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Paul Virilio

Der eigentliche Unfall

Aus dem Französischen von Paul Maercker

Herausgegeben von Peter Engelmannn

Passagen Verlag
Deutsche Erstausgabe
Titel der Originalausgabe: L'acdden t llliginJ,I{I)
Aus dem Französischen von Paul Maerck�

Ouv
. rage publie avec le concours du Ministere fran<;ais charge de
la culture - Centre national du Iivre.
Cet ouvrage, publie dans le cadre du Programme d' Aide a la
Publication (P.A.P.) MUSIL, beneficie du soutien du Ministere
fran93is des Affaires Etrangeres et de !'Ambassade de France en
Autriche.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der


Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http:/Idnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten


ISBN 978-3-85165-874-3
© 2005 by Editions Galilee
© der dt. Ausgabe 2009 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
http:!Iwww .passagen.at
Grafisches Konzept: Gregor Eiehinger
Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Druck: Manz Crossmedia GmbH & Co KG, 1051 Wien
Inhalt

ERSTER TEIL

Vorwort 15

Die Erfindung der Unfälle 23

Die These des Unfalls 29

Das Museum der Unfälle 37

Die Zukunft des Unfalls 45

Der Erwartungshorizont 53

Die unbekannte Größe 63

ZWEITER TEIL

Die öffentliche Emotion 73

Der eigentliche Unfall 87

Die Dromosphäre 101

Anmerkungen 121
Hinweis

Dieser Essay besteht aus zwei Teilen: der erste gibt die für
"Ce qui arrive" verfassten Texte wieder, die Ausstellung
von Paul Virilio in der Fondarion Cartier (November
2002- März 2003), ergänzt durch einen zweiten Teil, in
dem die verhängnisvollen Konsequenzen der Beschleuni­
gung der Wirklichkeit zu Beginn des dritten Jahrtausends
dargelegt werden.
Herr, vergib ihnen,
denn sie wissen nicht, was sie tun!

Lukas 23,34
Erster Teil
Vorwort

"Ein hervorstechendes Merkmal trennt die zeitgenössische


Zivilisation von den vergangenen: die Geschwi11digkeit. Die
Verwandlung hat sich im Zeitraum einer Generation voll­
zogen", stellte der Historiker Mare Bloch in den 1930er
Jahren fest.
Diese Situation bringt ihrerseits ein zweites Merkmal
mit sich: den Unfall. Die fortschreitende Verallgemeine­
rung katastrophaler Ereignisse, die nicht nur die Realität
des Augenblicks beeinflussen, sondern auch kommenden
Generationen Angst einflößen.
Mit Vorfällen und Unfällen, mit Unglücken und Na­
turkatastrophen wird das tägliche Leben zum Kaleidoslwp,
in dem wir ständig dem ausgesetzt sind, was eintritt, was
unerwartet geschieht, sozusagen ex abrupto .. Man muss
.

also lernen, im zerbrochenen Spiegel das zu erkennen, was


geschieht, und immer häufiger, aber vor allem immer schnel­
ler, zu ungelegener Zeit, ja sogar gleichzeitig geschieht.
Angesichts der Tatsache einer beschleunigten Zeitlichkeit,
die Auswirkungen auf die Sitten hat, in der Kunst ebenso
wie in der Staatspolitik, drängt sich vor allem eine Notwen­
digkeit auf: die Offenlegung des Unfalls der Zeit.
Indem man solcherart die Bedrohung des Unerwarteten
umkehrt, wird die Überraschung zum Thema der U ntersu­
chung und das Großrisiko zum Thema der Zurschaustellung
im Rahmen der augenblicklichen Telekommunikation.
Paul Valery erklärte 1935: "In der Vergangenheit hat
man als tatsächliche Neuheiten fast nur Lösungen für oder

15
Antworten auf sehr alte, wenn nicht sogar uralte Fragen
oder Probleme gefunden . . Doch 1111sm Ne11heit besteht in den nie
.

dugeuJe.rmm Fragen selbst und keines111eg.r in dm Ui.mngm, itr tknAIIssa­


gm 1md nicht in tkn AntuJOI1m. Daher das allgemeine Gefühl der
Ohnmacht und der Zusammenhanglosigkeit, das unseren
Geist beherrscht."1
Diese Feststellung der Ohnmacht zwingt uns angesichts
der Abfolge unerwarteter und katastrophaler Ereignisse
zur Umkehr der gewohnten Richtung, bei der wir den1 Un­
fall ausgese� sind,
indem wir eine neue Art der Museologie,
der Museografie einführen, die nunmehr darin besteht, den
Unfall aus�setzm; alle Unfälle, vom banalsten bis zum tra­
gischsten, von der Naturkatastrophe bis zum wissenschaft­
lichen und zum Industrieunfall, ohne dabei die viel zu oft
vernachlässigte Form des glücklichen Zufalls auszulassen,
den Glücksfall, die Liebe auf den ersten Blick, sogar den
"Gnadenstoß"F
Wenn nämlich heute dank des Fernsehens "alles, was
konserviert wird, sich auf das Augenblicksereignis reduziert,
dann konvergiert jeder Fortschritt zu einem unvermeid­
lichen Problem, nämlich dem der Wahrnehmung und der
Bilder."3
Abgesehen vom historischen Attentat des 11. September
2001 und seiner Wiederholungsschleife auf den Bildschir­
men der ganzen Welt verdienen zwei jüngere Ereignisse
in dieser Hinsicht eine strenge Analyse. Einerseits die
Enthüllung der verheerenden Folgen der Kontamination
durch Tschernobyl im Osten Frankreichs, sechzelm Jahre:(!'
tpät, zu welchen die für die Auslösung des Alarms Veram­
wortlichen erklärten: "Wenn wir etwas messen, dann istdas ein rein
lllisunschaftliches Problem." Andererseits die kürzlich gefällte
Entscheidung des Memorial pour Ia Paix in Caen\ aus
den USA als symbolisches Objekt eine Atotnbombe - eine
H-Bombe - zu importieren, als Sinnbild des "Gleichge­
wichts des Schreckens" zwischen Ost und West ...
In diesem Zusammenhang, und in Weiterführung des
Arguments der französischen Experten, die die Schäden

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des Unfalls von Tschernobyl verheimlicht hatten, könnte
man sagen: "Wmn man eine Atombotnbe ausstellt, dann ist das ein
und würde damit die Tore des ersten
rei11 kultlirelies Problem",
U�tjailmuseums weit öffnen!
In der Tat, wenn die Erfindung nm· eine Betracbtr.mgs11Jeise ist,
eine Weise, die Unfälle als Zeichen, als Chance zu begreifen,
ist es höchste Zeit, die Museen zu öffnen für das unvermit­
telt Eintretende, für dieses "indirekte Produkt" der Wissen­
schaft und der Technowissenschaften, die das Unglück, der
Indusrrie- oder sonstige Unfall dann darstellt.
Wenn laut Aristoreles "die Akzidenz die SubStanz erschei­
nen lässt", dann ist die Erfindung der "Substanz" genauso
jene der "Akzidenz"�. Folglich ist der Schiffbruch also die
"futuristische" Erfindung des Schiffs und der Flugzeugab­
sturz jene des Ü berschallflugzeugs, genauso wie Tscherno­
byl jene des Kernkraftwerks ist.
Betrachten wir jetzt die jüngste Geschichte. Während das
20. Jahrhunden jenes der großen Leistungen- die Mondlan­
dung- und der großen Entdeckungen in der Physik und der
Chemie war, ganz zu schweigen von der Informatik und der
Genetik, so scheint es leider logisch, dass das 21. Jahrhundert
seinerseits die Ernte dieser maskierten Produktion einfährt,
die die verschiedensten Unglücke verkörpern, i11 tkm Maß, wie
ihre Wiederbolung :(!/einem dmtlich erkennbarm historischen Pbänomm
1�ird.
Hören wir zu diesem Thema noch einmal Paul Valery:
"Das Instmment neigt dazu, aus detlJ Be111u.ßts ei11 if' verscbJ11itu/en.
Man spricht im Allgemeinen von der Automatisiemng seines
Funktionierens. Was man daraus ableiten muß, ist die neue
Gleichung: Das Bew11ßtsein hat nlfrfiir Unfliile Bestand."6
Diese Feststellung des Mangels führt zu einer klaren und
definitiven Schlussfolgerung: "All es, was zu Neubeginn und
Wiederholung fähig ist, verdunkelt sich, erfolgt im Stillen.
Funktumgibt es nur außerba!b des Bt:Jvlls.rtsei.ns "
Ausgehend von der Tatsache, dass das erklärte Ziel der
industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts genau diese
Wiederholung standardisierter Objekte war (Maschinen,

17
W erk zeuge, Fahrzeuge ...), ist es heute logisch festzustellen,
dass das 20. Jahrhundert uns tatsächlich mit Unfällen in Serie
eingedeckt hat, von der Tita11ic 1912 bis Tschernobyl 1986,
ganz zu schweigen von Seweso oder Toulouse 2001 ...
So ist die serienmäßige Produktion verschiedenster
Katastrophen der Schatten geworden, den die großen Ent­
deckungen, die großen technischen Erfindungen werfen;
und wenn man nicht das Inakzeptable akzeptieren möchte,
nämlich dass der Unfall selbst auto111atiscb wird, so ergibt sich
die Dringlichkeit einer "Einsicht in die Krise der Einsicht"
ganz zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts - einer Einsicht,
deren klinisches Symptom die Ökomgie ist, in Erwartung der
kommenden Philosophie der postindustriellen Eschatologie.
Gehen wir nun von Valerys Postulat aus: lf7enn dasBetwsslsein
1turfor Unfol/e Bestand hat, und wenn Funktionieren nur außer­
halb des Bewusstseins möglich ist, dann würde der Verlust
des Bewusstseins vom Unfall wie vom Großunglück nicht
nur Bewusstlosigkeit, sondern Wahnsinn bedeuten- den
Wahnsinn der freiwilligen Blindheit gegenüber den fatalen
Konsequenzen unseres Handeins und unserer Erfindungen.
Ich denke dabei insbesondere an den Forschergeist in der
Genetik und an die Biotechnologien. Eine Situation, die
alsbald einem bmtalen Umschlagen der Philosophie in ihr
Gegenteil gleichkäme, anders ausgedrückt, einer Geburt
des Philowahm; der Liebe zum radikal Ungedachten, bei der
die fehlende Sinnhaftigkeit unseres Handeins nicht nur auf­
hören würde, uns zu beunruhigen, sondern uns entzücken,
uns verführen würde ...
Nach dem Urifa/1 der Substanzm waren wir Zeugen des
unheilvollen Geschehens des Unfalls der Erkennt11is, wofür
die Informatik durchaus ein Zeichen sein könnte, schon
durch die Eigenschaft ihrer unzweifelhaften "Fortschritte",
aber parallel dazu auch durch jene ihrer unermesslichen
Schäden.
Wenn tatsächlich "der Unfall das Erscheinen der Eigen­
schaft eines Dings ist, die durch eine weitere Eigenschaft
dieses Dings maskiert war"7, dann wäre die Erfindung de r

18
Industrieunfälle im Transportwesen (zu Land, zu Wasser
und in der Luft) oder jene der postindustriellen Unfälle
in den Bereichen der Informatik oder der Genetik das
Erscheinen einer viel zu lange vom langsamen Fortschritt
der "wissenschaftlichen" Erkenntnisse verborgenen Ei­
genschaft, verglichen mit dem Gewicht der "spirituellen
und philosophischen" Erkenntnisse, dieser in der ganzen
vielhundertjährigen Geschichte angesammelten Weisheit.
In diesem Sinne sind die Schäden der "l'echnologien des Denkens
dabei, jenen der säkularen oder religiösen, von totalitären
Regimes transpor tierten Ideologien nachzufolgen; und
wenn wir uns nicht in Acht nehmen, sind sie imstande, im
l�ahminn zu gipfeln, in dieser sinnlosen Liebe zum Über­
maß, wie der selbstmörderische Charakter einiger aktueller
Handlungen zu beweisen scheint, von Auschwitz bis zum
militä rischen Konzept der wechseLreitig �if,esiche1ten Zerstörung
(MAD), ganz zu schweigen vom "Ungleichgewi cht des
Schreckens", das 2001 in New York von den Selbstmord­
attentätern des World Trade Center eingeführt wurde.
Die TatSache, nicht mehr nur Waffen, militärische In­
strumente, sondern simple Luftfahrzeuge zu benutzen, um
Gebäude zu zerstören, wobei man in Kauf nimmt, bei der
Operation unterzugehen, bedeutet , einefatale Vmvechslungsge­
fahr von Unfall tmdAttentat zu erzeugen und die "Eigenschaft"
(Qualität) des mutwillig herbeigefü hrten Unfalls zu Un­
gunsten der Eigenschaft des Flugzeugs zu nutzen, wie auch
zur "Quantität" der unschuldigen Opfer, um damit alle einst
durch religiöse oder philosophische Ethiken festgelegten
Grenzen zu überschreiten.
Tatsächlich verlangt es das Prinzip VerantJvortl
l l/f, gegenü­
ber kommenden Generationen, jetzt den Unfall und die
Häufigkeit seiner industriellen und postindustriellen Wie­
derholungen darzulegen.
Genau das ist der Sinn, das erklärte Ziel dieser Ausstel­
lung der Fondation Cartier. Als Vorprojekt, oder besser:
Entwurf des zukünftigen Unfailmummts versteht sich diese
Ausstellung vor allem als Positionierung angesichts des

19
Verfalls ethischer und ästhetischer Anhaltspunkte, des
Sinnverlusts, dessen Zeugen und Opfer wir in letzter Zeit
so viel häufiger sind als dessen Akteure.
Nach der Ausstellung über die Geschwindigkeit, die
schon vor über zehn Jahren in Jouy-en-Josas von ebendieser
Fondation Cartier für zeitgenössische Kunst organisiert
wurde, versteht sich die Ausstellung Ce q11i arrive (dt. Das
was geschieht)- die Definition des lateinischenAccidens- als
Kontrapunkt zur Übertreibung aller Art, mit der uns die
großen Informationsorgane täglich überhäufen; ein Muse­
um des Schreckens, von dem keiner zu ahnen scheint, dass
es dem Aufstieg von immer neuem und immer größerem
Unheil voraus- und mit ihm einhergeht.
Wie nämlich ein Zeuge des Aufstiegs des Nihilismus in
Europa es ausdrückte: "Die furchtbarste Tat wird leicht,
wenn der Weg, der zu ihr führt, geebnet wurde."8
Infolge der fortschreitenden Gewöhnung an die Ge­
fühllosigkeit, an die Gleichgültigkeit angesichts der wahn­
sinnigsten Szenen, die ununterbrochen vom Markt des
Spektakels wiederholt werden im Namen einer sogenannten
Meinungsfreiheit, die sich in eine Befreiung des Expressionim u.r,
ja in einen Akademismus des Schreckens verwandelt, verfal­
len wir den Untaten einer Programmierung der Überzeich­
nung um jeden Preis, die nicht mehr auf Bedeutungslosigkeit
hinausläuft, sondern auf die Heroisierung des Terrors und
des Terrorismus.
Ein wenig wie im 19. Jahrhundert, als die offizielle Kunst
sich in den Salons einer Glorif12ierung der Schlachten der
Vergangenheit befleißigte, die, wie man weiß, mit dem Mas­
saker von Verdun endete, so werden wir zu den erstaunten
Zeugen des Versuchs eines Anpreisens der künstlerischen
Folter, der ästhetischen Selbstverstümmelung und des zur
Kunstform erhobenen Selbstmords.9
Die Fondation Carrier für zeitgenössische Kunst hat,
unter meiner Anleitung, letztendlich deshalb die Organi­
sation von "Ce qui arrive" ermöglicht, um dem Publikum
diese Überbelichtung durch den Schrecken zu ersparen,

20
eine Veranstaltung, die vor allem darauf abzielt, zu den
Übertreibungen aller Art in der jüngsten Vergangenheit
Distanz zu schaffen.
Dieses Ausstellungs-Manifest, dazu bestimmt, die Frage
nach dem Unerwarteten ebenso zu stellen wie jene nach
derUnaufmerksamkeitgegenüber großen Risiken versteht
sich zuerst als eine Hommage an die Wahrnehmung, an die
prävmtive lntelligen:v in Zeiten, in denen die Bedrohung eines
präventiven Krieges im Irak über uns schwebt.

21
Die Erfindung der Unfälle

Als Schöpfung und Fall ist der Unfall ein unbewusstes


Werk, eine Erfindung im Sinne einer Entblößung dessen, was
verborgen war - und darauf wartete, sich vor aller Augen
zu ere1gnen.
Im Gegensatz zum natürlichenUnfall entSteht der künstliche
aus der Erfindung eines Geräts oder eines substanziellen
Stoffs. Sei es beim Untergang der Titanicoder bei der Explo­
sion des Kraftwerks in Tschernobyl- zwei emblematische
Katastrophen des letzten Jahrhunderts -,.das. Problem,
welches durch den Unfall als Ereignis zutage tritt, ist nicht
so sehr das eines Eisbergs, der in einer bestimmten Nacht
des Jahres 1912 im Nordatlantik auftauchte, auch nicht
das des an einem bestimmten Tag des Jahres 1986 außer
Kontrolle geratenen Kernreaktors, sondern vielmehr jenes
der Konstruktion eines "unsinkbaren" Ozeandampfers
beziehungsweise der Errichtung eines Kernkraftwerks i n
der Nähe von W ohngebieten.
1922 zum Beispiel, als Carter im Tal der Könige den Sar­
kophag von Tutanchamun entdeckt, erfindet er ihn buch­
stäblich ... wenn hingegendie sowjetischen "Liquidatoren"
den defekten Reaktor von Tschern obyl mit einer anderen
Art "Sarkophag" verkleiden, etjinden sie dm nuklearen GAU,
und das nur wenige Jahre nach jenem, der sich in den USA
auf Three Miles Island ereignete.
Demnach sollte die Analyse des Industrieunfalls, genauso
wie die Ägyptologie eine der Disziplinen der historischen
E ntde ckungen, anders gesagt der archäologischen Erfindung dar-

23
stellt, als "logische Kunst", oder präziser, als archäotechnohgische
Erfindung betrachtet werden.
Eine Art brut in jedem möglichen Wortsinn, die wir aber
nicht ausschließlich als Ausnahme und unter dem präven­
tiven Aspekt des reinen "Vorsichtsprinzips" betrachten
können, sondern ebenso als Hauptwerk des unbewus.rtm Genies
der·Gefehlten, als Frucht des Fonschritts und der menschlichen
Arbeit.
Überdies ist zu beobachten, dass die Technik, wenn sie
immer der Mentalität der Anwender·voraus ist- sie brauchen
mehrere Jahre, um sich an eine neue Technologie zu gewöh­
nen-, genauso der Mentalität der EntJPicklervoraus ist, dieser
Konstrukteure, die konstruktive Konstrukte erfinden, so
emsig, dass sich das einst von der Psychoanalyse geschilderte
ma.schinelle Unbewuss te1 hier als wohlbegründet erweist, und
zwar als IPiderspruchsbeweis der fatalen Inkonsequenz der
Gelehrten im Bereich des Wissens um große Risiken.
"Es gibt keine Wissenschaft von der Akzidenz", warnte
Aristoteles schon vor langer Zeit. Trotz der Risikoanalyse,
die Risiken bewertet, gibt es keine Utifallkunde, aber eine
zufallsmäßige Aufdeckung, eine archäotechnologische
Erfindung. Das Segel- oder Dampfschiff zu erfinden, be­
deutet, dm Schiffbmch i'F erfinden. Die Eisenbahn zu erfinden,
bedeutet, das Eismbahrmzglück des Entgleisens zu e1jinden. Das
private Automobil zu erfinden, bedeutet die Pn;duktion der·
l�tfassenkara?nbolage auf der Autobahn.
Das was schwerer ist als Luft, also das Flugzeug, aber
genauso das Luftschiff, abheben zu lassen, bedeutet, den
Fltzgzeugabstur-"-1. zu erftndm, die Flugzeugkatastrophe. Was die
Raumfähre Cballmger und ihre Explosion in der Luft im
selben Jahr wie das Drama von Tschernobyl anbelangt, so
ist das der eigentliche Utifalleines neuen Geräts, entsprechend
dem ersten Schiffbruch des allerersten Schiffes.
Das ist die indirekte Erfindung des Ausfalls der informa­
tischen (oder anderen) Systeme, die ökonomische Um­
wälzung der Finanzmärkte, bei der durch den Bör-senkmch
plötzlich die dunkle Seite der Wirtschaftswissenschaften

