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Fragment 1

Hugo von Hofmannsthal


Das Mädchen und der Tod (1893)
Dies flüssig grüne Gold heißt Gift und tötet.
Wie gut es riecht: wie wenn der wilde Wind
In den Akazienbäumen irr sich fängt,
Dann geht man still im Mond auf weichen Blüten ...
Vielleicht ist Totsein solch ein lautlos Wandern
Durch fremde leere Länder ohne Schlaf,
Auf stillen Brücken über grüne Wasser
Durch lange schwarze, schweigende Alleen,
Durch Gärten, die verwildern ...
Und endlich komm ich an das Haus des Todes:
Im großen Saale ist ein großer Tisch
Aus grünem Malachit; den tragen Greifen.
Da sitzt der Tod zu Tisch und läd mich ein
Und Pagen viel mit feinen schmalen Händen
Und Schuh'n aus schwarzem Samt, die lautlos gleiten.
Die tragen wunderbare Schüsseln auf:
Ja, ganze Pfauen, Fische silberschuppig
Mit Purpurflossen, in den feinen Zähnchen
(Die sind vergoldet) stecken Lorbeerreiser
Und Trauben mit goldrotem Rost und offen
Granatäpfel, die auf weichen Kissen
Von frischen Veilchen leuchten, und der Tod
Hat einen Mantel an aus weißem Samt
Und setzt mich neben sich
Und ist sehr höflich ...

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Fragment 2

Georg Heym Berlin


Der hohe Straßenrand, auf dem wir lagen,
War weiß von Staub. Wir sahen in der Enge
Unzählig: Menschenströme und Gedränge,
Und sahn die Weltstadt fern im Abend ragen.
Die vollen Kremser fuhren durch die Menge,
Papierne Fähnchen waren drangeschlagen.
Die Omnibusse, voll Verdeck und Wagen.
Automobile, Rauch und Huppenklänge.
Dem Riesensteinmeer zu. Doch westlich sahn
Wir an der langen Straße Baum an Baum,
Der blätterlosen Kronen Filigran.
Der Sonnenball hing groß am Himmelssaum
Und rote Strahlen schoß des Abends Bahn.
Auf allen Köpfen lag des Lichtes Traum.

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Fragment 3

Die Heldentaten des jungen Siegfried


In Xanten am Niederrhein herrschten vor Zeiten König Siegmund und Königin Sieglind. Sie
hatten einen Sohn, Siegfried geheißen.Eines Tages kam Siegfried zu einem Schmied, der Mime
hieß und tief im Wald seine Werkstatt hatte. Siegfried bat darum, auch das Schmiedehandwerk
lernen zu dürfen und der Schmied stimmte angesichts der Größe und Stärke des jungen Mannes
zu. Er ließ Siegfried mit dem schwersten Schmiedehammer auf ein glühendes Eisen schlagen,
doch gleich der erste Schlag war so gewaltig, daß er den Amboß tief in die Erde trieb und das
Werkzeug zerbrach. Dennoch nahm Mime ihn auf. Doch bald bereute er es, denn Siegfried fing
mit allen Gesellen Streit an und diese drohten dem Meister, die Schmiede zu verlassen, wenn
Siegfried noch länger bliebe.
Der Meister faßte den Entschluß, Siegfried endgültig loszuwerden und schickte ihn in auf den
Weg zu einem Lindwurmhort, um dort Kohlen zu brennen. Siegfried tat wie ihm geheissen und
schlug die Bäume an der angegebenen Stelle, schichtete sie auf und zündete ein Feuer an, um
Holzkohle zu brennen. Als er sich jedoch auf einen Baumstumpf gesetzt hatte, um sich von der
Arbeit auszuruhen, wälzte sich der Lindwurm heran, ein riesiges Ungeheuer, das einen
Menschen mit Haut und Haar verschlingen konnte. Siegfried sah das Ungeheuer, riß einen Baum
aus dem Feuer und schlug mit aller Kraft auf den Drachen los. Schlag auf Schlag versetzte er
ihm, bis das Untier tot war und das Blut in einem dicken Strahl hervorschoß. Siegfried steckte
einen Finger in das dampfende Drachenblut und sah, daß sein Finger von einer festen Hornhaut
überzogen war, daß kein Schwert ihn ritzen konnte. Da warf Siegfried rasch seine Kleider ab und
bestrich sich von oben bis unten mit Drachenblut, so daß seine Haut unverletztlich wurde bis auf
eine kleine Stelle am Rücken zwischen den Schultern, wo ein Lindenblatt hingefallen war. Dann
zog er seine Kleider wieder an und machte sich auf den Weg nach Hause.
Lange hielt es ihn dort nicht und er zog wieder hinaus, um Abenteuer zu suchen. So kam er
einmal an einen Berg und sah, wie Männer einen riesigen Schatz aus dem Berge holten. Es war
der Hort der Nibelungen, den die Könige Nibelung und Schilbung unter sich aufteilen wollten.
Als Siegfried näher geritten kam, erkannten ihn die Könige und baten ihn, den Hort unter ihnen
aufzuteilen, denn sie konnten sich nicht einigen. Zum Lohn schenkten sie ihm das Schwert
Balmung. Siegfried nahm an und begann, alles Gold aufzuteilen. Doch er konnte es den beiden
Königen nicht recht machen und sie fielen beide mit ihren Recken über ihn her. Doch sie waren
ihm nicht gewachsen und er erschlug sie alle mit dem Schwert Balmung.
Das sah Alberich, der zauberkundige Zwerg. Um die König zu rächen, nahm er seine Tarnkappe,
die ihn unsichtbar machte und ihm zugleich die Stärke von zwölf Männern gab, und griff
Siegfried an. Der wehrte sich nach Leibeskräften und mühte sich lange vergeblich, den
Unsichtbaren zu packen. Endlich aber gelang es ihm doch, Alberich die Tarnkappe abzureißen
und ihn zu überwinden.
So hatte Siegfried alle, die gegen ihn zu kämpfen gewagt hatten, erschlagen oder besiegt, und
nun war er der Herr über das Nibelungenland und den Nibelungenhort. Er befahl, den Schatz
wieder in den Berg zurückzubringen, und nachdem Alberich Treue geschworen hatte, setzte
Siegfried ihn zum Hüter über den Hort.

