1
Fragment 2
2
Fragment 3
3
Fragment 4
Wie Till Eulenspiegel geboren, dreimal an einem Tage getauft wurde und wer seine
Taufpaten waren
Bei dem Wald, Elm genannt, im Dorf Kneitlingen im Sachsenland, wurde Eulenspiegel geboren.
Sein Vater hieß Claus Eulenspiegel, seine Mutter Ann Wibcken. Als sie des Kindes genas,
schickten sie es in das Dorf Ampleben zur Taufe und ließen es nennen Till Eulenspiegel. Till von
Uetzen, der Burgherr von Ampleben, war sein Taufpate.
Ampleben ist das Schloß, das die Magdeburger vor etwa 50 Jahren mit Hilfe anderer Städte als
ein böses Raubschloß zerstörten. Als nun Eulenspiegel getauft war und sie das Kind wieder nach
Kneidingen tragen wollten, da wollte die Taufpatin, die das Kind trug, eilig über einen Steg
gehen, der zwischen Kneidingen und Ampleben über einen Bach führt. Und sie hatten nach der
Kindtaufe zu viel Bier getrunken (denn dort herrscht die Gewohnheit, daß man die Kinder nach
der Taufe in das Bierhaus trägt, sie vertrinkt und fröhlich ist; das mag dann der Vater des Kindes
bezahlen). Also fiel die Patin des Kindes von dem Steg in die Lache und besudelte sich und das
Kind so jämmerlich, daß das Kind fast erstickt wäre. Da halfen die anderen Frauen der
Badmuhme mit dem Kind wieder heraus, gingen heim in ihr Dorf, wuschen das Kind in einem
Kessel und machten es wieder sauber und schön.
So wurde Eulenspiegel an einem Tage dreimal getauft: einmal in der Taufe, einmal in der
schmutzigen Lache und einmal im Kessel mit warmem Wasser.
4
Fragment 5
Heinrich Heine Die schlesischen Weber
Im Düsternis Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem Götzen, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöte;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geöfft und gefoppt und genarrt
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpresst
Und uns wie Hunde erschießen läßt
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande, Wo jede Blume froh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt
Wir weben, wir weben!
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht - Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch.
Wir weben, wir weben!
5
Fragment 6
Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr / als unser Ströme Flutt /
Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen.
Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth /
Das auch der Seelen Schatz / so vilen abgezwungen.
6
Fragment 7
Mondnacht
Joseph Freiherr von Eichendorff
Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blüthenschimmer
Von ihm nun träumen müßt'.
7
Fragment 8
Die Fantasie setzt die künftige Weit entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der
Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in
uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. - Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In
uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die
Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns
freylich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn
diese Verfinsterung vorbey, und der Schattenkörper hinweggerückt ist. Wir werden mehr
genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.
Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten
Raums um ihn das allerfreuliche Licht – mit seinen Farben, seinen Strahlen und Wogen; seiner
milden Allgegenwart, als weckender Tag. Wie des Lebens innerste Seele atmet es der rastlosen
Gestirne Riesenwelt, und schwimmt tanzend in seiner blauen Flut – atmet es der funkelnde,
ewigruhende Stein, die sinnige, saugende Pflanze, und das wilde, brennende, vielgestaltete Tier –
vor allen aber der herrliche Fremdling mit den sinnvollen Augen, dem schwebenden Gange, und
den zartgeschlossenen, tonreichen Lippen. Wie ein König der irdischen Natur ruft es jede Kraft
zu zahllosen Verwandlungen, knüpft und löst unendliche Bündnisse, hängt sein himmlisches
Bild jedem irdischen Wesen um. – Seine Gegenwart allein offenbart die Wunderherrlichkeit der
Reiche der Welt.
Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht. Fernab liegt
die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Saiten der Brust
weht tiefe Wehmut. In Tautropfen will ich hinuntersinken und mit der Asche mich vermischen. –
Fernen der Erinnerung, Wünsche der Jugend, der Kindheit Träume, des ganzen langen Lebens
kurze Freuden und vergebliche Hoffnungen kommen in grauen Kleidern, wie Abendnebel nach
der Sonne Untergang. In andern Räumen schlug die lustigen Gezelte das Licht auf. Sollte es nie
zu seinen Kindern wiederkommen, die mit der Unschuld Glauben seiner harren?
8
Fragment 9
Phantasus
Arno Holz
Rote Dächer!
Aus den Schornsteinen, hier und da, Rauch,
oben, hoch, in sonniger Luft, ab und zu Tauben.
Es ist Nachmittag.
Aus Mohdrickers Gartern her gackert eine Henne,
die ganze Stadt riecht nach Kaffee.