24
und der automatischen Wertnotierung auftaucht.wie der
Eisberg vor der Titanic, aber gleichzeitig an der Wall Street,
in Tokio und in London.
· Demnach gilt, für Aristoteles damals wie für uns heute:
wenn die Akzidenz die Substanz erscheinen lässt, dann ist
das, waJ"geschieht (accidens) eine Art Analyse, eine Techno-Ana­
lyse dessen, was allem Wissen if'grundeliegt (substare).
Um die durch den Fonschritt angerichteten Schäden zu
bekämpfen, muss man also künftig zuerst die verborgene
Wahrheit hinter unseren Erfolgen entdecken, diese zufällige -
und keineswegs apokalyptische- Offenbamng inkriminierter
Substanzen.
Deshalb ist an der Schwelle zum dritten Jahnausend eine
öffentliche Anerkennung dieser Art Innovation dringend
geboten, die an jeder Technologie schmarotzt und deren frap­
pierendste Beispiele mit dem 20. Jahrhundert noch lange
kein Ende gefunden haben.
Im selben Zusammenhang wird sich die politiscbe Ökologie
nicht mehr lange der eschatologischen Dimension der von der
positivistischen Fortschrittsideologie hervorgerufenen
Dramen entziehen können.
Der Dromo!oge, in anderen Worten der Analyst der Be­
schleunigungsphänomene, geht also folgerichtig vor, wenn
er die Geschwindigkeit, die für die exponentielle Entwicklung
der kiinstlichen U!iflille im 20. Jahrhundert verantwortlich ist,
ebenso für die gesteigerte Bedeutung der ökologischm Unfälle
(die vielfältige Umweltverschmutzung) verantwortlich
macht, wie etwa die eschatologischen Dramm, die sich mit den
neuesten Entdeckungen der genotitischen Informatik und den
Biotechnologien ankündigen. 2
Wenn nämlich früher der lokale Unfallnoch eindeutig orts­
gebunden war (in sittt) - für die Titanic der Nordatlantik -,
ist es der globale U11jallnicht mehr, und seine Auswirkungen
betreffen ganze Kontinente, bis dann morgen oder über­
morgen der vo!!stiilrdige U!ifall möglicherweise zu unserem
einzigen Habitat wird, weil sich diesmal die Schäden des
Fortschritts nicht nur auf den gesamten geophysikalischen

25
Raum erstrecken, sondern vor allem auf jahrhundertelange
Zeiträume, ganz zu schweigen von der Dimension suigmeris
eines "zellulären Hiroshima".
Tatsächlich kann man, wenn die Substanz absolut und
not111cndig (für die Wissenschaft) ist und die Akzidenz relatit)
und kontingent, nunmehr die "Substanz" an den Beginn der
Erkenntnis stellen und die "Akzidenz" ans Ende dieser
philosophischen Eingebung, deren Initiatoren Aristoteles
und einige andere waren.
Mitnichten soll hier ein "chiliastischer Katastrophismus"
propagiert werden; es geht nicht um eine Hervorhebung
des Tragischm des Unfalls zum Zweck der Verängstigung
der Massen, wie das die Massenmedien so oft tun, sondern
einfach darum, den Unfall endlich emst zu nehmen.
Dem Beispiel der Arbeit Freuds über unsere Beziehung
zum Tod und seinem Trieb folgend, geht es jetzt um eine
peinlich genaue Studie über unsere Beifehung zum Ende, zu
jedem Ende, anders gesagt, zur Endlichkeit.
"Die Anhäufung von Ereignissen unterbindet. den Ein­
druck des Zufalls", schrieb Sigmund Freud zwischen 1914
und 1915 ... In der Tatmüssen wir seitdem 20.Jahrhundert
durch die plötzliche Kapitalisienmg votr Dramen und Kolastrophen
allerArt das Scheitern eines technowissenschaftlichen Fort­
schritts feststellen, auf den der Positivismus des 19. Jahr­
hunderts so stolz war.
Seitdem hat die Serienproduktion des Unternehmergeistes
buchstäblich den künstlichm Unfallilldusttialisiert- einen Unfall,
dessen früher handwerkliche Eigenschaft sich meistens auf
diskrete Art und Weise äußerte, während die natiirlichm Un­
fälle allein die Dimension der Naturkatastrophe einnahmen,
ausgenommen die Vernichtungskriege.
Wenn wir zum Beispiel den Bereich des privaten Autover­
kehrs hernehmen, so ist die Banalisierung des Massengrabs
Autobahn der Freud'sche Beweis, dass die Anhäufung
von Verkehrsunfällen dem "Zufall" großteils ein Ende
setzt - und die vielfältigen Sicherheitssysteme, mit denen
unsere Fahrzeuge ausgerüstet werden, ändern nichts an der

26
Tatsache: im 20. Jahrhundert ist der Unfall eitre Schumndustrie
gewordm.
Aber kommen wir auf diese Techno-Analyse zurück, die
aufschlussreich ist für die "Substanz", anders ausgedrückt
dafür, was sich hinter dem \Vissen der Techniker verbirgt.
Wenn die Techniken immer einen Vorsprung vor den
Mentalitäten des im Innovationsbereich tätigen Personals
haben, was übrigens der EssayistJohn Berger gerne zugibt
("Be�jeder Kreation, egal ob es eine originelle Idee, ein Bild oder
ein Gedicht ist, liegt der 117111m immer neben dem Treffir. Und der
Treffer steht nie allein da, esgibtniemals einen Tre.ffer, ein knatives
Talerrtohne brtum. "3), dann deshalb, weil der U'![al/untrennbar
mit der Geschwindigkeit seims utrerwarteten Eintrtfens verbunden
ist, und darum muss diese "virtuelle Geschwindigkeit" der
katastrophalen Überraschung genau untersucht werden,
und nicht nur die "wirkliche Geschwindigkeit" der kürzlich
erfundenen Gegenstände und Geräte.
Genauso wie man sich (um jeden Preis) vor dem Obem1aj
mr realer Geschwindigkeit durch Bremsen und automatische

Sicherheitssysteme schützen muss, ist es notwendig zu


versuchen, uns vor dem Obennaß an virtueller Geschwindigkeit
zu bewahren, vor dem, was unerwartet mit der "Substanz",
das heißt dem, was unter dem produktiven Bewusstsein des
Ingenieurs liegt, geschieht.
Genau das ist die Entdeckung, die vorher erwähnte "ar­
chäotechnologische" Erfindung.
In seiner Physik bemerkt Aristoteles eingangs, dass nicht
die Zeit als solche verdirbt und zerstört, sondern das, lilasge­
schieht (accidens). Also besiegelt eben das VeiJ!,ehen derZeit, anders
gesagt die Geschwindigkeit des Eintretens den Untergang
jedes Dings, weil jede "Substanz" letztendlich de111 Unfall des
Kreislauft der Zeit f(ftm Opferfti/1
1 .
Ausgehend davon kann man sich leicht eine Vorstellung
machen von den Schäden des Unfalls der Zeit, mit der
Augenblicklichkeit der zeitlichm Kotnpression von Daten im
Laufe der Globalisierung und den unvorstellbaren Risiken
der Synchronisation des Wissens.

27
Deshalb müsste das von Hans Jonas z ur Sprache gebrachte
"Prinzip Verantwortung" zuallererst auf der Notwendigkeit
einer neuen Einsicht in die Prod11klion von Unfällen aufbauen,
in diese unbewusste Industrie, die der "materialistische" Ge­
lehne sich weigert zu erkennen, obwohl doch das ganze letz­
te Jahrhundert hindurch der .,Militär-Industrie-Komplex"
uns immer wieder mit dieser plötzlichen Militarisierung
der Wissenschaft konfrontiert hat, insbesondere mit der
verhängnisvollen Erfindung der Massenvernichtungswaffen
und einer thermonuklearen Bombe, die imstande ist, alles
Leben auf dem Planeten auszulöschen ...4

Tatsächlich ist die Iichtba" Geschwindigkeit- der Transport­


mittel, der Berechnung oder der Information - immer nur
die Spitze des Eisbergs der zmiichlbarerr Geschwindigkeit, eben
jener des Unfalls, und das gilt genauso für den Straßenverkehr
wie für den Wertpapierverkehr.
Um sich davon zu überzeugen, genügt ein Blick auf die
jüngsten Bö rsen krachs, das aufeinanderfolgende Platzen der
Spekulationsblasen auf dem geeinten Markt eines mittler­
weile vernetzten Finanzsystems.
Angesichts dieser für die Zukunft der Menschheit im
weitesten Sinne kat astrophalen Tatsachen ist man nichts
weniger als ge zwungen, auf die Sensibilisierung, wenn nicht
das Sichtbarmachen der Geschwindigkeit des Eintretens des
Unfalls zu drängen, der seinen Schatten auf die Geschichte
wirft.
Um das zu tun, anstatt vergeblich nach irgendeiner
black box zu suchen, welche die Parameter der finsteren
Jetztzeit enthüllen könnte, muss man versuchen, so schnell
wie möglich die unverhohlen desaströsen Eigenschaften der

neuen Technologien freizulegen, und das einerseits an han d


wissenschaftlicher Erkenntnisse, andererseits aber auch
durch einen philosophischen und kulturellen Ansatz, der
nichts mit dem Expmiionism11s der Produktwerbung zu tun
hat, weil, wie Malraux sagt, "die Kultur das ist, was den
Menschen zu etwas anderem macht als einen Unfall im
Universum ."

28
Die These des Unfalls

Fortschritt und Katastrophe sind zwei


Seiten derselben Medaille

Hannah Arendt

Seit Kurzem ist die These des Unfalls zu einem von den
Massenmedien immer wieder aufgegriffenen Thema gewor­
den, als ob der Unfall eine Opti011 wäre, ein Privileg, das dem
Zufall zugestanden wird auf Kosten des Irrtums oder der
bösen Absicht; und eben dadurch tritt die Verwechslungs­
gefahr zwischen der Sabotage und der Panne einerseits und
dem Selbstmordattentat und dem Industrie- (oder anderen)
Unfall andererseits zutage.
Tatsächlich fordert die nie dagewesene Anhäufung von
Katastrophen seit Beginn des 20. JahrhundertS bis heute,
wo die "künstlichen" Unfälle zum ersten Mal häufiger sind
als die "natürlichen", jeden und jede dazu auf, Stellung zu
beziehen, das heißt, sich für die eine oder die andere Version
eines sich gerade abspielenden Dramas zu entscheiden, da­
rum dieser seltsam akademische Begriff: die These du Unfalls.
Damit wird die Zäsur - der Bruch - seit dem Ende des
Ietztenjahrhunderts schrittweise zumArbeit.rthma und ent­
fernt sich dabei von der unerwarteten Überraschung, weil
die philosophische, seit Aristoteles klassische Definition
des Unfallbegriffs selbst wegfällt.
Auf einmal ist der Unfall nicht mehr unerwartet, er wird
zum - a priori skandalösen - Gerücht, bei dem eher der
Fehler als die Unfreiwilligkeit vorausgesetzt wird oder sich
umgekehrt in dem Bemühen, keine Panik auszulösen die
quasi-Überzeugung einer böswilligen Absicht verbirgt.
Hierbei kann man bemerken, wie die Schuld sofort denen
zugeschoben wird, die die offiifelle These des Fehlers oder des

29
Unfalls anzweifeln und eine ganz andere Version in Betracht
ziehen als jene der Mächtigen ...
Außerdem wird ja, sobald das katastrophale Ereignis in
seiner "terroristischen" Dimension erscheint, nicht mehr
der Begriff These, sondern jener (polizeiliche) der Spureiner
Straftat verwendet.
Diese semantische Unsicherheit verdeutlicht ausreichend
auch die nächste Verwechslungsgefahr zwischen dem
"echten" Unfall, der unerwarteter Weise auf die Substanz
einwirkt, und der indirekten Strategie eines Aktes eindeu­
tiger Böswilligkeit, der sich aber der Offensichtlichkeit
erklärter Feindseligkeiten entzieht, wie das früher das
klassische Kriegsrecht verlangte (;nit Sicherheit At\gSt machen,
aber ttlll jeden Preis die Erwd
i erung eines unsäglichen Schreckens ver­
hindern, die nur seinen anonymen Urhebern '{!f!,Ute kiime), in einer
Gesellschaft, welche die Schlachtfelder der großen Kriege
der Vergangenheit durch den Bildschirm ersetzt hat.

Die generelle Tendenz zur Leugnung jedes Attmtats- eine


aufkommende Form eines neuen Typs von Negationismus -
geht neuerdings einher mit der Bedeutung des Mad�e,rimages
eines Landes, einer Nation, die der Industrie eines Grenz­
tourismus offensteht, der sich dank der geringen transkon­
tinentalen Trausportkosten ständig weiterentwickelt.
Damm ist das Attentat von New York so schwerwiegend:
E s stellt nicht nur die Unantastbarkeit der Vereinigten
Staaten in Frage, sondern ebenso den Aufschwung der
großen Flugverkehrsunternehmen und die Liberalisierung
der touristischen Migration, ganz zu schweigen von den
katastrophalen Auswirkungen der eingestürzten Twin
Towers auf den Versicherungsmarkt.1
Von nun an wird also angesichts der Omnipräsenz des Ri­
sikos, oft sogar eines Hochrisikos für die ganze Menschheit,
das Problem der Venwltung der Angst wieder ein erstrangiges.
Um es mit den Worten eines ähnlich denkenden Autors
zu sagen, könnte man heute behaupten: "Wenn man das
Wissen in Form einer sich ständig ausdehnenden Sphäre

30
darstellt, vergrößM sich die Kontaktßiiche J!lit dem Unbekanntm in
i e."2
iibe1proportiona/er Wes
Indem man den geometrischen Begriff der Sphiire durch
den raum-zeitlichen der Dromosphcit·e ersetzt, kommt man
unschwer zur Schlussfolgerung, dass wenn die Wachstums­
geschwindigkeit des Unbekannten die Angst weiterentwi­
ckelt, diese Furcht vor den letzten Zielen der Menschheit,
deren erstes Zeichen die ökologische Bewegung ist, sich im
21. Jahrhundert noch verstärken wird; bis zum Auftauchen
einer letzten, eschatologischen Bewegung, deren Hauptbeschäf­
tigung das Einstreichen der Dividenden des Schreckens
wäre.
Das plötzliche Infragestellen des substanziellen Krieges, der
aus dem Politischen durch den Hyperterrorismus hervor­
gegangen ist, dieser ak�dentelle Krieg, der seinen Namen nicht
mehr nennt, ist auch ein Infragestellen des Politischen, und
nicht nur der traditionellen Parteipolitik.
So ist auch das Wechselspiel zu sehen, nicht mehr so sehr
das zwischen den klassischen Rechten und Linken, als viel­
mehr zwischen dem Politischen und dem Medialen, anders
ausgedrückt diese Macht der Verwaltung (der Suggestion)
von Information, die beginnt, in die Vorstellungswelt der
Bevölkerung einzudringen, die von einer Vielzahl von
Bildschirmen gebannt ist, was sich sehr schön mit der Glo­
balisierung der "Affekte" beschreiben lässt; diese plötzliche
�nchronisimmgder kollektiven Emotionen, die eine Verabrei­
chung der Angst stark begünstigt.
Die Angst verabreichen, um die Sicherheit, den gesell­
schaftlichen Frieden z u verwalten, oder umgekehrt die
Angst verabreichen, um den Bürgerkrieg zu gewinnen, das
ist die Alternative, die die heutige Psychopolitik der Staaten
kennzeichnet.
Leicht lässt sich erraten, dass die Beunruhigung, der
Zweifel am Ursprung des Unfalls Hauptbestandteile dieser
heimtückischen Verwaltung der Emotionen sind, sodass
morgen schon das Ktiegsministerium einemAngstrtrinis!elium Platz
machen könnte, geführt vom Kino und den Massenmedien,

31
die ja wesentliche Teile dieses audiovisuellen Kontimtums sind, das
den öffentlichen Raum unseres täglichen Lebens ersetzt.
Das ist der Grund für die strategische Dringlichkeit,
den Ursprung eines jeden "Unfalls" so lange wie möglich
im Unklaren zu lassen, denn der erklärte Feind und die
offiziellen Kämpfe der alten Staaten werden künftig vom
anonymen Attmtat und der Sabotage des Alltags abgelöst, in
den öffentlichen Verkehrsmitteln und in den Unternehmen
wie auch zu Hause.
Als Beispiel, das diese Verwandlung der "Spektakelpo·
lüik" beweist, zitieren wir den amerikanischen Film The
Sum oj All Fears (dt. Der Anschlag), gefördert vom Vertei­
digungsministerium mit der direkten Hilfe der CIA und
ihrem Agenten Chase Brandon, der sich nicht scheut, für
seine Dienste den Satz aus dem Johannesevangelium zu
beanspruchen: "lhr werdet die Wahrheit erkennen, und die
Wahrheit wird euch frei machen. "3

Im Winter 2001 kündigte das amerikanische Verteidigungs­


ministerium die diskrete, um nicht zu sagen heimliche
Einrichtung des Amtes für strategische Einflussnahme (OSI)
an. Dieses Amt, dem Unterstaatssekretär für Verteidigung
Douglas Feith unterstellt, hatte als veritables Ministerium
für Desinformation die Aufgabe, falsche Nachrichten zu
verbreiten, mit dem Ziel, einen terroristischen Feind zu
beeinflussen, der selbst genauso diffus war ... Eine TäiiScbtmgs­
strategie, von der die Medien der mit den USA verbündeten
Staaten selbstverständlich nicht ausgenommen waren.
Wie jedoch zu erwarten war, bemängelte der damalige
Verteidigungsstaatssekretär Donald Rumsfeld sehr bald
dieses Projekt als Manipulationsorgan der Öffentlichkeit in
den verbündeten oder feindlichen Ländern. Ende Februar
war die Affäre OSI offiziell beendet.
Ein schönes Beispiel für einen Unfall der Information,
anders gesagt für die Vergjft11ng, die Zweifel an der Richtigkeit
der Tatsachen schüren soll und so Beunruhigung über dif­
fuse Bedrohungen erzeugt, weil die unklare Wahrnehmung

32
von Ereignissen immer die Furcht in der Bevölkerung
nährt.
Selbstmordattentat oder U1lja/P. Injomtation oder Desinformatoi n?
Das weiß künftig niemand mehr so genau.
In diesem Beispiel unter vielen bleibt das Privileg des Un­
fall! (solange es notwendig ist) das der Verwaltung dieser
öffentlichen Angst, die nichts mit der privaten Angst des
Individuums zu tun hat, denn das Ziel ist vor allem die
Kont1·olk de1· E111otionen zu psychopolitischen Zwecken.
Angesichts dieser Aneinanderreihung medialer Ereignisse,
eines katastrophaler als das andere (Anthrax-Anschläge,
Bedrohung durch radiologische Waffen und so weiter) ist
es angebracht, die seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts
laufende Dramatisierung genauer zu betrachten, in New
York, Jerusalem, T oulouse und Karatschi und anderswo.
Das Hauptziel dieser Dramaturgie: niemals die durch diese
katastrophale�� Sze11m erzeugte Ceft ihlshtte tmterlmchen.
So erklärt sich auch das Crescendo gegen Ende eines
medialen Spektakels, das von der griechischen Tragödie
begonnen wurde, zur selben Zeit wie die Athener Demokra­
tie. Tatsächlich ist für den Altertumshistoriker wie für den
modernen Philosophen der Chor in der Tragb'die dieStadt selbst, in
der sich die Zukunft abspielt, zwischen der Bedrohung des
Einzelnen und dem Kriegjedergegenjedm; dieser Stasis, vor der
die Demokratie sich genauso schützen muss wie vor dem
einsamen Tyrannen.
Mit der Globalisierung der Echtzeit in der Telekommuni­
kation hat die öffmtliche Bühne des Theaters der Anfänge dem
öf!e11tlichm Bi/dscbim; Platz gemacht, wo sich die "acta publica"
abspielen, diese Liturgie, bei der Natur- und andere Kata·
Strophen wieder und wieder die Rolle eines De11s ex Macbina
oder aber des OmletLr einnehmen, das kommendes Entsetzen
ankündigt und dabei die Abscheulichkeit des menschlichen
Schicksals beklagt.

