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Karl Löwith

Der Mensch
inmitten der Geschichte

Philosophische Bilanz des 20.Jahrhunderts

Herausgegeben von Bernd Lutz

J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung


Stuttgart
Umschlagfoto: Gisela Morgenstern Inhalt

1932 Existenzphilosophie , , . , . . 1
1935 Politischer Dezisionismus (C. Schmitt).. . . . . . . . . . . . . . 19
.--l)l , r 1940 Der europäische Nihilismus. Betrachtungen zur geistigen
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~,, .• /
Vorgeschichte des europäischen Krieges . . . . . . . . . . . . .
1950 Weltgeschichte und Heilsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . 115
49

1950 NaturundGeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155


UBLÜNEBURG LÜN4 1957 Natur und Humanität des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 171
1958 Marxismus und Geschichte , . . 207
1960 Mensch und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
~1~l1il11~1~1~~111111111111111~~1 1960 Bemerkungen zum Unterschied von Orient und Okzident
1960 Nietzsche nach sechzigJahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
254

Cil'-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek 1961 VomSinnderGeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305


Linoitb, Karl: 1963 Das Verhängnis des Fortschritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
Der Mensch inmitten der Geschichte: 1966 Christentum, Geschichte und Philosophie . . . . . . . . . . . . 339
philosophische Bilanz des 20. Jahrhunderts/ 1969 Zu Heideggers Seinsfrage: Die Natur des Menschen und
Karl Löwith. Hrsg. von Bernd Lutz. - die Welt der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
Stuttgart: Metzler, 1990
ISBN 3-476-00713-8
1970 WahrheitundGeschichtlichkeit................... 372

Nachwort , . . . . . . . . . . . . . . 385
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und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© 1990 J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Car_l Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart
Einbandgestaltung: Willy Löffelhardt

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Satz und Druck: Gulde-DruckGmbH, Tübingen
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Weltgeschichte und Heilsgeschehen


1950

Wir setzen gewöhnlich voraus, daß es zwei Welten gibt: die Welt der
Natur und die Welt der Geschichte. In der einen weiß sich der Mensch
mehr oder minder fremd, weil sie ohne ihn, von Natur aus, ist; mit der
andern mehr oder minder vertraut, weil sie eine von ihm hervorge-
brachte, menschliche Welt ist. In beiden Welten geschieht etwas, aber
das Naturgeschehen scheint in die menschliche Welt zumeist nur her-
ein, sofern es kulturförclernd und-hemmend ist. Wir fragen darum auch
nicht nach dem Sinn der Natur, sondern nur nach dem Sinn der Ge-
schichte. Der Mensch wird zwar immer w·ieder von seiner eigenen Welt
und Geschichte wie von etwas fremdem und Sinnfremdem überwältigt;
was ihn dabei überwältigt, ist aber doch ein Geschehen, das auf dem
Handeln des Menschen beruht. Diese Unnatur des geschichtlichen Ge-
schehens gehört zur »Natur« des Menschen. Je künstlicher, kultivierter
und zivilisierter unsere Zustände sind, desto mehr verlangen wir zurück
zur Natur. Das seit Rousseau vernehmliche» Unbehagen in der Kultur«
und die Flucht zur Natur bestätigt nur, daß wir kultur-geschichtlich
existieren und der Natur entfremdet sind.
Die scheinbare Selbstverständlichkeit dieser uns geläufigen Unter-
scheidung von Natur und Geschichte, und demgemäß von Naturwis-
senschaft und Geistesgeschichte, hat ihre nächste Herkunft im Beginn
der Neuzeit und ihren fernsten Ursprung in der biblischen Schöpfungs-
lehre, welche elem Menschen als elem Ebenbild Gottes unter allen
Geschöpfen eine Sonderstellung anweist. Ihre schärfste philosophische

Eine historisch ausgeführte Darstellung des hier zusammengefaßten und


1
verschärften Leitgedankens enthält Weltgeschichte und Heilsgeschehen (Sämtli-
che Schriften 2, S. ?ff.).
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Vom Sinn des Geschichtlichen 117

116 Weltgeschichte und Heilsgeschehen


Die Erfahrung <les Ostens bietet dazu eine Möglichkeit. Der Osten ist
Formulierung fand die Unterscheidung in zwei neuen Wissenschaften für den Neuankömmling zunächst eine verkehrte. Welt, die das Eigene,
der Neuzeit. Descartes hat den gesamten Bereich des Seienden in zwei längst Bekannte, auf den Kopf stellt. In Japan werden Handwerkszeuge
verschiedene Seinsarten aufgeteilt: die res cogitans und die res extensa. beim Gebrauch in umgekehrter Richtung als bei uns bewegt; die Geste
Aus dem Prinzip des Denkendseins konstruierte er die Natur als Gegen- des Heranwinkens sieht für uns aus wie eine des Fortschickens; der
stand der mathematisch-physikalischen Naturwissenschaft. Von der japanische Regenschirm wird mit der Spitze in der Hand und dem
Natur gibt es ein wahres und sicheres Wissen, von der Geschichte ist Handgriff zum Boden getragen; die Trauerfarbe ist nicht schwarz,
nichts wahrhaft und mit Sicherheit zu wissen. Was wir scheinbar von sondern weiß; der Schmerz über den Verlust eines Angehörigen wird
ihr wissen, beruht auf bloßer Meinung, Überlieferung und Gewohnheit. mit einem Lächeln bekundet; der Verkauf einer Tochter in die Prostitu-
Entgegen Descartes' Begrüne.lung der modernen Naturwissenschaft tion kann ein ehrenvoller Entschluß sein, aber ein Abschiedskuß in der
hat Vico in seiner Scienza Nuoua die größere Ursprünglichkeit der Öffentlichkeit wäre gegen alle guten Sitten. Der Todestag ist ungleich
Wissenschaften vom Menschen und <ler Geschichte begründet. Er ver- wichtiger als <ler Geburtstag, der überhaupt kein persönliches Datum
suchte nachzuweisen, daß wahres un<l sicheres Wissen nur von dem ist. » Veränderung« gilt eo ipso als Veränderung zum Schlechtem, und
möglich ist, was wir auch selbst hervorgebracht haben, d. h. von der die gebräuchlichste japanische Begrüßungsformel wünscht deshalb,
Welt der Geschichte2• Die natürliche Welt ist dem Menschen unzugäng- daß »keine Veränderung« stattgefunden haben möchte. Der starke
lich und nur Gott, als ihrem Schöpfer, durchsichtig. Vicos neuer Ansatz Duft der Rose und ihre langblühende üppige Pracht bedeuten dem
hat sich durch Herder und Hegel, Croce und Dilthey entfaltet. Hegels Japaner ordinäre Aufdringlichkeit und unanständige Lebensgier; die
Lehre vom objektiven Geist, Diltheys Bemühungen um eine psycholo- Rose »verrottet schamlos am eigenen Starnm«, wogegen <lie zarte wilde
gisch-verstehende statt naturwissenschaftlich-erklärende Grundlegung Kirschblüte (das Symbol des japanischen Geistes) schön und edel ist,
der Geisteswissenschaften, und Croces philosophischer Historismus weil sie sich beim ersten Wind und Regen leicht vom Stamme löst und
sind in das allgemeine Bewußtsein der Gegenwart so sehr eingedrungen, verweht, anstatt sich zäh ans Leben zu klammern. Seinem eigenen
daß eine nicht historisch gestellte Wahrheitsfrage umständlicher kri- Dasein ein schnelles Ende zu bereiten, ist ein würdiger Entschluß, durch
tisch-historischer Reflexionen und einer besonderen Rechtfertigung den man am besten Fragen löst, die vom Leben selbst nicht gelöst
bedarf3. Hei<leggers existential-ontologische Konstruktion der Ge- werden können. » Ihr Europäer«, sagte mir ein Japaner, »seid durch die
schichte aus der endlichen Zeitlichkeit <les existierenden Daseins hat christliche Sorge um das Heil der Seele verdorben; ihr hängt zu sehr am
sich vorgenommen, dem Werke Diltheys zu dienen, und die von ihm individuellen Leben.«
geforderte Selbstüberwindung des Historismus dadurch vollzogen, daß Diese ganz andere Haltung zu Geburt, Tod und Leben spiegelt sich4
sie die geschichtliche Relativität absolut gesetzt hat: zunächst als We- auch in der japanischen Philosophie. Eine Abhandlung von K. Nishida
sensbestimmung des menschlichen Daseins als eines geschichtlich exi- mag uns das östliche Denken näher bringen. Nishida verwendet seine
stierenden, und schließlich als Wesensbestimmung des Seins selber als Kenntnis der europäischen Philosophie als Mittel zum Zweck der be-
grifflichen Klärung orientalischer, insbesondere Zen-buddhistischer
einer Seinsgeschichte und eines Seinsgeschicks.
Um die geschichtliche Relativität auch der absolut gesetzten Ge- Erfahrungen. Sein Haupteinwand gegen alle europäische Philosophie
schichte zu Gesicht zu bekommen un<l damit eine weitere Perspektive von Parmenides bis Hegel ist, daß sie nur das Sein denke, ohne den
zu gewinnen für die Frage nach dem »Sinn« der Weltgeschichte, ist es wahren (buddhistischen) Begriff des Nichts zu kennen, das nicht bloß
nötig und heilsam, sich einmal vom Europäischen zu entfremden, um die Negation des Seins ist, sondern das Reichste und Positivste. Als
sich selbst von woandersher in seiner begrenzten Eigenart zu erkennen,
4 K. Nishida, Die morgenlä11dische11 1111d abe11d/ä11dische11 K11ltur(orme11 in
2 Zur frage der Ableitung des uerum vom [actum siehe B. Croce, La Fi/oso(ia alter Zeit vom metaphysischen Standpunkt aus gesehen. Abhandl. der Preuß.
di G._Yico, besonders Anhang 3.
3 Siehe dazu die grundsätzliche Erörterung von Leo Strauß, l'olitical l'hi/oso- Akad. der Wiss. 1939.
phy mu! History, Journal of the History of Idea~, Jan. 1949.
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iI 118 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
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l absolute Leere kann das Nichts alles in sich aufnehmen. Es kann nicht
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begriffen, wohl aber empfunden werden als der Resonanz verleihende
»Hintergrund« eines jeden Vordergründigen. Die japanische Kultur,
' führt Nishida aus, ist weder von einem platonischen Eros inspiriert
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; noch von einem überweltlichen Glauben, noch von einem Wisscnwol-
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I len, auch nicht von dem chinesischen Ideal des metaphysisch schickli-
i chen Betragens. Sie hat eigentlich überhaupt kein Prinzip. Sie lebt aus
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I einer Grundstimmung, deren Verständnisweise nur paradox formulier-
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! bar ist. Der japanische Geist vernimmt »formlose Forrn«, »farblose
: Farbigkeit« und »ronlose Stirnrne«, weil der letzte metaphysische Hin-
tergrund, die volle Leere, überall mitschwingt. Darum kann auch das
Geringste und Gemeinste das Höchste und Feinste offenbaren und es in
' einem knappen Ausspruch oder mit einem einzigen Pinselstrich voll
' zum Ausdruck bringen. Eine der Erprobungsfragen der Zenschule ist:
' » Was ist die reinste Form der Wahrheit?« Die Antwort lautet: »Die
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: Hecke um die Latrine.« Gemeint ist: die Reinheit der Wahrheit umfaßt
und verträgt auch das Schmutzigste. Das Wesen der Welt ist in jedem
Augenblick vollständig.
Am Ende seiner Abhandlung zitiert Nishida ein bekanntes japani-
sches Gedicht:
»Die Gerechtigkeit (rechte Ordnung) in der Welt konzentriert
sich in dem Gottesland Japan. Wenn sie sich verkörperte und alles
überragte, würde sie der ewig emporragende Fujiyama sein. Wenn
sie sich verkörperte und flösse, würde sie zum weiten Meer, das
grenzenlos um das Land Ja pan fließt. Wenn sie sich verkörperte und
blühte, würde sie zur Kirschblüte, deren Schönheit unvergleichlich
ist. Wenn sie sich verkörperte und gerönne, würde sic zum gut
gehärteten Stahl, so scharf, daß er den härtesten Helm durchschnei-
den könnte.«
Die Verbindung von Blüte und Schwert, des Zartesten und des
Härtesten, ist traditionell; der Japaner sieht die Tat der Selbstaufopfe-
rung durch das Schwert im Bilde der freien Ablösung des Blütenblatts.
Es ist ein und derselbe Geist, der sich im Schwert kristallisiert und der
im Blütenblatt verweht. Es ist auch ein und derselbe Geist, welcher das
göttliche Land, seinen heiligen Berg, sein es umfließendes Meer und das
japanerturn als geschichtliches Volk inspiriert. Das östliche Denken
kennt nicht den Gegensatz von Natur und Geschichte. Es bedarf darum
auch nicht des mühsamen Umwegs von Nietzsche, der am Ende seiner
Vom Sinn des Geschichtlichen 119

kritischen Reflexion über die Historie einen »iiberhistorischen« Stand-


punkt postuliert. Geschichtliche Geschehnisse werden wie natürliche
empfunden und man ergibt sich in geschichtliche Katastrophen wie in
die Folgen einer Überschwemmung oder eines Erdbebens, die auch, wie
Brandbomben, in wenigen Minuten ganze Städte vernichten. Solche
Geschehnisse ~ind weder sinnlos noch sinnvoll; sie haben keine tran-
szendente Bedeutung, keinen moralischen Zweck und kein existentiel-
les Gewicht. Sie sind Geschicke, in die man sich schickt, ohne sie durch
<las Pathos eines selbstgewählten Schicksals zu erhöhen.
Was eigentlich in dieser einen Welt geschieht, ist sozusagen nichts
und darum nur in Paradoxen andeutbar, aber nicht aussagbar und
begreifbar. Nachdem Buddha fünfundvierzig Jahre lang den wahren
Weg zur Befreiung von der Unersättlichkeit des Lebens gepredigt hatte,
erklärte er eines Tages seinen Schülern, er habe kein Wort vom Wesen
der Wahrheit gesagt. Statt dessen nahm er eine Blume und hielt sie
schweigend vor sich hin. Nur einer seiner Schüler verstand, daß diese
Geste der Ursprung und das Ziel all seines Lehrens war. Aus dieser
wortlosen »Blumenpredigt« entstand später die Zensekte in China und
Japan. Nach dem »Sinn der Welt« befragt, antwortete ein Zenmeister,
indem er schweigend eine Buddhastatue den Flammen übergab. - Die
Welt ist nur im Vordergrund eine Welt des Geschehens und der Verän-
derung, im Grunde bleibt sie sich immer gleich und unbewegt wie der
Meeresboden im Verhältnis zur oberflächlichen Wellenbewegung, oder
um ein anderes beliebtes Gleichnis zu gebrauchen: wie das immer
gleiche unbewegte Band eines Wasserfalls, der tosend herabstürzt. Und
» Wasser« ist nach östlicher Anschauung das stärkste Element, weil es
das nachgiebigste ist und ohne Anstrengung in jede Ritze und Tiefe
dringt5• Noch wirklicher als die Kraft des Nachgebens ist aber die
vollkommene Leere. Wer es einmal vermöchte, sich völlig leer zu den-
ken, würde zum Meister aller erdenklichen Situationen, weil alles unge-
hindert in seinen Geist eintreten könnte. Der in der Geschichte Japans
bekannte Shogun Iyeyasu schrieb 1616 in seinem Testament, er habe
neunzigmal gekämpft und achtzehnmal sei ihm der Tod gewiß erschie-
nen: wenn er ihm trotzdem entkam, so verdanke er es der Praxis der
Zenlehre, die ihn gelehrt habe, das Leben und seine Eitelkeiten nicht
wichtig zu nehmen und sich in Gefahren auf den Nullpunkt zu konzen-
trieren. Wer es gelernt hat, sich wassergleich zu verhalten und sich im

