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Anja Janotta

Illustriert
von Stefanie Jeschke
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House

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1. Au age 2016
© 2016 cbt Verlag in der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Illustrationen von Stefanie Jeschke
Umschlaggestaltung: Geviert Gra k & Typogra e,
unter Verwendung einer Illustration von Stefanie Jeschke
TP · Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-17728-7
V001

www.cbt-buecher.de
Für Daniel.
Für Rebecca, Jonas und Marie.
Kapitel 1

Dies ist kein Liebes-Rom-Mann!

Sei mal ehrlich: Bist du auch verliebt?


Ja? Wirklich?
Dann brauchst du es mir gar nicht erst erzählen. Behalt’s für
dich!
Nein, nein, nein, ich bin nicht unhö ich. Nein, ich bin auch
keine schlechte Freundin! Ich kann gut zuhören, wenn ich
will. Ehrlich! Du kannst mir wirklich alles erzählen.
Nur eben keine Liebesgeschichten.
Liebesgeschichten nerven mich. In Büchern, wenn sie mir
Mama vorliest. In Hörspiel-CDs. Und im richtigen Leben. Erst
recht in meinem richtigen Leben! Sobald es um die Liebe geht,
ist nix mehr einfach, alles wird komplett-ziert (ich weiß, ich
weiß, das schreibt man wahrscheinlich anders, aber die
Rechtschreibhilfe an meinem Komm-Puter kann immer noch
keine Fremdwörter). Jedes kurze Wort, jede Geste, jede
Kleinigkeit ist auf einmal bedeutsam, wenn man verliebt ist.
Nee, das ist mir echt zu anstrengend. Ich will immer noch
angucken, wen und solange ich das will. Will allen möglichen
Quatsch quasseln, ohne darüber nachdenken zu müssen.
Will mich vom Baum kopfüber hängen lassen, ohne mich
wegen der Strumpfhose zu schämen. Mich mit Schneematsch
als Indianer bemalen und mir Schneelockenwickler drehen,
ohne schauen zu müssen, ob’s nicht vielleicht doch beknackt
aussieht.
Also: In meinem Leben, dem Leben von Mira Kurz, hat die
Liebe nix zu suchen. Basta. Schließlich habe ich schon eine
Lese-Rechtschreibschwäche (besser: Linkslesestärke) und
kann mir schlecht Namen merken. Das reicht!
Nur, damit du es weißt: Ich jedenfalls bin nicht verliebt!
Aber irgendwie alle anderen. Das ist ja der Sch …

Den Anfang machte meine beste Freundin Svenja.


Ausgerechnet Svenja! Gerade erst vor den Weihnachtsferien
hatte ich sie als beste Freundin gewonnen und musste sie
sowieso schon mit ihrer besten Freundin in München teilen.
Und jetzt noch mal mit jemand anderem? Mit einem
Verliebten etwa?
Eigentlich ng es ganz harmlos an. Sie war gerade von ihrem
letzten Tag Skikurs heimgekehrt. Ihre Wangen glühten vor
Aufregung, aber Zehen und Hände waren noch ganz
steifgefroren. Wir setzten uns auf die bullig beheizte
Fensterbank in meinem Zimmer. Svenja winkte abwechselnd
mit dem L auf dem linken und mit dem R auf dem rechten
Socken. Meine nassen Haare tropften im Ritt-Mus aufs Holz –
die Schneelockenwickler lösten sich langsam auf.
»Wie war’s denn?«, hatte ich gefragt. Aber Svenjas
Sockenzehen winkten ab. Also hauchte ich auf die Scheibe
und schrieb ins Beschlagene: »Svenja redet nich …«. Sie
hauchte ebenfalls und antwortete schriftlich: »Mag nicht.«
»Was willst du dann?«, fragte ich und nickte mit dem Kinn
zum Malkram am Schreibtisch. Ich wedelte mit Wolle und
Nadel unter ihrer Nase, hielt ihr ein Kaugummi hin. Aber
Svenja schüttelte jedes Mal den Kopf. Sie wollte lieber
schweigend weiter auftauen. Wie langweilig!
»Tut dir was we?«, schrieb ich ins beschlagene Fenster.
Svenjas Zehen wackelten ein Rechts-Links-Rechts-Nein.
Meine Haare tropften weiter, der Kragen von meinem Pullover
war schon ganz nass.
»Es giebt noch Keckse von Wein-Achten«, schrieb ich als
Nächstes. »Soll ich welche holen?«
Dieses Mal winkte ihre Hand ein Nein. Aus Langeweile malte
ich auf die beschlagene Scheibe – zuerst eine Sonne, Wolken,
Wiese und dann eine Tulpe … und einen Apfel … und einen
Regenwurm …
… und ein Herz …
… und weil ich schon dabei war, malte ich noch zwei
Buchstaben hinein: M für Mira und S für Svenja.
Da ging plötzlich, mit einem Mal, ein Ruck durch Svenja. Die
Heizung hatte ihr Gesicht rot glühend gekocht. Sie schien fast
zu dampfen.
»Woher weißt du?«, zischte sie, die Stimme so hoch wie ein
Wasserkessel knapp vor dem Platzen.
»Woher weißt du?«, wiederholte sie. Es zischte so
unangenehm, dass ich mich lieber abwendete und lässig mein
Fensterherz mit einem Pfeil verschönerte.
»Häh?«, fragte ich. »Was soll ich wissen?«
»Na, das«, sagte Svenja und deutete auf mein Herz, das schon
blasser zu werden begann.
»Mmmmmmira und Ssssssvenja«, betonte ich. Als ob das
nicht klar wäre!
»Ah so«, kam es aber nur üchtig von meiner besten
Freundin. Sie hatte sich wieder umgedreht und drückte jetzt
ihre rote Stirn gegen das kühle Fenster.
Was war denn auf einmal mit der los? So merkwürdig hatte
ich sie noch nie erlebt. Wenn Svenja und ich zusammen sind,
dann dreht sich die Welt immer schneller. Dann reden und
lachen wir schneller. Dann denken wir uns schneller Sachen
aus. Dann scheint sogar der Schnee schneller zu fallen,
einfach weil alles lebendiger und mutiger wird mit ihr, mit
meiner besten Freundin. Und jetzt, im tiefsten Winter, auf
meiner Fensterbank wurde mit ihr plötzlich alles unmutiger
und langsamer. Und lahangsahamer und lahangweiliger …
Irgendwas war passiert.
Unser Herz war schon wieder ganz aufgelöst. Also musste ich
noch einmal hauchen und malen. Noch mal ein Herz, ein ganz

d h d h
sünd-mäh-dresch-es auf beiden Seiten. Noch einmal
pinselte ich hinein: »M+S«.
Erneut fuhr meine beste Freundin auf. Mit einer hektischen
Handbewegung wischte sie unsere In-ih-zieh-Alien weg.
»Lass das! Ich will nicht, dass du das machst«, zickte sie.
»Was soll ich nicht machen? Unsere Namen irgendwo
hinschreiben? Willst du nicht mehr meine Freundin sein?«,
fragte ich. Und es klang so bange, wie ich mich gerade fühlte.
Vor Weihnachten war ich nämlich so allein gewesen, so ohne
Freunde, dass ich immer noch Angst hatte, irgendwann
wieder ohne Felix, Shirin und Svenja dazustehen. Einsam
statt gemeinsam.
»Wieso nicht mehr deine Freundin sein?«, fragte Svenja ratlos
zurück.
»Wenn du unser Herz wegwischst!«
»Aber das ist doch gar nicht unser Herz.«
Und da begriff ich. Wie schmelzender Schnee tropfte es von
meinen Augen: Das war nicht mein M. Es musste noch ein
anderes M geben!
Ich begann zu rätseln. Um ein anderes Mädchen würde sie
nicht so ein albernes Geschepper machen. Es musste also ein
Jungenname sein.
»Wer ist denn jetzt dieser M?«, fragte ich. Depp-Lohn-matt-ih

ist ja nicht so meins. Leider: Denn mit meiner Freundin muss


man immer schön behutsam und Depp-Lohn-matt-Tisch

umgehen, sonst zickt sie. So auch jetzt. Sie sperrte verbissen


ihren Mund zu.
Doch so schnell gab ich nicht auf.
»M«, brabbelte ich aufs Geratewohl, »also M. … wie …
Mmmmmmondmann. Oder M… wie … Mmeister Proper … Wie
Mmicky Mmaus. Wie … Mmainzelmännchen … Wie …«
»Lass mich«, schimpfte Svenja mich an. Sie kochte schon
wieder.
Ich frotzelte ungerührt weiter: »M… wie … wie …
Märchenmarco … wie …« – jetzt hatte ich richtig Fahrt
aufgenommen: »Mogelmoritz … wie … Miefmichi …«
Svenja fuhr mich an und es zischte wieder wie ein kochender
Wasserkessel: »Das ist nicht witzig.«
»Find ich schon«, gab ich zurück.
»Find ich nicht. Man macht keine Witze über … ähm … über
…« Svenja geriet ins Stottern.
»Über?«, drängte ich.
»Über Ms.«
»Über Ms. Aahaa!«, spottete ich. »Über alle Ms? Oder nur über
bestimmte Ms?«
»Über alle Ms«, presste Svenja trotzig hervor.
»Das stimmt doch gar nicht«, widersprach ich, »es geht um
einen M.« Dann setzte ich möglichst Depp-Lohn-matt-Tisch

hinzu: »Und übrigens, M steht für noch was. Nicht nur für
Mmmmmira, sondern auch für Mmmmmir-kannst-du-es-ruhig-
erzählen-ich-verrate-nichts.«
Svenja seufzte und gab auf: »Maurice.«
Maurice?!? Wer war denn das?
Der Name sagte mir gar nichts. Null. Nix. Das hat nicht viel
zu sagen, die meisten Namen sagen mir nix, ich verwechsle
immer alle Marios mit den Marcos, die Majas mit den
Marthas. Also merke ich mir statt Namen lieber Eigenschaften
wie die Schüchterne, der Torhüter, der Tröstebusen oder so.
Das sagt doch viel mehr aus als so ein blöder Name ohne
Aussage.
»Kenn ich den?«, fragte ich vorsichtig.
»Ja, natürlich kennst du den! Der geht in die Vierte, ist so ein
Stück größer als ich.« Sie spannte dabei Daumen und kleinen
Finger mag-sie-mal auseinander und hielt sich die
Fingerspanne über den Kopf. »Und ziemlich sportlich. Und er
ist immer bei den Fußballern dabei. Dunkle Haare. Längere
Haare.«
Langsam dämmerte es mir. Den gab es wirklich: Dieser M war
ein guter Kumpel von dem Pinscher und dem Breiten, den
Fußball-Chefs bei den Vierties. Ich sah ihn jetzt vor mir: ein
hochgeschossener Kerl mit Sommersprossen, der irrsinnig
schnell schießen konnte. Nicht nur mit dem Fuß. Auch mit
dem Mundwerk.
Na toll, dachte ich. Den hatte ich immer unter Mmmag-ich-
nicht abgespeichert. Ich hätte ihn mir auch als
Mmmaulaufreißer merken können. Denn das Einzige, was
noch größer war als er selbst, war sein Selbstvertrauen. Eine
größere Klappe hatte auf unserem Schulhof keiner.
Und den fand Svenja gut?!? Das war ja schon nicht mal mehr
geschmacksverirrt, das war schon regelrecht
geschmackswahnsinnig!
Natürlich konnte ich das meiner besten Freundin nicht sagen.
Das gehört sich nicht, jemanden schlecht zu machen, den die
beste Freundin anschwärmt. Goldene Freundschaftsregel
Nummer 15.
Aber ich kam sowieso nicht zu Wort. Svenja plapperte schon
weiter: »Maurice war bei mir im Skikurs. In der gleichen
Gruppe wie ich. Er kann ganz toll Ski fahren. Und er ist
wirklich total nett. Und er hat eine coole grüne Mütze. Und er
hat grüne Augen. Und er hat gesagt, dass ich auch gut Ski
fahren kann. Und er …«
Ich hatte nicht mitgezählt, aber nach geschätzt 534-mal »Und
er …« holte meine beste Freundin das erste Mal Luft. So sehr
hatte sie sich in Fahrt gequasselt. In Schussfahrt!
Währenddessen grübelte ich, was Svenja an dem wohl toll
nden konnte. Vielleicht war er ja, wenn er mit einem allein
redete, tatsächlich ganz nett. Die meisten Jungs, mit denen
man ab und zu allein vernünftig reden kann, werden laut und
doof, sobald andere Jungs dabei sind. Da gibt es nur wirklich
wenige Ausnahmen.
Mein längster Freund Felix zum Beispiel, den kenne ich so
lange, dass er mir schon ins Badewasser gestrullert hat. Der
hat dieses Aufschneiden gar nicht nötig. Dazu ist er viel zu
schlau.
Die andere Ausnahme ist mein großer Bruder Linus. Der ist
doof, wenn andere Jungs dabei sind, und doof, wenn ich mit
ihm allein bin.
Aber weiter im Text, Svenja war weiter im Text.
»Weißt du, dass ich mich schon voll auf die Schule freue?«
Das war der endgültige Beweis: Sie war wahnsinnig
geworden!
»Du freust dich auf die Schul-äh?«, fragte ich ungläubig
zurück.
»Ja, doch«, nickte sie eifrig, »nur auf die Pausen natürlich.
Dann sehe ich …« Svenja stoppte ab-robbt und sah mich
streng an.
»Du darfst aber nix erzählen, Mira. Ja?«
»Versprochen: Ich erzähle nichts.«
»Versprochen und geschworen?«
»Versprochen und geschworen.«
Und das ließ sich Svenja sogar noch schriftlich geben.
»Ich, Mira Kurz, sage niechts über M. Fersprochen und
geschwohren«, schrieb ich also auf einen Zettel.
»Du musst ihn noch mit Blut unterschreiben«, forderte
Svenja. »Das macht man so, wenn man schwört.«
»Neee!!!!«
Schließlich einigten wir uns darauf, mit rotem Filzer unsere
Finger anzumalen und Fingerabdrücke auf unseren Vertrag
zu drücken. Danach, weil noch so viel Farbe dran war,
drückten wir jeder dem anderen den Finger noch einmal auf
den Handballen. Und dann malten wir uns noch mal an und
machten uns noch mehr Fingerabdrücke. Und einen
Daumen eck oben auf die Stirn, zwischen die Augen, da, wo
die Nase anfängt.
»Jetzt sind wir indische Blutsbrüder …«, sagte ich,
»Blutsbrüderinnen.«
Svenja kicherte, legte die Hand ächen über dem Kopf
zusammen, lächelte Matjes-Stehtisch und wackelte mit dem
Kopf hin und her. »Mein Papa war mal in Indien. Da begrüßt
man sich mit Namaste.«
»Nahm-Ast-Tee«, sprach ich nach. Und wackelte auch ein
bisschen mit dem Kopf zwischen meinen Armen.
Jetzt, genau jetzt, war Svenja endlich wieder ganz die Alte.
Aufgetaut, lebendig und lustig. Meine beste Freundin eben.
Als sie leider schon gehen musste, fragte ich sie noch: »Wenn
wir nach den Ferien in der Schule wieder umgesetzt werden –
sollen wir uns dann zusammensetzen? Morgen? Ja?«
»Ja«, kicherte Svenja, »Ja, ja. Ja. Nahm-Ast-Tee.« Sie legte die
Hand ächen vor der Brust zusammen und verbeugte sich
leicht.
Ich grüßte und verbeugte mich zurück.
Dann war meine beste Freundin weg, und ich freute mich
auch schon ein klein wenig auf die Schule.
Kapitel 2

Ein Psycho-Locke zum Durchdrehen

Meinen indischen roten Punkt zwischen den Augen wischte


ich extra nicht weg. Am nächsten Morgen wollte ich damit in
die Schule gehen. Das war lustig.
»Was is’n das? Hast du Masern?«, fragte Felix, als er mich zur
Schule abholte und deutete auf den roten Fleck
»Nahm-Ast-Tee«, begrüßte ich ihn und machte eine gnädige
Verbeugung mit zusammengelegten Händen. »Das, mein
Freund ist ein Zeichen meiner Weisheit.«
Felix verdrehte die Augen, verkniff sich aber eine Bemerkung.
Er wollte noch was anderes mit mir besprechen.
»Du sag mal, äh, ich wollte …«, ng er an zu stottern. »Dir, äh
… dich … äh …« Das passte gar nicht zu Felix, dass er nach
Worten suchen musste. Niemand ist schlagfertiger als er, und
in Wortspielen ist er Pack-Tisch nicht zu besiegen. Der völlig
unnormale Felix holte jetzt noch mal Luft: »… dich fragen, ob
du mich …«, er holte noch einmal Luft und stieß dann aus:
»Ob du mich neben Svenja sitzen lassen kannst.«
Ich war völlig baff. Darauf konnte ich erst mal gar nichts
sagen. Felix – Svenja? Svenja – Felix … Svenja und Felix …
Felix in Svenja? …
Ach nee!
Zum Glück musste ich erst mal gar nichts sagen, denn meine
Mutter staubte uns aus dem Haus ur: »Hopp, hopp, ihr wollt
doch nicht gleich am ersten Schultag zu spät kommen? Mira,
denk dran, wir haben heute Nachmittag einen wichtigen
Termin. Und vergesst nicht, Svenja abzuholen.«
Wie sollten wir?
Leider mussten wir noch ewig vor ihrer Haustür warten.
»Sie will sich unbedingt noch eure roten Punkte von der Stirn
waschen«, erklärte uns ihre Mutter.
»Wieso das denn?«, fragte ich und deutete auf meinen roten
Punkt unterhalb der Mütze. »Ist doch total schick.«
»Findet Svenja nicht«, sagte ihre Mutter. »Ihr ist das peinlich.«
Peinlich lange jedenfalls ließ Svenja uns warten. Die rote
Farbe war zäh, schließlich hatten wir am Abend vorher für
unsere indischen Masern per-Mann-End-Sifte genommen.
»Spielen wir Buchstabendreher, bis sie kommt?«, fragte ich
Felix. Der nickte sofort. Buchstabendreher ist sein
Lieblingsspiel.
»Thema?«, fragte ich.
»Wein-Achten.«
»Pfhhhhh…«, machte ich, um erst mal Zeit zu gewinnen. Da
el es mir ein: »Schoko-Kinoläuse.«
»Den hattest du schon mal.«
»Macht nichts«, erwiderte ich. »Der passt zum Thema.«
»Na gut: Stimtzange!«
Ich musste kichern: »Der ist super. Mistchresse.«
Aber Felix konnte sich beherrschen.
»Kussnekse«, legte ich nach.
»Kleb-uchen.«
»Breihnachtswaten.«
Felix nickte anerkennend. Das war mein Punkt.
»Mokoskakronen«, meinte er daraufhin.
Jetzt nickte ich: Felix lag wieder vorn. 2:1. Ich hatte zweimal
lachen müssen, er nur einmal.
»Trumörtchen.«
Felix kicherte. Gleichstand.
Aber danach war es wie nach einem großen Eihnachtswessen:
Wir waren satt, müde und lahm. Niemandem gelang mehr ein
Ichterklette noch Felix’ Stimtzerne, weder
Treffer. Weder meine
mein Maletta noch das Scherzenkein von Felix erzielten
Punkte. Aber dann kam auch endlich, endlich Svenja.
Nur war es jetzt schon mördermäßig spät. Wir rannten so
schnell wir konnten auf unserem ersten Schulweg nach den
Weihnachtsferien und kamen trotzdem fünf Minuten zu spät.
Was auf der anderen Seite auch ein Glück war, denn das
übliche hektische Umsetzen nach den Ferien hatte schon
begonnen. Nur die erste Reihe war noch völlig frei.
Natürlich ist erste Reihe immer doof, aber wenn wir drei
zusammensitzen konnten, war es schon ein Minibisschen
undoofer. Erst bekam Felix den Platz am Fenster, daneben
Svenja, dann ich und dann noch meine zweitbeste Freundin,
die schüchterne Shirin. Sie umarmte mich End-Tussi-Ast-

Tisch: »Frohes neues Jahr!«


Beinahe hätte ich sie nicht erkannt, so unschüchtern und
offen war sie auf einmal. Sogar ihre Haare waren offen – ganz
ohne die strengen breiten Tücher, die sie sonst immer trug.
An ihrem Ohr blitzten frische Ohrstecker und ein selbst
geknüpftes Freundschaftsarmband trug sie auch. Doch bevor
ich sie fragen konnte, wer ihr das zu Weihnachten geschenkt
hatte, klatschte Frau Wienert, unsere Klassenlehrerin, in die
Hände.
»Damit wir nicht gleich so grausam anfangen müssen mit
Die-Wiss-John und Multi-Blick-Art-John am ersten
Schultag, könntet ihr doch zunächst ein wenig über eure
Ferien erzählen. Fangen wir hier vorne mal an: Mira – ihr wart
sicherlich in Indien, oder …?« Sie wieherte ein kleines Lachen
hinter diese Frage, wie sie es gern macht, wenn sie gute
Stimmung verbreiten will. Und das schafft sie meistens.
Nur heute nicht. So viel Aufmerksamkeit für mich und
meinen roten Fleck wollte ich doch gar nicht. Auch wenn mir
in der Klasse keiner mehr Schwierigkeiten bereitete wie im
vergangenen Jahr, hatte ich immer noch Angst, irgendwo blöd
aufzufallen, was Dummes zu sagen oder was falsch zu
machen. Das ließ sich noch nicht ganz abschütteln.
Außerdem gab es über meine Ferien doch nicht viel zu
erzählen, die waren nur saulangweilig gewesen. Ich sagte
zwei, drei Sätze und war dann froh, mich wieder in der Masse
verstecken zu können. Svenja hingegen nahm beim Erzählen
so richtig Fahrt auf: »Ich habe einen Skikurs gemacht, und es
war ganz toll, weil wir …« Sie sprach nicht von dem
Maulaufreißer, aber ihre Augen sprachen Bände. Völlig
abwesend blickte sie nach ihrer Rede in die Ferne. Das el
nicht nur mir auf, sondern auch Felix, der öfters mal zu ihr
rüberlinste.
Auch Felix guckte ein bisschen unnormal. So schüchtern und
erwartungsvoll. Und Shirin saß nur da und spielte mit ihrem
Co-bald-blau-oh-lief-grünen Freundschaftsband.
Oh Mann, waren die jetzt alle gefühlswahnsinnig geworden?
War so was ansteckend? Das Verlieben und so? Wenn ja,
dann würde ich mich lieber doch noch woanders hinsetzen.
Aber war es woanders besser? Wenn man wie bei Masern
wenigstens hätte sehen können, wer ansteckend war! Ein
sauberer Ausschlag, ein ordentlicher roter Punkt auf der Stirn
oder so. Oder besser war es umgekehrt: Die, die einen roten
Punkt auf der Stirn hatten als Zeichen für die echte Weisheit,
die waren noch normal.
So wie ich.
Ich war als Einzige normal geblieben.
Nahm-Ast-Tee!

Ab-pro-Pos normal, genau das Normalsein wollte Mama mir


auch noch wegnehmen.
»Du kannst nicht so zu unserem Termin gehen. Das ist doch
peinlich«, hatte sie gemotzt und ließ mich meine indische
Weisheit wieder von der Stirn runterrubbeln.
Peinlich wurde es für sie aber dann doch noch.
Der Termin, von dem sie am Morgen geredet hatte, war
nämlich bei unserem Schul-Psycho-Locken. Der hatte ein
Sprechzimmer in einer anderen Schule, und davor waren alte
zusammengeschraubte Klappstühle mit abgeschubbertem
Samtüberzug aufgestellt. Wie im Kinosaal. Während wir also
auf unseren Psycho lm warteten, hatte ich die blöde Idee,
meine Mama mal zu fragen, was wir hier eigentlich wollten.
»Aber das weißt du doch, Mira«, seufzte sie.
»Keine Ahnung. Hab’s vergessen.«
»Du hast doch neulich diesen Test gemacht. Wir wollen einen
Schrieb, dass du eine bestätigte Rechtschreibschwäche hast.
Dann wirst du in der Schule anders bewertet.«
»Will ich aber nicht«, schoss es sofort aus mir raus. Ich
wedelte weh-ähm-End mit den Armen. Nein, nein, nein!
NEIN!!!! »Wie – willst du aber nicht?«, fragte meine Mama
verständnislos zurück.
»Ich will so einen Schrieb nicht.«
Mama war fassungslos. »Du willst doch jetzt nicht etwa
zicken? Hier? Und jetzt?«
»Nein«, verteidigte ich mich, »ich zicke nicht. Wirklich nicht.
Aber ich will nicht anders bewertet werden als die anderen
aus der Klasse. Davon hatte ich genug im letzten Schuljahr.
Ich will endlich dazugehören! Da brauche ich kein Mopping

mehr. Und keine Sonderbehandlung. Die schon gar nicht!


Also: Ich will so einen dummen Schrieb nicht! Basta.«
Wütend war ich aufgestanden und stand mittlerweile
schreiend vor ihr. Dabei hatte ich gar nicht bemerkt, wie sich
jemand hinter mich gestellt hatte. Plötzlich räusperte sich
dieser jemand. Erschrocken fuhr ich herum.
»Hallo Mira«, sagte er, »ich bin Herr Dreyfuß, Karsten
Dreyfuß.« Er hielt mir die Hand hin und ich gab ihm meine.
Aber nicht so richtig, dazu war ich noch zu wütend. Und in
die Augen schauen wollte ich ihm auch nicht. Sollte sich
Mama doch ruhig für meine Mann-Nieren schämen müssen.
Geschah ihr recht!
»Weißt du was«, sagte er und seine Stimme war fast so
angenehm wie die plüschigen Kinosessel, »wir beide
unterhalten uns erst mal. Wenn du magst, auch ohne deine
Mama. Ich erkläre dir, was in dem blöden Schrieb alles
drinnen steht, und du sagst mir, wo bei dir der Schuh
deswegen drückt.«
»Ohne Mama«, presste ich hervor. Dann folgte ich ihm in sein
Sprechzimmer.

Karsten-Psycho-Locke war echt nett. Er trug eine Jacke aus


Kurt-Samt, die mindestens ebenso abgeschubbert war wie die
Stühle im Gang. Über seine halbe linke Hand zog sich ein
langer Kugelschreiberstrich. Und dann kam sogar noch ein
kleiner Strich hinzu, als er bei unserem Gespräch mitschrieb
und die Hülle von seinem Stift verkehrt herum aufsetzen
wollte. Das Sich-Anmalen fand ich lustig. Zur Bestätigung
rieb ich noch einmal über meine blassen indischen Masern
auf der Stirn, die nicht richtig abgegangen waren.
Ich saß bequem auf einem tiefen, durchgesessenen
Lümmelsofa. Kummerkarsten (so hatte ich ihn heimlich für
mich getauft) saß mir gegenüber in einem ausgedienten
Ohrensessel und spielte immer wieder mit seinem blauen
Kuli. So hibbelig, wie der war, ging er bestimmt selbst zum
Psycho-Locken.

Aber sonst war er ganz nett. Er erzählte mir, dass er auch so


eine Schlechtschreibschwäche hat und deswegen in der
Schule Probleme hatte.
Das Beste aber war, dass Kummerkarsten verstand, wieso ich
keine Bestätigung wollte und schon gar keine
Sonderbehandlung wegen meiner »Linkslesestärke« (bei
diesem Wortspiel von Felix und mir musste er ziemlich
grinsen).
»Wenn du sagst, dass du nicht anders behandelt werden
willst, dann weißt du aber, dass du trotzdem anders bist,
oder?«, fragte er. »Du bist du mit Schwächen und mit allen
Stärken.«
»Aber bis jetzt haben mich alle nur geärgert wegen meiner
Linkslesestärke«, presste ich gequält hervor.
Kummerkarsten sagte nichts darauf, aber auf seiner Stirn
bildete sich eine erstaunte Falte.
»Am liebsten wäre es mir, die könnten das Thema erst mal
ganz vergessen. Und ich kann von vorne anfangen«, fügte ich
hinzu.
»Überleg dir das trotzdem gut, Mira«, gab Kummerkarsten zu
bedenken. »Mit einer Bestätigung hättest du Anspruch auf
Hilfe. Die Rechtschreibung würde in den Proben nicht
gewertet, du müsstest kein schweres Dick-Tat mehr schreiben
und in Englisch dürftest du nur mündliche Noten bekommen.
Das wären viele Vorteile …«
»Pah, ich brauche keine Vorteile. Und Bevorzugung brauche
ich auch keine«, entfuhr es mir. Es klang immer noch viel
heftiger, als ich es eigentlich wollte.
»Aber du brauchst eine Schanze, um zu zeigen, was du gut
kannst. Das habe ich doch richtig verstanden. Stimmt’s?«,
fragte mich Kummerkarsten mit seiner samtweichen
Engelsgeduldstimme.
Da konnte ich nur noch nicken.
»Was, meinst du, kannst du denn gut?«
Was war das denn für eine gemeine Psychofrage? Schon
wirbelten meine Gedanken kreuz und quer durch meinen
Kopf. Keine Ahnung, wie ich dieses drehende K-Rüssel

anhalten konnte. Bald würde ich noch durchdrehen und


müsste allen Ernstes zum Psychodoktor!
Vielleicht war ich ganz gut im Sport. Aber nein, da auch nicht
überall. Musik? Singen? Neee. Malen? Vielleicht, ein bisschen,
aber auch nicht besser als andere.
»Buchstabendrehen?«
Kummerkarsten hob wieder nur eine Augenbraue.
»Mein bester Freund und ich verdrehen immer Borte und
Wuchstaben.«
»So wie in Stinksleselärke?«
Ich kicherte: »Genau go seht’s!«
Kummerkarsten fragte weiter: »Und nas woch? In was bist du
noch gut? Wovor hast du kein Suffenmausen?«
Nach einigen weiteren Extra-Runden im Gedanken-K-Rüssel
kam ich auf folgende Antwort: »Einrad fahren, aber gerade ist
alles vereist. Mir lustige Sachen ausdenken mit meinen
Freunden …«
Ich dachte an Svenja und Felix und was die wohl noch an mir
mochten. Ich dachte an unsere letzten Gespräche und dass
sie mir ihre Geheimnisse verraten hatten. Plötzlich wusste ich
was: »Ich kann gut zuhören und ich kann gut Geheimnisse
bewahren.«
»Na, das ist doch was ganz Wichtiges!«, lobte Kummerkarsten,
kritzelte kurz was mit und drehte danach nachdenklich den
Kuli. Nicht ohne seine linke Daumenkuppe noch einmal zu
bekritzeln.
Schließlich, und nach einem langen Gespräch allein mit
Mama und dann mit Mama und mir zusammen, hatte er
einen Komm-pro-Mist ausgearbeitet. Ich sollte keinen
Rechtschreib-Schrieb mitbekommen. Erst mal nicht,
zumindest nicht für den Rest des dritten Schuljahrs. Dafür
musste ich aber Mama versprechen, an meiner »Schwäche« zu
arbeiten. Jeden Tag zehn Minuten rechtschreiben üben.
Jeden Tag! Wie ätzend!
Nachdem Mama und ich uns mit »Abgemacht« feierlich die
Hände geschüttelt hatten, lächelte Kummerkarsten zufrieden
und sagte: »Ähm, ich habe da außerdem noch einen kleinen
Vorschlag für dich, Mira. Ich kann nicht versprechen, dass er
klappt, aber vielleicht magst du ihn dir erst mal anhören: Was
hältst du davon – für eure Schülerzeitung zu schreiben?«
Kummerkarsten sagte noch was, dass man bei LRS (so heißt
die Abkürzung für meine Schwäche, äh Stärke) am besten
ganz viel schreiben soll. Am besten Sachen, die einem Spaß
machen.
»Du kannst gut erzählen, Mira, das ist mir aufgefallen. Das ist
noch so ein Talent von dir. Wenn ich in deiner Schule mal
nachfrage, darfst du bestimmt noch nachträglich zu der AG
Schülerzeitung dazustoßen.«
Ich schnappte nach Luft, wollte was sagen, aber der Psycho-

Locke war schneller: Ȇbrigens, keine Sorge, da gibt es einen


P-Zeh mit Rechtschreibprogramm. Das macht die Vertipper
gleich wieder raus, bevor sie überhaupt auffallen.«
Schülerzeitung? Das hatte ich ja noch nie auf dem Plan
gehabt! Ich und ein Schreiberling? Na ja, ich wusste nicht so
recht …
»Na, was meinst du?«, strahlte Kummerkarsten mich an. Er
knetete sich mit den Kuli-beschmierten Fingern seinen
Nasenrücken. Im Nu war da auch alles blau. Nicht jeder kann
eben fehlerfrei schreiben, musste ich unwillkürlich denken.
Ich grinste.
»Wunderbar! Das sieht ja nach einem Einverstanden aus«,
strahlte Kummerkarsten, und noch bevor ich irgendwie
zweifeln oder pro-Test-Tieren konnte, machte er sofort Nägel
mit Köpfen: »Dann rufe ich gleich mal in deiner Schule an.«
Und so wurde ich ein Schreiberling.
Kapitel 3

Wörterschlacht am P-Zeh

Die Rett-Aktion unserer Schülerzeitung traf sich jeden


Mittwoch im P-Zeh-Raum im Keller. Schon beim nächsten
Termin war ich dabei. Frau Wienert, unsere Klassenlehrerin,
hatte sich so sehr gefreut, dass ich ein Schreiberling werden
wollte, dass sie mich höchstpersönlich dort ablieferte.
Neuerdings fragte sie etwa dreimal am Tag: »Mira, alles gut?«
Auch dieses Mal.
»Ja, ja«, antwortete ich nervös. »Ganz gut.«
Zwölf Köpfe zählte ich, plus die erwachsene Che n. Es waren
auch ein paar darunter, die ich kannte. Aus meiner Klasse
zum Beispiel die Anstreberin, die immer die Lehrer
anschleimt, gute Noten schreibt, alles besser weiß und deren
Namen ich deswegen schon leider wieder vergessen hatte.
Auch unser Klassensprecher – wie hieß der gleich? Ach ja: Er
stand immer im Tor, er hieß … Thor-sten.
Dann gab’s noch drei aus der 3 b, zwei freche Zweitklass-
Mädels und jede Menge Vierties. Und – ach, du Schande – den
Maulaufreißer. Der ließ echt keine Gelegenheit aus, um sich
in den Vordergrund zu spielen!
Die Che n war irgendeine Mama, die im echten Leben wohl
wirklich Schon-Aal-ist-in ist. An ihr war alles rund, der
Bauch, die Beine, das Gesicht, die Backen. Damit auch bei
uns alles rundlief, lief sie ständig zwischen uns auf und ab,
spurtete mal zu dem und mal zu jenem, der gerade seinen
Bericht in den P-Zeh tippte.
Der Rundlauf war auch zu mir sehr hilfsbereit und erzählte
mir, dass ich zu einem guten Zeitpunkt gekommen sei. Die
Rett-Aktion hatte vor Wein-Achten gerade eine Ausgabe
herausgebracht. Jetzt hatten sie gerade die Themen festgelegt
für die nächste Ausgabe, die vor den Osterferien erscheinen
sollte.
Ich solle mir überlegen, über was ich schreiben wolle, sagte
mir der Rundlauf. Sie schob mir den aktuellen Plan zu und
ging dann weiter zu einem anderen Schreiberling.
»Was macht eigentlich unser Hausmeister?« und »Modetrends
an der Schule« stand auf der Liste, das machten die Mädchen
aus der 3b. »Bericht aus der Musik-AG und Kunst-AG«
schrieben die Zweitklässlerinnen. Die Anstreberin, der alte
Schleimbeutel, inter-pff-Jute die Reck-Tor-in. Thorsten, der
vor mir saß, haute so schnell und heftig in die Tasten, dass
man kaum noch Arme oder Hände voneinander
unterscheiden konnte. Er trug ein Band am Arm, das wild auf
und ab wedelte und vor meinen Augen nur noch blau-grüne
Schlieren zog. Er schrieb wie ein Wilder über das kaputte Tor
im Schulhof.
Die Vierties wollten über ihre Lamm-Schuld-Heim-Aus üge
berichten und das Schul-Tee-Art-Teer. Einer hatte sich was
ziemlich Lustiges ausgedacht, er wollte ein »Gespräch mit
dem Schulgeist« führen – natürlich auf »Gespenstisch«. Und
der Maulaufreißer hatte ein ziemlich hochtrabendes Thema
angegeben, das hieß: »Wir fordern mehr Spielgeräte und
längere Pausen an unserer Schule«. Na, das passte auch!
Lange Zeit konnte ich nicht auf das Lesen der Liste
verschwenden, denn die Vierties hinter mir machten schon
wieder Mist und lenkten mich total ab. Sie hatten Spiele auf
dem P-Zeh entdeckt, die natürlich viel spannender waren als
das Schreiben ihrer Berichte.
»Peng«, zischte einer.
»Pong«, zischte der Zweite zurück.
»Ping«, der Dritte.
»Pech«, seufzte der Vierte, der Maulaufreißer.
Mir ballerten die Ping-Peng-Pongs bald alle guten Ideen weg.
Denn richtig befasst hatte ich mich mit der Schülerzeitung
noch nie so richtig, ich hatte mir die Bilder angeguckt, die
Witze gelesen und das Heftchen dann auf den Stapel abgelegt.
Lesen ist ja nicht gerade mein Hobby …
Und jetzt peng-te und pech-te mir die Schlacht am P-Zeh

auch noch jeden Gedankenblitz weg. Am Ende kam der


Rundlauf noch mal zu mir.
»Na, Mira, für welches Thema hast du dich entschieden?«
Hil os zuckte ich mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Alle guten
Sachen sind schon weg.«
»Welche Themen haben dir denn bis jetzt am besten an der
Schülerzeitung gefallen?«, gab sie Hilfestellung.
Ups, da erwischte sie mich gleich mal auf dem falschen Fuß!
Ganz vorsichtig versuchte ich ein Lächeln. »Die Witze?«
Der Rundlauf lachte. »Ja, die Witze. Die sind aber so begehrt,
dass sich alle drum prügeln. Die kann ich keinem Einzelnen
geben, das gibt nur bösen Ärger. Mira, das musst du leider
verstehen.«
Peng! Pech!
Mir knickte die Miene ein. Der Rundlauf konnte bestimmt
genau sehen, wie löchrig meine Begeisterung mittlerweile war.
»Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag«, sagte sie. »Ich nde
es ganz wichtig, dass die Schülerzeitung nicht nur die
Meinung von zwölf Rett-Aktions-Leuten darstellt, sondern
dass sich möglichst viele in der Zeitung wieder nden. Denn
dann wollen auch möglichst viele die Zeitung lesen.« Ich
nickte und lächelte vorsichtig.
»Für die neue Ausgabe habe ich noch niemanden, der eine
Umfrage machen will, oder irgendwas in diese Richtung …«,
fuhr der Rundlauf fort. »Wie und was – das kannst du dir
gerne selbst ausdenken. Du musst dich schließlich
wohlfühlen mit dem Thema. Okay?«
»Okay.«
»Prima, sag mir einfach das nächste Mal, was du dir
ausgedacht hast. Ich habe auch ein Fach im Seh-kräht-ah-

Teer-Art, falls du mir eine Nachricht schreiben willst.« Damit


drehte sie sich um und brachte ihren Rundlauf zu Ende,
indem sie die Art-Igel abspeicherte und die Rechner
ausschaltete.

