Ökonomische Akteure, Versicherungsgesellschaften, Politiker fragen heute
alle nach dem Preis bzw. dem erhofften Geldwert. Dieser Ansatz ist fatal. Je-
de Externalität konstituiert ihr eigenes ethisches Universum und muß eigens
und ernsthaft behandelt werden; sie darf jedoch nicht monetarisiert werden,
um die anderen Externalitäten zu kompensieren. 244

These Nr. 15: Dieselben Externalitäten können und sollten bezüglich unter-
schiedlicher Akteure und über die Zeit hinweg miteinander verglichen wer-
den. Vergleichbarkeit hinsichtlich der Akteure und über die Zeit hinweg
sollte nicht apriori unterstellt, sondern als Hypothese betrachtet werden, die
in der Praxis und in Gesprächen überprüft werden muß.
Wir müssen wissen, wie sich eine Externalität im Verlauf der Zeit für densel-
ben Akteur entwickelt, und imstande sein, zwischen den Akteuren zu verglei-
chen. Doch muß die Operationalisierung von Externalitäten in Einheiten ge-
schehen, die für jede Externalität jeweils angemessen sind, was bedeutet, daß
sie nicht für einen Vergleich zwischen Externalitäten taugen.

These Nr. 16: Die Aufnahme von Externalitäten in die Theorie bedeutet, die
Wirtschaftswissenschaft in die Sozialwissenschaften zurückzuführen, so daß
sie die Widersprüche und allgemeinen Verlegenheiten dieser Wissenschaften
teilt, die sie durch die Aufteilung der relevanten Variablen in Internalitäten
und Externalitäten zu vermeiden suchte.
Dies ist der angestammte Ort der Wirtschaftswissenschaft, die vom Anspruch
lassen sollte, eine Naturwissenschaft zu sein, eine Art Mechanik, gerade
heute, wo nicht einmal die Physik eine Physik im klassischen Sinne zu sein
beansprucht. Wie in These Nr. 11 herausgestellt, ist dies eine bedeutende
Herausforderung, und es wird nicht leicht sein, ihr von innen heraus ange-
messen zu entsprechen. Doch nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie,
und die Mainstream-Wirtschaftswissenschaft ist nicht gut genug, um eine
vernünftige Praxis anzuleiten.
Zu vermeiden ist der Wechsel von der einseitigen Betonung der Interna-
litäten zur einseitigen Betonung der Externalitäten. Beide sollten betont und

244 Man betrachte zum Beispiel den oben in These Nr. 8 beschriebenen Handel. Mit den
LDCs wird in dreierlei Hinsicht kurzer Prozess gemacht. Nun können freilich die
MDCs sagen: "Gut, wir zahlen euch mehr für die Handelsgüter und stabilisieren au-
ßerdem die Preise; der Rest bleibt, wie er ist". Dies ließe sich dann als der Versuch
betrachten, die Probleme der mangelnden Herausforderung und der Erschöpfung der
Lebensvielfalt mit Geld zu lösen, ein wahrhaft unmögliches Unterfangen.
Die Externalitäten 295

in einem weiteren Rahmen integriert werden. Welche Variablen dabei zu be-


denken sind, wird immer Gegenstand von Diskussionen sein müssen. 245

These Nr. 17: Wenn das Ziel Gerechtigkeit in ökonomischen Zyklen ist, setzt
die Internalisierung der Externalitäten in der Praxis voraus:
(a) das Explizitmachen der Externalitäten unter Beachtung ihrer Eigenart,
(b) die Einrichtung von Dialogforen für die jeweilige Art ökonomischer Zy-
klen,
(c) die Zusammenarbeit bei der Verringerung negativer Externalitäten und
(d) die Zusammenarbeit bei der gleichberechtigten Nutzung positiver Exter-
nalitäten.
Dies zu explizieren, wurde für das herrschende Blaue System anhand der Ex-
ternalitäten I - IV unternommen, man vergleiche die Tabellen 3.6 - 3.9. Un-
ten in den Abschnitten 3.4 bis 3.7 wird der Schwerpunkt der Darstellung auf
den Externalitäten der anderen ökonomischen Systeme liegen. Diese Listen
können als Vorschläge für Tagesordnungen von Gesprächen zwischen öko-
nomischen Akteuren betrachtet werden, die auf der Suche nach besseren
wirtschaftlichen Systemen sind.
Ökonomische Akteure, die imstande sind, wirtschaftliche Ziele und Strate-
gien zu formulieren und zu verfolgen, können in territoriale und nicht-
territoriale eingeteilt und als Akteure auf der Mikro-, der Meso- und der Ma-
kroebene plaziert werden. Tabelle 3.12 liefert eine mögliche Typologie:

Tabelle 3.12: Eine Typologie ökonomischer Akteure


Territoriale Akteure Nicht-territoriale Akteure
Mikro-Ebene Haushalte, Bauernhöfe Stämme: Jäger, Sammler
Meso-Ebene Gemeinden Unternehmen, Handelsgesellschaften
Makro-Ebene Staaten Korporationen
Super-Staaten Multinationale Konzerne
Global Governance Verbindungen multinationaler Konzerne

Der Prototyp des Akteurs, das Handlungsatom, ist der Einzelne, und dieser
Akteur ist umso wichtiger, je individualistischer und vertikaler die zugrunde-

245 Aus vielen Gründen hat sich der vorliegende Text vor allem der Variablen QIP, KIN
und FIR bedient; QIP, weil sich hier genau widerspiegelt, wonach Käufer suchen und
wovon Verkäufer andere zu überzeugen versuchen, daß sie es anbieten; KIN, weil
sich diese mit vielen der Schlüsselexternalitäten verbindet; und FIR als begriffliches
Instrument, um das ökonomische Gesamtsystem in den Griff zu bekommen. Alle drei
können operationalisiert werden, doch ist dies nicht die Aufgabe des vorliegenden
Textes. Andere werden das weite Feld ökonomischen Handeins mit anderen Schlüs-
selvariablen betreten.
296 Entwicklungstheorie

liegende Kultur ist. Kollektive Akteure werden individualisiert und alle


Macht dem Boss gegeben - dem pater familias, dem Chef, dem Bürgermei-
ster, dem Besitzer bzw. Manager, dem Präsidenten, dem Geschäftsführer. Da
es sich bei all diesen fast immer um Männer handelt, haben wir es hier mit
einem der stärksten Mechanismen zu tun, wie durch das ökonomische Sy-
stem Patriarchate konstituiert werden. Die Wirtschaft wird für und durch
Männer gemanagt, während Frauen bei allen Akteuren, beginnend bei den
Haushalten, in die Arbeiterränge verbannt werden.
Wiewohl Dialoge aller Art in partizipatorischen gesellschaftlichen Syste-
men (wie Demokratien) nützlich sind, sind sie zwischen den Parteien öko-
nomischer Zyklen ganz und gar unentbehrlich für die Internalisierung von
Externalitäten, wodurch die Parteien Partner werden. Wir betrachten dann
ökonomische Zyklen als ein interaktives System, das Natur, Produzenten,
Distributoren und Konsumenten miteinander verbindet. Im Prinzip können
alle Typen der in Tabelle 3.12 dargestellten Akteure an den drei letzten
Knotenpunkten eines ökonomischen Zyklus auftreten, während die Natur als
sui generis betrachtet werden muß. Ein Grundproblem: Wie tritt die Natur in
den Dialog ein? Zum Teil, indem die Bedürfnisse der Natur von allen men-
schlichen Akteuren internalisiert werden; möglicherweise auch, indem man
menschliche Akteure gewisse Aspekte der Natur repräsentieren läßt. 246 Wie
auch immer die Antwort hier lautet, die Natur muß in diesen Dialogen vertre-
ten sein.

Tabelle 3.13: Eine Typologie wirtschaftlicher Dialoge


Natur Produzenten Distributoren Konsumenten
Natur Natur als
Vereinigung
Produzenten industrielle Vereinigungen
Verschmutzung von
Erschöpfung! Produzenten
Raubbau bzw. Arbeit-
nehmern
Distributoren Verschmutzung Statements über Vereinigungen
durchVer- Auswirkungen! von Distributoren
marktung Belastungen
Konsumenten Verschmutzung Statements über Statements über Vereinigungen von
durch Haushalte Auswirkungen! Auswirkungen! Konsumenten
Belastungen Belastungen

246 Mit anderen Worten: eine Art ombudsltUln-System für ausgewähltes Belebtes und
Unbelebtes (deren Anzahl ist so groß, daß es nirgendwo genug Menschen geben
wird, um sie aUe zu repräsentieren).
Die Extemalitäten 297

Auf der Hauptdiagonalen treffen sich Akteure desselben Typs; Handelskam-


mern stellen hier Beispiele für Vereinigungen dar, die Produzenten und Ver-
teiler zusammenbringen. Natur ist ein ewiger Dialog mit sich selbst, symbio-
tisch und anti-biotisch und nicht-biotisch; vielleicht werden wir eines Tages
diesen Dialog besser verstehen. Relativ jungen Datums sind Verbraucher-
vereinigungen, heute die größten internationalen Vereinigungen der Welt,
weit vor der Nummer 2, den Rot-Kreuz-Ligen und Roter-Halbmond-Gesell-
schaften. 247
Der Inhalt der Dialoge kommt im dritten und vierten Teil der These Nr. 17
zum Ausdruck: die Reduktion negativer und das Teilen positiver Externalitä-
ten. Natürlich sind diejenigen, die von den negativen Externalitäten am mei-
sten betroffen sind - im wesentlichen also Natur, Verbraucher, Arbeiter - am
stärksten motiviert, den status quo zu verändern, während diejenigen, die am
meisten davon profitieren, die Erzeuger und die Verteiler, motiviert sind, ihn
zu erhalten oder sogar zu verstärken. Die Kräfteverteilung ist heute relativ
klar ausgebildet: Erzeuger und Verteiler stehen zusammen der Natur und den
Verbrauchern gegenüber, wobei erstere Allianz sehr viel besser organisiert
ist. Die Stellung des Staates (oder des Super-Staates), dazwischen oder auf
der einen oder der anderen Seite, ist wichtig, aber nicht ausschlaggebend. 248
Origineller ist die gemeinsame Teilhabe an den positiven Externalitäten.
Die brilliante dänische Erfindung Lego (oder die schwedische Möbelfirma
IKEA oder jede Firma, die "do-it-yourself'-Kästen anbietet) können als Me-
taphern dafür herhalten, wie Erzeuger und Verbraucher die Externalität der
Herausforderung teilen können: Das Produkt ist noch nicht fertig. Aus die-
sem Gesichtswinkel sind die besten Erzeugnisse unfertige Erzeugnisse, un-
vollendet im grammatischen Sinne einer fortlaufenden Produktion, auch
nachdem das Erzeugnis den Verbraucher erreicht hat. Dies sollte nicht mit
niedriger Qualität verwechselt werden, obwohl auch diese als eine Herausfor-
derung fungiert. 24'

247 Die vier größten Internationalen Nichtregierungsorganisationen (INGOs) sind die


International Co-operative Alliance (663 Millionen Mitglieder in 86 Ländern), die
International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies (250 Millionen in
117 Ländern), die World Federation of Trade Unions (175 Millionen in 85 Ländern)
und die International Federation of Free Trade Unions (113 Millionen in 117 Län-
dern). (Angaben der Union of International Associations, Brüssel.)
248 In einer einigermaßen freien Gesellschaft können sich wirtschaftliche Akteure direkt
treffen und sich direkt verständigen, besonders, wenn oder sofern die Hauptaufgabe
des Staates nicht darin besteht, einen Dialog zu ermöglichen, sondern aufzuzeigen,
wo die Macht letztlich angesiedelt ist.
249 Ein Beispiel aus der Zeit der Kulturrevolution in China: Eine grundlegende Idee war
die größere Herausforderung der Arbeiter durch die Herausforderung des Monopols
der Ingenieure auf die Produktionsmittel. In der konkreten Situation in China ge-
schah dies dadurch, daß man die Arbeiter Maschinen reparieren ließ, die sehr oft zu-
298 Entwicklungstheorie

Das Musterbeispiel wären zwei territoriale Akteure, die ihre wirtschaft-


lichen Beziehungen aushandeln. Zusammenarbeit ist typischerweise dann ge-
fragt, wenn negative Externalitäten wie Erschöpfung und Verschrnutzung re-
duziert und positive, wie Herausforderung, geteilt werden sollen. Der Schlüs-
selbegriff in der Tabelle 3.13 oben lautet "Statements über Auswirkungen":
Alle Parteien deklarieren, worin die Wirkungen ihres HandeIns wie die des
HandeIns der anderen Partei(en) vermutlich bestehen werden, und schreiten
von hier aus fort zu einer wechselseitig getragenen Vereinbarung.
Zweifellos wäre dies sehr viel einfacher, wenn wir Externalitäten, z.B.
durch Monetarisierung, miteinander vergleichen könnten. In diesem Fall
würde die Regel lauten, die Netto-Externalitäten zu kalkulieren, dann für
beide Seiten auszugleichen und nach Möglichkeit zu steigern. Als Beispiele
mögen die Kompensation reduzierter Biovielfalt durch irgendeine Heraus-
forderung oder die Kompensation für Erschöpfung und fehlende Herausfor-
derung durch höhere Preise dienen, weil die Regel verlangt, die Netto-
summen der Externalitäten und Internalitäten zu steigern und dann aus-
zugleichen. Das wäre leichter, doch katastrophal in den Folgen. Die Biodi-
versität nimmt ab, die Herausforderung bleibt gering, und es sammelt sich et-
was Kapital an den Eingangspunkten für's Kapital. Ergebnis: Status quo.
Die drei Hauptgründe gegen Monetarisierung lauten:
Anti-Monetarisierung I: um Vergleiche auszuschließen, um dadurch einer
Relativierung der Werte zuvorzukommen und hervorzuheben, daß die Werte,
die den Externalitäten zugrunde liegen, absolute Werte darstellen;
Anti-Monetarisierung 1I: um Kompensationen auszuschließen, den Tausch
einer Externalität gegen eine andere oder den Ausgleich ganzer Pakete nega-
tiver und positiver Effekte wirtschaftlicher Transaktionen.
Anti-Monetarisierung III: um Innovationsbereitschaft zu stimulieren, die Su-
che nach echten Lösungen für die Probleme negativer Externalitäten.
Vergleich und Kompensation sind faule Auswege, indem zugelassen wird,
daß die Reichen sich aus den von ihnen selbst geschaffenen Problemen her-
auskaufen oder die Probleme von einer Externalität auf die andere verschie-
ben. Jede Externalität als ein Universum eigenen Rechts zu betrachten, die
Lösungen in eigenen Begriffen verlangt, ist eine gewaltige Herausforderung.
Vielleicht stellen sich Lösungen nicht unmittelbar ein, doch wenn, dann sind
sie grundlegender und dauerhafter.
Der letzte Grund für den Dialog als Schiedsstelle ökonomischer Transak-
tionen besteht in der Ermutigung eines zivilgesellschaftlichen Verhaltens als
einer Alternative zum Marktansatz der Entscheidung aller Probleme durch

sammenbrachen. In Anbetracht des Alters der Maschinen bedeutete dies mehr als
genug Anreiz zur Erhaltung, nicht aber zur Fortentwicklung. Ergebnis: Stagnation.
Die Externalitäten 299

Kapitaleinsatz wie zum Staatsansatz der Klärung aller Probleme durch


Macht, wenn nötig auch durch Gewalt.

These Nr. 18: Die Berücksichtigung von Externalitäten ist keine Antithese
zum Markt oder zum Wettbewerb, sondern gibt weiteren Erwägungen Raum,
bevor Käufer und Verkäufer einen Handel tätigen wollen. Das Ziel ist ethisch
bewußtes Marktverhalten.
Der Markt wird zum Forum eines viel breiter angelegten Dialogs - nicht nur
über Quantität, Qualität und Preis. Dies ist nicht neu. Menschen haben schon
immer auch anderes in Betracht gezogen, besonders bei Geschäften im inne-
ren Sektor (These Nr. 5), indem sie etwa bei Familien kauften, die sie unter-
stützen wollten, oder indem sie keine Sklaven mehr erwarben und dabei öko-
nomische Vorteile preisgaben.
Diese Dialoge müssen nicht jedesmal wiederholt werden, wenn ein Handel
getätigt wird. Gute Gespräche führen zu guten Geschäften, die für "ökonomi-
sche Zyklen derselben Art" eine Weile verbindlich bleiben können. Neue
Maßgaben entwickeln sich aus solchen Dialogen. Menschen verhalten sich
diesen Regeln entsprechend; es bedarf nicht eines permanent angespannten
ethischen Bewußtseins, vernünftiges Handeln einmal vorausgesetzt. Zum
Entscheiden und Handeln ist ein gewisses Maß an Vereinfachung nötig,
wenn nur die Bereitschaft zur späteren - und immer erneuten - Änderung ge-
geben ist.

These Nr. 19: Die Berücksichtigung der Externalitäten vermindert nicht unbe-
dingt die Freiheit des HandeIns, sie kann diese auch erweitern, indem sie neue
Ideen liefert und Beziehungen eher kooperativ und weniger kompetitiv gestaltet.
Man nehme als Beis.piel den Import von Äpfeln aus dem Land A oder C in
das Land J. A baut Apfel bioorganisch an, die Verarbeitung ist arbeitsinten-
siver, die Äpfel sind etwas teurer, dafür aber giftfrei; außerdem wird viel-
leicht der Boden, auf dem sie angebaut werden, in diesem Prozess angerei-
chert. C baut Äpfel in der traditionellen kapitalintensiven Weise an, mit
Kunstdünger und Pestiziden, vergiftet die Äpfel und entwertet den Boden.
Indem J Äpfel aus A importiert, hilft es A, sich in diesem Prozess zu entwic-
keln; indem J Äpfel aus C importiert, verhilft es C zu ökonomischem Wachs-
tum, verhindert jedoch zugleich dessen Entwicklung. Die ethisch bewußte
Wahl liegt auf der Hand, wenn es auch etwas mehr kostet, diese Wirkungen
zustande zu bringen - wobei möglicherweise jedoch J und A sich wech-
selweise zum innerem Sektor werden, woraus zahllose kooperative Unter-
nehmungen mit positiven Externalitäten sich ergeben. Entscheidend ist, wie
Externalitätenkataloge neue Zyklen der Erzeugung, der Verteilung und des
Verbrauchs inspirieren und nicht nur die Beseitigung der alten anleiten.
Unter idealen Bedingungen wären alle drei Akteure naturbewußt, und das
grundlegende Gespräch würde zwischen Verbrauchern und Erzeugern oder
300 Entwicklungstheorie

Käufern und Verkäufern stattfinden, deren Angebote und Forderungen auf-


einander abgestimmt würden. Wie erwähnt, ist die "Wahl mit dem Dollar",
kaufen oder nicht kaufen, nicht gut genug; wichtiger sind Dialoge zur Ent-
wicklung neuer Ideen. 250 Dazu gäbe es Dialoge der Verbraucher in den Ver-
brauchervereinigungen, der Erzeuger in den Erzeugervereinigungen, und alle
drei Dialogtypen könnten miteinander verknüpft werden, um das gesamte
System zu verbessern.
Die Verteiler haben eine interessante Zwischenposition: Sie stehen bei den
nahe, kennen die Geschmäcker der Verbraucher besser als die Erzeuger und
die Kapazitäten der Erzeuger besser als die Verbraucher. Und sicher liegt es
in ihrem Interesse, daß Geschmäcker und Kapazitäten einander angepaßt
werden.
Ein interessanter Ansatz ist Shopping for a Better Worlcf5', ebenso rele-
vant für reiche wie für arme Länder. Erzeugnisse und Erzeuger werden da-
nach bewertet, wie sie sich stellen zu karitativem Verhalten, Förderung von
Frauen, Förderung von Minoritäten, Tierversuchen, Transparenz der Infor-
mation, Verhalten gegenüber der Gemeinschaft, Umwelt, Familienfreund-
lichkeit und Fragen des Arbeitsplatzes. Der Katalog stimmt nur teilweise mit
den hier betrachteten Externalitäten überein und ist sehr viel konkreter. Doch
ist die generelle Idee dieselbe: ein breiteres Spektrum an Erwägungen und
Entscheidungskriterien bereitzustellen. Teilen hinlänglich viele Verbraucher
dies dem Verteiler mit, indem sie mit dem Buch in der Hand das Geschäft
betreten, die Erzeugnisse bewerten, mit dem Manager sprechen, dann werden
diese Signale zweifellos an die Erzeuger weitergegeben, und ein kyberneti-
sches Rückkopplungssystem hat sich installiert. Noch besser ist der direkte
Draht zwischen Konsumenten und Produzenten, wie etwa im Falle von
"shopping on the farm".

These Nr. 20: Entwicklung kann weitgehend verstanden werden als die pro-
gressive Anhäufung positiver Extemalitäten, hervorgebracht durch ethisch
bewußte ökonomische Transaktionen.
In demselben Sinne ist Unterentwicklung die Anhäufung negativer Externali-
täten. Ein bemerkenswerter Aspekt von Blau ist dessen Fähigkeit, die negati-
ven Externalitäten zu exportieren, die positiven dagegen zu bewahren oder
sogar zu importieren. Es sollte daher nie zugelassen werden, daß Blau, das

250 Die Wahl mit dem Stimmzettel ist ebenso unzureichend; es ist wesentlich, daß Bür-
ger mit Politikern, Konsumenten mit Produzenten, und am besten aUe miteinander
sprechen.
251 A Quiek and Easy Guide to Soeially Responsible Supermarket Shopping, jährlich
herausgegeben vom Couneil 0/ Eeonomie Priorities, [ne., 30 Irving Place, New
York, NY 10003.
Die Extemalitäten 301

System des "freien Marktes" (freier im Zentrum als in der Peripherie), allein
den ökonomischen Aspekt der Entwicklung bestimmt. 252
Die Konsequenzen dieser These lassen sich als gute und als schlechte
Nachricht formulieren. Die gute Nachricht: Es gibt keine Schranken für
Entwicklung! (Doch sicher gibt es "Grenzen des Wachstums".) Natürlich sto-
ßen wir an Grenzen etwa der Gerechtigkeit und Billigkeit, nicht aber der kul-
turellen und geistigen Entwicklung. Umstellungen in Richtung auf nicht ma-
teriell orientierte Aktivitäten könnten die menschliche Befindlichkeit ver-
bessern.
Doch die schlechte Nachricht ist gleichermaßen unmißverständlich: Es
gibt keine Grenzen der Fehlentwicklung! Oder, um es genauer zu sagen, es
gibt eine Grenze, die Ausrottung allen Lebens auf der Erde nämlich, werde
die Apokalypse nun herbeigeführt durch (1) schwerste Degradierung des
Ökosystems, durch (2) schwere Hungersnot und massive Migration oder
durch (3) Töten im Großmaßstab. Unglücklicherweise ist heute die Wahr-
scheinlichkeit nicht gleich Null, daß (1) zu (2) führt und (2) zu (3).

3.4 Die Externalitäten der Roten Ökonomie


Die Externalitäten waren im Marxismus, weil er so ökonomistisch angelegt
war, vorprogrammiert wie die Externalitäten der Blauen Ökonomie im Smit-
hismus, unter Einschluß der absurden Vorstellung, daß die Summe aller Ego-
ismen Altruismus ergeben könne. Dies wurde besonders in den 70er Jahren
deutlich, als der Marxismus im Westen viel von seiner Anziehungskraft verlor.
Fünf schwere Auslassungen: ökologisches Gleichgewicht (Raum der Na-
tur); geIstIge Entwicklung (menschiicher Kaum); die Bildung neuer Klassen
und neue Formen der Ausbeutung, ganz zu schweigen von der alten, dem
Patriarchat (gesellschaftlicher Raum); neue Ansätze zum Frieden, auch zwi-
schen den sozialistischen Ländern (Raum der Welt). Dies waren die Proble-
me der 70er und 80er Jahre, und der Anti-Entfremdungs- und der Bereiche-
rung-durch-Arbeit-Diskurs der 30er und 40er sowie der Anti-Ausbeutungs-
Diskurs (in den Räumen Gesellschaft und Welt) der 50er und 60er Jahre bo-
ten hier keinen Ausgleich. Lösungen Blauer Probleme waren im Roten Dis-
kurs nicht zu finden.

252 Die Gegenwart Mitte der Neunziger Jahre, mit dem geschlagenen Roten System,
dem in Deckung gegangenen Grünen, dem in Auflösung begriffenen Rosa und einem
Gelben System, das nur als Blaues mit einigen exotischen, orientalischen Zutaten er-
scheint, bietet dem Betrachter den Anblick einer öden ökonomischen Landschaft, die
im wesentlichen vom Blauen System, mit seinen Zentrums- und Peripherie-
Spielarten, bevölkert ist. Dabei wird es kaum lange bleiben. Die Komplexität der
Probleme verlangt nach komplexen Lösungen.
302 Entwicklungstheorie

In der Sowjetunion und in Osteuropa fraßen negative Externalitäten die


Systeme. Ihr Schwerpunkt auf nationaler wirtschaftlicher Aktivität mit wenig
Handel gab ihnen nur geringe Möglichkeiten, negative Externalitäten zu ex-
portieren, durch die Ansiedlung verschmutzender Industrien im Ausland oder
durch die Ausbeutung "billiger" Arbeie". In einem gewissen Sinne war dies
ehrlicher oder auch dümmer oder beides: Die negativen Externalitäten fielen
ihnen jedenfalls selber zur Last. Die Externalitäten häuften sich an, das Sy-
stem war unfähig, mit ihnen fertig zu werden, und ohne Diskussionsmöglich-
keiten konnten sie nicht weggeplant werden. Unter dieser Last brach das Sy-
stem zusammen.
Zudem litt Rot so unter einem Produktionswahn, wie Blau unter einem
Konsumwahn leidet - eine gleichermaßen materialistische Fasziniertheit
durch materielle Produktion. Was den kulturellen Materialismus betrifft, so
war das Resultat wahrscheinlich in etwa dasselbe."4

3.5 Externalitäten der Grünen Ökonomie


In Anbetracht der Beschreibung der Grünen Ökonomie in Kapitel 2.4 als ei-
ner starken Negation der Blauen Ökonomie dürften wir in ihr nur wenige der
negativen Externalitäten der Blauen Schule erwarten. Genauer gesagt, sollte
sich die Grüne Ökonomie als sehr sanft im Umgang mit der Natur sowie mit
Toynbees innerem und äußerem Proletariat erweisen. Als im wesentlichen
lokal und nicht expansionistisch sollte sie auch sanft mit zukünftigen Gene-
rationen verfahren. Bei geringer Monetarisierung und in Anbetracht der Be-
tonung der Produktion für den direkten Verbrauch und den Tauschhandel
sollten der Vergleich und die Kompensation von Externalitäten abgewendet
sein. Was also läuft hier falsch? Denn tatsächlich treten vier negative Exter-
nalitäten in der Kritik an der Grünen Ökonomie deutlich hervor und müssen
ernst genommen werden.
Erstens: Selbstausbeutung. Der Druck lastet auf dem Individuum und auf der
Gruppe, dem eigenen und dem erweiterten Selbst, sich auf den lokalen Raum
zu beschränken - unterstellt, wir sprechen hier von dem harten oder dunklen
Grün.

253 Natürlich bezieht sich "billige Arbeit" nicht nur auf niedrige Löhne, sondern, we-
sentlicher, auf den Export negativer Externalitäten: langweilige, gefährliche, anrei-
zarme Arbeit usw., die nicht in Betracht gezogen oder kompensiert werden muß.
254 In diesem Sinne stellten siebzig Jahre Kommunismus eine Vorbereitung auf den Ka-
pitalismus dar. Was die Betroffenen nun kennenlernen, sind Blaue Externalitäten,
zusätzlich zu den alten Roten.
Die Externalitäten 303

Zweitens: nicht Ausbeutung, aber Ungleichheit. Die Asymmetrien in der


Verteilung der Faktoren werden einige lokale Gemeinschaften zum Erblühen
und andere zum Verwelken bringen, ohne daß es Transfermechanismen gä-
be. Auf nationaler Ebene integriertere Ökonomien gleichen dagegen kom-
munizierenden Röhren.
Drittens: Binnenbezogenheit. Eine starke Konzentration auf das eigene und
das erweiterte Selbst wird mit der Solidarität mit dem Rest der Welt, sogar
mit den Nachbargemeinden, im Wettstreit liegen. Zentripetale Tendenzen
werden überbetont.
Viertens: Mangel an Dynamik. Lokale Wirtschaften werden sich voneinander
unterscheiden, doch jede einzelne kann kulturell einfarbig sein, wie ein Klo-
ster. Untereinander herrscht Vielfalt, aber wenig Symbiose - gerade das Ge-
genteil vom inneren Zustand der Gemeinden. Viele Anstösse zur Änderung
kommen von außen, doch ist diese Quelle nur ein Rinnsal. Unter wenig plu-
ralistischen Bedingungen ist jeder Wandel wahrscheinlich eher eruptiv und
zerrüttend, zumal unter Voraussetzung der anderen drei negativen Ex-
ternalitäten.
Es hat in jüngster Zeit in den armen Teilen der Welt drei bedeutendere Ex-
perimente mit der Grünen Ökonomie gegeben: Gandhis Sarvodaya-Dörfer,
Mao Zedongs Volkskommunen und Nyereres Ujama' a- Dörfer. Warum hatten
sie nicht länger Bestand? Wahrscheinlich leistete ihr wirtschaftliches Umfeld
Widerstand, d.h. die herrschenden Blauen und Rot/Gelben (im Falle Chinas)
Schulen. Es gab aber auch Gründe, die in diesen Vorhaben selbst lagen, die
der Grünen Wirtschaft also inhärent sind.
So darf man vermuten, daß zuviel Loyalität mit der lokalen Einheit gefor-
dert war. Der Widerspruch zWischen den Kommunikations- und Trans-
portmitteln und dem sozialen Modus lokaler Beschränkheit wird zu scharf
und muß durch ein Maß an Engagement aufgelöst werden, wie man es allein
unter Freiwilligen findet. Doch dies bedeutet, daß diese Grüne Ökonomie et-
was für Gläubige ist und keine allgemeine Formel für die ganze Gesellschaft
bereithält, womit wir wieder bei der Klostermetapher sind. In genau diesem
Sinne kann eine forcierte Produktion nur dann mit einem niedrigen Konsum-
verhalten versöhnt werden, wenn starke Überzeugungen die Selbstausbeu-
tung erträglich machen.
Man füge dem das Problem der Ungleichheit zwischen den lokalen Ge-
meinschaften hinzu: ein altes Phänomen in der Menschheitsgeschichte, un-
übersehbar im Falle indischer Dörfer und chinesischer Kommunen. Eine an-
dere Geschichte sind die Dörfer in Tansania, wenn es richtig ist, daß deren
Pläne zentral bewilligt werden mußten, und daß das Hin und Her zwischen
Dorf und Zentrale (Dar es-Salaam) zwei Jahre dauern konnte: Aufschwung
unmöglich.
304 Entwicklungstheorie

Die Folgerung ist dieselbe wie für Blau: Grün sollte nicht allein für das gro-
ße Projekt der menschlichen Entwicklung verantwortlich sein. Es muß erstens
Transfermechanismen geben und zweitens ökonomische Interaktion zwischen
und innerhalb von Nationen, zusätzlich zu den lokalen Wirtschaften.

3.6 Externalitäten der Rosa Ökonomie


Der Rosa Schule haftet etwas Fades an; auch hat sie wenig von einer Schule,
da es kaum einen bedeutenden Philosophen/Ökonomen gibt, der mit ihr in
Verbindung gebracht wird. Nach Beseitigung des Elends mittels kapi-
talistischer Politik, modifiziert durch sozialistische Umverteilung, sollte eine
dankbare Bevölkerung die verantwortlichen politischen Parteien wieder und
wieder an die Macht bringen. Und genau dies tat sie, bis vor kurzem. Warum
nicht länger?
Negative Externalitäten, natürlich. Es stellt sich die Frage ihrer Analyse,
und das Folgende sind vier Hypothesen dazu.
Erstens: Unschärfe. Damit eine Politik bei Menschen Interesse erregt, muß
sie einige sehr scharfe Kanten haben, zumindest in Kulturen, die einem ein-
zigen Glauben anhängen. Natürlich konnte Blau Rosa anklagen, Rot zu sein,
und Rot konnte Rosa anklagen, Blau zu sein, indem sie solcherart beide Rosa
ins jeweils entgegengesetze Lager projizierten und damit doch nur ihre eige-
nen Vorurteile und ihren Mangel an Subtilität verrieten. Doch beide sind
stark im Glauben und verlangen dasselbe von anderen. Grün projiziert Rosa
mitten ins Gelb, als geheimes Zusammenspiel der Blauen und der Roten gro-
ßen Mächte. Und Gelb selbst betrachtet Rosa wahrscheinlich als einen klei-
nen Bruder. So wird Rosa nicht als das betrachtet, was es doch ist: nicht der
schlechteste Ansatz für eine Ökonomie des materiellen Lebensunterhalts.
Zweitens: Rosa als Kombination der negativen Extemalitäten der anderen
vier Schulen, wenn auch nur in einer milden Fassung. Hier gibt es für dieje-
nigen, die für einen Eklektizismus eintreten (wie im folgenden Kapitel 4), et-
was zu lernen: Bereite dich auf alle möglichen Gegenargumente von allen
Seiten vor.
Drittens: Rosa ist ein Opfer seines eigenen Erfolges bei der Ausmerzung
des Elends geworden, indem es die Menschen dazu brachte, sich nach weni-
ger Abhängigkeit von staatlicher Macht zu sehnen und nach größeren Mög-
lichkeiten, Kapital auf dem Markt zu erwerben.
Und viertens: Rosa erschien als endgültige Lösung, wenn nicht in der
Theorie, so doch in der Praxis, und daher als nicht dynamisch. Menschen
mögen aber keine Langeweile.
Die Externalitäten 305

3.7 Externalitäten der Gelben Ökonomie


Die Gelbe Ökonomie ist alles andere als verschwommen, und die Anklagen
von Blau, Rot und Grün, die die negativen Externalitäten der Roten und der
Blauen Ökonomien beschwören, sind alle begründet. Aber Gelb ist in Bezug
auf die Internalitäten und die positiven Externalitäten so erfolgreich, daß die
Kritik nach Neid klingt. Gibt es auch Argumente, die nicht auf Neid beru-
hen?
Erstens: Die Zusammenarbeit der Eliten von Staat und Kapital lastet schwer
auf der Zivilgesellschaft. Die Teilnahme an Entscheidungsprozessen wird fast
unmöglich, wenn es wenig oder gar keinen Widerspruch zwischen diesen
bei den Pfeilern der modernen Gesellschaft gibt. Japan wird von den mar-
schierenden Kohorten der Spitzenbürokraten und Spitzenmanager vorange-
bracht. Gleichzeitig leiden die Menschen schwer unter dem Arbeitsdruck,
obwohl der Konsumismus die bittere Pille des Produktionswahns beträchtlich
versüßt.
Zweitens: Die Zusammenarbeit zwischen Kapital und Arbeit in den großen
Gesellschaften schließt kleinere Gesellschaften und nicht lebenslang be-
schäftigte Arbeitnehmer aus. Ausbeutung in Gelben Wirtschaftssystemen er-
folgt weniger in der Form, daß Kapital die Arbeit, als daß die Vereinigung
von Kapital und Arbeit die Kleinen ausbeutet.
Drittens: Das Gelbe Wirtschaftssytem wird zum Opfer seines eigenen wirt-
schaftlichen Erfolges, indem es sich zuviele Peripherien und zuviele Feinde
schafft. Entsteht eines Tages einmal eine Verbindung Japan-geschädigter
Länder (VII ,), dann lernt Gelb vielleicht, was Blau offenbar nie lernt: Du
könntest einmal für die Ausbeutung anderer teuer bezahlen müssen.
Ich könnte hier auch das Extrem des Patriarchats ansprechen, insofern die
Führer von Staat, Kapital und Arbeit alle Männer sind. Doch gehört dies eher
zum Kernbestand der Japanologie als zu dem der Gelben Ökonomie.
Schlußfolgerung: Auch Gelb kann die Last der Entwicklung nicht tragen,
da es zuviele negative Externalitäten im Gefolge hat. Tatsächlich kann das
keine unserer "Farben", In Kapitel 4 werden wir uns einige Abhilfen an-
schauen.
4 Zehn Thesen zu einer Eklektischen
Entwicklungstheorie

Es ist nun an der Zeit zu versuchen, die Untersuchungen der vorhergehenden


drei Kapitel zusammenzuführen. Kapitel 1 eröffnete mit einer Kritik der ge-
genwärtigen Entwicklungstheorie und -praxis; sicherlich besteht die Verpflich-
tung, hier einen konstruktiveren Part anzuschließen. 255 In Kapitel 2 wurden die
Bausteine ökonomischer Systeme - des Blauen, Roten und Grünen Systems -
vorgestellt, zusammen mit einigen reiferen Systemen, dem Rosa, dem Gelben
und dem Eklektischen; hiermit verband sich die Vorstellung, daß besonders
dieses letztere einiges verspreche. Und in Kapitel 3 untersuchten wir nicht be-
rücksichtigte Aspekte ökonomischer Systeme, die Externalitäten, in der Hoff-
nung, ein tieferes Verständnis der Wirklichkeiten dieser Systeme vom Ent-
wicklungsstandpunkt aus zu gewinnen, wie angedeutet in Kapitell.
Wir wollen nun in zehn Thesen eine Praxis skizzieren, die vielleicht das
Beste dieser Systeme verkörpert, ohne sich allzusehr in den negativen Ne-
benwirkungen zu verlieren (und deren gibt es, wie Kapitel 3 zeigte, viele).
Beginnen wir mit einem Kemgedanken aus Kapitel 2.
These Nr. 1: Mit Markt (Kapital) und Staat (Macht) als Grunddimensionen
erhalten wir fünf, nicht nur zwei ökonomische Systeme: Markt, nicht Plan
(Blau, kapitalistisch); Plan, nicht Markt (Rot, sozialistisch); Halb-Halb
(Rosa, sozialdemokratisch); Sowohl-als-Auch (Gelb, japanisch) und Weder-
Noch (Grün, traditional, lokal).
Nur dann, wenn Markt und Plan rein als Gegensätze auf einem eindimen-
sionalen Kontinuum betrachtet werden, ist es sinnvoll, von nur zwei Syste-
men zu sprechen (oder von dreien, wenn der sozialdemokratische Kompro-
rniß qua Rosa als Position irgendwo in der Mitte zugelassen wird). Scheitert
einer der beiden empirisch oder wird er ideologisch ausgeschlossen, dann
bleibt sehr wenig übrig, so daß manche annehmen, es handle sich bei dem
überlebenden, heute dem Blauen System, um ein "natürliches" System. Doch

255 Für die Vorstellung von Wissenschaft als einer synergistischen Verbindung von
Empirizismus, Kritizismus und Konstruktivismus vgl. das gleichnamige Kapitel 2 in:
Johan Galtung: Methodology and Ideology, Kopenhagen 1977, S. 41-71.
308 Entwicklungstheorie

die Vorbedingung für diesen Schluß ist eindimensionales Denken, eine Art
wissenschaftstheoretischer Infantilismus.
Natürlich sind sehr viel komplexere Typologien als die in These Nr. 1
vorgestellte denkbar. Doch diese genießt den Vorzug, diejenigen Systeme und
Schulen, die es heute in der Welt gibt, recht gut unterzubringen. Das Blaue Sy-
stem, das Marktsystem, tritt in zwei Versionen auf: als Zentrum, das in der
Verarbeitung von Rohmaterialien und in der Zentralisierung des Kommu-
nikations- und Transportwesens hoch rangiert und vom kumulativen Effekt
positiver Externalitäten reichlich profitiert; und als Peripherie, die im Hinblick
auf den Verarbeitungsgrad und auf die Zentralisierung des Kommunikations-
und Transportwesens niedrig rangiert und unter dem kumulativen Effekt nega-
tiver Externalitäten leidet. Doch, wie ebenfalls unterstrichen wurde: Zentrum
und Peripherie des Blauen (oder des ebenfalls zentralisierenden Roten und Gel-
ben) Systems sind nur zwei Seiten ein und desselben Systems. Es bietet sich
uns also mehr Vielfalt und Reichtum dar, als man oft denkt, wenn eindimensio-
nale Diskurse das Denken verstellen. Die Frage ist, wie wir uns auf dieses
"Fenster der günstigen Gelegenheit" am besten einstellen.

These Nr. 2: Eher als die ideologische Hinwendung zu nur einem System
verspricht die eklektische Verwendung aller fünf in Zeit, Raum undfunktiona-
lem Raum die Freisetzung positiver Entwicklungssynergien.
Dies ist eindeutig ein Argument zugunsten der Eklektischen Schule. Oben
wurde diese Schule nur als eklektisches Amalgam dreier anderer Schulen de-
finiert, von denen zwei ihrerseits eklektische Amalgame darstellen. Im Fol-
genden wird der Versuch unternommen, deutlicher herauszuarbeiten, was
diese Definition besagt.
Die Grundbedingung des Eklektizismus findet sich nicht in der ökonomi-
schen Wirklichkeit, sondern in unseren Köpfen: als Übergang vom monothei-
stischen Glauben an einen säkularen, ökonomischen Gott, sei dies nun der
Markt oder der Plan, zu einem polytheistischen Setzen auf mehrere. Und wie
dies polytheistischen Systemen ganz generell entspricht, gibt es eine Zeit für
diesen Gott und eine Zeit für jenen: für den Schöpfer, den Schützer, den Zerstö-
rer."·
Die Systeme, die die Eklektische Schule konstituieren, können nacheinan-
der oder gleichzeitig oder sowohl als auch, sie können an denselben wie auch
an unterschiedlichen Orten und für dieselbe oder für verschiedene Funk-
tionen aktiviert werden. Die Eklektische Schule schließt jede zugrundelie-
gende Annahme aus, die darauf hinausliefe, daß eine der elementaren Schu-
len, Blau, Rot oder Grün, gleicher sei als die anderen und daher als Endzu-
stand der ökonomischen Entwicklung verwirklicht werden solle; oder daß die

256 Die Schlüsselgottheiten des Hinduismus können in diesen Perspektiven gesehen


werden.
Zehn Thesen zu einer eklektischen Entwicklunstheorie 309

Rolle der anderen nur darin bestehe, diesem Zustand ins Sein zu verhelfen,
um dann als Krücken weggeworfen zu werden.
Die komplexeste der zusammengesetzten Schulen ist die Eklektische. Die
ökonomischen Strategien werden innerhalb dieser Schule durchgespielt, doch
werden sie nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Sie aktivieren die
Struktur der elementaren Systeme und das Denken der entsprechenden ele-
mentaren Schulen, lassen jedoch keine von ihnen auf den Fahrersitz: Dort
sitzt Eklektik.
Ein Hauptgrund dafür, warum sich so viel ökonomische Initiative der Ge-
genwart im taoistisch-konfuzianisch-buddhistischen Ostasien findet, ist eine
viel ausgeprägtere Fähigkeit, eklektisch zu denken und zu handeln. Ein eher
sowohl-als-auch- als entweder-oder-Denken. Doch selbst wenn es dem
Abendland gelungen wäre, etwa das Judentum, das Christentum und den Is-
lam miteinander zu verbinden, so sind diese drei einander doch zu ähnlich,
um ihre Anhänger geistig auf einen echten ökonomischen (oder ge-
sellschaftlichen, kulturellen, politischen) Eklektizismus vorzubereiten.

These Nr. 3: Eine notwendige Bedingung für Entwicklung jeder Art ist die
dezentralisierte Verteilung von Produktionsfaktoren auf alle, so daß poten-
tiell jeder an irgendeiner Produktion und nicht nur am Verbrauch teilnimmt.
Der Kerngedanke ist Dezentralisation - bedeutsam für alle Systeme, auch das
Rote. Es gibt keinen inhärenten, zwingenden Grund, warum die in der So-
wjetunion praktizierte Rote Schule nicht anstatt des Etatismus eine Form des
Kommune-ismus oder zumindest eines Republik-ismus (state-ismlcommune-
ismlrepublic-ism) angenommen haben könnte (mit welchem Erfolg, ist eine
andere Frage). Der Hauptgrund war wahrscheinlich ein nicht bedachter Syl-
logismus etwa der folgenden Art:
Prämisse 1: Grundlegender Wandel setzt zentrale Macht auf staatlicher
Ebene voraus.
Prämisse 2: Öffentliches Eigentum bedeutet einen grundlegenden Wandel.
Schluß: Öffentliches Eigentum setzt zentrale Gewalt auf staatlicher
Ebene voraus.
Die erste Prämisse, daß absolute territoriale Kontrolle notwendig war, ist viel-
leicht akzeptabel; und ebenso die zweite Prämisse. Wenn jedoch der Schluß
nicht folgt und in seinen Konsequenzen verhängnisvoll war, dann liegt dies
daran, daß "grundlegender Wandel" in den beiden Prämissen verschiedenes
bedeutet. Doch ein System, das auf der Ebene der Gemeinden auf Planung be-
ruhte und von der Spitze her nur mit sehr schwacher Koordination und mit
wenig Er- und Entmutigungen arbeitete, ist alles andere als unvorstellbar. 2S7

257 Hier gäbe es im Vergleich mit Gelb sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede. In
Gelb arbeiten (Zentral-)Staat und (Zentral-)Markt Hand in Hand und koordinieren
310 Entwicklungstheorie

Es gibt viele Argumente zugunsten der Dezentralisierung und ihres Pen-


dants kleinerer ökonomischer Akteure, was sich mit der Bevorzugung örtli-
cher ökonomischer Zyklen verträgt, ohne damit identisch zu sein. Zunächst
einmal: die Mobilisierung der Produktionsfaktoren. Überall gibt es menschli-
ches Talent. Dem Zentralitäts-Muster folgend, nutzt man zunächst die Ta-
lente des Zentrums und holt sie dann aus der Peripherie, wodurch das Zen-
trum übermäßig und die Peripherie zu wenig genutzt wird. Es gibt überall
Natur, etwas Kapital und Technologie (traditionelle, moderne, postmoderne,
indigene, alternative) und Management. Werden die Orte des Schaffens und
der Produktion vervielfältigt, stellt jeder irgendetwas her, dann können diese
Faktoren besser genutzt werden.
Dies hieß einmal freier Zugang zu Land und Wasser, Gemeindewäldern
und Seen, Meeren, Ozeanen (den "Gemeingütern"). Heute würde man eben-
soviel oder mehr Gewicht auf die Verbesserung der Arbeitsqualität durch
Gesundheit und Ausbildung legen, indem man freien Zugang zu Institutionen
der Volksgesundheit und der Erziehung gewährt (überall Polykliniken und
Schulen); auf leichten Zugang zu Krediten, auf die Schaffung solcher Tech-
nologien, die auf die Benutzer und die Konsumenten zugeschnitten sind, und
auf Managementstrukturen, die mit der örtlichen Kultur und Gesell-
schaftsstruktur verträglich sind. Das alte und wichtige Argument der Landre-
form: Land für die, die es bestellen, ist zu einem allgemeinen Argument der
Faktorenreform geworden.
Zweitens folgt aus Dezentralisierung im Prinzip größere Vielfalt, mit ver-
schiedenen Typen von Faktoren und Produkten, die in verschiedene ökono-
mische Zyklen eingehen. Vielfalt auf nationaler Ebene ist noch nicht ver-
schwunden, trotz einer wachsenden Weltwirtschaft, die durch die Blaue Lo-
gik bevorzugt wird; es gibt auch ökonomische Vielfalt in bezug auf Ge-
schlecht, Generation und Klasse. Hingegen neigt lokale Vielfalt dazu, in den
nationalen Ökonomien aufzugehen und so das Gesamtsystem zu schwächen
(s. Kapitel 5).

nachgeordnete territoriale und Unternehmenseinheiten. In einem solcherart modifi-


zierten Rot gäbe es zwar immer noch keine selbständigen Unternehmenseinheiten,
aber viele nachgeordnete territoriale Einheiten, die von einem weichen Staat koor-
diniert würden. Im konkreten FalIe Rußlands hätte sich dies System auf den traditio-
nelIen russischen mir (die Dorfgemeinschaft) stützen und es den Bauern überlassen
können, ihre eigenen Formen kolIektiven Eigentums zu finden, anstatt diese Ge-
meinschaften zu vernichten, künstliche zu errichten und sie alIe dem WiIIen des alI-
mächtigen Staates zu unterwerfen. Eine Unterscheidung dieser Art, zwischen hartem
und weichen Sozialismus, wird vorgenommen in Johan Galtung: "Socialism is Dead,
Long Live Socialism", in: George Matthew (Hg.): Dignity for All, Essays in Socia-
lism and Democracy, Neu Delhi 1991, S. 9 - 15. Um jedoch jedem Mißverständnis
zuvorzukommen, sei bemerkt, daß der Autor dieses Textes am meisten dem in die-
sem Kapitel beschriebenen System zu vertrauen geneigt ist, dem Eklektischen.
Zehn Thesen zu einer eklektischen Entwicklunstheorie 311

Drittens bringt Dezentralisierung positive Extemalitäten auf die lokale


Ebene und wirkt dadurch der Zentrum-Peripherie-Bildung sehr entgegen;
dies ist von hervorragender Bedeutung für eine Schlüsselexternalität wie
Herausforderung. Und viertens treffen mit der Dezentralisierung negative Ex-
temalitäten kleinere Einheiten, so daß mehr Anstrengungen zu ihrer Be-
kämpfung unternommen werden, da Ursache und Wirkung näher beieinander
liegen und leichter identifizierbar sind.

These Nr. 4: Die erste Produktionspriorität liegt bei den Grundbedürfnissen


der Meistbedürftigen; dies geschieht am besten auf lokaler Ebene, in einer
Grünen Ökonomie.
Worin besteht der Zweck der ganzen Übung in Ökonomie, wenn nicht, wie
oben in Kapitel 1 erläutert, darin, die grundlegenden, die Überlebensbedürf-
nisse zu befriedigen? Hier ist die Betonung der örtlichen Produktion wichtig.
Selbst wenn zentralisierte Produktion größere Quantitäten zu geringeren Ko-
sten produzieren kann (höhere Qualität ist schwieriger), so ist doch eine loka-
le Produktion oft weniger verwundbar durch Probleme der Verteilung und
der Versorgung und sensibler gegenüber örtlichen Bedürfnissen und Poten-
tialen. Solche Externalitäten sind um so wichtiger, je grundlegender die Be-
dürfnisse sind; Risiken in bezug auf nicht-grundlegende Bedürfnisse kann
man ungestrafter auf sich nehmen.
In der Praxis bedeutet dies die dezentralisierte Produktion von Nahrung,
Kleidern und Behausung für den lokalen Verbrauch. Hinzugefügt werden
können die grundlegenden Ressourcen für Gesundheit (gesunde Nahrung,
saubere Luft und sauberes Wasser, Möglichkeiten zur körperlichen Betäti-
gung, die Allgemeinmedizin für die Hauptkrankheiten, Polykliniken und ein
elementares Gesundheitswesen im allgemeinen) und Erziehung (Schulhäuser,
eine gute Beziehung zum Arbeitsleben, um Arbeit und Erziehung miteinan-
der zu verbinden, die Produktion einfachen Erziehungsmaterials, Lehrer,
Administratoren). Ebenso könnte man dafür eintreten, die Energieumwand-
lung der lokalen Selbsthilfe anzuvertrauen; Biomasse, Sonne, Wind, Gezei-
ten, Wellen, geothermische und aquathermische Potentiale, Wasserfälle, usw.
stehen in der einen oder anderen Form oder Kombination überall zur Verfü-
gung.
Die lokale Ebene verfügt über ein enormes Potential. Es kommt hinzu,
daß die ubiquitäre Förderung der lokalen Ebene, besonders zur Produktion
für die grundlegenden Bedürfnisse, die Menschen hinsichtlich ihres Überle-
bens weniger abhängig von weit entfernten Faktoren macht, die jenseits ihrer
Kontrolle liegen. 25 ' Und schließlich: Jedes Erzeugnis, das weniger weit reist,
vermindert die Verschmutzung.

258 Siehe für mehr Details über lokale oder nationale Selbsthilfe Johan Galtung: "Self-
Reliance", Kapitel 9.2, in: The True Worlds, New York 1980, S. 398 - 413; "Self-
312 Entwicklungstheorie

These Nr. 5: Die zweite Produktionspriorität gilt einfachen Produktions-


und Verbrauchsinstrumenten, die auf die Grundbedürfnisse bezogen sind, am
besten auf nationaler Ebene, in einer Rosa Ökonomie.
Hierbei handelt es sich um Töpfe und Pfannen für die Nahrung und das
grundlegende Werkzeug für die Nahrungsproduktion (Hacken und Schaufeln,
Handkultivatoren, Öfen); Werkzeuge zum Spinnen und Weben; die Herstel-
lung von Bausteinen und anderem Baumaterial für Wohnungen. Grundle-
gende Arzneimittel gehören ebenso hierzu wie Schulmaterial; wiewohl, noch
einmal, insgesamt die lokale Produktion um der Unverwundbarkeit gegen-
über willkürlichen oder ganz einfach falschen zentralen Entscheidungen wil-
len nie ganz aufgegeben werden sollte. 2S9
Die Hardware, die für die Umwandlung von Energie nötig ist, wie etwa
Sonnenkonverter oder fortgeschrittenere Biomasse-Konverter, könnte auch
national hergestellt werden. Hier befinden wir uns in etwas größerer Entfer-
nung zu den grundlegendsten Bedürfnissen. Doch ebenso, wie der Mensch
verwundbar ist, wenn die Grundbedürfnisse der lokalen Ebene nicht befrie-
digt werden können, ist die lokale Ebene verwundbar, wenn die Mittel zur
Produktion für Grundbedürfnisse auf lokaler oder benachbarter Ebene nicht
verfügbar sind. Dies schließt nationale Energieversorgungsnetze nicht aus, es
sei denn, diese beruhen auf im Hinblick auf die Umwelt unsinnigen und ge-
fährlichen, z.T. irrationalen und überholten Methoden wie thermoelektri-
scher und nuklearer Energie.
Dasselbe gilt für die Mobilitätsbedürfnisse, symbolische, die durch verba-
le (mündliche oder schriftliche, telefonische, Telefax-) Kommunikation, wie
physikalische, die durch den Tran~port der Personen und Güter befriedigt
werden. Die Betonung der Grünen Okonomie in These Nr. 4 verurteilt Men-
schen nicht dazu, ihr ganzes Leben an Ort und Stelle zu verbringen. Doch
liegt einige Hardware vielleicht außerhalb der Möglichkeiten nationaler Pro-
duktion. Bei solcher Nähe zu den Grundbedürfnissen wären Krisen der
Weltwirtschaft besonders kontraproduktiv. Vielleicht ist die Produktion auf
(über-)regionaler Ebene ein guter Kompromiß. 260

Reliance: Concepts, Practice and Rationale", in Galtung, O'Brien, Preiswerk: Self-


Reliance: a Strategy for Development, London 1980, und Mir. A. Ferdowsi (Hg.):
Self-Reliance. Beiträge zu einer alternativen Entwicklungsstrategie, München 1983.
259 Einen Extremfall, der jedoch in unserer Welt nicht unrealistisch ist, stellt die Aus-
übung der zentralen Gewalt durch eine ausländische Besatzungsmacht dar. Je zen-
tralisierter das System, umso so leichter fallt es dieser, das Land zu kontrollieren,
wie erläutert in meinem There Are Alternatives! , Nottingham 1984, Kapitel 5.4:
"Inner Strength: Toward less vulnerable societies", S. 192-198.
260 Es gibt in der heutigen Welt viele derartige Freihandelszonen, gemeinsame Märkte,
usw. vermutlich zwischen Ländern, die durch Affinität und/oder Nachbarschaft posi-
tiv aufeinander bezogen sind. Da jedoch das gängige ökonomische Denken alles
wirtschaftliche Handeln über einen einzigen Wachstumsleisten schlägt (das nationale
oder Binnen-Bruttosozialprodukt), ohne hinreichend zwischen der Produktion für die
Zehn Thesen zu einer eklektischen Entwicklunstheorie 313

These Nr. 6: Die dritte Produktionspriorität liegt beim Export; bei immer
höheren KIN- (Verarbeitungs- )Niveaus, am besten auf nationaler, (über- )re-
gionaler und internationaler Ebene und in einer Gelben Wirtschaft.
Die Grundregel lautet weiterhin, nie Rohmaterialien, unter Einschluß von
Roharbeit, zu exportieren, sondern der Natur (N) eine Form, mit anderen
Worten Kultur (K) aufzuprägen, immer im Streben nach einem höherem
KIN- Verhältnis. Exportintegrierte Kreisläufe also und Silikon-Chips, ganz
zu schweigen von Computern, usw., nie aber Rohmetalle, ganz zu schweigen
von Kartoffelchips.26' Doch dies erfordert Zusammenarbeit zwischen Wissen-
schaftlern und Technikern (für eine hohe KIN-Relation) und Arbeitern, um
eine gute Qualität bei vernünftigen Preisen (hohe QIP-Relation) zu erzielen.
Die Beziehungen zwischen Management und Arbeitern innerhalb der Firmen
müssen stimmen, und die Zusammenarbeit zwischen Staat und Kapital wird
alle Ressourcen der Gesellschaft zur Verstärkung des Exports bereitstellen -
nicht für alle möglichen Produkte, aber für Nischen mit besonders beachtli-
chen und qualitativ hochstehenden Erzeugnissen. Und dies sind alles grund-
legende Eigenschaften der Gelben Wirtschaft.
Eine gewisse internationale Koordination ist jedoch unverzichtbar. Wir
werben hier für die lokale Herstellung derjenigen Produkte, die der Natur
und den Grundbedürfnissen am nächsten stehen, und für die nationale Her-
stellung von Produkten der nächsten Ebene. Im nationalen Rahmen besteht
die Gefahr, daß eine oder mehrere lokale Gemeinschaften den nationalen
Markt beherrschen. Eine durchdachte nationale Entwicklungsplanung würde
jedem Teil des Landes, unter idealen Bedingungen jeder Gemeinde, eine
wichtige ökonomische Rolle in diesem Spiel zuweisen. 262 In eben diesem
Sinne sollte jedes Land in der Welt im Welthandel eine wichtige Rolle spie-
len, dies aber nicht nach Maßgabe der überholten und vertikalen, ungerech-

grundlegenden Bedürfnisse zum Überleben und dem Rest zu unterscheiden, können


die Entwicklungsprioritäten falsch gesetzt sein. Idealiter sollte die lokale Ebene zur
Verfügung stellen, was für die Befriedigung von Grundbedürfnissen, incl. der dafür
erforderlichen Produktionsmittel, gebraucht wird. Letztere müssen vielleicht auf na-
tionaler Ebene hergestellt werden. Ist auch dies unmöglich, dann aber zumindest auf
(über-)regionaler Ebene, in einer freundlichen Umgebung, in der Faktoren und Pro-
dukte leicht über die Grenzen strömen.
261 Unter der Bush-Administration hieß es, zwischen Silikon- und Kartoffelchips gäbe es
solange keinen Unterschied, wie beide Geld brächten. Dies wäre ein didaktisch her-
vorragender Ausgangspunkt, um über positive Externalitäten zu diskutieren.
262 Ein Beispiel hierfür wäre der Bischof von Quiroga in Mexiko nach der Conquista,
der den Dörfern um den See von Patzcuaro in Michoacan (Patzcuaro, Tzintzuntzan,
usw.) unterschiedliche Rollen zuwies, wie z. B. die des Töpferdorfes, des Kupferdor-
fes, usw. Unter der schwerlastenden Decke der ,,Entwicklung" zugunsten des Touris-
mus, die Patzcuaro bevorzugt, ist etwas von diesem Muster immer noch erkennbar.
314 Entwicklungstheorie

ten Arbeitsteilung, die durch "komparative Vorteile" definiert wird.'·' Es exi-


stieren heute noch keine Institutionen für eine gerechte Verteilung ökonomi-
scher Rollen auf der Ebene des Welthandels und auch nur eine begrenzte
Anzahl auf regionaler Ebene.
Dies führt auf das alte Problem zurück: "Was ist Entwicklung?" Der hier
eingenommene Standpunkt besagt, daß die Produktion für die Grundbe-
dürfnisse möglichst nahe bei dem Ort geschehen soll, an dem diese Produkte
verbraucht werden, und das heißt lokal,'" schlichtweg um des Überlebens
von Mensch und Natur willen. Dieser Standpunkt richtet sich nicht notwen-
digerweise gegen den Welthandel, er vertritt nur dessen auf den Gesamthan-
del bezogene anteilige Reduktion sowie die Vorstellung, daß jedem Land der
Welt in einer horizontalen und gerechten Arbeitsteilung eine Rolle zukom-
men sollte.
In dieser Perspektive ist die Welt der Gegenwart in hohem Maße fehlent-
wickelt. In der Dritten Welt ist die nationale Produktionskapazität (noch?)
nicht entwickelt; es braucht Zeit, um auf nationaler Ebene jene Institutionen
zu errichten, die als Staat und Markt bekannt sind. Hinzu kommt, daß die lo-
kale Ebene allmählich erodiert, ja sogar zerstört wird, und der Zugang zu den
Zyklen der Weltwirtschaft auf Produkte beschränkt ist, die nur niedrige Prei-
se hereinholen und sehr wenige positive Externalitäten haben. Rezepte für
Ödland.
Doch auch die Erste Welt ist fehlentwickelt. Die intensive Teilnahme am
Welthandel schafft Abhängigkeit auf der Weltebene und Verwundbarkeit ge-
genüber ihren Konjunkturen, auch im Hinblick auf die Produkte zur Befrie-
digung der Grundbedürfnisse. Die Profile der nationalen Produktion werden
einseitiger, wenn auch keine Monokulturen, so doch Monoprodukte. Und im
Wettbewerb wird die lokale Produktion für den lokalen Verbrauch ausge-
quetscht.
Die Konsequenzen sind offensichtlich. Defizite im Hinblick auf die
grundlegenden Bedürfnisse werden in Fundamentalinteressen auf nationaler
Ebene übersetzt und können zu militärischem Handeln führen.'65 In anderen

263 Diese Doktrin bedeutet in der Praxis, daß einigen Ländern Produktionsmuster zu-
gewiesen werden, die in hohem Maße natur- und arbeitsintensiv sind, und anderen
Ländern das entgegengesetzte Muster, das kapital-, technologie- und managementin-
tensiv ist.
264 Hier stellt sich das interessante Problem der Nahrungserzeugung in Städten, die of-
fensichtlich mit einer dreidimensionalen Landwirtschaft, Bewässerung, usw. erfol-
gen müßte, bedenkt man den begrenzten Raum. Es wird noch lange dauern, bis die
Vorstellung überwunden ist, daß Städte Nahrung verbrauchen und das "Land" zu ih-
rer Produktion da ist.
265 Kriege um den Ölnachschub, "die Lebensader der westlichen Welt", wären na-
heliegende Beispiele. Kriege um Wasser warten vielleicht um die nächste Ecke und
ebenso wahrscheinlich Kriege um unverseuchten Boden.
Zehn Thesen zu einer eklektischen Entwicklunstheorie 315

Ländern haben solche Defizite eine andere Folge: den allgemeinen Hunger-
tod, besonders derjenigen, die am meisten verletzlich sind, der Kinder und
der Alten. Beide Problemtypen schließen einander nicht aus.
Dieser Gedankengang gilt auch für die nichtmaterielle Verarbeitung. De-
ren Endprodukte wären hoch ausgebildete Berufstätige (Bearbeitung unbear-
beiteter Köpfe) und eine hochverfeinerte Kultur (Literatur, Kunst, Wissen-
schaft, usw.). Sowohl materieller als auch nichtmaterieller Export könnte
mehr in K und weniger in N stattfinden. In K zu handeln, bedeutet kulturel-
len Austausch, ob nun K einem integrierten Kreislauf oder einem hervorra-
genden Freiberufler inkorporiert ist"" oder in der Luft schwebt wie ein Lied.
Wenn Handel in N nötig ist, dann N gegen N, um die Externalitäten mög-
lichst ausgeglichen zu halten. Das schlimmste Handelsmuster, K gegen N, ist
ein kolonialistisches Residuum, Teil der kolumbianischen Ära der menschli-
chen Geschichte, die seit nunmehr 500 Jahren andauert. Und, um es einigen
Schweizern nachzusagen: 500 Jahre sind genug. 267
Handel ist Kommunikation und die Kommunikation von Kultur ist Kom-
munikation auf einer höheren Ebene als die Kommunikation von Natur. Zu-
sätzlich gibt es auch das Umwelt-Argument: Prinzipiell besteht umso we-
niger Gefahr für die Umwelt, je K-intensiver das ökonomische Handeln ist.
N-intensives Handeln treibt Raubbau und verschmutzt. Intellektuelle zerstö-
ren Wälder, um ihre Bücher gedruckt zu bekommen; doch zeigt dies auch,
wie eng verbunden wir immer noch N-intensiven Formen der Kommunika-
tion sind. Vielleicht ist die elektronische Kommunikation ein Schritt vor-
wärts. Und dies ist auch ein Argument zugunsten der Finanzökonomie im
Vergleich zur Realökonomie: Sie ist im großen und ganzen weniger N-inten-
siv: Papier weicht hier dem Plastik, das immer und immer wieder benutzt
werden kann, wenn elektronische Buchführung dIe Regle übernimmt. Doch
dann sollten auch alle Länder an einer ausgeglicheneren Form der Welt-Fi-
nanzökonomie teilnehmen und dadurch den Begriff der "Weltfinanzmetro-
polen" aushöhlen.

266 Jordanien ist ein Land, das seine Wirtschaft zum großen Teil hierauf stützt. Ange-
sichts seiner fehlenden Ausstattung mit Rohmaterialien, seiner fehlenden oder ge-
ringen Fabrikationskapazitäten, seines Reichtums jedoch an Menschen (flüchtlin-
gen), lautete dessen Lösung, Universitäten zu errichten und Berufstätige zu exportie-
ren gegen Überweisungen in die Heimat. Offensichtlich bringt ein Arzt mehr Geld
als ein Tagelöhner.
267 In Verbindung mit dem siebenhundertsten Jahrestag der Schweizer Republik, 1991,
wurde der Slogan Sieben Hundert Jahre sind genug (dt. i. Orig.) recht häufig geäu-
ßert, auch wenn die konkreten Implikationen nicht ganz deutlich waren. Mehr Parti-
zipation an trans- und supranationalen Organisationen? Die Auflösung der Schweiz
in Regionen oder Kantone?
316 Entwicklungstheorie

Schließlich: N ist in einer endlichen Welt begrenzt, K nicht. Es gibt keine


Grenze für die Kultur, keine Grenzen für kulturelle Produktion und kulturel-
len Austausch. Das Mittelalter wußte dies.

These Nr. 7: Um reich zu werden, steigere die Q/P-Relation (Qualität ge-


genüber Preis), erhalte oder steigere KIN und beachte das Gleichgewicht von
Finanz- und RealwirtschaJt, FIR.
Dies ist ein nie endendes Unternehmen. Falle hinsichtlich QIP zurück und
dein Konkurrent gewinnt Oberwasser. Falle bei KIN zurück und positive
(und einige der negativen) Externalitäten gehen an jemand anderen. Jede grö-
ßere Asynchronie zwischen Fund R führt zu einer überhitzten oder einer un-
terkühlten Wirtschaft, derart, daß F R weder angemessen wiedergibt noch
ihm dient.
Hinter dem QIP-Problem steckt im wesentlichen die Frage, wie man die
Arbeiter behandelt, da sie der eigentlichen Aufgabe, die Produkte fertigzu-
stellen, am nächsten sind. Behandele Arbeiter wie Ramsch, und sie werden
entsprechend arbeiten und Ramsch produzieren. Tu dies, und die Strafe folgt
auf dem Fuß, wie die US-Wirtschaft jetzt erfahren muß (obwohl dies nur ei-
ner von vielen Faktoren hinter dem Absacken dieses besonderen wirtschaft-
lichen Systems in einen depressionsnahen Zustand ist).
Hinter dem KIN-Problem verbirgt sich im wesentlichen die Frage, welcher
Gebrauch von Wissenschaftlern und hochspezialisierten Technikern gemacht
wird. Laß sie an militärischen Projekten arbeiten, und ihre Innovationen füh-
ren vielleicht nur zu wenigen zivilen Nebenprodukten; darüber hinaus wer-
den sie vielleicht zur Geheimhaltung verpflichtet und stehen dann nicht mehr
allgemein zur Verfügung. Ein weiteres Problem der US-Wirtschaft.
Das FIR-Problem läßt sich im wesentlichen definieren als Frage nach der
Bereitschaft zu harter Arbeit und der Zusammenführung der fünf Produkti-
onsfaktoren, um die Produktion in Gang zu halten, anstatt durch Spekulation
schnelle Profite in der Finanzökonomie anzustreben. Tue das letztere, und es
wird bald nur sehr wenig Substanz geben, auf die man spekulieren könnte.
Man betrachte wieder die USA.
Besteht ein Übergewicht an Firmenvorständen, die weit entfernt von den
Sphären der Arbeiter, der Wissenschaft und der Technik, aber nahe am Ka-
pital und am Management die Wirtschaft lenken, dann werden die drei Pro-
bleme sich gegenseitig verschärfen.

These Nr. 8: Um reich zu bleiben, verbessere die Qualität der Produktions-


faktoren Natur, Arbeit, Kapital, Technologie und Management.
Hilf der Natur mit ökologischem Gleichgewicht; arbeite für immer höhere
Niveaus an Gesundheit und an Erziehung, um höhere QIP- und KIN-Relatio-
nen zu erreichen, und vergiß nie, daß die Qualität der Erziehung und der Ge-
sundheit der 50% unten ebensosehr von Bedeutung ist wie die der 5% an der
Zehn Thesen zu einer eklektischen Entwicklunstheorie 317

Spitze; beachte die Synchronie von Finanz- und Realökonomie; investiere in


die technische Kreativität und Fähigkeit eines/r jeden, und strebe nach Ma-
nagementstrukturen, in denen sich jeder zu Hause fühlt, vielleicht durch die
Zusammenfassung der Menschen in kleineren Gruppen, in horizontalen Beta-
Strukturen innerhalb der größeren, hierarchischeren Alpha-Strukturen. All
dies ist gegenwärtig Gelbe, japanische Wirtschaftslehre; einiges davon stammt
von Kaname Akamatsu, vielleicht dem fähigsten Entwicklungsökonomen des
Jahrhunderts, der jedoch im Westen eher unbekannt ist. Doch warum nicht
von Japan lernen? Warum können nicht andere etwas von der gleichen Art
tun und so die Bedeutung, die in der heutigen Weltwirtschaft diesem einen,
kleinen Land zukommt, als eine Herausforderung interpretieren?
Dieser Gedanke hat ein Element des Offensichtlichen. Am einen Ende des
Zyklus stehen die Faktoren, am anderen die Produkte. Vielleicht weisen sie
unterschiedliche Qualitätsniveaus auf. Es ist einleuchtend, daß es zwischen
der Qualität der Faktoren und der der Produkte eine positive Beziehung gibt.
Folge der Einladung, Faktoren niedrigen Niveaus und Produkte niedrigen
Niveaus im Namen "komparativer Vorteile" einander anzupassen, indem du
beide auf niedrigem Niveau hältst, und du setzt dich dem Risiko aus, da un-
ten zu bleiben, da beide einander verstärken. Halte die Qualität der Faktoren
konstant oder fahre sie herunter, und bald werden die Produkte hinter ande-
ren zurückbleiben. Produziere unterhalb deines Potentiales und du verfehlst
die positive Rückkopplung, die sich aus hoher Qualität ergibt. Verbessere
beide, arbeite eher für qualitatives als für quantitatives Wachstum, und der
Prozess wird nachhaltig.