Durch das Fernsehen, das Hunderten von Millionen Men­


schen ermöglicht, das selbe Ereignis zur selben Zeit zu sehen,

33
erleben wir endlich die gleiche dramaturg.ische Performanz
wie früher im Theater, und seither, erklärt Arthur Miller,
"gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem Politischem
und dem Show Business, denn es ist die Performance eines
Kandidaten, die uns von seiner Aufrichtigkeit überzeugt. "4
So sehr, dass der vom Volk Gewählte kaum mehr als
ein lebendiger Q11olenmemr ist! Die Einstellung der Massen­
medien im Zeitaller der Gleichschaltung der Meimmgen ist es - im
technischen wie im übertragenen Sinne -, die Illusion, das
Stück, das vor unseren ungläubigen Augen abläuft, um je­
den Preis aufrecht zu halten; und alles, was diese kollektive
"Harmonie" stört, muss gnadenlos zensiert werden.
Wie man schon feststellen konnte, hat sich seit dem
11. September 2001die mediale Berichterstattung über
Gewaltakte überall vermehrt. Von lokaler Kriminalität bis
zur globalen Hypergewalt des Terrorismus kann niemand
länger diesem extremen Anstieg entkommen, und diese
Anhäufung verschiedenster Fakten hat nach und nach zum
Eindruck beigetragen, d
as
sjde
er SchutzimgleichenAugenblirle nlie
h iJISai!Jmengtslii'if ist.5
daJ World Trade Centerin lie
So hat die dramatische Darstellung beim Fernsehpu­
blikum eine doppelte Furcht erzeugt, eine Stereoangst. Zur
Furcht vor dem Mangel an öffentlicher Sicherheit ist die
Furcht vor den Bildern der "audiovisuellen" Unsicherheit
hinzugekommen, was eine plötzliche Hervorheb11ng des
häuslichen Schreckens bewirkt hat, der den kollektiven
Angstzustand verstärken sollte. "Wir leben vom Schall und
in dieser umgeworfenen Welt weckt das Echo den Ruf.",
stellte Kar! Kraus fest.6
Dieser slltmme St·hrei der Masse der Abwesenden, die im
selben Augenblick anwesend sind vor ihren Bildschirmen
und verblüfft das Desaster betrachten, bleibt nicht ohne
Folgen - wie das Wahlergebnis 2002 hinreichend beweist,
denn "Nicht das Vorkommnis, sondern die Anästhesie, die
es ermöglicht und erträgt, gibt Aufschluß."7
Die plötzliche stereoskopische Hervorhebung des Ereig­
nisses, ob Unfall oder Attentat, bedeutet also die Geburt

34
eines neuen Typs der Tragödie, nicht nur audiovisuell,
sondern binokHiar und stmophon, in der die Perspektive der
Echtzeit gleichgeschalteter Emotionen die Unterwerfung
des Bewusstseins vor diesem "Terrorismus der Beweise"
de vis11 bewirkt, was die Autorität der Medien noch ver­
mehrt.
Unfall oder Allen/at? Künftig wird die Unsicherheit zur
Regel, die Maske der Medusa drängt sich allen auf, dank
Minervas Helm oder vielmehr diesem Cyberhelm, der uns
ständig (in gespiegelter Form) die Wiederholung eines Schre­
ckens zeigt, der uns vollständig in seinen Bann zi eht .

Am 6. Mai 1937, in New York war es später Nachmittag,


ging das Luftschiff Hürdenburg über Lakehurst in Flammen
auf. Es war die erste große Katastrophe in der Luftfahrt des
20. Jahrhunderts, und sie kostete 34 Menschen das Leben.
Ein junger Journalist kommentierte das Ereignis live im
Radio. Er hieß Orson Welles, fast so wie der Schriftsteller,
der dreißig Jahre zuvor in seinem Buch Der Luftkrieg die
Bombardierung New Yorks durch deutsche Luftschiffe
beschrieb.8
Innerhalb von dreißig nicht endenwollenden Sekunden
hatte sich der Zeppelin vor den Nachrichtenkameras und
den Augen der tausenden Zuschauer, die ihn erwarteten,
entzündet wie eine Fackel.
Unfall oder Sabotage? Drei Untersuchungskommissionen
versuchten, die Ursachen dieses spektakulären Dramas in
einer Zeit politischer Unruhen festzustellen . .. Sie eitrigtetr sich
sehr bald auf eitren Ahschlussbericht, der die These des Unfalls vertrat,
was zur Folge hatte, dass der Personentransport mit dieser
Art Fluggerät endgültig eingestellt wurde.
Trotzdem hätte dieses Großunglück ohne das Radio und
das Kino der Fox-Movietone-Nachrichten nicht einen solchen
mythischen Widerhall erzeugt - von den 1500 Opfern der
Titanic 25 Jahre zuvor zum Beispiel war es weit entfernt.
Ebenso hätte dieses für die Zukunft der amerikanischen
Beziehungen zu Nazideutschland so fatale Ereignis ohne

35
das vereinte Genie von Orson Welles und Herbert George
Wells nicht diesen Platz in der Geschichte erhalten - eben in
dem Moment, als mangels eines Krieges der Welten (der ebenfalls
von Orson Welles inszeniert wurde) der zweite Weltkrieg
ausbrach, der schließlich den Himmel über Hiroshima und
Nagasaki in Flammen aufgehen ließ.
Während man sich daran macht, nicht nur die Luft­
schifffahrt wieder ins Leben zu rufen, sondern schon bald
Transatlantikflugzeuge mit 500 oder sogar 1000 Plätzen
zu bauen, stellt sich die Frage, was denn bei diesem gegen­
seitigen Überbieten der qualitative (wenn nicht quantitative)
Fortschritt sein soll?
Flt�gunfall oder Sabotage? Die Frage wird sich immer stellen,
es sei denn, man sieht endlich ein, dass allein das Vorhaben,
tausende Passagiere im selbenAugmblick in ein unddemselbm Flug­
gerät fliegen zu lassen, an sich schon ein Unfall, oder besser
eine Sabotage der vorausschauenden Intelligenz ist.

36
Das Museum der Unfälle

Eine Gesellschaft, die sich ohne Bedenken auf die Gegen­


wart, die Echtzeitkonzentriert, auf Kosten der Vergangenheit
und der Zukunft, so eine Gesellschaft konzentriert sich
auch auf den Unfall. Denn da alles, was geschieht, n
i jedem
Augenblick, und zwar meistens unerwartet geschieht, setzt
eine Zivilisation, die die Unmittelbarkeit, die Allgegenwart
und die Augenblicklichkeit verwirklicht, den Unfall und
die Katastrophe in Szene.
Die Bestätigung dieser Feststellung liefern uns übrigens
die Versicherungsgesellschaften, insbesondere die Sigma­
Studie, die kürzlich im Auftrag der zweitgrößten Versiche­
rung der Welt, der Firma Swiss.Re, durchgeführt wurde.
Diese vor kurzemveröffentlichte Studie, die seit 20 Jahren
alle technischm Katastrophen (Explosionen, Brände, T erroris­
mus und so weiter) sowie die Naturkatastrophen (Hochwas­
ser, Erdbeben, Unwetter ...) verzeichnet, berücksichtigt nur
die Schadensfälle über 35 Millionen Dollar.
Die Schweizer Analysten stellen fest: "Zum ersten Mal
seit den 90er Jahren, als die durch Naturkatastrophen verur­
sachten Schäden weit über den technischen Schäden lagen,
hat .rieb die Tendenz mit 70 % techniscben Scbäden umgeleßhrt."1
Das ist der Beweis, wenn denn einer nötig war, dass
unsere industrialisierte Gesellschaft eben nicht die Ruhe
begünstigt, sondern im Grunde genommen im Laufe des
20. Jahrhunderts die Unruhe und das hohe Risiko entwi­
ckelt hat, und zwar auch ohne Einbeziehung der fortschrei­
tenden Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Daher

37
besteht eine dringende Notwendigkeit der Umkehrung
dieser Tendenz, uns den katastrophalsten Unfo11en an�se�ifn, die
der technowissenschaftliche Geist je hervorgebracht hat,
damit die Gegenrichtung eingeschlagen werden kann, die
in einer Aussteil1ng
1 dei Unfalls als großes Rätsel des modernen
Fortschritts besteht.
Obwohl einige Automobilhersteller pro Jahr mebr als400
Cmsbtests durchführen, um die Sicherheit ihrer Fahrzeuge zu
verbessern, bürdet uns das Fernsehen ständig neue Zahlen
von Verkehrstoten auf (ganz zu schweigen von den zahl­
losen Tragödien, die die Nachrichten verdüstern). Es wäre
an der Zeit, dass sich neben den ökologiseben Ansätzen zur
Bekämpfung der Versehrnutzung der Biosphäre endlich die
Prämissen eines ts&hatologiscben Ansatzes etablieren, der sich
dem technischen Fortschritt entgegenstellt, dieser Endlkbkeit,
ohne die die berühmte Globali.rimmg vielleicht selbst nur eine
Katastrophe in Lebensgröße ist.
Eine gleichzeitig natürliche und künstliche Katastrophe,
eine allgemeine und nicht mehr für diese oder jene Technologie
oder die eine oder andere Weltreligion spezijiscbe Katastro­
phe, die bei weitem die derzeit von den Versicherungsge­
sellschaften abgedeckten Unglücksfälle übertrifft und für
welche das Langzeitdrama von Tschernobyl immer noch
das deutlichste Zeichen ist.
Um nicht morgen zu Zeugen eines vollständigen Unfalls glo­
balen Ausmaßes zu werden, der durch Kettenreaktionen
eine Unzahl an Unfällen und Katastrophen auslösen könnte,
müssen wir heute schon das Labor der Naturkatastrophe
bauen, bewohnen und bedenken, das M11st11t11 des Unfalls des
tecbni!cben Fortschritts, um nach dem - von Aristoteles offenbar­
ten - Unfall der Snbslanzen das künftige Eintreten des Unfalls
der Erkenntnis zu verhindern, dieses philosophischen GAUs,
den - nach der atomaren - die Genforschung in sich trägt.
Die Globalisierung ist heute, ob man will oder nicht, das
schicksalhafte Zeichen einer Endichkeit.
l In Weiterfüh­
rung Paul Valerys könnte man bedenkenlos behaupten,
dass "die Zeit der endlichen Welt beginnt" und dass man

38
dringend feststellen muss, dass das Wissen die Endlichkeit
des Menschen bezeichnet, genauso wie die Ökologie seiner
geophysikalischen Umwelt.

In dem Moment, wo einige in einem offenen Brief an den


französischen Präsidenten die Einrichtung eines "Museums
des 20. Jahrhunderts" in Paris verlangen2, scheint eine Be­
schäftigung nicht nur mit der historischen Verkettung der
Ereignisse dieses verhängnisvollen Jah rhunderts, sondern
auch mit der grundsätzlich katastrophalen Natur dieser
Ereignisse in der Tat angebracht.
Wenn nämlich "die Zeit die Akzidenz der Akzidenzien"3
ist, greifen die historischenMuseen schon jenem des vollstiin ·
digen U!!folls vor, dessen Vorläufer das 20. Jahrhundert bildete,
unter dem Vorwand einer wissenschaftlichen Revolution
oder auch dem einer ideologischen Befreiung.
Weil jede Museologie nach einer Museumspraxis verlangt,
bleibt das Problem der Ausstellung der Schäden des Fortschritts
bestehen und drängt sich uns als wichtigste Frage in einem
solchen Projekt auf.
Hierbei muss man feststellen, dass eben nicht die Ge­
schichtsbücher oder die Pressecbroniken, sondern das Radio,
die Wochenschauen im Kino und vor allem das Fernsehen
das betreffende Experimentierfeld vorbereitet haben.
Und in der Tat: Weil das Kino mit seinen aufeinanderfol­
genden Sequenzen ausgestellte Zeit ist, verändert das Fernsehen
und der Rhythmus seiner "grenzüberschreitenden" Allgegen­
wart die Geschichte, die vor unseren Augen abläuft.
Insofern hat die Allgemeingeschichte eine neue Art von
Unfall erlitten, den Unfall ihrerWahrnehmung devisu- eine
"kinematische" und bald auch "digitale", die ihren Sinn
verändert, ihre gewohnte Rhythmik, die eine des Abreiß­
kalenders war, anders ausgedrückt die der Langzeit, die sich
zu einer Hltrakmzen Zeit der televisuellen Augenblicklichkeit
wandelt und unsere Weltsicht revolutioniert.
"Mit der Geschwindigkeit hat der Mensch neue Arten
von Unfällen erfunden ... Das Schicksal des Automobilisten

39
zum puren Zufall geworden.", schrieb Gaston Rageot in
den 1930er Jahren.4
Was soll man heute zum großen Unfall der audiovisuellett
Ge.rch1vindigkeit und also des Schicksals der zahllosen Masse
der Fernsehzuschauer sagen? Wenn nicht das, dass sie die
Geschichte "akzidentell" macht, durch die brutale Karambo­
lage der Fakten, den Stau von früher aufeinanderfolgenden
Ereignissen, die sich plötzich
l simultan ereignen, ungeachtet
der Distanzen, die einst eine gewisse Zeitspanne für die
Deutung und Übermittlung erforderten.
Stellen wir uns zum Beispiel die Auswirkungen vor,
die die Praxis des digitalen Live-Morphing wahrscheinlich
auf die Authentizität von Zeitzeugenaussagen haben wer­
den ...
"Lang hat das Kino gebraucht, um aus anderen Kunst­
formen hervorzugehen, und heute gehen die bildenden
Künste aus ihm hervor", erklärte vor Kurzem Dominique
Paini in Bezug auf den starken Einfluss des Films auf die
Konzeption der zeitgenössischen Kunst.
Aber eigentlich geht die ganze Geschichte aus det-jilmischen Be­
sch/e;miguflg heriJOr, aus dieser kinematischen undtelevisionären
Bewegung! Darum diese wütende Bilderflut, dieser ständige
Auffahrunfall, dieser Crash von dramatischen Szenen des
Alltags in den Abendnachrichten. Wenn sich schon die
Printmedien immer mehr für die entgleisten als für die
pünktlichen Züge interessiert haben, so werden wir durch
die audiovisuellen Medien zu verblüfften Zeugen der Obet�
belichtung der Unfälle, von Katastrophen aller Art, von Kriegen
ganz zu schweigen.

Das Fernsehbild hat sich seit dem Ende des letzten}ahrhun­


derts ständig selbst dabei überboten, uns ein wachsendes
Ausmaß an Schrecken zu zeigen, und besonders seit dem
Aufkommen der Uveiibertragung die augenblickliche Über­
mittlung von Naturkatastrophen und Attentaten, die zum
Großteil den Katastrophenfilm antizipiert haben.
Und es geht noch weiter: nach der Standardisierung der

40
Meinungen seit dem 19. Jahrhundert sindwirjetzt p.lötzlich
Teil einer Sy11chrwTisierung der Emotionen.
Der Kampf der Fernsehsender um Zuschauer hat aus dem
katastrophalen Unfall einen Knüller gemacht, um nicht zu
sagen ein von allen begehrtes fantastisches Spektakel.
Als Guy Debord von der "Gesellschaft des Spektakels"
sprach, erwähnte er nicht die Tatsache, dass sich eine
solche Inszenierung des Lebens auf Sexualität und Gewalt
stützt; eine Sexuaität,
l die doch n
i den 1960ern angeblich
befreit wurde, dabei ging es doch hauptsächlich darum, die
gesellschaftlichen Schranken eine nach der anderen nieder­
zureißen, weil diese von den Situationisten als unerträgliche
Last empfunden wurden.
So sagte einer der Veranstalter der Festivals des fantas­
tischen Films n
i Avoriaz damals treffend: "utztendlich IJJtrd
der Tod den Sex ersetzen und der Serienmiirder den Latin Lover!'
Ob "Horrormuseum" oder "Todestunnel", hat sich das
Fernsehen also sukzessive in eine Art AltarfiirMmschmopfer
verwandelt. Indem es wiederholt die terroristischen Szenen
und Massaker ge- und missbraucht, setzt das Fernsehen in
letzter Zeit mehr auf Anstößigkeit als auf Verführung. Seit
dem sozusagen live übertragenen Tod einer im Schlamm
versinkenden kleinen Kolumbianerin vor zwanzig Jahren
bis zur Hinrichtung des kleinen Mohamed Al-Dura, der
im September 2000 in den Armen seines Vaters getroffen
wurde, war jeder Vorwand recht, um den Schrecken zur
Gewohnheit werden zu lassen ...
Umgekehrt, man erinnert sich, informierten in der ehe­
maligen Sowjetunion die Massenmedien niemals über Unfäl­
le, über Attentate. Mit Ausnahme der schwer umgänglichen
Naturkatastrophen zensurierten die Informationsorgane
systematisch die Durchbrechung der Normen, um nichts
als den Horizont einer strahlenden Zukunft vorzugeben ...
und das bis Tschernobyl.
Aber in Sachen Zensur hatten der Liberalismus und
der Totalitarismus ihre jeweilige Methode beim Zurück­
halten der Wahrheit. Für Ersteren ging es bereits um die

41
Über-belichtung des Zuschauers durch fortwährende Wieder­
holung von Dramen; während Letzterer sich für die Unter­
belichtung und die radikale Vertuschung jeder absonderlichen
Begebenheit entschied. Zwei panische Bewegungen, aber
dasselbe Resultat: die ZensurdurchErleuchtung, eni e verhängnis­
volle Blendung für den demokratischen Westen; die Ztn.Iur
durch VerootjederabJPeichendm Darstell11ng, Nacht und Nebel der
freiwilligen Blindheit für den dogmatischen Osten.