Jetzt war ich genauso ratlos wie vorher. Eine Umfrage? Ich
sollte umfragen? Und wen jetzt? Und was jetzt?
Immerhin hatte ich frei und konnte jemanden um Rat fragen.
Ich rief Shirin an. Wer weiß, vielleicht konnten wir uns ja
sogar noch für den Nachmittag verabreden.
Aber »Nein«, sagte ihre Mutter an der anderen Leitung. »Tut
mir leid, Shirin ist gar nicht da. Sie macht mit Thorsten
Mathe-Hausaufgaben.«
»Hä? Mathe? Wir haben in Mathe doch gar nichts auf …«,
wollte ich noch sagen, doch da hatte Shirins Mama schon
aufgelegt.
Dann musste ich das eben mit jemand anderem bequatschen
– mit meiner besten Freundin Svenja. Während wir beide
gemeinsam ihre Katze streichelten und ein paar
Schneeschauern zusahen, wie sie den Rasen weißtünchten,
suchten wir nach Ideen.
»Frag sie nach ihren Haustieren«, schlug Svenja vor und
kraulte den Tiger unterm Kinn.
Ich zog meine Hand weg, Svenjas Tiger hatte sich gestreckt
und dabei unabsichtlich die Krallen mit ausgefahren.
»Nee«, sagte ich, »so was Kuscheliges, so ein tussiges
Mädchenthema ist nix für mich! Lieber was, wo es kracht.
Richtig kracht. Mehr Spielgeräte und mehr Pausen – so was
Krachiges wie dein M. vorgeschlagen hat.«
Svenja schoss derart ab-robbt hoch, dass ihr Tiger ganz
erschrocken von der Fensterbank sprang. Böse maunzte er
uns nach und stolzierte beleidigt davon.
»Maurice ist bei dir in der Schülerzeitung?«, fragte sie
aufgeregt.
»Mau… rice, ja …«, ich verkniff mir, ihr zu sagen, unter
welchem Namen ich ihn bei mir abgespeichert hatte.
»Und er schreibt noch mal was?«
»Wir wollen längere Pausen und mehr Spielgeräte.«
»Ganz schön mutig«, seufzte sie.
»Ganz schön sinnlos«, entgegnete ich. »Unsere Reck-Tor-in

wird das nie und nimmer durchgehen lassen. Viel zu streng


…«
»Ich nde es trotzdem mutig«, hielt Svenja dagegen. Dann
schwieg sie. Und schwieg. Und schwieg, während der Rasen
beinahe schon knöchelhoch eingeschneit war.
»Ist was?«, fragte ich nach einer Weile vorsichtig. Svenja
konnte manchmal ganz schön emp ndlich sein.
»Ach, weil er mich nie anguckt in der Schule«, seufzte sie.
Svenjas Stimme bog sich runter wie unser Fliederbusch unter
dem Gewicht des schweren Schnees.
Trotzdem, so wie Svenja jetzt aus dem Fenster sah, so von der
Seite, sah sie einfach super hübsch aus. Ich beneidete sie um
ihre langen blonden Haare, die anhimmelblauen Augen und
das ansteckende Sonnenlächeln, das bestimmt sogar noch
das eingefrorene Bio-Topp am Ende unserer Siedlung zum
Schmelzen bringen konnte.
»Kopf hoch«, versuchte ich sie zu trösten. »Heute war der
dritte Tag nach den Ferien. Vielleicht hat er einfach noch
nicht zu dir hingeguckt.« Ein schwacher Trost.
»Aber er hätte schon mal gucken können«, widersprach mir
Svenja. Die Stimme hing jetzt gefährlicher durch als die Äste
von dem schneebeladenen Busch.
»Hör mal, es gibt andere, die gucken aber. Es gibt ganz viele,
die gucken. Wirklich viele. Ich nde dich hübsch. Und in
unserer Klasse gibt es auch viele. Da ist zum Beispiel noch
ei…«
»…ner, den du gut kennst«, wollte ich sagen. Aber weiter kam
ich nicht.
»Du hast recht, wir sind so viele. Vielleicht hat er mich ja gar
nicht richtig gesehen.«
Oh Mist, jetzt war meine beste Freundin in die völlig verkehrte
Richtung geschlittert!
»Vielleicht –«, aber mehr durfte ich nicht sagen.
»Vielleicht muss er mich allein treffen. Oder fast allein.«

So kam ich also zu der Ehre und dem Versprechen, jedes Mal
nach der Schülerzeitungs-AG von ihr abgeholt zu werden.
Nicht weil ich eine Ess-Kurt-Tee bis nach Hause dringend
nötig gehabt hätte, sondern damit Svenja eine Gelegenheit
hatte, mit dem Maulaufreißer zu reden.
Ach, du gute Güte, die Liebe macht nicht nur traurig und
unmutig, sie macht auch albern! Wieder einmal wünschte ich
mir nichts sehnlicher, als gegen diesen ganzen peinlichen
Quatsch im-muhen zu sein. Wenn’s denn nur Pillen oder
Spritzen oder andere Mäh-die-Kamm-Ente gegen die Liebe
gäbe! Aber klar, die gab’s! Man konnte die Liebe vielleicht
nicht mit Spritzen oder Pillen von sich fernhalten. Aber mit
indischer Weisheit!
»Ich muss …«, sagte ich geschwind zu Svenja, itzte nach
Hause, riss in meiner hektischen Suche meine
Stifteschublade aus den Angeln, stellte mich vor Mamas
großen Schlafzimmerspiegel und malte mir mit dem dicken
per-Mann-End-Stift wieder meinen roten Punkt auf die
Stirn. Endlich war ich wieder im-muhen gegen diesen
oberpeinlichen Liebeskummer!
»Nahm-Ast-Tee!«, sagte ich zu mir selbst und verbeugte mich
feierlich.
Kapitel 4

Ab heute wird Reh-bell-irrt

»Nicht kippeln!« Mamas Augenbrauen zogen sich gefährlich


zusammen. Felix, mein längster Freund, zuckte erschrocken
und stellte gehorsam den Stuhl gerade. Mama war sauer, ihre
Stirn hatte sich ohnehin schon bis zur Mittelstation
hochgekräuselt, weil ich aus ihrem heiligen Gemüse-Riss-
Otto die Karotten herausgepopelt hatte und Felix die Paprika.
Mein Bruder Linus, der Feigling, hatte es vorgezogen, sich zu
verdrücken, anstatt sich dem »Angriff der Killer-Fitter-Miene«
wie ein Held entgegenzustellen.
Wenn ich ehrlich war, war ich sogar ganz froh um ein Fast-
Gewitter und die Anwesenheit meiner Mama. Vor dem
Küchenfenster braute sich ein drohend gelber Wolkenhimmel
zusammen. Wenn es jetzt blitzte und donnerte, brauchte ich
wenigstens nicht mit Felix zu reden, der schon nervös darauf
wartete, allein mit mir zu reden. Bestimmt wollte er über
Svenja sprechen. Und was sollte ich ihm schon sagen? Dass
er seine Liebesmüh nicht weiter vergeben solle? Dass sie an
jemand anderen dachte? Das konnte ich ihm nicht antun!
Stattdessen beschloss ich, Felix abzulenken und sein Problem
erst einmal hinten anzustellen.
»Was soll ich für die Zeitung machen?«, quengelte ich also und
schob aus meinen übrigen Karotten eine Silo-hätte von einem
Baum zusammen. »Es soll was Interessantes sein und was
alle Kinder was angeht.«
»Witze?«, fragte Felix, der an einer Paprikatreppe arbeitete.
»Darf ich nicht.«
»Mist.«
»Was ndest du denn selbst interessant?«, fragte meine
Mutter dazwischen. »Was liest du denn gern in der
Schülerzeitung?«
»Witze?«, sagte ich zögerlich.
»Mist«, sagte Felix.
Dann schwiegen wir wieder und schoben weiter ohne großen
A.P.-Tritt unser Gemüse auf dem Teller umher.
»Du wirst schon was nden, Mira, du wirst bestimmt etwas
Schönes schreiben! Du musst nur fest an dich glauben!«,
mischte sich Mama ein.
Was für ein blöder Spruch war das denn? Hatte Mama nicht
mittlerweile gelernt, dass sie mit ihren blöden Sprüchen, die
sie in ihrem Job benutzte, bei mir überhaupt nichts
ausrichtete? Da schleppte man sie schon zum Psycho-Locken

und dann hatte sie nur diese nullachtfünfzehn-Weisheiten zu


bieten? In mir stieg echtes Donnergrollen auf.
»Na toll«, fuhr ich aus der Haut, »ist das dein Ernst? Ich muss
nur an mich glauben! Dann kann ich ganz plötzlich
schreiben, besser schreiben. Rechtschreiben. Linksschreiben,
Schönschreiben. Dann dreht sich alles für mich richtig! Nur
weil ich dran glaube … Haha!« Meine Stimme kiekste ganz
aufgeregt nach oben. Ich war aufgesprungen, der Stuhl kippte
um und krachte laut auf den Fliesenboden. Ich wütete weiter:
»Glaubst du eigentlich, bei mir lösen sich die Probleme
einfach so, nur weil ich dran glaube? Glaubst du, ich habe im
letzten Jahr nur nicht genug an mich geglaubt?«
Wutblitzfunkelnd drehte ich mich um und riss aus Versehen
meinen Teller mit. Die ganze schöne Boot-an-Nick und die
Reiskörner hagelten auf den Küchenfußboden. Eine elende
Sauerei!
Noch dazu hörte man es draußen jetzt tatsächlich hageln, die
ersten Körner prasselten waagrecht gegen das Küchenfenster.
Ich wartete auf Mamas Zurückgeschimpfe, aber das blieb aus
– oh Wunder. Kein Mama-Wolkenbruch. Stattdessen kehrte
sie nur schweigend die Essensreste zusammen. Und erst an
der Spüle, als sie mir den Rücken zuwandte, hörte ich sie
sagen: »Ich weiß, dass es für dich im letzten Jahr nicht leicht
war.« Dann klapperte sie weiter.
»Frag doch uns«, kam es da von Felix, der mein Tempo-

rammend schon lange genug kennt und meistens ruhig


bleiben kann. »Mach doch eine Umfrage …«
»Eine Umfrage?«, fragte ich – und die Stimme klang immer
noch ein bisschen hoch und quietschig. »Was soll ich denn
fragen? Isst du lieber Karotte oder Paprika? Magst du lieber
Deutsch als Mathe? …« Eine Umfrage war doch das, was mir
der Rundlauf vorgeschlagen hatte. Aber genau das war ja das
Problem – mir el einfach nichts Gescheites ein, was man
hätte umfragen können.
»Soo meine ich es nicht …«, wollte Felix einschieben, aber ich
war leider immer noch in Fahrt: »… lieber den FC Bayern oder
die Dortmünder … Oder noch größere Schwachsinnigkeiten?
Wie wäre es mit: Liebst du eher blonde, hübsche Mädchen
oder freche mit Sommersprossen und kleinen
Leseschwächen? Und die Mädchen frage ich: Magst du eher
Mauerblümchen oder Maulaufreiß…«
Da musste ich mir selbst auf die Zunge beißen. Autsch, das
war zu viel! Da war ich mit meiner schlechten Gewitterlaune
zu weit gegangen.
Erschrocken sah ich Felix an, der von einer Sekunde auf die
nächste feuerrot angelaufen war. Ich musste schnell handeln.
»So habe ich es nicht gemeint!«, presste ich eilig hervor. Zum
Glück trug Mama gerade Flaschen in den Keller, sodass sie
nichts mitbekommen hatte. Hoffentlich.
»Es hat niemand gehört, Felix«, üsterte ich ihm schnell zu,
bevor Mama wieder auftauchte. »Entschuldigung. Es mut tir
leid. Ich hör schon auf, sonst rede ich mich noch um Kropf
und Kagen.«
Doch Felix nahm weder meine Entschuldigung an. Noch ng
er mein Lächeln auf. Und die unbeholfene Aufforderung zum
Buchstabendreherspiel schon gar nicht. Stattdessen stand er
auf, ging stumm zur Tür, zog sich an, machte sich gar nicht
erst die Mühe, die Schuhe richtig zu binden, und ergriff mit
heruntergetretenen Fersen die Flucht. Mitten hinein in das
Donnern und den Hagel-Schnee.
Dann war er fort. Ich schlich geschockt in die Küche zurück
und setzte mich wieder hin.

Mama, die hinter mir gerade die Kellertreppe herauf- und in


die Küche kam, fragte mich ganz erstaunt: »Was war denn
jetzt? Warum ist er denn gegangen?«
Meine Antwort kam zerknirscht, traurig und vernuschelt:
»Habwohlwasfalschesgesagt …«
»Aha«, machte Mama. Spätestens da war mir klar, dass jetzt
ich das Donnerwetter abbekam, das sich die ganze Zeit schon
zusammengebraut hatte. »Du musst endlich mal lernen,
weniger im-Puls-Siff zu sein, Mira! Du siehst ja, was du mit
deinen Wutanfällen erreichst. Deine besten Freunde ergreifen
schon die Flucht!«
»Aber das hat doch einen ganz anderen Gr…«
»Egal welcher Grund, Felix hat dir doch nichts getan!«
»Aber …«
»Nicht kippeln!«, unterbrach mich Mama. Ihre Augenbrauen
waren eine einzige drohende Furche! »Ja, du hast es schwer
gehabt im letzten Jahr. Ja, du wurdest gemoppt. Das wissen
wir. Aber musst du jetzt immer noch so kratzbürstig sein und
wütend und ungerecht? Musst du immer nur an dich
denken?«
Sie blickte mir unter ihrem Zorn-Vordach direkt in die Augen.
»Sonst stößt du bald auch noch alle vor den Kopf, die es gut
mit dir meinen.«
Mit einem entschiedenen Nicken bedeutete Mama mir, ich
solle noch den Tisch abräumen. Für sie war die Diss-Kuss-

John damit beendet. Stattdessen wechselte sie das Thema:


»Und überhaupt, hast du heute schon deine zehn täglichen
Lernwörter abgeschrieben?«
Lernwörter? Trotzig blieb ich sitzen. Mama hatte so gar keine
Ahnung, um was es hier wirklich ging. Aber jetzt hatten sich
alle Mächte gegen mich verschworen: Irgendjemand hatte mir
die Stuhlbeine weggezogen. Ich war’s nicht. Irgendjemand,
vielleicht die Schicksalsfee, der Kippelgott oder sonst
irgendjemand, der mich beobachtet hat und kleine Sünden
sofort bestraft.

Das Ergebnis:
pochender Handballen
blauer Ellenbogen
1 Regen aus eklig stinkenden Paprikastückchen im Haar
367 Scherben, Reiskörner und Splitter
1 Erschrecken von Mama, als sie einen roten Fleck auf
meiner Stirn sieht
1 Erleichterung, als sie sieht, dass es nur indische Weisheit
und kein Blut ist
1 Donnerwetter von meiner stinkesauren Mama
1 großes Aufräumen für mich
1 großes Aufbäumen von mir
10 Lernwörter, die ich noch lernen muss +
10 Extra-Lernwörter
= Mira hat eine Scheißlaune

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war die Stinkelaune


einigermaßen ver ogen. Dafür sah man mir die Aufregung
immer noch deutlich an: Meine Strähnen standen in spitzen
Stacheln vom Kopf ab. Mit dem verschmierten roten Punkt
auf der Stirn und den Strubbelhaaren sah ich aus wie eine
durchgeknallte indische Wahrsagerin, die nix in ihrer Kugel
erkennen kann.
Immerhin hatte das Haargeraufe auch was Gutes, weil ich
tatsächlich eine Idee hatte, mit der ich in die Schülerzeitungs-
AG gehen konnte. Ich hatte an Kummerkarsten denken
müssen, der mir diesen ganzen Quatsch eingebrockt hatte.
Und da kam mir die Lösung: Mira Kurz wird zu Dr. Ku.
Dr. Ku, die Kummerkasten-Tante.
Einen Kummerkasten würde ich aufstellen. Groß, bunt,
auffällig müsste der sein. Jeder sollte ihn gleich sehen
können. Da könnte dann jeder seine Beschwerden oder seine
Probleme loswerden. Einen Zettel würde ich draufkleben: »Dr.
Ku – womit kann ich helfen?«
Doch bevor ich das in die Tat umsetzen konnte, musste ich
die Sache von gestern geradebiegen, bevor noch mehr
schiefging.

Fünf Minuten vor dem üblichen Termin klingelte ich an Felix’


Haustür, um heute ausnahmsweise mal ihn abzuholen. Mein
Herz klopfte schneller als jeder vorbeidonnernde Lkw, am
liebsten hätte ich mich gleich wieder aus dem Staub gemacht.
Nur weil Felix schon schulfertig direkt hinter der Haustür
stand und sie gleich aufriss, konnte ich nicht mehr iehen. Er
sah mich erstaunt an und kaute die letzten Bissen
Marmeladebrot runter.
»Hör zu, ich war ungerecht gestern. Es mut tir leid«, sagte ich
atemlos. »Soll wie nieder vorkommen.«
Aber Felix war zu meiner Überraschung gar nicht so mies
drauf wie befürchtet.
»Mira uch«, sagte er und grinste.
»Häh?«
»Mira uch!«, wiederholte Felix. Im Geist ging ich alle
Wortdrehereien durch, die dieser Ausdruck hergab. Nix
passte.
»Häh? Ist das ein Buchstabendreher?«
»Nee, das ist ein neues Spiel, das ich mir heute Morgen
ausgedacht habe: Man hängt einfach den ersten Buchstaben
des nächsten Wortes an das vordere. Mira uch heißt Mir auch.
Mir tut’s auch leid.«
Da musste ich auch grinsen. »Was tut dir denn leid? Du hast
doch gar nichts gesagt.«
Mit einem Mal wurde plötzlich Felix fast ein bisschen
verlegen. Er druckste rum, tat so, als binde er sich die
Schuhe zu, und nuschelte nach unten: »Ich dachte, du bist
vielleicht sauer, weil ich dich, äh, nein, Svenja und nicht dich
… also, weil ich in Svenja und nicht in dich, obwohl wir doch
…«
Ungeduldig unterbrach ich ihn: »Du meinst, ich wäre
eifersüchtig?«
Ich konnte Felix’ Hinterkopf nicken sehen, während er die
Schleife an seinem rechten Schuh nun schon zum dritten Mal
band.
»So ein Quatsch. Ich bin nicht eifersüchtig«, sagte ich im
Brustton der Überzeugung.
Das war nicht ganz wahr, aber auch nicht ganz falsch. Ich
war eifersüchtig auf Svenja, aber anders als Felix meinte:
Verliebt war ich in Felix nicht. So ein Unsinn, man kann doch
nicht in seinen Quasi-Bruder verliebt sein! Aber manchmal
war es einfach nicht fair, dass alle sich um Svenja scharten,
während ich immer noch um jedes Wort und jedes Spiel und
jeden Witz kämpfen musste. Manchmal kam ich mir da vor,
als wäre ich total unwichtig und dazu noch im Kopf
linksverdreht statt richtig rum.
Aber das war nichts, was ich jemals laut ausgesprochen
hätte. Stattdessen sagte ich zu Felix: »Versiebtlein nde ich
sowieso nur doof. Macht nix als Ärger.« Mit dem Zeige nger
tippte ich auf meinen roten Punkt. »Ich bin weise und im-

muhen dagegen. Schau!«


»Ahs o«, sagte Felix wortverdreht.
»Und dub ist mehr som ein Bruder« – Felix’ neues Wortspiel
war eigentlich ganz einfach, wenn man erst mal die Regeln
begriffen hatte.
»Und du bei Mira uch. Mehr so einb Ruder.«
Damit war alles Wichtige gesagt, und wir Irgendwie-Brüder
konnten nun endlich Svenja abholen. Weißt du jetzt, warum
ich manchmal lieber mit Jungs spiele als mit Mädchen? Weil
man mit denen immer alles schnell geregelt bekommt. Ohne
Fiese-mahnt-Enten und so.

Sagte ich: ohne Fiese-mahnt-Enten? Mit Jungs? Mit


Männern?
Okay, das nehme ich zurück. Denn mit Papa war mal wieder
alles ganz anders.
»Was willst du haben?«, schimpfte er. »Unser Vogelhäuschen?«
Er stemmte beide Arme auf den Küchentisch: »Hast du ’ne
Meise?«, zeterte er, völlig aus dem Häuschen.
Ich schluckte. »Nein, habe ich nicht.« Ich schluckte noch mal:
»Aber da war in diesem ganzen Winter noch kein einziger
Vogel, Papa! Die gehen alle rüber zu Svenja.«
»Ja, weil Svenja und ihre Mutter Sonnenblumenkerne füttern.
Wenn die Vögel Sonnenblumenkerne bekommen können,
mögen sie unsere Billigkörner natürlich nicht! Würden wir
auch Sonnenblumenkerne nehmen, dann …«
»Papa, auch dann kämen sie nicht. Das Loch ist zu klein. Du
und Linus habt den Einstieg zu klein gemacht. Da traut sich
keine einzige Meise rein.«
»Fünf Stunden haben wir daran gesägt, Mira! Hättest ja mal
vorher was sagen können. Du hast es sogar noch bunt
angemalt! Und jetzt willst du es einfach so Dämm-Moll-

irren!«

»Papa«, verteidigte ich mich, »ich will es doch gar nicht kaputt
machen. Ich will es nur anders benutzen! Es hat doch so eine
tolle Klappe am Dach. Außerdem bleibt es da, wo es hinsoll,
die ganze Zeit im Trockenen, und es würde auch kein Vogel
mehr draufkacken können. Papa! Bitte! Bitte! Büüüüttte!« Ich
klimperte Tee-Art-Drall-List mit den Wimpern.
»Und als was willst du es dann benutzen, bitte?«
»Als Kummerkasten.«
»Als Kummerkasten? Hä?«, fragte Papa verständnislos.
»Ja, als Kummerkasten. Für unsere Rett-Aktion.« Und
nachdem Papa immer noch nicht besänftigt war: »Ihr wollt
doch unbedingt, dass ich bei der Schülerzeitung mitmache!
Ich soll mehr schreiben, mehr lernen, blabla …«
Jetzt guckte er streng.
»Will ich ja auch«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich will ja
schreiben. Aber eben als Kummerkasten-Tante. Papa, bitte.
Bitte. Bütttee!«
Papa dachte angestrengt nach.
»Also gut«, seufzte er, »wenn du mir beweist, dass das
Vogelhäuschen wirklich nicht benutzt wird. Wenn wir nur
einen einzigen Vogeldreck darauf nden, dann bleibt es da,
wo es hingehört – im Garten.«
Ich hatte Glück: Selbst wenn ein Vogel darauf gekackt hatte,
der viele Schnee der letzten Tage hatte es längst wieder
weggewaschen. Das Häuschen war völlig unverkackt – die
Körner darin nicht mal angepickt.

Zur nächsten Rett-Aktions-Sitzung durfte ich mein


Vogelhäuschen mitnehmen. Auch die Schülerzeitungs-Che n,
der Rundlauf, hatte nichts dagegen, im Gegenteil: »Das ist
eine richtig gute Idee, Mira, vielleicht bekommen wir dadurch
sogar noch ein paar mehr Anregungen für weitere Art-Igel!«

Gleich nach unserer Rett-Aktions-Sitzung brachten wir das


Vogelhäuschen an – mitten im Flur, am Schwarzen Brett.
Darauf hatte ich noch unter drei Lagen Tesa einen Zettel
festgeklebt:

Wo drückt der Schu?

Sag es Dr. Ku,

– die Kummerkasten-Tante

der Schülerzeitung

Der Rundlauf und der Maulaufreißer hielten den neuen


Kummerkasten fest, während ich und Svenja hämmerten.
Svenja hatte mich, wie versprochen, abgeholt und grinste jetzt
dämlich den Maulaufreißer an. Zweimal schon hatte sie sich
vor lauter Gucken mit dem Hammer auf den Finger
geschlagen. Aber das schien weder sie gespürt noch er
gesehen zu haben. Wenn es so weiterging, mussten wir bald
einen Rettungswagen in die Rett-Aktion bestellen.
Svenja schien jedoch keine Am-Pool-Lanze zu benötigen,
denn der Maulaufreißer säuselte meine Freundin an: »Du
kannst aber gut hämmern.«
Ach. Du. Liebe. Zeit. Der war sich echt für nichts zu schade!
Wie bekloppt war denn der Spruch? Und warum merkte
Svenja, meine hübsche, meine nette, meine schlaue Svenja
nicht, wie behämmert das klang? Nein, Svenja strahlte ihr
»Du bist der Größte«-Lächeln und hieb mit zwei Schlägen den
nächsten Nagel krumm. Den musste ich erst wieder mühsam
rausziehen und dann einen zweiten mit zwei Schlägen pro -
mäßig in der Wand versenken. Aber Tipp-Pirsch, das sah der
Maulaufreißer nicht. Stattdessen mäkelte er an meinem Zettel
rum: »Schuh schreibt man aber nicht Schu, sondern mit h.«
Blödmann!
»Aber sonst hätte es sich nicht gereimt, du Hirn-nie«,

schnappte ich zurück und drosch lautstark den letzten Nagel


in die Wand.
Gerade als das Vogelhäuschen endlich bombenfest unter dem
Schwarzen Brett hing, gab es ein ultralautes Gepolter.
Der Maulaufreißer war über die Werkzeugkiste gestolpert.
Ups. Stand wohl im Weg.

Der nächste Morgen begann mit Glatteis, schillernd und


klirrend kalt. Als wir endlich in die Schule gelangten, waren
nicht nur unsere Hände, sondern auch unsere Worte
eingefroren hinter den dicken Schals, die Felix, Svenja und
ich uns umgeschlungen hatten. Man konnte es gleich sehen:
Um das Schwarze Brett hatte sich eine große, neugierige
Menschentraube gebildet. Mann, ich hatte nicht gedacht,
dass mein Kummerhäuschen gleich so viel Pups-Likum

bekommen würde.
Aber sobald man genauer hinsah, sah man auch, warum die
Menschenmenge da neugierig herumstand. Am Schwarzen
Brett hatte sich unsere tadellose Reck-Tor-in aufgebaut, in
einem – wie immer – knitter- und eckenfreien blauen
Hosenanzug. Das aber war nicht das Bemerkenswerte. Das
Bemerkenswerte war die Kneifzange in ihrer Hand. Und die
setzte sie gerade an den Nägeln von meinem
Kummerhäuschen an. Drei Nägel hatte sie wohl schon
gezogen und meinen Kummerkasten in eine gefährliche
Schie age versetzt. Der halb abgerissene Zettel »Wo drückt
der Schu…« hing welk herunter.
Bis zu uns, und wir standen bestimmt zehn Meter weit weg,
konnte man das Gezeter der Tadellosen hören. »Eine
Unverschämtheit … eine Reh-Woll-Lotion … in unserer
Grundschule … eine Unverschämtheit …« Irgendwann hatte
sie einen besonders widerspenstigen Nagel in der Zange.
»Weiß jetzt jemand von euch, wer diesen Kasten hier
aufgehängt hat?«, fragte sie knurrend.
Kopfschütteln.
Schulterzucken.
Gemurmel.
Meine Freundin sah mich erschrocken an. Ich guckte
erschrocken zurück. Half aber nichts, dem Sturm musste ich
mich stellen.
»Ich«, rief ich heiser über die Köpfe hinweg. Die Worte kamen
noch etwas steif gefroren aus meinem Mund. »Ich war das!«
»Du?«, fragte die tadellose Reck-Tor-in und blinzelte mich
ungläubig an, während sie heftig an dem Kummerhäuschen
rupfte. Mit einem ekelhaften Quietschen gab es nach, und
schließlich klemmte es traurig unter dem Arm der Tadellosen.
Sie stürmte geradewegs auf mich zu. »Wie kommst du dazu,
ungefragt so was hier aufzuhängen?« Ihre Stimme klang
bedrohlich scharf, wie immer, wenn sie sauer war.
»Ich habe doch gefragt«, gab ich zurück.
»Wen?«
»Frau … äh …« Wie hieß der Rundlauf gleich wieder richtig?
Den Namen hatte ich Nicht-Namen-Merker natürlich schon
wieder vergessen. »Frauäh…« Mist, ich war aufgeschmissen!
»Frau Laufheuser, die Chef-Rett-Akt-Öhr-in von der
Schülerzeitung«, kam es da plötzlich von hinten. Irgendwo
inmitten einer Gruppe von Vierties stand der Maulaufreißer.
»Aha«, machte der Blaumann mit der Reck-Tor-in drin. »Weiß
sie denn nicht, dass ich das erst genehmigen muss?«
»Wusste ich auch nicht«, entfuhr es mir.
»Du musst es aber wissen, das steht in der Schulordnung!
Wort für Wort!« Schwups, schon hatte sie ihren Schuldigen
gefunden.
»Aber …«, meine Zunge klebte festgefroren am Gaumen. Ich
konnte nichts sagen. Alle Augen ruhten auf mir. Der Blick von
der Blaumann-Reck-Tor-in hätte bestimmt eine
ausgewachsene Gans auf der Stelle schockfrosten können.
In meinem Rücken raschelte es. Direkt hinter mir stand
jemand. Und dann sagte mir dieser Jemand ein, jemand, der
viel Übung im Vorsagen zu haben schien: Er – nein, es war
eine Sie – sprach überdeutlich, aber dennoch leise genug, um
von anderen nicht gehört zu werden:
»Das stimmt nicht!«
Die Einsagerin fuhr fort: »Es steht nirgends in der
Schulordnung, dass man eine Erlaubnis dafür braucht, um
etwas aufzuhängen.«
Derweil wiederholte die Reck-Tor-in noch einmal: »Das steht
in der Schulordnung. Wort für Wort.«
Während sie unaufhörlich näher kam, drehte ich mich
blitzschnell um. Ganz nah hinter mir beugte sich die
Anstreberin über ihren Ranzen und üsterte: »Steht’s nicht.
Die Schulordnung kenn ich auswendig. Da steht nix davon!«
Wow, ich war völlig per-Klecks vor Staunen, früher hätte die
Anstreberin mir nie eingesagt!
Der Eisberg in meinem Mund schmolz augenblicklich.
»Steht’s nicht«, konnte ich klar herausbringen. »In der
Schulordnung steht nirgends, dass man eine Erlaubnis
braucht, um etwas aufzuhängen.« Und dann el mir noch ein
böser Nachsatz ein, den ich mir nicht verkneifen konnte: »Ich
weiß das. Sie haben mich die Regeln ja oft genug abschreiben
lassen im letzten Jahr.«
Stille.
Der Blaumann schnappte empört nach Luft. Zwei … drei …
vier … fünf … Atemzüge brauchte sie, um wieder Herrin der
Lage zu werden.
Ich setzte nach und konnte nur hoffen, dass es jetzt
freundlicher klang: »Wenn ich jetzt trotzdem frage,
nachträglich frage, sozusagen? Darf der Kasten dann hängen
bleiben?«
»Nein!« Sie hatte sich wieder gefasst. »Du hättest vorher fragen
müssen.«
Mir blieb die Spucke weg. Gemurmel machte sich breit. »Das
kann sie nicht machen«, empörte sich Svenja. Felix nickte.
Besonders laut brodelte es unter den Vierties.
Der Maulaufreißer übernahm das Wort: »Was Sie machen, ist
gegen die Pressefreiheit, und da gibt’s auch irgendein Gesetz!«
»Jawoll!«, machte jemand hinter dem Maulaufreißer.
»Jawoll!«, machte ich. Nur leiser.
Wortlos knallte der Blaumann meinen Kummerkasten vor mir
auf den Boden. Es schepperte grässlich.
»Das wird Komm-säg-wenn-Zehen haben!«, fauchte die
Reck-Tor-in und ging. Immer müssen die Lehrer recht
behalten. Auch wenn das Gesetz gegen sie steht!
Wenn ich könnte, würde ich mich gleich selbst bei Dr. Ku
darüber beklagen.
Kapitel 5

Voll der Abt-Hörner!

»Wald?«
»W-A-L-T«, buchstabierte ich für Mama.
Mama seufzte: »Du weißt doch, dass man das Wort verlängern
muss, dann ist klar, ob hinten ein D oder T kommt.
Waaaldddd wird zu Wäääälddddddder.« Mama, die am Steuer
saß, blinkte, guckte und bog rechts ab.
Ich saß hinten und wiederholte gehorsam: »W-E-L-D-E-R.«
Mama seufzte: »Und vorne, was kommt vorne hin?«
»Ein F?«, fragte ich vorsichtig. Diesen Buchstaben konnte
man ja nie trauen. Erst recht, wenn Mama mich abfragte,
dann schlug bei mir immer irgendein Buchstabe im Wort
einen komischen Haken.
»Als zweiter Buchstabe?« Mamas Ton klang schon ziemlich
genervt, vor allem weil gerade vor ihr die Ampel auf Gelb
geschaltet hatte. Sie bremste so stark, dass ich nicken
musste.
»Ein E?«, fragte ich vorsichtig.
»Wald wird zu Wälder, das hatten wir gerade, Mira.«
»Ein Ä?«, fragte ich also gehorsam.
»Richtig.« Mit einem zufriedenen Nicken gab Mama wieder
Gas.

»Gebäude«, Mama dehnte das Wort extra lang. »Buchstabiere


mal Gebäude. Kleiner Tipp: Du musst gucken, welches Wort
da drinnensteckt.«
»G-E-H-B-E-U-D-E.«
Noch einmal trat Mama ab-roppt auf die Bremse und ich
musste nicken. Dieses Mal hatte vor ihr jemand ausgeparkt,
ohne nach hinten zu gucken. Jetzt wusste Mama nicht, wen
sie zuerst schimpfen sollte: Die blinde Nuss vor oder die taube
Nuss hinter ihr. Hinter ihr gewann: »Mensch Mira, Du hörst
mir einfach nicht richtig zu! Du könntest mal richtig
nachdenken, dann würdest du nicht so viel Fehler machen.
Geeebäude. Mit E. Ohne H. Das hat was mit Bauen zu tun,
nicht mit Gehen.«
Mittlerweile hatte Mama in die freie Parklücke eingeparkt,
ging zum Kofferraum und holte die Einkaufstaschen raus. Sie
hatte sich angewöhnt, mich meine täglichen zehn Lernwörter
immer dann abzufragen, wenn auch sie sehr beschäftigt war.
Also wenn wir einkaufen gingen, sie das Abendessen
schnippelte oder Hosen stopfte. Sie sagte, so könne man das
Nützliche mit dem Nützlichen verbinden. Sie hat schließlich
nicht viel Zeit, weil sie als C-O-A-C-H so viel arbeiten muss
h
(ich schreibe immer Koch, das klingt besser verdaulich).
Was auch hieß, dass sie sich nicht viel Zeit nahm, mit mir die
Buchstaben in die richtige Reihenfolge zu fädeln. Und ich es
dann erst recht nicht auf die Reihe kriegte, ver ixt und
zugenäht.
»Bruder«, dick-Tier-Tee sie als Nächstes, als wir schon längst
im Supermarkt waren.
»B-R-U-D-A-L.«
Mama nickte abgelenkt: »Schön, richtig.« Sie war zu sehr
damit beschäftigt, auf den Eh-Tick-Ketten zu entziffern, aus
welchem Land gerade die Kartoffeln kamen.
»Fahrrad«, murmelte sie und prüfte derweil die Reife der
Mann-groß.

»F-A-R-R-A-T.«
Jetzt wurde Mama doch noch richtig zornig. »Habe ich dir
nicht gerade gesagt, du sollst darauf achten, welche anderen
Wörter in dem Wort drin stecken? Also was ist im Fahrrad
wohl drin?«
»Fahren?«, fragte ich.
»Uuund?«
»Raten?«
Mama knallte wütend das Obst in den Einkaufskorb. »So hat
es keinen Zweck mit dir! Du gibst dir einfach keine Mühe. Du
musst dich einfach besser komm-zehn-Tieren! Ab sofort
musst du die Wörter abschreiben. Jedes zehnmal, dann
kannst sie dir vielleicht besser merken.«
Mit düsterer Miene stand ich beim Einkaufskorb. Mein E-I-S,
(das konnte ich immer einwandfrei buchstabieren!) konnte ich
bestimmt vergessen.
Stattdessen fauchte Mama: »Milch!«
Ich wollte schon brav wieder anfangen: »M-I-L- …«, da sagte
Mama: »Hol du mal die Milch!«
Brav zog ich ab. »Wir brauchen noch ein
Geburtstagsgeschenk für Felix, die Party ist am Dienstag«, rief
ich ihr noch über meine Schulter zu.

Und so kam es, dass ich jeden Abend das Zehner-Einmaleins


wiederholen musste 10x1, 10x2, 10x3 … 10x10 Lernwörter.
Wenn ich von 10x10=100 Wörtern nur bis zu drei falsch
abgeschrieben hatte, sollte ich ein Eis als Nachtisch
bekommen. Als Belohnung.
»Du schaffst das schon, du musst nur an dich glauben«, hatte
Mama versucht mich aufzumuntern.
»Pff«, machte mein großer Bruder Linus verächtlich. »Glauben
heißt nichts wissen!« Ohne dass Mama es hören oder sehen
konnte, langte er nach der Munter-Monika auf meinem
Tisch. Linus konnte ganz prima lesen und schreiben, rechts
wie links. Und das musste er mir bei jeder Gelegenheit
reindrücken, dieser blöde Rechtschreib-Rechthaber.
»Hey, die gehört nicht dir!« Ich schlug ihm auf seine Finger,
vielleicht ein kleines bisschen heftiger, weil er gerade so blöd
gewesen war. Linus nahm erschrocken die Hand von der
Munter-Monika.
»Ich hab gedacht, das ist deine«, sagte er zu seiner
Entschuldigung.
»Nee, das ist Felix’ Geburtstagsgeschenk. Denken heißt eben
nix wissen!«

Das Eis-Versprechen hieß übrigens, dass ich nie eins bekam


und immer hungrig zu Bett gehen musste. Weißt du, wie das
ist, mit einer Rechtschreibschwäche? Hast du auch eine? Für
Leute wie meinen längsten Freund Felix oder meinen
schlauen Bruder Linus sind Wörter immer alte Bekannte – sie
wissen, wer das ist und wie man sie schreibt. Ich hingegen
muss sie immer wieder neu kennenlernen, ihnen brav die
Hand schütteln und von dem ganzen Geschüttel geraten die
Buchstaben dann immer wieder durcheinander.
Dann steht da nach fünfmal richtig F-a-h-r-r-a-d als
Fahrad, dann Fahrra, dann Fahrrat, dann Verrat
Nächstes
und zum Schluss fahrrad. Nur wenn ich mich wirklich,
wirklich, wirklich fest komm-zehn-Tiere, dann komme ich
auf zehn richtige Wörter. Aber so viel Kraft habe ich selten.
Oder so viel Weisheit.