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Fragment 4

Wie Till Eulenspiegel geboren, dreimal an einem Tage getauft wurde und wer seine
Taufpaten waren
Bei dem Wald, Elm genannt, im Dorf Kneitlingen im Sachsenland, wurde Eulenspiegel geboren.
Sein Vater hieß Claus Eulenspiegel, seine Mutter Ann Wibcken. Als sie des Kindes genas,
schickten sie es in das Dorf Ampleben zur Taufe und ließen es nennen Till Eulenspiegel. Till von
Uetzen, der Burgherr von Ampleben, war sein Taufpate.
Ampleben ist das Schloß, das die Magdeburger vor etwa 50 Jahren mit Hilfe anderer Städte als
ein böses Raubschloß zerstörten. Als nun Eulenspiegel getauft war und sie das Kind wieder nach
Kneidingen tragen wollten, da wollte die Taufpatin, die das Kind trug, eilig über einen Steg
gehen, der zwischen Kneidingen und Ampleben über einen Bach führt. Und sie hatten nach der
Kindtaufe zu viel Bier getrunken (denn dort herrscht die Gewohnheit, daß man die Kinder nach
der Taufe in das Bierhaus trägt, sie vertrinkt und fröhlich ist; das mag dann der Vater des Kindes
bezahlen). Also fiel die Patin des Kindes von dem Steg in die Lache und besudelte sich und das
Kind so jämmerlich, daß das Kind fast erstickt wäre. Da halfen die anderen Frauen der
Badmuhme mit dem Kind wieder heraus, gingen heim in ihr Dorf, wuschen das Kind in einem
Kessel und machten es wieder sauber und schön.
So wurde Eulenspiegel an einem Tage dreimal getauft: einmal in der Taufe, einmal in der
schmutzigen Lache und einmal im Kessel mit warmem Wasser.

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Fragment 5
Heinrich Heine Die schlesischen Weber
Im Düsternis Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem Götzen, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöte;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geöfft und gefoppt und genarrt
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpresst
Und uns wie Hunde erschießen läßt
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande, Wo jede Blume froh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt
Wir weben, wir weben!
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht - Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch.
Wir weben, wir weben!

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Fragment 6

Sonett von Andreas Gryphius

Thränen des Vaterlandes

Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!


Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun /
Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret.

Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret.

Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun /


Die Jungfern sind geschänd't / und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer / Pest und Tod / der Hertz und Geist durchfähret.

Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr / als unser Ströme Flutt /
Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen.

Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth /
Das auch der Seelen Schatz / so vilen abgezwungen.

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Fragment 7

Mondnacht
Joseph Freiherr von Eichendorff
Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blüthenschimmer
Von ihm nun träumen müßt'.

Die Luft ging durch die Felder,


Die Aehren wogen sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte


Weit die Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

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Fragment 8

NOVALIS Blüthenstaub-Fragment 16 Novalis: Hymnen an die Nacht

Die Fantasie setzt die künftige Weit entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der
Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in
uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. - Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In
uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die
Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns
freylich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn
diese Verfinsterung vorbey, und der Schattenkörper hinweggerückt ist. Wir werden mehr
genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.
Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten
Raums um ihn das allerfreuliche Licht – mit seinen Farben, seinen Strahlen und Wogen; seiner
milden Allgegenwart, als weckender Tag. Wie des Lebens innerste Seele atmet es der rastlosen
Gestirne Riesenwelt, und schwimmt tanzend in seiner blauen Flut – atmet es der funkelnde,
ewigruhende Stein, die sinnige, saugende Pflanze, und das wilde, brennende, vielgestaltete Tier –
vor allen aber der herrliche Fremdling mit den sinnvollen Augen, dem schwebenden Gange, und
den zartgeschlossenen, tonreichen Lippen. Wie ein König der irdischen Natur ruft es jede Kraft
zu zahllosen Verwandlungen, knüpft und löst unendliche Bündnisse, hängt sein himmlisches
Bild jedem irdischen Wesen um. – Seine Gegenwart allein offenbart die Wunderherrlichkeit der
Reiche der Welt.
Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht. Fernab liegt
die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Saiten der Brust
weht tiefe Wehmut. In Tautropfen will ich hinuntersinken und mit der Asche mich vermischen. –
Fernen der Erinnerung, Wünsche der Jugend, der Kindheit Träume, des ganzen langen Lebens
kurze Freuden und vergebliche Hoffnungen kommen in grauen Kleidern, wie Abendnebel nach
der Sonne Untergang. In andern Räumen schlug die lustigen Gezelte das Licht auf. Sollte es nie
zu seinen Kindern wiederkommen, die mit der Unschuld Glauben seiner harren?

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Fragment 9

Phantasus
Arno Holz

Rote Dächer!
Aus den Schornsteinen, hier und da, Rauch,
oben, hoch, in sonniger Luft, ab und zu Tauben.
Es ist Nachmittag.
Aus Mohdrickers Gartern her gackert eine Henne,
die ganze Stadt riecht nach Kaffee.

Ich bin ein kleiner, achtjähriger Junge


und liege, das Kinn in beide Fäuste,
platt auf den Bauch
und kucke durch die Bodenluke.
Unter mir, steil, der Hof,
hinter mir, weggeworfen, ein Buch.
Franz Hoffmann. Die Sclavenjäger.

Wie still das ist!

Nur drüben in Knorrs Regenrinne


zwei Spatzen, die sich um einen Strohhalm zanken,
ein Mann, der sägt,
und dazwischen, deutlich von der Kirche her,
in kurzen Pausen, regelmäßig, hämmernd,
der Kupferschmied Thiel.

Wenn ich unten runtersehe,


sehe ich grade auf Mutters Blumenbrett:
ein Topf Goldlack, zwei Töpfe Levkoyen, eine Geranie

und mittendrin, zierlich in einem Zigarrenkistchen,


ein Hümpelchen Reseda.

Wie das riecht? Bis zu mir rauf!

Und die Farben!


Jetzt! Wie der Wind drüber weht!
Die wunder, wunderschönen Farben!

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Fragment 10

Eichendorffs „Sehnsucht"

Es schienen so golden die Sterne,


Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!
Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.
Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.

