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/ Song and Popular Culture
Der Feststellung, dass ein Gesangbuch mit den in ihm enthaltenen Kirchenlie-
dern ein Medium des Erinnerns ist, wird sicherlich niemand widersprechen.
Welcher Art ein solches Erinnern jedoch sei und woran die Kirchenlieder im
Einzelnen erinnern, darüber können je nach Standpunkt verschiedene Meinun-
gen herrschen. Denn Kirchenlieder haben einerseits eine Funktion im Rahmen
religiöser und kirchlich gelenkter Erinnerungskultur, andererseits haben sie un-
terschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Zeiten auf einem bestimmten Teil
1 Mit »Gesangbuch« ist zunächst jede Sammlung von Kirchenliedern gemeint, die im religiö-
sen Leben Gebrauch findet. Konfessionelle Unterschiede werden ausdrücklich nicht mit
einbezogen, da sie als für die hier behandelte Fragestellung nicht relevant erschienen. Da
die Überlegungen ihren Ausgangspunkt in der Einführung des neuen katholischen Gebet-
und Gesangbuchs Gotteslob (2013) fanden, lag eine Konzentration darauf jedoch nahe.
1. Gotteslob
Wie schwierig sich die richtige Liedauswahl für ein zeitgemäßes und dennoch
geschichtsbewusstes Gesangbuch gestaltet, zeigt sich an der Arbeit am neuen Got-
teslob , die sich über mehr als zehn Jahre erstreckte. Im Vergleich zum alten Got-
teslob von 1975 enthält es mehr Gebete und Anleitungen zum religiösen Leben
auch außerhalb der Kirche, um der heutigen seelsorgerischen und demografi-
schen Situation gerecht zu werden (etwa dem zunehmenden Priestermangel oder
der Pflege von alten Menschen zu Hause), sowie einen musikalischen Stammteil
von 140 aus dem alten Gotteslob übernommenen und 136 neu hinzugetretenen
Liedern, die entweder den letzten Jahrzehnten oder dem im alten Gotteslob eher
schwach vertretenen Zeitraum vom 18. bis frühen 20. Jahrhundert entstammen.
Die Hälfte dieser Lieder ist als ökumenisch gekennzeichnet. Hinzu kommen regi-
onale Anhänge, die dem besonders gepflegten und traditionsbehafteten Liedgut
der einzelnen Diözesen geschuldet sind. Leitfaden für die Zusammenstellung des
musikalischen Teils war eine Berücksichtigung aller musikalischen »Epochen und
Stile von der Gregorianik bis zum Neuen Geistlichen Lied«, »die Qualität von
Text und Musik, die Übereinstimmung mit dem Glauben der Kirche und die Ak-
zeptanz durch die Gemeinden«.2 Auch wenn, wie der Kirchenmusiker Walter
Hirt feststellte, sicherlich jeder »eines seiner Lieblingslieder vermissen«3 werde, so
sei besonderes Augenmerk darauf gelegt worden, dass die »eingesungenen, zum
festen Bestandteil des persönlichen Glaubensleben gehörenden Gesänge erhalten
bleiben«.4
2 Bischof Friedhelm Hofmann (Würzburg) auf der Pressekonferenz zum Andruck des neuen
Gotteslobsy http://www.mein-gotteslob.de/videos-zum-neuen-gotteslob/ (zuletzt abgerufen
am 15.06.2014).
3 Walter Hirt, Diözesanmusikdirektor des Bistums Rottenburg-Stuttgart, im Video zur Ent-
stehung des neuen Gotteslobs , http://www.ein-blick-ins-leben.tv/von-uns/film/ein-buch-f-
rs-leben (zuletzt abgerufen am 15.06.2014).
4 Bischof Hofmann auf der Pressekonferenz zum Andruck des neuen Gotteslobs (wie Anm.
2).
5 Unterkommission Gemeinsames Gebet- und Gesangbuch: Univariate Auswertungsergeb-
nisse des Fragebogens zum Stammteil des »Gotteslob« sowie Zusammenstellung der Anmer-
kungen der Befragten (2003); online dokumentiert unter http://www.bands.bistum-wuerz
burg.de/load.html?/arch_themen/t_04 l_ergebnisse-umfrage-gotteslob.htm (zuletzt abgeru-
fen am 15.06.2014).