Nicht mal indische Weisheit. Denn als Mama am dritten


Abend meine Blätter mit Rotstift Chor-Reck-gierte und schon
wieder damit an ng, dass ich mich mehr anstrengen müsse,
lieh ich mir kurzerhand den Stift, malte mir den indischen
Punkt auf die Stirn und sagte frech zu ihr: »Das ist mein
inneres Auge, das hilft mir beim Komm-zehn-Tieren!«
»Na, hoffentlich«, seufzte Mama und gab es für diesen Abend
auf. Ein Eis aber hatte sie eisig abgelehnt: »Du kennst die
Regeln!«

Pah, ich hasse eure dummen Regeln!

Jawoll, das tue ich! Ich hasse nicht nur die Regeln von Mama
oder Rechtschreibregeln, sondern – und das ganz besonders –
die Regeln unserer tadellosen Reck-Tor-in. Die war, seitdem
sie neulich wegen des Häuschens so aus dem Häuschen war,
ziemlich am Durchdrehen. Zuallererst hatte sie mal unsere
Schulordnung überarbeitet. Nicht nur, dass es jetzt einen
Paar-A-Grafen gab, der festschrieb:
11. Papiere, Plakate, Einladungen, Gegenstände dürfen nur in Absprache
mit der Schulleitung aufgehängt werden.

Und weil sie wohl so in Arbeitswut war, hatte sie gleich noch
ein paar mehr neue Paar-A-Grafen drangehängt. Da stand
jetzt was von:
12. Wir trennen und vermeiden Müll, und wir verschwenden weder Wasser
noch Papier.
13. Wir haben immer unsere Unterrichtsmaterialien dabei.
14. Bei Lehrerwechsel bereiten wir uns selbstständig auf den nächsten
Unterricht vor.
Mich fragte ja keiner, aber wenn mich jemand gefragt hätte,
dann hätte da auch noch als Regel 15 stehen können:
Es ist verboten, eine Beschwerde in den Kummerkasten einzuwerfen. Hier
braucht sich niemand zu beschweren!

Denn es war gerade so, als würde das tatsächlich in unserer


neuen Schulordnung stehen. Die tadellose Reck-Tor-in hatte
mir zwar erlaubt, mein Dr. Ku-Kummerkasten-Häuschen
wieder aufzuhängen, aber sie hatte genau daneben die neue
Schulordnung aufgehängt. Was für ein Abt-Hörner! Kein
Mensch würde jetzt noch was einwerfen wollen, wenn das
Regel-Plakat in Signal-Ohr-Ramsch alles bewachte. Da
mochte die Tadellose noch so viel lustige Kinder, Bälle, bunte
Drachen mit draufgedruckt haben – alles nur Tarnung! Das
Plakat verbreitete nur Angst und Schrecken.
Täglich komm-Troll-irrte ich, ob mir jemand eine Nachricht
hinterlassen hatte. Viel fand ich nicht: ein leeres
Bonbonpapier, einen Apfelrest und ein kleines Stückchen
Ohr-Ramsch-rotes Papier, in dem ein alter Kaugummi klebte.
Auf der Schulordnung fehlte eine Ecke, dafür prangte ein
Herz in der anderen Ecke, mit zwei Buchstaben drin: S und T.
Auch nach einem neuen Wochenende gab es zwar immer noch
keine Post für Dr. Ku, aber jetzt waren alle Kinder auf dem
Plakat ausgemalt. Natürlich nicht so fein, wie wir das immer
mit unseren Hefteinträgen in Reh-lieg-John machen sollen,
sondern – na ja, anders eben. Die Mädchen hatten alle
kreisrunde Busen bekommen und die Jungs ein paar
zusätzliche Beulen auf dem Hosenschlitz. Das war mir so
peinlich, dass ich erst einmal gar nicht mehr zum

T
Kummerkasten ging. Sonst dachte die oberstrenge Reck-Tor-

in noch, ich würde hinter diesen Schmierereien stecken!


Am Dienstag dann war das Ohr-Ramsch-rote Plakat sowieso
verschwunden. Jetzt hing ein giftgrünes da – ganz ohne
irgendwelche Bildchen drum herum, nur noch 14 nackte
Paar-A-Grafen. Nein, falsch, jetzt waren es tatsächlich schon
15 Regeln.
Hinzugekommen war:
15. Wer Schuleigentum kaputt macht, beschmiert oder sonst wie
beschädigt, wird streng bestraft. Das gilt auch für die Schul-, Pausen- und
Sportordnung.
Außerdem hätte ich schwören können, dass sich die tadellose
Reck-Tor-in nun höchstpersönlich auf die Lauer legte, um
über ihren Aushang zu wachen. Immer wenn ich jetzt den
Deckel von dem Kummerhäuschen hob, schoss sie um die
Ecke. Früher war sie in den Pausen immer nur in ihrem
Büro, jetzt war sie mit ihren Augen überall! Sie hatte mich
und meinen Kasten auf dem Kicker. Und so lange würde
bestimmt niemand etwas einschmeißen.

Aber viel Zeit, mich allzu sehr um den Kummerkasten zu


kümmern, hatte ich gerade sowieso nicht. Denn an dem
Dienstag, als die Tadellose das neue Regelwerk aufhängte, an
diesem Dienstag stieg ja die Party von meinem längsten
Freund Felix.
Sein Geschenk, die Munter-Monika, hatte ich ganz hübsch
verpackt und mit rotem Weisheitsstift Galles Ute auf das
Papier draufgeschrieben.
»Schankedön. Komm rein, ich habe eine Überraschung für
dich, Mira. Und, ach hallo, Svenja!« Felix strahlte, als hinter
meinem Rücken meine Freundin Svenja auftauchte.
Wohlerzogen wie immer, gab Svenja Felix die Hand:
»Herzlichen Glückwunsch.« Mit der anderen Hand reichte sie
ihm das Geschenk. Aber ich konnte sehen, dass Felix gar kein
Geschenk brauchte, denn ihre Hand, die er in seiner hielt,
war schon Geschenk genug. Er blickte kurz auf ihre beiden
Hände runter und grinste dümmlich.
Nein, das war schon nicht mehr dümmlich, das war noch
mehr baller-baller als Obelix seine Falballa immer anhimmelt.
Himmel-Arsch-und-Zwirn! Ich wünschte, ich hätte meinen
roten Stift mitgenommen, um mir einen Stirnpunkt zu malen.
Felix würde wahrscheinlich jetzt noch dastehen mit seiner
geschenkten Hand, wenn ich ihn nicht aus seiner Starre
geholt hätte: »Ey, was ist jetzt mit meiner Überraschung? Hier
draußen ist es kalt. Oder ist die Party draußen?«
Felix löste sich widerstrebend von unserer Freundin, ließ uns
beide rein und zeigte mir dann seine Überraschung. Seine
Miratisu gemacht und Mirinda eingekauft.
Mutter hatte
»Wenn man’s verdreht, Mirandi, steht dein Name drauf«,
meinte Felix und reichte mir eine kalte Flasche. Oh, da
musste ich wohl was klarstellen.
»Duhu…« Ich druckste ein bisschen verlegen herum. »Duhu,

T
ich liebe ja Tier-am-iss-U, aber ich mag eigentlich gar keine
Ohr-ramschen-Limo.«

»Aber ich!«, meldete sich fröhlich Svenja neben mir.


Felix schaltete sofort wieder in Obelix und Falballa-balla um.
Wortlos hielt er ihr die Flasche hin. Zweifellos hoffte er auf
eines ihrer besonderen Lächeln.
Während des Kuchenessens – er hatte mit Extra-Sitzkärtchen
Svenja neben sich platziert – blieb sein Blick auf ihr kleben.
Aber der Arme, Svenja sah das gar nicht! Sie malte
stattdessen mit dem Stift zum Beschriften unserer Getränke
das M ihrer Mirinda besonders hübsch aus: Da waren schon
Punkte drauf und gestrichelte Flächen und Blümchen
wuchsen aus den Füßen … Au Backe! Bestimmt dachte sie
gerade an ihren M, den M… aulaufreißer.
Mann, warum hatte Felix nicht Fanta kaufen können – mit F
wie F… elix? Jemand musste einschreiten! Ich musste
einschreiten!
»Kann ich mal den Stift haben?«, rempelte ich sie an.
»Hm?« Fal-balla-balla schreckte hoch. »Was willst du?«
»Den Stühüft!«
Sie reichte ihn mir wortlos.
Zum Glück war der Stift rot. Und ich konnte mir endlich,
endlich den roten Punkt auf meiner Stirn nachmalen. Den
Punkt konnte ich wirklich gut gebrauchen, denn nach dem
Kuchenessen und einem schrägen Häppchen-Bürst-ey-

Konzert ging die ganze Geburtstagsgesellschaft zum


Eislaufen. Was hieß, ich lief Schlittschuh – allein. Denn Felix
musste meiner Freundin Svenja helfen. Und die anderen drei
Jungs, die er eingeladen hatte – Zack (nach Felix der
Zweitkleinste unserer Klasse) und unser Klassensprecher
Thorsten und ein alter Krabbelgruppenfreund – spielten
Eisfangen.
Während ich also schnell und allein so meine Runden drehte,
konnte ich ganz viel beobachten. Fal-balla-balla und Obelix
zum Beispiel. Svenja konnte eigentlich gar nicht so schlecht
Schlittschuh fahren. Eigentlich. Sie traute sich nur nix. Also
blieb sie lieber vorsichtig an der Bande. Und Felix, sonst ein
echter Flitzer, blieb ritterlich die ganze Zeit neben ihr. Wie
langweilig!
Aber auch … wie schön! Felix war sehr, sehr süß zu ihr, und
geduldig, und hö ich und – ein echter Schatz! Schließlich
nahm er ihre Hände und zog sie durch die Halle. Die ganze
letzte Viertelstunde! Höllisch anstrengend musste das sein,
aber ihm schien es nichts auszumachen. Seine Haare, die
vorne aus dem Helm rausguckten, waren pitschnass
geschwitzt, seine Birne glühte so, als hätte sie jemand
komplett mit rotem Stift angepinselt.
Als ich sah, wie sehr er sich für Svenja anstrengte und wie
wichtig sie ihm war, hätte ich mich fast selbst in ihn verliebt.
Der hatte schon seine Qual-Lied-täten! Nicht so wie der
Maulaufreißer, der hatte nur eine große Klappe …
Kapitel 6

In Po-See geschmissen

»Ey!«, rief es hinter mir.


»Ey!«, rief es wieder.
Eine Jungenstimme. Ich konnte also nicht gemeint sein.
»Ey! Ey! Ey!« Da war wohl jemand schwer von Begriff.
»Ey! Mira!«
Ups.
Als ich mich umdrehte, blickte ich ihm direkt ins Auge – dem
Maulaufreißer. Atemlos stand er vor mir.
»Was gibt’s?«
»Ich«, der Maulaufreißer musste erst einmal nach Luft
schnappen, »will dich was fragen.«
»Aha?«
Jetzt hatte der Maulaufreißer genügend Luft, musste aber
erst noch seine ewig langen Po-nie-Haare aus dem Gesicht
schmeißen.
»Ich«, japste er, »will eine Umfrage machen. Für die
Schülerzeitung. Und du bist doch die Umfragentante.«
»Nee, ich habe doch schon ein Thema«, entgegnete ich. Was
gelogen war, denn mein leerer Kummerkasten machte mir
immer noch Kummer. Musste jedoch der Maulaufreißer nicht
wissen.
Wusste er aber: »Ach was, in deinen Kasten schmeißt doch eh
niemand was rein. Und bei der letzten Rett-Aktions-Sitzung

bist du nur rumgehockt.«


»Und?«
»Dann kannst du mir genauso gut mit meiner Umfrage
helfen!«
»Und bei welcher Umfrage soll ich dir helfen?«
»Na, diese:Willst du auch eine längere Pause? Brauchen wir
mehr Spielgeräte?«
»Oh, das wird spannend«, sagte ich, den irr-oh-Nischen

Unterton konnte ich mir nicht verkneifen. »Dann hast du 45-


mal Ja für Frage eins und 46-mal Ja für Frage zwei! Wie viele
Seiten wolltest du damit füllen?«
Der Maulaufreißer guckte ganz belämmert, sein langer Po-nie

hing ihm vor den Augen. Noch einmal warf er ihn mit
Schwung aus dem Gesicht. Wenn er so weitermacht, dachte
ich, biete ich ihm meine Haarspange an. Das sieht bestimmt
süß aus!
»Na gut«, sagte er, »vielleicht muss man an den Fragen noch
etwas feilen!«
»Und wozu brauchst du jetzt mich?«
»Also ich dachte: Ich stelle die Fragen und du schreibst mit!«
»Bei dir piept’s wohl!«
»Wieso?«
»Ich will nicht mitschreiben.« Die Wahrheit wäre gewesen: Ich
kann nicht mitschreiben (weil ich eine Rechtschreibschwäche
habe). Aber auch das musste der Maulaufreißer ja nicht
wissen.
Wollte er sowieso nicht wissen, er sagte: »Aber das ist dein
Job!«
»Was ist mein Job?«, fragte ich feindselig.
»Umfragen. Also auch das Mitschreiben.«
»Nö.«
»Was heißt hier Nö?«
»Nö. Ich frage, du schreibst mit.«
»Quatsch«, der Maulaufreißer schüttelte so heftig den Kopf,
dass sein Po-nie-Vorhang nur so hin- und herwedelte. »Ich
bin doch keine blöde Tippse.«
»Aber ich? Hast du mal was von Ey-Mann-Ziep-Aktion

gehört?«
Der Maulaufreißer hatte es sich wohl leichter mit mir
vorgestellt. »Also gut: Wir machen halb, halb. Du stellst die
Hälfte Fragen und ich schreib mit«, bot er an. »Und dann
umgekehrt.«
»Nö.«
»Wie Nö?
»Nö«, wiederholte ich.
Es ging noch eine gute Weile hin und her zwischen mir und
dem Matsch-oh-Macker. So schnell würde ich nicht klein
beigeben, da konnte der sich noch so oft auf die Hinterfüße
stellen und mit dem Kopf wackeln. Schließlich bin ich ey-

mann-ziep-irrt!

Doch dann, endlich, hatten wir einen Weg gefunden: Keiner


würde mitschreiben müssen. Der Maulaufreißer würde
einfach die Umfrage auf seinem Handy aufnehmen. Dann
könnten wir es später am Rechner (und mit Rechtschreibhilfe)
beide abtippen. Auf sein Handy war der Maulaufreißer
scheinbar noch stolzer als auf seine Vorhang-Friss-Uhr.
»Das hab ich von meinem großen Bruder«, sagte er stolz und
ließ es zum Beweis kurz in der Sonne aufblitzen. Angeber!
Pfff!
Aber ich muss zugeben, so ein Handy kann auch ganz schön
pack-Tisch sein. Kaum dass der Maulaufreißer es gezückt
hatte, war er schon von einem Haufen Jungs umringt, die es
sehen wollten. Es schien fast so, als wäre da ein Mark-näht

eingebaut oder so was. Jedenfalls hatte er in null Komma nix


eine Menge Umfrage-Leute zusammen, deren Antworten er
gleich mal aufnahm.
Das erste Gespräch mit dem Breiten (das ist der Viertklässler
mit den breitesten Schultern und dem breitesten Grinsen) lief
in etwa so:
»Willst du mehr Pausen?«
»Ja!«
»Wie ndest du Lernen?«
»Scheiße.«
»Willst du mehr Spiele?«
»Jau.«
Das zweite Gespräch mit dem Pinscher (ein zäher
Viertklässler, mit dem ich mich auch schon mal geprügelt
hatte) lief in etwa so:
»Was hältst du von mehr Pausen?«
»Find ich gut.«
»Wie ndest du Lernen in der Schule?«
»Oberscheiße.«
»Was machst du lieber?«
»Spielen. Fußball.«
Nachdem Gespräch drei und vier ebenso einsilbig waren,
nahm ich dem Maulaufreißer irgendwann genervt das Handy
aus der Hand.
»Das führt zu nix«, sagte ich energisch.
»Häh? Wieso?«
»Weil du nicht solche doofen Fragen stellen kannst, auf die
alle das Gleiche antworten. Dann hast du überall das Gleiche
stehen.« Ich leierte herunter: »Ja. Scheiße. Ja. Oder: Gut. Zum
Kotzen. Gut.«
»Ja, und?«
»Das ist langweilig. Das will keiner lesen.«
»Und was will der Keiner dann stattdessen lesen?« Der
Maulaufreißer leierte jetzt ebenso genervt.
Aber bevor ich seinen Schwung so richtig bremsen konnte,
gongte es zum Ende der Pause. Der Maulaufreißer schwang
ein letztes Mal seinen Po-nie und seinen Po herum und
machte beleidigt den Abgang.

Für den Rest des Schultags, weder in der zweiten Pause noch
nach der sechsten Stunde, hörte ich nichts mehr von ihm.
Scheinbar war er beleidigt, weil ich mich zu sehr eingemischt
hatte. Irgendwie fand ich es schon fast ein bisschen schade,
dass er so schnell aufgab. Das war doch sonst nicht seine Art.
War es auch nicht.
»Ey«, rief es am nächsten Tag in der ersten Pause wieder
hinter mir. »Ey, Mira!«
Ich drehte mich grinsend um: »Ja? Scheiße? Ja?«
Der Maulaufreißer war wieder in Schwung. »Was ist jetzt mit
unserer Umfrage?«, fragte er ungeduldig.
»Deiner Umfrage, meinst du …«, sagte ich.
»Unserer Umfrage …«, betonte er.
»Wenn es unsere Umfrage ist, dann darf ich aber auch Fragen
stellen.«
»Meinetwegen«, seufzte der Maulaufreißer und zuppelte sein
Handy aus der Jackentasche.
»Warum brauchst du mich überhaupt für deine Umfrage?«
Irgendwie machte es Spaß, den Maulaufreißer ein bisschen zu
triezen.
»Unsere Umfrage«, stellte er richtig.
»Also gut: Warum brauchst du mich für unsere Umfrage?«
»Erstens: Du bist die Umfrage-Tante in der Rett-Aktion. Und
zweitens«, jetzt grinste er und schwenkte wieder sein Haar
herum. »Du hilfst mir, die hübschen Mädchen anzusprechen.«
Jetzt hatte er mich drangekriegt.
Jetzt war ich baff.
Jetzt war ich sauer! Hätte ich besser nicht gefragt.
»Und die hässliche und doofe Umfragen-Tussi soll für dich
jetzt die Hübschen ansprechen! Oder was?«
Jetzt war der Maulaufreißer kurzzeitig baff.
»Ähm … äh … nein, äh … so habe ich das nicht gemeint: Dich
kann ich nicht mit meiner Umfrage fragen, du bist doch auch
… äh … in der Rett-Aktion.«

»Gelogen« sagte ich. Vielleicht murmelte ich es auch nur.


Vielleicht hatte es der Maulaufreißer auch nicht mehr gehört.
Der jedenfalls tippte irgendwas auf seinem Handy herum und
sagte dann: »So, jetzt können wir loslegen! Und übrigens: Du
hast da was auf der Stirn. Farbe oder so. Willst du das vorher
noch wegmachen?«
»Nein«, sagte ich trotzig. »Das gehört da hin. Das ist Absicht!«
Ich drehte mich mit Schwung um und ließ meine immerhin
auch kinnlangen Haare im Schwung um meinen Kopf
schwingen – wie ein Topf-Modell. Genau: Sehr-Minis

Nächst Topf-Modell!

Dem würde ich es zeigen!


Siegessicher ging ich auf eine Gruppe Zweitklässlerinnen zu,
die kichernd die Köpfe zusammengesteckt hatten. »Seid ihr
hü-hübsch?«, fragte ich laut.
Die drei sahen erstaunt zu mir rüber. Die größte strich sich
schon mal vorsichtshalber die Haare glatt. Die kleinste
schlang die Beine umeinander, die dritte glotzte mich nur doof
an. So dumme Fragen hatte noch niemand auf dem Schulhof
gestellt. Dem Maulaufreißer, das sah ich im Augenwinkel, war
meine Frage unglaublich peinlich. Er hatte unter seinen
langen Haaren auffallend rote Ohren bekommen.
»Wir machen eine Umfrage. Ist ganz harmlos«, beschwichtigte
ich die drei.
»Schieß los«, sagte die zweite mit den sich umwickelnden
Beinen.
»Wir wollen wissen, ob ihr mit den Pausen zufrieden seid.«
»Ja, sind wir«, sagte das Wickelkind.
Ich hörte schon, wie der Maulaufreißer murmelte: »Ja.
Scheiße. Ja.« Aber meine Frage war lauter: »Und was ndest
du daran gut? Was würdest du gern ändern?«
»Dass wir so viel spielen können, wie wir wollen?«, fragte sie
unsicher zurück, um dann hinzuzufügen: »Ich hätte gern
mehr Platz und wir hätten gern ein kleines Häuschen, wo
man sich im Winter unterstellen kann.«
»Und welche Spiele braucht es noch bei uns?«
»Solche Stangen, um sich drumrum zu schwingen …«
»… und Stelzen!«, rief die Große dazwischen.
Dreh-umpf-frierend drehte ich mich zum Maulaufreißer
um: »Das ist besser als Ja – Scheiße – Ja. Oder siehst du das
anders? Hast du das wenigstens aufgenommen?«
Der Maulaufreißer nickte nur knapp. Dann sagte er mürrisch:
»Jetzt fragen wir noch ein paar andere Mädchen.«
»Ach ja, die hübschen«, murmelte ich boshaft, ging aber
entschlossen voran.
Als erstes schnappte ich mir irgendein Mädchen aus seiner
vierten Klasse. Und dann fragte der Maulaufreißer meine
Erzfeindin, die Fiese aus der 3 b (da blieb ich lieber im
Hintergrund, mit der mochte ich nichts mehr zu tun haben).
Während der Maulaufreißer also ihre Antwort aufnahm, hielt
ich Ausschau nach meiner besten Freundin Svenja. Dann
konnte ich wenigstens das Nützliche mit dem Nützlichen
verbinden. Ach – da war sie ja!
Ich zog den Maulaufreißer zu ihr hin, nahm ihm das Handy
aus der Hand und stellte selbst die erste Frage: »Willst du bei
einer Umfrage der Schülerzeitung mitmachen?«
Svenja nickte. Aufgeregt blickte sie erst zu mir, dann zum
Maulaufreißer rechts neben mir. Dann wieder zu mir, dann
nach rechts, dann gnz krz zu mir, dann gaaaaaanz laaaang
nach reeeechts.
Du weißt ja, Liebe macht Falballa-balla. Immer dann, wenn
man etwas Logisches tun soll (zum Beispiel einfach nur
hübsch lächeln oder wenigstens was Sinnvolles sagen), genau
dann macht man alles, nur nicht das Logischste. Also: Svenja
lächelte nicht sinnvoll und sie sagte auch nichts Hübsches.
Sie lief nur rot an.
»Ja, also, ja wir sollen längere Pausen haben«, stotterte sie
rum. »Ich weiß nicht, ob wir mehr Spielgeräte brauchen.
Keine Ahnung …« Danach hatte sie ihre Sprache ganz
verloren. Wenigstens lächelte jetzt der Maulaufreißer.
Aber genau da, als sich Svenja endlich zu einem schwachen
Gegenlächeln durchgerungen hatte, hatte er sich schon
wieder weggedreht: »Komm, Mira, ich habe noch jemanden.«
Schon steuerte er zielstrebig auf eine weitere Freundin von
mir zu – die schüchterne Shirin. Sie stand mit der Zicke Zita
ein paar Meter entfernt.
Schon hatte sie der Maulaufreißer am Wickel. »Na, ihr zwei
Hübschen«, säuselte er. Uff! »Wie steht’s: Wollt ihr bei einer
Umfrage mitmachen? Wir sind von der Schülerzeitung.«
Er schmiss sich mit dem Telefon und Haarlocke in Po-See.

Wie albern, dass dieses eitle Gehabe trotzdem irgendwie


wirkte. Denn Shirin und Zita lächelten beide ganz angetan.
Und sie sagten auch noch was Sinnvolles! Zita ließ sich zieht-

Tieren mit: »Ich nde nicht nur, dass wir längere Pausen
benötigen. Wir sollten außerdem auch noch später mit der
Schule anfangen.«
»Ja, genau«, unterstützte sie Shirin, »Untersuchungen haben
gezeigt, dass man nämlich erst um neun Uhr richtig
leistungsfähig ist.« Wow!
Der Maulaufreißer hatte angebissen. »Darf ich von euch
beiden Hübschen noch ein Foto machen? Mit meinem Handy?
Für die Umfrage?«
»Na gut, meinetwegen.«
Oh Mann, bis jetzt hatte er noch von niemandem Fotos
gemacht! Was nicht nur mir auf el. Aus dem Augenwinkel
sah ich, wie eine versteinerte Svenja uns vier genau
beobachtete. Das konnte man ja nicht mit ansehen! Ich
schlug mir die Hände vors Gesicht und drückte mit beiden
Zeige ngern ganz fest auf meinen indischen Weisheitspunkt.
Als ich die Augen wieder aufschlug, nahmen die beiden
»Hübschen« schon zuckersüß und Arm in Arm ihre Po-See

ein. Der Maulaufreißer ging mit dem Telefon vor der Nase
noch ein Stückchen nach hinten, um seine beiden Topf-

Modells ins Bild zu bekommen. Und noch ein Stück …


Und dann passierte es: Im Rückwärtsgehen stieß der
Maulaufreißer mit jemandem zusammen. Nicht mit
irgendjemandem. Sondern mit jemandem Wichtigen.
Die tadellose Reck-Tor-in stand direkt hinter ihm und hatte
ihm – so schnell konnte man gar nicht gucken – das Handy
aus der Hand genommen. Mit ihrer schärfsten und
deutlichsten Oberlehrerinnenstimme sagte sie: »Handys sind
auf dem Schulgelände verboten.«
Kapitel 7

Blöde Pedal-logische Maßnahmen!

»Handys sind auf dem Schulgelände verboten« wurde


Schulregel Nummer 16.
Die noch einmal erneuerte Ordnung hing am nächsten Tag in
Blassblau neben meinem Kummerkasten (in dem ich
übrigens eine leere Tinten-Paar-Thron-nee und eine
ausgedrückte Safttüte gefunden hatte).
Natürlich wurde über diese neue Regel viel geredet. Nicht nur
in der Pause, sondern auch am Mittwochnachmittag bei der
nächsten Sitzung unserer Schülerzeitung.
»Ohne das Telefon können wir die Umfrage glatt vergessen«,
bäumte sich der Maulaufreißer auf.
Ich sprang ihm zur Seite: »Und überhaupt: Bis gestern waren
die Handys noch nicht verboten. Also haben wir nichts
Verbotenes gemacht!«
Sogar die Anstreberin unterstützte uns. »Man kann doch
nicht jemanden für ein Verbrechen verurteilen, das zu diesem
Zeitpunkt noch kein Verbrechen war«, sagte sie
wichtigtuerisch.
»Sie muss uns das Handy zurückgeben!«, forderte der
Maulaufreißer und blickte herausfordernd zum Rundlauf. Sie
sollte ihn unterstützen.
Doch die plusterte nur ihre ohnehin schon runden Wangen
auf.
»Pfff«, richtig lange ließ sie die Luft wieder entweichen. »Ich
schau mal, was ich tun kann. Aber das könnte schwierig
werden.«

Der Rundlauf sollte Recht behalten – unsere Reck-Tor-in

wollte das beschlagnahmte Telefon erst mal nicht mehr


rausrücken.
Sie redete mit jedem. Mit mir. Mit dem Maulaufreißer. Sogar
mit den Umfrage-Teilnehmern. Vermutlich hatte sie unsere
Umfrage ein paarmal abgehört. Zuallererst verbot sie uns,
weiterzufragen. Nicht nur das: Unseren Beitrag für die
Schülerzeitung verbot sie uns gleich mit.
»Der ist zu nee-gar-tief«, sagte sie nur kurz zur Erklärung.
Damit wollte sie uns schon aus ihrem Büro schicken, den
Maulaufreißer und mich. Doch ein knallharter Reh-bohrt-

Teer gibt nicht so schnell auf, zumindest nicht einer wie der
Maulaufreißer.
Hier hätte eine
»Dürfen Mira und ich das dann so schreiben:
Umfrage stehen sollen über längere Pausen und mehr

P d l l h
Spielgeräte. Dies wurde uns aus Pedal-logischen Gründen von
der Schulleitung verboten. Ja?«
Wow, wie unverfroren! Augenblicklich wurde es in dem Raum
totenstill. Man konnte lediglich die Armbanduhr der
Tadellosen ticken hören. Wie eine Zeitbombe. Keine fünf
Sekunden dauerte es und sie ging hoch. Das Ergebnis war,
dass die Tadellose nicht nur das Handy »mindestens bis zu
den Osterferien« behalten wollte. Sondern auch, dass wir
beide einen Hinweis an unsere Eltern mit nach Hause
bekamen – »wegen aufmüp gen Benehmens«. Sie sollten mit
uns die Schulordnung durchgehen, die wir – und unsere
Eltern – noch einmal extra unterschreiben mussten.
Während ich total geknickt aus dem Büro der Reck-Tor-in

schlich, gab sich der Maulaufreißer völlig locker. »Ach, die hat
auch nur Angst vorm Elternbeirat, sagt meine Mutter.«
»Und deine Mutter unterschreibt das alles – so ganz ohne
Meckern?«, fragte ich.
»Die ist Kummer gewöhnt! Ich habe zwei ältere Brüder. Das
geht schon irgendwie klar bei mir.«
In dem Augenblick wünschte ich wirklich, ich wäre so
angstfrei und mutig wie der Maulaufreißer. Nicht so unmutig
wie Mira.
Aufmunternd boxte er mir mit der Faust auf den Oberarm.
»Wir haben doch nix Schlimmes gemacht. Worüber sollte
deine Mutter schon groß meckern?«

Mama meckerte trotzdem.


»Sag mal, Mira, ich dachte, wir hätten das jetzt hinter uns –
die Benachrichtigungen von der Schule. Die Sache mit dem
Mopp-Ping ist doch ausgestanden. Oder etwa nicht? Ärgern
dich deine Mitschüler immer noch wegen der
Rechtschreibschwäche?«
»Nein, da ist alles in Ordnung«, antwortete ich
wahrheitsgemäß. »Aber den Ärger jetzt, den hast du mir
eingebrockt!«
»Ich? Ich habe ihn dir eingebrockt? Wie soll ich das denn
gemacht haben?«, blaffte Mama zurück.
»Na, du wolltest doch, dass ich zur Schülerzeitung gehe. Also
musste ich diese Umfrage machen – ich bin ja dafür
zuständig. Aber weil wir nicht so schnell mitschreiben
können, haben wir das Handy genommen. Und der Maul- (den
-aufreißer vernuschelte ich, den Namen hatte ich mal wieder
nicht paar-Rat) wollte noch ein paar Fotos machen von den
Befragten. Da ist doch nichts dabei! Wir haben doch keine
Ballerspiele gespielt oder irgendein Wie-Deo geguckt. Wir
haben nix Schlimmes gemacht!«
»… nix Schlimmes gemacht« – Vielleicht, wenn ich die gleichen
Worte wie der Maulaufreißer benutzte, vielleicht klang ich
dann auch so mutig wie er …
Mama zog ungläubig die Augenbrauen hoch.
»Ehrlich«, setzte ich nach. »Das geschah alles im Dienst der
Schülerzeitung!«
Mama grunzte. Das macht sie immer, wenn sie nicht
überzeugt ist, mir aber nichts nachweisen kann (zum
Beispiel, wenn ich verbotenerweise Ballerspiele auf dem
Handy von meinem Bruder gespielt habe). Aber sie
unterschrieb dennoch den blauen Wisch mit der
Schulordnung.
Erwachsenengeschickt lenkte sie von sich ab und wechselte
das Thema. Irgendwo musste sie ja Recht behalten. »Hattest
du nicht eigentlich was anderes vor, über das du schreiben
wolltest? War da nicht was mit einem Kummerkasten und so?
Oder hast du das mit dem Vogelhäuschen nur so erzählt?«
Na also – sie war immer noch misstrauisch.
»Nein, nein, nein, das gibt’s noch, das Häuschen!«, beeilte ich
mich zu sagen. »Nur – es wirft niemand was rein. Außer Müll.«
»Du machst einfach nicht genügend Mark-äh-Ding«, kam es
da von hinten. Linus war nach Hause gekommen und knallte
Mama seine neueste Deutsch-Schulaufgabe auf den Tisch.
Wie immer bei dem Streber: Eine Eins.
Wie immer musste der sich einmischen, wenn ich mit Mama
am Streiten war. Wie immer musste dieser elende Streber
dann beweisen, wie toll und unfehlbar er war. Wie immer
waren meine Beine zu kurz, um ihn dafür anständig gegen
das Schienbein zu treten.
Wie immer sah Mama das, hob warnend die Augenbrauen
und sagte dann: »Linus hat recht!« Na klar, Linus hat immer
recht … blablabla, dachte ich und hörte deswegen nur noch
den Rest von Mamas Satz: »… mehr Mark-äh-Ding.«

h
»Aha, und was ist das jetzt – dieses mehr Mark-äh-

Dingsbums?«, fragte ich hämisch zurück.


»Werbung«, erklärte mir mein Bruder altklug. »Das muss man
doch wissen.« Dieses Mal traf ich unbemerkt sein Schienbein.
»Werbung? Wie soll das gehen – Werbung? Soll ich große
Blah-Karte malen: Hier kostenlos einwerfen! Sorgen zum
Ablegen?«
Linus el mir ins Wort: »Nein, so meine ich es nicht.«
Aber so schnell ließ ich mich nicht unterbrechen. Ich erfand
weitere dumme Werbesprüche: »… Dr. Ku – hilft im Nu, hilft dir
gleich – haut alle Gegner weich!«
Mamas Augenbraue zuckte nervös. »Mira!«, schimpfte sie.
»Pff«, drehte sich Linus um, »wenn du dir nicht helfen lassen
willst.«
Mein Bruder grapschte sich die unterschriebene Deutsch-
Eins und stapfte aus der Küche.
»Linus hat recht«, wiederholte Mama. Grummel!
»Wahrscheinlich gibt es da irgendein Problem mit den
Problemen. Wo hast du das Häuschen denn aufgehängt?
Kann es jeder sehen?«
»Und ob! Es hängt direkt am Schwarzen Brett. Direkt neben
der Schulordnung. Aber genau das ist das Problem: Da traut
sich niemand hin!«
»Weil sie Angst haben?«, fragte Mama zurück.
Ich nickte.
»Wovor?«
»Dass sie erwischt werden, wenn sie sich beschweren. Dass
sie Ärger kriegen – mit den Lehrern oder der Reck-Tor-in. Sie
hat uns schließlich auch unsere Pausenumfrage verboten.
Weil sie zu nee-gar-tief ist, sagt sie. Jetzt hat keiner mehr
den Mumm, überhaupt was zu sagen!«
»Also müsstest du sicherstellen, dass die, die sich
beschweren, Arno-nimm bleiben.«
»Arno-was?«, fragte ich zurück. Das Wort kannte ich nicht.
»Arno-nimm«, wiederholte Mama. »Das ist, wenn jemand
seinen Namen nicht preisgibt.«
»Aha.« Jetzt hob ich mal misstrauisch die Augenbrauen. So
ohne Weiteres konnte ich doch nicht zugeben, dass Linus’
und Mamas Vorschläge vielleicht doch ganz brauchbar waren.
Als hätte ihr das eine Mal recht haben nicht genügt, musste
Mama gleich noch mal Pedal-logisch nachlegen: »Hast du
schon deine zehn Lernwörter für heute geschrieben, Mira? Du
sollst doch regelmäßig üben.«
»Ich will aber nicht«, sagte ich störrisch.
»Das machst du nicht für mich, sondern für dich. Wenn du
regelmäßig übst, wirst du besser werden. Du musst nur an
dich glauben!«
Wegen dieses blöden Besserwisserspruchs hätte ich am
liebsten jetzt mal Mama vors Schienbein getreten.

An Lernwörter war jetzt erst einmal nicht zu denken. Wie


sollte ich Buchstaben richtig ordnen, wenn ich noch nicht
einmal meine Gedanken in die richtige Reihenfolge bekam? Es
waren einfach zu viele Probleme, die ich gleichzeitig lösen
musste. Da war zum einen die Frage, wie ich Werbung für den
Kummerkasten machen konnte. Denn jetzt stand ich ja
wieder ganz ohne ein Thema für die Schülerzeitung da.
Als wäre das nicht allein schon kopffüllend, musste ich mir
mal langsam Gedanken um meine verliebten Freunde
machen. Felix war verliebt in Svenja. Svenja in den
Maulaufreißer. Und der Maulaufreißer war verliebt in … in …
ja, in wen eigentlich? Irgendwie wohl nicht in Svenja.
Das war blöd.
Richtig blöd.
Richtig saublöd.
So blöd, dass man nur mithilfe indischer Weisheit weiterkam.
Und ob du es glaubst oder nicht – es half sofort. Kaum hatte
der rote Stift meine Stirn berührt, hatte ich auch schon eine
Eingebung. Vielleicht, zugegeben, lag es auch an meinen
neuen Lernwörtern: »Bühne, kühn, Mühe, mühen, Kiefer, tief,
Brief …« Brief. Brief? Brief!
Wenn also jemand dem anderen einen Brief schreibe würde
…?
Diese Idee war so schön-nie-Aal, dass ich mir vor die frisch
gepunktete Stirn schlagen musste.
Ich schrieb auf ein frisches Blatt Papier:

Liebe Svenja,

du bist schlau, du bist nich dof,

du bist die schönste auf dem Schuhlof.

Seit langem hab ich das Gefül,

dass ich gerne mit dir spül.

Spielst du gerne auch mit mir,

schänke ich ein Lecheln dir.

Ein Vererer

Auf einen zweiten Brief schrieb ich:

Lihber Felix,

manchmahl denke ich

h
nur an dich.

Den Ganzen tag.

Was ich mag.

Deine S.