These Nr. 9: Um entwickelt zu bleiben. internalisiere die Externalitäten in


den Räumen Natur. Person. Gesellschaft. Welt und Kultur derart. daß alle
Räume auf Dauer reproduktionsfähig (nachhaltig) werden.
Jetzt sind wir wieder bei dem alleinigen Zweck der Übung in diesem Kapitel
angelangt: (sich) entwickeln, nicht nur wachsen. Wenn Entwicklung Wachs-
tum darstellt, ohne Schaden anzurichten, dann halte Ausschau nach negativen
Effekten und baue von Anfang an positive Effekte in alle fünf Räume ein.
Konkret heißt dies, so viele lokale Zyklen wie möglich zu erhalten und auf-
zubauen, so daß die Verbindung zwischen wirtschaftlichen Ursachen und öko-
logischen Konsequenzen deutlich sichtbar wird und eine Reaktion ermög-
licht, wenn etwas schief geht (Beispiel: Laßt das Rauchen sein!). Und hilf der
Natur beim Verbessern.
Im menschlichen Raum reicht dies über die Verbesserung des Gesund-
heits- und des Erziehungsniveaus hinaus. Jedermann eine Herausforderung
zu vermitteln, war die Stärke westlichen Unternehmertums, solange es hin-
reichend dezentralisiert war. Aber Blau neigt dazu zu zentralisieren, viel-
leicht ebensosehr wie Rot, während Gelb die Prozesse kombiniert. Daher
sind für die Entwicklung in den Räumen der Natur und des Menschen Grüne
318 Entwicklungstheorie

und Rosa Elemente unabdingbar. Dann muß man unterscheiden zwischen


Jobs zum Geldverdienen und Arbeit zur Selbstverwirklichung. Arbeit ist ih-
rem Wesen nach kreativ; wird sie zur Plackerei, wird sie schmutzig, langwei-
lig, gefährlich oder entwürdigend, dann ist irgendwo Verrat im Spiel.
Und weiter, richte horizontale Austauschbeziehungen ein zwischen loka-
len Gemeinschaften im Rahmen einer Volkswirtschaft und zwischen den
Volkswirtschaften auf Weltebene - so gibt es Vielfalt, aber zugleich Sym-
biose. Davon sind wir heute weit entfernt. Der Katalog in Tabelle 3.7 gibt ei-
nige Hinweise auf zu bearbeitende Themen, die sich auf die Gefahren der
Blauen Ökonomie beziehen. Ähnliche Kataloge gibt es für die Rote und die
Gelbe Ökonomie, während Grün und Rosa weniger gefährlich sind.
Zum Raum der Kultur: In Kapitel 1 wurde vieles über eine Kultur der
Habgier und Rücksichtslosigkeit als Bedingung für ökonomisches Wachstum
gesagt. In Kapitel 2 lag der Schwerpunkt auf (exzessivemIr) Individualismus,
Vertikalität, Monetarisierung, Verarbeitung und Expansion sowie solchen (in
Kapitel 3 entwickelten) Folgen wie Konsumismus, Produktionswahn und
Binnenbezogenheit. Der Schwerpunkt von Kapitel 3 lag auf (exzessivem)
wissenschaftstheoretischem Atomismus und Deduktivismus, auf der Kosten-
Nutzen-Analyse als einer mentalen Verfassung, auf Mittel-Zweck-Orientie-
rung und Welt-Monokultur. Und dieses Kapitel (beginnend in Kapitel 3) be-
handelt Monotheismus als Antithese zu einem eklektischen Ansatz in Fragen
der Wirtschaft und Entwicklung.
Es gibt also viele kulturelle Themen, für die sensibilisiert werden muß,
damit Entwicklung stattfinden kann. Da Kultur jenen symbolischen Rahmen
darstellt, jene Ausstattung des Geistes, der bzw. die unser Denken, unsere
Sprache und unser Handeln formt, ist die Suche nach adaequatio, nach einer
entwicklungs angemessenen Kultur, eine nie endende Problematik. In dem
Augenblick, in dem eine solche Kultur identifiziert worden ist, findet Ent-
wicklung entsprechend der Definition Nr. 1 in Kapitel 1 statt, als Offizialisie-
rung dieser Kultur, mit anderen Worten als Monokultur, also als Anti-Ent-
wicklung. Damit Entwicklung stattfinden kann, muß es immer ein Element
des Unvollkommenen, des Eklektischen, geben.
Unser genereller Schluß favorisiert in Sachen Entwicklung östliche gegen-
über abendländischen Kulturen. Intuitive Unterstützung findet dieser Schluß
im relativen Alter der jeweiligen Länder, sind diese doch zwei- bis dreimal
älter in Ostasien als in Westeuropa: eine überlegene Reproduktionsfähigkeit,
um es anders zu sagen.
Doch unterschätzen wir hier nicht vielleicht die abendländische Dynamik?
Liegt vielleicht der kulturellen adaequatio dieselbe Formel wie der Entwick-
lung zugrunde: die Fruchtbarmachung aller Kulturen, die Verbindung der
Werte von Blau und Rot, von Rosa und Gelb und von Grün? Vielleicht. Und
vielleicht auch nicht. Die Suche bleibt im Gange.
Zehn Thesen zu einer eklektischen Entwicklunstheorie 319

These Nr. 10: Und wenn! falls der Prozess scheitert, dann gib nie auf, son-
dern beginne dort neu, wo er fehlgelaufen ist, vielleicht sogar beim Anfang.
1st er erfolgreich, so beginne auch neu, z.B. mit nichtmateriellen Produkten.
Oder sage einfach, das ist es, laß es uns genießen - nur achte darauf, daß die
Wirtschaft nicht degeneriert, sondern dynamisch und reproduktionsfähig
bleibt. Auch Ersatz bzw. Ersetzung ist eine Formel für Entwicklung. Die alte
Geschichte vom westlichen Experten, der den "Eingeborenen" antreibt, här-
ter zu arbeiten, anstatt einige Früchte der Natur im Schatten eines Baumes zu
genießen, und dem "Eingeborenen", der wiederholt nach dem "Warum"
fragt, bis der Experte sagt: "Damit du genug Geld hast, um im Alter dein Le-
ben im Schatten eines Baumes genießen zu können!", hebt einen wichtigen
Punkt hervor. Doch die Ethik des Ersetzens kann ebensowenig zur univer-
sellen Norm stilisiert werden wie die Ethik der Dynamik, ohne vielleicht die
Hälfte der Menschheit zu kolonialisieren.
Eine allgemeine Formel wird sichtbar: Eklektizismus. Besitzen menschli-
che Wesen ein unendliches Potential zur Differenzierung, nicht nur im Ver-
gleich zu anderen, sondern auch relativ zum eigenen Lebenszyklus, dann ist
eine Gesellschaft zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht zumindest einen
Teil dieser Vielfalt widerspiegele" Drückt der Schuh, dann sollten Schuhe
einer anderen Größe leicht erhältlich sein. Daher also die These, daß kreative
Verbindungen der Schulen stärker sind als ihre einfache Summierung.
Grün ist für die Grundbedürfnisse unabdingbar, wie wir in den kommen-
den Jahrzehnten wahrscheinlich in zunehmendem Maße spüren werden. Blau
und Rot sind zu einseitig, zu monotheistisch. Rosa und Gelb sind besser.
Doch am besten ist das Spiel auf der gesamten Klaviatur, so wie sie auf der
Hauptdiagonale erscheinen (Kapitel 2, Appendix): Grün, Rosa und Gelb. Je-
der und jede sollte jederzeit seinen/ihren Platz finden und Lebensbahnen in-
nerhalb und außerhalb der Systeme weben können - und stets versuchen, die
Logik aller fünf Räume zu achten.

268 Ich beziehe mich hier auf Sorokins berühmtes "Grenzprinzip" (die Grenzen der Ge-
sellschaft, bezogen auf die individuelle Vielfalt), die grundlegende These seines Bu-
ches Sodal and Cultural Dynamics, Boston, MA 1957.
5 Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume
hinweg

5.1 Entwicklungstheorie in der Krise


Entwicklungstheorie muß aus prinzipiellen Gründen eine holistische Betrach-
tungsweise der menschlichen Existenzbedingungen darstellen - und eine dy-
namische, wie das Wort schon sagt. Den Holismus teilt die Entwicklungsfor-
schung mit solchen Ansätzen wie Friedensforschung, Umweltforschung, Fu-
turologie und Frauenforschung - alle relativ jungen Datums und alle auch
Reaktionen gegen die Zersplitterung der Untersuchung menschlicher Exi-
stenzbedingungen in viele Einzelheiten wie gegen die Disziplinierung der
Forscher.
Die Praxis hat sich jedoch in trauriger Weise anders entwickelt. An die
Stelle des Holismus ist eine Beschränkung auf bloße ökonomische Aspekte
allein des gesellschaftlichen Raums der menschlichen Existenz getreten; an
die Stelle einer Dynamik in einem endogenen Sinne ist die Konzentration auf
die Fähigkeit getreten, gewisse, für "entwickelt" gehaltene Gesellschaften
nachzuahmen. Dieser bemerkenswert hartnäckige Ansatz mißachtet den
Raum Natur, den Rahmen für die Entwicklung der Natur selbst oder zumin-
dest jenes Gleichgewicht, von dem die menschliche Existenz absolut ab-
hängig ist, mißachtet den (inneren) menschlichen Raum geistiger bzw. spiri-
tueller Entwicklung, mißachtet weitere Aspekte des gesellschaftlichen Raums
und schließlich auch den ganzen Raum Welt, bestehend aus Regionen und
Ländern, Korporationen, Organisationen und Assoziationen in ihrem Wider-
streit und in ihrer Kooperation. Entwicklungstheorie und -praxis leiden im-
mer noch an exzessiver intellektueller Fragmentierung.
Den Raum Welt unberücksichtigt zu lassen, hat zu Absurditäten in der
Theorie geführt: Wenn alle Länder einen Handelsüberschuß und generell po-
sitive Handelsbilanzen haben, dann gibt es offensichtlich irgendwo ein Pro-
blem. Im allgemeinen scheint sich niemand darum zu kümmern, ob Ge-
sellschaften, die für "entwickelt" gehalten werden, auf Weltebene miteinan-
der vereinbar sind. Und erst in allerletzter Zeit wurde Zeit in das Gewand der
Nachhaltigkeit gekleidet. Was die Kultur anbelangt, so heißt es: Kulturen, die
zum wirtschaftlichen Wachstum fähig sind, sind per Definition auch ent-
wicklungsfähig.
322 Entwicklungstheorie

Angeboten wird uns also eine "Theorie" der Entwicklung, die unfähig ist,
ökologische Ungleichgewichte vorherzusehen, unfähig, die Modernisierungs-
erkrankungen zu berücksichtigen, denen der menschliche Körper (kardiovas-
culäre Erkrankungen und bösartige Tumore), die Psyche (seelische Erkran-
kungen) und der menschliche Geist (ein allgemeines Gefühl der Bedeutungs-
losigkeit) ausgesetzt sind, unfähig, mit Problemen großer Fehlentwicklungen
auf gesellschaftlicher und globaler Ebene umzugehen (man denke an Patriar-
chat, Bürokratisierung, Militarisierung und andere Formen der Kopflastig-
keit, an den Mangel an Partizipation im allgemeinen und handgreifliche Un-
gleichheiten). Der springende Punkt ist nicht, daß die Praxis sich als unfähig
erwies, diese Probleme zu lösen, sondern daß dieser krisengeschüttelte Kör-
per der Theorie sich den Problemen nicht zu stellen vermochte.
Es folgen dementsprechend einige Gedanken zu alternativen Theorien
bzw. einer alternativen Theorie. Es handelt sich um eine völlig andere Be-
trachtungsweise, derzufolge Indien z.B. plötzlich als in grundlegenden Hin-
sichten viel entwickelter erscheint als etwa Norwegen, obwohl letzteres pro
Kopf in konventionellen ökonomischen Begriffen viel reicher ist (jedoch
nicht im Sinne jenes Begriffs von Reichtum, der unten entwickelt werden
soll).

5.2 Vier Räume der Interaktion und die


Isomorphismusannahme
Wir halten an der Annahme eines Holismus der Entwicklungstheorie fest und
interpretieren diesen Begriff so, daß er vier Interaktionsräume abdeckt: die
Räume Natur, Mensch, Gesellschaft und Welt; zu Zeit und Kultur kommen
wir später. Ebenso fest halten wir an der Annahme einer Dynamik der Ent-
wicklungstheorie und interpretieren diese als Änderungen in Richtung Ver-
besserung der menschlichen und anderer Lebensbedingungen; dies jedoch
nur im Sinne ihrer eigenen Voraussetzungen, nicht aber dem einer universel-
len Definition von "gut" oder "besser", es sei denn auf einer sehr hohen Ebe-
ne der Allgemeinheit und Abstraktion. In anderen Worten stellen Holismus,
Dynamik und Meliorismus die Bezugsgrößen der Entwicklungstheorie dar.
Schaut man sich die vier Interaktionsräume an, wird deutlich, daß kein
Mangel an Ansätzen besteht. Für den Raum Natur gibt es die gesamte Schule
des ökologischen Gleichgewichts. Für den menschlichen Körper existiert die
medizinische Tradition, die sich auf körperliche und seelische Gesundheit
konzentriert; daneben gibt es die ganze religiöse Tradition, der es um spiri-
tuelle Gesundheit und Erlösung geht. Den gesellschaftlichen Raum betreffen
all jene Programme, die versuchen, soziale Verbesserungen in gesellschaftli-
che Strukturen, Kulturen und Ideologien einzubauen. Und für den Raum Welt
Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg 323

gibt es Programme, die in die umfassenden "Bauklötze" der Menschheit ein-


gebaut sind, die sozialen Kosmologien der Zivilisationen. Es gibt jedoch kein
Programm der Weltgesellschaft als solcher. Der Raum Welt - jene zentrale
Arena, in der der Frieden errungen werden muß - bedarf noch einer Er-
fassung durch eine Theorie eigener Art, auf der kategorialen Ebene dieses
Raums Welt. Diese darf nicht auf die Ebenen der Gesellschaft, des Menschen
und/oder der Natur beschränkt bleiben, obwohl diese natürlich in Theorien
der Entwicklung eingeschlossen sind - doch muß hier die Weltebene eine ge-
wichtigere Rolle spielen.
Man nehme nun an, wir gingen davon aus, daß es in der Logik des Gleich-
gewichts in den vier Räumen eine gewisse grundlegende Ähnlichkeit geben
und Gleichgewicht zumindest eine wichtige Komponente im Konzept der
Entwicklung darstellen müsse. Gleichgewicht hat etwas mit der Fähigkeit zur
selbsterzeugten Reproduktion zu tun: Das System läuft sozusagen mit seiner
eigene Maschine weiter. Es bleiben uns dann zwei Möglichkeiten. Entweder
wir bedienen uns einer Theorie des Gleichgewichts, die sich auf einen der
Räume stützt, oder aber wir entwickeln eine vollkommen neue, allgemeine
Systemtheorie, um sie alle als "Systeme" abzudecken. Beide Ansätze er-
scheinen sinnvoll, doch gehen wir hier vom erstgenannten aus, den wir dann
mit einigen Begriffen des letzteren anzureichern versuchen. Und damit stellt
sich eine zweite grundsätzliche Frage: Von welchem Raum sollen wir ler-
nen?
Es gibt drei gute Gründe für den Versuch, vom Raum Natur zu lernen:
(1) Die Natur existiert schon viel länger als die Menschen. Als ganze hat
die Natur sich verändert und differenziert und hat dasjenige hervorgebracht,
was üblicherweise als höhere Formen bezeichnet wird - wobei wir Menschen
für uns den Titel der höchsten Lebensform reklamieren. Dementsprechend
muß es irgendeine innere "Weisheit der Natur" geben, von der wir etwas
über Holismus, Dynamik und Nachhaltigkeit lernen können.
(2) Der Raum Natur ist grundlegend, alle anderen hängen von ihm ab.
Hingegen kann die Natur sehr wohl ohne menschliche Lebewesen überleben,
unter Einschluß der Räume Gesellschaft und Welt. Wir sind von der Natur
abhängig, die Natur nicht von uns. Wir zerstören die Natur sogar, wie heute
die ökologische Krise zeigt, und dies in höherem Ausmaß, als die Natur uns
je zerstört hat (durch Naturkatastrophen verschiedener Art). Der gesamte
kosmische Ökozyklus hat die Kosmo-, Atmo-, Hydro-, Litho- und Biosphäre
zur Grundlage, mit der Homosphäre als höchst entbehrlichem Anhang und
der Kosmosphäre als jener Umgebung, die für die Anpassung sorgt.
(3) Vielleicht verstehen wir die Natur besser als uns selbst. Es gibt einen
Abstand zwischen uns und dem Rest der Natur, der einen abstrakten und
verallgemeinernden Intellektualismus erleichtert. Natürlich könnten wir a
324 Entwicklungstheorie

priori sogar noch mehr Verständnis für die anderen drei Räume erwarten, da
wir in ihnen, durch sie und von ihnen leben. Doch aus eben diesem Grund ist
es vielleicht schwieriger, jenen Abstand zu gewinnen, der nötig ist, um zu ei-
nigen fruchtbaren allgemeinen Begriffsbildungen zu gelangen. Wir stehen
uns zu nahe, um uns wahrnehmen zu können, und zuviel steht bei unseren
subjektiven Bewertungen und Interessen auf dem Spiel. Ferner: Ist es nicht
möglich, daß Naturwissenschaftler ganz einfach das Spiel Wissenschaft bes-
ser beherrschen als Geistes- und Sozialwissenschaftler? Oder daß, wie Ein-
stein suggerierte, Naturwissenschaft am leichtesten fällt?
Alles in allem soll jedoch gelten, daß, wenn aus diesen drei Gründen der
Raum Natur in unserem Kontext als Modell der anderen drei gewählt wird,
dies nur einen möglichen Ansatz darstellt, einen, der auf seinen heuristischen
Wert hin überprüft werden soll, wenn wir uns auf die Untersuchung der Be-
dingungen von Reproduktionsfähigkeit bzw. Nachhaltigkeit einlassen.

5.3 Räume und Sub-Räume


Wenn wir so verfahren, ist unser Ausgangspunkt die allgemeine Theorie des
ökologischen Gleichgewichts im natürlichen Raum, der die Räume des Un-
belebten (Atmo-, Hydro- und Lithosphäre) und des Belebten (Mikroorga-
nismen, Pflanzen und Tiere der Biosphäre) umfaßt. Das ökologische Gleich-
gewicht kann man ansehen als begründet durch Differenzierung und eine
Symbiose, die stärker ist als die Leben zerstörende Antibiose. Hierfür gibt es
eine gewisse Plausibilität. Besteht in einem Teil des natürlichen Raums eine
hinreichende Differenzierung des Unbelebten und Belebten (bei Zugang zur
Energie der Kosmosphäre, insbesondere zur Sonnenenergie) und macht das
System von dieser Differenzierung Gebrauch für die Symbiose, indem sich
die Teile aufeinander beziehen, miteinander interagieren, neues Unbelebtes
und Belebtes in Zyklen des Austauschs erzeugen, dann sollte nach einiger
Zeit ein nachhaltiges Gleichgewicht das Ergebnis sein.
Dies ist auch deshalb plausibel, weil so leicht verständlich ist, wie ein Sy-
stem im Raum Natur zusammenbrechen kann: durch einen Mangel an Viel-
falt (das nötige UnbelebteIBelebte steht einfach nicht mehr zur Verfügung)
oder durch eine Fehlfunktion der symbiotischen Mechanismen. Ersterer kann
am Beispiel der landwirtschaftlichen Monokultur veranschaulicht werden,
die künstlich aufrechterhalten werden muß, indem für Differenzierung (zum
Zwecke des Gleichgewichts) durch (Kunst-?) Dünger und (giftige) Pestizide
gesorgt wird. Ein Beispiel für letztere stellt der "nukleare Winter" dar, mit
der grundlegenden Annahme dieses Szenarios, daß wegen Verfinsterung der
Atmosphäre die Interaktion mit der Kosmosphäre so stark reduziert wird, daß
eine zentrale Form der Symbiose im Raum der Natur nicht mehr funktioniert:
Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg 325

die Photosynthese. Die Ausdünnung der Ozonschicht hat dieselbe Wirkung,


jedoch durch den entgegengesetzten Mechanismus: zuviel kosmische Ener-
gie.
Wir werden das gemeinsame Funktionieren von Differenzierung und
Symbiose als Systemreife bezeichnen, und der gemeinsame Gedankengang
für alle vier Räume wird so verlaufen, wie in Tabelle 3.14 auf der folgenden
Seite angegeben.
Der Leser wird in der Kopfzeile die vier Räume finden und in der linken
Spalte neun Einteilungsgesichtspunkte, von denen sich die ersten beiden auf
die vier Räume und die Sub-Räume beziehen. Hier findet sich zunächst die
naheliegende Unterteilung des Raums Natur. Dann folgt der Raum Mensch,
unterteilt in Körper, Psyche und Geist. Die Psyche wird betrachtet als der
Sitz der Emotionen, Willensakte und Kognitionen, der Geist als Sitz von Re-
flexionen über viele Dinge, darunter Emotionen, Willensakte und Kognitio-
nen von sich selbst und anderen - in anderen Worten als Sitz der Selbstrefle-
xion. Im Prinzip sollte dies auch Reflexionen einschließen über die eigene
Fähigkeit zur Reflexion bzw. zur Selbstreflexion sowie zur Reflexion dieser
Selbstreflexion: die Philosophie.
Es ist diese Komplexität, die die Persönlichkeit konstituiert, ohne daß hier
die Notwendigkeit bestünde, die Grenze zwischen Psyche und Geist genau zu
bestimmen oder zu klären, ob der Begriff der Persönlichkeit auch körperliche
Aspekte im rein somatischen Sinne umfaßt. Vertretbar wäre auch die Auffas-
sung, letztere seien Teil des Raumes Natur.
Im Raum Gesellschaft haben wir eine Unterscheidung zwischen Mikro-,
Meso- und Makro-Ebene vorgenommen. Die erste besteht aus der kleinen
Gruppe, die jedes Individuum umgibt und die gewöhnlich auf Verwandschaft
und/oder Freundschaft beruht - mit anderen Worten, aus Primärbeziehungen;
die zweite ist die lokale Ebene der gesellschaftlichen Verbmdungen, öie übii-
cherweise auf Werten und/oder Interessen in einem gesellschaftlichen Sinne
beruhen; und die dritte betrifft die nationale Ebene und die Tertiärbezie-
hungen: Klassifikationen von Menschen nach Geschlecht und Generation,
Rasse und Klasse, Nationen und Einwohnern (territorialer Einheiten).
Schließlich gibt es den Raum Welt für interagierende gesellschaftliche
Räume aller Art. Den makrosozialen Räumen im Sinne von Nationalstaaten
wird viel Aufmerksamkeit gewidmet. Daß dies von Bedeutung ist, wird nie-
mand bestreiten, doch werden hier alle internationalen, transnationalen und
subnationalen Akteure, die ebenfalls im Raum Welt operieren, vernachläs-
sigt, und daher sollte der Begriff offen gehalten werden. Doch wie immer es
um die Beschaffenheit der Akteure bestellt sein mag, es bleibt die Unter-
scheidung zwischen dem Weltsystem, das alle Akteure dieser Art umfasst,
und einem regionalen, einem Subsystem sinnvoll, da der Code, die verdeckte
Tagesordnung, regional vielleicht homogener ist. In der Tat kristallisieren
sich gegenwärtig Regionen heraus als kulturelle Einheiten.
326 Entwicklungstheorie

Tabelle 3.14: Entwicklungsziele und -prozesse: ein systemischer Ansatz


Raum Natur Mensch Gesellschaft Welt
Sub-Raum Kosmosphäre Körper - Soma mikro: primär Welt
Atmo-, Hydro-, Gemüt - Psyche meso: sekundär, Region
Lithosphäre Geist - Seele lokal
Biosphäre makro: tertiär,
national
Code genetischer Code genetischer Code Struktur Kosmologie
Persönlichkeit Kultur WeltlMensch
Kosmologie
System- Lebens- somatische soziale regionale
erhaltung bedürfnisse Bedürfnisse Interessen Interessen
(per geistige Welt-
Definition) Bedürfnisse interessen
Systemreife verschiedene verschiedene verschiedene verschiedene
(Differen- Biotope Homotope Soziotope Systeme in
zierung mit und Austausch- und Austausch- und Austausch- aktiver,
gleichzeitiger zyklen zyklen zyklen friedlicher
Symbiose) Koexistenz
Reproduktion Erneuerung Reproduktion Rekonstruktion Rekonstruktion
(basierend auf Reproduktion
Reife)
Elastizität
gegenüber
Gewalt qua Verletzung von Verletzung von Verletzung von Verletzung von
Bedürfnissen Bedürfnissen Interessen Interessen
und gegenüber
Ausbeutung
qua Verletzung der Verletzung der Verletzung der Verletzung der
Reproduktions Reproduktions Rekonstruktions Rekonstruktions
fahigkeit fähigkeit fahigkeit fahigkeit

Erhaltungs- Ökobalance Selbst- Entwicklung Frieden


ziel verwirklichung

5.4 Entwicklungsziele und -prozesse: ein systemischer


Ansatz
Codes: In der zweiten Zeile findet man eine sehr konventionelle Hierarchie
steigender Komplexität in bezug auf den Menschen, beginnend mit einem
Universum ohne menschliche Wesen, mit kosmischer Energie und Sonnen-
strahlen, und endend mit sehr komplexen Weltsystemen. Hier haben wir eine
Hierarchie Chinesischer Kästchen: Öffne eines, und du wirst in ihm die Wur-
Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg 327

zeIn der nächsten Ebene finden, öffne dieses, und du wirst das nächste fin-
den, usw. Doch jeder Raum wird durch seine eigene Logik gesteuert; jeder
Raum verfügt über das, was in der dritten Zeile als Code oder als Programm
bezeichnet wird. Die Programme stellen Transformationsregeln dar, sie de-
finieren Prozesse dieses Raumes als ziel suchende Entitäten, eingebunden in
komplexe Rückkopplungsbeziehungen.
So ist jeder Organismus in der Biosphäre des Raums Natur Träger eines
genetischen Codes, der durch Reproduktion übermittelt werden kann. Der ge-
netische Code gibt uns die oberen und unteren Grenzen der Spezies in Be-
griffen von Differenzierung, Komplexität, usw. Dies gilt auch für den kör-
perlichen Aspekt menschlicher Wesen. Doch zusätzlich verfügen Menschen
über ein tieferliegendes Selbst, was wir als Code für den nicht-körperlichen
Aspekt ansehen können, zusammengefaßt im Begriff "Persönlichkeit". Dies
ist es, was uns in den Stand versetzt, eine Person von einem Tag auf den
nächsten wiederzuerkennen, da die Persönlichkeit mehr oder weniger diesel-
be bleibt, auch wenn sich ein Teil ihres Verhaltens ändert, in Abhängigkeit
vom Wetter, von dem, was früh am Morgen geschah, vom Essen, das sie spät
am Abend zu sich oder nicht zu sich genommen hat. Ein dramatischer Aspekt
der geistigen Fähigkeiten des menschlichen Lebewesens besteht in seinem
Vermögen, über die eigene Person nachzudenken und vielleicht sogar die
Persönlichkeit durch eine geistige Transformation zu verändern.
Sodann gibt es den Raum Gesellschaft. Der Code wird hier als in Struktur
und Kultur eingebaut betrachtet, in impliziter Form als Programm, und in die
Ideologie auch in einer expliziten Form - wobei "explizit" soviel heißen soll
wie "ausbuchstabiert".
Im Raum Welt erhöht sich die Komplexität sogar nochmals, da wir es hier
mit umfangreicheren Systemen zu tun haben, die viele Entitäten aus dem ge-
sellschaftlichen Raum zusammenführen. Auf dieser Ebene ist es sinnvoll,
von "Tiefenstruktur" und von "Tiefenkultur" zu reden, womit jene strukturel-
len und kulturellen Elemente gemeint sind, die scheinbar verschiedene Ge-
sellschaften oder Systeme einer Region teilen. Vielleicht kann man sie als
Ausdruck einer "Tiefenideologie" betrachten, die ich als Kosmologie be-
zeichne: die "Persönlichkeit einer Kultur", um es einmal so zu sagen. Und
dies wirft natürlich die Frage auf, ob es so etwas wie einen Code für den ge-
samten Raum Welt gibt, der alles umfasst - eine tiefe menschliche Ideologie
jenseits des genetischen Codes, die die meisten Menschen teilen.
Systemerhaltung: Die beiden Schlüsselbegriffe in der Spalte "System-
erhaltung" sind "Bedürfnisse" für die Räume Natur und Mensch sowie "In-
teressen" für die Räume Gesellschaft und Welt. Wir werden sie als die condi-
tio sine qua non für die Erhaltung eines Systems definieren. Werden die Be-
dürfnisse eines Organismus nicht befriedigt, dann löst sich dieser Organis-
mus auf; dies gilt auch für Menschen. Am besten lassen sich unsere Bedürf-
nisse wahrscheinlich verstehen, wenn wir die Struktur und Funktion des
328 Entwicklungstheorie

menschlichen Wesens als eines biologischen Organismus untersuchen (Ana-


tomie, Physiologie), und jenen Körperöffnungen dabei besondere Aufmerk-
samkeit widmen, die funktionieren sollten (Luft, Wasser und Nahrung sollten
herein-, Exkremente herausgelassen werden; Sinneseindrücke müssen Zu-
gang finden, geistige Reaktionen Ausgang; Geschlechtsverkehr und Geburt
sollen stattfinden, und sei es auch nur, weil menschliche Körper offenbar
dementsprechend geschaffen sind, usw.). Es gibt ein Bedürfnis nach Ruhe
und Schlaf, es gibt ein Bedürfnis nach Aktivität. Die Liste könnte umfang-
reich sein. Man betrachte die Liste, setze ein Minus vor eins oder mehrere ih-
rer Glieder, und man erhält eine Liste von Schmerztechniken denjenigen
wohlbekannt, die Strafen zufügen oder Folter und dies in allen gesellschaft-
lichen Sub-Räumen seit unvordenklichen Zeiten, unter Einschluß dessen, was
Eltern Kindern und Männer Frauen angetan haben.
Diese Bio-Bedürfnisse des Menschen fallen unter zwei Kategorien: Zu-
nächst das Bedürfnis zu überleben, und dies bedeutet auf der Ebene des In-
dividuums, nicht der Gewalt - direkter oder struktureller - zu erliegen, und
auf kollektiver Ebene den Fortbestand der menschlichen Rasse. Dann aber
gibt es das Bedürfnis nach etwas mehr als dem Überleben; wir wollen dies
als menschliches Wohlbefinden bezeichnen, das grundlegende Konstituens
der Gesundheitsdefinition der Welt-Gesundheits-Organisation (WHO).
Es ist sofort ersichtlich, wie sehr all dies von der Natur abhängt. Natur ist
der Raum, in dem wir ruhen und aktiv sind. Natur versorgt uns mit den mei-
sten unentbehrlichen Inputs und sie empfängt (und transformiert) einige un-
serer Outputs. Damit die Natur die Menschen als Gastgeber aufnehmen kann,
muß sie stark sein, zumal dann, wenn sich menschliche Lebewesen wie Pa-
rasiten verhalten. Und da Menschen biologische Organismen mit Persönlich-
keiten sind, haben sie neben den Bio-Bedürfnissen noch weitere Bedürfnisse,
die sich vielleicht mit der Stabilität des Raumes der Natur, in den sie einge-
bettet sind, nicht vereinbaren lassen, und die zur Ausbeutung der Natur füh-
ren, zu Expansionismus, usw.
Wie steht es um die geistigen menschlichen Bedürfnisse? Eine mögliche
Klassifikation ist die in Begriffen von Identitäts- und von Freiheits- Be-
dürfnissen. Diese sind dialektisch aufeinander bezogen. Identitätsbedürfnisse
benötigen einen Fixpunkt, einen Kern, um den herum das Individuum Ver-
bindungen außer- und oberhalb seiner selbst als eines biologischen Organis-
mus' aufbauen und ausbauen kann. Und Freiheitsbedürfnisse sind Bedürfnis-
se nach Raum, nach somatischer, psychologischer und geistiger Beweglich-
keit, nach freier Wahl, auf der Suche nach und auf der Flucht vor Bindung.
Vielleicht umfassen die Freiheitsbedürfnisse auch das Bedürfnis, zur Flucht
vor sich selbst fähig zu sein, oder anders: zur gelegentlichen Veränderung je-
ner Programme oder Codes, die in der eigenen Persönlichkeit verankert sind?
Es folgt der komplexe Bereich der Interessen im gesellschaftlichen und im
Raum Welt. Was wären die Interessen eines sozialen Systems oder eines Sy-
Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg 329

sterns sozialer Systeme, handele es sich bei letzteren nun um ein regionales
oder um ein weltumfassendes Gebilde? Wie könnte man z.B. heute "nationa-
le Interessen" verstehen? Um eine lange Debatte abzukürzen: Die hier bezo-
gene Position besteht ganz einfach darin, daß ein soziales System nur ein
einziges legitimes Interesse hat: dasjenige der Befriedigung der grundlegen-
den Bedürfnisse seiner Mitglieder, seien diese nun biologischer oder nicht-
biologischer Art. Hier läßt sich darüber streiten, um welche Mitglieder es
sich handelt: Geht es nur um menschliche Lebewesen oder auch um andere
biologische Organismen? Um alle Tiere oder nur um einige von ihnen? Ich
will nicht behaupten, hier eine Antwort zu haben, fühle allerdings, daß diese
Fragen nie von der Agenda einer friedlichen, entwickelten Gesellschaft ge-
strichen werden sollten.
Die Zurückführung von Interessen auf Bedürfnisse gilt gleichermaßen im
Falle komplexerer Räume, einschließlich des Raumes Welt. Dessen Interesse
besteht in der Befriedigung der Interessen seiner Mitglieder, die Interessen
dieser Mitglieder wiederum bestehen darin, die Bedürfnisse ihrer Mitglieder
zu befriedigen. Da aber letztere schließlich vom endlichen Raum der Natur
abhängen, gibt es eine Grenze für die Bio-Bedürfnisse aller Organismen. Und
da die Bedürfnisse der Organismen auch vom Unbelebten abhängen, ist das
Ausmaß, in dem man dieses zerstören kann, notwendigerweise begrenzt. So
sind wir letztlich abhängig von einem ökologischen Gleichgewicht in einem
Super-Raum, der alle vier Räume umfaßt. Kurz gesagt: der Primat der Natur.
Systemreife: In der fünften Zeile "Systemreife" kommt die kühne An-
nahme in's Spiel, Systemreife sei abhängig vom Ausmaß der Vielfalt, ver-
bunden mit dem Ausmaß an Symbiose zwischen jenen Komponenten, die für
Viefalt sorgen. Je höher der Grad der Systemreife, umso elastischer ist das
System und umso reproduktionsfähiger, letzteres sowohl im Sinne der
Selbsterhaltung und der Erschaffung neuer Generationen wie auch im Sinne
der Entwicklung von Widerstandskraft gegenüber unterschiedlichen Typen
von Beschädigungen, ja, sogar im Sinne eines sich-selbst-Ziele-Setzens im
vorgegebenen Rahmen der Systemreife.
In allen Räumen erfordert dies eine Vielfalt von Typen und Symbiosen.
Im Raum der Natur wollen wir diese Typen als Biotope, im menschlichen
Raum als Homatope und in den Räumen Gesellschaft und Welt als Soziotope
bezeichnen. Wir wollen ferner von einer Logik der Chinesischen Kästchen
ausgehen. Der Raum der Welt ist ein extrem reiches Soziotop, steht jedoch
bis jetzt mit keiner anderen Welt in Interaktion. (Wir hätten sonst von Mun-
datapen gesprochen.) Innerhalb dieses Soziotops befinden sich soziale Sy-
steme, die Exemplare ein und desselben Soziotops oder verschiedener Sozio-
tope sein können; innerhalb dieser sozialen Systeme können sich auf niedri-
geren Komplexitätsebenen wieder gleiche oder unterschiedliche Soziotope
befinden, bis wir an der Basis Homotope erreichen, menschliche Lebewesen,
die denselben oder verschiedenen Typen angehören können und die in sich
330 Entwicklungstheorie

verschiedene Homotope haben können, Neigungen und Eigenschaften, die


mehr oder weniger entwickelt sind.
So könnten wir uns einerseits einen Raum Welt vorstellen, der aus einer
Anzahl von Gesellschaften gleichen Typs bestünde, fußend auf genau dersel-
ben (niedrigen) Anzahl an Komponenten, bevölkert von menschlichen We-
sen einer uniformen Art, die alle dieselben Neigungen in sich hervorgebracht
haben. Andererseits ließe sich eine Welt mit sehr verschiedenen Gesellschaf-
ten denken, die sehr unterschiedliche, in sehr komplexen Interaktionszyklen
miteinander stehende Komponenten enthalten und von sehr unterschiedlichen
menschlichen Wesen bevölkert würden, die in sich selbst ganz uneinheitlich
eine hohe Anzahl sehr unterschiedlicher Komponenten oder Neigungen her-
vorbrächten, die sich ihrerseits in verschiedenen Weisen untereinander kom-
binieren und einander befruchten würden. Eine Welt von einmal sehr niedri-
ger und ein andermal von sehr hoher Entropie - das erste Bild das eines sehr
unterentwickelten, das zweite das eines ziemlich entwickelten Systems. Of-
fensichtlich meint "Entwicklung" hier eher Komplexität und Reproduktions-
fähigkeit als Zielstrebigkeit und Wachstum.
Für den Raum Natur sind dies die allgemeinen Bedingungen ökologischer
Stabilität. Doch ist die Natur ein grausamer Ort. Sicherlich gibt es Zyklen
des Austausches, ökologische Zyklen, die mit Wasser, Kohlendioxid und
Sonnenenergie beginnen und die mit Wasser und Kohlendioxid enden (wäh-
rend Sonnenenergie - dieser freigebige und, wie es scheint, endlose Input -
immer weiter zur Verfügung steht). Doch sind einige dieser Zyklen nicht
dasjenige, wonach wir suchen, wenn wir sie in Verhaltensregeln für die
Räume Mensch, Gesellschaft und Welt übersetzen. Etwa die Nahrungskette,
in der die "höheren" Ebenen die "unteren" verzehren; die Mikroorganismen,
die sich von Unbelebtem ernähren; die Pflanzen, die auch von Mikroorganis-
men leben; die Tiere, die nicht nur Pflanzenfresser sind, sondern auch
Fleischfresser; wir Menschen, die wir alles verzehren, aber nicht wünschen,
daß irgend jemand sich von uns ernährt, nicht einmal wir selbst, so daß wir
dies als Kannibalismus ausmerzen. Offensichtlich benötigen wir eine strenge
Definition der Symbiose als gegenseitiges und nicht allzu ungleiches Profi-
tieren. Austauschzyklen ja, doch mit irgendeiner grundlegenden Form von
Gleichheit. In einigen religiösen Systemen ist diese Norm der Toleranz for-
muliert als ahimsa, Gewaltlosigkeit, in Bezug nicht nur auf menschliche We-
sen, sondern auch auf Tiere (das Vegetariertum im Falle des Hinduismus und
Buddhismus), in einigen Fällen auch auf Pflanzen und sogar Mikroorga-
nismen (etwa im Jainismus). Ahimsa war der Weg Gandhis.
Auf der Ebene des menschlichen Raumes impliziert Vielfalt Respekt und
Toleranz gegenüber anderen Persönlichkeiten, auf der Ebene des gesell-
schaftlichen Raumes Respekt und Toleranz für andere Arten sozialer Organi-
sation. Doch das ist nicht genug. Es bedarf auch der Symbiose: voneinander
Lernen, Austausch, gegenseitiger Nutzen. Und so stehen wir denn da, inmit-
Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg 331

ten einer philosophischen Wildnis: Die Weisheit der Natur läßt sich überset-
zen in moralische Befehle und Normen, aber diese sind nicht die Normen so-
zialer Gerechtigkeit oder Gleichheit. Zudem meint der Begriff der Symbiose
auch keinen Ausgleich zwischen mehr oder weniger günstig ausgestatteten
Entitäten; darum geht es aber bei den Begriffen sozialer Gerechtigkeit und
Gleichheit. Gerechte Symbiose ist eher ein relationales Konzept, das sich auf
die Interaktion zwischen Entitäten bezieht, wobei "gerecht" meint, daß alle
Parteien etwa gleich viel profitieren sollten. Diese Gerechtigkeit sollte der In-
teraktion selbst entstammen, als strukturell und nicht durch Verteilung er-
zeugte Gleichheit.
Es liegt hierin ein Element zirkulärer Argumentation. Einerseits sind wir an
entwickelten und gleichzeitig friedlichen Systemen interessiert; andererseits
stellt die Bereitschaft, in billige und gerechte Beziehungen einzutreten, eine
Entwicklungsbedingung des Systems dar. Dies ist nicht unbedingt problema-
tisch. Man kann vermuten, daß, wenn das System einmal eine gewisse Ebene
der Differenzierung erreicht hat, diese Differenzierung, durch Symbiose, ein
Mehr an Differenzierung erzeugen würde. Differenzierung speist sich gewis-
sermaßen aus sich selbst. Als Ergebnis entsteht ein mehr und mehr elastisches
System, widerstandsfähig gegenüber Beschädigungen von innen und von au-
ßen. Es gibt eine positive Dialektik zwischen Frieden und Entwicklung, in der
Bedeutung, die hier diesen komplexen Begriffen gegeben wurde.
Eine Konsequenz ist hier das Bild eines starken Individuums im Raum
Mensch: eines Individuums, das innerhalb seines bzw. ihres Selbst das Auf-
tauchen, Interagieren, Entwickeln und Reifen verschiedener Tendenzen be-
günstigt. Der innere Dialog menschlicher Lebewesen ist ebenso wichtig wie
derjenige zwischen ihnen. Man betrachte Gandhi als Beispiel: Der Heilige
und der Politiker gehen in eins über, wobei beide miteinander auf hochsym-
biotische Art und Weise interagieren, ohne daß der Heilige den Politiker aus-
getrieben oder der Politiker den Heiligen eliminiert hätte. Man sehe den
Kontrast zu anderen Tendenzen in vielen Gesellschaften, vielleicht insbe-
sondere in der modernen abendländischen Kultur, menschliche Wesen in ein
Prokrustes-Bett zu zwingen, in dem eine begrenzte Anzahl von Eigenschaf-
ten als karrierefördernd und nützlich für die Gesellschaft entwickelt, und dem
Menschen im übrigen beigebracht wird, sich selbst dazu zu bringen, andere
Neigungen zu unterdrücken. Die nachdrückliche Dichotomisierung von Leib
und Seele verlangt entweder den Heiligen oder den Politiker, den Priester
oder den Kaufmann, die Kathedrale oder die Börse - niemals beide.
Natürlich gibt es einen Ausweg: die Segmentierung der Neigungen, d.h.,
eine Person bei der Arbeit zu sein, eine ganz andere in der Familie und wie-
der eine ganz andere in dem Leben, das sie oder er in der Zeit der Muße,
beim Hobby, unter Gleichgesinnten führt. Dieser Formel fehlender Aus-
tauschzyklen bzw. ausfallender Interaktion zwischen den Homotopen inner-
halb des menschlichen Lebewesens haftet etwas Schizophrenes an. Er oder
332 Entwicklungstheorie

sie bezahlt vielleicht teuer: Der Preis für die Unterdrückung wichtiger Nei-
gungen im Inneren des Menschen, die aufzutauchen und sich zu entwickeln
streben, kann in bösartigen Tumoren, aber auch in Schizophrenie oder ande-
ren Formen seelischer Erkrankungen bestehen.
Von hier aus ist es bis zum Raum Gesellschaft nur ein kurzer Schritt. Eine
starke Gesellschaft im hier entwickelten Sinne verbände Soziotope miteinan-
der und ließe sie in kreativer Weise miteinander in Austausch treten. Dies
würde nicht allein auf Marktmechanismen oder allein auf Planungsprozessen
beruhen, sondern auf beiden, auf verschiedenen Ebenen und in verschiede-
nen Verbindungen. Es würde nicht allein auf Zentralismus oder auf Dezen-
tralisierung beruhen, sondern auf beidem. Das Nettoergebnis wäre eine Ge-
sellschaft mit sehr viel komplexerer ökonomischer und politischer Aktivität,
als man heute in den meisten "entwickelten" Ländern findet, in der sich etwa
ein stärker kapitalistischer und ein mehr sozialistischer Sektor, auf lokaler
Ebene wie auf den Makroebenen sozialer Organisation, miteinander verbän-
den. Grün, Rosa und Gelb zugleich, doch nur insoweit sie einander in relativ
sanften Formen tolerieren. Der Autoritarismus von Dunkelblau und Dun-
kelrot allein würde als Verletzung der "Weisheit der Natur" ausgeschlossen,
zugunsten einer ökonomischen Artikulation im lokalen wie im nationalen
Rahmen als Markt sowohl wie als Plan. Und zugunsten einer politischen Ar-
tikulation, ebenfalls lokal wie national, als indirekte und als direkte Demo-
kratie - als Auswahlmechanismus für Repräsentanten und Delegierte wie
auch als ein Weg allgemeiner Partizipation. Partizipation ist ein möglicher
Input, dessen Output nicht nur in gesellschaftlicher, sondern auch in mensch-
licher Entwicklung besteht.
Doch wie steht es um den Raum Welt? Wo haben wir eine Theorie dieser
Art für die globale Ebene? Merkwürdig genug, sind wir wahrscheinlich mit
der sowjetischen Theorie (der Dreißiger Jahre) einer "aktiven und friedlichen
Koexistenz zwischen den zwei Systemen" einer solchen Theorie am nächsten
gekommen. Der Grundgedanke ist der, daß Sozialismus und Kapitalismus
weltweit "koexistieren" können, mit anderen Worten, daß die Welt mehr als
ein Soziotop enthalten kann; daß die Koexistenz "aktiv", und das heißt sym-
biotisch, und zugleich "friedlich", duldsam gegen diese Unterschiede sein
sollte. So finden sich in der sowjetischen Formel beide Komponenten des
ökologischen Denkens.
Doch bedarf diese Feststellung sofort der Qualifizierung durch drei kriti-
sche Hinweise:

(1) Ist dies wirklich eine so gute Theorie für die Welt, warum sollte man sie
dann nicht auch innerhalb der Gesellschaft verwenden? Warum gab es in-
nerhalb der früheren Sowjetunion nicht einige kapitalistische und einige so-
zialistische Republiken - auch wenn dies bedeutet hätte, den Namen des
Landes zu ändern?
Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg 333

(2) Warum sollte es nur Koexistenz zwischen zwei Systemen geben? Warum
nicht zwischen verschiedenen Systemen, auch wenn man die Annahme preis-
geben müßte, daß Kapitalismus und Sozialismus den Bereich der menschli-
chen Vorstellungskraft erschöpfen, was sicherlich nicht der Fall ist. Oder ha-
ben wir es hier mit der üblichen okzidentalen Fixierung auf die Zahl 2 als
Teil der manichäischen Faszination von Dichotomien zu tun (wie sie in
Russland als Bogomilismus besonders gut bekannt ist)?
(3) Und weiter, war dies eine Theorie für den Zielzustand der Welt oder nur
für den Übergang zu einer Welt mit bloß einem Soziotop, den sozialistischen
Ländern? War dies einfach eine bequeme Formel, weil der Kapitalismus zu
stark und noch nicht hinreichend in der Krise war, um sich sein eigenes Grab
zu schaufeln?
Trotz der Gültigkeit dieser drei Einwände weist die Formel ganz ohne Zwei-
fel auf etwas sehr Wichtiges hin. Und sie gibt eine Grundlage für die Konver-
genz des Denkens nicht nur zwischen den vier Räumen, so wie dies hier be-
schrieben wurde, sondern auch zwischen den ideologischen Lagern der Welt
von gestern, indem sie die Toleranz und den Pluralismus, den die kapi-
talistisch-liberalen Gesellschaften proklamieren, mit Gedankengut des sozia-
listischen Lagers verbindet. Hätte die Sowjetunion ihrer eigenen Theorie im
eigenen Land die entsprechende Praxis folgen lassen, dann wäre es ihr nach
1990 bedeutend besser ergangen. Und dasselbe könnte man über die Verei-
nigten Staaten sagen.

Systemreproduktion: Damit können wir zur Spalte 6 übergehen: Reprodukti-


on, die sich der Systemreife bedient. Im Raum Natur gibt es dann eine natür-
lir.he Fähigkeit zur Erneuerung, wenn beide Bedingungen erfüllt sind; diese
ist jedoch bedroht, wenn die Vielfalt und/oder die FähIgkeit zur Symbiose
abnehmen. Dasselbe gilt im Raum Mensch. Offensichtlich findet es Anwen-
dung auf die Reproduktion, die auf zwei Homotope gegründet ist, Mann und
Frau, und deren symbiotische Interaktion: Liebe, Heirat, Geschlechtsverkehr,
gemeinsame Kinderaufzucht. Gerade weil dies so trivial ist, verleiht es dem
Schema einige Validität. Es enthält bereits gerade die Bedingung für die Re-
produktion des menschlichen Raums in einem biologischen Umfeld. In ei-
nem sehr grundlegenden Sinne kommt die Theorie zur Sache.
Das Ganze findet ebenso Anwendung auf die Heilung von Krankheitszu-
ständen. Das menschliche Wesen, das unter vielseitigen Lebensbedingungen
aufgewachsen ist, verfügt durch das freie Zusammenspiel in ihm bzw. in ihr
enthaltener Homotope über eine viel höhere Widerstandskraft gegenüber
Krankheit, über ein Immunsystem, das weit über das hinausreicht, was den
weißen Blutkörperchen zugeschrieben wird. Hochspezialisierte Sportler ster-
ben im mittleren Alter an Überanstrengung des Herzens; das gleiche wider-
fährt den Intellektuellen, die sich nie in irgendeiner Weise um ihren Körper
334 Entwicklungstheorie

geschert haben. Gleichgewicht ist der Schlüssel zur Gesundheit, aber dies ist
nur eine andere Redewendung dafür, in sich selbst viele Blumen wachsen zu
lassen.
Die Logik bleibt dieselbe, wenn wir nun zum Raum Gesellschaft überge-
hen. Eine Gesellschaft, die sich der Marktkräfte wie der Kräfte der Planung
bedient, ist stärker, vorausgesetzt, sie hat nicht nur Vielfalt im quantitativen
Sinne erreicht, sondern auch Symbiose der beiden im Sinne von Inteniktion.
Sie ist stärker wegen des Zusammenflusses der Energien, der der Interaktion
entwächst, wobei die Planung eine milde Steuerungsfunktion auf den Markt
ausübt und einige der Schäden beseitigt, die dessen Sozialdarwinismus ent-
stammen, während zugleich der Markt der Planung Kraft einflößt, nicht zu-
letzt dadurch, daß er ihr etwas zu planen gibt. Doch es gibt auch noch ein
weiteres Moment: Scheitert eine der beiden Komponenten, z.B. weil der
Weltmarkt zusammenbricht oder weil die Planung zu starr wird, so gibt es
immer noch die andere. Auf zwei Beinen steht es sich besser als auf einem;
auf drei (vier, fünf) Beinen noch besser, wenn man die lokale Grundlage der
Ökonomie miteinschließt.
Und die politische Ordnung? Tatsächlich liefert dieser Ansatz als ganzer
sogar eine theoretische Basis für Demokratie, denn was ist Demokratie an-
deres als gerade die symbiotische Interaktion zwischen verschiedenen Par-
teien?
Festzustellen ist, daß beide Bedingungen zu jenen Pfeilern gehören, die
die Grundlage der Demokratie darstellen. Gibt es keine Vielfalt, sondern nur
Uniformität, Homogeneität, nicht nur im Hinblick auf Einstellungen und
Überzeugungen, sondern auch im Hinblick auf Handlungen und Strukturen
innerhalb der Grenzen einer Gesellschaft, wozu soll Interaktion dann gut
sein? Und gibt es nur einen Pluralismus der Einstellungen und der Soziotope,
aber keine Interaktion zwischen ihnen, dann mag man natürlich eine Demo-
kratie im Sinne des Abzählens von Mehrheiten zwischen den individuellen
und kollektiven Akteuren bekommen, doch nicht den ganzen Reichtum des
Systems, der sich gründet auf Geben und Nehmen, Lernen und Lehren, auf
dem Sich-Aneinander-Reiben von Einstellungen, Handlungen und Struktu-
ren, dem gemeinsamen dialektischen Sich~Entwickeln, auf der Achtung, ja
auf dem Genuß des Lebensrechts der anderen Einstellung und des anders
Handelnden. Kurzum, dieser Diskurs umfaßt nicht nur die Liebe und sexuelle
Reproduktion, sondern auch schon die ganze Grundlage des demokratischen
Denkens. Und dies betrachte ich wieder als eine Bestätigung seiner Gültig-
keit.
Sind dies nun die Kennzeichen einer Gesellschaft, dann sollte die Rekon-
struktion im Prinzip leicht fallen. Das gesamte System ist in Bewegung, or-
ganisch. Wird es an einem Punkt getroffen, ist es vielleicht beschädigt, doch
steht in einem reifen System rundherum viel Material zur Rekonstruktion zur
Verfügung. Und im Prinzip gilt das gleiche für den Raum Welt: je einheitli-
Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg 335

cher und interaktionsärmer, umso verletzlicher; je unterschiedlicher und rei-


cher an Symbiose, umso fähiger ist die Welt, sich selbst zu rekonstruieren. In
einer immer stärker schrumpfenden Welt ist dies eine zunehmend wichtige
Problematik.
Systemelastizität: Hier treten die Zeilen 7 und 8 ins Bild. Ihnen gemeinsam ist
die Überschrift "Elastizität", Elastizität gegenüber direkter Gewalt und gegen-
über struktureller Gewalt bzw., man sehe die linke Spalte, gegenüber "Gewalt"
und "Ausbeutung". Direkte Gewalt ist die Verletzung von Bedürfnissen und die
Verletzung von Interessen komplexerer Systeme in den Räumen Gesellschaft
und Welt, d.h. Verletzung ihrer Fähigkeit, die Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu
befriedigen. Bedürfnisse wurden in einem sehr weiten Sinne definiert, unter
Einschluß somatischer wie spiritueller Bedürfnisse sowie derjenigen, die von
direkter Gewalt, wie solcher, die von den schwerfälligen, üblicherweise unbe-
absichtigten Auswirkungen von Strukturen betroffen sind.
Wir erhalten auf diese Weise vier grundlegende Typen von Verletzungen
in der heutigen Welt: die Negation der Überlebensbedürfnisse, bekannt als
"Holocaust"; die Negation der Bedürfnisse des Wohlbefindens, bekannt als
"stiller Holocaust" oder als struktureller Holocaust, wie man auch sagen
könnte: das Erlöschen menschlichen Lebens, das Abschneiden junger Men-
schenblüten, der Jugendlichen und der kleinen Kinder in der Dritten Welt;
die Negation von Freiheitsbedürfnissen, bekannt als KZ und Gulag; und die
Negation von Identitätsbedürfnissen bis hin zu dem Punkt, wo der einzige
Fokus der Identität das eigene Ego ist, die eigenen Bedürfnisse, von Habgier
ganz zu schweigen - in anderen Worten der "spirituelle Tod", verursacht
durch einen materialistischen Individualismus. Systeme mit einem hohen Rei-
fegrad hätten die Zähigkeit, gegenüber solchen Verletzungen widerstands-
fähig zu bleiben und unbeschädigt zu überleben.
Ausbeutung: Diese Zeile nimmt das gleiche Thema noch emmai auf, doch in
grundlegenderer Weise. Sie reicht tiefer. Die Verletzung betrifft nicht mehr
ein besonderes Bedürfnis (oder auf den komplexeren Ebenen ein besonderes
Interesse), sondern die Reproduktionsfähigkeit selbst. Definitionsgemäß ist
"Ausbeutung" die Ingebrauchnahme von irgendetwas in den Räumen Natur,
Mensch, Gesellschaft oder Welt bis hin zu dem Punkt, wo diese Entität nicht
mehr fähig ist, sich selbst zu reproduzieren. Im Raum Natur ist es wohlbe-
kannt, was dies bedeutet: Ressourcen wurden über ihre Erneuerungsfähigkeit
hinaus benutzt, mit dem Ergebnis der Erschöpfung der Ressourcen.
Für den Raum Mensch ist ebenfalls bekannt, was es heißt, eine menschli-
che Ressource über ihre Reproduktionsfähigkeit als Individuum hinaus zu
nutzen: Sie ist schlicht "verbraucht". Ordentlicher nächtlicher Schlaf nach
ausreichendem Essen stellt eine der grundlegenden Bedingungen für Erho-
lung selbst nach ernsthafter Überanstrengung oder Verletzung dar. Ein Indi-
kator für das, was geschieht, läßt sich dadurch gewinnen, daß man eine Zeit-
336 Entwicklungstheorie

lang jeden Morgen den Zustand von Körper, Psyche und Geist eines Men-
schen überprüft, bis hinreichend deutlich ist, daß keine weitere Erholung
stattfindet. Freilich ist das menschliche Reproduktionsvermögen von einer
Generation zur nächsten extrem widerstandsfähig, so daß es im Raum
Mensch eher eine ontogenetische als eine phylogenetische Ausbeutung gibt,
um es einmal so auszudrücken. Die biogenetische Übertragung ist robust, so-
gar nach dem nuklearen Genozid an zwei japanischen Städten.
Eine Gesellschaft, die nicht länger imstande ist, sich selbst zu rekonstruie-
ren, ist eine Gesellschaft, die ihrer Fähigkeit zur autonomen Reproduktion
beraubt wurde. Hier liegt nicht nur eine Schädigung von Interessen vor, es
mangelt zugleich an der Fähigkeit, diese Schädigung aufzuheben. Dies ge-
schieht auch im Raum Welt. Es ist bekannt, daß Kulturen entstehen, reifen,
expandieren und dann schrumpfen, altersschwach werden, bevor sie schließ-
lich sterben. Die Metapher, die Naipaul für Indien gewählt hat: eine "ver-
wundete Kultur", ist angemessen. Doch vielleicht trifft sie für Indien nicht
zu, angesichts der extremen Widerstandskraft dieser besonderen Zivilisation,
die ein sehr einfacher Indikator bezeugt: Sie besteht zumindest 3500 Jahre,
und das ist mehr, als von den meisten anderen Kulturen gesagt werden kann.
Die Verletzung der Reproduktionsfähigkeit bedeutet nicht notwendiger-
weise Tod. Reproduktion ist selbsterzeugt, autonom; doch können Anstöße
auch von außen kommen, wenn das System nicht geschlossen ist. Der Raum
Natur kann künstlich am Leben erhalten, aufrecht erhalten werden durch
Dünger und Pestizide; der Raum Mensch durch biochemische und andere
Arten des ,human engineering', ebenso der Raum Gesellschaft, wie es heute
etwa mit der Dritten Welt mittels Entwicklungshilfe und Verschuldungspro-
grammen geschieht.
Eine notwendige Bedingung besteht natürlich darin, daß es in den vier
Räumen andere Entitäten gibt, die imstande sind, diese Hilfe auszubauen. Im
allgemeinen besteht das Ergebnis wahrscheinlich darin, daß das "verletzte
System" als autonomes System verschwindet, einem Supersystem, dessen
Bestandteil der Spender ist, einverleibt wird und dabei einige Eigenschaften
des Gebers übernimmt. Als ein autonomes System ist es nun allerdings tot. In
gängiger Terminologie: Hier handelt es sich vielleicht um Nachhaltigkeit,
nicht aber um Reproduktionsfähigkeit.

Erhaltungsziel: Dies bringt uns zur letzten Reihe: Was ist das Ziel dieser gan-
zen Übung in Systemerhaltung? Dieses Ziel besteht nicht in der Reife des
Systems als solcher - diese ist eher eine Bedingung, auf der aufzubauen ist.
Für den Raum Natur besteht das Ziel in der ökologischen Stabilität, und das
heißt in einem System, das die Menschen auch als Ressource benutzen kön-
nen, ohne seine Reproduktionsfähigkeit zu verletzen. Reife ist eine Bedin-
gung dieser Stabilität. Doch Stabilität reicht weiter, sie muß gehegt und dar-
über hinaus entwickelt werden.
Entwicklungstheorie: ein Ansatz über die Räume hinweg 337

Im Raum Mensch kann man ein ähnliches Ziel definieren: Gesundheit im


weiten Sinne dieses Worts, im Sinne eines somatischen, seelischen und so-
zialen Wohlbefindens, wie dies von der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
zum Ausdruck gebracht wird. Erneut ist Systemreife eine Bedingung, auf der
somatische, psychische und geistige Gesundheit, bekannt als "menschliche
Entwicklung" oder Selbstverwirklichung, gegründet werden können.
Das Gesagte findet ebenso Anwendung auf die Räume Gesellschaft und
Welt. Wieder ist Systemreife bloße Bedingung, daß Entwicklung stattfinden
kann. Sie ist wie ein festes Fundament, wie der Fels, auf dem umfassendere
Strukturen errichtet werden können. Gleichzeitig vermittelt sie eine Vorstellung
davon, wie die Konstruktion erfolgen sollte: im Geiste des Pluralismus. Stehen
mehrere Vorstellungen im Raum, warum dann nicht einige von diesen statt ei-
ner nur praktizieren? Und warum sollte man sie nicht miteinander interagieren
lassen? Die Geschichte der Kulturen scheint darauf hinzudeuten, daß dann,
wenn die Herrschenden vermeinen, die eine, einzig richtige Vorstellung her-
vorgebracht und innerhalb einer sozialen Ordnung mit nur einem einzigen So-
ziotop in die Praxis umgesetzt zu haben, das Ende dieser Kultur in Sicht ist. Die
endgültige Lösung ist genau das, das Ende des Systems selbst. Das Ende der
Geschichte. Aus eben diesem Grunde hat der Frieden dynamisch zu sein.

5.5 Entwicklung: alle Länder, alle Räume


Der Schluß ist eindeutig: Entwicklung als ein Programm, eine Theorie, eine
Praxis hat Implikationen für alle Länder der Erde. Anstatt der bipolaren
Kennzeichnung, die den Kolonialismus überlebt hat: MDCslLDCs (oder
entwickelte/sich entwickelnde Länder) würde die bessere Formel lauten, daß
alle Länder entwicklungsgestört sind, jedoch auf unterschiedliche Art und
Weise, und daß sich die jeweilige Fehlentwicklung in den verschiedenen
Räumen zeigt. Ein großer Schritt vorwärts erfolgte mit der Konzentration auf
den Raum der Natur nach der Konferenz von Stockholm 1972, der Konzen-
tration auf menschliche Entwicklung in den jüngsten Berichten des United
Nations Development Program und der Konzentration auf soziale Entwick-
lung nach der Kopenhagener Konferenz von 1995. Der Begriff der "Nachhal-
tigkeit" öffnet sich für Überlegungen zur Reproduktionsfähigkeit, auch wenn
Theorie und Praxis dies betreffend noch viel zu wünschen übrig lassen. Es
fehlt insbesondere ein Begriff der Weltentwicklung, d.h. ein Konzept, wie all
diese Anstrengungen aufeinander abgestimmt werden können. Und die nega-
tiven Auswirkungen der ökonomistischen Kultur haben bislang den vielen
Angriffen recht erfolgreich Widerstand geleistet.
Es bleibt, kurz gesagt, viel zu tun: begrifflich, theoretisch, praktisch. Und
es gibt keinen Grund, sich vor holistischen Ansätzen zu fürchten. Sie sind
338 Entwicklungstheorie

zwar umfassend, müssen aber nicht totalitär sein. Besser kleine Bewegungen
in allen Räumen in Richtung Entwicklung als große Sprünge in nur eine
Richtung.
Teil IV: Zivilisationstheorie
1 Kulturelle Gewalt

1.1 Zur Definition


Unter kultureller Gewalt verstehen wir jene Aspekte der Kultur, der symboli-
schen Sphäre unserer Welt - man denke an Religion und Ideologie, an Spra-
che und Kunst, an empirische und formale Wissenschaften (Logik, Mathe-
matik) -, die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt
zu rechtfertigen oder zu legitimieren. 2. ' Sternenbanner, Kreuze und Sicheln,
Flaggen, Hymnen und Militärparaden, das allgegenwärtige Porträt des Füh-
rers, Hetzreden und Plakate - all dies fällt einem dazu ein. Warten wir aber
mit Beispielen bis zum vierten Abschnitt dieses Kapitels, um zunächst mit
der Analyse zu beginnen.
Die vorerwähnten Züge betreffen "Aspekte einer Kultur", nicht jedoch
diese als ganze. Ein Mensch, der einen potentiellen Mörder dadurch ermutigt,
daß er schreit: "Töten ist Selbstverwirklichung!", mag damit zwar beweisen,
daß die deutsche Sprache in der Lage ist, derartige Gedanken auszudrücken.
Er beweist jedoch dadurch nicht, daß die deutsche Sprache an sich gewalttä-
tig ist. Ganze Kulturen als gewalttätig einzustufen, ist nur schwer möglich;
das ist auch einer der Gründe dafür, die Formulierung "Aspekt A von Kultur
C ist ein Beispiel für kulturelle Gewalt" Stereotypen wie "Kultur C ist eine
gewalttätige Kultur" vorzuziehen. Andererseits könnte man sich Kulturen
vorstellen, kann ihnen auch tatsächlich begegnen, die nicht nur einen, son-
dern einen ganzen Satz von Aspekten aufweisen, die so gewaltträchtig, so
weitgespannt, vielfältig und dabei alle kulturellen Bereiche umfassend sind,
daß es gerechtfertigt sein mag, an statt von Fällen kultureller Gewalt von ei-

269 Das Konzept der "kulturellen Gewalt" tritt in die Fußstapfen des Konzepts der
"strukturellen Gewalt"; vgl. Johan Galtung: Violence, Peace and Peace Research, in:
Journal 0/ Peace Research, Bd. 6, 1969, Nr. 3, S. 167-191. Für eine neuere, sehr
konstruktive Kritik und Bemühung, den Ansatz weiterzuentwickeln, s. Michael Roth:
Strukturelle und personale Gewalt: Probleme der Operationalisierung des Ge-
waltbegriffs von Johan Galtung. HSFK-Forschungsbericht, Nr. I, April 1988. Ein
ähnliches Konzept hat Hans Saner eingeführt: Personale, strukturelle und symboli-
sche Gewalt, in: ders.: Hoffnung und Gewalt. Zur Ferne des Friedens. Basel 1982, S.
73-95.
342 Zivilisationstheorie

ner Gewaltkultur zu sprechen. Hierfür bedarf es eines systematischen For-


schungsprozesses, als dessen Bestandteil sich dieses Kapitel versteht.
Ein möglicher Beginn, uns Klarheit über den Begriff kultureller Gewalt zu
verschaffen, wäre, nach seiner Negation zu fragen. Wenn das Gegenteil von
Gewalt Frieden ist, der Untersuchungsgegenstand der Friedensforschung
oder Friedenswissenschaft, dann wäre das Gegenteil von kultureller Gewalt
"kultureller Frieden": Aspekte einer Kultur, die dazu geeignet sind, direkten
und strukturellen Frieden zu rechtfertigen und zu legitimieren. Verfügt eine
Kultur über viele und viele verschiedene Aspekte dieser Art, so können wir
sie als eine "Friedenskultur" bezeichnen. Eine der Hauptaufgaben der Frie-
densforschung und der Friedensbewegung ganz generell ist die nie endende
Suche nach einer Friedenskultur; das aber ist problematisch, weil dabei die
Versuchung besteht, diese Kultur zu institutionalisieren, zu verordnen - in
der Hoffnung, daß sie bald überall internalisiert wird. Das aber wäre bereits
direkte Gewalt, bedeutete es doch, jemandem eine Kultur aufzuzwingen. 27o
Kulturelle Gewalt läßt direkte und strukturelle Gewalt rechtmäßig erschei-
nen, ja als rechtmäßig - zumindest aber nicht als Unrecht - empfinden. Wie
sich die Politikwissenschaft mit zwei Problemen - dem Gebrauch der Macht
und der Legitimation des Gebrauchs der Macht - auseinandersetzt, so geht es
auch bei den Gewaltanalysen um zwei Probleme: die Anwendung von Ge-
walt und die Legitimation dieser Anwendung. Der psychologische Mecha-

270 Es hat viele Versuche gegeben, den "neuen Menschen" zu schaffen. In der westli-
chen Welt stellte jeder neue Zweig des Christentums einen solchen Versuch dar, aber
das gilt auch vom Humanismus oder Sozialismus. Aber die Imprägnierung irgend-
welcher Menschen mit irgendeiner Kultur ist in sich selbst ein Akt direkter Gewalt
(da vom Akteur beabsichtigt), der in der Regel die Desozialisierung aus einer und die
Resozialisierung in einer anderen Kultur impliziert - einschließlich der allerersten
Sozialisation des jungen (wehrlosen) Kindes. Wenn Kultur jedoch conditio sine qua
non eines menschlichen Wesens ist, wir ohne diese (nur mit Dispositionen dazu) ge-
boren wurden und der Vorgang kultureller Sozialisation ein Akt der Gewalt ist, dann
sind wir mit dem Grundproblem von Erziehung konfrontiert: Ist "bilden" (to edu-
cate) ein transitives oder ein intransitives Verb? Natürlich ist es beides, hermeneu-
tisch betrachtet. Friedliche Erziehung, Sozialisation eingeschlossen, würde wahr-
scheinlich, wie unten begründet, ein Sich-verschiedenen-Kulturen-Aussetzen mit
nachfolgendem Dialog bedeuten. Weder das Christentum noch der Humanismus
überzeugen hierin, und tatsächlich wissen wir immer noch nicht, wie man es tun
sollte. Festgehalten werden sollte, daß der Vorgang, jemandem, gleich ob direkt oder
strukturell, eine Kultur aufzuzwingen, nicht das ist, was hier mit kultureller Gewalt
gemeint ist. Kulturelle Aspekte jedoch, die diesen Zwang rechtfertigen, mit der Be-
gründung etwa, diese Kultur sei "höher" (oder monotheistisch, modern, wissen-
schaftlich etc.), würden in diese Kultur eingebaute Gewalt darstellen, mit anderen
Worten: kulturelle Gewalt. "Tatsächliche oder potentielle Legitimation von Gewalt"
ist also das Erkennungszeichen kultureller Gewalt.
Kulturelle Gewalt 343

nismus wäre der einer Internalisierung. 271 Die Analyse kultureller Gewalt
hebt die Art und Weise hervor, in der der Akt direkter und die Gegebenheit
struktureller Gewalt legitimiert und so für die Gesellschaft akzeptabel ge-
macht werden. Kulturelle Gewalt funktioniert zum einen dadurch, daß sie die
"moralische Färbung" einer Handlung von rot/falsch auf grün/richtig oder
zumindest auf gelb/akzeptabel schaltet; ein Beispiel hierfür wäre: "Töten zu-
gunsten seines Landes ist gerechtfertigt, zu eigenen Gunsten jedoch unge-
rechtfertigt." Zum anderen macht sie die Realität so undurchsichtig, daß wir
eine gewalttätige Handlung oder Tatsache überhaupt nicht wahrnehmen oder
sie zumindest nicht als solche erkennen. Das ist bei manchen Formen von
Gewalt offensichtlich einfacher als bei anderen (man denke etwa an den ab-
ortus provocatus). Deshalb benötigt die Friedensforschung in ähnlicher Wei-
se eine Gewalttypologie, wie die Pathologie zu den Voraussetzungen der Me-
dizin gehört.