9
Fragment 10
Eichendorffs „Sehnsucht"
10
Fragment 11
11
Fragment 12
12
Fragment 13
13
Fragment 14
Phantasus
Arno Holz
Rote Dächer!
Aus den Schornsteinen, hier und da, Rauch,
oben, hoch, in sonniger Luft, ab und zu Tauben.
Es ist Nachmittag.
Aus Mohdrickers Gartern her gackert eine Henne,
die ganze Stadt riecht nach Kaffee.
14
Fragment 15
15
Fragment 16
Mir gegenüber an dem massiven Renaissancekamin saß Venus, aber nicht etwa eine Dame der
Halbwelt, die unter diesem Namen Krieg führte gegen das feindliche Geschlecht, gleich
Mademoiselle Cleopatra, sondern die wahrhafte Liebesgöttin.
Sie saß im Fauteuil und hatte ein prasselndes Feuer angefacht, dessen Widerschein in roten
Flammen ihr bleiches Antlitz mit den weißen Augen leckte und von Zeit zu Zeit ihre Füße, wenn
sie dieselben zu wärmen suchte.
Ihr Kopf war wunderbar trotz der toten Steinaugen, aber das war auch alles, was ich von ihr sah.
Die Hehre hatte ihren Marmorleib in einen großen Pelz gewickelt und sich zitternd wie eine
Katze zusammengerollt.
»Ich begreife nicht, gnädige Frau«, rief ich, »es ist doch wahrhaftig nicht mehr kalt, wir haben
seit zwei Wochen das herrlichste Frühjahr. Sie sind offenbar nervös.«
»Ich danke für euer Frühjahr«, sprach sie mit tiefer steinerner Stimme und nieste gleich darnach
himmlisch, und zwar zweimal rasch nacheinander; »da kann ich es wahrhaftig nicht aushalten,
und ich fange an zu verstehen –«
»Ich fange an das Unglaubliche zu glauben, das Unbegreifliche zu begreifen. Ich verstehe auf
einmal die germanische Frauentugend und die deutsche Philosophie, und ich erstaune auch nicht
mehr, daß ihr im Norden nicht lieben könnt, ja nicht einmal eine Ahnung davon habt, was Liebe
ist.«
»Erlauben Sie, Madame«, erwiderte ich aufbrausend, »ich habe Ihnen wahrhaftig keine Ursache
gegeben.«
»Nun, Sie –« die Göttliche nieste zum dritten Male und zuckte mit unnachahmlicher Grazie die
Achseln, »dafür bin ich auch immer gnädig gegen Sie gewesen und besuche Sie sogar von Zeit
zu Zeit, obwohl ich mich jedesmal trotz meines vielen Pelzwerks rasch erkälte. Erinnern Sie sich
noch, wie wir uns das erstemal trafen?«
»Wie könnte ich es vergessen«, sagte ich, »Sie hatten damals reiche braune Locken und braune
Augen und einen roten Mund, aber ich erkannte Sie doch sogleich an dem Schnitt Ihres
Gesichtes und an dieser Marmorblässe – Sie trugen stets eine veilchenblaue Samtjacke mit
Fehpelz besetzt.«
16
Fragment 17
17
Fragment 18
18
Fragment 19
dem man ausgezeichnet ist. Und was hilft's dann, mit allen Wassern gewaschen zu sein, mit den Wassern
der Donau und des Rheins, mit denen des Tiber und des Nils, den hellen Wassern der Eismeere, den
tintigen Wassern der Hochsee und der zaubrischen Tümpel? Die heftigen Menschenfrauen schärfen ihre
Zungen und blitzen mit den Augen, die sanften Menschenfrauen lassen still ein paar Tränen laufen, die
tun auch ihr Werk. Aber die Männer schweigen dazu. Fahren ihren Frauen, ihren Kindern treulich übers
Haar, schlagen die Zeitung auf, sehen die Rechnungen durch oder drehen das Radio laut auf und hören
doch darüber den Muschelton, die Windfanfare, und dann noch einmal, später, wenn es dunkel ist in den
Häusern, erheben sie sich heimlich, öffnen die Tür, lauschen den Gang hinunter, in den Garten, die Alleen
hinunter, und nun hören sie es ganz deutlich: Den Schmerzton, den Ruf von weither, die geisterhafte
Musik. Komm! Komm! Nur einmal komm!
Ihr Ungeheuer mit euren Frauen!
19
Fragment 20
Fragment 21
20
Maron M. Animal triste.
