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Daniela Tafani
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Kleine Schriften
herausgegeben von
in Zusammenarbeit mit
Prof. Dr. Massimo Donini, Modena
Prof. Dr. George P. Fletcher, New York
Prof. Dr. Dr. h. c. Andrew von Hirsch, Cambridge
Prof. Dr. Dr. h. c. Francisco Muñoz Conde, Sevilla
Prof. Dr. Juarez Tavares, Rio de Janeiro
Dr. Moritz Vormbaum, Berlin
Prof. Dr. Shizhou Wang, Peking
Prof. Dr. Keiichi Yamanaka, Osaka
Band 30
Redaktion:
Zekai Dagasan
LIT
Daniela Tafani
LIT
Daniela Tafani ist Dottoressa di ricerca in Philosophie.
Sie lebt in Florenz.
½
Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier entsprechend
ANSI Z3948 DIN ISO 9706
In einem Brief an Leonhard Creuzer hatte Friedrich Carl von Savigny im Januar
1800 um Erläuterungen über Kants Begründung des Strafrechts gebeten, welche
er in höchstem Maße widerwärtig fand1. Aus den Erläuterungen Creuzers schloß
Savigny, daß Kant, ohne Begründung, eine Vergeltungstheorie des Strafrechts
vertreten habe: Die Strafe müsse demjenigen zugefügt werden, der rechtswidrig
gehandelt habe, und werde nach diesem rechtswidrigen Handeln bemessen. Kant
schien sich darauf zu beschränken, eine Verbindung zwischen physischem Übel
und Schuld für moralisch notwendig anzunehmen – da irgend eine Begründung
des Rechts zum Strafen aufzustellen – und einen ganz und gar willkürlichen
Maßstab zur Bestimmung der Strafe anzunehmen, da in der Praxis – so jedenfalls
Savigny – es keine Abstufung zwischen den rechtswidrigen Verhaltensweisen
gab, anhand deren das zuzufügende Übel bemessen werden könnte2.
Savigny war nicht der einzige, der annahm, daß der Beitrag Kants zur Straf-
rechtslehre sich in der Idee der moralischen Vergeltung erschöpfe. Seit der Pu-
blikation der Metaphysischen Grundlagen der Rechtslehre im Jahre 1797 – und
bis heute – erscheint Kant so als der Vertreter einer absoluten Strafrechtslehre3,
* Anm. zur Übersetzung: Übersetzung des Textes: Thomas Vormbaum; Übersetzung und
redaktionelle Betreuung der Fußnoten: Tamara Cipolla und Daniel Lübcke.
** Ich möchte mich insbesondere bei Frau Prof. Letizia Gianformaggio für Ihre Anregungen
bedanken – die ich hoffe, umgesetzt zu haben –, die sie mir zu einer früheren Fassung die-
ses Aufsatzes zukommen ließ.
1 A. Stoll, Friedrich Karl v. Savigny. Ein Bild seines Lebens mit einer Sammlung seiner
Briefe, Bd. 1: Der junge Savigny, Berlin (C. Heymann) 1927, S. 145.
2 A. Stoll a.a.O., S. 148.
3 Als absolute Theorien werden die Vergeltungstheorien bezeichnet, d.h. jene Theorien, die
den Strafgrund in seiner moralischen Notwendigkeit sehen (punitur, quia peccatum est),
als relative Theorien bezeichnet man hingegen die utilitaristischen Theorien, wonach der
Strafgrund in der Notwendigkeit begründet liegt, von staatlicher Seite bestimmte Ziele, so
insbesondere die öffentliche Sicherheit und die Minimierung der Begehung von Straftaten
zu verfolgen (punitur, ne peccetur). Erstere verstehen die Strafe als ein Ziel, letztere als ein
Mittel, S. L. Ferrajoli, Diritto e ragione. Teoria del garantismo penale, Bari (Laterza) 1989,
S. 239 f., Anm. 276; H. Mayer, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Stuttgart und Köln
(W. Kohlhammer) 1953, S. 27.
2 Kant und das Strafrecht
die unzulässigerweise aus dem Bereich der Ethik in denjenigen des Rechts über-
tragen worden sei4.
Eine solche Interpretation vermengt freilich zwei Fragen, die in der strafrechtli-
chen Diskussion des 18. Jahrhunderts in wechselnder Verbindung behandelt
wurden5: Die Frage der Begründung des Rechts zum Strafen, d.h. der Rechtferti-
gung der Existenz der Strafe, und die Frage nach dem Maßstab der Strafdrohung
und der Straffestsetzung6. Die hauptsächliche Quelle für diese fehlende begriffli-
4 Bereits 1797 lehnte Fichte jene Kant’sche Strafrechtsdoktrin ab, die besagen sollte, daß die
„Strafe nicht als Mittel sondern selbst als Zweck“ zu betrachten sei, und die sich in einem
„unerforschlichen kategorischen Imperativ“ begründe, J. G. Fichte, Grundlage des Natur-
rechts, in: Lauth, R. / Gliwitzsky H. (Hrsg.), G. J. Fichte-Gesamtausgabe der Bayrischen
Akademie der Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstadt (Friedrich Fromann Verlag), 1970
(fortan: GA), I.4, S. 60, 76; für eine entsprechende Einordnung von Kant unter die Vertre-
ter der Vergeltungstheorie s. bspw. R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe,
Stw.: Strafe, Bd. III, Berlin 19304, S. 160; H. Mayer, Strafrecht, a.a.O., S. 30; A. Erler /
E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Stw.: Strafe,
Bd. IV, Berlin (E. Schmidt) 1990, Sp. 2026; M. Block, Dictionnaire général de la politique,
Stw.: Peines, vol. II, Paris (O. Lorenz) 1864, S. 509; P. Edwards (Bearb.), The Encyclope-
dia of Philosophy, New York and London (MacMillan) 1967, Stw.: Punishment, hrsg. von
S. I. Benn, Bd. VII, S. 30; H. Caygill, A Kant Dictionary, London (Blackwell) 1995,
S. 271 ff., W. Schild, Ende und Zukunft des Strafrechts, Archiv für Rechts- und Sozialphi-
losophie 70 (1984), 71–112, der Kant zwar als einen Vertreter der absoluten Theorie hin-
sichtlich des Strafgrundes ansieht, aber auch das Problem der Beziehungen zwischen mo-
ralischen und zweckmäßigen Strafen in der Kant’schen Lehre, d.h. im strafrechtlichen Be-
reich zwischen Justiz und Vernunft erkennt und anspricht.
5 So bspw. J. G. Walch, Philosophisches Lexikon, Stw.: Strafe, Bd. II, Leipzig 17754, (un-
veränderter Nachdruck bei: J. C. Hennings (Hrsg.), Hildesheim (Olms-Verlag) 1968,
Sp. 1002–1017. Walch unterschied die theoretische Frage der Definition der Strafe (wer
strafen darf, wer bestraft werden darf, was ein Delikt und was letztlich der Zweck der Stra-
fen sei) von der praktischen Frage der Regeln von Gerechtigkeit und Klugheit, die unter
Androhung von Strafe zu befolgen sind; J. v. Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Hand-
lung und Finanz, Bd. 1, Wien 17875, S. 455, unterschied zwischen dem Standpunkt des
Gesetzgebers, der eine Strafe verhängt, damit das Gesetz nicht verletzt wird und dem
Standpunkt des Richters, der gerade bestraft, weil das Gesetz verletzt worden ist;
vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (fortan: Rph), Berlin 1820
(unveränderter Nachdruck bei: Johannes Hoffmeister (Hrsg.), Hamburg (Meiner-Verlag)
1967), § 99, Anm.: „Die verschiedenen Rücksichten, welche zu der Strafe als Erscheinung
und ihrer Beziehung auf das besondere Bewußtsein gehören, und die Folgen auf die Vor-
stellung (abzuschrecken, zu bessern u.s.f.) betreffen, sind an ihrer Stelle, und zwar vor-
nehmlich bloß in Rücksicht der Modalität der Strafe, wohl von wesentlicher Betrachtung,
aber setzen die Begründung voraus, daß das Strafen an und für sich gerecht sei.“
6 Eine klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Rechtsfragen findet sich hingegen bei
D. Scheid, Kant’s Retributivism, Ethics, 93 (1983), S. 262–282, der die Kant’sche Straf-
rechtsdoktrin als „teilweise Vergeltung“ versteht; ebenso R. Brandt, Gerechtigkeit und
Strafgerechtigkeit bei Kant, in: G. Schönrich / Y. Kato (Hrsg.), Kant in der Diskussion der
Kant und das Strafrecht 3
che Unterscheidung seitens der Interpreten ist der Umstand, daß Kant thematisch
dem „Straf- und Begnadigungsrecht“ jenen Paragraphen der Grundlegung der
Metaphysik der Sitten gewidmet hat, der in Wirklichkeit nicht von den Grundla-
gen des Strafrechts handelt, welches bereits in der Einleitung abgehandelt wird,
sondern nur von den Kriterien der Straffestsetzung7. Die These, das Strafgesetz
sei ein kategorischer Imperativ, erschien auf diese Weise als Bekenntnis zu einer
Vergeltungstheorie der Rechtsstrafe, statt als Feststellung des wesentlichen Ele-
ments der gerechten Strafe, daß nämlich diese unfehlbar der Schuldfeststellung
folgen müsse. Im Bereich des Rechts ebenso wie im Bereich der Moral habe
Kant die Existenz eines Gesetzes behauptet, das jedem Vernunftwesen als ver-
bindlich auferlegt sei und eine Interpretation der Verantwortlichkeit im retributi-
ven Sinne enthalte, welche jede Übertretung als in sich strafwürdig qualifiziere,
und er habe es daher als moralisch und rechtlich notwendig angesehen, daß auf
die Schuld bzw. auf das Verbrechen eine Strafe folge8. Auf dieser Interpretation
scheint die von Kant im Bereich der Ethik vertretene Auffassung von der morali-
schen Notwendigkeit einer vergeltenden Gerechtigkeit zu beruhen:
„Endlich ist noch etwas in der Idee unserer praktischen Vernunft, welches die Über-
tretung eines sittlichen Gesetzes begleitet, nämlich ihre Strafwürdigkeit. [...] Also ist
Strafe ein physisches Übel, welches, wenn es auch nicht als natürliche Folge mit dem
moralisch Bösen verbunden wäre, doch als Folge nach Principien einer sittlichen Ge-
setzgebung verbunden werden müßte.”9
Die Behauptung, daß die praktische Vernunft einen Kausalnexus zwischen mo-
ralischer Schuld und Leiden erfordere, beinhaltet freilich nicht eine entsprechen-
de Vergeltungslehre der Rechtsstrafe. Kant selber erklärt im Gegenteil in einem
Brief an J. B. Erhard vom 21. Dezember 1792, daß die Strafe quia peccatum Gott
vorbehalten sei, und präzisiert, daß, was den Rechtsbereich angehe,
„jene unmittelbare Verknüpfung der Begriffe von Ubertretung und Strafwürdigkeit
[…] den Regenten nur zur Rechtfertigung, nicht zur Vorschrift in ihren Verfügungen“
diene.10
nal Punishment, in: Proceedings of the Third International Kant Congress, Dordrecht 1972,
S. 434–441; M. A. Cattaneo, Menschenwürde und Strafrechtsphilosophie der Aufklärung,
in: R. Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel 1981,
Berlin, New York 1982, S. 321–334; Ders., Illuminismo e legislazione, Edizioni Univer-
sitarie di Lettere, Economia e Diritto, Milano 1993, S. 58; M. Forschner, Kant versus
Bentham. Vom vermeintlich kategorischen Imperativ des Strafgesetzes, Rechtsphilosophie
der Aufklärung, a.a.O., S. 376–398; S. Meld Shell, Kant on Punishment, Kantian Review 1
(1997), 115–135.