Genau so geht gute Werbung, oder nicht? Ich freute mich so


diebisch über meinen Einfall, dass ich keinerlei Komm-

Zehn-Draht-John mehr hatte für meine Lernwörter. Am


Schluss stand da in der letzten Reihe Brief, Brief, Brihf, Brif,
Brie, Biref, Brief, Brief, Bire, Brief. Das el mir sogar selbst
auf.
Dieses elende Lernwörterschreiben! Dieses Problem war völlig
über üssig.
Vielleicht war es geradewegs so wie bei den Indern, die sitzen
ja auch ständig rum und Meer-die-Tieren über ihren
Problemen. Auch ich hatte mich im Schneidersitz auf meinen
Schreibtischstuhl gesetzt, Daumen, Zeige- und Mittel nger
aneinandergelegt, die Augen fest geschlossen, meinen Blick
auf das innere Auge gerichtet und dabei fest gedacht: »Ich
brauche eine Lösung für mein Proooo…«
»…ooohmmmm«, machte es hinter mir. Vor Schreck verlor ich
das Gleichgewicht und krachte vom Drehstuhl.
Linus stand grinsend in der Tür.
»Ey«, schimpfte ich, während ich mich aufrappelte und erst
mal die Kappe auf den roten Stift steckte. Der war mitsamt
meinem Lernwörterblatt mit runtergefallen und ich mit dem
Ellenbogen drauf. Alles war heillos verschmiert.
»Sieht aus, als hättest du selbst schon alles rot angestrichen«,
grinste Linus und schte im Regal nach meiner Munter-

Monika. Er begann zu spielen. Es klang nicht mal so


schlecht.
Nicht mehr ganz so streng sagte ich: »Ey, das ist meine.« Und
Linus bettelte ebenso schwach: »Ach, sei doch nicht so.«
Genau in diesem Moment, hatte ich, nein, hatte mein roter
Punkt eine Eingebung.
»Du kannst die Munter-Monika behalten.«
Linus blinzelte verblüfft. »Echt jetzt?«
»Ja, dafür schreibst du mir jeden Tag die Lernwörter.«
Noch war Linus nicht überzeugt. Er blies schwach ein paar
Töne.
Ich setzte nach: »Ach, für dich mit der Deutsch-1 ist das doch
ein Klacks«, sagte ich zuckerwattensanft. »Du bist in zwei
Minuten fertig. Die Munter-Monika ist leicht verdient.«
»Na gut«, seufzte mein Bruder, »schieb’s rüber!«
Und ab da war alles geritzt. Er pinselte – brav in Druckschrift,
wie ich immer schrieb – jeden Nachmittag meine zehn
Lernwörter runter, die ich dann jeden Abend brav Mama
vorlegte. Und jeden Abend bekam ich dafür brav mein
Belohnungseis – es waren ja keine Fehler mehr drin.
Nur das viele Gedudel von Linus konnte einem ziemlich auf
den Gedudel-Sack gehen.
Kapitel 8

Die ersten Paar-zieh-Enten

Sogar für meinen Kummerkasten ergab sich eine indisch-


weise Lösung. Ich hatte mir einfach von Mama ein
blassblaues Blatt gemopst und dann meine eigenen
»Kummerkasten-Regeln« draufgedruckt:
1. Jeder Brief bleibt vertraulich. Dr. Ku verrät keine Namen.
2. Jede Stimme zählt.
3. Spicken ist verboten. Das gilt auch für Lehrer.
Mama, die mir am Rechner dabei geholfen hatte, hatte die
Regel »4. Wer sich nicht daran hält, muss mit Prügelstrafe und
Stinkbomben rechnen« wieder gelöscht. Weiß der Geier, warum

Am heikelsten war es, sich für diesen Anschlag die Erlaubnis
der Reck-Tor-in einzuholen. Die hielt mir erst einmal einen
Vortrag darüber, dass ich – wie sie für ihre Schulregeln –
blassblaues Papier genommen hatte. Nachdem ich aber was
gesagt hatte von wegen »Pressefreiheit« (das Wort hatte ich
vom Maulaufreißer aufgeschnappt, als er gegen das Verbot
unserer Umfrage Po-Test-Tier-Tee) gab sie nach. Ich durfte
meinen Anschlag vorne auf das Häuschen kleben, gleich
unter »Dr. Ku, wo drückt der Schu?«
Um Verwechslungen zu vermeiden, druckte die tadellose
Reck-Tor-in ihre Schulregeln aber noch mal aus – dieses Mal
auf iederfarbenem Papier – und hängte sie gleich daneben
an das Schwarze Brett.
Das war mir gerade recht. Dann konnte ich weiterhin
blassblaues Papier für meine Werbebriefe nehmen, mit denen
ich bei Svenja Werbung für Felix machte. Und umgekehrt.
Der neueste ging so:

Liebe Svenja,

morgenz kann ich gut in die Schuhle gähn,

wail wir uns in der Klasse sehn.

Dein Vererer

Und für den anderen hatte ich gereimt:

Lihber Felix,

bisd nich gut in sport,

dafür aber mit dem Wort.

Wenn Felix seine Wütze macht,

dann die Ganze klasse lacht.

Deine S.
Mittlerweile hatte ich schon regelrecht Übung im
Unbeobachtet-in-den-Ranzen-Schmuggeln. Allerdings
wunderte mich, dass weder Felix noch Svenja mir von diesen
Briefen irgendwas erzählten. Wegen Felix wunderte es mich,
weil er mir ja sonst alles anvertraut hatte, was Svenja betraf.
Und wegen Svenja wunderte es mich, weil sich beste
Freundinnen doch sonst immer alles erzählen. Warum also
dieses Mal nicht?
Aber eigentlich war ich sogar ganz glücklich darüber, dass
keiner der beiden mir seine Nachrichten zeigte.
Wahrscheinlich wäre ich knallerot geworden, hätte spontan
das Stottern angefangen oder Schlimmeres angestellt, womit
ich meine Liebesnachhilfe verraten hätte.
Nein, ich würde mich wohl einfach in Geduld üben müssen.
In der Zwischenzeit konnte ich mich meinen anderen
Aufgaben widmen – zum Beispiel den Aufgaben als Dr. Ku.

Ja, du wirst es kaum glauben, aber es war tatsächlich so,


dass die neuen Regeln wirklich, wirklich halfen. Am Ende der
Woche hatte ich nicht nur Müll in dem Kummerkasten (okay,
es waren immer noch ein paar Mann-da-Rinnen-Schalen, ein
kaputter Papier ieger drin und ein halbes Mathe-Arbeitsblatt
aus unserer Klasse. Jemand hatte ein Herzchen draufgemalt
mit zwei Buchstaben drin.)
Aber da war auch ein Brief.
Ein echter Brief!
Auf Karopapier, dem großen Karopapier, das sonst die
Zweities verwendeten.
Der Brief ging so:

Liebe Dr. Ku,

was kann man dagegen machen, wenn andere Witze über einen

machen und Herzchen an die Tafel malen und so? Überall steht

jetzt S+T. Das ist peinlich.

Kannst du mir helfen?

S.

S und T? Ich musste ganz schön lange überlegen. Wer hatte


denn in der zweiten Klasse Namen mit den
Anfangsbuchstaben S und T?
Du kennst mich ja, ich bin die linkslesestarke Mira. Die, die
sich keine Buchstabenfolge und deswegen auch ganz schlecht
Namen merken kann. Oft merke ich mir nur die
Anfangsbuchstaben, und dann wird aus Anne-Marie die A…
nstreberin, aus Zita die Z… icke und so weiter. S steht dann
für S… upermann. Für S… äuseltante. Oder für S… owas…
Saudummes-habe-deinen-Namen-vergessen. T für T…
rauerklops, T… ussitante oder T… afel-Tee-Rohr-ist.
Es gab aber in der zweiten Klasse nicht einen, den ich mir als
irgendwas mit T… gemerkt hätte, nicht mal einen T… otal-
langweilig.
Allerdings konnte ich mir in meinem schreibverdrehten Kopf
nicht sicher sein, ob mir nicht irgendwas entgangen war. Also
musste ich ein bisschen D-deckt-tief spielen und eigene
Nachforschungen anstellen. Unauffällig trieb ich mich in den
Pausen in Ecken herum, die sonst nur von den Kleineren
bevölkert wurden. Meine Freundinnen Svenja und Shirin
schauten schon sehr enttäuscht, weil ich mit ihnen an diesem
Tag gar kein Einbeinfangen spielen wollte – sonst unser
Lieblingslieblingsspiel.
Zur Tarnung hatte ich mir aus der Spielekiste ein Dia-wohl-

oh geschnappt und mühte mich, die Rolle auf dem Seil


vernünftig zu Ball-an-zieren. Felix konnte das ganz gut, ich
jedoch schien dafür eher zwei linke Hände zu haben. Bei mir
plumpste die Rolle schon nach den ersten Sekunden dumpf
auf den Boden. Vielleicht lag es ja auch daran, dass ich mit
meinem Ohr auch ganz woanders war.
»Mensch, Cathy, pass doch mal auf!« – »Selber blöde Kuh,
Helena!« – »Wenn du so weitermachst, spiele ich lieber wieder
mit der Leni.«
Undsoweiter. Undsoweiter.
Nach der Pause hatte ich immerhin sieben Mädchennamen
aus der zweiten Klasse mitbekommen. Aber keiner, nicht
einer davon, begann mit einem S oder einem T.
Also – Gegenprobe. Ich brauchte die Namen von den Jungs. In
der zweiten Pause musste ich mich unauffällig in der Nähe
der Fußballer Po-sitz-John-Nieren.
Shirin und Svenja guckten nun schon mehr als enttäuscht.
Zur Tarnung hatte ich wieder das dumme Dia-wohl-oh zum
Dschungel-irren dabei.
»AAAAmir!«, rief ein Verteidiger lautstark. Aber der hatte den
Ball nicht mehr erreicht und pöbelte zurück: »Du Pfeife,
Marco!«
»Aus!«, rief dieser zurück.
»Nee, der war noch drin!«
»Draußen!«
»Drin!«
»Drau…«
»Wiederholung«, brüllte da unser Klassensprecher Thorsten
aus dem Tor, der meistens auch noch den Schiri macht. Und
so ging das Spiel weiter. Thorstens Mannschaft gewann 4:1.
Bei mir stand es ebenso 4:1. Vier Namen von Zweitklässlern
hatte ich mir gemerkt: Amir, Ulli, Emil und Leo. Einen hatte
ich wieder vergessen, aber der begann mit irgendeinem D…
Weit und breit waren da kein S und kein T in Sicht.
Missmutig schlappte ich zurück ins Klassenzimmer.
»Nächstes Mal spielen wir wieder Einbeinfangen«, versprach
ich meinen Freundinnen. Aber Shirin hörte mich schon gar
nicht mehr. Sie hatte Tafeldienst und rubbelte schon eißig
das Grüne blank. Irgendjemand hatte mal wieder Zeugs
draufgekrakelt, Blümchen, Herzchen und Pfeile und so.
Nachdenklich spielte ich mit meinem Briefchen, das ich im
Dr. Ku-Kasten gefunden hatte. Mit hochrotem Kopf kam
Shirin von der Tafel zurück und setzte sich neben mich. Ihr
Blick el auf das Papierchen, das ich inzwischen ganz schön
verknödelt hatte. Hastig wollte ich es wegstecken, aber
seltsamerweise lächelte Shirin.
Sie lächelte wissend.
Ich guckte nur doof zurück.
»Und?«, begann Shirin und nickte dem Briefchen zu. »Kannst
du uns helfen?«
Erst da – wirklich, ich schwöre es – wirklich erst da el es mir
wie S… chuppen von den Augen.
S+T.
Das waren S… hirin und T… horsten! Keine Zweitklässler, die
meine Hilfe brauchten, sondern welche aus meiner, aus der
dritten Klasse! Ich hatte mich von dem blöden
Zweitklasspapier in die Irre führen lassen.
Das S von Shirin war mir früher nicht so aufgefallen, weil ich
sie unter Sch… abgespeichert hatte. Sch… wie die Sch…
üchterne. Das T… war mir nicht aufgefallen, weil ich außer
mit Felix mit Jungs sonst nicht arg viel zu tun hatte.
Aber jetzt erinnerte ich mich: Die S+T-Herzchen waren mir
schon öfters untergekommen. Eben erst hatte Shirin einen
dieser »Liebes-Beweise« von der Tafel wischen müssen. Und
auf dem halb abgerissenen Mathe-Arbeitsblatt, das ich in Dr.
Kus Kummerkasten gefunden hatte, war auch was gemalt
gewesen. Ich zog es hervor und zeigte es Shirin: S+T.
»Dabei?«, fragte ich sie also. »Soll ich dir dabei helfen?«
Shirin nickte sorgenvoll.
Ich nickte sorgenvoll zurück.
Und schon wieder el mir etwas wie Schuppen von den
Augen: Ich hatte mir bisher überhaupt keinen leisen
Gedanken darüber gemacht, was ich mit all diesen Dr. Ku-
Briefchen überhaupt anstellen würde. Bis jetzt war ich davon
ausgegangen, dass ich Briefe bekommen würde wie »Ich nde
Sport scheiße!« und »Warum haben wir keine längeren
Pausen?« oder »Warum wird Mathe nicht einfach abgeschafft?«.
Das alles hätte ich in einer Schülerzeitung ganz ih-sie

beantworten können. Einfach abschreiben und dazu ein


»Liebe Frau Reck-Tor-in, können wir im
Sätzchen von Dr. Ku:
nächsten Halbjahr Sport/Mathe abschaffen? Kriegen wir
längere Pausen? …«
Fertig.
Nun aber stellte sich die Lage hundertmal komplett-Zier-

Teer dar. Ich konnte das Problem schlecht in der


Schülerzeitung erörtern. Shirin hatte mich um Hilfe gebeten.
Mich persönlich. Wenn ich was schreiben würde, wusste auch
der Letzte, wer S+T waren.
Aber wie sollte ich helfen? Ich hatte in solchen Dingen doch
überhaupt keine Erfahrung. Solche Plusrechnungen gibt’s mit
meinem Namen nicht. Zum Glück.
Als Erste Hilfe malte ich Shirin erst einmal einen roten Punkt
auf die Stirn. Verständnislos blickte sie mich an. »Das macht
schlau!«, beruhigte ich sie. Und als sie immer noch ein
bisschen zweifelnd guckte, fügte ich hinzu: »Du kommst
einfach heute Nachmittag zu mir. Dann sehen wir weiter.«
Doch als es an der Tür läutete, hatte ich immer noch keinen
Plan B, oder C, oder D. Das ganze All-Farb-Bett lag
planmäßig völlig blank!
Aber – zum Glück – hatte es eh nicht für mich geläutet.
»Linus!«, brüllte Mama nach oben. Aus Linus’ Zimmer kamen
allmählich Geräusche. Mit seiner unnachahmlich langsamen
Art stapfte er die Treppen runter. Etwa eine Ewigkeit später
schrie Linus aus voller Kehle: »Mira! Ist für dich!«
Also dann doch …
»Herrenbesuch!«, fügte Linus hämisch hinzu, als er sich an
der Treppe an mir vorbeiquetschte. Meine Faust streifte ihn
wenigstens noch kurz an der Schulter.
Auf der Schwelle stand, als ich nach unten kam – Thorsten,
unser Klassensprecher. Meine Mutter musste gedacht haben,
Jungensbesuch konnte nur für Linus sein, und hatte so
schnell gerufen, dass Thorsten das nicht schnell genug Chor-

regieren konnte.
»Ich äh … Shirin hat gesagt … ich soll … äh … auch …«,
stammelte er.
Ganz schüchtern stand Thorsten da. Mit hochgezogenen
Schultern, ängstlichem Blick und verschlagener Sprache – so
schüchtern kannte man sonst nur Shirin. Oder mich.
Falsch, so kannte man Mira.
Dr. Ku hingegen war sich immer sicher.
»Na, komm erst mal rein«, sagte Dr Ku. »Shirin kommt
bestimmt auch bald.« Sichtlich unwohl betrat Thorsten das
Haus. Vielleicht hätte ich mich auch unwohl gefühlt, wenn
mich sechs Augenpaare so erwartungsvoll angeblickt hätten.
Mama war neugierig auf dem Weg zum Keller bei uns hängen
geblieben. Und mein Bruder Linus kramte irgendwas aus
seiner Jackentasche an der Kater-Robe.

Dabei machte er leise, so leise, dass nur ich es hören konnte,


Knutschgeräusche. Am liebsten hätte Mira ihm noch einmal
auf die Schulter gehauen, aber das war natürlich einer Dr. Ku
nicht würdig. Zum Glück klingelte es in diesem Moment:
Shirin erlöste alle von dem peinlichen Schweigen.
»Wir hätten gern unsere Ruhe«, sagte Dr. Ku und brachte ihre
Schützlinge in ihr Sprechzimmer. Dort setzten sich meine
beiden Klassenkameraden einträchtig nebeneinander auf
mein Bett. Knie an Knie. Schulter an Schulter. So viel war auf
den ersten Blick klar: So sah kein Nicht-Pärchen aus.
»Seid …«, begann Dr. Ku. Aber auch sie brachte den Satz
nicht fertig: Seid ihr also zusammen?
»Seit Weihnachten«, antwortete Shirin.
Dr. Ku klappte die Kinnlade runter. Aber sie versuchte sich
tapfer zu halten: »Seit Weihnachten seid ihr also ein …«
»… ein Paar«, vervollständigte Shirin den Satz. »Ja.«
Thorsten nickte.
»Ein Paar«, wiederholte Dr. Ku… Ein Paar – so ein richtiges,
eines mit doppeltem aa (das war eines von Mamas dummen
Lernwörtern gewesen). Warum musste ich jetzt unfreiwillig an
ein paar an der Waffel haben denken? Oder an Da sind ein
paar Schrauben locker? Paar-Paar-leer-Papp?
Ich berührte meinen roten Stirnpunkt. Shirin hatte sich ihren
schon wieder weggewischt. Es schien glatt so, als wolle sie
sich freiwillig auf dieses Liebes-Klar-da-rar-Tratsch
einlassen. Die Arme!
Zeit für die allhelfende Dr. Ku. Ich hatte mich auf einen Stuhl
den beiden Verliebten gegenübergesetzt. Dann legte ich die
Fingerspitzen aneinander – so hatte es auch Kummerkarsten,
unser Psycho-Locke, gemacht. Und wie bei ihm waren Dr.
Kus Finger tintenbeschmiert. Wenn das mal kein gutes
Vorzeichen war!
»Es geht also um die Herzchen«, sagte Dr. Ku. »Weil die ganze
3 a Herzchen malt mit euren Buchstaben drin?«
Während Thorsten brav nickte, verbesserte Shirin: »Nicht alle
aus der 3a, die Mädchen nicht, auch einige der Jungs nicht,
aber es gibt da ein paar Fußballer …« Schon klar!
Was wohl Kummerkarsten in diesem Augenblick gesagt hätte?
»Warum ist das für euch denn so Po-bläh-matt-Tisch?«, fragte
nun Dr. Ku.
Wie auf Befehl guckte Torsten nach rechts, Shirin nach links.
Beide schienen keine Antwort zu wissen.
»Also«, stotterte Thorsten rum, »also, ähm, wenn man damit
geärgert wird … also dann …«
Wie bei einem alten Ehepaar vervollständigte Shirin schon
seine Sätze: »… dann ist das peinlich. Und doof.«
Thorsten setzte wieder ein: »Und gemein.«
Shirin ergänzte noch: »Das war doch bei dir auch so, letztes
Jahr. Wir wollen nicht …«
»… dass es uns so geht …«, sagte Thorsten
»… wie dir«, schloss Shirin.
Dr. Ku überlegte kurz, spielte wie Karsten mit dem Kuli und
fragte dann: »Habt ihr denn noch weitere Freunde? So außer
euch beiden?«
Beide schossen mit der Antwort nur so heraus. »Aber ja!«
»Dann ist es anders als bei mir im letzten Jahr. Ich hatte
keine Freunde mehr.« Das klang gar nicht jämmerlich dieses
Mal, gar nicht wütend, gar nicht aufbrausend. Nicht mal
traurig. Sondern es war einfach nur eine Feststellung. Und
ich fühlte mich auch nicht so wie sonst, wenn ich daran
denken musste. Weder traurig noch wütend noch jämmerlich.
Irgendwas hatte sich verändert. Aber jetzt blieb keine Zeit,
dieses Gefühl zu Anna-ließ-irren, Dr. Ku musste
weitermachen: »Eure Freunde halten doch noch zu euch?«
Thorsten nickte, Shirin blickte mich nur fragend an: »Tust
du?«
»Tue ich!«, sagte ich feierlich. »Und Svenja auch. Und Zita…
und …«
Shirin grinste froh.
»Na, damit ist doch alles klar. Wenn alle Wichtigen weiter zu
euch halten – was juckt es euch, das mit den Herzchen?«,
fragte Dr. Ku. Und dann fügte sie etwas hinzu, das auch vom
Kummerkarsten hätte kommen können: »Sich mit seinen
Schwächen verstecken geht sowieso nicht. Ich darf mich nicht
wegen meiner Rechtschreibschwäche verstecken, haben sie
mir gesagt. Und ihr nicht wegen den Herzchen. Ihr müsst
einfach nur dazu stehen!«
Um ihnen das zu beweisen und um unseren Plan gleich
umzusetzen, führte die Psycho-Tante Dr. Ku ihre ersten
beiden Paar-zieh-Enten in den Keller, wo die
Verkleidungskiste stand. Dr. Ku hatte nämlich eine weitere
ihrer schön-nie-ja-Lehm Ideen gehabt. Diesen Herzchen
würden wir es zeigen!
Kapitel 9

Ein Art-Igel wird fertig

Uff, das hatte mich ganz schön geschlaucht, dieses erste Tee-

Trab-ih-Gespräch. Sogar der rote Fleck auf meiner Stirn


erschien blasser und ausgelaugter auf einmal. Zeit, ihn mal
wieder kräftig nachzumalen!
Und Zeit, dass Papa ihn auch mal bemerkte.
Normalerweise fällt Papa nie etwas auf. Nicht, wenn Mama
oder ich beim Friss-Öhr waren, keine neuen Tisch-hört’s und
schon gar nicht, wenn Linus das ganze Frühstück lang seine
verspiegelte Sonnenbrille trägt.
Heute war er anders.
»Was is’n das?«, fragte also Papa beim Abendessen und
deutete auf den roten Punkt. »Hast du Masern?«
»Nein, das ist ein Zeichen für meine indische Weisheit.«
»Wie lange hast du den denn schon?«, fragte Papa zurück.
Mama grinste im Hintergrund.
»Ein paar Wochen.«
»So, so. Und das ist dir nicht peinlich?«
»Wieso peinlich?«
»Na, du bist doch keine Inderin oder so. Oder Hinduistin. Du
bist doch eh-wann-Gel-lösch.«

»Ja und?«, gab ich trotzig zurück.


»Magst du das nicht lieber wegmachen?«, fragte Papa.
»Warum sollte ich?« Das klang noch eine Spur trotziger.
»Weil man sich hier nicht im Gesicht anmalt.«
»Und Mama? Was ist mit Mama? Mama trägt auch jeden Tag
Merk-ab. Ist das etwa nicht angemalt im Gesicht?«
»Das gehört hier dazu, dass man Lippenstift und Augenzeugs
nimmt«, arg-um-End-Tier-Tee Papa jetzt, »ein roter Punkt auf
der Stirn aber, ein roter Punkt auf der Stirn ist nicht üblich.«
Jetzt platzte mir aber der Kragen.
»Ich will aber auch gar nicht üblich sein. Ihr versteht aber
auch gar nix! GAR NIX!«
Ich ließ laut meine Gabel auf den Teller mit Lass-an-je

krachen, sprang auf und raste polternd in mein Zimmer.


Sollten nur alle hören, wie stinkig ich war!
Zehn Minuten später klopfte es.
Papa.
»Du weißt schon, dass ich kein Problem mit Indern habe,
oder?«, fragte er ein bisschen unsicher.
»Weiß ich«, giftete ich. Ich hatte mich schon wieder ein
bisschen beruhigt. »Aber du hast was gegen jemanden mit
einem roten Punkt! Gegen jemanden, der anders ist als alle
anderen. Gegen jemanden, der anders sein will!«
Wortlos knöpfte Papa den linken Ärmel auf und krempelte ihn
bis fast nach ganz oben. Dann zeigte er auf einen Fleck am
Oberarm. Der war in etwa so groß wie ein Daumenabdruck
und ganz blau. Noch nie war mir der aufgefallen.
Papa erklärte mir, dass das mal ein Anker hätte sein sollen.
Ein Tat-Uhu, das er und ein Freund sich selbst gemacht
hätten. Er war zwar schon 18 damals, sagte Papa, aber
trotzdem »nicht ganz erwachsen«.
Weil das Tat-Uhu so richtig, richtig schiefgelaufen sei, habe er
es niemandem zeigen wollen. So geschämt habe er sich, dass
er später lange Zeit keine kurzen Hemden mehr getragen
habe. Weil er anders war und nicht auffallen wollte. Weil er
Angst hatte, dass ihn dann niemand mehr mochte.
»Dabei sind es meistens die anderen, die die größere Angst
haben als die, die anders sind. Die haben Angst vor etwas
Fremdem. Vor irgendwas, was nicht ihren Regeln entspricht.
Angst, dass sie es sind, die nicht ganz richtigliegen.«
Schnell versicherte ich ihm, dass ich mich ja gar nicht
schämte wegen des roten Flecks. Und dass ich auch sonst
nirgendwo ein Problem deswegen bekommen hatte – bisher.
»Im Gegenteil«, sagte ich, »ich bin stolz, anders zu sein.«
»Na gut«, seufzte Papa und fügte an: »Aber mach nichts, was
du hinterher bereust. Ja? Okay?«
Ich nickte. Und Papa hakte noch einmal sicherheitshalber
nach: »Den Stift kann man später wegwischen, nehme ich an.
Stimmt’s?«
»Jaha. Aber jetzt soll er erst mal noch draufbleiben!«
»Gut.« Papa tippte mir auf den roten Stirn eck: »Also weise.
Keine Meise!«
»Nee«, sagte ich. »Ich habe keine Meise!«
Dann tippte er mir auf die Schulter. »Also Mut. Keine Wut.«
Ich grunzte nur. Papa war damit scheinbar wieder beruhigt
und ließ mich allein.

Aber er hatte mir mit seinem kleinen Vortrag einen


Denkanstoß gegeben, mein ziemlich blinder, aber ziemlich
weiser Papa. Einen Denkanstoß für meinen ersten
SchülerzeitungsArt-Igel. Den hämmerte ich noch am gleichen
Abend herunter.

Warum manche Regeln blöd sind

Manche Regeln braucht man. An roten Ampeln stehenbleiben zum


Beispiel. Oder beim Klo runterspülen. Aber wer hat eigentlich diese
Regel erfunden, dass Anderssein doof ist? Dass wir möglichst alle
gleich sein müssen?
Und wer hat diese vielen Unter-Regeln erfunden? Dass wir im
Schulhaus nicht rennen sollen? Dass wir keine Brille tragen dürfen,
nicht zu dick, zu dünn, zu groß oder zu klein sein dürfen? Dass wir
nicht strebern oder rechtschreibschwächeln sollen oder in Mathe
versagen? Dass Jungs Auto-Matt-Tisch in Fußball gut sind? Und
dass Mädchen Merk-up brauchen, damit sie so hübsch werden wie
Sehr-Minis Nächst Topf-Modell? Und wer hat bestimmt, dass
man Witze darüber machen darf, wenn Mädchen X Junge Y mag?
Wer diese Regeln erfunden hat, den möchte ich mal treffen. Den
möchte ich fragen, wovor der Angst hat.
Eure Dr. Ku

Puh, war das viel Geschreibsel in der letzten Zeit! Erst die
vielen Liebesbriefe für Svenja und Felix. Dann der Art-Igel.

Wenn ich nicht aufpasste, würde ich noch Schwielen


bekommen an den Fingern. Und in meinen Adern liefe Tinte,
nicht mehr Blut. Nachts würde ich von Buchstaben träumen.
Meine beste Freundin wäre nicht mehr Svenja, sondern
irgendeine dahergelaufene Vorsilbe. Mein bester Freund wäre
nicht mehr Felix, sondern irgendein nutzloser Satzanfang.
Brrr, gruselige Vorstellung! Brrr!
Auch wenn ich zugeben musste, dass es Spaß machte, wenn
man was Sinnvolles schreiben konnte.

Noch mehr Spaß aber machte: Rodeln!


Es hatte noch einmal geschneit und wir konnten endlich noch
einmal unsere Lenkschlitten aus dem Schuppen ziehen. Ganz
in der Nähe ist ein kleiner Abhang auf einer ziemlich großen
Wiese. Ideal, um Schanzen zu bauen, Wettlaufstrecken
abzustecken und auf Tellerbobs stehend die Piste
runterzufahren.
Sogar Linus, mein fauler stubenhockender Bruder, war dabei.
Natürlich erst mal nicht, um zu fahren. Er tüftelte an der
Bob-Tim-ahlen Schanze, mit dem richtigen Winkel, der
richtigen Länge und dem richtigen Punkt zum Wieder-
Aufkommen. Felix, Svenja und ich dagegen hatten bald schon
unsere fünfzehnte Fahrt hinter uns und zogen gerade für die
sechzehnte unsere Geräte den Berg rauf. Ich allein mit
meinem, Svenja und Felix zu zweit auf ihrem Lenkbob. Was
die plötzlich zusammen zu tuscheln hatten!
Aber egal, so hatte ich wenigstens freie Bahn. Freie Bahn für
die Schanze. Mein Bruder stob nur so zur Seite, als ich Anlauf
nahm.
»Ey, die ist noch nicht fertig!«, rief er empört.
»Ach, komm schon, die ist super!«, schrie ich im Flug, bevor
ich schief wieder aufkam und mit vollem Schwung zur Seite
kippte. Autsch!
Linus lugte über den Rand seiner Schanze. »Selber schuld!«
Pfff!
Ungefähr eine halbe Stunde baute er weiter, fuhr dann
zweimal über das Bauwerk, nickte selbstzufrieden und zog ab
– nach dieser Höchstmenge an Sport konnte er beruhigt
wieder Komm-Puter spielen. Wenigstens seinen
Tellerrutscher ließ er uns da. Felix und ich konnten endlich
unser traditionelles Wettrennen angehen – beide kniend auf
einem Tellerbob.
So wild wie ich nur konnte, stürzte ich mich mit
zusammengekniffenen Augen den Hang hinab, legte mich
wagemutig in die Kurven, stieß mich alle paar Meter noch mal
ab, um noch ein bisschen mehr und noch ein bisschen mehr
Schwung zu holen.
Aber – es half nichts. Felix gewann mit einer knappen
Armeslänge Vorsprung. Aber nur, weil ich mich beim Start
mit dem Klettverschluss von meinem linken Handschuh im
Schal verfangen hatte.
Kaum waren wir im Ziel, jubelte es von oben. Es war Svenja:
»Supaaaa, Felix! Du hast gewonnen! Supaaa!«
Momentchen! Sie war doch meine beste Freundin! Sie hatte
für mich zu sein! Das ist eine wichtige goldene
Freundinnenregel! Was war denn das jetzt plötzlich für eine
Nummer? Das galt nicht – Jubeln für meinen Gegner!
Aber ein Blick zu Felix sagte mir, dass er dieses Lob ganz,
ganz klasse fand. Er glühte nur so vor Freude, dass man fast
fürchten musste, der Schnee unter seinem Hintern würde
gleich zu schmelzen anfangen.
»Reh-wann-schön!«, krähte ich. »Ich will Reh-wann-schön!«

Doch Felix blieb hart: »Noch mal fahr ich nicht gegen dich,
Mira. Verloren ist verloren!«
»Dann will ich wenigstens eine Runde Buchstabendreher!«
Verdammt, irgendwo musste ich doch mal gewinnen! »Die
schönsten Dinge im Winter« – gab ich als Thema vor.
»Schneebann mauen«, versuchte es mein Gegner also tapfer.
Ich lachte nicht – kein Punkt für ihn.
»Littschuhschlaufen«, war mein Vorschlag. Nicht mal ein
müdes Lächeln von ihm. Svenja neben uns kicherte. Aber die
zählte nicht. Das waren unsere Du-Elle. Felix gegen Mira.
»Fischahren!«, brachte Felix ein. Schifahren – wie öde! Felix
war echt nicht in Form heute.
»Scheisstockießen«, schlug ich vor. Eisstockschießen spielten
ein Haufen alter Leute auf dem See im Nachbarort. Jetzt hatte
ich Felix fast so weit – beinahe hätte er den Mund verzogen.
Irgendwie schaffte er es trotzdem noch, sich
zusammenzureißen. Und das, obwohl Svenja schon wieder
losprusten musste.
»Schleeballschnacht«, sagte mein längster Freund.
»Schnarchlangweilig«, entgegnete ich.
»So?«, fragte er und schmiss mir einen Schneeball an den
Kopf.
»So?«, schmiss ich zurück und traf ihn am Ellenbogen.
In null Komma nix hatten wir eine ordentliche
Schneeballschlacht am Laufen. Und wenigstens hier war mal
sicher: Wenn sie nicht gerade unentschieden ausging, war ich
ein klitzeklitzekleines Fitzelchen besser als Felix. Und mit
noch was konnte ich mich ein bisschen rächen, mit einem
meiner legen-der-Rehen Liebesbriefchen:

Liebe Svenja,

auch wänn es mir das Hertz briecht,

verges deine andren Freunde niecht.

Ein Vererer
Kapitel 10

Meine so-zieh-Aale Ader kommt durch

Am Donnerstag vor den Faschingsferien passierten


unglaublich viele Dinge gleichzeitig. Es war der Unsinnige
Donnerstag, an dem normalerweise den Männern die Kraft-

Watten abgeschnitten werden, und der Donnerstag, an dem


wir verkleidet in die Schule kommen dürfen. Sogar unsere
Lehrer sind dann verkleidet.
Unsere Seh-kräht-Teer-in (die ich heimlich den Tröstebusen
nannte, weil sie mir im letzten Jahr so geholfen hatte) kam als
Riesenbär. Unsere wiehernde Klassenlehrerin hatte noch
einmal ihre rote Afroperücke rausgeholt und trug dazu ein
wild gepunktetes Kostüm. Die tadellose Reck-Tor-In ging als
Verkehrspolizistin. Sie sah nicht einmal verkleidet aus, mit
dem engen Rock und Oberteil, dem strengen Hütchen und
einem Block, mit dem sie die (Verkehrs-)Sünder aufschrieb.
Eigentlich wirkte sie wachsam und unnachgiebig wie immer.
Da half es auch nichts, dass sie unsere Bolognese durch das
Haus anführte und »Das rote Pferd« überlaut mitsang. Zum
Glück lief ich ziemlich in der Mitte und musste es nicht groß
mit anhören. Außerdem war ich viel zu beschäftigt, dass mir
der windschiefe indische Turm-Bahn nicht vom Kopf wippte.
Hinter mir hängte sich Robin Hut-Felix ganz schön auf meine
Schultern. Vor mir wippten Svenjas abstehende Pippi-
Langstrumpf-Zöpfe und kitzelten mich unter der Nase.
Gerade tanzten Shirin und Thorsten in der Schlange an mir
vorbei. Dr. Ku wäre nur allzu stolz auf ihre beiden Schützlinge
gewesen. Sie hatten sich nämlich mit Kram aus unserer
Verkleidungskiste als Braut und Bräutigam verkleidet.
Thorsten trug meinen alten Zirkus-Zieh-Linda, Shirin eine
zum Schleier umfunktionierte weiße Gardine. Beide hatten sie
ein altes ausgedientes weißes Tisch-hört an, das sie auf dem
Rücken und vorne drauf bemalt hatten: Jeweils mit einem
halben Herz. Bei Thorsten prangte ein »S+« darin, bei Shirin
ein T. Wenn sie sich Schulter an Schulter zusammenstellten,
dann ergaben sich vorne und hinten jeweils ein ganzes Herz
mit S+T.
Dr. Ku hatte sie tatsächlich überreden können, sich so ein
bisschen selbst zu veräppeln.
»Besser ihr macht das selbst, als jemand anders. Da könnt ihr
nämlich bestimmen, wie weit der Witz geht«, hatte Dr. Ku
ihren beiden Schützlingen erklärt. »Ich mach das auch so, mit
meinem Pups-Likum.«

Und es sah gerade so aus, als käme der Witz ziemlich gut an.
Ich sah, wie immer wieder jemand darauf deutete, lachte und
lobend den Daumen in die Luft reckte oder Thorsten
anerkennend auf die Schulter klopfte. Beide wirkten sichtlich
froh und erleichtert. Unsere wiehernde Lehrerin hatte mit
ihrem Handy sogar ein Foto von dem Brautpaar gemacht.
In ihrer Nähe war irgendwo auch meine alte Feindin, die
Fiese. Sie bildete mit ihren neuen Freundinnen aus der neuen
Klasse eine Bande Wamp-Irre. Vermutlich war sie wieder der
Ober-Wamp-irr und Bestimmer. Konnte mir aber
mittlerweile echt egal sein. Die war mir wurscht.
Hinter uns grölte eine Handvoll Viertklässler zusammen mit
dem Maulaufreißer das Faschingslied in einer unanständigen
Vers-John: »Da scheißt das rote Pferd mal einfach
umgekehrt und hat mit seinem Schiss die Fliege abgewehrt.
Die Fliege war nicht dumm, machte einfach brumm, brumm,
brumm und og mit viel Gesumm um den Schiss herum …«
Sie hatten auch keinen Bock mehr auf gute Laune und Trara.
Ebenso wenig wie ich. Als alle einzeln durch das Schulhaus
tanzten, seilte ich mich ab, um lieber noch einen Blick in den
Kummerkasten zu werfen. Drin waren – oh Schreck – eine
Handvoll Komm-Fett-ih und drei Briefe.
Drei Stück! Das war nicht zu fassen.
Scheinbar hatte sich jemand unter dem Deckmäntelchen
einer Verkleidung getraut, tatsächlich etwas einzuschmeißen.
Helau!
Der auffälligste der drei Briefe war ein iederfarbener Zettel –
ein Schulregelpapier, das jemand bekritzelt hatte. Quer über
die Seite hatte dieser Jemand eigene Regeln geschmiert:

1. Alle Regeln werden abgeschafft.

2. Es gibt nur noch Pause.

J l b f l
3. Jeder Schüler muss das befolgen.

4. Wir machen das ganze Jahr lang Party. YEAH!!!

Unterschrieben war das nicht. Dafür hatte der Schreiber das


Blatt ganz oft gelocht. Die Komm-fetti daraus hatte die Party-
Sau allesamt in meinen Kummerkasten gestopft. Die waren
mir alle auf die Füße gerieselt, als ich die Klappe öffnete.
Hastig warf ich einen Blick auf die Bolognese-Schlange und
suchte nach der tadellosen Reck-Tor-in, die am anderen Ende
der Halle tanzte. So konnte ich den verdächtigen Zettel
schnell in meinem Kostüm verschwinden lassen.
Auch Brief zwei musste ich schnell aus dem Verkehr ziehen.
Das war nämlich einer von der Sorte, die man nicht in aller
Öffentlichkeit lesen kann.
Achtung, jetzt kommt was Megapeinliches. Aber ich habe dir
ja versprochen, dir immer alles ehrlich und offen zu erzählen,
wie beste Schreibfreunde das so tun. Deshalb erzähle ich dir
auch das Megapeinliche, obwohl es mir wirklich schrecklich,
monster-, geister-, mitternachtsschrecklich peinlich ist.
In Druckschrift stand auf einem Klebezettel in Herzchenform:

Liebe Mira,

immer, wenn ich in deine Augen schau,

wird sofort mein Magen flau.