Ohne Kriege wären die Männer auch nur Menschen wie die Frauen, und das nicht, weil nur
durch den Krieg bestimmte, den Männern zugeschriebene Eigenschaften wie Todesmut und
Rittertreue verklärt wurden, sondern weil der Krieg die Männer so kostbar gemacht hat,
indem er sie ausrottete. So kam es, dass sie für ihre furchtbarsten Taten von den Frauen am
heftigsten geliebt wurden, so dass sie glauben mussten, ihre kriegerische Eigenschaften
seien an ihnen das Beste. Wie hätten sonst Hansis und mein Vater und der spätere General
Schmidt, als sie aus diesem letzten und schlimmsten aller Kriege heimkehrten, sterbenmüde
und von Blut besudelt, von eigenem und von fremdem, wie hätten sie sonst annehmen
können, dass ausgerechnet sie berufen waren, die nächste Generation zu erziehen. Ich
erinnere mich genau, wie meine Mutter, einige Jahre nachdem ich sie sagen hören, man
müsse den Männern wieder zu Selbstvertrauen verhelfen, und einige Tage, nachdem mein
Vater Polizist geworden war, der gleichen Freundin zuflüsterte: In Uniform sieht er doch am
besten aus. Ich fand, dass er in Uniform noch weniger aussah wie ein Mann, der mein Vater
sein können.
Es gab keinen vernünftiger Grund zu bezweifeln, dass ich von meiner Mutter abstamme, obwohl
mir die Vorstellung, dass alles, was ich nicht von meinem Vater habe, wer immer es
gewesen sein mag, von ihr kommen muss, sehr unangenehm, zuweilen auch peinlich war.
Natürlich habe ich sie geliebt, aber nicht gern.
Ich kenne nicht viele Menschen, die wirklich gern von ihren Eltern abstammen, und noch
wenier, die ihnen gleichen wollen. Im Gegenteil, fast alle Menschen, die ich kennengelernt
habe, waren von der natürlichen Bedrohung, ihren Eltern ähnlich zu werden, so entsetzt,
dass ihr Leben einem Slalomlauf um die ererbten Eigenschaften glich und sich auf die Art
letztlich schicksalhaft erfüllte. Wäre meine Mutter weniger schamlos gewesen, sie selbst
hätte die Bedenkenlosigkeit, mit der sie üppiges Fleisch gern enthüllte, niemals schamlos
genannt, aber wäre es ihr in den Sinn gekommen, als schamlos zu empfinden, was sie für
natürlich hielt, hätte ich vielleicht eine Jugendliebe haben können, vielleicht auch nicht, aber
vielleicht doch.
Fragment 22
21
Sonette von Andreas Gryphius
Der Welt Wollust ist ni ier ohne
Schmertzen
Kein Frewd ist ohne Schmertz / Kein
Wollust ohne Klagen /
Kein Stand / kein Ort / kein Mensch / ist
seines Creutzes frey /
Wo schöne Rosen blühn / stehn scharffe
Dorn darbey.
Wer aussen lacht / hat offt im Hertzen
tausend Plagen /
Wer hoch in Ehren sitzt / muß hohe Sorgen
tragen /
Wer ist der Reichthumb acht / vnd loß von
Kummer sey?
Wer auch kein Kummer hat / fühlt doch/
wie mancherley
Trawr Würmlin seine Seel vnnd matte Sinn
durchnagen.
Ich sag es offenbahr / so lang der Sonnen-
Liecht
Vom Hi iel hat bestralt / mein bleiches
Angesicht /
Ist mir noch nie ein Tag / der gantz ohn
Angst/ bescheret!
O Welt du Thränen Thal! recht Seelig wird
geschätzt /
Der / eh Er einen Fuß hin auff die Erden
setzt /
Bald auß der Mutter Schoß ins Himmels
Lusthauß führet!
22
Fragment 23
NOVALIS Blüthenstaub-Fragment 16 Novalis: Hymnen an die Nacht
Die Fantasie setzt die künftige Weit entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der
Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall
nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. - Nach Innen geht der
geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die
Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in
das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freylich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie
ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbey, und der Schattenkörper
hinweggerückt ist. Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.
Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten
Raums um ihn das allerfreuliche Licht – mit seinen Farben, seinen Strahlen und Wogen;
seiner milden Allgegenwart, als weckender Tag. Wie des Lebens innerste Seele atmet es der
rastlosen Gestirne Riesenwelt, und schwimmt tanzend in seiner blauen Flut – atmet es der
funkelnde, ewigruhende Stein, die sinnige, saugende Pflanze, und das wilde, brennende,
vielgestaltete Tier – vor allen aber der herrliche Fremdling mit den sinnvollen Augen, dem
schwebenden Gange, und den zartgeschlossenen, tonreichen Lippen. Wie ein König der
irdischen Natur ruft es jede Kraft zu zahllosen Verwandlungen, knüpft und löst unendliche
Bündnisse, hängt sein himmlisches Bild jedem irdischen Wesen um. – Seine Gegenwart
allein offenbart die Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt.
