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Jeder Schüler der Musikschule soll

seine persönliche Perspektive finden


Hanns Christian Stekel,
Leiter der Johann-Sebastian Bach-Musikschule Wien,
antwortet auf Fragen von Natalia Ardila-Mantilla und Peter Röbke

Wie würdest Du deine Musikschule beschreiben?


Meine Musikschule würde ich als eine beschreiben, die in verschiedenen Wirklichkeiten
und mit verschiedenen Kategorien arbeitet. Bei diesen Wirklichkeiten geht es um reale
Berufs- und Arbeitsfelder, in denen sich die LehrerInnen und SchülerInnen auf spezifische
Weise abstimmen und die in ihrer Unterschiedlichkeit von den Beteiligten so gesehen
werden.
Diese real existierenden Welten und Wirklichkeiten sind die Arbeit in den Schulen
(in unserem Fall in den evangelischen Schulen), die Arbeit in der Studienvorbereitung und
die Welt des lebenslangen Musizierens, also jener Bereich, in dem aus der lebenslangen
Freude am Instrument heraus das Musizieren als Hobby betrieben wird.
Diese drei Welten sollen sich selbst organisieren dürfen, damit sie nach ihrer inne-
ren Logik funktionieren, und die Möglichkeit haben sich zu entwickeln – und zwar durch-
aus mit offenem Ausgang. Wenn man nicht von einer zentralen Musikschul-Idee her denkt,
sondern jeder dieser Wirklichkeiten zugesteht, sich als eigene Musikschule zu entwickeln,
dann entsteht eine je andere Organisation, es entsteht ein anderes Betriebsklima, es ent-
steht ein anderes Selbstverständnis der Lehrenden und auch der SchülerInnen. Und des-
halb würde ich meine Musikschule so beschreiben: Die Johann-Sebastian-Bach-Musik-
schule ist eine Musikschule in drei Wirklichkeiten.

Gehen wir gleich auf eine dieser Wirklichkeiten ein: Du hast die lebenslange Beschäfti-
gung mit Musik angesprochen. Wie ist da die Arbeit der Bach-Musikschule konzipiert
und organisiert?
Dieser Bereich lebt davon, dass Perspektiven sichtbar werden und Vernetzung stattfin-
det. Ziele und Perspektiven, die sind im ‚normalen‘ Schulsystem gleichsam naturgegeben:

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Interview mit Hanns Christian Stekel

Wenn jemand in ein Gymnasium geht, hat er die Perspektive Matura und Studium, wenn
er in die Volksschule geht, hat er etwa die Perspektive Gymnasium. Die Musikschule muss –
gerade im Laienbereich  – diese Perspektiven überhaupt erst schaffen: Die ergeben sich
nicht von selbst! Man hat es sich damit in der Vergangenheit oft leicht gemacht, in dem
allen Schülern insgeheim die Perspektive ‚Musikstudium‘ aufgesetzt wurde. Wer das nicht
wollte, fiel heraus oder galt nicht als wichtig für den Betrieb, was eine fürchterliche Konse-
quenz ist.
Für die lebenslang Musizierenden muss es wirklich Aussichten geben, d. h. es muss
Organisationen und Orte geben, wo sie spielen können. Das betrifft auch die Instrumen-
tenwahl: Nicht alle Instrumente sind gleich geeignet. Und die Problematik stellt sich regio­
nal unterschiedlich dar: Wenn die Blasmusik stark ist, wird man einfach nur schauen, dass
man vielen Menschen Möglichkeit gibt, dort mitzuwirken. In einer Großstadt wie Wien hin-
gegen gibt es sehr viele Laienorchester, die teilweise auf sehr hohem Niveau spielen. Also
sind hier die klassischen Orchesterinstrumente eine große Option und natürlich auch der
Gesang, denn es gibt sehr viele Chöre.
Auf solche regionalen Kontexte muss sich die Musikschule beziehen, und sowohl
die Lehrkräfte wie die ganze Organisation sollten von Anfang an auf das Ziel lebenslangen
Musizierens vorbereitet sein. Das heißt aber auch: Schon Kinder sollten diese Aussichten
real erleben. So geht etwa unser Musikkunde-Kurs regelmäßig zu Konzerten von Laien­
orchestern, und wir laden die Leute verschiedener Organisationen ein, dass sie zu uns kom-
men, bei uns Werbung machen und mit den Lehrkräften zusammenarbeiten, damit diese
z. B. ihre SchülerInnen als Aushilfe zu Konzerten schicken. So wachsen diese auch in das
Ensemblemusizieren außerhalb der Musikschule hinein.
Zur Erwachsenenarbeit überhaupt: Jeder weiß, dass Erwachsene heutzutage we-
sentlich länger aktiv sind und dass das Interesse an Musik sehr groß ist. Viele haben eine
abgebrochene instrumentale Biographie, manchen ist das Musizieren ein quasi therapeu-
tisches Anliegen. Aber wie auch immer: Auch hier muss die Musikschule ein Umfeld schaf-
fen. Wir arbeiten daher als eine Musikschule, die formal von der Diakonie getragen wird,
mit den evangelischen Pfarrgemeinden in Wien zusammen und wollen deren Netzwerk
und deren Räumlichkeiten verstärkt nutzen. Es geht nicht um eine religiöse Aufladung,
sondern einfach nur darum, in einer familiären Struktur das gemeinsame Musizieren als
Möglichkeit zu entdecken. Dieses Familiäre, das ist eine Runde von Menschen, die sich re-
gelmäßig treffen, oder es entsteht im Zusammenhang eines Gemeindefestes. So ist etwa
in einer Pfarrgemeinde aus dem Nichts ein ‚Musikclub‘ entstanden, lauter Menschen über
60, die das Musizieren für sich entdeckt haben, unter Anleitung einer Lehrerin von uns, die
besonders gut mit älteren Menschen arbeiten kann. Auf der anderen Seite werden diese
Aktivitäten auch in Veranstaltungen der Musikschule mit einbezogen, so dass sich die Be-
teiligten nicht nur als Hobbygruppe, sondern auch als MusikschülerInnen wahrnehmen,
die in der Musikschule eine Perspektive haben.

