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Der Mensch
inmitten der Geschichte
1932 Existenzphilosophie , , . , . . 1
1935 Politischer Dezisionismus (C. Schmitt).. . . . . . . . . . . . . . 19
.--l)l , r 1940 Der europäische Nihilismus. Betrachtungen zur geistigen
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Vorgeschichte des europäischen Krieges . . . . . . . . . . . . .
1950 Weltgeschichte und Heilsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . 115
49
Nachwort , . . . . . . . . . . . . . . 385
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© 1990 J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Car_l Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart
Einbandgestaltung: Willy Löffelhardt
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Satz und Druck: Gulde-DruckGmbH, Tübingen
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Wir setzen gewöhnlich voraus, daß es zwei Welten gibt: die Welt der
Natur und die Welt der Geschichte. In der einen weiß sich der Mensch
mehr oder minder fremd, weil sie ohne ihn, von Natur aus, ist; mit der
andern mehr oder minder vertraut, weil sie eine von ihm hervorge-
brachte, menschliche Welt ist. In beiden Welten geschieht etwas, aber
das Naturgeschehen scheint in die menschliche Welt zumeist nur her-
ein, sofern es kulturförclernd und-hemmend ist. Wir fragen darum auch
nicht nach dem Sinn der Natur, sondern nur nach dem Sinn der Ge-
schichte. Der Mensch wird zwar immer w·ieder von seiner eigenen Welt
und Geschichte wie von etwas fremdem und Sinnfremdem überwältigt;
was ihn dabei überwältigt, ist aber doch ein Geschehen, das auf dem
Handeln des Menschen beruht. Diese Unnatur des geschichtlichen Ge-
schehens gehört zur »Natur« des Menschen. Je künstlicher, kultivierter
und zivilisierter unsere Zustände sind, desto mehr verlangen wir zurück
zur Natur. Das seit Rousseau vernehmliche» Unbehagen in der Kultur«
und die Flucht zur Natur bestätigt nur, daß wir kultur-geschichtlich
existieren und der Natur entfremdet sind.
Die scheinbare Selbstverständlichkeit dieser uns geläufigen Unter-
scheidung von Natur und Geschichte, und demgemäß von Naturwis-
senschaft und Geistesgeschichte, hat ihre nächste Herkunft im Beginn
der Neuzeit und ihren fernsten Ursprung in der biblischen Schöpfungs-
lehre, welche elem Menschen als elem Ebenbild Gottes unter allen
Geschöpfen eine Sonderstellung anweist. Ihre schärfste philosophische
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iI 118 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
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l absolute Leere kann das Nichts alles in sich aufnehmen. Es kann nicht
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begriffen, wohl aber empfunden werden als der Resonanz verleihende
»Hintergrund« eines jeden Vordergründigen. Die japanische Kultur,
' führt Nishida aus, ist weder von einem platonischen Eros inspiriert
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; noch von einem überweltlichen Glauben, noch von einem Wisscnwol-
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I len, auch nicht von dem chinesischen Ideal des metaphysisch schickli-
i chen Betragens. Sie hat eigentlich überhaupt kein Prinzip. Sie lebt aus
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I einer Grundstimmung, deren Verständnisweise nur paradox formulier-
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! bar ist. Der japanische Geist vernimmt »formlose Forrn«, »farblose
: Farbigkeit« und »ronlose Stirnrne«, weil der letzte metaphysische Hin-
tergrund, die volle Leere, überall mitschwingt. Darum kann auch das
Geringste und Gemeinste das Höchste und Feinste offenbaren und es in
' einem knappen Ausspruch oder mit einem einzigen Pinselstrich voll
' zum Ausdruck bringen. Eine der Erprobungsfragen der Zenschule ist:
' » Was ist die reinste Form der Wahrheit?« Die Antwort lautet: »Die
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: Hecke um die Latrine.« Gemeint ist: die Reinheit der Wahrheit umfaßt
und verträgt auch das Schmutzigste. Das Wesen der Welt ist in jedem
Augenblick vollständig.
Am Ende seiner Abhandlung zitiert Nishida ein bekanntes japani-
sches Gedicht:
»Die Gerechtigkeit (rechte Ordnung) in der Welt konzentriert
sich in dem Gottesland Japan. Wenn sie sich verkörperte und alles
überragte, würde sie der ewig emporragende Fujiyama sein. Wenn
sie sich verkörperte und flösse, würde sie zum weiten Meer, das
grenzenlos um das Land Ja pan fließt. Wenn sie sich verkörperte und
blühte, würde sie zur Kirschblüte, deren Schönheit unvergleichlich
ist. Wenn sie sich verkörperte und gerönne, würde sic zum gut
gehärteten Stahl, so scharf, daß er den härtesten Helm durchschnei-
den könnte.«
Die Verbindung von Blüte und Schwert, des Zartesten und des
Härtesten, ist traditionell; der Japaner sieht die Tat der Selbstaufopfe-
rung durch das Schwert im Bilde der freien Ablösung des Blütenblatts.