6 Die Antworten können auf den Webseiten der Erzbistümer, Bistümer und Diözesen sowie unter
http://www.pfarrbriefservice.de/materialien/texte.html?f_ajax_action=catsearch&f_categoryl=2788
eingesehen werden (zuletzt abgerufen am 15.06.2014).
7 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frü-
hen Hochkulturen. München: C. H. Beck 1992, S. 38.
8 Was keineswegs bedeutet, dass sie nicht ebenso interessant und relevant sind.
9 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 7), S. 36.
10 Ebd., S. 42.
[Es] weckt in mir immer wieder schöne Kindheitserinnerungen. Es ist der Ab-
schluss der weihnachtlichen Krippenfeier und das bedeutete in meiner Kindheit
und auch heute noch gemeinsame Weihnachtsfeier mit meiner Familie bei lecke-
rem Essen und natürlich als Kind viele tolle Geschenke.12
Bemerkenswert hinsichtlich der Wege, die Erinnerung gehen kann, ist die
Antwort von Schwester M. Lintrud Funk, Generaloberin der Barmherzigen
Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul in Untermarchtal. Sie wählte das Lied
O mein Christ , lass Gott nur walten als liebstes Kirchenlied, da es ihr »Kraft und
17 Vgl. Kurzke, Hermann: Das Liedgut der Tradition. In: Gotteslob-Revision. Problemet Pro-
zesse und Perspektiven einer Gesangbuchreform. Hg. von dems. und Andreas Neuhaus. Tü-
bingen/Basel: Francké 2003, S. 160.
lieds resoniert für Lintrud Funk offenbar mit ihrer emotionalen Verbindung zu
Vinzenz von Paul; hier verknüpfen sich das allgemein-kulturelle Gedächtnis des
christlichen Glaubens und das der historischen Persönlichkeit Vinzenz von Pauls
mit ihrer ganz individuellen Bedeutung für Funk.
Gemischt werden autobiographisch-individuelle mit kirchlich-historischen
Erinnerungen, wenn etwa die Journalistin Anne Reidt von der »Referenz an mei-
ne Heimat und an meine Kindheit als Schülerin des Aachener Kaiser- Karls-
2. Erinnerungs(h)orte
hier vorgelegte Band [...] erscheint zwar unter dem von Pierre Nora geprägten und
in vergleichbaren Bänden aufgegriffenen Titel. Allerdings ist das hier zugrunde ge-
legte Konzept der memoria , des Gedächtnisses und der Erinnerung, ein genuin
christliches, denn das Christentum als Offenbarungsreligion ist nicht anders denn
als Erinnerungsreligion zu denken. Erinnerung gehört zum Wesen des Christen-
tums, und Erinnerungsorte waren im Christentum lange bekannt, bevor sie in den
Geisteswissenschaften nach der sogenannten kulturalistischen Wende zu einer
Mode wurden. Im Grunde ist das Christentum selbst nichts anderes als eine große
Topographie von Erinnerungsorten.33
Da das Christentum auf dem Leben und Tun eines ganz bestimmten Menschen,
Jesus Christus, beruhe, der vor über 2000 Jahren lebte und wirkte, sei die christli-
che Religion quasi per se als Erinnerungsreligion definiert. Die Aufforderung Jesu
»Tut dies zu meinem Gedächtnis« stehe im Mittelpunkt dieser Religion, und es
gebe bestimmte Orte - symbolische oder auch konkrete -, die dieses Gedächtnis
aufrecht erhielten. Doch inwiefern können diese tatsächlich als »Erinnerungsor-
te« bezeichnet werden?
wird durch Erinnerungsorte vor dem gänzlichen Vergessen gerettet. Dabei wird
das Erinnerte nicht re-vitalisiert, sondern gewissermaßen in seinem Vergangen-
Sein zementiert. Erinnerung jedoch, die in oder an unterschiedlichsten Orten der
Religion kristallisiert ist, erhält in der religiösen Praxis ihren Sinn und wird le-
bendig, und zwar nicht nur durch Lesen und Hören der Heiligen Schrift, durch
die Geschichte hingegen eine Repräsentation der Vergangenheit. [...] Das Gedächtnis ist ein
Absolutes, die Geschichte kennt nur das Relative« (S. 13f.).