Wenn ich dich in der Pause seh,

tut mir sofort das Herz so weh.

Jemand, der dich mag.


So schnell ich konnte, stopfte ich diesen Brief auch in den
Bund meiner Pumphosen. Da war das Geschreibsel am
sichersten.
Blieb noch Brief 3. Der schien, zumindest auf den ersten
Blick, weitgehend ungefährlich. Er steckte in einem richtigen
Umschlag, auf den sorgsam mit vollkommen gleichmäßigen
Strichen geschrieben war: »Für Dr. Ku – streng persönlich!«
Die Schrift kannte ich. Da hatte ich gleich einen Verdacht, der
sich bestätigte, als ich den Umschlag aufriss.
Da stand:

Liebe Mira,

wenn wir morgen die Zwischenzeugnisse bekommen, kannst du

bitte nach der Schule kurz mit zu mir kommen? Ich brauche

deine Hilfe. Danke!

Deine Anne-Marie

Wenn du jetzt nicht weißt, wer diese Anne-Marie ist, mach dir
nichts draus. Das wusste ich bis vor Kurzem auch nicht. Ich
hatte mir bis dahin nur ihren Spitznamen gemerkt: die
Anstreberin.
Den Spitznamen hatte ich ihr nicht umsonst gegeben, sie war
die Klassenstreberin, die immer alles richtig, richtiger, am
richtigsten machte und alles meistens gut, besser, am besten
wusste. Von der man vielleicht, ganz vielleicht, also ganz
selten mal vorgesagt bekam. Aber meistens, das war Tipp-

Pirsch für sie, nicht mal die Lösung, sondern nur irgendeinen
Tipp.
Noch nie in unseren ganzen drei Schuljahren war es
vorgekommen, dass sie mich um was gebeten hätte.
Außerdem hatte ich mit ihr nicht eben die besten
Erfahrungen gemacht – im vergangenen Jahr war sie eine der
Ersten gewesen beim Hänseln und schick-an-Nieren.

Da war ich erst mal vorsichtig, was den Brief betraf.


Andererseits el mir auch ein: Neulich hatte sie mir geholfen,
als ich meinen Kummerkasten aufhängen wollte und es mir
fast verboten worden war … Da hatte sie mir im
entscheidenden Moment einge üstert, dass meine Aktion laut
Schulordnung nicht verboten war. Ohne die Hilfe der
Anstreberin hätte die Reck-Tor-in bestimmt nicht
nachgegeben. Konnte ich ihr neuerdings vielleicht etwa doch
trauen? Ich war hin- und hergerissen.
Schließlich gewann das Hergerissen.

Am Freitag wartete ich nach Schulschluss auf die


Anstreberin. Das war an sich schon eine Heldentat. Denn
jetzt begann unsere Woche Faschingsferien, ich hatte ein
halbwegs Pass-sabbel-es Zwischenzeugnis in der Tasche –
und die Sonne schien. Wie viel lieber wäre ich mit Svenja und
Felix nach Hause gehüpft, hätte den Schulranzen für eine
Woche in die Ecke geknallt und hätte danach ausgiebig
meinen Schreibtisch verwüstet. Außerdem gab’s zur Feier des
Tages zu Hause kein Mittagessen, sondern Faschingskrapfen.
Aber damit musste Mama wohl noch auf mich warten.
Anne-Marie wohnte in der genau entgegengesetzten Richtung
von uns, in einem großen, einzeln stehenden Haus mit viel,
viel Garten, viel Hecke drum rum. Inmitten dieser Akku-raten

Landschaft stand ein ebenso Akku-Rates weiß gestrichenes


Haus mit hellgrauen Fensterläden. Es war eigentlich ganz
hübsch, aber für meinen karo-Tischen Geschmack viel zu
aufgeräumt. Fast so wie die Anstreberin Anne-Marie.
Nur war die gerade gar nicht so aufgeräumt, sondern total
durcheinander. Ihre sonst sorgfältig gezopften Haare hatten
sich in tausenderlei Strähnen aufgelöst, die Brille saß schief
vor rot geweinten Augen. Den ganzen Weg lang zog sie ihren
Schnodder hoch. Sie hatte in der Klasse ziemlich weinen
müssen. Wegen des Zeugnisses. Ausgerechnet!
Wo sollte die Anstreberin schon eine schlechte Note
bekommen haben? Mathe, Deutsch, Sachkunde – alles glatte
Einsen.
Trotzdem war sie irgendwie untröstlich.
Erst auf unserem gemeinsamen Weg verstand ich, warum.
»Meine Mutter bringt mich um!«, schluchzte sie.
»Warum das denn? Wenn ich so ein Zeugnis hätte, würde
meine Mama mir eine Kuchenschlacht ausrichten!«
»Das verstehst du nicht!«
»Wenn ich in Deutsch eine Eins hätte, dann …«
»Die interessiert meine Mama wahrscheinlich nicht. Aber die
Zwei in So-zieh-Aal-Verhalten – das gibt so was von Ärger.«
Wieder musste die Anstreberin schnodderschniefen.
»Echt jetzt? Eine Zwei? Ich hab auch nur eine Zwei …«
… und bin damit ganz glücklich, hätte ich hinzufügen können.
Nachdem ich im vergangenen Jahr das eine oder andere Mal
aus Wut auch schon mal jemanden getreten, gehauen oder
zurückgeärgert hatte, war das sogar noch Glück, dass die
Note nicht noch schlechter war.
»Du kennst meine Mutter nicht. So-zieh-Aal-Verhalten und
Arbeitsverhalten sind für sie genauso wichtig wie Mathe und
Deutsch!«, jammerte Anne-Marie.
»Aber eine Zwei heißt doch ›gut‹!«
»Eine Zwei ist nicht ›sehr gut‹.«
»Deine Mutter …«, fast hätte ich gesagt »spinnt«. Aber das
konnte sich Dr. Ku gerade noch rechtzeitig verkneifen, so was
sagt kein Pro-Vieh. Stattdessen vollendete ich den Satz mit
»… sollte auf die anderen Noten stolz sein.«
Jetzt ging durch die arme Anstreberin ein regelrechter
Heulkrampf. Ich legte den Arm um sie und versuchte hil os,
sie irgendwie zu trösten. Für sie musste diese Zwei
tatsächlich eine Karrt-Ast-Strophe sein.
»Womit kann ich dir denn helfen?«, fragte ich vorsichtig.
Sie schluckte.
»Kannst du meiner Mama sagen, dass wir beide uns nicht
mehr streiten? Dass wir keine Probleme mehr haben
miteinander?«
Wie ein Häufchen Elend sah sie mich mit
schnodderverschmierter Nase an. Da konnte ich nicht anders:
Jemandem, der so verzweifelt war, dem musste man einfach
helfen! Ich nickte.
Anne-Marie lächelte dankbar: »Dann glaubt sie mir vielleicht,
dass ich bis zum Jahreszeugnis das Ganze noch mal
ausbügeln kann.«
Ich nickte noch einmal. »Das glaubt sie bestimmt.«
Und weil es gerade so eine günstige Gelegenheit war, ergriff
ich sie auch gleich: »Und, äh, ich habe mich noch gar nicht
bedankt, äh, für, äh, die Hilfe neulich, als wird den
Kummerkasten aufgestellt haben, äh, fürs Vorsagen der
Schulregeln und so …«
Anne-Marie lächelte schwach. »Keine Ursache. Die Reck-Tor-

in dreht wirklich gerade am Rad, seit Natascha …«


Natascha? Wer war das gleich?
»… du weißt schon, Natascha, die Mutter von Fiona?«
Ach ja, Fiona, oder besser: Die Fiese, die Ober-Mopp-Ping-
Tante, die jetzt in der anderen Klasse war.
Anne-Marie fuhr fort: »…seit Natascha neuerdings die Che n
vom Elternbeirat ist. Die war ganz und gar nicht glücklich,
dass ihre Tochter die Klasse wechseln musste. Jetzt sucht sie
nach jedem kleinsten Fehler der Schulleitung. Natascha ist
ein scharfer Hund. Im Ernst, da möchte ich auch nicht Reck-

Tor-in sein!«
»Vielleicht ist sie deswegen so nervös mit diesem ganzen
Regelquatsch«, murmelte ich.
»Vielleicht …«, wiederholte Anne-Marie, aber da hatten wir
schon ihre Haustür erreicht. Uns öffnete eine Mutter mit
strengem Pferdeschwanz und Mark-Gel-loser weißer
Schürze. Ernst gemeint, eine Schürze! Und es sah nicht
danach aus, als hätte sie die nur an, weil gerade Fasching
war.
»Anne-Marie, das habe ich dir schon so oft gesagt: Du musst
mir vorher sagen, wenn du jemanden zum Essen mitbringst.
Darauf bin ich jetzt nicht vorbereitet.«
»Ich bleibe nicht lang«, warf ich entschuldigend ein. Das ng
ja schon früh an, dass ich Anne-Marie in Schutz nehmen
musste!
Abschätzig betrachtete mich ihre Mutter: Der Schulranzen
hing mit nur einer Schlaufe über der Schulter, unter die
Klappe hatte ich meine warme Jacke geknüllt. Bestimmt hing
mir wieder ein Zipfel vom Unterhemd irgendwo raus und es
leuchtete – wie immer – ein verschmierter roter Punkt auf
meiner Stirn.
Ihre Mutter musste sicher fürchten, ich würde keinen guten
Ein uss auf ihre saubere Erste-Sahne-Marie ausüben. Und
die Sorge war ja nicht ganz unberechtigt, denn der hingen
Haare, Schulter und Brille schief. Die Nase war
rotzverschmiert.
»Kommt jetzt rein«, befahl der Schürzenträger uns. »Ohne
Jacke ist es da draußen zu kalt.« Kaum dass wir unsere
Schuhe ausgezogen hatten (und ich bemerkte, dass meine
Socken zwei, vielleicht sogar noch mehr Tage alt waren …),
ließ sie sich von Anne-Marie das Zeugnis geben.
»Deutsch – Eins, Mathe – Eins, Sachkunde – Eins. Sehr gut«,
sagte sie kurz angebunden. Doch dann versteinerte ihre
Miene, sie hatte wohl den Absatz So-Zieh-Aal-Verhalten

entdeckt. Und schon wetterte der Schürzenträger: »Was soll


das heißen: in Streitereien verwickelt? Und das nicht nur
einmal – sondern ab und an?«
Anne-Marie sah mich hil os an. Jedoch bevor sie oder ich
auch nur Luft holen konnten, blitzte und donnerte der
Schürzenträger weiter: »Eine Zwei, mein Fräulein, ist nicht in
Ordnung. So gar nicht in Ordnung. Meine Tochter verstrickt
sich nicht in Streitereien, meine Tochter ist anständig. Sie hat
Streitereien nicht nötig!«
Schon zuckte Anne-Maries Schnoddernase gefährlich.
»Was waren das für Streitereien, Anne-Marie?«, grollte es
weiter über uns hinweg.
Jetzt war es passiert: Der Schnodder wurde wieder üssig,
Anne-Marie löste sich in Tränen auf. Sie war nicht fähig,
irgendetwas zu sagen. Aber ihre Mutter war immer noch nicht
gnädig. »Raus mit der Sprache«, knurrte sie.
Also musste ich übernehmen. Ich mischte mich vorsichtig ein:
»Kann ich das erklären?«
Unwirsch fegte mich der Schürzenträger an: »Ich habe Anne-
Marie gefragt.«
Ich blieb standhaft: »Und sie hat mich gefragt, ob ich Ihnen
das erklären kann.«
»Nun?«
»Wir hatten im vergangenen Jahr einige Probleme in der
Klasse. Ich hatte Probleme, und die Klasse hatte Probleme mit
mir. Alle«, fügte ich hinzu. »Fast alle!«
»Und weiter?«
»Die Probleme in der Klasse gibt es nicht mehr. Meines schon
noch. So irgendwie. So wenigstens so ein bisschen«, versuchte
ich zu erklären und fügte dann noch schnell hinzu: »Aber das
ist mein Ding. Da hat Ihre Tochter nichts mehr mit zu tun.«
»Was für ein Problem hattet ihr?«, wollte der Schürzenträger
jetzt wissen. Das Gewitter in ihr war zwar nicht mehr ganz so
stark, aber bestimmt noch nicht abgezogen.
Ich entschied mich, die Art-Moos-Fähre nicht noch weiter
aufzuheizen: »Das möchte ich nicht sagen. Wie gesagt, das ist
mein Problem. In der Klasse aber haben wir alles geregelt und
geklärt.«
Der Schürzenträger war immer noch geladen: »Wenn ihr das
geregelt habt – schön und gut. Aber wird es wieder
vorkommen? Kann das wieder vorkommen …?«
… und meiner Tochter die Note versauen, vollendete ich den
Satz im Stillen.
»Wird es wieder vorkommen?« Ich wiederholte die Frage, um
Zeit zu gewinnen, und guckte zu meiner weinenden
Schnodderkameradin rüber. Würde es wieder vorkommen?
Dass sie mich ärgerte und hänselte? Dass sie sich über mich
lustig machte? Mich schnitt?
»Nein«, sagte ich.
Weil ich Anne-Marie vertraute.
»Nein«, wiederholte ich fest, »das passiert nicht noch einmal.
Das ist vorbei.«
Anne-Marie und ihr Schürzenträger atmeten gleichzeitig auf.
Pfffffh.
Pfffffh.
Aber da war noch ein drittes Pfffffh. Jetzt hörten wir es alle
drei.
»Die Kartoffeln!«, schrie der Schürzenträger auf und stürmte
in die Küche.
»Danke«, schniefte Anne-Marie leise.
Ich grinste. »Vielleicht sollten wir deiner Mutter mal mein
Zeugnis zeigen«, üsterte ich, »dann wäre sie bestimmt stolzer
auf deins.« Mehr konnte ich nicht sagen, denn der
Schürzenträger kam mit einer dampfenden Schüssel
Kartoffeln aus der Küche.
»Willst du wirklich nicht mitessen?«, fragte sie, obwohl es
nicht wirklich klang wie eine Einladung. Mit dem Ellenbogen
öffnete sie die Tür zum Esszimmer. Und wenn ich es nicht
vorher schon gewusst hätte, dann hätte ich spätestens jetzt
gewusst: Sicherlich wollte ich nicht mitessen. Da standen
tatsächlich weiße sehr-wie-ätzend aus Stoff auf zweierlei
gestapelten Tellern, glänzten sorgfältig Pol-irrte Gläser bei
Kerzenschein.
Das alles und die wetternde Mama konnten einem glatt den
Hunger vertreiben. Und außerdem waren meine Mann-irren

bestimmt nicht fein genug für weiße sehr-wie-ätzend, die


nicht dreckig werden durften.
»Nein, danke, meine Mutter wartet auf mich«, beeilte ich mich
zu sagen und klang dabei sowieso schon hö icher, als ich es
sonst war.
Und tatsächlich. Meine Mutter wartete schon auf mich – mit
einer Riesen-Pott-John Faschingskrapfen. Ich durfte sogar
einen dritten von dem Berg nehmen – als Belohnung für die
Zwei bis Drei in Deutsch.
»Siehst du, Mira, da hat es doch geholfen, dass wir täglich die
Lernwörter üben!«, schmatzte sie zufrieden in ihren Krapfen.
Mamas Stolz verteilte sich im Raum wie der feine Krapfen-
Puderzucker auf dem Küchentisch.
Zum Glück tropfte mir genau in diesem Moment ein
Riesenklecks Himbeermarmelade aufs Kinn, sodass ich mich
nicht verraten konnte.
Noch beim Wischen und Fingerabschlecken sagte ich: »Du
hast die gute Note im Aufsatz vergessen!«
»Stimmt, und Schülerzeitung machst du ja auch noch.«
Da brachte mich Mama auf eine Idee. »Ich muss schnell noch
etwas für die Zeitung schreiben«, entschuldigte ich mich
hastig, bevor Mama noch länger auf den Lernwörtern
rumreiten konnte. Aber sie hielt mich fest.
»Hiergeblieben.«
Sie packte mich bei den Schultern und sah mir fest in die
Augen. Ups!
Aber dann sagte sie nur: »Das hast du gut gemacht, meine
schlaue Mira!« Und drückte mir einen marmeladigen
Schmatzer auf meinen roten Fleck.
Ihr Lob und die Krapfenfüllung klebten immer noch an mir,
an Stirn, Kinn und Fingern, als ich an ng, wild meinen
neuesten Art-Igel für die Schülerzeitung in die Tastatur zu
hacken:

Jetzt ist gut

Ich nde, man sollte niemals in der Schule Angst haben müssen.
Nieeeeeeee (mein Klebe nger war auf der E-Taste hängen
geblieben. Den musste ich noch mal abschlecken).
Denn wer Angst hat, geht nicht gern in die Schule. Wer Angst hat, hat
keinen Spaß am Lernen. Dann lernt er irgendwann gar nix mehr.
Noten und Zeugnisse machen aber Angst. Eltern schimpfen, wenn die
Noten nicht passen. Manche schimpfen sogar schon bei einer Zwei.
Aber statt Angst zu machen, sollten sie lieber sagen: Eine Zwei heißt
gut. Punkt. Aus. Alles ist gut.
Eure Dr. Ku
Kapitel 11

Omi-Nö-See Wortspiele

Ich wünschte, Mama hätte den Art-Igel gelesen. Vor allem das
mit dem Nicht-Schimpfen. Hatte sie aber nicht. Wir sind eine
Schülerzeitung, keine Elternzeitschrift. Und Eltern nehmen
keine Ratschläge von Kindern an. Sogar dann nicht, wenn die
Kinder einen Doktor haben – so wie Dr. Ku.
Mama schimpfte also. Nein, das war kein Schimpfen mehr.
Mama tobte. Das war sogar noch lauter und tosender als der
Sturm von Anne-Maries Mama. Im Vergleich dazu war Mama
ein wild wütender Ork-Ahn.

Du kannst dir sicher denken, weswegen Mama aufbrausen


musste. Genau: Die Lernwörter! Die Scheiß-Lernwörter.
Im Auge des Sturms saß Linus, mein Stinkstiefel-Bruder.
Sagte ich schon, dass er stinkendfaul ist? Was war denn
schon dabei, jeden Tag ein paar Wörter zu schreiben? Für ihn
Schlaumeier? Aber nein, Linus Stinktier wollte mir diesen
Minigefallen nicht mehr tun. Stattdessen musste er schlechte
Luft verbreiten.
»Mach ich nicht mehr«, weigerte er sich einfach klipp und klar
am ersten Ferientag. »Die Munter-Monika habe ich
abgearbeitet. Mach’s ab heute selbst.«
Ich bat.
Bettelte.
Bekniete und beschwörte ihn.
Bebte: »Bitte, bitte, bitte! Büüüüttte!«
Ich benutzte alle bewährten Tricks.
»Basta.« Mein Bruder blieb beinhart.
Binnen einer Minute brach über meinen Bruder meine böse
Rache herein: Binnen einer Minute schwamm die Munter-

Monika in seinem arg-wahr-ih-um. Mal sehen, ob sie


wirklich so rostfrei war, wie es in großen Buchstaben
draufstand.
Jetzt bebte mein Bruder. Und meine Mutter, von dem
Geschrei angelockt, stand innerhalb kürzester Zeit in Linus’
Zimmer.
»Was is’n hier los?«
Linus ließ schlagartig meine Haare los, in die er sich gekrallt
hatte, und ich verkniff mir einen weiteren Tritt gegen das
Schienbein. Mama hat es ja nicht so mit Gewalt.
Außerdem waren ihre Augenbrauen bereits auf Bergtour, im
Anstieg. Erst mal zog Mama die tropfnasse Munter-Monika

aus dem Wasser. Ein paar Gold sche glotzten noch ihrem
gerade gewonnenen und schon wieder verlorenen
Glitzerspielzeug mit großen Augen hinterher.
»Was soll das?«, fragte sie mich.
»Wieso? Da steht doch frostrei drauf …«, murmelte ich. Mir
war schon klar, dass Witze reißen jetzt nicht angesagt war.
»Rostfrei«, verbesserte mich mein humorloser Bruder.
»Wie gehst du denn mit deinen Sachen um?«
»Nicht meine Sachen, die habe ich Linus geschenkt«,
versuchte ich abzuwehren.
Falsche Tag-Tick!

»Dann ist es ja noch schlimmer! Wie gehst du mit den Sachen


anderer um?«
»Ich bin sauer.«
Eigentlich sagten Mamas Augenbrauen schon alles. So, so.
Warum musste sie auch immer auf der Seite von meinem
Streber-Bruder stehen? Der faule Sack hielt einfach seine
Abmachungen nicht ein. Eine ganz miese Nummer war das!
Warum musste der einfach alles besser wissen? Das war total
unfair. Und besonders unfair war, dass er sogar wusste, wie
man unfair schreibt (ohne sich vom Rechner berichtigen zu
lassen, so wie ich gerade).
Nachdem ich verstockt und stumm blieb, musste Linus alles
erzählen. Mit Tam-Tam und viel Trommelwirbel, natürlich!
Er spuckte alles aus: Dass ich ihm das ins-drum-End

geschenkt hatte, wie ich ihn damit bestochen hatte, und, und,
und …
»Mama, nicht böse sein, sie hat mich bequatscht«, sagte er
auch noch ganz unverfroren. Obwohl er doch genau wissen
musste, dass Mama ganz bestimmt böse auf uns war. Und
wie sie böse war!
Sie kniff die Augenbrauen ganz fest zusammen, holte Luft
und brüllte mich an: »Ich bin derart enttäuscht von dir! Dabei
habe ich doch nur gewollt, dass du besser in Deutsch wirst.
Wir hatten eine Abmachung, Mira. Die hast du einfach so
gebrochen. Du wolltest keinen Schrieb vom Psycho-Locken.

Dafür hast du mir versprochen, dass du was tust. Du hast


dein Versprechen gebrochen! Schlimmer noch: Du hast mich
angelogen!«
Mit diesen Worten schickte sie mich aufs Zimmer. Ich solle
mal nachdenken. Und packen. Denn in einer Stunde wollte
sie mich zu Oma bringen, wo ich – Mist, Mist, Mist – mit
diesem Mistkerl Linus ein paar Ferientage bleiben sollte.
»Du hast mich angelogen!«, brüllte mir Mama noch einmal
hinterher, als ich beschämt die Tür hinter mir zuzog.
Geknickt und traurig packte ich meine Siebensachen, ein
paar Co-Mix, ein paar angefangene Malereien, vier halb fertig
ge ochtene Bänder, ein Kartenspiel und ein paar Stofftiere.
Nur einmal ging währenddessen die Türe auf. Mama
schnaubte herein: »Und pack dein Deutschbuch und ein Heft
ein. Du wirst alle Lernwörter der dritten Klasse in den Ferien
fünfmal abschreiben.«
»Aber das sind mehr als hundert!«
»Ja. Das hast du dir leider selbst eingebrockt! Oma sage ich
noch Bescheid.«
»Aber Oma hat doch schon so viel mit uns vor …« Mein Satz
verhallte ungehört, denn Mama hatte die Tür schon längst mit
viel Wumms wieder hinter sich zugezogen.
Jetzt waren mir meine Ferien so richtig verdorben! Dabei
hatte ich mich so gefreut auf Oma und die vielen Aus üge, die
sie immer mit uns macht. Aufs Ausschlafen und Ausspannen.
Da gibt es viel freie Zeit, Fernsehen, Süßigkeiten und jeden
Abend irgendeins meiner Lieblingsessen, also Pizza, Pommes,
Pfannkuchen. Alles ohne lästiges Gemüse. Bei Oma war
faules und freies Schar-Affen-Land.

Mit Mamas Strafaufgabe aber war es nur noch ein Arg-


Schaffen-Land.

Deswegen schmeckte mir die Pizza am ersten Abend irgendwie


so gar nicht, obwohl wirklich kein einziger Schnitz Gemüse
darau ag. Oma guckte schon ganz besorgt. Als Linus sein
letztes Stück vertilgt, gerülpst und die Restränder geschickt
zu einem Tipp-ih gestapelt hatte, fragte Oma doch mal nach:
»Schmeckt’s dir nicht, Mira?«
»Doch, doch!«, beeilte ich mich zu sagen. Nicht, dass es
morgen zuck-ih-nie-Au auf gab. Brrr!
»Und warum isst du nichts?«
»Kein Hunger!«
»Und warum hast du keinen Hunger?«
»Weil!«
»Weil was?«
»Weil halt«, sagte ich unwirsch.
»Weil … ich unglücklich verliebt bin …«, vollendete Oma
schmunzelnd meinen Satz aufs Geratewohl. Linus, total
überrascht, machte eine schnelle Bewegung und sein ganzes
T h
Resteränder-Tipp-ih el in sich zusammen.
»Verliebt?«, fragte er neugierig. »In wen? In Felix?«
Aber da kochte ich schon.
»Ich! Bin! NICHT! Verliebt!«, stieß ich aus. »Schon! Gar! Nicht!
In! Felix!« Leider saß Linus zu weit entfernt, um ihm unter
dem Tisch einen gescheiten Tritt zu verpassen.
»Ach, ich vergaß, Felix geht ja mit Svenja. Aber wer weiß,
vielleicht bist du ja eifersüchtig!«
Weil ich gar so angefressen war, hörte ich nur »eifersüchtig«.
So ein Blödmann!
»Ich verliebe mich nicht. Grundsätzlich nicht. Ich bin weise!«
»Na, dann«, meinte Oma und begann die Teller
zusammenzuschieben. »Ich dachte nur, weil dir dieser Zettel
vorhin aus der Hosentasche gefallen ist.« Sie legte einen
zusammengefalteten Klebezettel neben meinen Ellenbogen.
Oh nein! Das war dieses peinliche Teil in Herzchenform, das
ich in der Schule im Dr. Ku-Kummerkasten gefunden hatte.
Du weißt schon, der mit …

Liebe Mira,

immer, wenn ich in deine Augen schau,

wird sofort mein Magen flau.

Wenn ich dich in der Pause seh,

tut mir sofort das Herz so weh.

Jemand, der dich mag.

Oh, wie monsterpeinlich! Und als hätte er es gewittert, war


mein Monster von Bruder auch schon wieder ganz wachsam.
Sofort grapschte er nach dem Herzchenzettel. Zum Glück war
ich schneller. Uff!
Doch von nun an versuchte Linus den ganzen Abend
dahinterzukommen, was auf diesem Omi-Nö-Seen

Zettelchen stand. Seine Neugier war geweckt.


»Nun sag schon, was steht drauf?«, bettelte er.
»Geht dich nichts an«, knurrte ich zurück. »Du bist ein Depp
und ein Verräter. Ich verrate dir bestimmt nichts.«
»Und wenn ich dir noch ein paar Lernwörter schreibe?«,
säuselte er.
Ich brüllte zurück: »Was ich von deinen Versprechen mit
Lernwörtern zu halten habe, weiß ich ja jetzt: Nichts. Also: Es
geht dich NICHTS an!«
Linus zog ab, fürs Erste.
Fürs Zweite gab er natürlich nicht auf. Er versuchte heimlich,
mir den Zettel zu klauen. Als ich nach dem Zähneputzen ins
Gästezimmer kam, lag meine Hose schön sorgfältig
zusammengelegt auf dem Stuhl. Nie und nimmer war ich das
gewesen. Bestimmt hatte da ein Depp die Hosentaschen
durchwühlt!
Pech für den Deppen, dass ich den Zettel mit ins Badezimmer
genommen hatte. Oberpech, dass es kein Magen au und
Herz so weh mehr gab.
Ich hatte mir nämlich von Oma das Kaminfeuerzeug gemopst
und das Herzchen einfach abgefackelt. Ich hatte mitgedacht:
Rechtzeitig hatte ich das Papier losgelassen, um mir nicht
meine Finger zu verkohlen. Angezündet hatte ich es über dem
Waschbecken, wo man zur Not ganz schnell löschen konnte.
Musste ich aber gar nicht, es glühte kurz und dann war es
vorbei. Es stank nur ein bisschen und qualmte ziemlich arg.
Dann plötzlich ging auch noch der Rauchmelder im
Treppenhaus los. Opa musste gerannt kommen und die Bart-

er-ih rauspopeln. Oma rannte ganz hektisch durchs Haus


und suchte nach möglichen Bränden, während ich ganz
verschämt im Badezimmer ganz lange das Wasser laufen ließ
und so tat, als würde ich besonders sorgfältig Zähne putzen.
Opa beruhigte sich schnell, und nachdem ich Oma versichert
hatte, dass ich die Pizza nicht deswegen verschmäht hatte,
weil sie vielleicht, ganz eh-wenn-Duell angebrannt gewesen
war, beruhigte auch die sich. Schließlich war ja kein weiterer
Rauchmelder losgegangen.
Beim Zubettbringen riet Oma mir noch, mir vor dem
Einschlafen die Lernwörter des Tages anzuschauen.
»Da merkt man sich angeblich am meisten«, wusste sie.
»Pffffffff«, machte ich. »Apffffffel. Apffffe, Apfffffelsine,
Apffffffelmus, Pfffff. Pfffffergessen. Hab’s pffffffergessen.«
»Vergessen schreibt man aber mit V.«
»Pffffurscht.«
»Und Wurscht mit W.«
»Pffffurzkackegal.«
»Und Furz mit …«
Da hatte endlich auch Oma begriffen, dass ich Pf… eierabend
und Pf… erien hatte.
Sie ließ mich auf meiner Gästepritsche allein und ging lieber
noch mal im Keller schnuppern, ob da nicht vielleicht doch
ein Kabel durchgebrannt war. Morgen würde ich ihr mein
Ecks-per-im-End im Waschbecken beichten, heute aber
brauchte ich Zeit zum Grübeln. Grübeln, wer wohl hinter dem
Zettelchen stecken mochte …
Felix war es schon mal nicht. Der hatte ja ein Auge auf Svenja
geworfen. Also ließ ich vor meinem geistigen Auge und dem
roten Punkt alle anderen Jungs aus meiner Klasse
vorbeiwandern. Da waren zwei, die bei Wind und Wetter
immer ihr Bayern-Trick-Kuh trugen. Aber nein, mit denen
hatte ich mich zu oft angelegt, die schieden aus. Ebenso wie
der Rest der Fußballmannschaft. Kein Einziger von denen war
je damit aufgefallen, dass er sich so früh schon eine
Spielerfrau suchen wollte.
Blieben eigentlich nur unser Klassensprecher Thorsten
(ebenfalls vergeben) und der zweitkleinste und Streber aus
unserer Klasse. Dessen Name hatte ich auch schon wieder
vergessen. Und wenn ich ihn vergaß, vergaß der mich
bestimmt auch – der war es also auch nicht. Oder vielleicht
doch?
Unentschlossen kickte meine Fan-Tast-sie den Ball zwischen
den Fußballern hin und her. Irgendwann mischten in dieser
Mannschaft auch noch der Maulaufreißer mit und der Breite
und …
… und irgendwann schlief ich darüber ein.

Natürlich konnte ich nach einem derart anstrengenden Spiel


in der Nacht am nächsten Morgen kaum ein Wort richtig
Ärztin noch außen. Weder Bäcker noch bloß.
schreiben. Weder
Und Clown und Computer gingen schon gar nicht. Oma war
am Verzweifeln. Sie hatte eine magische Tafel aus ihren
Altbeständen an Kinderspielzeug herausgezogen. So eine, wo
man mit einem Spezialstift draufschreibt und die wieder weiß
wird, wenn man an einem Knopf dreht. Immer energischer
und energischer drehte Oma an dem Knopf.
»Du gibst dir keine Mühe, Mira!«, schimpfte sie (und es
braucht ziemlich lange, bis sie schimpft, sogar bei meiner
Brand-Beichte war sie ruhig geblieben).
Als ich schon wieder Compjuter geschrieben hatte, knallte sie
entnervt das Tafelbrett auf den Tisch.
»So geht das nicht. So kommen wir nie und nimmer heute bis
zu den Buchstaben D bis G.«
Schuldbewusst buchstabierte ich: »D wie Wörterlernen ist d-
o-o-f. E wie e-k-l-i-g. F wie f-i-e-s. Und G wie g-a-n-z
umsonst.« Da musste Oma sogar ein klein bisschen lachen.
»Das war alles r-i-c-h-t-i-g buchstabiert, Mira«, lobte sie. Jetzt
musste ich auch lachen.
»Oh, da habe ich eine Idee …« Sagte ich schon, dass ich meine
Oma sehr mag? Erstens schimpft sie nicht so viel, zweitens
macht sie immer ganz viel Aus üge und lustiges Zeugs mit
uns. Und dann, wenn es einem schlecht geht, hat sie
garantiert ein Rezept, mit dem man das Problem versüßen
kann. So auch jetzt.
»Mira, schreib doch mal Krapfen.«
K-a-r-p-f-e-n schrieb ich. Oma lächelte, wischte alles noch
einmal aus und schrieb K-r-a-p-f-e-n. »Der Krapfen schmeckt
besser als Karpfen. Einverstanden?«, meinte sie. »Und jetzt
schreibst du Krapfen backen.«
Ich hatte schon K und R gekritzelt, als ich bemerkte, was sie
gesagt hatte. »Wirklich? Wir backen jetzt Krapfen?«
»Jawoll! Ein Hirn braucht Zucker zum Denken.«
Gesagt, getan – äh, gebacken! Oma kramte ihre Friert-Öse

heraus und ich knetete den Hefeteig. Während dieser dann


seine zwei Stunden gehen musste, schickte sie mich zum
Einkaufen, Fett besorgen und Puderzucker. Und
Reißzwecken. Weiß der Geier, wofür sie die Reißzwecken
brauchte!
Linus durfte dableiben, die faule Socke! Zu Omas
Lebensmittelgeschäft ist es ziemlich weit – mindestens eine
halbe Stunde. Nur der Hinweg.
Was ich ja nicht wissen konnte, war, dass Oma Linus gar
nicht so faul rumsocken ließ. Der musste nämlich basteln:
Eine Drehmaschine für Worte. Sie ließ ihn mit einem Zier-

Gel drei Kreise auf extradickes Papier malen, alle


unterschiedlich groß. Einer war sechs, der nächste 12 und
der letzte 18 Zentimeter breit. Jetzt musste Linus die Kreise
jeweils in gleiche Achtel teilen. So was kann er, Kuchen
anschneiden und Bruchrechnen sind sein Hobby.
Danach musste Linus die drei Kreise ganz genau
übereinanderlegen, sodass alle die gleiche Mitte hatten. Er
musste einmal den Außenrand vom ersten und kleinsten
Kreis auf den zweiten Kreis nachfahren und dann den
Außenrand vom zweiten Kreis auf den dritten und größten
Kreis darunter.
Dann sollte der Arme die Achtel beschriften. Beim größten
Kreis durfte er nur in den sichtbaren ganz äußeren Teil
schreiben, beim mittleren Kreis auch nur außen. So konnte
man jeweils die Beschriftung ganz lesen, wenn alle drei Kreise
übereinander lagen.
Was Linus auf die Kreise schreiben musste? Dazu hatte Oma
ihm aus meinem Lehrbuch die schwierigsten Lernwörter
rausgesucht.
Auf die acht Felder des äußeren Kreises schrieb er:

Der eckige Computer


Das exakte Quadrat
Das fröhliche Weihnachten
Der quatschende Lehrer
Die trockene Straße
Deutschland
Der langweilige Unterricht
Das emp ndliche Thermometer
Auf die acht Felder des mittleren Kreises kamen schwierige
Tunwörter:

bekleckert
nummeriert
ernährt
wäscht
boxt
beißt
frisst
bestiehlt

Die acht Felder in der Mitte wurden beschriftet mit:

die zukünftige Ärztin.


die leckeren Spaghetti.
die jugendliche Hexe.
das interessante Lexikon.
das neunte Handy.
die reifen Kühe.
die ekeligen Säfte.
das gefährliche Fernsehprogramm.

Und dann mussten Oma und der fertige Linus nur noch
warten. Darauf, dass der Krapfenteig ging. Und darauf, dass
ich wiederkam und die Reißzwecken brachte, mit denen man
die Scheiben auf einer Korkenscheibe festzwickt. Dann kann
man sie nämlich drehen und lustige Sätze bilden.
Genau das ließ Oma mich machen. Sätze verdrehen und
dann aufschreiben. Noch mehr Arbeit, seufz, seufz, seufz,
dachte ich.
Aber – ganz ehrlich – ich hätte nicht gedacht, dass das so eine
lustige Arbeit war. Denn das Sätzeverdrehen ist manchmal
sogar noch lustiger als das Buchstabendrehen. Weißt du,
welche Sätze ich da herausbekommen habe? Diese zum
Beispiel:

Deutschland frisst das neunte Handy.


Der eckige Computer beißt das interessante Lexikon.
Das fröhliche Weihnachten boxt das gefährliche Fernsehprogramm.
Das exakte Quadrat bekleckert die reifen Kühe.
Der quatschende Lehrer nummeriert die leckeren Spaghetti.
Die trockene Straße ernährt die jugendliche Hexe.
Der langweilige Unterricht bestiehlt die zukünftige Ärztin.
Das emp ndliche Thermometer wäscht die ekeligen Säfte.

Bestimmt gab es noch die eine oder andere lustigere Kombi-

Nation, die musste ich nur noch nden …


Kapitel 12

Zum Teufel mit diesen Arm-Ohr-Pfeilen!

Du kennst mich. Du kannst dir denken, dass ich mir


Spielregeln, die sich andere ausgedacht haben, nicht so
einfach gefallen lasse. Da spiel ich nicht mit. Omas
Satzverdrehscheibe war wirklich sehr lustig und das
Sätzeverdrehen machte wirklich Spaß. Die Spielregel aber,
dass ich die lustigen Sätze auch alle abschreiben musste,
schmeckte mir gar nicht. Vor allem, wenn Mama die
Spielregeln machte. Als die von Omas Idee erfahren hatte,
hatte sie gleich mal vor Freude in die Hände geklatscht:
»Prima, Mira, dann bauen wir jetzt für die anderen Lernwörter
auch solche Drehscheiben. Dann kannst du jeden Tag acht
Sätze schreiben.«
»Acht?!?«
Mamas Augenbrauen machten sofort wieder missbilligende
Mann-nö-wer. Ärgerlich zogen sie sich zusammen.
»Wir können auch sechzehn sagen!«, blaffte sie mich an. So
ganz vergessen hatte sie unseren letzten Streit anscheinend
immer noch nicht.
»Wir könnten doch auch null sagen«, wandte ich trotzdem
tapfer ein. Bei Spielregelverhandlungen kann man nicht so
einfach nachgeben.
»Dann sagen wir zehn«, sagte Mama streng.
»Acht. Aber ich baue die Drehscheiben.«
Mamas gerunzelte Augenbrauen gaben die Antwort. »Darüber
muss ich erst noch nachdenken.«
Schließlich kniff sie auch ihren Mund zusammen und
knurrte: »Na gut.«
Du kennst mich, du kannst dir denken, dass die
Drehscheiben, die ich baute, nicht so harmlos waren wie die
von Oma. Oder so öde, wie die von Mama bestimmt geworden
wären, so nach dem Motto: »Die gute Lehrerin macht
interessanten Unterricht.« Kotz. Würg. Speiübel.
Kotz, würg, speiübel – das sind übrigens genau die richtigen
Stichwörter für mich:
Willst du mal sehen? Meine nächste Drehscheibe bestand aus
folgenden Satzstücken:
Bestimmt hast du schon selbst ganz tolle Kombi-Nationen

gefunden. Welche sind denn deine liebsten? Meine sind Das


speiüble Gemüse würgt das ätzende Sackgesicht und Der
angeberische Maulaufreißer befurzt die eingebildete Tussi-
Bande. Und Der dämliche Besserwisser bescheißt die komplett
ekelige Hundekacke. Oder: Die langweilige Lehrerin bekotzt die
endstrenge Schulleiterin.
Mama waren die vielen Kraftausdrücke natürlich überhaupt
nicht recht. Aber selber schuld. So waren nun mal die
Spielregeln.
Ätsch.
Aber natürlich ließ sie es sich nicht nehmen, die Wörter zu
verbessern, und ich musste sie dann richtig abschreiben.
Irgendwo muss sie sich immer einmischen.
Ällabätsch.
Wenn sie nicht aufpasste, würde ich noch Die ober ese
Übermama in meiner Drehscheibe einbauen.
Ällaällabätsch.