Es ist ein und derselbe Geist, der sich im Schwert kristallisiert und der
im Blütenblatt verweht. Es ist auch ein und derselbe Geist, welcher das
göttliche Land, seinen heiligen Berg, sein es umfließendes Meer und das
japanerturn als geschichtliches Volk inspiriert. Das östliche Denken
kennt nicht den Gegensatz von Natur und Geschichte. Es bedarf darum
auch nicht des mühsamen Umwegs von Nietzsche, der am Ende seiner
Vom Sinn des Geschichtlichen 119
Leeren zu halten, für den ist die Welt kein Ort von geschichtlichen
Schicksalen, von Vorhaben, Entscheidungen und Verfehlungen. Sie ist
weiter und tiefer als die allzu menschlichen Komödien und Tragödien,
die nur geschehen, sofern der Mensch etwas will. Der Wissende jedoch
will, ohne etwas zu wollen und ist gespannt ohne Absicht. Er trifft, wie
der japanische Bogenschütze6 , die Mitte der Welt, ohne auf sie zu zielen,
denn die Mitte selbst zielt in ihm, wenn er sich mit einer höchsten
Anspannung losläßt. Dazu ist erforderlich, daß man sich still hält und
leer meditiert, nicht vom denkenden Kopfe her, sondern von der atmen·
den Mitte des Leibes aus, um die Fülle des Seins im Nichts empfangen zu
können. »Stille deine Wünsche und Begierden, bis Moos auf deinen
Lippen wächst«, lautet ein japanisches Sprichwort. Und so hat auch die
Weisheit des Ostens die uns bewegende Frage nach dem Ziel und Sinn
der Geschichte überhaupt nie gestellt und es vermieden, Welt und
Geschichte zusammenzudenken. Es fehlt dem östlichen Menschen das
Pathos eines »epochalen Bewußtseins« und eines sich im »Augenblick=
entscheidenden Weltgeschehens. Er kennt auch keine Seinsgeschichte
und seinsgeschichtliche Existenz, denn er weiß sich weder geworfen
noch entwirft er sich selbst und die Welt. Das hindert ihn freilich nicht,
die letzten Neuerscheinungen europäischen Denkens zu übersetzen,
nachzudenken und umzudenken.
Als ich während des japanisch-chinesischen »Zwischenfalls«, wie
der Krieg offiziell genannt wurde, einen japanischen Studenten £rug,
weshalb er europäische Geschichte studiere, bekam ich zur Antwort, sie
sei so viel bewegter und interessanter als die langweilige Geschichte des
Orients. Er verstand, auf verkehrte Weise, die lange Weile seiner ihm
uninteressant gewordenen Welt. An dieser langen Weile und Geduld
des östlichen Menschen hat auch die industrielle und intellektuelle
Verwestlichung bisher wenig geändert. Die Modernisierung des Ostens
durch den Westen hat für uns den Abstand des Fühlens und Denkens
nicht verringert, sondern verdeutlicht. Die Aneignung westlicher Wis·
senschaften, Entdeckungen und Erfindungen hat offensichtlich ge·
macht, daß ein modernes China oder Japan - nicht anders als ein
modernes Christentum - ein existierender Widerspruch ist. Denn was
im Osten modern ist, ist nicht orientalisch, und was in ihm orientalisch
ist, ist nicht modern, sondern uralt.
II
Geist (Herz), der vollkommen rund erleuchtet und leer geworden ist, ist wie das
einsame Licht des Vollmonds: er vermag alles zu fassen und zu verschlucken,
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124 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
immer mehr dadurch Geschichte macht, daß sie die Beherrschung der
Natur in den Dienst geschichtlicher Ziele stellt, in der Meinung, daß es
nur cine Frage der Zeit sei, bis wir cs auch in der Bemeisterung der
geschichtlichen Welt mit den Fortschritten der Naturwissenschaft wer-
den aufnehmen können.
Kein griechischer Philosoph hat eine Philosophie der Geschichte
erdacht. Es muß zu bedenken geben, daß Aristoteles, der über alles
nachgedacht hat - über Tiere und Pflanzen, Erde und Himmel, Meta-
physik und Logik, Politik und Ethik, Rhetorik und Poetik+, nicht eine
einzige Schrift der Geschichte gewidmet hat, obwohl er der Lehrer und
Freund Alexanders des Großen war. Was er von seinem weltgeschichtli-
chen Schüler erbat, waren nicht Berichte über den Feldzug in Asien und
Betrachtungen über den Sinn des weltpolitischen Geschehens, sondern
seltene Tiere und Pflanzen. Die Griechen frugcn vor allem nach dem
Logos des Kosmos, aber nicht, wie Juden und Christen, nach dem
Herrn des Heilsgeschehens. Sie waren tief beeindruckt von der sichtba-
ren Ordnung und Schönheit der Welt, und das natürliche Weltgesetz
von Entstehen und Vergehen bestimmte auch ihre Anschauung der
geschichtlichen Welt. Ihre Wahrnehmung der einen Welt vereinigt die
~nerkennung zeitlicher Veränderungen mit der Einsicht in das Gesetz
ihrer Regel. Das höchste Muster und der oberste .Maßstab für diese
Regelmäßigkeit der Veränderung ist die periodische Kreisbewegung.
Das Immer-so-Seiende und Beständige, wie es jahraus und jahrein im
~mlauf der Himmelskörper erscheint, hatte für griechische Sinne eine
tiefere Wahrheit und ein höheres Interesse als eine radikale geschichtli-
cl~e Veränderung. Was aber das wechselvolle Geschick des Menschen in
dieser immer gleich geordneten Welt betrifft, so vertrauten sie darauf,
daß der Mensch imstande ist, jegliche Situation, auch die hoffnungslo-
se, mit Großmut zu bestehen und sein Schicksal ungebrochen auf sich
zu nehmen.
Aristoteles sprach bekanntlich der Dichtkunst eine größere Nähe
zur Wahrheit zu als der Historie, weil diese von bloß zufälligen Verän-
de~ungen und Einzelheiten erzählt, wogegen Dichtkunst und Philoso- I
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phie auf das Allgemeine und Beständige sehen. Für den gesunden Sinn
der Griechen war Geschichte begrenzt auf politisches Geschehen. So
sehr aber die Politik als Frage nach der besten Form des Gemein-
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schaftslebens ein vorzügliches Anliegen der griechischen Philosophie
;~r, so wenig war es die Politik als weltgeschichtliches Geschehen.
ieses galt vielmehr als das angemessene Studium für Staatsmänner
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10 Siehe K. Reinhardt, Von Werken und formen, Godesberg 1948, S. 163 ff.