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Jeder Schüler der Musikschule soll seine persönliche Perspektive finden

Welche Rolle spielt das Klavier in diesem Zusammenhang?


Für diese Zielrichtung ist das Klavier ein schwieriges Instrument. Insofern fragen wir Er-
wachsene mit dem Wunsch nach Klavierunterricht, was sie damit machen und was sie da-
für können wollen. Natürlich gibt es oft den Wunsch, für das eigene häusliche Spiel die
entsprechenden Kompetenzen besitzen zu wollen. Das ist ja ganz in Ordnung und der För-
derung wert.
Aber schwierig ist es, für die Menschen dieser Gruppe etwas zu organisieren, bei
dem sie sich musikalisch integrieren können. Allerdings haben wir in letzter Zeit die Erfah-
rung gemacht, dass sich leichter Formationen finden, wenn man nicht nur streng klassisch
denkt, sondern sich in Richtung Popularmusik öffnet. Auf diese Weise ist z. B. eine Art Com-
bo entstanden, die hauptsächlich Jazz spielt, mit einem Pianisten, der früher nur klassisch
unterwegs war und jetzt diese Musik auch liebt. Und diese Combo spielt jetzt in jedem Jahr
bei unserem „Familienkonzert“.

Wer macht diese Beratung in Bezug auf die Musizierperspektiven?


Das müssen vorläufig die Lehrkräfte machen. Und was die Vernetzung mit den Pfarrge-
meinden anbelangt, wird es jetzt einen neu geschaffenen Posten geben, eine Stelle, die
eine Mischung aus Kantor und Musikschulentwickler darstellt, also ein von der Kirche ge-
tragenes Kantorat, das eine pädagogische Ausrichtung hat und nicht primär darauf aus ist,
am Sonntag die Kirchenmusik zu liefern, sondern das Initiativen zum Musizieren unterstüt-
zen soll.

Wie siehst Du den Umgang mit Erwachsenen in anderen Musikschulen?


Ich glaube, die Förderung des Musizierens von erwachsenen Laien wäre überall möglich.
Ich halte es für schlecht, wenn Erwachsene aus der Musikschule herausgehalten werden
oder gar durch entsprechende Neuregelungen gewachsene Strukturen zerstört werden.
In den meisten kleinstädtischen oder ländlichen Musikschulstrukturen gibt es Initiativen
im Saxophon, im Gesang oder am Akkordeon, und plötzlich stehen die ohne Musikschul-
unterstützung dar. Umgekehrt müsste es sein: Diese Aktivitäten müssen gefördert werden,
und gerade am Land kann man mit den Musikvereinen gut zusammen arbeiten.

Unterliegen die Erwachsenen an der Bach-Musikschule derselben organisatorischen


Abwicklung wie Kinder und Jugendliche?
Nein, da gehen wir anders vor. Zunächst werden die Ziele und dann auch das Unterrichts-
ausmaß und die Länge der Ausbildung klarer definiert. Wir setzen uns zusammen, um her-
auszufinden, wohin die Sache gehen wird. Und natürlich ist auch die Zeitplanung flexibler.
Sehr oft wird der Unterricht im Abstand von vierzehn Tagen erteilt, weil das aus beruflichen
Gründen gar nicht anders geht. Umgekehrt haben Senioren mehr Zeit. Insgesamt muss
man halt schauen, wie viel die Leute im Stande sind zu schaffen.

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Interview mit Hanns Christian Stekel

Wie siehst du die Finanzierungsproblematik in dem Zusammenhang?


Ich sehe das zunächst so, dass Erwachsene durchaus mehr als Kinder zahlen können, aber
wir müssen dieses Thema geschickt angehen: Man muss nicht jede Woche 50 Minuten
anbieten. Wir haben z. B. ein Modell im Erwachsenenbereich, bei bei dem vierzehntägig
eine Einzelstunde abgehalten wird und zudem in gemischten Gruppen gearbeitet wird.
Das macht die Sache ökonomisch viel günstiger, und die erwachsenen Schüler haben so
einen Tarif, der durchaus vergleichbar ist mit dem, was man für andere Kurse etwa an der
VHS1 zahlt.

Du sprichst von realistischen Perspektiven für die SchülerInnen der Musikschule – zu


welchem Zeitpunkt können sich diese klären?
Bei Kindern kann man natürlich keine voreiligen Entscheidungen treffen: Wo es hingeht,
lässt sich eigentlich erst im Alter von vierzehn Jahren sagen, wenn z. B. eine berufliche
musikalische Perspektive auszuschließen ist. Auf der anderen Seite haben LehrerInnen
sehr früh schon einen Eindruck, wohin die Entwicklung gehen wird, denn sie kennen ja
das Kind am besten. Insofern muss das Ausbildungssystem so flexibel wie möglich sein,
konkret: Wenn ein/eine SchülerIn mit 14 dann doch plötzlich auf die Idee kommt, das
instrumentale Lernen intensiver betreiben zu wollen, wenn er/sie in Richtung der Berufs-
vorbereitung geht, dann das darf nicht vollkommen unmöglich oder zu spät sein. Also
dürfen wir am Anfang die Ziellinie nicht zu niedrig ansetzen, die Grundlagen müssen ge-
legt werden.
Das Timing ist schwierig: Wenn man am Anfang im Blick auf eine mögliche beruf-
liche Perspektive zu viel Gas gibt, macht man viel kaputt, weil man viele Ideen und Ent-
wicklungsmöglichkeiten auslässt. Wenn man es hingegen auf der anderen Seite zu locker
angeht, nimmt man auch wieder Perspektiven weg. Also das ist nicht einfach.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Prüfungen?