5 Vgl. Laotse, Tao Te King§ 8, 43, /8.


120 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

Leeren zu halten, für den ist die Welt kein Ort von geschichtlichen
Schicksalen, von Vorhaben, Entscheidungen und Verfehlungen. Sie ist
weiter und tiefer als die allzu menschlichen Komödien und Tragödien,
die nur geschehen, sofern der Mensch etwas will. Der Wissende jedoch
will, ohne etwas zu wollen und ist gespannt ohne Absicht. Er trifft, wie
der japanische Bogenschütze6 , die Mitte der Welt, ohne auf sie zu zielen,
denn die Mitte selbst zielt in ihm, wenn er sich mit einer höchsten
Anspannung losläßt. Dazu ist erforderlich, daß man sich still hält und
leer meditiert, nicht vom denkenden Kopfe her, sondern von der atmen·
den Mitte des Leibes aus, um die Fülle des Seins im Nichts empfangen zu
können. »Stille deine Wünsche und Begierden, bis Moos auf deinen
Lippen wächst«, lautet ein japanisches Sprichwort. Und so hat auch die
Weisheit des Ostens die uns bewegende Frage nach dem Ziel und Sinn
der Geschichte überhaupt nie gestellt und es vermieden, Welt und
Geschichte zusammenzudenken. Es fehlt dem östlichen Menschen das
Pathos eines »epochalen Bewußtseins« und eines sich im »Augenblick=
entscheidenden Weltgeschehens. Er kennt auch keine Seinsgeschichte
und seinsgeschichtliche Existenz, denn er weiß sich weder geworfen
noch entwirft er sich selbst und die Welt. Das hindert ihn freilich nicht,
die letzten Neuerscheinungen europäischen Denkens zu übersetzen,
nachzudenken und umzudenken.
Als ich während des japanisch-chinesischen »Zwischenfalls«, wie
der Krieg offiziell genannt wurde, einen japanischen Studenten £rug,
weshalb er europäische Geschichte studiere, bekam ich zur Antwort, sie
sei so viel bewegter und interessanter als die langweilige Geschichte des
Orients. Er verstand, auf verkehrte Weise, die lange Weile seiner ihm
uninteressant gewordenen Welt. An dieser langen Weile und Geduld
des östlichen Menschen hat auch die industrielle und intellektuelle
Verwestlichung bisher wenig geändert. Die Modernisierung des Ostens
durch den Westen hat für uns den Abstand des Fühlens und Denkens
nicht verringert, sondern verdeutlicht. Die Aneignung westlicher Wis·
senschaften, Entdeckungen und Erfindungen hat offensichtlich ge·
macht, daß ein modernes China oder Japan - nicht anders als ein
modernes Christentum - ein existierender Widerspruch ist. Denn was
im Osten modern ist, ist nicht orientalisch, und was in ihm orientalisch
ist, ist nicht modern, sondern uralt.

6 S_iehe Eugen Herrigels unübertrefflich konkrete Analyse des Zengeistes in:


Zen m der Kunst des Bogenschießens, Konstanz 1948.
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Vom Sinn des Geschichtlichen 121

Im Vergleich zu dieser uralten und uns fremden Weisheit des Ostens


ist das Wissen und Wollen in Amerika und Rußland nur eine extreme
Konsequenz neuzeitlichen europäischen Wissenwollens. Was man dort
letzten Endes will, ist die Erfüllung eines geschichtlichen Ziels und
damit geschichtlicher Sinn. Die herrschenden gcschichtsphilosophi-
sehen Konzeptionen in Europa, Amerika und Rußland sind sich einig
im Willen zu einem sinnerfüllenden Ziel. Erreichbar ist es durch Fort-
schritt, sei es zur Vollendung des sich begreifenden Geistes (Hegel), sei
es zur wissenschaftlichen »Positivität« (Comte), sei es zur klassenlosen
Gesellschaft (Marx), oder auch zum Ende (Spengler) und zu einer
universalen Religion als dem Ausweg aus einer untergehenden Zivilisa-
tion (Toynbee). Sie alle wollen ein Ziel und zielen mittels des Fort-
schritts auf Sinn. Wenn man andererseits wissen will, wie östliche
Menschen über Geschichte denken, wird man gut tun, die Antwort
nicht in ihren nach westlichen Mustern verfertigten Theorien der Ge-
schichte zu suchen, sondern sie dort aufzusuchen, wo Geschehenes
berichtet wird, in dem Geschichte in unserm Sinn dem Wort wie der
Sache nach gar nicht vorkommt. Eine solche geschichtslose Geschichte
ist die vom Kuhhirten 7.
Das wesentliche Geschehen wird von der Zenschule mit Bezug auf
den Vorgang der Wahrheitsfindung als eine Heimkehr beschrieben,
d. h. als ein Fortschritt, der aus einer Entfremdung zurückführt zum
Ursprung. Eine bekannte Bilderfolge mit begleitendem Text illustriert
ihn. Der Kuhhirte hat seine Kuh, d. h. sich selbst in seiner Habe,
verloren. Er ist auf der Suche nach ihr. Nachdem der aufgeregte Hirte
nach vielen Mühen eine Spur seiner Kuh entdeckt hat, findet er auch die
Kuh selbst wieder. Zunächst sieht er nur ihren Schwanz, sodann fängt
er sie ein, bemeistert sich ihrer und besteigt sie. Erschöpft von der
Anstrengung des Suchens und dem Glück des Findens reitet er auf der
Kuh sitzend heim, die Flöte spielend. Er ist nun selbstvergessen und
weltvergessen. Der Mond - das Sinnbild des Geistes-, in dessen küh-
lem Licht sich alles unversehrt zeigt, erleuchtet die Welt und seinen
Geist und erfüllt beide mit Stille und Leere8• Das letzte Bild der Gesche-

7 Siehe D. T. Suzuki, Die große Befreiung, Kap. 7. Konstanz 1948.


8 Eine von K. Nishida gemalte Tuschzeichnung zeigt auf weißem Papier nichts
weiter als einen schwarzen leeren Kreis. Die ihm zur Seite gemalten Schriftzei-
chen besagen wörtlich: Mond, Geist (Herz), einsam, Kreis, Licht, zehntausend
Dinge (das All), versc:hh1~kcn. Diese Wortfolge meint ungefähr folgendes: ein
- ·- ·-,- •,.- -- .. •& - - -~ ·.
-·-·---- .. -~ •-·-··· --··-- -

122 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

hensfolge zeigt nichts weiter als einen leeren, vollkommenen Kreis, in


dem sich nichts ereignet. Alle irdische Geschäftigkeit und Zerstreutheit
ist verschwunden und damit auch der Sinn für Verlust und Besitz.
Angelangt bei seiner Hütte, legt sich der Hirte schlafen. Alles hat sich im
Lauf dieses Geschehens geändert und ist doch wieder das Gleiche: »Die
Wiese ist wieder grün; die Blüten sind wieder rot.« Alle Dinge sind
zurückerstattet zu ihrem »So-und-nicht-anders-Sein«.
Die letzte Weisheit des Zen ist aber nicht die billige Einfachheit der
Vereinfachung der Dinge zu einem »nichts weiter als«, sondern die
kostbare Einfachheit einer letzten Verfeinerung. Ehe wir wissend ge-
worden sind, sagt ein Zenspruch, scheinen die Berge und Flüsse einfach
Berge und Flüsse zu sein, und nichts weiter. Wenn wir einen gewissen
Grad der Einsicht erworben haben, hören Berge und Flüsse auf, nichts
weiter als Berge und Flüsse zu sein; sie werden vielerlei in vielerlei
Hinsicht. Wenn wir aber zur vollständigen Einsicht gelangt sind, in die
Wahrheit der Welt und den ihr gemäßen Frieden des Geistes, wird der
Berg wieder einfach zum Berg und der Fluß wieder einfach zum Fluß. In
dieser schließlichen Anerkennung des So-und-nicht-anders-Seins zeigt
sich die Welt ursprünglich und endgültig. »Der Reiher ist weiß ohne
gebleicht zu sein; die Krähe ist schwarz ohne gefärbt zu sein.« Warum
sie weiß oder schwarz sind, läßt sich nicht von woandersher erklären, es
gründet im Herzen der Dinge. Diese letzte, reine Erfahrung scheint zwar
identisch zu sein mit der ersten »sinnlichen Gewißheit«, sie ist aber
etwas ganz anderes und neues, vergleichbar Hegels » Wahrheit der
Gewiliheit«. Erst auf dieser Stufe des Geschehens, wo nichts mehr
geschieht, welches Nichts aber zugleich die Quelle alles Geschehens ist,
erst in dieser »Stille des Donners« zeigt sich die Welt unversehrt, wie sie
ist.

II

So leicht es ist, anhand eines äußeren Vergleichs die Einsicht zu gewin-


nen, daß unser geschichtliches Denken ein europäisch begrenztes ist, so
wenig offensichtlich ist die vielfach vermittelte Herkunft unseres von
Geschichte und geschichtlichem Schicksal besessenen Denkens. Das

Geist (Herz), der vollkommen rund erleuchtet und leer geworden ist, ist wie das
einsame Licht des Vollmonds: er vermag alles zu fassen und zu verschlucken,
I'

Erfahrungsweisen von Geschichte 123

europäische Selbstbewußtsein hält sich gewöhnlich an die Ansicht, daß


sein geschichtlicher Bestand durch zwei verschiedene, aber gleich maß-
gebende Überlieferungen bestimmt ist: die klassische und die christli-
che. Als sich das Christentum der ersten Jahrhunderte aus apologeti-
schen Gründen veranlaßt sah, sich mit seinen heidnischen Gegnern
auseinanderzusetzen, ergaben sich aber sogleich zwei entgegengesetzte
Stellungnahmen. Sie lassen sich formelhaft als Vereinigung oder Tren-
nung von »Athen« und» Jerusalem« bezeichnen. Die Variationen dieses
einen großen Themas der europäischen Geschichte erstrecken sich bis
in die Gegenwart: von Tertullian bis zu Luther, Pascal und Kierke-
gaard; von Orignes bis zu Thomas und Newman. Die Frage nach der
Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von christlichem Glauben und
griechischem Denken ist, über das theologische Anliegen hinaus, auch
heute noch eine, wenn nicht die entscheidende Frage für den geistigen
Bestand von Europa. »Horner 1111d die Bibel« (die man beide, wie es
noch im ersten Weltkrieg hieß, im Tornister haben müsse), Sokrates
1111d Christus, Schicksalstragödie 1111d Kreuzestheologie, Demonstra-
tion der Anfangs- und Endlosigkeit der natürlichen Weltbewegung 1111d
Glaube an ihre einmalige übernatürliche Schöpfung, Vernunft 1111d
Offenbarung, Wissen 1111d Glauben - sie alle sind ebensoviele Entwe-
der-Oder, wie zuletzt Kierkegaard und Nietzsche gezeigt haben. Die in
diesen Alternativen zu Worte kommenden Fragen würden erst dann
aufhören, entscheidende Fragen zu sein, wenn es gelingen sollte, sich
völlig zu emanzipieren, um jenseits von christlich und heidnisch einen
neuen Standpunkt zu beziehen. Wie immer es sich mit der Möglichkeit
einer nachchristlichen Existenz und Welt verhalten mag, so bleibt doch
zunächst die Frage bestehen, was das »und« zwischen Antike und
Christentum bedeutet. Ist es ein bloßes Nacheinander, wobei der An-
fang im Griechentum so wahr ist und bleibt wie der neue Anfang im
Christentum? Oder sind wir verlogen, weil wir von den Resten einer
doppelten Wahrheit leben? Oder sind beide im »Humanismus« verbun-
den? Oder hat nicht vielmehr Hegels Synthese von griechischer Philoso-
phic und christlicher Religion und Kierkcgaards darauf antwortende
Reaktion deutlich gemacht, daß der Kompromiß zwischen christlicher
und klassischer Tradition seine schöpferischen Kräfte verbraucht hat
und es nun darauf ankommt, entweder das ursprüngliche Christentum
oder das ursprüngliche Griechentum wiederzuholen? Aus welcher Zu-
kunft soll sich aber Gewesenes für die Gegenwart wieder holen lassen,
wenn alle Zeichen der Zeit darauf deuten, daß wir am Ende einer ,,
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124 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

Entwicklung stehen, die schon Hegel philosophisch vollendet hat? Und


muß eine Wiederholung der klassischen Welt nicht schon daran schei-
tern, daß alle realen Voraussetzungen griechischen Lebens nicht mehr
bestehen, so wie andererseits die eschatologischen Erwartungen der
ersten Christengemeinden, und die auf ihnen beruhende Dringlichkeit
'des christlichen Anliegens, nun selbst bei Theologen als erledigte Illu-
sionen gelten? Und haben denn Kierkegaard und Nietzsche wirklich in
ein künftiges Denken gewiesen, als sie mit allermodernsten Mitteln die
neutestamentliche Verkündigung und die Philo~ophie im tragischen
Zeitalter der Griechen sich noch einmal aneignen wollten? Kündigt sich
nicht vielmehr in vereinzelten Menschen der Gegenwart ein neues
Experiment der Erprobung an, die es wirklich wagt, sich selbst zu
versuchen und die Brücken der Tradition hinter sich zu verbrennen, um
auf offnem Meer und im Reiche der Luft einen neuen Standpunkt zu
gewinnen? Der griechische Kosmos scheint unwiederholbar und der
christliche Glaube an das Reich Gottes scheint nicht mehr gegen-
wartsfähig.
Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß das Christentum noch exi-
stiert, nicht nur in Kirche, Moral und Gebräuchen, sondern im Kern
unseres Wollens und Denkens, wofür gerade Nietzsche ein Zeugnis ist,
indem er den natürlichen Kreislauf der Welt als »sinnlos« empfand und
ihn dennoch wie ein moralisches Ziel wollte. Er wollte mit seiner
Philosophie der Zukunft eine neue Zeitrechnung beginnen, aber er
blieb vom Kreuz gezeichnet und er wußte, daß die heidnische Welt mit
dem Schwinden des Christentums immer unzugänglicher wird, weil sie
nur noch in dessen Vermittlung präsent ist9 • Der »Regenbogen der
Begriffe« mag zwar noch immer zu dem anfänglichen Denken der
Griechen führen, existentiell und existential ist das moderne Denken
vorzüglich vom christlichen Neuanfang her bestimmt und am meisten
dort, wo es die Frage nach dem Sinn der Geschichte stellt. Die Frage
nach der Herkunft unseres geschichtlichen Denkens und historischen
Bewußtseins kann sich darum nicht gleichermaßen auf Christentum
und Antike beziehen, oder gar bloß auf diese, denn die griechische
Wissenschaft hat weder an eine Bemeisterung der Natur und des Kos-
mos mittels einer mathematisch-physikalischen Naturwissenschaft ge·
dacht, noch an eine philosophisch erfaßbare Erfüllung des geschichtli-
chen Geschehens. Beide gehören insofern zusammen, als die Neuzeit