Erfahrungsweisen von Geschichte 127
vorweg, was kommen soll. Im einen Fall ist vergangenes Geschehen eine
bleibende Gründung, im andern eine Vorbereitung der Zukunft. Dem-
gemäß wird die christliche Interpretation der Vergangenheit eine umge-
kehrte Vorhersage, welche die Vergangenheit als eine preparatio euan-
gelica deutet, sie überhaupt als eine bloße Vorstufe künftiger Erfüllun-
gen bewertet. Das nachhaltige Muster dieser Ausdeutung der Vergan-
genheit von der Zukunft her und auf sie hin ist die Auslegung des Alten
Testaments im Sinne und zum Zwecke des Neuen. Sie hat im 13. Jahr-
hundert durch Joachims Verkündigung eines »dritten Testarnents«
einen weiteren Fortschritt gewagt und ist auf vielen Umwegen in die
säkularisierten Ideologien von dritten Reichen und in den allgemeinen
Fortschrittsglauben eingedrungen. Das Grundschema ist in jedem Fall
der ursprünglich eschatologisch verstandene Fortschritt von etwas Al-
tem zu etwas Neuem und letzten Endes zur Erfüllung. Durch diesen
Fortschritt zu einem Ziel wird die Geschehensfolge zielhaft und zu-
gleich sinnvoll. Die griechische Historie war weder zielhaft noch sinn-
voll orientiert, weil sie nicht annahm, daß die Zukunft etwas wesentlich
Neues bringen könne. Wenn dagegen ein moderner Historiker wie
Troeltsch, trotz seiner Ablehnung einer theologischen Behandlung der
Geschichte, die Aufgabe der Geschichtsphilosophie als » Überwindung
der Gegenwart und Begründung der Zukunft« bestimmt, so ist das nur
möglich und sinnvoll unter Voraussetzung des jüdisch-christlichen
Schemas, welches den zeitlichen Sinn von historein pervertiert hat,
vergleichbar der uns geläufigen Redeweise von »historischen« Taten
und Reden, die zum Ausweis ihrer Geschichtlichkeit von vornherein auf
die Zukunft Kredit nehmen.
Polybius wollte verständlich machen, wie bestimmte Ereignisse der
Vergangenheit zur Weltherrschaft Roms führten. Modernen Histori-
kern, die sich an Rang mit ihm messen können, ist es zuerst und zuletzt
um die Zukunft zu tun. Der klassische Historiker fragt: wie kam es
dazu? Der moderne: »Wohin gehen wir?«12 Diese Umkehrung des
Gesichtspunkts ist möglich geworden durch den Bruch des Christen-
tums mit der klassischen Überlieferung. Die Antike hat sich nie so wie
das Judentum und das frühe Christentum zuversichtlich ins Leere ge-
stellt, wie es die Frage nach dem letzten Sinn der Geschichte erfordert,
und zwar gerade deshalb, weil die ausweisbaren Geschehnisse eben
ke:ne letzte Erfüllung bringen und keilte Antwort auf die an sie gestellte
Frage geben. Die Frage nach dem Sinn der Geschichte wäre gar nicht zur
Existenz gekommen, wenn die Geschehnisse selber sinnvoll wären, und
um ihren Mangel an Sinn gewahr zu werden, bedarf es andererseits
schon eines Vorblicks auf Sinnerfüllung. Die Griechen haben als erstge-
borene Europäer vieles gesehen, entdeckt und erfunden, aber nicht das
geschichtliche Bewußtsein.
»Der Geschichtsbegriff ist eine Schöpfung des Prophetismus
[ ... ] Was der griechische Intellektualismus nicht hervorbringen
konnte, ist ihm gelungen. Historie ist im griechischen Bewußtsein
gleichbedeutend mit Wissen schlechthin. So ist und bleibt den Grie-
chen die Geschichte lediglich auf die Vergangenheit gerichtet. Der
Prophet dagegen ist der Seher[ ... ] Die Propheten sind die Idealisten
der Geschichte. Ihr Sehertum hat den Begriff der Geschichte erzeugt,
als des Seins der Zukunft [ ... ] Vergangenheit und Gegenwart ver-
sinken in dieser Zeit der Zukunft[ ... ] So entsteht für das Menschen-
leben und das Völkerleben der Gedanke der Geschichte. Diesen
Gedanken der Geschichte, der die Zukunft zum Inhalt hat, hatten
die Griechen niemals. Ihre Geschichte ist die auf ihren Ursprung
gerichtete, ihre Vergangenheit erzählende Geschichte ihrer Nation
[ ... ] Eine (fortschreitende) Geschichte der Menschheit ist unter
13
diesem Horizonte ein unmöglicher Gedanke.«
Die Zukunft ist der wahre Horizont der Geschichte, vorausgesetzt,
daß die Wahrheit im jüdisch-christlichen Glauben an ein Heilsgesche-
hen beruht. Und weil der Westen, trotz allem, ein christlicher Okzident
ist, ist auch sein historisches Selbstbewußtsein eschatologisch: von
Jesajas bis Marx, von Augustin bis Hegel, von Joachim bis Schelling.
Dies gilt auch für die geschichtliche Praxis. Es würde sich keine engli-
sche, französische und russische Revolution ereignet haben ohne den
Glauben an Fortschritt, und es würde keinen weltlichen Glauben an
Fortschritt geben ohne den ursprünglichen Glauben an ein überweltli-
ches Ziel des Lebens. »Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu
realisieren, ist der elastische Punkt aller progressiven Bildung und der
Anfang der modernen Geschichte.« 14 Die weltgeschichtliche ßedeu·
tung dieser eschatologischen Orientierung besteht darin, daß sie es
13 H. Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des ]1ulent11111s,
Leipzig 1919, S. 307 ff. und 293 ff.