23
Fragment 24
Jenny Erpenbeck
Geschichte vom alten Kind (Auszug)
Innerhalb von etwa zwei Wochen treten aus dem zwar rauhen und ungeschlachten, aber
ehemals doch entschieden kindlichen Gesicht die Züge einer Frau hervor, so als wäre die
Krankheit ein Künsüer, dem es endlich gelungen ist, eine in Stein eingeschlossene Gestalt
freizulegen. Als sei man sich darüber einig, daß diesem unnaturlich anmutenden Altera ngsprozeß
Schamlosigkeit innewohne, wird das Mädchen schließlich, ohne viel Aufhebens davon zu
machen, mitsamt seinem Bett in ein Einzelzimmer gerollt und so den Blicken der Kinder, mit
denen es bislang den Saal geteilt hat, entzogen.
Das Mädchen aber vergreist nicht vorzeitig und kontinuierlich, wie man es von den
Altgeborenen kennt, deren Krankheit bekannt und beschrieben ist, sondern verharrt in seinem
Älterwerden nach ungefähr zwei Wochen, als es das Aussehen einer etwa
dreißigjährigen Hrau erreicht hat. Und wie ein Erkennen immer unter zunehmender
Beschleunigung stattfindet, ein jedes Begreifen lawinenartig vor sich geht, das heißt zunächst
überhaupt nicht vor sich geht, dann, man weiß nicht von welchem Zeitpunkt an und aus welchem
Grund, anhebt, und schließlich, wenn einmal der Mut gefunden ist, das Unmögliche für möglich
zu halten, eine Gewalt wird, die durch niemanden und nichts mehr aufzuhalten äst, so geht auch
der Prozeß des Erkennens, wer das Mädchen in Wahrheit ist, vor sich. Sei es, daß schon zu der
Zeit, als das Mädchen noch im Kindersaal gelegen hatte, einer der zahlreichen Besucher aus der
Stadt dieses sich formende Gesicht wiedererkannt hatte, sei es, daß die Ärzte die
Knochensubstanz des Mädchens untersucht haben, etwa in dem Sinne, wie man Jahresringe an
einem Baum zählt, und das Ergebnis weitergeleitet haben, und daß die Polizei daraufhin oder
aufgrund einer anderen Meldung begonnen hat, in der Rubrik für vermißte Erwachsene nach
dem Gesicht des Mädchens zu suchen, statt wie damals, als sich das Mädchen mit seinem Eimer
angefunden hatte, in der Rubrik, für vermißte Kinder. Vielleicht ist auch mehreres
zusammengekommen, jedenfalls wird, was bisher als wirkliche Existenz wahrgenommen worden
ist, nun als gezielte Täuschung erkennbar, als eine Maskerade, und weiter nichts. Das Mädchen,
das nun kein Mädchen mehr ist, hat sein Kostüm abgelegt, die eigene Haut, und den
Mummenschanz vor aller Augen beendet, so als sei seine Kindheit nichts als ein Scherz gewesen,
als sei es ihm gegeben gewesen, in der Zeit herumzus-pazieren wie in einem Garten, und in
dieser Haltung liegt, bei aller Bescheidenheit, die das Mädchen als Kind an den Tag gelegt hat
und die es auch jetzt unverändert an den Tag legt, etwas Anstößiges, etwas Hochmütiges, den
Lauf der Dinge Verachtendes, ja Gott Versuchendes. In dieser Empfindung ist sich das
weißbekittelte Publikum des unerklärlichen Schauspiels einig, aber darüber wird nicht
gesprochen. Mit Befriedigung, wie ein fälliges Opfer, nimmt man deshalb zur Kenntnis, daß die
Patientin jetzt häufig weint, sie weint selbst mit geschlossenen Augen, im Schlaf, ihr
Schelmenstreich ist gestrandet, ihr Versuch, die Zeit anzuhalten, fehlgeschlagen.
Am Mittwoch führt der Arzt eine greise Dame in das Einzelzimmer. Durch die Gitter vor den
weit geöffneten Fenstern dringt der Duft von Flieder. Die Dame ist erschöpft. Die Scham steht
ihr ins Gesicht geschrieben, Der Arzt schiebt sie dichter an das Bett heran. Sehen Sie, dies ist
Ihre Mutter, sagt er zu der, die lahm im Bett liegt. Die Mutter schweigt. Ach, du bist meine
Mutter, sagt die, welche das Mädchen gewesen war, und öffnet sehr langsam die Augen, ich
kann mich gar nicht an dich erinnern.