9 Wir Philologen,§ 259 ff.


Er fahru ngsweisen von Geschichte 125

immer mehr dadurch Geschichte macht, daß sie die Beherrschung der
Natur in den Dienst geschichtlicher Ziele stellt, in der Meinung, daß es
nur cine Frage der Zeit sei, bis wir cs auch in der Bemeisterung der
geschichtlichen Welt mit den Fortschritten der Naturwissenschaft wer-
den aufnehmen können.
Kein griechischer Philosoph hat eine Philosophie der Geschichte
erdacht. Es muß zu bedenken geben, daß Aristoteles, der über alles
nachgedacht hat - über Tiere und Pflanzen, Erde und Himmel, Meta-
physik und Logik, Politik und Ethik, Rhetorik und Poetik+, nicht eine
einzige Schrift der Geschichte gewidmet hat, obwohl er der Lehrer und
Freund Alexanders des Großen war. Was er von seinem weltgeschichtli-
chen Schüler erbat, waren nicht Berichte über den Feldzug in Asien und
Betrachtungen über den Sinn des weltpolitischen Geschehens, sondern
seltene Tiere und Pflanzen. Die Griechen frugcn vor allem nach dem
Logos des Kosmos, aber nicht, wie Juden und Christen, nach dem
Herrn des Heilsgeschehens. Sie waren tief beeindruckt von der sichtba-
ren Ordnung und Schönheit der Welt, und das natürliche Weltgesetz
von Entstehen und Vergehen bestimmte auch ihre Anschauung der
geschichtlichen Welt. Ihre Wahrnehmung der einen Welt vereinigt die
~nerkennung zeitlicher Veränderungen mit der Einsicht in das Gesetz
ihrer Regel. Das höchste Muster und der oberste .Maßstab für diese
Regelmäßigkeit der Veränderung ist die periodische Kreisbewegung.
Das Immer-so-Seiende und Beständige, wie es jahraus und jahrein im
~mlauf der Himmelskörper erscheint, hatte für griechische Sinne eine
tiefere Wahrheit und ein höheres Interesse als eine radikale geschichtli-
cl~e Veränderung. Was aber das wechselvolle Geschick des Menschen in
dieser immer gleich geordneten Welt betrifft, so vertrauten sie darauf,
daß der Mensch imstande ist, jegliche Situation, auch die hoffnungslo-
se, mit Großmut zu bestehen und sein Schicksal ungebrochen auf sich
zu nehmen.
Aristoteles sprach bekanntlich der Dichtkunst eine größere Nähe
zur Wahrheit zu als der Historie, weil diese von bloß zufälligen Verän-
de~ungen und Einzelheiten erzählt, wogegen Dichtkunst und Philoso- I
' 'I
phie auf das Allgemeine und Beständige sehen. Für den gesunden Sinn
der Griechen war Geschichte begrenzt auf politisches Geschehen. So
sehr aber die Politik als Frage nach der besten Form des Gemein-
'!
schaftslebens ein vorzügliches Anliegen der griechischen Philosophie
;~r, so wenig war es die Politik als weltgeschichtliches Geschehen.
ieses galt vielmehr als das angemessene Studium für Staatsmänner
.... _ ·--~-··•>.•~+ _, ---- -

126 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

und politische Historiker. Herodot, Thukydides und Polybius haben


diese Wissenschaft ausgebildet und zu einer Vollendung gebracht, die
bis zu Machiavelli und Hobbes maßgebend blieb.
Herodot wollte erkunden und berichten (historein), was zwischen
Persern und Griechen geschah, nicht mehr und nicht weniger. Sein
Bericht sollte verhindern, daß der Ruhm großer Taten von der Nach-
welt vergessen werde. Der »Sinn « der berichteten Geschehnisse über-
steigt bei ihm nicht die Geschehnisse selbst zu einem künftigen, sinner-
füllenden Ziel. Er ruht in der Bedeutsamkeit des Geschehenen. Seine
Persergeschichten 10 bedeuten, was sie in Gestalt einer Pointe andeuten.
Halb verborgen sind manchmal noch weitere, hintergründige Bedeu-
tungen, die sich gelegentlich in bezeichnenden Gesten, Aussprüchen
und Zeichen andeuten. Anfang und Ende einer erzählten Geschichte
erhellen sich gegenseitig und bilden so einen Kreis von Bedeutsamkeit.
Ebenso ist das zeitliche Schema seiner Erzählungen nicht ein sinnvoller
Fortgang zu einem künftigen Ziel, sondern, wie alle griechische Zeitau-
schauung, periodisch und zyklisch. Die Geschichte menschlicher Hand-
lungen und Geschehnisse zeigt auf weitere Sicht eine Art Wiederkehr
des Gleichen. Sie ist geregelt durch ein Gesetz des Ausgleichs von Hybris
und Nemesis, wodurch sich immer wieder ein Gleichgewicht der ge-
schichtlich-natürlichen Kräfte herstellt. Herodots Darstellung scheidet
weder Natur und Geschichte noch unterscheidet sie deutlich zwischen
menschlichem Vorsatz und göttlicher Lenkung.
Thukydides hat die antike Geschichtsschreibung von ihren episch-
homerischen Zügen zur Wahrheit des Wißbaren befreit und von göttli-
chen Eingriffen abgesehen. Er untersucht mit nüchterner Leidenschaft
die pragmatischen Verkettungen im Gebiet eines bestimmten politi-
schen Geschehens, den peloponnesischen Krieg der Griechen mit Grie-
chen. Der Maßstab seiner Beurteilung der politischen Machtkämpfe ist
Erfolg und Versagen, Stärke und Schwäche. Die immer gleiche Grund-
lage des politischen Geschehens ist die beständige Natur des Menschen
und der Konflikt zwischen menschlichen Bestrebungen. Und weil die
Natur des Menschen immer dieselbe ist, können auch die geschichtli-
chen Ereignisse nie etwas wesentlich Neues, noch nie Dagewesenes
bringen. Vielmehr wird, was sich in der Vergangenheit schon ereignet
hat, künftig auch wieder ereignen »in derselben oder in ähnlicher
Weise«. Nichts wirklich Neues kann künftig in der Welt geschehen,

10 Siehe K. Reinhardt, Von Werken und formen, Godesberg 1948, S. 163 ff.
Erfahrungsweisen von Geschichte 127

wenn es »die Natur aller Dinge ist zu wachsen und zu vergehen«, Es


liegt Thukydides völlig fern, den Gang der Geschichte im Hinblick auf
ein Ziel, es sei ein weltliches oder überweltliches, als sinnvoll in die
Zukunft gerichtet zu deuten.
Nur die Geschichten des Polybius scheinen unserm am Fortschritt
orientierten Geschichtsverständnis nahe zu kommen, indem sie alle
Ereignisse im Hinblick auf die Erfüllung eines Ziels: die Weltherrschaft
Roms, darstellen. Aber auch Polybius glaubt nicht an Fortschritt und
denkt nicht an Zukunft. Der römische Fortschritt im Kampf um die
Weltherrschaft ist bei ihm von vornherein einbezogen in das Gesetz des
Verfalls. Das natürliche Bewegungsgesetz des geschichtlichen Gesche-
hens ist eine konstante Folge von politischen Umläufen, wobei am Ende
einer Entwicklungsperiode der Anfang wiederkommt. Infolgedessen
kann der Historiker aus dem bisherigen Ablauf im voraus wissen, was
kommen muß. Er kann die nächstfolgende Phase im Fortgang, z.B, von
der Demokratie zur Anarchie, und von dieser zur Wiederherstellung der
ursprünglichen Herrschaftsform, überblicken. Er mag sich täuschen
über das Zeitmaß der bevorstehenden Veränderung, doch kaum in
bezug auf das jeweils erreichte Stadium von Wachstum oder Verfall,
Wenn seine Urteilskraft nicht durch Vorurteile getrübt ist.
In menschlicher Hinsicht ist das allgemeine Gesetz der Veränderung
die Unbeständigkeit des Geschicks, der plötzliche Wechsel vom einen
zum andern Extrem. Polybius, der ebenso wie Thukydides an dem
politischen Geschehen seines Landes handelnd beteiligt gewesen war,
hatte den Sturz der mazedonischen Herrschaft miterlebt. Er schrieb sein
Werk zur Rechtfertigung der römischen Herrschaft als griechischer
Emigrant in Rom in dem Bewußtsein, daß die Herrschaft der Römer
ebensowenig dauern könne, wie die der Mazedonier und vorher der
Perser. Dieser unerbittliche Wechsel von Anfang und Niedergang rief in
i~m aber keineswegs, wie bei Hegel und allen Modernen, die frage nach
emem letzten Sinn und Zweck des Weltgeschehens hervor. Er konsta-
tiert das Gesetz des Verfalls und Untergangs auch der relativ besten
Herrschaft ohne Trauer, mit unzweideutiger Anerkennung. Das Ge-
schick aller menschlichen Dinge bedenkend, erinnert er daran, daß
ebenso wie die einzelnen Menschen auch ihre Städte, Reiche und Auto-
ritäten einem notwendigen Ende entgegengehen. Im Zusammenhang
damit erwähnt er Scipios Ausspruch angesichts des von ihm eroberten
und zerstörten Karthsgo: daß dasselbe Geschick dereinst Rom treffen
Werde. Polybius betont, daß man schwerlich ein tieferes und mehr
128 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

staatsmännisches Urteil über die Geschichte finden werde. Denn im


Augenblick höchsten Triumphs sich über den künftigen Umschlag in
tiefste Erniedrigung klar zu sein, sei eines großen Menschen würdig.
Diese Art des historischen Bewußtseins ist aber keineswegs nur Poly-
bius und seinem freund Scipio zu eigen. Es ist klassisches Geschichtsbe-
wußtsein von Anbeginn. Scipios Ausspruch wiederholt nur, was schon
in der Ilias (VI, 448) steht mit Bezug auf Troja und Priamus. Und wo
immer angesichts geschichtlicher Schicksale die klassische Stimmung
11
lebendig blieb, fand sie einen ähnlichen Ausdruck • Es ist die letzte
Weisheit des Historikers der Weltgeschichte ohne Heilsgeschehen.
Die moralische Lehre aus dieser Erfahrung der Geschichte als eines
Wechsels von Triumph und Erniedrigung ist nach Polybius einfach und
menschlich genug: der Mensch solle niemals auf seine Erfolge pochen
und sich erbarmungslos übernehmen, sondern mäßig bleiben in Zeiten
des Glücks und weise werden durch das Mißgeschick anderer - eine
Maxime, die ebenso vernünftig wie entfernt ist von einem epochalen
Entscheidungsbewußtsein und von der christlich bedingten Erwartung
einer Erfüllung des Sinnes in der Zukunft. Sie ist erst recht entfernt von
der Unstimmigkeit der Geschichtslehre Toynbees, der die klassische
Anschauung der Geschichte mit dem christlichen Glauben an ein Heils-
geschehen vereinigen möchte, indem er den chronologisch berechneten
Rhythmus von Wachstum und Verfall mit der Freiheit der Wahl und
mit dem Glauben an eine fortschreitende Offenbarung des Sinnes der
Geschichte zusammendenkt. Es scheint, daß die zwei großen Konzep-
tionen der Zeit und Geschichte, die griechische und die christliche,
Kreislauf und Eschaton, die prinzipiellen Auslegungsmöglichkeiten des
Geschehens erschöpfen und daß alle modernen Geschichtstheorien das
eine Prinzip oder das andere betonen, oder beide vermischen.
Wenn man bedenkt, daß Herodot und Deuterojesaja beinahe Zeit-
genossen waren, kann man den Abstand ermessen, der griechisches
Schauen und jüdischen Glauben trennt. Das jüdische, christliche und
nachchristliche Verhalten zur Geschichte ist nicht durch den Anblick
der sichtbaren Welt gestimmt, sondern durch das zuversichtliche War-
t~n und Hoffen auf eine künftige Erfüllung, sei es auch nur in Gestalt
einer fortschreitend »bessercn Welt«. Der griechische Mensch verge-
genwärtigte in seinen Mythologien, Genealogien und Historien vergan-
gene und noch gegenwärtige Geschehnisse; der Jude und Christ nimmt
7
11 Vgl. W. von Humboldt, Politischer Briefwechsel, Berlin 1935, Brief Nr. 7 .
Erfa hru ngsweisen von G eschichte 12 9

vorweg, was kommen soll. Im einen Fall ist vergangenes Geschehen eine
bleibende Gründung, im andern eine Vorbereitung der Zukunft. Dem-
gemäß wird die christliche Interpretation der Vergangenheit eine umge-
kehrte Vorhersage, welche die Vergangenheit als eine preparatio euan-
gelica deutet, sie überhaupt als eine bloße Vorstufe künftiger Erfüllun-
gen bewertet. Das nachhaltige Muster dieser Ausdeutung der Vergan-
genheit von der Zukunft her und auf sie hin ist die Auslegung des Alten
Testaments im Sinne und zum Zwecke des Neuen. Sie hat im 13. Jahr-
hundert durch Joachims Verkündigung eines »dritten Testarnents«
einen weiteren Fortschritt gewagt und ist auf vielen Umwegen in die
säkularisierten Ideologien von dritten Reichen und in den allgemeinen
Fortschrittsglauben eingedrungen. Das Grundschema ist in jedem Fall
der ursprünglich eschatologisch verstandene Fortschritt von etwas Al-
tem zu etwas Neuem und letzten Endes zur Erfüllung. Durch diesen
Fortschritt zu einem Ziel wird die Geschehensfolge zielhaft und zu-
gleich sinnvoll. Die griechische Historie war weder zielhaft noch sinn-
voll orientiert, weil sie nicht annahm, daß die Zukunft etwas wesentlich
Neues bringen könne. Wenn dagegen ein moderner Historiker wie
Troeltsch, trotz seiner Ablehnung einer theologischen Behandlung der
Geschichte, die Aufgabe der Geschichtsphilosophie als » Überwindung
der Gegenwart und Begründung der Zukunft« bestimmt, so ist das nur
möglich und sinnvoll unter Voraussetzung des jüdisch-christlichen
Schemas, welches den zeitlichen Sinn von historein pervertiert hat,
vergleichbar der uns geläufigen Redeweise von »historischen« Taten
und Reden, die zum Ausweis ihrer Geschichtlichkeit von vornherein auf
die Zukunft Kredit nehmen.
Polybius wollte verständlich machen, wie bestimmte Ereignisse der
Vergangenheit zur Weltherrschaft Roms führten. Modernen Histori-
kern, die sich an Rang mit ihm messen können, ist es zuerst und zuletzt
um die Zukunft zu tun. Der klassische Historiker fragt: wie kam es
dazu? Der moderne: »Wohin gehen wir?«12 Diese Umkehrung des
Gesichtspunkts ist möglich geworden durch den Bruch des Christen-
tums mit der klassischen Überlieferung. Die Antike hat sich nie so wie
das Judentum und das frühe Christentum zuversichtlich ins Leere ge-
stellt, wie es die Frage nach dem letzten Sinn der Geschichte erfordert,
und zwar gerade deshalb, weil die ausweisbaren Geschehnisse eben
ke:ne letzte Erfüllung bringen und keilte Antwort auf die an sie gestellte