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Fragment 11

H. Von Kleis Das Bettelweib von Locarno


Das Ehepaar, zwei Lichter auf dem Tisch, die Marquise unausgezogen, der Marchese Degen und
Pistolen, die er aus dem Schrank genommen, neben sich, setzen sich gegen elf Uhr jeder auf sein
Bett; und während sie sich mit Gesprächen, so gut sie Vermögen, zu unterhalten suchen, legt
sich der Hund, Kopf und Beine zusammengekauert, in der Mitte des Zimmers nieder und schläft
ein, Drauf, in dem Augenblick der Mitternacht, lдЯt sich das entsetzliche Geräusch wieder
hören; jemand, den kein Mensch mit Augen sehen kann, hebt sich auf Krücken im
Zimmerwinkel empor; man hört das Stroh, das unter ihm rauscht; und mit dem ersten Schritt:
tapp! tapp! erwacht der Hund, hebt sich plötzlich, die Ohren spitzend, vom Boden empor, und
knurrend und bellend, grad' als ob ein Mensch auf ihn eingeschritten käme, rückwärts gegen den
Ofen weicht er aus. Bei diesem Anblick stürzt die Marquise mit sträubenden Haaren aus dem
Zimmer; und während der Marchese, der den Degen ergriffen: »Wer da?« ruft, und, da ihm
anspannen, entschlossen, augenblicklich nach der Stadt abzufahren. Aber ehe sie noch nach
Zusammenraffung einiger Sachen aus dem Tore herausgerasselt, sieht sie schon das Schloss
ringsum in Flammen aufgehen. Der Marchese, von Entsetzen überreizt, hatte eine Kerze
genommen und dasselbe, überall mit Holz getäfelt wie es war, an allen vier Ecken, müde seines
Lebens, angesteckt. Vergebens schickte sie Leute hinein, den Unglücklichen zu retten; er war auf
die elendigliche Weise bereits umgekommen; und noch jetzt liegen, von den Landleuten
zusammengetragen, seine weisen Gebeine in dem Winkel des Zimmers, von welchem er das
Bettelweib von Locarno hatte aufstehen heißen.

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Fragment 12

Heines Lyrik: Zwischen Romantik und Realismus


Die schlesischen Weber
Im Düsternis Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem Götzen, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöte;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geöfft und gefoppt und genarrt
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpresst
Und uns wie Hunde erschießen läßt
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande, Wo jede Blume froh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt
Wir weben, wir weben!
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht - Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch.
Wir weben, wir weben!

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Fragment 13

THEODOR FONTANE Effi Briest


Erstes Kapitel
In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten
Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße,
während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen
breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen
hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna
indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in
Richtung und Lage genau dem Seitenflügel entsprechend, lief eine ganz in kleinblättrigem Efeu
stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen weißgestrichenen Eisentür unterbrochene
Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit seinem blitzenden, weil
neuerdings erst wieder vergoldeten Wetterhahn aufragte. Fronthaus, Seitenflügel und
Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschließendes Hufeisen, an dessen
offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und angekettetem Boot und dicht daneben einer
Schaukel gewahr wurde, deren horizontal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei
Stricken hing – die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend. Zwischen Teich und
Rondell aber und die Schaukel halb versteckend standen ein paar mächtige alte Platanen.
Auch die Front des Herrenhauses – eine mit Aloekübeln und ein paar Gartenstühlen besetzte
Rampe – gewährte bei bewölktem Himmel einen angenehmen und zugleich allerlei Zerstreuung
bietenden Aufenthalt; an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz
entschieden bevorzugt, besonders von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute wieder
auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange saßen, in ihrem Rücken ein paar offene, von
wildem Wein umrankte Fenster, neben sich eine vorspringende kleine Treppe, deren vier
Steinstufen vom Garten aus in das Hochparterre des Seitenflügels hinaufführten. Beide, Mutter
und Tochter, waren fleißig bei der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten
zusammenzusetzenden Altarteppichs galt; ungezählte Wollsträhnen und Seidendocken lagen auf
einem großen, runden Tisch bunt durcheinander, dazwischen, noch vom Lunch her, ein paar
Dessertteller und eine mit großen schönen Stachelbeeren gefüllte Majolikaschale. Rasch und
sicher ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber während die Mutter kein Auge von der
Arbeit ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi führte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder
und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus
der Heil- und Zimmergymnastik durchzumachen. Es war ersichtlich, daß sie sich diesen
absichtlich ein wenig ins Komische gezogenen Übungen mit ganz besonderer Liebe hingab, und
wenn sie dann so dastand und, langsam die Arme hebend, die Handflächen hoch über dem Kopf
zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit auf, aber immer nur flüchtig
und verstohlen, weil sie nicht zeigen wollte, wie entzückend sie ihr eigenes Kind finde, zu
welcher Regung mütterlichen Stolzes sie voll berechtigt war. Effi trug ein blau und weiß
gestreiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid, dem erst ein fest zusammengezogener,
bronzefarbener Ledergürtel die Taille gab; der Hals war frei, und über Schulter und Nacken fiel
ein breiter Matrosenkragen. In allem, was sie tat, paarten sich Übermut und Grazie, während ihre
lachenden braunen Augen eine große, natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte
verrieten. Man nannte sie die »Kleine«, was sie sich nur gefallen lassen mußte, weil die schöne,
schlanke Mama noch um eine Handbreit höher war.

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Fragment 14

Phantasus
Arno Holz

Rote Dächer!
Aus den Schornsteinen, hier und da, Rauch,
oben, hoch, in sonniger Luft, ab und zu Tauben.
Es ist Nachmittag.
Aus Mohdrickers Gartern her gackert eine Henne,
die ganze Stadt riecht nach Kaffee.

Ich bin ein kleiner, achtjähriger Junge


und liege, das Kinn in beide Fäuste,
platt auf den Bauch
und kucke durch die Bodenluke.
Unter mir, steil, der Hof,
hinter mir, weggeworfen, ein Buch.
Franz Hoffmann. Die Sclavenjäger.

Wie still das ist!

Nur drüben in Knorrs Regenrinne


zwei Spatzen, die sich um einen Strohhalm zanken,
ein Mann, der sägt,
und dazwischen, deutlich von der Kirche her,
in kurzen Pausen, regelmäßig, hämmernd,
der Kupferschmied Thiel.

Wenn ich unten runtersehe,


sehe ich grade auf Mutters Blumenbrett:
ein Topf Goldlack, zwei Töpfe Levkoyen, eine Geranie

und mittendrin, zierlich in einem Zigarrenkistchen,


ein Hümpelchen Reseda.

Wie das riecht? Bis zu mir rauf!

Und die Farben!


Jetzt! Wie der Wind drüber weht!
Die wunder, wunderschönen Farben!

Ich schließe die Augen. Ich sehe sie noch immer.