Genauso wie es eine Richterskala für Erdbebenkatastrophen


gibt, existiert hinterhältigerweise eine Skala der Mediatisie­
rung von Katastrophen, deren offensichtlicher Zweck es
ist, einerseits Vorbehalte gegenüber den Verantwortlichen,
andererseits einen exemplarischen Effekt zu erzeugen, der,
wenn es um Terrorismus geht, auf die Reproduktion der
Katastrophe mit Hilfe der dramaturgischen Verstärkung
hinausläuft, sodass man zur einst von Nietzsche studierten
Geb11rt der TragO'die heute die Analyse dieser Medie11tragö'die
hinzufügen müsste, in der die perfekte Synchronisierung
der kollektiven Emotionen der Zuschauer die Rolle des
antiken Chors spielt, nicht mehr in der Größenordnung
eines Theaters von Epidauros, sondern in der Lebensgröße
ganzer Kontinente.
Und selbstverständlich findet hier das M11se""' des Unfall.r
seinen Platz ... Tatsächlich ist die heutige mediale Skala
der Naturkatastrophen und Unglücksfälle so groß, dass sie
notwendigerweise die Bandbreite des Wahrnehmungsfeldes
zum ersten Maßstab einer neuen Erkenntnis machen muss,
nicht mehr nur derjenigen der Ökologie der Rinken angesichts
der Umweltverschmutzung, sondern auch derjenigen
einer Ethologie der Bedrohungen in Bezug auf die Vergiftung
der Meinungen, auf die Versehrnutzung der öffentlichen
Emotionen.
Eine Verschmutzung, die immer zuerst der Intoleranz,
und dann der Vergeltung das Wort redet, anders ausgedrückt
einer Barbarei, einem Chaos, das sodann die Gesellschaft
überflutet, wie rezente Massaker und Völkermorde nahe-

42
legen, diese Früchte der unheilvollen Propaganda der
"Hassmedien".
Nach der Vorstellung des vollständigen Unfalls werden
wir Zeugen der Zangengeburt eines "Katastrophismus",
der nichts mit demjenigen des "Endzeit"-Obskurantismus
von einst zu tun hat, der jedoch genauso viel Vorsicht und
Pascal'schen "Feingeist" erfordert. Und den Organen der
Masseninformationen fehlt grausamer Weise ebendieser!
Zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts ist es höchste Zeit, mit
Vorbedacht das, wasgeschieht, das, was unerwartetvor unseren
Augen auftaucht, zu analysieren, denn eine Katastrophe
kann eine weitere in sich tragen, wenn d erg ß/4 Unfall wirklich

die Folge derBeschleunigung der Geschwindigkeit der durch den Fort­
schritt erzeugten Phänomene ist, woraus sich die zwingende
Notwendigkeit ergibt, künftig den Unfall a11szustellen.
Ein allerletztes Beispiel, um diesen Abschnitt zu schlie­
ßen: Erst seit wenigen Jahren erfassen und überwachen
Astronomen die Asteroiden und Meteoriten, die sich auf
die Erde zubewegen.
Diese Boliden mit einigen Dutzend Metern Durchmesser,
Erd-Kreuzer genannt, stellen selbstverständlich eine Gefahr
dar, wenn sie sich auf Kollisionskurs mit unserem Planeten
befinden.
Die letzte Kollision ereignete sich 1908 in Sibirien, im Nor­
den der Tunguska, und die Explosion in 8000 Metern Höhe
verwüstete ein Gebiet von fast 2000 Quadratkilometern.
Um die Wiederholung einer solchen kosmischen Kata­
strophe besonders über bewohntem Gebiet zu verhindern,
wurde eine Arbeitsgruppe gebildet. Mit Hilfe der Interna­
tionalen Astronomischen Union konnte das Team eine
Risikoskala einführen, genannt Tt�rilm·Skala nach der Stadt,
in der sie 1999 etabliert wurde. Diese Skala, unterteilt in
Abschnitte von eins bis zehn, berücksichtigt Masse, Ge­
schwindigkeit und berechnete Flugbahn des betreffenden
Himmelskörpers.
Weiterhin unterscheiden die Wissenschaftler fünf Zonen:
die tJJeiße Zom, in der keine Möglichkeit (sie) eines Einschlags

43
besteht; die grüne Zone, in der eine winzige Wahrscheinlich­
keit des Kontakts besteht; die gelbe Zone, in der ein Einschlag
bereits wahrscheinlich ist; die (}Yange Zone, in der diese.Wahr­
scheinlichkeit groß ist; und schließlich die rote Zone, in der
die Katastrophe gesichert ist."
Eine keineswegs angstmacherische Illustration kosmischer
Tatsachen, deren Spuren im Nachtgestirn zu finden sind,
ganz zu schweigen vom MeteorCraterin Arizona, der mit sei­
nem Durchmesser von über einem Kilometer häufiges Ziel
amerikanischer Touristen ist und als allererster Versuch,
den kommenden Unfall auszustellen, die Dringlichkeit auf­
zeigt, im 21. Jahrhundert in Anlehnung an die berühmten
"Wunderkammern" der Renaissance das Mt1se1111J des Utifalls
der Zukrmft einzuführen.

44
Die Zukunft des Unfalls

Die Welt der Zukunft wird einen immer an­


strengenderen Kampf gegen die Grenzen unserer
Intelligenz bringen.

Norbert Wiener

Es gibt keinen Gewinn ohne Verlust. Wenn die Erfindung


der Substa11z indirekt die Erfindung des Unfalls bedeutet,
dann ist dieser umso dramatischer, je bedeutender und
leistungsfähiger die Erfindung ist.
Der verhängnisvolle Tag steht also bevor, an dem der
Fortschritt des Wissens unerträglich wird, nicht nur durch
seine Umweltbelastung, sondern durch seine Leistungsfä­
higkeit, durch eben diese Kraft seiner Negativität.
Und gerrau das wurde uns das ganze 20. Jahrhundert
hindurch mit dem konventionellen, dann nuklearen und
schließlich thermonuklearen Wettrüsten bestätigt, das
letztlich zu nicht einsetzbaren Waffen führte und die Prota­
gonisten zur Abschreckung verurteilte, eine Abschreckung
in alle Richtungen.
Tatsächlich markiert die Macht des atomaren Wettrüstens
selbst die äußerste Grenze einer solchen Macht, die plötzlich
in Ohnmacht umschlägt... Der Unfall ist hier die panische
Nutzlosigkeit dieser Art der Aufrüstung.
Die Generalstäbe gefallen sich also lieber in der Vorstel­
lung eines "Kriegsspiels" der Nullsummen, als wirklich
zu kämpfen, und die Virtualität ist nur das Zeichen für
die politische Inkonsequenz der Staaten, denn die Konse­
quenzen sind nicht mehr wirklich bedeutend - gleichzeitig
zu enorm, um ernsthaft in Betracht gezogen zu werden, und
zu fürchterlich, um ausreichend getestet zu werden... außer
von einem Wahnsinnigen, einem Vertreter des Selbst1llord­
attentats gegen die Menschlichkeit.

45
Lesen wir in diesem Zusammenhang Friedrich Nietzsche,
der n
i seinem Essai Geburt der Tragödie kurz nach dem deutsch­
französischen Krieg von 1870 schreibt: "... wie eine Cultur,
die auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grun­
de gehen muss, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden d.h.
vor hren
i Consequenzen zurück zu fliehen. Unsere Kunst
offenbart diese allgemeine Noth."1
Wenn tatsächlich "in derTragödieder Zustand der Civili­
sation aufgehoben"2 ist, wird mit ihm zugleich das gesamte
nützliche Wissen abgeschafft. Im totalen Kriegverkehrt die für
den erwünschten Sieg über die Feinde plötzlich notwendige
Mililarisienmg der Wi.mnschajt jede Logik und jede politische
Einsicht in ihr Gegenteil, sodass auf die antike Philo-Sophie die
Absurdität des Pbilo-Wahnsim1s folgt, der imstande ist, die über
Jahrhunderte hinweg angesammelten Erkenntnisse zunichte
zu machen. "Die menschliche Kraft, ins Maßlose gesteigert,
verwandelt sich alsbald in die Ursache des Untergangs. "3,
indem sie die Gesamtheit der Kultur der Nationen in den
Abgrund der verlorenen Sachen stürzt, unwiederbringlich
verloren, egal ob Sieg oder Niederlage folgen, denn ein
terroristisches und den wissenschaftlichen Verstand entwei­
hendes Wissen kann man nicht mehr tmeifunden machen.
Ebenso gibt es, genauso wie in der Nalllr Unwetter vor­
kommen, vergleichbare Unwetter der !Vdtur, und es wäre
eine veritable "Meteorologie" des Erfindergeistes nötig,
um die Gewillerder Dlfrchlriebenheittn i111 Fortschritt der Erkenntnis
zu verhindern, diesen Geist, der unseren Instrumenten
und Substanzm und damit ebenso den industriellen und
postindustriellen Unfällen zum Aufstieg zur höchsten Macht
verhilft; man denkt dabei zu allererst an die Genetik und die
Informatik, nach den Schäden des atomaren Fortschritts,
die uns in Hiroshima und dann in Tschernobyl in ihrer
ganzen fürchterlichen Wahrheit enthüllt wurden.

"Es ist höchst bemerkenswert, wie viel diejenigen, welche


alles können, nicht vermögen."\ behauptete Madame
Swjetschin im 19. Jahrhundert. Dieser Aphorismus erfasst

46
genau das Paradox des 20. Jahrhunderts und seiner wiederholten
Rell()lutionen, mit noch so vielen Waffen gegen die Versteh­
barkeit der Welt.
Heute, ganz am Anfang dieses 21. Jahrhunderts, wo
die viel gerühmte Globalisierung vor allem die verbotene
Frucht vom Baum der Erkenntnis st i - anders ausgedrückt
die Frucht der sogenannten "Informationsrevolution" -,
löst der Vertilger das Raubtier ab, so wie der Terrorismus
den ursprünglichen Kapitalismus ablöst.
Weil nämlich die Vertilgung die unlogische Schlussfol­
gerung aus der Anhäufung darstellt, ist der Jelbstn1örderische
Z11stand nicht mehr nur ein PSJ'chologischer, abhängig vom
Geisteszustand einiger gestörter Individuen, sondern ein
soziologischerund politischer, sodass der von Nietzsche ange­
kündigte U11ttrgartg künftig diese panische Dimension mit
einschließt, in der die Philosophie der Aufklärtlftg h
i ren Platz
an die Pbilosophie der Große abtritt. Und genau dieser Unfall
der ßrlwmtnis ergänzt den aus der technowissenschaftlichen
Forschung entstandenen Unfall de1· Substa!1z.
Tatsache ist: wenn die Materie drei Dimensionen hat -die
Masse, die Energie und die Iiforolation -, dann ist jetzt, nach der
langen Serie materieller und energetischer Unfälle im letzten
Jahrhundert, die Zeit gekommen für den logischm - und sogar
biologischen - U11fallim Zuge der terato/Qgüchm Untmuchungm
in der Genforschung.
"Die Maschine hat Gott den Krieg erklärt"s, schrieb,
wir erinnern uns, Kar) Kraus mit Einsetzen des Gemetzels
im ersten Weltkrieg ... Aber wie sieht es heute mit dieser
Globalisierung aus, die von den Fortschrittsgläubigen so
gepriesen wird?
Als Frucht der Revolution der Telekommunikation hat
die Globalisierung des Wissens nicht nur das menschliche
Tätigkeitsfeld dank der Synchronisierung der Interaktivität
auf ein Nichts reduziert, sondern sie führt zu einer histo­
rischen Veränderung des Ut!fo/tbegriffs selbst.
Der lokale Unfall, der präzise hier oder dort sich ereignet,
wird auf einmal ersetzt durch die Möglichkeit einesgiobalm

47
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(C�nf'�'f.d��}!ftht nur die "Substanzen" beträfe - die Sub­
u.�t�_tAe
J ;.\xrelt im Zeitalter des Austauschs in Echtzeit - ,

"--�
� auch die Kenntnis, die wir von der Wirklichkeit
haben, dieses Weltbild, auf das sich einst unser Wissen
gründete.
Damit stehen wir nach dem Unfall der Substanz im
kommenden Jahrhundert vor einem nie dageweseneo
Unfall, dem UnfalJ der lflirklühk.eit, des Raumes, der Zeit
und der substanziellen Materie, von dem die Zyniker keine
Ahnung hatten, den aber die Relativitätsphysiker im Laufe
des totalen Krieges nach und nach einführten.
"Zeitist 1111r eine l1111sion", erklärte Albert Einstein in dieser
Periode, die den ersten Weltkrieg vom zweiten trennte.
Ein Unfall der historischen Erkenntnis, anders gesagt der
Wahrnehmung der Dinge, eine veritable Derealisation - als
Folge einer nunmehr mit wachsender Geschwindigkeit
entweichenden Realität, vergleichbar den Galaxien im sich
ausdehnenden Universum - deren verheerende Auswir­
kungen schon Werner Heisenberg ahnte, als er vor über
fünfzig Jahren schrieb: "Niemand weiß, welche Wirklich­
keit die Menschen erwartet am Ende der Kriege, die jetzt
beginnen."6

Und nun, nach der Implosion des Kalten Kriegs zwischen


Ost und West, sti die Globalisierung vor allem eine Reise�"'
Mittelpunkt derErde, in die Finsternis einer Zeitverdichtung,
die den menschlichen Lebensraum endgültig abschließt,
was gewisse Utopisten schon den sechstm Kontinmt genannt
haben, obwohl es doch nur um das Hyperzmtnun unserer
Umwelt geht.
Dies ist gleichzeitig Ursprung und Ende einer nunmehr
verworfenen Welt, in der jeder ständig von dieser zentmim
Region ohne Ausdehnung oder Zeitspanne angezogen wird,
di e nichts als das Ergebnis, die Endstation dieser Beschleunig11ng
der Realität ist, die unsere fünf Kontinente, unsere sieben
Weltmeere, aber vor allem die Staaten und Völker der
ganzen Welt aneinander aufreibt.

48
Eine tellurische Verdichtun&.der Menschheitsgeschichte,
deren Erschütterungen, den Okologen zum Trotz, kein
Seismograf wahrnimmt; jene Erschünerungen der Natur­
katastrophe, bei der sich alles zusammenschiebt und staut in
jedem Augenblick, bei der alle Distanzen aufNull reduziert
werden, ausgelöscht durch den Unfall der Echtzeit in der
Inter-Aklivitöt, ein Beben der ganzen Erde, bei dem Ereignisse
nur �.och 11nzeitige 1mdfimul14ne Unfolk an der Oberfläche eines
aufs Außerste komprimierten Himmelskörpers sind und bei
dem die Schwerkraft und der atmosphärische Druck noch
verstärkt werden durch das augenblickliche Synchronisieren
jedes Austauschs.
In diesem Zusammenhang ist beunruhigenderweise die
Ökblogit weniger eine der Natur als eine der Kultur und der
ethologischen Katastrophen, die diese in sich trägt. Tatsächlich
sind die Selbstreferenz und Durchbrechung der Proporti­
onen, der Zeitspannen und Zeitskalen, die augenblickliche
Aufhebung jedes Intervalls zugunsten der Unmittelbarkeit
und die Vmch111u1z1mg dtrDistani!"der natürlichen Größe des
Globus unendlich viel aufschlussreicher für das Drama, die
Tragödic zukünftiger Erkenntnis als die VerschmlllzUIJg der
Substallzell der Natur. In der schrecklichen Kompression der
Extremitäten einer einstmals gigantischen Welt zu einem
Zentrum, dem Hyperzentrum des einzigen bewohnbaren
Planeten des Sonnensystems, "kann die Natur dem Fort­
schritt vertrauen, denn er wird sie rächen für alles Unrecht,
das er ihr zugefügt hat."7

Stellen wir uns abschließend drei Fragen: Soll die llfism1!thaft


beruhigen? Soll die Wissenschaft a contrario erschrecken? Und
schließlich, ist die W'issenschqft unmenschlitf!?
Solche Fragen werfen ein neues Licht auf die vielbe­
schworene "Fortschrittskrise", genauso übrigens auf jene,
keineswegs als Nebenschauplatz dieser Krise zu betracht­
ende aktuelle Medienpräsenz der Entdeckungen, dieses
"wissenschaftlichen Expressionismus", den gewisse ver­
rückte Wissenschaftler für sich beanspruchen, wie etwa der

49
Gynäkologe Severino Antinori, dieser "Doktor Seltsam" der
künstlichen Befruchtung, oder auch Friedrich Hermann,
Universitätsprofessor und Krebsforscher, der im Herbst
1999 von einer deutschen Kommission zur Aufdeckung
von Laborbetrug beschuldigt wurde, die Resultate seines
Teams verkauft zu haben und laut Fachpresse ein veritables
"Tschernobyl der Wissenschaft"9 auslöste!
Erinnern wir uns hierbei daran, dass das Recht auf freie
Meinungsäußerung der Boulevardpresse nicht gleichzusetzen
ist mit jenem der wissenschaftlichen Forschung, ohne dass es
früher oder später zum Philo-lVahnsinn einer nicht mehr nur
gewissenlosen, sondern auch sinnlosen Wissenschaft kommt!
Gestern die Atombombe, heute die informatische, und
morgen die genetische Bombe?
Als Professor Antinori im August 2001 der amerika­
nischen Akademie der Wissenschaften sein Projekt des
Klonens von über 200 Babys vorstellte, das den "Eltern"
die vollkommenen Kinder versprach, und die Eliminierung der
unvollkonmmtenvorsah, was war das anderes als demiurgischer
Wahnsinn? Jedenfalls der Beweis, so denn einer nötig war,
dass in der Wissenschaft wie auch anderswo das Schlimmste
manchmal sicher ist10•
Radioaktiver Niederschlag in Tschernobyl, genetisch ver­
änderte Organismen, reproduktives Klonen von Tieren und
dann von Menschen und so fort: die Wissenschaftler stehen
heute im Zentrum der Kontroversen, die uns am Beginn
des dritten Jahrtausends bewegen. Auch darum werden
seit Neuestern Agenturm mitSpezialisiemng atif Risikof!Janagement
gegründet, um zu versuchen, das Unwahrscheinliche, das
Undenkbare im Bereich wissenschaftlicher und technischer
Erkenntnisse vorherzusehen, denn seit einigen Jahrzehnten
schon stehen wir wehrlo.r vor den großen Risiken, die das
biologische und soziale Gleichgewicht der Menschheit
beeinträchtigen. 11
Bei diesem besonderen Aspekt des "Unfalls des Wissens"
geht es nicht mehr so sehr um die Zahl der Opfer als viel­
mehr darum, welcher Art von Gefahr man sich aussetzt.

so
Im Gegensatz zum Verkehr auf Straßen, Schienen und in
der Luft ist dieses Risiko nicht mehr quantifizierbar und sta­
tistisch vorhersehbar. es ist unqualifizierbar und grundsätzlich
mworhersebbargeworden, so sehr, dass es ein Auftauchen eines
nie dagewesenen Risikos mit sich bringt, dessen Dimension
nicht mehr nur ökologisch, also gebunden an die Bedingungen
des menschlichen Lebensraums, sondern eschatologisch ist,
denn es greift die vorausschauende Kraft des Geistes, die
Rationalität selbst an.12
DerSeelm Todnannte Rabelais das Wissen oh11' GeJJJism
s .. Das
.

wäre eine andere Art, heute das Problem des Lebensendes zu


betrachten, im Zeitalter, in dem die Euthanasie der Mensch­
heit als fatale Konsequenz einer Ortedäm!ltemngl3 erscheint,
die niemanden beunruhigt.

51
Der Erwartungshorizont

Poetisches Schaffen ist Schaffen


von Erwartung.