12 A. von Tocquevilles Einleitung zur Demokratie in Amerika.


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130 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

Frage geben. Die Frage nach dem Sinn der Geschichte wäre gar nicht zur
Existenz gekommen, wenn die Geschehnisse selber sinnvoll wären, und
um ihren Mangel an Sinn gewahr zu werden, bedarf es andererseits
schon eines Vorblicks auf Sinnerfüllung. Die Griechen haben als erstge-
borene Europäer vieles gesehen, entdeckt und erfunden, aber nicht das
geschichtliche Bewußtsein.
»Der Geschichtsbegriff ist eine Schöpfung des Prophetismus
[ ... ] Was der griechische Intellektualismus nicht hervorbringen
konnte, ist ihm gelungen. Historie ist im griechischen Bewußtsein
gleichbedeutend mit Wissen schlechthin. So ist und bleibt den Grie-
chen die Geschichte lediglich auf die Vergangenheit gerichtet. Der
Prophet dagegen ist der Seher[ ... ] Die Propheten sind die Idealisten
der Geschichte. Ihr Sehertum hat den Begriff der Geschichte erzeugt,
als des Seins der Zukunft [ ... ] Vergangenheit und Gegenwart ver-
sinken in dieser Zeit der Zukunft[ ... ] So entsteht für das Menschen-
leben und das Völkerleben der Gedanke der Geschichte. Diesen
Gedanken der Geschichte, der die Zukunft zum Inhalt hat, hatten
die Griechen niemals. Ihre Geschichte ist die auf ihren Ursprung
gerichtete, ihre Vergangenheit erzählende Geschichte ihrer Nation
[ ... ] Eine (fortschreitende) Geschichte der Menschheit ist unter
13
diesem Horizonte ein unmöglicher Gedanke.«
Die Zukunft ist der wahre Horizont der Geschichte, vorausgesetzt,
daß die Wahrheit im jüdisch-christlichen Glauben an ein Heilsgesche-
hen beruht. Und weil der Westen, trotz allem, ein christlicher Okzident
ist, ist auch sein historisches Selbstbewußtsein eschatologisch: von
Jesajas bis Marx, von Augustin bis Hegel, von Joachim bis Schelling.
Dies gilt auch für die geschichtliche Praxis. Es würde sich keine engli-
sche, französische und russische Revolution ereignet haben ohne den
Glauben an Fortschritt, und es würde keinen weltlichen Glauben an
Fortschritt geben ohne den ursprünglichen Glauben an ein überweltli-
ches Ziel des Lebens. »Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu
realisieren, ist der elastische Punkt aller progressiven Bildung und der
Anfang der modernen Geschichte.« 14 Die weltgeschichtliche ßedeu·
tung dieser eschatologischen Orientierung besteht darin, daß sie es

13 H. Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des ]1ulent11111s,
Leipzig 1919, S. 307 ff. und 293 ff.
14 F. Schlegel, Athenäumsfragmente Nr. 222.
Er fa hru ngsw eisen von G eschichte 131

vermochte, die antike Furcht vor dem Fatum und dem blinden Zufall zu
besiegen 15• Vergleichbar dem Kompaß, der uns im Raum Orientierung
gibt und uns befähigt den Raum zu erobern, gibt der eschatologische
Kompaß Orientierung in der Zeit, indem er auf ein letztes Ziel und
damit auf einen letzten Sinn des Geschehens hinweist.
Wenn wir im folgenden die Geschichtsphilosophie auf die Theolo-
gie der Geschichte zurückführen, die eine an Hegel, die andere an
Augustin illustrierend, so wird man zwar einräumen, daß Hegel theolo-
gisch belastet blieb, könnte aber die Wesentlichkeit einer solchen Ablei-
tung für die radikaleren Denkversuche der Gegenwart bestreiten. Hei-
degger hat sich von der theologischen Überlieferung ausdrücklich di-
stanziert, um das Geschichtliche »ursprünglich« auszulegen. Doch
bleibt die Frage nach dem geschichtlichen Sinn dieser Ursprünglichkeit,
wenn sie nicht aus dem Nichts entspringt. Es ist, zumal im Denken der
Geschichte, nicht so leicht, die »Reste von christlicher Theologie«
radikal aus der philosophischen Problematik »auszutreiben« (Sein und
Zeit, S. 230), ohne auf eine Philosophie der Geschichte überhaupt zu
verzichten. Die philosophische Problematik der Geschichte zehrt gera-
de von diesen Resten einer verweltlichten und verendlichten Lehre von
den letzten Dingen. Um diese These zu erweisen, bedarf es einer Klä-
rung des schon immer vorausgesetzten ßegriffes von »Sinn« mit Rück-
sicht auf den Sinn der Geschichte.
Ein aktuelles Geschehen kann nur sinnlos erscheinen im Horizont
einer möglichen Sinnerfüllung; Enttäuschungen gibt es nur, wo etwas
erwartet wird. Sinnlos ist, was nicht sinn-voll ist, und die Fülle des Sinns
ist Sache einer Erfüllung. Die Erfüllung eines noch mangelnden Sinns
erfordert Zukunft, und Zukunft ist nur für Erwartung kommend. Das
Geschehen der Geschichte wird also sinnvoll, indem es über sich selber
hinausweist auf eine künftige Erfüllung. Einzelne aktuelle Geschehnisse
als solche, desgleichen eine Geschehensfolge, sind an sich noch nicht
sinnvoll. Um ihren Sinn behaupten zu können, müssen wir ein Ziel oder
telos entwerfen, das die geschichtliche Bewegung zielhaft erfüllt. Es ist
wohl kein Zufall, daß unsere Sprache Sinn und Ziel, sowie Sinn und
Zweck einander gleichsetzt. Diese Gleichsetzung ist selber aber nur
sinnvoll mit Bezug auf geschichtliches Sein. Es ist nicht sinnvoll, nach
dem Sinn (Ziel, Zweck) einer Blume oder eines Tieres, des Meeres oder

15 Siehe Schelling, Werke I. Abt. V, S. 249; Kierkegaard, Begriff der Angst,


Kap. 3, § 2.
132 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

der Luft zu fragen, weil sie von Natur aus sind, was sie sind. Es ist
sinnvoll, nach dem Sinn (Zweck) eines Blumentopfes oder Käfigs, eines
Schiffes oder Flugzeuges zu fragen, weil sie ihre Existenz einem mensch-
lichen Zweck oder Wozu verdanken. Es ist auch sinnvoll, nach dem
Sinn eines gewonnenen oder verlorenen Krieges zu fragen, weil Kriege
von Menschen geplant und gewollt, bezweckt und geführt werden. Der
handelnde Entschluß zum Krieg verwandelt sich aber alsbald zu einem
Kriegs-geschehen, das nun von sich aus immer neue Entschlüsse und
Handlungen fordert und als Geschehen über alle Entschlüsse hinaus-
reicht. Wir »rnachen« Geschichte und werden von ihr überwältigt. Das
zum Geschehen gewordene Handeln hat seine unwiderruflichen Folgen
und sein geschichtlicher Sinn offenbart sich erst dann, wenn die Folgen
in einem Ergebnis münden. Dieses ist nicht schon der Zweck oder das
Wozu der ursprünglichen Handlung, sondern das unbeabsichtigte
Woraufhin eines geschichtlichen Geschehens. Und erst wenn sich dieses
im Laufe der Zeit erhellt hat, läßt sich im Rückblick der Sinn des ganzen
Handlungs-Geschehens bestimmen. Es hat dann in einem Ziel und
Ergebnis seinen Sinn erreicht und erfüllt. Wenn wir den Geschichtspro-
zeß aber als ganzen, in einer Philosophie der Geschichte, der Frage nach
dem Sinn unterstellen, so müssen wir ein letztes Ziel und Ergebnis, d. h.
das telos als esehaton denken. Die Rede vom Sinn des Geschehens der
Geschichte im Ganzen verlangt den Horizont einer eschatologischen
Zukunft. Der Endsinn und das Endergebnis lassen sich nicht vorauswis-
sen. Man weiß von ihnen nur in der Weise des Hoffens und Glaubens,
die beide im Willen und in der Gnade gründen. Ein solcher erwartungs-
und hoffnungsvoller Glaube an eine künftige Sinnerfüllung kennzeich-
net das Judentum und das ursprüngliche Christentum. Die klassische
Antike hat die Hoffnung und mit ihr die Zukunft niemals so ernst
genommen. Sie galt ihr als ein ignis [atuus, und die Spätantike versuch-
te, ohne Hoffnung und Furcht (nee spe nee metu} zu leben. Paulus
verurteilte seine heidnische Mitwelt als eine Gesellschaft »ohne Hoff-
nung«. Unter Hoffnung verstand er nicht irdische Wünsche, sondern
die Zuversicht des christlichen Glaubens. Eine solche zuversichtlich
wartende Hoffnung aus dem Glauben kann durch keinerlei welt-
geschichtliche Fakten, z.ß, das Ausbleiben der Parusie, zuschanden
werden. Denn wie sollten Fakten, d. h. wörtlich: schon Geschehenes,
einen Glauben diskreditieren können der wesentlich frei ist von der
Vergangenheit und für die Zukunft, der ' vorausblickt ohne zurückzu-
sehen?
Er fa hru ngsw eisen von Geschichte 13 3