Mittlerweile war ich so gut im Drehscheiben-Basteln, dass ich


ein gutes Dutzend von diesen Maschinen hätte herstellen
können. Mit Felix hatte ich schon am letzten Feriensonntag
Sätze verdreht (sein Liebling war übrigensDas arme Europa
frisst den voll verpeilten Professor Oberschlau). Von Felix
kamen natürlich keine Bedenken, aber mit Svenja musste ich
am Montagnachmittag eine neue Scheibe bauen. Solche Kotz-
Würg-Speiübel-Sachen sagt die gut erzogene Svenja nicht.
Auch sonst ist sie mehr Mädchen.
Auf der größten Scheibe von ihr standen Namen (hatte Svenja
größtenteils hingeschrieben, ich kenne ja nicht immer alle).
Auf die kleinste Scheibe pinselte Svenja noch mal ein paar
Namen.
In der Mitte stand »liebt, liebt sehr, verehrt, hasst, hasst sehr,
macht sich nichts aus, ärgert, mag« (hatte natürlich auch
Svenja geschrieben, so einen peinlichen Mädchenquatsch
denke ich mir doch nicht aus!).
Dann spielte sie Glücksrad: Sie verdrehte die Scheiben
gegeneinander. Ohne hinzugucken. Aber ich hätte auch ohne
Hingucken sagen können, welches Ding sie am liebsten
drehen wollte: Svenja liebt sehr: Maurice.
Seufz.
Ganz aufgedreht war meine beste Freundin bei ihrem ersten
Dreh. Und das war ihr Satz: Mira mag Maurice.
»So’n Quatsch«, stieß ich aus. »Hirnverbrannter Quatsch! Der
ist doch …«
»Heißt ja nix. Ist doch nur ein Spiel«, warf Svenja ein. Mir
kochte die Wut hoch. Wollte die nicht begreifen oder was?
Quatsch. Hirnverbrannter …
Ich riss Svenja die Scheibe unsanft aus den Händen. Auf der
Drehscheibe strich, radierte, malte und werkelte ich so lange
herum, bis ich Folgendes auf die Reihe gebracht hatte: Mira
liebt nie-Mann-denn! Basta. Das musste jetzt endlich auch
mal Svenja einsehen.
So was Lächerliches hatte ich nicht nötig, mich von so einem
Pfeil von diesem Arm-Ohr, diesem blöden Gott der Liebe,
treffen zu lassen. Der sollte sich seinen Pfeil sonst wo
hinstecken. Und Briefchen übrigens auch. Solche Briefchen
wie das, das ich unerklärlicherweise an diesem Morgen in
meinem Federmäppchen gefunden hatte:

Liebe Mira,

du bist süß. Du kannst denken.

Ich möchte dir ein Herz heut schenken.

Jemand, der dich mag

Wahrscheinlich kann man kein Papierherzchen in kleinere


Fetzchen reißen, als ich es gemacht hatte. Millimeterkleine
gelbe Schneefetzchen, die Sekunden später in die Papiertonne
der Klasse schneiten.
Nachdem ich meiner Freundin unmissverständlich
klargemacht hatte, dass sich mein Leben nicht ums
Verliebtsein drehte, spickte ich erst mal in der Küche, ob ich
bei Mama nicht was Süßes rausleiern konnte. Doch als ich
mit meiner Beute, zwei Cola-Lutschern, hochkam, drehte
Svenja immer noch auf der Scheibe rum. Bestimmt hatte sie
jetzt endlich ihren Lieblingsspruch vollendet: Maurice liebt
Svenja. Brrrr, wie gruselig. Und tatsächlich: Wie ertappt fuhr
Svenja rum.
Jetzt war endlich genug! Es reichte. Ich riss ihr dieses Farm-

alle-drei-Tee Unglücksrad aus der Hand und schleuderte es


in einem hohen Bogen in den Papierkorb.
»Schluss damit«, wetterte ich. »Diese Sache mit dem
Versiebtlein hat jetzt ein Ende!«
Svenja guckte ganz verdattert: »Entschuldigung«, sagte sie.
»Ich wusste nicht, dass es dich so nervt.«
»Tut’s aber«, grollte ich. »Mit keinem von euch kann man
mehr normal spielen oder reden. Immer geht es nur noch um
Liebe. Das nervt.«
Svenja blickte mittlerweile ganz schuldbewusst. »Es tut mir
leid. Natürlich spiele ich noch normal mit dir.« Sie sah mich
ganz traurig an, ihre langen blonden Spar-geht-ih-Haare

hingen auch schon runter. Die können nämlich regelrecht


mittrauern, wenn sie schlecht drauf ist. Schließlich richtete
meine Freundin sich wieder auf und machte einen Vorschlag:
»Wollen wir dein Lieblingsspiel spielen?«
»Welches?«
»Buchstabenverdrehen?«
Wenn meine Haare sich jetzt nach meiner Stimmung gerichtet
hätten, dann hätten sie sich bestimmt erstaunt gekräuselt.
»Kannst du das denn?«
Svenja nickte eifrig. »Wenn jemand lachen muss, dann ist es
ein Punkt.«
»Stimmt«, sagte ich anerkennend.
»Felix hat’s mir erklärt«, sagte Svenja. Es klang fast ein
bisschen verlegen, und ihre Haare mussten das, was sie
sagte, gleich ein bisschen zuhängen und verschleiern.
Schnell lenkte ich ab: »Welches Thema?«
»Weiß nicht …«
»Spiele?«
»Was für Spiele?«, fragte sie zurück.
»Brettspiele? Spiele für drinnen?«, schlug ich vor. Das war ein
bisschen hinterhältig, denn damit hatte ich schon mal gegen
Felix gewonnen. Haushoch. Aber wenn man mich schon mal
die Spielregeln machen lässt, braucht man sich nicht zu
wundern …
»Einverstanden«, sagte Svenja. »Hang den Fut.«
Ich grinste. Einen Punkt Vorsprung konnte ich einer
Anfängerin schon mal lassen. Denn ich hatte jede Menge
guter auf Lager, zum Beispiel: »Siffe verschenken.«
Belustigt wippten Svenjas Haare auf und ab. Es stand 1:1.
Das Spiel nahm Fahrt auf.
»Fladt, Land, Stuss«, warf sie nach einer Weile in die Runde.
Mist, das war so gut, dass ich schon wieder grinsen musste.
Sie ging wieder in Führung.
»Lame z.« Das war das Schnellste, was mir ein el. Aber leider
erzielte dieser lahme Vorschlag keinen Treffer. Immer noch:
2:1 für Svenja.
»Stink Pories.«
»Häh?«
»Pink Stories!«
»Ach so«, sagte ich. Der war gut, aber ich konnte mir ein
Lächeln gerade noch verkneifen.
»Die Ciedler von Satan«, warf ich ein. Das hatte Felix neulich
umgehauen. Nicht so Svenja. Sie zeigte keine Regung! So ein
Stuss!Fladt, Land, Stuss!
»Lagasand«, sagte Svenja nach einer Weile und löste den
Dreher gleich noch auf, für den Fall, dass ich es nicht wusste:
»Sagaland.«
Es gab keinen Treffer für sie. Verdammt, ich musste trotzdem
aufholen. Aber weder Keetesselchen, noch Ponomoly konnten
bei meiner Freundin punkten. Sie versuchte es mit
Lakerkakensalat und Gensch, ärmere dich nicht. Beim letzten
schaffte ich es nicht, mich zusammenzureißen, da musste ich
doch mal kurz grinsen. Doch jetzt stand es – mistmistmist-
obermistig – 3:1. Für Svenja.
Nur noch mein letzter Trumpf blieb mir, den hatte ich neulich
schon bei Felix ausgespielt: »Poffer kacken.«
Ok, 3:2. Aber dabei blieb es. Mir el nichts mehr ein.
Nichtsnichtsnichts-obernichts. Svenja hatte mich besiegt, in
meinem allerbesten Spiel. Nach meinen Regeln! So eine
peinliche Niederlage. Svenjas Haare schienen sich beinahe
hänselnd nach oben zu kringeln.
Wenigstens war jetzt nicht mehr von Liebe und so die Rede.
Keiner von uns beiden dachte mehr an die Liebe-Ver-
Drehscheibe im Papierkorb. Erst viel, viel später entdeckte
ich. Was wirklich darauf stand: Svenja mag Felix.
Kapitel 13

Eine Kater-Stroh-Fee bahnt sich an

Vielleicht hätte mir das mit der liebesverdrehten Drehscheibe


eine Lehre sein sollen. Vielleicht hätte ich es einfach dabei
belassen sollen: Die Liebes-Drehscheibe in meinem
Papierkorb und die andere Drehscheibe fürs Üben zu Hause.
Jetzt weiß ich das. Damals wusste ich das nicht.
Wenn ich es damals besser gewusst hätte, hätte ich meine
Kotz-Würg-Speiübel-Drehscheibe nicht mit in die Schule
genommen. Doch ich war zu stolz auf meine Er ndung. Ich
wollte sie schließlich auch Shirin zeigen.
Wie erwartet fand Shirin die Drehscheibe super, die ich ihr im
Geheimen unter der Bank zeigte. Sie entdeckte sogar noch ein
paar mehr von den witzigen Drehern: Der stinkende Bruder
befurzt das trampelige Rindvieh und Der strohdumme
Christbaum bequatscht die eingebildete Tussi-Bande.
Leider mussten wir aufhören, als Frau Wienert uns strenge
Blicke zuwarf. Eine kleine Rache aber ließ ich mir nicht
nehmen: Die langweilige Lehrerin besudelt die nervtötenden
Hausaufgaben. Zum Glück sah unsere wiehernde Lehrerin
Frau Wienert nichts davon. Denn eigentlich ist sie ja gar nicht
so langweilig, sondern meistens ganz nett. Besser, sie hätte es
entdeckt! Das wäre glimp icher abgelaufen.
Aber ab da nahm die Geschichte trotzdem einen unheilvollen
Lauf. Es war Mittwoch, also Schülerzeitungs-Mittwoch. Und
der Rundlauf hatte uns dieses Mal keine Rechner vor die Nase
gestellt, sondern ein ernstes Gesicht aufgesetzt. »Meine
Lieben, wir wollen doch vor Ostern eine neue Ausgabe
herausbringen. Stimmt’s?« Vorsichtshalber nickte niemand
bei dieser Bemerkung. Aber der Rundlauf fuhr auch so
ungerührt fort: »Dann müssen wir uns aber ranhalten. Ich
muss die Seiten ja auch noch gestalten. Das dauert. Ihr
hättet eigentlich heute alle Geschichten abgeben sollen …«
Vorsichtshalber sah jetzt gar niemand mehr auf, auch ich
linste nur ganz verstohlen nach links und rechts. Sogar der
Maulaufreißer sagte zur Abwechslung mal gar nichts, sondern
ließ nur eine eitle Haarlocke zur Tarnung ins Gesicht fallen.
»Mir fehlen noch acht Geschichten«, sagte der Rundlauf. »Die
Trends, die Sache mit den längeren Pausen und mehr
Spielgeräten, Miras Umfrage …«
Ups.
»Aber …«, ng ich an, »… wir haben doch eine Umfrage
gemacht.«
»Nur wurde uns das Handy abgenommen«, kam es vom
Maulaufreißer.
»Und die Umfrage ist uns verboten worden«, ergänzte ich.
»Ich hätte trotzdem gerne einen Beitrag von dir, Mira«,
wiederholte der Rundlauf streng.
»Da sind doch zwei Briefe von Dr. Ku!«
»Einer davon darf leider nicht gedruckt werden, der über die
vielen Regeln. Das hat eure Reck-Tor-in verboten. Bleibt noch
einer. Einer ist ein bisschen wenig für eine Gollum-nee.«

»Wasisndas?«, fragte ein vorlauter Viertie aus der letzten


Reihe.
»Eine Gollum-nee schreibt immer der gleiche Autor über
mehrere Ausgaben hinweg. Meistens geht es dabei um
verschiedene Unterthemen zu einem großen Thema. Zum
Beispiel Fußball …«
Aus der anderen hinteren Ecke kam ein leises »Yeah«. Anne-
Marie und die anderen Mädchen verdrehten die Augen.
»… oder eben eine Kummerkasten-Tante, die regelmäßig hilft«,
beendete der Rundlauf den Satz.
Alle Schülerzeitungsmacher sahen jetzt zu mir rüber.
Bestimmt waren sie froh, dass ich den Anschiss bekam und
nicht sie. Eigentlich war das ja kein gerechter Anschiss. Was
konnte ich schließlich dafür, wenn alle meine Art-Igel nicht
klappten? Der mit den Regeln war regelrecht gut gewesen,
und jetzt war er der ängstlichen Reck-Tor-in zu heikel! Pffff!
»Also Mira, frag doch noch ein bisschen rum. Bestimmt
erfährst du noch das eine oder andere kleine Problem, über
das du was schreiben kannst. Ja?«
Ich nickte. Einen Plan jedoch, was ich schreiben konnte,
hatte ich nicht. Mein Kummerkasten war bis gerade eben
gähnend leer gewesen bis auf ein Herzchen-Zettelchen, das
ich gleich ohne zu lesen in Papierschnee zerrissen hatte. Möge
der rote Stirnpunkt mich weiterhin im-muhen gegen das
Verliebtsein machen.
Aber alle Weisheit aus dem gesamten riesiggroßen Indien
konnte mir nicht helfen, wenn es um einen neuen Art-Igel

ging. Als der Rundlauf endlich mit seinem Rundumanschiss


fertig war, stellte sie uns doch noch Rechner vor die Nase. Die
Jungs begannen gleich wild daran rumzuklicken –
wahrscheinlich spielten sie nur wieder irgendeine neue
Version von Ping, Peng, Pong.
Nur ich saß regungslos vor dem leeren Bildschirm.
»Na, Mira«, kam ein Rundruf vom Rundlauf. »Magst du nicht
mal anfangen?«
Aber bei meinem Komm-Puter herrschte immer noch
wunderschöne hellblaue Flaute. Damit es nicht aussah, als
täte ich gar nichts, zog ich meine Satz-Verdrehscheibe aus
dem Schulranzen, drehte mir ein paar Sätze zurecht und
tippte sie ab. Alles war besser als dieses blaue Nichts. Ich
schrieb (völlig Chor-reckt und mit Rechtschreibhilfe):

Das arme Europa bescheißt die endstrenge Schulleiterin.


Der arschige Besserwisser frisst die komplett ekelige Hundekacke.
Die langweilige Lehrerin verarscht die nervtötenden Hausaufgaben.
Mehr schaffte ich nicht, denn dann, endlich, endlich, war die
Zeit um. Erleichtert stürmte ich als eine der Ersten nach
draußen. Ich hörte nur noch aus dem Ohrenwinkel den
Rundlauf ins Getümmel brüllen: »Also dann: Eure Berichte
sind fertig bis nächsten Mittwoch. Alles, was danach kommt,
kommt nicht mehr in die nächste Ausgabe. Lasst eure
Rechner ruhig an, ich drucke eure Geschichten von heute
noch schnell aus …« Da war ich schon weg.
»… und lege sie ins Schülerzeitungsfach«, musste der
Rundlauf gesagt haben. Wer weiß, wenn ich das gehört hätte,
hätte ich die folgende Kater-Stroh-Fee vielleicht noch
verhindern können. Wer weiß.
So aber kam es, wie du dir denken kannst, nur noch viel
schlimmer: Das Fach für die Schülerzeitung steht im Seh-

kräht-Teer-Reh-Art. Und das ist? Genau: Direkt neben dem


Büro der tadellosen Reck-Tor-in. Und die hat? Genau: Einen
Blick auf die Ausdrucke geworfen. Und dann hat sie? Genau:
Alle Schülerzeitungsleute in ihrem Büro antanzen lassen. Und
dann ist was passiert? Genau das:
»Wisst ihr, warum ihr zu mir kommen solltet?«
Wir schwiegen. Jeder sah nach unten, niemand traute sich,
einen Blick auf das Zimmer, auf die bunten Fenster und die
bunten Zeichnungen an den Wänden zu werfen, mit dem die
tadellose Reck-Tor-in ihr Büro geschmückt hat. Kein Wunder,
dass ihr schnell alles zu bunt wurde!
So auch jetzt: »Ihr wisst es also nicht. Wisst ihr denn, wer das
geschrieben hat?«
Sie hielt ein Blatt nach oben, das klein, ganz klein mit nur
drei Sätzen bedruckt war. Meine drei Sätze.
Ich spürte wie Rotstiftfarbe in mein Gesicht hochstieg. Allein
das würde mich schon verraten. Trotzdem blieb ich stumm
wie alle anderen um mich herum.
»Ihr wisst es also nicht? Ihr wisst nicht, wer von euch das
geschrieben hat: Das arme Europa bescheißt die endstrenge
Schulleiterin. Der arschige Besserwisser frisst die komplett
ekelige Hundekacke. Die langweilige Lehrerin bekotzt die
nervtötenden Hausaufgaben?«
Links neben mir und rechts hinter mir musste jemand
grunzen und glucksen. Anne-Marie grinste verstohlen.
Hinter ihrem Schreibtisch wedelte die Tadellose aufgeregt mit
dem Papier. Wenn sie wütend ist, wird ihre Stimme
überdeutlich, so als wären wir mitten im Dick-Tat. »Ihr wisssst
essss alsssso nichttt?«, fragte sie noch einmal.
Immer noch traute ich mich nicht, mich zu melden. In letzter
Zeit hatte ich schon genug Ärger mit ihr gehabt, mehr davon
brauchte es jetzt gerade mal nicht. Obwohl mein Gesicht vor
lauter schlechtem Gewissen bestimmt schon so rot
angelaufen war wie der Punkt auf meiner Stirn.
»Das hat Komm-säg-wenn-zehn! Wenn ich den erwische,
der das geschrieben hat, der darf die Schulordnung
abschreiben. Dreimal! So etwas dulde ich nicht in meiner
Schule!«
Da wurde die Meute um mich herum plötzlich unruhig.
Gemurmel machte sich breit, Gekicher. Und schließlich sagte
jemand was. Der Maulaufreißer. Natürlich.
»Das ist gegen die Pressefreiheit, wenn Sie uns verbieten,
etwas zu schreiben.«
Noch schärfer, noch deutlicher, noch böser kam es von der
Tadellosen zurück: »Meine lieben Herrschaften, ich brauche
von euch keinerlei Belehrungen, was die Pressefreiheit
betrifft. Ist das klar? Beiträge, die jemanden beleidigen,
gehören nicht in meine Schülerzeitung! Und Beiträge, die
meinen Schulalltag stören, auch nicht.«
Mit Geieraugen sah sie dem Maulaufreißer ins Gesicht. Es
war mucksmäuschenstill im Raum. Keiner wagte sich zu
rühren.
»Verstanden?«, zischte die Tadellose den armen Maulaufreißer
an. Ich wäre an seiner Stelle auf der Stelle im Boden
versunken. Aber der starrte nur gelassen zurück. Langsam,
zeitlupenlangsam warf er sich seine Stirnlocke aus dem
Gesicht.
»Das heißt, Sie verbieten aus Prinz-ziep alles, was Ihnen
nicht passt.«
Mir klappte die Kinnlade runter. Was für eine Kuhle Socke,
dieser Maulaufreißer!
Trotzdem, das war einfach tu Matsch. Die Luft im Zimmer
konnte man mittlerweile schneiden, so dick war sie.
Messerscharf schnitt die Reck-Tor-in hinein: »Dreimal
Schulordnung. Du schreibst dreimal die Schulordnung …«
Und da konnte ich einfach nicht anders. »Ich!«, schrie ich
hinein. »Ich war’s! Die Sätze sind von mir! Da hat kein
anderer was mit zu tun!« Ich fuchtelte wild herum und
deutete auf das Blatt, das die Schulleiterin immer noch in
ihrer Hand hielt. Es sprudelte nur so aus mir heraus: »Das
war nur ein Scherz. Ein Witz. Mir war langweilig und ich habe
ein bisschen rumgespielt. Das sollte gar nicht in der
Schülerzeitung gedruckt werden. Wirklich nicht. Das war nur
für mich. Ein Versehen …«
Aber alles, was ich sagte, jede hastige Entschuldigung, jede
verschmitzte Erklärung, jede Reue tropfte an der Tadellosen
nur so herunter. Eiskalt musterte sie erst mich, dann den
Maulaufreißer, dann wieder mich.
»Nun gut«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme sauste wie
ein Fallbeil auf uns beide hinab. »Dann schreibt ihr beide
dreimal die Schulordnung ab. Bis Montag.« Mit diesen Worten
schob sie die ganze Meute aus ihrem Büro, rechtzeitig, bevor
noch irgendjemand weiter meutern konnte.
Kapitel 14

Linus, die Deutsch-Kran-A.T.

Dreimal! Schulordnung! Du weißt ja, wie ich das hasse.


Abschreiben und das auch noch mit rechtgeschriebenen
Wörtern. Und dann auch noch so viel Paar-A-Grafen. Es
waren ja schon wieder welche hinzugekommen, Nummer 17
und 18:

17. Wir beleidigen oder beschimpfen niemanden. Wir machen niemanden


lächerlich, weder Lehrkörper noch Schüler oder Außenstehende.
18. Alles, was in der Schule veröffentlicht wird, muss von der Schulleitung
genehmigt werden.

»Ich kann dir helfen«, hatte mir Anne-Marie angeboten. Aber


ich hatte stolz abgelehnt.
»Das schaff ich schon.«
Natürlich wünschte ich am Sonntagnachmittag – so lang
hatte ich mir Zeit gelassen, um mit der Strafaufgabe
anzufangen –, ich hätte das Angebot angenommen. Nach
1x18 Regeln war die Luft raus, nach den nächsten zwölf ging
gar nichts mehr. Erst einmal musste ich mir eine Runde
Süßigkeiten erbetteln. Draußen regnete es durch, die letzten
schmutzigen Reste Schnee lösten sich langsam auf. Als er
mich in der Küche rascheln hörte, stand auch sofort Linus
auf der Matte. Ihm war langweilig.
»Was machst’n gerade?«, fragte er gedehnt.
»Nichts.«
»Wollen wir was zusammen machen?«
»Keine Zeit.«
»Hä? Ich denke, du machst nichts.«
»Nicht ganz nichts. Nur nichts, was dich was anginge.«
»Schreibst du Liebesbriefe oder was?«
»Spinnst du jetzt?« Genervt warf ich mit meinem zerknüllten
Bonbonpapier nach ihm. Mit einer schnellen Bewegung ng er
das Kügelchen auf.
»War ja nur so eine Idee«, sagte er und zog ab. Nur um fünf
Minuten später wieder in meinem Zimmer aufzutauchen. Ihm
musste wirklich entsetzlich langweilig sein.
»Geh spielen!«, schnauzte ich ihn an.
»Keiner da.«
»Ey, du nervst!«
Linus machte trotzdem keinerlei Anstalten, sich zu verziehen.
Im Gegenteil, er linste kurz über meine Arbeit am
Schreibtisch.
»Ach so, Strafarbeiten«, grunzte er. »Keine neue Drehscheibe.«
»Verzieh dich, wenn du mir nicht helfen willst«, raunzte ich.
»Ich schreib nichts mehr für dich. Das geht nicht gut aus«,
meinte er nur und hatte ausnahmsweise mal recht.
Linus angelte sich eine Vorlage für eine Drehscheibe von
meinem Schreibtisch. Die war weder ausgeschnitten noch
beschrieben.
»Ok, schreib du weiter, ich mache dir eine neue Drehscheibe«,
sagte er schließlich. Mann, meinem nutzlosen Bruder musste
ja ultralangweilig sein, wenn der sich mit solchem
Krimskrams beschäftigen wollte.
»Stör mich aber nicht«, grunzte ich.
Er ließ sich nicht beeindrucken, sondern nörgelte stattdessen:
»Pausenhof schreibt man mit einem O. Das hat nichts mit
doof zu tun.«
»Klappe!«
Doch dann, ganz plötzlich, löste sich mein ganzes Grummeln
und Granteln, meine ganze schlechte Laune in Luft auf.
Ich hatte eine Idee. Und Linus hatte mich drauf gebracht.
»Du bist ein Schön-nie!«, rief ich aus.
»Weiß ich«, entgegnete der olle Angeber.
»Ich mache eine Drehscheibe mit Schulregeln. Für die
Schülerzeitung!«
»Hä?« Linus sah mich nur begriffsstutzig an. Von wegen
Schön-nie! Gerade sah er aus wie der Scheibenputzer sch
aus seinem stinkenden arg-wahr-ih-um. Du weißt schon,
diese Fische, die sich den ganzen Tag wie blöd ihre Schnauze
an dem Glas plattdrücken und bekloppt mit großen Augen
nach außen glotzen.
»Ich – machen – Verdrehscheibe. Mit – Schulregeln.
Verstanden, du Schön-nie?«

»Das will ich sehen!«, ätzte Linus zurück. »Mit diesen kom-

plett-zierten Sätzen – klappt das bestimmt nicht.«


»Ach was.«
Probehalber versuchte ich es mit den ersten drei Regeln und
kam auf: Unsere Grundschule begrüßen kleineren Kinder, die
unsere Unterstützung nötig haben. Dann tauschte ich die
nächsten drei Regeln durch: Wir ist Folge zu leisten im
Schritttempo. Das war an sich schon ganz witzig, aber richtig
klang der Satz deswegen irgendwie trotzdem nicht. Auch der
nächste klang krumm: Sollten wir gehören geeignete
Hausschlappen getragen.
»Irgendwas ist daran faul«, musste ich Linus zugestehen.
»Siehste?«
»Ok – und was jetzt?«
»Also, du schreibst jetzt brav an deiner Schreibarbeit weiter«,
sagte Linus. »Und ich, die Deutsch-Kran-A.T. und
Klassenbester in Gramm-Art-Tick werde dir die Sätze so
umstellen, dass man sie gut verdrehen kann. Zuallererst
musst du das Werb ins Sing-Gulasch stellen und dann alle
Sätze gleich aufbauen: Das Supp-jäh-eckt nach vorn und
das Ob-jäh-eckt nach hinten …«
Ich hörte schon gar nicht mehr zu, denn ich verstand nicht
eine Silbe von seinem komischen Oberlehrergeschwafel und
den vielen Fremdwörtern.
Außerdem hatte ich noch genug abzuschreiben, während
mein Bruder sich ein großes Blatt griff und Satzteile darauf
abschrieb, durchstrich, überschrieb, mit Pfeilen irgendwo
hinschob und in einer anderen Farbe woanders hinkritzelte.
Auf dem Papier sah es bald aus wie bei einer seiner
oberschwierigen Mathe-Formeln mit viel Plus, Minus und
Geteilt. Mit Deutsch hatte das bestimmt nichts mehr zu tun.

Als ich nach einer Stunde endlich die letzte Regel


abgeschrieben hatte, war auch Linus fertig. Er hatte aus dem
Formel-Wirrwarr eine Tabelle gebastelt:
»Tatatatataaaaaa…«, präsentierte mir Linus sein Meisterwerk.
Und es war tatsächlich das Werk eines Meisters. Allein die
Sätze, wie sie in der Tabelle standen, waren schon von Haus
aus saukomisch.
»Mann, du bist ja wirklich eine Kran-A.T. Ein echtes Schön-

nie!«, entfuhr es mir, und dieses Mal war es wirklich ernst


gemeint.
»Weiß ich doch. Aber du hattest die Idee, du Schön-nie zur
Ausbildung!« Er knuffte mir auf die Schulter und ich knuffte
zurück. Das war einer dieser ganz seltenen Momente, wo ich
meinen Bruder wirklich, wirklich mochte. Meinetwegen
konnte er die Munter-Monika, die alte Rostlaube, jetzt ganz
für sich behalten.
Kapitel 15

Große Pleite in Diener 3

Brrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr!
Brrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr!
Brrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr!
Ich hatte es eilig. Und wichtig. Keine Zeit zu warten. Alles
zusammen. Das sollte man an meinem Sturmklingeln gleich
mal heraushören können.
Brrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr!
BrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrBrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrBrrrrrrr!
BrrrrrrrrrBrrrrrrrrrBrrrrrrrrrBrrrrrrrrrrBrrrrrrrrBrrrrrrr!
Endlich kam mal jemand angeschlurft. Endlich machte
jemand die Tür auf. Felix selbst öffnete. Er sah ein bisschen
überrascht drein, mich am Sonntagabend so kurz vor dem
Abendessen noch hier zu sehen.
»Wasnlos?«, fragte er.
»Ich brauch’ deinen Rat!«, sagte ich kurz angebunden. Ohne
dass er mich eingeladen hätte, zog ich meine Schuhe aus,
stellte sie neben die anderen Mädchenschuhe (Moment mal,
Mädchenschuhe????) und lief schon mal in sein Zimmer
hoch. Gemächlich schlappte er hinterher, als ich schon längst
im Raum stand. Ups, da war schon wer. Ups: Svenja.
Moment mal, was machte die denn hier? Ach, egal, ich hatte
jetzt Wichtigeres zu besprechen.
»Schaut mal!« Mit einem kleinen An ug von Übertreiben zog
ich meine neue Schulregel-Verdrehscheibe hervor.
»Das«, sagte ich und holte tief Luft, »wird die Senn-Satz-

John der Schülerzeitung!« Svenja und Felix brauchten nur


ein, zwei, drei Blicke draufzuwerfen und dann wussten sie:
Ich hatte recht. Das würde tatsächlich der größte Knüller für
die Schülerzeitung werden. Felix musste gleich aus vollem
Hals losprusten. Von lauter Lachen durchgeschüttelt ließ sich
Svenja erst mal aufs Bett sinken: »Damit schießt du bestimmt
den Vogel ab.«
Langsam kam Felix aus seiner Lach-Saal-weh wieder raus:
»Ja«, japste er, »das schießt den Vogel ab.« Um dann, plötzlich
ganz ernst, zu sagen: »Aber du weißt, dass dir das bestimmt
auch wieder verboten wird …«
Auch ich wurde schlagartig aus meinem Hoch gerissen. Die
tadellose Reck-Tor-in! Niemals würde sie das zulassen.
Solange sie das Sagen hatte, würde diese Drehscheibe nicht
in der Schülerzeitung abgedruckt werden.
Ich seufzte tief und sah Felix an: »Deswegen bin ich hier. Weil
ich deinen Rat brauche. Wie kommt meine Drehscheibe in die
Zeitung?«
Hil os zuckte Svenja mit den Achseln: »Wenn die Reck-Tor-in

das liest, dann …«


Und Felix tat so, als würde er von der Drehscheibe ablesen:
»In der Regel … verbietet … die Schulleitung … jede Form von
Kritik.« Er drehte versonnen an der Pappe rum.
Von unten rief seine Mama ungeduldig zu uns hoch: »Felix, es
gibt Essen! Kommst du runter? Isst deine Freundin jetzt mit?«
»Nein«, antwortete ich schnell, bevor Felix sich überhaupt
rühren konnte, »meine Mama wartet zu Hause auf mich!«
Eigentlich hätte ich längst schon zurück sein müssen.
»Mira, tut mir leid«, kam es jetzt durchs Treppenhaus. »Ich
wollte fragen, ob Svenja nun mitisst.«
Mit knallrotem Kopf blickte ich verlegen erst zu Svenja, dann
zu Felix. Die beiden schienen irgendwie nicht viel weniger
verlegen.
»Ja«, rief Felix schließlich.
»Dann kommt aber endlich runter!«, quengelte seine Mama
und klapperte kurz darauf mit Teller und Besteck.
»Sorry, Mira, wir müssen«, sagte Felix, immer noch mit rosa
angelaufenen Backen. »Aber wenn du meinen Rat hören
willst, kann ich dir nur einen Tipp geben.« Noch einmal tat er
so, als würde er einen Verdreher ablesen: »In die
Schülerzeitung … kommen … die besten Art-Igel … nur ohne
Erwachsene.«
»Häh?«
Felix hielt Svenja die Hand hin und zog sie vom Bett hoch.
»Du musst den Beitrag reinschmuggeln. Sonst wird er
verboten«, sagte er. Und verschwand mit Svenja die Treppe
runter. Im Umdrehen warf sie mir noch zu: »Frag doch
Maurice. Der hat bestimmt eine Idee, wie es gehen könnte …«
»Moment mal …«, rief ich hinterher. Aber schon waren beide
verschwunden.

»Ey!«
Der Maulaufreißer Maurice ging stur weiter.
»Ey!«
Eine Mädchenstimme – er konnte ja nicht gemeint sein.
»Ey, du!«, rief ich.
Endlich drehte er sich um.
»Mira?«
»Ich brauch deine Hilfe.«
»Ach?«, fragte er überheblich. »Kriegst du deine Flasche nicht
auf?«
Mist, ich hatte ganz vergessen, was für ein ätzender Ober-
Matsch-oh der Maulaufreißer sein konnte!
»Danke, das kann ich selbst«, sagte ich schnippisch und
versuchte, möglichst ey-mann-ziep-irrt zu wirken. Klappte
nicht ganz, denn meine Beine verknoteten sich vor
Verlegenheit gerade ineinander. »Ich brauche deine Hilfe bei
der Schülerzeitung.«
Der Maulaufreißer warf sich erst einmal eine Strähne aus der
Stirn.
»Okay«, sagte er schließlich. »Worum geht’s?«
Ich packte ihn am Arm und zog ihn in eine ruhige Nische bei
der Kater-Robe. Schließlich sollte uns ja keiner belauschen.
Kein Schüler und schon gar kein Erwachsener! Dann erklärte
ich ihm kurz mein Problem.
Als ich geendet hatte, schwieg der Maulaufreißer erst einmal.
Erst nach etlichen Haar-Umschwüngen ließ er sich zu einer
Antwort herab: »Okay, ich mach mit.«
»Gut«, antwortete ich. Meine Beine hatten sich schon wieder
so stark umeinandergeknotet, dass ich kurz das
Gleichgewicht verlor und um el. Erst nachdem ich mich
berappelt hatte, konnte ich fragen: »Wobei machst du mit?«
»Also, so wie ich das sehe, müssen wir die Drehscheibe in die
Zeitung schmuggeln, nachdem die Tadellose sie gelesen hat
und bevor sie Korb-irrt wird.«
»Okay.« Ich hatte verstanden. »Und wer Korb-irrt die Zeitung
dann normalerweise? Und wann?«
»Das macht die Reck-Tor-in natürlich nicht persönlich, das
macht irgendein Handlanger. Meistens die Seh-kräht-Teer-

in.«

Ich nickte noch mal. »Und wann?«


»Keine Ahnung. Das musst du raus nden.«
»Okay, mach ich. Und du bist dabei, wenn wir die
Drehscheibe da reinschmuggeln?«
»Klar. Immer«, sagte der Maulaufreißer mit einem Grinser und
einem Haarschlenker.
Mann, das wurde ein höllenschwieriger Plan, das mit der
Schmuggelei. Denn es gab so vieles, was ich beachten und
tun musste. Ich hatte zwar jetzt meine Helfer, aber das meiste
musste ich erst einmal allein erledigen. Zuallererst brauchte
es für den Rundlauf am Mittwoch eine Seite für die
Schülerzeitung. Eine harmlose Seite, die wir später
austauschen konnten.
»Mann-da-Lars«, hatte ich dem Rundlauf erklärt. »Ich mache
eine Seite mit Mann-da-Lars, die man dann ausmalen
kann.«
Die spitze Bemerkung »Das kann mir ja schließlich keiner
verbieten, oder?« hätte ich mir zwar verkneifen können.
Konnte ich aber nicht.
Seltsamerweise war der Rundlauf sofort einverstanden.
Unsere Schülerzeitungs-Che n wollte wohl unbedingt fertig
werden.
»Wenn du magst«, sagte der Rundlauf, »kommt das auf die
letzte Seite, da haben wir meistens was zum Ausmalen.
Einverstanden?«
»Einverstanden.«
Von hinten krähte noch Maulaufreißer Maurice dazwischen:
»Wann geben Sie eigentlich die Zeitung ab? Wann wird die von
der Reck-Tor-in gelesen?«
»Nächste Woche Freitag. Sie will die Geschichten dann übers
Wochenende lesen, hat sie gesagt.«
»Und wann wird sie Korb-irrt?«, fragte ich und blätterte, die
Nase tief in einem Mann-da-Lars-Vorlagenbuch, damit
niemand bemerkte, wie ich nervös zitterte.
»Irgendwann die Woche darauf, wann immer Zeit ist. Und
dann«, sie hob die Stimme, »dann könnt ihr alle sie endlich in
der Pause verkaufen – die erste Zeitung, bei der du
mitgemacht hast, Mira!«
Aber irgendwie konnte ich mich so gar nicht darüber freuen.
Ich war viel zu aufgeregt. Ob unser Plan wohl aufgehen
würde?
Die Sache mit dem Rundlauf hatte ich schon mal geregelt. Am
Ende der letzten Sitzung hatte ich mit einem Malprogramm
ein paar schnelle Ausmalbilder hingerotzt. Echt nichts
Schönes, diese drei Kreise mit ein bisschen Schnickschnack
drin, aber immer noch so schön, dass der Rundlauf sie nicht
gleich wegschmiss.
Das hatte schon mal geklappt. Aber das war ja eigentlich das
geringste Problem gewesen. Denn immer noch wusste ich
nicht genau, wann die Schülerzeitungen Korb-irrt werden
sollten. Dass wir beim Korb-irren dabei sein mussten, war
spätestens dann klar gewesen, als der Rundlauf die
Austauschseite auf die Rückseite der Zeitung gepackt hatte.
»Wir müssen sichergehen, dass niemand die Rückseite sieht,
bis die Zeitung verkauft wird«, hatte Maurice gewarnt.
»Okay, das übernehm ich!«, meinte ich. Unsere Seh-kräht-

Teer-in, der Tröstebusen, ist ja so was wie eine Freundin von


mir, seitdem sie mich letztes Jahr gerettet hat. Mama hatte
ihr nach dem Ärger einen Riesenblumenstrauß geschenkt.
Und ich bekam, immer wenn ich zufällig vorbeiguckte, nicht
nur eine Gummi-Cola asche, sondern mindestens zwei.
Diesem Zufall half ich einfach noch einmal nach: Mit
irgendeinem dummen unterschriebenen Zettel, den ich
mühelos auch bei unserer wiehernden Lehrerin hätte abgeben
können, wackelte ich ins Büro.
»Hallo Mira«, strahlte der Tröstebusen. »Dich habe ich aber
schon lange nicht mehr gesehen! Alles in Ordnung mit dir?
Wie läuft’s in der Klasse?«
»Gut.«
Ein strenger Blick antwortete mir: »Wirklich?«
»Wirklich gut. Alle sind wirklich nett zu mir. Es ist nichts
Weiteres passiert.«
»Sehr gut. Und wenn noch mal was ist, dann kommst du
gleich zu mir. Ja?«
»Jawoll!«
Sie grinste und kramte schon mal in der Schachtel mit den
Süßigkeiten, zog vier Cola aschen heraus: »Für dich und
deine besten Freunde Shirin, Svenja und Felix!«
Normalerweise hätte ich mich sehr, sehr gefreut darüber, aber
gerade eben war ich viel zu nervös. Ungeschickt steckte ich
die Cola aschen in meine Hosentasche, wo dummerweise
auch noch ein total zerfetztes Taschentuch war.
»Ich hätte da noch eine Frage.«
»Ja?«
»Wann Korb-irren Sie die Schülerzeitung?«
»Ach ja, das ist ja auch noch dran!« Der Tröstebusen schlug
sich auf die Stirn. »Es ist gerade sooo viel zu tun, Mira,
manchmal weiß ich gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht.«
»Brauchen Sie vielleicht Hilfe?« Und es klang nur halb so
scheinheilig, wie es hätte klingen können.
»Wie meinst du das?«
Wie immer, wenn ich nervös war und wenn ich so halb und
halb lügen musste, zumindest aber nur halb die Wahrheit
sagen konnte, purzelten die Wörter aus mir heraus und
überschlugen sich. »Ich bin doch jetzt ganz neu in der
Schülerzeitung. Meine Mama und dieser Psycho-Locke

wollten, dass ich mehr schreibe. Damit ich vor Wörtern keine
Scheu mehr habe. Das hat auch ganz gut funktioniert … aber
egal. Jedenfalls habe ich zwar nicht so viel geschrieben …«
hier musste ich mal kurz Luft holen, »… aber ich könnte doch
dabei sein, wenn die Zeitung Korb-irrt wird. Wir, äh ich
könnte das Ding auch falten oder so. Oder ich hole mir noch
Freunde dazu …« Noch ein Schnaufer, der fast wie ein Seufzer
rauskam: »Dann haben Sie nicht so viel Ärger … äh … Arbeit
… äh …«
Nachdenklich schte sich der Tröstebusen jetzt selbst noch
eine Cola asche aus der Gummibären-Schachtel und
knatschte laut darauf rum.
»Eigentlich ist das eine gute Idee, Mira. Dann könntet ihr von
der Schülerzeitung euer Brot-duckt von Anfang bis Ende
verfolgen. Vom Schreiben bis zum Drucken. Vielleicht macht
euch das ja sogar Spaß.«
»Bestimmt macht es das«, sagte ich hastig. Und wieder
überschlug sich meine Stimme mit dieser Halb-und-halb-
Wahrheit.
»Also gut, wenn du meinst: Ihr kommt einfach am Mittwoch
nach der Schule hierher und dann machen wir das
gemeinsam. Du trommelst deine Leute zusammen. Jeder, der
mitmachen will, soll mitkommen.«

Am Mittwochmittag standen wir mit einer Handvoll Kindern


vor dem Seh-kräht-Teer-Reh-Art. Der Maulaufreißer hatte
noch einen Viertie-Freund im Schlepptau, ich hatte nicht nur
Anne-Marie gefragt, sondern auch meine Freunde Felix,
Svenja, Thorsten und Shirin. Der Rundlauf hatte sich
entschuldigen lassen, sie musste ausnahmsweise auf eine
Sitzung in ihrem richtigen Job. Aber die Vorlagen hatte sie
uns dagelassen. 32 Diener-4-Blätter, die der Maulaufreißer
gerade in den Händen hielt. Das war noch der Stapel ohne
meine Drehscheibe, dafür stattdessen – mit langweiligen
Mann-da-Lars.