1.2 Eine Typologie direkter und struktureller Gewalt


Ich begreife Gewalt als vermeidbare Verletzungen grundlegender menschli-
cher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen
Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzen, was potentiell mög-
lich ist. Gewaltandrohungen sind ebenfalls Gewalt. Wenn wir die Unterschei-
dung zwischen direkter und struktureller Gewalt mit vier Gruppen grundle-
gender Bedürfnisse verbinden, dann erhalten wir die in Tabelle 4.1 darge-
stellte Typologie. Die vier grundlegenden Bedürfnisklassen - ermittelt in
extensiven Dialogen in vielen Teilen der Welt - sind: Überlebensbedürfnisse
(Negation: Tod, Sterblichkeit); Wohlbefindensbedürfnisse (Negation: Elend,
Krankhaftigkeit), ldentitäts-, Sinnbedürfnisse (Negation: Entfremdung) und
Freiheitsbedürfnisse (Negation: Repression).272

271 Wir differenzieren dann schematisch Kontrollmechanismen nach inneren/äußeren


und positiven/negativen. Ein innerer positiver Kontrollmechanismus ist ein gutes, ein
negativer ist ein schlechtes Gewissen; ein äußerer positiver Kulturmechanismus ist
eine Belohnung, ein äußerer negativer eine Bestrafung. "Internalisierung" ist ein tief
im Persönlichkeitssystem verwurzelter Bewußtseinszustand, "Institutionalisierung"
qua Belohnung oder Bestrafung dagegen tiefverwurzelt im sozialen System. Beides
dient dazu, die Handlung "natürlich", "normal", "freiwillig" geschehen zu lassen.
Dieses Stückchen elementarer Sozialwissenschaft könnte dazu dienen, kulturelle und
strukturelle Gewalt in's Zentrum der Theoriebildung der Allgemeinen Soziologie zu
plazieren.
272 Hierzu vgl. auch Johan Galtung: .. The Basic Needs Approach", in: Katrin Lederer,
David Antal. Johan Galtung (Hgg.): Human Needs: a Contribution to the Current
Debate. Cambridge, MA 1980, S. 55-125.
344 Zivilisationstheorie

Tabelle 4.1: Eine Typologie der Gewalt


Überlebens- Wohl- Identitäts- Freiheits-
bedürfnisse befindens- bedürfnisse bedürfnisse
bedürfnisse
Direkte Töten Verstümmeln DesoziaJisierung Repression
Gewalt Belagerung, Resozialisierung Haft
Sanktionen ,Bürger zweiter Ausweisung
Elend Klasse'
Struk- Ausbeutung A Ausbeutung B Penetration Marginalisierung
turelle
Gewalt ~stark~ ~schwach2 Segmentierung Fragmentierung

Das Ergebnis besteht in acht Typen von Gewalt mit einigen Untertypen, die
im Falle direkter Gewalt leicht identifiziert werden können, im Falle struktu-
reller Gewalt jedoch komplexer sind.
Eine erste Anmerkung zu Tabelle 4.1 könnte sein, daß sie anthropozen-
trisch ist. Wir könnten damit beginnen, eine fünfte Spalte für den "Rest" der
Natur, als sine qua non des menschlichen Daseins, hinzuzufügen. "Ökolo-
gisches Gleichgewicht" ist wohl die am häufigsten verwendete Bezeichnung
für die Erhaltung des Umweltsystems. Wird dieses nicht gewahrt, kommt es
zu Degradation, Zusammenbruch oder Unausgewogenheit der Ökosphäre.
Für die grundlegende Erhaltung des Menschen ist das ökologische Gleich-
gewicht von der gleichen Bedeutung wie die Summe aus Überleben + Wohl-
befinden + Freiheit + Identität. Die Summe aller fünf zusammengenommen
definiert "Frieden".
"Ökologisches Gleichgewicht" ist jedoch eine sehr weite Kategorie, die
Belebtes (Biota) und Unbelebtes (Abiota) gleichermaßen umfaßt. Gewalt,
definiert als Beeinträchtigung des Lebens, wäre auf die belebte und nur indi-
rekt auf die unbelebte Natur gerichtet. Darüber hinaus ergeben sich schwieri-
ge und wichtige Fragen, wie zum Beispiel: Gleichgewicht für wen? Für die
Menschen, um sich zu reproduzieren? Auf welcher Stufe wirtschaftlicher
Aktivität und für welche Anzahl? Oder gälte die Gleichgewichtsforderung
für die "Umwelt" (was für ein anthropozentrischer Begriff!), um sich selbst
zu reproduzieren? Für alle Teile, gleichgewichtig, auf welcher Stufe, in wel-
cher Anzahl? Oder gälte sie für Mensch und Umwelt?
Zweitens sollten auch die Mega-Versionen der obigen unscheinbaren
Worte betrachtet werden, die die verschiedenen Arten von Gewalt bezeich-
nen. Für "Töten" setze man ein Auslöschung, Holocaust, Völkermord. Für
"Elend" stiller Holocaust. Für "Entfremdung" geistig-seelischer Tod. Für
"Repression" Gulag/KZ. Für "ökologische Degradierung" Ökozid. Für alles
zusammen: Omnizid. Diese Worte mögen sich anhören wie der Versuch, apo-
kalyptisch zu sein, wäre da nicht die Tatsache, daß die Welt allein in den ver-
gangenen 50 Jahren all diese Dinge erlebt hat - eng verbunden mit den Na-
Kulturelle Gewalt 345

men Hitler, StaUn und Reagan 27J sowie mit dem japanischen Militarismus 274 •
Kurz gesagt, mögen Gewaltstudien als unerläßlicher Teil von Friedensstu-
dien auch ein Horrorkabinett sein, so reflektieren sie doch, der Pathologie
vergleichbar, eine Realität, die man kennen und verstehen muß.
Noch einige weitere Anmerkungen zum Inhalt der oben dargestellten Ta-
belle. Die erste Gewaltkategorie "Töten" ist klar genug, ebenso wie die des
Verstümmeins. Zusammengenommen bilden sie die der Abschätzung des
Ausmaßes eines Krieges dienenden "Verluste". Aber "Krieg" ist nur eine be-
stimmte Form orchestrierter Gewalt, an der normalerweise mindestens ein
Akteur, eine Regierung, beteiligt ist. Deshalb ist es völlig unzureichend, Frie-
den nur als das Gegenteil von Krieg zu betrachten und Friedensforschung auf
Analysen zur Verhinderung von Kriegen und insbesondere auf die Vermei-
dung von Groß- oder Superkriegen (als Kriegen zwischen Groß- oder Super-
mächten) oder noch enger auf die Begrenzung, Abschaffung oder Kontrolle
von Super-Waffen zu beschränken. Wichtige Querverbindungen zwischen
verschiedenen Arten von Gewalt bleiben dabei unberücksichtigt, insbe-
sondere aber die Art und Weise, wie die Reduktion oder Kontrolle eines Ge-
walttyps um den Preis der Aufrechterhaltung oder gar Verstärkung eines an-
deren durchgesetzt wird. Ebenso wie die sogenannten "Nebenwirkungen" in
der Krankheitsbekämpfung sind sie von großer Bedeutung, werden aber
leicht übersehen. Die Friedensforschung sollte diesen Fehler vermeiden.'"
Unter den Begriff des Verstümmelns fällt auch die durch Belagerung/
Blockade (klassischer Begriff) und Sanktionen (moderner Begriff) hervorge-
rufene Verletzung menschlicher Bedürfnisse. Manchen gilt dies als "Gewalt-
losigkeit", weil direktes und unmittelbares Töten vermieden wird. Für die
Opfer kann es jedoch bedeuten, durch Unterernährung und das Fehlen medi-
zinischer Versorgung langsam, aber absichtlich getötet zu werden, wobei die
Schwächsten, die Kinder, die Alten, die Armen, die Frauen, zuerst betroffen
sind. Indem er die Ursachenkette verlängert, vermeidet es der Akteur, sich
der Gewalt direkt stellen zu müssen. Er gibt seinen Opfern sogar "eine Chan-
ce", die normalerweise darin besteht, sich zu ergeben, was den Verlust der
Freiheit und Identität anstelle des Verlustes von Leben und Gliedmaßen, oder

273 Als einen Versuch des Vergleichs dieser drei Systeme (und nicht einfach des Hitle-
rismus und Stalinismus, wie im Glasnost-Revisionismus üblich) s. J. Galtung: Hitle-
rismus, Stalinismus, Reaganismus. Drei Variationen zu einem Thema von Orwell,
Baden-Baden 1987.
274 Es gibt hier starke Ähnlichkeiten, die sich um die Shinto-Themen der Erwähltheit
herum aufbauen. Für eine Analyse derselben vgl. Saburo Ienaga: The Pacific War:
1931-45, New York 1978, besonders S. 154, den Begriff hakko ichiu (die acht Wei-
tenden unter einem Dache) betreffend.
275 Ein bequemer Ansatz ist es, alle "Nebeneffekte" an der Schwelle anderer Disziplinen
abzuladen und von diesen zu verlangen, für konzeptionelle Klarheit zu sorgen, theo-
retisch und praktisch - wie Ökonomen es zu tun pflegen.
346 Zivilisationstheorie

anders: den Eintausch der letzten zwei genannten Arten direkter Gewalt ge-
gen die ersten zwei bedeutet. Der dahinterliegende Mechanismus bleibt je-
doch die durch Belagerung, Boykott oder Sanktionen hervorgerufene Bedro-
hung der Lebensgrundlage. Der in der Tradition Gandhis stehende Typ des
Wirtschaftsboykotts kombinierte die Weigerung, britische Textilien zu kau-
fen, mit der Sammlung von Geld für die vom Boykott betroffenen Händler,
um seine Absichten nicht durch die Bedrohung deren Überlebens zu entstel-
len.
Die Kategorie ..Entfremdung" kann sozialisationstheoretisch im Sinne ei-
ner spezifischen Internalisierung von Kultur definiert werden. Dies beinhaltet
einen Doppelaspekt: von der eigenen Kultur weg- und in eine andere Kultur
hineinsozialisiert zu werden; ein Beispiel wäre das Verbot der eigenen und
der Zwang zur Verwendung einer fremden Sprache. Zwar setzt das eine das
andere nicht voraus, aber oft treten sie zusammen auf, was sich fassen läßt
durch die Kategorie der Staatsbürgerschaft zweiter Klasse. Dabei wird die
unterdrückte Gruppe, nicht notwendigerweise eine ..Minderheit", gezwun-
gen, zumindest in der Öffentlichkeit anstatt der eigenen einer dominanten
Kultur Ausdruck zu verleihen. Das Problem besteht natürlich darin, daß jede
Sozialisierung eines Kindes - in der Familie, in der Schule, in der Gesell-
schaft generell - mit Zwang durchgesetzt wird, also eine Art Gehirnwäsche
darstellt, die dem Kind keine Wahl läßt. Konsequenterweise ließe sich dar-
aus, und das wäre nicht allzu weit hergeholt, schließen, daß eine nicht ge-
walttätige Sozialisation darin bestünde, dem Kind eine Wahl zu lassen, ihm
also z.B. mehr als ein kulturelles Idiom anzubieten.
Die Kategorie ..Repression" weist einen ähnlichen Doppelsinn auf: die
..Freiheit von" und die ..Freiheit zu", wie sie, mit historischen und kulturellen
Begrenzungen/76 in der Internationalen Menschenrechtscharta277 verankert
ist. Zwei weitere Kategorien habe ich wegen ihrer Bedeutung als Begleiter-
scheinungen anderer Arten von Gewalt explizit hinzugefügt: Haft, das heißt,
Menschen einzusperren (in Gefängnisse, Konzentrationslager), und Vertrei-
bung/Ausweisung, was bedeutet, Menschen auszusperren (sie ins Ausland
oder an abgelegene Orte zu verbannen).
Um die Kategorien struktureller Gewalt diskutieren zu können, benötigen
wir die Vorstellung einer Gewaltstruktur und ein Vokabular, einen Diskurs,
um ihre einzelnen Aspekte identifizieren und feststellen zu können, in wel-
cher Beziehung sie zu den Bedürfniskategorien stehen. Meines Erachtens
bildet Ausbeutung den Kernbereich der archetypischen Gewaltstruktur. Dies

276 Vgl. hierzu J. Galtung: Menschenrechte - anders gesehen, Frankfurt/M. 1994, Kap.
2.
277 Ein Dokument, das aus der Allgemeinen Erklärung von 1948, den beiden Ergänzun-
gen von 1966 und dem Freiwilligen Protokoll besteht. Die Charta hat noch nicht die
Anerkennung gefunden, die sie verdient, neben anderen Gründen auch deswegen,
weil die USA es nicht geschafft haben, alle Ergänzungen zu ratifizieren.
Kulturelle Gewalt 347

bedeutet nichts anderes, als daß manche, nämlich die sogenannten Topdogs,
aus der innerhalb dieser Struktur stattfindenden Interaktion einen wesentlich
höheren Gewinn ziehen (hier gemessen in Bedürfniseinheiten) als andere, die
sogenannten Underdogs. 278 Es besteht ein "ungleicher Austausch", was al-
lerdings einen Euphemismus darstellt. Die Underdogs können nämlich fak-
tisch derart benachteiligt sein, daß sie daran sterben (verhungern oder infolge
Krankheiten dahinsiechen): Ausbeutung A. Ausbeutung B bedeutet, die Un-
derdogs einem permanenten ungewollten Elendszustand zu überlassen, der
normalerweise Unterernährung und Krankheit mit einschließt. Die Art und
Weise, wie Menschen sterben, variiert; sterben sie in der Dritten Welt an Di-
arrhöe und Immunschwächen, so in den "entwickelten" Ländern, verfrüht
und vermeidbar, an Herzgefäßerkrankungen und malignen Tumoren. All dies
geschieht innerhalb komplexer Strukturen und am Ende langer, verzweigter
Kausalketten und Zyklen.
Eine Gewaltstruktur hinterläßt ihre Spuren nicht nur auf dem menschli-
chen Körper, sondern auch in seinem Gedächtnis und in seinem Geist. Die
nächsten vier Begriffe können als Bestandteile der Ausbeutung oder als in
der Ausbeutungsstruktur enthaltene verstärkende Komponenten verstanden
werden. Ihre Funktion ist es, Bewußtseinsbildung und Mobilisierung, zwei
Bedingungen für einen erfolgreichen Kampf gegen Ausbeutung, zu verhin-
dern. Ersteres wird erreicht durch die Penetration des Underdog-Bewußt-
seins durch Topdog-Ideologien in Verbindung mit der Segmentierung, die
dem Underdog nur einen sehr beschränkten Blick auf die Wirklichkeit er-
laubt. Letzteres ist das Ergebnis zweier Prozesse, der Marginalisierung und
der Fragmentierung. Dabei werden die Underdogs zum einen an den Rand
gedrängt und zur Bedeutungslosigkeit verurteilt, zum anderen entzweit und
voneinander ferngehalten.
Jedoch bezeichnen diese vier Begriffe auch Formen struktureller Gewalt
ganz eigenen Rechts und, spezieller noch, Variationen strukturell eingebauter
Repression. Sie alle kommen auch im Zusammenhang mit der Geschlechter-
frage zur Anwendung - auch dann, wenn Frauen nicht immer höhere Sterbe-
und Krankheitsraten aufweisen, sondern in der Tat höhere Lebenserwartun-
gen haben mögen als Männer, vorausgesetzt, sie überleben die (ihrem Ge-
schlecht) drohende Abtreibung und Kindstötung sowie die ersten Jahre der
Kindheit. Kurz gesagt, als Formen von Gewalt gehen Ausbeutung und Un-
terdrückung Hand in Hand, ohne jedoch identisch zu sein.
Wie sieht es nun mit der Gewalt gegenüber der Natur aus? Auch hier gibt
es, wie im Krieg, direkte Gewalt, in der Form des Fällens, des Verbrennens
usw. der Bäume. Die strukturelle Form derartiger Gewalt ist schleichender,
sie zielt nicht darauf ab, die Natur zu zerstören, aber führt genau zu diesem

278 Mehr dazu bei J. Galtung: Peace anti Social Structure. Essays in Peace Research.
Bd. 4. besonders Teil 1-3. Kopenhagen 1978.
348 Zivilisationstheorie

Ergebnis. Die mit der modernen Industrie einhergehende Naturverschmut-


zung und -erschöpfung führt zu sterbenden Wäldern, Ozonlöchern, Erder-
wärmung usw. Was hier vor sich geht, ist die Transformation der Natur
durch industrielle Aktivität, die nichtabbaubare Reste zurückläßt und nicht-
erneuerbare Ressourcen ausbeutet. Dieser Prozeß ist verbunden mit einer
weltumfassenden Kommerzialisierung, die die Konsequenzen für die Täter
unsichtbar macht. 279 Hier sind in der Tat zwei mächtige Strukturen am Werk,
die sich durch ökonomisches Wachstum legitimieren. Das Modewort eines
"nachhaltigen ökonomischen Wachstums" könnte sich als nur eine weitere
Form kultureller Gewalt erweisen.

1.3 Zusammenhänge zwischen drei Typen von Gewalt


Die bisherigen Bemerkungen dienten dazu, Gewalt extensional durch die in
Tabelle 4.1 genannten Typen zu definieren, wobei direkte und strukturelle
Gewalt als übergreifende Kategorien oder "Super-Typen" verwendet wurden.
"Kulturelle Gewalt" kann nun als dritter Super-Typ hinzugefügt und als
Leitbild in die dritte Ecke eines (teuflischen) Gewaltdreiecks eingefügt wer-
den. Wenn das Gewaltdreieck auf seine Füße der "direkten" und der "struk-
turellen" Gewalt gestellt wird, dann erscheint die kulturelle Gewalt als die
Legitimation von beidem. Stellt man das Dreieck hingegen auf den Kopf, auf
seine "direkte Gewalt"-Spitze, so vermittelt es eine Vorstellung von den struk-
turellen und kulturellen Quellen direkter Gewalt. Natürlich bleibt das Dreieck
immer ein Dreieck, aber das Bild, das produziert wird, ist unterschiedlich,
und alle sechs möglichen Dreieckspositionen - drei nach oben, drei nach
unten weisend - beschwören jeweils eine etwas andere, erzählenswerte Ge-
schichte.
Trotz der Symmetrien existiert eine grundlegende Differenz in der Zeitre-
lation der drei Gewaltkonzepte. Direkte Gewalt ist ein Ereignis, strukturelle
Gewalt ist ein Prozeß mit Höhen und Tiefen, kulturelle Gewalt ist eine Inva-
riante, eine ,,Permanenz",280 die aufgrund der nur langsamen Transformatio-
nen grundlegender Aspekte der Kultur über lange Zeiträume hinweg im we-
sentlichen unverändert bleibt. Ausgedrückt in der nützlichen Terminologie
der französischen Annales-Schule der Geschichtswissenschaft: (histoire) eve-
nementielle, conjoncturelle, la longue durte. Die drei Arten von Gewalt ver-

279 Es ist also diese Ebene, auf der der Umweltzerstörung entgegengearbeitet werden
muß, durch Prozesse der De-Industrialisierung und der De-Kommerzialisierung und
nicht durch die Umwandlung eines Typs von Naturverschmutzung und -erschöpfung
in einen anderen, durch Flickschusterei an diesem großen globalen Problem.
280 Vgl. J. Galtung: Methodology and Ideology. Essays in Methodology, Bd. I, Kopen-
hagen 1977, Kap. 9.
Kulturelle Gewalt 349

halten sich also auf der Zeitachse unterschiedlich, vergleichbar etwa mit der
in der Erdbeben-Theorie vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem
Erdbeben als Ereignis, der Bewegung der tektonischen Platten als einem Pro-
zeß und der Bruchlinie als einem eher permanenten Zustand.
Dies führt zu einem Gewaltschichtenmodell (in Ergänzung zu dem Drei-
ecksmodell) der Gewaltphänomenologie, das sich als Paradigma zur Herstel-
lung vielfältiger Hypothesen eignet. Auf dem Grund findet sich der stetige
Fluß kultureller Gewalt, der Nährboden, von dem die zwei anderen zehren.
In der nächsten Schicht sind die Rhythmen struktureller Gewalt lokalisiert.
Unter dem Begleitschutz von Penetration und Segmentierung, die die Be-
wußtseinsbildung verhindern, sowie von Fragmentierung und Marginalisie-
rung, die die Organisation gegen Ausbeutung und Unterdrückung verhin-
dern, werden Ausbeutungsmechanismen aufgebaut, abgetragen oder nieder-
gerissen. Und ganz oben, für das bloße Auge und den blanken Empirismus
sichtbar, befindet sich die Schicht der direkten Gewalt, in der die ganze Pa-
lette von Grausamkeiten angesiedelt ist, die Menschen einander sowie an-
derem Leben und der Natur im allgemeinen antun.
Im allgemeinen läßt sich ein Kausalzusammenhang feststellen, der sich
von der kulturellen über die strukturelle hin zur direkten Gewalt erstreckt.
Die Kultur predigt, lehrt, ermahnt, stachelt auf und stumpft uns ab, bis hin zu
dem Punkt, an dem wir Ausbeutung und/oder Repression als etwas Normales
und Natürliches betrachten oder sie gar überhaupt nicht mehr wahrnehmen
(insbesondere nicht die Ausbeutung). Darauf folgen die Gewaltausbrüche,
die Versuche, direkte Gewalt einzusetzen, um aus dem strukturellen eisernen
Käfig auszubrechen,281 und Gegengewalt, um den Käfig in Funktion zu hal-
ten. Alltagskriminalität ist teilweise der Versuch des Underdogs, "auszubre-
chen", den Wohlstand neu zu verteilen, gleichzuziehen, Rache zu nehmen
(blue-collar-Kriminalität), oder es ist der Versuch, ein Topdog zu werden
oder zu bleiben, indem man sich bemüht, das Äußerste aus der Struktur her-
auszuholen (white-collar-Kriminalität).
Sowohl direkte als auch strukturelle Gewalt schaffen Bedürfnisdefizite.
Treten diese unerwartet und plötzlich auf, so sprechen wir von einem Trau-
ma Stößt es einer Gruppe, einem Kollektiv zu, so handelt es sich um ein
kollektives Trauma, das sich im kollektiven Unterbewußtsein ablagern und
dort zu Rohmaterial für bedeutende historische Prozesse und Ereignisse wer-
den kann. Die zugrundeliegende Annahme ist einfach: "Gewalt erzeugt Ge-
walt." Gewalt ist Bedürfnisdeprivation; Bedürfnisdeprivation ist schwerwie-
gend; eine Reaktion darauf ist direkte Gewalt. Das ist jedoch nicht die einzig
mögliche Reaktion.

281 Vgl. hierzu Hans-Ruedi Weber: "The Promise of the Land. Biblical Interpretation
and the Present Situation in the Middle East", in: Study Encounter, Bd. 7, Nr. 4, S. 1-
16.
350 Zivilisationstheorie

Es kann auch ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit entstehen, ein Deprivati-


ons-Frustrations-Syndrom, das nach innen als gegen sich selbst gerichtete
Aggression und nach außen als Apathie und Rückzug in Erscheinung tritt.
Ließe man den Topdogs die Wahl, welche Art von Gesellschaft sie als Reak-
tion auf massive Bedürfnisdeprivation bevorzugen würden, die überkochen-
de, gewalttätige oder die eingefrorene und apathische, sie würden letztere
wählen. Sie ziehen nämlich die "Regierbarkeit" dem "Ärger" und der "Anar-
chie" vor. Sie lieben die "Stabilität". Eine der Hauptformen kultureller Ge-
walt, die sich die herrschende Elite genehmigt, besteht in der Tat darin, das
Opfer struktureller Gewalt, das den ersten Stein wirft (nicht in einem Glas-
haus sitzend, sondern um aus dem eisernen Käfig herauszukommen), als
"Aggressor" abzustempeln. Die Kategorie der strukturellen Gewalt sollte der-
artige Formen kultureller Gewalt durchsichtig machen.
Das Gewaltschichtenmodell beschreibt jedoch nicht die einzig mögliche
Kausalkette innerhalb des Gewaltdreiecks. Es gibt Verbindungen und Kau-
salzusammenhänge in alle sechs Richtungen, und jeder der drei Eckpunkte
kann der Ausgangspunkt für einen alle drei Formen der Gewalt verbindenden
Zyklus sein. Das ist auch einer der Gründe dafür, daß das Dreieck zuweilen
als Modell besser geeignet ist als das aus drei Lagen bestehende Schichten-
modell. Afrikaner werden gefangengenommen und über den Atlantik ver-
frachtet, um dort als Sklaven zu arbeiten; Millionen von ihnen finden wäh-
rend dieses Prozesses den Tod, in Afrika, auf See, in Amerika. Diese massive
direkte Gewalt sickert über die Jahrhunderte nach unten durch und lagert sich
schließlich ab als massive strukturelle Gewalt, mit den Weißen als den Her-
ren-Topdogs und den Schwarzen als den Sklaven-Underdogs, die ihrerseits
dann massive kulturelle Gewalt, mit allgegenwärtigem rassistischen Ge-
dankengut, produziert und reproduziert. Nach einiger Zeit hat man die direk-
te Gewalt und die Sklaverei vergessen und nur zwei Bezeichnungen bewahrt,
die farblos genug für Collegetextbücher sind: "Diskriminierung" anstelle von
massiver struktureller Gewalt und "Vorurteil" anstelle von massiver kulturel-
ler Gewalt - Sprachhygiene, selbst eine Form kultureller Gewalt.
Der Teufelskreis der Gewalt kann ebenfalls an der Ecke der strukturellen
Gewalt beginnen. Mit zunehmendem ungleichen Austausch nimmt auch die
soziale Differenzierung langsam vertikale Züge an. Die dadurch geschaffe-
nen sozialen Fakten bedürfen dann sozialer Handlungen zu ihrer Erhaltung
und kultureller Gewalt zu ihrer Rechtfertigung - um die "materialistische"
(also strukturelle) marxistische Theorie einmal zu generalisieren. Der Teu-
felskreis könnte aber auch mit einer Kombination aus direkter und strukturel-
ler Gewalt beginnen, wobei eine Gruppe eine andere Gruppe so schlecht be-
handelt, daß ihre Mitglieder ein Bedürfnis nach Rechtfertigung verspüren
und nur allzu gerne jede kulturelle Erklärung akzeptieren, die man ihnen an
die Hand gibt. Vor über tausend Jahren griffen nordische Wikinger Russen
an, betrogen und töteten sie. Könnte das nicht bereits Grund genug sein, die
Kulturelle Gewalt 351

Vorstellung zu formulieren, daß Russen gefährlich, wild und primitiv seien -


was bedeutet, daß sie eines schönen Tages zurückkommen könnten und uns
dasselbe antun, was wir ihnen angetan haben?282 Das kann soweit gehen, daß
in dem im April 1940 von den Deutschen angegriffenen Norwegen die offi-
zielle Schlußfolgerung lautete, die Russen seien gefährlich, weil sie eines
Tages dasselbe machen könnten. Hier bricht also das Überraschungsangriff-
Trauma voll durch.
Könnte es sein, daß es noch eine tiefere als die kulturelle Schicht gibt,
nämlich die menschliche Natur, mit genetisch übertragenen Dispositionen
oder zumindest Neigungen zu Aggression (direkte Gewalt) und Dominanz
(strukturelle Gewalt)? Das menschliche Potential für direkte und strukturelle
Gewalt ist mit Sicherheit vorhanden - ebenso wie das Potential für direkten
und strukturellen Frieden. Meines Erachtens ist jedoch das wichtigste Argu-
ment gegen einen biologischen Determinismus, der von einem natürlichen,
dem Nahrungs- und Sexualtrieb vergleichbaren Aggressionstrieb und Domi-
nanzstreben ausgeht, der hohe Grad an Aggressivitäts- und Dominanzva-
riabilität. Menschen streben nach Nahrung und Sex unter (fast) allen Um-
ständen. Aber Aggression und Dominanzverhalten weisen, abhängig vom
Kontext, einschließlich der strukturellen und kulturellen Gegebenheiten, eine
erhebliche Varianz auf. Natürlich mag der Trieb trotzdem vorhanden sein,
wenngleich nicht stark genug, um sich unter allen Umständen zu behaupten.
In diesem Falle wäre es die Aufgabe der Friedensforschung, diese Umstände
zu erkennen und zu erforschen, wie sie entfernt oder modifiziert werden
können. Hierzu wäre meine Hypothese, daß die beiden Kategorien Kultur
und Struktur einen geeigneten Rahmen für diese Untersuchung bereitstellen
können.
Diese taxonomische Übung wirft wichtige Erkenntnisse ab, können wir sie
doch nutzen zur Klärung des Konzepts der Militarisierung als Prozeß und
des Militarismus als diesen Prozeß begleitende Ideologie. Ein Aspekt ist of-
fensichtlich die allgemeine Bereitschaft zu direkter Gewalt in Form eines tat-
sächlichen oder angedrohten militärischen Einsatzes - sei dieser nun provo-
ziert oder nicht, diene er der Konflikterzeugung oder der KonfliktbewäIti-
gung. Dieser Hang zur Gewalt ist der Grund für die Produktion und den Ein-
satz der entsprechenden Hardware und Software. Es wäre jedoch zu ober-
flächlich, Militarisierung nur anhand von Berichten über militärische Aktio-
nen der Vergangenheit und von aktuellen Produktions- und Verteilungspro-
grammen zu untersuchen. 283 Dies führte nur zu oberflächlichen Schlußfolge-

282 Tatsächlich ist es fast unglaublich, wie friedlich es an dieser Grenze hoch oben im
Norden geblieben ist zwischen einem so kleinen und einem so großen Land, von
dem einige meinten, es sei nur zu begierig, irgendein "Machtvakuum" zu füllen.
283 Dies ist der generelle Ansatz des Stockholm International Peace Research Institute,
im SIPRI-Jahrbuch sowohl wie in anderen Publikationen. Als Dokumentation der
Oberflächenebene ist das nützlich, aber es vertieft das Verständnis nicht hinreichend,
352 Zivilisationstheorie

rungen bezüglich Personal, Budget und Waffenkontrolle. Gründliches Jäten


setzt voraus, daß man an den Wurzeln ansetzt, in diesem Falle den strukturel-
len und kulturellen Wurzeln, wie es das Dreischichten-Paradigma nahelegt.
Konkret bedeutet dies, diejenigen strukturellen und kulturellen Aspekte zu
identifizieren, die dazu tendieren, eine Bereitschaft zu militärischem Handeln
und zur Produktion und zum Einsatz von Militärgerät zu erzeugen. Hier wä-
ren zu berücksichtigen Faktoren wie das Bandenwesen von Schuljungen, das
Erstgeburtsrecht,284 Arbeitslosigkeit und Ausbeutung; ferner die Nutzung
militärischer Produktion und deren Entfaltung zwecks Stimulierung ökono-
mischen Wachstums und ökonomischer Verteilungsprozesse, die Existenz
stark nationalistischer, rassistischer und sexistischer Ideologien 285 usw. Be-
sondere Aufmerksamkeit verdiente die Kombination des Einbaus militäri-
scher Lehr- und Übungskomponenten in High-School- und Universitätscur-
ricula und -strukturen 286 mit der generellen Verbreitung des Militarismus als
Kultur. Jedoch finden Struktur und Kultur, zwei höchst sensible Bezirke, ge-
wöhnlich in Studien über "Rüstungskontrolle" keine Behandlung - Tabus,
die gebrochen werden müssen.

1.4 Beispiele kultureller Gewalt


Wir wenden uns nun der Auflistung der in der Einleitung erwähnten sechs
Kulturbereiche zu, also Religion und Ideologie, Sprache und Kunst, empiri-
sche und formale Wissenschaft, und liefern zu jedem Bereich ein oder zwei
Beispiele kultureller Gewalt. Die Logik der Darstellung ist simpel: Identifi-
ziere das kulturelle Element und zeige, wie es, empirisch oder potentiell, da-
zu genutzt werden kann, direkte oder strukturelle Gewalt zu legitimieren.

um sich wirksame Gegenmaßnahmen ausdenken und dann auch durchführen zu kön-


nen.
284 Diese Faktoren werden sehr häufig für wichtig gehalten. um die japanische Aggressi-
vität zu erklären. z.B. von Ruth Benedict in: The Chrysanthemum and the Sword.
London 1972 (ErstaufI. 1946). Auch Saburo lenaga zitiert in The Pacific War: 1931-
45. New York 1978. diese Faktoren.
285 Wenn die Bahn das Kaiserliche Schloß in Tokio passierte. pflegten die Passagiere
aufzustehen und zum Kaiser hin sich zu verneigen. Und der Shinto-Yasukuni-
Schrein ist immer noch ein Hauptherd nationaler und nationalistischer Konstruktio-
nen in Japan. Nach der Niederlage seiner Partei bei den Wahlen am 23. Juli 1989 be-
suchte der neue Premierminister aus den Reihen der LPD. Kaifu. nicht den Schrein
gelegentlich des Jahrestages der Kapitulation vom 15. August 1945. weil er gut
wußte. daß der Wind nun stärker von links blies.
286 Nirgendwo habe ich ein deutlicheres Beispiel einer so ausgeprägten Integration des
Militärs in die Universität gesehen als bei den Reserve Office Training Corps
(ROTC) in den USA. wo es dem Militär sogar erlaubt ist. Studenten über Stipendien
zu kaufen und Seminare voll militaristischer Propaganda abzuhalten.
Kulturelle Gewalt 353

1. Religion: In allen Religionen gibt es irgendwo das Heilige; nennen wir es


"Gott". Dabei kann eine grundlegende Unterscheidung getroffen werden
zwischen einem außerhalb unserer selbst angesiedelten, transzendenten Gott
und einem immanenten Gott, der in uns und vielleicht sogar in allem Leben
wirkt. 287 Der vor fast 4000 Jahren begründete Judaismus der Thora vertrat die
Vorstellung, daß Gott eine männliche Gottheit sei, die außerhalb des Planeten
Erde residiere. Eine katastrophale Idee, ein klarer Fall von Transzendentis-
mus als einer Metapher mit vielen Konsequenzen, die dann auch von den an-
deren semitischen bzw. okzidentalen Religionen, dem Christentum und dem
Islam, übernommen wurde. Wenn Gott außerhalb unserer selbst und sogar
"über" uns steht ("Vater unser, der du bist im Himmel"), dann ist es zwar
nicht unvermeidlich, aber doch ziemlich wahrscheinlich, daß manche Leute
als Gott näher, sogar als "höher" stehend betrachtet werden als andere.
Darüber hinaus mußte es in der allgemeinen abendländischen Tradition
nicht nur des Dualismus, sondern des Manichäismus, mit scharfen Abgren-
zungen zwischen Gut und Böse, aus Gründen der Symmetrie so etwas wie
einen bösen Satan als Gegenstück zu einem guten Gott geben. Wiederum
sind transzendente und immanente Darstellungen möglich: Zum einen die
Vorstellung, daß Gott und Satan von den Ihrigen Besitz ergreifen oder zu-
mindest die Ihrigen auserwählen, und zum anderen die Vorstellung, daß Gott
oder Satan - ganz zu schweigen von Gott und Satan - Teil unserer selbst
sind. Alle Kombinationen treten in allen okzidentalen Religionen auf. Das
Augenmerk dieses Artikels liegt jedoch auf der harten Version, dem Glauben
an einen transzendenten Gott und einen transzendenten Satan.
Wen erwählt Gott? Wäre es nicht logisch anzunehmen, daß Er all jene er-
wählt, die Seinem Ebenbild am nächsten kommen, und es, wie in Tabelle 4.2
angedeutet, dem Satan überläßt, sich um die anderen zu kümmern? Dies er-
gäbe eine doppelte Dichotomie, die aus Gott, den (von Gott) Auserwählten,
den (von Gott) Nicht-Auserwählten (auserwählt von Satan) und dem Satan
bestünde. Die Auserwählten wären auf dem Weg zur Erlösung und näherten
sich Gott im Himmel, die Nichterwählten befänden sich auf dem Weg in die
Verdammnis und näherten sich Satan in der Hölle. Himmel und Hölle könn-
ten jedoch auch auf Erden als Vorgeschmack oder als Hinweis auf das Leben
nach dem Tod erzeugt werden. ElendILuxus könnten als Vorbereitung für
HöllelHimmel betrachtet werden - und die soziale Klassenlage als Fingerzeig
Gottes.

287 Eine andere theologische Unterscheidung von gleicher Wichtigkeit ist diejenige, ob
wir (wie manche Christen behaupten) mit einer Erbsünde oder (wie andere meinen)
mit einem Ursegen zur Welt kommen, vielleicht auch mit beidem (die Karma-Lehre
des HinduismuslBuddhismus?) oder ohne alles (eine atheistische Position). Die
Kombination von transzendentem Gott und Erbsünde hat gewaltige Konsequenzen in
bezug auf die Kontrolle der Menschen, wie Luther gut wußte.
354 Zivilisationstheorie

Tabelle 4.2: Die Auserwählten und die Nicht-Auserwählten


Gott erwählt und überläßt dem Satan mit der Folge von
Menschliche Spezies Tiere, Pflanzen, Natur Herrschaft über die Natur, Ökozid
Männer Frauen Sexismus, Hexenverbrennung
Sein Volk Die Anderen Nationalismus, Imperialismus
Weiße Farbige Rassismus, Kolonialismus
Oberschichten Unterschichten Klassenherrschaft, Ausbeutung
Wahre Gläubige Ketzer, Heiden Meritokratie, Inguisition

Ein immanentes Konzept von einem in uns wohnenden Gott würde eine sol-
che Dichotomie zu einem gegen Gott gerichteten Akt machen. Mit einem
transzendenten Gott jedoch gewinnt all dies an Bedeutung. Die ersten drei in
Tabelle 4.2 aufgelisteten Auswahlalternativen gehen zurück bis auf die
Schöpfungsgeschichte. Die letzte Möglichkeit ist typischer für das Neue Te-
stament, das den richtigen Glauben und nicht nur die richtigen Taten betont.
Die zwei anderen kennen wir als verstärkte Bezugnahme auf die Sklaverei
und darauf, Gott zu geben, was Gottes ist, und dem Kaiser zu geben, was des
Kaisers ist. Traditionell handelt es sich bei den Oberschichten, die als näher
zu Gott stehend betrachtet werden, um drei Klassen: den Klerus, weil er of-
fensichtlich über besondere Kenntnisse darüber verfügt, wie man sich mit
Gott verständigt; die Aristokratie, insbesondere den König von Gottes Gna-
den, und die Kapitalisten, wenn sie wirtschaftlich erfolgreich sind. Die unte-
ren Schichten und die Armen sind ebenfalls auserwählt, sogar die Ersten zu
sein, die ins Paradies eingehen (Bergpredigt) - allerdings erst im Leben nach
dem Tod.
Alle sechs Optionen zusammen konstituieren die harte Linie innerhalb des
Judentums, des Christentums und des Islams, die durch die Aufgabe einiger
Positionen weicher gefaßt werden können und dies durch Annahme eines
immanenteren Konzeptes von Gott auch tatsächlich wurden (im Sufismus,
bei Franz von Assisi oder bei Spinoza). Die in der rechten Spalte der Tabelle
4.2 aufgezeigten Konsequenzen könnten genauso gut auch Folgen anderer
Prämissen als einer Auserwähltheitstheologie sein; die Tabelle liefert allein
Teil- und hinreichende Gründe.
Betrachten wir, als ein zeitgenössisches Beispiel, die Politik Israels gegen-
über den Palästinensern. Das Auserwählte Volk hat sogar ein Versprochenes
Land, Eretz Israel. Es benimmt sich, wie zu erwarten, indem es seine Auser-
wähltheit, diesen fürchterlichen Typ kultureller Gewalt, in alle in Tabelle 4.1
aufgeführten Typen direkter und struktureller Gewalt übersetzt. Da findet
sich Töten, Verstümmeln und materielle Deprivation, wenn den Bewohnern
der West Bank das Lebensnotwendige versagt wird. Da gibt es soziale Ab-
wertung innerhalb des theokratischen Israel, Bürgerrechte zweiter Klasse für
Nichtjuden, Haft, individuelle Vertreibung und die Dauerdrohung massenhaf-
ter Vertreibung. Und es gibt Ausbeutung, zumindest vom Typ B.
Kulturelle Gewalt 355

Die vier strukturellen Begleiterscheinungen der Ausbeutung sind alle wohl


entwickelt: Man strengt sich an, daß die Palästinenser sich selbst als gebore-
ne Underdogs ansehen, die bestenfalls auf eine Staatsbürgerschaft zweiter
Klasse lossteuern, indem "sie sich daran gewöhnen"; man gewährt ihnen
kleine Segmente ökonomischer Aktivität; man hält sie sowohl diesseits wie
jenseits der Grünen Linie außerhalb der jüdischen Gesellschaft, und man be-
handelt sie niemals als ein Volk, sondern nach der divide-et-impera-Methode
(wie im Camp-David-Prozeß). Hier gibt es weder massive Vernichtung noch
massive Ausbeutung vom Typ A, wie wir sie in vielen unter der Schuldenlast
ächzenden Dritte-Welt-Ländern finden, wo sie vor allem Kinder trifft. Die
Gewalt verteilt sich stattdessen gleichmässiger über das Gesamtrepertoire der
acht Typen. Für alle diejenigen, deren Sichtweise durch die Vernichtungs-
politik Hitlers und Stalins und die Ausbeutungspolitik (Typ A) Reagans ge-
prägt ist, bedeutet dies, daß keine massenhafte Gewalt vorliegt - woran sich
zugleich zeigt, wie human die Israelis sind. Solche Einstellungen sind auch
Beispiele für kulturelle Gewalt, die als solche ein beredtes Zeugnis von den
moralischen Standards dieses Jahrhunderts ablegen. 288
2. Ideologie: Es stand nach dem durch die Säkularisation bedingten Nieder-
gang und vielleicht sogar Tod sowohl des transzendenten als auch des imma-
nenten Gottes zu erwarten, daß die in Form politischer Ideologien und des
modernen Staates auftretenden Nachfolger der Religion und Gottes einige
derselben Charaktermerkmale aufweisen würden. Religion und Gott mögen
tot sein - nicht von uns gegangen jedoch ist die wesentlich grundlegendere
Vorstellung von scharfen und wertbeladenen Dichotomien. Die Grenzen mö-
gen nicht länger zwischen Gott und den Auserwählten einerseits, den Nich-
terwählten und dem Satan andererseits verlaufen. Die Moderne würde Gott
und Satan ablehnen, aber trotzdem eine Unterscheidung zwischen Aus-
erwählten und Nichterwählten verlangen. Nennen wir diese das Selbst und
der/die/das Andere. Der Archetypus in diesem Bereich ist der Nationalismus,
mit dem Staat als Nachfolger Gottes.
Es wird dann ein steiles Gefälle aufgebaut, wobei das Selbst aufgeblasen,
ja sogar verherrlicht und der Wert des Anderen vermindert oder sogar völlig
herabgesetzt wird. Dies ist der Ausgangspunkt für strukturelle Gewalt. Sie
neigt dazu, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden: Men-
schen werden durch Ausbeutung verdorben, und sie werden ausgebeutet,
weil sie als verdorben und entmenschlicht angesehen werden. Sobald der
Andere nicht nur entmenschlicht, sondern erfolgreich in ein "Es" umgewan-

288 Für weitere Details siehe J. Galtung: "The ,Middle East' Conflict", in: ders.: Solving
Conflicts: A Peace Research Perspective, Honolulu, HI 1989, Kap. 3, S. 37-57, und
ders.: Nonviolence and IsraellPalestine, Honolulu, Hi 1989. Eine exzellente Behand-
lung der Auserwähltheitsproblematik liefert Hans-Ruedi Weber, s. seine oben (Anm.
13) zitierte Studie.
356 Zivilisationstheorie

delt worden ist, das jeder Menschlichkeit entbehrt, ist der Weg frei für jede
Art direkter Gewalt, für die dann die Opfer verantwortlich gemacht werden.
Dies wird verstärkt durch die Einführung von Kategorien wie "bedrohliches
Es", "Ungeziefer" oder "Bakterien" (wie Hitler die Juden beschrieb), ,,Klas-
senfeind" (wie Stalin die Kulaken bezeichnete), "tollwütiger Hund" (wie
Reagan Gaddafi bezeichnete) oder "gestörte Kriminelle" (wie "Terroristen"
von Experten in Washington genannt zu werden pflegen). Ausrottung wird
zu einer psychologisch möglichen Pflicht. Die SS-Wachen werden Helden,
die es verdienen, für ihre hingebungsvolle Pflichterfüllung gefeiert zu wer-
den.
Wenn wir auf die sechs in Tabelle 4.2 aufgeführten Dimensionen zurück-
greifen, können wir leicht erkennen, wie es dazu kommt, daß die Auser-
wählten auch ohne einen transzendenten Gott Auserwählte bleiben. So wer-
den nur Menschen als zur Selbstreflexion fähige Wesen betrachtet; Männer
sind stärker und denken logischer als Frauen; bestimmte Nationen sind mo-
derner als andere bzw. gelten als die tragenden Säulen der Zivilisation und
des historischen Prozesses; Weiße sind intelligenter und denken logischer als
Nicht-Weiße; in der modernen, auf Chancengleichheit aufgebauten Gesell-
schaft gelangen nur die Besten an die Spitze und sind somit berechtigt, Macht
auszuüben und Privilegien zu besitzen. Bestimmte Glaubenssätze zu Moder-
nisierung, Entwicklung und Fortschritt gelten als unumstößlich. Glaubt je-
mand nicht an sie, wirft das ein schlechtes Licht auf den Nicht-Gläubigen,
nicht aber auf das Geglaubte.
Alle diese Vorstellungen waren und sind in der westlichen Kultur nach
wie vor vorherrschend, obwohl das Vertrauen in die natürliche männliche,
westliche und weiße Überlegenheit in der letzten Zeit stark erschüttert wurde
durch die Emanzipationsbewegungen von Frauen, von nicht-westlichen Völ-
kern (der japanische wirtschaftliche Erfolg gegenüber dem Westen!) und von
Farbigen innerhalb westlicher Gesellschaften. Die Vereinigten Staaten, die
christlichste Nation dieser Erde, dienten im Innern wie nach außen als ein
Hauptaustragungsort dieser Kämpfe. Gerade, weil dieses Land gegenüber
anderen Ländern als Vorbild fungiert, ist es besonders wichtig, die kulturelle
US-amerikanische Gewalt zu reduzieren.
Diese drei Annahmen - die alle auf von Geburt an vorhandenen Unter-
schieden, nämlich Geschlecht, Rasse und Nation beruhen - sind in einer lei-
stungsorientierten Gesellschaft nur schwer aufrechtzuerhalten. Geht man je-
doch davon aus, daß die moderne Gesellschaft eine Meritokratie ist, dann
bedeutet die Verweigerung von Macht und Privilegien für jene an der Spitze
die Leugnung des Verdienstes als solchem. Die Verweigerung eines Mini-
mums an "moderner Orientierung" ebnet den Weg für jeden Glauben, ein-
schließlich der Verweigerung von Macht und Privilegien für die Verdienten
und der Ablehnung einer strikten Abgrenzung von menschlichem Leben und
anderen Lebensformen. Kurz gesagt, Residualkategorien von Auserwähltheit
Kulturelle Gewalt 357

wird es unabhängig vom Status Gottes oder Satans noch für eine ganze Weile
geben, und zwar in der Form von Herrschaft über die Natur, von Klas-
senherrschaft und von Meritokratie.
Die Ideologie des Nationalismus, dessen Wurzeln in der Vorstellung vom
auserwählten Volk liegen, und der mit Hilfe von Religion oder Ideologie ge-
rechtfertigt wird, sollte in Verbindung mit der Ideologie des Nationalstaates,
dem Etatismus, betrachtet werden. Artikel 9 der nach dem Krieg verfaßten
japanischen Friedensverfassung, jenes kurzlebigen Versuchs in Richtung
,kulturellen Friedens', setzte fest, daß "das Recht des (japanischen) Staates
zur Kriegsführung nicht anerkannt wird". Offensichtlich hatte Japan dieses
Recht verwirkt - während andere, die Sieger vermutlich, dieses Recht wei-
terhin, aufgrund des Kriegsausgangs vielleicht noch verstärkt, für sich bean-
spruchten.
Woher kam dieses Recht, Krieg zu führen? Es hat zum Teil feudale Ur-
sprünge und ist die direkte Übertragung des Vorrechts des rex gratia dei auf
eine ultima ratio regis. Der Staat kann dann als eine dem Herrscher unent-
behrliche Organisation angesehen werden, welche die zur Finanzierung der
ständig teurer werdenden Armeen und Flotten (bzw., nach 1793, der Wehr-
pflichtigen) erforderlichen Steuern eintreibt. Eher wurde, wie Krippendorff
behauptet,289 der Staat zur Erhaltung des Militärs geschaffen als andersher-
um. Andererseits kann er auch als einer der Nachfolger Gottes betrachtet
werden, der von diesem das Recht geerbt hat, Leben zu zerstören (Exeku-
tion), wenn nicht sogar das Recht, Leben zu schaffen. Viele behaupten denn
auch, daß der Staat das Recht habe, durch die Ausübung einer der schwan-
geren Frau überlegenen Autorität Kontrolle über die Schaffung von Leben
auszuüben. 290
Verbindet man nun den Nationalismus mit dem steilen Gefalle zwischen
dem Selbst und demln Anderen und den Etatismus mit dem Recht oder gar
der Pflicht ultimativer Machtausübung, so erhält man die häßliche Ideologie
des Nationalstaats, eine weitere katastrophische Idee. Von nun an wird wäh-
rend eines Krieges im Namen der "Nation" getötet, der alle Bürger einer
Ethnizität zugerechnet werden. Die neu aufkommende Idee von der Demo-
kratie kann mit Übergangsformeln wie vax populi, vox dei, ausgestattet wer-
den. Auch Hinrichtungen werden im "Namen des Volkes von Staat X" vor-
genommen. Genau wie beim Krieg muß aber auch hierzu die Anordnung des
Staates vorliegen. Ein Gutteil der Entscheidung gegen die Abtreibung und für
die Erhaltung des ungeborenen Lebens entspringt wahrscheinlich dem Ge-

289 Vgl. Ekkehart Krippendorff: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Un-
vernunft, FrankfurtJM. 1985.
290 Dies ist ein Hauptthema einer faszinierenden und unheimlichen (jetzt auch verfilm-
ten) Novelle von Margaret Atwood: The Handmaid's Tale, New York 1997. Ich
schulde Carolyn DiPalma Dank für diesen Hinweis.
358 Zivilisationstheorie

fühl, daß durch ein auf der freien Entscheidung der Mutter basierendes Ab-
treibungsrecht das Machtmonopol des Staates über das Leben untergraben
würde. Wäre die Gegnerschaft gegen die Abtreibung wirklich in dem Re-
spekt vor der Heiligkeit des Fötus (homo res sacra hominibus) begründet, so
wären die Vertreter des "Pro-Leben"-Gedankens in ihrer Tendenz ebenfalls
Pazifisten: Sie wären gegen die Todesstrafe und empört über die hohe Sterb-
lichkeitsrate von Schwarzen in den USA und anderer Gruppen auf der gan-
zen Welt. Natürlich ist auch die Bevorzugung der freien Entscheidung ge-
genüber dem Leben eine Form der kulturellen Gewalt, basiert sie doch auf
der Weigerung, das ungeborene Leben als menschliches Leben zu betrachten,
und macht den Fötus zu einer Sache. 291
Kombiniert man nationalstaatliche Ideologie mit einem theologisch be-
gründeten Komplex vom auserwählten Volk, kann das Unheil seinen Lauf
nehmen. Israel (Yahweh), Iran (Allah), Japan (Amaterasu-Omikami), Süd-
afrika (ein niederländisch-"reformierter" Gott), die Vereinigten Staaten (der
jüdisch-christliche Yahweh-Gott) sind dafür relativ klare Beispiele, in Kri-
sensituationen zu allem fähig. Ebenfalls unter diese Kategorie wäre Nazi-
Deutschland gefallen (der OdinIWotan-Gott der Nazis). Rußland nach Gorba-
tschow - der sich nach 61 Jahren Stagnation als Nachfolger von Lenin ver-
stand - hat wahrscheinlich immer noch zu kämpfen mit seiner Berufung zu
einem auserwählten Volk, das von der Geschichte für eine spezielle Mission
ausgewählt wurde. Auch Frankreich hat diesen Überlegenheitskomplex, nur
gilt hier, daß alleine schon die Vorstellung, von jemandem auserwählt zu
sein, implizieren würde, daß es etwas gibt, das über Frankreich steht - ein
nicht zu tolerierender Gedanke. Frankreich hat sich selbst gewählt: un peuple
ilu, mais par lui-meme, konkretisiert in dem archetypischen Akt des Jahres
1804, als Napoleon vom Papst gekrönt werden sollte: Er nahm die Krone aus
dessen Händen und krönte sich selbst.
3. Sprache: Bestimmte Sprachen - nämlich die mit einem lateinischen Wort-
stamm, wie zum Beispiel Italienisch, Spanisch, Französisch (und modernes
Englisch), nicht jedoch jene mit einem germanischen Stamm wie Deutsch
oder die skandinavischen Sprachen - machen Frauen dadurch unsichtbar, daß
sie zur Bezeichnung der Gesamtheit der Menschheit dasselbe Wort verwen-
den wie zur Bezeichnung des männlichen Geschlechts. Ein gutes Beispiel für
eine bewußte Transformation der Kultur weg von kultureller Gewalt ist die
wichtige Bewegung für die Einführung einer nicht-sexistischen Schreibwei-

291 Meine eigene, nicht sehr originelle Position ist diese: Ein Fötus ist Leben, also heilig.
Man sollte alles Erdenkliche tun, um eine Situation zu vermeiden, in der Leben, ob
willentlich oder nicht, zerstört wird. Wenn alle Alternativen erschöpft sind, obliegt
die Entscheidung denjenigen, die dieses Leben geschaffen haben, normalerweise al-
so einer Frau und einem Mann, wobei der Frau ein Veto- und dem Mann das Recht,
gehört zu werden, zukommt.
Kulturelle Gewalt 359

se. 292 Zu Beginn, als einige mutige Frauen diese Aufgabe in Angriff nahmen,
muß sie ihnen als schier unlösbares Problem erschienen sein, aber bereits
heute tragen diese Bemühungen Früchte.
Es gibt dann subtilere Aspekte von Sprache, bei denen die Gewalt weniger
deutlich, sondern eher implizit ist. Ein Vergleich der Grundzüge der indo-
germanischen Sprachen mit dem Chinesischen und dem Japanischen fördert
in den indogermanischen Sprachen bestimmte Unbeweglichkeiten bezüglich
Raum und Zeit zutage;293 eine korrespondierende Rigidität der logischen
Struktur mit ihrer Betonung der Möglichkeit, zu gültigen Schlüssen zu ge-
langen (daher auch der westliche Stolz, so "logisch" zu sein); desweiteren ei-
ne Tendenz, linguistisch zwischen Wesen und Erscheinung zu unterscheiden,
wodurch Raum für die Unsterblichkeit des Wesens und implizit die Legiti-
mation geschaffen wird, das zu zerstören, was nur Erscheinung ist. Hierbei
handelt es sich jedoch um Tiefenkultur, um die tieferen Schichten der unter-
sten Schicht des Gewaltdreiecks. Die Verbindungen zur direkten und struktu-
rellen Gewalt werden wesentlich feiner.
4. Kunst: Lassen Sie mich nur ein Problem anführen, das für die Herausbil-
dung der Europäischen Union als Nachfolger der Europäischen Gemein-
schaft von 1967 wichtig ist. 294 Wie versteht sich Europa? Die mit der "Euro-
pa" der griechischen Mythologie verbundene Geschichte erweist sich als
wenig hilfreich. Die Auffassung von Europa als der Negation seiner nichteu-
ropäischen Umwelt bringt uns da wesentlich weiter. Zur Zeit des Übergangs
vom Mittelalter zur Moderne bestand diese Umwelt in Richtung Osten und
Süden aus dem gigantischen Osmanischen Reich, das sich bis vor die Mauern
Wiens erstreckte (1683), Syrien und Ägypten eroberte (1517), Tripolis, Tu-
nesien und Algerien danach zu Vasallen machte und nur die Sultanate von
Fez und Marokko mit den kleinen Spanisch-Habsburgischen Enklaven (von
denen es immer noch zwei gibt) verschonte. Die einzige nicht-orientalische
(das heißt nicht-arabische, nicht-moslemische) Umwelt war Rußland, das
arm war, aber gewaltig in bezug auf Raum und Zeit, schlafend, aber gigan-
tisch. 295
Europa mußte sich somit in Abgrenzung zu dem Feind im Süden und
Südosten verstehen. So entwickelte sich die Metapher vom "orientalischen

292 Mehr darüber bei Casey Miller & Kate Smith: The Handbook of Nonsexist Writing.
New York '1988.
293 Vgl. Johan Galtung & Fumiko Nishimura: "Structure, Culture and Languages: An
Essay Comparing the Indo-European, Chinese and Japanese Languages", in: Social
Science Information, Dezember 1983, Bd. 22, S. 895-925.
294 Die ganze Frage wird mit größerer Gründlichkeit behandelt in meinem Buch Europe
in the Making, New York und London 1989.
295 Wie ausgeführt von Mogens Trolle Larsen: "Europas Lys ("Europas Licht")", in:
Hans Boll-Johansen & Michael Harbsmeier (Hgg.): Europas Opdagelse, Kopenha-
gen 1988, S. 9-37, bes. S. 21, 23.
360 Zivilisationstheorie

Despotismus", die auch heute noch eine wichtige Rolle im europäischen


Denken spielt, wenn es sich mit seiner "Umgebung" auseinandersetzt. Ty-
pisch für den "orientalischen Despoten" waren Gefühllosigkeit und Willkür.
Ebenso wie der europäische Monarch tötete er, aber als Herrscher folgte er
seinen Launen und nicht dem Recht. Sexuell genoß er eine Freiheit, der sich
seine europäischen Kollegen nur annähern konnten, indem sie sich nachts
herausschlichen, um Bauernmädchen zu schänden. Ähnlich sexuell frei
schienen die einfachen Moslems, die nicht durch eine christliche Monogamie
eingeschränkt waren. Im 19. Jahrhundert dann tauchte in Frankreich eine
Schule der Malerei auf, die den orientalischen Despotismus in einem Rah-
men von Sex und/oder Gewalt darstellte. Hinrichtung ohne Prozeß von Henri
Regnault und Tod des Sardanapal von Eugen Delacroix sind gute Beispiele
hierfür. Hegel und in seiner Nachfolge Marx betrachteten auch den orientali-
schen Despotismus bzw. die orientalische (oder asiatische) Produktionsweise
als etwas Negatives, Homogenes, Stagnierendes.
Teil dieses Syndroms war, daß auch der nichtarabische Teil des sich um
Europa erstreckenden Halbkreises entsprechend der Vorstellung vom orien-
talischen Despotismus betrachtet werden mußte. Dabei mag "Despotismus"
als Beschreibung für den Zaren noch zutreffend gewesen sein - aber
"orientalisch"? Diese Darstellung hat das europäische Bild von Rußland und
der Sowjetunion wahrscheinlich über Jahrhunderte hinweg geprägt und tut
dies auch heute noch, was eine bewußte Verunglimpfung beider ist.
5. Empirische Wissenschaft: Ein Beispiel für kulturelle Gewalt wäre hier die
neoklassische Wirtschaftslehre, die sich selbst als die Wissenschaft vom wirt-
schaftlichen Handeln versteht. Stark beeinflußt von der Tradition Adam
Smiths, untersucht die neoklassische Ökonomie heute empirisch das von den
eigenen Doktrinen einst verordnete System und findet seine eigenen sich
selbst erfüllenden Prophezeiungen in der Realität oft bestätigt. Einen Teil des
neoklassischen Dogmas bzw. seiner "herkömmlichen Weisheit" stellt die
Handelstheorie dar, die auf dem "Prinzip des komparativen Vorteils" basiert.
Ursprünglich wurde diese Theorie von David Ricardo vertreten und dann von
Heckscher und Ohlin sowie von Jan Tinbergen weiterentwickelt. Kern-
aussage dieser Lehre ist, daß jedes Land jene Produkte auf den Weltmarkt
bringen soll, für die dieses Land über einen komparativen Vorteil bezüglich
der Produktions faktoren verfügt.
In der Praxis bedeutet dies, daß Länder, die über ausreichend Rohstoffe
und ungelernte Arbeit verfügen, Rohstoffe abbauen, während diejenigen, die
über Kapital und Technologie, Facharbeiter und Wissenschaftler verfügen,
diese Stoffe verarbeiten sollen. So kam es, daß Portugal seine Textilindustrie
seinerzeit aufgab und zu einem mittelmäßigen Weinerzeuger wurde, während
England stimuliert wurde, seine industrielle Kapazität noch weiter zu ent-
wickeln. Die Konsequenzen dieser Doktrin in Form der heutigen weltweiten
Kulturelle Gewalt 361

vertikalen Arbeitsteilung sind für die meisten Menschen deutlich zu erken-


nen. Strukturelle Gewalt herrscht überall: zwischen den Ländern und inner-
halb der Länder. 2%
Somit dient die Theorie des komparativen Vorteils der Rechtfertigung ei-
ner groben Einteilung der Welt auf der Basis des Verarbeitungsgrades, den
die jeweiligen Länder ihren Exportprodukten angedeihen lassen. Da dieser
ungefähr dem Grad der Herausforderung entspricht, der im Produktionspro-
zeß an sie gestellt wird, verurteilt das Prinzip des komparativen Vorteils die
Staaten dazu, dort stehenzubleiben, wo das Produktionsfaktorenprofil sie aus
geographischen und geschichtlichen Gründen angesiedelt hat. Natürlich gibt
es weder ein juristisches noch ein empirisches Gesetz, das besagt, daß einzel-
ne Länder nichts tun können, um ihr Produktionsprofil zu verbessern - ein
grundlegender Hinweis des japanischen Ökonomen Kaname Akamatsu. 297
Das zu tun, ist jedoch nicht so leicht, wenn die Besitzer der Rohstoffe und -
waren durch die Aufrechterhaltung des Status quo sofortige Gewinne erzie-
len können. Die Folge ist deshalb, daß das "Gesetz" vom komparativen Vor-
teil einen strukturell unhaltbaren Status quo legitimiert. Kurz und knapp:
Dieses "Gesetz" ist ein Stück kultureller Gewalt, das tief im Herzen der Wirt-
schaftswissenschaft vergraben ist.
6. Formale Wissenschaft: Aber so etwas kann man doch mit Sicherheit nicht
von der Mathematik behaupten? Das ist nicht so offensichtlich. Wenn man
die Mathematik als ein formales Spiel mit einer grundlegenden Regel be-
greift, nämlich der, daß ein Theorem T und seine Negation T nicht beide
wahr sein können, dann mag das durchaus gewaltträchtige Konsequenzen
haben. Selbst wenn die mathematische Logik die polyvalente Logik er-
forscht, so ist das in der Mathematik benutzte Werkzeug doch die zweiwerti-
ge Logik mit ihrer strikten Abgrenzung von wahr und falsch: tertium non
datur. Und es ist leicht verständlich, daß das so sein muß, da die logische
Folgerung der Kitt ist, der das Gebäude der Mathematik zusammenhält, wo-
bei modus ponens und modus tollens die Schlüssel-Prozeduren darstellen.

296 Vgl. auch J. Galtung: "A Structural Theory of Imperialism ", in: Journal of Peace
Research, Bd. 8, Nr. 2, S. 81-117, abgedruckt auch in Peace and World Structure.
Essays in Peace Research, Bd. IV, Kopenhagen 1980; und ders.: ",A Structural
Theory of Imperialism' Ten Years Later", in: Transarmament and the Cold War:
Peace Research and the Peace Movement. Essays in Peace Research, Bd. VI, Ko-
penhagen 1988, S. 298-310.
297 Bei ihm läuft alles ganz einfach darauf hinaus: Benutze den gesamten akkumulierten
Mehrwert, um die Produktionsfaktoren zu verbessern, nicht aber für den Luxuskon-
sum der Produktionsfaktorenbesitzer, wenn du der Falle entkommen willst. Einfach
und weise und genau das, was Japan tat - aber kaum das, wovon Japan heute wün-
schen würde, daß allzuviele das Gleiche täten.
362 Zivilisationstheorie

Bei unklaren Wahrheits werten für Antezedenzbedingungen und Folgerung


kann es keine sichere Schlußfolgerung geben. 298
Das bedeutet, daß die Mathematik uns in eine bestimmte Art des Denkens
hinein zwingt, die höchst kompatibel mit dem Schwarz-WeiB-Denken und ei-
nem Polarisieren im persönlichen, sozialen und weltweiten Raum ist. Der
Entweder-Oder-Charakter des mathematischen Denkens macht es zu einem
aufregenden Spiel, aber dieses Spiel ist weit davon entfernt, ein adäquates
Modell für eine hochgradig dialektisch angelegte menschliche, soziale und
globale Realität zu sein. Und wenn die Kultur, die symbolische Sphäre unse-
rer Existenz, uns bei der Entwicklung der Vision einer möglichen weniger
gewaltträchtigen Realität leiten soll, dann muß adaequatio ihre Grundvoraus-
setzung sein.
7. Kosmologie: Wir kehren nun zurück zu dem Problem des Übergangs von
kultureller Gewalt zur Gewaltkultur. Wie oben bereits in Abschnitt 1.1 er-
wähnt, könnte man zu einem solchen Urteil über eine Kultur gelangen, wenn
sich im religiösen und ideologischen Gedankengut, in Sprache und Kunst, in
der empirischen und der formalen Wissenschaft eine Fülle unterschiedlicher
Aspekte identifizieren lassen, die der Rechtfertigung von Gewalt dienen. Es
gibt jedoch noch einen anderen Ansatz: nämlich den, das Substrat einer Kultur
auf seine "Tiefenkultur(en)" hin zu erforschen, von denen es mehrere geben
mag. 299 Wir würden sozusagen die Wurzeln der Wurzeln betrachten: den kultu-
rellen genetischen Code, der kulturelle Elemente hervorbringt und sich selbst
durch sie reproduziert. Die Tatsache, daß dies sehr spekulativ wird, ist nicht
sonderlich problematisch. Es liegt in der Natur der Wissenschaft, tiefere
Schichten zu postulieren, dann deren Implikationen deutlich zu machen und
den harten Kern der Theorie den unscharfen Rändern entlang zu testen.
Das Kosmologie-Konzept ist darauf angelegt, dieses aus den grundlegen-
deren Annahmen über die Wirklichkeit bestehende Substrat zu beherber-
gen,l00 das darüber bestimmt, was normal und natürlich ist. Annahmen, die so

298 Vgl. J. Galtung: Methodology and Development. Essays in Methodology, Bd. III,
Kopenhagen 1988, Kap. 4, besonders Abschnitt 4.4.
299 Eine wichtige poststrukturalistische Position: Tief, unterhalb der Oberfläche zu gra-
ben, bedeutet nicht, von der Vielheit zur EinheitlEinfachheit überzugehen. Die "ok-
zidentale Tiefenstruktur" z.B. ist nicht unzweideutig. So würde ich etwa argumen-
tieren, daß das Christentum nur in den Begriffen von zumindest zwei verschiedenen
Lektüren verstanden werden kann - einer harten (mehr auf Transzendenz und auf
Erbsünde ausgerichteten) und einer weichen (die Immanenz und den ursprünglichen
Gnadenstand hervorhebenden) Lesart. Andere erkennen eine noch komplexere Man-
nigfaltigkeit der Tiefenstrukturen. Von einer auf zwei überzugehen, ist jedoch auch
hierfür notwendige Voraussetzung.
300 Kosmologie wird dann grob definiert als "die tiefverwurzelten kulturellen Unterstel-
lungen einer Zivilisation, unter Einschluß der generellen Annahmen, die den Tiefen-
strukturen zugrundeliegen und festlegen, was normal und natürlich ist".
Kulturelle Gewalt 363

tief im kollektiven Unterbewußten liegen, sind nicht leicht ans Tageslicht zu


befördern, geschweige denn, auszumerzen. Und dennoch weist die westliche
Kultur genau auf dieser Ebene so viele Merkmale von Gewalt auf, daß die
ganze Kultur gewalttätig zu erscheinen beginnt. Hier gibt es das Prinzip der
Auserwähltheit und steile Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie. Es gibt
die Ungeduld, das Apocalypse-now-Syndrom, das einen langsamen, geduldi-
gen Aufbau und die Inszenierung eines strukturellen und direkten Friedens
von vorneherein ausschließt.
Hier herrscht ein atomistisches und dichotomisches Denken mit Dedukti-
onsketten, die der Einheit von Mittel und Zweck entgegenwirken. Es herrscht
eine Arroganz gegenüber der Natur, was der Einheit des Lebens entge-
gensteht. Es existiert eine starke Tendenz, die Menschen zu individualisieren
und hierarchisch zu positionieren, was die Einheit des Menschengeschlechts
aufbricht. Und es gibt einen transzendenten, absoluten Gott mit schrecklichen
Nachfolgern. Die ganze Kultur verfügt über ein riesiges Gewaltpotential, das
auf der manifesten Ebene der Kultur zum Ausdruck gebracht und dann dazu
benutzt werden kann, all das zu rechtfertigen, was eigentlich nicht zu recht-
fertigen ist. Die Tatsache, daß im Abendland auch Frieden herrscht, daß die-
ser manchmal sogar vom Okzident ausging, ist so etwas wie ein Wunder und
möglicherweise den weicheren Strängen desselben zuzuschreiben. Dies
bleibt ein wichtiges Thema für den Rest von Teil IV.
Das Problem ist, daß diese Art des Denkens leicht zu einem Gefühl der
Hoffnungslosigkeit verleitet. Den kulturellen genetischen Code zu ändern,
scheint mindestens ebenso schwierig, wie den biologischen genetischen Code
zu verändern. Darüber hinaus dürfte eine entsprechende "Kulturtechnik", so
sie denn möglich wäre, eine Form von Gewalt darstellen, die sich als ebenso
problematisch erweisen könnte wie die Gentechnik. Sollten wir es dann dem
"Zufall" überlassen, das heißt denjenigen, die über Macht und Privilegien
verfügen?301 Dies ist ein sehr schwieriges und wichtiges Feld zukünftiger
Friedensforschung und soll unten in Kap. 5 weiter erörtert werden.