9 Kritik der praktischen Vernunft, Kants Werke, Akademie-Textausgabe (AA), Berlin
(Walter de Gruyter) 1968, V, S. 37. S. auch Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 201; AA,
V, S. 61: „Wenn aber jemand, der friedliebende Leute gerne neckt und beunruhigt, endlich
einmal anläuft und mit einer tüchtigen Tracht Schläge abgefertigt wird: so ist dieses aller-
dings ein Übel, aber jedermann giebt dazu seinen Beifall und hält es an sich für gut, wenn
auch nichts weiter daraus entspränge; ja selbst der, der sie empfängt, muß in seiner Ver-
nunft erkennen, daß ihm Recht geschehe, weil er die Proportion zwischen dem Wohlbefin-
den und Wohlverhalten, welche die Vernunft ihm unvermeidlich vorhält, hier genau in
Ausübung gebracht sieht“.
10 AA, XI, S. 398 f. Damit widersprach Kant der fünften der Thesen, welche Erhard ihm un-
terbreitet hatte, gemäß der „nicht Genugthuung des Schadens, noch Besserung, noch Bey-
spiel die Absicht der Straffe seyn kan“ (AA, XI, S. 306 f.). Vgl. Refl. 8029: „ Alle Strafe
im staat geschieht wohl zur correction und zum Exempel, aber sie muß allererst um des
Verbrechens an sich selbst willen gerecht seyn, quia peccatum est“; Refl. 8041: „Doch
müssen sie als vorkehrungsstrafen zuvorderst gerecht seyn. Sie sind als bloße Mittel wohl
erlaubt aber nur als Vergeltungen gerecht“ (AA; XIX, S. 586, 589).
Kant und das Strafrecht 5
Während das moralische Gesetz die Form der Maximen und damit die Gesinnung
angeht, indem sie eine Pflicht auferlegt, deren Idee, wegen der Achtung, welche
von selbst in den Vernunftwesen wirkt, für sich allein in der Lage ist, den Willen
zu ihrer Befolgung zu bestimmen, betrifft das Rechtsgesetz die Form der bloß
äußerlichen Beziehungen des Willens und leitet seinen verbindlichen Charakter
von den „pathologischen Bestimmungsgründen der Willkühr“ ab13. Da das Recht
im engeren Sinne keiner anderen Bestimmungsgründe als „bloß die äußern“14
bedarf, und vor allem das, was sich vielmehr auf Abneigungen als auf Neigungen
11 Die Strafe schöpft die möglichen Mittel des Zwangs nicht aus, aber Kant scheint keine
anderen zuzulassen. Die Androhung der Strafe, die im Gesetz vorgesehen ist, wird zwar
berücksichtigt, diese entspricht aber entweder dem Strafgesetz oder aber, wenn man nicht
beabsichtigen sollte, der Straftat zugleich die Strafe folgen zu lassen, erscheint sie wie eine
Täuschung und ist daher völlig inakzeptabel (Metaphysik der Sitten, AA XXVII, 2.1,
S. 554).
12 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 19 f.; AA, VI, S. 218 f.
13 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 20; AA, VI, S. 219.
14 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 37; AA, VI, S. 232.
6 Kant und das Strafrecht
stützt, dieser Anstoß entspringt einem äußerlichen Zwang15. Kants Beweis der
analytischen Verknüpfung zwischen Rechtsbegriff und Befugnis zu zwingen16,
fällt also mit dem Beweis der Behauptung zusammen, daß für das Recht das gilt,
was für die Ethik gilt, daß nämlich der Bestimmungsgrund unmittelbar im Gesetz
inbegriffen ist und nicht äußerlich mit ihm verbunden ist17. Da das Recht „der
Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür
des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt
werden kann“18 ist; „Recht und Befugniß zu zwingen bedeuten also einerlei“,
kann der Begriff des Rechts dynamisch ausgedrückt werden als „das Gesetz eines
mit jedermanns Freiheit nothwendig zusammenstehenden wechselseitigen Zwan-
ges unter dem Princip der allgemeinen Freiheit“19.
Daß der analytische Charakter der Verbindung von Recht und dem dazu gehö-
renden Bestimmungsgrund eines Beweises bedarf, folgt daraus, daß die Hervor-
bringung des rechtlichen Bestimmungsgrundes, anders als im Bereich der Ethik,
durch Zwang geschieht, d.h. durch einen Akt, der, als ein Hindernis der Freiheit,
einer moralischen Rechtfertigung bedarf20. Ein Hindernis der Freiheit nach all-
gemeinen Gesetzen ist nämlich ungerecht, aber eben deshalb ist, auf der Grund-
lage des Satzes vom Widerspruch, der Widerstand, d.h. jener Zwang, gerecht, der
„einem gewissen Gebrauch der Freiheit“ entgegengesetzt ist, der „selbst ein Hin-
derniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen“ ist21.
15 Vgl. Refl. 7271: „Zum äußeren Gebote ist der Bewegungsgrund nicht die Pflicht. Das sol-
len ist hier der Zwang [...] Der imperativus iuridicus [...] ist der imperativus der Gewalt,
welche Rechtmäßig ist, und seine necessitirende Kraft ist auch nur in proportion mit dieser
Gewalt“ (AA, XIX, S. 299).
16 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 36; AA VI, S. 231; vgl. Moral Mrongovius II, AA
XXIX, 1.1, S. 618 f.
17 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 36; AA, VI, S. 232: „das Recht darf nicht als aus
zwei Stücken, nämlich der Verbindlichkeit nach einem Gesetze und der Befugniß dessen,
der durch seine Willkür den andern verbindet, diesen dazu zwingen, zusammengesetzt ge-
dacht werden, sondern man kann den Begriff des Rechts in der Möglichkeit der Verknüpfung
des allgemeinen wechselseitigen Zwanges mit jedermanns Freiheit unmittelbar setzen.“
18 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 35; AA, VI, S. 230.
19 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 37; AA, VI, S. 232.
20 Vgl. zum Thema M. Kaufmann, The Relation between Right and Coercion: Analytic or
Synthetic?, Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), 73–84. Zur Ansicht, daß bei Kant das
juristische Gesetz den eigenen Beweggrund nicht in analytischer Weise beinhalte, vgl.
W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie,
Berlin, New York (de Gruyter) 1984, S. 33 ff.
21 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 36; AA, VI, S. 231.
Kant und das Strafrecht 7
Diese Befugniß zu zwingen fällt nach Kant mit dem Strafrecht zusammen, des-
sen Begründung damit gesichert ist22. Daß die Strafe das vorzügliche Zwangs-
mittel bildet, wird von Kant nicht nur in Vorlesungen und Überlegungen geäu-
ßert23, sondern, in aller Klarheit, in den Metaphysischen Anfangsgründe der
Rechtslehre24.
Die Strafbefugnis fällt also für Kant mit der Möglichkeit, einen rechtlichen Be-
stimmungsgrund hervorzurufen, zusammen27 und ist somit utilitaristisch begrün-
det, wenn man mit ihr erreichen will – wie es üblich ist und wie es auch Kant be-
absichtigte –, ne peccetur28. Die Idee, daß das Strafgesetz die rechtliche Triebfe-
der hervorbringen wolle, wurde übrigens von den Zeitgenossen Kants weitge-
hend geteilt29. Viel umstrittener hingegen war die Frage nach den Beziehungen
rechts bezüglich des Zivilstandes darstellt: „In statu civili [...] muß man annehmen, daß ei-
ne Handlung, die sonst unerlaubt war, per causum necessitatis erlaubt werde, und daß der
Handelnde nicht gestraft werden könne, weil es kein Gesetz geben kann, das die Unterlas-
sung der Handlung cum effectu verbieten könnte“ (AA, XXVII, 2.1, S. 599 f.); Refl. 7192,
AA XIX, S. 268. S. auch die Kant’sche Schrift Über den Gemeinspruch, AA, VIII, S. 300
(Anm.): „Es wäre aber ein ungereimtes Gesetz, jemanden den Tod androhen, wenn er sich
in gefährlichen Umständen dem Tode nicht freiwillig überlieferte“.
27 Vgl. G. S. A. Mellin, Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, Stw. „Stra-
fe“, Bd. V, Abtheil. I, Jena, Leipzig 1802, S. 392: die Strafe ist „der rechtliche Effect einer
Verschuldung, welcher durchs Gesetz gedrohet ist, so daß derselbe die Bewegursache zur
Unterlassung der That seyn kann“; J. S. Beck, Commentar über Kants Metaphysik der Sit-
ten, Zweyter Theil, Halle 1798, S. 447: „Damit gewisse Handlungen nicht existieren, so
bestimmt ihnen das Gesetz Folgen, welche, der Einrichtung der menschlichen Natur nach,
vom Unterwürfigen verabscheut werden, und die, als nothwendige Folgen gewisser
Handlungen, ihm ein Beweggrund werden, sie zu unterlassen“; G. L. Reiner, Allgemeine
Rechtslehre nach Kant, Landshut, Augsburg 1801 (neu aufgelegt in Aetas Kantiana, Brüs-
sel 1973), S. 201: „die Gesetze“ [...] müssen, „weil sie sonst ohne allen Effekt, und also
keine Gesetze seyn würden, Strafgesetze seyn“.