Paul Valery

Das Gefühl der Unsicherheit, das sich seit etwa zehn Jah­
ren in den Städten bemerkbar macht, entsteht nicht nur
im Zusammenhang mit sogenanntem "unzivilisiertem"
Verhalten der Stadtbewohner untereinander. Es scheint das
Symptom eines neuen Etwartuttgshon·zonts zu sein, des dritten
seiner Art nach der "Revolution" und dem "Krieg", das
heißt dem Ersten Weltkrieg; ich spreche von der Erwartung
des t)()//ständigen Unfalls, dieses großen Unfalls, der nicht nur
als ökl!!ogiscber seit dreißig Jahren in den Köpfen präsent ist,
sondern auch und vor allem als escbatologiscberUnfaU - einer
nunmehr verworfenen1 Welt, und zwar durch das, was
man "Globalisierung" nennt, was gleichzeitig erhofft und
befürchtet wird, worum sich alle Debatten heute drehen,
als wäre der antht<rpologiscbe Horizont der Ideen und Ideale auf
einmal verstellt - gleichzeitig von der Vem,eifuttg einer geo­
grafischen Einkapselung und von der Plötzlichkeit einer
Weltzeit der Interaktivität des Austauschs.
Es existiert tatsächlich im Augenblick eine immense
Erwartung, und die Horrorfilme sind nicht einfach nur
verpackte Produkte des Hollywoodkinos, das beschlossen
hat, dem Publikum systematisch die Angst einzujagen, dass
die Hölle sieb im Diesseits befindet; nein, sie sind Ausdruck
eines neuerdings wieder aufkommenden Endzeitgeftihls - dabei
geht es keineswegs um ein apokalyptisches oder millenari­
stisches Ende, das gleichbedeutend wäre mit dem Ende der
Geschichte, sondern ganz einfach um ein Ende der Geografie,
als hätte die vielbeschworene Konsumgesellschaft letzten

53
Endes die planetare Raumzeit konsumiert, gehörig dabei
unterstützt von der neu entstandenen Kommunikations­
gesellschaft.
Während die früheren Gesellschaften fast alle agoraphobi.rch
waren, zurückgezogen in ihrengesch/ossmm St ädtm, hinter h
i ­
ren riesigen Stadtmauem lebten, scheinen die postmodernen
Gesellschaften plötzlich klaustrophobisch geworden zu sein, so
als liefe die offene Stadt unserer Epoche letztendlich auf die
Ausschließung hinaus ...
i eine Grenze", sagte Aristoteles in seinem
"Die Vollmdung st
zweiten Axiom ... Die verworfene Weltder ökonomischen
und politischen Globalisierung ist tatsächlich die Ober­
grenze der Geopolitik der Nationen, und das Gefühl
panischer Unsicherheit in der Bevölkerung ist genauso ein
Beweis dafür wie die riesigen Migrationsbewegungen der
kommenden Neubesiedelung der Kontinente. Das ist eine
kostenlose Warnung, die sich unsere Demokratien aber zu
Herzen nehmen sollten, bevor künftige Tyrannen sie zu
ihrem Vorteil nützen.
So entsteht am Beginn dieses 21. Jahrhunderts neben der
Versehrnutzung der S11bstanzen (Luft, Wasser, Fauna und
Flora) die plötzliche Versehrnutzung der Distanzen und
der Zwischenräume, die doch unsere Alltagswirklichkeit
ausmachen; diesen Realrau111 unserer Aktivitäten, der durch
die Interaktivität der Echtzeitim augenblicklichen Austausch
aufgehoben wird.
Eine "graue Ökologie" einer Versehrnutzung der Natur­
treue, die die "grüne Ökologie" der Versehrnutzung der Na111r
durch chemische oder andere Erzeugnisse vollendet.
Man könnte hier das Auftreten von zwei keineswegs
amagonistischen, sondern komplementären Denkweisen
suggerieren: die Substontialistm (oder, wer das lieber hat,
die Materialisten) und die AkzidenMiistm (die Spiritualisten,
wenn Sie wollen).
Warum sollte man daraus eigentlich nicht schließen, dass
das Auftreten der ersten politischen Be1vegung des vo/IJtiindigen Un­
falls eben das war, was man heute landläufig "die Grünen"

54
nennt? Eine Bewegung, die sicherlich mehr gegen, die Ver­
schmutzung der Substanzen der Materie kämpft als gegen
jene der Distanzen der Zeit, die so gut wie jede Ausdehnung
und Dauer in unserem Lebensraum zusammenschrumpft;
n
i dieser menschlichen Umwelt, die, abgesehen von ihrer
Materie, eben doch unüberschreitbare geophysikalische
Dimensionen, Proportionen hat ...
Proportionen, die genauso lebenswichtig sind wie das
Wasser und die Luft zum Atmen für jene, die bereits
eine neue Große Eimpemmg befürchten, ähnlich jener im
17. Jahrhundert Oaut Michel Foucault ursächlich für die
Aufklärung) - diesmal allerdings nicht bezogen auf die
Asyle oder Gefängnisse des Ancien Regime, sondern ebm auf
ditganze Weil.
Es besteht also die dringende Notwendigkeit einer zwei­
ten politischen Bewegung des vollständigen Unfalls, die sich
zur ersten komplementär verhält - als escbatologische Partei,
parallel zur heute offiziell anerkannten ökologischefl Partei.
Diese doppelte ökopolitische Bewegung würde, wie
die Hö'hm und Tieje11 in der Stereophonie, einen Feldeffekt
erzeugen, ein Profil, das fortan für Linke wie für Rechte
gleich unentbehrlich wäre in unseren demokratischen In­
stitutionen, weil jeder weiß, dass die klassische polirische
Repräsentation langfristig keinen Bestand hat, solange
eine wirklich geopolilische Definition der Ökologie fehlt, mit
anderen Worten, solange nicht nur die Abgeordneten dem
berühmten "Prinzip Verantwortung" keine Rechnung
tragen, sondern auch die wissenschaftlichen und anderen
Entscheidungsträger nicht das "Prinzip Vorsicht" und
Wachsamkeit walten lassen.
In diesem Sinne ist die Krise oder vielmehr der Unfall
der "repräsentativen Demokratie" keineswegs vorüber­
gehend, denn der Femseh-Biirger kann nicht wie ein freier
Zuhörer oder Leser des 19. Jahrhunderts regiert werden,
da seine Weltanschauung buchstäblich eine andere ist;
eine Tatsache, die einige Umwe!tschützer, wie die Griine11
in Deutschland, schon begriffen haben und sich seitdem

55
um eine bessere Interpretation des Gfobali.rierungsbegriffs
bemühen, nicht nur im ökonomischen, sondern auch im
ökologischen Sinn.2

"Die zivilisierte Weh muss die wachsende Bedrohung durch


Terror katastrophalen Ausmaßes ernst nehmen", erklärte
George W. Bush am 15. März 2002 Ernst nehmen, natür­
...

lich, aber keineswegs tragisch, denn das hieße, sich dem Nihi­
lismus hinzugeben und übergangslos von der Euphorie der
Konsumgesellschaft in die Neurasthenie einer Gesellschaft
der Verlassenheit zu fallen, die Karl Kraus wahrnahm, als
er 1914 schrieb: "in die Neurasthenie des Hasses geworfen,
ist alles wahr. "3
Es ist unübersehbar, wie sehr heutzutage das politische
Spiel entdramatisiert, entwertet wird von dieser "neuen
Idee" eines sogenannten Glücks, die vom langen Schatten
der Aufklärung, aber auch jenem des Terrors transportiert
wird. Es ist leicht zu durchschauen, wie ohnmächtig wir
den großen Risiken gegenüberstehen, den großen Brüchen,
die sich ankündigen und vor denen unsere hedonistische
Kultur die Waffen streckt.
Eine geopolitische Ökologie wäre auch das: sich dem Un­
vorhersehbarm stellen, dieser Medusa eines technischen Fort­
schritts, der buchstäblich die ganze Welt ausrottet.
Einige Funktionäre sind schon der Ansicht, dass die groß­
en, markerschütternden Reformen der "Weltwirtschaft"
unmöglich sind ohne eine furchtbare weltweite Krise, die
alle aufschrecken wird und damit die Nationen, die Völker
zu einer plötzlichen, globalen Bewusstwerdung zwingt ...
Dabei wird allzu schnell vergessen, dass die Angst en
i schiechter
Ra�eber ist- das haben alle Diktaturen bewiesen, und zwar
seit der Antike.
Jeder weiß aus Erfahrung seit dem letzten Jahrhundert,
dass Diktaturen keine "Naturkatastrophen" sind, sie entste­
hen mit Hilfe von unzähligen uneingestandenen Mittätern,
und insbesondere mit Hilfe der kollektiven Emotion. Wer
erinnert sich nicht an die massive Angst um den von der

56
naturalistischen Ideologie der Nazibewegung erdachten
ubensratlm?
Betrachten wir nun ein kleineres, aber für die herrschende
Unruhe besonders aufschlussreiches Ereignis: seit kurzem
gibt es in Frankreich eine Union nationale de.r victimes de catastro­
phes (dt: Nationale Gemeinschaft der Katastrophenopfer),
die fast sechzig Hilfsvereine für Unfallopfer umfasst, von
denen des Hochwassers von Abbeville über jene des Stra­
ßenverkehrs bis zu denen der Explosion in Toulouse.
Diese Union Nationale steht fortan als alleinige Ansprech­
partnerin gegenüber den Behörden zur Verfügung. Als
Vorgeschmack auf eine künftige eschatologische Partei lässt dieser
Zusammenschluss von Vereinen die Möglichkeit eines Ent­
stehens nicht nur einer Koordination von "Opfergewerk­
schaften", sondern vor allem einer Partei der "Verunfallten
des Lebens" erahnen, die die im Aussterben begriffene Partei
der Ausgebet�teten ersetzen würde, diese Arbeiter, deren Sozi­
alismus früher für den Kampf um Gerechtigkeit stand.
In diesem Fall ist die verborgene Ideologie jedoch weniger
die einer legitimen Pflicht des Schutzes der Bevölkerung als
vielmehr die eines "Vorsichtsprinzips", das bis zur Absur­
dität des Mythos von der Vollkaskoversicherung4 getrieben
wird.

"Die Idee des Schutzes beherrscht und erfüllt das Leben",


behauptete einer der großen Massenmörder des 20. Jahr­
hunderts. Aber diese paradoxe Feststellung Adolf Hitlers
zwingt uns dazu, auf die Ursachen der verschiedenen
"Erwartungshorizonte" zurückzukommen, die jenem des
Gl·oßen Unfalls vorausgingen, für welchen heutzutage die
Ökologie ein Symptom ist.
Seit dem 18. und dem 19.Jahrhundert wechseln sich näm­
lich drei Typen von Erwartungen gegenseitig ab und gehen
ineinander über, ohne dass irgendjemand Anstoß nimmt
am ständigen Aufstieg ins Extreme, den sie darstellen.
Im 18. Jahrhundert führt zunächst die Revolution, oder
genauer: führen die Revolutionen, die amerikanische und

57
die französische zu einer Abfolge der bekannten politischen
Umstürze, bis zur Implosion der Sowjetunion Ende des
20. Jahrhunderts, nicht zu vergessen die nihilistische Re­
volution des Nazismus.
Diese politirchen Revolutionen zogen, unterstützt durch
den technowissenschaftlichen Fortschritt, die Vielzahl an
mergelischen und industriellen Revolutionen nach sich, jene der
Fortbewegung oder der Telekommunikation, die einzeln
aufzuzählen hier sinnlos wäre.
Auch Lenin erklärte fachmännisch: "Revolution ist Kom­
munismus plus Elektrifizierung."
Parallel zu diesem allerersten "Erwartungshorizont"
sollte das 19. Jahrhundert den zweiten hervorbringen,
jenen des Krieges, des Weltkrieges, wobei der erste weltweite
Konflikt von 1914 nach dem napoleonischen Zeitalter die
geopolitische Absurdität aufzeigte, bis der andere Konflikt,
der zweite Weltkrieg, der Totale Krieg sich gleichzeitig über
die menschliche Rasse als solche, in Auschwitz, und ihren
Lebensraum, ni Hiroshima, hermachte ... ganz zu schweigen
von den vierzig Jahren des Gleichgewichts des Schreckens
zwischen Ost und West, vom unter dem Vorwand der
"nuklearen Abschreckung" nicht erklärten dritten Weh­
krieg zwischen den feindlichen Blöcken, der aber durch
die Militarisierung der Wissenschaft und dem Wettrüsten
mit Massenvernichtungswaffen bald seine Grausamkeit
entfaltete.
Der enge Zusammenhang zwischen diesen beiden Erwar­
tungshorizonten bedarf keiner näheren Erklärung - weil
sich. der "Krieg" und die "Revolution" gegenseitig verstärken
im Namen eines technischen und politischen Fortschritts,
der mit Ausnahme einiger häretischer Denker unbestritten
ist ...
Ilören wir einen von ihnen zu diesem Thema: "Im
19. ]ahrhundert verlor der Begriff Revolution-Rebellion
schnell seine Bedeutung einer - aufgrund der schlimmen
Zustände - gewalttätigen Reform und wurde zum Ausdruck
für einen Umsturz dessen, was als solches besteht, was es

58
auch .rei11 111öge. Die Vergangenheit wurde zum Feind, und die
Veränderung als solche das, worauf es ankam"\ schrieb Paul
Valery in den 1930erJahren, um das allzu Offensichtliche zu
ergänzen: "Wir sind das am meisten gewohnheitsbestimmte
Volk überhaupt, wir Franzosen, die wir die Revolution
selbst zur Routine gemacht haben. "6
Was wahrscheinlich eine der verkannten Ursachen der
französischen Niederlage von 1940 ist, als der Vemichtungskrieg
schon seit langem die Revolution derA.Jifkl
ärong durch Nacht tmd
Nebel des Totalitarismus verdrängt hatte.
Trotzdem hatten während dieser für die Menschheit so
verhängnisvollen Zeit einige Frauen einen klareren Blick auf
die Tatsachen als so mancher Staatsmann. Hören wir, neben
Sirnone Weil oder Hannah Arendt, Brigitte Friang über die
Zwischenkriegszeit: "Meine ganze Kindheit über erzählte
man vom Krieg (...) Filme, Verdun, "Geschichtsbetrach­
tung", deren Kanonendonner mich als kleines Mädchen bis
in meine Alpträume verfolgte. Henri de Bournazel und der
Commandant Raynal waren mir ebenso geläufig wie Bibi
Fricotin oder Zig und Puce7! Ein solch intimer Austausch
bleibt selten ohne Folgen. Krieg, Krieg! Das war das Reiz­
wort, das endgültige Wort, das Leitmotiv. Der Krieg war
so unausweichlich, dass ich ihm nicht auswich."8
Ein Schlusspunkt, wie man glaubt, aber noch ein Wort,
ein geistreiches, von Pierre Mendes France 1968: "Es ist wie
1788, nur ohne die Revolution nächstes]ahr." Und tatsäch­
lich, die Vorfälle dieses Frühlings sollten "Vorfälle" bleiben,
eine Art Literarische Kommune, nicht mehr ... Das Konzept
der "Revolution" hatte seine ideologische Fruchtbarkeit
erschöpft und war und blieb nicht mehr als eine dumpfe
Unruhe, die Envat1ung einer namenkmn Katastrophe, in der die
entstehende Ökologie die Nachfolge dieses "Grand Soir"
antrat, der sich ohnedies durch die Implosion der UdSSR
in Luft auflöste, kurz nach Tschernobyl, der Katastrophe,
die vor einer weniger strahlenden als verstrahlten Zukunft
warnte.

59
So ging das 20. Jahrhundert nach mehr als zweihundert
großen Kriegen und Hunderten von Millionen Opfern
zu Ende: erster Weltkrieg, 1 5 Millionen Tote; spanischer
Bürgerkrieg, 500000; zweiter Weltkrieg, 50 Millionen;
Koreakrieg, 4 Millionen; Iran-Irak-Konflikt, 500000. Was
den Golfkrieg anbelangt, spricht man von 200000 Opfern,
und er ist immer noch nicht vorbei, wie es scheint ...
Aber bleiben wir bei Revolution oder Krieg, und lenken wir
unseren Blick auf da.r, wasgeschei ht, um dem Unterscheidungs­
vermögen eine Chance zu geben. Jenseits der Ethik scheint
die Bio-Ethik heute beunruhigt ob der großen Risiken,
denen die "revolutionären" Entdeckungen der Biotechno­
logien die Menschheit aussetzen, die bald zur Bedrohung
einer Art zelluliirm Hiroshm
i as führen könnten, bei dem die
Ge11etikbombe diesmal die Form des Menschen selbst verwü­
sten vvürde, so wie die At01t1bombe seinerzeit den Horizont
seiner Umwelt verwüstet hat.
In diesem Zusammenhang gibt es genug Lebensbedroh­
liches, von der künstlichen Befruchtung über das Klonen
bis zur aktiven Sterbehilfe und zur Euthanasie, ganz zu
schweigen von biologischen Waffen. Es ist alles in Stellung
gebracht für den Großen Unfall im Buch des Lebens.
Zu Beginn des Jahres 2002 beispielsweise, gleichsam als
symbolische Markierung des Heraufdämmerns des dritten
Jahrtausends, hat Doktor Severino Antinori, dessen gynä­
kologische Klinik sieb in Rom, der ewigen Stadt, befindet,
wie der Erzengel Gabriel die baldige Geburt des ersten
!!llmschlichm Klons angekündigt - da offenbar gewisse anonyme
und sorgfältig geheim gehaltene Leihmütter bereit waren,
diesen mit Hilfe eines "reproduktives Klonen" genannten
Verfahrens auszutragen.
S o wird also der Hoffnung auf die Unsterblichkeit der See­
le und auf die Sonne der Wiederauferstehung der Schatten
der Retorten eines trickreichen genetischen Geists entgegenge­
setzt ... Man ersetzt die Auferstehung der Toten durch die
Verdupplu11g de1· Lebmden, und auf einmal verkündete der gute
"Wunderdoktor", dass das geklonte Kind wahrscheinlich

60
zwischen Ende Dezember und AnfangJanuar 2003 auf die
Welt käme, der erste Replikant der menschlichen Spezies.
Warum nicht gleich zu Weihnachten?
Kommen wir abschließend auf das "Gefühl der Unsicher­
heit" zurück, das heute den Geist der Massen beherrscht und
das politische Leben der westlichen Länder bereits stark
beeinflusst.
Für gewisse Bevölkerungsschichten, die von der Durch­
setzung der Automatisierung der postindustriellen Pro­
duktion voll betroffen sind, scheint die nunmehr deutlich
wahrnehmbare Angst nicht durch den bedrohlichen
Begriff einer endgültigen und strukt11relk11 Arbeitslosigkeit
hervorgerufen zu werden, auch nicht durch "unzivilisier­
tes Verhalten" und häusliche Gewalt, sondern durch eine
tiefer sitzende Angst vor dem endgültigen Versagen, das
selbst einen Teil des Fortschritts der Erkenntnis ausmacht,
welcher doch bis dahin die Ära der Industrialisierung so
sehr geprägt hatte.
Tatsächlich ging die allererste Erwartung der "Revolu­
tion" Hand in Hand mit der eines gleichzeitig philoso­
phischen und wissenschaftlichen Fortschritts, der dann aber
durch den Wirbelsturm des Krieges hinweggefegt wurde;
eines totalen Krieges, der durch die Militarisierung der
staatlichen Wirtschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts schon
sein Zerstörungspotenzial ankündigte. Und dieses Gefühl
der Angst - und oft des Hasses - ist alles, was davon heute
noch im Bewusstsein übrig ist und die Überflussgesellschaft
kennzeichnet.
Hören wir dazu Kar! Kraus: "Die Unterwerfung der
Menschheit unter die Wirtschaft hat ihr nur die Freiheit
zur Feindschaft gelassen." 9
Im Jahre 1914, aus dem dieser warnende Satz stammt, ging
es lediglich um das Entstehen einer verhängnisvollen neuen
"Kriegswirtschaft", die ausschließlich die europäischen Staa­
ten in die Knie zwingen sollte, während es heute, zu Beginn
dieses unseres 21. Jahrhunderts, um die Konsequenzen dieser
polilüchen Desastenvirtschajt geht.