Die christliche Zuversicht ist dem modernen Geschichtsdenken ab-


handen gekommen, aber die Sicht auf die Zukunft als solche ist herr-
schend geblieben. Sie durchdringt alles europäische Denken und alle
Sorge um unsere Geschichte, um ihr Wozu und Wohin. Zugleich mit
dem Horizonte der Zukunft ist die Frage nach dem Sinn als Wozu
geblieben. Ein kurzer Hinweis auf Heideggers formal existentiale Ana-
lyse von Sinn und Geschichte mag dies verdeutlichen.
In Sein und Zeit (§ 32) wird Sinn zunächst als das bloße »als« des
etwas als etwas Verstehens bestimmt. Das Verstehen selbst ist aber,
ineins mit dem verstehenden Dasein, durch Vorhabe, Vorsicht und
Vorgriff charakterisiert. Die Vorstruktur des Verstehens gründet in
dem Sich-vorweg- und voraus-sein des existierenden Daseins, welches
eigentlich Sorge um sein Ganz-sein-können ist. Dieses verlangt ein
Vorlaufen zum zeitlichen Ende und Ziel der endlichen Existenz. Das
Dasein ist sich selbst voraussetzend und letzten Endes von der Ankunft
des Todes als seiner letzten Möglichkeit in Anspruch genommen. Der
Tod ist somit das weltliche eschaton des in der Welt existierenden
endlichen Daseins. Er ist die »oberste Autorität«, welche in Sein und
Zeit alle Explikationen leitet. Demgemäß ist auch »Sinn« ein durch
Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturiertes »woraufhin« des Ent-
wurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird (S. 151). Die
existentielle Aneignung des bevorstehenden Zieles und Endes macht
das Dasein ganz und erfüllt seinen endlichen Sinn. Seiendes, das nicht
von der Art des Daseins ist, ist ohne Sinn. Andererseits wird die Sinnfra-
ge als eine Frage des endlichen ln-der-Welt-seins begrenzt und von der
traditionellen, metaphysischen und theologischen Sinnfrage nach ei-
nem überweltlichen Grund und Ziel abgegrenzt.
Aus-der existentialen Struktur des In-der-Welt-Seins bestimmt sich
auch der Sinn von Welt in »Welt-Geschichte«. Geschichte ist Welt-
Geschichte, weil sie zunächst an dem erfahren wird, was innerweltlich
an Begebenheiten begegnet. Die »ursprüngliche« Geschichtlichkeit ist
dagegen im Dasein als solchem begründet, sofern es eigentlich existiert,
d. h. seine Endlichkeit und sein Ende vorweg übernimmt. »Das eigentli-
che Sein zum Tode ] ... ] ist der verborgene Grund der Geschichtlichkeit
des Daseins« (S. 386). Die entschlossene Übernahme der Endlichkeit
des Daseins konstituiert Geschichte und Schicksal im existentialen
5!nn. Die eigentliche Geschichtlicl,keit und ihr Sinn gründet in einem
Sich-entwerfen auf die Zukunft hin, von der her das Dasein, im »Au-
genblick« der Wahl und Entscheidung, auf seine geworfene Faktizität
Philosophie der Geschichte 135
134 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
such, die Daten und Ereignisse der biblischen Heilsgeschichte mit denen
zurückkommt, um sich die ererbten Möglichkeiten selbst zu überlie- der politischen Weltgeschichte zu koordinieren.
fern. Wenn also Voltaire »cornme historien et philosophe- spricht und
Infolge dieser eschatologischen Orientierung an etwas Letztem und im ausdrücklichen Gegensatz zu Bossuet seine Darstellung nicht mit der
Künftigem, das Ende und zugleich Sinn ist, war es möglich, daß ein Schöpfung, sondern mit der Zivilisation von China beginnt und die
christlicher Theologe wie Bultmann die formalen Begriffe der existen- Geschichte der Juden nicht mehr heilsgeschichtlich als die eines auser-
tialen Analyse des geschichtlichen Daseins auf die (existentiale) Inter- wählten Volkes behandelt, sondern profan, so will er damit polemisch
pretation der Eschatologie des Neuen Testaments anwenden konnte, sagen, daß er nicht mehr wie sein Vorgänger Theologie der Geschichte
um auch hier das »vulgäre« und »mythologische« Zeit- und Ge- schreibe, sondern profane Weltgeschichte. Die Philosophie der Ge-
schichtsverständnis auf ein »eigentliches« zu reduzieren. Ob eigentlich schichte ist von Anfang an anti-theologisch und als solche von der
oder uneigentlich, so bleibt doch in jedem Fall die Frage nach dem Sinn theologischen Fragestellung polemisch bedingt. Und weil Voltaire in I
von Geschichte eine Frage nach dem Wozu einer wie immer verstande- den politischen und kirchlichen Autoritäten, von denen Bossuets Ge-
nen Zukunft und somit ein Rest von christlicher Theologie innerhalb schichte handelt, die Erbfeinde eines vernünftigen Fortschritts sah,
einer nicht mehr christlichen Fragestellung. Der Rest von Theologie reduzierte sich ihm die Weltgeschichte ferner auf die Geschichte der
zeigt sich innerhalb der modernen Geschichtsphilosophie zunächst in Zivilisation. Als Geschichte einer fortschreitenden Zivilisation zu im-
negativer Weise: sie ist antitheologisch zustande gekommen und hat mer zivilisierteren Zuständen ist sie eine Wissenschaft dessen, was vom
zugleich die theologische Perspektive des Fortschritts zu einem über- Menschen ohne Offenbarung gewußt und gewollt werden kann. Des
weltlichen Ziel in der verweltlichten Form eines aufgeklärten Fort- Menschen Vernunft und Wille ersetzt in Voltaires Geschichtsbild die
schrittsglaubens übernommen. göttliche Vorsehung, an deren Leitfaden Bossuet die Geschichte der
Kirche und der politischen Reiche entwickelt hatte.
Diese kritische Wendung von der Theologie der Geschichte zur
Geschichtsphilosophie ist seit der Aufklärung auch im Bereich der
III kritisch-historischen Theologie zur Herrschaft gekommen und im libe-
ralen Protestantismus herrschend geblieben. Das Neue Testament wird
Im heutigen Verstande genommen ist die » Philosophie der Geschichte« seit hunderrfünfzig Jahren »entmythologisiert« und profangeschicht-
eine Hervorbringung des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie beginnt dem lich erklärt. Dieses Prinzip der Aufklärung hat sich auch Troeltsch zu
Namen wie der Sache nach mit Voltaires Essai sur /es moeurs et l'esprit eigen gemacht, wenn er die Theologie der Geschichte von Augustin bis
des nations (1756). Voltaires Schrift war als Fortsetzung und Widerle- Bossuet verwirft, weil sie infolge ihrer dogmatischen Bindung dem
gung von Bossuets Discours sur /'histoire universelle (1681), der letzten beweglichen Reichtum der »wirklichen« Geschichte nicht gerecht wer-
nach Augustins Muster verfaßten Theologie der Geschichte entworfen. den könne. Das eigentliche Geschichtsverständnis beginne mit Voltaire
Diese beginnt mit der Schöpfung der Welt, erörtert den Sündenfall als und Gibbon. Daß die Befreiung vom christlichen Dogma nicht schon
den eigentlichen Beginn einer menschlichen Geschichte, beschreibt so- :,0raussetzungslos macht, ist Troeltsch nicht bewußt geword~n. ~r
dann die verschiedenen Etappen des providentiellen Heilsgeschehens ubersieht, ebenso wie Croce und Dilthey, daß die moderne Histone
von Abraham bis Christus, um schließlich die Entstehung der Kirche ohne Offenbarung und Heilsgeschehen, ohne dogmatischen Anfang,
und der christlichen Reiche von Konstantin bis zu Karl dem Großen Mitte und Ende die nicht minder unkritische Voraussetzung macht von
darzustellen. Sie endet mit der Feststellung, daß die französische Mon- dem unbedingt;n Wert des geschichtlichen Prozesses als solchem. D'.e-
archic des 17. Jahrhunderts die legitime Fortsetzung der christlichen scr Glaube an die absolute Relevanz der Geschichte rein als solcher rst
Reichsgründung sei und die politische Aufgabe habe, das christliche für das völlig durchhistorisierte Denken des 19. Jahrhunderts ~ie ':letz-
Europa mit Hilfe der Kirche zu verteidigen. Die Kirche ist die Mitte des te Religion der Gehilderen« gewesen. In der antiken und chnSrhchen
Weltgeschehens. Seinem Hauptinhalt nach ist Bossuets Werk ein Ver· i,
lj'
136 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

Welt war die Erfahrung der Geschichte kosmologisch und theologisch


geordnet und begrenzt. Um den Zusammenhang sowie den Abstand zu
erkennen, der die Theologie der Geschichte mit der modernen Philoso-
phie der Geschichte verbindet und von ihr trennt, sei der Anfangs- und
Endpunkt der Entwicklung an Augustin und Hegel dargestellt.

Augustins Theologie des Heilsgeschehens

Der leitende Gesichtspunkt der christlichen Interpretation der Ge-


schichte ist die Zukunft als der Horizont einer letzten Erfüllung. Die
modernen Versuche, den weltgeschichtlichen Prozeß einheitlich als
einen sinnvoll gerichteten, wenn schon niemals abgeschlossenen, Fort-
schritt zu einem innerweltlichen Ziel - es sei vom Menschen gesetzt
oder in der Natur der Geschichte gelegen - zu verstehen, sind bedingt
durch ihre Herkunft aus dem Glauben an ein Heilsgeschehen. Eine
radikale Erprobung des christlichen Geschichtsbewußtseins kann sich
daher nicht in der Auseinandersetzung mit dem säkularisierten aber
nicht minder futuristischen Geschichtsbegriff der nachchristlichen Welt
vollziehen. Es muß imstande sein, eine vorchristliche Anschauung des
zeitlichen Geschehens zu widerlegen. Eine solche war noch lebendig zur
Zeit von Augustin in Gestalt der klassischen Anschauung der Zeit als
einer ziellosen, periodischen Kreisbewegung. In De Civitate Dei contra
Paganos hat Augustin den Versuch unternommen, die klassische Theo-
rie der Zeit- und Weltbewegung in einer Theologie der von Gott gelenk-
ten Menschengeschichte zu widerlegen 16• Mit diesem gänzlich verschie-
denen Ort der Widerlegung ist schon gegeben, dafs sie die klassische
Theorie nicht auf ihrem eigenen Boden antreffen kann. Augustin wider·
legt sie nicht theoretisch-kosmologisch, sondern praktisch moral-theo·
logisch. Dieser Mangel der Widerlegung ist unvermeidlich, weil es vorn
theoretischen Schauen zum gläubigen Vertrauen auf Unsichtbares kei-
nen vermittelten Übergang gibt. Selbst wenn die Theorie der Wieder·
kehr richtig wäre, sagt Augustin, wäre sie ein gottloser Wahnsinn und
für den Christen abscheulich. Denn innerhalb ihres Rahmens ist etwas
völlig Neues und für immer Entscheidendes - Gottes einmalige Offen·
barung in Christus - unmöglich und damit zugleich die künftige Selig·
5
keit des Menschen. Worauf es aber für den Menschen ankornrnt, i r

16 Gottesstaat, XII, 10 bis 13 und 17 bis 20; XI, 4 und 6.


Philosophie der G eschichte 13 7

ewige Verdammnis oder Erlösung. Die Selbsterneuerung der Natur im


natürlichen Kreislauf von Zeugung und Vergehen ist himmelweit ver-
schieden von der geistigen Wiedergeburt des gefallenen Menschen zu
einem neuen Leben in Christus. Die heidnische Theorie der Kreisbewe-
gung mag richtig sein oder falsch, sie ist »hoffnungslos« wie die Rota-
tion von Elend und relativem Wohlbefinden. Sie ist ohne Antwort auf
das Erlösungsverlangen. Die Kreisfigur überhaupt, für klassisches und
orientalisches Denken das Muster der Vollkommenheit, ist schon als
solche moralisch verwerflich, ein circ11/11s vitiosus11, wogegen der rech-
te Weg geradeaus zu einem Ziel führt, anstatt sich hoffnungslos im
Kreise drehend in den Anfang zurückzuführen. Einmalige Schöpfung
der Welt aus dem Nichts und Ewigkeit der Weltbewegung, eschaton
und Wiederkehr des Gleichen, Kreis und Kreuz, sie sind in der Tat so
unvereinbar wie die antike Bereitschaft zum Schicksal - »dern obersten
Begriff des abendländischen Heidentums« 18 - mit der christlichen
Pflicht zu hoffen im Glauben an den Erlösertod Christi.
Augustins Gottesstaat ist keine Geschichtsphilosophie, sondern ei-
ne dogmatische Auslegung des christlichen Glaubens im Bereich der
Weltgeschichte. Das Werk demonstriert die christliche Wahrheit am
Leitfaden des in der Heiligen Schrift geoffenbarten Heilsgeschehens
und nur in zweiter Linie auch innerhalb des profanen Weltgeschehens,
dessen Sinn jedoch ganz und gar abhängt von seinem providentiellen
Bezug auf das erstere. Der Gottesstaat ist auch nicht identisch mit der
sichtbaren Kirche, sondern eine mystische Gemeinschaft der Gläubi-
gen. Sofern die Kirche als eine geschichtliche Institution dieser Welt auf
Weltgeschichte bezogen ist, begnügt sich Augustin mit den Daten, die
schon Eusebius in seiner Kirchengeschichte gesammelt hatte. Die ei-
gentliche Geschichte des Gottesstaats ist die succcssio [idei, die Nach-
folge im Glauben, quer hindurch durch alles irdische Geschehen. Der
Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen durchkreuzt alle
weltlichen Geschehnisse. Abraham, Moses und Christus bezeichnen
zwar in ihrer Weise eine fortschreitende Geschichte des Glaubens, die
ganze Zwischenzeit aber zwischen der ersten und zweiten Ankunft
Christi ist nicht gegliedert in sinnvolle Entwicklungsstadien einer
»christlichen Geschichtc«. Die Zwischenzeit ist einfach die »letzte
r _Nach Nietzsche h:it 0. Wrininger das christliche Argument gegen den
_ rti~lauf wieder zur Geltung gebracht. Über die letzten Dinge, Wien 1907,
-~. 9S ff.
18 Th. Haecker, Der Christ und die Geschichte, Leipzig 1935, S. 122.
138 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

Zeit«, und was in ihr weltlich geschieht, ist bedeutungslos im Verhältnis


zu der einzig entscheidenden Frage, ob wir, in der kurzen Spanne
unseres weltlichen Lebens, die frohe Botschaft von der Erlösung anneh-
men oder nicht annehmen. Als Glaube an Christus hat das Christentum
keine Geschichte. Die Aufgabe der Kirche ist es, die Wahrheit, welche
Christus einmal für immer ist, zu verkünden und zu verbreiten, aber
nicht eine christliche Welt geschichtlich zu bereiten. Wir leben zwar seit
Christus in einer christlichen Zeit, aber nur insofern als sie die letzte vor
dem Gericht ist, gleichgültig wie lange es bis zur vollen Erfüllung der
mit Christus bereits erfüllten Zeit dauern wird. Augustin enthält sich
aller apokalyptischen und chiliastischen Spekulationen, aber nicht weil
er sie für widersinnig hielt, sondern weil sie Gottes Beschluß unfrornm
vorwegnehmen würden.
Profane Weltgeschichte und überweltliches Ziel sind in Augustins
Darstellung des procursus der civitas terrena und Dei grundsätzlich
getrennt, obgleich sie sich manchmal begegnen, und nur dadurch auch
aufeinander bezogen, daß die christliche Existenz eine »Pilgerschaft«
durch dieses saeculum ist. Demgemäß ist auch Augustins Urteil über
das römische Weltreich, dessen Bürger er war und dessen Bildung er in
sich aufgenommen, vollkommen frei von der Tendenz anderer christli-
cher Apologeten, Rom und das Ereignis des Christentums aufeinander
abzustimmen. Er beurteilt die römische Geschichte mit einer auffallen-
den Nüchternheit und Abständigkeit. Er verwirft die traditionelle Aus-
deutung Roms als des vierten Reichs von Daniels Prophezeiung, weil er
prinzipiell jede politische Theologie verneint. Persönlich glaubte er
trotz der barbarischen Invasionen an den Fortbestand Roms, doch
nicht an seine providenticlle Ewigkeit. Anstatt mit vielen seiner christli-
chen Zeitgenossen die urbs zu einer heiligen Größe zu erheben und mit
dem orbis Romanus gleichzusetzen, weist Augustin darauf hin, daß die
barbarischen Invasionen die östliche Hauptstadt des Reiches, Konstan·
tinopel, gar nicht berührt haben. Die Ironic der 105. Predigt ist gegen
den heidnischen wie christlichen Aberglauben gerichtet, als versammle
sich das Heil der Welt in Rom. Desgleichen sind die ersten zehn Bücher
des Gottesstaats eine absichtsvolle Herabsetzung des traditionellen
Stolzes heidnischer wie christlicher Römer.
Die wahre weltgeschichtliche Funktion des römischen Imperiums
5t
besteht nach Augustin in der Bewahrung des Friedens, damit die chri ·
liehe Botschaft .ungehindert verbreitet werden kann. Vorausgesetzt,
daß eine weltliche Herrschaft nicht zur Gottlosigkeit und Ungerechtig·
Philosophie der Geschichte 13 9

keit zwingt, ist es für den Christen gleichgültig, unter welcher Herr-
schaft er lebt, zumal sein Leben in jedem Fall das flüchtige eines Sterbli-
chen ist. Reiche, welche die Lebensdauer der Menschen um ein weniges
überdauern, sind nicht minder sterblich und vorübergehend. Sie sind
weder von Natur aus gerecht noch ein Werk des Teufels. Ihr Ursprung
ist des Menschen Sünde und ihr relativer Wert die Pflege der Gerechtig-
keit.
Innerhalb des theologischen Schemas von übergeschichtlicher
Schöpfung, Sündenfall, Menschwerdung Gottes, Gericht und Erlösung
ist die Weltgeschichte als solche ohne einen ihr eigenen Sinn, und nur
innerhalb des Heilsplans der Schöpfung tritt das profane Geschehen
überhaupt in den Gesichtskreis von Augustin. Dementsprechend han-
deln auch nur vier Bücher der zweiundzwanzig des Gottesstaats einiger-
maßen von dem, was wir Geschichte zu nennen pflegen. Ihren Sinn
empfängt sie von der theologischen Vor- und Nachgeschichte. Der eine
Gott, als Schöpfer der Welt und des Menschen, vereinigt im Hinblick
auf einen letzten Zweck eine Auswahl von vorgesehenen Geschehnissen
zu einem einheitlichen Heilsplan des Menschengeschlechts. Die Ge-
schichte ist insofern im strengen Sinn Universalgeschichte. Weil aber
der Mensch von Gott abfiel, ist, was geschieht, eine Geschichte des
Konflikts zwischen dem Willen Gottes und dem Eigenwillen des Men-
schen. Alle Rätsel der Geschichte gehen zurück auf diesen zweifachen
Willen und die Scheidung der Geister in Kinder des Lichts und der
finsternis.
Die Möglichkeit einer menschlichen Geschichte überhaupt ent-
springt dem Aufstand und Fall des ersten Menschen. Der Ursprung der
civitas terrena insbesondere ist Kains Brudermord, wogegen die civitas
Dei auf Abel zurückgeht. Die beiden civitates und ihre Repräsentanten
sind allegorisch zu verstehen. Kain, der Mörder, ist der Bürger und
!nsasse dieses saeculum und der Begründer aller weltlichen Reiche. Abel
1~t kein Bürger, Insasse und Begründer, sondern ein peregrinans zu
emem überweltlichen Ziel. Zwar müssen die Nachkommen Abels in-
nerhalb dieses saeculum mit in der Gemeinschaft von Kain leben, aber
sie sind in der Welt, ohne von ihr zu sein, sie sind keine Inwohner des
Reiches von Kain. Abel durchwandert es nur, wie Bunyans Pilger,
dessen fortschritt (»The Pilgrim's Progress«) ein procursus in der Heili-
!l'
~ung und Enrweltlichung ist. Die civitas terrena ist von Vorteilssucht,
5t0lz und Ehrgeiz beherrscht; die civitas Dei von Aufopferung, Gehor-
sam und Demut gelenkt. Die eine ist Eitelkeit, die andere Wahrheit. Die