Natürlich haben wir Prüfungen. Aber die versuchen wir eher als Momentaufnahme zu se-
hen und als Möglichkeit, im Team zu diskutieren und die verschiedenen Perspektiven zu
besprechen. Zugegeben: Wenn Musikschullehrkräfte noch nicht lange dabei oder noch
sehr stark auf ihre eigene Sache fixiert sind, dann müssen sie erst einmal lernen, im Interes-
se der SchülerInnen im Team zu agieren.

Die Volkshochschulen (VHS) sind Institute für Erwachsenenbildung, meist in privater Trägerschaft aber
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mit öffentlicher Förderung. In Wien bieten diese Institute auch Instrumentalunterricht an, der auch für
Erwachsene zugänglich ist. In den meisten Österreichischen Musikschulen gibt es Alterslimits, Erwach-
sene finden dort daher keine Möglichkeiten der Ausbildung.

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Jeder Schüler der Musikschule soll seine persönliche Perspektive finden

Nun zur Studienvorbereitung. Wie ist da die Arbeit der Johann-Sebastian-Bach-


Musik­schule angelegt?
Die Studienvorbereitung funktioniert unserer Ansicht nach am besten in der Vernetzung
und Kooperation mit den jeweiligen Zielinstitutionen. Das ist im klassischen Bereich
natürlich die Universität. Aus diesem Grund haben wir von Beginn an mit der Wiener
Musikuniversität die Kooperation gesucht  – nach dem bereits erwähnten Grundsatz,
dass die Perspek­tiven klar sein sollten, also die Frage beantwortet werden kann: Wohin
geht der Weg?
Es muss für die SchülerInnen die Möglichkeit geben, frühzeitig die Realitäten des
Studiums und ihrer zukünftigen beruflichen Möglichkeiten kennenzulernen. Dazu zählt
das Riesenthema ‚Lehrerwahl‘, weil das letztlich über die Karriere entscheidet. Man sollte
also frühzeitig mit den zukünftigen LehrerInnen an der Universität in Berührung kommen.
Das Zweite ist, dass die jungen Leute – ich spreche lieber von Hochinteressierten als von
Hochbegabten – ihre Schulausbildung auf die Reihe kriegen müssen. Und schließlich müs-
sen sie auf eine sich verändernde musikalische Welt vorbereitet werden, die hohes Maß an
Flexibilität und stilistischer Bandbreite erfordert. Und in diesem Punkt können wir als Mu-
sikschule durchaus der Universität etwas vorgeben. Das mag zwar etwas vermessen klin-
gen, aber nach zehn Jahren Zusammenarbeit sage ich: Das ist Realität, auch im künstleri-
schen Bereich! Wir können, auch aufgrund unserer internationalen Kontakte, viele Projekte
und Workshops anbieten, die Schülern andere Perspektiven geben. Sie erfahren dadurch
von Anfang an eine Ausweitung ihrer Sichtweisen und Perspektiven und haben auch das
Gefühl, mehr von ihren eigenen Ideen einbringen zu können, und so können sie auch un-
abhängig von ihren zumeist sehr verehrten Lehrern interessante künstlerische Dinge tun,
ohne aus dem System herauszufallen.

Du sprichst zwei Instanzen an: einerseits den Hauptfachlehrer bzw. die Hauptfach­
lehrerin, andererseits die Projekte.
Es ist ganz klar: Der Lehrer oder die Lehrerin ist die zentrale Figur in der Zeit des Vorstudi-
ums und wahrscheinlich auch im Studium. Wenn ich an meine eigene Geschichte denke,
kann ich nur sagen: LehrerInnen prägen, das ist nun mal so, und das ist auch richtig. Die
Projekte aber eröffnen eine neue Dimension, die auch die sogenannten MeisterlehrerIn-
nen dann herausfordern: Wenn sie merken, Moment mal, da springt ja etwas heraus für
meine SchülerInnen und für mich auch, dann sind sie meistens auch offen für neue Lern-
vorgänge, dann entsteht da eine Dynamik, die für die SchülerInnen sehr positiv ist. Und wir
versuchen ja auch, die Projekte nicht abseits auf der grünen Wiese zu machen, sondern in
Absprache mit diesen Spezialisten.
Wir haben an der Musikschule eigene Lehrkräfte in diesem Bereich der Studien-
vorbereitung, für einige Instrumente gibt es LehrerInnen, die ausschließlich das machen
und die auch in irgendeiner Weise mit der Universität verbunden sind. Manche haben

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Interview mit Hanns Christian Stekel

dort eine Professur oder eine Assistentenstelle, d. h. diese Zusammenarbeit ist sehr
eng. Und von daher ist auch die Einbindung in die Projektplanung gut möglich. Ein Bei-
spiel, das zeigt, wie von einem Projekt ein Impuls für den Hauptfachunterricht ausging:
Haydns Cellokonzert in C-Dur ist ein Standardwerk, das spielt jeder herauf und herunter,
die Boccherini-Konzerte sind dagegen eher unbekannt. Bei den ersten Projekten haben
wir aber diese Konzerte genommen. Die Lehrkraft war im Zweifel, ob das passt, schließ-
lich verliert man ja Zeit für das Haydn-Cello-Konzert. Mittlerweile ist das kein Thema
mehr: Das Werk wurde kennengelernt, und man ist draufgekommen, dass das gut klingt
und sich in der kleinen Gruppe sogar nur mit StreicherInnen realisieren lässt, leichter als
der Haydn, der noch Bläser dabei hat. So kommen Lernprozesse in Gang, die bis auf die
Uni durchschlagen.