28 Vgl. D. Scheid a.a.O., S. 269 f.: „[...] Kant’s argument for a legal system with coercive
enforcement is a consequentialist argument“. S. Fleischacker a.a.O., S. 437, weist die uti-
litaristischen Interpretationen der Kant’schen Strafrechtslehre insoweit zurück, als daß sie
das ius talionis nicht berücksichtigen; eine ähnliche Ansicht geht sogar, ohne dies näher zu
begründen, davon aus, daß die Begründung des Rechtes zu strafen ein bestimmtes Kriteri-
um der Determination der Strafe beinhalten müsse.
29 Vgl. J. G. Walch, Philosophisches Lexikon, Stw. „Strafe“, a.a.O., Sp. 1009: die Strafen
sind „schlechterdings nöthig. Denn wenn solche Zwangsmittel nicht da wären, so wären
die Gesetze vergebens“; J. v. Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz,
a.a.O., S. 455 f.: „Die Strafe [...]“ ist ein physisches Übel, das an ein Gesetz geknüpft ist
und „durch den Eindruck der Strafe von der Begehung der Verbrechen“ abschrecken soll;
G. Hufeland, Lehrsätze des Naturechts, Jena 1790, S. 114: „Strafe ist Zufügung eines Ue-
bels wegen einer begangenen Handlung, um entweder den Handelnden oder andre von
ähnlichen künftigen Handlungen abzuschrecken“; J. Gruner, Versuch über Strafen. In vor-
züglicher Hinsicht auf Todes- und Gefängnisstrafen, Göttingen (J. G. Rosenbusch) 1799,
S. 25; K. H. Heydenreich, System des Naturrechts nach kritischen Principien, Erster Theil,
Leipzig 1794, S. 189: „Die politische Strafe ist Klugheitsmittel zur Verhinderung des Un-
rechts und Schadens. Mit derselben werden einem Menschen Leid zugefügt, in Beziehung
auf Handlungen, die entweder er, oder andere in Zukunft thun könnten“; die „moralische
Strafe [...] kommt nur Gott [...] zu.“ J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, GA, I.4.,
S. 60: „ Die Strafe ist Mittel für den Entzweck des Staats, die öffentliche Sicherheit; und
die einzige Absicht dabei ist die, daß durch die Androhung derselben das Vergehen ver-
Kant und das Strafrecht 9
hütet werde.“ E..F. Klein, Von der Zurechnung der Verbrechen zur Strafe, nach dem ge-
sunden Menschenverstande, Archiv des Criminalrechts, Bd. 4, St. 3 (1802), 7–31, 8: „die
Strafe“ soll „ein Mittel seyn, denjenigen, welche sonst Willens seyn würden, ein Verbre-
chen zu begehn, die Luft dazu zu benehmen“.
30 Vgl. bspw. G. Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts, a.a.O., S. 6: „ Das Naturrecht (jus na-
turaea) ist die Wissenschaft, welche die Zwangsrechte [...] des Menschen im Naturzustan-
de [...] lehrt“. Nach Ansicht K. H. Heydenreichs (System des Naturrechts nach kritischen
Principien, a.a.O., S. 15 f., 24), bedeutete die Idee des Naturzustandes eine Repräsentation
der Menschenrechte, die außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates stehen
sollen. K. L. Reinhold hatte das Konstrukt des Naturrechtsstaates als überflüssig zurück-
gewiesen und hatte jedenfalls betont, daß das Naturrecht „alle zwingenden äußeren Straf-
tatbestände beinhalte, sofern sie der Sanktion durch das moralische Recht unterstehen“
(Briefe über die kantische Philosophie, Leipzig 1792, S. 417 f.). Vgl. Refl. 7084: „Das
Gantze Recht der Natur ist ohne bürgerliche Ordnung eine bloße Tugendlehre und hat den
Nahmen eines Rechts blos als ein Plan zu äußeren möglichen Zwangsgesetzen, mithin der
bürgerlichen Ordnung“ (AA, XIX, S. 245).
31 S. zum Thema C. Cesa, Introduzione. Diritto naturale e filosofia classica tedesca, in:
L. Fonnesu / B. Henry (Hrsg.), Diritto naturale e filosofia classica tedesca, Pisa (Pacini)
2000, S. 9–38.
32 G. Hufeland hatte das Recht, Zwang auszuüben von einer diesbezüglich entsprechenden
Pflicht abgeleitet (Versuch über den Grundsatz des Naturrechts, Leipzig 1785, S. 243 ff.;
s. auch Ders., Lehrsätze des Naturrechts, a.a.O., S. 28, 40 ff.) und arbeitet, wie es bekannt
ist, die Widersprüche Kants heraus (s. die Kant’sche Rezension der Abhandlung Hufelands
aus dem Jahre 1785, AA, VIII, S. 127–130).
10 Kant und das Strafrecht
Naturrecht auf Strafe aus dem Naturrecht auf Zwang ableiten33 und die Auffas-
sung vertreten, daß dieses Bestrafungsrecht von den einzelnen Mitgliedern der
bürgerlichen Gesellschaft, die schon als Menschen Inhaber dieses Rechtes seien,
auf die bürgerliche Gesellschaft übertragen worden sei34; wer hingegen, wie Hu-
feland – und wie Heydenreich in offenem Streit mit Schaumann – der Auffas-
sung war, daß die Strafe, gerade als Abschreckung, über bloßen Zwang hinaus-
gehe, da sie nicht bloß der Erhaltung oder Wiedergewinnung eines Gutes gelte,
sondern der Bestimmung des zukünftigen Verhaltens eines anderen, behauptete,
daß die Strafe zumindest eines stillschweigenden Vertrages bedürfe35.
Die Position Kants zum Verhältnis von Naturzustand, Zwang und Strafe geht da-
hin, daß das Strafrecht in der Notwendigkeit gründe, dem Rechtsgesetz einen
wirksamen verbindlichen Charakter zu sichern. Der Naturzustand ist nämlich
nach Kant ein nicht rechtlicher Zustand – nicht etwa, weil er an sich schon ein
Zustand der Ungerechtigkeit wäre, sondern weil in ihm der universelle Grundsatz
des Rechts, obgleich es seinen verpflichtenden Charakter uneingeschränkt behält,
der notwendigen verbindlichen Kraft beraubt ist. Im Naturzustand fehlt „die
Sanction eines öffentlichen Gesetzes“36, es fehlt also eine den etwaigen Streiten-
den äußere Gewalt, die imstande ist, die Durchsetzung der Gesetze zu sichern37.
Und da jedem Gesetz nicht bloß die Verpflichtung, sondern ebenso der Bestim-
mungsgrund konstitutiv ist, wird der Naturzustand, in dem man sich des rechtli-
chen Bestimmungsgrundes individuell und möglicherweise willkürlich versi-
chert38, als ein „Zustand der Rechtlosigkeit“ angesehen39. Kant erkennt somit ein
individuelles Zwangsrecht an40, er bestreitet aber, daß dieses mit dem Strafrecht
zusammenfalle41, denn die Einzelnen können aufgrund des unheilbar subjektiven
Charakters ihrer Urteile und wegen der Unzulänglichkeit ihrer Kräfte weder ga-
rantieren, daß der Zwang dem Gesetze entspricht, noch, daß er unwiderstehlich
ist42, und die Ausübung ihrer Zwangsrechte kann daher nicht gleichgesetzt wer-
den mit dem „öffentlichen gesetzlichen Zwang”43, d.h. mit der Äußerung der
verbindlichen Kraft des Gesetzes selbst44.
42 Vgl. Refl. 7816: „Das Zwangsrecht besteht darin, daß einer, der Recht hat, befugt ist, eine
Zwingende Gewalt zu errichten, die seinem rechte assistire und der der andre also unter-
worfen sey: Weil aber nicht jede Gewalt zum Zwange hinreichend ist, wenn eine gleiche
ihr kann entgegengesetzt werden, so hat das Recht nur einen schlechten Vorzug, wenn es
keine andre gewalt zur Begleitung hat als die eigne“ (AA, XIX, S. 524).
43 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 140; AA, VI, S. 312. Vgl. Refl. 7445: „Die positive
Gesetze sind es allein, welche den Unterthan äußerlich obligiren, in Ansehung der natürli-
chen gilt keine äußerliche Gerechtigkeit“ (AA, XIX, S. 380). Eine entsprechende Idee,
daß, damit die Strafe eine solche sei, sich die Androhung derselben in einem positiven Ge-
setz wiederfinden müsse, vertritt T. Schmalz, Das natürliche Staatsrecht, Königsberg 1804
(Neudruck Ders., Das Recht der Natur, a.a.O., S. 84); L. H. Jakob, Philosophische
Rechtslehre oder Naturrecht, a.a.O., S. 272, identifizierte Zwang und Strafe miteinander
und behauptete, daß der Zwang selbst in präventiver Weise angekündigt werden müsse.
44 Kant unterstreicht wie jene verpflichtende Gewalt, die für jedermann den Beweggrund der
Beachtung des Gesetzes konstituiert, jedermann gleichzeitig garantiert, daß seine Rechte
geachtet werden (Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 134; AA, VI, S. 307); vgl. Refl.
7989: „Im Staat muß eine einige potestas legislatoria seyn; diese muß zugleich die höchste
irresistible Gewalt haben. Nun kann sie zwar aus mehreren Personen oder Theilen beste-
hen, die alle einen Antheil an der Gesetzgebung und Gewalt haben, aber nicht aus solchen,
die zwar gesetzgebend aber nicht gewalthabend seyn, weil sie sonst keinen durchs Gesetz
obligiren können, indem sie nicht zugleich dabey schützen können“ (AA, XIX, S. 574); ei-
ne andere Interpretation der Beziehung zwischen Zwang und Strafe bei Kant bietet S. Sha-
ron Byrd, a.a.O., S. 181.