28 Hg. von Etienne François und Hagen Schulze. 3 Bde. München: C. H. Beck 200 Iff.
29 Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt. Hg. von Elke Stein- Hölkeskamp und Karl-
Joachim Hölkeskamp. München: C. H. Beck 2006.
30 Hg. von Martin Sabrow. München: C. H. Beck 2009.
31 Hg. von Johannes Fried und Olaf B. Rader. München: C. H. Beck 201 1.
32 Hg. von Christoph Markschies und Hubert Wolf, unter Mitarbeit von Barbara Schüler.
München: C. H. Beck 2010.
33 Markschies, Christoph/ Wolf, Hubert: »Tut dies zu meinem Gedächtnis«. Das Christentum
als Erinnerungsreligion. In: Erinnerungsorte des Christentums (wie Anm. 32), S. 11.
39 Ebd., S. 500.
40 Ebd., S. 498.
41 Siehe ebd.
42 Ebd.
43 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Die Geschichte des 19. Jahrhunderts
München: C. H. Beck 2013, S. 31.
44 Ebd.
45 Ebd., S. 32.
3. Ge(h)ortete Emotionen
Doch was genau wird in den musikalischen Teilen von Gesangbüchern gehortet,
um erinnert oder durch (Wieder-)Gebrauch lebendig zu werden? Es sind Kultur-
güter, religiös-literarische und religiös-musikalische Texte, Denkmäler des Chris-
tentums auf seinem Weg durch die Zeit. Dabei trägt jedes dieser Denkmäler, je-
des Kirchenlied die Emotionen mit sich, aus denen heraus es einst geschrieben
und immer wieder gesungen wurde und die es wiederum bei seinen Sängern aus-
löste). Diese in Text und Melodie gehorteten Emotionen sind ebenfalls Denkmä-
ler, und zwar für die Emotionsgeschichte nicht nur des Christentums, sondern
auch der soziokulturellen Begebenheiten der jeweiligen Zeit. Jedes Kirchenlied -
manch eines mehr, manch eines weniger - hortet dabei eine Vielzahl von Emoti-
51 Ebd., S. 35.
52 Kurzke: Das Liedgut der Tradition (wie Anm. 17), S. 160.
53 Ebd., S. 155.
54 Ebd., S. 157
55 Ebd., S. 160.
56 Ebd.
57 Ebd., S. 164.
Orgel, das Singen der anderen oder des Widerhalls im Kirchenraum, sondern
auch eine Reihe weiterer Sinneseindrücke: den Geruch (z.B. von Kerzenrauch
oder von Weihrauch bei besonders festlichen Anlässen), den visuellen Eindruck
(z.B. von beeindruckenden Menschenmassen oder von festlicher Beleuchtung),
die Haptik (z.B. des Gesangbuches in den Händen oder der Bank unter den
Knien), das Körpergefühl (z.B. das Vibrieren der Stimmbänder, das Mitschwin-
gen der tiefen Töne der Orgel im Bauch, das Atmen beim Singen, Gänsehaut,
Spannung oder Zittern) oder die sinnliche Wahrnehmung der Nähe bestimmter
Menschen, von Hitze oder Kälte, von Enge oder Weite.
Dieses »Sinnesfeuer« verbindet sich im Einzelnen mit potentiell schon vor-
handenen Gefühlen wie Andacht, Vorfreude (z.B. auf die Bescherung am Weih-
nachtsabend), Rührung oder Trauer zu einem emotionalen »Gesamtpaket«, das
mit dem gesungenen Kirchenlied und dessen Emotionalität gekoppelt wird. Der
Musikpsychologe Eckart Altenmüller exemplifiziert diesen Vorgang folgender-
maßen:
Die ersten Weihnachtslieder, die wir als Kinder gesungen haben, bleiben mit den
damaligen Gefühlen verbunden. Hirnphysiologisch bedeutet das, der Weihnachts-
baum, die Geschenke, der Geruch und die Lieder gehören so stark zusammen, dass
diese Verknüpfung ins Langzeitgedächtnis eingeht. In der Regel sind diese Erinne-
rungen mit positiven Emotionen verknüpft.60
58 Kopiez, Reinhard: Wirkungen von Musik. In: Musikpsychologie. Das neue Handbuch. Hg.
von dems., Herbert Bruhn und Andreas C. Lehmann. Reinbek: Rowohlt 2008, S. 529.
