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Dhanya/GI Chennai

"Lügner sind sympathisch"

Der Psychologe Robert Feldman erforscht unser ambivalentes Verhältnis zur Wahrheit: Warum
Ehrlichkeit unbeliebt macht und Flunkerer i besonders erfolgreich sind.

ZEIT Wissen: Professor Feldman, warum lügen wir so viel?

Robert Feldman: Weil es funktioniert. Lügen sind der Schmierstoff der Kommunikation.
Die Menschen wollen oftmals nicht die Wahrheit hören, sondern etwas, mit dem sie sich gut fühlen.

ZEIT Wissen: Wir tun dem anderen also einen Gefallen, indem wir ihn belügen?

Feldman: Ja. Die meisten Leute würden zwar beteuern, dass sie selbstverständlich die Wahrheit
wissen wollen. Aber im Alltag sind wir oft mit einer Lüge glücklicher. Zum Beispiel (fasst sich an die
rosafarbene Krawatte) will ich gar nicht hören: »Was für eine schreckliche Krawatte! « – auch wenn
mein Gegenüber das denkt. In einem Experiment haben wir den Versuchspersonen Dinge über sie
selbst gesagt. Wenn es negative Aussagen waren, wollten sie das lieber nicht hören.

ZEIT Wissen: Aber die Wahrheit lässt sich doch nicht beliebig zurechtbiegen.

Feldman: Auf Dauer nicht, das stimmt. Sonst bekommt man niemals ein treffendes Feedback über
sich selbst. Wer wirklich sehen will, wo er steht, sollte die Wahrheit suchen. Nur ist die eben
manchmal schmerzhaft, und so neigen wir dazu, sie zu meiden.

ZEIT Wissen: Damit wäre Immanuel Kantii wohl nicht einverstanden gewesen. Seine Maxime war:
Nie, nie lügen! Unter keinen Umständen.

Feldman: Ich respektiere dieses Ideal. In wichtigen Dingen sollte man wahrhaftig sein. Aber wenn es
darum geht, im Alltag mit anderen Menschen auszukommen, macht man sich das Leben sehr schwer,
wenn man diesem Ideal strikt folgt. Wer stets unverblümt die Wahrheit sagt, ist meist unbeliebt.

ZEIT Wissen: Sind gute Lügner erfolgreicher im Leben?

Feldman: Sozial geschickte Menschen lügen häufiger. Sie verstehen besser, was die soziale Situation
erfordert. Weniger beliebte Menschen sind nicht so sensibel dafür, was ihre Gesprächspartner hören
wollen, daher sind sie eher verletzend. Gute Lügner sind sympathischer.

ZEIT Wissen: Sind sie sozial erfolgreich, weil sie lügen? Oder ist ihre Fähigkeit zu lügen nur ein
Nebeneffekt ihrer sozialen Geschicklichkeit?

Feldman: Vermutlich lässt sich für beides argumentieren. Ich würde jedenfalls nie sagen, man solle
bewusst lügen, um sich beliebt zu machen. Aber die meisten sozial kompetenten Menschen
praktizieren das Lügen unbewusst als eine wirksame Technik. Es geht in ihr natürliches Repertoire
ein. So natürlich, dass sie oft gar nicht merken, dass sie lügen.
Dhanya/GI Chennai

ZEIT Wissen: Ist der Umgang mit Lügen kulturell geprägt? Wird in anderen Kulturen häufiger oder
seltener gelogen?

Feldman: Andere Kulturen definieren Lügen anders. Zum Beispiel haben fernöstliche Kulturen ein
großzügigeres Verständnis von Wahrheit. Das eigene Gesicht zu wahren und andere nicht in
Verlegenheit zu bringen ist sehr wichtig in Asien. Beispielsweise ist es dort völlig in Ordnung, die
eigenen Leistungen herunterzuspielen – über sie zu lügen, in unserem Verständnis. Dort gehört es
noch mehr als im Westen zur guten Umgangsform, zu sagen, was der andere hören will. Bei einem
Forschungsaufenthalt in Asien habe ich einmal Einheimische gefragt, ob sie abends auf eine Party
gehen würden. Sie schauten mich an und sagten Ja. Später erfuhr ich, dass sie nichts von einer Party
wussten. Sie hatten dies nur gesagt, weil sie glaubten, ich wolle diese Antwort hören. Für sie war es
keine Lüge.

ZEIT Wissen: Wenn Lügen kulturabhängig ist, wo ist dann die Grenze zwischen Kultur und Natur?
Würden unsere Kinder lügen, wenn wir es ihnen nicht beibringen würden?

Feldman: Schwer zu sagen. Einerseits zeigt ein Blick ins Tierreich, dass Täuschung weit verbreitet ist.
Menschenaffen zum Beispiel sind sehr geschickt darin. So gesehen, scheint das Lügen angeboren zu
sein. Andererseits lernen Kinder, dass es positive Konsequenzen hat, wenn man lügt und nicht
erwischt wird – und dass es negative Konsequenzen habenkann, wenn man die Wahrheit sagt. Ich
glaube, dass das Lügen hauptsächlich ein erlerntes Verhalten ist.

ZEIT Wissen: Haben Sie ein Kriterium dafür, wann es okay ist, zu lügen, und wann nicht?

Feldman: Wenn meine Frau sich etwas Neues zum Anziehen gekauft hat und mich fragt: »Wie sehe
ich aus? «, antworte ich immer: »Du siehst großartig aus!« Das ist eine kleine Lüge. Die meisten
Menschen in lange währenden Partnerschaften haben solche stillschweigenden Abkommen. Es gibt
soziale Situationen, in denen Lügen nur minimale Folgen haben, weil der andere die Wahrheit weder
kennen will noch muss.

ROBERT FELDMAN ist Professor für Psychologie an der University of Massachusetts in Amherst.

( Zeit Online 10. April 2012 )


i
Flunkerer ist jemand, der flunkert
flunkern ( Verb) : nicht Wahrheit sagen
ii
Immanuel Kant : Deutscher Philosoph ( 1724-1804)

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