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Fragment 15

Arthur Schnitzler Fräulein Else


Was habe ich denn getan? Was habe ich getan? Was habe ich getan? Ich falle um. Alles ist
vorbei. Warum ist denn keine Musik mehr? Ein Arm schlingt sich um meinen Nacken. Das ist
Paul. Wo ist denn der Filou? Da lieg ich . . . »Ha, ha, ha!« Der Mantel fliegt auf mich herab. Und
ich liege da. Die Leute halten mich für ohnmächtig. Nein, ich bin nicht ohnmächtig. Ich bin bei
vollem Bewußtsein. Ich bin hundertmal wach, ich bin tausendmal wach. Ich muß nur immer
lachen. »Ha, ha, ha!« Jetzt haben Sie Ihren Willen, Herr von Dorsday, Sie müssen das Geld für
Papa schicken. Sofort. »Haaaah!« Ich will nicht schreien, und ich muß immer schreien. Warum
muß ich denn schreien. - Meine Augen sind zu. Niemand kann mich sehen. Papa ist gerettet. -
»Else!« - Das ist die Tante. - »Else! Else!« - »Ein Arzt, ein Arzt!« - »Geschwind zum Portier!« -
»Was ist denn passiert?« - »Das ist ja nicht möglich.« - »Das arme Kind.« - Was reden sie denn
da? Was murmeln sie denn da? Ich bin kein armes Kind. Ich bin glücklich. Der Filou hat mich
nackt gesehen. O, ich schäme mich so. Was habe ich getan? Nie wieder werde ich die Augen
öffnen. - »Bitte, die Türe schließen.« - Warum soll man die Türe schließen? Was für Gemurmel.
Tausend Leute sind um mich. Sie halten mich alle für ohnmächtig. Ich bin nicht ohnmächtig. Ich
träume nur.

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Fragment 16

Leopold Sacher-Masoch: Venus im Pelz

»Gott hat ihn gestraft und hat


ihn in eines Weibes Hände gegeben.«
Buch Judith 16. Kap. 7.

Ich hatte liebenswürdige Gesellschaft.

Mir gegenüber an dem massiven Renaissancekamin saß Venus, aber nicht etwa eine Dame der
Halbwelt, die unter diesem Namen Krieg führte gegen das feindliche Geschlecht, gleich
Mademoiselle Cleopatra, sondern die wahrhafte Liebesgöttin.

Sie saß im Fauteuil und hatte ein prasselndes Feuer angefacht, dessen Widerschein in roten
Flammen ihr bleiches Antlitz mit den weißen Augen leckte und von Zeit zu Zeit ihre Füße, wenn
sie dieselben zu wärmen suchte.

Ihr Kopf war wunderbar trotz der toten Steinaugen, aber das war auch alles, was ich von ihr sah.
Die Hehre hatte ihren Marmorleib in einen großen Pelz gewickelt und sich zitternd wie eine
Katze zusammengerollt.

»Ich begreife nicht, gnädige Frau«, rief ich, »es ist doch wahrhaftig nicht mehr kalt, wir haben
seit zwei Wochen das herrlichste Frühjahr. Sie sind offenbar nervös.«

»Ich danke für euer Frühjahr«, sprach sie mit tiefer steinerner Stimme und nieste gleich darnach
himmlisch, und zwar zweimal rasch nacheinander; »da kann ich es wahrhaftig nicht aushalten,
und ich fange an zu verstehen –«

»Was, meine Gnädige?«

»Ich fange an das Unglaubliche zu glauben, das Unbegreifliche zu begreifen. Ich verstehe auf
einmal die germanische Frauentugend und die deutsche Philosophie, und ich erstaune auch nicht
mehr, daß ihr im Norden nicht lieben könnt, ja nicht einmal eine Ahnung davon habt, was Liebe
ist.«

»Erlauben Sie, Madame«, erwiderte ich aufbrausend, »ich habe Ihnen wahrhaftig keine Ursache
gegeben.«

»Nun, Sie –« die Göttliche nieste zum dritten Male und zuckte mit unnachahmlicher Grazie die
Achseln, »dafür bin ich auch immer gnädig gegen Sie gewesen und besuche Sie sogar von Zeit
zu Zeit, obwohl ich mich jedesmal trotz meines vielen Pelzwerks rasch erkälte. Erinnern Sie sich
noch, wie wir uns das erstemal trafen?«

»Wie könnte ich es vergessen«, sagte ich, »Sie hatten damals reiche braune Locken und braune
Augen und einen roten Mund, aber ich erkannte Sie doch sogleich an dem Schnitt Ihres
Gesichtes und an dieser Marmorblässe – Sie trugen stets eine veilchenblaue Samtjacke mit
Fehpelz besetzt.«

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Fragment 17

Franz Kafka Parabel Poseidon


Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete. Die Verwaltung aller Gewässer gab ihm
unendliche Arbeit. Er hätte Hilfskräfte haben können, wie viel er wollte, und er hatte auch sehr
viele, aber da er sein Amt sehr ernst nahm, rechnete er alles noch einmal durch und so halfen
ihm die Hilfskräfte wenig. Man kann nicht sagen, daß ihn die Arbeit freute, er führte sie
eigentlich nur aus, weil sie ihm auferlegt war, ja er hatte sich schon oft um fröhlichere Arbeit,
wie er sich ausdrückte, beworben, aber immer, wenn man ihm dann verschiedene Vorschläge
machte, zeigte es sich, daß ihm doch nichts so zusagte, wie sein bisheriges Amt. Es war auch
sehr schwer, etwas anderes für ihn zu finden. Man konnte ihm doch unmöglich etwa ein
bestimmtes Meer zuweisen; abgesehen davon, daß auch hier die rechnerische Arbeit nicht
kleiner, sondern nur kleinlicher war, konnte der große Poseidon doch immer nur eine
beherrschende Stellung bekommen. Und bot man ihm eine Stellung außerhalb des Wassers an,
wurde ihm schon von der Vorstellung übel, sein göttlicher Atem geriet in Unordnung, sein
eherner Brustkorb schwankte. Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst;
wenn ein Mächtiger quält, muß man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar
nachzugeben versuchen; an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amte dachte
niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es
bleiben.
Am meisten ärgerte er sich — und dies verursachte hauptsächlich seine Unzufriedenheit mit dem
Amt — wenn er von den Vorstellungen hörte, die man sich von ihm machte, wie er etwa
immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere. Unterdessen saß er hier in der Tiefe
des Weltmeeres und rechnete ununterbrochen, hie und da eine Reise zum Jupiter war die einzige
Unterbrechung der Eintönigkeit, eine Reise übrigens, von der er meistens wütend zurückkehrte.
So hatte er die Meere kaum gesehen, nur flüchtig beim eiligen Aufstieg zum Olymp, und niemals
wirklich durchfahren. Er pflegte zu sagen, er warte damit bis zum Weltuntergang, dann werde
sich wohl noch ein stiller Augenblick ergeben, wo er knapp vor dem Ende nach Durchsicht der
letzten Rechnung noch schnell eine kleine Rundfahrt werde machen können.
Poseidon wurde überdrüssig seiner Meere. Der Dreizack entfiel ihm. Still saß er an felsiger
Küste und eine von seiner Gegenwart betäubte Möve zog schwankende Kreise um sein Haupt.