45 S. bspw. J. H. Tieftrunk, Philosophische Untersuchungen über das Privat- und öffentliche
Recht, Halle 1798, S. 433 ff. Tieftrunk selbst vermischte beide Rechtsfragen; Stephani be-
hauptete hingegen, daß Kant das Talionsprinzip als Kriterium der Determination der Stra-
fen ansieht, ohne vorher nach dem Recht zu strafen und seinen Grenzen zu fragen (H. Ste-
phani, Anmerkungen zu Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, a.a.O.,
S. 117).
Kant und das Strafrecht 13
daß die Strafe gegen den Verbrecher verhängt werden müsse, „weil er verbro-
chen hat“46 – bemerkt Beck – „darf nicht verwechselt werden mit dem Prinzip,
aus dem die Strafgesetze entstehen“, welches in der Einrichtung eines Mecha-
nismus bestehe, bei dem jeder Gesetzesübertretung eine Strafe assoziiert werde
und der auf diese Weise zu gesetzeskonformem Verhalten führe47. Kant selber
fühlte sich übrigens, angesichts der Rezension von Bouterwek48, veranlaßt einen
Zusatz in die zweite Auflage der Metaphysik der Sitten einzufügen, in dem er
klarstellte, daß das Talionsprinzip nicht die Grundlage des Strafrechts bilde, da
die letztere bereits analytisch im Begriff des öffentlichen Rechts enthalten sei
(„Die bloße Idee einer Staatsverfassung unter Menschen führt schon den Begriff
einer Strafgerechtigkeit bei sich“49), wohl aber für die Lösung der Frage „ob die
Strafarten dem Gesetzgeber gleichgültig sind“, d.h., ob die Strafen, „wenn sie nur
als Mittel dazu taugen, das Verbrechen zu entfernen“50, den Verbrechen willkür-
lich zugeordnet werden können51.
Eine utilitaristische Lösung der Begründung des Strafrechts ließe tatsächlich, was
die Festsetzung der Strafen betrifft, die Alternative von Utilitarismus und Ver-
geltung unberührt. Man könnte die Auffassung vertreten, daß die Strafe, die da-
durch gerechtfertigt ist, weil sie den rechtlichen Bestimmungsgrund hervorbringt,
aus dieser Funktion auch ihr Maß erhält, und sie somit nach der Stärke der ver-
brecherischen Beweggründe zu bemessen sei52; man könnte aber auch die Auf-
fassung vertreten, daß die Strafandrohung unabhängig davon, wie die Existenz
von Strafgesetzen zu rechtfertigen ist, Maßstäben der Gerechtigkeit unterworfen
werden müsse53. Kant vertritt die zweite Auffassung, indem er eine Vergeltungs-
theorie der Strafzumessung entwickelt. Das Vergeltungsprinzip löst somit in der
Strafrechtslehre Kants die Aufgabe, festzustellen, wer und wann bestraft werden
soll, während eine spezielle Erscheinungsform der Vergeltungslehre, das ius ta-
lionis, Qualität und Quantität der Strafe festlegt. Es liegt auf der Hand, daß eine
solche Art von Vergeltungslehre keinerlei Vermischung von Recht und Ethik mit
sich bringt, und daß sie weder eine Bezugnahme auf die moralische Notwendig-
keit einer Verknüpfung zwischen physischem Übel und Schuld noch einen
Rückgriff auf die Gesinnung des Delinquenten einschließt, was hingegen im Be-
reich des Kritizismus eine Theorie der strafbegründenden Vergeltung für unum-
gänglich hält. Daß die Auffassung, die Strafe sei moralische Vergeltung, auszu-
schließen ist, folgt im übrigen schon aus dem Zuständigkeitsbereich des Rechts,
das sich nicht in den Bereich des Gewissens erstreckt und daher nicht einmal auf
die Formulierung moralischer Urteile54. Geht es um die Androhung der Strafe, so
ist die Strafe quia peccatum als Schranke gegen jede mögliche Willkür und damit
als Prinzip der Gerechtigkeit zu verstehen. Die These, daß gegen den Verbrecher
die „richterliche Strafe niemals einfach als ein Mittel ein anderes Gute zu beför-
dern [...] verhängt werden [dürfe]“, sondern stets „nur, weil er verbrochen hat“55,
fügt also einer utilitaristischen Begründung des Strafrechts ganz und gar stimmig
ein auf die Strafverhängung bezogenes rechtsstaatliches Kriterium bei56. Kant
lehnt somit den Utilitarismus als Maßstab der Strafandrohung ab, denn die legi-
time Verfolgung der Sicherheit gerät in Konflikt mit der Gerechtigkeit, wenn sie
zuläßt, daß der Mensch bloß als ein Mittel behandelt wird57.
Nachdem so festgestellt ist, wann jemand bestraft werden darf, geht Kant zur
Prüfung der Frage über, wie man strafen soll und führt als Kriterium a priori des
Strafrechts das Talionsgesetz ein58, also die Regel von der Gleichheit von Strafe
und Verbrechen59. Die naturrechtliche Vorstellung, daß die Strafe nicht nur nach
55 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 164; AA, VI, S. 331; s. auch Metaphysik der Sitten
Vigilantius, S. 205 in Anm.; AA, VI, S. 363 in Anm.: „Die Strafgerechtigkeit (iustitia pu-
nitiva), da nämlich das Argument der Strafbarkeit moralisch ist (quia peccatum est), muß
hier von der Strafklugheit, da es bloß pragmatisch ist (ne peccetur) und sich auf Erfahrung
von dem gründet, was am stärksten wirkt, Verbrechen abzuhalten, unterschieden werden.“
Vgl. Metaphysik der Sitten Vigilantius: „Man unterscheidet daher inter justitiam et pru-
dentiam poenitivam; letztere bestimmt blos die Größe der Zwangsmittel, so den Übertreter
des Gesetzes treffen können; sie ist daher, da jede Strafe auf Gerechtigkeit gegründet seyn
muß, auch der justitia poenitiva untergeordnet“ (AA, XXVII, 2.1, S. 551); Praktische Phi-
losophie Powalski: „In der Politic haben die Strafen keine andre Nothwendigkeit als so
fern sie dienen böse Thaten abzuhalten. [...] Jede poena exemplaris ist ungerecht, wenn sie
nicht als poena vindicativa gerecht ist [...] Die Strafe die als vindicativa zu hart ist, die ist
als correctiva (mehrentheils) ungerecht“ (AA, XXVII, 1, S. 150).
56 Vgl. L. Ferrajoli, Diritto e ragione. Teoria del garantismo penale, a.a.O., S. 363: „Es gibt
eine offensichtliche Verbindung zwischen der vergeltenden Natur der Strafe und ihrer ge-
neralpräventiven Funktion: [...] Die Strafe übt eine präventive oder abschreckende Funkti-
on vor allem dann aus, wenn sie gegenüber demjenigen verhängt wird, der sie ‘verdient’
hat“.
57 Das Thema wird behandelt von M. A. Cattaneo, Dignità umana e pena nella filosofia di
Kant, Milano (Giuffrè) 1981; Ders., Beccaria e Kant. Il valore dell’uomo nel diritto penale,
in: Illuminismo e legislazione penale, a.a.O., S. 15–61; Ders., Menschenwürde und
Strafrechtsphilosophie der Aufklärung, a.a.O.
58 Vgl. Refl. 7699: „Das principium der legum poenalium nach dem iure talionis“ (AA, XIX,
S. 493).
59 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 164; AA, VI, S. 332: „Welche Art aber und welcher
Grad der Bestrafung ist es, welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum Princip und
Richtmaße macht? Kein anderes, als das Princip der Gleichheit.“ Zweifel hinsichtlich der
Notwendigkeit, daß die Strafen den Verbrechen in Grausamkeit entsprechen müssen, wur-
den hingegen von J. G. H. Feder, Über die Todesstrafen, in: J. F. Plitt (Hrsg.), Repertori-
um für das peinliche Recht, a.a.O., S. 36–44, S. 44, geäußert; H. Stephani, Anmerkungen
zu Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, a.a.O., S. 117, bekundete Er-
staunen und Verwirrung angesichts der Übernahme des Talionsprinzips durch Kant, das er
für von dem schlichten Verlangen nach Rache diktiert hielt.
16 Kant und das Strafrecht
der Schwere des Verbrechens, sondern auch die Art und den Grad des zugefügten
Übels ausgleichen soll60, ist ein archaisches Element in Kants Denken61 und wird
der Forderung nach einer aus seiner Tugendlehre ableitbaren Rechtfertigung
nicht gerecht, denn weil auf der Grundlage des allgemeinen Rechtsprinzips nur
solche Handlungen erlaubt sind, die mit der Freiheit jedes einzelnen nach einem
allgemeinen Gesetz zusammenstehen können, muß derjenige, der eine Handlung
vollzieht, bereit sein, deren Verallgemeinerung zuzulassen. Kant vertritt indessen
nicht die Auffassung, daß derjenige, der einen Diebstahl begehe, die Erfahrung
des völligen Verlusts des Eigentums verdiene, vielmehr nur, daß der Dieb, weil
er dieses Recht nicht geachtet habe, sich dadurch selber dessen beraube62. Es
handelt sich also um nichts anderes als das Gesetz der Wiedervergeltung63, das
mit dem Grundsatz „volenti non fit iniuria“ gerechtfertigt wird: Strafe fällt dem-
nach mit dem Verlust des dem verletzten Recht entsprechenden Rechtes zusam-
60 S. zu diesem Thema L. Ferrajoli, Diritto e ragione. Teoria del garantismo penale, a.a.O.,
S. 384 ff.
61 Zu einem deutlichen Überbleibsel der magischen Mentalität, dem das Talionsprinzip ent-
stammt, vgl. J. A. Bergk, der das ius talionis von Kant übernahm, jedoch mit einer ent-
scheidenden Beschränkung auf den Verlust bloß äußerlicher Rechte, deren Genuß man ir-
gendeinem anderen entzogen habe: „Der Staat will [...] daher nur die widerrechtliche That
durch das Widervergeltungsrecht, als nicht geschehen, machen“ (Des Marchese Beccaria’s
Abhandlung über Verbrechen und Strafen, Zweiter Theil, Leipzig (J. G. Beygang) 1798,
S. 205; kursiv von der Verfasserin).
62 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 166; AA, VI, S. 333: „Wer da stiehlt, macht aller
Anderer Eigenthum unsicher; er beraubt sich also (nach dem Recht der Wiedervergeltung)
der Sicherheit alles möglichen Eigenthums“. Es ist daher nicht richtig wie S. Fleischacker
(a.a.O., S. 442) zu behaupten, daß die Strafe den Kriminellen unter dem Gesetz leben läßt,
das er durch seine eigene Maxime errichtet hat, da man sich mit dem Talionsprinzip darauf
beschränkt, ihm das zuzufügen, was er anderen angetan hat. Das sogenannte „Rechtsargu-
ment“ oder „Argument der Selbstsubsumtion“ wurde hingegen von Hegel formuliert: In
der Handlung des Delinquenten „als eines Vernünftigen Handlung liegt, daß sie etwas All-
gemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihre für sich anerkannt hat, un-
ter welches er also, als unter sein Recht subsumiert werden darf.“ (Rph, § 100 S. 95 ff.). Zu
diesem Thema vgl. P. Becchi, Il doppio volto della pena in Hegel, Verifiche 3–4 (1999),
S. 191–209.
63 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 165; AA, VI, S. 332: „was für unverschuldetes Übel
du einem Anderen im Volk zufügst, das thust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so be-
schimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst [...]“. Vgl. Refl.