Wir wollten auf die richtige Gelegenheit warten für einen


Tausch. Energisch nahm der Tröstebusen den Stapel Papier
an sich und legte ihn in ein Fach.
»So, das müsste jetzt eigentlich von allein gehen«, murmelte
sie. »Da gibt es ein komisches Programm. Mal sehen, machen
wir einen Test …« Der Tröstebusen drückte mit fünf Klicks
auf dem Display rum und stellte das Programm mit viel
Fluchen und Nachdenken und noch mal Fluchen ein. Dann
drückte sie auf den großen grünen Knopf.
Die Maschine rumpelte und rumpelte, und – schwupp –
kamen acht große Diener-3-Blätter rausgeschossen – alle
vorne und hinten mit jeweils zwei Diener-4-Blättern der
Vorlage bedruckt. Der Tröstebusen schte die acht großen
Blätter aus der Ausgabe, knickte den Stapel in der Mitte. Und
– tatatataaa – fertig war die erste Zeitung.
Allerdings noch eine falsche, eine ohne Drehscheibe. Nun
wurde es Zeit, Teil zwei meines Plans umzusetzen. Ich gab
Shirin und Svenja ein Zeichen.
Die schüchterne Shirin war – wer hätte das gedacht? – eine
großartige Schauspielerin.
»Auuuuuuu«, heulte sie auf, knickte ein und hielt sich den
Bauch, »auuuuu.«
Der Tröstebusen fuhr herum. »Was ist denn los?«, fragte sie.
»Ich habe Bauchkrämpfe. Ganz arg«, stöhnte Shirin. Der
Tröstebusen war sogleich bei ihr, wie auch meine Freundin
Svenja.
»Mir ist kotzübel«, keuchte Shirin.
»Wir sollten sie aufs Klo bringen«, sagte Svenja scheinbar
besorgt. »Nachher bricht sie noch auf die Zeitung …«
Das überzeugte den immer mitleidigen Tröstebusen sofort. Sie
hakte Shirin sofort unter und zog ab. Kaum dass die Tür
hinter ihnen zu war, zischte der Maulaufreißer seinem
Kumpel zu: »Du stehst Schmiere! Und jetzt, Mira, schnell her
mit dem Papier.«
Zitternd zog ich die Vorlage für die Drehscheibe aus meiner
Tasche. Eigentlich hätte ich selbst auf die Toll-ih-leert-Tee

rennen müssen, so kotzübel war mir vor lauter Aufregung.


Der Maulaufreißer nahm den Stapel Vorlagen aus dem
Drucker und tauschte die letzte Seite aus. Ein kurzer Blick
zur Überprüfung, dann legte er den Stapel wieder, wie er war,
in den Korb-Irrer. Wir waren fertig, noch bevor vom nahen
Klo ein elend lauter und langer Rülpser zu hören war. Shirin
hatte offenbar noch mehr Tal-Ente, die wir bisher nicht
gekannt hatten.
Wenig später tauchte sie mit Svenja und dem Tröstebusen
wieder auf, die sich jetzt sofort am Papierfach zu schaffen
machte.
»Mir geht’s schon wieder viel besser«, sagte Shirin mit einem
kleinen Grinser. Aber mir, mir ging es immer noch nicht viel
besser, meine Finger zitterten immer noch, als es endlich,
endlich mit dem Korb-irren losging.
250 Echsen-Blah-Reh waren zu drucken. Der Tröstebusen
warf die Maschine an und sortierte dann weiter einen
meterhohen Stapel in verschiedene Aktenordner. Wir
erledigten den Rest. Eigentlich waren wir viel zu viele Hände
für wenig Arbeit. Man musste ja gar nichts mehr ordnen,
sondern das Papier nur knicken und mit einem Gerät
zusammenheften, das so lang war wie mein Unterarm. Beim
Tag-Kern wechselten wir uns ab. Und immer nach zehn
Zeitungen gab es einen Wechsel – und erst einmal zur
Belohnung eine Gummi-Cola asche beim Tröstebusen hinter
dem meterhohen Aktenberg.
Irgendwann schnappte sie sich mal ein Echsen-Blah und
blätterte neugierig darin herum: »Darf ich schon mal lesen?
Hübsches Titelbild übrigens mit dem Faschingstreiben und
dem Brautpaar …«
»NEIN!«, kam es von drei Leuten gleichzeitig. Felix, der
Maulaufreißer und ich waren gleichzeitig aufgesprungen. Ich
riss ihr die Zeitung aus der Hand.
»Autsch!« Der Tröstebusen hielt sich den Finger. Sie musste
sich am Papier geschnitten haben.
»Tut mir leid, aber die Zeitung soll eine Überraschung sein –
für alle, wenn wir sie morgen verkaufen.«
»Wenn Sie jetzt schon vorher reingucken, dann ist es keine
Überraschung mehr …«, leistete der Maulaufreißer mir
Schützenhilfe und legte die Zeitung in die Kiste mit den
anderen – sorgfältig immer mit dem Titelbild nach oben,
damit niemand die ausgewechselte Rückseite sehen konnte.
»Aber«, sagte ich, weil ich nicht gemein zum netten
Tröstebusen sein wollte, »weil Sie ja die ganze Arbeit haben
und weil Sie so viel zu tun haben morgens, bekommen Sie
jetzt ihr eigenes Echsen-Blah!« Ich drückte ihr die
Testzeitung von vorher in die Hand, die mit der
ursprünglichen Rückseite.
Danach lief alles glatt. Der Tröstebusen las, während sie an
einer Cola asche lutschte. Die Maschine ratterte und wir
falteten und tag-kehrten den Rest. Nach nicht mal einer
Stunde waren wir fertig.
Wir hatten unser Ding gedreht.
Hätte sich nur der Wind für uns nicht auch gedreht …
Bis dahin war alles gut gelaufen. Wir hatten durchgesetzt,
dass wir selbst die Zeitung korb-irren durften, wir hatten die
letzte Seite problemlos ausgetauscht, ohne dass jemand
irgendwas gemerkt hatte.
Wir hatten nur nicht damit gerechnet, dass unsere Reck-Tor-

in alles weiß und alles sieht. Ihr entgeht nichts. Obwohl …


dieses Mal war es eigentlich nur reiner Zufall. Was für ein
beschissener, unglaublich dämlicher Zufall! Mit unfassbaren
Folgen!
Am Mittwochnachmittag hatten wir die Zeitungen fertig
gemacht und in Kartons abgepackt, am Donnerstag sollten
wir sie in der ersten und zweiten Pause verkaufen. Das
machte immer schon die Rett-Aktion. Kaum hatte es zur
Pause geläutet, waren auch schon alle Reh-bohrt-er da – die
ganze Mannschaft. Immer zwei schnappten sich einen Karton.
Die ersten Paare waren schon rausgestürmt, da kam die
Tadellose um die Ecke. »Haaaalt!«, rief sie und ihre
überdeutliche Stimme ließ uns strammstehen. »Ich möchte
auch eine Zeitung.«
Sie nahm sich eine aus dem Karton, den Maurice und sein
Kumpel hielten.
»Haaaalt!«, sagte jetzt wiederum Maurice. Eine Gelegenheit
zum Maulaufreißen ließ der sich nicht entgehen. »Sie auch!
Sie müssen auch 50 Cent zahlen!« Er pustete sich seinen Po-

nie aus dem Gesicht und grinste verschmitzt.


»Na schön«, sagte die Reck-Tor-in und betonte das ööööööö
besonders streng. Sie legte ihre Zeitung wieder auf den Stapel
und ging Geld holen.
Verkniffen sah ich den Maulaufreißer an und zischte: »Wir
können jetzt echt keinen Ärger gebrauchen!«
»Ach was, ist doch nur ein Spaß!«
Aber nein, es war kein Spaß. Denn wir hatten beide
übersehen, dass die Tadellose die Zeitung verkehrt herum auf
den Stapel zurückgelegt hatte.
Als sie mit dem 50-Cent-Stück in der Hand zurückkam und
sich die Zeitung nehmen wollte, el ihr Blick sofort auf die
Rückseite. Und da prangten groß und breit nicht mehr die
ursprünglichen Mann-da-Lars, sondern die Schulregel-
Drehscheibe mit der fetten Überschrift: Zu viel Regeln in der
Schule? Dann mach Deine Regeln selbst.

Sch…
Wir saßen regelrecht in der Sch…
Kapitel 16

Das Ende der Reh-Woll-Lotion!

Die Tadellose brauchte nicht lang, um zu begreifen. Sie griff


noch einmal in die Kiste vom Maulaufreißer, drehte die oben
liegende Zeitung um und sah – wieder eine Drehscheibe.
Wortlos langte sie in meinen Karton – noch mal eine mit
Regelverstoß.
»Wer.« Ihre Stimme war kalt und klingenscharf wie ein
Metzgermesser. »Hat. Das. Gemacht?«
Mir el vor Schreck der Karton mit den Zeitungen aus der
Hand. Wie ein Schwarm aufgeschreckter Möwen segelten die
Echsen-Bla-Reh eins nach dem anderen auf den Boden –
direkt vor meine Füße. Wir waren aufge ogen.
Ich brauchte gar nichts zu tun, ich brauchte nichts zu
gestehen. Es war völlig klar, wer die Schuldige war: Die
Person, die mit einem hochroten Kopf inmitten eines großen
Papier-Kuddelmuddels stand – stocksteif und starr, unfähig
sich zu rühren oder irgendwas zu sagen.
Ich.

»Ihr bleibt, wo ihr sssseid!«, sauste die Tadellosen-Stimme auf


uns hinab. Dann stürmte sie aus dem Büro und auf den
Pausenhof. Noch immer konnte ich mich vor Schreck nicht
rühren, aber die restlichen Zeitungsverkäufer, die noch im
Büro waren, stürmten ans Fenster. Sie wollten sehen, was auf
dem Schulhof geschah.
»Das kann sie doch nicht machen!«, entfuhr es Anne-Marie.
»Das ist gemein«, sagte jemand.
»Sie nimmt allen die Zeitungen wieder weg!«, schimpfte der
Maulaufreißer.
Und Anne-Marie ergänzte empört: »Aber sie gibt ihnen nicht
das Geld zurück …«
»Achtung, sie kommt wieder«, zischte jemand plötzlich.
Und schon stand die Tadellose wieder im Raum, keuchend,
völlig erhitzt und mit total aufgelöster Friss-Uhr. So außer
sich hatte noch keiner von uns sie je gesehen. Mit einem
Riesen-Rums schmiss die Reck-Tor-in die eingesammelten
Zeitungen wieder zurück in die Kiste. Dann befahl sie Anne-
Marie, auch die verstreuten Zeitungen wieder einzusammeln.
Völlig verschreckt machte sich die Klassenbeste gehorsam an
die Arbeit.
»Diese Zeitung wirrrrd nicht verrrrkauft werrrrden … nicht
verrrkauft werrrrden!«
Jeder, der noch hier war, zog unwillkürlich die Schultern
hoch, so als könnte man sich so vielleicht die Ohren zuhalten.
Denn die Stimme der Tadellosen war derart hoch und schrill,
dass es schon richtiggehend wehtat.
Es sollte noch schlimmer kommen. Sie baute sich vor mir auf
und beugte sich bebend vor Zorn zu mir runter. »Und – du –
du – sagst – mir – sofort: Wer – hat – dir – dabei – geholfen?«
Sie war so nah, dass ich die Sprenkel in ihren braunen Augen
sehen konnte (ich hätte schwören können, sie waren
zornesrot). Und bei jedem überdeutlichen S traf mich ein
Sprühregen aus Spucke. Die Spritzer brannten in meinem
Gesicht wie die Feuerfunken eines Drachen.
Doch selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte nichts
antworten können. Ich befand mich noch immer in
Schockstarre. »Äh … ich …« – mehr passte nicht an dem
dicken Kloß im Hals vorbei.
Der Erste, der sich wieder gefangen hatte, war der
Maulaufreißer. Er unternahm einen vorsichtigen Vorstoß:
»Warum verbieten Sie denn unsere Zeitung? Das ist gegen die
Meinungsfreiheit. Da gibt es sogar Gesetze für …«
Aber im Augenblick zählte kein Arg-um-End. Die Tadellose
war ganz ruhig geworden. Sie drehte sich zu unserer
eingeschüchterten Gruppe um: »Diese Seite ist nicht
genehmigt worden. Ich bin arglistig hintergangen worden.
Und das werde … das kann ich nicht dulden.« Und dann, wie
eine Sense, hieb ihr Urteil durch den Raum: »Jeder, der an
dieser hinterhältigen Reh-Woll-Lotion beteiligt war, iegt von
der Schule.«
Es war, als sirrten diese Worte wie eine scharfe Klinge in der
Luft nach. Keiner von uns war fähig, darauf zu antworten. Am
allerwenigsten ich. Hatte mich vorher mein Kloß im Hals am
Sprechen gehindert, dann war es jetzt mein Gewissen.
Niemals würde ich jemanden meiner Helfer verraten. Niemals
in meinem Leben. Niemals in meinem Schulleben, das ab hier
wohl vorbei war. Ich würde raus iegen – das hatte die
Tadellose unmissverständlich klargemacht.
Noch konnte ich gar nicht richtig erfassen, was das bedeuten
würde, da sagte die Reck-Tor-in noch etwas: »Nun gut, Mira,
wenn du nicht reden willst, dann werde ich jetzt deine Eltern
anrufen. Die werden dich abholen.«
Dann wandte sie sich um: »Und euch wird das eine Lehre
sein, was mit Mira passiert! So eine hinterlistige Täuschung,
so ein hinterhältiges Spiel – das macht hier keiner noch
einmal! Ab in die Klassen! Jeder, der noch irgendetwas
Aufsässiges zu sagen meint, erhält auf der Stelle einen
Verweis!«
Sofort kam Leben in die kleine Reh-bohrt-er-Gruppe, alle
drängten sie zur Tür hinaus. Auch die eingeschüchterte
Anne-Marie. Nicht mal der Maulaufreißer traute sich jetzt
noch, den Maulhelden zu spielen.
»Ihr werdet alle für die Korb-irr-Kosten aufkommen!«, rief
ihnen die Tadellose noch hinterher, da hatte der erste schon
die Klinke in der Hand.
Doch es gab gar kein Durchkommen. Vor der Tür zum Büro
nämlich stapelten sich jede Menge anderer aufgebrachter
Schüler.
»Wir wollen unser Geld zurück!«, war zu hören. »Ja, genau,
wir haben schließlich für die Zeitung bezahlt«, brüllte es aus
den hinteren Reihen. Und ein besonders lauter Viertklässler
vorne am Türstock setzte noch besonders böse nach: »Ich will
meine 50 Cent! Sonst ist das Diebstahl!«
Aber die Tadellose schob von hinten meine Co-leg-Ehen

einfach durch die Tür hinaus auf den Gang. »Ich hab das
Geld nicht«, rief sie den Protestheinzen zu. »Holt euch euer
Geld von dieser Betrügerbande wieder!«
Mich packte sie bei der Schulter und Bug-sirrte mich in die
Nachbartür, hinein zu unserer Seh-kräht-Teer-in. Der
Tröstebusen sortierte gerade etwas auf ihrem Schreibtisch
und sah überrascht auf, als die wild gewordene Tadellose
mich auf einen Stuhl niederdrückte und ihr befahl: »Rufen Sie
Miras Eltern an. Sie muss abgeholt werden. Schicken Sie sie
direkt zu mir! Was Mira getan hat, wird schlimme Komm-

säg-wenn-zehn haben!«
Ohne ein weiteres Wort, ohne mich auch nur anzusehen,
rauschte sie aus dem Zimmer. Die Tür warf sie mit einem
lauten Rums zu. Sogleich konnte man hören, wie es in ihrem
Reck-Tor-innen-Zimmer laut polterte. Ich war immer noch so
verschreckt und steif und reglos, dass jedes Geräusch auf
mich einschlug wie ein Donnerhammer.
Es läutete. Und mit dem lärmenden Gongschlag wurde mir
mit einem Mal bewusst, was die Tadellose vorher gesagt hatte:
»Jeder, der an dieser hinterhältigen Reh-Woll-Lotion beteiligt
war, iegt von der Schule.«
Sie würde mich hinauswerfen.
Mira Kurz würde eine andere Grundschule besuchen müssen.
Irgendwo. Weit weg von meinen Freunden. Weit weg von
allem, was ich kannte. Von allem, was ich mochte und wo ich
hingehörte.
Keiner würde mehr etwas mit mir zu tun haben wollen. Jetzt
war ich endgültig ausgeschlossen. Für immer.
In eine tiefere Grube aus Angst war ich noch nie gefallen. Ich
stand unten, immer noch völlig gelähmt vor Schock, und
konnte nur noch zum Kraterrand hochschauen. Alles, was ich
vorher gekannt hatte, schien unerreichbar weit weg. Sogar
Tageslicht schien es keines mehr für mich zu geben.
Das Fenster verdunkelte sich. Der Tröstebusen war um den
Schreibtisch herumgegangen und stand jetzt direkt vor mir.
»Was hast du angestellt?«, fragte sie bestürzt.
»Die Zeitung«, krächzte ich. Mehr ging nicht raus, die Zunge
und alles andere waren noch schockgelähmt. Erst jetzt
merkte ich, dass ich ein verdrehtes Echsen-Blah immer noch
in meiner verkrampften Hand hielt. Vorsichtig griff der
Tröstebusen danach und zog mir die Zeitung aus den
Fingern. Fast sofort el ihr Blick auf die Rückseite. Fast sofort
wurde ihr alles klar: Das war nicht das, was sie im Ohr-Reh-

genial gesehen hatte. Das musste jemand ausgetauscht


haben.
Wir.
Ich.
Denn ich war die, die hier saß und die falsche Zeitung in der
Hand hielt. Ich war die, deren Eltern kommen mussten. Und
ich hatte den Tröstebusen hintergangen. Ich hatte den letzten
Erwachsenen in dieser Schule, der bisher immer auf meiner
Seite gestanden und mir im letzten Jahr so geholfen hatte,
diesen letzten Verbündeten hatte ich verraten.
Ich konnte ihr kaum in die Augen sehen. Die Unterlippe des
Tröstebusens zuckte enttäuscht, bevor sie ihren Mund
energisch zusammenkniff, sich umdrehte, um an ihrem
Schreibtisch den Anruf zu erledigen, der ihr aufgetragen
worden war – der mit meinen Eltern.
Mich ließ sie sitzen, ohne Trost, ohne ein weiteres Wort. Nur
die Zeitung hatte sie wie ein brennendes Blatt Papier wieder
losgelassen.
Da lag sie jetzt zusammengeknüllt vor meinen Füßen und ich
traute mich nicht mehr, sie anzufassen. Alles hatte dieses
verdammte Ding in Brand gesteckt.
Kapitel 17

Wie mir die Dämons-Tanten das Leben retteten

»Mira?« Eine vertraute Stimme riss mich aus meinen


trübsinnigen Gedanken.
Aber antworten ging nicht. Regungslos saß ich auf meinem
Platz und starrte immer noch auf die blöde Zeitung.
»Mira?«
Ein bekannter Kopf lugte hinter der Tür vom Seh-kräh-Teer-

Reh-Art hervor. Viele graue Wuschellocken, die wirr in alle


Richtungen standen, eine runde Lesebrille, die ein bisschen
schief auf der Nase hockte und ein gemütliches Gesicht voller
Lachfalten.
»OMA!«
Jetzt schoben sich die Lachfalten um die Tür. Und es wurden
noch mehr: Die ganze Bluse war voller Lachfalten, und mehr
noch: Ein übergroßer Kaffee eck prangte in der Mitte. Oma
macht sich um wenige Dinge Sorgen, am allerwenigsten
drüber, wie sie gerade aussieht. Das war wunderbar und
gerade jetzt konnte ich ihre Lässigkeit und ihre Sorglosigkeit
so gut gebrauchen!
»Hey, Mira«, kicherte sie munter und ihre ganze gute Laune
sprang uns fast an, »Mama sagt, ich soll dich abholen. Was ist
denn mit dir passiert?«
Bevor ich antworten konnte, tat es jemand anderes. Die
Tadellose stand plötzlich im Zimmer. Ohne Umschweife und
ohne irgendeine Begrüßung für Oma – die Mann-irren hatte
sie wohl heute eingebüßt – begann sie gleich, meine Sünden
aufzuzählen: »Mira hat sich mehrerer Vergehen gegen die
Schulordnung schuldig gemacht. Es sind Verstöße gegen die
Paar-A-Grafen 11, 15, 17 und 18 der Schulordnung.«
Oma holte Luft und wollte näher nachfragen. Aber ohne dass
meine Oma zu Wort kam, fuhr die Tadellose fort und redete
ohne Punkt- und Kommaregeln weiter: »Mira hat ohne das
Wissen der Schulleitung matt-er-real verbreitet, das den
Lehrkörper auf äußerst beschämende Weise lächerlich macht.
Sie hat die Schulregeln besudelt, die Schülerzeitung und die
Arbeit eines halben Jahres für diese Schülerzeitung
zuschandengeritten. Des Weiteren hat sie vermutlich andere
Kinder dazu angestiftet, ihr bei diesem – ich nenne es jetzt
mal so – Verbrechen zu helfen.«
Bei Verbrechen wollte ich Luft holen und etwas dagegen
sagen, aber die Tadellose ließ sich immer noch nicht
unterbrechen. Während ihres langen Wortschwalls sah sie
weder mich noch meine Oma direkt an, sondern schien sich
auf dem peinlichen Kaffee eck auf Omas Pulli festgesaugt zu
haben. Bestimmt verstieß schmutzige Kleidung auch gegen
irgendwelche Regeln, die sie so im Kopf hatte. Dabei vergaß
die Tadellose selbst alle goldenen Gesprächsregeln: Hö ich
begrüßen, freundlich bleiben, andere zu Wort kommen lassen,
zuhören. Heiser und atemlos schimpfte die Reck-Tor-in

weiter: »Dieses respektlose Verhalten kann und werde ich


nicht hinnehmen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass
ein einfacher Schulverweis in dieser Sache nicht ausreicht,
um Mira zu maßregeln. In Anbetracht dessen, dass ihre
Schul-Karr-jäh-Reh hier ohnehin schon stark belastet ist,
lege ich Ihnen dringend nahe, das Kind freiwillig von meiner
Schule zu nehmen. Sollte dies nicht erfolgen, dann
verspreche ich Ihnen: Dann werde ich alle dies-ziep-Spleen-

Maßnahmen ergreifen, die mir zur Verfügung stehen. In der


Regel endet das damit, dass ein Kind die Schule verlassen
muss.«
Nach diesem messerscharfen Urteil hielt die Tadellose das
erste Mal inne und blickte vom Kaffee eck auf. Einmal in das
Gesicht von Oma. Und dann zu mir. Auch ich hatte einen
Fleck, den indischen Weisheits eck.
Weisheit hatte der mir irgendwie doch nicht verliehen. Denn
wirklich weise war meine Aktion ja wohl nicht gewesen. Und
stark machte er mich auch nicht. Im Gegenteil, ich fühlte
mich hil os, kraftlos, meinetwegen auch respektlos und
achtlos, aber vor allem machtlos, freundelos, freudlos,
klassenlos.
Alles los …
Bei nächster Gelegenheit gehörte dieses ver ixte Ding auf
meiner Stirn abgewaschen. Nichts als Unheil hatte es mir
eingebracht!
Oma war inzwischen hinter mich getreten und hatte mir
beruhigend ihre Hand auf die Schulter gelegt.
»Ich verstehe, wenn Sie aufgebracht sind …«, ng Oma an. Sie
wollte wohl vermitteln und probierte es sogar mit goldenen
Gesprächsregeln. Ihre Gegnerin aber hielt nicht viel davon.
»Mehr als das«, unterbrach sie die Tadellose giftig.
Oma versuchte es noch einmal: »Ich verstehe, dass Sie mehr
als aufgebracht sind, aber vielleicht war es doch nur ein
kleiner, dummer Streich. Nichts wirklich Dramatisches.
Vielleicht sollten Sie …«
Doch die Tadellose ging mit Oma um, als wäre sie nur ein
Schüler, der Widerworte gab.
»Was ich sollte«, gab sie schnippisch zurück, »weiß wohl ich
am besten! Meine Meinung ist unumstößlich!«
Mit einem Mal wurde da Omas Stimme ganz kühl. »Das ist
bedauerlich. Dann werde ich mit meiner Tochter über Mira
sprechen. Sie ist heute dienstlich unterwegs, ebenso mein
Schwiegersohn. Morgen werden Sie von uns hören! Das letzte
Wort ist sicher noch nicht gesprochen. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, presste die Tadellose knapp hervor, und
ohne ein weiteres Wort schob mich Oma aus dem Büro.
Gerade noch konnte ich mich umdrehen und den Blick des
Tröstebusens auffangen, die die ganze Zeit
mucksmäuschenstill hinter dem Schreibtisch gesessen hatte.
In diesem Blick konnte man in Traurigkeit baden.

Es wurde ein langer, ein unerträglicher Nachmittag. Erst


einmal brauchte es mindestens eine Stunde, bevor ich mich
mit Türenschlagen, Kissen- und Stofftierschleudern, Kulis
leerkritzeln und Blätter-Zerknüllen abgeregt hatte. In mir
tobte eine solche Wut, dass ich mühelos mein ganzes Zimmer
verwüsten hätte können. Irgendwann waren die Wuttränen
getrocknet, hatte sich mein puterrotes Gesicht wieder
abgekühlt, war der rote indische Schand eck mit der
Nagelbürste abgerubbelt.
Dieser wütende Feuerball in meinem Bauch hatte mich sogar
dazu gebracht, noch eine weitere kleine Dummheit meiner
großen Dummheit hinterherzuschmeißen. Ich schnappte mir
das Telefon, riss von meinem Korkbrett eine Wie-Sitten-

Karte herunter und rief ihn an: den Kummerkarsten. Der


hatte mir schließlich dieses ganze Tofu-war-Buhu

eingebrockt. Er hatte gewollt, dass ich in die Schülerzeitung


ging. Das war alles seine Idee gewesen! Nicht meine.
Dreimal verwählte ich mich vor lauter Aufregung, Herzklopfen
und Feuerballwut. Aber beim vierten Mal hatte ich endlich
jemanden an der Strippe.
»Hier ist Karsten Dreyfuß«, meldete sich der Anrufbeantworter
und selbst der klang nicht blechern, sondern gahanz
verständnisvoll. Wie nervtötend! »Leider bin ich gerade in
einer Stunde. Aber gerne helfe ich dir oder Ihnen später
weiter, wenn du oder Sie mir eine Nachricht hinterlassen. Um
was geht’s denn?«
»Um was es geht?«, schrie ich in den Hörer, noch bevor der
Anfangston zu hören war. Der piepste mir mitten in meinen
ersten zornigen Wortschwall.
Also ng ich noch mal an: »Um was es geht? Um was es geht?
Um meine Zukunft geht es! Um meine Schule! Um meinen
Schulabschluss. Ich werde doof bleiben. Doof! Doof! Doof!
Hören Sie! Ich bekomme später keine Arbeit und muss von
All-Moos-Senn leben. Weil man mich von der Schule
schmeißt! Jawoll! Sie haben mir diesen Kackvorschlag
gemacht mit der Schülerzeitung! Sie wollten doch, dass ich da
mitmache. Und was hat es mir gebracht? Nur Ärger!«
Ich hatte mich so in Rasche geredet, dass ich ganz außer
Atem war. Wie nach einem 500-Meter-Lauf musste ich erst
einmal Luft holen. Dann erst konnte ich weiterkeifen: »Und
nur damit Sie es wissen: Hier ist Mira Ku-«
Den Rest würgte der Schlusspiepser vom Anrufbeantworter
ab. Bevor ich meinen Satz beenden konnte, sagte die
vorgetäuschte Verständnisstimme: »Danke für den Anruf. Ich
melde mich, sobald ich kann.«
Doofer Psycho-Locke! Wenn man ihn schon mal brauchte,
dann schickte der seinen Anrufbeantworter-Kumpel vor!
Ich schmiss den Hörer aufs Bett. Und dann stand ich da.
Ruhig. Wenn man jetzt ganz genau hinhorchte, pochte da

P h
keine Wut mehr, kein Trotz, kein Ärger über den Psycho-

Locken, die Tadellose oder den doofen Maulaufreißer. Oder


auch nur über mich und meine eigene Dummheit (das war ja
das, was mich am Allerwütendsten machte!). Dann pochte da
nur noch ein ängstliches und verwirrtes Herz.
Erst ganz spät am Nachmittag kroch ich niedergeschlagen
und beschämt aus meinem Zimmer und erst dann konnte ich
meiner Oma alles in Ruhe erzählen.
Oma hörte aufmerksam zu. Sie unterbrach mich nicht, sie
betrachtete mich die ganze Zeit nur ganz ernst und sah sich
schließlich die Zeitung an, die ich aus dem Seh-kräht-Teer-

Reh-Art gerettet hatte.


Da musste sie erst einmal grinsen. Das Erste, was sie sagte,
war: »Das ist ziemlich witzig, was du dir da ausgedacht hast.«
Ich und Linus, dachte ich. Doch ich sagte es nicht laut, es
waren einfach schon zu viele Leute in die Sache mit
hineingezogen worden. Nicht nötig, meinen Bruder auch noch
zu verpetzen.
»Aber auch wenn es witzig ist, Mira«, fuhr Oma fort und ihre
Stimme klang wieder so ernst, dass ich erschrecken musste,
»es rechtfertigt nicht, was du getan hast. Du bist zu weit
gegangen.«
»Weiß ich.« Ich nickte. In Zeitlupe. Ganz langsam, ganz
zerknirscht.
»Deine Schulleiterin ist eine Reh-Speck-per-Sohn. Wenn du
sie und ihre Regeln lächerlich machst, dann untergräbst du
ihre Auto-Ritt-tät.«

»Weiß ich.« Das klang noch ein bisschen zerknirschter.


»Das kann sie nicht mit sich machen lassen.«
»Weiß ich.« Noch einmal mehr zerknirscht.
»Sie muss dich bestrafen. Damit es keiner nachmacht.«
»Weiß ich.« Und dachte mir noch dazu: Aber muss sie mich
gleich so streng bestrafen? Muss sie mich von der Schule
schmeißen?
Oma fuhr fort: »Ich bin nicht deine Mama.«
»Weiß ich.« Am Boden zerknirscht.
»Und nicht dein Papa …«
»Weiß ich.« Noch tiefer als Boden, kellertief zerknirscht.
»Ich kann das nicht für dich regeln.«
»Weiß ich.« Und dachte mir noch dazu: Leider.
»Leider habe ich keine Ahnung, was passieren wird. Deine
Reck-Tor-in sah mir nicht danach aus, als ob sie lange mit
sich verhandeln ließe!«
»Macht sie nicht.« Missmutig schob ich den Stuhl zurück und
schlich todesbetrübt nach oben. Wenn mir nicht einmal mehr
meine Oma, die sorgenfreie, liebevolle, meine Lieblingsoma,
helfen konnte, dann saß ich derart tief in der Tinte, dass
nicht mal mehr mein Scheitel aus dem Tintenfass
herausguckte.
Ganz leise legte ich mich aufs Bett und blieb regungslos
liegen. Keinen Mucks machte ich. Auch im Haus schien
niemand einen Mucks zu machen, den ganzen
Spätnachmittag und den ganzen Abend blieb es gespenstisch
still. Oma war unten und bügelte Mamas Wäsche und kochte
Würstelgulasch zum Einfrieren vor. Linus spielte mit
Kopfhörern Komm-Puter-Spiele und das ungefähr das
Sechsfache an Zeit, die ihm sonst Mama erlaubt.
Irgendwann schaltete ich mir – auch mit Kopfhörern – eine
Hanni&Nanni-CD an. Aber mir gelang es kaum, hinzuhören,
so sehr mischten sich meine eigenen trüben Gedanken unter
die Hörspielstimmen. Was wenn … Was wenn … Was wenn …
.
Spät, sehr spät an diesem Abend gelang es mir einzuschlafen.
Irgendwann zwischen CD acht oder neun elen mir die Augen
zu. Meine Mama und mein Papa mussten auch irgendwann in
der Nacht heimgekommen sein und Oma abgelöst haben.
Denn am nächsten Morgen weckte mich Mama.
Sie hatte total rot geäderte Augen und wirkte ganz grau und
traurig im Gesicht. Bestimmt war sie hundemüde, denn sie
sagte nicht viel, eigentlich überhaupt nichts. Stattdessen ging
sie wieder aus meinem Zimmer und wurschtelte erst einmal
in der Küche rum. Als ich runterkam, war Linus schon
gegangen, aber Papa saß noch am Frühstückstisch. Er
stocherte in einer Schale Müsli mit Banane herum. Das
Ganze war längst ekelpampig geworden, doch Papa schien
das gar nicht zu bemerken. Als ich reinkam, blickte er auf.
»Sieht so aus, als hättest du doch auch so eine Dummheit
gemacht wie ich mit dem Tat-Uhu. Hatte ich dir nicht geraten,
nichts zu tun, was du später bereust?«, fragte er traurig.
Bestürzt und ertappt wollte ich schon wieder aus dem
Zimmer stürzen, aber Papa hielt mich am Arm fest.
»Hiergeblieben!« Er sah mich streng an. »Wenn man Mist
gebaut hat, dann darf man davor nicht weglaufen. Dann
muss man es auch selbst ausbaden.«
Meine Schuld war ganz klebrig, klebriger noch als der
Bananenschleim in Papas Müslischale. Sie pappte meine
Zunge unten am Gaumen fest, sodass ich meinem Papa
nichts sagen konnte. Ich konnte mich nicht verteidigen,
sondern nur runtergucken auf meine Sternchensocken.
Eigentlich sind das meine Glückssocken, darin habe ich beim
letzten Sportfest den schnellsten Lauf aller Mädchen unserer
Schule geschafft.
Mit dieser Glückssträhne war es wohl endgültig vorbei …
»Papa geht heute später zur Arbeit und ich habe alle Termine
heute Morgen abgesagt«, sagte Mama aus dem Hintergrund.
»Jetzt gehen wir gleich zu deiner Schulleiterin und hören uns
an, was sie zu sagen hat. Dann sehen wir weiter.« Sie stellte
mir eine frische Schale Müsli mit Banane hin, obwohl ich so
gar keinen A.P.-Tritt hatte.
Als Papa mich in der Schale lustlos stochern sah, kam er
einmal um den Tisch herum und setzte sich neben mich.
Sachte nahm er mir den Löffel aus der Hand und klaute mir
ein frisches Stück Banane. Dann stupste er mich sachte mit
der Schulter an.
»Hey, Kleine, wir werden das schon irgendwie wieder
hinbiegen. Irgendwie. Man muss nur an sich glauben.«
Das ist zwar eigentlich Mamas Lieblingsspruch, aber trotzdem
machten Mamas Augenbrauen ein zweifelndes V. Doch Papa
rempelte mich noch einmal: »Komm schon, wir wollen besser
überpünktlich sein. So können wir vielleicht noch ein paar
Pluspunkte sammeln.« Gut, dass wenigstens Papa so Opi-

Mist-Tisch war.