1.5 Gandhi und kulturelle Gewalt


Was hatte Gandhi, offen wie er war für die Erforschung von Alternativen zu
direkter und indirekter Gewalt, über diese heiklen Probleme zu sagen? Seine
Antwort bestand darin, zwei Axiome aus seinem Ökumenismus hervorzu-

301 Wann hat denn eine Kultur, insbesondere Tiefenkultur, hinreichend Plastizität
(Schalem), um geformt, neu geformt zu werden? In Krisenzeiten? Nachdem ihr ein
tiefes Trauma zugefügt wurde - das spezifische Trauma, anderen schwere Traumata
zugefügt zu haben, eingeschlossen? Wir wissen kaum mehr, als daß es sich hier um
entscheidende Fragen handelt.
364 Zivilisations theorie

heben, Axiome, die gewissermaßen die Quintessenz des Gandhismus darstel-


len: Einheit des Lebens und Einheit von Mittel und Zweck. Ersteres folgt aus
dem zweiten, wenn man davon ausgeht, daß kein Leben, und besonders kein
menschliches Leben, als Mittel zum Zweck verwendet werden darf. Ist der
Zweck der Lebensunterhalt, muß das Mittellebensförderlich sein. Aber was
verstehen wir unter dem Begriff der "Einheit"? Auf der Grundlage der Ideen,
die in den vorangegangenen Abschnitten entwickelt worden sind, wäre eine
plausible Interpretation von Einheit die im Sinne von Nähe im Gegensatz zu
Entfernung bzw. Getrenntsein. In unserem geistigen Universum sollten sich
sämtliche Formen des Lebens und insbesondere des menschlichen Lebens
der Nähe erfreuen und nicht durch steile Gefälle zwischen dem Selbst und
dem Anderen, die Keile in den sozialen Raum treiben, voneinander getrennt
sein. Jegliche Rechtfertigung, die ihren Ursprung im harten Kern einer Kul-
tur hat, z.B. in Form der Berufung zu einem Auserwählten Volk, würde zu-
rückgewiesen werden, sobald sie mit diesem noch höheren, noch "härteren"
Axiom der Einheit des Lebens in Konflikt gerät.
Wir können die Einheit von Mittel und Zweck als etwas verstehen, das
unterschiedliche geistige Elemente, wie z.B. Handlungen und durch Hand-
lungen geschaffene Tatsachen, einander nahe bringt. Sie sollten nicht durch
lange Kausalketten voneinander getrennt werden, die Keile in die soziale Zeit
treiben. Es genügt nicht, lange, zu Aufschwung oder Revolution führende
soziale Sequenzen zu initiieren, indem man in die Industrie oder in das indu-
strielle Proletariat investiert. Die Mittel müssen in sich selbst gut sein und
nicht nur im Sinne noch weit entfernter, am Ende des Weges gelegener Ziele
- wie von Millionen bezeugt werden kann, die auf dem Altar des Industrialis-
mus im Namen von "Wachstum und Kapitalismus" oder von "Revolution
und Sozialismus" geopfert wurden. Die aus der empirischen Bestätigung "es
funktioniert" gewonnene Rechtfertigung wird zurückgewiesen, sobald sie mit
diesem noch höheren, noch "härteren" Axiom konfligiert.
Jegliches Gefälle zwischen dem Selbst und demln Anderen kann dazu ge-
nutzt werden, Gewalt gegenüber denjenigen zu rechtfertigen, die auf der
Werteskala weiter unten stehen; jede Art von Kausalkette kann dazu genutzt
werden, die Anwendung von Gewalt zur Erreichung gewaltfreier Ziele zu
rechtfertigen. Gandhi wäre genauso skeptisch gewesen gegenüber marxi-
stischen Ideen von Revolution und harter Arbeit und davon, ein oder zwei
Generationen für den vermeintlichen Segen von Übermorgen zu opfern, wie
gegenüber liberalen und konservativen Vorstellungen von harter Arbeit und
Unternehmertum und davon, eine oder zwei soziale Klassen für den heutigen
Segen der Oberschichten zu opfern.
Der von Gandhi aus diesen zwei Axiomen gezogene Schluß umfaßte ei-
nerseits den Respekt für die Heiligkeit allen Lebens (daher sein Vegetaris-
mus) und andererseits die Annahme der Regel: "Kümmere Dich um die Mit-
tel, und die Zwecke werden sich um sich selbst kümmern." Somit unter-
Kulturelle Gewalt 365

scheidet sich die Lehre von der Einheit des Lebens nicht unwesentlich von
der Lehre vom ökologischen Gleichgewicht, da sie auf die Verbesserung al-
len Lebens und nicht nur des menschlichen Lebens zielt, und ebenso allen
menschlichen Lebens und nicht nur jener Gruppen, die von irgend welchen
(Gandhis Ansicht nach entstellten oder mißverstandenen) Religionen oder
Ideologien auserwählt sind. Die Einheit von Mittel und Zweck sollte im Ge-
gensatz zur Diachronie eines Riesenschritts, von dem angenommen wird, daß
er die force motrice auslöst, zu einer Lehre der Synchronie führen, die nach
gleichzeitiger Arbeit an allen Problemen verlangt. 102 Als Archetypus kann das
buddhistische Rad gelten, bei dem die Elemente des Denkens, des Sprechens
und des HandeIns dazu tendieren, auf derselben Prioritätenebene zu stehen,
nicht aber eine christliche Pyramide, die einigen Dingen eine entschieden
größere Bedeutung als anderen (z.B. Glaube vs. Taten) zuschreibt. lol

1.6 Schlußfolgerung
Gewalt kann ihren Ausgang nehmen an jeder Ecke des Dreiecks direkte-
strukturelle-kulturelle Gewalt und leicht zu den anderen Ecken überspringen.
Ist die Gewaltstruktur institutionalisiert und die Gewaltkultur internalisiert,
dann tendiert auch die direkte Gewalt dazu, sich zu institutionalisieren, sich
zu wiederholen und, einer Vendetta gleich, zu einem Ritual zu werden. Die-
sem dreieckig angelegten Gewaltsyndrom sollte dann im Geiste ein triangu-
läres Friedenssyndrom gegenübergestellt werden, in dem der kulturelle Frie-
de strukturellen Frieden, mit symbiotischen, gerechten Beziehungen zwi-
schen verschiedenen Partnern, und direkten Frieden, erkennbar an Akten der
Kooperation, der Freundlichkeit und Liebe, hervorbringt. Es könnte ein sich
ebenfalls selbst verstärkendes Tugend- statt eines Teufelsdreiecks sein. Die-
ses Tugenddreieck ließe sich dadurch schaffen, daß man an allen drei Ecken
gleichzeitig arbeitet und nicht annimmt, daß grundlegende Veränderungen in
einer Ecke automatisch zu Veränderungen in den beiden anderen Ecken füh-
ren.
Aber erweitert die Einbeziehung der Kultur die friedenswissenschaftliche
Agenda nicht erheblich? Natürlich tut sie das. Warum sollten Friedensanaly-
sen auch enger gefaßt werden als zum Beispiel Gesundheitsanalysen (Medi-

302 Man betrachte Gandhis Leben. Die politische Agenda, die er sich vornahm, war
schwindelerregend: swaraj; die Erforschung von satyagraha und sarvodaya; die so-
ziale Besserstellung der Inder in Südafrika, der harijan in Indien und der Frauen; der
Kampf zwischen Hindus und Muslimen in den Städten. Niemals sagte Gandhi: Ich
will mich auf eine Sache konzentrieren, und der Rest kommt danach.
303 Vgl. Johan Galtung: Methodology and Development. Essays in Methodology, Bd. III,
Kopenhagen 1988, Kap. 1.1, insbes. S. 25ff.
366 Zivilisations theorie

zin)? Ist der Frieden vielleicht leichter zu verstehen als die Gesundheit, ist er
etwa weniger komplex? Und wie steht es mit der Biologie, dem Studium des
Lebens; der Physik, dem Studium der Materie; der Chemie, dem Studium der
Zusammensetzung der Materie; der Mathematik, dem Studium der abstrakten
Form? Das sind doch alles umfängliche Forschungsfelder! Warum sollte die
Friedensforschung bescheidener sein? Warum sollte man in einem Feld
Grenzen ziehen, das in seinen Konsequenzen so furchtbar wichtig und zu-
gleich so attraktiv für den wissensdurstigen Geist ist? Falls die Kultur für
Gewalt und Frieden von Bedeutung ist, und davon gehe ich aus, dann wird
nur der Dogmatiker sie von Untersuchungen ausschließen, die ebenso tief-
dringend und verläßlich sind wie die zahllosen Studien, die sich den vielen
Aspekten direkter und struktureller Gewalt widmen. Das einzig Neue ist, daß
sich die Friedensforschung neuen Disziplinen, wie Z.B. den Geisteswissen-
schaften, der Ideengeschichte, der Philosophie und der Theologie, öffnet. Mit
anderen Worten: eine Einladung an andere Disziplinen, sich der Suche nach
den Bedingungen des Friedens anzuschließen, und an die etablierte For-
schung, sich ein paar neue Werkzeuge zu beschaffen.
Wenn das geschieht, könnte die Friedensforschung sogar einen Beitrag
dazu leisten, ein im Pantheon der Wissenschaft offensichtlich fehlendes
wichtiges wissenschaftliches Unterfangen ins Leben zu rufen, nämlich die
Wissenschaft von der menschlichen Kultur, die "Kulturologie". Heutzutage
ist dieses Feld aufgeteilt in die "Geisteswissenschaften" zur Erforschung "hö-
herer" und die Sozialanthropologie (cultural anthropology) zur Untersuchung
der "niedrigeren" Zivilisationen; Philosophie, Ideengeschichte und Theologie
füllen einige der verbleibenden Lücken. Konzepte wie das der "kulturellen
Gewalt" schließen alle diese Disziplinen mit ein, gerade so, wie das Konzept
der "strukurellen Gewalt" das ganze Spektrum der Sozialwissenschaften um-
faßt. Die Friedensforschung hat so viel zu lernen, so viel zu gewinnen und
aufzunehmen. Vielleicht werden auch wir zu gegebener Zeit einige Beiträge
leisten: im Geiste der Vielfalt, der Symbiose und der Angemessenheit.
2. Sechs Kosmologien: eine impressionistische
Darstellung

2.1 Der kosmologische Ansatz der Zivilisationstheorie


Hiermit lade ich den Leser zu einer Expedition in das menschliche kollektive
Unterbewußte ein. Eine Anmaßung? Gewiß, doch ganz und gar unverzicht-
bar, wenn man zu einem Verständnis des kollektiven menschlichen Ver-
haltens gelangen will (und auch des individuellen Verhaltens, doch in diesem
Fall sind auch viele persönliche Faktoren in Betracht zu ziehen). Krieg und
Frieden, Konflikt und Entwicklung hängen davon ab, wie Gemeinschaften
sich verhalten und handeln. Doch welche Gemeinschaften? Der hier gewählte
Ansatz lautet: "Gemeinschaften, die durch eine gemeinsame Zivilisation de-
finiert sind", und dabei wird eine Zivilisation als eine Makro-Kultur verstan-
den, ausgedehnt in Raum und Zeit. 304 Eine Kultur läßt sich begreifen als der
symbolische Aspekt der conditio humana. Sie sagt uns, um einige Schlüssel-
dimensionen zu erwähnen, was wahr und falsch, gut und schlecht, recht und
unrecht, schön und häßlich, heilig und profan ist. Auf einer tieferen Ebene
sagt uns eine Kultur nicht nur, was wahr ist usw., sondern auch, warum.
Dies verdeutlicht die Bedeutung von "kollektiv", doch wie steht es um "das
Unterbewußte"? Wir beziehen uns mit diesem Terminus auf Annahmen über
die Wirklichkeit, die bei Bedarf abrufbar sind. In einer gegebenen Zivilisation
bestünde also das kollektive Unterbewußte aus gemeinsamen Annahmen über
die Wirklichkeit. Sie sind bei jedermann vorhanden und so sehr allen gemein,
daß jeder von der Existenz eben dieser Annahmen beim anderen ausgeht (und
höchst beunruhigt reagieren kann, wenn sich dies als falsch herausstellt).
Unter der Kosmologie (einer Zivilisation) verstehen wir die kollektiven
unterbewußten Vorstellungen davon, was die normale und natürliche Wirk-
lichkeit ausmacht. Da sie gemeinsam und selbstverständlich sind, sind sie
nicht notwendig bewußt. Andere Begriffe wären "Tiefenideologie", "Tiefen-

304 Dieser Definition zufolge besitzt jede Person P in einer Situation S eine bestimmte
Kultur, jedoch keine Zivilisation. Eine Zivilisation wird geteilt, sowohl synchron als
auch diachron, und die Betrachtung richtet sich hier auf weite raum-zeitliche Ge-
biete, nicht nur auf P in S. Der Terminus "Zivilisation" hat keine Konnotationen von
hoch und niedrig oder gut und schlecht im Verhältnis zu irgendetwas.
368 Zivilisationstheorie

kultur", Weltanschauung (dt. i. Orig.), Kosmovision und entsprechende Äqui-


valente in anderen Sprachen.
Nun noch einige Anmerkungen, bevor wir uns um eine Konkretisierung be-
mühen, da viele Annahmen, die den folgenden Übungen zugrundeliegen,
strittig sind. 305
Erstens, welche Zivilisationen sollten wir in einer Makroperspektive aus-
wählen, wenn wir möglichst viel über die conditio humana in Raum und Zeit
erfahren wollen? Die Entscheidung fiel zugunsten zweier okzidentaler, der
hinduistischen und dreier orientalischer Zivilisationen:
Okzident I, zentrifugal, expandierend (griechisch-römisch, modern);
Okzident /I, zentripetal, kontrahierend (mittelalterlich);
Indisch 306 (Hindu);
Buddhisch (buddhistisch);
Sinisch (chinesisch) und
Nipponisch (japanisch).
Unter "Okzident" verstehen wir die Region, die von den semitisch-abrahami-
tischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) umfaßt wird; unter
"Orient" die Region, die der Buddhismus307 , entweder allein (Buddhisch) oder
in Verbindung mit anderen Sichtweisen (Sinisch und Nipponisch)308, umfaßt;
und unter "Indisch" das weite Dazwischen, ob es nun als Ort der Begegnung
oder als Wiege der beiden anderen betrachtet wird.

305 In einem gewissen Ausmaß werde ich sie darlegen in meinem Buch A Theory of
Civilizations (im Erscheinen begriffen).
306 Indisch, Buddhisch, Sinisch und Nipponisch sind Begriffe, die Toynbees Terminologie
nachahmen, und die als nützlich betrachtet werden, weil sie alle Idealtypen in Webers
Sinn darstellen. So gibt es etwa einen hohen Anteil nipponischer Kosmologie in Japan,
doch darüber liegt auch z.B. eine Schicht vom Typ Okzident I. Daher sind die sechs zu
untersuchenden Kosmologien theoretische Konstrukte, die sich auf konkrete Regionen
in Raum und Zeit beziehen, ohne jedoch mit diesen zusammenzufallen.
307 Alice A. Bailey nimmt in The Reappearance of the Christ, London 1948, einen ähnli-
chen Standpunkt im Hinblick auf die Trennung von Orient und Okzident ein: "Die am
ehesten bekannten und anerkannten Avatars [definiert als "göttliche Boten", a.a.O., S.
7] sind Buddha im Osten und Christus im Westen. Mit Ihren Botschaften sind alle ver-
traut, und die Früchte Ihres Lebens und Ihrer Worte haben das Denken und die Kultur
beider Hemisphären bestimmt" (S. 10; ich bin Cliff Goalstone dafür verpflichtet, mich
auf diese faszinierende Autorin aufmerksam gemacht zu haben). Natürlich ist Moham-
med der Avatar für den Islam, und es gäbe deren mehrere für das Judentum, das im Ge-
gensatz zum Monoprophetismus des Christentums (orthodox, katholisch oder protestan-
tisch) und des Islams (Suni oder Schi'a) multiprophetisch ist. Auch spielt es eine Rolle,
ob der Buddhismus (der südliche: Hinayana, Theravada, der östliche: Mahayana, oder
der nördliche: lamaistische) allein auftritt oder verschmolzen mit anderen Weltsichten.
308 Dieser Definition zufolge, die eher in kulturellen als in geographischen Begriffen ge-
faßt ist, gehören daher die Philippinen (katholisch/muslimisch) und Indonesien (mus-
limisch) zum Okzident.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 369

Es gibt zwei abendländische Zivilisationen, die durch die Zeit, nicht durch
den Raum getrennt sind, da die Unterschiede zwischen den drei Religionen in
dieser Makroperspektive vernachlässigt werden können. Okzident 11 wird
zum Teil als orientalische Enklave in der Geschichte des Abendlandes begrif-
fen. 309 Für diese Asymmetrie gibt es Gründe, wie sich zeigen wird, sobald
wir bei der Zeit-Perspektive der Zivilisationen angekommen sind.
Bei dieser Konzentration auf sechs Zivilisationen finden die afrikanischen,
amerikanisch-indianischen und asiatisch-pazifischen Eingeborenen-Kulturen
keine Berücksichtigung; aber auch, z.B. in Ostasien, die vietnamesischen und
koreanischen Kulturen. Dies sind Mängel, und es wird einige Hinweise auf
"eingeborene Kulturen" und auf Vietnam/Korea geben. Doch auch so läßt
sich vieles sagen. 3lO
Aber worüber? Über die gemeinsamen Annahmen über normale und na-
türliche Aspekte der Wirklichkeit, darüber, was ist, im Sinne, daß es wahr,
daß es der Fall ist - unter Auslassung der Annahmen darüber, was gut und
rechtens, was schön und heilig ist. Zu diesem Zweck muß die Wirklichkeit
unterteilt werden, und diese Unterteilung wird durchgeführt entlang der sechs
"Räume" Natur, Selbst, Gesellschaft, Welt, Zeit, Kultur. 311 "Kultur" wird

309 So gibt es Okzident im Orient (wie die Philippinen, Indonesien und den Aufsatz von
Okzident I), und es gibt Orient im Okzident (wie die mittelalterliche Periode von et-
wa 250-1250 in Westeuropa). Der Ausgangspunkt für diese gesamte Übung besteht
also mit anderen Worten nicht in einer schlichten geographischen Unterteilung in
West und Ost.
310 Ein einfacher Grund für diesen Ausschluß hängt mit den Begrenzungen des Autors
zusammen: einige Vertrautheit mit den für die Untersuchung ausgewählten sechs
Zivilisationen, fast keine mit eingeborenen Kulturen. Zudem ist es mir um unmittel-
baren Kontakt zu tun, nicht um den über Anthropologen als Vermittler durch den
Raum der Gesellschaft. Ein Einwand hiergegen könnte lauten, daß es hier doch zu-
nächst ein gewisses Vertrauen gegenüber Historikern als Vermittlern über die gesell-
schaftliche Zeit hinweg gibt. Doch den, der über historisches Bewußtsein verfügt,
setzt das Leben im Abendland der Vergangenheit aus, so wie sie sich schichtweise in
unserem Geist abgesetzt hat und sich überall in unserer Umgebung, zumindest in ge-
schichtsträchtigen Regionen, widerspiegelt.
311 Der Leser wird die Räume aus Teil 3 (Entwicklungstheorie) wiedererkennen, wobei
dem Begriff "Selbst" gegenüber "Mensch" oder "Person" der Vorzug gegeben wur-
de, um zu unterstreichen, daß die Betonung hier mehr auf dem Inneren des Men-
schen liegt. Andere Analytiker verwenden einige dieser Kategorien und fügen weite-
re hinzu, z.B. Florence R. Klickhohn und Fred L. Strodtbeck in: Variations in Value
Orientations, Evanston, IL 1961. Der Aufbau der Matrix ist inspiriert von Kant
(hinsichtlich Raum, Zeit und Wissen, wobei Raum hier "Welt" und Wissen "Episte-
me" genannt wird) und vom eher augenfälligen Kontext, in dem jedes menschliche
Lebewesen steht: Natur, andere Personen (hier Gesellschaft genannt) und Gott (hier
als das Transpersonale bezeichnet, ohne damit theistische oder gar monotheistische
Interpretationen des Transpersonalen verbindlich machen zu wollen). Das "Selbst"
mußte hinzukommen als etwas, auf das sich jeder, ob er es weiß oder nicht, beziehen
muß. Es steckt eine Menge ,Versuch und Irrtum' in der Tabelle, die sich für die Fra-
370 Zivilisationstheorie

noch weiter unterteilt in Transpersonale und in Epistemologische Kultur,


wobei sich erstere auf das Wesen der überpersönlichen, religiösen Wirklich-
keit richtet, letztere darauf, wie wir uns mit der Wirklichkeit auseinander-
setzen, wie wir sie beschreiben und verstehen (kurz Episteme genannt).
Wir erhalten so insgesamt sieben Dimensionen,312 die wir verwenden wer-
den, um sechs Zivilisationen zu charakterisieren. Alles zusammengenommen,
bedeutet dies 42 Aufgaben, die in der Tabelle 4.3 ausgebreitet werden, eine 6
x 7-Matrix. Ist die Wahl der Einheiten, der Zivilisationen, und der Variablen,
der Räume, einmal getroffen, dann besteht ein Grundproblem in der Ent-
scheidung über die Werte dieser Variablen, darüber, wie eine Zivilisation Z
im Raum R konkret positioniert werden soll.313 Der Inhalt von Tabelle 4.3 ist
das Ergebnis vieler Versuche und Fehlschläge. 314 Wie der Leser bemerken
wird, sind Diagramme manchmal ausdrucksstärker als Worte (auch wenn sie
im Text mit Worten ,entziffert' werden müssen).

ge von Frieden und Konflikt ebenso fruchtbar machen läßt wie für die von Entwick-
lung und Kultur.
312 Ich habe in früheren Untersuchungen der Annahmen, die Zivilisationen zugrunde-
liegen, mit deren fünf begonnen (Raum, Zeit, Wissen, Person-Natur, Person-Person),
dann Nr. 6 hinzugefügt (Person-Jenseits), und schließlich Nr. 7 (Selbst). Viele weite-
re könnten hinzugefügt werden, um ein dichteres Gitter für die Beschreibung und
Theoriebildung zu gewinnen, doch ein Grundziel würde dann vielleicht in noch grö-
ßere Ferne rücken: einen Überblick zu geben, der doch reichhaltig genug ausfällt,
um auch Spezifisches mitzuteilen.
In den ursprünglichen Listen waren die ersten drei Begriffe: Raum, Zeit und Wissen,
die Kategorien, die Kants apriorischen Annahmen entsprechen, und die nächsten drei
erschienen als ebenso unerläßlich, um eine Zivilisation zu beschreiben: die Be-
ziehung zur Natur, zu anderen Menschen und zum Transpersonalen (eine umfas-
sendere Formulierung als "Gott" qua Begriff mit personifizierender, anthropomor-
pher und daher okzidentaler Färbung). Doch "Beziehung zu" wurde fallengelassen,
daja alle Dimensionen das einzufangen versuchen, worauf sich diejenigen, die in ei-
ner Zivilisation leben und ihren Diskurs teilen, beziehen. Zudem verschwand in der
Person-Natur-, Person-Person- und Person-jenseits-Liste entweder das Selbst oder
die Gesellschaft (abhängig von der Interpretation von "Person-Person"), und so er-
klärt sich die gegenwärtige Unterscheidung.
313 Andere würden dies anders machen, doch habe ich die folgenden Diskurse als nütz-
lich empfunden: Natur: wie sich der Mensch auf anderes Leben bezieht, einschließ-
lich der Ernährungsgewohnheiten; Selbst: Freuds Triade von Über-Ichllch/Es; Ge-
sellschaft: vertikaUhorizontal und individuell/kollektiv; Welt: wie Zivilisationen die
Welt geopolitisch unterteilen; Zeit: wie sich Höhen und Tiefen über die Zeit ver-
teilen; Jenseits: immanent vs. transzendent und die Struktur des Transzendenten;
Episteme: atomistisch/holistisch und deduktiv/dialektisch.
314 Dies heißt, daß (für den Autor; eben dies habe ich als besonders interessanten Unter-
suchungsgegenstand empfunden) die Liste der Zivilisationen und Räume geschlos-
sen ist, während der Wertediskurs offen bleibt. Lavori in corso - work in progress.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 371

Tabelle 4.3: Sechs Zivilisationen, dargestellt in sieben Räumen


Okzident I Okzident n Indisch Buddhisch Sinisch Nipponisch
NATUR
Menschen über Menschen über Menschen und Empfindungs- Menschen über Menschen über
der Natur der Natur empfindungs- fähiges Leben der Natur der Natur
Herrschaft Herrschaft fähiges Leben über Unbeleb-
über Unbeleb- tem Partner-
tem schaft
Karnismus Kamismus Vegetismus Vegetismus gemischt gemischt
SELBST
schwaches starkes gemischtes starkes gemischtes starkes
Über-Ich Über-Ich Uber-Ich Über-Ich Uber-Ich Über-Ich
starkes Ich schwaches Ich gemischtes Ich schwaches Ich gemischtes Ich schwaches Ich
starkes Es gemischtes Es gemischtes Es schwaches Es gemischtes Es gemischtes Es
GESEUSCHAFT
vertikal: Klasse vertikal: Kaste vertikal: Kaste horizontal: vertikal: vertikal:
und Geschlecht und Geschlecht und Geschlecht san/?ha, aber gemischt, aber gemischt, aber
Geschlecht Geschlecht Geschlecht
individuelle kollektive Ver- Mischung aus kollektive Mischung aus kollektive
Knoten bindungen von Knoten und Netze Knoten und Netze und Ver-
Knoten Netz Netz bindungen
WELT
drei Teile: viele Teile: einTeil: viele Teile: fünf Teile: drei Teile:
Zentrum ieder Teil Einheit-der- ieder Teil Zhon/?-/?uo Japan
Peripherie ein Zentrum Menschen ein Zentrum N, S, 0, W- dai-to-a
das Böse Barbaria Resourcia
unbegrenzt begrenzt begrenzt begrenzt unbegrenzt unbegrenzt

/ / / /
ZErr:

-- "7 "/
Selbst
L;r L;r
begrenzt begrenzt unbegrenzt unbegrenzt

1f\J
Gesellschaft
L;r
begrenzt begrenzt begrenzt unbegrenzt unbegrenzt unbegrenzt
TRANSPERSONAL
transzendent transzendent transzendent immanent transzendent transzendent
und immanent und immanent und immanent und immanent
ein Gott ein Gott mehrere Götter kein Gott kein Gott (k)ein Gott
auserwählte(s) auserwählte(s) auserwähltes
Volk! Völker Volk! Völker Volk
ein Satan ein Satan kein Satan kein Satan kein Satan kein Satan
eine Seele eine Seele eine Seele keine Seele keine Seele? keine Seele?
ewigeIr HimmelewigeIr Himrnelmoksha moksha Ruhe Ruhe
oder Hölle oder Hölle Reinkarnation Wiedergeburt gemischt gemischt
singularistisch! singularistisch/ pluralistisch! pluralistisch! pluralistisch! pluralistisch!
universalistisch universalistisch universalistisch partikularistisch partikularistisch partikularistisch
EPISTEME
atomistisch holistisch eklektisch holistisch eklektisch eklektisch
deduktiv deduktiv eklektisch dialektisch eklektisch eklektisch
wider- wider- eklektisch Widersprüche Widersprüche Widersprüche
spruchsfrei spruchsfrei
372 Zivilisations theorie

Die Tabelle kann vertikal gelesen werden, als Versuch, das Wesen und d.h.
die Kosmologie jeder der sechs Zivilisationen zu verstehen, oder horizontal,
um die Zivilisationen miteinander in jedem einzelnen Raum zu vergleichen.
Der Vergleich zweier Spalten sollte einiges von den Unterschieden und Ähn-
lichkeiten zwischen zwei Zivilisationen verständlich machen. Und der Ver-
gleich zweier Zeilen könnte zum Verständnis beitragen, wie die Zivilisatio-
nen diese Räume in ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden auffassen.
Doch am besten ist es, die Matrix als ein holon zu sehen. Viel Glück.

2.2 Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung


Die Kosmologie einer Zivilisation ist auch der sozio-kulturelle Code dieser
Zivilisation, der die wesentlichen Botschaften transportiert, wie die Wirklich-
keit zu konstruieren ist. Die biogenetische Parallele zum genetischen Code ist
offensichtlich und beabsichtigt. Dazwischen liegt, hinsichtlich Komplexität
und Organisations grad, der soziopersonale Code eines Menschen, die we-
sentlichen Merkmale seines Verhaltens, die Persönlichkeit. Für eine Zivilisa-
tion bedeutet die Kosmologie dasselbe wie die Persönlichkeit für einen Men-
schen, meint jene grundlegenden, tendenziell gegenüber den Schwankungen
der Tages-, Monats-, Jahres- und Lebensrhythmen unveränderlichen Merk-
male, wenn die Persönlichkeit einmal feste Wurzeln geschlagen hat. Dies
heißt nicht, daß die Persönlichkeit oder die Kosmologie unveränderlich wä-
ren, sondern nur, daß solche Veränderungen selten sind und nicht leicht
durch Willensakte zustande gebracht werden können (s. u. Kap. 5).
Zunächst jedoch müssen wir uns mit diesen Merkmalen besser vertraut
machen. Die Spalten in der Tabelle 4.3 führen Hypothesen darüber auf, wie
sie codiert sind. Diese Codes müssen wir ausbuchstabieren, damit die Zivili-
sationen lebendig werden.
Eine Warnung: Wir malen hier mit einem wirklich breiten Pinsel, charakte-
risieren echte Makro-Kulturen auf der Ebene der Tiefen-Kultur. Es gibt jedoch
auch die Ebene der Oberflächen-Kultur, und die kulturelle Gewalt findet sich
ohne Frage auch auf dieser Ebene (Kap. 1). Beide Ebenen zusammen sollten
uns eine generelle Grundlage liefern, um jene Implikationen aufzuzeigen, nach
denen wir in bezug auf Krieg und Frieden, Konflikt und Entwicklung suchen
(Kap. 3). Zudem sind innerhalb jeder Makro-Kultur Spezifikationen möglich,
bedeutungsvoll, ja sogar notwendig (Kap. 4). Und schließlich (Kap. 5): Was
läßt sich daran ändern, gibt es irgendeine Therapie für pathologische Kosmo-
logien?

Kosmologie von Okzident I Wenn wir die Spalte 1 betrachten, mit welcher
Art von "Person" haben wir es dann im Falle von Okzident I zu tun?
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 373

Beginnen wir mit ,Natur', dann geht es offensichtlich um Menschen, die


sich selbst als Herrscher über die Natur betrachten, und zwar so sehr, daß sie
zu Allesfressern werden, unter Einschluß fleischlicher Nahrung, und das Le-
ben zumindest einiger ihrer Gefährten verzehren. Der Begriff "Karnismus"
wird als analoger Begriff zum Verhalten jener Menschen eingeführt, die sich
selbst darauf beschränken, Pflanzen zu verzehren, in Tabelle 4.3 abgekürzt
als "Vegetismus". Diese Einstellung mag nun auch den Verzehr von tieri-
schem Protein ausschließen und überhaupt von allem, was die Natur nicht so
frei anbietet wie etwa den Überfluß an Früchten und Körnern; nicht aber den
Genuß lebendiger Pflanzen, die doch ebenfalls als Teil des verwandten Le-
bens begriffen werden können.
Für den Raum des Selbst bildet eine vereinfachende Anwendung der
Freudschen dreiteiligen Architektur der menschlichen Psyche den Okzident I
mit einem starken Ich und einem starken Es ab, jedoch mit einem schwachen
Über-Ich, das zwischen der Gier des ersteren und den Bedürfnissen des letz-
teren steuert. Die Person ist hier keine Metapher, sondern ein Selbst - eine
Hypothese, wie der okzidentale Mensch codiert oder programmiert ist, na-
türlich relativ zu den entsprechenden Programmen der anderen fünf Zivilisa-
tionen und mit enormen Variationen.
Die Konstruktion der Gesellschaft schafft für solche Menschen Raum, in-
dem sie den Individuen die Freiheit gewährt, ihre Bedürfnisse und ihre Gier
auszuleben. Die Metapher vom Knoten, die von Panikkar stammt,Jl5 spielt an
auf ein Netz, bei dem nur die Knoten sichtbar werden, die starken Individu-
en, nicht das Netz, der gesellschaftliche Kitt, der sie zusammenhält. Eine an-
dere Fassung des Problems könnte sich solcher Begriffe bedienen wie
"akteursorientierte" versus "strukturorientierte" Perspektiven der Gesell-
schaft/ 16 wobei Okzident I offensichtlich die erstere (und die buddhische
Kosmologie letztere) Perspektive auslebt.
Begegnen einander starke, relativ ungezügelte Individuen, dann besteht
eine Tendenz zur Hierarchiebildung. Hierfür sorgt Okzident I mit der vertika-
len Anordnung einer Klassengesellschaft, was bedeutet, daß Mobilität, ab-
gestimmt auf die Stärke des Egos, möglich ist. Im Ergebnis wird es Eliten
(die Oberschichten) geben, das Volk (Mittel- und Unterschichten), das hoch-
zukommen hofft, und Ausgestoßene, durch das System marginalisierte und
zugleich zutiefst gefürchtete Menschen. Zu den Marginalisierten gehörten die
Frauen, die jetzt jedoch zunehmend zum Klassensystem Zugang finden.
Die Konstruktion des Raums Welt kann als eine Widerspiegelung dieser
Verhältnisse betrachtet werden. Der Raum Welt (nicht der Weltraum, son-

315 Vgl. Raimundo Panikkar: "La notion des droits de I'homrne, est-elle un concept oc-
cidental?", in: Diogenes 120 (1982), S. 87-115.
316 Vgl. Johan Galtung: "Two perspectives on society", Kap. 2.1, in: The True Worlds,
New York 1980, S. 41-44 und die folgenden beiden Abschnitte dieses Kapitels.
374 Zivilisationstheorie

dern das "System Welt") hat ein Zentrum, sodann eine Peripherie, die darauf
hofft, vom Zentrum akzeptiert und diesem ähnlicher zu werden, und einen
Rand, an dem das Böse angesiedelt ist. Die bösen Kräfte lehnen das Zentrum
und alles ab, wofür es steht, und wollen ihr eigenes Zentrum sein. Wie das
Böse keine Begrenzung hat, ist auch die Welt grenzenlos und dies nicht nur
in geographischer Hinsicht.
Zeit ist in der abendländischen Kosmologie höchst dramatisch. Es gibt
Chronos, den Fluß der physikalischen ("objektiven") Zeit, vom Anfang
(Genesis) bis zum Ende (Apokalypse), was bedeutet, daß die Zeit in Okzi-
dent I begrenzt ist. 317 Doch gibt es auch Zeitkapseln des Kairos, organische
("subjektive") Zeit: der Sündenfall nach dem Verfließen der Zeit des Paradie-
ses, das Licht nach dem Verfließen der Zeit der Finsternis, die Krise nach
dem Verfließen der Zeit des Fortschritts - mit starken Dichotomien: Himmel
oder Hölle, Erlösung oder Verdammnis ("Friß oder stirb"). Darauf folgt, für
alle Zeit, der Fluß der ewigen Seligkeit oder des ewigen Leidens. Und all
dies in der kurzen Zeitspanne zwischen Geburt und Tod in der Biographie
(Mikro-Geschichte) des individuellen Menschen, in der Geschichte einer Ge-
sellschaft, in der Makro-Geschichte einer Zivilisation oder der ganzen Welt,
von der Genesis bis zur Apokalypse. Was wäre dramatischer, zumal, wenn es
der ganzen Welt auferlegt wird?
Das Transpersonale ist eindeutig dichotom, mit individuellen Personen,
alle ausgestattet mit einer immerwährenden und unsterblichen Seele zwi-
schen dem einen Gott und dem einen Satan, die beide transzendent und über
bzw. unter demjenigen zu Hause sind, was in anderen Religionen vielleicht
die Mutter Erde wäre, und die um den Besitz dieser Seele kämpfen und zwar
für nichts weniger als für die Ewigkeit - wobei ihnen nur ein Sekunden-
bruchteil dieser Ewigkeit, die Spanne des menschlichen Lebens, für diesen
Kampf zur Verfügung steht. Der konkrete Glaube oder die konkrete Religion
ist die einzige Wahrheit (Singularismus) und gültig an allen Orten und für
alle Zeiten (Universalismus),318 so wie dies im Missionsbefehl zum Ausdruck
kommt. 319 Was könnte stärker sein?

317 Der grundlegende Text des Abendlandes (das Buch, Kitab im Arabischen), die Bibel,
und besonders das Alte Testament ist dieser Formel entsprechend konstruiert.
318 Der Judaismus stellt hier eine Ausnahme dar, da er nicht universalistisch ist. Der Ju-
daismus muß partikularistisch sein, nur für Juden gelten und Bekehrungen be-
schränken. Die Hauptglaubenssätze betreffen ein erwähltes Volk, die Juden, sowie
ein Gelobtes Land im östlichen Teil des Mittelmeers, und daher ist der Judaismus als
einzig richtiger Glauben (Singularismus) möglich, doch nicht für alle (Universalis-
mus). Das Gelobte Land, im Alten Testament mit einem hohen Grad an geographi-
scher Genauigkeit beschrieben (Genesis 15: 18, Genesis 17: 5-14, Numeri 34: 1-12),
ist einfach nicht groß genug, um jedermann aufzunehmen.
319 Matthäus 28: 19-20: "Geht daher hin und macht alle Völker zu Jüngern - und ich bin
bei Euch alle Tage bis ans Ende der Welt." (Hervorhebungen J. G.).
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 375

Die Episteme beruht auf Atomismus und Deduktivismus, darauf, ,jedes


Problem [... ] in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nötig ist,
um es leichter zu lösen [... ], d.h. mit den einfachsten und am leichtesten zu
durchschauenden Dingen zu beginnen".32o Wird so verfahren, dann entsteht
eine enorme Menge an detailliertem Wissen über Teile, die Atome (von de-
nen angenommen wird, daß sie unteilbar sind, so daß sie als Bausteine des
Wissens über die Wirklichkeit verwendet werden können). Dieses Wissen
wird dann in Form von Sätzen mehr oder weniger deduktiv in Theorien mit-
einander verwoben, in verbalen Konstrukten, welche die Schlußform "Wenn
P, dann Q" nutzen. Doch damit dieses funktioniert, muß P sowohl wie Q
entweder wahr oder falsch sein (obwohl "P wahr, Q falsch" ausgeschlossen
ist, wenn der Schluß korrekt sein soll). In anderen Worten: Mehrdeutigkeiten
und Widersprüche sind nicht zulässig, sind gedankliche Irrtümer. Wider-
spruch heißt Fehler auch darum, weil er deduktives Denken unmöglich
macht. Die Wirklichkeit wird zerlegt, dann werden Sätze über die Teile auf-
gestellt, dies Wissen wird sodann zu Theorien verwoben, und all dies stren-
gen Regeln gemäß, sofern gültiges, "wissenschaftliches" Wissen das Ziel ist.
Wir spüren einen inneren Zusammenhang in den sieben Räumen: Zentra-
lismus. MenschlMann (nicht Menschheit) steht an der Spitze der Lebenspy-
ramide, das Ich an der Spitze der Pyramidenarchitektur des Selbst, die Eliten
stehen an der Spitze der Gesellschaft, der Okzident an der der Welt, die Krise
an der der Zeit, Gott an der des Transpersonalen, und an der Spitze der Epi-
sterne steht jenes letzte Axiom, das sich uns entzieht und von dem alles ande-
re abgeleitet werden kann. Für die sieben Räume insgesamt liefert die Pyra-
mide die adäquate Geometrie. 321
Zur Kosmologie von Okzident II Hierunter wird der latente oder rückläufige
Okzident im zeitgenössischen Westen verstanden sowie der manifeste oder
herrschende Okzident in der Zeit des Mittelalters, vom Niedergang des
Weströmischen Reiches bis zu dem Moment, als das grundherrliehe Feudal-
system den Stadtstaaten wich, die später zu National- und Weltstaaten bzw.
Weltreichen werden sollten. 322 Doch ist er noch hier unter uns, in den verbor-
generen Winkeln des Abendlandes, am Leben gehalten eher durch die Natur

320 Rene Descartes: Von der Methode (1637), Hamburg 1971,11,8.-9.


321 Mit einer Zusatzbemerkung: die Pyramide ist zu kontinuierlich. Das Böse, ob in der
Natur, im Selbst, in der Gesellschaft oder der Welt, wird nicht als mit dem Übrigen
zusammenhängend betrachtet, sondern hat seine eigene Existenz und Logik.
322 Die Europäische Union, zusammen - wie im Maastricher Vertrag festgelegt - mit
den 70 ACP- (African-, Caribbean-, Pacific-)Staaten, stellt den Versuch eines Welt-
staats dar, der zwar nicht die ganze Welt umfaßt, sie aber doch überspannt. Der letzte
Versuch von Okzident I?
376 Zivilisationstheorie

als durch die Menschen, eher durch Frauen als durch Männer, eher durch
Junge und Alte als durch die Menschen mittleren Alters. 323
Da es sich hierbei um eine Abzweigung von Okzident I handelt, der dieser
Auffassung der westlichen Makro-Geschichte nach 324 seinerseits eine Ab-
zweigung von Okzident 11 wurde, und zugleich um eine alternative Kosmo-
logie, die in der herrschenden Kosmologie von Okzident I weiterlebt, muß es
eine Anzahl von Ähnlichkeiten geben, nicht nur Unähnlichkeiten. Sogar
während der beiden wichtigsten Brüche der abendländischen Geschichte,
dem Niedergang und Fall des Römischen Reiches und dem des Mittelalters,
gab es wichtige Kontinuitäten. Doch in bei den Fällen zeigte sich die herr-
schende Kosmologie unfähig, die enormen Probleme aus eigener Kraft zu lö-
sen. Die Stärke des Okzidents besteht in einer Reserve-Kosmologie, auf die
er immer zurückgreifen kann, wenn die jeweils andere scheitert.
So wird in Tabelle 4.3 die Konstruktion der Natur als ganz allgemein okzi-
dental betrachtet, und das gleiche gilt für die persönliche Zeit Das Transperso-
nale unterscheidet sich in einem Punkt, und zwar insofern, als das Christentum
nun auch die Botschaft von einem immanenten Gott mit sich bringt, etwa in der
Tradition des Hl. Franz von Assisi. 325 Dies bedeutet, daß in bezug auf die Natur
und auf Gott das Leben nicht so anders war; wobei die Qual angesichts der Kri-
sen aus dem Kairos ein entscheidendes Gestaltungsmoment des persönlichen
Lebens machte. Doch kommen wir nun zu den Unähnlichkeiten.
Das Knotenmodell der Gesellschaft wird stark modifiziert. Sicher hat die
Sorge um die individuelle Seele Bestand, doch der kollektive Aspekt der ge-
sellschaftlichen Organisation tritt sehr viel stärker hervor: die Kirchenge-
meinde, das Kloster, das Dorf, die örtliche Gemeinschaft ganz allgemein.
Ansammlungen von Knoten, in anderen Worten. Die Gemeinschaft wird zu
einem Zentrum zusätzlich zu Gott und der Krise, etwas Festes, so wie sich
dies in der flachen Konstruktion der gesellschaftlichen Zeit ausdrückt. Tat-
sächlich wird die Gemeinschaft zur Welt und, die begrenzt ist, wobei man
annimmt, daß andere auch ihr Zentrum haben, ihre Bühne, um ihr persönli-
ches Drama zu entfalten, und daß ein Zuviel an gesellschaftlichem Wandel

323 Die Beziehung zwischen Kosmologie und dem Gesamt der Gesellschaftsformation ist
ein wichtiges Problem, das untersucht werden wird in A Theory of Civilizations, doch
hier aus Raumgründen ausgespart bleibt. Insbesondere wird die These Mann: Frau =
Okzident: Orient weitgehend verifiziert, was etwa die Möglichkeit eines potentiellen
Bündnisses der Frauen von überall mit dem Orient gegen die derzeitige Beherrschung
der Welt durch die Männer und die Kosmologie von Okzident I zur Folge hat.
324 Siehe Johan Galtung, Erik Rudeng und Tore Heiestad: "On the Last 2500 Years in
Western History. And Some Remarks on the Coming 500", in: Peter Burke (Hg.):
The New Cambridge Modern History, Companion Volurne, Bd. XIII, Cambridge
1979, S. 318-361.
325 Siehe das wunderbare Buch von Leonardo Boff. Saint Francis: a Model for Human
Liberation, New York 1984.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 377

die Erlösung behindern und nicht fördern werde. Dies gilt gleichermaßen für
die vertikale Dimension. Gesellschaftliche Positionen werden in einem Ka-
stensystem eingefroren, das den Klerus, die Aristokratie, Bürger und Ar-
beiterlLeibeigene in dieser Anordnung organisiert, dann fortgeht zu den Aus-
gestoßenen (Juden, Mauren, Zigeunern usw.) und schließlich zu den Tieren,
Pflanzen, Mineralien, Wasser, Luft und Raum.
All dies ist bestens vereinbar mit einem starken Über-Ich, das in das Selbst
eingebaut ist und das Ich unterdrückt (der Soziologe würde vielleicht von einer
starken gesellschaftlichen Kontrolle in der örtlichen Gemeinschaft sprechen,
und zwar besonders durch Gottes Repräsentanten, den lokalen Klerus). Doch
das Es bleibt heftig bewegt - vielleicht wegen übermäßigen Fleischgenusses?
Mit Ausnahme des Dramas der persönlichen Zeit ist Okzident 11 eine ge-
sellschaftliche Konstruktion der Stabilität, und die Epistemologie trägt zu
dieser Zementierung der Wirklichkeit bei. Descartes' Atome unterteilen die
Wirklichkeit gerade ebenso wie der Individualismus die Gesellschaft. Doch
gerade dadurch eröffnen sie auch Möglichkeiten zur Dynamik/26 für Kräfte,
die nicht gebändigt wurden durch die Zwangsjacke eines Ganzen (holon), das
die scholastische Vorliebe für den Holismus erbaute. Auch der Holismus
kann dynamisiert werden, wenn man nämlich davon ausgeht, daß in seinem
Inneren Widersprüche am Werk sind, so wie dies z.B. der Buddhismus un-
terstellt, und wie es besonders im Taoismus entwickelt wird. Der Holismus
der Epistemologie von Okzident 11 ist in hohem Maß deduktiv, taxonomisch
und syllogistisch - und statisch. Die grundlegende Vorstellung besagt, daß es
all das einzufangen gilt, was unter ein generelles Klassifikationsschema fällt.
Eine Kosmologie also für stabile Verhältnisse, so wie dies die Entwicklung
des Römischen Rechts etwa veranschaulicht.
Zur Indischen Kosmologie Reisen wir von den beiden Okzidenten, die in den
drei abrahamitischen Religionen Ausdruck finden, ostwärts, dann treffen wir
auf den Indischen Raum. So wie es Kontinuitäten in der Zeit gibt (westliche
Makro-Geschichte), so gibt es Kontinuitäten im Raum (Welt-Makro-Geogra-
phie). So finden wir z.B. einen großen Teil derselben Konstruktion von Ge-
sellschaft wieder, sogar mit denselben Gesellschaftsrängen für die Menschen
und in derselben Anordnung: Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas, Shudras
und dann die Ausgestoßenen, die Parias. Auch die Konstruktion des Selbst
ist ähnlich, doch flexibler, wie in Tabelle 4.3 beschrieben. Das Schwache und
Starke Seite an Seite, in anderen Worten eklektischer, ein Thema von wach-
sender Bedeutung, je weiter wir uns nach Osten bewegen. Seine besondere
Betonung findet dies in der Episteme, die das Atomistische mit dem Holisti-
schen und das Deduktive mit dem Dialektischen verbindet.

326 Wobei Cassirers Funktionsbegriff (dt. i. Orig.) den Aristotelischen Substanzbegriff


(dt. i. Orig.) nach und nach ersetzt. Vgl. Ernst Cassirer: Substance and Function,
New York 1953 (dt. OriginaI191O).
378 Zivilisationstheorie

Doch dann die Unterschiede! Der grundlegende findet sich vielleicht in


der Konstruktion des Transpersonalen und besonders im Verschwinden Sa-
tans (im Sinne des westlichen Mono-Satanismus), wenn wir uns von den is-
lamischen zu den hinduistischen Weltgegenden bewegen. Vielleicht wird
man einwenden, der Hinduismus brauche keinen Satan, da er den Kastenlo-
sen, den Parias, die Hölle bereits hier, auf Erden bereite. Doch ist die okzi-
dentale Hölle für die Ewigkeit, das Leben als Paria jedoch dauert nur dies
eine Leben lang. Nach dem Tode gewährt die Reinkarnation eine zweite,
dritte usw. Chance; in den großzügigeren Formen des Hinduismus gilt dies
für alle Formen des Lebens. Doch heißt dies auch Reinkarnation in allen
Formen des Lebens, aufwärts oder in derselben Form oder abwärts, in etwa
derselben Hierarchie wie der von Okzident 11.
In welcher konkreten Form dies geschieht, hängt ab vom Karma als Effekt
der Anhäufung von Verdiensten und Verfehlungen. 327 Karma sollte nicht als
Schicksal übersetzt werden, da es mehr einer schulischen Einstufung ähnelt,
die durch Anstrengung verbessert, dieselbe bleiben oder durch Mißachtung
gemindert werden kann. Als Folge verläuft die gesellschaftliche Zeit in einer
Wellen bewegung, auf und ab, mit den Zyklen der Seelenwanderung (Sam-
sara), doch als eine allgemeine Aufwärtsbewegung, wenn Moksha, Befrei-
ung oder Erlösung, durch die Verwirklichung der Einheit der individuellen
(Atman) und der absoluten Seele (Brahman) erreicht wird. 328
Doch der Raum der Natur muß anders aufgebaut sein, damit diese Durch-
wanderung der Seelen oder Metensomatosis (der Wechsel der Körper) statt-
finden kann. Zwischen Tieren und Menschen muß ein größeres Ausmaß an
Kontinuität bestehen. Und dennoch ist die Einheit der Menschen eher als die
Einheit des Lebens die herrschende Vorstellung. Der Vegetismus beginnt mit
der indischen Zivilisation, vielleicht aber nicht so absolut wie im bud-
dhischen Raum. Die Kuh, dies (im großen und ganzen) außerordentlich fried-
fertige Lebewesen, hat man als Symbol der Einheit des Lebens gewählt.
Die Gesellschaft konstruiert man als eine Mischung aus Knoten, mit star-
ken Individuen, und Netzen, am besten übersetzt als Netzwerke zwischen
unsichtbaren Individuen. Der Individualismus von Okzident I und der bud-
dhische Strukturalismus, der das Netzwerk als solches betont, finden hier

327 Eine Beobachtung der frühen achtziger Jahre an der Mauer in Berlin, zwischen
zahlosen Graffiti: Karma:
"Whatever you say, ("Was immer Du sagst,
Whatever you do, und was immer du tust,
sooner or later kommt früher oder später
comes back to you." zu dir zurück".)
328 Die Religion der Sikhs, ein hochinteressanter Komprorniß, wenn dies die angemes-
sene Bezeichnung ist, zwischen dem Islam und dem Hinduismus, kennt die Reinkar-
nation - jedoch nur für einige Generationen, danach wird die Seele ins Paradies auf-
genommen.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 379

beide ihren Platz - ein Ausdruck des indischen Geschicks, eine Vielzahl von
Kosmologien zu beherbergen.
Die Einheit der Welt ist grundlegend für die Gesamtkonstruktion. Die
Sanskrit-Redensart Vasudaiva Kuttumbakam (die Welt ist meine Familie)
bringt das sehr gut zum Ausdruck. Doch wird die Grundlage dieser Einheit
wahrscheinlich nicht nur in der sozialen Interaktion gesehen, die uns alle zu-
nehmend vom Anderen abhängig macht, einschließlich des Anderen der
Vergangenheit und des Anderen in der Zukunft; die Grundlage besteht wahr-
scheinlich auch in einer unterstellten, imputierten Ähnlichkeit. "Kratze an ir-
gendeinem Menschenwesen, und du wirst einen Hindu finden", ist es das?
Wenn es das ist, dann gibt es dafür gute Gründe. Hinduismus als eine
Sammlung religiöser Glaubensbekenntnisse ist vielleicht das reichste Reser-
voir an Archetypen und Metaphern unter allen Weltregionen, das solche Di-
lemmata wie Mono-, Poly-, Pan- oder A-theismus in ein voll tönendes und
umwandelt, indem es allen derartigen Vorstellungen, agnostizistischen einge-
schlossen, Raum gewährt. Wiege oder Kreuzung der Kulturen, der Hinduis-
mus umfaßt sie alle. In dieser Sicht ist die Welt in der Tat eine einzige, wobei
in Indien vielleicht eher als anderswo ein Zentrum ausgemacht werden kann.
Indische Kosmologie operiert mit eher begrenzten Vorstellungen des Raumes
Welt und verkörpert darum in einem gewissen Sinne gerade das Gegenteil
der Konstruktion von Okzident I, deren Träger zwar behaupten, daß der Na-
tionalstaat ihre Heimat sei, aber gleichzeitig versuchen, das gesamte Universum
auszufüllen. Der indischen Konstruktion zufolge ist das Universum vielleicht
die Heimat der Inder wie die Heimat aller Menschen, doch kleben sie im gro-
ßen und ganzen an ihrer eigenen, oft ganz lokalen Lebensstätte. Es gibt überall
auf der Welt Inder, doch nicht zugunsten oder im Namen Indiens.
Hierfür mag es gute Gründe geben. Auch die gesellschaftliche Zeit ist be-
grenzt. Nach einem Kalpa-Zyklus (2000 Mahayugas, große Zeitalter, von de-
nen jedes 2160 Jahre dauert, insgesamt 4 320000 menschliche Jahre, "ein Tag
im Leben Brahmas") werden das Universum, die Götter und Brahma zerstört -
mit einem geringeren Ausmaß an Zerstörung nach den kürzeren Zyklen. Die
Richtung zeigt in der Regel nach unten, dann Apokalypse, dann eine Ruhepha-
se, dann der Neubeginn nach einem Aufwärtssprung, dem Auftritt der Avatars.
Zur Buddhischen Kosmologie Auf unserer Reise haben wir, ausgehend von
Okzident I, nun etwa die Hälfte zurückgelegt und sind im Bereich des südli-
chen, nördlichen und östlichen Buddhismus angelangt, von Sri Lanka bis zur
Mongolei und bis nach Japan. Eine reine Form nimmt der Buddhismus in den
Hinayana-Ländern Sri Lanka, Burma, Thailand, Kambodscha und Laos und
in den lamaistischen Ländern Tibet und der Mongolei an. 329 Hingegen tritt er

329 Natürlich kann hier das Argument vorgebracht werden, daß es sich beim Lamaismus,
der ja auf dem Begriff eines lebenden Gottes, des Dalai Lama, und der Aufeinan-
380 Zivilisationstheorie

in den vier Mahayana-Ländern Vietnam, China, Korea und Japan in der


amalgamierten Form des San Fa auf, den "drei Lehren". Hier verbindet sich
der Buddhismus mit dem Konfuzianismus und dann noch mit etwas Spezifi-
schem: Nationalismus (Vietnam), Taoismus (China), Christentum (Südkorea)
und Juche (Nordkorea), schließlich mit dem Shintoismus (Japan).
Buddhistische Kosmologie findet sich überall, wie der moderne Klassiker
von Hajime Nakamura: Ways ofThinking of Eastern Peoplei 30 aufzeigt. Der
vorliegende Essay geht davon aus, daß es möglich ist, eine buddhische Kos-
mologie herauszupräparieren, doch nicht ohne Rückgriff auf den jeweiligen
kulturellen Kontext. Jene "reine" buddhische Kosmologie ist aber gewiß der
kosmologische Antipode von Okzident I. Weiter nach Osten zu sind die Un-
ähnlichkeiten mit Okzident I weniger stark ausgeprägt. Ein Grund mehr,
Christus und Buddha soviel Raum zu widmen.
Bereits die Konstruktion der Natur ist radikal anders. Ist der Okzident ho-
mozentrisch, so die buddhische Kosmologie biozentrisch. Das empfindungs-
fähige Leben, alles, was in der Lage ist, einen Übergang vom Leiden (Dukk-
ha) zur Seligkeit (Sukha) zu erfahren, ist im Prinzip geheiligt. Partnerschaft
mit der (lebenden) Natur wird hier vorausgesetzt. Ebenso der Vegetismus.
Die Konstruktion des Selbst gleicht auch einem Negativ von Okzident I:
stark, wo dieser schwach ist, und umgekehrt. Diese Auffassung ist eng ver-
bunden mit der Konstruktion sowohl der Gesellschaft als auch des Transper-
sonalen. Von den sechs Kosmologien ist die buddhische die einzige, die für
sich zumindest prinzipiell in Anspruch nehmen kann, eine horizontale gesell-
schaftliche Konstruktion zu begünstigen. Die grundlegende gesellschaftliche
Komponente ist das sangha, die Gemeinschaft der gleichgestellten und gleich-
gesinnten Gläubigen, orientiert auf den Tempel und den Tank (den Brunnen),
reich genug für jedermanns Bedürfnisse, doch nicht für die Gier irgend eines
einzelnen. Gibt es soziale Schichtung, dann stammt sie nicht vom Buddhis-
mus her, sondern von einer oder von mehreren der vielen anderen Kosmolo-
gien, mit denen der Buddhismus kohabitiert. Was das Geschlecht angeht, so
hat auch die buddhische Kosmologie die Neigung, Frauen zu marginalisie-
ren. Hier versagen in der Tat alle sechs Kosmologien, doch diese vielleicht
weniger als die anderen. 331
Doch die eigentliche Pointe in der Konstruktion der Gesellschaft ist das
Netzkonstrukt, durch welches das Individuum als etwas, das mit einem un-

derfolge der Reinkarnationen eher als der Wiedergeburt beruht, nicht um Buddhis-
mus handelt.
330 Honolulu, HI 1964. Nakamura vergleicht den Buddhismus Indiens, Chinas, Tibets
und Japans miteinander, um die nicht-buddhistischen Aspekte dieser Glaubenssy-
steme besser zu verstehen.
331 Siehe für eine kritische und sehr gut unterrichtete Auffassung Diana Y. Paul: Women
in Buddhism: Images of the Feminine in the Mahayana Tradition, Berkeley, CA
1988.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 381

veränderlichen und dauernden Selbst ausgestattet ist, (fast) unsichtbar ge-


macht wird. Ein Mensch besteht aus seinen oder ihren Beziehungen zum An-
deren, auch den Toten, den Noch-Nicht-Geborenen, den Nicht-Menschen.
Das Netz ist alles, der Knoten nichts, ist eine extreme, doch aussagekräftige
Formulierung. Dann wird freilich das Netz, mit dem Sangha als ein Konzen-
trationspunkt, zum starken Über-Ich, das Ich entsprechend schwach und das
Es gezähmt.
Diese Einheit des Lebens bringt offensichtlich Friedfertigkeit, ahimsii, mit
sich, und zwar sowohl gegenüber dem Selbst wie auch gegenüber anderen,
wie Familienmitgliedern, Nachbarn, Kollegen. Da Unwissenheit und heftiges
Verlangen, Gier, als die Quelle von Dukkha betrachtet werden, ist der Prozeß
hin zu Moksha geprägt durch den Kampf hiergegen und gegen die Illusion
eines dauerhaften und unveränderlichen Selbsts. Doch ist dies nicht dieselbe
Befreiung wie im Hinduismus, in dem die individuelle durch die absolute
Seele absorbiert wird, auch nicht die okzidentale Vereinigung eines Men-
schen mit dem Vater im Himmel. Die buddhistische Vereinigung kommt mit
der völligen Verwirklichung des Netzes, nicht der des Knotens als letzter
Wirklichkeit.
Die buddhische Kosmologie teilt mit Okzident 11 die Auffassung von der
Welt als aus vielen Zentren eigenen Rechts bestehend und die Sicht der gesell-
schaftlichen Zeit als flach und ereignislos - Hintergrund des Mikro-Dramas,
das sich im Falle des Buddhismus nicht nur im Individuum, sondern im Netz
abspielt, wie etwa im Sangha. So wird für den (insonderheit Mahayana-)Bud-
dhismus das Karma zu etwas mehr Kollektivem, zu unserem Karma.
All dies kann auf die buddhistische Konstruktion des Transpersonalen und
der Episteme zurückgeführt werden. Der nicht existierende Gott ist imma-
nent, und die nicht existierende Seele wird wiedergeboren; beides gute
Übungen in Widersprüchen oder Koans, Rätseln. So stirbt Gott eine Kosmo-
logie weiter östlich von Satans Grabstätte. Mit Satan stirbt das Rohmaterial
'für die Konstruktion von Feindbildern: Feinde sind Satans auserwählte Werk-
zeuge. Mit Gott stirbt sogar noch wichtigeres Material für die Konstruktion
von Freundbildern: Freunde sind von Gott erwählt. Sind Freunde und Feinde
gut definiert, dann entsteht ein Freund-Feind-Gradient, und über diesen kann
ein beliebiges Ausmaß an direkter und struktureller Gewalt fließen, kulturell
durch eben diesen Gradienten legitimiert.
Auch die buddhische Episteme ist ein Negativ von Okzident I: holistisch,
dialektisch und voller Widersprüche. Es gibt eine Einheit der Wirklichkeit,
das holon aller Dinge, obwohl die Weltauffassung biozentrisch ist. Und es
gibt eine Dynamik, die auf die Widersprüche bezogen ist, z.B. zwischen dem
menschlichen Streben nach Sukha und der Unwissenheit und Sucht, die zu
Dukkha führen. Dieser Widerspruch steckt in jedem Menschen und wird
nicht zur Widerspiegelung einer Auseinandersetzung zwischen Gott und Teu-
fel stilisiert.
382 Zivilisationstheorie

Zur Sinischen Kosmologie Weiter im Osten treffen wir auf die Verfeinerung
der san Ja, die chinesische Version einer Verbindung von Taoismus-Konfu-
zianismus-Buddhismus. Die sinische Kosmologie zeigt ihrer aller Spuren, so
daß ein hoch differenziertes Weltbild entsteht, und dies ist wahrscheinlich ein
wichtiger Grund dafür, daß China, länger noch als das oft von Invasionen
geplagte Indien, die Zeiten überdauert hat. Der Taoismus arbeitet den bud-
dhischen Schwerpunkt auf einer holistisch- dialektisch- widersprüchlichen
Episteme sogar noch weiter aus, indem er auf der alten Yin/Yang-Auffassung
der Wirklichkeit aufbaut. Der Schwerpunkt auf dem Ganzen (holon) bleibt
erhalten, doch wird er unter dem Einfluß des Taoismus noch dynamischer
gestaltet. So war z.B. Über den Widerspruch ein wichtiges, unter Mao Ze-
dongs Namen veröffentlichtes Werk, das auf der chinesischen Tradition auf-
baut, auch wenn diese nicht explizit erwähnt wird - nicht unbedingt deshalb,
weil sie vernachlässigt wird, sondern weil sie für ausgemacht gilt, als "nor-
mal und natürlich".
Der Taoismus verschmilzt mit dem pragmatischen Empirismus des Kon-
fuzianimus, der auch die Vermeidung der Extreme betont und in der Mitte
verbleibt;332 daher die häufige Verwendung von "gemischt" und "eklektisch"
zur Beschreibung der sinischen Kosmologie. Chinesen hätten vielleicht den
Begriff "ausbalanciert" vorgezogen, der hier als zu wertbeladen vermieden
wird.
Deutlich wird das zuletzt Gesagte in der Konstruktion der Natur: Men-
schen sind an der Macht, doch nicht so sehr, wie sich deutlich auf chinesi-
schen Gemälden zeigt, die die Natur als kolossal abbilden, sogar als über-
wältigend im Vergleich zu den winzigen menschlichen Gestalten. Und was
den Karnismus bzw. Vegetismus angeht: warum nicht beides? Das Fleisch
als Würze, dann viel Reis und Gemüse und Suppen.
Seine wichtigsten Spuren hinterließ der Konfuzianismus in der Konstruk-
tion von Gesellschaft und Welt. Die Gesellschaft wird in Begriffen des tat-
sächlich bestehenden chinesischen Feudalsystems konstruiert, das vier Ka-
sten mit Rechten und Pflichten für alle Gruppen umfaßt: shi'h (Intellek-
tuelleIBürokraten), nung (Bauern), kung (Handwerker) und shang (Kauf-
leute). Dies läßt die Außenseiter außen vor, die Ausländer, die Barbaren, und
auch sie werden in vier Gruppen unterteilt: die Barbaren des Nordens, des
Ostens, des Südens und des Westens, sie alle mit wenig schmeichelhaften
Merkmalen versehen, besonders die Barbaren des Nordens (zur Zeit die Rus-
sen) auf der anderen Seite der Großen Mauer.
Die Barbaren verschwinden im Nebel der Geographie, die Welt ist ohne
Grenzen. Wichtig ist nur, daß die Chinesen wissen, wo diese sind, und daß
sie Abstand halten können. An der Spitze dieser gesamten Konstruktion ste-
hen die führenden shi'h, die das Reich der Mitte beherrschen, zhong guo, in

332 Zhong Dao, der Mittelweg.


Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 383

anderen Worten, die Mandarine, welcher Dynastie auch immer, einschließ-


lich der derzeitigen Dynastie im Namen des Kommunismus. Eine ziemlich
zentrale Position, die man da in der Welt halten muß.
Die Konstruktion des Transpersonalen leitet sich von den drei Lehren ab
und nutzt diesen reichen Pluralismus für Verbindungen und Zurückweisun-
gen, so daß eine Vielzahl sehr spezieller Glaubenssysteme entsteht. Doch das
übergreifende Glaubenssystem ist dieser Eklektizismus selbst. Seine Radi-
kalität wird am besten verständlich, wenn man sich vorzustellen versucht, das
Abendland sei auf Judentum, Christentum und Islam begründet und dazu ei-
ne Einladung an jedes Individuum und jede Gemeinschaft imaginiert, sich ih-
re eigene Verbindung zu schaffen. Dies ist vielleicht der Schlüssel zum Ver-
ständnis des Unterschiedes zwischen Okzident und Orient: Der Okzident ist
das Land des entweder-oder, der Orient das Land des sowohl-als-auch.
Der Grund ist klar: Die drei untersuchten orientalischen Kosmologien be-
trachten den Menschen nicht als einem Gott verantwortlich, der in Okzident I
sehr eifersüchtig ist und unbedingte Verehrung allein Seiner Person fordert.
Ebensowenig gibt es die Bedrohung durch einen Teufel, der die verirrten
Seelen für alle Ewigkeit quält. In der buddhischen Version gibt es nicht ein-
mal eine Seele; dasjenige, was wiedergeboren wird, mag man metaphorisch
als Lebensenergie verstehen, als Quanta, die nach dem Tod möglicherweise
nicht auf eine, sondern auf mehrere Formen des Lebens übergehen. In der
si nischen Version gibt es wie in der nipp on ischen vielleicht Raum für eine
Seele, die nach dem Tode Ruhe sucht, zumindest im metaphorischen Sinne.
Doch wird das Leben nach dem Tode nicht mit dem starken Realismus einer
himmlischen Glückseligkeit und einer höllischen Qual ausgestattet.
Das si nische Selbst ist weder so herausgehoben wie im okzidentalen
Knoten, noch so unterworfen wie im buddhischen Netz; eher ist es eine Art
eklektischer Kombination. Während sich der Okzident des ersten Personal-
pronomens bedient, im Falle der Anglo-Amerikaner sogar mit einem großen
Buchstaben (,,1") und dies sehr häufig, dürfte im Chinesischen die erste Per-
son Plural häufiger sein. Es gibt kollektive Elemente, doch kaum so stark wie
in der nipponischen Kosmologie. Sowohl das Über-Ich als auch das Ich und
das Es treten als "gemischt" auf, als ein Dazwischen, in Vermeidung der Ex-
treme von Okzident I.
Die Grundstimmung ist ein milder Optimismus: Höhen und Tiefen, doch im
allgemeinen Fortschritt, in Bezug auf die persönliche wie auf die gesellschaftli-
che Zeit. Es gibt weder die dramatische okzidentale Zeit noch die flache gesell-
schaftliche Zeit von Okzident 11 oder der buddhischen Kosmologie. Zeit ist un-
begrenzt. Das Reich der Mitte steht im Zentrum und dies auf lange Sicht.

Zur Nipponischen Kosmologie Bewegen wir uns noch eine Kosmologie


weiter nach Osten, dann besteht der Hauptunterschied im Wiederauftreten ei-
ner Art von Monotheismus auf dem Gebiet des Transpersonalen, mit einem
384 Zivilisationstheorie

transzendenten Gott, der Sonnengottheit Amaterasu Omikami, die die Japaner


(oder eher den Kaiser, den Tenno) zu ihrem auserwählten Volk erkoren hat.
Der Shintoismus betont zusätzlich besonders das Lokale, mit zahllosen Dorf-
Kami, Dorfgöttern, und verschmilzt mit dem Konfuzianismus und dem Bud-
dhismus auf partikularistische und pluralistische Weise.
Der Staats-Shintoismus konstruierte nach der Meiji-Revolution (bzw. ge-
bräuchlicher, der Meiji-Restauration, was eher einen Eindruck von Kontinui-
tät vermittelt) eine Welt mit Japan in der Mitte, umgeben von japan-ähnli-
chen Ländern, worunter man insbesondere die Mahayana-buddhistischen!
konfuzianischen Länder Vietnam, China und Korea, Schlüsselländern der
dai-to-a-Konstruktion, der Greater East Asia Co-prosperity Sphere während
des Pazifik-Krieges von 1931-45, zu verstehen hat. 3l3 Und außerhalb dieser
Konstruktion gibt es etwas, was an die Barbaria der sinischen Kosmologie
erinnert: Resourcia. Doch während die Chinesen Barbaria vernachlässigen
können, es sei denn als potentielle Bedrohung, ist dieser dritte, ebenfalls un-
begrenzte Teil der Realität für die Japaner eine unermeßliche Hilfsquelle, ein
Ort, an dem man Wissen und Rohmaterial suchen und Produkte wachsender
Perfektion verkaufen kann: gaikoku, das Außen-Land.
Die Konstruktion der Gesellschaft in der nipponischen Kosmologie hat
mit der sinischen Kosmologie das feudale Vier-Kasten-System gemeinsam,
im Japanischen bekannt als shi-no-ko-sho, mit dem wichtigen Unterschied,
daß das shi, im Gegensatz zum chinesischen shi'h, auch den militärischen
Aspekt des samurai, mit dem dazu gehörigen Geist des Buschido334 , um-
faßt. 335 So steht in der nipponischen Kosmologie das Militär an der Spitze der
Gesellschaft, während es in der sinischen Kosmologie eher am Rande ange-
siedelt ist. 336
Doch der wichtigste Aspekt der nipponischen Konstruktion der Gesell-
schaft besteht in der Verbindung des Strukturalismus des buddhischen Netzes
mit dem Kollektivismus der Gruppe, der auch aus Okzident 11 bekannt ist.
Dies läßt sich dann auf die Konstruktion des Selbst beziehen, mit einem star-
ken Über-Ich und einem schwachen Ich, ähnlich wie in der buddhischen
Konstruktion, doch mit einem explosiven Es, das weniger unter buddhisti-
scher Disziplin steht. Die Konstruktion der Natur ähnelt jedoch eher der sini-
sehen Konstruktion, ist aber vielleicht weniger von der Natur überwältigt.