7289: „Das principium der rächenden Strafen (in Ansehung der Verbrechen gegen andere)
beruht darauf, daß ein jeder sich jederzeit bewußt ist, daß, was er gegen einen andern thut,
das füge er nach der Regel der Gerechtigkeit sich selbst zu“ (AA, XIX, S. 303). R. Brandt
(a.a.O., S. 455 ff.) interpretiert das Kant’sche Strafrecht als einen Zweig der iustitia distri-
butiva; zur Frage des Rechtstyps, auf den das Strafrecht zurückzuführen sei vgl. J. G.
Walch, Philosophisches Lexicon, Stw. Strafe, a.a.O., Sp. 1009.
Kant und das Strafrecht 17
men, das der Verbrecher, der so gehandelt hat, als ob dieses Recht nicht gelte,
nicht weiter innezuhaben beanspruchen kann; niemand kann sich, so Kant, dar-
über beklagen, daß eine Maxime auf ihn angewendet wird, die er selbst ange-
wendet hat64. Das Talionsprinzip setzt also die Art der Strafe fest, kann jedoch
nach Kant nicht ihre Rechtfertigung leisten: Denjenigen, der gelogen hat, zu be-
lügen beispielsweise, diesem mit derselben Münze heimzuzahlen, ist per se unge-
recht, und der vergeltende Charakter einer solchen Handlung kann die Handlung
nicht weniger ungerecht machen65.
Das Talionsgesetz bildet im übrigen nach Kant auf der einen Seite eine Garantie
gegen jede mögliche Willkür66, auf der anderen Seite ein rein formales Kriterium
für die Bestimmung der Strafe, einen festen Ankerpunkt67 der zur Kontrolle jener
konstitutiven Unsicherheit geeignet ist, die alle Klugheitsentscheidungen, also
auch die Feststellung der wirksamsten Mittel zur Beförderung der Sicherheit
kennzeichnet68.
Gerade gegen den aprioristischen Charakter des Talionsgesetzes ist allerdings der
Haupteinwand seiner Verächter gerichtet: Sie heben auf der einen Seite die Un-
anwendbarkeit des Talionsprinzips auf Fälle hervor, in denen es weder um physi-
sche Verletzungen noch um Tötung geht, auf der anderen Seite wenden sie gegen
seine Verfechter das berühmte „Auge um Auge“ ein und heben damit den illuso-
rischen Charakter der behaupteten Gleichheit zwischen Strafe und Verbrechen
hervor, denn nehme man einem Kriminellen zur Strafe – beispielsweise – ein
Auge, der selber nur ein einziges besitze, so bedeute dies, daß ihm eine Beein-
trächtigung – die Blendung – zugefügt wird, die schwerer ist als diejenige, die er
dem Opfer zugefügt hat, das, im gedachten Fall, eines von zwei Augen verloren
hat69.
Gerade um solche Einwände auszuräumen schlägt Kant eine nicht wörtliche An-
wendung des Talionsprinzips vor, nämlich eine solche, bei der die Auswirkungen
der Strafe auf den Verbrecher sowie die Fälle berücksichtigt werden, bei denen,
wie bei der Vergewaltigung, die Wiedervergeltung nicht möglich ist, da es sich
um „Verbrechen gegen die Menschheit überhaupt“ handelt70.
Über die Vereinbarkeit einer utilitaristischen Begründung des Strafrechts mit ei-
ner strengen, wenn auch nicht wörtlich verstandenen Wiedervergeltung als einzi-
ges Kriterium für die Festsetzung der Strafe scheint Kant keinerlei Zweifel emp-
funden zu haben71. Indes wurde diese Frage von Fichte aufgeworfen. Zwar er-
69 S. z.B. V. Barkhausen, Über die Abschaffung der Todesstrafen; Probe eines Kommentars
über den Beccaria, Deutsches Museum 1776, 8. St., 667–694, 683. Vgl. auch Rph, § 101
Anm., S. 97, 98: „bleibt man [...] vollends bei der abstrakten, spezifischen Gleichheit ste-
hen, so [...] ist“ es „sehr leicht, die Wiedervergeltung der Strafe (als Diebstahl um Dieb-
stahl, Raub um Raub, Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn, wobei man sich vollends den Täter
als einäugig oder zahnlos vorstellen kann), als Absurdität darzustellen“. Hegel gab zu, daß
das Kriterium der Vergeltung die Gleichheit zwischen Strafe und Delikt sein müsse, stellte
jedoch der „Gleichheit in der spezifischen Beschaffenheit“ des Delikts die Gleichheit „in
der an sich seienden Beschaffenheit der Verletzung, – nach dem Werte derselben“ gegen-
über (Rph, § 101, S. 96 ff.).
70 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 165 ff., 205 ff.; AA, VI, S. 332, 363. Eine ähnliche,
nicht wortgetreue Anwendung führte dennoch jene empirischen Schätzungen wieder ein,
von denen das Talionsprinzip als rein formales Kriterium hätte Abstand nehmen müssen.
71 Vgl. Naturrecht Feyerabend: „Er muß strafen, um Sicherheit zu verschaffen, und da muß er
solche Strafen machen, die der Sicherheit des laesi in künftigen Fällen angemessen sind,
das muß er nach dem jure talionis ausfindig machen [...] Auf solche Art wird die beste Si-
cherheit geschaft“ (AA, XXXVII, 2.2, S. 1390 ff.). Zu einer entsprechenden Vereinigung
von Utilitarismus und ius talionis s. L. H. Jakob, Philosophische Rechtslehre oder Natur-
recht, a.a.O., S. 249: „Die gerechte Strafe ist diejenige, welche einen ausreichenden Be-
Kant und das Strafrecht 19
blickte auch dieser das „materielle Prinzip der positiven Strafen“ in der „Strafe
des gleichen Verlustes“, also in der „poena talionis“72, ihre Anwendung ordnete
er jedoch der Vereinbarkeit mit der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit unter.
Fichte erblickte nämlich den Zweck des Strafgesetzes in der Aufrechterhaltung
der Sicherheit, schreibt ihr also, wie Kant, die Funktion der Hervorbringung von
rechtlichen Beweggründen zu73. Die kantianische Begründung für das Strafrecht
war jedoch keineswegs unabhängig vom Maßstab der Strafzumessung. Wenn
nämlich die poena talionis sich als unwirksam für ihre Aufgabe als Beweggrund
erweisen sollte, so könnte die Rechtfertigung der Strafen nicht mehr auf das
Zwangsrecht gegründet werden, da sie, im gedachten Fall, keinen Zwang auf je-
manden ausüben könnte. Kants Begrenzung der Rechtmäßigkeit utilitaristischer
Überlegungen in der Beachtung des Talionsprinzips setzt also voraus, daß diese
Beachtung zumindest prinzipiell mit eben diesen Überlegungen vereinbar sein
muß74. Fichte hingegen spricht der abschreckenden Wirkung der Strafen den
weggrund bietet, die Verletzung zu unterlassen, sofern sie als unausweichliche Konse-
quenz der Verletzung selbst erscheint“; S. 244: „Die Strafe ist gerecht, wenn ihre Höhe
von dem Ausmaß der Verletzung bestimmt wird“; S. 258: „daß jede Beleidigung mit dem
Verluste eines gleichen Gutes, als durch die Beleidigung verletzt ist, verdiene bestraft zu
werden“. Überzeugt von der eindeutigen Vereinbarkeit des Talionsprinzips mit der prä-
ventiven Funktion der Strafe in der kantianischen Theorie zeigt sich S. Sharon Byrd,
a.a.O., S. 184, 192 ff.; zweifelnd hingegen S. Williams Holtman, a.a.O., S. 18. I. Primoratz
verneint – in einer Auseinandersetzung mit D. Scheid a.a.O. –, daß es einen praktischen
Unterschied zwischen der mutmaßlich teilweisen Vergeltungslehre Kants, der eine utilita-
ristische Grundlage des Rechts zu strafen annimmt, und der Vergeltungslehre tout court
gebe, weil in beiden ein Vergeltungsprinzip zur gänzlichen Bestimmung der Verhängung
und des Maßes der Strafe enthalten sei (On „Partial Retributivism“, Archiv für Rechts- und
Sozialphilosophie 71 [1985], 373–377).
72 J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, a.a.O., GA, I.4, S. 61.
73 Ebd.
74 Die Unterordnung der Klugheit unter die Strafgerechtigkeit wurde von Kant entsprechend
der Hierarchie zwischen den Maximen vorgenommen, die im ethischen Bereich vorge-
schrieben wird, ohne daß er die möglicherweise aporetischen Folgen einer derartigen Un-
terordnung in der Rechtslehre wahrnahm. Im Falle des Konflikts zwischen beiden Prinzi-
pien nämlich mußte die Nützlichkeit ohne weiteres geopfert werden, wenn dies auch be-
deutete, daß es unmöglich war, eine utilitaristische Betrachtungsweise geltend zu machen.
So wie es nach Kant rechtens ist, sein eigenes Glück zu verfolgen, man aber jedesmal –
und sei es immer – davon absehen muß, wenn eine Kollision mit dem moralischen Gesetz
droht, ist es gleichfalls rechtens, mittels der Strafe die Sicherheit des Staates anzustreben,
muß dieses Ziel aber gleichermaßen jedesmal aufgegeben werden, wenn es mit den Ge-
rechtigkeitsmaßstäben, die das ius talionis aufstellt, unvereinbar ist. Wenn aber im Bereich
der Moral die Möglichkeit, daß das moralische Gesetz den Weg zur Verfolgung der eige-
nen Glückseligkeit dauerhaft versperrt, für Kant eine zu vernachlässigende Frage darstellt
– weil der Mensch nicht der Glückseligkeit, sondern der Moralität bestimmt ist (vgl.
20 Kant und das Strafrecht
Vorrang zu und ordnet daher die Anwendung des Talionsprinzips der Funktion
als Gegengewicht, d.h. der Fähigkeit, rechtswidrige Beweggründe zu neutralisie-
ren, unter75, indem er in Fällen, in denen die Talion zur Verfolgung der öffentli-
chen Sicherheit ungeeignet ist, schwerere Strafen vorsieht76.