24
Fragment 25
Ich habe die Stelle im Wald wiedergefunden, wo sich mir Hannas Geheimnis enthüllte. Sie hat nichts
Besonderes und hatte damals nichts Besonderes, keinen eigentümlich gewachsenen Baum oder Fels, keinen
ungewöhnlichen Blick auf die Stadt und in die Ebene, nichts, was zu überraschenden Assoziationen ein- laden
würde. Beim Nachdenken über Hanna, Woche um Woche in denselben Bahnen kreisend, hatte sich ein
Gedanke abgespalten, hatte seinen eigenen Weg verfolgt und schließlich sein eigenes Ergebnis hervorgebracht.
Als er damit fertig war, war er damit fertig - es hätte überall sein können oder jedenfalls überall da, wo die
Vertrautheit der Umgebung und Umstände zulässt, das überraschende, das einen nicht von außen anfällt,
sondern innen wächst, wahrzunehmen und anzunehmen. So war es auf einem Weg, der steil den Berg hiт
ansteigt, die Fahrstraße überquert, einen Brunnen passiert und zuerst unter alten, hohen, dunklen Bäumen und
dann durch lichtes Gehölz fährt. Hanna konnte nicht lesen und schreiben. Deswegen hatte sie sich vorlesen
lassen. Deswegen hatte sie mich auf unserer Fahrradtour das Schreiben und Lesen übernehmen lassen und war
am Morgen im Hotel außer sich gewesen, als sie meinen Zettel gefunden, meine Erwartung, sie kenne seinen
Inhalt, geahnt und ihre Bloßstellung gefürchtet hatte. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei der
Straßenbahn entzogen; ihre Schwäche, die sie als Schaffnerin verbergen konnte, wäre bei der Ausbildung zur
Fahrerin offenkundig geworden. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei Siemens entzogen und war
Aufseherin geworden. Deswegen hatte sie, um der Konfrontation mit dem Sachverständigen zu entgehen,
zugegeben, den Bericht geschrieben zu haben. Hatte sie sich deswegen im Prozess um Kopf und Kragen
geredet? Weil sie das Buch der Tochter wie auch die Anklage nicht hatte lesen, die Chancen ihrer Verteidigung
nicht hatte sehen und sich nicht entsprechend hatte vorbereiten können? Hatte sie deswegen ihre Schützlinge
nach Auschwitz geschickt? Um sie, falls sie was gemerkt haben sollten, stumm zu machen? Und hatte sie
deswegen die Schwachen zu ihren Schützlingen gemacht?
Deswegen? Dass sie sich schämte, nicht lesen und schreiben zu können, und lieber mich befremdet als sich
bloßgestellt hatte, verstand ich. Scham als Grund für ausweichendes, abwehrendes, verbergendes und
verstellendes, auch verletzendes Verhalten kannte ich selbst. Aber Hannas Scham, nicht lesen und schreiben zu
können, als Grund für ihr Verhalten im Prozess und im Lager? Aus Angst vor der Bloßstellung als
Analphabetin die Bloßstellung als Verbrecherin? Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin das
Verbrechen? Wie oft habe ich mir damals und seitdem dieselben Fragen gestellt. Wenn Hannas Motiv die
Angst vor Bloßstellung war - wieso dann statt der harmlosen Bloßstellung als Analphabetin die furchtbare als
Verbrecherin? Oder meinte sie, ohne jede Bloßstellung durch- und davonzukommen? War sie einfach dumm?
Und war sie so eitel und bцse, fьr das Vermeiden einer Bloßstellung zur Verbrecherin zu werden?
25
Fragment 26
26
Fragment 27
CHRISTIAN HOFMANN VON HO
FMANNSWALRAU Auf den Mund
27
Fragment 28
T. E. Lessing Fabel
Der Hamster und die Ameise
Ihr armseligen Ameisen, sagte ein Hamster. Verlohnt es sich der Mühe, daß
ihr den ganzen Sommer arbeitet, um ein so weniges einzusammeln? Wenn
ihr meinen Vorrat sehen solltet! – Höre, antwortete eine Ameise, wenn er
größer ist, als du ihn brauchst, so ist es schon recht, daß die Menschen dir
nachgraben, deine Scheuren ausleeren und dich deinen räubrischen Geiz
mit dem Leben büßen lassen!
28