14 F. Schlegel, Athenäumsfragmente Nr. 222.
Er fa hru ngsw eisen von G eschichte 131
vermochte, die antike Furcht vor dem Fatum und dem blinden Zufall zu
besiegen 15• Vergleichbar dem Kompaß, der uns im Raum Orientierung
gibt und uns befähigt den Raum zu erobern, gibt der eschatologische
Kompaß Orientierung in der Zeit, indem er auf ein letztes Ziel und
damit auf einen letzten Sinn des Geschehens hinweist.
Wenn wir im folgenden die Geschichtsphilosophie auf die Theolo-
gie der Geschichte zurückführen, die eine an Hegel, die andere an
Augustin illustrierend, so wird man zwar einräumen, daß Hegel theolo-
gisch belastet blieb, könnte aber die Wesentlichkeit einer solchen Ablei-
tung für die radikaleren Denkversuche der Gegenwart bestreiten. Hei-
degger hat sich von der theologischen Überlieferung ausdrücklich di-
stanziert, um das Geschichtliche »ursprünglich« auszulegen. Doch
bleibt die Frage nach dem geschichtlichen Sinn dieser Ursprünglichkeit,
wenn sie nicht aus dem Nichts entspringt. Es ist, zumal im Denken der
Geschichte, nicht so leicht, die »Reste von christlicher Theologie«
radikal aus der philosophischen Problematik »auszutreiben« (Sein und
Zeit, S. 230), ohne auf eine Philosophie der Geschichte überhaupt zu
verzichten. Die philosophische Problematik der Geschichte zehrt gera-
de von diesen Resten einer verweltlichten und verendlichten Lehre von
den letzten Dingen. Um diese These zu erweisen, bedarf es einer Klä-
rung des schon immer vorausgesetzten ßegriffes von »Sinn« mit Rück-
sicht auf den Sinn der Geschichte.
Ein aktuelles Geschehen kann nur sinnlos erscheinen im Horizont
einer möglichen Sinnerfüllung; Enttäuschungen gibt es nur, wo etwas
erwartet wird. Sinnlos ist, was nicht sinn-voll ist, und die Fülle des Sinns
ist Sache einer Erfüllung. Die Erfüllung eines noch mangelnden Sinns
erfordert Zukunft, und Zukunft ist nur für Erwartung kommend. Das
Geschehen der Geschichte wird also sinnvoll, indem es über sich selber
hinausweist auf eine künftige Erfüllung. Einzelne aktuelle Geschehnisse
als solche, desgleichen eine Geschehensfolge, sind an sich noch nicht
sinnvoll. Um ihren Sinn behaupten zu können, müssen wir ein Ziel oder
telos entwerfen, das die geschichtliche Bewegung zielhaft erfüllt. Es ist
wohl kein Zufall, daß unsere Sprache Sinn und Ziel, sowie Sinn und
Zweck einander gleichsetzt. Diese Gleichsetzung ist selber aber nur
sinnvoll mit Bezug auf geschichtliches Sein. Es ist nicht sinnvoll, nach
dem Sinn (Ziel, Zweck) einer Blume oder eines Tieres, des Meeres oder
der Luft zu fragen, weil sie von Natur aus sind, was sie sind. Es ist
sinnvoll, nach dem Sinn (Zweck) eines Blumentopfes oder Käfigs, eines
Schiffes oder Flugzeuges zu fragen, weil sie ihre Existenz einem mensch-
lichen Zweck oder Wozu verdanken. Es ist auch sinnvoll, nach dem
Sinn eines gewonnenen oder verlorenen Krieges zu fragen, weil Kriege
von Menschen geplant und gewollt, bezweckt und geführt werden. Der
handelnde Entschluß zum Krieg verwandelt sich aber alsbald zu einem
Kriegs-geschehen, das nun von sich aus immer neue Entschlüsse und
Handlungen fordert und als Geschehen über alle Entschlüsse hinaus-
reicht. Wir »rnachen« Geschichte und werden von ihr überwältigt. Das
zum Geschehen gewordene Handeln hat seine unwiderruflichen Folgen
und sein geschichtlicher Sinn offenbart sich erst dann, wenn die Folgen
in einem Ergebnis münden. Dieses ist nicht schon der Zweck oder das
Wozu der ursprünglichen Handlung, sondern das unbeabsichtigte
Woraufhin eines geschichtlichen Geschehens. Und erst wenn sich dieses
im Laufe der Zeit erhellt hat, läßt sich im Rückblick der Sinn des ganzen
Handlungs-Geschehens bestimmen. Es hat dann in einem Ziel und
Ergebnis seinen Sinn erreicht und erfüllt. Wenn wir den Geschichtspro-
zeß aber als ganzen, in einer Philosophie der Geschichte, der Frage nach
dem Sinn unterstellen, so müssen wir ein letztes Ziel und Ergebnis, d. h.
das telos als esehaton denken. Die Rede vom Sinn des Geschehens der
Geschichte im Ganzen verlangt den Horizont einer eschatologischen
Zukunft. Der Endsinn und das Endergebnis lassen sich nicht vorauswis-
sen. Man weiß von ihnen nur in der Weise des Hoffens und Glaubens,
die beide im Willen und in der Gnade gründen. Ein solcher erwartungs-
und hoffnungsvoller Glaube an eine künftige Sinnerfüllung kennzeich-
net das Judentum und das ursprüngliche Christentum. Die klassische
Antike hat die Hoffnung und mit ihr die Zukunft niemals so ernst
genommen. Sie galt ihr als ein ignis [atuus, und die Spätantike versuch-
te, ohne Hoffnung und Furcht (nee spe nee metu} zu leben. Paulus
verurteilte seine heidnische Mitwelt als eine Gesellschaft »ohne Hoff-
nung«. Unter Hoffnung verstand er nicht irdische Wünsche, sondern
die Zuversicht des christlichen Glaubens. Eine solche zuversichtlich
wartende Hoffnung aus dem Glauben kann durch keinerlei welt-
geschichtliche Fakten, z.ß, das Ausbleiben der Parusie, zuschanden
werden. Denn wie sollten Fakten, d. h. wörtlich: schon Geschehenes,
einen Glauben diskreditieren können der wesentlich frei ist von der
Vergangenheit und für die Zukunft, der ' vorausblickt ohne zurückzu-
sehen?