59 Siehe dazu ebd.
Das Erkennen [eines Musikstückes] beschränkt sich [...] häufig nicht allein auf die
Klänge, sondern es werden oft auch frühere Hörsituationen, die damals dabei emp-
fundenen Emotionen, oft ein ganzes Lebensgefühl einer Lebensepoche mit aus dem
Gedächtnis hervorgeholt.63
Wie Eckart Altenmüller und Reinhardt Kopiez erläutern, scheinen für eine starke
emotionale Reaktion auf Musik »Konditionierungs-Prozesse [...] eine Rolle zu
spielen, da [...] die Wahrscheinlichkeit für Gänsehaut bei schon bekannten Mu-
sikstücken höher ist als bei völlig unbekannten.«64 Altenmüller vertritt jedoch die
Meinung, dass sich der emotionale Gehalt von Liedern durch zu häufiges Akti-
vieren auch abnutzen könne.65 Er unterscheidet damit zwischen solchen Kirchen-
liedern, die häufig und regelmäßig gesungen werden, und solchen, die nur ab und
zu erklingen, und spricht den letzteren eine längerfristige emotionale Wirkung
zu. Eine vergleichbare Klassifizierung, wenn auch mit gegensätzlicher Bewertung,
findet sich beispielsweise schon im 19. Jahrhundert beim Herausgeber des katho-
lischen Gesangbuches Cantate /, Heinrich Bone, der den Standpunkt vertrat, wah-
re Erbauung benötige das Stereotype: »Nicht die Abwechslung ist es, was erbaut;
sie dient nur der Neulust und der geistigen Unruhe [...]. Erst wenn der Reiz der
Neuheit aufgehört hat, bewährt sich die wahre Liebe und die Kraft der Gesin-
nung.«66 Bone sprach in diesem Zusammenhang auch die »von Kindheit an ver-
trauten Klängefn]« an, in die die Gemeinde »aus der Fülle des Herzens« mit ein-
stimme.67
graphical memories of different lifetime periods. In: Psychology of Music 36/2 (2008),
S. 157-178.
62 Siehe z.B. Hansen, Sylvia: Erinnerungen: ein Weg zur Gegenwart - Musiktherapie mit al-
ten, chronisch kranken Menschen. In: Musiktherapeutische Umschau: Forschung und Praxis
der Musiktherapie 18/2 (1997), S. 94-192; Muthesius, Dorothea: »Und wie ist der Alltag. Er
geht eben vorbei«: Alltäglichkeit in Erzählungen älterer Menschen über Musik. In: Musik &
Ästhetik 39 (2006), S. 20-32.
63 Altenmüller, Eckart: Musik entsteht im Kopf: Zur Psychoakustik und Psychologie der Mu-
sikwahrnehmung. In: Vox Humana 7/3 (2012), S. 22.
64 Altenmüller, Eckart/Kopiez, Reinhard: Schauer und Tränen: zur Neurobiologie der durch
Musik ausgelösten Emotionen. In: Musik: gehört , gesehen und erlebt. Festschrift Klaus-Ernst
Behne zum 65. Geburtstag. Hg. von Claudia Bullerjahn, Heiner Gembris und Andreas C.
Lehmann. Hannover: Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover 2005, S. 173.
65 Altenmüller: Gefühlssache Weihnachtslied (wie Anm. 60): »weil die [Weihnachts-] Lieder
nur einen Monat im Jahr gesungen werden, nutzen sie sich nicht so schnell ab.«
66 Bone, Heinrich: Cantate!: kath. Gesangbuch nebst einem vollständigen Gebet- u. Andachts-
buche. Paderborn: Schöningh 1847, S. XII.