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Fragment 18

Georg Heym Berlin


Der hohe Straßenrand, auf dem wir lagen,
War weiß von Staub. Wir sahen in der Enge
Unzählig: Menschenströme und Gedränge,
Und sahn die Weltstadt fern im Abend ragen.
Die vollen Kremser fuhren durch die Menge,
Papierne Fähnchen waren drangeschlagen.
Die Omnibusse, voll Verdeck und Wagen.
Automobile, Rauch und Huppenklänge.
Dem Riesensteinmeer zu. Doch westlich sahn
Wir an der langen Straße Baum an Baum,
Der blätterlosen Kronen Filigran.
Der Sonnenball hing groß am Himmelssaum
Und rote Strahlen schoß des Abends Bahn.
Auf allen Köpfen lag des Lichtes Traum.

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Fragment 19

Undine geht Ingeborg Bachmann


Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer!
Ihr Ungeheuer mit Namen Hans! Mit diesem Namen, den ich nie vergessen kann.
Immer wenn ich durch die Lichtung kam und die Zweige sich öffneten, wenn die Ruten mir das Wasser
von den Armen schlugen, die Blätter mir die Tropfen von den Haaren leckten, traf ich auf einen, der Hans
hieß.
Ja, diese Logik habe ich gelernt, daß einer Hans heißen muß, daß ihr alle so heißt, einer wie der andere,
aber doch nur einer. Immer einer nur ist es, der diesen Namen trägt, den ich nicht vergessen kann, und
wenn ich euch auch alle vergesse, ganz und gar vergesse, wie ich euch ganz geliebt habe. Und wenn eure
Küsse und euer Samen von den vielen großen Wassern — Regen, Flüssen, Meeren — längst
abgewaschen und fortgeschwemmt sind, dann ist doch der Name noch da, der sich fortpflanzt unter
Wasser, weil ich nicht aufhören kann, ihn zu rufen, Hans, Hans . . . Dir Monstren mit den festen und mit
ruhigen Händen, mit den kurzen blassen Nägeln, den zerschürften Nägeln mit schwarzen. Rändern, den
weißen Manschetten um die Handgelenke, den ausgefransten Pullovern, den uniformen grauen Anzügen,
den groben Lederjacken und den losen Sommerhemden! Aber laßt mich genau sein, ihr Ungeheuer, und
euch jetzt einmal verächtlich machen, denn ich werde nicht wiederkommen, euren Winken nicht mein
folgen, keiner Einladung zu einem Glas Wein, zu einer Reise, zu einem Theaterbesuch. Ich werde nie
wiederkommen, nie wieder Ja sagen und Du und Ja. All diese Worte wird.es nicht mehr geben, und ich
sage euch vielleicht, warum. Demi ihr kennt doch die Fragen, und sie beginnen alle mit »Warum?«. Es
gibt keine Fragen in meinem Leben. Ich liebe das Wasser, seine dichte Durchsichtigkeit, das Grün im
Wasser und die sprachlosen Geschöpfe (und so sprachlos bin auch ich bald!), mein Haar unter ihnen, in
ihm, dem: gerechten Wasser, dem gleichgültigen Spiegel, der es mir verbietet, euch anders zu sehen. Die
nasse Grenze zwischen mir und mir . . .
Ich habe keine Kinder von euch, weil ich keine Fragen gekannt, habe, keine Forderung, keine Vorsicht,
Absicht, keine Zukunft und nicht wußte, wie man Platz nimmt in einem anderen Leben. Ich habe keinen
Unterhalt gebraucht, keine Beteuerung und Versicherung, nur Luft, Nachtluft, Küstenluft, Grenzluft, um
immer wieder Atem holen zu können für neue Worte, neue Küsse, für ein unaufhörliches Geständnis: Ja.
Ja. Wenn das Geständnis abgelegt war, war ich verurteilt zu lieben; wenn ich eines Tages, freikam aus der
Liebe, mußte ich zurück ins Wasser gehen, in dieses Element, in dem niemand sich em Nest baut, sich;;
ein Dach aufzieht über Balken, sich bedeckt mit einer Plane. Nirgendwo sein, nirgendwo bleiben.
Tauchen, ruhen, sich ohne Aufwand von Kraft bewegen - und eines Tages? sich besinnen, wieder
auftauchen, durch eine Lichtung gelben, ihn sehen und »Hans« sagen. Mit dem Anfang beginnen.
»Guten Abend.« »Guten Abend.« »Wie weit ist es zu dir?« »Weit ist es, weit.« »Und weit ist es zu mir.«
Einen Fehler immer wiederholen, den einen machen, mit

dem man ausgezeichnet ist. Und was hilft's dann, mit allen Wassern gewaschen zu sein, mit den Wassern
der Donau und des Rheins, mit denen des Tiber und des Nils, den hellen Wassern der Eismeere, den
tintigen Wassern der Hochsee und der zaubrischen Tümpel? Die heftigen Menschenfrauen schärfen ihre
Zungen und blitzen mit den Augen, die sanften Menschenfrauen lassen still ein paar Tränen laufen, die
tun auch ihr Werk. Aber die Männer schweigen dazu. Fahren ihren Frauen, ihren Kindern treulich übers
Haar, schlagen die Zeitung auf, sehen die Rechnungen durch oder drehen das Radio laut auf und hören
doch darüber den Muschelton, die Windfanfare, und dann noch einmal, später, wenn es dunkel ist in den
Häusern, erheben sie sich heimlich, öffnen die Tür, lauschen den Gang hinunter, in den Garten, die Alleen
hinunter, und nun hören sie es ganz deutlich: Den Schmerzton, den Ruf von weither, die geisterhafte
Musik. Komm! Komm! Nur einmal komm!
Ihr Ungeheuer mit euren Frauen!