So kamen wir zu dritt schon um zehn vor acht an der Schule


an, ich in der Mitte, Mama rechts, Papa links.
Doch dort herrschte nicht das übliche Gewimmel von Rollern,
von wuselnden Schulranzenkindern, von
Sportbeutelkämpfen, von bis zur letzten Sekunde Fußball
kickenden Viertklässern. An diesem Freitag war da zwar auch
ganz viel Gewimmel.
Aber ein anderes.
Eine Traube von Schülern hatte sich zusammengerottet.
Zusammengezählt waren es bestimmt 20, vielleicht sogar 30
Kinder. Sie standen vor dem großen bunten Zaun, an den ein
paar Töpfe mit frischen Narr-zischen gehängt waren. Als wir
kamen, winkten mir aus der Menge Svenja, Felix, Maurice,
Anne-Marie, Shirin, Thorsten und eine Handvoll
Schülerzeitungsleute zu. Auch der Rundlauf stand da
irgendwo rum.
Gerade entrollten Felix und Maurice etwas, das aussah wie
eine große Tapetenrolle. Zweimal verdrehten sie die Enden,
weil Maurice so wild fuchteln musste, aber dann hatten sie
endlich alles richtig ausgefahren. In großen Buchstaben stand
drauf: »Freiheit für die Presse! Freiheit für die
Schülerzeitung!«
Kaum hatten sich Felix und Maurice auf jeder Seite des
Banners aufgestellt, wollte Mama mich schon weiterziehen.
Doch ich blieb stur stehen. Dieses Speck-Tag-Gel konnte
man sich doch nicht entgehen lassen!
Papa quengelte schon: »Wir kommen zu spät, Mira!«
Aber jetzt hatte die Meute vor dem Schulgelände angefangen
im Chor zu brüllen: »Wir wollen Pressefreiheit! Wir wol-len
Pres-se-frei-heit! Uns-re Zei-tung soll er-schei-nen! Wir wol-
len Pres-se-frei-heit. Uns-re …« Im ersten Stock ging ein
Fenster auf und eine Lehrerin guckte erstaunt heraus. Als sie
die wilde Dämon-Station auf der Straße sah, schloss sie
erschrocken gleich wieder das Fenster.
Der Chor ging in der Zwischenzeit unbeirrt weiter: »Uns-re
Zei-tung soll er-schei-nen! Wir wol-len Pres-se-frei-heit.«
Irgendwann rief ganz laut der Maulaufreißer Maurice
dazwischen. »Wir wol-len Frei-heit, Frei-heit für Mi-ra!« Erst
stimmten Svenja und Felix und Shirin und dann die ganze
Meute lauthals mit ein. Maurice winkte mir grinsend zu.
Dieser Maulaufreißer! Dieser unglaublich freche, unglaublich
mutige Maulaufreißer!

Hast du jemals deinen Namen im Sprechchor gehört? Weißt


du, was für ein großartiges Gefühl das sein kann? Wie stolz
man da wird? Wie einen das be ügeln kann? Zum Beispiel,
dass man in Glückssocken beim Sportfest die schnellste
Mädchenleistung der Schule läuft (wenn ein längster Freund
»Mira« brüllt). Und gerade mit einem ganzen »Mira«-Chor
fühlte ich mich so stolz wegen meiner unerschütterlichen
Freunde, so stolz, als hätte ich sogar noch die
Meisterschaften gewonnen.
Da ging noch mal ein Fenster auf. Dieses Mal schaute die
tadellose Reck-Tor-in höchstpersönlich heraus.
Jetzt wurde es ernst. Wie auf Komm-Manno läutete es zum
Schulanfang.
Nur wenige Zeit später kam die Tadellose vor die Tür,
klatschte energisch in die Hände und bedeutete der Menge,
Ruhe zu geben. Es war wie im Unterricht – sofort war alles
mucksmäuschenstill.
»Was soll das bitte?«, fragte sie mit spitzer Stimme. Selbst ich,
die ich weit weg stand, konnte sehen, wie sie angespannt
ihren Rücken durchdrückte. Zuerst blickte sie zu den
Dämons-Tanten, dann zu mir und meinen Eltern, dann
wieder zurück zu der Truppe, die feindselig hinter ihrem
Tran-Spar-End stand. Der Spruch »Freiheit für die Presse!
Freiheit für die Schülerzeitung!« atterte aufgeregt im Wind.
Auch mir atterten die Nerven.
Erst jetzt sah ich: Irgendjemand hatte mit rotem Stift und ein
bisschen kleiner in Schreibschrift in eine Ecke geschrieben:
»Und Freiheit für Mira!«
Die Tadellose sah noch einmal von einer Gruppe zur anderen,
dann meckerte sie den Rundlauf unverwandt an: »Erklären
Sie mir, was das soll!«
»Die Kinder bestehen darauf, dass die Schülerzeitung verkauft
werden darf«, antwortete der Rundlauf gefasst und ruhig.
»Und seit wann bestimmen Sie«, die Stimme von der
Tadellosen kiekste beim Sie, »oder die Kinder, was an meiner
Schule passiert?«
Dann rief sie zu mir und meinen Eltern rüber: »Oder hast du
das mal wieder angezettelt, Mira?«
Da kam plötzlich Leben in meine Mama: »Wir sind eben erst
hier eingetroffen!«, polterte sie zurück, »Mira ist nicht …!«
Aber da hatte Maurice sie schon unterbrochen. »Das war
allein unsere Idee!«, rief er. »Mira hat damit«, und er deutete
auf das Tran-Spar-End, »gar nichts zu tun!«
Die Dämons-Tanten hinter ihm nickten grimmig. Svenja und
Felix hatten nster ihre Arme verschränkt. Thorsten und
Shirin stellten sich Dämon-starrt-tief neben Maurice.
Es brauchte nur einen winzigen Augenblick, da hatte sich die
Tadellose schon wieder gefasst.
»Nun, das ist auch egal. Die Schülerzeitung jedenfalls wird
nicht verkauft werden. Das habe ich entschieden und dabei
bleibt es.«
Sie wollte sich schon umdrehen und ins Schulhaus
zurückgehen, da musste sie ab-robbt stehen bleiben. Um die
Ecke war in einem Schweinetempo ein Fahrrad gebogen. Ein
Mann saß drauf, und hinter ihm wehte ein langer roter Schal
im Fahrtwind. Mit einem Mordsgequietsche schoss er knapp
vor der tadellosen Nase vorbei und bremste sein Gefährt
genau vor den Füßen meiner Eltern.
»’tschuldigung«, keuchte er. »Bin ich zu spät? Ich hatte ’nen
Platten!«
Es war der Kummerkarsten, der seinen roten Schal abnahm
und uns jetzt seine vom Fahrraddreck völlig verschmierte
Hand entgegenstreckte. Trotzdem schüttelten wir sie ihm
dankbar. Seine Hilfe konnten wir gut gebrauchen. Dann
wandte er sich um: »Oh, da sind wohl noch ein paar Helfer für
dich aufgetaucht, Mira!«
Gerade kam es wieder vom Chor: »Frei … heit … für … Mi…
ra! Frei… heit … für … Mi… ra!« Dazu wedelte die Gruppe mit
dem Tran-Spar-End auf und ab. »Frei… heit … für … die …
Pres …se!«
Der Rundlauf löste sich aus der Gruppe und ging auf die
Tadellose zu, die sichtlich nervös auf ihrem Platz stand. Eine
widerborstige Haarsträhne hatte sich aus ihrem perfekten
Knoten gelöst. An ihrem Hals hatten sich derart rote Flecken
gebildet, dass sie sogar bis zu mir hin Sieg-Knall-leuchteten.

Gebannt verfolgte ich, was passierte.


»Liebe Schüler, liebe Schulleitung«, rief jetzt der Rundlauf in
die Menge und alle wurden schlagartig still. »Ich will Ihnen
und euch einen Komm-pro-Mist vorschlagen.«
Die Tadellose stemmte energisch die Arme in die Hüften.
Gegenüber dem runden Rundlauf musste sie sich wohl ein
bisschen aufplustern und breiter machen.
Die Schülerzeitungs-Che n fuhr fort: »Ich kaufe Ihnen die
Zeitungen ab. Alle Echsen-bla-Reh! Das dürfte alle Kosten
decken.«
Zur Antwort schnaufte die Tadellose so laut, dass es der
ganze Schulhof hören konnte.
»Und dann werden wir die Schülerzeitung hier verkaufen – vor
der Schule! Jede einzelne Zeitung bekommt einen Extra-
Stempel verpasst – damit machen wir klar, dass dies nicht die
Ofen-zieh-helle Zeitung der Schule ist.«
Die wutentbrannte Tadellose schnaufte noch einmal. Ein
bisschen sah es so aus, als wolle sie wie ein Stier mit den
Hufen scharren, um dann im Karl-Lob auf das Tran-Spar-

End zuzurennen und es mit den Hörnern aufzuspießen.


Es war schwer auszumachen, wer sie mehr reizte. Der

P h
Rundlauf, ihre Helfer, der Psycho-Locke mit seinem roten
Schal. Oder wir: Mama, Papa und ich. Der Stier wusste gar
nicht, wohin er zuerst stürmen sollte.
Schließlich siegte doch die Schulleiterin in diesem Kampf. Sie
klatschte noch einmal in die Hände.
»Ihr!« Sie deutete mit dem ausgestreckten Zeige nger auf die
Dämons-Tanten. »Ihr geht ins Schulhaus. Ihr habt
Unterricht. Und wenn ihr dem fernbleibt, dann hagelt es
Verweise!«
Und als sich erst einmal gar nichts tat, stattdessen die Kinder
mit verschränkten Armen stehen blieben, brüllte die Reck-

Tor-in: »Ver… wei… se… für … je… den … Ein… zel… nen!«
Immer noch rührte sich keiner. Bis die Tadellose noch etwas
Kleines, aber Entscheidendes hinzufügte: »Und Mira, du
auch. Geh in deine Klasse!«
Da brach mit einem Mal inmitten der Dämons-Tanten ein
kleiner Jubel aus. Svenja, Felix, Shirin und Anne-Marie
kamen auf mich zugelaufen. Svenja umarmte mich
stürmisch: »Jetzt wird alles gut.«
Shirin löste sie mit der Umarmung ab: »Alles gut!«
»Duh ast gewonnen!«, freute sich Felix und klopfte mir wie ein
Wilder auf die Schulter. »Ich gratuliered ir!«
Und noch ein Grad-du-Land legte mir den Arm um die
Schulter: Maulaufreißer Maurice. Er grinste mich an. »Na,
was sagst du jetzt? Wir konnten dich doch nicht hängen
lassen.« Sein Grinsen wurde noch ein bisschen breiter.
»Oder?«
Jetzt strahlte er mich regelrecht an. Und irgendwas war an
diesem Strahlen, dass es mir schlagartig wärmer wurde. Die
Hand auf meiner Schulter, seine Hand auf meiner Schulter
fühlte sich auch ganz warm und anders an. Wie ein kleines,
freundliches Tier, das da plötzlich gelandet war.
Ich verscheuchte den Gedanken. Der war jetzt völlig fehl am
Platz, solange die Tadellose immer noch knapp vor der Ex-

bloß-John stand. Sie hatte mittlerweile dem Rundlauf


halbwegs ruhig gesagt: »Ich lasse mir Ihren Vorschlag durch
den Kopf gehen und rufe Sie am Nachmittag an.« Dann hatte
sie meine Eltern und den Kummerkarsten ins Schulhaus
reingebeten. Natürlich nicht, ohne noch einmal
sicherzustellen, dass wir auch ja das Tran-Spar-End

zusammenrollten und uns wie befohlen in die Klassenzimmer


trollten.
Maurice ging in seine vierte Klasse, nachdem er sich noch
einmal umgedreht hatte und mir »Viel Glück heute noch«
zuge üstert hatte. Svenja, Felix, Shirin, Thorsten, Anne-Marie
und ich gingen in unsere dritte Klasse. Frau Wienert war
schon mitten im Unterricht.
»Ah, da seid ihr ja! Schön, dass du doch da bist, liebe Mira!«,
rief meine Lieblingslehrerin uns entgegen. »Aus gegebenem
Anlass haben wir ein neues Thema eingeschoben im Heimat-
und Sachkundeunterricht: Demo-Grad-ih«, fuhr sie fort,
während wir unsere Stühle von den Tischen hoben.
»Gerade habe ich erzählt, dass es in Deutschland die
Grundrechte gibt. Also das Recht, dass jeder gleich behandelt
wird, dass jeder seine Reh-lieg-John und seinen Beruf
ausüben darf, dass jeder seine Meinung äußern darf und
dass es bei uns Pressefreiheit gibt. Weiß jemand von euch,
was das genau heißt?«
Anne-Maries Arm reckte sich in die Höhe. »Pressefreiheit ist in
Art-Igel fünf des Grundgesetzes festgeschrieben. Das habe ich
gestern im Inter-Netz ge-kugelt. Das heißt, dass der Staat
und die Obrigkeit sich nicht einmischen dürfen, was
Zeitungen schreiben oder jemand anders berichtet, das
Fernsehen oder so.«
Frau Wienert nickte anerkennend, aber Anne-Marie war noch
nicht fertig: »Und das heißt auch, dass nicht verboten werden
darf, eine Schülerzeitung zu verkaufen.«
Jetzt ng aber Frau Wienert noch mal an: »Ja, das stimmt
soweit, Anne-Marie. Es gibt aber ein paar Ausnahmen für die
Pressefreiheit. Zum Beispiel wenn man jemanden beleidigt
oder wenn man schreibt, dass man Gewalt gut ndet. Und bei
ein paar weiteren Ausnahmen geht der Jugendschutz vor.«
Ohne sich zu melden, fragte Felix: »Jugendschutz heißt aber
doch nicht, dass man sich selbst vor der Jugend schützt,
oder?«
Frau Wienert guckte verwirrt: »Wie meinst du das?«
»Na ja, mit dem Drehspiel, das die Reck-Tor-in verbietet,
diesem Regel-Verdrehspiel von Mira, also … das gefährdet
doch uns gar nicht. Sondern umgekehrt nur die Schulleitung
und diese vielen blödsinnigen Regelungen in unserer Schule.«
»Aber ja«, sagte Frau Wienert, »das wäre wohl kein Art-Igel,

der normalerweise unter den Jugendschutz fällt. Das heißt,


für den würde die Pressefreiheit wohl gelten.«
In der Klasse wurde es laut. Ellenbogen stießen sich an,
einige raunten ihren Nachbarn was zu, irgendjemand sagte
irgendwas von »Dann kann Mira aber nicht …«.
Es dauerte eine ganze Weile, bevor Frau Wienert wieder
anfangen konnte.
»Trotzdem«, lenkte sie geschickt ab, »heißt Demo-Grad-ih

nicht, dass jeder nur frei ist und immer tun und lassen kann,
was er will. Es gibt Gesetze, Regeln, an die sich alle halten
müssen …«
Den Rest der Diss-Kuss-John bekam ich nur wie durch
einen Schleier mit. Erst jetzt merkte ich, wie mein Körper
unter der Spannung des letzten Tages gelitten hatte. Mein
Magen war ein klotzschwerer Klumpen gewesen, mein Nacken
tat weh vom vielen Ducken, und auf der Stelle an der Stirn,
wo ich zu fest mit der Nagelbürste den roten Fleck
weggeschrubbt hatte, hatte sich eine Schorfschicht gebildet,
die ziemlich spannte.
Nur eine Stelle, eine an der Schulter, die war ganz weich und
warm, und sie wurde immer wärmer und mir wurde immer
wärmer. Glückswarm, weil mich meine Freunde
wahrscheinlich gerettet hatten. Weil sie mich nicht fallen
gelassen, sondern mir geholfen hatten.
Weil ich ihre Freundin bleiben durfte.

So was von glückswarm!

Denn ich durfte, ganz Ofen-zieh-hell ihre Freundin und – an


der Schule bleiben.
Nachdem es zur zweiten Stunde geläutet hatte, holte mich der
Kummerkarsten kurz aus dem Klassenzimmer. Auf dem Gang
standen auch Mama und Papa. Papa grinste von einem
Ohrläppchen bis zum anderen. Mamas Brauen formten zwei
gut gelaunte Cs um ihre Augen. Von der Tadellosen war
nirgends was zu sehen.
»Also, Mira«, erklärte mir der Kummerkarsten, dessen roter
Schal mit einem Mal wie ein knallig roter Grinsemund wirkte,
»egal was, egal wie, egal wie sehr du glaubst, dass du recht
hast, du darfst solche heimlichen Sachen nicht mehr
machen.«
»Weiß ich«, sagte ich und versuchte, dabei wenigstens ein
bisschen am Boden zerknirscht zu klingen. Auch wenn ich
am liebsten abgehoben hätte vor Freude.
»Du hast dich und vor allem auch einige andere in böse
Schwierigkeiten gebracht«, erinnerte mich meine Mama.
»Weiß ich.« Das klang nicht mehr wirklich zerknirscht.
»Und das wird Komm-säg-wenn-zehn haben«, sagte Papa,
der sich sein Grinsen längst nicht mehr verkneifen konnte.
»Weiß ich.« Das Zerknirscht war schon fast ganz
weggeschwebt.
»Aaaber«, meinte der Kummerkarsten und Gäste-cool-irrte

wild mit seinen fahrraddreckverschmierten Händen, »du


darfst an dieser Schule bleiben. Es gibt natürlich in deiner
Akte einen Eintrag. Wahrscheinlich ießt der dann auch in
die Betragensnote im Zeugnis ein.«
»Und wir haben versprochen«, ergänzte Mama streng, »wir
haben versprochen, dass du dich aus der Schülerzeitung
zurückziehen wirst. Ab jetzt keine Art-Igel mehr, verstanden?
Keine aufrührerischen Art-Igel!«

Und da musste ich dann doch ganz himmelhochjauchzend


zerknirscht grinsen: »Weiß ich!«
Kapitel 18

Abwarten und Nahm-Ast-Tee trinken

»Ey.«
»Ey.«
»Hallo Mira.«
»Hallo Mau …rice. Was machst’n du hier?«
Wir waren vor der Tür zu unserer Seh-kräht-Teer-in

aufeinandergeprallt.
»Mir bei der Reck-Tor-in mein Handy wiederholen. Morgen
fangen die Osterferien an.«
Maurice schmiss sich die Stirnlocke aus dem Gesicht, aber
heute wirkte es nicht ganz so schwungvoll und großkotzig wie
sonst. Eher kleinkotzig.
»Meinst du, du kriegst es zurück?«, fragte ich ihn deshalb.
Er zuckte ziemlich kleinkotzig mit den Achseln. »Weiß nicht.
Versprochen hat sie’s. Sie wollte es nur bis zu den Ferien
behalten. Aber nach allem, was so in letzter Zeit passiert ist
…«
Diese Zweifel konnte ich nur zu gut verstehen. Ich nickte
mitfühlend und schmiss mir meine Haare aus dem Gesicht.
Eine Strähne musste an meiner Nase gekitzelt haben. Die
Tadellose hatte mir zwar noch mal eine Schanze gegeben,
aber jedes Mal, wenn ich ihr begegnete, hatte ich vor lauter
Schiss einen kleinen Kloß im Hals. Denn ohne die Hilfe von
Maurice und seine Dämon-Station wäre es für mich
bestimmt nicht so glimp ich ausgegangen mit der Tadellosen
und mir. Maurice hatte sich ganz schön weit aus dem Fenster
gelehnt dafür, dass ich bleiben durfte. Das hätte ihm auch
mächtig Ärger einbringen können.
Genau in diesem Moment beschloss ich, dass auch ich mich
mal für jemanden aus dem Fenster lehnen musste.
»Brauchst du Hilfe? Po-fress-John-Elle Hilfe?«
Von Maurice kam nicht gleich eine Antwort, sondern nur ein
verlegener und verständnisloser Blick.
»Dr. Ku könnte dir helfen«, erklärte ich ihm. »Sie könnte
mitkommen.« Einen letzten Auftritt durfte ich Dr. Ku ja wohl
noch gönnen, bevor sie ihren Dienst bei der Schülerzeitung
quitt-irren musste.
»Danke. Kann sicher nicht schaden«, grinste Maurice. »Und
du? Was machst jetzt du hier?«
»Ich muss auch noch was erledigen«, antwortete ich und hob
verschwörerisch das Geschirrtuch von dem Backblech, das
ich die ganze Zeit auf dem Arm gehalten hatte.
15 höchstselbst-gebackene Plätzchen lagen darauf, 15
Buchstabenplätzchen. Vier volle Stunden hatte ich gestern
mit Oma in der Küche gewerkelt, den Teig gerührt, mit
Spritzbeuteln auf das Blech geschrieben, die erste verbrannte
Protz-John weggekippt, eine neue gemixt und gebacken, die
fertigen Kekse dann mit Schoko-Kuh-wert-Türe bestrichen
(und alle übrigen Kekse höchstpersönlich gegessen!).

15 Buchstabenkekse waren übrig geblieben:


E-N-D
S-C-H-U-L
T-I-L-G-U-N-G.
Die sollte nun der Tröstebusen bekommen. Mein schlechtes
Gewissen hatte mir keine Ruhe mehr gelassen, bis ich mit
Oma diese Idee ausgekocht, äh, -gebacken hatte.
»Ich kann ja auch mitkommen«, bot sich nun auch Maurice
an.
»Kann nicht schaden«, grinste ich zurück und klopfte schon
mal an die Tür.
Der Tröstebusen war völlig überrascht uns zu sehen, nahm
aber neugierig das Backblech entgegen. Dann lupfte sie das
Geschirrtuch und musste erst mal ganz tief – seufzen.
»Aaaaach, Mira«, entfuhr es ihr. »Ach Mira!«
»Es tut mir wirklich, wirklich leid«, ng ich an und Maurice
nickte hektisch dazu. »Das hätte ich nicht …«
»Ach, Mira!«, unterbrach mich der Tröstebusen. »Ich hatte
einfach nur gedacht, dass nach all dem, was wir miteinander
durchgestanden haben, dass ich nicht mehr jemand für dich
bin, vor dem du Geheimnisse hast!«
»Wir mussten das doch heimlich machen«, versuchte ich ihr
zu erklären. »Sonst hätten Sie doch den ganzen Ärger
gekriegt.«
»Besser ihr hättet das so oder so nicht gemacht. Dann hätte
niemand Ärger gekriegt. Solche Geheimnisse sind in der Regel
nie gut«, entgegnete der Tröstebusen.
»Solche Geheimnisse sind nicht gut. Das weiß ich jetzt auch«,
musste ich zugeben.
Aber: »So viele Regeln auch nicht«, mischte sich Maurice an
meiner Seite ein, »die sind auch nicht gut.«
Da konnte der Tröstebusen schon gar nicht mehr anders, da
musste sie verschwörerisch mit uns kichern.
»Trotzdem«, sagte sie schließlich, »ein paar Regeln sind nicht
ganz so unsinnig. Zum Beispiel die, dass man eine
Versöhnung auch anständig feiern sollte …«
Sie ging zu ihrem Schreibtisch, kruschte in der untersten
Schublade und zog drei Gummi-Cola aschen heraus. Mit
denen stießen wir feierlich auf unsere Versöhnung und einen
Neuanfang nach den Osterferien an.
»Ah-pro-Pos Osterferien«, warf Maurice ein. »Wir müssen
noch zu Ihrer Che n.«
Und schon standen wir vor der Tür der Reck-Tor-in und
holten noch einmal tief Luft.
»Du!«, sagte ich, als ich sah, dass er sich nicht traute zu
klopfen.
»Du!«, gab er untapfer zurück.
»Ok, wir beide. Gemeinsam.« Zusammen schmissen wir uns in
Po-See, nahmen noch einen tiefen, mutigen Atemzug, und
dann klopften wir.
»Herrein!« Die Stimme der Tadellosen war schon wieder
messermäßig geschärft.
»Wir … äh … ja … ich …«, Maurice, der maulheldenhafteste
Maulaufreißer, der mörderdreiste Matsch-oh-Macker machte
sich in die Hosen und ng doch tatsächlich das Stottern an!
Was war denn plötzlich in den gefahren?
Da musste wohl Dr. Ku übernehmen: »Wir wollten Sie fragen,
ob wir das Handy, das Sie uns abgenommen haben,
zurückkriegen. Es hieß mal, dass es bis zu den Ferien komm-

fies-ziert ist. Die Zeit ist morgen rum!«


»Hmmmm«, die Reck-Tor-in zog extra lange die Luft ein.
»Es ist nicht wirklich meins … gehört meinem großen Bruder«,
warf stammelnd Maurice ein. Aha, deswegen das
Muffensausen!
»Das tut nichts zur Sache, wessen Handy das ist«, antwortete
die Reck-Tor-in schneidend. »Es darf nicht im Schulhaus
benutzt werden.«
Wieder musste sich Dr. Ku in die Sache einmischen.
»Natürlich wissen wir sehr gut, wie wichtig Ihnen die Regeln
im Schulhaus sind und dass die Schüler sie alle Reh-Speck-

Tieren«, sagte Dr. Ku beschwichtigend. Beinahe hatten wir sie


schon rumgekriegt, die Tadellose sah uns ganz erwartungsvoll
an.
»Wenn Sie sich darauf verlassen können, dass wir Ihre Regeln
einhalten«, fuhr Dr. Ku fort, »können wir uns dann umgekehrt
auch darauf verlassen, dass Sie diese Regel einhalten: Man
muss seine Versprechen halten?«
Ein starker Spruch. Vielleicht war er doch zu stark – die
Miene unserer Reck-Tor-in verdunkelte sich noch einmal
gefährlich. Nervös zuckte Maurice neben mir mit den
Schultern und wippte auf den Zehen hin und her. Am liebsten
hätte Dr. Ku den Zappel-viel-lieb beim Arm gepackt und
festgehalten.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Tadellose
antwortete: »Meinetwegen. Ihr erhaltet das Handy zurück.
Unter der Bedingung, dass ich es hier nie wieder sehe! Nicht
in der Pause. Nicht vor der Schule. Nicht danach. Gar nicht.«
»Okay!«, konnte Maurice ihr erleichtert versprechen. »Ich
nehme es nicht wieder mit in die Schule. Und das hier auch
nicht.« Er zog ein zweites Handy aus seiner Tasche. »Das
gehört meinem anderen Bruder«, üsterte er mir zu, während
die Tadellose mit einem riesengroßen klimpernden
Schlüsselbund ihren Schrank aufschloss. Kaum dass Maurice
sein erstes Telefon wiederhatte, hatte er schlagartig wieder zu
seiner alten Form gefunden. Plötzlich war er gar nicht mehr
kleinkotzig oder verlegen, sondern zeigte ein breites Grinsen
und den bekannten selbstbewussten Po-nie-Schwung. Den
bekannt rotzfrechen Spruch, den gab’s auch noch dazu.
»Ich habe das zweite Handy mitgebracht, weil ich noch ein
Foto für die Schülerzeitung machen will.« Maurice beeilte
sich, bevor die Tadellose wieder irgendwas Missbilligendes
sagen konnte: »Wenn man sich versöhnt, dann muss man das
auch anständig feiern. Deswegen will ich ein Foto von Ihnen
und Mira machen – wie Sie sich zur Versöhnung die Hand
geben. Das bringen wir dann in die nächste Ausgabe der
Schülerzeitung …«
Und so schüttelten wir uns wie zwei Po-Lied-Ticker feierlich
die Hände, die Tadellose und ich, während die Presse von uns
eifrig Beweisfotos schoss.
»So, jetzt habe ich alles im Kasten. Danke für die
Aufmerksamkeit«, meinte Maurice abschließend und fügte
augenzwinkernd hinzu: »Wie ja alle wissen, fotogra ere ich
immer nur die Hübschesten an der Schule!«
Was für ein Spinner!, schoss es mir – Hach – durch den Kopf,
aber schon mahnte uns die Reck-Tor-in: »Nun aber ab mit
euch in die Klasse. Es hat schon längst geläutet und der
Unterricht hat bestimmt schon angefangen.«
Kam es nur mir so vor, oder war irgendwas an ihrer
messerscharfen Stimme plötzlich rundgeschliffen worden?

Am Kaff-Freitag saßen Svenja und ich wieder einmal auf


meiner Fensterbank. Mama hatte uns vorab eine halbe Tüte
Schokoeier geschenkt – als Belohnung, weil ich so brav in den
Ferien Rechtschreibung geübt hatte.
Schokoladensatt und schokoladenmatt saßen wir nun auf
den Kissen, während unter uns die Heizung bullerte. Es war
eigentlich noch lange kein Barfußwetter, aber wir hatten
probehalber doch schon mal die Socken ausgezogen. Svenja
hielt meinen roten Per-Mann-End-Stift in der Hand und
wollte uns schon einen roten Tupfen auf die Stirn malen, aber
ich winkte müde ab: »Lass mal, dieser ganze indische
Weisheitsquatsch hat mir nichts als Ärger gebracht.«
Stattdessen malte ich mit dem Stift auf meine Zehen, auf
jeden immer einen Buchstaben. »L-I-N-K-X« auf die ersten
fünf und »R-Ä-C-H-Z« auf die anderen fünf. Irgendwas war
hier falsch, aber mein Rechtschreibhirn durfte schließlich
auch mal Ferien machen.
»Ist bei dir eigentlich alles wieder gut?«, fragte Svenja zaghaft.
»Ja, ja.« Ich nickte auch ein bisschen mit meinen Zehen.
»Ihr habt alle Zeitungen verkauft. Restlos?«
»Ja.« Noch ein Zehennicken.
»Und Schülerzeitung machst du jetzt nicht mehr?«
»Nie mehr!« Ein wildes Kopfschütteln mit den Zehen. »Nie
mehr Kampf für die Fresse-Preiheit!«
»Und was wird aus dem Kummerkasten?«
»Abgehängt.«
»Abgehängt?«, fragte Svenja. »Wieso?«
»Es gibt keine Kummerkasten-Tante für die Schülerzeitung
mehr. Dr. Ku hat ausgedient.«
»Schade. Ich fand’s gut«, seufzte Svenja.
»Ich auch. Nur diese blöden Herz-Briefchen haben genervt.«
Plötzlich musste Svenja ziemlich laut kichern.
»Hast du, hmpffff, immer noch nicht gemerkt, wer hmpfff, dir
diesen Streich gespielt hat h-h-h-mpff?«, fragte sie giggelnd.
Da el es mir wie Schuppen von meinen Augen.
»Du?«, fragte ich ungläubig.
»Wir!«, verbesserte mich Svenja. »Felix und ich wollten uns ein
bisschen Reh-wann-Schi-Renn für deine Briefchen …«
»Ihr wusstet, dass die Briefchen von mir waren?«
Svenja gluckste: »Wir kennen wirklich nur einen, der so viele
Fehler auf einen Satz macht, und das bist du!«
Da wurde auch mir klar, dass ich mich schon ab der ersten
Zeile verraten haben musste. Dass alle die geschmuggelten
Briefchen ganz umsonst … Mist! Mißt! Misst! Grober Missst!
Svenja erzählte mir noch, dass sie schon den zweiten Brief
Felix gezeigt habe. »Weil ich wissen wollte, warum du mir
plötzlich so komische Streiche spielst.« Und Felix hatte dann
ganz komisch Reh-arg-irrt. Rumgedruckst und so, eine seiner
3D-Brillen zerknüllt und so. Erst nach viel Fragen und Zögern
war er dann mit der Sprache rausgerückt. »Eigentlich ist es
schade«, hatte er damals zu Svenja gesagt, »denn nicht Mira
hätte die Briefe schreiben sollen, sondern ich.«
»Das war ganz schön mutig«, warf ich ein.
Svenja nickte.
»Aber da war doch noch Maurice? Oder nicht? Was war denn
mit dem?«, fragte ich vorsichtig.
»Ach der«, winkte meine beste Freundin ab, »der ist ja ganz
süß, aber meistens reißt er doch nur blöd sein Maul auf.«
»Aber …«, ng ich an, schluckte den Rest des Satzes aber
wieder runter. Svenja hauchte einmal auf die Scheibe und
malte ein Herzchen mit zwei Buchstaben in das Beschlagene:
S+F.
»Du weißt schon«, begann sie, »dass ich und Felix …«
Ich nickte mit R-Ä-C-H-Z. Wer wusste das nicht? Ständig
steckten sie ihre Köpfe zusammen und kicherten. Sie teilten
ihr Pausenbrot und irgendwann hatte ich auf dem Schulweg
gehört, wie Felix Svenja zuge üstert hatte: »Ich magd ich.«
Aha, jetzt spielte er also mit ihr seine Sprachspielchen!
Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass mir das keinen
Stich gab. Schließlich war ich immer Felix’ erster
Sprachspieler gewesen. Aber oft genug ließ er mich auch
mitspielen, und oft genug teilten wir zu dritt das Pausenbrot
oder die Mini-Tüte Gummibärchen, die Felix manchmal in
seiner Tupfer-Dose hatte. Das mit Svenja ging schon
irgendwie klar.
»Sag mal«, hob Svenja umständlich an, »bist du mir sauer
oder was?«
»Wieso?«
»Na wegen Felix …«
»Quatsch.«
»… oder wegen der Briefchen …«
»Quatsch.«
»… oder sonst was?«
»Nein, bin nicht sauer.«
»Aber wenn doch alles wieder gut ist, warum bist du dann
immer noch so …«
Ich guckte kurz hoch. »So …?«
Svenja vollendete: »… so schlecht gelaunt.«
»Bin ich nicht.«
»Bist du doch.«
»Bin ich nicht!« Energisch schüttelten meine Füße den Kopf.
Zum Beweis hauchte ich jetzt auf die Scheibe und malte
etwas drauf, ein paar Eier-Mo-Tiefe. Schließlich war ja Oh-

Stern.

Aber weil man die ja nicht farbig ausmalen konnte, verließ


mich gleich wieder die Lust und ich starrte in die Luft. Auch
Svenja verließ die Lust. Sie hüpfte von der Bank.
»Ich muss jetzt übrigens gehen. Felix wartet noch auf mich.
Er fährt doch nachher noch in Ferien. Wollen wir am Dienstag
was machen?«
»Ja, ja«, nickte ich abwesend.
»Frohe Oh-Stern!«, rief Svenja und hüpfte von der Bank.
»Frohe Oh-Stern«, sagte auch ich und dann war sie schon
verschwunden. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass
ich nicht traurig war, dass sie so früh ging. Aber es war gar
nicht so sehr, weil sie zu Felix hin verschwunden war. Nee,
deswegen war ich nicht traurig. Irgendwie nicht.
So ganz sicher war ich mir da ja nicht, aber es hätte vielleicht
daran liegen können, dass die Ferien noch so lang dauerten.
Über eine ganze Woche noch. Eine Woche lang keine Schule!
Nein, jetzt sag nicht, dass ich verrückt bin. Bin ich nicht. Ich
will ja nicht wegen des Unterrichts zurück in die Schule,
sondern weil … Ach, ich weiß nicht, wie ich das dir
beschreiben soll. Ich habe mir auch schon überlegt, ob ich
vielleicht Dr. Ku um Rat fragen sollte. Aber … das bin ich ja
selbst … und außerdem ist Dr. Ku ja nicht mehr im Dienst.
Also… am besten, ich male es. Ich hauche einfach auf das
Fenster und male ein Herzchen rein und dann male ich noch
was rein: M+M.
Aber dann wische ich es ganz blitzeschnell wieder weg, ja?
Nicht, dass du einen falschen Eindruck von mir bekommst …

Oh, und bevor ich es vergesse: Frohe Oh-Stern noch!


Inhalt

Kapitel 1

Dies ist kein Liebes-Rom-Mann!

Kapitel 2

Ein Psycho-Locke zum Durchdrehen

Kapitel 3

Wörterschlacht am P-Zeh

Kapitel 4

Ab heute wird Reh-bell-irrt!

Kapitel 5

Voll der Abt-Hörner

Kapitel 6

In Po-See geschmissen

Kapitel 7

Blöde Pedal-logische Maßnahmen

Kapitel 8

Die ersten Paar-zieh-Enten

Kapitel 9

l
Ein Art-Igel wird fertig

Kapitel 10

Meine so-zieh-Aale Ader kommt durch

Kapitel 11

Omi-nö-See Wortspiele

Kapitel 12

Zum Teufel mit diesen Arm-Ohr-Pfeilen!

Kapitel 13

Eine Kater-Stroh-Fee bahnt sich an

Kapitel 14

Linus, die Deutsch-Kran-A.T.

Kapitel 15

Große Pleite in Diener 3

Kapitel 16

Das Ende der Reh-Woll-Lotion

Kapitel 17

Wie mir die Dämons-Tanten das Leben retten

Kapitel 18

Abwarten und Nahm-Ast-Tee trinken


© Volker Rebhan

Anja Janotta, geboren 1970, verbrachte ihre Kindheit in


Saudi-Arabien und Algerien und wusste bereits früh, dass sie
Kinderbuchautorin werden wollte. In München studierte sie
zunächst Diplom-Journalistik und arbeitet heute als Online-
Redakteurin. Seit ihre beiden Kinder Leser und Zuhörer
geworden sind, hat sie das literarische Schreiben wieder
aufgenommen. Anja Janotta lebt mit ihrer Familie an einem
See in Oberbayern.
© Henrike Hiersig

Stefanie Jeschke studierte Visuelle Kommunikation an der


Bauhaus-Universität in Weimar. Seit 2012 arbeitet sie als
freiberu iche Illustratorin in ihrem eigenen »Atelier für
Illustratives« in der Kleinstadt Treuenbrietzen. Dort malt,
zeichnet, spinnt und er ndet sie beste Freundinnen,
Kummerkästen, rote Weisheitspunkte, Spaghettihaare und
was sonst noch so für Kinder- und Jugendbücher gebraucht
wird.
Noch längst nicht ausgespielt mit

den Worten?

Auf www.linkslesestaerke.de könnt ihr weiterspielen. Da gibt


es noch mehr Drehwurmwörter, Buchstabensuppe und Reh-
Busse. Vielleicht hat Euch Mira ja auch angesteckt mit dem
Linkslesen und ihr habt den ultimativen Wortdreher
gefunden, das beste verdrehte Fremdwort oder habt ein
ultrakomisches Bild dazu gezeichnet? Immer her damit – ich
freue mich dort über jede kräh-ah-tiefe Idee.

Eure Anja
die andere Mama von Mira und von
www.linkslesestaerke.de

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