Er fa hru ngsw eisen von Geschichte 13 3
keit zwingt, ist es für den Christen gleichgültig, unter welcher Herr-
schaft er lebt, zumal sein Leben in jedem Fall das flüchtige eines Sterbli-
chen ist. Reiche, welche die Lebensdauer der Menschen um ein weniges
überdauern, sind nicht minder sterblich und vorübergehend. Sie sind
weder von Natur aus gerecht noch ein Werk des Teufels. Ihr Ursprung
ist des Menschen Sünde und ihr relativer Wert die Pflege der Gerechtig-
keit.
Innerhalb des theologischen Schemas von übergeschichtlicher
Schöpfung, Sündenfall, Menschwerdung Gottes, Gericht und Erlösung
ist die Weltgeschichte als solche ohne einen ihr eigenen Sinn, und nur
innerhalb des Heilsplans der Schöpfung tritt das profane Geschehen
überhaupt in den Gesichtskreis von Augustin. Dementsprechend han-
deln auch nur vier Bücher der zweiundzwanzig des Gottesstaats einiger-
maßen von dem, was wir Geschichte zu nennen pflegen. Ihren Sinn
empfängt sie von der theologischen Vor- und Nachgeschichte. Der eine
Gott, als Schöpfer der Welt und des Menschen, vereinigt im Hinblick
auf einen letzten Zweck eine Auswahl von vorgesehenen Geschehnissen
zu einem einheitlichen Heilsplan des Menschengeschlechts. Die Ge-
schichte ist insofern im strengen Sinn Universalgeschichte. Weil aber
der Mensch von Gott abfiel, ist, was geschieht, eine Geschichte des
Konflikts zwischen dem Willen Gottes und dem Eigenwillen des Men-
schen. Alle Rätsel der Geschichte gehen zurück auf diesen zweifachen
Willen und die Scheidung der Geister in Kinder des Lichts und der
finsternis.
Die Möglichkeit einer menschlichen Geschichte überhaupt ent-
springt dem Aufstand und Fall des ersten Menschen. Der Ursprung der
civitas terrena insbesondere ist Kains Brudermord, wogegen die civitas
Dei auf Abel zurückgeht. Die beiden civitates und ihre Repräsentanten
sind allegorisch zu verstehen. Kain, der Mörder, ist der Bürger und
!nsasse dieses saeculum und der Begründer aller weltlichen Reiche. Abel
1~t kein Bürger, Insasse und Begründer, sondern ein peregrinans zu
emem überweltlichen Ziel. Zwar müssen die Nachkommen Abels in-
nerhalb dieses saeculum mit in der Gemeinschaft von Kain leben, aber
sie sind in der Welt, ohne von ihr zu sein, sie sind keine Inwohner des
Reiches von Kain. Abel durchwandert es nur, wie Bunyans Pilger,
dessen fortschritt (»The Pilgrim's Progress«) ein procursus in der Heili-
!l'
~ung und Enrweltlichung ist. Die civitas terrena ist von Vorteilssucht,
5t0lz und Ehrgeiz beherrscht; die civitas Dei von Aufopferung, Gehor-
sam und Demut gelenkt. Die eine ist Eitelkeit, die andere Wahrheit. Die
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Philosophie der Geschichte 141
140 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Modeme Philosophen und Theologen sind geneigt zu beanstanden,
civitas terrena lebt von natürlicher Zeugung, die civitas Dei von über- daß Augustins Skizze des Weltgeschehens der schwächste Teil seines
natürlicher Wiedergeburt; die eine ist sterblich, die andere unsterblich. W~rkes sei, weil er den innerweltlichen Wirkungszusammenhängen
Die civitas terrena ist bestimmt von der Liebe zu sich selbst, bis zur keme Beachtung schenkte. Es ist aber gerade dieser Mangel an Interesse
Verachtung Gottes; die civitas Dei von der Liebe zu Gott, bis zur und die Unbestimmtheit der Zuordnung des offensichtlichen Weltge-
Verachtung des Selbst. Die einen betrachten ihre Abgötter als ein Mit- schehens zum verborgenen Heilsgeschehen, die Augustins Werk positiv
tel, sich der Welt zu freuen, die andern betrachten ihre irdische Existenz auszeichnen, gegenüber Bossuets viel bestimmterer Zuordnung und
als ein Mittel, sich Gottes zu erfreuen. Die Geschichte im Ganzen ist ein e_rst recht gegenüber Hegels Anmaßung, den göttlichen Plan systema-
dauernder und sich zunehmend verschärfender Konflikt zwischen tisch einzusehen und Gott aus der Weltgeschichte zu rechtfertigen.
Glaube und Unglaube. Der geschichtliche Prozeß als solcher zeigt nur Vorausgesetzt, daß Gott überhaupt existiert und in der Geschichte der
die hoffnungslose Aufeinanderfolge und das Verschwinden der Genera- Menschen handelt, so läßt sich sein Handeln gewiß nicht systematisch
tionen und eine »endlose Mannigfaltigkeit betrunkener Vergnü- abhandeln und seine Vorsehung nachträglich vorhersehen. Bossuet und
gungen«. Hegel beweisen beide zu viel, indem sie aus den Folgen und faktischen
Augustins Theologie der Geschichte ist also keine Rechtfertigung Erfolgen des Geschehens einen sinnvollen Prozeß der Erfüllung eines
Gottes in der Geschichte, es sei denn, man verstünde darunter die Endzwecks deduzieren. Was uns bei Augustin als eine allzu geringe
fragmentarische und unausdenkbare Spiegelung des Heilsgeschehens Schätzung der Geschichte erscheint, ist nur die negative Kehrseite seiner
im Material der Weltgeschichte. Die Geschichte selbst bleibt für das positiven Anerkennung der unbedingten Herrschaft des göttlichen Wil-
christliche Verständnis grundsätzlich von Gott geschieden, weil sich der le_ns, welcher frei ist, die menschlichen Bestrebungen zu fördern, zu
Mensch selbst von Gott getrennt hat. Andererseits durchkreuzt und hindern und in das Gegenteil ihrer Absichten zu verkehren.