Könntest du eines dieser Projekte genauer beschreiben?


Wir haben in Zusammenarbeit mit der Uni eine eigene Truppe gebildet, die „Young Mas-
ters“. Und im Rahmen des Young Masters Programms werden dann verschiedene Forma­
tionen gebildet, es gibt Konzertreihen, das „Treffpunkt Podium“, wo wir versuchen, ein pro-
fessionelles Konzertumfeld zu schaffen.2
Die größten Projekte sind internationale Tourneen z. B. nach Japan oder Chile, die
aber nicht nur Konzertreisen sind. Für die Reiseprojekte gibt es dann ein eigenes Ensem-
ble, die Young Masters Players, die früher Junge Wiener Solisten hießen. Das ist eine klei-
ne Formation, ein Kammerorchester mit 15 Leuten, das ohne Dirigenten spielt. Wir helfen
bei der Einstudierung, aber sonst müssen sie sich weitgehend selbst organisieren, d. h.
sie haben Mitspracherecht beim Repertoire, sie können Ideen einbringen, sie müssen
auf der Bühne selbst zurechtkommen. Diese geteilte Verantwortlichkeit drückt sich auch
stark im Repertoire aus: Jeder, der in der Formation ist, ist auch als Solist tätig. Es gibt
somit keinen Solisten, der nur mitfährt und seinen Solopart spielt, sondern jeder muss
alles spielen. Es wird halt so arrangiert, dass das geht. Das mag zwar manchmal stilistisch
ein bisschen gewagt sein, wenn man dann eine Haydn-Ouvertüre mit zwei Saxophonen
und zwei Querflöten hat, aber gut, wir stehen dazu: Das hat einen innovativen Charakter,
man kann auch das stilistisch sauber spielen, und die Gruppe tritt als eigenständiger,
unverwechselbarer Klangkörper auf, nicht als irgendein Kammerorchester, das sauber
Haydn spielt.

Young Masters ist ein Programm der Begabtenförderung, dass die Musikuniversität Wien (mdw) ge-
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meinsam mit der Johann-Sebastian-Bach-Musikschule (JSBM) durchführt. Die Aufnahme erfolgt über
ein Auswahlspiel mit Beratungsgespräch im jeweiligen Institut. Jährlich nehmen ca. 40¬50 Jugendliche
an den Angeboten von Young Masters teil. Neben Workshops und Masterclasses zu verschiedenen
Themen werden auch die Konzertreihe „Treffpunkt Podium“ und verschiedene Projekte angeboten.
Reiseprojekte führten die jungen Musiker bereits nach Japan, China und Chile.

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Jeder Schüler der Musikschule soll seine persönliche Perspektive finden

Du hast vorhin gesagt, dass in der Lehrerschaft, die mit den Hochbegabten arbeitet,
auch ProfessorInnen der Universität sind. Könnten da nicht gleich deine SchülerInnen
als Jungstudierende an die Universität gehen? Anders gefragt: Warum ist es dir wich-
tig, dass diese SchülerInnen, obwohl sie bei LehrerInnen der Universität Unterricht
haben, trotzdem SchülerInnen der Bach-Musikschule bleiben?
Die Verortung des Unterrichts in der eigenen Wahrnehmung ist ein ganz wichtiger Punkt.
Junge Menschen, die ausschließlich zur Uni gehören, sind – gleichgültig, wie alt sie sind
oder wo der Unterricht physisch stattfindet – StudentInnen. Auch ein Zwölfjähriger, der im
Hochbegabten-Kurs der mdw ist, fühlt sich als Student. Und er reagiert vollkommen anders
als jemand, der noch in der Musikschule lernt und in das Leben der Musikschule einge-
bunden ist – und viele in den Vorbereitungsklassen der Uni kommen aus dem Privatunter-
richt und haben keine Musikschulsozialisation. In der Musikschule passieren mehr unvor-
hergesehene Dinge, da ist mehr ‚Leben‘, und wer da groß geworden ist, kennt sich damit
aus – und der Professor von der Uni, der bei uns unterrichtet, muss sich darauf einstellen.
Insofern legen wir es auf die Mischung an: Unsere SchülerInnen, die im engen Kontakt mit
der mdw sind, und Jungstudierende der mdw, die in Projekten in unser Leben eintauchen.

Was ist das Besondere am Musikschulleben? Was macht es aus?


Da ist schon Raum für das Unerwartete. Das Besondere ist, dass es nicht berechenbar ist. Es
sind immer mehrere Möglichkeiten offen, und jede Schule hat ihr Eigenleben.

Wie ist das Verhältnis der Lehrkräfte in der Studienvorbereitung zu den anderen
Kolleg­Innen? Gibt es Hierarchien?
Als wir mit diesem Weg begonnen haben, hat man uns prophezeit, dass das schiefgehen
wird: Plötzlich hat man vielleicht ‚Star-LehrerInnen‘ in der Musikschule, die über den an-
deren stehen … Aber das hat sich überhaupt nicht bewahrheitet. Natürlich haben wir
schon bei der Auswahl der SpezialistInnen für den Vorbereitungsbereich aufgepasst,
dass es Leute sind, die von ihrem Charakter und ihrer Persönlichkeit her so gebaut sind,
dass sie mit den anderen gut kommunizieren können und sich nicht als etwas Besseres
fühlen. In der Wahrnehmung der anderen Lehrkräfte stellen diejenigen des Vorberei-
tungsbereichs einfach eine Spielart der Profession dar. Es ist wie in einem Krankenhaus,
wo es verschiedene Fachärzte gibt.
Was sich allerdings entwickeln musste, war, dass sich jeder in seinem Bereich wirk-
lich als Profi fühlt und: dass alle Bereiche gleich hoch zu halten sind! Wenn jemand im
Schulbereich tolle Arbeit macht, ist das eine genauso professionelle Angelegenheit wie
die Tätigkeit des Vorbereitungslehrers. Das wird leider zunächst nicht so wahrgenommen,
das ist ein Problem, das muss man einfach lernen. Und es ist schwierig zu lernen, weil
MusikschullehrerInnen ihren Selbstwert oft mehr aus dem Künstlerischen als dem Päda-
gogischen gewinnen und sich dann schwer tun, in der pädagogischen Arbeit selbst die