67 Ebd., S. XV.
Bei jahreszeitlich sich wiederholenden Festen, Feiern und öffentlichen Anlässen ist
[...] Gesang [...] ein wichtiges Mittel, kollektive Erinnerungen symbolisch zu aktua-
lisieren und zu beleben. Liedersingen ermöglicht, überlieferte Erfahrungen zu wie-
derholen und zu variieren. Es sind gesellschaftliche Anlässe, welche auf Vergange-
nes verweisen und etwas Vergangenes wieder aufleben lassen. Bekannte Lieder er-
wecken Erinnerungen an vergangene Gefühle.69
Auch der Benediktinerpater Urban Sillhard ist der Meinung, Kirchenlieder müss-
ten »Beheimatung schenken« und »einen hohen Wiedererkennungswert haben.
Sie schreiben Erfahrungsgeschichte, sie wecken erlebte Emotionalität und erin-
Das Beheimatetsein in bekannten Liedern wird jedoch von anderer Seite als
durchaus problematisch gesehen. So sei die Gefahr, dass die »Botschaft, die [die
Lieder] verkünden, [...] ungehört bleiben« könne, wenn »viele, die leise mitsum-
men und sich an Kindertage erinnern, kaum noch [wissen], worum es eigentlich
geht«.72 Diese Sichtweise wird hinsichtlich der emotionalen Wirkungsweise von
Kirchenliedern sicherlich eher seltene, aber dafür herausragende Ereignisse be-
vorzugen, wie sie im imagistischen Modus der Religiosität stattfinden.
Immer wieder wird außerdem betont, dass Kirchenlieder der religiös-
emotionalen Lebenswelt der heutigen Gesellschaft entsprechen müssten,73 um
ihre volle Funktion innerhalb der (Erinnerungs-)Religion entfalten zu können.
Gesangbücher sollten daher durchaus auch auf alte, wenn auch liebgewonnene
und vertraute Kirchenlieder verzichten, wenn sie in ihrer emotionalen Valenz
erschöpft und keinerlei religiöse Lebendigkeit mehr mit sich brächten. Gesang-
bücher sollten bewohntes und unbewohntes Gedächtnis darstellen für die Lieder,
die zum tatsächlichen sowie zum potentiellen Aufrufen und Erneuern der darin
ge(h)orteten religiösen Emotionen anregten.
Ein »großer Wurf« sei den Bischöfen mit dem neuen Gotteslob gelungen, so ti-
telte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 21. Februar 20 13.74 Dies bezieht sich
nicht nur auf den Liedteil des Gesangbuches, sondern auch ausdrücklich auf die
Gebetsteile, die Erläuterungen und Anleitungen, die einen großen Teil des Bu-
ches ausmachen. Als ein solches Gesamtwerk solle das neue Gotteslob ein »Haus-
buch« sein, nicht nur »in der Kirche ausgelegt« werden, hofft Bischof Hofmann:
»In dem Buch liegt ein Schatz, der darauf wartet, gehoben zu werden.«75 Er betont
damit die von der Kommission anerkannte Bedeutung des Gotteslobs als Ge-
dächtnis, das viel Wertvolles horten wolle, was von den Menschen, die das Buch
nutzen, wiederum lebendig gemacht werden könne. Während für einen großen
Teil der sozialen Gruppe, innerhalb derer das Gesangbuch seine Erinnerungskul-
tur entfalten kann, das emotional-individuelle, kommunikative Gedächtnis von
besonderer Bedeutung ist, steht für die Kirche die theologisch begründete Funk-
70 Sillhard, Urban: Unsere singenden Gemeinden: Erfahrungen mit dem Gotteslob. In: Sin-
gende Kirche 50/2 (2003), S. 72.
71 Scheitler, Irmgard: Gotteslob 1975. In: Gotteslob-Revision (wie Anm. 17), S. 86.
72 Greiner, Ulrich: Labsal gegen den Verdruss. Das Kirchenlied ist noch immer die beliebteste
Form des Gotteslobes. In: Die Zeit Nr. 52 vom 19.12.2013, S. 60.
73 Siehe z.B. Scheitler: Gotteslob (wie Anm. 71), S. 82f.
74 Deckers, Daniel: Das neue Gotteslob. Großer Wurf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 2 1 .02.20 1 3, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/das-neue-gotteslob-grosser-wurf-
12087988.html (zuletzt abgerufen am 15.06.2014).
75 Ebd.