verkehrt Gottes Wille und Vorsehung die Vorhaben des Menschen. Er
gibt weltliche Macht Frommen sowohl wie Gottlosen und der Mensch
ist außerstande, die göttliche Erziehung des Menschengeschlechts, vor- Hegels Philosophie der Weltgeschichte
züglich durch Leiden, einzusehen und vernünftig auszulegen.
In der Einleitung zur Philosophie der Geschichte beschreibt Hegel die
Auf der Grundlage dieser theologischen Voraussetzungen unter-
Welt der Geschichte, wie sie »auf den ersten Blick« erscheint:
scheidet Augustin sechs Geschichtsepochen entsprechend den sechs
Tagen der Schöpfung. Die sechste ist die schlechthin letzte zwischen »Wenn wir nun einen Blick auf die Welt überhaupt werfen, so
Christi Kreuzestod und Auferstehung und seinem Wiederkommen. sehen wir ein ungeheures Gemälde von Veränderungen und Taten,
Nebenher geht eine Einteilung in drei Epochen nach Maßgabe des Von unendlich mannigfaltigen Gestaltungen von Völkern, Staaten,
geistlichen Fortschritts: vor elem Gesetz (Kindheit), unter dem Gesetz Individuen, in rastloser Aufeinanderfolge[ ... ] In allen diesen Bege-
(Mannesalter) und unter der Gnade (Alter der Weisheit == mundus benheiten und Zufällen sehen wir menschliches Tun und Leiden
senescens, analog Hegels »Greisenalter des Geistes«). Entsprechend ob_enauf, überall Unsriges [ ... ] Bald zieht es durch Schönheit, Frei-
seinem christlichen Anliegen enthält Augustins Werk keine konkrete heit und Reichtum an, bald durch Energie, wodurch selbst das
Deutung profanen Geschehens. Nur zwei Reiche repräsentieren die Laster sich bedeutend zu machen weiß. Bald sehen wir die umfassen-
Weltgeschichte: das der Assyrer im Osten und das der Römer im dere Masse eines allgemeinen Interesses sich schwerer fortbewegen
Westen - eine Vorwegnahme von Hegels These, daß sich die sinnvolle ~nd einer unendlichen Komplexion kleiner Verhältnisse preisgege-
Weltgeschichte von Osten nach Westen bewege. Ägypten, Griechen- en und zerstäuben, dann aus ungeheurem Aufgebot von Kräften
land und Mazedonien werden kaum erwähnt, und Alexander der Gro- Kl·eines hervorgebracht werden, aus unbedeutend Scheinendem Un-
ße figuriert nur als ein großer Räuber, der aus gottloser Ruhmsucht den geheures hervorgehen [ ... ], und wenn das Eine entflieht, tritt das
Tempel Jerusalems profanierte. Jerusalem repräsentiert die civitas Dei, Andere sogleich an seine Stelle. Der allgemeine Gedanke, die Kate-
Babylon und Rom (das zweite Babylon) die civitas terrena.
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gorie, die sich bei diesem ruhelosen Wechsel der Individuen und
Völker [ ... ] zunächst darbietet, ist die Veränderung überhaupt.
Diese Veränderung von ihrer negativen Seite aufzufassen, dazu
führt näher der Anblick von den Ruinen einer vormaligen Herrlich-
keit. Welcher Reisende ist nicht unter den Ruinen von Karthago,
Palmyra, Persepolis, Rom, zu Betrachtungen über die Vergänglich-
keit der Reiche und Menschen, zur Trauer über ein ehemaliges
kraftvolles und reiches Leben veranlaßt worden? [ ... ] Die nächste
Bestimmung aber, welche sich an die Veränderung anknüpft, ist,
daß die Veränderung, welche Untergang ist, zugleich Hervorgehen
eines neuen Lebens ist, daß aus dem Leben Tod, aber aus dem Tod
Leben hervorgeht.«19
Die Quellen alles geschichtlichen Handelns und Erleidens sind Leiden-
schaften und Interessen, »wobei die Selbstsucht das Gewaltigste ist«.
Die Geschichte geschieht ohne Rücksicht auf Gesetz, Recht und Mora-
lität.
» Wenn wir dieses Schauspiel der Leidenschaften betrachten und
ten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten, und
die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht werden, so entsteht
dem Gedanken notwendig auch die Frage, welchem Endzweck diese
ungeheuersten Opfer gebracht worden sind.e-?
