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Tertium Datur: Die Einbildungskraft in der A-Deduktion

Welche Rolle spielt die Einbildungskraft in der A-Deduktion? Oder könnte man gar
fragen: welche Rollen? Beschaffenheit, Funktion und Wirkungsweise der Einbildungskraft im
Rahmen des Erkenntnisprozesses sind in der A-Deduktion der „Kritik der reinen Vernunft“
nämlich alles andere als eindeutig und klar. Gerade im Vergleich mit den so trennscharfen
Auseinandersetzungen der anderen menschlichen Vermögen in der „Kritik der reinen
Vernunft“ erscheint die Darstellung der Einbildungskraft in der A-Deduktion teilweise
widersprüchlich, jedenfalls ambivalent. Nichtsdestoweniger kann die Bedeutung der
Einbildungskraft für die Deduktion der Kategorien – und damit für das menschliche
Erkenntnisvermögen überhaupt – in der ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ kaum
überschätzt werden, schließlich ist „das Principium der notwendigen Einheit der reinen
produktiven Synthesis der Einbildungskraft [...] Grund der Möglichkeit aller Erkenntnis,
besonders der Erfahrung.“1

Die Einbildungskraft hat in der A-Deduktion eine Mittler-Rolle: sie vermittelt


zwischen den zwei Stämmen der menschlichen Erkenntnis, nämlich Sinnlichkeit und
Verstand.2 Über die Sinnlichkeit allein, nämlich durch Anschauung, kann dem Menschen ein
Gegenstand gegeben werden.3 Allerdings sind die sinnlichen Erscheinungen von solcher
Mannigfaltigkeit, dass sie ohne Ordnung, ohne Bestimmung durch den Verstand zu keiner
Erkenntnis führen – „Rezeptivität kann nur mit Spontaneität verbunden Erkenntnisse
möglich machen.“4 In den Erscheinungen selbst – also über die Sinne – ist diese Ordnung
nicht anzutreffen. Vielmehr wird die Verbindung des Mannigfaltigen zu Einheit(en) erst durch
das Subjekt geleistet. Sie ist folglich Ausdruck der Spontaneität und nicht der Rezeptivität.
Das tätige Vermögen, das diese Einheit schafft, nennt Kant in der A-Deduktion
Einbildungskraft.5 Dies könnte dazu verleiten, die Einbildungskraft dem Verstand als
spontanem Vermögen zu zuordnen. Die Einbildungskraft zeichnet sich in der A-Deduktion
aber gerade durch ihre Zwitterstellung aus, denn, „obgleich [die Synthesis der
Einbildungskraft] a priori ausgeübt [wird], [ist sie] dennoch jederzeit sinnlich, weil sie das
Mannigfaltige nur so verbindet, wie es in der Anschauung erscheint“.6 Die Einbildungskraft
1
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der 1. und 2. Original-Ausgabe hrsg. von Jens Timmermann,
mit einer Bibliogr. von Heiner Klemme, Hamburg 1998 (im Folgenden: KrV), A 118.
2
Vgl. für die kantsche Konzeption der zwei Stämme menschlicher Erkenntnis: Kant, KrV, A 15.
3
Vgl. Kant, KrV, A 95.
4
Vgl. Kant, KrV, A 97.
5
Vgl. Kant, KrV, A 120.
6
Kant, KrV, A 124.