333 Diese Konstruktion erfuhr für eine kurze Zeit nach der japanischen Kapitulation von
1945 einen gewissen Niedergang. Involviert waren noch weitere Länder, aber nur
von geringerer Bedeutung.
334 Buschido ist ein Kodex für den Krieger oder insgesamt die samurai-Kaste oder -Klasse,
der die Furchtlosigkeit betont, den Gehorsam gegenüber der Autorität sowie Freund-
lichkeit und Tugendhaftigkeit gegenüber den niedrigeren Klassen.
335 Dies ist de facto die Japanische Lesart von shi. Chinesische Schriftzeichen haben oft
eine der chinesischen ähnliche und eine nur japanische Auslegung.
336 Andererseits gibt es auch das Element des "Ritters" in der Übersetzung von shi'h.
Sechs Kosmologien: eine impressionistische Darstellung 385

Wie in der sinischen Kosmologie gibt es Höhen und Tiefen in der Zeit,
wobei die Tiefen als ebenso normal wie die Höhen erscheinen und daher
nichts sind, um dessen willen man hysterisch werden müßte. Doch gibt es
auch einen alles umfassenden Optimismus, die Variante eines "Fortschritt-
glaubens", und zwar sowohl für die persönliche als auch für die gesellschaft-
liche Zeit.

2.3 Ein Blick aus der Vogelperspektive


Wären die sechs Zivilisationen Menschen mit einer Persönlichkeit wie die
Kosmologien, wie sympathisch wären sie uns dann, hätten wir uns einmal
mit ihnen vertraut gemacht? Da unsere eigene Persönlichkeit von den Kos-
mologien der jeweils eigenen Zivilisation geformt wird, hängt die Auskunft
auf diese Frage davon ab, wer hier seine Zu- oder Abneigung kundtut. Las-
sen Sie mich also meine eigenen Vorurteile zum Ausdruck bringen.
Erstens bin ich tief davon beeindruckt, wie unterschiedlich sie alle sind:
ein und derselbe homo sapiens und doch dieses unglaubliche· Spektrum an
Konstruktionen der Wirklichkeit, in der er lebt.
Zweitens: Wenn ich auch Okzident I energisch und innovativ finde, so
doch im Grunde anmaßend brutal; Okzident 11 ist mir zu sehr von der Welt
zurückgezogen; Indisch zu selbstgefällig, in Anbetracht seines Reichtums;
Buddhisch eher sympathisch, doch ebenfalls zurückgezogen; Sinisch etwa so
arrogant wie Okzident I, doch weniger brutal; und Nipponisch außerordent-
lich beeindruckend, doch ebenfalls arrogant und zurückgezogen. Es gibt hier
keine guten Weltbürger. Doch dies ist die Welt, in der wir leben.
3. Implikationen:
Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung

3.1 Kosmologie und die Vorstellungen von Entwicklung


und Frieden
Das Problem, das in diesem Kapitel untersucht werden soll, lautet wie folgt:
Gegeben die Postulate in Tabelle 4.3 über Tiefenkultur bzw. Kosmologie der
sechs Zivilisationen Okzident I, Okzident 11, Indisch, Buddhisch, Sinisch und
Nipponisch und, mehr ins Einzelne gehend, deren Konstruktion von Natur,
Selbst, Gesellschaft, Welt, Zeit, Transpersonalem und Episteme, was können
wir dann für die Vorstellungen, die Theorien und die Praxis von Frieden und
Entwicklung erwarten? Nicht im Sinne einer Übung in Deduktion mit wohl-
bekanntem Ergebnis, wenn wir z.B. Theorie und Praxis von Okzident I in
beiden Bereichen kennen. Es geht vielmehr darum, die Postulate im Hinblick
auf unsere Fragestellungen klarzustellen, obwohl hier vieles einer Deduktion
nahekommt.
Vom Standpunkt der Friedensforschung aus betrachtet, steht "Frieden" für
die "Reduktion direkter, struktureller und kultureller Gewalt". Doch wir kön-
nen uns auch der engeren Definition "negativen Friedens" als "Reduktion di-
rekter Gewalt" bedienen und dann die "Reduktion struktureller Gewalt" mit
"Entwicklung" identifizieren. Doch diese Definitionen sind unrealistisch,
weit entfernt von den Realitäten der Tiefenkultur. Realistischere Definitionen
könnten vielleicht folgendermaßen lauten:
Entwicklung ist die Entfaltung einer Kosmologie in der Zeit. 337
Frieden ist die Bedingung im Raum für eine Entwicklung ohne Gewalt. 338
"Realistisch" (nicht zu verwechseln mit dem "Realismus" der Theorie und
Praxis der Macht) bedeutet "in Übereinstimmung mit der These vom Primat
der Kultur", d.h. in Übereinstimmung mit dem Code. Und dies macht Ent-
wicklung zu einem grundlegenderen Begriff als Frieden. Die Funktion des
Friedens besteht darin, daß nichts im Wege stehen soll.

337 Dies ist die Definition aus These Nr. 1 im 1. Kap. von Teil III.
338 Dies kommt der dynamischeren Definition des Friedens nahe, die ich in Kap. 1.1 von
Teil I gegeben habe, wobei dort der Nachdruck auf den Konfliktaspekt gelegt wurde.
388 Zivilisationstheorie

Welche Entwicklungen (Plural!) finden wir, wenn wir von Tabelle 4.3
ausgehen?
Okzident I. Der Konstruktion der Zeit unterliegt eine Idee des Fortschritts,
sowohl auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene, die im Angesicht
einer drohenden Krise, die den Okzident I vor die Wahl "friß, oder stirb"
stellt, für starke Menschen und starke Gesellschaften sorgt. Starke, erfolgrei-
che Menschen werden zu gesellschaftlichen Eliten, und starke, erfolgreiche
Gesellschaften rücken in das Weltzentrum ein. In diesem Prozeß wird die
Natur unterworfen, auch durch eine anti-holistische und anti-dialektische
Episteme im Dienste von Entwicklung als einer technischen Formierung der
Natur, des Menschen, der Gesellschaft und der Welt. Es ist ein einziges, uni-
versell gültiges Prinzip, das die Entwicklung anleitet: in der religiösen Ver-
sion die Herrschaft Gottes, individuell und gesellschaftlich (mit dem Klerus
an der Spitze), und in der weltlichen Version die individuelle und ge-
sellschaftliche Verwirklichung der Herrschaft des Wachstums (mit Geld an
der Spitze).
Die Peripherie von Gesellschaft und Welt besteht aus den Menschen und
Gesellschaften, die das leitende Prinzip akzeptieren; andere, die das Prinzip
nicht akzeptieren, sind (das) Böse. Frieden bedeutet, sie außer Gefecht zu
setzen, sie zu eliminieren oder zu marginalisieren, so daß die Entwicklung
ungehindert durch die bösen Kräfte ihren Fortgang nehmen kann. Mit unter
Umständen katastrophalen Folgen für den/die Anderen.
Okzident Il: Es gibt Fortschritt und Krise, doch stehen sie im Dienste der
göttlichen Herrschaft und der spirituellen Entwicklung des Menschen, dienen
sie desweiteren dem Zugang zur Elite für den Klerus und allfällige Heilige.
Die Entfaltung der Person findet lokal statt und setzt keine gesellschaftliche
Veränderung voraus. Auch ist die räumliche Perspektive, die das Zentrum
definiert, begrenzt, beschränkt auf die lokale Ebene. Die hauptsächlich theo-
logische Episteme dient dieser Entwicklung; sie vernachlässigt die Natur, mit
womöglich katastrophalen Folgen für dieselbe, für die Gesellschaft und
letztlich für das Selbst: Niedergang und Fall von Okzident 11.
Indisch: In Anbetracht der Idee des Rückschritts, die den zyklischen (Kalpa-)
Theorien der Gesellschaft und der Welt anscheinend unvermeidlich inne-
wohnt, sollte der Schwerpunkt der Entwicklung auf der individuellen Ebene
liegen. Hier treten nun die vier grundlegenden, leitenden Prinzipien des Hin-
duismus als Wegweiser zur Entwicklung in Erscheinung: dharma (morali-
sche Pflicht), artha (Reichtum, Lebensunterhalt), kama (Lust) und moksha
(Befreiung). Das Leben ist in vier Phasen eingeteilt. Sobald es sich entfaltet,
wird auch moksha selbst, Befreiung als eine Seinsweise, freigesetzt. In der
ersten Phase liegt der Schwerpunkt allein auf dharma, in der zweiten wird
das Individuum ganz in diese Welt gestoßen, in der dritten liegt der Schwer-
lmplikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 389

punkt auf dem Dienst in dieser Welt und in der Schlußphase auf der Selbst-
verwirklichung. Moksha spielt während der gesamten Zeit eine Rolle, in
höchstem Maße aber während der letzten Phase. Das gesellschaftliche Leben
sollte dem entsprechen, und zwar vielleicht derart, daß diejenigen, die in der
letzten Phase stehen, ihre Weisheit an die weitergeben, die in der ersten ste-
hen, und daß arthalkama dharmalmoksha nicht behindern. Es gibt zwei Ar-
ten der Episteme, wobei die eine artha/kama dient und eher der abendländi-
schen Wissenschaft ähnelt, die andere aber dharmalmoksha. Nur das Selbst
steht moksha (und einer besseren Reinkarnation) im Wege, nicht ein böser
Anderer: Frieden hält man wesentlich mit sich selbst.
Buddhisch: Entwicklung soll dem persönlichen Wachstum im Sinne von
moksha dienen. Da sich dieses auf der lokalen Ebene abspielt, allein oder in
Gesellschaft mit anderen im sangha, bedeutet die Entfaltung der Kosmologie
keinen Wandel der Gesellschaft oder der Welt über das hinaus, was auf der
lokalen Ebene benötigt wird, um jedermanns Bedürfnissen im rechten Maße
nachzukommen. Die Episteme dient dieser Funktion und sorgt dabei für eine
solche Beziehung zur Natur, daß eine lokal begründete Befriedigung der
menschlichen Bedürfnisse und derjenigen anderer Lebensformen möglich ist.
Frieden hält man mit sich selbst und mit allen anderen Wesen.
Sinisch: Es gibt persönliche und gesellschaftliche Entwicklung, beides mit
Höhen und Tiefen. Es besteht eine alles andere überragende Aufgabe: die
Erhaltung und Stärkung des Reichs der Mitte. Entwicklung ist vor allem die
Entwicklung Chinas. Sind interne Transformationen der Gesellschaft für die-
sen Zweck nötig, dann sollen sie auch sein. Wird China ernsthaft durch Bar-
baren irgendeiner Art bedroht, dann müssen die äußersten Mittel zur Vertei-
digung Teil der gesellschaftlichen Konstruktion sein. Da das Transpersonale
nur schwach artikuliert ist, kann der Sinn persönlicher Entwicklung nicht in
der individuellen Erlösung, Reinkarnation oder Wiedergeburt bestehen. Zeit-
liche Kontinuität beruht auf dem Überleben der Großfamilie, der lokalen
Gemeinschaft und Chinas. Die Episteme soll diesem Zwecke dienen und
stellt China in den Mittelpunkt.
Nipponisch: Diese Kosmologie teilt die transzendente Erwähltheit mit dem
Okzident (I und 11) und positive, defensive Erwähltheit mit China (wie
Frankreich un peuple ilu, mais par lui-meme), die sich gegen Einmischungen
richtet, ohne jedoch überall in der Welt das Böse, wie etwa Mohammedaner,
Heiden oder Kommunisten, zu identifizieren und im Namen des Friedens zu
attackieren als etwas, das eliminiert werden muß (wie es Okzident 1 macht,
der sich selbst als christlich, zivilisiert und demokratisch betrachtet). Der
Schwerpunkt wird auf der Entwicklung Japans liegen, doch weniger als im
Falle Chinas allein im Vertrauen auf sich selbst, sondern auch auf der
Grundlage des Austauschs mit Resourcia und einer gewissen Japanisierung
390 Zivilisationstheorie

der dai-to-a-Länder. Die Entwicklung ist individuell und gesellschaftlich, mit


Höhen und Tiefen. Wieder wird die Last der Kontinuität Familie und Gesell-
schaft aufgebürdet, da Erlösung, Reinkarnation und/oder Wiedergeburt
schwach artikuliert sind. Die individuelle und gesellschaftliche Anhäufung
von Reichtum, die nötig ist, um dies zustande zu bringen, ist ein fester Be-
standteil dieses Entwicklungsbegriffs. Die Episteme hat dem zu dienen und
ist wesentlich auf Japan ausgerichtet.
Wir wollen uns nun der Natur zuwenden, der "Umwelt". Ohne Ansehen der
jeweiligen Kosmologie ist die Natur der Kontext, in dem Entwicklung als
Entfalten des inneren Codes stattfindet. Die Konstruktion der Natur in der
ersten Zeile von Tabelle 4.3 unterteilt die sechs Kosmologien in drei Grup-
pen. Die Beziehung zur Natur ist jedoch auch eine Konsequenz der Kon-
struktion der Zeit und des Raums (der Welt), und insbesondere davon ab-
hängig, ob Raum und Zeit als begrenzt oder unbegrenzt betrachtet werden. 339
So erhalten wir vier Möglichkeiten, wie in Tabelle 4.4 gezeigt wird. Wie
gewohnt, stellen Okzident I und Buddhisch die Extreme dar. Die abend-
ländischen Kosmologien konstruieren die weltliche Zeit als endlich, mit An-
fang und Ende, daher das Drama, das Zusammenschieben der Zeit, die Kri-
sen. Die Konsequenz lautet: "Wir sind ihr nicht für alle Zeiten ausgeliefert",
apres nous le deluge, am Ende steht entweder die Erlösung (eine Erste oder
Zweite Ankunft des Messias) zur Lösung der Probleme oder die Apokalypse,
die auch alles "löst".

Tabelle 4.4: Kosmologien in Begriffen der (Un-)Begrenztheit von Raum und


Zeit
Unbegrenzter Raum Begrenzter Raum
Begrenzte Zeit Okzident I Okzident 11
Unbegrenzte Zeit Sinisch Indisch
Nipponisch Buddhisch

Mit nur begrenztem Raum zu seiner Verfügung zerstörte Okzident 11 sich


selbst. Hingegen konstruiert Okzident I den Raum als unbegrenzt und zer-
stört überall das Andere - dabei bemüht, sich selbst ökologisch zu retten.
Dies steht im Gegensatz zur buddhischen (und in einem gewissen Maß auch
zur indischen) Sichtweise, vor Ort gut zu wirtschaften, da "wir für immer
hier sein werden". Sinisch und Nipponisch liegen dazwischen und können
sich entweder auf Okzident I oder auf Buddhisch zubewegen.

339 Dies wird näher untersucht bei Johan Galtung: Buddhism. A Quest for Unity and Pe-
ace, Colombo 1993, Kap. 4 über Natur.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 391

Wir wollen nun den Frieden miteinbeziehen, so wie er sich in den Kos-
mologien zeigt, und Begriffe des Friedens überall in der Welt untersuchen,340
um Hypothesen intrinsischer kosmologischer Zusammenhänge zwischen Ent-
wicklung und Frieden zu überprüfen. Wir beginnen mit Okzident I und zwar
mit dem Begriff pax des Römischen Reiches. Pax meint hier Frieden im en-
gen Sinne als absentia belli, Abwesenheit von Krieg, d.h. von organisierter
Gewalt zwischen Gruppen, die durch ihre Klasse, Rasse, Kultur (Nationalität,
einschl. Sprache, Religion und Ideologie) und territoriale Lage definiert sind.
Internationaler oder externer Frieden meint die Abwesenheit externer Kriege
zwischen Ländern, zwischen Staaten oder zwischen Nationen (im Sinne von
Kulturen). Gesellschaftlicher oder innerer Frieden ist die Abwesenheit von
inneren Kriegen, bei denen Klassen, Rassen, nationale oder territoriale Grup-
pen die zentrale Regierung oder sich untereinander herausfordern. Da die
zentrale Regierung ein Spätankömmling in der menschlichen Geschichte ist,
kamen auch Kriege zwischen und gegen Regierungen spät. Kriege können
also vermieden, Frieden kann im Prinzip errungen werden.
Das lateinische pax ist mit Pakt verwandt, wie in pacta sunt servanda,
"Verträge müssen eingehalten werden". Die implizite Theorie, daß es sich
beim Frieden um eine vertragliche, bewußte, auf gegenseitiger Vereinbarung
beruhende Beziehung handelt, ist die Quelle der westlichen Tradition inter-
nationalen Rechts. Doch das römische Erbe drückt sich auch aus im si vis
pacem, para bellum, "willst Du Frieden, dann bereite den Krieg vor" - eine
Quelle der westlichen Militärtradition und ein weiterer Strang der gängigen
abendländischen Friedenstheorie: Frieden durch die Abschreckung eines je-
den potentiellen Angreifers. Man begegnet dem Angreifer zu Hause mit de-
fensiver Abwehr und/oder außerhalb mit offensiver Verteidigung oder offe-
ner Aggression. Das gängige abendländische Denken über Frieden hat sich
während der letzten 2000 Jahre kaum verändert, sieht man ab von einigen
Elementen orientalischen Typs, die während des Mittelalters, während der
Epoche von Okzident 11 Einfluß gewannen.
Weitere Definitionen des Friedens umfassen üblicherweise den Begriff
pax, erweitern ihn jedoch, indem sie drei Fragen stellen: "Welcher Typus von
Gewalt?", "Gewalt durch wen?" und "Frieden mit wem?". Die erste Frage
führt zu einer Unterscheidung zwischen Gewalt gegen den Körper und Ge-
walt gegen Seele und Geist. Ein Beispiel für letztere stellt das Leben unter
der Bedrohung dar, in einem Krieg mit Massenvernichtungswaffen ausgerot-
tet zu werden (z.B. einem atomaren Krieg), so daß die Definition des Frie-
dens als Abwesenheit von Krieg so ausgeweitet wird, daß diese auch die

340 Man betrachte für eine detailliertere Darstellung A. C. Bouquet und K. S. Murty:
Studies in the Problems 0/ Peace, Bombay 1960, und Takeshi Ishida: "Beyond Tra-
ditional Concepts of Peace in Different Cultures", in: Journal 0/ Peace Research,
6/1969, H. 2, S. 133-145.
392 Zivilisationstheorie

Kriegsandrohung mit umfaßt. Die Folgerung lautet: Frieden mit friedlichen


Mitteln.
Die zweite Frage versucht, denjenigen Handelnden zu identifizieren, der
über die Fähigkeit verfügt, Schaden auszuüben und der dafür auch Gründe
hat; sie führt zur Unterscheidung zwischen direkter und struktureller Gewalt.
Die dritte Frage erweitert die Gesamtperspektive, indem sie den Frieden mit
nichtmenschlichen Anderen einbezieht und auch den Frieden mit sich selbst.
Bewegen wir uns von der römischen pax aus östlich, so begegnen wir zu-
erst der griechischen eirene, dem hebräischen shalom und dem arabischen
sala' am. Alle drei greifen die zweite Frage auf. Frieden wird zu "Frieden und
Gerechtigkeit", kombiniert die Absenz direkter und struktureller Gewalt. In
Frage steht hier, welchem Teil Priorität zukommt.
Die dritte Frage, "Frieden mit wem", wird noch weiter östlich aufgegrif-
fen, außerhalb des Okzidents, durch indischlbuddhisch shanti und ahimsii,
üblicherweise beide auch mit "Frieden" übersetzt. Shanti bedeutet soviel wie
"innerer Frieden", Frieden mit sich selbst, so daß kein Teil der Verbindung
von Körper-Seele-Geist anderen Teilen Gewalt antut. Shanti kann als Kom-
plement der okzidentalen Betonung des "äußeren Friedens" betrachtet wer-
den und als dessen notwendige Bedingung. Hier lautete das entsprechende
Argument, daß nur Menschen mit innerem Frieden äußeren Frieden zustande
bringen können. 341
Ahimsii bedeutet "Kein-Schaden", und das auch im Blick auf das Selbst
(innerer Frieden) und auf die Natur, so daß die ökologische Dimension mit
eingebracht wird, die im Okzident (außer etwa bei Franz von Assisi) fehlt.
Ahimsii war die Friedensvorstellung des führenden zeitgenössischen Pazifi-
sten, M.K. Gandhi, die ihm als Basis für den gewaltfreien Kampf, satyii-
graha, gegen strukturelle Gewalt wie Sexismus, Kastenherrschaft, Rassis-
mus, Industrialismus und Kolonialismus diente sowie als Alternative zu kom-
munaler, gesellschaftlicher und internationaler direkter Gewalt. Gandhi ver-
suchte auch, eine ökumenische Friedenskultur zu schaffen und dadurch die

341 In der Tat ist dies eine sehr interessante Hypothese, die empirisch überprüft werden
könnte. Eine andere Frage ist, ob denjenigen, die diese Hypothese aufstellen, an ir-
gendeiner Überprüfung derselben etwas gelegen ist. Für die Hypothese dürfte spre-
chen, daß Menschen mit innerem Frieden über weniger unverarbeitetes Konfliktma-
terial verfügen, das auf eine Konfliktformation projiziert werden und zur Konfliktde-
formation führen könnte. Gegen die Hypothese könnte sprechen, daß jemand mit un-
gelösten inneren Konflikten ein tieferes Verständnis des eigentlichen Konfliktgehal-
tes und zugleich mehr Erfahrung damit haben könnte, wie sich Konflikte ohne Ge-
waltanwendung transformieren lassen. Es gibt hier eine Parallele zur Krankheit: Ein
Mensch mit wenig oder gar keiner persönlichen Erfahrung mit Krankheit wird die
Frühwarnzeichen, die Symptome einer ernsthafteren Erkrankung nicht rechtzeitig er-
kennen.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 393

kulturelle Gewalt zu konterkarieren, die in und von vielen Religionen zum


Ausdruck gebracht wird.
Noch weiter östlich deuten das chinesische ho p'ing/p'ing ho bzw. das ja-
panische heiwalwahei auf die Harmonie im Menschen, in der Gesellschaft
und in der Welt. Sie ergänzen die Begriffe des äußeren und des inneren Frie-
dens und betrachten die Harmonie zwischen den internationalen, gesell-
schaftlichen und persönlichen Sphären als notwendige Bedingung für deren
jeweiliges Zustandekommen. Eine überaus holistische Metakonzeption indi-
vidueller und sozialer Organisation.
Haben wir einmal den ganzen Kreis durchlaufen, dann kommen wir zu
dem engen Begriff pax zurück, der im Okzident fest institutionalisiert und
internalisiert ist. Es fehlt diesem Begriff an Aufmerksamkeit gegenüber
struktureller Gewalt, innerem Frieden, Gewaltlosigkeit und Harmonie zwi-
schen den Sphären der conditio humana. Doch der Begriff des Friedens ist
offen, wie der der Freiheit oder der der Gerechtigkeit, ohne daß irgendeine
Kultur ein Monopol auf seine Definition hätte. Alle Definitionen sind Aspek-
te eines allgemeineren Friedensbegriffes, der noch nicht definiert ist. So, als
ob einst die Menschheit eine gewesen wäre, mit einem universalen Friedens-
begriff, und als ob es dann eine Spaltung entlang all der Bruchlinien gegeben
hätte, insbesondere der der Kultur (Nation, Zivilisation), und überall ein
Fragment des Friedens aufbewahrt worden wäre. Offensichtlich besteht eine
Aufgabe der Friedensforschung darin, sie wieder zusammenzufügen.

3.2 Frieden und Entwicklung im Verständnis von


Okzident I
Wir finden heute praktisch überall einen Begriffsüberzug von Okzident I, ei-
ne Art Schleier, maya. Die anderen Begriffe sind untergepflügt, kämpfen wie
Samen unter Asphalt. An der Spitze stehen Theorie und Praxis des Friedens
und der Sicherheit von Okzident I: eine Welt mit ihrem Mittelpunkt im We-
sten und einer ausgebreiteter), nicht-westlichen Peripherie, die darauf wartet,
beeinflußt, bekehrt, ja, zivilisiert zu werden. 342
Ab hier gibt es offensichtlich zwei Möglichkeiten, je nachdem, ob man
mit einer Unterteilung des Raums in zwei Teile - Zentrum und Peripherie -
oder in drei Teile - Zentrum, Peripherie, und das Böse - arbeitet. Die erste
Konzeptualisierung des Raums ist verträglich mit dem Universalismus sol-
cher Organisationen wie dem Völkerbund und den Vereinten Nationen, die
über eine Exekutive verfügen, welche die westlichen Länder begünstigt, ge-

342 Diese Auffassung wird weiterentwickelt in Johan Galtung: "Social Cosmology and
the Concept of Peace", Teil 11 von Kap. 15, der Essays in Peace Research, Bd. V,
Kopenhagen 1980, S. 415-436.
394 Zivilisations theorie

staltet nach westlicher Theorie und Praxis, Z.B. im Zusammenhang mit dem
Internationalen Recht (dem Haager System).343
Die zweite Konzeption läßt entsprechend ein System von Verträgen und
Bündnissen gegen das Böse entstehen, ausgerichtet auf das Zentrum der
westlichen Hauptmacht, Z.Zt. die Vereinigten Staaten (mit NATO, TIAP,
SEATO, CENTO, ANZUS, AMPO, usw.). Sie alle binden die Peripherie an
das Zentrum, im Bündnis gegen solche Übel wie den "Internationalen Kom-
munismus", den "Terrorismus" oder "muslimische Fanatiker". Eine Wider-
spiegelung hiervon fand sich früher in jenem System, das um die Haupt-
macht im östlichen Teil des Okzidents, die Sowjetunion und die Organisation
des Warschauer Paktes, errichtet worden war, gegen "Faschismus" und "Im-
perialismus", das Böse in ihrer Weltkonstruktion.
Das Prinzip des Bösen organisierte sich in der Sicht des Okzidents um
zwei Achsen der Geschichte, eine nationale und eine ideologische. Die Na-
tionen, die als Kandidaten für diese wichtige Position in der abendländischen
Konstruktion der Welt ausgesucht wurden, sind vor allem die "Barbaren und
Wilden", die Juden, Araber, Türken und Russen; und die entsprechenden
Ideologien sind das Heidentum, das Judentum, der Islam (im Falle der Ara-
ber und Türken), das orthodoxe Christentum und der Kommunismus, sogar
der "atheistische Kommunismus". "Westlicher Imperialismus" ergibt die öst-
liche Version. Beide fügen vielleicht noch die "Gelbe Gefahr" hinzu. Das
Böse wird auf diese Weise einmal im Nicht-Okzident angesiedelt, ein ande-
res Mal in konkurrierenden Religionen und Ideologien innerhalb des Ok-
zidents selbst.
Das Ausmaß an Gewalt, das im Namen von Frieden und Sicherheit gegen
diese "Kräfte des Bösen" in der Geschichte ausgeübt wurde, ist unglaublich:
Juden töteten Christus, Juden töteten Muslime, Muslime töteten Juden, Mus-
lime töteten Christen, Christen töteten Muslime, Christen töteten Juden in
Pogromen und im Holocaust. 344 Die Bühne war bereitet für die weltliche
Fortsetzung: Liberalismus-Kapitalismus versus Marxismus-Sozialismus, bei-
de bereit, einander umzubringen. 345 Später, ausgesöhnt, wenden sich viel-

343 Vgl. Chad Alger: The United Nations in a Historical Perspective: What We Have Le-
arned about Peace Building, Tokio (United Nations University) 1985.
344 Wie es scheint, besteht das Problem der Bedrohung des Friedens in der abrahamiti-
sehen Religion nicht im Monotheismus, sondern in der Vorstellung, im Besitz des
einzig gültigen Glaubens für das gesamte Universum zu sein, mit anderen Worten, in
der Verbindung von Singularismus und Universalismus im Falle von Christentum
und Islam, in der Verbindung von Singularismus und Partikularismus (das partiku-
läre Gelobte Land) im Falle des Judentums.
345 Man vergleiche für eine Untersuchung, wie dies Thema benutzt wird, um einen Kon-
flikt in Gang zu halten, Johan Galtung: There are Alternatives!, Nottingham 1984,
Kap. 2.1.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 395

leicht beide gegen den Islam (oder die Gelbe Gefahr?) als einem gemeinsa-
men Bösen.
Kommt man auf Zeit zu sprechen, so kann man eine okzidentale Friedens-
und Sicherheitsordnung erwarten, die sich mit der Idee des Fortschritts ver-
trägt, sowie eine Idee der Krise, die entweder zum ewigen Frieden (dt. i.
Orig.) oder zur vollständigen Zerstörung führen könnte; mit anderen Worten,
eine apokalyptische Vision. Mit beiden Vorstellungen verträgt sich das Ver-
trauen auf militärische Mittel im allgemeinen und auf offensive militärische
Mittel im besonderen, sei es für Zwecke der Abschreckung durch Vergeltung
oder einfach für aggressive Attacken, um das Übel an der Wurzel zu packen.
Einerseits erfordert es sorgfältige Arbeit, Bündnisse und ein vollkomme-
nes Gleichgewicht der Macht aufzubauen; andererseits ist dies ein Spiel mit
dem Feuer. Die Warnung, die so oft von allen möglichen Arten von Frie-
densbewegungen durch alle Zeitalter hindurch ausgesprochen wurde - daß
die Politik der Aufrüstung gefährlich sei und nicht nur zerstörerisch, sondern
auch selbstzerstörerisch -, enthält für die Mehrheit der Spezies, die hier als
homo occidentalis bezeichnet wird, nichts Neues. Ganz im Gegenteil er-
scheint eine solche Politik vielleicht gerade deshalb als akzeptabel, weil sie
gefährlich ist, und weil man Gefahr als normal und natürlich betrachtet, ver-
einbar zudem mit der allgemeinen Idee vom Fortschritt durch Krise, ja, Apo-
kalypse. Abrüstung, sollte sie denn je stattfinden, ganz zu schweigen von ei-
nem Wettabrüsten, würde dem Lauf der Natur widersprechen und vermutlich
Gegenmaßnahmen provozieren. Frieden sollte sich wie eine Bekehrung er-
eignen, eine plötzliche Transformation, hervorgebracht durch eine Krise,
vielleicht sogar durch die Gnade der Vorsehung: als Epiphanie. Und wer ist
es, der der Bekehrung bedarf? Das Böse natürlich, nicht der okzidentale Mit-
telpunkt. Also: Stark bleiben, wachsam bleiben!
Hier nun kommt die okzidentale Episteme ins Spiel: einige einfache Ge-
danken an der Spitze und eine Menge besonders anschaulicher, mehr oder
weniger logischer Satelliten ganz unten im Denksystem. Vorstellungen wie
"willst du Frieden, so rüste für den Krieg" oder "Angriff ist die beste Vertei-
digung" bekommen axiomatischen Charakter, dürfen nie falsifiziert werden,
sind nicht einmal falsifizierbar. Bricht der Krieg trotz all der Arbeit aus, die
zur Abschreckung des Bösen verrichtet wurde, dann gilt dies nur als weiterer
Beweis dafür, daß wir in einer gefährlichen Welt leben, nicht aber dafür, daß
das Böse provoziert wurde. In dieser Welt bedeutet Gleichgewicht schließ-
lich "Überlegenheit", die, wenn sie von beiden Parteien verfolgt wird, den
Zirkel von Konflikt und Wettrüsten schließt. Der Einwand, daß die Theorie
des "Friedens durch Stärke" die Dinge vereinfacht, verfehlt die Pointe: Sie
soll die Dinge ja gerade vereinfachen.
Krieg ist offensichtlich mit der biblischen Vier-Klassen-Gesellschaft ver-
einbar, mit Gott an der Spitze, dann die Menschheit, unterteilt in zwei Grup-
pen, Männer und Frauen, schließlich die Natur. Überwältigende Kraft und
396 Zivilisationstheorie

Intelligenz zu haben, ist eine Manifestation von Allgegenwart, Allmacht und


Allwissen: göttliche Eigenschaften, und dies nicht nur im Falle okzidentaler
Götter. Doch wie läßt sich Kriegführung mit Wohlwollen oder dem Guten
vereinbaren, einer vierten wichtigen Eigenschaft Gottes? Der Krieg selbst ist
in seinen Konsequenzen für jederman bösartig. Daher kann sich Wohlwollen
im Krieg nur unter der Annahme bekunden, daß der Krieg um eines höheren
Prinzips willen geführt wird, um einer Sache willen, die weit über dem un-
säglichen Leiden auf dem Schlachtfeld oder den Nachwirkungen des Krieges
steht. Und tatsächlich gibt es derartige Prinzipien: der Triumph des Herrn
wäre eine religiöse, der Kampf für Freiheit, für den Ruhm des Vaterlandes
oder der Klasse wären ideologische Versionen. Aus solchen Prinzipien ent-
stehen unschwer Theorien des gerechten Kriegs, des helium iustum, im Na-
men irgendeiner okzidentalen Religion oder Ideologie, handle es sich nun um
Judentum! Christentum!Islam oder Liberalismus/Marxismus.
Zugleich ist die militärische Organisation streng vertikal, außer in der
nicht-hierarchischen, transitorischen Form der Guerrilla, die sich normaler-
weise auflöst, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat. Sie ist in dem Sinne indivi-
dualistisch, daß gute Chancen bestehen, in diesen Hierarchien weit nach oben
zu kommen, wenn man Risiken eingeht, oder sogar ewiges Leben als ein
Denkmal im christlichen Okzident bzw. im Paradies des (schiitisch-)islami-
sehen Okzidents zu erreichen. Der Krieg lockert die strengen Klassenstruktu-
ren und eröffnet neue Möglichkeiten als Belohnung für Geduld im Frieden
und für heroische Opfer im Kriege, wenn auch zuweilen erst post mortem.
Frauen wurde diese Möglichkeit im allgemeinen nicht gewährt. Sie stehen
am Rande des Systems, dienen als Opfer, auch jener besonderen Gewalt, die
sich gegen Frauen richtet und als Vergewaltigung bekannt ist, und als kleine
Helferinnen, die nicht nur mit der Reproduktion der Spezies beschäftigt sind
(und zwar auch als Krankenschwestern, die die Männer für die Fortsetzung
des Krieges wiederherstellen), sondern auch mit der Erledigung produktiver
Aufgaben, die sie von den Männern, die in den Krieg gezogen sind, über-
nommen haben. Und hierbei handelt es sich nicht nur um Männer aus einer
Kaste von Berufskriegern, sondern im Prinzip um die gesamte männliche
Bevölkerung mit Ausnahme einiger Verweigerer. Tatsächlich bedarf es umso
mehr der Ideologie als motivierender Kraft, je umfassender die Wehrpflicht
ist. 346 Da die Wehrpflicht durch den Nationalstaat durchgesetzt wird, bedient
sich dieser Staat des Nationalismus als zum Kriege motivierender Ideologie
in einer Welt, die als ein zwischenstaatliches System aufgebaut ist. Para-
doxerweise können der Bevölkerung umso mehr Menschenpflichten, wie

346 Für eine hervorragende Untersuchung dieses Zusammenhangs vgl. J. E. C. Fuller:


The Conduct 0/ War 1789-1961, London 1972, Kap. 11: "The Rebirth of Unlimited
War".
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 397

z.B. Steuern und Militärdienst, abverlangt werden, je mehr Menschenrechte


der Nationalstaat garantiert. 347
Wir müssen zu diesem Gemälde nur das Bild vom Krieg als Verwüstung
und Vergewaltigung der Natur hinzufügen, als völligem Mangel an Rück-
sichtnahme, welcher die Überlegenheit der menschlichen Wesen über die
niedrigeren Lebensformen und die Umwelt ganz generell belegt - und die
Kosmologie ist voll artikuliert. 348
Schlußfolgerung: Jeder, der auf die eine oder andere Weise gegen das
abendländische Kriegsestablishment und die militärische Auffassung von
Frieden und Sicherheit kämpft, sollte verstehen, daß sich dieser Kampf auf
der Ebene der Tiefenideologie und Tiefenkultur abspielt, auf der Ebene der
Kosmologie. Es handelt sich hier nicht einfach um ideologische Debatten
und Auseinandersetzungen, wie zwischen der Rechten und der Linken in der
okzidentalen Innenpolitik oder zwischen Liberalismus und Marxismus.
Es steht sehr viel mehr auf dem Spiel: Der militärische Ansatz insgesamt
ist eine fast vollkommene Artikulation kosmologischer Unterstellungen und
daher im Okzidentalismus selbst tief verankert. Die Vorbereitungen auf den
Krieg wie der Krieg selbst passen nur allzu gut in den allgemeinen Code. Ein
Einstellungswechsel ist sehr unwahrscheinlich, solange diese Kosmologie
nur herausgefordert und nicht auch zu einem gewissen Teil geändert wird. In
den letzten 2.500 Jahren westlicher Geschichte hat sich dies wohl nur zwei
Mal ereignet: während der Übergänge vom Römischen Reich (im Westen)
zum Mittelalter und vom Mittelalter zur Moderne. 349
Unglücklicherweise lassen sich die okzidentale Theorie und Praxis der
Entwicklung ähnlich kommentieren. Ist für den homo occidentalis Entwick-
lung = WirtschaJtswachstum, dann handelt es sich bei dieser Formel nicht um
eine zufällige Wahl zwischen vielen möglichen Auffassungen von Entwick-
lung. Es handelt sich vielmehr einfach um Wahrheit in dem Sinne, daß die
Gleichsetzung normal und natürlich ist, vereinbar mit der abendländischen
Kosmologie und aus diesem Grunde kein Gegenstand einer wirklich ernsthaf-
ten Auseinandersetzung. Der Diskurs ist bereits durch die Kosmologie defi-
niert, für die Entwicklung weitgehend im Rahmen des Ansatzes ökonomi-

347 Hier handelt es sich sozusagen um das Kleingedruckte auf der Rückseite jeder Men-
schenrechtsdeklaration, um die Menschenpflichten denen gegenüber, die als Garan-
ten dieser Rechte betrachtet werden, den Staaten (und d.h. den Regierungen). Vgl. zu
dieser Thematik Kap. 1.2 meines Buches Menschenrechte - anders gesehen, Frank-
furtIM. 1994.
348 Hierzu A. H. Westing: Warfare in a Fragile World, London 1980, und Johan Gal-
tung: Environment, Development and Military Activity, Oslo 1982.
349 Dies ist eins der Grundthemen, die untersucht werden bei Johan Galtung, Erik Ru-
deng und Tore Heiestad: "On the Last 2.500 Years in Western History. And Some
Remarks on the Coming 500", in: Peter Burke (Hg.): New Cambridge Modern Histo-
ry, Companion Volume, Bd. XIII, Cambridge 1979.
398 Zivilisationstheorie

sehen Wachstums und für den Frieden innerhalb des Ansatzes eines Gleich-
gewichts der Macht.
Konzentrieren wir uns nun auf Zeit und Raum zugleich. "Entwicklung" ist
ein Sonderfall der allgemeinen Idee des Fortschritts, und zwar derart defi-
niert, daß der Westen sich darstellt als die "weiter entwickelten Länder"
(MDCs) und der Nicht-Westen als die "weniger entwickelten Länder" (LDCs),
wenn nicht als unterentwickelte/unentwickelte Länder. Es muß Zentrum und
Peripherie geben, beide "in der Entwicklung begriffen", da es eine universel-
le Dynamik in diesen Dingen gibt. Weiter gibt es das Versprechen auf Fort-
schritt für jeden, der die grundlegenden Bestandteile des westlichen Codes
akzeptiert.,50 Hier stoßen wir jedoch auf einen Widerspruch: Könnte der
Nicht-Westen mit dem Westen gleichziehen, dann könnten dies auch LDCs
mit MDCs und MDCs sogar mit Washington, D.C. (WDC). Eine bedenkliche
Vorstellung!
Doch genau hier kommt der andere Aspekt der abendländischen Zeitkos-
mologie ins Spiel: die Idee der Krise. Ja, vielleicht gibt es eine Krise: Die
LDCs könnten aufholen (wie China). Es ergeben sich zwei Möglichkeiten:
Entweder entwickeln die entwickelten Länder sich in dieselbe Richtung wei-
ter wie zuvor oder vielleicht in eine neue Richtung; oder aber der Nicht-
Westen übernimmt das Steuer und verdrängt den Westen aus seiner zentralen
Position. Gerade diese erschreckende Möglichkeit, in gewissem Maße auf-
grund der raschen Entwicklung Japans und benachbarter Länder bereits
Wirklichkeit, bestätigt die okzidentale Theorie der Entwicklung, wegen der
starken Identifikation des Okzidents mit der Krise, als die normale und natür-
liche. Ein nicht-westliches Zentrum, definiert durch Entwicklung, ist anti-
kosmologisch, ist ein Verbrechen wider die Natur. Der Westen muß als Mo-
dell dienen, nicht der Nicht-Westen.
Was die dazugehörige Episteme angeht, so sind wir in einer Situation
ähnlich derjenigen, die mit Frieden und Sicherheit verbunden ist. Einfache
Vorstellungen, wie die des "ökonomischen Wachstums" und der "Arbeits-
produktivität", stehen an der Spitze eines Denkgebäudes, das Entwicklung
für alle im Rahmen einer mathematisierten Wirtschaftstheorie garantiert. Die
unterste Zeile ist vielversprechend: Fortschritt. Es gibt Varianten dieses
Themas, verschiedene Denkschulen, was den Aufbau der Theorie betrifft,
mit verschiedenen Annahmen; doch die Grundidee bleibt dieselbe. Der Wirt-
schaftsprozeß verwüstet die Natur, doch die Degradierung der Umwelt ist ein
bereits vertrauter Teil der zeitgenössischen Wirklichkeit. Er ist vereinbar mit
Vertikalität und Individualismus, auch damit, daß Frauen niedrigere Positio-
nen zugewiesen bekommen (eher Reproduktion als Produktion), sowie mit

350 Natürlich gibt es mehr als einen westlichen Code, und was hier herausgehoben wur-
de, gilt sowohl für den Marxismus/Sozialismus als auch für den Liberalismus/Kon-
servatismus/Kapitalismus.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 399

umfassenden Möglichkeiten für raschen persönlichen Aufstieg durch die


Übernahme von Risiken, auch von Opfern, wie etwa beim Militär. Unter-
nehmer und andere Spieler auf dem "Markt" sind für diesen Typus der Ent-
wicklung wesentlich, und für gewöhnlich handelt es sich um Männer.
Es gibt auch ein gottgleiches Prinzip, einen weltlichen Nachfolger für das
Streben nach der höheren Ehre Gottes in der alltäglichen Arbeit: individuel-
les Wohlbefinden, im Sinnes eines hohen individuellen Lebensstandards, von
Komfort; und wenn es nicht mehr um ein Leben nach dem Tode geht, dann
doch zumindest um ein langes Leben hier und gute Gesundheit. Die Stan-
dards der materiellen Lebensführung spielen eine ganz ähnliche Rolle wie
Freiheit in Verbindung mit dem Streben nach Frieden: Sie sind das über-
geordnete Ziel, das negative Nebeneffekte wie Ökokrise, menschliches
Elend, Unterdrückung und Krieg rechtfertigt.
Man könnte argumentieren, Freiheie s1 und Komfort bzw. Gesundheit seien
ganz spezifische, von den Menschen erstrebte Dinge, nicht etwas so Abstraktes
wie Frieden und Entwicklung. Doch gilt dies nur auf individueller Ebene. Auf
nationaler Ebene werden Wachstum und Produktivität Ziele eigenen Rechts, als
kollektive Bedingungen der Befriedigung individueller Bedürfnisse nach Frei-
heit und Wohlbefinden, so wie diese im Okzident verstanden werden. 152 Frie-
den und Entwicklung sind Systemeigenschaften und nicht allein abhängig von
Individuen und Nationen. Doch für den Okzident ist der epistemologische
Atomismus zentral, der sich auf Individuen, nicht auf Systeme konzentriert.
Es gibt Erfolgsfälle. Militärische Überlegenheit hat einen Raum geschaf-
fen, in dem das Zentrum eine bestimmte Art von Frieden und Freiheit ausar-
beiten kann, wiewohl auf Kosten der Peripherie, von den Kräften des Bösen
ganz zu schweigen. Und Ähnliches gilt für den materiellen Lebensstandard.
Die Welt der Gegenwart zeigt im Zentrum ein beträchtliches Ausmaß an
W ohlbefinden. Weniger gibt es davon an der Peripherie, da die gesamte
Übung an Muster des Kolonialismus und der Ausbeutung geknüpft ist, insbe-
sondere durch ungleiche Austauschbeziehungen zwischen Zentrum und Peri-
pherie, die man als förderlich für Entwicklung betrachtet.
In der Praxis landen wir bei jenen vier Welten, die für das Verständnis von
Frieden und Entwicklung auf der ganzen Welt so nützlich sind. 353 Die Erste

351 Natürlich kann "Freiheit" Gegenstand hochabstrakter philosophischer Analysen sein.


Aber es gibt auch eine sehr konkrete und zumal für die USA wichtige Interpretation:
Freiheit als die Freiheit, Eigentum zu haben und dieses Eigentum zu nutzen, noch
mehr Eigentum zu schaffen.
352 S. Johan Galtung: "The Basic Needs Approachs", in: Katrin Lederer, David Antal,
Johan Galtung (Hgg.): Human Needs, Königstein 1980, S. 55-125.
353 Es sind dies: der Nordwesten der Welt (kapitalistisch), der Nordosten der Welt
(ehemals sozialistisch), der Südwesten der Welt (die Dritte Welt) und der Südosten
der Welt (Japan, China und andere Länder in Ost- und Südostasien). Auch ich finde
es nützlich, mich auf sie als Erste, Zweite, Dritte und Vierte Welt zu beziehen.
400 Zivilisationstheorie

Welt, das Zentrum, der Nordwesten der Welt definiert Entwicklung und be-
trachtet sich selbst als Modell; die Zweite Welt, die ehemals sozialistische
Welt, der Nordosten war böse, weil sie behauptete, über einen alternativen
Ansatz zu verfügen und ist jetzt eine neue Peripherie; die Dritte Welt, der
Südwesten ist die alte Peripherie und bleibt weiterhin die Peripherie; und die
Vierte Welt, der Südosten der Welt in Ost- und Südostasien glich einst der
Dritten Welt, droht jetzt jedoch, die Erste Welt zu überholen. Es gibt also
Probleme, gerade so wie im Falle des Strebens nach Frieden. All diese Pro-
bleme wohnen schon der okzidentalen Kosmologie inne und sind nicht not-
wendigerweise unwillkommen, denn sie alle bedeuten: Krise.
Schlußfolgerung: Wir haben gerade die Theorie und Praxis in Sachen
Frieden und Entwicklung, die wir verdienen. Jeder, der hier nicht mitmacht,
muß verstehen, daß der Kampf für "einen anderen Frieden" oder "eine ande-
re Entwicklung" nicht einfach der Kampf um eine andere Ideologie oder ein
Kampf zwischen Rechts und Links ist. Denn wenn die Linke einen neuen
Friedens- oder Entwicklungsvorschlag unterbreitet, etwa im Kontext eines
marxistischen Bezugsrahmens, dann neigt dieser in der Praxis sehr oft dazu,
gerade dem zu entsprechen, was oben skizziert wurde. 354 Warum? Gerade
deshalb, weil der kosmologische Aspekt des Problems nicht hinreichend be-
achtet wurde. Der Kampf für eine andere Entwicklung muß wie der Kampf
um einen anderen Frieden auch als Herausforderung, ja als Transformation
der abendländischen Kosmologie geführt werden - als Transformation all je-
ner tiefsitzenden Überzeugungen also, die die dazu dienen, Frieden über
Waffen und Entwicklung über Geld zu definieren. 355

3.3 Frieden und die Welt als Interaktion zwischen


Zivilisationen
Bis hierher wurden die Implikationen der Codes oder Kosmologien der Zivi-
lisationen für Frieden und Krieg, Konflikt und Entwicklung in Theorie und
Praxis untersucht. Doch wurden sie jede einzeln untersucht, nicht in Interak-
tion miteinander. Und bei Frieden, Krieg und Konflikt geht es gewiß um In-
teraktion, wobei alle sieben Aspekte der Codes, Natur, Selbst, usw. mitspie-
len. Doch liegt diese Übung, so wichtig sie auch sein mag, außerhalb der

354 S. für eine höchst interessante Untersuchung des Themas R. N. Batra: The Downfall
ofCapitalism and Communism, London 1972, insbes. Kap. 8 und 9.
355 Dies ist in der Tat ein typisches Beispiel für den Ökonomismus, der sich mit so wich-
tigen und komplexen Externalitäten wie Frieden und Entwicklung auseinanderzuset-
zen versucht, indem er sie erfaßt in Begriffen abnehmender Waffen- und steigender
Entwicklungshilfebudgets. Vgl. hierzu Kap. 3 des dritten Teils über Externalitäten
ganz allgemein.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 401

Aufgabenstellung dieses Abschnitts - der Leser wird auf die anderen Kapitel
verwiesen.
Wir werden uns stattdessen einer begrenzteren Aufgabe unterziehen, in-
dem wir nur von einem Aspekt der zivilisatorischen Codes Gebrauch ma-
chen, der Konstruktion des Raums Welt. Es ist schließlich der Raum Welt, in
dem sich Frieden und Krieg abspielen, so daß die Konstruktion des Raums
Welt einen wichtigen Aspekt darstellen muß, obwohl auch die anderen sechs
eine bedeutende Rolle spielen und mehr oder weniger systematisch Erwäh-
nung finden sollen.
Die zu betrachtenden Zivilisationen sind wie üblich die okzidentale Zivili-
sation im Modus der Expansion, Okzident I; die okzidentale Zivilisation im
Modus der Kontraktion, Okzident 11; die indische Zivilisation, die bud-
dhische, die sinische und die nipponische Zivilisation. Diesen sechs habe ich
hier die "Indigene Zivilisation" hinzugefügt. Es ist überflüssig zu bemerken,
daß die letztere keine kulturelle Einheit hat, außer in einer entscheidenden
Hinsicht, die hier als einzige bedacht wird: Sie existiert in relativ kleinem
Maßstab und ist Bestandteil eines Netzwerks mit vielen Zentren.
Zur besseren Erinnerung wiederhole ich noch einmal die jeweils spezifi-
sche Konstruktion des Raumes in den sechs Kosmologien, wobei ich die der
"indigenen" Kosmologie für diesen Versuch zu begreifen, in welchem Maße
Frieden und Krieg verstanden werden können als Umsetzung kosmologischer
Raum Welt-Aspekte, noch hinzufüge:
Okzident I: Die Welt ist dreifach unterteilt: ein okzidentales Zentrum, eine
Peripherie, die darauf wartet, okzidentalisiert zu werden, und eine wider-
spenstige, randständige, äußere Peripherie des Bösen;
Okzident II: Die Welt ist in viele Teile unterteilt, von denen jede ein Zentrum
eigenen Rechts ist; mit anderen Worten: eine Welt mit vielen Zentren;
indische Zivilisation: Unter dem Einfluß der grundlegenden Doktrin von der
Einheit aller Menschen wird die Welt als eine große Einheit betrachtet - eine
Doktrin, die in Indien jedoch besser verstanden wurde als irgendwo sonst;
buddhische Zivilisation: Es gibt eine grundlegende Unterstellung der Einheit
aller Menschen, doch auch eine Konstruktion des Raums mit vielen Zentren,
wobei jedes Zentrum wesentlich mit sich selbst und weniger mit der Kontrol-
le durch andere oder von anderen befaßt ist;
sinische Zivilisation: Die Welt ist zunächst in zwei Teile unterteilt, China als
Zentrum und Nicht-China oder Barbaria, welche sodann nochmals vierfach
unterteilt ist, in die nördlichen Barbaren (die schlimmsten), die östlichen
Barbaren, die südlichen Barbaren (wahrscheinlich die besten) und die westli-
chen Barbaren;
402 Zivilisationstheorie

nipponische Zivilisation: Sie teilt die Welt in drei Teile: ein Zentrum, näm-
lich Japan, eine innere Peripherie, die aus einigen Ländern des Südostens der
Welt besteht, grob gesprochen aus der Greater East Asia Co-prosperity Sphe-
re (dai-to-a kyoeiken), und eine äußere Peripherie, der Rest der Welt, der als
ein weites Resourcia für Rohmaterialien und andere Produktionsfaktoren und
als ein großer Markt betrachtet wird;
indigene Zivilisation: Wieder wird die Welt als eine mit vielen Zentren be-
trachtet, bei mehr oder weniger explizitem Wissen über diese anderen Zen-
tren. In dieser multizentrischen Konstruktion kann es auch Elemente der an-
deren, bereits erwähnten Kosmologien geben.
Bevor wir weitergehen, wollen wir die Darstellung vereinfachen, indem wir
Okzident 11, die buddhische und die indigene Zivilisation zusammenbringen,
da sie alle mit derselben Konfiguration eines Raumes mit vielen Zentren re-
lativ kleiner Gesellschaften operieren. Im Vergleich zu den anderen vier Zi-
viIisationen, die der Welt als ganzer irgendeine Struktur unterstellen, sind sie
nicht wirklich weltumgreifend. Sie betrachten die Welt eher als in viele, fun-
damental auf sich selbst bezogene Teile aufgesplittet und andere Teile nicht
als peripheren Teil ihrer selbst oder als notwendigen Gegner oder als etwas,
wovon sie sich Nutzen verschaffen sollten. Vielleicht gibt es auch bei ihnen
Elemente solcher Vorstellungen, doch nicht als grundlegende und überdau-
ernde Konzeptualisierungen. Wir werden daher diese drei kombinieren als
Zivilisationen, die den Raum Welt mit vielen Mittelpunkten konstruieren.
(Sicherlich wird hier einer Vielfalt Gewalt angetan, die zu reich ist, sie in das
vorliegende Schema zu pressen, doch sehe ich im gegenwärtigen Kontext
keine andere Möglichkeit.)
Die zu untersuchende Matrix liefert Tabelle 4.5 (die Ausrufungszeichen
signalisieren Gefahr).
In der Tabelle ist die Hauptdiagonale klar erkennbar: die intri\zivilisatori-
schen Begegnungen. Die Kombinationen sind in der Reihenfolge numeriert,
in der sie untersucht werden, insgesamt fünfzehn bilaterale Beziehungen.
Man könnte einwenden, die Matrix sei nicht symmetrisch, eine bilaterale
Beziehung könne immer von zwei Seiten betrachtet werden, und das ist na-
türlich richtig. Die Nuancen aber, die solchen Betrachtungen abgewonnen
werden können, sind im vorliegenden Kontext von minderer Bedeutung. Es
bleiben also fünfzehn Aufgaben zu erledigen, fünfzehn Beziehungen, die
untersucht werden müssen.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 403

Tabelle 4.5: Die Welt als Interaktion zwischen Zivilisationen


Okzi- Multizentrisch Indisch Sinisch Nipponisch
dentI
Okzident I (l) ! (6) ! (7) ! (8) ! (9) !
Krieg Absorption; Penetration Penetration; Krieg
Vernichtung Krieg,
Verteidigung
Multizentrisch (2) (10) (11) (12) !
leben und Toleranz; Toleranz; Absorption
leben lassen Vertreibung Vertreibung
Indisch (3) (13) (14) !
horizontal Vakuum Distanz,
Toleranz, aber Krieg
vertikal Gewalt
Sinisch (4) (15) !
nur eine Krieg,
Verteidigung
Nipponisch (5) (!)
nur eine

(1) Okzident I - Okzident I: Hierbei handelt es sich um das, was im Westen


unter normalen internationalen Beziehungen verstanden wird, zugleich die
allererste Grundlage für eine Theorie "Internationaler Beziehungen" (IB).356
Man betrachte das abendländische "Pentagon" USA-UK-Deutschland-Frank-
reich-Rußland: Hier gab es bellum omnium contra omnes. Der auf alle ande-
ren projizierten Logik von Okzident I gilt Expansionismus bei allen Staaten
als natürlich und normal. Leerer Raum wird ausgefüllt und nicht-leerer Raum
wird erobert, bis die Kosten die Gewinne übersteigen. Dies ist der Zeitpunkt,
zu dem eine mehr oder weniger stabile Grenze gezogen wird, wenn diese in
angemessener Weise durch Mechanismen des Machtgleichgewichts ge-
schützt werden kann. Natürlich: Dieses System neigt nicht zur Stabilität, die
Angriffswaffen, die durch die Drohung mit Vergeltung auch zur Abschrek-
kung benutzt werden, setzen ein Wettrüsten in Gang, und Wettrüsten führt
früher oder später zu Kriegen. 357 Da jedoch Krisen auch ein Ausdruck der
Kosmologie sind, werden auch Kriege als normal und natürlich betrachtet,
als etwas "in der menschlichen Natur" Begründetes. So kann die Kosmologie

356 Und daraus folgt, daß alle anderen Länder Abweichungen von den Vereinigten Staa-
ten als Norm darstellen. S. für einige vorläufige Untersuchungen dieses Themas Jo-
han Galtung: "The United States in Indochina: The Paradigm for a Generation", in:
Essays in Peace Research, Bd. V, Kopenhagen 1980, Kap. 8, S. 219-228. Und für
den Einfluß der Kosmologie auf die Vereinigten Staaten s. ders.: The United States
Foreign Policy As Manifest Theology, San Diego, CA 1987.
357 Dies ist ein Grundthema in Johan Galtung: There Are Alternatives!, Nottingham
1984, Kap. 3.2.
404 Zivilisationstheorie

zur sich selbst erfüllenden Prophezeihung werden, die genau die Umstände
hervorbringt, die sie selbst vorhergesagt hat (z.B. "die Welt ist ein gefährli-
cher Ort").
Es ist schwer zu berechnen, wie hoch der Protenzsatz kriegerischer Aktivi-
tät der Menschheit in dieser ersten Kombination ist, doch muß er beträchtlich
sein. Die Alternative liegt auf der Hand: eine Politik des Friedens durch As-
soziation, wie in der Europäischen Union, bis hin zu Föderationen und Ein-
heitsstaaten, die sich dem Problem öffnet, in welchen Beziehungen Okzident
I zum Rest der Welt steht (Nummer (6), (7), (8) und (9) in Tabelle 4.5). Kann
Okzident I sich egalitäre Beziehungen mit anderen überhaupt vorstellen?
(2) Multizentrisch - Multizentrisch: Wir haben es hier mit einer ganz anderen
geopolitischen Logik zu tun. Idealerweise kann jedes Zentrum alle anderen
als Teile einer multizentrischen Welt betrachten und es dabei bewenden las-
sen, inspiriert durch eine Doktrin des "leben und leben lassen". In der Praxis
gab es jedoch Krieg in der Epoche des Mittelalters, obwohl hier viel rein ri-
tueller Natur war. Gegen Ende dieser Epoche setzte der Expansionismus ein,
doch könnte man sagen, daß die betroffenen Länder zu diesem Zeitpunkt be-
reits in die Zivilisation von Okzident I eintraten. Auch gab es buddhistische
Königreiche mit beträchtlicher kriegerischer Aktivität (Burma, Thailand).358
Doch ebenso könnte man argumentieren, daß es sich hierbei nur um Verir-
rungen handelt, jedenfalls um Lappalien im Vergleich zur Konstellation Ok-
zident I - Okzident I.
Über eine friedliche Welt läßt sich vermutlich sehr viel mehr aus dem ler-
nen, was (2) verspricht, als aus dem einigermaßen gründlich bewiesenen
Scheitern von (1): allein zwei Weltkriege in der ersten Hälfte dieses Jahrhun-
derts. Doch eine der Prärogativen der okzidentalen Zivilisation in Expansion
besteht darin, der eigenen kriegerischen Vergangenheit gleichgültig gegen-
über zu stehen und trotz allem zu glauben, das Zentrum jeder friedlichen
Konstruktion zu sein, die für die Welt möglich ist. Die Logik ist einfach: nur
das Gute (Okzident I) kann die Ursache einer guten Wirkung sein (Frieden).
(3) Indisch - Indisch: Man muß unterscheiden: "Indisch", wie es hier ge-
braucht wird, bezieht sich auf die Hindu-Zivilisation, nicht aber auf Indien in
seinen gegenwärtigen oder seinen früheren britischen raj-Grenzen, vor der
Teilung. Innerhalb dieser Gebiete gab und gibt es zwischen den Nationen
massenweise Kriege und Kriegsdrohungen. Aber wir konzentrieren uns ja
hier auf den hinduistischen Teil, und da ist festzuhalten, daß nur ein einziges,
relativ fest zusammenhaltendes Hindu-Land, in Indien nämlich, und nur eine

358 Den Imperialismus etwa des Inka- und des Aztekenreiches in Südamerika ebenso
wie den des Zulureiches in Afrika muß ich hier nicht erwähnen: "Indigen" waren
diese Völker einzig in der Hinsicht, daß sie kein Bestandteil des Okzidents waren,
aber wahrscheinlich teilten sie viele Aspekte der Kosmologie von Okzident I.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 405

Hindu-Welt existiert. Nun kann nicht behauptet werden, daß die Teile der
hinduistischen Welt in der Moderne innerhalb und außerhalb Indiens sich in
konsequenter Weise in Kriege gegeneinander eingelassen hätten. Es gibt hier
weder etwas, das an den Ersten und Zweiten Weltkrieg im Okzident erinnern
würde noch an die Vorbereitung auf einen möglichen Weltkrieg zwischen
den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion samt ihren jeweiligen Alliier-
ten zwischen 1949 und 1989. Hier mag man einwenden, dies verhalte sich
deshalb so, weil der größte Teil der hinduistischen Länder bis vor kurzem
fremder Herrschaft unterstanden habe (britische Herrschaft und davor die
Herrschaft des Mogul), was friedliche Wirkungen gezeitigt habe. Doch die-
ses Argument ist nicht sehr überzeugend.
Die Dinge stellen sich vielmehr eher so dar, daß das hinduistische Indien
als ein zwischenstaatliches System, als Zusammenhang einer Anzahl hin-
duistischer Nationen, die ebenso verschiedene Sprachen sprechen wie die,
die man in Europa findet, und insgesamt in etwa derselben Anzahl, sehr viel
größere Erfolge als das christliche Europa darin verzeichnen konnte, Frieden
zu stiften. Natürlich gibt es Konflikte, doch nichts von der Art einer Aufspal-
tung der Indischen Union in zwei Bündnisse mit einer Handvoll neutraler,
bündnisfreier Staaten dazwischen. Das soll nicht heißen, daß es in Indien
keine Gewalt gäbe, sondern nur, daß diese die Form einer sporadisch ausbre-
chenden direkten Gewalt annimmt, die sich mit dem interkommunalen Sy-
stem verbindet, oder die einer institutionalisierten strukturellen Gewalt, die
verbunden ist mit dem Kastensystem. 3S9 Die bemerkenswerte Tatsache jedoch
ist die Stabilität des Systems insgesamt.
(4) Sinisch - Sinisch: Es gibt zwar nur ein China, aber dieses hat eine lange,
von ,warlordism' und internen Teilungen gekennzeichnete Geschichte hinter
sich. Die Brutalität des Bürgerkrieges zwischen Nationalisten und Maoisten
ist ebenso notorisch wie die der Kulturrevolution und des Massakers auf dem
Platz des Himmlischen Friedens am 3.14. Juni 1989. An der Bereitschaft der
Chinesen, Gewalt anzuwenden, besteht kein Zweifel, aber dies doch viel
häufiger gegen sich selbst und ihre engen Nachbarn (Tibet, Vietnam, Korea)

359 Ein unvollendetes Forschungsprojekt, das jemand aufgreifen sollte: Indien als ein
internationales System, mit einem systematischen Vergleich Indiens und Europas.
Etwa der gleiche Umfang an Bevölkerung und Territorium (oder doch nicht sehr
voneinander unterschieden), und doch geht Indien so viel erfolgreicher mit der glei-
chen Größenordnung von Nationen um, international gesehen; doch so viel schlech-
ter intranational. Beide haben eine universelle Religion, und so ist es sehr ver-
führerisch, einige dieser Unterschiede zu beziehen auf die Toleranz des Hinduismus
im Gegensatz zum Christentum, wenn es um andere Lehren geht, bei gleichzeitiger
Intoleranz innerhalb des Systems, bis hin zu massiver struktureller Gewalt. Ich bin
K.P. Misra zu Dank verpflichtet, der mir 1971 einige diesbezügliche vorläufige Ar-
beiten während meines Aufenthalts als Visiting Professor an der School of Interna-
tional Studies der lawaharlal-Nehru-Universität ermöglicht hat.
406 Zivilisationstheorie

als gegen andere. Ist dies vielleicht eine Konsequenz der Trennung von Han-
Chinesen und Barbaren, die letztere nicht einmal als Objekte der Gewaltan-
wendung ernstnimmt?360
(5) Nipponisch - Nipponisch: Es gibt nur ein Japan, welches sich heute als
bemerkenswert kohäsiv erweist, obwohl dieser Zusammenhalt kaum älter als
ein Jahrhundert ist. Einige der Beziehungen vor diesem Zeitpunkt könnten
vielleicht andeuten, was geschehen würde, wenn es im Weltsystem mehr als
nur ein Japan gäbe. Zwei Japans, jedes von ihnen in ökonomischer und mög-
licherweise auch in militärischer und politischer Hinsicht expansionistisch,
darum bemüht, das andere als Ressource oder zumindest als Peripherie ein-
zufangen, könnten einander eine ziemlich unerträgliche Situation bereiten,
ähnlich vielleicht der Verbindung (1) okzidentaler, expansionistischer Län-
der, die versuchen, aus konkurrierenden Zentren, die sie als böse zu betrach-
ten belieben, Peripherien zu machen. Doch alle prä-meiji-japanische han
(Clans) wurden im heutigen Japan auf der höchsten Ebene der Assoziation,
dem Einheitsstaat, mit eingeschlossen. Es bleibt das Problem, in welches
Verhältnis sich das Nipponische zur übrigen Welt setzt (vgl. Nr. (9), (12),
(14) und (15) der Tabelle. Und damit schließt diese Übung in intrazivilisato-
rischen Beziehungen.
Schlußfolgerung: Die Hauptgefahrenzone ist die okzidentale Zivilisation im
Modus der Expansion. Ein besonderer Grund hierfür besteht darin, daß der
Nationalstaat, selbst eine Konstruktion, die dieser Zivilisation entstammt, ein
höchst taugliches Instrument für jene Beziehungen darstellt, die bereits in
diesen zivilisatorischen Code eingebettet sind. Der Nationalstaat konstituiert
gereinigte Okzident I-Akteure auf Weltebene: der Neigung nach expansio-
nistisch, Fortschritt mit Expansion identifizierend, Krisen eigener Machart
ansteuernd und diese als normal betrachtend, inspiriert durch übereinfache
Theorien von Expansion, rücksichtslos gegenüber der Natur, begierig darauf,
die eigene Peripherie durch die Eroberung anderer Völker zu erweitern, poli-
tisch, militärisch, wirtschaftlich und/oder kulturell getrieben entweder durch
abendländische Götter (Jahwe, Gottvater, Allah), deren erwählte Völker sie
sind (Juden, Deutsche, Engländer, Buren, Amerikaner, Sowjets, Muslime),
oder durch solch weltliche Versionen wie den Nationalismus. Heute fügt sich
dies alles zusammen zu einem dreigeteilten Europa als einer Umsetzung ok-
zidentaler Kosmologie und zwar in Form einer (katholisch-protestantischen)
Europäischen Union, die einer (slawisch-orthodoxen) Russischen Union ge-
genübersteht, und die beide einer (muslimischen) Türkischen Union gegen-
überstehen.