19
Fragment 20

Die Geschichte von den Schildbürgern


Im Mittelalter lag mitten in Deutschland eine Stadt, die Schilda hieß.
Ihre Bewohner nannte man deshalb die Schildbürger. Das waren seltsame Leute. Alles, was sie taten,
machten sie falsch. Und alles, was man ihnen sagte, nahmen sie genau so, wie man es ihnen sagte. Wenn
zum Beispiel jemand zu ihnen sagte: „Ihr habt ja ein Brett vor dem Kopf!“, dann griffen sie sich schon an
die Stirn und wollten das Brett wegnehmen. Und wenn jemand zu ihnen sagte: „Bei euch piept es ja!“, so
blieben sie ganz ruhig um genau hinzuhören. Nach einiger Zeit sagten sie dann: „Es tut uns leid, aber wir
können nichts piepen hören.“
So viel Dummheit wurde natürlich bald überall bekannt. Und überall lachte man über die Schildbürger.
Aber kann man eigentlich so dumm sein? Nein, so dumm kann man nicht sein! Und so dumm waren die
Schildbürger eigentlich auch nicht. Aber warum stellten sie sich dann so dumm?
Warum die Schildbürger sich dumm stellten
Lange, bevor die Schildbürger durch ihre Dummheit berühmt wurden, waren sie sehr fleißig und klug. So
fleißig und klug, dass von überall Leute nach Schilda kamen, um sich Rat zu holen. Sogar aus fernen
Ländern kamen Boten von Kaisern und Königen. Sie wollten, dass ein kluger Mann aus Schilda zu ihnen
kommt, und ihnen hilft. So gingen immer mehr Schildbürger ins Ausland.
Aber in Schilda wurde es immer schlechter. Da die Männer nicht da waren, mussten die Frauen alles tun.
Sie mussten Samen auf dem Feld ausstreuen und später die Früchte ernten, die Kinder unterrichten, die
Häuser reparieren und alles andere tun, was sonst die Männer getan hatten. Und deshalb ging alles kaputt
und die Kinder wurden frech und blieben dumm. Die Frauen hatten lauter Sorgen und wurden schnell alt.
Da wurden sie zornig und schrieben ihren Männern einen Brief über ihre Not. Sie sagten den Männern,
sie sollten sofort nach Hause kommen.
Die Männer bekamen große Angst, verabschiedeten sich von den Königen und Sultanen und fuhren so
schnell wie möglich nach Schilda zurück. Dort angekommen, erkannten sie Schilda kaum wieder. Die
Fenster waren kaputt, die Straßen hatten große Löcher, die Räder der Wagen quietschten, die Kinder
streckten die Zunge heraus, und der Wind wehte die Ziegel vom Dach. „Das habt ihr von eurer
Klugheit!“, sagten die Frauen.
Einige Tage später saßen die Männer im Wirtshaus. Sie klagten sich ihr Leid und überlegten. Draußen
standen schon wieder fünf Leute aus fremden Ländern, die Rat haben wollten. „Wir sind alle sehr
krank!“, sagten sie. Da gingen die Leute wieder weg. Sie dachten weiter nach.
Nach einiger Zeit kam dem Schweinehirten eine Idee. Er war lange Stadtbaumeister in Pisa gewesen und
hatte dort den bekannten Schiefen Turm gebaut. Er war sehr fleißig. „Ich hab’s!“, sagte er noch einmal.
„Die Klugheit war an allem schuld. Und nur die Dummheit kann uns retten.“ Die anderen sahen ihn
fragend an. „Das ist der einzige Ausweg. Wenn wir uns alle dumm stellen, dann lassen uns die Könige
und Sultane in Ruhe.“ „Aber wie stellt man sich dumm?“ fragte der Schmied? „Nun, dumm zu scheinen,
ohne dumm zu sein ist nicht so leicht. Aber wir sind schlaue Leute und werden das schon schaffen.“
„Bravo! Dummsein ist mal was anderes“, sagte der Schneider. Auch den anderen gefiel der Plan. Die
nächsten zwei Monate übten sie das Sich-dumm-stellen im Geheimen. Dann erst machten sie ihren ersten
Streich. Sie bauten ein dreieckiges Rathaus. Das machte ihnen viel Spaß. Nur der Lehrer hatte Bedenken.
„Wer klug tut, wir davon noch lange nicht klug. Aber wer sich lange dumm stellt, wird vielleicht eines
Tages wirklich dumm“. Die anderen lachten ihn aus. „Seht, es fängt schon an.“ „Was?“, meinte der
Schmied neugierig. „Eure Dummheit“, rief der Lehrer. Da lachten sie ihn alle aus.

Fragment 21
20
Maron M. Animal triste.
Ohne Kriege wären die Männer auch nur Menschen wie die Frauen, und das nicht, weil nur
durch den Krieg bestimmte, den Männern zugeschriebene Eigenschaften wie Todesmut und
Rittertreue verklärt wurden, sondern weil der Krieg die Männer so kostbar gemacht hat,
indem er sie ausrottete. So kam es, dass sie für ihre furchtbarsten Taten von den Frauen am
heftigsten geliebt wurden, so dass sie glauben mussten, ihre kriegerische Eigenschaften
seien an ihnen das Beste. Wie hätten sonst Hansis und mein Vater und der spätere General
Schmidt, als sie aus diesem letzten und schlimmsten aller Kriege heimkehrten, sterbenmüde
und von Blut besudelt, von eigenem und von fremdem, wie hätten sie sonst annehmen
können, dass ausgerechnet sie berufen waren, die nächste Generation zu erziehen. Ich
erinnere mich genau, wie meine Mutter, einige Jahre nachdem ich sie sagen hören, man
müsse den Männern wieder zu Selbstvertrauen verhelfen, und einige Tage, nachdem mein
Vater Polizist geworden war, der gleichen Freundin zuflüsterte: In Uniform sieht er doch am
besten aus. Ich fand, dass er in Uniform noch weniger aussah wie ein Mann, der mein Vater
sein können.
Es gab keinen vernünftiger Grund zu bezweifeln, dass ich von meiner Mutter abstamme, obwohl
mir die Vorstellung, dass alles, was ich nicht von meinem Vater habe, wer immer es
gewesen sein mag, von ihr kommen muss, sehr unangenehm, zuweilen auch peinlich war.
Natürlich habe ich sie geliebt, aber nicht gern.
Ich kenne nicht viele Menschen, die wirklich gern von ihren Eltern abstammen, und noch
wenier, die ihnen gleichen wollen. Im Gegenteil, fast alle Menschen, die ich kennengelernt
habe, waren von der natürlichen Bedrohung, ihren Eltern ähnlich zu werden, so entsetzt,
dass ihr Leben einem Slalomlauf um die ererbten Eigenschaften glich und sich auf die Art
letztlich schicksalhaft erfüllte. Wäre meine Mutter weniger schamlos gewesen, sie selbst
hätte die Bedenkenlosigkeit, mit der sie üppiges Fleisch gern enthüllte, niemals schamlos
genannt, aber wäre es ihr in den Sinn gekommen, als schamlos zu empfinden, was sie für
natürlich hielt, hätte ich vielleicht eine Jugendliebe haben können, vielleicht auch nicht, aber
vielleicht doch.