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA, IV, S. 395 ff.) –, so impliziert im Bereich des
Rechts die Grundlegung des Rechts zu strafen auf der Notwendigkeit eines rechtlichen
Beweggrundes, daß die mögliche Unvereinbarkeit von Gerechtigkeit und politischer Klug-
heit die Existenz der Strafe jeglicher Rechtfertigung berauben würde. Die Unvereinbarkeit
von utilitaristischer Begründung des Rechts zu strafen und der Wahl der Talion als Kriteri-
um zur Verhängung der Strafen ist eine Aporie in Kants Gedankengang, die dennoch we-
der erlaubt, die Unterscheidung zwischen beiden Ebenen aufzugeben, noch anzunehmen,
daß Kant das Recht zu strafen auf der ethischen Vergeltungslehre begründet habe.
75 J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, a.a.O., in: GA, I.4, S. 62 ff.: „Der einzige Zweck
der bürgerlichen Bestrafung, der einzige Maasstab ihrer Größe, ist die Möglichkeit der öf-
fentlichen Sicherheit“.
76 Ebd., in: GA, I.4, S. 63: „Verletzung derselben, bloß damit sie verletzt werde [...] ist [...]
härter zu bestrafen, weil die Furcht vor der gelindern Strafe, der des gleichen Verlusts, kei-
ne hinlängliche Sicherheit dagegen gewährt“.
77 Ein maßgeblicher Impuls für die Diskussion ging von der Schrift Cesare Beccarias, Dei
delitti e delle pene, Livorno 1764, aus, die mehrfach auf deutsch übersetzt und kommen-
tiert worden ist (zuletzt von T. Vormbaum, Berlin 2004). Zu diesem Thema s. G. Deimling
(Hrsg.), Cesare Beccaria. Die Anfänge moderner Strafrechtspflege in Europa, Heidelberg
1989; A. Wandruszka, Beccaria e la Germania, in: Atti del Convegno Internazionale su
Cesare Beccaria promosso dall’Accademia delle Scienze di Torino nel secondo centenario
dell’opera „Dei delitti e delle pene“. Torino, 4–6 Ottobre 1964 (= Memorie dell’Acca-
demia delle Scienze di Torino. Classe di Scienze morali, storiche e filologiche, Serie 4, n.
9), Torino 1966, S. 295–303; B. Kreutziger, Bibliographie zur Rezeptions- und Wirkungs-
geschichte der Abhandlung „Dei delitti e delle pene“ Cesare Beccarias und zur Straf-
rechtsreformbewegung im deutschsprachigen Raum des. 18. Jahrhunderts, Das Achtzehnte
Jahrhundert 12 (1988), Heft 1, 89–116.
Kant und das Strafrecht 21
78 S. bspw. J. Möser, Patriotische Phantasien, Stuttgart 1970, S. 199 ff.: „das Recht zur
Selbstverteidigung erstreckt sich, im Naturzustand, so weit, wie die Kraft reicht“; nach
dem Übergang eines solchen Rechts zum Staat bedürfen nach Möser daher nicht die Exe-
kutionen der Rechtfertigung, sondern die Fälle, in denen der Kriminelle am Leben gelassen
wird; J. F. Runde, Die Rechtmäßigkeit der Todesstrafen, a.a.O., S. 283; Anonym, Etwas
über die Anwendung der Todesstrafen und peinlichen Gesetze, in: Archiv für die theoreti-
sche und praktische Rechtsgelehrsamkeit, 2. Teil, 1788, S. 222–257, S. 214; T. Schmalz,
Das reine Naturrecht, a.a.O., S. 113.
79 Vgl. J. C. G. Schaumann, Kritische Abhandlungen zur philosophischen Rechtslehre,
a.a.O., S. 253: „der Staat“ hat „wie jeder Mensch, eine vollkommene Befugniß zur Not-
wehr. Aber von dieser Notwehr ist in der Frage über die Todesstrafen die Rede nicht“.
V. Barkhausen, Über die Abschaffung der Todesstrafen, a.a.O., S. 685; ausgehend vom
Naturrecht des Einzelnen zur Selbstverteidigung hatte J. v. Sonnenfels dem Staat das Recht
zur Verhängung der Todesstrafe zuerkannt, wenn dies für die Sicherheit der Allgemeinheit
notwendig sei, verneinte aber gleichzeitig, daß ein solcher Fall jemals vorkommen würde,
sobald der Kriminelle festgenommen worden sei (Grundsätze der Polizey, Handlung und
Finanz, a.a.O., S. 497 ff.); H. A. Vezin, Das Recht am Leben zu strafen, systematisch er-
wogen, Berlinische Monatsschrift 2 (1795), S. 312–346, S. 321 ff.
80 Vgl. H. Stephani, Anmerkungen zu Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtsleh-
re, a.a.O., S. 120 ff.: Die Todesstrafe „kann [...] nur dann stattfinden, wenn durch ein ge-
ringeres Uebel die gestöhrte Sicherheit nicht hergestellet werden kann.“ (S. 121). Der Aus-
druck „Sicherheit“ ist in Wahrheit zweideutig – wie J. A. Bergk in: „Des Marchese Becca-
ria’s Abhandlung ...“, a.a.O., Zweiter Theil, S. 216 ff., und „Über Strafen, als bloße Si-
cherheitsmittel des Staats; zur Antwort auf des Herrn Direktor Klein’s Aufforderung.
Nebst einigen vorläufigen Bemerkungen von E. F. Klein“, in: Archiv des Criminalrechts,
2. Bd., 3. St., (1800), S. 144–160 –, und darauf bezogen sich sowohl die Gegner der To-
desstrafe, welche selbige nur dann zulassen wollten, wenn die Existenz des Staates selbst
in Gefahr gewesen wäre, als auch ihre Befürworter, die den Schutz der Sicherheit mit der
im allgemeinen abschreckenden Funktion der Strafen identifizierten.
22 Kant und das Strafrecht
Im Bereich der Vertragslehre hingegen drehte sich die Diskussion über die To-
desstrafe um die psychologische Möglichkeit einerseits, die moralische Zulässig-
keit andererseits einer Vereinbarung der Vertragspartner über die Todesstrafe.
Ging man vom Interesse der Bürger am Schutz ihrer individuellen Rechte aus, so
hing die psychologische Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit der An-
nahme einer Vertragsklausel über die Todesstrafe von der Behauptung einer Un-
erläßlichkeit oder Überflüssigkeit der Todesstrafe für die Aufrechterhaltung der
öffentlichen Sicherheit ab; ein hypothetischer Vertragspartner hätte sich nämlich
nur dann der Gefahr des Lebensverlustes unterworfen, wenn er dies als unerläß-
lich für die Erhaltung seiner Rechte angesehen hätte81. Die moralische Zulässig-
keit einer solchen Vereinbarung hing hingegen – abgesehen vom Beweis ihrer
Unvergleichbarkeit mit dem Selbstmord, der nahezu einmütig verurteilt wurde82
– vom Rechtscharakter des Rechts auf Leben ab. Ein Vertrag, der dem Staat die
Befugnis zugesprochen hätte, mit dem Tode zu bestrafen, wäre nämlich von de-
nen, die das Leben als ein unveräußerliches Recht ansahen83, sowie von jenen,
die es außerhalb des bürgerlichen Rechts ansiedelten, weil es allein unter die Ju-
risdiktion Gottes falle84, für nichtig erklärt worden.
81 V. Barkhausen, Über die Abschaffung der Todesstrafen, a.a.O., S. 681: „so scheint es doch
unbegreiflich, wie man irgend jemanden, [...], oder dem Staate, sollte freie Gewalt gegeben
haben, [...] für gewisse Handlungen ohne Noth und ohne Nuzen des Lebens zu berauben“.
82 Vgl. zur Gegenauffassung H. A. Vezin, Das Recht am Leben zu strafen, systematisch er-
wogen, a.a.O., S. 327 ff.: „Wenn aber der Bürger der Obrigkeit die Vollmacht giebt, ihn
[...] in gewissen vorher genau vorher bestimmten Fällen [...] zu tödten: so ist das eben so
gut, als ob er sich in solchen Fällen [...] selbst tödtete [...] Folglich hat er in jener Voraus-
setzung der Obrigkeit ein Recht übertragen, das er selbst nicht hatte“.
83 Vgl. G. Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts, S. 110; T. v. Hippel, Nachrichten die von K.-
Untersuchung betreffend. Ein Beitrag über Verbrechen und Strafen, 1792, wiedergegeben
bei J. A. Bergk, Des Marchese Beccaria’s Abhandlung ..., a.a.O., Zweiter Theil, S. 160:
„Der Staat hat nichts als Vertrags- und übertragene Rechte“, aber das Recht auf Leben und
Tod kann ihm nicht übertragen worden sein, weil „das Leben [...] kein Eigenthum des
Menschen“ ist; J. C. G. Schaumann, Kritische Abhandlungen zur philosophischen Rechts-
lehre, S. 254 ff.
84 H. A. Vezin, Das peinliche Halsrecht der Teneriffaner, ein Märchen, wie es mehrere giebt;
mit Anmerkungen, Osnabrück 1783, S. 73 ff.: Die Todesstrafe ist nur in den theokratischen
Staaten, die unter Gottes unmittelbarer Herrschaft stehen, gerechtfertigt; in allen anderen
Verfassungen bedeutet sie eine Verletzung der Rechte der Untertanen und zugleich der
Majestät Gottes; Ders., Das Recht am Leben zu strafen, systematisch erwogen, a.a.O.,
S. 327; J. A. Bergk, Des Marchese Beccaria’s Abhandlung ..., a.a.O., Erster Theil, S. XXII
ff., 170 ff.; Zweiter Theil, S. 185 ff.; V. Barkhausen, Über die Abschaffung der Todesstra-
fen, a.a.O., S. 688.