61
Denn heute ' das ahnt und befürchtet
.. jeder, ist die Welt
verschlossen, verworfen, und die Okologie ist plötzlich
zur dritten Dimension der Politik geworden, ja zu ihrer
Oberfläche.
Nach dem Stadtstaat und dem Nationalstaat ist die maßlose
Föderation der europäischen oder anderen Gemeinschaften
nichts als die lächerliche Maske einer geopolitischen Nieder­
lage, deren Deckname G��balisienmg lautet - der v�llständige
.
Unfall einer politischen Okonornie, die soeben die geophy­
sische Grenze ihres Spielraums erreicht hat.

62
Die unbekannte Größe

"Der Zufall sieht uns ähnlich", schrieb Georges Bernanos.


Und in der Tat, wenn das Leben früher noch ein Theater,
eine Bühne mit auswechselbaren Kulissen war, dann ist
das alltägliche Leben heute ein purer Zufall geworden, ein
permanenter Unfall mit seinen vielfältigen Wendungen,
und dieses Spektakel springt uns ununterbrochen aus den
Bildschirmen entgegen.
Tatsächlich ist der Unfall plötzlich be1vohnbm· geworden
auf Kosten der Substanz der Alltagswelt ... Eben das ist der
"vollständige Unfall", der uns vollständig in sich aufnimmt
und manchmal sogar physisch auflöst.
So ist in einer nunmehr verworfenen Welt, in der alles
durch die Mathematik oder die Psychoanalyse erklärt wird,
der Unfall dasjenige, was an Unerwartetem, an wahrhaftig
Überraschendem bleibt, die unbekannte Größe eines plane­
raren Lebensraums, der vollständig entdeckt s
i t, überbelich­
tet durch jedermanns Blick, und aus dem das "Exotische"
plötzlich verschwunden ist zugunsren des "Endotischen",
nach dem Victor Hugo verlangte, als er uns erklärte,
dass "man aus sich selbst heraus das Äußere betrachten
muss"1 - ein furchtbares Protokoll des Erstickens.
"Ursprünglich" , schrieb Freud, "enthält dasIch alles, spä­
ter scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges
Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit
umfassenderen, j a - eines allumfassenden Gefühls (...) ."2
Ursprünglich hat Freud vielleicht Recht, aber am Ende ­
und in ökologischer Hinsicht sind wir dort -, wenn unser

63
Gefühl aufgrund der zeitlieben Kompression der Wahrneh­
mungen wieder allumfassend wird, dann wehe uns, denn
das wird eine Große Einsperrung sein, die Einsperrung in die
winzige Kammer eines Weltgefühls, das früher "ozeanisch"
war und plötzlich auf ein klaustrophobisches Ersticken
beschränkt wird.
Genau das stellt übrigens die Astrophysik auf bittere
Weise fest: "Der Bruch mit dem großen Ganzen der großen
kosmischen Ereignisse ist eine der Ursachen für die Regel­
losigkeit der menschlichen Gesellschaften.".l
Zum Beweis dieser astronomücben Fraktur der Globali­
sierung betrachten wir jetzt ein Phänomen exzentrischer
Verschmutzung, das von einem Verein zum Schutz des
Nachthimmels buchstäblich zutage gefördert wurde.
Aufgrund der enormen Lichtverschmutzung, die durch
zu starke elektrische Beleuchtung verursacht wird, erleben
zwei Drittel der Menschheit heute keine wirkliche nächt­
liche Dunkelheit mehr.
Auf dem europäischen Festland zum Beispiel ist die
Hälfte der Bevölkerung nicht mehr in der Lage, die Milch­
straße zu erkennen, und nur die Wüstenregionen unseres
Planeten sind noch von Dunkelheit umhüllt - sodass eben
nicht mehr nur der Nachthimmel bedroht ist, sondern die
Nacht selbst, die große interstellare Nacht; diese andere
unbekannte Größe, die doch gleichwohl unser einziges
offenes Fenster zum Kosmos darstellt.• Die derzeitige
Situation ist, dass die International Dark Association eine
surrealistische Petition gestartet hat, um die Nacht ��m Welt­
kuitnmve �� erklärm!

"Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht", schrieb
Nietzsche, als es noch um nichts als Sonnenlicht ging ...
Aber schon jetzt ersetzt hier und da, und oft sogar überall
gleichzeitig, die Kontemplation des Bi/dschinns nicht mehr
nur jene des Ge.rchriebonm, der Schrift der Geschichte, sondern
auch jene der Sterne, sodass das audi01Jimelle Kontitmmn das
substanziellere der Astronomie ablöst.

64
In dieser "Desasterschrift" der Raumzeit, in der die Welt
in Echtzeit abrufbar wird, ist die Menschheit mit Kurzsich­
tigkeit geschlagen, reduziert auf die plötzliche Verwerfung
einer durch den Unfall der Zeit i n der Hochgeschwindig­
keitstelekommunikation hervorgerufenen Einschließung.
Den vollstä111Jigm Utifa/1der Globalisierung �bewohnen heißt
nunmehr, nicht nur das Sehen zu ersticken, wie das Abel
Gance und dann die cineastischen Apostel des Cinemascope
wollten, sondern das alltägliche Leben einer Spezies, die doch
fähig ist zur Veränderung des Seins.
In diesem Stadium der Einsperrung wird das Ende der
Geschichte zu einem Huis Oos, wie die Lagerhäftlinge schon
treffend erklärten: "Unser Grauen, unsere Fassungslosigkeit
ist unsere Klarheit."5
Alles ist da, schon dagewesen, schon gesehen und bald
sogar schon gesagt ... Bleibt also nur noch das Warten, das
lange Erwarten eines katastrophalen Horizonts, der dem geo­
grafische�� Horizont des runden Erdgestirns folgt.
So folgt auf den hier oder dort gelegenen fokaleil Unfall
der große Unfall, der globale Unfall, der sich einen nach
dem anderen alle Vorfälle einverleibt, die heute das gesell­
schaftliche Leben charakterisieren, bis diese Große Enrpemmg
i
die Verbannung beendet, und zwar allein zugunsten einer
kausalen Verknüpfung, denn heute "trifft alles ein, ohne
dass ein Fortbewegen nötig wäre", eine Bewegung hin
zum Anderen, zum ganz Anderen, wie das früher bei der
Bewegung auf den die Landschaft begrenzenden Horizont
zu war.
Ob es Nietzsche nun gefällt odernicht, hier ist es nicht mehr
Gott Vater, der stirbt, sondern die Erde, Mutter allen Lebens
seit Anbeginn der Zeit. Mit dem Licht, der Lichtgeschwin­
digkeit, löscht man die Matme aus. Auf den tellurischen Unfall
des Erdbebens folgt die Erschütterung eines Zeitbebens,
dieser Weltztit, die alle Distanzen schluckt.
Im plötzlichen Zusammenschieben aufeinanderfolgender
Ereignisse, die simultan geworden sind, werden dieAnsdeh­
mmg und die Da11er gelöscht.

65
Nachdem man die Materie durch die Atombombe zersetzt
hat, vernichtet man sie durch die Beschleunigung, durch die
spiegelnde Bombe der Bildschirme, diese Spiegel der Zeit,
die den Horizont aufheben.

Im Gehege ihrer terrestrischen Umwelt steht die Mensch­


heit an der Schwelle zu einer interstellaren Leere, die sie
mitnichten erobert hat, sondern fürchtet: "Die Grenzerfah­
rung ist die Erfahrung dessen, was ,außerhalb des Ganzen'
steht, wenn das Ganze jedes Außerhalb ausschließt."6
An diesem Punkt der Vollendung, den wir im 21. Jahr­
hundert erreicht haben, kündigt sich also weniger das Ende
der Geschichte als vielmehr das Ende der vielfältigen Zeit
an. Durch die Aufhebung der Disranzen zwischen den
Ortszeiten der Geophysik und angesichts der Lichtjahre
einer rein astrophysikalischen Zeit hat sich plötzlich "der
Mensch in gewisser Weise am Omegapunkt eingefunden, was
bedeutet, dass es nichts mehr Anderes als den Menschen
gibt und dass es außerhalb von ihm kein Außerhalb mehr
gibt." 7
Die letzte Wendung des Philowahns, sozusagen des
Unfalls der Erkenntnis, bei dem "der Mensch, indem er
das Ganze durch seine eigene Existenz behauptet, alles
erfasst, weil er sich in den geschlossenen Kreis des Wissens
einschließt. "8
Nun ist innerhalb dieser Einfriedung etwas Unmäßiges
im Begriff zu entstehen, nicht mehr eine "Flucht in den
Wahn" wie bei den Abnormen in den geschlossenen An­
stalten des 18. Jahrhunderts, sondern eine Auswanderung der
Mächtigen in den Philowahn; diese von Swift gebrandmarkten
verrückten Wissenschaftler, die der manischen Maßlosigkeit
mehr grundsätzlich unmenschlicher als übermenschlicher
Entdeckungen ohnmächtig gegenüberstehen.
Und wie soll man die Tatsache, dass mehr als zehn
Millionen Menschen in Frankreich sich heute dem Wahn
der Videospiele hingeben und Netzwerkhallen aufsu­
chen, so wie man in eine Opiumhöhle geht, und sich ins

66
Internet einloggen, so wie man sich einen Schuss setzt,
interpretieren, wenn nicht als schwerwiegendes klinisches
Symptom?
Als Phänomen panischer Abhängigkeit hat die Mode der
"Onlinespiele" dem von der Psychiatrie geprägten Begriff
der Derealisiemng eine neue Dimension hinzugefügt, weil sie
Jugendliche und Erwachsene in eine Parallelwelt ohne Konsi­
stenz führt, in der sich jeder nach und nach daran gewöhnt,
den Unfall eines audiovisuellen Kontinuums zu bewoh11m, der
unabhängig ist vom Realraum seines Lebens.
In diesem Stadium einer kybernetischen Einschließung,
die als Vervollkommnung des Fortschritts dargestellt wird,
in der die geringste Information und das kleinste Ereignis
in einem Augenblick die Welt umrundet, beendet die Glo­
balisierung die "Revolution" genauso wie den klassischen
"Weltkrieg", denn dank der Allgegenwart des Fernsehens
kann der kleinste Vorfall "revolutionär" werden, nimmt
das kleinste Attentat, ständig wiederholt, die riesenhaften
Ausmaße eines globalen Konflikts an!
Und schließlich ist das der Effekt des Erreichens des
Omegapunktes, ein "meteorologischer" Effekt, ein Abbild
jenes Effekts, der aus dem Flügelschlag eines Schmetterlings
in Asien einen Hurrikan in Europa macht- auf die gleiche
Art, wie das Phänomen EINiiio heute das Weltklima durch­
einanderbringt.
In diesem Sinne, und wie Maurice Blauehot in Bezug auf
die Aufklärung sagte: "Das Außerhalb einschließen, das
heißt, es als Innerlichkeit der Erwartung oder der Ausnahme
darstellen, das ist die Fordenmg, welche die Gesellschaft
dazu bringt, den Wahnsinn zu erschaffen, das heißt, ihn
möglich zu machen."9
Ebendies passiert mit unseren globalisierten Gesell­
schaften, wobei das Lokale das Äußere darstellt und das
Globale das Innere einer abgeschlossenen Welt, die nur durch
die Existenz von Informations- und Hochgeschwindig­
keitskommunikationsnetzwerken definiert ist, auf Kosten
jedweder "Geopolitik", denn die Echtzeitdes (ökonomischen,

67
politischen ...) Austauschs siegt endgültig über den RealraHm
der Geophysik der Weltregionen.

Indem sierieb btschk1migt, stiilpt die G/obalisierung die Realität um wie


einen Handschuh. Heute ist die Nähe fremd und das Exotische
liegt nebenan. Auf die Dereguierung
l des Transportwesens
folgt die Regellosigkeit einer Verwerfung, die die Ausschließung
des "Nächsten" zur Folge hat, weil irgendein zufällig in der
Massenkarambolage der Zivilisation angetroffener "Ferner"
momentan bevorzugt wird.
Auf die Erwartungshorizonte einer längst vergessenen
dreihundertjährigen Vergangenheit - die der Revolution
und des totalen Krieges - folgt die furchtsame Erwartung
des Großen (öko-eschatologischen) Unfalls, für den Industrie­
unfälle und Terrorattentate immer nur Vorankündigungen
sind, Symptome einer kompletten Kehrtwendung der
Menschheit.
Doch diese allerletzte Erwartung ist untrennbar mit dem
U!ifa/1 der Zeit10 verbunden, denn die Aneignung der Licht­
geschwindigkeit bringt die Pluralität der sozialen Zeiten
durcheinander und begünstigt eine generelle Synchrrmisierung
des Handelns, weil die Interaktivität sich heute über die
gewohnte Aktivität hinwegsetzt. Ein Ferneingriff, der nicht
nur aus familiären und sozialen Beziehungen, sondern auch
aus staatlicher Wirtschaftspolitik und Militärstrategie die
Nachhaltigkeit entfernt.
Daher auch die vor Kurzem erfolgte Umkehrung des
substanzielkn (oder auch
Clausewitz'schen) !Vüges in diesen zy­
folligm KTieg, der anonym und grundlegend aleatorisch ist, der
die erklärte Feindschaft Industrie- oder anderen Unfällen
annähert und damit einer verhängnisvollen Verwechslung
von Attentat und Unfall Vorschub leistet.
Tatsächlich ähnelt der globale Terrorismus dem Schicksal
und seinen "Schlägen", die Macht des Schicksols beendet die
Macht der klassischen, mit Massenvernichtungswaffen
ausgerüsteten Armeen, Erben einer längst vergangeneo
Weltkriegsära.

68
Aber hören wir Victor Hugo: "Ich habe den ,Belage­
rungszustand' definiert und begrenzt: wenn die Anarchie
die Willkür in den Straßen ist, dann ist die Willkür die
Anarchie der Macht."11 He
11
tej
edoc
h ist der ,,Belogenmgs�slo11d"
die Globaisiemng,
l diese Verwerfung, die jeden Staat in einen
Polizeistaat verwandelt oder bald verwandeln wird, jede Ar­
mee in eine Pok'zei und jede Gemeinde in ein Ghetlo...
Insofern ist der geschlossene Feldeffekt der Globalisie­
rung nichts anderes als die fortgesetzte Erstickung des
Rechtsstaates mit repräsentativer Demokratie, weil die
Kontrollgesellschaft jene der lokalen Einschließung ersetzt.
Nach der aus der industriellen Revolution hervorgegan­
genen Standardisierung kommt jetzt die Synchronisierung
(der Meinungen wie auch der Entscheidungen), um das
neueste Modell der Gewaltherrschaft zu installieren: jenes
der Echtzeit einer erzwungenen Interaktion, die den Rßalrautll
der Aktion und freien Reaktion in der Weite einer offenen
Welt ersetzt ... doch so weit ist es noch nicht.
Wmn die Intemktivität S'ich if/T lrifonllafion verhält wie die Radio­
aktivifiit �"Energie - als kontaminierende und Zerstörerische
Kraft -, dann häuft der vollständi ge Unfall der Zeit das
schrittweise Verschwinden des Nächsten und seiner Ver­
ständlichkeit an und macht die ganze Welt nach und nach
undurchschaubar. Nach dem Unfall der Substanzen, anders
gesagt der Materie, kommt also die Zeit des Unfalls der
Erkenntnis: das ist die sogenannte Revolution der Infor­
mation, und das ist auch die Kybernetik: die Willkür der
Anarchie in der Staatsmacht, weil die verschiedenen Kräfte
der Gemeinschaft nicht nur durch die A11tomatiS'ierrmg «�tlätig,
sondern auch noch durch die plötzliche Sjwchronisiemng der
menschlichen Handlungen aus der Balmgewotjm sind.

69
Zweiter Teil
Die öffentliche Emotion

"In der Belagerungskunst", so Clausewitz, "kommt zuerst


der Krieg selbst vor." Diese militärische Kunst unterschied
sich also von den Tumulten der Anfänge in der Geschichte
der Konflikte.
Heute, und das kann jeder leicht feststellen, taucht der
"Hyperkrieg" wieder auf, in der Kunst, mit Hilfe von
Massenmedien Panik zu erzeugen.
Als rein mediales Phänomen bringt diese Situation
ihrerseits eine Reinterpretation des klassischen Begriffs
Abschreckung mit sich. Gestern die "militärische", morgen
oder übermorgen die "zivile" Abschreckung, zahlreich sind
die Bedrohungen für die Demokratie.
Tatsächlich ist es gerade die Befestigung, die in der
Geschichte am deutlichsten den Willen verschiedenster
Herrscher zu abschreckender Wirkung verkörpert. Punk­
tuell, linear oder durch Verbindung befestigter Punkte
signalisiert der Festungswall eine abschreckende Absicht
gegen jedwede massive Aggression, doch Thierry Wideman
merkt mit Recht an: "Von strategisch em Standpunkt aus
gesehen scheint eine allgemeine Theorie konventioneller
Abschreckung unrealisierbar, es sei dmTl, sie grii11det lieb a11j
die C/ai(SI!witz'srhe These eifler ��m A:>..io"' erhobmm Überlegmbeit der
Verteidig;mg, die Vielzahl der Variablen macht nämlich jede
Generalisierung unmöglich."1
Als operatives strategisches Konzept wurde die Abschre­
ckung erst mit der Atombombe sinnvoll...
Gestern die militärische Abschreckung, die angesichts

73
gewisser "Schurkenstaaten" noch sinnvoll erschien. Morgen
die zivile Abschreckung, angesichts eines latenten, wenn
nicht offenkundigen Hyperterrorismus... Wenn man etwas
derartiges schreibt, muss man natürlich klarstellen, dass der
Krieg schon seit seinen Anfängen mit dem Belagenmgsfieber,
dieser kollektiven Psychose einhergeht, die die Belagerten
befällt, diese lebendig Eingemauerten hinter ihrer Schutz­
mauer.
Belagerungskrieg der politischen Anfänge der Städte, der Na­
tionen. Btwtgungskrieg in der Folge. Man muss auch feststellen,
dass die territorialen Konflikte sich fonwährend beschleu­
nigt haben, um schließlich zu einem "Krieg der Zeit" zu
werden, die bald jenen um den geostrategischen Raum der
Mächte überflügeln wird, und in dem die Seestreitkräfte von
den Luft- und endlich von den Raumstreitkräften abgelöst
werden.
Heute indessen generalisieren sich die Globalisierung und
ihre belagerungstechnische Verwerfung auf globaler Ebene,
aber was gleichzeitig mit diesem globalen Belagerungs'?f'sta�rd
auftaucht, sind nicht mehr die Umzäunung und ihre
zyklopischen Befestigungsanlagen - und das trotz des
illusorischen Raketenabwehrsystems der USA -, sondern
vor allem die maßlose Entwicklung einer Panik, die zwar
noch dumpf ist, sich aber ständig verstärkt im Rhythmus
der Unfälle, Katastrophen und "massiven Attentate", die
für das Auftauchen nicht eines Hyperterrorismus, sondern
eines post-Clausewitz' sehen HJrperkrieges stehen, der über die
politischen Gegebenheiten in nationalen oder internationa­
len Konflikten hinausgeht.
Weil sie nicht die Regeln der Strategie befolgt, anders
ausgedrückt, diese Geostrategie, die so lange ihre neue chro­
flostrategische Dimension ignoriert hat, zwingt diese plötzliche
GlobalirienmgderEchl:(!itexabrupto nicht nur den Generalstäben
der Armeen, sondern auch den demokratisch gewählten
politischen Entscheidungsträgern eine andere Tyrannei auf:
die der Augenblicklichkeit und der Allgegenwart.
In der Tat trifft der Krieg nach der Masse und der (ato-

74
maren oder anderen) Energie im Moment auf seine dritte
Dimension: clie (fast) unmittelbare brjor111alio11.
Daher auch das unzeitige Auftauchen der informatio­
neilen A.;tro-Strategie, von der ein jeder profitiert, Militär
oder Zivilist, Soldat oder Terrorist, oder aber einfacher
Krimineller nach allgemeinem Recht.
Anlässlich des Begions des dritten Jahrtausends taucht
in den Gemütern etwas auf, was einige euphemistisch ein
Gifiihl der Uflsicherheit nennen, was aber nichts anderes als
eine Beset�mgfjJaflile ist, die zuallererst die großstädtischen
Konzentrationen befällt, weil diese richtiggehende "Reso­
nanzkörper" einer Art der Besiedlung sind, die niemand
wirklich steuern kann.
Tatsächlich tendiert der zeitgenössische Städter, je mehr
er diffusen und ungewissen Bedrohungen ausgesetzt ist,
mangels eines eindeutig Schuldigen dazu, auf politischem
Wege einen zu bestrafenden Verantwortlichen einzufor­
dern. Wovon der klandestine Terrorist profitiert, weil er
so direkt die repräsentative Demokratie bedroht, und seit
kurzem sogar die Demokratie der Meinungen in den In­
formationsorganen zugunsren einer De111oleralie derijfmtlichefl
i als die vergiftete Frucht des
E111olio11, die nichts anderes st
oben beschriebenen Panik-Phänomens.
Es entsteht nämlich neben der notwendigen Bildung einer
öffentlichen Meinung durch die diversen Informationsor­
gane die unerhörte Möglichkeit einer öffimtlicben Emotion,
deren Einstimmigkeit nur das Symptom des Verfalls jeder
wahren "Demokratie" ist und dem konditionierten, nicht
mehr "psychologischen", sondern "soziologischen" Reflex
Raum gibt, diesem Auswuchs des panischen Schreckens
der Bevölkerung angesichts des Übermaßes an realen und
simulierten Bedrohungen.
So könnte es sein, dass wir nach dem vor fast hundert
Jahren ausgerufenen ekstatischen Kons11111 so gut wie machtlos
dem Aufkommen einer nicht mehr "ekstatischen", son­
dern geradezu hysterischen Kommunikation beiwohnen,
deren Geheimrezept die audiovisuelle Interaktivität ist,

75
mit ihren Möglichkeiten des augenblicklichen Austauschs
kollektiver Emotionen, und zwar weltweit, und bei der die
Synchronisierung der Mentalitäten die passende Ergänzung
zur Standardisierung der Meinungen im Industriezeitalter
darstellt.