360 Für eine hervorragende Einführung in die chinesische Geschichte auch unter diesem
Blickwinkel s. A. Cotterell und D. Morgan: China, an lntegrated Study, London
1975.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 407

Da sich Okzident I als relativ erfolgreich darin erwiesen hat, diese Kon-
struktion durch Kolonialisierung und tiefe Neokolonialisierung auf die Peri-
pherie zu übertragen, besteht wenig Zweifel daran, daß vieles hiervon heute
die Welt im allgemeinen kennzeichnet. Der Okzident hat seine selbstzerstö-
rerische Neigung immer exportiert.
Am anderen Ende des Spektrums erkennen wir eine weitere Gefahrenzo-
ne: Japan. Die Gefahr entstammt denselben grundlegenden zivilisatorischen
Merkmalen. Die Japaner betrachten sich als ein auserwähltes Volk. Zudem
neigen sie dazu, andere Teile der Welt als Peripherie oder Ressource zu ver-
stehen. Daß es sich bei einem der größeren Kriege dieses Jahrhunderts, dem
Pazifischen Krieg, um eine Auseinandersetzung zwischen Japan und den
Vereinigten Staaten handelt, ist alles andere als erstaunlich, ging es doch um
einen Kampf im Auftrage Gottes einerseits, der Sonnengöttin Amaterasu-
Omikami andererseits, um die Kontrolle über die Peripherien, wobei jeder
den anderen als das Böse betrachtete. Gott gewann diesen Kampf.
Dazwischen liegen die anderen drei Kosmologien, beträchtlich weniger
gefährlich, außer vielleicht für sich selbst. Doch sind sie ungefährlich aus
drei sehr verschiedenen Gründen. Im sinischen und im indischen Fall gibt es
jeweils nur ein Exemplar; sie haben bereits den Status eines Superstaates er-
reicht. Doch das ist nicht alles: Im sinischen Fall sind die Barbaren wegen ih-
rer Minderwertigkeit vielleicht nicht einmal einen Feldzug wert. Es ist nur
nötig, durch in hohem Maße defensive Verteidigungsmittel eine glaubhafte
Abschreckung aufrecht zu erhalten. Im indischen Falle lohnt es sich viel-
leicht deshalb nicht, Krieg zu führen, weil sich der Hinduismus bereits im
Mittelpunkt des religiösen Universums befindet, als reichste aller in der
menschlichen Gesellschaft anzutreffenden Religionen. Und die übrigen aner-
kennen vielleicht, wie erwähnt, bei allen bestehenden Unterschieden das
"leben und leben lassen" als ihre grundlegende Doktrin.
Wir wollen diese Ideen weiterverfolgen, indem wir nun die Beziehungen
zwischen den Zivilisationen betrachten.
(6) Okzident 1- Multizentrisch: Es handelt sich hierbei natürlich um die lan-
ge Geschichte der Penetration von Okzident I in das, was er als seine recht-
mäßige Peripherie betrachtete, sowohl in der griechisch-römischen Periode
als auch in der Moderne, dem Zeitalter des westlichen Imperialismus. Ein
Teil dieser Aktivität kann als Beweis dafür herangezogen werden, daß die
Theorie vom Gleichgewicht der Macht so falsch nicht sein kann: Die meisten
eingeborenen Völker waren und sind einfach zu schwach, um dem Angriff
von Okzident I Widerstand zu leisten und enden demzufolge, indem sie an
die Peripherie gedrängt und/oder vernichtet werden, so wie dies in weiten
Teilen der beiden Amerikas geschah. Doch einfache Logik belehrt uns dar-
über, daß aus der möglichen Gültigkeit der Feststellung: "Die Abwesenheit
eines Gleichgewichts der Macht stiftet Unfrieden" (in irgendeiner möglichen
408 Zivilisations theorie

Interpretation dieses Wortes), nicht folgt: "Das Gleichgewicht der Macht stif-
tet Frieden".
Man sollte nicht übersehen, daß die beiden anderen Kategorien, Okzident
11 und die buddhische Zivilisation, Alternativen für uns bereithalten. Die
grundherrlichen und feudalen Konstruktionen, die für die Zeit des Mittelal-
ters typisch sind, wurden absorbiert von der gleichermaßen typischen Kon-
struktion von Okzident I im Modus der Expansion im "modernen Zeitalter"
des Nationalstaates. Der Euphemismus für diesen Prozeß lautet "Nationbil-
dung". Dieser Prozeß hat bemerkenswert lange gedauert und ist sicherlich
noch nicht zum Abschluß gekommen. Vielleicht hat es nicht viel militäri-
schen, mit Sicherheit jedoch beträchtlichen kulturellen, ökonomischen und
politischen Widerstand gegeben. 361 Und das gleiche gilt für die buddhische
Zivilisation: Vielleicht blieb sie gerade wegen ihrer Gewaltlosigkeit unbe-
siegt; jedenfalls hat sich der Buddhismus gerade wegen seiner Fähigkeit zum
Rückzug in das sangha als so bemerkenswert widerstandsfähig gegenüber
kultureller, wirtschaftlicher und politischer Einverleibung erwiesen. Wir ha-
ben es hier also mit raffinierteren Beziehungen zwischen Zivilisationen zu
tun. Diese haben sich jedoch auch insofern als hilfreich erwiesen, als für
Okzident I weder Okzident 11 noch der Buddhismus als böse "Wilde" galten.
Die indigenen Völker dagegen wurden als böse betrachtet oder zumindest als
Angehörige einer dem Bösen benachbarten Kategorie, dem "Primitiven".
(7) Okzident I-Indisch: Eines der "auserwählten Völker" des Okzidents, die
Briten, eroberten Indien und hinterließen unauslöschliche Spuren, bis sie
schließlich, weitgehend durch Gandhische Gewaltlosigkeit, 1947 zum Rück-
zug gezwungen wurden. Doch Indien übernahm von den Eroberern auch,
was von Nutzen sein konnte und schmolz Elemente von Okzident I in seine
unglaublich reiche Kultur ein. Und mittlerweile erweisen sich die Briten als
fast ebenso stark durch Indien wie die Inder durch Britannien geprägt. Bri-
tannien eroberte Indien, aber Indien eroberte auch durch Migration große
Teile Britanniens und die Briten, wie für jeden Besucher von Albions Küsten
heute sichtbar ist. Tatsächlich könnte Indien diesen Vorgang sogar wiederho-
len, die Kulturen erobernder Zivilisationen aufnehmen und sich am Ende als
kulturell reicher denn je zuvor erweisen. Wer ist stärker, derjenige, der sich

361 Nur wenige haben dieses Thema so gründlich untersucht wie der verstorbene Stein
Rokkan, z.B. in "Dimensions of State Formation and Nation-Building: A Possible Pa-
radigm for Research on Variations within Europe", in: CharIes Tilly (Hg.): The For-
mation of National States in Europe, Princeton 1976, und in seinem Beitrag
"Territories, Centers and Peripheries: Toward a Geoethnic, Geoeconomic, Geopoliti-
cal Model of Differentiation within Western Europe", in lean Gottmand (Hg.): Cen-
ter and Peripherie. Spatial Variations in Politics, London 1980. Sehr nützlich war
mir auch Charles Tillys Stein Rokkan's Conceptual Map of Europe, Ann Arbor, MI
(University of Michigan) 1981.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 409

aufmacht, um aus anderen eine Peripherie zu machen, oder derjenige, der die
anderen bereits als umschlossen betrachtet, als Bestandteil des eigenen Uni-
versums? Zwei verschiedene Arten, sich aufeinander zu beziehen: einerseits
militärische Eroberung, wirtschaftliche Penetration, kulturelle Prägung, poli-
tische Institutionen; und andererseits Absorption, Auswahl des Nützlichen,
Rausschmiß des Eroberers, Warten auf den nächsten ...
(8) Okzident I - Sinisch: Hier liegen die Dinge anders. Als Okzident I in sei-
ner westlichen (christlichen) Erscheinungsform nach China kam (und die
Vereinigten Staaten gehörten, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, si-
cherlich zum Westen), da besetzten seine Emissäre die Position, die für sie
als westliche Barbaren vorgesehen war. Sie verhielten sich entsprechend und
wurden entsprechend wahrgenommen. Dies heißt in keiner Weise, daß die
Chinesen nicht auch von Barbaren das lernen können, was sie lernen wollen,
so wie sie gewiß von den nördlichen Barbaren, den Russen, während der er-
sten Jahre der kommunistischen Dynastie lernten. Doch während die indische
Zivilisation mit fast unglaublicher Toleranz zur Übernahme und Umarmung
imstande ist, wurde die sinische Zivilisation durch den Angriff schwer ver-
wundet. Sie rächte sich, ja, trieb die fremden Teufel aus.
Wir haben es hier mit einer asymmetrischen Beziehung zu tun. Okzident I
will eindringen, expandieren; alles, was die Chinesen (und die Vietnamesen)
taten, war, sich gemäß dem alten französischen Sprichwort zu verhalten:
Cet animal est tres mechant;
quand on l'attaque, il se defend.
Die Chinesen expandieren nicht über ihren traditionellen Herrschaftsbereich
hinaus, der unglücklicherweise offenbar auch Tibet einschließt. Ganz anders
als Okzident I, der die ganze Welt als seine Domäne betrachtet.
(9) Okzident I - Nipponisch: Diese Beziehung ist wesentlich symmetrischer.
Anders als China geht es Japan darum, andere Teile der Welt zur Peripherie
zu machen, obwohl man für die äußere Peripherie, Resourcia, sagen könnte,
daß dies "nur" im wirtschaftlichen Sinne gilt. Hingegen wird die innere Peri-
pherie etwa in der Art und Weise behandelt, wie der westliche Imperialismus
fast die gesamte Welt zu behandeln versuchte.
Die Möglichkeiten für Zusammenstösse liegen auf der Hand, und sicher
wurden sie nicht dadurch beseitigt, daß man Japan zu einem Teil nicht nur
des Okzidents, sondern sogar des westlichen Okzidents erklärte, weil dies
einfach eine leere Behauptung mit schmaler faktischer Basis darstellt, und
weil, selbst wenn es sich so verhielte, Beziehungen innerhalb des Okzidents I
historisch nicht als friedliche bekannt sind. Auf der einen Seite haben wir die
Mächte des Okzidents, für die der Expansionismus definitorisches Attribut
einer Großmacht bildet, auf der anderen Seite Japan, für das das gleiche gilt.
Das Kapitel Krieg im Pazifik USA - Japan war vorprogrammiert und ebenso
410 Zivilisationstheorie

der japanische Krieg gegen den okzidentalen Kolonialismus, der unglückli-


cherweise auch der Errichtung des eigenen diente. Dies ist eine der gefähr-
lichsten aller Kombinationen gerade zum jetzigen Zeitpunkt, in dem Okzi-
dent I zunehmend assoziationswillig wird (eine andere Gefahrenzone ist
Okzident I im dreigeteilten Europa).
(10) Multizentrisch - Indisch: Hier tritt nun ein weiterer Aspekt der indi-
schen Zivilisation sehr deutlich zutage. Diese Zivilisation hat gegenüber
kleinen okzidentalen Gruppen wie Juden, Christen und Parsen362 eine fast un-
glaubliche Geduld an den Tag gelegt, sogar gegenüber großen okzidentalen
Gruppen wie den Muslimen, und dies über lange Zeiträume hinweg, voraus-
gesetzt, diese "Gemeinschaften" verletzen sich nicht gegenseitig, beleidigen
insbesondere auch nicht die Religion des Gastgebers. Die Beziehungen zu
jener wichtigen, eine Zwischenstellung einnehmenden, religiösen Gemein-
schaft der Sikhs waren bis vor kurzer Zeit durch dieselbe Toleranz geprägt. 363
Doch gilt dies nicht für die indigenen, die "Stammesvölker", wofür das
Nagaland ein wichtiges Beispiel bietet. Es zeigt sich, daß es auch in der indi-
schen Zivilisation eine Trennlinie zwischen "höheren" und "niedrigeren"
Kulturen gibt, die der Trennlinie zwischen hohen Kasten, niedrigen Kasten
und Kastenlosen vergleichbar ist. Was letztere betrifft, so erweist sich hier
die indische Gewalt als am schlimmsten, als strukturelle eher denn als direkte
Gewalt, nach unten eher als nach außen gerichtet.
Der Buddhismus war wie der Gandhismus eine grundlegende Herausfor-
derung dieses Aspekts der indischen Zivilisation und mußte (ebenso wie der
Gandhismus) vertrieben werden. Die indische Zivilisation scheint tolerant zu
sein, solange die Kastenstruktur entweder unberührt bleibt oder durch soziale
Veränderungen hindurch reproduziert werden kann, auch dann, wenn der ge-
sellschaftliche Wandel von außen erzwungen ist. Ein Brahmane bleibt ein
Brahmane, auch wenn aus Ram ("Gott") RAM (Random Access Memory)
wird und er selbst sich aus einem Priester in einen Computerspezialisten
verwandelt.
(11) Multizentrisch - Sinisch: Im allgemeinen hat sich die si nische Zivilisati-
on gegenüber kleinen Gruppen von Menschen tolerant verhalten, die nicht
dem Staatsvolk der Han zugehörten, aber keine grundlegende Bedrohung
darstellten. Okzident I will solche Gruppen peripherisieren, absorbieren, än-
dern oder "entwickeln". Die si nische Zivilisation dürfte sie eher als eine Art

362 S. das Kapitel über Hinduismus in Huston Smith: The Religions 0/ Man, New York
1958.
363 Sicherlich hat sich die Situation mit dem Trauma gewandelt, und dies wahrscheinlich
für Generationen, wenn nicht für Jahrhunderte, das dieser religiösen Gemeinschaft
durch das Sakrileg der antiterroristisch begründeten Invasion des Goldenen Tempels
in Arnritsar im Jahre 1984 zugefügt wurde. Man stelle sich einen muslimischen Sa-
botageakt auf den Petersdom in Rom vor!
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 411

Barbaren betrachten und in relativem Frieden leben lassen, etwa in den wei-
ten Räumen für Nicht-Han-Völker im westlichen China. Sicher bedeutete die
Kulturrevolution hier eine Ausnahme, indem sie okzidentale Importe attak-
kierte sowie Buddhisten und ihre Tempel, auch eingeborene Völker, jedoch,
soweit man dies beurteilen kann, nicht bis hin zur Vernichtung, wenn die
Angriffe auch gewalttätig waren. Offensichtlich gibt es tiefe Konflikte in
China nach der langen Phase westlicher Herrschaft, die mit dem Opiumkrieg
begann, und der 2.500 Jahre währenden Beherrschung durch die shi'h.
(12) Multizentrisch - Nipponisch: Nichts von dieser Toleranz findet sich in
Japan, das eher Okzident I ähnelt. Natürlich darf man Japan besuchen. Doch
das Leben in Japan, gar die Niederlassung dort, setzt die Bereitschaft voraus,
Japaner zu werden, zumindest in solchen äußerlichen Erscheinungsformen
wie der Bereitschaft, den eigenen Namen gegen einen japanischen zu tau-
schen, der dann der offizielle wird, oder am Ende der Tafel zu sitzen (im Ge-
gensatz zum Besucher, den man vielleicht an deren Kopf setzt, und der als
ein Zeichen der Achtung interpretiert, was tatsächlich, wie ehrende Worte,
eher ein Zeichen der Distanz sein mag). Auf diese Weise wurde der Bud-
dhismus ,japanisiert" und, besonders in Form des Zen-Buddhismus, zu ei-
nem Teil der expansionistischen Natur der nipponischen Kosmologie. Indi-
gene Völker wurden absorbiert und japanisiert, bis hin zur faktischen Auf-
lösung (das Beispiel der Ainu).
(13) Indisch - Sinisch: Zwei große Zivilisationen, zwei große Gruppen der
Menschheit, tatsächlich die beiden größten, Nachbarn sogar - und doch so
wenig Beziehungen! Für die Chinesen gehören die Inder zu den südlichen
Barbaren und erscheinen als nicht gefährlich, sieht man einmal ab von den
Geschehnissen in Ladakh im Herbst 1962. 364 Für die Inder leben die Chine-
sen "irgendwo dort oben", doch da diese Indien nicht erobert haben, fehlt je-
ne traditionelle hinduistische Grundlage für einen Kontakt. Glücklicherweise
ist keine dieser beiden großen Nationen wirklich expansionistisch, denn wäre
Indien expansionistisch im okzidentalen Sinne und hätte China eine nipponi-

364 Die Inder schienen in der Sicht der Chinesen die umstrittene McMahon-Linie über-
schritten zu haben, eine Erbschaft des britischen Imperialismus und veralteter karto-
graphischer Techniken für einen problematischen Abschnitt des Himalaja. Heide
Parteien hatten unterschiedliche Wahrnehmungen in bezug auf die Geschehnisse,
und vielleicht hat ein antikommunistischer Westen mehr der indischen Version ge-
glaubt: daß nämlich die Chinesen mit einem Mal, und ohne provoziert worden zu
sein, weite Teile des indischen Territoriums im Norden und Nordosten annektiert
hätten. Der Krieg war beinahe so schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Mehr als
dreißig Jahre später setzten sich beide Seiten zusammen, um über den aktuellen
Verlauf der Linie zwischen den jeweils kontrollierten Gebieten und über Truppen-
stationierungen gemeinsam zu beschließen, als ein erster Schritt in Richtung auf die
gemeinsame FestIegung des Grenzverlaufs (vgl. Global Times vom 30. Juli 1994).
412 Zivilisationstheorie

sche Kosmologie, dann hätte es im Himalaya größere Kriege gegeben. Auch


ist die Feststellung interessant, daß dies weiterhin gilt, obwohl beide Länder
über zwei Instrumente des okzidentalen Expansionismus verfügen, den Na-
tionalstaat, mit vielen seiner Zutaten, und mächtige Armeen mit Atombom-
ben. Der Zustand des Nicht-Krieges ist bemerkenswert und ehrt beide. Doch
handelt es sich eher um einen negativen als einen positiven Friedenszustand,
da er im wesentlichen aus einem Vakuum besteht.
(14) Indisch - Nipponisch: Der grundlegende Faktor, der den Frieden in die-
sem Verhältnis bewahrt hat, ist wahrscheinlich ein einfacher geographischer
Umstand: Indien ist zu weit von Japan entfernt, zumindest bis heute, um zum
dai-to-a gerechnet zu werden. Japan hat im 11. Weltkrieg den Versuch unter-
nommen, doch der Krieg war nicht erfolgreich. Wäre Japan ein angrenzendes
Land gewesen, dann hätte man die logistischen Schwierigkeiten wahrschein-
lich überwunden. Viele Inder hoher Kasten hätten bis heute Muster japani-
scher Effizienz entwickelt, und viele Japaner hätten die indische Mystik auf-
genommen, ja wären durch sie ganz verändert worden. In einem bestimmten
Sinne ist Indien in einer glücklichen Lage: Es gibt zwei andere große Länder
in Asien, eines ganz nah und nicht aggressiv, das andere ziemlich aggr,essiv,
aber nicht sehr nah.
( 15) Sinisch - Nipponisch: Doch China hatte nicht soviel Glück. Für die Chi-
nesen sind die Japaner die östlichen Barbaren, und dementsprechend haben
sie sich auch verhalten, ab 1931 und insbesondere seit 1937. Es kommt dazu,
daß der japanische Angriff auf China ein Fall reiner Aggression war, ohne
auch nur den Schatten einer defensiven Zielsetzung. Ganz ähnlich, wenn
auch in größerem Maßstab, verhielt es sich mit Nazi-Deutschlands Angriff
auf die Sowjetunion. Hier gab es jedoch immerhin Pläne einer gesellschaftli-
chen Transformation, ja sogar einer Revolution in sozialistischlkommuni-
stischer Richtung - Pläne, die in Moskau entworfen wurden und die Deutsch-
land sicherlich nicht unberührt gelassen hätten. Japan hatte nicht einmal die-
sen Vorwand. Es ist zu früh, darüber zu urteilen, ob diese Aggressivität ge-
genüber China in Japan in latenter Form noch vorhanden ist. Schließlich
wurde Japan nur einmal geschlagen, und das ist noch nicht lange her. 3M Viel
wahrscheinlicher als ein neuer chinesisch-japanischer Krieg dürfte sein, daß
man in Ostasien Formen assoziativer Politik betreibt, die auf etwas Ähnliches
zielen dürften wie die westeuropäischen Integrationsbemühungen vom Mon-

365 Nicht genau diese Idee, doch das Potential für eine Erneuerung der Gewalt muß die
grundlegende Überlegung gewesen sein, die den japanischen Historiker Saburo
lenaga inspiriert hat zur Niederschrift seines Buches The Pacific War: 1931-45, New
York 1975, das in diesem Zusammenhang außerordentlich nützlich ist (vgl. bes. die
Seiten 135-139, 154-155, 188-189,200-201).
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 4/3

netlSchumann-Plan über den Vertrag von Rom bis (einstweilen) zu dem von
Maastricht.
Und dies beschließt unsere Untersuchung der Interaktion von Zivilisatio-
nen. Wir wollen nun nochmals einen Blick auf die Tabelle 4.5 werfen und
den Versuch unternehmen, das Gesagte zusammenzufassen. An den Orten
möglicher Gefahr wurden Ausrufungszeichen gesetzt, zum einen, weil sich
dies in der Vergangenheit so gezeigt hat, zum anderen, weil es aus der kos-
mologischen Analyse folgt. Man wird bemerken, daß alle Ausrufungszeichen
sich auf zwei der fünf Zivilisationen beziehen: Okzident I und Nipponisch,
die große und die kleine Familie erwählter Völker. Es gibt nur eine Ausnah-
me: Japan erscheint für sich selbst als ungefährlich und ist in der Tat die am
besten integrierte Zivilisation. Doch ist der Grund dieser Ungefährlichkeit,
wie im Falle Chinas, ein negativer: Es gibt heutzutage nur ein Japan.
Es sollte auch beachtet werden, daß die Gefahrenzonen in Tabelle 4.5 von
zweierlei Art sind: stark - stark und stark - schwach, wobei "schwach" mul-
tizentrisch bedeutet. Militärisch starke und expansionistische Zivilisationen,
die ihre Kräfte messen, tun dies im Krieg: um sich wechselseitig zur Peri-
pherie zu machen bzw. als Ressource zu nutzen oder um den jeweils anderen
in eine Peripherie zu verwandeln, die für andere Mächte des Zentrums nicht
zugänglich ist.
Doch dann geht ein zweites von den Zentren der Gefahren aus: Penetrati-
on, zuweilen endend mit Absorption und Vernichtung, ins Werk gesetzt ge-
genüber den militärisch schwächeren Zivilisationen. Diese können sich je-
doch zweier defensiver Strategien bedienen: durch ein System vollkommen
defensiver Verteidigung zurückzuschlagen und/oder sich zurückzuziehen,
sich der Absorption zu verweigern und zu versuchen, die Eroberung durch-
zustehen. Dies mag erfolgreich sein oder auch nicht, jedenfalls setzt es eine
langfristige Perspektive voraus, Geduld und vielleicht auch eine bewußte
Politik der Gewaltlosigkeit - drei Merkmale, die den expansionistischen Zi-
vilisationen Okzident I und, in geringerem Maße, auch Nippon fehlen. 366
Und daher kommt es, daß das Zentrum der Tabelle, in sechs von fünfzehn
Zellen, eine bemerkenswerte Anzahl relativ positiver oder zumindest nicht
negativer Beziehungen aufweist. Bei näherer Betrachtung zeigte sich mehr
Gewalt, jedoch nicht jene Gewalt im Großmaßstab, die man in den neun
Zellen entlang des Randes der Tabelle bemerkt (doch in Nipponisch-Nippo-
nisch nur in latenter Form, daher steht das Ausrufungszeichen in Klammern).
Im großen und ganzen gibt Tabelle 4.5, die auf einfach gefaßten Unterstel-
lungen in den Kosmologien der Zivilisationen basiert, die Geopolitik von

366 Und doch gibt es bei allen offensichtlichen und nicht so offensichtlichen Unzuläng-
lichkeiten auch den sanften Unterton abendländischer Zivilisationen, wofür etwa die
Akte der Gewaltlosigkeit auf den Philippinen 1986, der Kampf um die Bürgerrechte
in den Vereinigten Staaten usw. stehen.
414 Zivilisationstheorie

Krieg und Frieden recht gut wieder. Dies wird noch klarer, wenn wir weitere
Kosmologiedimensionen mit hinzunehmen (vgl. u. Kap. 5).

3.4 Schluß: Was können wir ändern?


Vorausgesetzt, daß einer derartigen Analyse der Tiefenstruktur der Geopoli-
tik des Friedens (und auch der Entwicklung, obwohl diese nur im ersten Ab-
schnitt thematisiert wurde) hinreichende Gültigkeit zukommt, stellt sich na-
türlich die Frage: Was können wir ändern? Ist es möglich, schädliche Zivili-
sationen zu beseitigen? Ist es möglich, pathologische Zivilisationen zu än-
dern? Es sind dies vollkommen legitime und für die Friedensforschung ent-
scheidende Fragen.
Die Kandidaten für Beseitigung wären sicherlich Okzident I und Nippo-
nisch. Läßt man moralische und praktische Bedenken einmal beiseite, stellt sich
ein Hauptproblern. Als Folge der Beseitigung könnten möglicherweise die
verbleibenden drei Zivilisationen - tatsächlich handelt es sich um fünf, da drei
in einer Gruppe zusammengefaßt wurden - einige Merkmale der nun beseitig-
ten expansionistischen annehmen. Vielleicht würde Indisch wie Okzident I und
Sinisch wie Nipponisch werden. Vielleicht spielt sich hier eine Gruppendyna-
mik ab, in der Zivilisationen Rollen in Bezug aufeinander spielen, bis hin zur
Besetzung unbesetzter Rollen. Die Welt ist ein System (und nicht nur eine
Menge) interagierender Zivilisationen, und die Einstellungen und das Verhalten
eines Akteurs sind vielleicht nicht nur durch seinen Code, sondern auch durch
die Einstellungen und das Verhalten der anderen Akteure bestimmt.
Doch vielleicht funktioniert dies in beide Richtungen. Sind die Hauptex-
pansionisten einmal beseitigt, dann gäbe es vielleicht weniger Expansionis-
mus, der sich zur Nachahmung anböte; weniger Nationalstaatlichkeit, die
durchgesetzt werden müßte; auch wäre vielleicht die "Modernisierung" mit
ihrem Begleiter, einem schwerlastenden Komplex aus Militär-Bürokratie-
Korporationen-Intelligentsia, weniger einflußreich.
Eine praktischere Überlegung wäre, daß diese expansionistischen Zivilisa-
tionen nicht beseitigt werden können. Gerade wegen ihrer Eigenart stehen sie
an der Spitze der Weltgemeinschaft der Zivilisationen und nicht an deren Ba-
sis, da sie sich den Weg geebnet haben, indem sie beträchtlich weniger ex-
pansionistische Zivilisationen vernichteten. Wären sie an der Basis gewesen
und relativ klein, dann hätte man ihnen dieselbe Behandlung angedeihen las-
sen können, die Delinquenten verabreicht wird: Man hätte sie vor Gericht
bringen und anklagen können; ein Urteilsspruch wäre erlassen worden, mit
allen Konsequenzen einer angemessenen Umsetzung. Dieser Ablauf würde
für die Spezialprävention besser funktionieren als für die Generalprävention,
so wie das ganz allgemein der Theorie des Strafens entspricht.
Implikationen: Frieden, Krieg, Konflikt, Entwicklung 415

Doch sind wir nicht in dieser Lage. Fast alle Nuklearmächte sind Teil von
Okzident I (USA, UK, Frankreich, Rußland, Weißrußland, Ukraine, Kasach-
stan, Israel, Südafrika, Pakistan); Indien und China sind dies nicht, doch sind
sie unserer Analyse zufolge weniger gefährlich. Die Supermächte des Kalten
Krieges befinden sich dort und ebenso die "Großmächte" (doch wieder ge-
hört China, ohne zwingenden Grund, dazu). Die wichtigsten der wichtigsten
Industrienationen, die G 7, sind alle Teil von Okzident I oder Nipponisch. Es
ist nicht leicht, sie zu beseitigen. Daher die zweite Frage: Können Zivil i-
sationen geändert werden? Nicht im oberflächlichen Sinne der Unterzeich-
nung irgend welcher Verträge oder Konventionen, des Eintritts in irgendwel-
che Regime oder Organisationen, sondern im Sinne der Änderung ihrer
Codes, der Transformation ihrer Kosmologien?
Die Antwort auf diese Frage ist alles andere als klar. Doch ist die Frage
gewiß eine der wichtigsten, die in der Friedensforschung aufgeworfen wer-
den können. Wir wissen, daß sich Zivilisationen ändern, in dem Sinne, daß
wir tieferliegende Aspekte, die Kosmologie, als verändert betrachten dürfen.
Doch solche Änderungen wurden durch eine Reihe historischer Umstände,
nicht durch willentliche Planung hervorgebracht. Wir verfügen heute nur
über vage Anfänge einer Therapie exzessiv kriegerischer Zivilisationen, ein
Thema, das wir unten, in Kap. 5, untersuchen werden. Aber zuerst müssen
wir uns in Kap. 4 drei Ernstfälle von Okzident I ansehen: Hitlerismus, Stali-
nismus und Reaganismus (amerikanischer Fundamentalismus).
Doch schon die Einsicht, daß ein großer, ja der größte Teil des Kriegswe-
sens in der Zivilisation selbst wurzelt, ist ein Anfang. Es kann zum Wandel
kommen, doch wahrscheinlich nur, indem man dem Problem an die Wurzeln
geht.
Im Lichte dieser Art von Untersuchung wird deutlich, wie oberflächlich
der Glaube ist, die Übertragung der Produktionsmittel aus privater in die öf-
fentliche Hand könne die Menschheit von der Geißel des Krieges befreien.
Ob in privater oder öffentlicher Hand - die Produktionsmittel können so oder
so für expansionistische Ziele benutzt werden, wenn dies der Kosmologie
entspricht und Mittel zur Zerstörung produziert werden. Das gleiche gilt für
den oberflächlichen Glauben, daß die Demokratisierung von Nationalstaaten
den Frieden hervorbringt. Im Gegenteil könnte sie dazu dienen, die Kosmo-
logie, das kollektive Unterbewußte der Zivilisation, deutlicher zu artikulie-
ren.
Wir brauchen also Analysen, die sich eher auf Zivilisationen als auf Staa-
ten oder ökonomische oder politische Systeme als Einheiten beziehen. Und
dies sollte im Geiste der Suche nach Lösungen geschehen und nicht in dem
der Verurteilung. Gewiß gibt es kein letztes Wort zu diesem entscheidenden
Thema. Und manchmal ist es gut, sich daran zu erinnern, daß es in der Wis-
senschaft ein letztes Wort nicht gibt. Jedoch: Selbst wenn Gewalt und Krieg
tief verankert sind in der Kosmologie, einer kollektiv geteilten und unterbe-
416 Zivilisationstheorie

wußten Kosmologie, mag es Wege geben, aus der harten Kruste des Kollek-
tivs Sub-Kollektive und Individuen herauszubrechen und aus Unterbewuß-
tem Bewußtes zu machen.
4 Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus,
Reaganismus 367

4.1 Homo teutonicus = homo occidentalis in extremis


30. Januar 1933, Machtergreifung*, brauner Totalitarismus: Die Aufgabe be-
steht darin, jene Wurzeln zu beschreiben, aus denen dieser Tag erwuchs, und
die weit über die Kapitulation am 7.18. Mai 1945 hinaus Bestand hatten. Die
allgemeine These lautet folgendermaßen: Es gibt eine deutsche Tiefenkultur,
als Teil der allgemeinen abendländischen Zivilisation, doch als deren extre-
me Version, als Okzident in extremis. Sie unterscheidet sich von der abend-
ländischen Zivilisation im allgemeinen, ist jedoch auch in beträchtlichem
Ausmaß deren Fortsetzung: homo teutonicus = homo occidentalis in extre-
mis. Und dann gibt es auch eine Nazi-Tiefenkultur, die eine extreme Version
der deutschen Kultur ist: homo hitlerensis = homo teutonicus in extremis. So
wird also der Nazismus als Zweig eines Zweiges betrachtet, ganz außen,
doch immer noch zum expansionistischen okzidentalen Baum gehörig.
Um dies genauer darzustellen, wollen wir eine Dimension nach der ande-
ren betrachten und beginnen dazu mit den entscheidenden Kategorien des
Raums (der Welt) und der Zeit.
Welt: Der Kolonialismus war eine deutliche Manifestation der allgemeinen
okzidentalen Raumperspektive, und die Deutschen wollten am Kolonialismus
teilhaben, waren dabei jedoch "in Übersee" nicht sehr erfolgreich. Der deut-
sche Drang nach Osten* wurde so ein Aspekt des westlichen Kolonialismus
im allgemeinen. Es sind jedoch zwei Faktoren, die den Nazismus besonders
kennzeichnen: Er richtete sich gegen weiße Menschen, selbst Teil des abend-
ländischen Stammes, und er war ein historischer Spätkömmling, fünfzig bis
hundert Jahre im Verzug auf die späten Vorläufer und sogar vier Jahrhun-

367 Dieses Kapitel basiert auf meinem Buch Hitlerism, Stalism, Reaganism: Three Va-
riations an a Theme by Orwell (Norwegische Ausgabe Oslo 1984, spanische Ausga-
be Alicante 1985, deutsche Ausgabe Baden-Baden 1987; eine revidierte englische
Ausgabe erscheint in Kürze, und zwar unter dem Titel Hitlerism, Stalinism and
American Fundamentalism: Dark Variations 0/ Western Civilization). Für weitere
Details verweise ich den Leser auf dieses Buch.
* hinter einem Begriff bedeutet in diesem Kapitel: deutsch im Original. Anm. d. Übers.
418 Zivilisationstheorie

derte auf die frühen, die Spanier und die Portugiesen. Aus diesen Gründen
war es nicht möglich, ihn ebenso zu rechtfertigen wie den westlichen Kolo-
nialismus im allgemeinen. Eine neue Rechtfertigung mußte erfunden werden.
Rassismus und Heidentum waren keine hinreichende Grundlage für die
Konstruktion eines zu unterwerfenden Anderen. Eine neue, auf der alten auf-
bauende Ideologie mußte schnell geboren und im kollektiven Unterbewußt-
sein internalisiert werden. Der Nazismus war die gesuchte Antwort. Man be-
schwor eine Theorie des Herrenvolks*, die die anderen, auch Menschen im
weißen Okzident, als geborene Underdogs, Untertanen*, ja als Ungeziefer
betrachtete, so daß sie des Rechts auf staatliche Anstellung, auf Zugang zum
öffentlichen Raum, dann auf die Staatsbürgerschaft, schließlich auf ihre
Seele beraubt werden konnten. All dies erleichterte ihre Auslöschung. Logi-
sche Folgen: Wannsee, Auschwitz.
Zeit: Außerordentlich dramatisch. Es gibt die Vision einer germanischen
Vergangenheit, kreisend um die nordische Mythologie, vermischt mit mit-
telalterlichen Zügen, germanischen Sagen, Walhalla, Wagnerscher Mystik.
Es gibt den Sündenfall und die Dunkle Zeit, hervorgebracht durch die Ver-
mischung des Blutes, durch rassische Unreinheit. Es gibt den Erlöser, Ihn,
Der Sah: Adolf Hitler, und die Heilige Schrift, Mein Kampf Es gibt die Ex-
pansion, sowohl im Sinne rassischer Reinigung als auch im territorialen Sin-
ne, die mit Sicherheit in eine Krise führt. Blut und Boden*, beides ge-
meinsam als Grundthemen der deutschen Geschichte. Und es gibt die Vision
einer hochgradig dichotomisierten Zukunft, ganz ähnlich wie sie in der Bibel,
im Alten wie im Neuen Testament ins Auge gefaßt wird: entweder vollstän-
dige Katharsis, eine vollkommene, widerspruchsfreie Existenz (Paradies) -
oder vollkommene Verdammnis, Apokalypse, die Zerstörung von allem und
jedem (Hölle). So zeichnet sich der Nazismus aus als eine späte Inkarnation
der allgemeinen okzidentalen Zeitkosmologie, unter Einschluß ihrer eschato-
logischen Aspekte. Er entsprang einem fruchtbaren Boden, den lutheranische
Eschatologie und germanisch-nostalgische Ambitionen bereitet hatten.
Episteme: Im teutonischen Typus okzidentalen Denkens werden Theorie-
Pyramiden so wichtig, daß sie weitgehend vom Kontakt mit der empirischen
Realität losgelöst sind. Deduktives Ableiten aus nur ganz wenigen Axiomen,
idealiter nur aus einem einzigen, wird zur entscheidenden Aufgabe der Intel-
lektuellen. Der Essentialismus beherrscht den intellektuellen Stil, unbehindert
durch irgendeinen Bezug auf Beispiele oder auf empirische Analyse im all-
gemeinen.
Wieder fällt es nicht schwer, hier den Hitlerismus zu erkennen. Es gibt ein
leitendes Prinzip: den Widerspruch zwischen dem Reinen und dem Unreinen,
zwischen den Ariern einerseits und auf der anderen Seite zunächst den Juden
(und der Verjudung*), dann den "Bolschewisten"*, dann den Geldmenschen,
den Plutokraten *. Die Verunreinigung der Deutschen stammte nicht nur von
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 419

den Juden, sondern auch von der Einflußnahme der Bolschewiken her, zuerst
auf die Kommunisten, dann auch auf die Sozialdemokraten. Der Wider-
spruch ist "antagonistisch", um einen maoistischen Begriff zu verwenden -
er kann nur durch Gewalt aufgelöst werden.
In der Zwischenzeit dient er epistemologisch wichtigen intellektuellen
Funktionen: Er erklärt alles. Die Nazi-Theorie besteht in der Erklärung, daß
und wie alles Übel von den Nicht-Ariern oder von den nicht-arischen Ele-
menten stammt. Zwar waren nicht alle Bolschewiki und Plutokraten Juden,
doch ihr Denken war nicht-arisch. Der Andere ist ein Feind. Das Bild von
diesem Feind, das Feindbild*, ist nicht nur eine gesellschaftliche Dichotomie
mit fatalen Folgen, sondern auch ein höchstes geistiges Prinzip, das Axiom,
aus dem alle Einsichten strömen. Hitler wird zum teutonischen Intellektu-
ellen, ein Mensch mit der Fähigkeit, die Sprache meisterhaft zu handhaben
auf seine essentialistische Art und Weise des Auf- und Abstiegs in seiner Ge-
dankenpyramide, mit jenem entscheidenden Widerspruch an der Spitze, der
die Übel der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft ebenso wie die Verspre-
chungen der Zukunft erklärt und beleuchtet.
Natur: Die allgemeine okzidentale Kosmologie stellt menschliche Wesen,
Personen, fest an die Spitze der Natur. Natur fungiert als Hilfsmittel für eine
zutiefst anthropozentrische Unternehmung. Doch gibt es in diesem Muster
auch einen anderen Strang: die schöne Natur, Natur als Ort der Zuflucht,
nicht nur als Ressource. Der Nazismus griff beides auf: die völlige Zerstö-
rung der Natur durch die Auswirkungen des Industrialismus und des Milita-
rismus (Manöver und Kriegsführung) und den Kult der Natur, die Romantik
der Wandervögel*, den bayerischen Naturmystizismus der Berge und Wäl-
der, der mit der preußischen Staatsverehrung so gut zusammenging in jenem
Amalgam, das dann zum Nazismus wurde. Und die geschickte Verwaltung
der Sexualität in Lagern, mit Frauen als Teil der Natur, rein, unbefleckt, den
Samen empfangend im sakramentalen Akt der Reproduktion der arischen
Rasse.
Selbst: Ein sehr starkes Über-Ich, zum Teil (in der Hauptsache?) bezogen
von einem ganz buchstäblich verstandenen Christentum, macht das Ich zu ei-
nem schwachen Schlachtfeld zwischen moralischer Autorität und dem Es.
Die Deutschen lassen sich leicht von denen in Bewegung setzen, die morali-
sche Autorität beanspruchen können und sich die starken Kräfte des Es nutz-
bar machen.
Gesellschaft: Die generelle moderne Kosmologie von Okzident I ist vertikal
und individualistisch: ein Kampf jeder gegen jeden um die Sicherung seiner
Position in einer vertikalen Hierarchie, bestehend aus unterschiedlich vielen
Schichten, mehr oder weniger pyramidenförmig angeordnet, mehr oder we-
niger breit an der Basis und mehr oder weniger durchlässig.
420 Zivilisationstheorie

4.2 Homo hitlerensis = homo teutonicus in extremis


Der Nazismus treibt dies einen beachtlichen Schritt weiter. Das Prinzip der
"Vertikalität" bringt sich im Verkehr der Individuen als Sozialdarwinismus
zum Ausdruck, als Überleben der Tauglichsten in einem Dschungel, der im-
mer weniger an die menschliche Zivilisation erinnert und letztlich rein ter-
roristisch wird. Das Prinzip statuiert das Recht, ja die Pflicht zur Herrschaft
der Starken über die Schwachen, der Arier über die Juden, der Männer über
die Frauen, der Menschen mittleren Alters über die jungen und die alten, der
"Normalen" über die "Anormalen". Zwischen den Nationen nimmt es die
Form des Herrenvolks* versus alle anderen an, der rassischen Überlegenheit,
die nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht des Herrenvolks* beinhal-
tet, seine Überlegenheit voll auszuspielen, bis hin zur Ausrottung derjenigen
ganz unten - so wie man mit Ungeziefer verfährt. Zwischen den Staaten
nimmt es die Form extremer Beziehungen von Zentrum und Peripherie an,
mit dem deutschen Staat als dem Herrenstaat*. Und innerhalb von Staaten
äußert es sich in Form der Parteidiktatur.
Transpersonal: Der Nazismus bahnt als extreme Version der Beziehung zu
Gott den Weg für ein Verständnis des allgemeinen deutschen bzw. teutonischen
Denkens. Er überspannt die Kluft zwischen Heiligem und Profanem. Er ist hei-
lig in seiner Verbindung mit einer mythischen und mystischen Vergangenheit
und Zukunft und in der Proklamation des Führers* und des Führerprinzips*
als alle gewöhnlichen Menschen überragend. Der Führer steht der Vorsehung*
nahe; als Ausdruck einer verallgemeinerten Religiösität, als brücken schlagende
Denkfigur erleichtert er es den Christen, einen im wesentlichen nicht-christli-
chen, ja sogar anti-christlichen, nordisch-heidnischen Nazismus zu akzeptieren.
Doch dies heißt, daß der Führer* unter allen Sterblichen etwas Einzigarti-
ges in seinen Händen hält: die göttliche Kontrolle über Leben und Tod, und
dies nicht nur für individuelle menschliche Wesen, sondern für ganze Grup-
pen, Rassen, Nationen, Völker. Und nicht nur das. Er hatte sogar die Macht
der Vernichtung*, war er doch ein endgültiger Zerstörer alles Erschaffenen.
In der Epoche des Nazismus galt dies nur von der Homosphäre, von
menschlichen Lebewesen und Ansiedlungen, von menschlichen Gesellschaf-
ten. Der Führer* war nicht nur wie Gott, sondern ein wirklicher Gott, der
göttliche Kräfte für sich in Anspruch nehmen konnte. Mit der Technologie
der Atombombe hätte er noch einen Schritt weitergehen können, von der
Zerstörung der Menschen und der menschlichen Dinge nämlich bis hin zur
Zerstörung der Natur, der Bio-, Litho-, Hydro- und Atmosphäre, die ganze
Litanei der biblischen Verwüstung*. Hätte er Atomwaffen besessen, dann
wäre ohne Zweifel auch dies in den Zuständigkeitsbereich des Führers* ge-
fallen, als der Verkörperung von Gott und Anti-Gott, ermächtigt auch dazu,
das Werk des Schöpfers rückgängig zu machen.
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 421

Vernichtung* und Verwüstung* können unter dem Oberbegriff des Exterminis-


mus zusammengefaßt werden, der eine Beziehung zwischen einem transperso-
nalen Führer* einerseits und gewöhnlichen Menschenwesen andererseits zum
Ausdruck bringt. Der Führer* ist der Nachfolger des Schöpfers, selbst Schöp-
fer und Zerstörer. Er füllt eine Lücke, die ein sterbender christlicher Gott geris-
sen hat. Es bedarf der mystischen Verbrämung, damit dies greifen kann: einer-
seits einer Verbindung, die an Identität zwischen Führer* und anderen höheren
Mächten grenzt, andererseits einer Verbindung zwischen gewöhnlichen Men-
schen und dem Führer*, die Formen extremer Verehrung annimmt.
Wir können hier sogar eine historische Abfolge wahrnehmen. Vom Ju-
dentum mit Jahwe an der Spitze, dem Göttlichen Fürsten, dann Israel als
das Erwählte Volk, dem andere Völker zu Diensten sind, über das Chri-
stentum mit Jesus Christus, der die Stellung Israels als des Erwählten
Volks zerstört, indem er sich selbst zum Göttlichen Fürsten und zum einzi-
gen Weg zu Gott, dem Vater, erklärt, und über den Islam mit Mohammed,
der die Stellung Jesu Christi als Mittlers zerstört, indem er eine unmittel-
bare Beziehung zwischen Allah und dem gläubigen Moslem etabliert, mit
Mohammed als Führer. Der Hitlerismus paßt hier bestens hinein. Es gibt
einen Monotheismus mit dem Führer* selbst an der Spitze. Es gibt ein er-
wähltes Volk, wiederauferstanden als Deutschland über alles*, neben den
geringeren Völkern der Erde, die Deutschland zu Diensten stehen, mit
Ausnahme derjenigen, die auf die Vernichtung zusteuern. In diesem Sinne
ist der Nazismus schlichtweg Mitglied der abendländischen Familie reli-
giösen Denkens, extrem, doch der Familie nicht fremd. Es gibt ein Erwähl-
tes Volk, welches das Andere zu vernichten versucht, durch Kreuzzüge
und Invasionen, durch Inquisition und Hexenprozesse, durch Pogrome.
Logische Folge: Wannsee, Auschwitz.
Verbinden sich alle diese sieben Aspekte des Nazismus zu einem einzigen
Bündel, so entsteht eine besonders brutale Mischung. Der der Konstruktion
des Raums Welt eingebaute Expansionismus wird durch ein Feindbila ge-
rechtfertigt, das die Probleme der Welt im allgemeinen und die Deutschlands
im besonderen erklärt; desweiteren haben wir ein leicht zu mobilisierendes
Volk, ausgestattet mit einem stark vertikalen Bild gesellschaftlicher Bezie-
hungen, das sogar den Exterminismus zu rechtfertigen vermag, und mit
eschatologischen Überzeugungen von Katharsis und Apokalypse.
Das Ergebnis: Götterdämmerung*, Himmel oder Hölle, Tausendjähriges
Reich* oder Vernichtung*, einschließlich der Vernichtung des Selbst. Dieser
letzte Punkt kann als Schlüsselaspekt des Nazismus gar nicht genug betont
werden. Es gibt nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, andere, das
Ungeziefer, auszurotten. Doch selbst so ist der Triumph nicht garantiert. Da-
her besteht auch die Pflicht, sich selbst aufzuopfern oder vielmehr uns selbst,
im Plural, nicht nur im Singular. Trägt der Feind den Sieg davon, dann ist die
Welt unserer Gegenwart nicht wert. Die Deutschen haben ihre Pflicht nicht
422 Zivilisationstheorie

erfüllt, daher ist ihr Leben nicht lebenswert. Das Volk* hat den Führer* im
Stich gelassen.
Selbstaufopferung, Opferbereitschaft* wird zu einem wesentlichen Aspekt
der gesamten Ideologie. Werden die Ziele nicht erreicht, der Feind nicht aus-
gerottet, der Expansionismus nicht in die Tat umgesetzt, dann folgt unser
Selbstopfer, und dies nicht nur als das Ergebnis der Logik der Kriegsführung.
Andere wurden geopfert. Diejenigen, die dem Untergang geweiht waren oder
zumindest der Unterwerfung als Untertanen* für alle Zeiten, wurden belehrt,
daß dies einfach ihrem unglücklichen Schicksal entspräche. Es galt, eine Art
Naturgesetz auszuführen, und hieran war nichts Persönliches, wie der SS-
Mann hätte sagen können. Die Ausrottung war ein gottgleicher Akt, eine
Frage des In-Ordnung-Bringens des Universums, mit der SS als dem In-
strument der Neuen Ordnung: die Umsetzung der Apokalypse.

4.3 Homo russicus/sovieticus = homo occidentalis in


extremis

"Stalinismus" oder rechter National-Bolschewismus ist als soziales Phäno-


men historisch nicht auf die Epoche beschränkt, in der Stalin der unange-
fochtene Führer der Sowjetunion war, von 1925/29 bis 1953. Über den Be-
ginn mag man streiten. Doch der Stalinismus endete weder mit Stalins Tod
im März 1953 noch mit der berühmten Rede Chruschtschows auf dem 20.
Parteitag in Moskau im Februar 1956, mit der Bloßstellung Stalins und der
Feststellung, der Stalinismus habe die Sowjetunion Millionen von Menschen-
leben gekostet. Vierzig Jahre nach Stalins Tod gibt es vielleicht immer noch
irgend wo etwas Stalinismus.
Was sind die Wurzeln des Stalinismus? Die Frage erfordert Definitionen,
und sie verlangt nach der Anstrengung, sich auf den Stalinismus historisch,
strukturell und kulturell derart einzulassen, daß er besser verständlich wird -
auch im Hinblick darauf, wie er unter Kontrolle gebracht, vielleicht sogar,
wie er beendet werden könnte.
Welches sind die angemessenen gedanklichen Mittel zum Verständnis der
Sowjetunion? Welche notwendigen und hinreichenden Faktoren müßten wir
in Betracht ziehen, wenn wir sie als eine "Makrokultur" beschreiben wollen?
Offenbar gibt es zumindest drei Bezüge, die zum Kern der notwendigen und
hinreichenden Bedingungen gehören: das russische Element, der Versuch,
einige der grundlegenderen Aspekte der russischen Geschichte und Gesell-
schaftsstruktur einzubeziehen; das orthodoxe Element, der Versuch der Cha-
rakterisierung eines Zweigs der christlichen Theologie; und der Marxismus,
der Versuch, in das Gesamtdenken einige grundlegende Elemente dieser be-
sonderen Ideologie mitaufzunehmen. Wie schon im Falle Deutschlands wer-
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 423

den wir die gemeinsamen unter diesen Wurzeln hervorheben, die weniger
vergänglichen Elemente.
Wenn wir den Marxismus als vergänglicheres Element außen vor ließen,
könnten wir eine Beschreibung des homo russicus bekommen; schließen wir
den Marxismus ein, bekommen wir eine des - ebenfalls vergänglichen - ho-
mo sovieticus. So werden wir die ersten beiden Perspektiven kombinieren,
um auf eine systematischere Art und Weise den Hintergrund des homo so-
vieticus auszuleuchten, indem wir das siebenfältige Schema der Kosmologie-
analyse nun für den homo russicus fruchtbar machen.
Welt: Rußland als der wirkliche Mittelpunkt des Okzidentalen Zentrums
der Weit, der Ort, an dem der wahre Glaube überlebt hat, getreu seinen
Wurzeln, die Heimat des Dritten Roms, nachdem zunächst der erste und
dann der andere Teil des Römischen Reiches untergegangen waren. Ver-
letzlich, weil Heiden und Häretiker und andere Feinde seine Phasen der
Schwäche für eine immerwährende Bedingung nehmen. Sie greifen an und
unterschätzen dabei die enorme Widerstandskraft der Menschen in diesen
weiten Räumen. Sie verwechseln den wirklichen Mittelpunkt der Weit mit
dessen Peripherie. Sie verstehen nicht, daß Rußland, der schlafende Riese,
auf seine Zeit wartet.
Zeit: Rußland wartet, mit unglaublicher Geduld und Zeitperspektiven, die so
umfänglich sind wie sein geographischer Raum, unterstützt durch das Paar
aus Katharsis und Apokalypse, versprochen vom orthodoxen Christentum
wie vom orthodoxen Marxismus. Die Revolution wird zur Gelegenheit für
die Letzten, wieder die Ersten zu werden, für die Peripherie, wieder als Zen-
trum eingesetzt zu werden, für das neue Zeitalter (Novaya Vremja), das über
diesem leidenden, aber auch so fruchtbaren russischen Boden eingeläutet
werden soll, der eine bessere Behandlung durch die Geschichte verdient.
Episteme: Doch dies kann nur im radikalen Bruch mit der Vergangenheit ge-
schehen, indem "vor der Revolution/nach der Revolution", "unter dem Kom-
munismus/nach dem Kommunismus" zu modernen Versionen der HöllelPa-
radies-Dichotomie werden. Eine besonders dichotome, ja sogar manichäische
Denkstruktur oder, um uns auf die slawische Version dieses Typs von
Schwarz-Weiß/Gut-Böse-Denken zu beziehen: bogomil. Unter dem Einfluß
der schwachen dialektischen Tendenz im marxistischen und hegelianischen
Denken gab es Anwandlungen von Dialektik in der Art und Weise, in der
man die Sozialgeschichte anging. Doch dieser Trend verschwand sehr bald
zugunsten einer Sichtweise, der die sowjetische Gesellschaft in allen wesent-
lichen Zügen als Endzustand' , ohne autonome innere Dialektik, galt, in dem
nur noch einige wenige Operationen von geringer Bedeutung auszuführen
wären, in technokratischer Manier, von oben herab, inspiriert durch die wis-
senschaftlich-technische Revolution.
424 Zivilisationstheorie

Der dialektische Materialismus wurde undialektisch und der "materia-


listische" Aspekt zum Markenzeichen einer Zivilisation, die die Erinnerung
an ihre kulturellen, nämlich idealistischen Wurzeln systematisch unterdrück-
te. Derart unterdrücktes Wissen kastriert, macht unfähig zur Zeugung neuer,
fruchtbarer Gedanken. Und die sowjetische Gesellschaft wurde ebenso stabil
und unveränderlich wie das zaristische Rußland, jedenfalls für einige Zeit.
Doch war der marxistische Aspekt vergänglich - und wir sind wieder beim
homo russicus.
Natur: Es gibt hier nichts in besonderer Weise Originelles, das nicht beim
homo occidentalis im allgemeinen auch aufträte. Der Mensch hat das Recht
und unter dem Sozialismus geradezu die Pflicht, die Natur zu nutzen und sie
sogar bis zum äußersten auszubeuten. Wie im teutonischen Denken verbindet
sich dies mit einem romantisch verklärten Bild der Natur: der üppige rus-
sische Sommer, Birken, der kleine See, die orthodoxe Kirche, die sich im
Wasser spiegelt, der Himmel mit weißen, dahintreibenden Wolken, die Dat-
scha. Eine gefällige, ja geradezu süchtig machende Natur. Doch einen gelieb-
ten Gegenstand zu ruinieren oder zu schänden, ist im Okzident nichts Neues.
Die Sowjetmenschen haben hier ihren Beitrag geleistet wie alle Okzidentalen
(und einige andere ebenso).
Selbst: Ein schwaches Über-Ich, verbunden mit einem starken Ich und einem
starken Es, bringt individualistische und emotionale Menschen hervor. Der
sowjetische Kollektivismus war Sache der Institutionen, basierte nicht auf ei-
nem kollektiven Selbst. Die Brüder Karamasow in eine Kolchose zu integrie-
ren, machte nie einen guten Sinn und war gewiß nicht einfach. Doch sie ha-
ben überlebt, die Kolchose nicht.
Gesellschaft: Die grundlegende Struktur war die des alten russischen Feuda-
lismus in seiner pervertierten Form, mit Rechten an der Spitze und Pflichten
an der Basis, derart, daß Individuen an der Basis zum Besitz zählten wie
Vieh, daß sie Eigentum derer an der Spitze waren. Letztere mochten erstere
zum Verschwinden bringen, spurlos oder auch nicht. Dies wurde in einer ei-
gentümlichen Vier-Klassen-Struktur der sowjetischen Gesellschaft nachge-
bildet. An der Basis befanden sich die Bauern/Landleute, die zwar die Nah-
rung zum Unterhalt aller produzierten, doch so schlecht behandelt wurden,
daß sie trotz jener weiten Ländereien nicht imstande waren, die Bevölkerung
zu ernähren. Ihre Aufgabe bestand darin, Nahrung zu so geringen Kosten für
den Staat zu produzieren, daß die nächsthöhere Klasse, die Arbeiter, auf-
grund ihrer preiswerten Ernährung ebenfalls mit Minimalkosten für den Staat
entlohnt werden konnten.
Zusammen bildeten diese beiden Klassen die Mehrheit der Bevölkerung.
Es folgten sodann an der Spitze jene beiden miteinander vermischten Grup-
pierungen von Nicht-Handarbeitern: der Partei-Militär-Polizei-Komplex (PMP)
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 425

und der Bürokratie-Staatskorporationen-InteUigentsia-Komplex (BSI) Erste-


re waren die Produzenten von Ideologie und Kontrolle, Belohnung und Be-
strafung, besonders von Bestrafung. Letztere produzierten Planung, Güter
und Dienstleistungen. Doch der Partei-Militär-Polizei-Komplex stand an der
Spitze, war die Troika, die die sowjetische Gesellschaft führte.
Transpersonal: Der orthodoxe Gott wird zur orthodoxen Geschichte, so wie
sie Marx verstand; die Bibel wird Das Kapital; Jesus Christus, der Offenba-
rer/der Erlöser, wird zwischen Marx dem Offenbarer und Lenin dem Erlöser
aufgespalten, welch letzterer im Mausoleum auf dem Roten Platz als "Aufer-
standener" liegt, im Heiligen Grab - symbolisch für Moskau als Hauptstadt
des Erwählten Volkes.
Die Zugehörigkeit zur Kirche wird Zugehörigkeit zur Partei; Bekehrung
bleibt Bekehrung; Erlösung wird zur Revolution - beides verstanden als
vermutlich unumkehrbar. Gottes Schöpfungsabsicht, der Menschheit eine
Chance, die ultimative Gabe des Ewigen Lebens zu geben, wird zur Absicht
der Geschichte: das Versprechen einer letzten bzw. ewigen Form der Gesell-
schaft. Die Kirche bzw. Priester deuten Gott, und die Partei bzw. die Funk-
tionäre deuten die Geschichte und reiten allen anderen voran auf dieser riesi-
gen Welle durch die Zeit, als Symbol der versprochenen Zukunft. Wie der
Glanz der obersten Prälaten das Paradies repräsentiert, so der Glanz des Le-
bens an der Spitze der Partei das weltliche Gegenstück, den Kommunismus.
Und wie die wahren Christen für das Paradies erwählt wurden, so die So-
wjetunion zum ersten Land, das in den Sozialismus eingehen sollte.
Soviel zum homo russicus und seinem Verwandten, dem homo sovieticus.
Was läßt sich nun, darüber hinaus, über den homo stalinensis sagen?

4.4 Homo stalinensis = homo russicus/sovieticus in extremis


Der Stalinismus ist eine extreme Version dessen, was im vorangehenden Ab-
schnitt geschildert wurde. Vielleicht kann von Stalin gesagt werden, er habe
den Gedanken von Rußland als dem erwählten Volk und von der Sowjetuni-
on - einer der russischen Schöpfungen - als dem erwählten Land noch einen
Schritt weiter geführt. Nicht von Gott erwählt, natürlich; sondern von der
Geschichte als das erste Land, das die Stufe des Sozialismus betreten sollte.
Sozialismus in einem Land wurde sein großer Slogan, den er Trotzkis Forde-
rung nach einer sozialistischen Weltrevolution entgegensetzte. Wie konnte
Rußland/die Sowjetunion das erwählte VolklLand bleiben, die Vorhut der
Geschichte, wenn alle anderen sich auf denselben Weg machten, jetzt, genau
zum gleichen Zeitpunkt? Stalin wollte, daß die Stellung als erstes sozialisti-
sches Land ein russisches bzw. sowjetisches Monopol sei. Er wollte diese
Position konsolidieren, so daß die, die später kämen (und er zweifelte nicht
426 Zivilisationstheorie

daran, daß es viele sein würden), die Sowjetunion als Heimat des Sozialis-
mus, verwurzelt in Mutter Rußland, betrachteten und ihr angemessenen Tri-
but leisteten.
Stalin selbst vermochte das "Peripherie-wird-Zentrum"-Theorem zu ver-
körpern. Er stammte aus Georgien, erblickte das Licht der Welt im un-
bedeutenden Gori, nicht weit von Tiflis, als Sohn eines früheren Leibeigenen,
und wurde dennoch im Kreml selbst zum Vater aller Völker der Sowjetuni-
on. Der letzte wurde der erste, Modell jener weiten Landmasse, die auch,
obwohl letzte, die erste werden sollte.
Im Schatten Lenins brauchte Stalin seine eigene Apokalypse, seine eigene
Wiedergeburt. Dies alles bekam er im Großen Vaterländischen Krieg von
1941- 45. Ob er erwartete, daß Hitler angreifen würde oder nicht, mag um-
stritten sein. Der wichtige Punkt ist, wie er die Situation ausnutzte, um sich in
die Position eines Erlöser-Nachfolgers zu katapultieren, wie er die Person
wurde, die jenes Werk würde sichern können, das der große Erlöser Lenin
begonnen hatte, so wie dies Paulus für Jesus Christus tat.
Auch Stalin bemühte sich, den revolutionären Prozeß zu komprimieren in
einem Ausbruch furchtbarer Ungeduld, indem er nicht nur versuchte, Dinge
so schnell wie möglich zum Abschluß zu bringen, sondern schneller als
möglich, so daß der Abschluß zur Unmöglichkeit wurde und er seine eigenen
unaufhörlichen Krisen schuf. Es muß ihn der unbezwingbare Glaube beseelt
haben, daß die Morgendämmerung gekommen sei. Man mußte nur dem Me-
chanismus seinen Lauf lassen, sich der Fesseln entledigen und eine schrei-
ende Bevölkerung ins "Paradies" des Sozialismus stoßen, treten, ob sie es
nun verdienten oder nicht, durch die Auslösung dessen, was ihm als die rich-
tigen Mechanismen erschienen.
Sogar die Natur mußte gezwungen werden, weit über ihre Möglichkeiten
hinaus. Die Genetik war als Wissenschaft nicht sehr hilfreich, sie mußte in
die Lyssenko-Genetik umgewandelt werde, die versprach, daß erworbene
Merkmale ererbt werden konnten - die Beschwörung einer nicht existenten
Natur. Dasselbe geschah mit der Gesellschaft. Industrialisierung überall.
Nichts sollte die Reglementierung und Organisation der LandleutelBauern
um der erwähnten Zwecke willen behindern: keine unabhängige Bauern-
schaft, nichts, was auch nur von Ferne an Gutsherrenart hätte erinnern kön-
nen. Alle Widerstände und Behinderungen wurden zusammengefaßt unter
dem Begriff Kulaken, um ausgerottet zu werden. Und ebenso sollte dem
PMP- und dem BSI-Komplex nichts im Wege stehen: Zwei Drittel des Zen-
tralkomitees der Partei auf dem 15. Kongress von 1927 wurden bis 1939 um-
gebracht. Das gleiche galt für die Intelligentsia: Jeder, der sich nicht or-
thodox/loyal verhielt, sollte verschwinden, sozial gesehen im Gulag und/oder
biologisch, indem er umgebracht wurde. Jeder Widerstand war Widerstand
gegen die Geschichte als solche; wer immer sich der Geschichte widersetzte,
verhielt sich nicht nur antihistorisch, sondern a-historisch, un-menschlich.
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 427

Wie auch anders? Wie könnte sich denn ein normales, gesundes menschli-
ches Lebewesen dem neuen Zeitalter, dem Paradies auf Erden widersetzen?
Wie könnte dies irgendein Wesen tun, es sei denn, es handele sich um Unge-
ziefer? War nicht dieser Widerstand selbst ein Zeichen, fast eine Garantie da-
für, daß es sich um Ungeziefer handelte, das es verdiente, ausgerottet zu
werden? Die definitive Sicherung des Heils war keine Frage der Bekämpfung
von Widerstand, keine Frage deiner Auffassung im Gegensatz zu unse-
rer/meiner, sondern eine Frage der richtigen Auffassung im Gegensatz zum
Wahnsinn. Wahnsinn muß letztlich beseitigt werden, so wie man Schmutz
ganz allgemein los wird: durch Vernichtung, Gulag oder politische Psycha-
trie. Die Kur dauert so lange, bis die richtige Meinung sich durchgesetzt hat.
Der letzte Schritt dieser faschistischen Einstellung gegenüber anderen
menschlichen Lebewesen - wie wirklicher Faschismus nicht nur massiv ge-
walttätig, sondern auch durch eine Art transzendenter Ideologie gerechtfertigt
- war klein: Stalin als Gott, der "Persönlichkeitskult". Ganz sicher machte
Stalin sich allmächtig durch die erschreckende Macht-über-andere, über die
er verfügte, und in großem Ausmaß allwissend durch sein System von Infor-
manten und die Art und Weise, in der die Polizei die eigene Bevölkerung
ausforschte. Als auf so gut wie jeder Mauer zu findendes Photo war er allge-
genwärtig. Doch natürlich scheiterte er in einer durchaus wichtigen Hinsicht.
Gott wird zumindest teilweise als wohlwollend vorgestellt, nicht als stets
übelwollend. Er wird vorgestellt als Verteiler von Gutem, nicht nur von
Schlechtem; er hilft, läßt nicht nur im Stich. Es muß Edelmut und Gnade geben.
Für die stalinistische Epoche senkte sich die Waage zu tief auf die negative
Seite. Daher endete er eher als der Interpret Lenins, als Theologe und Bürokrat.
Nur als Paulus, nicht als Gott, als Nachfolger, nicht als Überlegener. Bis er mit
der Implosion des ganzen Sowjetsystems seine Apokalypse fand.

4.5 Homo americanus = homo occidentalis in extremis

Für jede Analyse des Reaganismus bzw. der umfassenderen Kategorie des
amerikanischen Fundamentalismus brauchen wir die Textur der Kosmologie
des amerikanischen Glaubens ganz allgemein, der Ausstattung des homo
americanus, betrachtet als homo occidentalis in extremis.
Die Welt hat ihr Zentrum eindeutig im Westen und besonders in den Verei-
nigten Staaten, wie zur Zufriedenheit so vieler Amerikaner durch Millionen und
Abermillionen Immigranten, auf der Suche nach einem Neubeginn, einer neuen
Geburt, bewiesen und weiter bestätigt wird durch den Umstand, daß dasjenige,
was amerikanisch ist, dazu neigt, sich über die ganze Welt auszubreiten.
Zeit ist hier versehen mit einem aufwärts weisenden Pfeil: eine nicht sehr
bedeutende, weit abgelegene Kolonie wird zur stärksten Macht der Welt,
428 Zivilisations theorie

obwohl diese letzte Feststellung sicherlich im Lichte solcher Erfahrungen wie


dem Patt in Korea 1950-53, der Niederlage in Indochina 1961-75 oder der
iranischen Geiselkrise modifiziert werden muß.
Und was die Episteme angeht: In nur wenigen Gegenden des Okzidents,
vielleicht mit Ausnahme der früheren Sowjetunion, sind Wissenschaft und
Technik und die wissenschaftliche und technologische Revolution so fest
verankert als die nur von einigen wenigen in Zweifel gezogene Grundlage
des Fortschritts, was dem homo americanus die Vorstellung einflößt, es gäbe
zu jedem Problem irgendwo eine wissenschaftliche/technische Lösung.
Und Gott steht über den Menschen, der Mann über der Frau, einige Män-
ner stehen über anderen Männern, einige Frauen über anderen Frauen; und
sie alle stehen über der Natur. Bei diesem Stand der Dinge ist die Gesell-
schaft als Kombination von Geschlecht und Klasse, Rasse und Nation orga-
nisiert, die manche Errungenschaft und manchen Wettbewerb bereit hält, um
das Selbst - ein gemischtes Über-Ich, ein starkes Ich und ein starkes Es -
dorthin zu stellen, wo es hingehört. Alles zur höheren Ehre Gottes und seiner
Nachfolger: des Staates, des Marktes, der Wissenschaft und der Nation.
Kurzum, es handelte und handelt sich beim homo americanus um einen
ziemlich erfolgreichen homo occidentalis, nicht nur in den eigenen, auch in
den Augen anderer. Die Vereinigten Staaten: Beginn bei Null, die erste mo-
derne Nation, bestehend aus Plebejern, die die eingeborene amerikanische
Bevölkerung durch Völkermord fast ausrotten, eine neue, schwarze Unter-
schicht als Sklaven einführen und eine Mischung aus Sklavengesellschaft
und einer Art Feudalismus errichten, samt aus dem Boden gestampftem
Möchtegern-Adel an der Spitze; dann der Sprung in den Kapitalismus mit
dem jährlichen Import einer dritten Unterschicht frischer Einwanderer... Und
was dann?
Nun, die Welt ändert sich. Wir haben es mit zwei wichtigen geopoliti-
schen Tatsachen zu tun: der Verlagerung des Schwerpunkts innerhalb der
Vereinigten Staaten vom Yankee-Nordosten zum gemischten Südwesten
(von Texas aus westwärts) und gleichzeitig der Verlagerung des Schwer-
punkts der Weltwirtschaft vom jüdisch-christlichen Nordwesten der Welt auf
den buddhistisch-konfuzianischen Südosten. In anderen Worten: von der at-
lantischen Hemisphäre zur pazifischen Hemisphäre, von einer weiß-weißen
christlichen Beziehung Vereinigte Staaten-Europa zu einer weiß-farbigen
Beziehung über eine beträchtliche kulturelle Kluft hinweg.
Der Reaganismus stellte zugleich einen Ausdruck der und eine Reaktion
auf diese beiden Änderungen des Systems dar. Beide Schwerpunktverlage-
rungen hängen ganz eng zusammen. Der Südwesten, vielleicht der Süden
insgesamt, ist derjenige Teil der Vereinigten Staaten, der die moderne Indu-
strie und die neuen Initiativen repräsentiert und der vermutlich eher zum
Wettbewerb mit dem Südosten der Welt fähig ist. Kennedy, Inbegriff des
Nordostens, wurde ermordet im Süden, der Heimat aller nach ihm geWählten
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 429

Präsidenten, von Johnson, Nixon, Carter, Reagan, Bush und Clinton (und von
Newt Gingrich). Doch zugleich ist der Süd(west)en der Vereinigten Staaten
auch eine Heimstatt reaktionärer, selbstgefälliger, immer wieder zu Kreuzzügen
aufbrechender Ideologien und Bewegungen. Der wenden wir uns jetzt zu.