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Interview mit Hanns Christian Stekel

professionelle Würde und die Selbstverwirklichung zu entdecken. Interessant übrigens,


dass die Lehrkräfte in den Vorbereitungsklassen ihre Professionalität stark über die Päd-
agogik definieren und seien sie auch noch so sehr ansonsten als Künstler unterwegs …
Inzwischen ist in allen Bereichen ein gutes professionelles Selbstbewusstsein ge-
wachsen, und wenn dann ein Schüler in der ‚normalen‘ Violinklasse auffällt, gehen die Kol-
legInnen automatisch zum Spezialisten. Es kommt dann vielleicht jahrelang zur Doppel-
zusammenarbeit, es kommt zu den vielfältigsten Formen von Kooperationen, auf die ich
selbst gar nicht gekommen wäre, z. B. Projekte mit den Profis der Musikuni.

Wie hast Du diesen Prozess als Leiter unterstützen können?


Durch viele Gespräche. Es ergibt sich ja fast immer die Möglichkeit, dass man redet, und vor
allem war das in der Phase, als unsere Musikschule als Institution selbst noch quasi impro-
visiert war. Sie ist ja erst im Jahr 2000 entstanden und hatte dann ab 2007 oder 2008 eine
gefestigte Organisation. In der ganzen Pionierphase, in der sowieso vieles im Fluss war, war
es wesentlich einfacher, solche Dinge zu kommunizieren. Ich halte mit meinen Gedanken
und Vorstellungen nicht hinter dem Berg: Meine KollegInnen wissen, was ich denke und
was ich plane, durchaus mit dem Nachteil, dass sich manches oft sprunghaft ändern kann.
Die Lage wäre ganz anders, wenn ich jetzt die Schule übernehmen würde, dann müsste ich
es anders machen, einen gesteuerten Prozess in Gang setzen. Also insofern war es in ge-
wisser Weise eine Gnade, dass vieles zugleich mit dem Entstehen der Schule als Institution
wachsen durfte, anders wäre es weit schwieriger gewesen.

Wir würden gern weitergehen zum Thema Kooperation mit den Volksschulen, also zu
jener ‚Wirklichkeit‘ Deiner Schule, die Du zu Beginn als erstes genannt hast. Wie ist
die Arbeit der Johann-Sebastian-Bach-Musikschule in den Volksschulen konzipiert?
Die Bach-Musikschule selbst ist ja aus der Schularbeit entstanden: Die Keimzelle waren
Musikkurse im Evangelischen Gymnasium in Wien. Wir haben dann die Musikschule ge-
gründet, um die Evangelischen Schulen in Wien, hauptsächlich Volksschulen, musikalisch
zu versorgen. Dadurch war die Kooperation von Anfang an ein Hauptanliegen. Dabei gab
es ein paar grundsätzliche Ideen: Wir wollten, dass in der Schule ein Musikschulgefühl ent-
steht und wir wollten auch, dass sich die Regelschule sich ganz auf die Musikschule ein-
lässt, also nicht nur auf den Instrumentalunterricht oder auf die Musik, sondern auf die Mu-
sikschule als Institution mit ihren Besonderheiten, weil – wie bereits oben angedeutet – die
Musikschule ein spezifisches Umfeld bietet und dieses Umfeld zu erleben für die jungen
Leute eminent wichtig ist. Und das darf in der Pflichtschule – und überhaupt überall, wo
Musikschule stattfindet – nicht aufgegeben werden.
Für die Regelschule ist das nicht einfach zu verstehen: Sie haben da jetzt eine an-
dere Schule im Haus, die ihre Gewohnheiten hat, die ihr Leben, ihre Organisation und ihre
spezifische Expertise hat. Wir sind also nicht irgendein Anbieter, der von außen kommt und

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Jeder Schüler der Musikschule soll seine persönliche Perspektive finden