Kant und das Strafrecht 23
Will man ein umfassendes theoretisches Gesamtbild entwerfen, so muß man oh-
ne weiteres der Diagnose von Bergk aus dem Jahre 1798 zustimmen, daß die
Verteidiger der Todesstrafe erheblich zahlreicher seien als ihre Gegner86, und daß
die Argumente beider Parteien im allgemeinen dahin gingen, die Notwendigkeit,
Nützlichkeit oder moralische Zulässigkeit der Todesstrafe zu behaupten oder zu
bestreiten, viel weniger aber ihre rechtliche Legitimität87. Selbst Beccaria – so
85 Spielarten dieser von Rousseau abgeleiteten These wurden vertreten von K. A. Cäsar,
Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt, 4. Bd., Leipzig 1787, wiedergegeben bei
J. A. Bergk, Des Marchese Beccaria’s Abhandlung ..., a.a.O., Zweiter Theil, S. 134 ff.:
„der Ausdruck Todesstrafe“ enthält „genau genommen, einen widersprechenden Begriff
[...] Strafe setzt einen ordentlichen, Tödtung einen außerordentlichen Zustand voraus.“;
T. Schmalz, Das reine Naturrecht, a.a.O., S. 113: „durch Uebertretung des Gesetzes [...]
zerreißt der Uebertreter des Gesellschafts-Vertrages das Band, was ihn an diese knüpfte,
wird ihr Feind, und sie ist also gegen ihn als gegen einen Feind berechtigt.“; Ders., Das
natürliche Staatsrecht, a.a.O., S. 98 f.: „der Staat“ ist „befugt, gegen den Verbrecher als
Feind zu verfahren [...] Er befindet sich im Kriegszustande mit ihm“; J. H. Abicht, Die
Lehre von Belohnung und Strafe in ihrer Anwendung auf die bürgerliche Vergeltungsge-
rechtigkeit ..., 2. Bd., Erlangen 1797, wiedergegeben bei J. A. Bergk, Des Marchese Bec-
caria’s Abhandlung ..., a.a.O., Zweiter Theil, S. 179: „Die Obrigkeit [...] hat kein Recht der
Todesstrafe: denn der Tod kann gar keine Strafe seyn“, aber sie ist „bisweilen berechtigt,
den Tod als ein gerechtes Sicherungsmittel zu gebrauchen.“; J. G. Fichte, Grundlage des
Naturrechts, a.a.O., in: GA, I.4, S. 73, 74: „wenn der Staat den Verbrecher tödtet, so thut er
das nicht, als Staat, sondern als stärkere physische Macht, als bloße Naturgewalt. [...] Sein
Tod ist gar nicht Strafe, sondern nur Sicherungsmittel. Dies giebt uns die ganze Theorie
der Todesstrafen. Der Staat als solcher, als Richter, tödtet nicht, er hebt bloß den Vertrag
auf“.
86 J. A. Bergk, Des Marchese Beccaria’s Abhandlung ..., a.a.O., Zweiter Theil, S. 207.
87 Ebd., S. 196 ff., 206 ff., 224. Vgl. J. G. H. Feder, Über die Todesstrafen, a.a.O., S. 40:
„Also beruht, der verschiedenen Gründe der Strafrechte ungeachtet, die Untersuchung über
die Rechtmäßigkeit der Todesstrafen im Staate, am Ende ganz allein auf der Frage, wie
weit sie nothwendig oder entbehrlich seyn“; H. A. Vezin, Das Recht am Leben zu strafen,
systematisch erwogen, a.a.O., S. 331, beobachtete, wie man für gewöhnlich die Zulässig-
keit der Todesstrafe aus ihrer Unvermeidlichkeit ableitete; K. H. Heydenreich hatte die
Unterscheidung – laut Bergk jedoch ohne sie zu beachten – zwischen der Gemäßheit der
Strafe einem Zweck und ihre Gemäßheit dem Recht, d.h. zwischen Nützlichkeit und Ge-
rechtigkeit, formuliert (Grundsätze des natürlichen Staatsrechts, Erster Theil, Leipzig
1795, wiedergegeben bei J. A. Bergk, Des Marchese Beccaria’s Abhandlung ..., a.a.O.,
Zweiter Theil, S. 163 ff., 259 ff.).
24 Kant und das Strafrecht
bemerkte Bergk – hatte gemeint, daß die Todesstrafe dann gerecht sei, wenn sie
notwendig sei, und damit die rechte Ordnung der Probleme auf den Kopf gestellt,
denn die Rechtmäßigkeit müsse zuerst festgestellt werden, so daß die Frage nach
der Notwendigkeit des Ungerechten überhaupt nicht gestellt werden könne88.
Die Position Kants – er sprach sich bekanntlich zugunsten der Todesstrafe aus –
war einerseits ihrem Inhalt nach nicht ungewöhnlich, wenn man sie mit derjeni-
gen der Mehrheit seiner Zeitgenossen vergleicht, sie ist jedoch originell, was die
Argumente angeht, die er zu ihrer Begründung für unzulässig hält. Für Kant bil-
dete nämlich die Todesstrafe nicht ein Problem, welches im Verhältnis zur Be-
gründung des Strafrechts als das zusätzliche Problem der Ausdehnung dieser
Strafe auftritt, noch forderte er eine Prüfung der Notwendigkeit oder Überflüs-
sigkeit der Todesstrafe im Hinblick auf die öffentliche Sicherheit; die Nützlich-
keit der Todesstrafe als Mittel der Abschreckung war nämlich eine empirische
Frage, auf die es auf der Ebene der reinen Rechtsvernunft nicht ankam. Die To-
desstrafe war für ihn nur eine besondere Form der Strafe, und das Problem nicht
nur ihrer Rechtmäßigkeit in abstracto, sondern zugleich dasjenige, in welchen
Fällen sie angewendet werden dürfe89, war automatisch gelöst mit dem Kriterium
a priori der Bestimmung der Qualität und der Quantität der Strafe, das Kant, wie
wir gesehen haben, im ius talionis fand. Auf der Grundlage dieses Prinzips war
die Todesstrafe die einzige angemessene Strafe für Mord, denn
„es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem
Tode, also auch keine Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung, als
durch den am Täter gerichtlich vollzogenen [...] Tod.“90
88 J. A. Bergk, Des Marchese Beccaria’s Abhandlung ..., a.a.O., Erster Theil, S. 172 f. in Fn.
s. C. Beccaria, Dei delitti e delle pene, hrsg. von F. Venturi, Torino (Einaudi) 1994, § 28,
S. 62 f. Vgl. J. E. F. Schall, Von Verbrechen und Strafen, eine Nachlese und Berichtigung
zu dem Buche des Marchese Beccaria eben dieses Inhalts, Leipzig 1779, wiedergegeben
bei J. A. Bergk, Des Marchese Beccaria’s Abhandlung ..., a.a.O., Zweiter Theil, S. 103 f.:
„Die Todesstrafe [...] ist die einzige allgemein wirksame und sichere Strafe und ihre
Rechtmäßigkeit beruht auf ihrer Nothwendigkeit“.
89 Wir können uns hier nicht mit den Fallgruppen des Zweikampfs und der Kindstötung auf-
halten, die Kant gesondert behandelte, und bei denen er jedenfalls zu dem Schluß kam, daß
„der kategorische Imperativ der Strafgerechtigkeit (die gesetzwidrige Tötung eines Ande-
ren müsse mit dem Tode bestraft werden) bleibt“ (Metaphysik der Sitten Vigilantius,
S. 170 f.; AA, VI, S. 336 f.). Zu diesem Thema vgl. R. Brandt, El desafío de Kant ante la
pena de muerte para los duelos y el infanticidio, in: R. R. Aramayo / F. Oncina (Hrsg.),
Etica y Antropología: un dilema kantiano, Granada (Comares) 1999, S. 1–22.
90 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 166; AA, VI, S. 333.
Kant und das Strafrecht 25
Legt aber das Talionsgesetz jene Verbrechen fest, die todeswürdig sind, so impli-
ziert die Identität von Rechtsgesetz und Strafgesetz, daß der Verzicht auf die
Strafe zusammenfällt mit der Ablehnung des Gesetzes selber, d.h. mit der Erklä-
rung der Zulässigkeit der Gesetzesübertretung. Dies ist der Grund, warum
„der letzte im Gefängnis befindliche Mörder hingerichtet werden muß“ – so Kant –
„wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete,“91
weil – wie wir gesehen haben – die Strafe als Zwangsmittel aus dynamischer
Sicht das Wesen des Rechtes selbst bildet.
Die Vernichtung des Lebens eines Vernunftwesens verletzt also nach Kant nicht
notwendigerweise das Recht der Menschheit in der Person des Verbrechers92. In
der kantischen Axiologie kann nämlich demjenigen Wesen, das von einem guten
Willen getrennt ist, kein absoluter Wert beigemessen werden93. Nicht einmal das
Leben ist also ein Wert an sich, wenn man seiner nicht würdig ist94:
„Wesentlich ist nicht, daß der Mensch möglichst lange lebe, sondern daß er, solange
er lebt, ehrenhaft lebt und die Würde der Menschheit achtet; kann er nicht mehr so le-
ben, dann kann er überhaupt nicht mehr leben und sein moralisches Leben ist zu En-
de.“95
Für jemanden, der zur Zeit Kants die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe verteidigen
wollte, war die Auseinandersetzung mit Beccaria unumgänglich, und Kant selber
hat sich ihr nicht entzogen96. Auf die utilitaristischen Argumente Beccarias ging
91 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S 166 f.; AA, VI, S. 333. Vgl. Refl. 7917; AA, XIX,
S. 553. Vgl. zu diesem Thema R. Zaczyk, Staat und Strafe – Bemerkungen zum sogenann-
ten „Inselbeispiel“ in Kants Metaphysik der Sitten, in: G. Landwehr (Hrsg.), Freiheit,
Gleichheit, Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphilosophie Kants für die Gerechtig-
keit in der modernen Gesellschaft, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1999, S. 73–87.
92 Zur These der Unvereinbarkeit von der Verteidigung der Todesstrafe und den Grundsätzen
der Morallehre Kants s. S. S. Schwarzschild, Kantianism on the Death Penalty (and Related
Social Problems), Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 71 (1985), S. 343–372.
93 AA, IV, S. 393; Kritik der praktischen Vernunft, S. 49.
94 S. Refl. 7191: „Das Leben ist an sich nicht ein Gut, sondern so fern man dessen würdig ist“
(AA, XIX, S. 268).
95 I. Kant, Eine Vorlesung Kants über Ethik, hrsg. von Paul Menzer, Berlin (Pan-Verlag)
1924.
96 Von den Kant’schen Einwänden gegenüber Beccarias Argumenten finden sich Skizzen
und Varianten im Naturrecht Feyerabend (AA, XXVII, 2.2, S. 1391) und in den Refl. 7912
ff., 8031 (AA, XIX, S. 551 ff., 586 f.). Zur Beziehung zwischen Kant und Beccaria vgl.
R. Mondolfo, Beccaria e Kant, Rivista internazionale di filosofia del diritto 5 (1925), Fasz.
IV, S. 617–619; J. Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien
26 Kant und das Strafrecht
Kant nicht ein, denn er hatte ja bereits geklärt, daß die Bestimmung der Strafe
auf der Grundlage empirischer Überlegungen nur „hin und her schwankende“
Prinzipien aufstellen könne, die ihrem Wesen nach ungeeignet sind, „die Qualität
und Quantität der Strafe bestimmt an[zu]geben”97.