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Philosophie der Geschichte 141
140 Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Modeme Philosophen und Theologen sind geneigt zu beanstanden,
civitas terrena lebt von natürlicher Zeugung, die civitas Dei von über- daß Augustins Skizze des Weltgeschehens der schwächste Teil seines
natürlicher Wiedergeburt; die eine ist sterblich, die andere unsterblich. W~rkes sei, weil er den innerweltlichen Wirkungszusammenhängen
Die civitas terrena ist bestimmt von der Liebe zu sich selbst, bis zur keme Beachtung schenkte. Es ist aber gerade dieser Mangel an Interesse
Verachtung Gottes; die civitas Dei von der Liebe zu Gott, bis zur und die Unbestimmtheit der Zuordnung des offensichtlichen Weltge-
Verachtung des Selbst. Die einen betrachten ihre Abgötter als ein Mit- schehens zum verborgenen Heilsgeschehen, die Augustins Werk positiv
tel, sich der Welt zu freuen, die andern betrachten ihre irdische Existenz auszeichnen, gegenüber Bossuets viel bestimmterer Zuordnung und
als ein Mittel, sich Gottes zu erfreuen. Die Geschichte im Ganzen ist ein e_rst recht gegenüber Hegels Anmaßung, den göttlichen Plan systema-
dauernder und sich zunehmend verschärfender Konflikt zwischen tisch einzusehen und Gott aus der Weltgeschichte zu rechtfertigen.
Glaube und Unglaube. Der geschichtliche Prozeß als solcher zeigt nur Vorausgesetzt, daß Gott überhaupt existiert und in der Geschichte der
die hoffnungslose Aufeinanderfolge und das Verschwinden der Genera- Menschen handelt, so läßt sich sein Handeln gewiß nicht systematisch
tionen und eine »endlose Mannigfaltigkeit betrunkener Vergnü- abhandeln und seine Vorsehung nachträglich vorhersehen. Bossuet und
gungen«. Hegel beweisen beide zu viel, indem sie aus den Folgen und faktischen
Augustins Theologie der Geschichte ist also keine Rechtfertigung Erfolgen des Geschehens einen sinnvollen Prozeß der Erfüllung eines
Gottes in der Geschichte, es sei denn, man verstünde darunter die Endzwecks deduzieren. Was uns bei Augustin als eine allzu geringe
fragmentarische und unausdenkbare Spiegelung des Heilsgeschehens Schätzung der Geschichte erscheint, ist nur die negative Kehrseite seiner
im Material der Weltgeschichte. Die Geschichte selbst bleibt für das positiven Anerkennung der unbedingten Herrschaft des göttlichen Wil-
christliche Verständnis grundsätzlich von Gott geschieden, weil sich der le_ns, welcher frei ist, die menschlichen Bestrebungen zu fördern, zu
Mensch selbst von Gott getrennt hat. Andererseits durchkreuzt und hindern und in das Gegenteil ihrer Absichten zu verkehren.
verkehrt Gottes Wille und Vorsehung die Vorhaben des Menschen. Er
gibt weltliche Macht Frommen sowohl wie Gottlosen und der Mensch
ist außerstande, die göttliche Erziehung des Menschengeschlechts, vor- Hegels Philosophie der Weltgeschichte
züglich durch Leiden, einzusehen und vernünftig auszulegen.
In der Einleitung zur Philosophie der Geschichte beschreibt Hegel die
Auf der Grundlage dieser theologischen Voraussetzungen unter-
Welt der Geschichte, wie sie »auf den ersten Blick« erscheint:
scheidet Augustin sechs Geschichtsepochen entsprechend den sechs
Tagen der Schöpfung. Die sechste ist die schlechthin letzte zwischen »Wenn wir nun einen Blick auf die Welt überhaupt werfen, so
Christi Kreuzestod und Auferstehung und seinem Wiederkommen. sehen wir ein ungeheures Gemälde von Veränderungen und Taten,
Nebenher geht eine Einteilung in drei Epochen nach Maßgabe des Von unendlich mannigfaltigen Gestaltungen von Völkern, Staaten,
geistlichen Fortschritts: vor elem Gesetz (Kindheit), unter dem Gesetz Individuen, in rastloser Aufeinanderfolge[ ... ] In allen diesen Bege-
(Mannesalter) und unter der Gnade (Alter der Weisheit == mundus benheiten und Zufällen sehen wir menschliches Tun und Leiden
senescens, analog Hegels »Greisenalter des Geistes«). Entsprechend ob_enauf, überall Unsriges [ ... ] Bald zieht es durch Schönheit, Frei-
seinem christlichen Anliegen enthält Augustins Werk keine konkrete heit und Reichtum an, bald durch Energie, wodurch selbst das
Deutung profanen Geschehens. Nur zwei Reiche repräsentieren die Laster sich bedeutend zu machen weiß. Bald sehen wir die umfassen-
Weltgeschichte: das der Assyrer im Osten und das der Römer im dere Masse eines allgemeinen Interesses sich schwerer fortbewegen
Westen - eine Vorwegnahme von Hegels These, daß sich die sinnvolle ~nd einer unendlichen Komplexion kleiner Verhältnisse preisgege-
Weltgeschichte von Osten nach Westen bewege. Ägypten, Griechen- en und zerstäuben, dann aus ungeheurem Aufgebot von Kräften
land und Mazedonien werden kaum erwähnt, und Alexander der Gro- Kl·eines hervorgebracht werden, aus unbedeutend Scheinendem Un-
ße figuriert nur als ein großer Räuber, der aus gottloser Ruhmsucht den geheures hervorgehen [ ... ], und wenn das Eine entflieht, tritt das
Tempel Jerusalems profanierte. Jerusalem repräsentiert die civitas Dei, Andere sogleich an seine Stelle. Der allgemeine Gedanke, die Kate-
Babylon und Rom (das zweite Babylon) die civitas terrena.
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142 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

gorie, die sich bei diesem ruhelosen Wechsel der Individuen und
Völker [ ... ] zunächst darbietet, ist die Veränderung überhaupt.
Diese Veränderung von ihrer negativen Seite aufzufassen, dazu
führt näher der Anblick von den Ruinen einer vormaligen Herrlich-
keit. Welcher Reisende ist nicht unter den Ruinen von Karthago,
Palmyra, Persepolis, Rom, zu Betrachtungen über die Vergänglich-
keit der Reiche und Menschen, zur Trauer über ein ehemaliges
kraftvolles und reiches Leben veranlaßt worden? [ ... ] Die nächste
Bestimmung aber, welche sich an die Veränderung anknüpft, ist,
daß die Veränderung, welche Untergang ist, zugleich Hervorgehen
eines neuen Lebens ist, daß aus dem Leben Tod, aber aus dem Tod
Leben hervorgeht.«19
Die Quellen alles geschichtlichen Handelns und Erleidens sind Leiden-
schaften und Interessen, »wobei die Selbstsucht das Gewaltigste ist«.
Die Geschichte geschieht ohne Rücksicht auf Gesetz, Recht und Mora-
lität.
» Wenn wir dieses Schauspiel der Leidenschaften betrachten und

die Folgen ihrer Gewalttätigkeit, des Unverstandes erblicken, der


sich nicht nur zu ihnen, sondern selbst auch, und sogar vornehmlich
zu dem, was gute Absichten, rechtliche Zwecke sind, gesellt, wenn
wir daraus das Übel, das Böse, den Untergang der blühendsten
Reiche, die der Menschengeist hervorgebracht hat, sehen; so kön-
nen wir nur mit Trauer über diese Vergänglichkeit überhaupt erfüllt
werden, und indem dieses Untergehen nicht nur ein Werk der Natur,
sondern des Willens der Menschen ist, mit einer moralischen Be-
trübnis, mit einer Empörung des guten Geistes, wenn ein solcher in
uns ist, über solches Schauspiel enden. Man kann jene Erfolge ohne
rednerische Übertreibung, bloß mit richtiger Zusammenstellung des
Unglücks, das das Herrlichste an Völkern und Staatengestaltungen,
wie an Privattugenden erlitten hat, zu dem furchtbarsten Gemälde
erheben, und ebenso damit die Empfindung zur tiefsten, ratlosesten
Trauer steigern, welcher kein versöhnendes Resultat das Gegenge-
wicht hält, und gegen die wir uns etwa nur dadurch befestigen, oder
dadurch aus ihr heraustreten, indem wir denken: es ist nun einmal
so gewesen; es ist ein Schicksal; es ist nichts daran zu ändern [. · .]
Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrach·

19 Hegel, Werhe IX (3. Aufl.), S. 89 £.


Philosophie der G eschichte 143

ten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten, und
die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht werden, so entsteht
dem Gedanken notwendig auch die Frage, welchem Endzweck diese
ungeheuersten Opfer gebracht worden sind.e-?
Wir alle kennen, oder kennen doch wieder, dieses »Panorarna von
Sünde und Leiden«, welches die Geschichte ausbreitet. Es ist dasselbe,
welches Burckhardt im Blick hat, wenn er sich gegen Hegel wendet, und
welches Goethe beschreibt. »Geschichte«, heißt es einmal bei ihm, »ist
ein Gewebe von Unsinn für den höheren Denker.« Was sich im ganzen
beobachten lasse, schreibt er an Schiller mit Bezug auf Napoleon, an
dem sich auch Hegels Geschichtserfahrung gebildet hat, sei »der unge-
heure Anblick von Bächen und Strömen, die sich, nach Naturnotwen-
digkeit, von vielen Höhen und aus vielen Tälern gegeneinander stürzen
und endlich das übersteigen eines großen Flusses und eine Über-
schwemmung veranlassen, in der zugrunde geht, wer sie vorgesehen hat
so gut als der sie Nichtahnende. Man sieht in dieser ungeheuren Empirie
nichts als Natur und nichts von dem, was wir Philosophen so gern
Freiheit nennen möchten«21• Wir begegnen demselben Bilde der Ge-
schichte in Thomas Hardys epischem Drama der napoleonischen Krie-
ge. Die Frage drängt sich auf, ob diese so erfahrene Geschichte nicht in
der Tat schon alles ist, was sich über sie sagen läßt. Weshalb sollte man
hier nicht haltmachen, anstatt mit Hegel weiterzugehen und zu fragen:
Wozu, zu welchem Endzweck das alles geschehe und wofür all diese
Opfer gebracht werden? Diese Frage glaubte Hegel nicht nur stellen zu
müssen, sondern auch beantworten zu können, indem er den christli-
chen Vorsehungsglauben verweltlichte und das Heilsgeschehen weltge-
schichtlich auslegte. Er behauptet, daß sich die Frage nach dem Wozu
notwendig »in unserm Denken« erhebe. Und nachdem er den ersten
Anblick der Geschichte beschrieben hat, wonach Tod und Leben immer
Wieder auseinander hervorgehen, fährt er fort, daß dies eine »oricntali-
sche« Vorstellung sei, die sich eigentlich auf die Natur beziehe. » Für
uns« dagegen sei Geschichte ein Geschehen des Geistes, zwar auch sich
~elbst verzehrend, und dabei erneuernd, aber nicht naturhaft-period-
isch. In der Geschichte des Geistes gehe das Leben nicht als dasselbe neu
te-~vor, sondern auf jeder neuen Entwicklungsstufe »erhöht und ver-
lart«. Der Naturbegriff der Veriinderung im Sinne des bloßen Wech-

~~ H~gel, \\'~er~e IX, S. 26 f. ..