Klavierunterricht macht, sondern die Schule muss sich auf das Gesamtkonzept der Mu-
sikschule einlassen. Und neben dieser Bereitschaft braucht es auch Räume, es entstehen
Organisationsfragen: Die Schule ist dann nicht mehr so frei bei der Erstellung ihres Stun-
den- und Raumplans, sie muss auf jedem Feld zusammenarbeiten, und auch der Hort und
die Nachmittagsbetreuung sind ein Thema.
In inhaltlicher Hinsicht ist das Wichtigste, dass die drei großen Komponenten der
musikalischen Bildung und Ausbildung zusammenspielen: der Instrumentalunterricht,
der Kursunterricht, d. h. der Unterricht in großen Gruppen für Gesang, Chor, Instrumente,
und der Musikunterricht in der Schule müssen zusammenarbeiten und zusammenwirken.
Alle Lehrkräfte, die daran beteiligt sind, müssen kooperieren, so dass sich die Kinder in
diesem gesamten Raum entwickeln können. Also konkret: Wenn die Kinder im Rhythmik-
Unterricht am Vormittag, der im Team-Teaching von Volksschul- und Musikschullehrkraft
gehalten wird, eine musikalische Grundausbildung bekommen, dann muss der Instru-
mentalunterricht darauf einsteigen, sind doch die Kinder aus dem Vormittagsunterricht
gewohnt, dass Musizieren und Musiklernen in der Gruppe Spaß machen. Das muss der
Instrumentalunterricht aufgreifen! Gleichzeitig muss es aber auch für Kinder, die schon
große Vorkenntnisse haben oder ein besonderes Interesse zeigen, auch die Möglichkeit
geben, einen Einzelunterricht zu bekommen, ohne dass sie sich deswegen dem Ganzen
verweigern würden.
Es sollte ein Musikschulleben in der Schule entstehen, was z. B. bedeuten kann, dass
ein buntes Klangorchester entsteht, das aus ganz verschiedenen Instrumenten besteht.
Aber  – um das noch einmal zu sagen  – man begegnet auf diese Weise auch immer der
Musikschule in der Schule, und in diese Begegnung sind die Eltern und die Volks­schul­lehr­
kräfte mit eingebunden. Dort, wo das funktioniert, haben wir plötzlich Eltern im Unterricht,
die auch Instrumente lernen und bei Konzerten mitmachen, haben wir Regel­schul­lehr­
kräfte, die sich geschlossen für einen Trommelkurs anmelden. Da entsteht eine Dynamik,
die für die Schule gut ist und auch für die Musikschule, weil es natürlich eine besondere
Form von Musikschule ist. Wir gehen übrigens wenig in Elternabende um unser Konzept
zu klären, sondern diese Dynamik entsteht, indem wie einfach so agieren wie beschrieben.
Bläser- oder Streicherklassen bieten wir übrigens nicht an, weil wir die Erfahrung
gemacht haben, dass letztlich diese Flexibilität verloren geht. Da ist dann eine ganze Klas-
se in der festen Formation auf eine bestimmte Sache ausgerichtet, und das erschwert die
Kooperation unter den Gruppen, die bei uns sehr wichtig ist. Das war einfach eine Grund-
satzentscheidung, die wir von Anfang an getroffen haben, nachdem wir eine Bläserklasse
versucht haben und dann darauf gekommen sind, dass diese Klasse wie ein Fremdkörper
in der Schule war, weil sie ihr eigenes Ding gemacht hat. Als wir dann die Klasse wieder in
kleinere Gruppen aufgelöst haben, die parallel laufen und in denen dann auch andere Ins-
trumente möglich waren, hat sich das wieder normalisiert und stabilisiert.

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Interview mit Hanns Christian Stekel

Und Ihr versucht tatsächlich, alle Kinder der Schule zu erreichen?


Wir versuchen mit allen Kindern über den Rhythmik-Unterricht am Vormittag in Berührung
zu kommen, und viele – präziser: durchschnittlich siebzig Prozent – nehmen dann zusätzli-
che Kursangebote war, nachmittags stattfindende Kurse in großen Gruppen. So wird etwa
im nächsten Jahr eine Steel-Drums-Gruppe neu angeboten. In diese Gruppen kommen vor
allen die Kinder, die eigentlich gar keinen speziellen Instrumentenwunsch haben, die also
von sich aus nicht Geige oder Blockflöte oder irgendwas lernen wollen, aber zum Beispiel
wahnsinnig gern zum Trommeln gehen. Die haben einen anderen Fokus, die wollen ein-
fach spielen, die wollen Spaß haben in der Gruppe. Und damit motivieren sie uns, den Kurs-
bereich in den nächsten Jahren noch weiter auszugestalten. Man muss da innovativ sein
und eigentlich ganz neue Formen des gemeinsamen Musizierens finden, also nicht alles
von der klassischen Kammermusik oder von der Pop-Band her sehen. Es gibt auch andere
Formen, die jetzt im Konzertbetrieb vielleicht keine Rolle spielen, die aber unheimlichen
Spaß machen. Man denke nur an die Tradition der Mandolinen-Orchester zurück: Das war
eigentlich keine schlechte Sache, mit Freude miteinander spielen, ohne diese Praktiken auf
vermeintliche kulturelle Werte abzuklopfen.

Wie steht es um die Vernetzung des Kooperationsbereichs mit der ‚normalen‘ Musik-
schule? Sind die genannten Lehrkräfte auch in der Musikschule tätig?
Viele sind in beiden Bereichen tätig, allein schon deswegen, weil die Nachhaltigkeit ein
großes Thema ist. Nach vier Jahren ist die Volksschule vorbei, und dann stellt sich die Frage:
Wie geht es weiter? Wir versuchen sicherzustellen, dass jeder, der nach den Volksschuljah-
ren musikalisch weiter will, von der Musikschule aufgefangen wird. Der Übergang ist nicht
immer ganz einfach, weil die Kinder, das, was sie in ihrer Volksschulzeit musikalisch erlebt
haben, jetzt auch im Musikschulgebäude erwarten, aber wir diese umfassenden Kursange-
bote, dieses kontinuierliche Musizieren so nicht anbieten können.
Viele Schüler gehen im Gymnasium weiter, melden sich sofort im Musikunterricht
der Musikschule an und merken dann, dass nur 25 Minuten Klavierunterricht am Nach-
mittag stattfinden und sonst nichts. Wir versuchen jetzt, wenigstens in den evangelischen
Gymnasien ein Musikleben aufzuziehen, aber das ist ein schwieriges Feld, das noch in der
Entwicklung ist, weil auch die weiterführenden Schulen ganz anders laufen als die Schulen
im Primarbereich.