Gegen die Todesstrafe hatte Beccaria auch ein kontraktualistisches Argument an-
geführt, indem er vor allem auf die psychologische Unmöglichkeit einer Vereinba-
rung über die Kapitalstrafe, in zweiter Linie auf die moralische Unmöglichkeit,
d.h. auf die Unerlaubtheit einer solchen Vereinbarung hingewiesen hatte. Obwohl
er wie Beccaria auf die Idee eines Gründungsvertrages zurückgriff, sah Kant sich
gebunden, die Behauptung zurückzuweisen, daß diese Idee die Rechtswidrigkeit
der Todesstrafe einschließe. Anders als die anderen Verteidiger der Todesstrafe im
Bereich der Staatsvertragslehre, hielt Kant es allerdings nicht für erforderlich, die
psychologische und moralische Möglichkeit der Vereinbarung über die Todesstra-
fe zu beweisen. Die Vertragsvorstellung – meint er vielmehr – schließe durchaus
nicht ein, daß das Gesetz (und damit auch das Strafgesetz) konstruktiv betrachtet
Gegenstand der Vereinbarung sei; der Vertragsvorstellung sei nur die Vorstellung
jenes Aktes, „wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt“98. Was den
Inhalt des Gesetzes angeht, so geht es gar nicht um die Frage, welches Gesetz als
das des Gründungsvertrages anzunehmen sei, denn die Vernunft liefert dem Men-
schen ein Gesetz, und nur ihm allein muß er sich unterwerfen99. Das allgemeine
Prinzip des Rechts besteht nach Kant unabhängig von der Vereinbarung der Par-
teien, so daß es auch nicht um den Inhalt des Gesetzes selbst gehen kann, sondern
nur um das Verlassen des Naturzustandes und um die Unterwerfung „unter einen
öffentlich gesetzlichen äußeren Zwang“100. Der Standpunkt Beccarias bildet daher
für Kant eine „Rechtsverdrehung“, weil er die Erstellung eines Gesetzes, das doch
denselben Status hat wie das moralische Gesetz, einer Übereinkunft unter Ver-
tragsschließenden und einer Bewertung ihrer jeweiligen Interessen anheimgibt,
und er nennt ihn „Sophisterei“, weil er das Strafgesetz als Ergebnis einer Willens-
entschließung auffaßt, statt als Gegenstand eines Vernunfturteils, was zu dem wi-
dersinnigen Ergebnis führe, daß die Strafe auf ein Übel reduziert wird, das vom
Verbrecher selbst gewollt sei101.
Was die Berufung auf das allgemeine Bewußtsein, nämlich auf die allgemeine
Mißachtung des Scharfrichters102, angeht, dessen sich Beccaria gegen die Todes-
strafe bedient, so hält Kant dieser Bezugnahme auf Empfindungen der Bürger
eine doppelte Erwiderung an die Bürger, vor allem aber an den Verurteilten ent-
gegen, der mehr als jeder andere, wenigstens aus Interesse, die Ungerechtigkeit
seines Loses behaupten müßte. Indes habe man
„nie gehört, daß, daß ein wegen Mordes zum Tode Verurtheilter sich beschwert hätte,
daß ihm damit zu viel und also unrecht geschehe; jeder würde ihm ins Gesicht lachen,
wenn er sich dessen äußerte.“103
Mit diesen Ausführungen setzte sich Fichte auseinander; er räumt durchaus ein,
daß man dem Mörder mit der Todesstrafe keinerlei Unrecht zufüge104, bestreitet
aber, daß die Menschen sich das Recht anmaßen könnten, mit dem Tode zu stra-
fen, denn damit usurpierten sie das göttliche Vorrecht des moralischen Weltregi-
ments105. Damit warf Fichte Kant vor, er habe Moral und Recht vermengt und als
Grundlage der Strafgerechtigkeit die Vergeltung angenommen, die ihren Platz
„in einer moralischen Weltordnung unter einem allwissenden Richter auf der
Grundlage von moralischen Gesetzen” haben möge. Fichte interpretiert somit die
Position Kants im Lichte der Äußerungen Ludwig Heinrich Jakobs; dieser hatte
die Strafe eben als „Rechtsfolge“ einer Beleidigung „in einer moralischen Ord-
nung“ definiert106. Jakob selber freilich hatte – wahrscheinlich durch die Kritik
Fichtes beeinflußt – moralische Strafen von Rechtsstrafen unterschieden, indem
er die Bedeutung der eigenen These in unverdächtigen Begriffen der ethischen
Vergeltung erläutert:
101 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 168 ff.; AA, VI, S. 334 f.
102 „Welches sind die Empfindungen von jedermann über die Todesstrafe? Wir lesen sie aus
den verächtlichen und mißbilligenden Verhaltensweisen, mit denen jeder dem Henker be-
gegnet, der doch ein unschuldiger Vollstrecker des öffentlichen Willens ist, ein guter Bür-
ger, der seinen Beitrag zum Gemeinwohl erbringt“, Dei delitti e delle pene, a.a.O., S. 67
(Dt. Übersetzung von T. Vormbaum, Von den Verbrechen und von den Strafen, Berlin
[Berliner Wissenschafts-Verlag] 2004, S. 54 f.).
103 Metaphysik der Sitten Vigilantius, S. 168; AA, VI, S. 334.
104 Vgl. L. H. Jakob, Philosophische Rechtslehre oder Naturrecht, a.a.O., S. 245.
105 J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, a.a.O., in: GA, I.4, S. 76 f.
106 L. H. Jakob, Philosophische Rechtslehre oder Naturrecht, a.a.O., S. 244.
28 Kant und das Strafrecht
„Eine Strafe ist [...] gerecht, wenn sie in einer Rechtsordnung als möglich gedacht
werden kann [...]. Ein Übel, dessen Darstellung – wenn es dem Beleidiger als sichere
und unausweichliche Folge seiner Beleidigung dargestellt wird – ein ausreichender
Beweggrund wäre, die Tat zu unterlassen, kann in einer Rechtsordnung als möglich
mittels eines Gesetzes gedacht werden. In einer solchen Ordnung ist nämlich der
höchste und letzte Zweck die harmonische freie [...] Ausübung der Rechte aller in
Harmonie.“107
Die Todesstrafe war daher für Jakob, wie schon für Kant, rechtmäßig nicht we-
gen der moralischen Notwendigkeit der ethischen Vergeltung, sondern wegen der
Anerkennung des Talionsprinzips als Maßstab der Strafzumessung. Fichte, der
zwar die Annerkennung der Talionsregel mit Kant teilte und, wie wir schon ge-
sehen haben, dem Staat das Recht der Tötung des Verbrechers zuerkannte108,
konnte freilich die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe nicht anerkennen, denn er
gründete das Strafrecht auf einen Abbüßungsvertrag109, der den Bürgern das
Recht einräumte, für ihre Tat bestraft statt aus dem Staat ausgeschlossen zu wer-
den. Die Nichtigkeit des Vertrages für Mörder und unverbesserliche Verbrecher
führte nach Fichte zu deren Ausschluß aus dem Staat, d.h. zu ihrer Landesver-
weisung, nicht jedoch zu ihrer Vernichtung, außer bei Notwehr110.
Für Kant hingegen entstammt das Strafgesetz nicht einem Vertrage, sondern bil-
det, als Einrichtung eines Zwangsmechanismus, das Wesen des Rechtes selbst111.
Die Begründung des Strafrechts verlangte daher nicht, daß von dem Gesetz der
Gleichheit zwischen Strafe und Verbrechen – die als formales Kriterium, und
damit a priori, der Strafbemessung gerechtfertigt ist – einmal eine Ausnahme
gemacht würde.
107 L. H. Jakob, Philosophische Rechtslehre oder Naturrecht, Halle 18022, S. 209 f. (kursiv
von der Verf.). In der ersten Auflage von 1795 bezog er sich nicht auf die Rechtsordnung,
sondern auf die moralische Ordnung: „Eine Strafe ist [...] gerecht, wenn sie in einer mora-
lischen Ordnung als möglich gedacht werden kann [...] Ein Uebel, dessen Vorstellung,
wenn es sich der Beleidiger als eine gewisse und unvermeidliche Folge seiner Beleidigung
vorgestellt hätte, ein hinreichender Bestimmungsgrund für ihn gewesen sein würde, die Be-
leidigung zu unterlassen kann in einer moralischen Ordnung durch ein Gesetz als möglich
gedacht werden. Denn in einer moralischen Ordnung ist der höchste und letzte Zweck die
freie [...] Wirksamkeit aller moralischen Wesen in Harmonie“ (S. 249, kursiv von der Verf.).
108 S. oben Fn. 82.
109 J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, a.a.O., in: GA, I.4, S. 60.
110 Ebd., in GA, I.4, S. 73 f. Zur Unzulässigkeit der Todesstrafe bei Fichte vgl. A. Philonenko,
Théorie et praxis dans la pensée morale et politique de Kant et de Fichte en 1793, Paris
(J. Vrin) 1968, S. 172–174.
111 Vgl. Über den Gemeinspruch, AA, VIII, S. 289 f.
Verzeichnis der Erstabdrucke
1. Kant und das Strafrecht: Kant e il diritto di punire, in: Quaderni fiorentini per la
storia del pensiero giuridico moderno XXIX (2000), S. 55–84. Deutsche Erstüber-
setzung in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 6 (2004/2005), S. 261–284, so-
wie in: Journal der juristischen Zeitgeschichte 1 (2007), S. 16–28.
2. Religion und Bürgerrechte. Kant und die Judenfrage: Religione e i diritti civili. La
questione ebraica in Kant, in: STUDI KANTIANI XXI (2008), S. 33–58. Deutsche
Erstübersetzung in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 10 (2008/2009),
S. 383–416.
3. Recht, Zwang und Strafe bei Fichte: Diritto, coazione e pena in Fichte, in: Verifiche
XXXIII (2004), S. 249–291. Deutsche Erstübersetzung in: Jahrbuch der juristischen
Zeitgeschichte 9 (2007/2008), S. 268–298.
4. Freiheit und Strafe bei Hegel: Pena e libertà in Hegel, in: Carla De Pascale (Hrsg),
La civetta di Minerva. Studi di filosofia politica tra Kant e Hegel. Pisa (Edizioni
ETS) 2007, S. 197–221. Deutsche Erstübersetzung im vorliegenden Band.