4.6 Homo reaganensis =homo americanus in extremis


Für die Analyse des Reaganismus wird derselbe analytische Rahmen genutzt,
der oben bei der Analyse des Hitlerismus und des Stalinismus als Ma-
krokulturen zur Verwendung kam. Reagan wird nicht als ein "Realist" be-
trachtet, der nur "glaubwürdig" und "entschlossen" erscheinen wollte, son-
dern als Ideologe von größerer Bedeutung wegen des starken US-fundamen-
talistischen, christlichen Elements. Wir gehen daher die Kosmologie rück-
wärts durch und beginnen mit dem Transpersonalen, indem wir uns fragen:
Worin besteht Reagans Beziehung zu Gott, dem Wegweiser, und was hat es
mit Reagan als dem Großen Kommunikator auf sich?
Reagans Begriff von Gott kann als Dreifaltigkeit verstanden werden:
Markt, Gott und Demokratie, und zwar in genau dieser Reihenfolge. Genauer
gesagt: der Glaube an die Magie des Marktplatzes im klassischen Sinne, mit
Marktkräften, die sich "frei" entfalten können, also so, daß der Starke den
Schwachen beherrschen kann. Natürlich ist die Freihandelsdoktrin nicht länger
ohne Einschränkung gültig: Ist ein Land wie Japan geschickter als die Vereinig-
ten Staaten, dann hat es "freiwillige Selbstbeschränkung" zu leisten. Der freie
Handel muß "gemanagt" werden. Können Entwicklungsländer etwas weniger
teuer herstellen, weil Arbeitskräfte preiswert und Rohmaterialien leicht verfüg-
bar sind, dann wird es tarifliche und nicht-tarifliche Einfuhrbeschränkungen
geben. Zudem müssen die Kräfte des Marktes bilateral wirken, zwischen den
(Korporationen der) Vereinigten Staaten und jedem einzelnen Land, und zu ei-
nem bilateralen Handelsüberschuß führen (oder zumindest nicht zu einem De-
fizit). Und sie müssen privat sein, nicht etwa öffentlich.
Reagans Gott ist ein sehr fundamentalistischer Gott, nicht weit entfernt
vom jüdischen Jahwe. Ein Gott der Rache und der Strafe, der auf der Welt-
bühne erscheint, indem er sich des amerikanischen Militärs als eines Instru-
mentes bedient, und der sich in nationalem Rahmen in der Todesstrafe be-
merkbar macht und im "Gott segne dich, Amerika" am Ende jeder Präsi-
dentenrede. Der alte Ausdruck ,jüdisch-christlich" wird oft verwandt; er un-
terstreicht die Integration der Juden in die amerikanische Gesellschaft und
die Bindung zwischen beiden Gemeinschaften, was historisch sicher richtig
ist. Hingegen hört man nie etwas von "christlich-islamisch", obwohl dies hi-
storisch noch richtiger sein könnte, weil diese beiden Religonen sich viel
mehr ähneln.
430 Zivilisationstheorie

Die Juden und der Staat Israel stehen auf der Seite dieses fundamentalisti-
schen US-Gottes; von den Muslimen, üblicherweise als "moslemische Fana-
tiker", "Fundamentalisten" oder "Terroristen" bezeichnet, und von den Län-
dern des Islam im allgemeinen, vom Irak und dem Iran im besonderen kann
man dies nicht behaupten (auch dann nicht, wenn es sich bei ihnen nur weni-
ge Meilen weiter, in Afghanistan, um "heldenhafte Freiheitskämpfer" han-
delt). Kurzum, die ganze Konzeption verstärkt die westliche Front gegen den
Islam.
Reagans Gott ähnelt Khomeinis Allah darin, daß er der Sexualität sehr en-
ge Grenzen zieht. Trotz politischer Differenzen will es so scheinen, als ob
Reagan die Antwort des Westens auf Khomeini wäre. - mit einer ganz ähnli-
chen Neigung zu Rache und Strafe und dem Wunsch nach strengen Regeln
bezüglich der Sexualität und der Stellung der Frau in der Gesellschaft.
Es gibt auch ein weicheres Element im Reaganismus: einen Glauben an
Demokratie oder, genauer gesagt: einen Glauben an Wahlen und gewisse
demokratische Rituale. Wahlen sind kein Problem: Sind es wirklich freie
Wahlen, dann werden die Menschen aus eigenem freien Willen heraus einer
Gesellschaft den Vorzug geben, in der die Kräfte des Marktes die wichtigsten
Kräfte der Gesellschaft sind. Mit anderen Worten: Wirtschaftliche Freiheit ist
die grundlegende Freiheit. Fällt ihre Entscheidung anders aus, dann müssen
sie einer Gehirnwäsche unterzogen, der "Politisierung" durch "Ideologen"
ausgesetzt worden sein, und man muß sie in den Schoß der wahren Kirche
zurückholen.
Wichtig sind nun die Folgen dieses ideologisch-theologischen Musters.
Offensichtlich beinhaltet es gewichtige Implikationen für eine bestimmte
Auffassung vom Raum Welt im Reaganismus. Das wichtigste Element be-
steht natürlich darin, daß die Vereinigten Staaten Gott näher stehen als alle
anderen Länder. Aus diesem Grunde sind die Vereinigten Staaten nicht nur
berechtigt, eine Hauptrolle zu spielen, sie sind hierzu verpflichtet. Auf den
Schauplätzen der Welt erscheinen die Vereinigten Staaten als Gottes eigenes
Land. Auf Geldmünzen und Geldscheinen findet sich in klarem Druck: Gott
ist unsere Zuversicht, wodurch eine wechselseitige Beziehung hergestellt
wird.
Dies bedeutet, daß die Vereinigten Staaten ebenso wie ihr Präsident als ein
Instrument Gottes die Pflicht haben, gottähnliche Züge anzunehmen. Zu die-
sen gehört die Pflicht, nicht nur allmächtig, sondern auch allgegenwärtig und
allwissend zu sein. Um allwissend zu sein, muß das Land Spionagesatelliten
im Weltraum und Spionageorganisationen überall in der Welt haben, wie das
FBI, die CIA, die NSA und das Nationale Amt für Aufklärung (National Re-
connaissance Office). Um allmächtig zu sein, muß das Land einfach auf allen
möglichen Kriegsschauplätzen und in allen möglichen Waffen systemen
überlegen sein. In Reagans Epoche gab es in all diesem nur eine Lücke:
land gestützte Mittelstreckenraketen in Europa, das Thema zwischen 1979
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 431

und 1983 - bis Gott Seinen Willen bekam. Das Sowjet-"Monopol" - eine
Wertung, die sowohl die eigenen see- und luftgestützten Systeme wie dieje-
nigen Frankreichs und des Vereinigten Königreichs unberücksichtigt ließ -
wurde eliminiert, mit der Null-Null-Lösung als einzig akzeptabler Alternati-
ve, die schließlich auch herauskltIIJ..
All dies verbindet sich mit dem Umstand, daß eine monolithische Auffas-
sung von Gott eine ebenso monolithische Konzeptualisierung Satans impli-
ziert. Es ist der Teufel, der alle drei Elemente der Reaganschen Dreifaltigkeit
verwirft. Die Sowjetunion war ein sozialistisches Land mit Planung statt
Markt, offiziell atheistisch und eine Diktatur ohne Wahlfreiheit in allge-
meinen Wahlen. Dies heißt, daß es in der Welt zwei extreme Länder gab: die
Sowjetunion, nur schwarz und schlecht und in einer berühmten Rede von
Reagan geradezu als das Zentrum des Bösen definiert, und die Vereinigten
Staaten, nur weiß und gut und aus diesem Grunde ausersehen, eine höchst
wichtige, führende Rolle in der Weltgeschichte zu spielen. Dies bedeutet aber
nicht, daß man nicht auch in den Vereinigten Staaten Elemente des Bösen
finden könnte, Menschen, die an "große Bewegungen", und Menschen, die
nicht an Gott glauben, und totalitäre, antidemokratische Kräfte. Kommuni-
sten in einem weiten Sinne sind, wie Satan, ebenfalls allgegenwärtig.
Es scheint, als habe Reagan selbst in seinem Leben zwei wichtige Trauma-
ta erfahren: durch die "Kommunisten" in der Schauspielergewerkschaft mit
ihrem Machtstreben, und, nachdem er mehr Erfolg hatte, durch das Big Go-
vernment, das ihm, in Form von Steuern, ans Geld wollte. Reagan sah wahr-
scheinlich sich selbst bzw. sein Leben an als eine Verkörperung der Erfah-
rung des Bösen, einer Erfahrung, die notwendig und hinreichend zum
Verständnis der Werke des Teufels war.
Die Sowjetunion als "gleichwertig", als eine von "zwei Supermächten" zu
betrachten, wäre einfach Gotteslästerung gewesen. Wie könnte das Böse mit
dem Guten gleichgesetzt werden? Zusätzlich spielt der Teufel ein Spiel:
Domino. In allen Teilen der Welt versucht er, Länder zu übernehmen, Ket-
tenreaktionen in Gang zu setzen, die die USA erreichen, sogar in Washington
D.C. enden könnten, sofern sich die Vereinigten Staaten nicht als allwissend
und allmächtig genug erweisen.
Aus dieser überaus deutlichen Konzeptualisierung folgt eine ebenso deut-
liche Politik. Auf der Welt gibt es nur einen wirklichen Feind. Geradeso wie
Hitler glaubte auch Reagan, daß man die Bevölkerung nicht mit einem
komplizierten Feindbild verwirren sollte. "Es ist ein und derselbe Feind, dem
wir in Grenada und im Libanon gegenüber stehen", sagte er, und nicht etwa
1.000 Millionen Mohammedanern und 2 Milliarden Armen oder 300 Millio-
nen Südamerikanern. Nein, es ging um die Sowjetunion, oder genauer: um
Moskau, oder noch genauer: um den Kreml.
Die gottgegebene Rolle der Vereinigten Staaten besteht darin, alles zu
wissen und Bestrafungen dort zu verhängen, wo dies gerechtfertigt ist, um
432 Zivilisations theorie

die Menschen gegen die Werke des Teufels zu schützen. Diese Einstellung
ähnelt derjenigen, der man während der Kreuzzüge, zwischen 1095 und
1291, begegnen konnte. Deren gab es mindestens acht, z. T. in gerade jenem
Teil der Welt, in denen auch Reagan aktiv war, und dann Bush: in Westasien
(Syrien, Libanon, Palästina, Irak). Auch damals waren die Mohammedaner
die Teufel. Freilich hat der Teufel in der Zwischenzeit sein Einsatzgebiet er-
weitert, so daß die Vereinigten Staaten in der Karibischen See (Grenada, Cu-
ba, Panama) tätig werden mußten, in Mittelamerika (Guatemala, EI Salvador,
Nicaragua), in Nordafrika (Lybien, Tschad) und in der Golfregion (wegen
des Öls, und auch gegen den Iran und den Irak). Und morgen?
Der Teufel ist aktiv. Es fällt nicht leicht, das Instrument Gottes zu sein. Es
bedarf einer Menge Geld, selbst wenn sich als Folge ein Haushaltsdefizit
und/oder hohe Zinsen oder sogar eine ökonomische Krise einstellen. Diese
ökonomischen Kalamitäten sind ebenfalls Werke des Teufels, wenn auch
eher mittelbar, indem sie die Kräfte des Guten zwingen, sich über Gebühr
anzuspannen.
All dies berührt die Konzeptualisierung der Zeit. Reagan war nie ein be-
dingungsloser Optimist. Als Apokalyptiker glaubte er an die Möglichkeit von
Armageddon - im Unterschied zu anderen Präsidenten der Vereinigten Staa-
ten nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie alle betrachteten den Kommunismus als
böse, hielten jedoch ein anderes Übel für noch schlimmer, nämlich einen
weltweiten atomaren Holocaust.
Die Epistemologie des Reaganismus kann nur im Lichte seiner Trinitäts-
auffassung verstanden werden. Im Kampf mit dem Teufel kommt natürlich
die erste und wichtigste Aufgabe dem Militär zu, die Ausübung gottgleicher
Gewalt bis hin zur Möglichkeit der Verwüstung' (im Sinne der Lutherbibel):
Ausrottung mit atomaren Waffen, sollte sich dies als notwendig erweisen.
Um dies fundamentalistische Gesamtbild der Welt, mit Gott, den Men-
schen und der Natur zu verstehen, müssen wir eigentlich nur die Schöpfung
im Sinne der christlichen Bibel untersuchen, die Genesis. Sie verweist ein-
deutig auf eine Vier-Klassen-Gesellschaft. Gott steht an der Spitze, allwis-
send, allgegenwärtig und allmächtig. Er hat alles verstanden und alles er-
schaffen. Unten ist Natur, und dazwischen stehen die Menschen, zweigeteilt:
die Männer und unter ihnen die Frauen. Wo steht Reagan selbst? Sehr hoch
oben, unter den Männern, als Erster in der Ersten Nation der Welt, also ganz
nah bei Gott selbst. Auch glaubte er daran, daß Frauen stärker Teil der Natur,
und daß Männer göttlicher seien.
Ebenso wie Gott mit der Natur tun kann, was er will, so verfuhr auch der
Reaganismus, der seinem Wesen nach antiökologisch und gegen die Ökolo-
gen eingestellt war. Die Gesellschaft war dem Darwinismus entsprechend
aufgebaut, bot Wettbewerb für starke Egos in einem schwachen sozialen
Netz. Führte dies dennoch zu Elend, dann sollte christliche Caritas das Heil-
mittel sein. Ob dies System funktioniert oder nicht, ist kein empirisches Pro-
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 433

blem. Das System ist einfach das richtige, und was sich aus ihm ergibt, ist
ebenso richtig, auch wenn es sich für viele Menschen als unangenehm er-
weist. Das ist ihr Fehler, nicht der des Systems. Arbeite hart, das ist alles. Ar-
beite nicht, werde krank oder obdachlos, und du verdienst es, an den Folgen
zu leiden.
Es gibt in all dem eine gewisse Konsistenz. Der Reaganismus besteht in
der Ausarbeitung grundlegender US-amerikanischer Dogmen, die er dem
Nuklearismus und dem ökonomischen Niedergang der Vereinigten Staaten
anpaßt. Am wichtigsten sind die Maßgaben für das wirtschaftliche, gesell-
schaftliche, politische und militärische Handeln, die Hinweise darauf, wie der
Raum Welt in Begriffen von Gut und Böse organisiert ist, und die Vorstel-
lung, daß der Holocaust vielleicht nicht vermeidbar und nicht notwendiger-
weise das schlimmste aller möglichen Übel sei. An der Spitze stehen die
"Magie des Marktes", eine fundamentalistische Konzeptualisierung Gottes
und die Demokratie.
Während seiner Präsidentschaft verpaßte Reagan den Vereinigten Staaten
eine komplette amerikanisch-fundamentalistische Ideologie. Natürlich war er
nie Ideologe in dem Sinne, daß er ein Intellektueller gewesen wäre, doch war
er es in dem wichtigeren der Verwendung der richtigen Metaphern für das
amerikanische Volk. Die führende Ideologie eines sehr antiintellektuellen
Landes muß selbst antiintellektuell sein. Die Vereinigten Staaten sind ein
Land, in welchem Intellektuelle, die zumeist im Nordosten leben, auf einem
gesellschaftlichen Nebengleis kaltgestellt werden, in einem Ghetto, das man
Campus nennt, und die auf das, was geschieht, mit Furcht, Bestürzung und,
in einem gewissen Ausmaß, auch mit Ehrfurcht schauen.
Die Vereinigten Staaten sind ein sehr ,außengeleitetes ' Land, in dem das
Individuum großen Respekt empfindet vor der Mehrheit - ein Über-Ich für
viele. Proteste dürften sich nicht gegen die Mehrheit richten, sondern gegen
konkrete Menschen oder anonyme gesellschaftliche Kräfte und Strukturen, um
dann die Mehrheit zur Teilnahme am Kampf einzuladen. An kurzfristigen Be-
wegungen, die einzelnen Themen gelten, nehmen vielleicht viele Menschen
teil, doch nicht an solchen, die Überzeugungen der Mehrheit herausfordern.
Mit dieser Struktur ist der Reaganismus sichtlich kompatibel; er ist die
eindeutige Artikulation der Kräfte, die der US-Struktur und -Kultur bereits
eingebaut sind. Die Annahme war daher ein Irrtum, er würde in dem Au-
genblick verschwinden, in dem Reagan selbst von der politischen Bühne ver-
schwand. Reaganismus war ein fundamentalistischer Ausdruck beider Ten-
denzen, der eines niedergehenden Reiches wie der des neuen Schwungs, der
im Lande durch die Verlagerung des wirtschaftlichen und demographischen
Schwerpunkts Gestalt annahm, um diesen Niedergang zu bekämpfen. Was
sich im amerikanischen Südwesten abspielt, ist so neu wie roh. Es ist die
Meuterei der Peripherie des Landes gegen den alten Mittelpunkt oben im
Nordosten.
434 Zivilisations theorie

Gerade als Peripherie haben die Menschen eine fundamentalistische


Ideologie im Zeichen des Reaganismus entwickelt, mit absolutistischen Ka-
tegorien von Gut und Böse, Weiß und Schwarz, sehr übertrieben, und einem
Willen zur Macht mit Überlegenheit als dem leitenden Prinzip, wodurch man
die andere Seite als böse und sich selbst als vollkommen oder jedenfalls der
Vollkommenheit sehr nahe betrachtet. Der Struktur des militaristischen, kor-
porativen Kapitalismus mit seiner Gier nach (strategischen) Rohmaterialien,
Märkten und Profiten wurde hier ein Element Ideologie, ja sogar Theologie
beigegeben, das in seinem Kampf mit dem Bösen unversöhnlich ist. Und
Bush und Gingrich traten in diese Fußstapfen.
Doch selbst der amerikanische Südwesten wird diese Art Absolutismus
mit der Zeit aufgeben und Ideologien entwickeln, die typischer für das Zen-
trum, diskreter, abgestufter, sanfter und weniger selbstgerecht sind, doch un-
bedingt bemüht, den Status quo zu erhalten. Hingegen begnügt sich der Rea-
ganismus nicht mit dem Status quo. Nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern
die Welt im allgemeinen und die Vereinigten Staaten im besonderen sollen ei-
ne Materialisation seiner Dreieinigkeit werden, gesteuert von den Kräften des
Marktes, inspiriert durch den jüdisch-christlichen Gott, und dies alles gedeckt
durch eine in freien Wahlen bestätigte Legitimierung durch das Volk.
Man vergleiche dies mit all den anderen politischen Dimensionen, die zu-
vor erwähnt wurden, mit den Kategorien, die viele Menschen beschäftigen,
wie Antiimperialismus, Antineokolonialismus, Befreiung von Hunger und
Elend, mit dem Versuch, Herr im eigenen Haus, selbständig zu werden, dem
Versuch, eine egalitäre Gesellschaft, eine Gesellschaft zu haben, in der
grundlegende Bedürfnisse, Autonomie und Gleichheit dieselbe wichtige
Rolle spielen wie Reagans Dreifaltigkeit. Nichts von alledem im Reaganis-
mus. Ganz im Gegenteil hat all dies einen gewissen Beigeschmack der Wer-
ke des Teufels, denn auch der Teufel spricht von solchen Sachen. Dies läßt
den Reaganismus nicht nur unmenschlich, sondern auch intellektuell eher lä-
cherlich erscheinen, und gerade aus diesem Grunde war es unvorstellbar, daß
er über eine längere Zeit hinweg die herrschende Ideologie bleiben würde.
Doch ,amerikanischer Fundamentalismus' (homo americanus fundamen-
taUs = homo americanus in extremis) ist eine umfassendere Kategorie als
,Reaganismus' und wurde im großem Maße auch von Reagans Nachfolger
vertreten. Er wird als latente Kosmologie erhalten bleiben und sich in Kri-
sen zeiten wahrscheinlich wieder bemerkbar machen.

4.7 Schluß: Was können wir machen?

Wir befassen uns hier mit Tiefenkultur, und diese betrachte ich als das wich-
tigste Grenzgebiet der Friedensforschung. Anders als die Probleme politi-
Spezifizierungen: Hitlerismus, Stalinismus, Reaganismus 435

scher, militärischer und ökonomischer Macht, die - zumindest in einem ge-


wissen Maße und auf dem Papier368 - handhabbar erscheinen, gehören die
Probleme tiefenkultureller Macht nicht zu dieser Sorte. Kap. 5 soll diesen
Sachverhalt weiter erforschen, ohne fürs erste der Größenordnung der Pro-
blematik gerecht werden zu können. 369
Vieles hängt jedoch davon ab, wie wir uns den Problemen nähern. Da muß
man nun zunächst sehen, daß es im Vorhergehenden nicht um die Biographi-
en von drei speziellen Männern ging: Diese sind nur Verkörperungen eines
verborgeneren Phänomens. So wie hier entwickelt, bezeichnet homo stali-
nensis z.B. weder die Person Stalin noch den Stalinismus als eine explizite
Ideologie, sondern den Typ von Person, dessen Tiefenkultur Stalin wie den
Stalinismus als natürlich und normal - und somit aktiver Unterstützung
würdig - erscheinen läßt.
Zum zweiten geht es auch nicht darum, daß die drei Genannten dauernd
Gott spielten, einer extrem manichäischen WeItsicht anhingen und mit Ge-
nozid drohten oder diesen durchführten. Entscheidend ist, daß alle drei in ei-
nem kulturellen Klima operieren konnten, in dem man ihre Vorstellungen
nicht nur als verzeihlich ansah, sondern sie als politisch korrekt betrachtete
und enthusiastisch aufgriff.
Zum dritten aber müssen wir die Bedeutung der Worte "in extremis" klären.
Sicher ging es in diesem Kapitel um extremistische Fassungen extremer Ver-
sionen der Tiefenkultur von Okzident I. Zugleich aber unterscheiden sich alle
nicht so sehr voneinander. Die grundlegende Logik von Okzident I und die der
sechs hier untersuchten "extremeren" und "höchst extremen" Tiefenkulturen ist
identisch. Hat man Okzident I nur tief genug internalisiert, wird man einen
Schritt in die radikalere Richtung vielleicht nicht einmal bemerken; hat man
diesen erst einmal internalisiert, wird der nächste kaum noch auffallen. Es ist
ein Fehler, Extremismus immer nur mit schlechten Zeiten und bösen Menschen
in der Geschichte zusammenfallen zu lassen. In Wirklichkeit dürfte derselbe
Boden auch wieder dieselbe Frucht tragen, und dies wieder und wieder.

368 Ich verweise beispielhaft auf Tabelle 0.1 in der Einleitung dieses Buches. Übrigens
sollte man die Tatsache, auf dem Papier eine Lösung gefunden zu haben, nicht un-
terschätzen; damit fangt gewöhnlich alles an.
369 Viel mehr wird mein bald erscheinendes Buch A Theory of Civilizations enthalten.
5 Explorationen: Gibt es Therapien für
pathologische Kosmologien?

5.1 Einführung: der geopolitische Rahmen


Der Leser ist dazu eingeladen, Tabelle 4.6 auf der nächsten Seite zu betrach-
ten, in welcher unsere Welt als in sieben Sphären oder Regionen unterteilt
dargestellt wird, von denen sechs durch wohlbekannte Hegemonen geführt
werden. In einem anderen Zusammenhang370 habe ich begründet, inwiefern
dieses Bild der Welt als eines internationalen Feudalsystems eine gute Ein-
führung bietet in das Nachfolgesystem des Kalten Krieges, die Neue Welt-
ordnung. Das west-östliche System war ein bilaterales; diese hingegen be-
steht aus sechs oder sieben parallelen unipolaren Systemen mit ihren multi-
polaren Verwicklungen. Ein Hegemon ist allerdings der primus inter pares,
der Hegemon der Hegemonen, die Vereinigten Staaten von Amerika. Und
die Region Nr. VII, die ArabischlIslamische Welt hat keinen Hegemon. Ver-
suchte der Irak bzw. Saddam Hussein, dies zu werden?371
Mit der Tabelle 4.6 versuche ich, die Motive dieser Supermächte zu be-
schreiben, von denen drei über globale Reichweite verfügen (die USA, die
EGIEU und Japan), drei andere nur über regionale (Moskau, Peking, Indien);
drei von ihnen sind christlich, eine shintoistisch, eine konfuzianisch, eine
hinduistisch und eine muslimisch. Im allgemeinen werden bestimmte moti-
vationale Syndrome, die im kollektiven Unterbewußten eingebettet und hier
als Kosmologie bezeichnet sind (im Gegensatz zur bewußt gegenwärtigen
Ideologie), die üblichen ökonomischen und militärischen Potentiale nach sich

370 "The Emerging Conflict Formations", in: Tehranian. Majid und Katharine: Re-
structuring for World Peace, Cresskill, NJ 1992.
371 Wie die meisten anderen Menschen (wie Avicenna bemerkt hat) versuchte Saddam
wahrscheinlich, mehr als ein Ziel gleichzeitig zu erreichen. Doch zweifellos war die
Rivalität in der Arabischllslamischen Welt zwischen den alten Reichen, mit ihren
Wurzeln in Damaskus, Bagdad, Kairo, Teheran, Istanbul und, in etwas geringerem
Ausmaß, in Saudi-Arabien, von besonderer Bedeutung. Der Irak grenzt an vier von
ihnen, liegt aber zentraler als irgendein anderes Land des Islams.
438 Zivilisationstheorie

ziehen. 372 Mit anderen Worten wird hier die allgemeine These vom Primat
der Kultur oder der Zivilisation vertreten und nicht die marxistische These
vom Primat der Ökonomie, die "realistische" These des militärischen Primats
oder die liberale These vom Primat politischer Institutionen (wie sie z.B. in
der Dichotomie von Demokratie und Diktatur konzeptionalisiert ist)373. Fer-
ner werden die Zivilisationen in diesem Kapitel hinsichtlich ihres Auser-
wähltseins, ihrer Mythen und Traumata charakterisiert. 374

Tabelle 4.6: Geopolitik: kulturelle Faktoren in einer 7-poligen Welt


Die Pole Auserwähltheit Die Mythen Die Traumata
I. Der US-Pol durch Gott die Unipolarität Vietnamsyndrom
als Neu-Kanaan nach dem 2. Weltkrieg Geiseln von Teheran
11. Der EU-Pol Wiege der Europa als Zweiter Weltkrieg
Zivilisation das Weltzentrum Nationalsozialismus
Faschismus
Kommunismus
Verlust der Imperien
Junior-Partner der USA
111. DerPol durch Amaterasu- dai-to-a der verlorene Krieg im
Japan Pazifik
Omikami nuklearer Holocaust
IV. Der Pol Mos- durch die Ge- Bipolarität Rußland Zweiter Weltkrieg Stali-
kau schichte nismus
(betrogen) Implosion der
Sowjetunion
V. Der Pol Pe- ist einfach vollkommene Demütigung von den 40er
king
auserwählt Autonomie Jahren des 19. bis zu den
40er Jahren des 20. Jh.s
VI. Der Pol In- Wiege der Hindu raj Kolonialismus
dien Zivilisation Britischer raj Unterentwicklung
VII. Der Pol durch Allah die islamische Kreuzzüge, Zionismus
Islam Vergangenheit Kommunismus,
die arabische Nation Konsumismus
das Ottomanische divide et impera
Reich
innere Spaltungen

372 Dies ist ein grundlegendes Thema meines im Erscheinen begriffenen Buches World
Politics of Peace and War, das sich mit Machtgleichgewichten, Machtprofilen und
der Beziehung zwischen diesen beiden befaßt.
373 Staaten neigen jedoch dazu, sich in etwa auf die gleiche Art und Weise zu verhalten,
wenn sie dieselbe Stellung im internationalen System einnehmen, unabhängig von
ihrer politischen Binnenstruktur. Vielleicht müssen demokratische Eliten mehr Phan-
tasie entfalten, um kriegerische Absichten zu legitimieren.
374 Um der größeren Nähe zur gegenwärtigen Geopolitik willen.
Explorationen 439

Um es zu wiederholen: Die Kosmologie ist der Code, das Programm einer


Zivilisation. Gewöhnlich wird sie besser erfaßt von Außenstehenden als von
Insidern, für die alles die Kosmologie betreffende, der sie umgebenden Luft
vergleichbar, zu natürlich und zu normal ist, um eigens verbalisiert zu wer-
den. Eine Zivilisation ist eine Makro-Kultur, die eminente Bereiche in Raum
und Zeit überspannt, wie im Falle der zusammengehörigen okzidentalen
Zivilisationen, mit ihrer gemeinsamen Verwurzelung in einer Religion des
Buches, kitab: Judentum, Christentum, Islam. Zwischen einer Okzidentalen
Zivilisation im Modus der Expansion bzw. Okzident I (griechisch-römische
Zeit und Moderne) und einer Okzidentalen Zivilsation im Modus der Kon-
traktion oder Okzident 11 (Mittelalter) zu unterscheiden, mag jedoch interes-
santer sein, alldieweil diese Unterscheidung für alle drei abrahamitischen
Religionen, aufgrund derer jeweiligen harten und weichen Aspekte, Sinn
macht. Hiervon haben wir dann unterschieden die Indische (Hindu-), die
Buddhische (buddhistische), die Sinische (chinesische) und die Nipponische
(japanische) Zivilisation.
Die Problemstellung lautet, wie Zivilisationen Nationen im allgemeinen
und nationale Führer im besonderen im Hinblick auf Muster des internationa-
len Verhaltens programmieren; dies soll nicht heißen, daß andere Aspekte
unwesentlich wären, sondern nur, daß die Kultur den Schwerpunkt dieses
Kapitels bildet. Zu diesem Zweck habe ich drei Dimensionen einer Kultur
ausgewählt:
- Auserwähltheit, die Vorstellung, ein Volk zu sein, das durch transzendente
Kräfte vor allen anderen erwählt wurde, dafür ausgestattet, ja, dazu ge-
salbt, anderen ein Licht zu sein, berechtigt und verpflichtet auch, diese zu
beherrschen;
Traumata, ein von anderen, vielleicht aus Neid, geschlagenes und verletz-
tes Volk zu sein, von Feinden, die überall lauern und darauf warten, erneut
zuzuschlagen;
- Mythen vergangenen und zukünftigen Ruhms, nah oder fern, jedenfalls
real.
Andere Forscher würden andere Faktoren unterstreichen. Doch diese drei, die
in der Religion und einer bestimmten Geschichte wurzeln, müssen entschei-
dend sein als konkreter Ausdruck der sieben grundlegenden Kosmologiedi-
mensionen. 375 Zusammen bilden sie ein Syndrom, das hier einfach als der

375 Natur, Person, Gesellschaft, Welt (Raum), Zeit, das Transpersonale und Episteme
sind stärker ,philosophische' Kategorien (drei davon stammen von Kant), während
Auserwähltheit, Traumata und Mythen eher psycho-sozial zu verstehen sind. Offen-
sichtlich bezieht sich Auserwähltheit in dem Sinne auf das Transpersonale, daß hier
eine direkte Beziehung zwischen den erwählten Personen und Gesellschaften und
dem Transpersonalen hergestellt wird, wohingegen Traumata und Mythen unsere
440 Zivilisationstheorie

"Auserwähltheit-Mythos-Trauma"-Komplex, abgekürzt AMT, bezeichnet


wird oder mit einem Begriff, der vielleicht mehr Assoziationen wachruft: das
kollektive Megalo-Paranoia-Syndrom. Erwähltheit induziert kollektive Grö-
ßenempfindungen im Vergleich mit allen anderen. Dies wird dann in die
Mythen einer ruhmreichen, wieder zu erschaffenden Vergangenheit einge-
baut, während die Gegenwart in der Schwebe zwischen der ruhmreichen Ver-
gangenheit und der ruhmreichen Zukunft bleibt. Der Mythos ist die Brücke
zwischen dem transzendenten Moment der Erwähltheie76 , jenem Augenblick,
in dem die Gottheit ihr Du bist mein aussprach, und der konkreten Utopie auf
dieser Erde. Die Geschichte kann zu ihrer eigenen Validierung verwendet
werden: "Da wir diese Vergangenheit hatten, müssen wir auserwählt sein",
zusätzlich zu der Überzeugung: "Da wir auserwählt wurden, hatten wir diese
Vergangenheit." Doch auch die Traumata können als Validierung der Vor-
stellung der Erwähltheit benutzt werden: "Wir haben soviel gelitten, daß dies
Leiden eine tiefere Bedeutung haben muß, die sich in einer positiven, ja,
ruhmreichen Zukunft enthüllen wird." Für die Zukunft werden dann neue
Traumata erwartet, mit einer Mischung aus Angst und lustvoller Antizipie-
rung sich selbst erfüllender Prophezeiungen, die so ihre Wahrheit erwei-
377
sen.
Die drei Teile des Syndroms verstärken einander auf sozialer Ebene und
nicht nur als Ideen. Völker, die auserwählt sind, anderen ein Licht zu sein 378
und sie sogar zu beherrschen, werden eine endlose Kette von Traumata erle-
ben. Nach einer anfänglichen Phase des Erfolgs, die das Rohmaterial für
Mythen liefert, wird Widerstand einsetzen und zu Traumata führen. Andere
Völker sind vielleicht an diesem Licht bzw. daran, von anderen konditioniert
zu werden, nicht interessiert und ziehen es vor, ihr eigenes Licht und ihre ei-
gene Ursache zu sein. Sie nehmen nicht hin, daß transzendente Kräfte durch
irgendwelche andere erwählte Völker herrschen sollen, da sie nicht Teil die-
ses Bundes sind, oder weil sie selbst auserwählt sind, oder weil sie die ganze

Kultur und deren Träger, die Nationen, im konkreten Raum- und Zeitgeschehen
gründen lassen, im Wo und Wann der jeweiligen Nation.
376 Der okzidentale Archetyp ist die jüdische Auserwähltheit, der orientalische Archetyp
die japanische.
377 Leo Baeck, der berühmte deutsche Rabbi, definierte die jüdische Besonderheit fast in
Begriffen einer "Erwähltheit zum Leiden", in seinem The Essence of ludaism, New
York 1961. Was mag dies wohl für einen deutschen Juden bedeutet haben, der von
der SS abgeführt wurde? Die Zeit des Leidens ist gekommen?
378 Wie Israel (vgl. Leo Baeck (1961, S. 67): "AII Israel is the messenger of the Lord,
the ,servant of God', who is to guard religion for all lands and from whom the light
shall radiate to all nations", oder ganz einfach in der Bibel Numeri 23, 9 oder Exodus
34, 24), die USA (lohn Winthrops und Ronald Reagans "City Upon a Hili"), Nazi-
Deutschland.
Explorationen 441

Idee des Auserwähltseins im besten Falle als krankhaft, im schlimmsten als


Machtstrategie betrachten. 379
Das auserwählte Volk wird schmollen: Mein Gott, warum hast Du mich
verlassen, und Gründe für die erfahrenen Traumata überall, außer in der ei-
genen Vorstellung der Erwähltheit, finden; daß dies der Grund sein könnte,
wird als "dem Opfer die Schuld geben" vom Tisch gefegt. 380 Wie könnten sie
die Traumata ohne diesen Trost ertragen? In einem manichäischen Rahmen
bedeutet es die Negation der Erwähltheit, in einem Drama mit transzenden-
tem Autor das nicht auserwählte, ja, das verworfene Volk zu sein. Solch ein
Volk wird nicht lange überleben, da es vorgefertigte Erklärungen für Trau-
mata hat und sich selbst erfüllende Mythen des vorherbestimmten Nieder-
gangs und Falls. 38t
Ein Volk, das am AMT-Komplex leidet, kennt üblicherweise zwei sich
nicht widersprechende Standarderklärungen dafür, warum sich der transzen-
dente Wille noch nicht erfüllt hat und die Zeit des Ruhms noch nicht ange-
brochen ist: "Es sind gleich starke, doch einander entgegengesetzte Kräfte
am Werk,,382 , und: "Das auserwählte Volk ist vom transzendenten Willen ab-
gewichen" und hat nicht länger diesen Rückhalt. 383 Besteht der transzendente
Wille darin, andere zu beherrschen, dann führt die Rückkehr auf den Weg
zur Rechtschaffenheit sogar zu einer noch größeren Traumatisierung; dies ist
der circulus vitiosus, den die Hegemonen (und Israel) sich selbst gebaut ha-
ben. 384
Der Schwerpunkt liegt hier auf dem auserwählten Volk mit positiven
Mythen und negativen Traumata, die ihnen einen Sinn für Rechte und Pflich-
ten vermitteln. Die Diagnose der kollektiven Megalo-Paranoia beruht auf
dem Theorem der Auserwähltheit und auf Mythen, die den Größenwahn näh-
ren sowie auf Traumata, die der paranoiden Seite derselben Münze Nahrung
geben; diese Metapher deutet auf die Untrennbarkeit der beiden Aspekte. Der
Größenwahnsinnige ist stets auf der Hut vor Zeichen der Respektlosigkeit,

379 Dies sind meiner Erfahrung nach im Nahen Osten die drei hauptsächlichen Interpre-
tationen der Palästinenser. Außerdem ziehen es die Palästinenser vor, ihr eigenes
Licht zu sein.
380 Ein häufiges Argument im amerikanisch-jüdischen politischen Diskurs.
381 Es scheint, daß die Sumerer zu dieser Kategorie gehörten, überzeugt von der eigenen
Vortrefflichkeit, aber auch vom bevorstehenden eigenen Untergang.
382 Demzufolge muß Satan stark sein, vielleicht wie Gott in vielen Erscheinungsformen,
doch als eine Einheit. Die einzige Gegenkraft, die effektiv ein Gegengewicht gegen
den Monotheismus bilden kann, ist der Monosatanismus.
383 Der verlorene Krieg in Vietnam paßte für fundamentalistische Amerikaner in dieses
Denkraster, während der Golfkrieg die Bestätigung dafür war, daß Gott ihnen seine
Gunst weiter gewährte.
384 Von den sechs Hegemonen sind drei global (USA, EU und Japan) und drei regional
(Moskau, Peking und Indien). Israel weist nur einige militärische Charakteristika ei-
nes subregionalen Hegemons auf.
442 Zivilisations theorie

und er vermeidet Situationen, die die Illusionen der eigenen Größe falsifizie-
ren könnten. 385 Der Paranoide muß rechtfertigen, warum er so häufig Ge-
genstand von Feindseligkeiten ist, und warum sein außerordentliches Talent
so wenig Anerkennung erfährt. Solche Menschen oder Völker können sehr
gefährlich werden, wenn sie die sofortige Bestätigung dafür suchen, daß ihre
Talente anerkannt werden. 386

5.2 Individuumszentrierte Therapie


Individuen, die gesellschaftlich als unter Geisteskrankheiten leidend definiert
werden, haben eines gemeinsam: soziale Inkompetenz, so wie diese von der
herrschenden Kultur jener Gesellschaft definiert wird. Inkompetenz ist eine
gesellschaftlich inakzeptable Form der Devianz, die als ungewollt betrachtet
wird in dem Sinne, daß ein Individuum nicht durch einen Willensakt kompe-
tent werden kann. Ist die Inkompetenz gewollt, dann wird das Individuum als
böse betrachtet, als Krimineller, der bestraft werden muß; wird die Inkompe-
tenz als ungewollt betrachtet, dann ist er ein Patient, der der Therapie be-
darf. 387 Doch ,gewollt/ungewollt' ist eine Frage der Beurteilung, in unseren
Tagen manchmal des Urteils einer Jury. Es gibt keinen scharfen Unterschied,
und die bei den Reaktionen unterscheiden sich auch nicht sehr voneinander.
Wir wollen das Standard-Repertoire an Reaktionen auf geistige Verwir-
rung einteilen in Soziotherapie (die Veränderung des Sozialstatus der devian-
ten Person), Somatherapie (die Veränderung des Körpers der devianten Per-
son) und Psychotherapie (die Veränderung der Psyche der devianten Person).
Es ist offensichtlich, daß die drei Kategorien einander nicht ausschließen; je-
de Reaktion in einer von ihnen hat Auswirkungen in den beiden anderen
Arenen.
Die Standard-Soziotherapie würde Tötung, Verbannung und Einweisung
mit umfassen, mit anderen Worten physische und zwei Arten gesellschaft-

385 Dies ist ein Hauptpunkt der Dantziger-Psychotherapie, derzufolge viele Patienten
(1.) die Vorstellung haben, andere in irgendeiner Art und Weise zu übertreffen, (2.)
enorm darunter leiden, wenn irgendetwas auf das Gegenteil hindeutet und (3.) ihr
Bestes tun, solche Situationen zu vermeiden, was das gesellschaftliche Leben er-
schwert. Vgl. S. und R. Dantziger: You Are Your Own Best Counselor, Honolulu, HI
1989
386 In dieser Hinsicht war der Golfkrieg ein guter Krieg, da er sowohl Saddam Hussein
als auch George Bush, dem Irak und den Vereinigten Staaten, umfassende Gelegen-
heiten bot.
387 Dies war ein Kernpunkt der Untersuchung von Ähnlichkeiten und Unterschieden
zwischen Kriminellen und Patienten, die der verstorbene norwegische Soziologe Vil-
helm Aubert unternahm.
Explorationen 443

licher Eliminierung. 388 Doch dann gibt es da auch die subtilere und für unsere
Belange wichtigere Restrukturierung der sozialen Beziehung. Ein Ansatz be-
steht darin, den Devianten in eine soziotherapeutische Gemeinschaft mit an-
deren Devianten zu stecken, etwa in ein Rehabilitationszentrum. Viele ur-
sprüngliche bzw. traditionelle Gesellschaften sind selbst diese tolerante
therapeutische Gemeinschaft. Noch wichtiger ist die Verfahrensweise, den
Devianten "die Treppe hinauf zu befördern", indem entschieden wird, daß
seine Devianz Kompetenz auf einer höheren Ebene darstellt, so etwa seine
Identifizierung als Schamane. 389 An der Spitze von Hierarchien besteht keine
Notwendigkeit mehr, Menschen zu treffen, nur Worte. 390
Man stelle sich eine megalo-paranoide Person in einer megalo-paranoiden
Kultur vor. Die Person leide an Größen- und an Verfolgungswahn; der Kul-
tur gehe es ebenso. Dies qualifiziert nicht unmittelbar für hohe Positionen, es
gibt einige zusätzliche Bedingungen. Die Person muß das Idiom der Kosmo-
logie sprechen, sie muß ihre Stimme sowohl der Erwähltheit als auch den
Mythen und den Traumata der Gesellschaft leihen, und zwar in Begriffen, die
vom Volk verstanden und von den Eliten akzeptiert werden, und sie daif nie
irgendeinen Zweifel an diesen Überzeugungen äußern. 391 Auch egozentrisch
von der eigenen Erwähltheit zu sprechen, ist noch nicht ausreichend. Es muß
eine annehmbare Verbindung zwischen der individuellen und der kollektiven
Megalo-Paranoia geben. Das Individuum muß als erwählter Repräsentant
betrachtet werden, dessen persönliche Mythen und Traumata um der Gesell-
schaft willen zustande kamen, als individuelle Manifestationen oder Projek-
tionen des gemeinsamen Schicksals. Im Idealfall sollte das Individuum eine
Mikro-Repräsentation des Kollektivs der Makro-Ebene sein, Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft umfassend. 392 Die Ontogenese sollte die Phylo-

388 Jedoch ist die gesellschaftliche Definition des Devianten entscheidend dafür, daß
dies geschehen kann - wie Michel Foucault in seinen vielen Büchern, etwa in Ar-
chäologie des Wissens, Geburt der Klinik oder Überwachen und Strafen. Die Geburt
des Gefängnisses, so meisterhaft gezeigt hat.
389 Dies Thema wurde von Lewis Yablonsky in Robopaths (Indianapolis, IN 1972) un-
tersucht.
390 Wie Weber oft unterstrichen hat, verfährt Bürokratie generalisierend, nicht indivi-
dualisierend. Das Persönliche ist immer singulär.
391 Vielleicht bedarf es also eines negativen Vertrauens. Ein Kandidat für die amerika-
nische Präsidentenschaft muß nicht jeden Tag sagen, die USA seien das erwählte
Land; doch sagt er: "Die USA sind ein gewöhnliches Land, wie alle anderen auch",
oder sogar: "Amerika ist eine kranke Gesellschaft", dann ist er aus dem Rennen
(Carter?).
392 Ist also das Land arm und gebildet, dann sollte der (zukünftige) Führer dasselbe Pro-
fil aufweisen. Ich verdanke diese wichtige Einsicht dem verstorbenen Schweizer So-
ziologen Peter Heintz.
444 Zivilisationstheorie

genese widerspiegeln. Jesus Christus stellt hierfür ein Beispiel dar und auch
Mohammed, aber auch Adolf Hitler, Josef Stalin und Ronald Reagan. 393
Mit dieser Selbstdarstellung kann ein mit megalo-paranoiden Syndromen
ausgestatteter Psychopath als starker Führer betrachtet werden, ungeeignet
zwar für den täglichen Umgang mit Menschen, die auf derselben Stufe ste-
hen, doch ideal für die höheren Ebenen einer unpersönlichen, papierorientier-
ten Bürokratie nach Art der Ministerien, der Korporationen und des Militärs.
Das Einfühlungsvermögen in andere wäre äußerst niedrig, und dies läuft
wieder auf das Urteil von der "sozialen Inkompetenz" hinaus. Die Eignung
für vertikale Organisationen kann hingegen hoch sein, aufgrund der (Män-
nern eher als Frauen eignenden) Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen. 394 Je
steiler die Bürokratien und je fortgeschrittener die Geisteskrankheit, desso
schlimmer ist die Situation. 395
Das Vorgenannte hilft weiter beim Versuch, Nazi-Deutschland besser zu
verstehen. Hitler allein und seine mögliche "Verrücktheit" erklären nicht,
warum er so viele Anhänger fand. Erklärungen, die sich nur auf das deutsche
Volk beziehen, vernachlässigen die Notwendigkeit einer kompetenten Exe-
kutive, da das Volk unfähig ist zur längerfristigen Selbstverwaltung einer
Megalo-Paranoia. Massenphänomene wie die hysterische Menge oder der
Mob sind kurzfristige Erscheinungen. 396 Hitler, alles andere als sozial inkom-
petent, war in privater Gesellschaft eher umgänglich, wie rücksichtslos auch
immer er in politischen Dingen gewesen ist. Seine grundlegenden Charakter-
züge bestanden darin, daß er wirklich an das glaubte, was er sagte, und daß er
eine krankmachende Ideologie mit unerschöpflicher Energie durchsetzte. 397
Am Ende produzierte er psychosomatische Symptome, wie dies jeder unter
vergleichbarem Stress tun würde. Doch ohne Zweifel betrachtete er sich
selbst als auserwählt, war doch seine eigene Vergangenheit reichlich verse-
hen mit Traumata und Ruhmesmythen. Mit anderen Worten: Sein Seelenbild
glich bis zur Identität dem Sozialcharakter des deutschen Volkes. Man ver-
fehlt diesen Punkt, wenn man sagt, daß die Deutschen Autoritäre auf der Su-
che nach einem Führer waren und er eine Autorität auf der Suche nach einem
zu beherrschenden Volk. Vielmehr erkannte sich einer im anderen, "Du und

393 Siehe mein bereits erwähntes Buch: Hitlerism, Stalinism, Reaganism: Three Variati-
ons on a Theme by Orwell sowie das vorhergehende Kapitel.
394 Dies ist eines der Hauptthemen in Carol Gilligans, In a Different Voice: Psychologi-
cal Theory and Women's Development, Cambridge, MA 1982.
395 Dies Thema wird untersucht in meinem Buch Health and Development, im Erschei-
nen begriffen.
396 Dabei handelt es sich um hochgradig überhitzte Formen des Verhaltens, die nicht
über eine längere Zeit hinweg aufrecht erhalten werden können.
397 Dies wurde besonders von Dr. Kelley unterstrichen, dem amerikanischen Militär-
psychologen, der die Nürnberger Kriegsverbrecher untersuchte. S. Douglas M. Kel-
ley: 22 Cells in Nuremberg, New York 1961.
Explorationen 445

Ich, wir sind von derselben Art", Spezies desselben Genus. Paßte bestens zu-
sammen!
An der Peripherie dieses Systems der germanischen Neuordnung (dt. i.
Orig.) nahm ein Mini-Hitler Gestalt an, der Norweger Vidkun Quisling. Er
hatte einen eigenen gut entwickelten AMT-Komplex und erhob Anspruch auf
den Status eines förer (norwegisch für Führer). Anders als Hitler hätte er nie
freie Wahlen gewonnen, da sich sein AMT-Komplex in der norwegischen
Kosmologie nicht widerspiegelte. 398 Hätte Norwegen andere Dimensionen,
wäre es zehn mal oder hundertmal größer, dann hätte es diese Kosmologie
vielleicht auch entwickelt und Beifall gespendet. Wie die Dinge nun einmal
lagen, war Quisling ein Diktator mit dem falschen Drehbuch.
Gehen wir nun über zu den Somatherapien, müssen wir zunächst die hier
implizierte Idee der Reversibilität erwähnen. Die Auffassung: Therapie ist
möglich, steht im Gegensatz zur soziotherapeutischen Vorstellung der Hei-
lung nicht des Devianten, sondern der Gesellschaft, indem diese den Devian-
ten abschiebt oder sich dessen außerordentliche Talente zunutze macht.
Zweitens aber der implizite Individualismus dieses Ansatzes: Nicht der ge-
samte Kontext, nur der Körper des Individuums wird verändert. Jeder Ein-
griff ist im Prinzip denkbar: physico-mechanisch (Lobotomie), physico-elek-
trisch (Elektroschock), biochemisch (Ruhigstellung) usw., usf. Aus einem
bestimmten Blickwinkel können diese Eingriffe in zwei Arten unterteilt wer-
den: diejenigen, die offen schmerzhaft sind und daher Elemente von Bestra-
fung an sich tragen, und die anderen. Sind die Therapeuten Instrumente ge-
sellschaftlicher Kontrolle im Dienste der sozialen Ordnung, dann werden sie,
wie andere Autoritäten auch, dazu neigen, die Apathie der Revolte vorzuzie-
hen und ihre "Therapien" entsprechend zu organisieren. Ein apathischer Pati-
ent ist wie ein Baby, das nicht schreit, "gut". Lobotomie und Ruhigstellung
führen diesen Zustand herbei; wie im Falle der Tötung, Verbannung und
Einweisung werden die Patienten entmachtet und bestraft. Apathie induzie-
rende Ansätze gelten aber als humaner. 399
All dies sollte dann den psychotherapeutischen Ansätzen gegenüberge-
stellt werden. Anders als im Falle der beiden anderen stehen wir hier erst am
Beginn, obgleich es doch schon ein Jahrhundert her ist, daß Freud das indivi-
duelle Unterbewußte öffnete. Die Schulen wuchern, ein gutes Zeichen für
Pluralismus. Sie betrachten Geistesstörungen als mehr oder weniger reversi-
bel. Einige Ansätze sind individuumszentriert, andere eher soziotherapeu-

398 Auch die norwegische Kosmologie hätte Elemente glorreicher Mythen, das Goldene
Zeitalter der Wikinger, und Traumata: den Schwarzen Tod, die Zeit unter dänischer
und die unter schwedischer Herrschaft, aufzuweisen. Doch die meisten Norweger
würden bei des - auf welcher Bewußtseinsebene auch immer - nicht allzu erst neh-
men.
399 Ist die Wahl die zwischen lebenslänglicher Einkerkerung oder Verbannung, dann
mag einiges hierfür sprechen; doch warum sollte man das Problem so definieren?
446 Zivilisationstheorie

tisch bis hin zu den therapeutischen Gemeinschaften, auf die ich oben hin-
gewiesen habe. Somatherapie muß individualistisch sein, da es keine Ver-
bindungen zwischen den K~ern gibt; Psychotherapie steht nicht unter dem
Zwang derselben Annahme.
Der Schwerpunkt liegt hier auf individuumszentrierter Psychotherapie. Es
gibt ein allgemeines Paradigma I, das diesem Ansatz unterliegt und hoch re-
levant ist für das Problem, das im Titel dieses Kapitels formuliert wurde - ein
Prozess mit einander überlagernden, doch klar ausgeprägten notwendigen
Phasen 4V! :
Phase 1: Das Individuum erkennt und akzeptiert, daß es in der Krise steckt.
Phase 2: Das Individuum akzeptiert, daß die Krise im eigenen Selbst vor-
programmiert ist.
Phase 3: Das Individuum akzeptiert, daß es der Hilfe durch kompetente
Andere bedarf.
Phase 4: Das Individuum akzeptiert, in eine Patient-Heiler-Beziehung ein-
zutreten.
Phase 5: Kooperation von Patient und Heiler bei der Identifikation des
verborgenen Programms.
Phase 6: Kooperation von Patient und Heiler bei der Abänderung des Pro-
gramms des Selbst.
Phase 7: Der Patient wird NeuGeboren, mit einem neuen Selbst, Katharsis.

Der Isomorphismus zwischen diesem Paradigma und der jüdisch-christlichen


Spiritualität ist offensichtlich. Die Krise ist die Sünde. Die Vorprogrammie-
rung bedeutet, zu einem bestimmten Zeitpunkt von Gott abgefallen zu sein,
oder sogar, sich selbst dem Satan übergeben zu haben, oder, noch grundle-
gender: Erbsünde. Der kompetente Andere ist Jesus Christus, und die Ein-
willigung, mit Ihm in eine Beziehung einzutreten, ist die notwend~e Bedin-
gung für die Vereinigung mit Gott, d.h. für ErlösungIReinigung. Das ka-

400 Gewiß gibt es interpersonelle Verbindungen sowohl auf der Ebene der Psyche als
auch auf der des Geistes; wie diese Verbindungen funktionieren, und wie sie für die
Psychotherapie von Bedeutung sein können, ist eine andere Frage. In der westlichen
Kosmologie ist der Individualismus eine Grundannahme, und daher wird das Inter-
personale zumeist als jene Spuren konstruiert, die Menschen, die von Bedeutung
sind, wie etwa die Eltern, in der Psyche hinterlassen. In der japanischen Kosmologie
folgt aus dem Kollektivismus, daß das Interpersonale einer stärker synchronen und
weniger diachronen Interpretation offen steht. Die westliche Psychotherapie unter-
nimmt typischerweise den Versuch, die Spuren der Vergangenheit aufzudecken, die
japanische könnte es typischerweise mit Gruppentherapie versuchen.
401 Das folgende ist z. T. inspiriert durch Talcott Parsons Arbeit über medizinische So-
ziologie.
402 "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben: Niemand kommt zum Vater als
durch mich" (Johannes 14,6) - sehr starke Worte.
Explorationen 447

tholische Christentum würde die Kirche als notwendige Bedingung, die Be-
ziehung mit dem Höchsten Heiler herzustellen, hinzufügen: extra ecclesiam
nulla salus. Die Kräfte hinter den begangenen Sünden müssen erkannt, ge-
standen und dann durch Reue, Buße und Unterwerfung ausgetrieben werden.
Es muß um Vergebung gebeten und eine neue Führung akzeptiert werden,
was Wiedergeburt in Christus bedeutet: Katharsis. Erfolgt diese nicht, dann
die Apokalypse der ewigen Verdammnis.
Kein Wunder, daß die Psychoanalyse auf Widerstände stieß. Das christli-
che Paradigma wurde säkularisiert, mit dem individuellen Psychoananlytiker
in der Rolle des Priesters und mit Freud in der Rolle Christi, ausgestattet mit
gottgleichen Zügen. Und mit dem Versprechen der Wiedergeburt auf Erden!
Diesem jüdisch-christlich inspirierten Paradigma I läßt sich nun ein eher
buddhistisch orientiertes Paradigma II gegenübergestellen. Erstens gibt es
hier ein Element der Bewußtseinsbildung oder, mit dem Begriff, den Paulo
Freire populär gemacht hat, der Bewußtmachung. 403 Das unterbewußt Ge-
wußte, doch im Bewußtsein nicht Gewußte wird bewußt gewußt, wird ver-
fügbar und explizit, so daß man es gutheißen oder bekämpfen kann. Die all-
gemeine Formel würde lauten: Selbsterkenntnis durch Meditation.
Zweitens gibt es ein Element der Mobilisierung, wenn das individuelle
Selbst zunehmend bewußt wird. Es gibt einen Glauben an die Fähigkeit des
Selbst, sich seine eigenen Anderen zum Zwecke eines inneren Dialogs zu be-
schaffen, wobei der innere Andere z.B. das Über-Ich oder das Es sein kann -
eine Betrachtungsweise, die sich mit einem gewissen mittelalterlichen und
protestantischen Christentum vertragen würde. Im Falle eines äußeren Ande-
ren besteht ein Unterschied zwischen einem höheren Anderen und dem An-
deren auf derselben Ebene. Das Christentum von Okzident I versteht Gott als
transzendent und oben befindlich eher denn als immanent und innerlich wir-
kend. Das Bedürfnis, menschliche Wesen von oben zu führen, spiegelt sich
in der klassischen Psychoanalyse darin wider, daß sie auf der Unentbehr-
lichkeit eines den Anderen anleitenden Psychoanalytikers besteht, im Gegen-
satz zur klientenzentrierten, selbstanleitenden Therapie und der humanisti-
schen Psychologie. 404 Das Paradigma 11 verlangt weder das eine noch das an-
dere, begrüßt jedoch äußere Dialoge mit anderen, die sich in der gleichen
Lage befinden.
Drittens gibt es ein Element der Konfrontation, der Herausforderung jener
unbewußten Kräfte, die das Selbst angetrieben haben, wofür man eine be-
stimmte Krise als exemplarisch herausgreift. Viertens gibt es den Kampf, die
Dialektik der Befreiung vom alten und der gleichzeitigen Erschaffung des
neuen Selbst. Und dies endet, fünftens, mit moksha, satori, Selbst- Vertrauen,

403 In dessen berühmter Pädagogik der Unterdrückten (New York 1981).


404 Verbunden mit den Namen von earl Rogers und Abraham Maslow.
448 Zivilisationstheorie

der Wiedergeburt, einem Neubeginn, der fähig macht zur bewußten Selbst-
bestimmung anstelle des Getrieben-Werdens durch verborgene Codes.
Paradigma 11 weist große Ähnlichkeit auf mit einem Paradigma für den
revolutionären Kampf, auch von unten, zur Überwindung struktureller Ge-
walt. 405 In diesem Fall gilt die Bewußtmachung nicht dem Verständnis der
inneren Kräfte, die sich in tieferen Schichten der Persönlichkeit, sondern der
Kräfte, die sich in den tieferen Schichten der Gesellschaft verbergen. In bei-
den Fällen ist das Wort Struktur nützlich; die Persönlichkeit hat eine Struktur
und ebenso die Gesellschaft. Eine Struktur kann nicht nur in der Gesellschaft
menschlichen Wesen Gewalt - an Körper, Seele und Geist - antun, sondern
auch in der Persönlichkeit. Und hier schließt sich dann die Frage an, ob es
vielleicht strukturelle Gewalt in jeder Persönlichkeit gibt, nur weil es sich um
eine Persönlichkeit handelt, und in jeder Gesellschaft, weil es sich um eine
Gesellschaft handelt? Die Antwort könnte Grenzen des inneren wie des äu-
ßeren Friedens zu erkennen geben. 406
Nun läßt sich die Verbindung mit dem Problem pathologischer Kosmo-
logien herstellen. In diesem Fall wurzelt die Pathologie weder in der Struktur
der Persönlichkeit noch in der Struktur der Gesellschaft, sondern in beiden.
Es gibt ähnliche Elemente im Unterbewußten von Mitgliedern der Eliten
("die herrschende Kosmologie ist die Kosmologie der herrschenden Klasse",
um Marx zu paraphrasieren) wie anderer Gesellschaftsmitglieder und in der
Tiefenkultur dieser Gesellschaft, man denke an das AMT-Syndrom. Der Be-
griff der Kosmologie verbindet die Struktur dieser Kultur mit der Struktur
der Persönlichkeiten, indem die tieferen Aspekte der Kultur in der Gesell-
schaft als Träger der Kosmologie institutionalisiert407 und von den Individuen
als Annahmen darüber, was normal und natürlich sei, internalisiert werden.
Mit anderen Worten, das gemeinsame kollektive Unterbewußte. Das zwei-
schichtige Wesen der kollektiven Megalo-Paranoia, sowohl in der Gesell-
schaft als auch in den Personen beheimatet zu sein, gestaltet die Therapie,
das Heilen, sehr schwierig.

405 Als Beispiel für eine Untersuchung des Sachverhalts s. Johan Galtung: "From Vio-
lent to Nonviolent Revolution", in: ders.: The True Worlds, New York 1980, Kap.
4.2, S. 139-149.
406 Das Problem besteht darin, einen Weg zu finden zwischen dem "zu viel" und dem
"zu wenig" vertikaler und dem "zu eng" und dem "zu weit" horizontaler struktureller
Gewalt. Dies bedeutet im persönlichen wie im sozialen und im globalen Raum einen
Balanceakt, bei dem an allen Ecken und Enden Schwierigkeiten lauern.
407 Etwa qua Sprache und Religion, Ernährung und Sex, Wissenschaft und Technik.
Explorationen 449

5.3 Sind Paradigmen, die der Individualebene entstammen,


auf Kollektive anwendbar?

Zwei Auffassungen können hier gleich eingangs verworfen werden: die au-
tomatische Anwendbarkeit wie die automatische Nichtanwendbarkeit. Wir
wollen lieber Schritt für Schritt vorgehen und die Typologie therapeutischer
Ansätze, die oben vorgestellt wurde, auf Kollektive anwenden, insbesondere
auf Nationen und ihre Beziehungen, mit anderen Worten, auf internationale
Beziehungen.
Soziotherapien: Es gibt hier keine Schwierigkeit in der Übersetzung der An-
sätze, und ihr gewalttätiges Wesen wird sogar noch deutlicher, wenn sie als
internationale Beziehungen interpretiert werden. Worum ging es bei der na-
tionalsozialistischen Ausrottung der europäischen Juden? Nicht um die Klei-
nigkeit irgendeiner ökonomischen oder kulturellen Auseinandersetzung zwi-
schen Juden und anderen Deutschen, sondern um die Vorstellung, daß auf
deutschem Boden nur Raum für ein einziges auserwähltes Volk sei, die
"Arier". Hitler verglich die Juden mit Mikroorganismen408 und wendete die
,search-and-destroy'-Strategie an, die nicht nur von der "Ausmerzung" an-
steckender Krankheiten her bekannt ist, sondern auch vom Umgang der USA
mit dem "Kommunismus" in Indochina. Jeder einzelne Jude wurde als Über-
träger der Krankheit nicht-arischer Auserwähltheit betrachtet und mußte da-
her eliminiert werden. Der Prozess kommt dem Versuch409 der (spanischen)
Inquisition nahe, Häresie durch die Eliminierung der Häretiker auszurotten,
selbst dann, wenn sie ihrem Glauben abgeschworen hatten. 410
Doch Hitler bediente sich, wie die Inquisition, auch der Verbannung und
Einweisung. Ausrottung war Mittel zum Zweck, um Deutschland und das be-
setzte Europajudenrein (dt. i. Orig.) zu machen; die Welt interessierte erst in
zweiter Linie. Das Exil war eine mögliche Alternative, mit der die Nazis
Geld verdienten 411 - eine Lösung, die für potentielle Opfer von offensichtli-
chem Vorteil war, falls sie es sich leisten konnten (hier spielt, wie gewöhn-
lich die Klassenzugehörigkeit ihre Rolle). Und nicht nur vor der Exekution
nutzte man das Gefängnis - ein auserwähltes Volk, um ein anderes auszurot-
ten, ebenso wie auserwählte Personen, um andere zu eliminieren.

408 Tatsächlich verglich er die "Entdeckung" der Rolle der Juden im gesellschaftlichen
Organismus mit Robert Kochs Entdeckung der Rolle von TBC-Bakterien für die Tu-
berkulose.
409 In der Kriminologie ist dies bekannt als Bestrafung zwecks individueller Prävention.
410 Natürlich steckte hierin auch ein Element, Bestrafung zur Generalprävention, zur
Abschreckung anderer zu nutzen.
411 Bei diesem Handel gibt es auch eine versteckte Botschaft über die eigentliche Natur
des ,,Auslands": jedenfalls unrein, und so gehören unrein und unrein zusammen.
450 Zivilisationstheorie

Von Hitler nicht akzeptiert wurden die marginalisierten Gemeinschaften,


in denen Juden sich zusammenfanden und ihre Ausgrenzung als Normalität
definierten, mit anderen Worten: das System der Ghettos, das seit dem frühen
16. Jahrhundert gebräuchlich war; ebensowenig natürlich die tolerante As-
similierung der Juden an die Gesellschaft, der liberale Ansatz seit dem 19.
Jahrhundert; und gewiß nicht die Bereitschaft, sie zu Führungspositionen zu-
zulassen. Später sollte dies der US-Ansatz sein, wofür eine Deutung lautet,
die Vereinigten Staaten der Frühzeit hätten die jüdische Auserwähltheit als
Archetyp, als raison d' etre ihrer eigenen Konstruktion von Gesellschaft an-
gesehen. 412 Nach einer anfänglichen Phase der Zurückweisung und des Anti-
semitismus finden Juden nun in hohem Grade als führende Vertreter dieses
Archetyps Verwendung. 413 Es besteht hier jedoch ein gewisser Zwiespalt und
zwar in Anbetracht der intellektuellen Brillanz der Juden und des hohen Ni-
veaus des US-Antiintellektualismus, der Intellektuelle als Menschen be-
trachtet, die sich selbst als auserwählt verstehen, wobei ihre Abweichung ei-
ne geistige ("Eierköpfe") und ihr Ghetto der Campus ist. 414
Lassen wir den Holocaust als Beispiel einmal beiseite, dann wird die Ver-
bannung, ja, sogar die Einweisung verwendet, um marginalisierte Nationen
als Parias zu definieren und durch diplomatische und ökonomische Sanktio-
nen (gegenüber sozialistischen Ländern, Südafrika, Nicaragua, Cuba, Iran-
Lybien-Syrien, Irak, Israel, Serbien - alles Länder mit blühenden AMT-
Komplexen) zu isolieren. Sie sollen dann über die Bedingungen ihrer Wie-
derzulassung nachdenken. Tatsächlich hat sich bei fünf von ihnen ein Wan-
dei ereignet. 415
Wie steht es mit dem "die Treppe hinauf befördern"? Genau dies tun die
westlichen Länder mit den Vereinigten Staaten (Du bist unser Führer), in-
dem sie in den USA sich selbst in extremis erkennen, einen mächtigeren
Ausdruck ihrer eigenen inneren Sehnsüchte.416 Hätte das nationalsozia-

412 Dies wird in einem gewissen Ausmaß ausgearbeitet in meinem United States Foreign
Policy as Manifest Theology, San Diego, CA (University of California, IGCC) 1987.
413 Das archetypische Beispiel hierfür ist natürlich Henry Kissinger.
414 Siehe Russel Jacoby: The Last lntellectuals: American Culture in the Age 0/ Acade-
me, New York 1987.
415 Es ist jedoch nicht so leicht zu entscheiden, wie genau dies funktioniert. Was sich
1989 in Europa zugetragen hat, geschah im wesentlichen in der Beziehung zwischen
den Herrschern und den Beherrschten innerhalb der Länder selbst. Doch die Herr-
scher waren als Ergebnis einer Marginalisierung geschwächt und die Beherrschten
durch ihre Kontakte mit auswärtigen Akteuren gestärkt. Ökonomische Sanktionen
sind viel1eicht weniger wichtig gewesen.
416 Und in diesem Sehnen gibt es faschistische Elemente, ein Wohlgefal1en daran, daß
die USA einem Land wie dem Irak das antun, was sie selbst ihm gerne angetan hät-
ten, doch zu tun nie wagten. Vgl. für eine Analyse der zugrundeliegenden Strukturen
Johan Galtung: "The Cold War as Autism", Essays in Peace Research, Bd. VI, Ko-
penhagen 1988, S. 81-106.
Explorationen 451

listische Deutschland vielleicht die gleiche Anerkennung erfahren können,


wenn es seine Gewalt außerhalb (West-)Europas ausgeübt und am Parlamen-
tarismus festgehalten hättet 17
Soma therapien: Die US-geführte Anti-Irak-Koalition stellte den Versuch ei-
ner Kombination aus Lobotomie und Elektroschock dar, den Versuch, zum
einen die C11-Funktionen der irakischen Gesellschaft, die zivilen wie die mili-
tärischen, auszuschalten, zum anderen das Böse auszutreiben, die Iraker ru-
higzustellen, sie aus Gründen der Individual- wie der Generalprävention zu
bestrafen und aus Kuweit zu verjagen. Eine lange Liste,418 die ein reiches
Spektrum von Ansätzen erforderte. Der Ansatz der Ruhigstellung würde der
Einführung des Fernsehens und der Konsumgesellschaft entsprechen, um die
Menschen passiv oder sogar apathisch zu machen, nach innen gewandt, be-
schäftigt mit dem eigenen materiellen Komfort und nicht mit einem durch ei-
gene Vorstellungen herbeigeführten gesellschaftlichen Wandel. Man sollte
erwarten, daß die Ruhigstellung auf Lobotomie bzw. Elektroschock folgt,
wie in Grenada und Panama. 419
Psychotherapien: Hier beginnt die Anwendbarkeit zu versagen. Die Para-
digmen I und 11 können auf schwer AMT-geschädigte Nationen nur dann an-
gewandt werden, wenn sie bereit sind, sich einer fremdbestimmten Therapie
zu unterziehen (I) oder eine selbstbestimmte Therapie zu unternehmen (11).
Der krasse Unterschied liegt auf der Hand: die Machtbeziehung. Eine Gesell-
schaft als ganze kann, ganz buchstäblich, eine Minorität Megalo-Paranoider
behandeln. Hingegen gelingt dies der internationalen Gemeinschaft nur, so-
lange die abweichende Nation klein und relativ isoliert dasteht, nicht aber,
wenn diesem Abweichler ein umfänglicher regionaler oder globaler Macht-
status zugewachsen ist, so daß er gegenüber den übrigen die Übermacht be-
hält. In diesem Augenblick ist es wahrscheinlicher, daß er zum Führer ge-
wählt wird, dessen Eliten jeden Wandel erfolgreich unterdrücken können.
Hier sollte uns nicht der "realistische" Fehlschluß unterlaufen, nur jene
Therapien in Betracht zu ziehen, die Zwang ausüben. Das Problem besteht
darin, daß das Auserwählte Volk nur den Allmächtigen als Autorität aner-
kennt. Sein Befehl allein könnte die Bereitschaft, sich einer Therapie auszu-

417 Sicherlich: Wahrscheinlich hätte man es weiterhin als eine normale Demokratie be-
trachtet, die sich aufopfert, um Recht und Ordnung zu bewahren.
418 Die Ausdrücke "Aderlaß" und "chirurgischer Schnitt" verbinden die beiden Arenen,
indem sie jede zur Metapher für die jeweils andere machen.
419 Das Problem besteht natürlich darin, daß die Wohltaten der Konsumgesellschaft zu-
meist den Reichen zur Verfügung stehen; und diese sind nicht der Ursprung des
Problems für Therapeuten, die sich an Recht und Ordnung orientieren.
452 Zivilisationstheorie

setzen, hervorrufen. Doch vielleicht bleibt eine Therapie im Namen gemein-


samer Werte, die im Erfolgsfalle auch Belohnungen verspricht, möglich. 42o
Man stelle sich dennoch eine Nation vor, die bereit wäre, sich entspre-
chend Paradigma I einer Therapie zu unterziehen. Die erste Bedingung wäre,
daß die Menschen gemeinsam eine Tendenz wahrnähmen, sich "in Probleme
zu verwickeln", ja, in Krisen, die zumindest zum Teil hausgemacht sind. Die
Frage ist, wie dies möglich sein soll. Vielleicht gibt es ein vergleichbares
Grollen im Unterbewußten vieler Individuen, so daß nicht nur die gängige
manifeste Ideologie verworfen wird, sondern auch die verdeckten kos-
mologischen Annahmen. Die parallelen Äußerungen des Unmuts mögen so-
gar bewußt geteilt werden. Doch würde dies höchstens zu subversiven Sub-
kulturen in der Gesellschaft führen, mit einer Gegenkosmologie, die nach
und nach die Gestalt einer Ideologie mit Transformationspotential annehmen
würde, wie etwa der Sozialismus der Arbeiterklasse oder der Feminismus des
weiblichen Geschlechts oder die Friedensbewegung. Doch wollen wir uns
hier nicht mit neuen Machtgruppen befassen, mit alternativer Ideologie oder
Kosmologie, sondern mit der Transformation der herrschenden Kosmologie.
Ein Hinweis, wie dies geschehen könnte, fällt der Theorie so leicht, wie
seine Umsetzung in der Praxis schwierig ist. Ist die herrschende Kosmologie
die Kosmologie der herrschenden Klasse, dann muß die führende Transfor-
mation von der herrschenden Klasse, und insbesondere von Dem Führer
kommen, als die Transformation des Führers. Die übliche Zirkulation der
Eliten reicht nicht hin; dies ist äußerer, nicht innerer Wandel. Damit der Füh-
rer zum Führer werden konnte, mußte er nicht immer wieder die Kosmologie
bestätigen, er durfte ihr nur nie widersprechen; jetzt muß er sie offen verwer-
fen, und er darf sie nie verdeckt bestätigen. Damit Signale tief hinunter ge-
langen, müssen sie von hoch oben kommen. Doch sie wirken nur, wenn sie
tief unten im kollektiven Unterbewußten auf hinreichende Resonanz stoßen.
Die Formel für eine erfolgreiche Therapie ist dieselbe wie die Formel für ein
Schrumpfen der Pathologie: Die Transformation der/des Führer/s wie die
Transformation der Anhänger sind jeweils allein nur notwendige Ursachen,
erst zusammen werden sie hinreichende.
Es bedarf also der Erkenntnis und der Akzeptanz des Führers, daß man in
einer im (individuellen wie kollektiven) Selbst wurzelnden Krise steckt. Dies
ist nicht dasselbe wie das Eingeständnis einer (z.B. Wahl-)Niederlage. Denn
in diesem Fall waren weder die Kosmologie noch die Ideologie falsch; nur
eins ging schief, die Menschen schafften es nicht, Anhänger zu werden.
Auch sollte man es nicht verwechseln mit dem Fall, in dem ein jüngst Be-
kehrter eine neue Ideologie annimmt, wie etwa, wenn irgendein Überläufer

420 Diesem Ansatz ist offenbar die Gruppe der Sieben im Hinblick auf die Sowjetunion
gefolgt: erst Exorzismus (des Kommunismus), dann Hilfe.
Explorationen 453

von der einen Seite des Parlaments auf die andere wechselt. Wir sprechen
vielmehr von der Anerkenntnis, daß etwas grundsätzlich falsch läuft.
Das beste Beispiel der neueren Zeit stellt wahrscheinlich der Sinneswandel
dar, den Chruschtschow anläßlich des XX. Parteitags der KPdSU (B) im Fe-
bruar 1956 in Gang setzte und dem sich Gorbatschow später anschloß - in
einem Prozeß, der vierzig Jahre später immer noch andauert. Vermutlich
kann dies als ein Eingeständnis in Etappen gelten. Chruschtschow verwarf im
wesentlichen den Stalinismus, unter Einschluß dessen, was man die Tiefen-
struktur des Stalinismus nennen könnte; Gorbatschow verwarf zusätzlich die
Tiefenstruktur des Leninismus. Zunächst Ideologien, setzten sich beide als
Kosmologien im sowjetischen kollektiven Unterbewußten vieler, vielleicht
der meisten fest und vermischten sich mit Kosmologieresten zaristischer For-
mationen, die auch bei vielen Dissidenten einen festen Platz einnehmen. 421
Warum machten die Genannten das? Offensichtlich, weil das Gesamtsy-
stem sich in einer Krise befand; ebenso offensichtlich, daß es sich dabei um
eine Krise des eigenen Programms, der eigenen Kosmologie handelte. Ver-
suche, die Schuld auf andere abzuwälzen, wie z.B. auf interventionistische
Kriege, Konterrevolution, Hunger und Elend nach dem Ersten Weltkrieg,
Sabotage, die Schrecken des Nazi-Angriffs im Zweiten Weltkrieg (dem Gro-
ßen Vaterländischen Krieg), schlechte Ernten - all dies hatte einige Erklä-
rungskraft. Doch es blieb ein nicht erklärter Rest, nachdem man alle anderen
Erklärungen und Heilmittel versucht hatte. 422
Sozialistische Formationen produzieren Krisen für sich selbst; der Kapita-
lismus ist stärker darin, andere in die Krise zu stürzen (wogegen man nicht
mit dem russischen bzw. sowjetischen Imperialismus argumentieren sollte,
der eher zaristisch als sozialistisch ist). Der Sozialismus tötet nach oben hin
beim Versuch, die Mittel- und Oberschichten, einschließlich der von ihm
selbst geschaffenen, zu kontrollieren; der Kapitalismus tötet nach unten hin
beim Versuch der Kontrolle unruhiger Arbeiter, auch wenn diese das Produkt
seiner eigenen Dynamik darstellen. Der Kapitalismus verschiebt seine Krisen
nach unten, indem er das innere Proletariat der Arbeiterklasse, das äußere
Proletariat der Randländer und die Natur ausbeutet; der Sozialismus beutet
alle drei, zusätzlich zu sich selbst, aus. Letztlich sprach Chruschtschow
hauptsächlich von den stalinistischen Opfern in der Kommunistischen Partei
und meinte dabei Menschen seiner eigenen Art.