Wir alle kennen, oder kennen doch wieder, dieses »Panorarna von
Sünde und Leiden«, welches die Geschichte ausbreitet. Es ist dasselbe,
welches Burckhardt im Blick hat, wenn er sich gegen Hegel wendet, und
welches Goethe beschreibt. »Geschichte«, heißt es einmal bei ihm, »ist
ein Gewebe von Unsinn für den höheren Denker.« Was sich im ganzen
beobachten lasse, schreibt er an Schiller mit Bezug auf Napoleon, an
dem sich auch Hegels Geschichtserfahrung gebildet hat, sei »der unge-
heure Anblick von Bächen und Strömen, die sich, nach Naturnotwen-
digkeit, von vielen Höhen und aus vielen Tälern gegeneinander stürzen
und endlich das übersteigen eines großen Flusses und eine Über-
schwemmung veranlassen, in der zugrunde geht, wer sie vorgesehen hat
so gut als der sie Nichtahnende. Man sieht in dieser ungeheuren Empirie
nichts als Natur und nichts von dem, was wir Philosophen so gern
Freiheit nennen möchten«21• Wir begegnen demselben Bilde der Ge-
schichte in Thomas Hardys epischem Drama der napoleonischen Krie-
ge. Die Frage drängt sich auf, ob diese so erfahrene Geschichte nicht in
der Tat schon alles ist, was sich über sie sagen läßt. Weshalb sollte man
hier nicht haltmachen, anstatt mit Hegel weiterzugehen und zu fragen:
Wozu, zu welchem Endzweck das alles geschehe und wofür all diese
Opfer gebracht werden? Diese Frage glaubte Hegel nicht nur stellen zu
müssen, sondern auch beantworten zu können, indem er den christli-
chen Vorsehungsglauben verweltlichte und das Heilsgeschehen weltge-
schichtlich auslegte. Er behauptet, daß sich die Frage nach dem Wozu
notwendig »in unserm Denken« erhebe. Und nachdem er den ersten
Anblick der Geschichte beschrieben hat, wonach Tod und Leben immer
Wieder auseinander hervorgehen, fährt er fort, daß dies eine »oricntali-
sche« Vorstellung sei, die sich eigentlich auf die Natur beziehe. » Für
uns« dagegen sei Geschichte ein Geschehen des Geistes, zwar auch sich
~elbst verzehrend, und dabei erneuernd, aber nicht naturhaft-period-
isch. In der Geschichte des Geistes gehe das Leben nicht als dasselbe neu
te-~vor, sondern auf jeder neuen Entwicklungsstufe »erhöht und ver-
lart«. Der Naturbegriff der Veriinderung im Sinne des bloßen Wech-
sels verwandelt sich im Bereich des Geistes und der Geschichte im Sinne
des Fortschritts zu stets vollkommeneren Formen. Der Geschichtspro-
zeß zielt auf Erfüllung.
Es ist klar, nicht nur bei Hegel, sondern genau so bei Comte, Marx
und den Geschichtstheorien der Aufklärung, daß dieser am Fortschritt
zu einem Ziel orientierte Begriff der Geschichte nicht nur insofern
»unserer« ist als er westlich ist, sondern christlich. Er stammt letzten
Endes ab von der Erwartung eines Reiches Gottes. Gelegentlich nennt
Hegel selbst das Ziel seines ganzen Bestrebens die »Herbeiführung des
Reiches Gottes«22• Dementsprechend identifiziert er auch die »Ver-
nunft«, mittels der Ableitung von Vernehmen, mit dem was man
»Glauben« nennt. Daß die absolute Vernunft die geschichtliche Welt
regiere, scheint ihm so evident wie daß die philosophische Vernunft des
Menschen den Plan der Vorsehung einsehen könne. Der Mangel des
religiösen Vorsehungsglaubens sei jedoch, daß er zu partikular und
zugleich zu unbestimmt ist. Der allgemeine Plan der Vorsehung gilt dem
Frommen als uneinsichtig und nur in besonderen persönlichen Lagen,
etwa wenn in einer besonderen Not unerwartete Hilfe kommt, wird er
gemeinhin in Anspruch genommen. In der Weltgeschichte handelt es
sich aber nicht um die kleinlichen Nöte privater Individuen, sondern
um Völker und Staaten. Man kann sich deshalb nicht mit einer solchen
»Kleinkrärnerei des Glaubens« begnügen. Die Vorsehung muß sich im
Ganzen der Weltgeschichte ausweisen lassen, und zwar im einzelnen
ihrer großen Schritte. »Der Plan der Vorsehung muß erkannt werden.«
Im Gegensatz zur Reflexion der frommen Sentimentalität und der
begriffslosen Empirie ist es die Aufgabe der Geschichtsphilosophie, das
Prinzip zu entfalten, das alle Veränderungen der Geschichte durch·
dringt. Indern die Philosophie die »Augen der Vernunft« mitbringt und
mit Vernunft in die Welt sieht, erkennt sie, zwar nicht in allen einzelnen
zufälligen Existenzen, aber im großen und ganzen, den vernünftigen
Inhalt der Weltgeschichte. Ihre Vernunft besteht darin, daß sie ein
beständiger Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit ist, durch den sich
die Freiheit zu einer Welt hervorbringt. Diesen Prozeß hat Hegel von
der orientalischen Welt über die griechisch-römische bis zur christlich·
germanischen als zielvoll gerichtet begriffen. Die Philosophie der Ge·
schichte rechtfertigt den von den Theologen unbegriffenen Vorse·
hungsglauben.
beides zugleich, bzw. keins von beiden. Sie läßt den Willen Gottes im
Weltgeist und in den Volksgeistern ohne Rest aufgehen.
Unter Hegels Schülern hat Feuerbach die absolute Zweideutigkeit
von Hegels Position am deutlichsten empfunden und ausgesprochen.
» Die Hegelsche Philosophie ist der letzte großartige Versuch, das verlo-
rene, untergegangene Christentum durch die Philosophie wieder herzu-
stellen, und zwar dadurch, <laß, wie überhaupt in <ler neuen Zeit, <lie
Negation des Christentums mit dem Christentum selbst identifiziert
wird. Die viclgepriesene spekulative Identität [ ... ] des Göttlichen und
Menschlichen ist nichts weiter als der unselige Widerspruch der neue-
ren Zeit: die Identität von Glaube und Unglaube, Theologie und Phi-
losophie, Religion und Atheismus Christentum und Heidentum 27
auf
se_inem höchsten Gipfel, auf dem G'ipfel der Metaphysik.« Marx und
Kierkegaard haben aus Hegels Vergöttlichung der Geschichte enrge-
?engesetzte aber zusammengehörige Konsequenzen gezogen. Marx,
'.n<lem er alles auf die Weltlichkeit der Geschichte setzte, Kierkegaard,
indem er am Schluß seiner Zeitkritik erklärt, daß alle weltgeschichtliche
Spekulation ein Zeitvertreib sei wie das Kartenspiel. Wollte er doch
zu~ Zweck <ler christlichen Nachfolge »die achtzehnhundert Jahre
(~wischen ihm und Christi Verkündigung) fortschaffen als habe es sie
nicht gegeben«.