Wir haben somit die drei Wirklichkeiten deiner Musikschule, von denen zu Beginn
die Rede war, besprochen, wobei wir den Bereich Rock/Pop/Jazz eigentlich ausge-
lassen haben. Ihr habt jetzt, wiederum als Teil der Bach-Musikschule, in Wien die
„­POPAkademie“ gegründet. Was ist die Idee hinter diesem Schritt?
Die Antwort ist gar nicht so einfach, weil sich ja grundsätzlich in der Musikschularbeit die
Frage stellt: Welche Musik unterrichten wir und was fördern wir eigentlich? Und wir wissen

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Jeder Schüler der Musikschule soll seine persönliche Perspektive finden

alle, dass die Eindeutigkeit der Antwort verloren gegangen ist. Es gibt keine klaren Werte-
hierarchien mehr, wenn auch der Kanon der Klassischen Musik immer noch bestimmend
für das Musikschulwesen sein sollte. Aber im Prinzip haben wir eine ganz vielseitige Land-
schaft an musikalischen Wirklichkeiten, an Musikstilen und musikalischen Möglichkeiten.
Das sind jetzt nicht nur leere Worte, sondern das hat mit der Lebenspraxis der Menschen zu
tun. Welche Musik gehört wird, was an Musik interessiert, das ist total vielfältig.
Wir haben nun bald bemerkt, dass sich die Popmusik in der Musikschule klassischer
Prägung nicht entwickeln kann. Sie ist dort gezwungen, die Organisationsformen und die
Praxis der klassisch geprägten Musikschule zu übernehmen, die so überhaupt nicht zu ih-
rem Naturell passen. Pop oder auch Jazz, das ist Musik, die sehr stark aus dem Moment
kommt, wo Improvisation wichtig ist, und wenn jemand improvisiert am Instrument, kann
er sich nicht an ein klassisches Ausbildungsschema im engeren Sinn halten, weder vom
Curriculum noch von der Stundentafel her. Die Popmusiker denken auch anders, na lo-
gisch, sie machen ja auch eine andere Art von Musik.
Deshalb haben wir recht bald gesagt: Wenn sich irgendwie die Möglichkeit ergibt,
dass in einen eigenen Bereich auszulagern, werden wir das tun. Diese Möglichkeit hat sich
dann vor drei Jahren mit Unterstützung der Gemeinde Wien im Wiener Gasometer-Kom-
plex ergeben. Das entwickelt sich dort vollkommen eigenständig, mit einer ganz eigenen
Atmosphäre. Und ist durchaus auch eine zukunftsweisende Sache, weil das die Struktu-
ren der klassischen Musikschularbeit aufbrechen kann. Es geht sehr viel Dynamik von
der ­POPAkademie aus, die jetzt schon auf den übrigen Musikschulbereich durchschlägt.
Plötzlich und für mich völlig überraschend kommen Leute aus dem universitären Bereich
auf die Idee, mit der POPAkademie etwas gemeinsam zu machen. Auf einmal melden sich
klassische Gitarren-LehrerInnen in der POPAkademie für Kurse an. Die Wertehierarchie in
den Köpfen klassischer Musiker bricht auf: Klavierlehrer, die ja ohnehin Pop-Stücke gerade
in den ersten Jahren unterrichten, machen einen Ausflug in die POPAkademie, hören sich
einen Keyboard-Klassenabend an und nehmen Kontakt zu den KeyboardlehrerInnen auf.
Insgesamt entsteht so das Bewusstsein: Das ist eine eigene Musikrichtung mit einer eige-
nen Professionalität, in einer eigenen Welt.
Die Möglichkeiten sind längst nicht ausgeschöpft. Wenn man sich das Repertoire
der klassisch organisierten Jugendorchester konkret anschaut, so findet sich dort immer
mehr Filmmusik, quasi als Kompromiss: Man traut sich nicht wirklich, sich auf den Pop ein-
zulassen, gleichzeitig kommt man nur mit Beethoven-Sinfonien auch nicht mehr durch …
Aber worum es doch gehen würde, wäre eine moderne, innovative Musikkultur, die sich in-
spirieren lässt von Musiken aus allen Richtungen, um etwas Neues zu schaffen, ob man das
nun „Komponieren mit Kindern“ oder „Songwriting“ nennt. Und gleichzeitig pflegt man
die guten Traditionen – das machen Klassiker ebenso wie Popmusiker, die ihre Standards
hochhalten.

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Interview mit Hanns Christian Stekel

Kannst du die ‚Location‘ der POPAkademie und die Atmosphäre, die dort herrscht,
etwas anschaulicher werden lassen?
Die POPAkademie hat ein eigenes Lokal, das auch einen Aufführungsraum daneben hat,
einen kleinen Club, der Auftrittsmöglichkeiten bietet und 60 Leute fasst. Alle Unterrichts-
räume haben Computer und Internetzugang, weil Youtube heute einfach eine wichtige
Rolle für die SchülerInnen und LehrerInnen spielt und weil es auch eine Unterstützung für
den Unterricht ist. Die SchülerInnen kommen gerne in ein Institut, das Popmusik atmet, das
von der Kultur, die dahinter steht, durchdrungen ist. Viele SchülerInnen haben mir gesagt,
dass sie sich in der Stamm-Musikschule niemals angemeldet hätten, sie hätten das uncool
gefunden und sich gesorgt, dass man für ihre speziellen Bedürfnisse kein Verständnis ge-
habt hätte. Und sie wollen Lehrkräfte mit ‚Street Credibility‘: Also schauen wir bei der Aus-
wahl der Akademie-Lehrer, dass das Leute sind, die möglichst aktiv im Konzertleben sind,
die viel spielen, was es zwar für die Organisation nicht ganz einfach macht, aber für das
Funktionieren der Akademie essenziell ist. Ganz anders ist es diesbezüglich im klassischen
Bereich auch nicht, aber hier müssen wir wirklich berücksichtigen, dass die Jugendlichen
Vertrauen bekommen: Sie haben schon interessante Dinge in ihren Kellern und Lokalen
kreiert, sie kommen oft als Band, sie erwarten Hilfe und – Respekt.