Brief an Schiller vnrn 9. März 1802; vgl. Gesprdche I, S. 494 f.
144 Weltgeschichte und Heilsgeschchen

sels verwandelt sich im Bereich des Geistes und der Geschichte im Sinne
des Fortschritts zu stets vollkommeneren Formen. Der Geschichtspro-
zeß zielt auf Erfüllung.
Es ist klar, nicht nur bei Hegel, sondern genau so bei Comte, Marx
und den Geschichtstheorien der Aufklärung, daß dieser am Fortschritt
zu einem Ziel orientierte Begriff der Geschichte nicht nur insofern
»unserer« ist als er westlich ist, sondern christlich. Er stammt letzten
Endes ab von der Erwartung eines Reiches Gottes. Gelegentlich nennt
Hegel selbst das Ziel seines ganzen Bestrebens die »Herbeiführung des
Reiches Gottes«22• Dementsprechend identifiziert er auch die »Ver-
nunft«, mittels der Ableitung von Vernehmen, mit dem was man
»Glauben« nennt. Daß die absolute Vernunft die geschichtliche Welt
regiere, scheint ihm so evident wie daß die philosophische Vernunft des
Menschen den Plan der Vorsehung einsehen könne. Der Mangel des
religiösen Vorsehungsglaubens sei jedoch, daß er zu partikular und
zugleich zu unbestimmt ist. Der allgemeine Plan der Vorsehung gilt dem
Frommen als uneinsichtig und nur in besonderen persönlichen Lagen,
etwa wenn in einer besonderen Not unerwartete Hilfe kommt, wird er
gemeinhin in Anspruch genommen. In der Weltgeschichte handelt es
sich aber nicht um die kleinlichen Nöte privater Individuen, sondern
um Völker und Staaten. Man kann sich deshalb nicht mit einer solchen
»Kleinkrärnerei des Glaubens« begnügen. Die Vorsehung muß sich im
Ganzen der Weltgeschichte ausweisen lassen, und zwar im einzelnen
ihrer großen Schritte. »Der Plan der Vorsehung muß erkannt werden.«
Im Gegensatz zur Reflexion der frommen Sentimentalität und der
begriffslosen Empirie ist es die Aufgabe der Geschichtsphilosophie, das
Prinzip zu entfalten, das alle Veränderungen der Geschichte durch·
dringt. Indern die Philosophie die »Augen der Vernunft« mitbringt und
mit Vernunft in die Welt sieht, erkennt sie, zwar nicht in allen einzelnen
zufälligen Existenzen, aber im großen und ganzen, den vernünftigen
Inhalt der Weltgeschichte. Ihre Vernunft besteht darin, daß sie ein
beständiger Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit ist, durch den sich
die Freiheit zu einer Welt hervorbringt. Diesen Prozeß hat Hegel von
der orientalischen Welt über die griechisch-römische bis zur christlich·
germanischen als zielvoll gerichtet begriffen. Die Philosophie der Ge·
schichte rechtfertigt den von den Theologen unbegriffenen Vorse·
hungsglauben.

22 Briefe von und an Hegel, s. 13.


Philosophie der Geschichte 145

» Unsere Erkenntnis geht darauf, die Einsicht zu gewinnen, daß


das von der ewigen Weisheit Bezweckte, wie auf dem Boden der
Natur, so auf dem Boden des in der Welt wirklichen und tätigen
Geistes, herausgekommen ist. Unsere Betrachtung ist insofern eine
Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz metaphy-
sisch auf seine Weise in noch unbestimmten, abstrakten Kategorien
versucht hat, so daß das übel in der Welt begriffen, der denkende
Geist mit dem Bösen versöhnt werden sollte. In der Tat liegt nir-
gends eine größere Aufforderung zu solcher versöhnenden Erkennt-
23
nis als in der Weltgeschichte.«
Wie verhält sich nun aber diese vernünftig gelenkte Weltgeschichte
zu ihrem ersten, unvernünftigen Anblick? Um die scheinbare Unver-
nunft der Geschichte mit ihrer verborgenen Vernünftigkeit zusammen-
zubringen, bedient sich Hegel der »List der Vernunft«, welche der
Schlüsselbegriff seiner philosophischen Theodizee ist. Die Vernunft ist
listig, weil sie, wie die göttliche Vorsehung, es besser weiß als die
Menschen selbst, was diese eigentlich wollen müssen. Ohne und wider
das Wissen und Wollen der Menschen, gleichsam hinter ihrem Rücken,
vollbringt die List der Vernunft ihren Zweck mittels der individuellen
Leidenschaften und Absichten der Handelnden. Die Handelnden sind,
je mehr sie geschichtlich handeln, bloße Agenten eines sie treibenden
Willens und Geistes, des Weltgeistes der Weltgeschichte. Darum gehört
es zum Wesen der Geschichte, daß die Ergebnisse geschichtlicher Aktio-
nen immer etwas anderes sind als das von den Akteuren bewußterma-
ßen Gewollte. Cäsar und Napoleon wußten nicht und konnten nicht
wissen, was sie eigentlich taten, als sie ihre Herrschaft befestigten. Als
"?eschäftsträger des Weltgeistes« dienten sie unwissentlich einem
nicht eigenen Ziel der Geschichte des Westens. Die Freiheit ihrer Ent-
schlüsse ist nur scheinbar Willkür und in Wahrheit ein Wollen-Müssen.
~ie verfolgen blindlings ein eigenes Ziel, aber so, daß sie im Verfolgen
1hres Zwecks von einer darübergreifenden Notwendigkeit getrieben
Werden. Der allgemeine weltgeschichtliche Zweck und die besondere
Absicht treffen sich in dieser Dialektik der leidenschaftlichen Handlung
?eschichtlicher Individuen. Sie vollbringen, was mit ihnen beabsichtigt
ist, und handeln, indem sie gehandhabt werden, von der List der Ver-
n~nft, welche die philosophisch begriffene Macht der Vorsehung ist.
On die Menge der einzelnen Individuen der Stunde des Weltgeistes

~):1 Hegel, \Y,'erke IX, S. 20.


146 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

gehorcht oder ihr moralisch widerstrebt, macht, nach Hegel, keinen


wesentlichen Unterschied aus. Beide Parteien bewegen sich im Umkreis
24
der W eltgeschichte, dieses »unwiderstehlichen Avanceriesen« • Er ist
so unwiderstehlich wie der Wille Gottes und das antike Fatum, welches
den führt, der ihm gehorcht und den mit hineinzieht, der ihm wider-
strebt-".
Die innere Grenze der klassischen Welt war jedoch, daß sie sich
noch abhängig wußte von einem äußeren Fatum, das sie durch Divina-
tion zu ergründen suchte, um ihre Entschlüsse danach zu bestimmen.
Das Christentum ist der Antike überlegen, weil es den Menschen von
jeder bloß äußeren Autorität befreit hat. Es hat den Menschen in ein
eigenes Verhältnis zum Absoluten gesetzt. Der Christ kann sich mit
Gottes Willen frei vereinigen, weil der christliche Gott wahrhaft Geist
und zugleich J'vlcnsch ist. Mit Christus ist die Zeit im Prinzip erfüllt und
das wahre Bewegungsgesetz der geschichtlichen Welt gefunden. Mit der
Entfaltung dieses Prinzips ist die Erde umschifft und für den Europäer
rund geworden. Alle sinnvolle und begreifbare Geschichte bewegt sich
zu diesem neuen christlichen Anfang hin und von ihm aus, als ein
Geschehen, das nicht bloß äußerlich konventionell, sondern zuinnerst
und wesentlich vor und nach Christus ist. Nur auf der Grundlage dieser
Voraussetzung des Christentums als der absoluten, wahren Religion
vermochte Hegel die Geschichte der Welt sinnvoll und systematisch zu
konstruieren, von China bis zur Französischen Revolution, als eine
Geschichte ziel voller Sinnerfüllung. Er ist der letzte Philosoph der Ge-
schichte, weil er der letzte philosophische Theologe ist, dessen histori-
scher Sinn bei aller Weite und Tiefe noch umfaßt und gebändigt war
von der christlichen Überlieferung, die ihm ein universales Prinzip und
ein letztes Ziel zur Verfügung stellte. Dagegen sind unsere grenzenlos
vergleichenden »Universalgeschichten« ein lucus a non /ucendo, denn
es fehlt ihrer materiellen Ausbreitung ein Einheit gebendes Prinzip der
sinnvollen Organisation. Ein solches bestand für Augustin im Heilsge·
schehen und für Hegel im Weltgeschehen. Mit der Auflösung des neu-
zeitlichen Glaubens an den vernünftigen Fortschritt ist die Säkularisa·
tion der christlichen Eschatologie zu Ende gekommen und die Philoso-
phic der Geschichte hat, zusammen mit ihren theologischen Vorausset·
zungen, auch ihren »vernünftigen« Boden verloren.
24 Hri~fe von und an ! lege I, S. 401 f.
25 ~gl. Augustin, Gottesstaat V, I und 8, über die teilweise Übereinstimmung
von Fatum und Vorsehung im heidnischen und christlichen Glauben.
Philosophie der Geschichte 147

Was Hegel von Augustin grundsätzlich scheidet, ist, daß er die


christliche Religion spekulativ im Hinblick auf ihre Verweltlichung
ausdeutet, sie überhaupt nicht als Glaube versteht, sondern als welt-
geschichtliche Religion. Der in der Geschichte entfaltete Prozeß ist nur
die Manifestation der Religion »als menschlicher Vernunft«, die Her-
vorbringung des religiösen Prinzips in der Form »weltlicher Freiheit«.
Dementsprechend beschließt Hegel das Kapitel über das Aufkommen
des Christentums mit der grotesken Behauptung, daß es das Mißver-
hältnis zwischen dem inneren Leben und der äußeren Welt beseitigt
habe und er folgert daraus, daß um dieser Versöhnung willen alle Opfer
der Geschichte gerechtfertigt sind. Als Verwirklichung des Geistes des
26
Christentums -über den der junge Hegel ganz anders gedacht hatte -
ist die Geschichte der Welt eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes
in der Geschichte, während die Antike den Logos nur im natürlichen
Kosmos entdeckt hat. Mit dieser Säkularisierung des christlichen Glau-
bens oder, wie Hegel selbst sagen würde: mit dieser Verwirklichung des
Geistes in der Geschichte, glaubte er, dem »Ceist« des Christentums
treu geblieben zu sein und das Reich Gottes zu verwirklichen. Und weil
er infolge dieser Verweltlichung die christliche Erwartung einer letzten
Erfüllung in einem Jüngsten Gericht in den historischen Prozeß als
solchen verlegte, konnte er die Weltgeschichte endgeschichtlich kon-
struieren und in ihr selbst schon das » Weltgericht« sehen.
Hegel ist sich der tiefen Zweideutigkeit seines großen Versuchs, das
Heilsgeschehen endgültig in Weltgeschichte zu übersetzen und die Au-
gen des Glaubens in die der Vernunft, nicht bewußt gewesen. Er emp-
fand keine Schwierigkeit, die » Idee der Freiheit- dem » Willen Gottes«
gleichzusetzen, denn er wußte sich als ein » Priester des Absoluten« und
»von Gott dazu verdammt ein Philosoph zu sein«. Als solcher glaubte
er, den Plan der Weltgeschichte zu wissen, nicht als ein Prophet künfti-
gen Unheils, sondern als ein umgekehrter Prophet, der die Wege des
Geistes nach Maßgabe ihrer geschichtlichen Folgen und Erfolge recht-
fertigt.
Es würde allzu billig sein, Hegels philosophische Konstruktion,
hundert Jahre nach ihm, mit Berufung auf unsere materiell erweiterte
historische Sicht widerlegen zu wollen. Die eigentlich geschichtliche
Welt war für ihn noch Europa als christlicher Okzident. Das Geschehen I,
I
I
I:,,
26 Siehe vom Verf. Von Hegel bis '.-J.ietzsche, Zürich 1941, S. 219 ff. (Sämtliche 1,

Scb·iften 4, S. 209 ff.).


[.
I.
I
148 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

im Osten sowie in Amerika und Rußland, denen er nur wenige Seiten,


obschon von hervorragendem Weitblick, widmete, waren eben erst an
den Horizont des europäischen Geschichtsbewußtseins getreten. Hegel
sah noch nicht, wie später Tocqueville und Marx, die revolutionären
Folgen der Demokratie und der technisch-industriellen Machtentfal-
tung und die damit gegebenen Möglichkeiten weltgeschichtlicher Ver-
änderungen. Immerhin erwog er schon, daß der Weltgeist aus Europa
ausziehen könnte. Und wie sollte er dies auch nicht bedacht haben,
nachdem er selbst die gedankliche Arbeit von zweiundeinhalb Jahrtau-
senden bewußtermaßen vollendet und damit beendet hatte.
Wichtiger als die inhaltliche Grenze seines Geschichtsbilds ist die
innere Unmöglichkeit seines Prinzips: daß die christliche Religion sich
verwirkliche in der Geschichte der Welt - als ob das Christentum
wirklich sei ohne den Glauben an Christus und als ob der Glaube je
»wirklich« werden könne ohne aufzuhören ein Glaube zu sein, d. h.
eine »gewisse Zuversicht dessen was man hofft«, obwohl man es nicht
in der Wirklichkeit sieht. Hegel hat das Unmögliche unternommen, die
Zuversicht des Glaubens in eine vernünftige Ansicht zu verwandeln.
Das Ergebnis ist ein so vernünftiger Anblick der Welt, wie er sich in der
Bibel und in den Kirchenvätern nicht findet. Die Propheten des Alten
Testaments glaubten fest an die göttliche Lenkung des auserwählten
Volkes, nicht aufgrund, sondern entgegen aller weltgeschichtlichen
Evidenz, und das Neue Testament ist ein einziger Verzicht auf die
Maßstäbe der Welt. Die Geschichte von der Sintflut, dieses größten
Ereignisses des Menschengeschlechts, erzählt, wie Gott, als er sah, daß
der Mensch die Erde mit Bosheit füllte, bereute, den Menschen geschaf-
fen zu haben und beschloß, das ganze Menschengeschlecht zu vertilgen
-mit Ausnahme eines winzigen Restes von Gottesfürchtigen. Was kann
diese Geschichte anderes lehren als das radikale Mißverhältnis zwi-
schen Weltgeschichte und Heilsgeschehen? Desgleichen baut das in
Christus ereignete Heilsgeschehen die Weltgeschichte nicht auf, als eine
neue, »christliche Geschichte«, sondern ab. Das Reich Gottes erfüllt
zwar in gewisser Weise den Sinn dieser Welt, aber gegen sie. Diese
fundamentale Diskrepanz zwischen Heilsgeschehen und Weltgeschich-
te, wobei der Beginn der ersteren auch schon das Ende der letzteren ist,
hat Hegel infolge seiner prinzipiellen Tendenz zur Vermittlung und zur
Versöhnung so völlig verkannt, daß er es wagen konnte, beide in eins zu
setzen, das Heil herabsetzend, die Welt erhöhend und beide nivellie-
rend. Hegels Weltgeschichte ist weder heilig noch profan, sondern
Das moderne Geschichtsdenken 149

beides zugleich, bzw. keins von beiden. Sie läßt den Willen Gottes im
Weltgeist und in den Volksgeistern ohne Rest aufgehen.
Unter Hegels Schülern hat Feuerbach die absolute Zweideutigkeit
von Hegels Position am deutlichsten empfunden und ausgesprochen.
» Die Hegelsche Philosophie ist der letzte großartige Versuch, das verlo-
rene, untergegangene Christentum durch die Philosophie wieder herzu-
stellen, und zwar dadurch, <laß, wie überhaupt in <ler neuen Zeit, <lie
Negation des Christentums mit dem Christentum selbst identifiziert
wird. Die viclgepriesene spekulative Identität [ ... ] des Göttlichen und
Menschlichen ist nichts weiter als der unselige Widerspruch der neue-
ren Zeit: die Identität von Glaube und Unglaube, Theologie und Phi-
losophie, Religion und Atheismus Christentum und Heidentum 27
auf
se_inem höchsten Gipfel, auf dem G'ipfel der Metaphysik.« Marx und
Kierkegaard haben aus Hegels Vergöttlichung der Geschichte enrge-
?engesetzte aber zusammengehörige Konsequenzen gezogen. Marx,
'.n<lem er alles auf die Weltlichkeit der Geschichte setzte, Kierkegaard,
indem er am Schluß seiner Zeitkritik erklärt, daß alle weltgeschichtliche
Spekulation ein Zeitvertreib sei wie das Kartenspiel. Wollte er doch
zu~ Zweck <ler christlichen Nachfolge »die achtzehnhundert Jahre
(~wischen ihm und Christi Verkündigung) fortschaffen als habe es sie
nicht gegeben«.