Fragment 22
21
Sonette von Andreas Gryphius
Der Welt Wollust ist ni ier ohne
Schmertzen
Kein Frewd ist ohne Schmertz / Kein
Wollust ohne Klagen /
Kein Stand / kein Ort / kein Mensch / ist
seines Creutzes frey /
Wo schöne Rosen blühn / stehn scharffe
Dorn darbey.
Wer aussen lacht / hat offt im Hertzen
tausend Plagen /
Wer hoch in Ehren sitzt / muß hohe Sorgen
tragen /
Wer ist der Reichthumb acht / vnd loß von
Kummer sey?
Wer auch kein Kummer hat / fühlt doch/
wie mancherley
Trawr Würmlin seine Seel vnnd matte Sinn
durchnagen.
Ich sag es offenbahr / so lang der Sonnen-
Liecht
Vom Hi iel hat bestralt / mein bleiches
Angesicht /
Ist mir noch nie ein Tag / der gantz ohn
Angst/ bescheret!
O Welt du Thränen Thal! recht Seelig wird
geschätzt /
Der / eh Er einen Fuß hin auff die Erden
setzt /
Bald auß der Mutter Schoß ins Himmels
Lusthauß führet!

22
Fragment 23
NOVALIS Blüthenstaub-Fragment 16 Novalis: Hymnen an die Nacht

Die Fantasie setzt die künftige Weit entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der
Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall
nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. - Nach Innen geht der
geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die
Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in
das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freylich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie
ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbey, und der Schattenkörper
hinweggerückt ist. Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.
Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten
Raums um ihn das allerfreuliche Licht – mit seinen Farben, seinen Strahlen und Wogen;
seiner milden Allgegenwart, als weckender Tag. Wie des Lebens innerste Seele atmet es der
rastlosen Gestirne Riesenwelt, und schwimmt tanzend in seiner blauen Flut – atmet es der
funkelnde, ewigruhende Stein, die sinnige, saugende Pflanze, und das wilde, brennende,
vielgestaltete Tier – vor allen aber der herrliche Fremdling mit den sinnvollen Augen, dem
schwebenden Gange, und den zartgeschlossenen, tonreichen Lippen. Wie ein König der
irdischen Natur ruft es jede Kraft zu zahllosen Verwandlungen, knüpft und löst unendliche
Bündnisse, hängt sein himmlisches Bild jedem irdischen Wesen um. – Seine Gegenwart
allein offenbart die Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt.

23
Fragment 24

Jenny Erpenbeck
Geschichte vom alten Kind (Auszug)
Innerhalb von etwa zwei Wochen treten aus dem zwar rauhen und ungeschlachten, aber
ehemals doch entschieden kindlichen Gesicht die Züge einer Frau hervor, so als wäre die
Krankheit ein Künsüer, dem es endlich gelungen ist, eine in Stein eingeschlossene Gestalt
freizulegen. Als sei man sich darüber einig, daß diesem unnaturlich anmutenden Altera ngsprozeß
Schamlosigkeit innewohne, wird das Mädchen schließlich, ohne viel Aufhebens davon zu
machen, mitsamt seinem Bett in ein Einzelzimmer gerollt und so den Blicken der Kinder, mit
denen es bislang den Saal geteilt hat, entzogen.
Das Mädchen aber vergreist nicht vorzeitig und kontinuierlich, wie man es von den
Altgeborenen kennt, deren Krankheit bekannt und beschrieben ist, sondern verharrt in seinem
Älterwerden nach ungefähr zwei Wochen, als es das Aussehen einer etwa
dreißigjährigen Hrau erreicht hat. Und wie ein Erkennen immer unter zunehmender
Beschleunigung stattfindet, ein jedes Begreifen lawinenartig vor sich geht, das heißt zunächst
überhaupt nicht vor sich geht, dann, man weiß nicht von welchem Zeitpunkt an und aus welchem
Grund, anhebt, und schließlich, wenn einmal der Mut gefunden ist, das Unmögliche für möglich
zu halten, eine Gewalt wird, die durch niemanden und nichts mehr aufzuhalten äst, so geht auch
der Prozeß des Erkennens, wer das Mädchen in Wahrheit ist, vor sich. Sei es, daß schon zu der
Zeit, als das Mädchen noch im Kindersaal gelegen hatte, einer der zahlreichen Besucher aus der
Stadt dieses sich formende Gesicht wiedererkannt hatte, sei es, daß die Ärzte die
Knochensubstanz des Mädchens untersucht haben, etwa in dem Sinne, wie man Jahresringe an
einem Baum zählt, und das Ergebnis weitergeleitet haben, und daß die Polizei daraufhin oder
aufgrund einer anderen Meldung begonnen hat, in der Rubrik für vermißte Erwachsene nach
dem Gesicht des Mädchens zu suchen, statt wie damals, als sich das Mädchen mit seinem Eimer
angefunden hatte, in der Rubrik, für vermißte Kinder. Vielleicht ist auch mehreres
zusammengekommen, jedenfalls wird, was bisher als wirkliche Existenz wahrgenommen worden
ist, nun als gezielte Täuschung erkennbar, als eine Maskerade, und weiter nichts. Das Mädchen,
das nun kein Mädchen mehr ist, hat sein Kostüm abgelegt, die eigene Haut, und den
Mummenschanz vor aller Augen beendet, so als sei seine Kindheit nichts als ein Scherz gewesen,
als sei es ihm gegeben gewesen, in der Zeit herumzus-pazieren wie in einem Garten, und in
dieser Haltung liegt, bei aller Bescheidenheit, die das Mädchen als Kind an den Tag gelegt hat
und die es auch jetzt unverändert an den Tag legt, etwas Anstößiges, etwas Hochmütiges, den
Lauf der Dinge Verachtendes, ja Gott Versuchendes. In dieser Empfindung ist sich das
weißbekittelte Publikum des unerklärlichen Schauspiels einig, aber darüber wird nicht
gesprochen. Mit Befriedigung, wie ein fälliges Opfer, nimmt man deshalb zur Kenntnis, daß die
Patientin jetzt häufig weint, sie weint selbst mit geschlossenen Augen, im Schlaf, ihr
Schelmenstreich ist gestrandet, ihr Versuch, die Zeit anzuhalten, fehlgeschlagen.
Am Mittwoch führt der Arzt eine greise Dame in das Einzelzimmer. Durch die Gitter vor den
weit geöffneten Fenstern dringt der Duft von Flieder. Die Dame ist erschöpft. Die Scham steht
ihr ins Gesicht geschrieben, Der Arzt schiebt sie dichter an das Bett heran. Sehen Sie, dies ist
Ihre Mutter, sagt er zu der, die lahm im Bett liegt. Die Mutter schweigt. Ach, du bist meine
Mutter, sagt die, welche das Mädchen gewesen war, und öffnet sehr langsam die Augen, ich
kann mich gar nicht an dich erinnern.