In diesem Massenterrorismus, diesem Hyperkrieg, n i dem


die Masse nicht mehr wie früher jene der Armeen, der ge­
panzerten Divisionen ist, sondern jene der zivilen Opfer, ist
die unbewaffnete Bevölkerung zum einzigen Kriegsschau­
platz geworden, zum Terrai11, das auf das Schlachtfeld der
Militäroperationen von einst folgt.
In diesem gegen Zivilisten geführten Krieg, der zahl­
reiche Eigenschaften früherer Bürgerkriege aufweist, setzt
sich unaufhörlich ein Bewegungskrieg fort, beschleunigt
durch Taktiken und Listen, doch diese "Bewegung" betrifft
vor allem die panische Bewegung terrorisierter Bevölke­
rungen.
So folgt auf den .rerialkillerdes "Großgangstertums" der ma.rs
killer des "Großterrorismus" im Zeitalter des Ungleichge­
wichts des häuslichen Schreckens.
Die Bevölkerung wird, zusammengedrängt in den Groß­
städten, auf einmal zur Breite, Tiefe, aber vor allem zur Höhe
der begangenen Tat. Daher auch die emblematische Be­
deutung des Wolkenkratzers seit dem Einsturz der Twin
Towers.
Was jedoch realistisch, konkret in dieser Strategie des Hoch­
drucks übrigbleibt, ist die demo-tOpografische Konzentration,
nicht wie einst hinter dem Festungswall, nicht einmal hinter
der Stadtmauer, sondern n i einer nebulösen Megastadt, die
Dutzende von Millionen Einwohnern beherbergt.
Schlussendlich ist es diese Metropolitik des Schrecke11S, die
die Geopolitik der Größe erneuert - sei sie nun national oder
imperial. In allen Bereichen dominiert heute das Ausmaß
des Schreckens die Größe der Ausdehnung, den Realraum
der Staaten und ihrer gemeinsamen Grenzen.
Weil sie über weite Entfernungen und in Echtzeit kom-

76
muniziert werden, verdrängen die Bewegungen der Panik
endgültig die früher üblichen taktischen Bewegungen
militärischer Einheiten. Tatsächlich kann man sich leicht
vorstellen, dass ein "Unfall" (ein Erdbeben oder ähnliches)
oder eine (maritime oder ähnliche) Versehrnutzung eines
Tages einen Regierungswechsel im Zielland herbeiführt,
wie das schon in Spanien nach den Attentaten von Madrid
geschehen ist.
Einst wagte die französische Monarchie nicht, sich
das Schlimmste vorzustellen und ist dem Schrecken der
Revolution zum Opfer gefallen, bis zum Empire. Wenn
wir uns nicht in Acht nehmen, könnte der europäischen
Demokratie bald dasselbe passieren. Jeden Augenblick kann
eine transpolitische Katastrophe die Schrecken einstiger
politischer Revolutionen wieder hervorbringen, und zwar
zu Lasten der Grundrechte.2
Aber kommen wir zurück auf die tele-objektive Panik
und ihre verschiedenen Massenbewegungen.
Betrachten wir zum Beispiel den Blitzkriej der deutschen
Panzerdivisionen, der 1940 um die 12 Millionen von der
Fünften Kolonne terrorisierte Zivilisten auf die Straßen
Frankreichs trieb. Seltsamerweise ist das genau dieselbe Zahl
wie die der spanischen Bürger, die in den spanischen Städten
nach dem Attentat auf den Bahnhof Atocha am 11. März
2004 demonstrierten. Dieselben Bürger, die entgegen jeder
Vorhersage drei Tage später die Regierung Aznar stürzen
sollten.
In dieser anderen Art von Blitzkrieg ist die Panik die vor­
herrschende Kraft des Großterrorismus, und nicht mehr
die Disziplin der Truppen, sondern die fehlende Disziplin
der Massen gibt den Ausschlag.
Daraus folgt die strategische Planung der Attentate,
entweder für die Abendnachrichten - wie in Paris vor
19 Jahren -, oder für den Vorabend der Wahlen wie in
Madrid 2004, was eine öffentliche Emotion hervorruft,
die zusammen mit der Meinung der zukünftigen Wähler
die für demokratische Wahlen nötige Ruhe kippt.

77
Angesichts dieser psycho-soziologischen Situation ent­
setzter Massen verändert sich die Belagerungstechnik, die
alte "Wissenschaft vom Angriff und der Verteidigung von
Festungen".
Der allerletzte Schutzwall der Grundrechte ist allein die
Masse derpotmziellen Opfen
Erinnern wir uns zum Beispiel an das China Mao Zedongs,
das erklärte, die USA seien nie mehr als ein "Papiertiger"
gewesen, denn das kommunistische China, eine Milliarde
Einwohner stark, fürchte sich nicht vor einem Atomkrieg,
der Aberdutzende von Millionen Toten fordern würde ...

Öffentliche Meinung oder öffentliche Emotion? In dieser


Frage ist es wie in so vielen anderen, wenn die für poli­
tisches Handeln günstige Interessengemeinschaft von einer
"Emotionsgemeinschaft" überflügelt wird, die zu allen
Manipulationen bereit ist.
In diesem Sinne ermöglicht eine neue angelsächsische
Praktik, das Storytelling, die Einladung professioneller Ge­
schichtenerzähler in eine Firma, wo sie den Angestellten Ge­
schichten erzählen, um bei diesen gewisse Verhaltensweisen,
gewisse Emotionen im Rahmen von Restrukturierungen
oder Auslagerungen zu erzeugen, was die neuentdeckte
Bedeutung der Verwalt11ng vor1 Emotionen für das Management
andeutet.4
Trotzdem darf man nicht das Gefühl, das man eropfmdet,
mit der Emotion verwechseln, die einen ergreift, denn wenn
das Gefühl der Prüfung der Vernunft unterworfen werden
kann, hat es keine unangebrachte Reaktion zur Folge, im
Gegensatz zur Emotion, die sich in Massenphänomenen
rasch jeder Kontrolle entzieht.
Seit dem Zeitalter der Revolutionen haben solche Er­
eignisse fortwährend die Form der "Republik" selbst
durcheinander gebracht, und inzwischen auch jene der
Demokratien - zu beobachten bei der "Verführung der
Massen" durch die verschiedenen totalitären Regime im
Laufe des 20. Jahrhunderts.

78
Während die öffentliche Meinung sich mit Hilfe der
Pressefreiheit, aber auch mit dem Erscheinen kritischer
Werke in einer gemeinschaftlichen Reflexion herausbilden
soll, wird die öffentliche Emotion ungestraft durch den Re­
flex erzeugt, dort, wo das Bild über das Wort siegt. Weil der
Herdentrieb-Effekt mit einem Übermaß an Inszenierung
leicht zu erzeugen ist, passt er perfekt zur audiovisuellen
Kinematik und ebenso zur Interaktivität der kybernetischen
Techniken, was der Zügellosigkeit Tür und Tor öffnet.
Während die republikanische Meinung seit ihren Anfän­
gen auf die Rede- und Lesekunst setzte, stützt sich die post-re­
publikanische Emotion ihrerseits aufLicht und Ton, anders
ausgedrückt auf die Sicht- und Hörbarkeit eines Spektakels,
oder besser einer beschwörenden Liturgie, die nur scheinbar
säkular ist ... wie beim schon beschriebenen Missbrauch
des Sendens in Endlosschleife nicht nur von Werbespots,
sondern auch von erschreckenden Ereignissen.
Auf seine hochtrabende Art übertrifft dieses Medien­
phänomen die öffentliche Sache selbst, in einer Art Unfall
der politischen Substanz, der eben besonders schwere
Konsequenzen für die republikanischen Freiheiten mit sich
bringt.
"Die Wähler kennen die Parteien nicht mehr!", schrieb
ein deutscher Journalist zur drastischen Veränderung der
Mehrheitsverhältnisse nach den Regionalwahlen in Fran­
kreich im März 2004. Er wies sogar darauf hin, dass "die
Handlungsfähigkeit der Regierungen in den Ländern Eu­
ropas unterminiert ist von der Angst (vor der Wirtschafts­
krise, der Arbeitslosigkeit und so weiter), kurz gesagt von
der Angst vor der Zukunft." Seltsamerweise erwähnte er
nicht einmal den Terrorismus und seine überwältigenden
Auswirkungen auf die spanische Regierung zwei Wochen
zuvor ...
Wiederum obsiegt hier die These vom Wahlunfallüber jene
des Attentats, ebenso wie in Toulouse im September 2001,
nur wenige Tage nach den Attentaten in New York und
Washington.

79
Im Zusammenhang mit der Explosion in Toulouse können
wir eine willkürliebe Hypothese wagen: angenommen, es
wäre anders abgelaufen und der Hinweis auf ein Attentat
wäre von den untersuebenden Behörden in Toulouse alsprio­
ritär eingestuft worden, dann wäre nicht nur die französische
Diplomatie eine ganz andere, sondern das ganze deutSch­
französische "friedliche Lager" wäre unter dem Druck einer
vom Ausmaß des Desasters traumatisierten Öffentlichkeit
zusammengebrochen ... wie später in Madrid.
Nehmen wir einmal an, die neuerlichen Untersuchungen,
die inzwischen in T oulouse laufen, erbringen morgen den
eindeutigen Beweis, dass das dortige Drama eben doch das
Resultat eines doppelten Angriffs war: am 1 1 . September in
den USA und am 21. September in Frankreich, in Toulouse,
der Stadt der Raumfahrt.
Was wären gegebenenfalls die Konsequenzen einer derma­
ßen umgekehrten Situation für die europäische Geopolitik,
und gleichermaßen für einen französischen Präsidenten, der
verdächtigt würde, ein massives Attmtat vertuscht zu haben,
während der Präsident der Vereinigten Staaten nur in Bezug
auf Masmrvernichtrmgs»,nffin gelogen hatte? Aber es handelt
sich selbstverständlich nur um eine simple Hypothese der
Politik-Fiktion ...

"Die Angst war die Leidenschaft meines Lebens", stellte


Roland Barthes fest, bevor er bei einem Verkehrsunfall
ums Leben kam. Ich befürchte stark, dass diese individuelle
Leidenschaft bald zur kollektiven einer Gesellschaft wird,
die ratlos s
i t angesichts der unpassenden Art katastrophaler
Ereignisse, deren Häufung letztlich wenn nicht Verzweif­
lung, so doch zumindest Fatalismus hervorruft.
Denn wenn das Unerwartete sich in mehr oder minder
konstanten Intervallen wiederholt, dann erwartet man es,
und dieser "Erwartungshorizont" wird zur Obsession, zu
einer kollektiven Psychose, die für alle Manipulationen, für
jede Destabilisierung der öffentlichen Ordnung empfänglich
wird.

80
Tatsächlich kann die Angst angesichtS des Massenterroris­
mus und seiner augenblicklichen Wahrnehmung nicht lange
minoritär und privat bleiben, sie hat die fatale Tendenz zur
Mehrheit und zur Öffentlichkeit, mit der Konsequenz,
dass sie im Gegensatz zur individuellen Angst keinen wirk­
lichen Mut kennt, sondern nur die Gleichgültigkeit, die das
Schweigen der Lämmer vorwegnimmt.
Man ahnt schon, wohin die Verwaltung der öffentlichen
Angst letztlich führt: ZU einer zivilen Abschreckung, die nicht
nur die Nachfolge der 111ilitärichen
s Abschreckung der Ära des
Kalten Krieges, sondern vor allem der "Angst vor der Poli­
zei" früherer Polizeistaaten antritt, jedoch mit dem Unter­
schied, dass d.iese Verwaltung nicht mehr "republikanisch",
sondern massenmedial sein wird.
Angesichts des Hyperkrieges wird die Clausewitz'sche
Theorie von der Überlegenheit der Verteidigung über den
Angriff eingeholt von der Beschaffenheit der Information
selbst - dieser nach der Masse und der Energie dritten
Dimension des Konflikts -, und deshalb sollte man sich
dringend mit dem gleichermaßen psychopolitischen wie
gesellschaftsstrategischen Thema des staatlichen Terrors
auseinandersetzen.
Das erste Indiz einer solchen Vorwegnahme der öffent­
lichen Emotion zeigt sieb im amerikanischen Konzept
des "Kriegs ohne Opfer", mit seinen chirurgisch präzisen
Angriffen und Präventivkriegen, die, wenn schon nicht
die Zivilisten, so doch wenigstens die beteiligten Soldaten
schonen sollen.
Wir wissen schon, wie solche Ammenmärchen ausgehen.
Als paramilitärisches Konzept stellt der Präventivkrieg
in der Tat eine große strategische Illusion dar: dabei ist
die Offensive nur noch eine maskiene Defensive, gegen
einen asymmetrischen Gegner, der von vornherein nicht
als vollwertiger "Partner" eines Kriegsgeschäfts angesehen
wird, in dem d.as klassische Abwechseln von Angriff und
Verteidigung blockiert wird, und zwar einerseits von einem
Feind, der sich weigert zu kämpfen, und andererseits durch

81
die Entwicklung eines elektronischen Arsenals an Ködern
und Techniken, die echte Kampfhandlungen verhindern.
Wie ein altes Sprichwort sagt: "Die Angst ist der schlimm­
ste Mörder, denn sie tötet nicht, sondern behindert das
Leben." Sie hindert sogar die Militärs am Kriegführen nach
politischen Anstandsregeln!
Das hat nichts mehr mit der Bedrohung der Staatsgrenzen
ooer dem Angriff irgendeines Eindringlings ZU tun, denn
die Phänomene der Armutsmigration oder des Massentou­
rismus haben jene seit langem verdrängt, ganz zu schweigen
von der bald zu erwartenden und ebenfalls massiven Ab­
wanderung bessergestellter Populationen, die unzufrieden
sind mit dem Mangel an Komfort und Sicherheit n i den
großen Metropolen der reichen Länder.
Nein, die Anwendung staatlichen Terrors, die durch die
verschiedenen großen Risiken notwendig wird, hat nichts
zu tun mit den Bedrohungen der jüngeren Vergangenheit.
Die Gleichung ist radikal verändert worden, und die "Büro­
strategen" täten gut daran, nochmals darüber nachzuden­
ken, bevor sie auf den Terrorismus, der letztendlich nichts
anderes als tragische "Ablenkung" ist, mit militärischen
Mitteln reagieren.

Nach dem Kalten Krieg mit seinen apokalyptischen Ver­


nichtungsszenarien kommt die Zeit dieser Kalten Panik vor
einem großen Terrorismus, der imstande ist, vergleichbare
Desaster auszulösen.
Mit dem Niedergang des Nationalstaats erleben wir, wie
das öffentliche und vom Staat ausgeübte Gewaltmonopol
im Schwinden begriffen ist, zugunsten einer Privatisierung
staatlichen Terrors, die nicht nur die Demokratie bedroht,
sondern den Rechtssta.at
Europa, das heute überproportional erweitert dasteht,
kann diese nicht so sehr politischen als vielmehr metro-poli­
tischen Fragen nicht mehr lange unbeantwortet lassen, denn
die demografische Konzentration seiner Bevölkerung in den
Metropolen hat das früher im ländlichen Bereich gelegene

82
Operationsfeld sukzessive in die Stadt verlagert, mit diesen
"Vernichtungsangriffen", die Mitte des 20. Jahrhunderts
dem gegen die dichte Agglomeration gerichteten "massiven
Attentat" des 2 1 . Jahrhunderts den Weg wiesen.
Deshalb verändert sich der Begriff der VertcirligHng selbst
auf radikale Weise. Nach der ",jJitärischen Verteidigung des
Staates und der tfvilen Verteidigt�ng der Bevölkerung scheint
eine Neuformulierung dringend geboten.
Parallel zur nationalen Sicherheit, die auf der Armee aufbaut,
und der so:dalm Sicherheit (die in zahlreichen demokratischen
Staaten unterentwickelt ist), entwickelt sich die entschei­
dende Frage nach einer 111tnschlichen Sicherheit in der Folge des
früher staatlichen öffentlichen Interesses.
Die ehemalige UN-Flüchtlingshochkommisarin Sadako
Ogata erklärte es vor einiger Zeit folgendermaßen: "Der
1 1 . September hat bewiesen, dass kein Staat, auch wenn
er der militärisch Stärkste ist, mehr in der Lage ist, seine
Bürger zu schützen, und das selbst innerhalb seiner Landes­
grenzen."5
Angesichts dieser alarmierenden Feststellung, die die
Versuchung eines Nihilismus in sich trägt, der nicht nur
die Verteidigung betrifft (wie in einigen skandinavischen
Ländern vor dem Zweiten Weltkrieg), sondern den i!ffintlichen
Rmtm und die Stadt als dessen Epizentrum, ist es vielleicht
angebracht, die historische Entwicklung der Armee zu
untersuchen: sie führte, wie wir schon gesehen haben, vom
Belagerungskrieg mit der Vorherrschaft von Verteidigungsan­
lagen (Stadtmauern, Befestigungen jeder Art ...) über den
BenJegut�gskrieg schließlich zum "Blitzkrieg", bei dem die Ver­
nichtungswaffe das Verschanzen n
i der Stadt und anderswo
verdrängte, bis zum Auftauchen der Abschreckungsstrate­
gie, bei der der relative Stillstand des Gleichgewichts des
Schreckens durch das "nicht-Kämpfen" nicht nur in hohem
Maße das Wettrüsten und die exzentrische Verbreitung der
Waffen begünstigte, sondern vor allem die Entwicklung der
"Massenkommunikationswaffen". Diese wirft heute die alte
Geopolitik der Nationen genauso über den Haufen wie die

83
Stabilität einer seit mehr als einem Jahrzehnt verwirrten
militärischen Kultur, anders ausgedrückt seit dem Fall des
Schu�alls der Beliner Mauer und dem Einsturz des Bergjiieds
des World Trade Centers in New York.
Ein unheilverkündendes Zeichen dieser Panik ist der
latente Konflikt in den USA zwischen dem State Depart­
ment und dem Pentagon, aber auch dieses Projekt der
Persönlichkeitsspaltung der US Amry in die bisherige und eine
neugeschaffene zweite, "anti-panische" Armee, mit dem Ver­
such, sich der fortschreitenden Zerstörung des Rechtsstaates
entgegenzustellen, und das in einem öffentlichen Raum, der
mit wachsender Geschwindigkeit privatisiert wird.