421 Und die grundlegende Frage lautet jetzt, wie dies nach dem Exorzismus des Kommu-
nismus zum Ausdruck kommen wird; gibt es ein Neues Zeitalter russischer Erwählt-
heit, das die Mythen des mir neu erschafft, wie bei Solschenizyn?
422 Dies ist eine grundlegende erklärende Formel für fundamentale makrohistorische
Transformationen bei Johan Galtung, Erik Rugend, Tore Heiestad: "On the Last 2.500
Years in Western History. And Some Remarks on the Coming 500", in: Peter Burke
(Hg.): New Cambridge Modern History, Companion Volume, Bd. XIII, Cambridge
1979, Kap. 12, S. 318-361.
454 Zivilisationstheorie

Eine "klare und aktuelle" Krise ist also eine Vorbedingung; die andere ist
eine aufgeklärte, ehrliche, mutige Führung, die die moralischen Risiken der
Anerkenntnis und des Eingeständnisses eines tiefen Scheiterns auf sich
nimmt. Es stellt sich dann das Problem der Heilung, das der eigenen Fähig-
keit dazu bzw. der Anerkenntnis, daß man vielleicht dazu den Anderen
braucht, vielleicht sogar jenen grundlegend Anderen. Die Vereinigten Staa-
ten versuchten dieser Andere für das geschlagene Deutschland und Japan
nach dem Zweiten Weltkrieg zu sein, heute sind sie mehr als gewillt, dieselbe
Rolle für Sowjetrußland zu spielen und die dreifache Medizin der pluralisti-
schen Demokratie, der Ökonomie des freien Marktes und des Christentums
mittels Regierungshandeln, Unternehmensinvestitionen und US-Missionaren
zu verabreichen. Doch die Deutschen ermangelten der inneren Bereitschaft,
die sich erst durch die Jugendrevolte eine Generation später einstellte. Japa-
nische Eliten haben vermutlich nie einen grundlegenden inneren Wandel
durchgemacht. Und ein von der USA herbeigeführter Wandel in der Sowjet-
union setzt Unterwürfigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten voraus, eine
Bedingung, die in den anderen Fällen erfüllt war. Daher das teilweise Schei-
tern der Versuche; doch die sowjetische Selbstheilung hält an. 423
Wir wollen es also mit dem Paradigma 11 versuchen, das näher bei der
realen Politik liegt, und annehmen, daß das Problem der Bewußtmachung in
der Weise gelöst wurde, auf die oben verwiesen wurde. Die Figur der "Mobi-
lisierung" ist wesentlich, da sie eine konkrete kollektive Deutung kennt: die
Organisation der Menschen, die transformiert wurden, um den verbleibenden
Rest zu bearbeiten. Dies ist eine aus allen Religionen und Ideologien wohl-
bekannte Figur, die aber nicht so einfach auf die individuelle Ebene ange-
wendet werden kann, es sei denn, wir dürften bewußt geführte innere Dialoge
voraussetzen, etwas, was viele Menschen zum Zweck der Selbsttherapie tun,
auch wenn sie vielleicht nur ein Tagebuch schreiben. Doch dieser Prozeß
riecht vielleicht etwas nach Schizophrenie. Im Falle einer Nation, die patho-
logische Charakterzüge entwickelt hat, sprechen wir von etwas ganz Konkre-
tem: einem neuen Geschlecht, einer neuen Generation, Rasse, Klasse oder
Nation oder irgendeiner anderen Gruppe als Träger einer neuen Botschaft.
Nun zur Formel der "Konfrontation". Ausschlaggebend ist die Auswahl
des Testfalls, des Beispiels, das gewählt werden muß wegen seines pädagogi-
schen Werts, indem man die Art und Weise, wie es einmal war, der Art und
Weise gegenüberstellt, wie es aufgrund der neuen Botschaft sein wird. Beide,
das Alte und das Neue, müssen geprüft werden So ist, war und wird der Test-

423 Andererseits mag die wenig bekannte Arbeit der "German Youth Administration",
die die Deutschen in den späten Vierziger Jahren in Demokratie unterrichtete, eine
gewisse Rolle gespielt haben. Als studentischer Anhalter hatte ich im Juni 1949 in
der damaligen Amerikanischen Zone Gelegenheit, mit einem dieser Lehrer für De-
mokratie, einem sehr enthusiastischen und engagierten jungen Amerikaner, zu fah-
ren.
Explorationen 455

fall für die Sowjetunion bleiben die Unabhängigkeit der Republiken und der
Nationalitäten im Innern der Republiken, die sowohl Wandel als auch Wi-
derstand verursachen. Ein weiterer Testfall ist der friedliche Machttransfer
durch geheime Wahlen, ein dritter die Privatisierung. Alle drei stellen einen
Versuch von innen wie auch von außen dar, westliche Ideologie in die so-
wjetische Kosmologie einzupflanzen und die Kosmologie dadurch zu ändern.
Die sowjetischen Führer waren einem Druck sowohl von oben als auch von
unten ausgesetzt und scheiterten; ihr Versuch, an die Macht zurückzugelan-
gen (wahrscheinlich eher pro forma, am 19. August 1991), schlug ebenso
fehl. Am Ende wurde derjenige, der den ganzen Prozeß in Gang gesetzt hatte,
Gorbatschow nämlich, auch noch gestürzt.
Es ist eine grundlegende Frage, ob dies alles grundlegend genug ist. So
würde ja die eigentliche Frage, die sich aus der vorliegenden Argumentation
ergibt, lauten müssen, ob sich die Ex-Sowjetvölker im allgemeinen und die
Russen im besonderen immer noch als ein auserwähltes Volk sehen, mit allen
Rechten und Pflichten, die sich hieraus ergeben. Tun sie dies, dann wird sich
mit Sicherheit eine neue Aufgabe finden, die man mit demselben missionari-
schen Eifer propagieren und durch den Hinweis auf Mythen und Traumata
(einschließlich der allerjüngsten) legitimieren wird.
Sodann zum Stichwort "Kampf', Kampf um die Unabhängigkeit von dem,
was zuvor war: schnell oder langsam, gewaltsam oder gewaltlos - wobei das
Langsame und das Gewaltlose die Präferenzen des Friedensforschers sind,
wenn er nach den Bedingungen für einen Frieden durch friedliche Mittel
sucht. 424 All diejenigen zu töten, zu exilieren, einzusprerren oder auf andere
Weise zu marginalisieren, die tief im Unterbewußten die Samen der alten
Ordnung tragen könnten, so wie dies Nazi-Deutschland machte (und in un-
vergleichlich geringerem Umfang, doch in derselben Struktur, das zioni-
stische Israel), bedeutet, eine Megalo-Paranoia in Szene zu setzen, aber nicht,
sich für Transformationen zu engagieren. Nur durch eine tiefe Transforma-
tion läßt sich die innere Kohärenz einer neuen Kosmologie erreichen, was zu
Selbstvertrauen und Autonomie und damit zur Unabhängigkeit von allen au-
ßenstehenden Heilern führt, wenn man nur über hinreichende Selbstheilungs-
kräfte verfügt, wie etwa im Fall einer fest verwurzelten Demokratie.
Ein Beispiel hierfür könnte Deutschland sein, wo die Demokratie etwa 50
Jahre nach dem Nationalsozialismus fest etabliert erscheint, wenn denn eine
hohe politische Beteiligung und ein Parteienpluralismus, der eine echte Wabl
zwischen mehr als zwei Alternativen erlaubt, überzeugende Kriterien sind.
Doch der Test wird auch darin bestehen, ob es in der deutschen Nation im-

424 Europa 1989 zeigt jedoch, daß auch Gewaltlosigkeit sehr schnell wirken kann, zu-
mindest in der letzten Phase. Im allgemeinen dürfte jedoch der Vergleich zwischen
Antibiotika und traditionellen Kräutern gelten: Erstere sind schneller, können aber
auch mehr zerstören.
456 Zivilisationstheorie

mer noch expansionistische und Herrschaftstendenzen gibt, und die Art und
Weise, in der die Westdeutschen ihre eigene Nation in der früheren DDR be-
handeln: die Penetration auf der ganzen Bandbreite von Ökonomie, Kultur
und Politik gibt manchem Zweifel Raum.

5.4 Schluß: Was können wir tun?


Offensichtlich gibt es Erfolge, da viele der von AMT-Komplexen getriebe-
nen Imperien nicht mehr unter uns weilen. Wahrscheinlich waren sie entkräf-
tet, wurden Opfer ihres eigenen Erfolges oder einfach geschlagen. Ob der
zuletzt behandelte Ansatz zu jener Art tiefer Selbst-Reflexion führt, die beide
Paradigmen fordern, ist eine andere Frage. Das Ergebnis im Fall Deutschland
ist, wie oben angedeutet, alles andere als klar; das gleiche gilt für Japan. Und
die Vereinigten Staaten, im Vietnamkrieg geschlagen, benutzten den Golf-
krieg, um "das Syndrom zu besiegen", und das heißt, um sich von allen
Zweifeln zu reinigen, ob es für sie rechtens und pflichtgemäß sei, sich ge-
waltsam in internationalen Beziehungen zu engagieren, wenn ihre Führer
dies für nötig halten.
Doch eine Nation kann auch dazu gelangen, sich selbst als normaler zu be-
greifen, durch den harten Weg der Sozio- bzw. Somatherapie oder den weichen
der Psychotherapie. Das heutige Spanien z.B. unterscheidet sich durchaus vom
Espafia, una, grande, !ihre, wie es das Franco-Regime propagierte, und das
Spanien nach der decadencia ist ganz anders als das Spanien davor. 425
Es läßt sich etwas machen - sonst gäbe es nicht soviel historischen Wan-
del. Wahrscheinlich käme es dem Fortschritt der Menschheit zugute, könnten
wir eher die sanften als die rauhen Therapiearten in Anschlag bringen. Doch
auch so verweisen das deutsche, das japanische und das sowjetische Beispiel
wie das US-Nicht-Beispiel darauf, wie schmerzlich der in Frage stehende
Prozeß ist. 426 Und wie schwer es ist, die alte Ermahnung zu befolgen, sich
selbst zu erkennen: gnothi seauton.
Denn dies ist die Bedingung für jede Therapie, sowohl der des am Ande-
ren orientierten Paradigmas I (mit seinen autoritären und mehr dialogischen
Spielarten) wie der Versionen des am Selbst orientierten Paradigmas 11. Oder
auch irgendeiner sukzessiven oder parallelen Kombination diese beiden. Je-
denfalls haben wir viel zu lernen.

425 Die Frage lautet natürlich, ob Spanien heute seinen Fehler nicht wiederholt, indem es
allzu sehr auf die Karte Tourismus setzt, anstalt sich der schwierigen Aufgabe an-
spruchsvoller Verarbeitung und Industrialisierung zu unterziehen.
426 Wann werden wir etwa eine Rede aus Washington vernehmen, die sich für die hinter
den mehr als 200 militärischen Interventionen überall in der Welt stehende Kriegs-
lüsternheit entschuldigt?
Schluß: Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur

Mit weniger als allen vier Teilen dieses Buches kommen wir nicht aus: Frie-
de und Konflikt, Entwicklung und Zivilisation. Liegt ein dynamischer Friede,
als Prozeß, immer dann vor, wenn ein Konflikt - stets zugleich Zerstörer wie
Schöpfer - ohne Gewalteinsatz und kreativ transformiert werden kann, dann
spielen Struktur und Kultur eine Rolle. Höchst wichtig sind die Tiefenstruk-
turen und die Tiefenkulturen, weil sie unreflektiert bleiben, ja unbekannt
sind. Da sie im kollektiven Unterbewußtsein der Menschen zuhause sind, bil-
den sie deren kleinsten gemeinsamen Nenner, etwas, auf das sich alle Men-
schen beziehen können.
Positive Bezeichnungen wie "Entwicklung" und "Zivilisation" habe ich
hier genutzt, um bestimmte Diskurse über Struktur und Kultur vorzustellen.
Der Begriff Entwicklung deckt nicht allein ökonomische, sondern auch poli-
tische und institutionelle Faktoren ab. Und durchgehend wird der Leser die-
ses Buches auf die vier Räume Natur, Selbst, Gesellschaft und Welt stoßen -
und dann auf Zeit und Kultur. In allen sechs spielen Gewalt und Frieden eine
wichtige Rolle, weil das Leben in ihnen in Mitleidenschaft gezogen, aber
auch gesteigert werden kann. Die Probleme der Schmerzvermeidung und der
Verbesserung der menschlichen Lage sind hier allgegenwärtig. Kausale Zy-
klen, mit Gewalt und Frieden in ihrem Schlepptau, finden ihren Weg in allen
Räumen.
Die Friedensforschung erweitert sich gegenwärtig, umfaßt alle genannten
Räume und schließt den inner- wie den zwischenmenschlichen Frieden ein;
zugleich gewinnt sie eine neue Tiefe, indem sie an das individuelle und das
kollektive Unterbewußtsein reicht. Hier finden wir Freud und Jung; auf
Smith und Marx, Locke und Mill stoßen wir in Fragen der ökonomischen
und der politischen Entwicklung; auf Weber und Nakamura, Toynbee und
Sorokin in Fragen der Zivilisation. Und doch besteht das Ziel nicht in der
Theoriebildung - das Ziel liegt im Handeln, um Gewalt zu reduzieren und
den Frieden zu stärken. Nur: Um in Diagnose und Prognose akkurat und in
der Therapie adäquat zu verfahren, benötigen wir eine ebenso breit wie tief
angelegte Theorie.
458 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur

1 Den Frieden definieren - ein nie endender Prozeß


Ich habe viele Argumente angeführt für einen erweiterten Friedensbegriff,
der seinerseits auf einem Gewaltkonzept aufbaut, das nicht nur abstellt auf
direkte Gewalt, sondern auch strukturelle (indirekte) und kulturelle (Legiti-
mations-) Gewalt einschließt. Friede = direkter Friede + struktureller Friede
+ kultureller Friede. Doch hat diese Definition einen fundamentalen Mangel:
Sie ist zu statisch. Also habe ich ein dynamisches Friedenskonzept einge-
führt: Frieden haben wir dann, wenn eine kreative Konflikttransformation
ohne den Einsatz von Gewalt stattfindet. Hier nun wird ,Friede' gesehen als
Systemeigenschaft, als ein Kontext, innerhalb dessen gewisse Dinge auf eine
ganz spezielle Art und Weise geschehen können. ,The proof of the pudding is
in the eating'; die Probe auf eine Ehe erfolgt, wenn sie in rauhes Fahrwasser ge-
rät; das Kriterium für Frieden besteht in der Fähigkeit, mit Konflikten umzu-
gehen. Auf drei Punkte stellt die vorstehende Definition ab: Konflikte können
transformiert werden (sie werden also nicht ,gelöst'), und zwar von Menschen,
die kreativ mit ihnen umgehen und dabei bestehende Unvereinbarkeiten über-
winden - und die im Konflikt agieren ohne den Rückgriff auf Gewalt.
Dies stellt einige Anforderungen an das Konfliktsystem und die darin ver-
strickten Akteure. Diese müssen sich gewaltlos und kreativ verhalten. Und
die Transformation (innerhalb und außerhalb der Streitparteien, der Dialoge
und Konferenzen etc.) sollte friedlich in sich selbst und das heißt gering an
struktureller und kultureller Gewalt sein. Läuft ein Transformationsprozeß,
dann sollten vertikale, elitäre Strukturen vermieden (oder doch zumindest
nicht verstärkt) werden. Der Prozeß sollte im Rahmen einer Friedenskultur
vonstatten gehen, die eine kreative, gewaltfreie Behandlung des Konflikts le-
gitimiert und dabei physische und verbale Gewalt ausschließt.
Friede ist ein revolutionäres Projekt. Erforderlich ist nicht allein eine Frie-
denskultur, sondern auch eine Friedensstruktur: zwei Eigenschaften eines
Friedenssystems, die die Akteure hinsichtlich Gewaltfreiheit und Kreativität
formen, ebenso wie sie von diesen geformt werden.

2 Im Namen liegt die Botschaft


FriedensforscherInnen entwickeln sich weiter: Von typischen Universitäts-
aktivitäten wie der Friedensforschung, die auf einer gewissen Distanz zu den
untersuchten Phänomenen beruht, oder der Friedenserziehung, die sich um
die Vermittlung der Resultate der Friedensforschung bemüht, gehen sie über
zum Friedenshandeln, zur Umsetzung der Befunde der Friedensforschung
und zum direkten Kontakt mit zumindest einer Partei eines akuten Konflikts.
Wie sollte man solche Leute nennen?
Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur 459

Menschen, die Forschung betreiben, sind offensichtlich ForscherInnen; die


bescheiderenen "Friedensstudien" (peace studies) praktizieren wahrscheinlich
eher Studierende (aber natürlich hören auch ProfessorInnen nicht auf zu ler-
nen ... ). Menschen, die sich in der Erziehung engagieren, sind ErzieherInnen -
LehrerInnen oder ProfessorInnen. Aber wie steht es mit den Leuten, denen das
Friedenshandeln (peace action) angelegen ist, was sind sie?
"AkteurIn" schmeckt zu sehr nach Theater oder nach Soziologie. "Frie-
densbewahrerIn, -macherln, -bildnerIn, promotorln" sind nützliche Begriffe,
um bestimmte Tätigkeiten zu beschreiben, aber wenn sie aufgefaßt werden
als ein Vertrag mit der Öffentlichkeit, dann dürften die Praktiker hier mehr
versprechen, als sie leisten können. So klingt im heutigen Jugoslawien selbst
die bescheidene Bezeichnung "FriedensbewahrerIn" bestenfalls nach Witz,
schlimmstenfalls nach Betrug. "FriedensaktivistIn" deckt alles Gesagte ab,
allerdings mit einem Stich ins Naive und Unprofessionelle. "Konfliktman-
agerIn" würde jeder verwerfen, der ein Gefühl für strukturelle Gewalt als
Nicht-Friede bewahrt hat; "Konflikthelferln" oder "Konfliktassistentln" rie-
chen nach falscher Bescheidenheit. "Konflikterleichterer" (conflict facilita-
tor) könnte gedeutet werden als "Konfliktbeförderer" (conflict enhancer), als
jemand, der die Gewalt so richtig in Gang setzt. Und "Konflikttransformie-
rerIn" klingt zu sehr nach Elektrizität.
Ich würde daher votieren für FriedensarbeiterIn bzw. KonfliktarbeiterIn.
Diese Bezeichnungen sind bescheiden und enthalten kein eingebautes Ver-
sprechen, das dem, was dann wirklich herauskommt, nicht entsprechen mag.
Diese ArbeiterInnen sollten ausgebildet sein, aber auch die unausgebildeten
werden nicht ausgeschlossen. Worauf es ankommt, ist, gute Arbeit zu leisten,
nicht aber, Ansprüche auf Berühmtheit zu erheben oder eine Pressekonferenz
einzuberufen - nach dem Vorbild vielleicht der katholischen Nonne, die han-
delt, aber die man weder sieht noch hört.
SozialarbeiterInnen scheinen sich so zu verstehen; ähnlich die Gesund-
heitsarbeiterInnen, zumindest die aus den unteren Rängen der Berufe im Ge-
sundheitswesen. Auch gibt es einen Anklang von Quantität: Es könnte viele,
sogar sehr viele von ihnen geben (man denke an einen Schwarm von Kon-
flikt- und FriedensarbeiterInnen, die solange auf einen Konflikt losgelassen
werden, bis die Parteien mit gewalttätigen Neigungen einlenken, und sei es
aus keinem anderen Grunde, als um erstere loszuwerden). Dies mag ein wenig
gewalttätig klingen, ist aber viel besser als die naive Alternative: irgendein
nichtssagendes Abkommen, das zwar auf höchster Ebene unterschrieben wird,
gewöhnlich allerdings allein einige hochgradig vergessenswerte "Staatsmän-
ner" bindet, die sich bemühen, direkte durch strukturelle Gewalt zu ersetzen.
460 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur

3 Realismus des Kopfes, Idealismus des Herzens


Man benötigt viel, wenn die Aufgabe von Friedensarbeit darin besteht, Lei-
den abzubauen (Dukkha) und das Leben zu stärken (Sukha) , und zwar das
ganze Leben - also auch durch den Frieden mit der Natur. Der Verstand wird
Wissen aufnehmen, produzieren und bewahren müssen - holistisches, nicht
allein transdisziplinäres, und globales, nicht allein transnationales Wissen -,
und dieses Wissen wird, um angemessen zu sein, realistisch sein müssen.
Niemand tut irgend jemandem einen Gefallen, wenn er die Wirklichkeit mit
ungerechtfertigt optimistischen oder pessimistischen Projektionen überzieht.
Hier besteht die Gefahr eines apodiktischen "Wissens", des synthetischen
Aprioris, das Wahrheit auf Befehl verspricht und keiner Überprüfung an der
empirischen Realität bedarf. Im Westen kann man Ableger dieser "Apodik-
tizität" in den Nachfolgedisziplinen der Theologie finden, die Träger eines
unfalsifizierbaren Wissens sind, seit Gott während der Aufklärung zu sterben
begann und Staat und Kapital zurückließ: Jurisprudenz im allgemeinen und
Diplomatie im besonderen auf Seiten des Staates, Wirtschaftswissenschaften
auf Seiten des Kapitals.
Ein solches Wissen mag sich behaupten können in einer idealen Realität,
in der es die perfekte individuelle "Rationalität" und eine vollständige Ein-
sicht in die Konsequenzen möglicher Handlungen ebenso gibt wie eine Ma-
ximierung der Produktmengen von Wahrscheinlich- und von Nützlichkeiten,
so daß man sich aller Verbrechen enthalten und zugleich ein optimales
Marktverhalten zeigen kann. Benehmen sich die Menschen nicht dieser
Theorie gemäß, so neigt man in der Regel dazu, sie und nicht die Theorie als
irrational zu schelten. Perfekte Individuen würden, in einer nahtlosen Ver-
bindung von Präskription und Prädiktion, von Vorschrift und Vorhersage,
letzterer perfekt entsprechen. Solche Art Quasi-Wissenschaft, die so funda-
mental für unsere Zivilisation ist, kann man auch finden bei Gandhi oder bei
irgendeinem Friedensarbeiter, dessen "Wissen" zusammengefaßt werden
kann in der Formel "perfekte Gewaltlosigkeit wirkt perfekt". Und das tut sie
in der Tat: in einer idealen Realität nämlich.
Und doch ist empirisch fundiertes Wissen alles andere als hinreichend. Der
Kampf um Frieden ist gewöhnlich ein Kampf darum, die empirische Realität
gerade deswegen transzendieren zu dürfen, weil sie als solche eine gewaltlose,
friedliche Konflikttransformation nicht erlaubt. Das bedeutet, daß neue Realitä-
ten in den Köpfen der Menschen Gestalt annehmen müssen, als potentielle, ja
ideale Realitäten. Das Recht, bescheidene Utopien zu pflegen und zu verfolgen,
ist ein grundlegendes Menschenrecht, aber keineswegs identisch mit dem
Recht, totalitären Utopien, die die Beziehungen aller Menschen umfassen,
nachzugehen, es sei denn in der Phantasie. Ebensowenig haben wir das Recht
anzunehmen, wir lebten schon in partiellen oder totalen Utopien und könnten
jeden empirischen Beleg des Gegenteils als irrelevant abtun.
Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur 461

Die Fähigkeit, die man braucht, um jede empirische Realität zu über-


schreiten, ist bekannt als Vorstellungskraft; sie ist verwandt, aber nicht iden-
tisch mit dem Wissen. Nur: Wie phantasievoll auch immer unsere Hypothe-
sen darüber, wie eine potentielle Realität aussähe, und wie sie zu schaffen
sei, ausfallen mögen, unter keinen Umständen sollten wir in die Falle laufen,
daß wir unsere Hypothesen in derselben Art und Weise vor Falsifizierung
schützen, wie es die drei oben genannten Typen apodiktischen Wissens getan
haben. Falsifizierbarkeit bleibt in jeder Hinsicht ein wichtiger Führer (aber
kann dieser Führer selbst falsifiziert werden?).
Dann hätten wir gern, daß unsere Herzen Mitgefühl aufnähmen, produ-
zierten und bewahrten, Mitgefühl mit dem Leiden ebenso wie mit den Freu-
den und Lebensgewinnen unserer Mitmenschen. Wie im Falle des negativen
Friedens ist Mit-Leiden nur die halbe Geschichte, ebenso wichtig ist die Mit-
Freude, das gemeinsame Glücksgefühl.
Und doch reicht auch dies noch nicht hin. Alles bisher Genannte muß so
tief in den FriedensarbeiterInnen verwurzelt sein, daß es Rückschläge und
heftige Reaktionen überdauern kann. Kurz, es bedarf der Beharrlichkeit, der
Fähigkeit weiterzumachen, auch wenn es kein positives Feedback oder über-
haupt kein Feedback gibt. Dies wirft natürlich wieder das Problem der Apo-
diktizität auf. Wie kann ich denn wissen, auf dem rechten Weg zu sein, wenn
ich kein oder sogar nur ein negatives Feedback habe? Du kannst es nicht wis-
sen. Du hast nichts als deine Intuition und die Anleitung durch andere, wor-
auf du dich verlassen mußt.
Wissen, Vorstellungskraft, Mitleiden, Beharrlichkeit. .. Das Argument, daß
diese Tugenden sich aufaddieren zu Fähigkeiten, zu einem Syndrom sich wech-
selseitig verstärkender Vermögen, läßt sich dem Argument entgegenhalten,
"dies alles sei zuviel verlangt". Rollenvorbilder existieren! Man kann sie so
leicht erkennen im Falle der Mönche und Nonnen der unterschiedlichsten Re-
ligionen, die mit Kopf und Herz ihr Leben dem Dienst an anderen menschli-
chen Wesen geweiht haben. Es gibt Ärzte und Krankenschwestern, Sozialarbei-
ter usw. Und es gibt desweiteren Vorbilder, die uns so nahe stehen, daß wir sie
oft gar nicht wahrnehmen: unsere eigenen Mütter, andere Familienmitglieder,
im besten Fall wir selbst im Verwandten- und Freundeskreise.
Geht es gut, sorgt die Universität in der positivistischen Tradition für das
Wissen, unter Auslassung der anderen drei Erfordernisse. Geht es schlecht,
verhält sie sich so apodiktisch, daß das Wissen selbst nutzlos wird. Zwei-
felsohne sind die Familien, denen wir entstammen und in denen wir uns fort-
pflanzen, die wichtigsten Universitäten und Laboratorien; hier lernen wir
(oder lernen wir nicht) die Grundlagen, hier werden wir auf mancherlei Pro-
be gestellt. Aber die Primärgruppe ist weder unser einziger Ort, noch stellt
sie allein uns auf die Probe.
Wir stehen nun vor dem konkreten Problem der Untauglichkeit der Uni-
versitäten zum Training von FriedensarbeiterInnen. Wahrscheinlich läßt sich
462 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur

hier viel lernen von Klöstern und Militärschulen: In beide Institutionen wird
die einzelne Person viel umfassender einbezogen. Natürlich vermittelt das
Militär Wissen darüber, wie man das Leiden verlängert und das Leben ver-
kürzt, und dies in einer Einstellung, die Mitgefühl für die eigene und Haß für
die andere Seite reserviert. Gleichwohl sind Phantasie und Ausdauer hier
Schlüsseltugenden. Man lege ein Handbuch für Soldaten - das im wesentli-
chen beibringt, wie man mordet, ohne dasselbe Schicksal zu erleiden - neben
Handbücher für gewaltfreies Handeln: Die Unterschiede zu identifizieren, ist
einfach, aber die Gemeinsamkeiten gehen viel tiefer. Tatsächlich gibt es hier
reichlich Raum, voneinander zu lernen, sobald man das Militär abbringt von
seiner Gewalttätigkeit und seinen Attacken auf andere Nationen und andere
soziale Klassen.

4 Staatensystem und Friedenssystem - vereinbar oder


nicht?
Ein Grund, weshalb das gegenwärtige Staatensystem im wesentlichen unver-
einbar mit einem dauerhaftem Frieden ist, liegt im Patriarchat der Staaten, in
ihrer Arroganz und Geheimnistuerei, in ihrer causa sui-Mentalität, ihrem
Glauben also, ihre eigene Ursache zu sein und von niemand anderem (und
erst recht nicht durch Demokratie) in Bewegung gehalten zu werden, in ih-
rem Monopol auf die ultimativen Gewaltmittel und in ihrer Neigung, diese
zu nutzen ("für den, der einen Hammer hat, scheint die ganze Welt aus Nä-
geln zu bestehen"). All dies ist schlimm genug; wenn es im allgemeinen auch
weniger deutlich von kleineren Staaten zum Ausdruck gebracht wird, so um-
so deutlicher von den großen und erst recht von den Super-Staaten.
Darüber hinaus aber erhalten sich Staaten am Leben durch ein spezifisches
Glaubenssystem, dessen zentrale Überzeugungen, grob betrachtet, so lauten:
- das Weltsystem ist wesentlich ein Staatensystem;
- Staaten werden im Weltsystem repräsentiert allein durch die Staatsober-
häupter/die Regierungen, durch Außenminister und Diplomaten;
- diese Repräsentanten verfügen über das Monopol, die Staatsinteressen
(nationale Interessen) zu definieren, und ihre Aufgabe besteht darin, sie zu
befördern;
- Staateninteressen sind manchmal unvereinbar; das Hauptinstrument, diese
Unvereinbarkeiten zu beseitigen, sind Verhandlungen; deren Inputs sind
Staatsinteressen, deren Outputs ratifizierbare Verträge bzw. Konventionen;
- die Welt- und menschlichen Interessen bestehen aus der Summe der wech-
selseitig abgestimmten Staatsinteressen (vergleichbar der Formel: männli-
che Interessen =menschliche Interessen).
Friede und Konflikt. Entwicklung und Kultur 463

Das Problem liegt beim ersten und beim letzten Satz. Beide sind eklatant
falsch und werden wahrscheinlich vornehmlich vertreten von Menschen mit
einer Geistesverfassung, wie im ersten Satz dieses Abschnitts beschrieben.
Die Überzeugung, daß Menschen, die geübt sind in der Beförderung natio-
naler Interessen (und die gerade dafür bezahlt werden), ipso Jacto geeignet
seien, die Welt- und menschlichen Interessen zu befördern, verdankt sich ei-
nem Glaubensakt (wieder einmal: Apodiktizität).

5 Paradigma I: Das Gleichgewicht der Macht (vorwiegend


inter-systemar)
So wie die Friedensforschung gegen Ende der fünfziger Jahre zur Institutio-
nalisierung fand, war sie offensichtlich zum Teil ein Kind des Kalten Krieges
(Kalten Friedens!). Das Paradigma des Gleichgewichts der Macht - vom We-
sten als Superiorität, vom Osten als Parität interpretiert - wurde von Frie-
densforscherInnen nicht als deskriptives Modell der Ziele und Absichten, de-
nen die Akteure anhingen, zurückgewiesen, sondern als normatives Paradig-
ma des Friedens.
Eine Richtung der Kritik konzentrierte sich auf den Begriff der Balance
und behauptete, diesem Begriff fehle jede operationale Entsprechung, mithin
sei er nichtssagend. Weder die Akteure noch Dritte könnten sich jemals ver-
ständigen über die Bedeutung von "Balance" - wenn man nicht mit der
höchst unrealistischen Unterstellung arbeiten wolle, es handele sich um zwei
Länder bzw. Allianzen, die beide vergleichbar und speziell mit qualitativ
identischen Waffensystemen ausgestatten seien, und es gehe somit zuletzt um
quantitative Identitäten. Man verzichte nur auf eine der genannten Annah-
men, und alle Parteien können jeweils für sich ein Defizit behaupten - und
damit zugleich das ins Paradigma eingebaute Recht auf quantitative und/oder
qualitative Aufrüstung, sogar im Namen des Friedens.427
Die andere Kritiklinie, die Kritik am Begriff Macht, konzentrierte sich auf
das, was am Ende der Spirale des Wettrüstens liegen mochte: Krieg "mit al-
len notwendigen Mitteln". Die subjektive Wahrscheinlichkeit eines Nuklear-
kriegs mag bei den Nuklearplanern gering gewesen sein, sie lag in keinem
Fall bei Null, weil in diesem Fall die Glaubwürdigkeit eines Zweitschlags
ebenfalls auf Null gesunken wäre. Tatsächlich faßten die Planer einen Holo-
caust ins Auge, der, sagen wir, 500 Millionen Menschen auf dem Nato-War-
schauer Pakt-Kriegsschauplatz ausgelöscht hätte. Die meisten dieser Planer
sind heute weiterhin auf freiem Fuß.

427 Dies wird detaillierter untersucht in meinem Buch There are Alternatives!, Notting-
harn 1984, Kap. 3 und 4.
464 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur

Kann man sagen, da es ja keinen Krieg gab, daß "die Abschreckung funk-
tionierte"? Lassen wir einmal beiseite, daß eine solche Behauptung voraus-
setzt, daß eine, wenn nicht beide Seiten tatsächlich einen Nuklearkrieg ge-
plant, sich aber vor den Konsequenzen gefürchtet hätte(n), bleibt das funda-
mentale Problem, wie sehr Planer und Verplante durch dieses, eine Mega-
Gewalt legitimierende Vorgehen brutalisiert wurden.
Stellen wir uns ein Auschwitz vor, ausgestattet mit Gaskammern und Kre-
matorium, aber gebaut, um Menschen, Juden eingeschlossen, einen Schrek-
ken einzujagen, um sie von "Devianz" abzuhalten. Würden wir dies als letzt-
lich unschuldig verzeihen? Oder nähmen wir die enorme psychologische
Gewalt wahr, die hier an potentiellen Opfern ausgeübt würde, auch wenn
man die Drohung nicht ausführte, und die Brutalisierung aller an dieser
monströsen Übung Beteiligten?

6 Paradigma 11: Herrschaft des Rechts/


Rechtsstaatlichkeit (vorwiegend intra-systemar)

Kaum war der Kalte Krieg vorüber, besetzte Paradigma 11 die Szene, das Pa-
radigma, mit inneren Konflikten vor allem mittels Bestrafung derjenigen um-
zugehen, die innerhalb des Systems dessen Bestimmungen verletzen, eher als
mittels Abschreckung von Außenstehenden. Das Paradigma startet mit legi-
tim produzierten Normen, geht dann über zu deren Anwendung, um be-
stimmte Handlungen als Verstöße zu klassifizieren, zu diesen Verstößen als
Gründen, Akteure vor Gericht zu stellen, zum Einsatz dieser Gerichte, um
freizusprechen oder zu verurteilen, zum Gebrauch der Urteile, um Schmerzen
zuzufügen, schließlich zum Einsatz von Schmerzen, um der Opfer unter-
stelltes Bedürfnis nach Rache zu befriedigen und zugleich den Funktionen
individueller und genereller Prävention zu dienen. Es handelt sich hier um
ein Paradigma mit religiösen Wurzeln, das nun aber den Staat an Gottes
Stelle sieht. Es gibt der Versöhnung zwischen Täter und Opfer keinen Raum,
sorgt aber für reinen Tisch nach Abbüßung der Strafe.
Die Internationalisierung dieses Paradigmas verlangt nach internationalen
Normen (Internationales Recht) und der Konzeptionalisierung des Weltsy-
stems als eines Binnensystems. Auf dieser Linie folgen dann Kap. VI und
VII der UN-Charta, die von diplomatischen und ökonomischen Sanktionen
über Maßnahmen der Friedenserhaltung bis zur Friedenserzwingung reichen.
Dies verschafft dann die Möglichkeit, Länder zu isolieren, zu marginalisie-
ren, als Ausgestoßene zu stigmatisieren und dabei langsam die Alten und
Kranken, die Frauen und die Kinder - oder kurz: entlang der Ränder patriar-
chaler bzw. meritokratischer Gesellschaften - zu töten, wobei man "sie" zu-
letzt zurückbomben kann in vorindustrielle oder Steinzeiten. Vom militäri-
Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur 465

schen Standpunkt aus bedeutet das Ganze die Chance, ungestraft Gewalt zu
entfesseln, da die andere Partei schwächer ist; wäre sie dies nicht, hätte man
Paradigma I angewandt. Für eher zur Gewalt Neigende muß dies wunderbar
sein, eine Gelegenheit, das zu praktizieren, was sie gelernt, aber ausüben
nicht gedurft hatten zur Zeit der Geltung von Paradigma I (wie in einem
Kloster, in dem es Sexualerziehung gibt, aber in dem man sich nach etwas
Praxis sehnt).
Dieses gewalttätige, rachebeladene Paradigma 11 - mit seiner Inanspruch-
nahme einer apodiktischen Kenntnis dessen, was rechtens bzw. rechtsstaat-
lich ist - sollte man nicht als eine friedliche Alternative zu Paradigma I will-
kommen heißen. Empirische Untersuchungen zu den Thesen der Individual-
und Generalprävention im Rahmen inländischer Rechtssysteme lassen er-
kennen, daß Bestrafung innerstaatlich schlecht funktioniert; wie könnten wir
annehmen, daß sie besser funktioniert auf der zwischenstaatlichen Ebene, wo
die Normen noch weniger internalisiert sind? Diplomatische Sanktionen iso-
lieren den Akteur, mit dem wir den Dialog am dringensten benötigen. Öko-
nomische Sanktionen sind ein langsam wirkendes Mittel, jedermann zu töten,
diejenigen kräftigen männlichen Wesen ausgenommen, die man durch di-
rekte Gewalt töten kann. Beide Maßnahmen zusammengenommen stigmati-
sieren ein Land als ein Paria-Land und präparieren es, mit Unterstützung der
Massenmedien, als ein Empfängerland für "alle notwendigen Mittel".
Kriegsverbrechertribunale, wie das International Crimes Tribunal for
Former Yugoslawia (ICTFY) in Den Haag mit seinen 24 Gefängniszellen,
stellen zugleich ein Mittel dar, Märtyrer zu schaffen. Hier werden Täter für
gräßliche Taten bestraft, wenn es sich um Unterklassen-Menschen aus Un-
terklassen-Ländern ("der Balkan") handelt und sie direkt, von Angesicht zu
Angesicht töten, nachdem sie vorher oft gefoltert und vergewaltigt haben -
im Gegensatz zu denen, die kühl aus der Distanz töten, und zu denen ,ganz
oben', die ihre Befehle von außen geben oder im Innern politische Situatio-
nen manipulieren. Die verhängnisvolle vorzeitige Anerkennung Sloweniens
und Kroatiens, ausgesprochen vom Ministerrat der Europäischen Union
(damals Gemeinschaft) Mitte Dezember 1991, war ein Fehler von vielleicht
dreifacher V-Größenordnung, wobei V den Fehler des Versailler Vertrags
von 1919 bezeichen soll. (Ein Fehler gleicher Größenordnung war übrigens
die versagte Anerkennung der algerischen Wahlergebnisse zugunsten der
FIS, einige Wochen später, Ende Dezember 1991.) Gleich ob im Falle der
EU oder der Herrscher in Algerien, es handelte sich um autokratische Ent-
scheidungen, die von manipulierenden und manipulierten Medien begrüßt
wurden.
Aber sollten wir denn individuelle Verbrechen einfach geschehen lassen
und uns allein, mit Hilfe von Dialogen und Versöhnungsübungen, auf das
schlechte kollektive karma, auf das sinkende Schiff und seine Löcher anstatt
auf Schuld-Zuschreibung konzentrieren? Haben die Opfer kein Recht zur
466 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur

Ausübung von Gerechtigkeit? Sind die Mitbürger der Verursacher dieser


scheußlichen Verbrechen nicht berechtigt, von kollektiver Schuld dadurch
freigesprochen zu werden, daß die Finger in die richtige Richtung zeigen?
Dies sind ernstzunehmende Fragen, und es gibt, soweit ich sehen kann,
keine voll befriedigenden Antworten. So werde ich, gerade so wie oben im
Falle von Paradigma I, auch Paradigma 11 nicht vollständig verwerfen, son-
dern mich selbst positionieren als dessen Kritiker, der unter der Verpflich-
tung steht, konstruktive Antworten zu präsentieren.
Einiges in diese Richtung können wir schon finden in dem vielverspre-
chenden Instrument der Wahrheitskomissionen, die im postdiktatorischen
Zentral- und Süd amerika wie in Südafrika wirksam werden. Nehmen wir an,
diese hätten die empirische Aufgabe festzustellen, was geschah, wie es ei-
gentlich gewesen (dt. i. Orig.), die kritische Aufgabe, die Befunde in klaren
Begriffen und im Lichte grundlegender, geheiligter oder säkularer Werte zu
evaluieren, und die konstruktive Aufgabe, zwei Grundfragen zu stellen: Was
sollten und was könnten wir an diesem und an jenem Scheideweg in der Ver-
gangenheit getan haben (Therapie der Vergangenheit), und was können wir
nun tun?
Zumutungen, gewiß. Aber die Dokumente, die wir bereits haben, machen
Mut, insbesondere, wenn viele und sehr verschiedenartige Bürger ihre Aus-
sagen zu Protokoll geben. Selbst wenn dies anonym geschieht, wird jeder
wissen, um wen es sich handelt, und dies wiederum wissen die Betreffenden
auch. Aber sie sind nun auch weniger stigmatisiert, freier, dieselben Schluß-
folgerungen zu ziehen wie der Rest ihrer Gesellschaft. Wenn man einen
Dialog organisiert zwischen ihnen und den Opfern und Hinterbliebenen, an-
statt Gefängnismauern dazwischen zu setzen, dann könnte - könnte - ein viel
tieferer Frieden möglich sein.

7 Frieden mit friedlichen Mitteln: drei Punkte

Wenn die Gleichung gilt: Gewalt = direkte + strukturelle + kulturelle Gewalt,


was können FriedensarbeiterInnen dann genau tun, um Gewalt zu verhindern
oder ungeschehen zu machen? Keine Frage: diagnostizieren, prognostizieren
und therapieren - nur wie?
Zu einem guten Teil kann direkte Gewalt zurückgeführt werden auf verti-
kale strukturelle Gewalt, wie Ausbeutung und Repression; sie dient dann der
Befreiung oder der Verhinderung von Befreiung. Im Hintergrund finden wir
kulturelle Gewalt, die strukturelle wie direkte Gewalt legitimiert, zum Zwek-
ke ihrer Beseitigung wie dem ihrer Aufrechterhaltung. Die Prognose ist
schlecht: Gewalt produziert Gewalt, zum Teil aufgrund eines simplen Rache-
mechanismus, zum Teil aufgrund der Tatsache, daß man Gewaltakte einsetzt,
Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur 467

um das schlechte Gewissen zu beseitigen, das sich dem eigenen Einsatz von
Gewalt verdankt.
Ein Ansatz bestünde nun darin, den Raum für die Akteure zu erweitern,
innerhalb dessen sie im Falle eines Konfliktes gewaltfrei vorgehen können,
indem man in die Verfahren der Friedensbewahrung (peace-keeping) mehr
gewaltfreie Rollen (bzw. mehr Rollen mit niedrigem Gewaltanteil) einbaut.
Militärisches Training bleibt weiterhin unersetzlich: um Gewalt einzudäm-
men. Notwendig sind Kenntnisse über die Instrumente der Gewalt und die
Mentalität, die hinter ihrem Einsatz steht. Um "die Massen zu kontrollieren",
dürfte jedoch eine angemessene Ausbildung der Polizei besser sein, insofern
deren Tun mehr auf einer Zurschaustellung von Autorität und nur auf mini-
malem Gewalteinsatz beruht. Hinzu käme aktives gewaltfreies Training, das
auch vermitteln sollte, wie die lokale Bevölkerung entsprechend trainiert
werden müßte, sowie ein Training in Techniken der Konfliktvermittlung,
damit man weiß, was man sagen und tun sollte, wenn man sich plötzlich in
einem Raum mit Konfliktparteien befindet, die erfüllt sind von wechselseiti-
gem, gut begründbarem Haß.
Da Frauen stärker darin sind, Beziehungen herzustellen, und zugleich
weniger geneigt, technische Ausrüstung zum Einsatz zu bringen, sollte man
sicherstellen, daß 50 Prozent der FriedensbewahrerInnen Frauen sind. Frie-
densbewahrung ist jetzt 40 Jahre alt, die nächsten 40 könnten noch einiges
besser werden.
Friedensschaffung (peace-making) kann man identifizieren mit der Suche
nach kreativen und zugleich akzeptablen und dauerhaften Resultaten eines
Konflikts. Es gibt immer noch einen Fehler, den man nicht länger verzeihen
sollte: die Konzentration auf das ,Spitzengespräch " den runden Tisch für die
"Führer". Laßt statt dessen tausend Konferenzen ,blühen', benutzt moderne
Kommunikationstechnologien, um unter Einbezug der ganzen Gesellschaft
einen sichtbaren Fluß von Friedensideen zu erzeugen. Die Vorschläge mögen
widersprüchlich sein, aber warum sollte der Frieden überall das gleiche Ge-
sicht tragen? Zapft alle Einsichten an, marginalisiert niemanden und ver-
sucht, aus dem Prozeß des Friedenschaffens selbst ein Modell strukturellen
Friedens zu machen. Anzunehmen, daß eine Handvoll Diplomaten dies allein
bewirken könne, ähnelt dem (post-)stalinistischen Glauben, 400 Appa-
ratschiks könnten eine Ökonomie für 400 Millionen Menschen planen. Oder
schaut nach Israel/Palästina, wo die politischen Führer beider Seiten offen-
sichtlich die Friedensbewegungen deaktivieren. Die Aufgaben hier sind so
furchtbar komplex, daß man die Beteiligung der Massen an ihrer Lösung
braucht. Und Kreativität kann man überall finden, wenn man sie nur ange-
messen stimuliert.
Maßnahmen der Friedenskonsolidierung, des Friedensaufbaus (peace-
building) fallen zusammen mit der Implementierung eines strukturellen und
kulturellen Friedens. Man benötigt die Fähigkeit, die nicht-artikulierten
468 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur

strukturellen Konflikte überall in der Gesellschaft zu erkennen; was nicht


heißt, daß man versuchen sollte, sie alle zu lösen (was in jedem Falle unmög-
lich wäre), aber doch, sie alle zu erkennen: ein sehr wichtiger Schritt in
Richtung einer positiven Transformation. Man muß also Ausbeutung, Re-
pression und Marginalisierung (vertikale strukturelle Gewalt) ebenso identifi-
zieren wie Gruppen, die zu nahe beieinander sind, um sich nicht wechselsei-
tig zu beharken, oder zu weit auseinander, um noch symbiotisch interagieren
zu können (horizontale strukturelle Gewalt). Das Vertikale sollte horizontaler
gemacht und das Horizontale optimiert werden.
Kulturelle Gewalt zu beseitigen ist noch schwieriger. Hier wie schon im
Falle struktureller Gewalt ist die Metapher von der "Spitze des Eisbergs"
hilfreich. Nun aber ist der verborgene Teil desselben nicht tief vergraben in
der sozialen Struktur, sondern in der Kultur, eingelassen ins kollektive Unter-
bewußte. Im Falle von Diplomaten, die verhandeln, lassen sich so vier
Schichten bezeichnen: die nationalen Interessen, die sie unterstellterweise re-
präsentieren (etwa: den Wunsch nach Basen im Ausland), die individuellen
Interessen (z.B. die Entfaltung glanzvoller Verhandlungsqualitäten für Kar-
rierezwecke), das individuelle Unterbewußte (z.B. der Wunsch, ein Unterle-
genheitsgefühl zu überwinden) und das kollektive Unterbewußte mit seinen
impliziten Annahmen über das Normale und Natürliche (Kosmologie, kul-
turelle Codes, Tiefenkultur).
Ein Beispiel ist das DMA-Syndrom (Dichotomisierung, Manicheismus,
Armageddon). Hier wird die Welt als bipolar wahrgenommen (etwa: der We-
sten gegen eine islamisch-konfuzianische Allianz)428, die eine Seite gilt als
gut, die andere als böse (man rate, welche), und man behauptet einen bevor-
stehenden Kampf (also bereite dich besser darauf vor). Bildet DMA das ge-
meinsame kollektive Unterbewußte bei Verhandlungen, dann besteht ein na-
türlicher nächster Schritt darin, daß Diplomaten mit Linealen Linien auf
Karten ziehen. Jede dieser Linien mag eine Waffenstillstandslinie sein. Als
solche mag sie Bestand haben und vielleicht eines Tages sogar eine Frie-
denslinie werden, wenn der Prozeß in echter Selbstbestimmung gründet. Sie
kann aber auch zur Kriegslinie werden, zur Einladung für ethnische Säube-
rung auf beiden Seiten der Linie, um jeweils das Territorium einer Nation zu
festigen.
So kann ein kollektives Unterbewußtes besonders gefährlich sein, wenn
dessen geteilten, aber nicht ausgesprochenen Unterstellungen eher kriegs- als
friedensträchtig sind. Darum sind verhandelnde Eliten, die die Transparenz
nicht nur der (geheimen) Ergebnisprotokolle, sondern auch des Verhand-
lungsprozesses (geheime "sensitive" Verhandlungen) abzublocken suchen,
entscheidende Hindernisse auf dem Weg zum Frieden.

428 Dies ist eine der destruktiven Phantasien in Samuel Huntingtons These vom "Zu sam-
menprall der Nationen".
Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur 469

8 Reversiblität als Legitimationsprinzip des


Friedenshandelns
"Weil es zum Frieden führt", reicht als Handlungsbegründung nicht aus; da
wir dies im voraus nicht wissen können, handelte es sich wieder einmal um
Apodiktizität. "Weil es zum Frieden führen soll", reicht ebensowenig; jeder
kann das von sich behaupten, und selbst das Militär könnte protestieren, auch
wenn es bereit ist, den Tod um sich herum zu verbreiten, denn "Friede ist un-
ser Beruf'. "Weil es eine Nachfrage gibt und wir das Angebot liefern", oder
"weil wir das Angebot sind und die Nachfrage schaffen", reflektieren die
beiden Seiten der Logik des Marktes, reichen aber nicht aus zur Rechtferti-
gung, insofern beide Begründungen die Verantwortung auf der Nachfragesei-
te lokalisieren. Kommt diese Nachfrage aber von Seiten des Staatssy sterns ,
dann will es manchem so scheinen, als sei dadurch das Legitimierungspro-
blem gelöst, zumal wenn die Regierung demokratisch ist und die Vereinten
Nationen erst demokratisch wären. Das System der Vereinten Nationen wird
sich wahrscheinlich in Richtung globaler Demokratie entwickeln, dies aber
kaum sehr schnell.
Das Recht eines jeden, seinem besten Wissen gemäß aus Mitgefühl zu
handeln, um Leiden zu vermindern und die Erscheinungsweisen des Lebens
zu stärken, sollte nicht in Frage gestellt werden. Als Lebewesen aber sind wir
unvollkommen, und so verhält es sich mit unserem Mitgefühl wie mit unse-
rem Wissen. Aus diesem Prinzip genereller menschlicher Fehlbarkeit sollte
man aber dann eine sehr grundlegende Konsequenz ziehen: Handle so, daß
die Folgen deines Tuns reversibel sind. Ziehe ein Handeln vor, das ungesche-
hen gemacht werden kann. Gehe sorgfältig vor. Du könntest unrecht haben;
dein Wissen mag unangemessen, dein Mitgefühl fehlgeleitet sein.
Aber ist das nicht kontra-intuitiv? Sollte Frieden nicht in Stein gemeißelt,
in Stahl geschmiedet werden? Nun, es könnte sich um den falschen Frieden
handeln, und selbst wenn es der richtige wäre, könnte er sich als zu statisch
erweisen. Frieden ist ein Prozeß. Gewiß dürfen wir eine generelle Neigung
menschlicher Wesen zur Steigerung des Lebens, zumindest eine Abneigung
gegen das Leiden unterstellen. Angemessener Frieden, ein sich immer ver-
bessernder Friede oder Friedensprozeß wird zweifellos Unterstützung auf
sich ziehen. Und dennoch gibt es hier kein perfektes, kein Patentrezept.
Natürlich ist Irreversibilität eine Frage des Grades. Von den meisten Men-
schen wird der physische Tod anerkannt als irreversibel für den Körper, als
final - ein starkes Argument nicht allein gegen die Todesstrafe, sondern ge-
gen tödliche Gewalt gleich welcher Art. Sie kann nicht mehr ungeschehen
gemacht werden. Darüber hinaus gilt: Man könnte die falsche Person töten.
Solche Argumente sind wichtige Schritte auf dem Wege zu einer grundsätzli-
cheren Haltung der Gewaltfreiheit; diese könnte gewiß auch Begründung
470 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur

finden in den Unterstellungen einer immanenten Auffassung von Religion,


im Gedanken "in jedem Menschen ist etwas von Gott". Verhalte dich also
zyklisch, nicht linear, in Gedanken wie in Werken.
Dies gilt nun auch für physische Gewalt gegenüber Artefakten. Ein zer-
störtes Gebäude läßt sich nie wieder herstellen. Es kann als solches nur imi-
tiert werden, wie jeder bezeugen wird, der den Wiederaufbau Europas nach
den Gewalttätigkeiten des Zweiten Weltkriegs miterlebt hat. Alles, was man
in Stücke schlägt, erleidet die hohe Entropie von Gewalt und Tod, die totale
Irreversibilität. Gewalt ist so irrational.
Aber wie steht es mit der Gewalt, die vielleicht schädigt und verletzt, die
aber vor dem Tod zurückschreckt? Wir kennen sie als Trauma, und selbst de-
ren qualifizierteste Bearbeitung, ausgeführt von Spezialisten in Fragen physi-
scher, dem Körper zugefügter, und spiritueller, der Seele zugefügter, Trau-
men, kann sie niemals völlig ungeschehen machen. Narben bleiben, auch bei
den Hinterbliebenen, bei denen, die mit dem inakzeptablen Tod eines gelieb-
ten Menschen fertig werden müssen. Zu unterstellen, daß alle Narben ver-
schwinden könnten, heißt, mit Körpern und Seelen ohne Gedächtnis rechnen,
die sich durch Ersatzteile heilen ließen.
Kann man erlernte Techniken direkter Gewalt (militärisches Training)
oder struktureller Gewalt (wie Aspekte der Mainstream-Ökonomie und Juris-
prudenz) wieder verlernen, oder ist der Schaden, so wie im Falle unseres
Wissens von der Herstellung nuklearer Waffen, irreversibel? Letzteres mag
sein, doch bedeutet das nicht, daß alles Wissen auch umgesetzt werden
muß.
429

Es gibt eine Entropie des Krieges und der Gewalt, es gibt aber auch eine
Entropie des Friedens. 43o Ich habe länger dafür argumentiert, daß chaotische,
höchst unterschiedliche Strukturen - und Kulturen (!) - mit allen möglichen
Verbindungen untereinander viel bessere Träger eines Friedens mit friedli-
chen Mitteln darstellen als klar umrissene Strukturen (z.B. polarisierte Alli-
anzen) und Kulturen (mit DMA-Syndromen) von niedriger Entropie, aber
hoher Energie: bereit für die Entscheidungsschlacht. Ein Widerspruch? Nein,
denn die Entropie des Friedens setzt intaktes, ja gestärktes Leben voraus,
aber dann derart organisiert, daß die spirituelle Entropie eines komplexen
Selbst wie die soziale Entropie höchst komplexer gesellschaftlicher und glo-
baler Unordnungen zunehmen kann. Die Entropie des Friedens ist eine Bar-
riere gegen die physische und spirituelle Entropie des Todes und der Gewalt.
Und in der Natur kennen wir die Entropie in Form reifer Ökosysteme, die auf

429 So ist das Wissen, wie Pyramiden zu bauen sind, weiterhin vorhanden oder kann
leicht wiedergewonnen werden; und doch sind in letzter Zeit wenig Pyramiden ge-
baut worden.
430 Für eine Untersuchung dieses Sachverhalts vergleiche "Entropy and the General
Therapy of Peace", S. 47-75 in Band I meiner Essays in Peace Research, Kopenha-
gen 1975.
Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur 471

tiefenökologischer Diversität und Symbiose beruhen. Auch hier lautet die


Formel: hohe Entropie.
Die Aufgabe kreativer, positiver Konflikttransformation besteht mithin
nicht allein darin, Gewalt zu vermeiden und sich des Irreversiblen zu enthal-
ten, sondern im Zuwachs an Entropie, indem man aus der jeweiligen Phase
des Konflikts mit einem reiferen Selbst und reiferen sozialen Formationen als
Umwelt hervorgeht. So erst wird der Konflikt zum Großen Lehrer, einem
spirituellen Geschenk für uns alle. Aber auch negativ kann die Konflikttrans-
formation verlaufen und dann enorme Irreversibilitäten in der Homo-, Bio-,
Litho-, Hydro-, Atmo- und Kosmosphäre hinterlassen, aber auch eine Schä-
digung der Seele, die nicht leicht mehr rückgängig gemacht werden kann:
Haß und Sehnsüchte nach Rache und Wiedergutmachung, die das Leben der
Betroffenen auf dem Bedürfnis gründen, eine Irreversibilität gegen die näch-
ste zu tauschen. Ein den komplexen kreativen Konflikttransformationsprozeß
leitender Geist der Versöhnlichkeit dürfte hilfreich sein, wie er praktiziert
wurde von dem zweiten Giganten dieses Jahrhunderts nach Gandhi, Nelson
Mandela - wie Gandhi ein Geschenk für uns alle.

9 Eine Therapie für die Vergangenheit: Versailles und


Jugoslawien
Bei einfachen wie komplexen Konfliktformationen besteht ein nützlicher An-
satz darin, die Beteiligten zu bitten, schicksalhafte Wendepunkte in der Ver-
gangenheit zu bezeichnen und sich dann zu fragen: Was sollte man, was
könnte man bis jetzt getan haben? Kontrafaktische Geschichte, mit anderen
Worten. Bezieht man dies auf den zweiten Weltkrieg, stößt man unweigerlich
auf das Problem des Versailler Vertrags von 1919.
Natürlich war er reversibel. Man hätte fünf Jahre später eine zweite, eine
Überprüfungskonferenz folgen lassen können, auf der man diese höchst ge-
walttätige kollektive Demütigung, Ausbeutung, Repression und Margina-
lisierung eines Landes zurückgenommen hätte, dessen Schuld darin bestan-
den hatte, sich zu beteiligen an einer - hält man sich an die Realgeschichte -
Lieblingsbeschäftigung der europäischen Nationen: einander umzubringen.
Der Gewinn hätte beträchtlich sein, hätte darin bestehen können, Hitler sei-
nes besten Argumentes zu berauben und den Zweiten Weltkrieg zu vermei-
den. Diejenigen, die daran nicht gedacht haben, aber ebenso diejenigen, die
daran gedacht, aber ihre Gedanken nicht umgesetzt haben, teilen Verantwor-
tung mit den Nazis. Tatsächlich wird Verantwortung immer geteilt, im kol-
lektiven karma nämlich.
Nehmen wir einen Fall neueren Datums: Was hätte man anstelle der ver-
frühten Anerkennung von Teilen Jugoslawiens als unabhängigen Staaten tun
472 Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur

sollen? Selbstbestimmung als solche ist nicht problematisch, aber wo war das
jeweilige Selbst, und wie hing es mit allen anderen nach dieser Bestimmung
zusammen? Selbstbestimmung für Kroaten impliziert Selbstbestimmung für
in Kroatien lebende Serben; dasselbe gilt für Kroaten und Serben in Bosnien
und für Albanier in Serbien und Mazedonien usw. Die Abstimmung auf Be-
zirksebene, wie in den entsprechenden dänisch-deutschen Abstimmungspro-
zessen von 1920, mag das geeignete Instrument sein; die dabei entstehenden
Unabhängigkeiten können sich dann nach den Abstimmungen konföderativ
zusammenschließen. Aber wenn die EU, die USA oder der Sicherheitsrat ei-
nen Fehler begehen, dann wird er nicht so leicht zurückgenommen; hier sind
Ansprüche auf Unfehlbarkeit im Spiel, was nichts anderes bedeutet als Irre-
versibilität.

10 Eine Therapie für die Zukunft: nicht-territorialer


Föderalismus
Mehr verspricht ein anderer Vorschlag, der sich dem wichtigen Thema inter-
kultureller, soll heißen inter-nationaler Konflikte zuwendet. Nationen sind
kulturelle Konstrukte, die um den kairos geheiligter Zeiten und geheiligter
Orte errichtet wurden, und die die Zeiten und Örtlichkeiten von Trauma und
Ruhm in Religion bzw. Ideologie und Sprache verweben. Die räumliche
Komponente - die heiligen Plätze durch genügend angrenzendes Land zu
schützen, um sich dauerhaft versorgen zu können - führt zu Unvereinbarkei-
ten, wenn die Entropie hoch ist, wenn also alle Nationen auf dem Territorium
Ansprüche auf dieselben Quadratkilometer erheben und niemand nachgeben
möchte. Wenn die Repräsentanten eines Staatssystems, das als solches das
DMA-Syndrom verkörpert, ihre Herrschaft mittels Linealen auszuüben be-
ginnen, wenn sie Linien auf Landkarten oder in den Wüstensand431 zeichnen,
dann ist der D-Job der Trennung bereits getan. Mund A warten dann um die
Ecke und halten die Diplomaten unter Dampf. Wenn es 2000 Nationen in der
Welt gibt, die solche Ansprüche erheben können, aber nur 200 Länder und
nur 20 Nationalstaaten 432 , dann warten offensichtlich 1980 weitere Schlach-
ten darauf, geschlagen zu werden - ein Selbstmordrezept angesichts der Qua-
lität und Quantität der Waffen, die zur Verfügung stehen. D und M müssen
verschwinden.
Eine Alternative bestünde darin, es bei der hohen Entropie des eng Beiein-
anderlebens zu belassen, und die Autonomie jeder einzelnen nationalen

431 Beispielhaft wäre etwa die Linie, die Sir Percy Cox 1922 in den Wüstensand zog, als
Grenze zwischen dem Irak und Kuwait.
432 Ich schulde Häkan Wiberg Dank für diese nur annähernd richtigen, aber gut zu be-
haltenen Zahlen.
Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur 473

Wählerschaft auf ein eigenes Parlament zu gründen. Dieses hätte dann ein
Monopol auf die Verwaltung der Heiligtümer in Raum und Zeit, auf Sprache,
Religion, Ideologie und Idiom (also auf den Großteil der Erziehung), auf Po-
lizeigewalt und Gerichtshöfe zum Zwecke polizeilicher und gerichtlicher
Selbstverwaltung sowie für einige Aspekte der Ökonomie. Denken ließe sich
hier an die Art und Weise, in der US-Demokraten und -Republikaner in den
Primaries wählen, oder auch an die Sami in Norwegen, wenn es um ihr Sami-
Parlament geht.
Frieden ist eine revolutionäre Idee; "Frieden mit friedlichen Mittel" defi-
niert diese Revolution als gewaltfrei. Diese Revolution findet fortwährend
statt; unsere Arbeit besteht darin, sie sachlich und geographisch zu entfalten.
Es gibt unendlich viele Aufgaben, die Frage ist nur, ob wir ihnen gewachsen
sind.
Ich habe oben dafür votiert, daß wir uns, eingeladen oder nicht, sehr weit-
gehend auf Konflikte einlassen und dabei wesentlich am Staatssystem vor-
beihandeln; die Legitimität hierzu erwüchse uns teilweise aus dem Recht, das
aus dem Mitleid mit Opfern stammt (zu denen wir schließlich alle gehören
können, insofern Konflikte sich immer weniger abgrenzen lassen), teilweise
aber aus der Inanspruchnahme eines Basisprinzips friedlichen Handeins, der
Reversibilität, demgemäß wir nur das tun, was sich wieder ungeschehen ma-
chen läßt, weil wir uns auch geirrt haben könnten. Fast überflüssig zu sagen,
setzt dies jene seltene Ware, die Fähigkeit, Fehler zuzugeben, ebenso wie die
weitere Fähigkeit voraus, auf das Urteil der empirischen Welt mehr zu geben
als auf die "selbstevidenten", apodiktischen Wahrheiten unseres Verstandes,
unserer Ratio.
Aber Frieden ist auch eine Übung in Beharrlichkeit. Dekaden mögen ver-
gehen, bevor eine gute Idee umgesetzt ist, wenn es überhaupt geschieht; und
selbst wenn sie verwirklicht wird, ist ungewiss, ob ihr Urheber je davon er-
fährt. Mag sein, daß er zu diesem Zeitpunkt tot ist; mag sein, daß seine Idee
übernommen wurde von jemandem, der "schon immer dieser Meinung war".
Friedensarbeit ist kein Weg, auf dem sich eine unmittelbare Belohnung er-
warten läßt. Das Ziel ist Frieden und nicht Berühmtheit.
Früher oder später werden darum die FriedensarbeiterInnen - ganz gleich,
welche der vielen anerkannten oder potentiellen Friedensprofessionen sie
ausüben (und es gibt ein ganze Reihe, die gerade jetzt Gestalt annehmen) -
auf das Problem stoßen, einem Verhaltenskodex Geltung zu verschaffen. Tun
sie es nicht, wird es gewiss jemand anderes machen, z.B. ein Staatensystem,
das eifersüchtigst besorgt ist um sein vorgebliches Monopol auf Konflikte.
Dies ist eine entscheidende Aufgabe, und man sollte sie lieber früher als spä-
ter angehen.
Anhang
Friede mit friedlichen Mitteln: die Praxis-Triade
Konfliktdreieck Verbalten Widerspruch Einstellungen!
Annahmen
Problem =Gewalt Direkte Gewalt Strukturelle Gewalt Kulturelle Gewalt
Diagnose Geschichte der vertikal: Kosmologie:
direkten Gewalt, Repression / das AMT-Syndrom
Geschichte der Ausbeutung das DMA-Syndrom
strukturellen Gewalt, Penetration Universalismus plus
Geschichte der Segmentierung Singularismus
kulturellen Gewalt: Fragmentierung Utopisches Denken
Alle drei definieren Ausschluß; mit Endzuständen
die Gegenwart horizontal:
zuviel oder zuwenig
Interaktion

Prognose Eskalation, Fortsetz- Fortbestehen, wenn Fortbestehen, wenn


ung, bis die Prognosen keine Bewußtseins- keine Bewußtseins-
sich erfullen - bildung und keine bildung und keine
oder Mangel an Friedensaufbau- Friedensaufbau-
Energie versuche erfolgen versuche erfolgen

Selbst-Therapie Gewaltlosigkeit Kreativität Empathie


- negative: Märsche, Bewußtsein fur Bewußtsein des indi-
Streiks, Fasten etc. Vertikalität viduellen kollektiven
- positive: Organisation Unterbewußtseins,
Konstruktion, Konfrontation Aufspüren der Ur-
menschliche Kontakte, Kampf sprünge und Wirkun-
Dialog, gemeinsame Entkoppelung = gen
Anstrengungen Selbständigkeit Modifikation und
Wiederankoppelung, Aufbau von Codes
aber vorsichtig

Anderen-Therapie Gewaltlosigkeit Kreativität Empathie


- negative: als Geiseln - Samen aussäen für - positive: Versuch,
- positive: Konflikt- jeweils eine Partei die legitimen Ziele
schlichter als - Samen begießen aller Parteien zu
Kommunikations- - Schlichter sein in benennen
kanäle wie oben, bezug auf Ideen - negative: Versuch,
bereit, Risiken einzu- Teilnahme an Dialo- die illegitimen und
gehen gen mit expliziten nicht notwendigen
Friedens- Ziele zu eliminieren
zielen und die Konfliktober-
Mediation fläche zu begrenzen
Schlichtung
Friedens- und Konfliktforschung

Peter Imbusch und Ralf Zoll (Hrsg.):


Einführung in die Friedens- und Konfliktforschung, Opladen: Leske & Bu-
drich, 1996. (Friedens- und Konfliktforschung Bd. I)
Das Buch gibt eine Einführung in die Friedens- und Konfliktforschung auf
der Grundlage eines konflikttheoretischen Ansatzes. Behandelt werden neben
der ,Fach' -Geschichte Kernbegriffe wie Konflikt, Gewalt, Krieg und Frieden,
Fragen der Friedenserziehung, der Friedensethik und wichtige Konfliktrege-
lungsformen. Einen zentralen Teil nehmen exemplarische Konfliktanalysen
ein. Sie umfassen Probleme der ökonomischen, politischen und kulturellen
Reproduktion von Gesellschaften und sind auf unterschiedlichen Konflik-
tebenen angesiedelt (Natur, Gesellschaft, Staat/internationales System).

Thorsten Bonacker:
Konflikttheorien. Eine sozialwissenschajtliche Einführung mit Quellen,
Opladen: Leske + Budrich, 1996. (Friedens- und Konfliktforschung Bd. 2)
Das Buch gibt einen Überblick darüber, mit welchen unterschiedlichen theo-
retischen Ansätzen die Sozialwissenschaften den Gegenstand ,gesellschaft-
liche Konflikte' betrachten. Dabei wird nicht nur die Breite der entwickelten
Konfliktbegriffe deutlich, sondern auch die unterschiedliche Reichweite von
Konfliktkonzeptionen einzelner Autoren wie z.B. Hobbes, Marx, Weber,
Simmel, Coser, Dahrendorf, Lorenz, Morgenthau, Deutsch, Habermas oder
Luhmann. Neben der Darstellung und Analyse der Konflikttheorien enthält
der Band einen ausführlichen Readerteil mit Originaltexten der diskutierten
Autoren.

Berthold Meyer:
Formen der Konfliktregelung. Eine sozialwissenschajtliche Einführung mit
Quellen, Opladen: Leske & Budrich, 1997. (Friedens- und Konfliktforschung
Bd.3)
Das Buch gibt einen Überblick über die wichtigsten Konfliktregelungsfor-
men sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf internationaler Ebene. Da
Konflikte ein allgegenwärtiges Phänomen menschlicher Gesellschaften sind,
kommt ihren Bearbeitungsformen und Regelungsmechanismen zentrale Be-
deutung zu, weil von ihnen abhängig ist, ob Konflikte gewaltsam oder ge-
waltfrei ausgetragen werden. Ausgehend von den Hindernissen für eine kon-
struktive Konfliktbearbeitung werden theoretische Überlegungen zur Kon-
fliktregelung erörtert. Anhand von Fallstudien aus dem gesellschaftlichen
und internationalen Bereich wird verdeutlicht, daß Zivilisierung Weg und
Ziel von Konflikttransformationen sein soll.

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