24
Fragment 25

B. Schlink „Der Vorleser“

Ich habe die Stelle im Wald wiedergefunden, wo sich mir Hannas Geheimnis enthüllte. Sie hat nichts
Besonderes und hatte damals nichts Besonderes, keinen eigentümlich gewachsenen Baum oder Fels, keinen
ungewöhnlichen Blick auf die Stadt und in die Ebene, nichts, was zu überraschenden Assoziationen ein- laden
würde. Beim Nachdenken über Hanna, Woche um Woche in denselben Bahnen kreisend, hatte sich ein
Gedanke abgespalten, hatte seinen eigenen Weg verfolgt und schließlich sein eigenes Ergebnis hervorgebracht.
Als er damit fertig war, war er damit fertig - es hätte überall sein können oder jedenfalls überall da, wo die
Vertrautheit der Umgebung und Umstände zulässt, das überraschende, das einen nicht von außen anfällt,
sondern innen wächst, wahrzunehmen und anzunehmen. So war es auf einem Weg, der steil den Berg hiт
ansteigt, die Fahrstraße überquert, einen Brunnen passiert und zuerst unter alten, hohen, dunklen Bäumen und
dann durch lichtes Gehölz fährt. Hanna konnte nicht lesen und schreiben. Deswegen hatte sie sich vorlesen
lassen. Deswegen hatte sie mich auf unserer Fahrradtour das Schreiben und Lesen übernehmen lassen und war
am Morgen im Hotel außer sich gewesen, als sie meinen Zettel gefunden, meine Erwartung, sie kenne seinen
Inhalt, geahnt und ihre Bloßstellung gefürchtet hatte. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei der
Straßenbahn entzogen; ihre Schwäche, die sie als Schaffnerin verbergen konnte, wäre bei der Ausbildung zur
Fahrerin offenkundig geworden. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei Siemens entzogen und war
Aufseherin geworden. Deswegen hatte sie, um der Konfrontation mit dem Sachverständigen zu entgehen,
zugegeben, den Bericht geschrieben zu haben. Hatte sie sich deswegen im Prozess um Kopf und Kragen
geredet? Weil sie das Buch der Tochter wie auch die Anklage nicht hatte lesen, die Chancen ihrer Verteidigung
nicht hatte sehen und sich nicht entsprechend hatte vorbereiten können? Hatte sie deswegen ihre Schützlinge
nach Auschwitz geschickt? Um sie, falls sie was gemerkt haben sollten, stumm zu machen? Und hatte sie
deswegen die Schwachen zu ihren Schützlingen gemacht?
Deswegen? Dass sie sich schämte, nicht lesen und schreiben zu können, und lieber mich befremdet als sich
bloßgestellt hatte, verstand ich. Scham als Grund für ausweichendes, abwehrendes, verbergendes und
verstellendes, auch verletzendes Verhalten kannte ich selbst. Aber Hannas Scham, nicht lesen und schreiben zu
können, als Grund für ihr Verhalten im Prozess und im Lager? Aus Angst vor der Bloßstellung als
Analphabetin die Bloßstellung als Verbrecherin? Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin das
Verbrechen? Wie oft habe ich mir damals und seitdem dieselben Fragen gestellt. Wenn Hannas Motiv die
Angst vor Bloßstellung war - wieso dann statt der harmlosen Bloßstellung als Analphabetin die furchtbare als
Verbrecherin? Oder meinte sie, ohne jede Bloßstellung durch- und davonzukommen? War sie einfach dumm?
Und war sie so eitel und bцse, fьr das Vermeiden einer Bloßstellung zur Verbrecherin zu werden?

25
Fragment 26

Arthur Schnitzler Fräulein Else


Was habe ich denn getan? Was habe ich getan? Was habe ich getan? Ich falle um. Alles ist
vorbei. Warum ist denn keine Musik mehr? Ein Arm schlingt sich um meinen Nacken. Das ist
Paul. Wo ist denn der Filou? Da lieg ich . . . »Ha, ha, ha!« Der Mantel fliegt auf mich herab. Und
ich liege da. Die Leute halten mich für ohnmächtig. Nein, ich bin nicht ohnmächtig. Ich bin bei
vollem Bewußtsein. Ich bin hundertmal wach, ich bin tausendmal wach. Ich muß nur immer
lachen. »Ha, ha, ha!« Jetzt haben Sie Ihren Willen, Herr von Dorsday, Sie müssen das Geld für
Papa schicken. Sofort. »Haaaah!« Ich will nicht schreien, und ich muß immer schreien. Warum
muß ich denn schreien. - Meine Augen sind zu. Niemand kann mich sehen. Papa ist gerettet. -
»Else!« - Das ist die Tante. - »Else! Else!« - »Ein Arzt, ein Arzt!« - »Geschwind zum Portier!« -
»Was ist denn passiert?« - »Das ist ja nicht möglich.« - »Das arme Kind.« - Was reden sie denn
da? Was murmeln sie denn da? Ich bin kein armes Kind. Ich bin glücklich. Der Filou hat mich
nackt gesehen. O, ich schäme mich so. Was habe ich getan? Nie wieder werde ich die Augen
öffnen. - »Bitte, die Türe schließen.« - Warum soll man die Türe schließen? Was für Gemurmel.
Tausend Leute sind um mich. Sie halten mich alle für ohnmächtig. Ich bin nicht ohnmächtig. Ich
träume nur.

26
Fragment 27
CHRISTIAN HOFMANN VON HO
FMANNSWALRAU Auf den Mund

Mund! der die seelen kann durch lust zusammen hetzen/


Mund! der viel süßer ist als starker himmels-wein/
Mund! der du alikant des Lebens schenkest ein/
Mund! den ich vorziehn muß der Inden reichen schätzen/
Mund! dessen baisam uns kann stärken und verletzen/
Mund! der vergnügter blüht als aller rosen schein.
Mund! welchem kein rubin kann gleich und ähnlich sein.
Mund! den die Gratien mit ihren quellen netzen;
Mund! ach, korallenmund, mein einziges ergetzen!
Mund! laß mich einen kuß auf deinen purpur setzen.

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Fragment 28

T. E. Lessing Fabel
Der Hamster und die Ameise
Ihr armseligen Ameisen, sagte ein Hamster. Verlohnt es sich der Mühe, daß
ihr den ganzen Sommer arbeitet, um ein so weniges einzusammeln? Wenn
ihr meinen Vorrat sehen solltet! – Höre, antwortete eine Ameise, wenn er
größer ist, als du ihn brauchst, so ist es schon recht, daß die Menschen dir
nachgraben, deine Scheuren ausleeren und dich deinen räubrischen Geiz
mit dem Leben büßen lassen!

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