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Utz, Peter: Ausklang und Anklang – Robert Walsers litera- 2.10 Robert Walsers Moderne
rische Annäherungen an Gottfried
Keller. In: Rede zum Herbstbott 2001. Siebzigster Jahresbe-
richt. Zürich 2002, 3–29.
Weber, Werner: Der Gehülfe. In: Neue Zürcher Zeitung, 2. 9. Modernität/Unmodernität
1950.
Widmann, Joseph Viktor: Geschwister Tanner. Roman von Robert Walsers umfangreiches Werk fällt in Entste-
Robert Walser [1907]. In: Kerr 1, 17–23. hung und Publikation ins erste Drittel des 20. Jh.s
Widmann, Joseph Viktor: Robert Walsers Schweizerroman. und ist damit schon rein chronologisch der literari-
Der Gehülfe [1908]. In: Kerr 1, 25–29.
Wiedmer, Emil: Kleine Sachen. Zur Kurzprosa [1917]. In: schen Moderne zuzurechnen, wobei hier damit eine
Kerr 1, 105 f. Epoche bezeichnet wird, die im späten 19. Jh. mit
Zeller, Rosmarie: Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht. Symbolismus und Naturalismus einsetzt und dezi-
Information und Desinformation in Robert Walsers und diert nicht bereits um 1800. Zugleich zögert man,
Franz Kafkas Werken. In: Annette Daigger u. a. (Hg.): ihm in derselben Weise Modernität zuzusprechen
West-östlicher Divan zum utopischen Kakanien. Hom-
mage à Marie-Louise Roth. Bern u. a. 1999, 289–314. wie beispielsweise den Zeitgenossen Gottfried Benn,
Zeller, Rosmarie: Die Robert-Walser-Rezeption in den Alfred Döblin oder Franz Kafka. Auch wenn autor-
fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. In: Treibhaus. zentrierte Forschung generisch dazu tendiert, die
Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 7 (2011), Modernität ihres Gegenstandes zu behaupten bzw.
259–270. zu vergrößern (das tut sie regelmäßig auch bei dezi-
Zeller, Rosmarie: Robert Walser und die Schweizer Litera-
tur. In: Germanistik in der Schweiz 11 (2014), 71–80.
diert vormodernen Autoren wie Adalbert Stifter
Zollinger, Albin: Robert Walsers Roman »Der Gehülfe«. In: oder Wilhelm Raabe), und die Walser-Forschung da
ders.: Politische und kulturkritische Schriften. Kleine keine Ausnahme macht, lassen sich eine Reihe von
Prosa. Hg. von Gustav Huonker. Zürich 1984, 171–177. Gründen für dieses Zögern benennen: (1) Der Autor
Rosmarie Zeller hat selbst sein Werk nicht mit einer modernistischen
Programmatik begleitet und sich keiner modernen
Strömung explizit angeschlossen. Im Gegenteil: be-
züglich der Ausstattung eines seiner Prosabücher
wünscht er 1917 in einem Brief an den Huber-Verlag
Fraktur mit der Begründung: »Das Buch soll wo-
möglich aussehen, als wenn es im Jahre 1850 ge-
druckt worden sei. Mit andern Worten: Mein sehr
lebhafter, inniger Wunsch in dieser Hinsicht ist: Un-
modernität!« (Br 125) (2) Walsers Texte finden im
bürgerlichen Feuilleton ebenso ihren Ort und ihre
Leser wie in avantgardistischen Publikationsorga-
nen. (3) Viele der rekurrenten Motive und Wertun-
gen in Walsers Texten sind eher untypisch für die li-
terarische Moderne (Lob des Schönen, des Kleinen,
des Dienens, des Gütigen, des Ländlichen, des guten
Essens, eine dominante Haltung von Naivität und
Schüchternheit, dabei aber fast durchgehender Welt-
bejahung etc.). (4) Viele typische Haltungen und
Motive der literarischen Moderne spielen bei Walser
keine oder eine untergeordnete Rolle (z. B. Soziales,
Politisches, Technik, Revolution, Sex, jede Art von
Konflikt oder umstürzlerischer Haltung, ja: das Neue
selbst). (5) Auch modernistische Textverfahren sind
bei Walser zwar nicht abwesend, aber sie werden
doch, auf noch näher zu bestimmende Weise, anders
eingesetzt als bei den Leitautoren der Moderne.
Seine Texte tendieren nicht zur Hermetik, sondern
sind auf einer Ebene durch und durch verständlich.
Es fehlt ihnen durchweg ein modernistischer Gestus.