IV

ger al~gemeinste Grund der Zweideutigkeit von Hegels Philosophie der


eschichte liegt hm Faktum der Säkularisierung. Die Verweltlichung
christlicher Begriffe und Vorstellungen hat als Verweltlichung unweltli-
eher
D' U rsprunge·· notwendig ein Doppelgesicht, nach Her k un ftun d z·ie 1 ·
. rese Zweideutigkeit nach fremder Herkunft und eigenem Ziel birgt in
~hich eine Dialektik der Geschichte· es scheint ihr »Gesetz« - vielleicht
I r einziges
' '
- zu sein, daß im Fortgang des Geschehens stets etwas
~:d~res herauskommt, als ursprünglich gewollt war. Beide Thesen
durfen noch einer kurzen Erörterung.
Wenn wir im Vorhergehenden behaupteten, daß unser modernes
welt_geschichtliches Denken <lern Glauben an ein Heilsgeschehen im
zwe1fa c h en oinne
<
,.. ·
Jc5 Wortes »entspringt«, so meinten · d amtt· me
wir · ht

27 Grw1dsatze
.. der Philosophie der Z11k11nft, § 21.
150 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

mehr und nicht weniger, als daß nicht die klassische Tradition, sondern
die biblische Überlieferung den Ausblick in die Zukunft eröffnet hat als
den Horizont einer künftigen Sinnerfüllung - zuerst jenseits und
schließlich innerhalb der geschichtlichen Existenz. Nur im Umkreis des
heilsgeschichtlichen Rahmens sind solche Philosophien der Geschichte
wie die von Condorcet und Turgot, Hegel und Comte, Marx und
Proudhon überhaupt möglich, während sie innerhalb eines klassischen
Rahmens unmöglich sind. Infolge der heilsgeschichtlichen Erwartung
haben wir ein modernes, futuristisches Geschichtsbewußtsein, das
ebenso christlich motiviert wie nicht mehr christlich oder antichristlich
intendiert ist. Die modernen Geschichtsphilosophien stellen noch im-
mer die Frage nach dem Sinn als Wozu, aber ohne die Antwort in dem
Glauben zu finden, daß mit Christus die Zeit erfüllt ist. Die nachchristli-
che Welt hat sich die Idee eines sinnerfüllenden Zieles zu eigen gemacht
und zugleich von dem sie begründenden Glauben entfremdet. Sie über-
nimmt vom christlichen Glauben die Idee eines nicht umkehrbaren
Fortschritts von einem alten zu einem neuen Testament, aber ohne den
Glauben an einen absoluten Anfang und ein absolutes Ende in Schöp-
fung und Gericht; sie übernimmt vom klassischen Weltbegriff die Idee
regelmäßiger Abläufe und einer kontinuierlichen Fortbewegung, aber
ohne deren Voraussetzung, die periodische Kreisbewegung. Das mo-
derne Geschichtsdenken ist weder christlich noch heidnisch, sondern
eine trübe Mischung von Glauben und Sehen. Es will an die Zukunft
glauben und kann doch nicht umhin, die Wiederholung des Gleichen zu
sehen.
Die Unklarheit des modernen Geschichtsdenkens wird dadurch
gesteigert, daß das christliche Erbe in sich selber zweideutig wurde.
Verglichen mit der heidnischen Welt vor Christus, die in all ihren
Lebensbezügen religiös motiviert war, ist unsere moderne Welt völlig
verweltlicht, gerade weil sie einst christlich war. So ist auch der radikale
Atheismus eine Erscheinungsform der christlichen Überlieferung. Das
Bewußtsein, in einer gottverlassenen Welt zu existieren, setzt den Glau-
ben voraus an einen Schöpfergott, der für seine Geschöpfe sorgt. Den
christlichen Apologeten galten die Heiden mit Recht nicht als Athei-
sten, die überhaupt an keinen Gott glauben, sondern als »polytheisti-
sehe Atheisten«28, die an zu viele Götter glauben, aber nicht an den
einen wahren Gott. Den Heiden galten umgekehrt die Christen als

28 Siehe A. Harnack, Der Vorwurf des Atheismus in den ersten drei Jahr/11111-
---·-----·--,c~ ----------------

Das moderne Geschichtsdenken 151

Atheisten, weil sie an einen einzigen, außerweltlichen Gott glaubten


unter Ausschluß der vielen Götter, welche den Kosmos und die Polis
geheiligt hatten. Der Umstand, daß der Glaube an den einen überweltli-
chen Gott die vielen populären Götter der Heiden verdrängt hat, schuf
die Möglichkeit eines vollständigen Atheismus. Denn wenn Gott ein-
mal tot ist, bleibt in der christlichen Welt nichts Heiliges übrig. Sie wird
dann in einer Weise profan, wie sie es niemals für Heiden sein konnte.
Wenn die Welt weder ewig und göttlich ist, noch vergänglich, aber von
Gott geschaffen, bleibt der bloße Zufall ihrer nackten Existenz.
Die moderne »christliche« Welt erscheint so in einem zweifachen
Licht: sie ist von ihrem christlichen Ursprung her eschatologisch auf
eine Sinnerfüllung gerichtet, in ihren Wegen und Mitteln dazu aber
völlig verweltlicht. Beide Aspekte leiten sich her von dem weltgeschicht-
lichen Erfolg des Christentums und zugleich von seinem wesentlichen
Unvermögen, die Welt als Welt zu durchdringen. Demzufolge ist die
ganze Geschichte des Westens - sozial und politisch, intellektuell und
moralisch - bis zu einem gewissen Grade christlich und zugleich un-
christlich, indem sie die ursprünglich messianischen und eschatologi-
schen Erwartungen in die Welt selber versetzt, sei es in der Form eines
allmählichen Fortschritts oder einer Weltrevolution oder auch eines
politischen Retters. Das christliche saeculum ist weltlich geworden und
die verweltlichte Welt ist christlich geblieben in diesem Prozeß der
Verweltlichung. Ein Blick auf die Geschichte der Neuzeit kann es
verdeutlichen.
Die Auflösung des alten orbis terrarum ist durchaus ein Werk des
christlichen Okzidents. Christliche Europäer entdeckten und erschlos-
sen den alten Osten und die neue Welt, wobei sie mit missionarischem
Eifer ihre Zivilisation zu allen Völkern trugen. Es waren christliche
Missionare und Forschungsreisende, Ingenieure und Handelsleute, Pio-
niere und Abenteurer, die Amerika erschlossen, das englische Kolonial-
reich gründeten, Rußland lehrten, eine europäische Macht zu werden,
Japan zwangen, sich dem westlichen Handel zu öffnen und Chinas
Umwälzung veranlaßten. Und während Europa in seiner Heimat ver-
fiel, eroberte es die übrige Welt. Man könnte fragen, ob diese aggressive
Schaffenskraft der westlichen Welt irgend etwas gemein hat mit der
nichtweltlichen, christlichen Grundlage des Okzidents. Es könnte sein,

dertcn, Texte und Untersuchungen zur Gesch. der altchristlichen I.it., N. F.


(1905) Xlll, 4.
152 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

daß jüdischer Messianismus und christliche Eschatologie in einer welt-


lichen Verwandlung die Energien freigesetzt haben, welche die Welt so
veränderten. Es war zweifellos keine heidnische, sondern die christliche
Welt, die diese Umwälzung in Gang gebracht hat. Das Ziel der moder-
nen Naturwissenschaft, wie es schon Descartes formuliert hat: die
Kräfte des Kosmos zu meistern, und das Ziel des Fortschritts: die Welt
des Menschen zu verändern und zu verbessern, sind beide westlicher
Herkunft. Was befähigte uns aber, die Welt umzuschaffen nach dem
Bilde des Menschen, wenn nicht der verweltlichte Glaube an Gott als
Schöpfer und an den Menschen als sein Ebenbild? Und was ermutigte
diesen sich schöpferisch wissenden Menschen die Welt zu verbessern,
wenn nicht der ursprüngliche Glaube an das Reich Gottes, in dem der
29
Mensch vollkommen sein wird wie sein Schöpfer?
So paradox es zunächst scheinen muß, daß die radikale Verweltli-
chung ihren Ursprung in einer religiösen Entweltlichung haben soll, so
würde dies doch nur eine allgemeine Regel der Geschichte bestätigen:
daß nämlich im Prozeß des Geschehens stets etwas anderes heraus-
kommt als am Anfang einer Bewegung beabsichtigt war. Gewiß ist die
Verkündigung eines Reiches Gottes nicht wiederzuerkennen in den
Manifesten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der franzö-
sischen und der russischen Revolution; aber ebenso gewiß wäre es nicht
zu diesen Manifesten gekommen ohne jene Verkündigung. Was im
Übergang von einer unweltlichen Verkündigung zu einer weltgeschicht-
lichen Planung geschieht, vollzieht sich auch im weltlichen Geschehen
selber: die großen Schrittmacher bereiten andern die Wege, die sie
selber nicht gehen. Rousseau bereitete den Weg zur Französischen
Revolution, Marx zur russischen, Nietzsche zur faschistischen; sic wür-
den sich aber nicht wiedererkannt haben in Robespierre, Lenin. und
Hitler. Die Wege der Geschichte verkehren sich zwischen Ursprung und
Ziel wie zwischen Absicht und Folge. Ob man diese Verkehrung mit
Hegel als cine List der Vernunft auslegt, oder mit Marx aus der sozialen
Dynamik der materiellen Produktionskräfte, oder mit Vico und Bossuet
aus dem göttlichen Willen der Vorsehung, so bleibt doch die Tatsache
als solche bestehen, daß die Geschichte voller Überraschungen ist, so
daß der Anschein entsteht, als hätte auch alles anders kommen können,
und daß sie dennoch mit einer Art Regelmäßigkeit ihren notwendigen
Gang geht. Die Theologie der Geschichte hat dank ihrer Voraussetzung

29 Siehe dazu Michael Carrouges, La Mystique du S11rhomme, Paris 1948.


Das moderne Geschichtsdenken 153

eines menschlichen und eines göttlichen Willens diese Mehrdimensio-


nalität des Geschehens besser verstanden als die modernen, eindimen-
sionalen Fortschritts- und Entwicklungstheorien, die nur den Willen
des Menschen kennen und darum in dem unauflösbaren Rest des
Geschehens bloß sinnlose Umstände sehen.
»C'est pourquoi tous ceux qui gouvernent se sentent assujettis a I 1

une force majeure. Ils font plus ou moins qu'ils ne pensent, et leurs
conseils n'ont jarnais manque d'avoir des effets imprevus. Ni ils ne
sont maitres des dispositions que les siecles passes ont mises dans !es
affaires, ni ils ne peuvent prevoir le cours que prendra l'avenir, loin
qu'ils le puissent forcer[ ... ] Alexandre ne croyait pas travailler pour
ses capitaines, ni ruiner sa maison parses conqueres. Quand Brutus
inspirait au peuple romain un amour immense de la liberte, ii ne
songeait pas qu'il jetait dans !es esprits le principe de cette licence
effrenee, par la quelle la ryrannie qu'il voulait detruire devait erre un
jour rerablie plus dure que sous Ies Tarquins. Quand !es Cesars
flatraient !es soldats, ils n'avaient pas dessein de donner des maitres
a !curs successeurs et a !'empire. En un mot, ii n'y a point de
puissance humaine qui ne serve rnalgre eile a d'autres desseins que
les siens. Dieu seul sait tout reduire a sa volonte. C'est pourquoi tout
est surprenant, a nc regarder quc !es causes particulieres, et neanrno-
30
ins tout s'avance avec une suite reglee.«
Was von der Weltgeschichte im großen und ganzen gilt, ist auch
wahr für das Geschick eines philosophischen Geschehens. Es wird,
Wenn es überhaupt geschichtlich ist und kein akademisches Gemächte,
nolens-volens zu etwas anderem als sein Urheber wollte. Die Schule
Hegels kann als Exempel dienen. Die geschichtliche Motivationskraft
der Hegelschen Philosophie hat sich nicht in den Schülern offenbart, die
Hegels sämtliche Werke herausgaben und ihm treu blieben, sondern in
Schülern wie Bruno Bauer und Feuerbach, Marx und Kierkegaard, die
von ihm abfielen. Was aber eigentlich geschah, als Marx und Kierke-
gaard über Heilsgeschehen und Weltgeschichte bestimmte Gedanken
~achten, die hinter Hegel im selben Maße zurückblieben wie sic über
ihn hinausgingen, ist erst für uns, nach hundert Jahren, offensichtlich
geworden, sofern und soweit wir ihre Gedanken einzuholen und auszu-
legen vermögen. Was in einer Gegenwart geschieht, sind niemals abge-

.'lü ßossuet, Discours s111· l'hist.nrc universelle, JII. Teil, Kap. 8.


154 Weltgeschichte und Heilsgeschehen

schlossene Fakten, sondern noch unausgeschöpfte .Möglichkeiten, of-


fen und unbestimmt in dem was sie künftig bedeuten mögen. Die Folgen
Kicrkegaards und der Erfolg der Existenzphilosophie mag das ge-
schichtliche Recht solcher Sinnverschiebungen illustrieren.
Kierkegaard, der auf die christlichen Existenzbestimmungen auf-
merksam machen wollte, würde sich in der von ihm inspirierten Exi-
stenzphilosophie so wenig wiedererkennen wie sich Heidegger in Sartre
wiederfindet. Das hindert aber nicht, sondern bestätigt nur, daß in der
Geschichte eines Denkens die Schüler ihre Meister gegen sie auslegen.
Die geschichtlichen Folgen eines philosophischen Neubeginns mögen
seinem Urheber als bloße Mißdeutungen seiner Absicht erscheinen; es
wäre doch völlig ungeschichtlich gedacht, in solchen Verschiebungen
und Verkehrungen nicht auch die rechtmäßige Auswirkung eines ge-
schichtlich wirksamen Ansatzes zu sehen. Die geschichtlich legitimen
Kinder sind immer die illegitimen. Der Prozeß der Aneignung einer
philosophischen Initiative von seiten anderer kann nicht umhin, das
Eigene des Andern zu verändern und zu befremden.

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