Du hast vorhin, als es um die zweite Wirklichkeit deiner Musikschule ging, über das
Konzept der Studienvorbereitung gesprochen. Gibt es diese Strukturen auch in der
POPAkademie?
Diese Strukturen gibt es dort nicht. Man kann dort keine Trennlinien ziehen zwischen ei-
nem Hobby-Musiker und einem Profi oder ein Alter angeben, an dem sich man sich für den
professionellen Weg entscheiden müsste. Es gibt dort auch Hochbegabte, aber die sind
von Anfang an gewohnt, sich als Teil einer Gruppe zu sehen. Wir haben z. B. einige unglaub-
liche Schlagzeuger, aber die würden sich niemals als Solisten sehen, sondern wollen eine
Formation mit Gleichgesinnten haben.
Von dieser Mentalität können wir insgesamt viel für die Zukunft lernen – auch in
der Klassik. Wir haben bei den Young Master Players auch die Erfahrung gemacht, was es
bedeutet und welche wichtige Veränderung im Kopf es darstellt, wenn sie sich plötzlich
als Formation wichtig fühlen und nicht als Solisten, obwohl sie solistische Aufgaben über-
nehmen.

Um nun zum Schluss zu kommen: Was hält die Johann-Sebastian-Bach-Musikschule


angesichts dieser verschiedenen Kulturen, Atmosphären und Räumlichkeiten eigent-
lich zusammen?
Zunächst einmal noch einen Schritt hinter die Frage zurück: Wir können alle Lehrkräfte nur
in Bereichen einsetzen, zu denen sie einen Zugang haben und mit denen sie etwas anfan-
gen können. LehrerInnen dürfen nicht in eine Richtung gedrängt werden, die ihnen nicht

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Jeder Schüler der Musikschule soll seine persönliche Perspektive finden

liegt: Die einen arbeiten eben gern mit Erwachsenen, die anderen lieben es, in der Volks-
schule tätig zu sein und jeweils kann man mit Fortbildungen unterstützen. Also wir versu-
chen die KollegInnen entsprechend ihrer Interessen einzusetzen, sonst wird es schwierig.
Was nun den Zusammenhalt der ganzen Schule angeht: Ich gebe gern zu, dass der
nicht automatisch entsteht, das muss man aktiv organisieren. Erst einmal ist es so, dass
jeder Bereich seine eigene Organisation und damit seine eigene Direktion oder Standort-
leitung hat. Jedoch bin ich ein gern gesehener Gast, wenn ich jeweils anmarschiere. Aller-
dings müssen wir von der Gesamtsituation her Möglichkeiten schaffen, damit die Kommu-
nikation untereinander vorhanden ist und nicht die Bach-Musikschule auseinander driftet,
was eine Gefahr darstellt, der man bewusst entgegensteuern muss. Das ist auch eine mei-
ner Hauptaufgaben und ich habe ein Team von acht, neun Leuten, die bewusst daran arbei-
ten, ein Team, das sich auf Strategieklausuren trifft und pädagogische Leit­linien diskutiert,
sich internationale Entwicklungen anschaut, sich auch schon professionell beraten ließ. Wir
organisieren gemeinsame Projekte, wir versuchen die Vernetzung in der Schule aufrecht
zu erhalten und lebendig zu gestalten. Das Übliche ist ja, dass zum Beispiel nach Jahres-
abschlusskonzerten die Kollegen essen gehen, dabei aber jeweils unter sich bleiben, also
die Pop-Leute, die Leute im Schulprojekt, die Studienvorbereiter …, insofern müssen wir
Veranstaltungsformate und soziale Räume schaffen, um alle hinein zu nehmen und auf­ein­
ander treffen zu lassen.
Das ist eine Herausforderung, aber auf der anderen Seite ist das viel weniger an Ar-
beit und viel weniger problematisch, als wenn ich eine Musikschule hätte, die nicht ausdif-
ferenziert wäre und die unaufhörlich ihre Anliegen neu definieren müsste. Die Profilierung
erleichtert sogar die Kommunikation untereinander, weil jeder Bereich ein eigenes Selbst-
bewusstsein und damit Identitäten entwickelt, so dass sich alle auf Augenhöhe begegnen
können. Das ist in mancher traditionellen Musikschule nicht so, gibt es doch immer auch
Lehrkräfte, die sich in der vorgegebenen Struktur nicht wohl fühlen.

Gibt es so etwas wie eine gemeinsame pädagogische Überzeugung? Kann man als
Lehrkraft sagen. Ich bin Mitarbeiter an der Bach-Musikschule und das bedeutet etwas?
Die Diakonie hat bei uns eine MitarbeiterInnen-Umfrage durchgeführt: Tatsächlich stehen
wohl unsere KollegInnen zu einhundert Prozent hinter der pädagogischen Zielrichtung
und dem Modell der Bach-Musikschule, das war ein heftiges Ergebnis. Ich denke, siebzig
Prozent der Meeting-Zeit, in den Bereichen oder auf der Gesamtebene, werden für pädago-
gische Probleme aufgewandt, das Konzeptionelle steht im Vordergrund, und die Leitungen
müssen sich in dieser Hinsicht auch klar deklarieren: Wenn sich der Leiter nur als Organisa-
tor versteht, dann wird das nichts damit werden.

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Wiener Beiträge zur Musikpädagogik
Band 1: Musikschule gibt es nur im Plural
Drei Zugänge

Impressum

Redaktion: Susanne Engelbach


Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Georg Toll, Innsbruck
Druck: Opolgraf SA

HI-W7688
ISBN 978-3-99035-353-0
ISMN 979-0-50239-318-2

© 2015 Helbling, Innsbruck ∙ Esslingen ∙ Bern-Belp

www.helbling.com

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