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Auf der anderen Seite versteht Walser selbst sich Realistische Entsagung, moderne Textur
keineswegs als vor- oder antimoderner Dichter und
wurde auch nicht als solcher rezipiert. Weder archai- Unter den intertextuellen Bezügen Walsers überwie-
sieren seine Werke ihre Welt wie die Literatur der gen die zur Literatur des 19. Jh.s, insbesondere zur
Heimatkunstbewegung, noch stehen sie irgendwie Romantik und zum Realismus. Vor allem in den pu-
der konservativen Revolution nahe. Moderner Kunst blizierten Romanen wird dieses Erbe auch in der
und Dichtung steht er interessiert und keineswegs Textur angetreten. Der Beginn von Der Gehülfe etwa
ablehnend gegenüber; im Prosastück Ich schreibe hier – »Eines Morgens um acht Uhr stand ein junger
einen Aufsatz heißt es dazu: »Schrieb mir da nicht vor Mann vor der Türe eines alleinstehenden, anschei-
kurzem ein um Gegenwartskultur äußerst Besorgter, nend schmucken Hauses. Es regnete.« (SW 10, 7) –
er denke jetzt nur noch strenger Schädlingserschei- zeigt in den Zeit-, Orts- und Wetterangaben sowie
nungen in Leben und Kunst zu verurteilen als bis- der personalen Erzählsituation die typischen Züge
her?«, woraufhin das Schriftsteller-Ich »in aufrichtig realistischer Erzählliteratur (nach dem Muster: »Die
empfundener Nachdenklichkeit zur Decke meines Marquise ging um fünf Uhr aus«), wie sie den
Jetztzeitzimmers empor« blickt (SW 19, 116 f.). Peter emphatisch Modernen »ein Greuel« ist (Breton
Utz weist darauf hin, dass Walser ganz ausdrücklich 1924/1986, 13, mit Bezug auf Paul Valéry). Auch
einen »Jetztzeitstil« propagiert und sich damit ein strukturell und inhaltlich beerbt der Roman den Po-
»Zeit- und Modewort, das von der konservativen etischen Realismus: Im Zentrum steht, wie topisch
Sprach- und Kulturkritik negativ besetzt ist«, positiv z. B. bei Raabe (vgl. Gisi 2014), eine Sonderlingsfigur,
aneignet, jedoch so, »daß man die zitierenden und hier der Gehilfe Joseph Marti, die der Moderne beim
distanzierenden Anführungszeichen mithören Misslingen zusieht, hier in Gestalt des erfolglosen
kann« (Utz 1998, 16 f.). Walsers Thesaurus bevorzugt Erfinders C. Tobler, der u. a. eine »Reklameuhr« und
schlichte Wörter (wie »Wald«, »Schnee«, »grün«, einen »Schützenautomaten« zu vermarkten versucht.
»schön«), kann aber ohne Schwierigkeiten auch Spe- Der Protagonist behält poetisch Recht, indem er ei-
zifika (wie »Kieler Sprotten«, »Persil«, »Negermu- nen humanistischen Code hochhält (Sorge um Silvi
sik«), Umgangssprache und Neologismen (»Löffeli- und Wirsich), bleibt dabei jedoch – im Gegensatz
liebkosung«, »Schaffenshöhle«) integrieren, bis hin zum Bildungsroman, aber typisch für den Poeti-
zur Einmontage von Werbetexten (vgl. Evans 1989, schen Realismus – ökonomisch, sexuell und künstle-
122). Walsers Gestus der Selbstmarginalisierung und risch unfruchtbar. Der Punkt, an dem sich die Mo-
»Unmodernität« wäre demnach eine »ästhetische dernität entscheidet, ist dabei jedoch die Verklärbar-
Verwandlungsform, welche die Nähe zu allen Ner- keit dieser Position der Entsagung (vgl. Baßler 2010);
venzentren seiner Gesellschaft und seiner Zeit vor- und wie oft in realistischen Texten ist dabei auch hier
aussetzt« (Utz 1998, 10). Eine Stelle aus dem Rollen- das bürgerliche Weihnachtsfest die Stunde der Wahr-
prosastück Brief eines Mädchens an ein Mädchen be- heit. Joseph sehnt sich danach, muss jedoch ent-
stätigt dies, wenn man sie poetologisch liest: Auch täuscht feststellen: »Nach und nach verwirtshäuselte
hier schreibt sich die Schreiberin »mit genügender die Luft im weihnachtlichen Wohnzimmer gänzlich«
Unzweideutigkeit etwas Unmodernes« zu, um fort- (SW 10, 274) – man spielt Karten wie jeden Abend,
zufahren: »[V]ielleicht ist gerade dieser Umstand die die Verklärung bleibt aus. Im Verweis auf Angestell-
Ursache, weshalb die Modernen sozusagen aufmerk- tenstatus, Arbeitslosigkeit und Alkoholismus (Wir-
sam auf mich blicken, als mache sie meine Unwissen- sich) werden auch naturalistische Diskurse aufge-
heit bezüglich dessen, was Mode ist, staunen, als hiel- griffen, jedoch gilt der Sozialismus bereits als Ju-
ten sie diesen Mangel für irgendwelchen Vorzug, als gendsünde (Joseph und Klara). »Auf große Entwürfe
überzeuge sie meine Unbehilflichkeit vom Vorhan- als Antidot dieser Moderne verzichtete Robert Wal-
densein einer Kraft in mir.« (SW 18, 131) Walser ist ser« (Karpenstein-Eßbach 2013, 100); am Ende geht
demnach kein naiver Autor, er besetzt mit seiner ver- der Gehilfe dank seiner Kleinheit und Güte unbe-
meintlichen Unmodernität sehr bewusst eine Sys- schadet, aber auch unbereichert und ohne geholfen
temstelle innerhalb der literarischen Moderne. zu haben aus dem Geschehen hervor.
Moderner als die Romane, Gedichte und Szenen
wirken die Prosastücke und Mikrogramme Walsers,
die sein Hauptwerk ausmachen. Die Kleine Prosa er-
laubt tendenziell eine Befreiung aus den Zwängen
diegetischer, also realistischer Textkonstitution, und

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