IV
27 Grw1dsatze
.. der Philosophie der Z11k11nft, § 21.
150 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
mehr und nicht weniger, als daß nicht die klassische Tradition, sondern
die biblische Überlieferung den Ausblick in die Zukunft eröffnet hat als
den Horizont einer künftigen Sinnerfüllung - zuerst jenseits und
schließlich innerhalb der geschichtlichen Existenz. Nur im Umkreis des
heilsgeschichtlichen Rahmens sind solche Philosophien der Geschichte
wie die von Condorcet und Turgot, Hegel und Comte, Marx und
Proudhon überhaupt möglich, während sie innerhalb eines klassischen
Rahmens unmöglich sind. Infolge der heilsgeschichtlichen Erwartung
haben wir ein modernes, futuristisches Geschichtsbewußtsein, das
ebenso christlich motiviert wie nicht mehr christlich oder antichristlich
intendiert ist. Die modernen Geschichtsphilosophien stellen noch im-
mer die Frage nach dem Sinn als Wozu, aber ohne die Antwort in dem
Glauben zu finden, daß mit Christus die Zeit erfüllt ist. Die nachchristli-
che Welt hat sich die Idee eines sinnerfüllenden Zieles zu eigen gemacht
und zugleich von dem sie begründenden Glauben entfremdet. Sie über-
nimmt vom christlichen Glauben die Idee eines nicht umkehrbaren
Fortschritts von einem alten zu einem neuen Testament, aber ohne den
Glauben an einen absoluten Anfang und ein absolutes Ende in Schöp-
fung und Gericht; sie übernimmt vom klassischen Weltbegriff die Idee
regelmäßiger Abläufe und einer kontinuierlichen Fortbewegung, aber
ohne deren Voraussetzung, die periodische Kreisbewegung. Das mo-
derne Geschichtsdenken ist weder christlich noch heidnisch, sondern
eine trübe Mischung von Glauben und Sehen. Es will an die Zukunft
glauben und kann doch nicht umhin, die Wiederholung des Gleichen zu
sehen.
Die Unklarheit des modernen Geschichtsdenkens wird dadurch
gesteigert, daß das christliche Erbe in sich selber zweideutig wurde.
Verglichen mit der heidnischen Welt vor Christus, die in all ihren
Lebensbezügen religiös motiviert war, ist unsere moderne Welt völlig
verweltlicht, gerade weil sie einst christlich war. So ist auch der radikale
Atheismus eine Erscheinungsform der christlichen Überlieferung. Das
Bewußtsein, in einer gottverlassenen Welt zu existieren, setzt den Glau-
ben voraus an einen Schöpfergott, der für seine Geschöpfe sorgt. Den
christlichen Apologeten galten die Heiden mit Recht nicht als Athei-
sten, die überhaupt an keinen Gott glauben, sondern als »polytheisti-
sehe Atheisten«28, die an zu viele Götter glauben, aber nicht an den
einen wahren Gott. Den Heiden galten umgekehrt die Christen als
28 Siehe A. Harnack, Der Vorwurf des Atheismus in den ersten drei Jahr/11111-
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une force majeure. Ils font plus ou moins qu'ils ne pensent, et leurs
conseils n'ont jarnais manque d'avoir des effets imprevus. Ni ils ne
sont maitres des dispositions que les siecles passes ont mises dans !es
affaires, ni ils ne peuvent prevoir le cours que prendra l'avenir, loin
qu'ils le puissent forcer[ ... ] Alexandre ne croyait pas travailler pour
ses capitaines, ni ruiner sa maison parses conqueres. Quand Brutus
inspirait au peuple romain un amour immense de la liberte, ii ne
songeait pas qu'il jetait dans !es esprits le principe de cette licence
effrenee, par la quelle la ryrannie qu'il voulait detruire devait erre un
jour rerablie plus dure que sous Ies Tarquins. Quand !es Cesars
flatraient !es soldats, ils n'avaient pas dessein de donner des maitres
a !curs successeurs et a !'empire. En un mot, ii n'y a point de
puissance humaine qui ne serve rnalgre eile a d'autres desseins que
les siens. Dieu seul sait tout reduire a sa volonte. C'est pourquoi tout
est surprenant, a nc regarder quc !es causes particulieres, et neanrno-
30
ins tout s'avance avec une suite reglee.«
Was von der Weltgeschichte im großen und ganzen gilt, ist auch
wahr für das Geschick eines philosophischen Geschehens. Es wird,
Wenn es überhaupt geschichtlich ist und kein akademisches Gemächte,
nolens-volens zu etwas anderem als sein Urheber wollte. Die Schule
Hegels kann als Exempel dienen. Die geschichtliche Motivationskraft
der Hegelschen Philosophie hat sich nicht in den Schülern offenbart, die
Hegels sämtliche Werke herausgaben und ihm treu blieben, sondern in
Schülern wie Bruno Bauer und Feuerbach, Marx und Kierkegaard, die
von ihm abfielen. Was aber eigentlich geschah, als Marx und Kierke-
gaard über Heilsgeschehen und Weltgeschichte bestimmte Gedanken
~achten, die hinter Hegel im selben Maße zurückblieben wie sic über
ihn hinausgingen, ist erst für uns, nach hundert Jahren, offensichtlich
geworden, sofern und soweit wir ihre Gedanken einzuholen und auszu-
legen vermögen. Was in einer Gegenwart geschieht, sind niemals abge-