1
lässt sich in der A-Deduktion weder ausschließlich dem Verstand noch der Sinnlichkeit
zuordnen – sondern beidem. Mit dem Vermögen der Einbildungskraft wird also die kantsche
Dichotomie von Sinnlichkeit und Verstand, von Rezeptivität und Spontaneität, durchbrochen.
Das Vermögen der Einbildungskraft ist unerlässlich für den Erkenntnisprozess. Da
Erkenntnis „ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist“7, muss es die
Fähigkeit geben, sich einen Gegenstand auch ohne seine Gegenwart vorstellig zu machen.
Würde nämlich die vorangegangene Vorstellung aus den Gedanken verloren gehen „so würde
niemals eine ganze Vorstellung [...] entspringen können.“8 Hierin besteht das Vermögen der
Einbildungskraft. Die unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung der
Einbildungskraft nennt Kant Apprehension.9 Dass diese Handlung an den Wahrnehmungen
ausgeübt wird, bedeutet aber nicht etwa, dass die Einbildungskraft nachträglich auf die
Wahrnehmung einwirkt, sondern vielmehr diese erst ermöglicht, indem durch die
Apprehension das bewusste Empfinden erst möglich wird.10 Ohne eine solche Apprehension
könnten überhaupt keine Bilder eines Gegenstandes entstehen, weil die bloße Rezeption noch
keine Bestimmung der mannigfaltigen Eindrücke schafft. Deshalb muss die Einbildungskraft
„notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst“ sein.11 Damit die Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen erfahrbar und erkennbar ist, muss sie vermittels der Einbildungskraft geordnet
werden. Wird dieser Zusammenhang durch die reproduktive Einbildungskraft hergestellt, ist
dieser aber bloß assoziativ, mithin nur subjektiver Grund, weil die reproduktive
Einbildungskraft auf Bedingungen der Erfahrung beruht.12 Einen objektiven Grund erhält
dieser „regellose Haufen“13 aus der Affinität der Erscheinungen. Die transzendentale Affinität
fußt auf der Einheit der Apperzeption. Die Einheit der Apperzeption wiederum – wenngleich
sie den Anfang bildet, den Punkt, „in welchem sie [die drei subjektiven Erkenntnisquellen:
Sinn, Einbildungskraft, Apperzeption] alle zusammenlaufen“14 – setzt eine weitere „Synthesis
voraus, oder schließt sie ein,“15 nämlich die reine Synthesis der Einbildungskraft. Diese wird
nicht durch die reproduktive Einbildungskraft geleistet, sondern von der produktiven, welche
allein a priori stattfinden kann.16 Sie stellt also die transzendentale Funktion der
7
Vgl. Kant, KrV, A 97.
8
Kant, KrV, A 102.
9
Vgl. Kant, KrV, A 120.
10
Reinhard Loock, Schwebende Einbildungskraft: Konzeption theoretischer Freiheit in der Philosophie Kants,
Fichtes und Schelling, Könighausen & Neumann 2007, S. 107.
11
Vgl. Kant, KrV, A 120, Fn. 1.
12
Vgl. Kant, KrV, A 118, A 121.
13
Kant, KrV, A 121.
14
Vgl. Kant, KrV, A 116.
15
Vgl. Kant, KrV, A 117.
16
Vgl. Kant, KrV, A 118.

2
Einbildungskraft dar, insofern sie die notwendige Einheit des Mannigfaltigen der Erscheinung
in der Synthesis leistet.17 Indem die reine Einbildungskraft das Bindeglied zwischen dem
Mannigfaltigen der Anschauung und der Einheit der Apperzeption bildet, werden (reine)
Begriffe überhaupt erst möglich, weil die Einbildungskraft die Beziehung von Begriffen auf
die sinnliche Anschauung erst erlaubt.18 Die Einbildungskraft „ist jene Instanz, durch die in
der Erkenntnis und für sie die Einheit der Apperzeption ihre Wirksamkeit beweist.“19 Darin
zeigt sich die zentrale Rolle, die die Einbildungskraft in der Kategoriendeduktion einnimmt,
in der es gerade darum geht, die objektive Gültigkeit der Kategorien – also ihre
Anwendbarkeit auf Gegenstände – nachzuweisen.

Die (reine) Einbildungskraft wird in der A-Deduktion als drittes Grundvermögen


eingeführt, das neben (oder zwischen?) Sinnlichkeit und Verstand steht. Sie ist weder dem
Verstand zugehörig, noch der Sinnlichkeit, sondern ein eigenständiges „Grundvermögen der
Seele“20. Für die Vermögen Verstand und Sinnlichkeit hatte Kant festgehalten, dass diese „ihre
Funktionen nicht vertauschen [können]. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die
Sinne nichts zu denken.“21 Die Einbildungskraft hingegen vereinigt sowohl Rezeptivität als
auch Spontaneität in sich. Damit aber wird die dichotome Struktur der Kritik der reinen
Vernunft durchbrochen und das kantsche Programm der Gegenüberstellung und Kritik von
Empirismus einerseits und Rationalismus andererseits zumindest scheinbar unterlaufen. Indes
hat die Konzeption der Einbildungskraft in der A-Deduktion gerade den Vorteil, dass die
Gleichung aus Verstand und Sinnlichkeit mit Blick auf die Erkenntnis nicht zugunsten einer
Seite aufgelöst wird. Allerdings gelingt dies nur durch den Kunstgriff, ein drittes Vermögen
einzuführen. Die Einbildungskraft, die spontan und sinnlich zugleich ist, erscheint somit als
„deus ex machina“: Mit ihr und durch sie gelingt es Kant, zu zeigen, dass und wie „beide
äußeren Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, [...] notwendig zusammenhängen“.22
Allerdings ist fraglich, ob auf diese Weise nicht die Prämisse, dass sich Sinnlichkeit und
Verstand zwar vereinigen, aber nicht vermischen, aufgegeben wird, insofern als die
Einbildungskraft gerade als Mischwesen dieser beiden Vermögen auftritt.23

17
Vgl. Kant, KrV, A 123.
18
Vgl. Kant, KrV, A 124.
19
Hansgeorg Hoppe, Die transzendentale Deduktion in der ersten Auflage, in: Georg Mohr, Markus Willaschek
(Hrsg.), Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie Verlag 1998, S. 180.
20
Kant, KrV, A 124.
21
Kant, KrV, A 51.
22
Kant, KrV, A 124.
23
Vgl. Kant, KrV, A 51.

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