Der öffentliche Raum und die öffentliche Gewalt sind


untrennbar miteinander verbunden, und jeder Versuch
der Trennung führt früher oder später dazu, nicht nur die
nationale Sicherheit aufs Spiel zu setzen, sondern vor allem
die mmschliche Sicherbeit, mit dem daraus folgenden offensicht­
lichen Risiko des Genozids.
Das berühmte "Vorsorgeprinzip" der Umweltschürzer
gilt also zuerst im Hinblick auf die notwendige Stabilität
des öfje11tlichen Rechts und seines Raumes als Umfeld jeder
Demokratie.
Zusätzlich ist anzumerken, dass dieser neue Begriff der
,.,menschlichen Sicherheit", der seit kurzem in Kanada und
Japan verwendet wird - in diesem Land wahrscheinlich
infolge des Starkbebens von Kobe und des Attentats der
Aum-Sekte auf die Tokioter U-Bahn -, dazu beitragen
könnte, diesen unbiirgerlicbm Krieg zu verhindern, der nicht
nur den Rechtsstaat, sondern eben die Gesamtheit der Zi­
vilisationen zu verwüsten droht.
Wenn nach der Energie jetzt auch der öffentliche Raum
privatisiert wird, hätte das fatale Auswirkungen, nämlich
eben nicht die Professionalisierung der öffentlichen Gewalt,
sondern die militärische Anarchie, einen richtiggehenden
"Verteidigungsnihilismus", der nicht mehr so sehr gegen
einen erklärten Feind gerichtet wäre, wie es etwa die schwe-

84
disehe Bewegung "Forvarsnihilism" hoffte, als sie in den
1920er Jahren fragte: "Ist die Invasion unseres Territoriums
durch ein anderes zivilisiertes Volk eine wirklich ernste
Sache?"6• Er beträfe vielmehr die Institution des Militärs
selbst, das Fundament des "Rechtes auf Verteidigung", das
jeder Politik zugrunde liegt.
Was lässt sich heute sagen über das Eindringen eines
"zivilisierten Volkes" in ein fremdes Territorium, wenn es
sich eben um Massmterrorismus im Zeitalter der Globalisie­
rung handelt, der die Gesamtheit der Transportkapazitäten
und der Telekommunikation nutzt, die gewöhnlich dem
Tourismus und den vielfähigsten Formen des Austausches
offener Gesellschaften zur Verfügung stehen?
ClaiiJtropolisoder Cosmopolis? Eine abgeschottete Gesellschaft,
wie früher, oder eine Kontrollgesellschaft? Tatsächlich
scheint selbst dieses Dilemma trügerisch, angesichts der
zeitlichen Verdichtung der Augenblicklichkeit und der All­
gegenwart im Zeitalter der Informationsrevolution. Diese
interaktive Gesellschaft, in der die Echtzeit über den Rea/raun1
der Geostrategie die Oberhand gewinnt, begünstigt eine
"Metro-Strategie", bei der die Stadt weniger das Zentrum
eines Territoriums darstellt, eines "nationalen" Raumes, als
vielmehr das Zentrum derZeit, der astronomischen Weltzeit, die
aus jeder Stadt den Resonanzkörper unterschiedlichster Ereig­
nisse macht (nukleare Pannen, schwere Unfälle, Massenatten­
tate und so weiter). Dies sind Brüche der sozialen Ordnung,
hervorgerufen durch die extreme emotionale Fragilität einer
jeder Kontrolle entgleitenden demografischen Polarisierung,
mit Riesenstädten, die schon bald nicht mehr nur Millionen,
sondern -zig Millionen Einwohner zählen werden. Dort
sind sie vemetzt, und die Standardisierung der öffentlichen
Meinung der industriellen Ära wird plötzlich durch die
Synchronisierung einer öffentlichen, kollektiven Emotion
abgelöst, die in der Lage isr, nicht allein die repräsentative
Demokratie abzuschaffen, sondern jede Institution, und an
ihre Stelle HySterie und Chaos zu setzen, für welches einige
Kontinente bereits jetzt ein blutiges Beispiel abgeben.

85
Weisen wir noch darauf hin, dass sich - wenn die In­
teraktivität für den Informationsbereich das ist, was die
Radioaktivität für die Energieversorgung ist - die Abschre­
ckung grundlegend verändern wird. Militärische oder zivile
Abschreckung? Das ist hier die Frage!
Es handelt sich nicht mehr nur um das Überschreiten
der Geopolitik oder die Rückkehr zur Belagerung der
Stadtstaaten, sondern um ein Vordringen an Grenzen:
einen Aufstieg zu Extremen einer Hypergewalt, die sich
Clausewitz nicht hatte vorstellen können.

86
Der eigentliche Unfall

Nach Albert Einstein treten Ereignisse nicht ein, sondern


sind bereits da und wir treffen auf sie im Vorbeiziehen an
einer ewigen Gegenwart; auf diesem Weg gibt es keine
Zwischenfälle, denn die Geschichte ist nur eine einzige
lange Kettenreaktion. Hiroshima, Nagasaki, Harrisburg,
Tschernobyl, ein Stillstehen im Moment; die Radioaktivität
des Ortes ist analog zur Relativität des Augenblicks.
Ob Fusion oder Spaltung, das Maß der Stärke ist nicht
mehr die Materie, sondern die Immaterialität, die energe­
tische Leistung .
In Zukunft bestimmt die Bewegung über das Ereignis.
Nach der "Naturreligion" im ursprünglichen Heidentum
kommt jetzt der Kult der Angst vor dem eigentlichen
Unfall, jene Angst, von der Hannah Arendt sagte, sie sei
immer nur die Erfül lung des Bewegungsgesetzes.
Tatsächlich bedarf die philosophische Annahme, das Ak­
zidentelle sei relativ und kontingent und das Substanzielle
absolut und notwendig, dringend einer Überarbeitung. Das
lateinische accidens zeigt das an, was unerwartet eintn'tt, bei einer
Maschine, einem System oder einem Produkt, das Unerwar­
tete, die Überraschung des Versagens oder der Zerstörung.
Als wäre dieser "vorübergehende Ausfall" nicht schon auf
gewisse Art und Weise bei der Herstellung des Produktes
vorprogrammiert worden ...
Die arrogante Vorrangstellung, die die Produktionsweise
genießt, scheint nämlich dazu beigetragen zu haben, die
alte Dialektik Produktion - Zerstöm11g (und nicht nur Konsum)

87
zu verbergen, die in den prä-industriellen Gesellschaften
galt. Weil die Produktion jedweder "Substanz" gleichzeitig
auch immer einen typischen ,.Unfall" mit sich bringt, ist
die Panne oder das Versagen weniger eine Deregulierung
der Produktion als die Prod11klion eines spezifischen Verragms,
oder sogar einer teilweisen oder totalen Zerstörung. Wenn
man auf diese Weise die Forschung grundsätzlich verändert,
könnte man in der Folge eine Zllkrmftiforsch�tng de.r U1rjalls
entwickeln.
Und weil eben der Unfall im Augenblick der wissen­
schaftlichen oder technischen Erfindung miterfunden wird,
könnten wir vielleicht im umgekehrten Ansatz direkt den
"Unfall" erfinden, um in der Folge die Grundlage der be­
rühmten "Substanz" des implizit miterfundenen Produkts
ode r Apparates zu determinieren und so die Entwicklung
gewisser angeblich zufälliger Katastrophen zu vermeiden?
Diese umgekehrte Perspektive des eigentlichen Unfalls, die
auch die Mythologie oder die kosmogonischen Hypothe­
sen wie den Urknall mit einbezieht, scheint genau die der
.,Dialektik des Krieges" zu sein, die Persp ektive von Waffe
und Rüstung, in anderen Worten, jene Perspektive, die sich
mit dem strategischen Aufschwung der "Kriegsmaschine"
etabliert hat, unmittelbar verbunden mit der Entwicklung
befestigter Stadtmauern im antiken Griechenland, wo
zeitgleich mit der Politik die Belagerungstechnik erfunden
wurde, diese Wissenschaft vom Angriff und von der Vertei­
digung befestigter Städte, der Beginn der Entwicklung der
Kriegskunst, das heißt der Entwicklung der Produktion
der Massenvernichtung im Lauf derJahrhunderte, aber vor
allem im Lauf der Rüstungstechnik.
Die wissenschaftliche und industrielle Produktionsma­
schinerie ist sicherlich nur ein Ausdruck, oder wie man
auch sagt, ein Abfallprodukt der Entwicklung der Zerstö­
rungsmittel, dieses absoluten Unfalls des Krieges, dieses
über Jahrhunde rte hinweg und in allen Gesellschaften
andauernden Konflikts, dieses "großen Krieges der Zeit",
der ständig unerwartet hier und da hervortritt, der Entwick-

88
lung von Sitten, Produktionsmitteln oder "Zivilisationen"
zum Trotz, und dessen Intensität im selben Maße wie die
technologischen Innovationen ständig zunimmt, sodass die
letzte Energie, die Atomkraft, zuerst als Waffe au ftritt, als
gleichermaßen absolute Bewaffnung und absoluter Unfall
der Geschichte.
Könnte es nicht sein, dass die positivistische Euphorie
des 19. und 20. Jah rhunderts, diese "große Fortschrittsbe­
wegung" eines der verfänglichsten Bilder der bürgerlichen
Dlusion ist, eine Maske des zweifelhaften Fortschritts der
11-issensrhajtlichm Zerstönmgsweise im industriellen wie im mili­
tärischen Bereich?
Und mehr noch, könnte sie eine Maske sein für die
philosophische und politische Umkehrung dieses absol11ten
Unfalls, der in Zukunft jedwede Substmr:v egal ob natürlich
oder produziert, kontingent macht?

",m 20. Jahrhundert haben wir gelernt, dass die gesamte


Welt der Materie atomarer Natur ist. Nun, in diesem
Jahrhundert, wird es unsere Aufgabe sein, den Schauplatz
selbst zu verstehen und die tiefste Natur von Raum und
Zeit zu erkunden."1, schreibt der britische Astrophysiker
Martin Rees.
An anderer Stelle führt er den Gedanken der "unbe­
kannten Größe" weiter: "Vor mehr als fünfzig]ahren entwarf
Kurt Gödel ein hypothetisches Universum im Sinne der
Einstein'schen Theorie, in dem ,Zeitschleifen' zukünftige
Ereignisse enthalten, die Ereignisse in der Vergangenheit
verursachen, welche wiederum sich selbst verursachen."2
Als Schlussfolgerung dieser transhistorischen Argumen­
tation präzisiert er: "Eine einheitliche Theorie könnte uns
auch dabei helfen, diese extremen Experimente zu identifi­
zieren, die dazu geeignet sind, eine Katastrophe auszulösen,
die nicht nur die Erde beträfe, sondern den Kosmos, die den
Weltraum vernichtet. Die konzentrierte Energie könnte
nämlich einen augenblicklichen Übergang auslösen, der die
Materie des Weltraums selbst zerreißen würde."

89
Glaubt man dem offiziellen englischen Hofastronomen,
so "würde sich der Rand der erzeugten Leere wie eine Blase
ausdehnen - wie eine anschwellende Kugel - b s i die Erde
und der Kosmos, die ganze Galaxie verschluckt wären, doch
werden wir niemals Zeugen einer solchen Katastrophe sein, denn weilsich
das kt�gelfiilmige Nichts mit Lichtgeschwiltdigkßit ausbreitet, hätten tvir
11icht ein?llal die Zeit '?Jt vmtehm, WAS GESCHIEHT.";
Mit dieser fantastischen Illustration der Dromosphäre der
Lichtgeschwindigkeit im leeren Raum sind wir zumindest
in der Lage, Zeugen zu befragen, die von Tschernobyl zum
Beispiel, denn 1986 ist für sie, und letztlich auch für uns, die
Zeit des Unfalls plötzlich zum Unfall derZeit geworden.4
Und wenn damals die atmosphärischen Strömungen die kon­
taminierten Wolken in den Westen des Kontinents getragen
haben, so hat der Wind der Geschichte seine Verunreinigungen
in die Zukunft, in Richtung Zeituntergang getrieben.
So ist die Vergangenheit der 80er Jahre intakt, außerhalb
der Reichweite des radioaktiven Niederschlags von Tscher­
nobyl. Die Zukunft dagegen ist vollkommen verunreinigt
durch die enorme Dauer der radioaktiven Strahlung; wenn
das "Leben" hier und jetztbefallen wird, dann ist von diesem
schicksalhaften Datum an die "Lebensgröße" kommender
Zeiten schon kontaminiert durch die Radionuklide des
Jahres 1986.
Wenn dieser Kraftwerksunfall also tatsächlich ein eigent­
licher U11jallwar, dann ist es notwendig, dass man sehr bald
beginnt, den Zugang zur Gegenwart vor der Zukunft zu
schützen, so wie man früher die Zugänge zur befestigten
Stadt vor den Barbaren schützte, damit daraus nichtmorgen
oder übermorgen ein ewiger wird.

Im Jahr 2007 wurde beschlossen, das Kraftwerk von Tscher­


nobyl mit der größten jemals gegossenen Betonhülle zu bede­
cken. Die erwünschte Dichtheitsdauer: ein Jahrhundert.
Im Grunde wird der Beton einfach zu einer Maue,.der Zeit,
und die Haltbarkeit des Materials (StahlbetOn) stellt sich
dem Desaster des Fortschritts in den Weg.

90
Dieser "Sarkophag", zyklopisch wie die Mauern der
Vorzeit, ist zur Antike der Zukunft geworden. Nach der
chinesischen Mauer und dem Atlantikwall hat der Mensch
jetzt den Grundstein für die Mauer von Babel gelegt, nicht
um den Himmel zu erklimmen, wie damals mit dem gleich­
namigen Turm, sondern diesmal, um zu verhindern, dass
die "Riesenfaust" die Erde zerschmettert.>
Wenn der Krieg einst als "die Kunst der Belagerung"
erschien, so scheint heute der Frieden in der Kunst zu
bestehen, einen Bunker zu bauen, eine Schutzmauer gegen
den "Belagerungszustand des Fortschritts".
Trotzdem lehnte der - mehrheitlich republikanische ­
amerikanische Senat am 16. September 2003 einen von
den Demokraten eingebrachten Antrag zur Einstellung
der Erforschung und Produktion von Atomwaffen "zur
Zerstörung von Bunkern" ab.
Dieses Rüstungsprogramm für Massenvernichtungswaf­
fen, das sich bunker busting bomb nennt, soll das Eindringen in
unterirdische Schutzräume ermöglichen, egal ob diese von
regulären Armeen oder terroristischen Gruppen genutzt
werden.
Nach den Berechnungender amerikanischen Generalstäbe
sollen, verstreut über den ganzen Planeten, etwa 10 000
solcher Einrichtungen existieren.
Dazu ist der Hinweis angebracht, dass dasRepräsentanten­
haus zuvor einen Text angenommen hatte, der 1 1 Millionen
Dollar für den Bau der Anlage zur Herstellung dieser Waffen
und zusätzliche 5 Millionen für die Erforschung des "Pene­
trationsträgers", des robust 11udear eatthpenetrator, vorsieht. 6
Und das ist das letzte, besser gesagt das vorletzte Duell
zwischen "Waffe und Rüstung". Und das allerletzte ist dies:
ein amerikanischer Forscher vom California Institute of
Technology in Pasadena, David Stevenson, schlug in der
Zeitschrift Naturevom 15. Mai 2003 vor, das China-Syndro?ll zu
beschleunigen, mit anderen Worten, die Bedrohung des Unfalls
von Harrisburg im Jahr 1979 zu reproduzieren, und zwar,
um "unsere Kenntnisse vom Erdkern zu vertiefen(!)."7

91
Um zum "Mittelpunkt der Erde" vorzudringen, schlägt
Stevensou nichts Geringeres als das Erzeugen einer extrem
tiefen Erdspalte (6000 Kilometer) vor, und zwar mittels
einer Reihe von unterirdischen Atomexplosionen, die einem
Erdbeben der Stärke 7 auf der Richterskala entsprächen.
Das hieße, die Erdkruste zu durchbrechen und bis zum
inneren Erdkern vorzustoßen, wobei die Bohrungen der
Geologen bis jetzt noch nie über einige Dutzend Kilometer
hinausgingen und unsere Kennmisse über den lithosphä­
rischen Mantel kaum über 300 Kilometer hinausreichen.
Der "Penetrationsträger", der als Sonde fungieren würde,
müsste aus geschmolzenem Eisen bestehen und 10 000
Kubikmeter groß sein, also etwa 100 000 Tonnen schwer.
Diese Kugel, oder eher "Kanonenkugel", würde sich, wie
es heißt, mit einer Geschwindigkeit von 18 Ki
l ometern pro
Stunde in die Eingeweide der Erde bohren ... 8

Im Laufe der Geschichte der Konflikte trafen Schwert und


Lanze auf den Schild und Pfeilregen auf die Rüstungen
der Ritter, so wie zuerst die Kanonenkugel und dann
das Explosivgeschoss die Befestigungen der Zitadellen
demolierten. Die Bombe wiederum hat dazu beigetragen,
dass die Truppen sich i n immer tiefer gelegene Bunker
eingruben, bis zur Erfindung der Atombombe, deren
Durchschlagskraft bis heute nur durch die Abschreckung
und vor allem durch das Verbot von Nuklearwaffentests
beschränkt wurde.
Seit 2001 jedoch ist alles anders, denn man hat die !{P"Störe­
rische Strahlu11g mit der Durchschhgsk,.ajt vertauscht, zwar nicht
"in alle Richtungen" des geostrategischen Luftraums, aber
"in alle Tiefen" eines lithosphärischen Mantels, der somit
zur letzten megalithischen Mauer würde, zum letzten Sar­
kophag der Menschheit.
So stellt man der Mauer der Zeit von Tschernobyl, wo
uns der architektonische Widerstand des Betons vor den
Radionukliden des Jahres 1986 beschützt, demnächst die
anti-irdische Kraft einer Kugel entgegen, die imstande ist, nicht

92
nur altes Baumaterial, nämlich Stahlbeton, zu durchlöchern,
sondern den plattentektonischen Widerstand der inneren
Erdstruktur.
Der Wissenschaftler des 21. Jahrhunderts macht sich
bereit, dem irdischen "großen Vulkan" und seinen prä­
historischen Verwüstungen die anti-irdische militärisch­
geologische Atomkraft entgegenzusetzen und so in einer
fanatischen Demiurgie die Atomenergie zur Energiefor alles
zu machen, obwohl doch die sowjetische Katastrophe die
erschreckenden ökologischen Folgen bewiesen hat.
Radio-Aktivität in der Kontamination der Zukunft oder Ra­
dio-Schädlichkeit einer gewissenlosen Wissenschaft, was nicht
nur "der Seelen Tod" bedeutet, sondern den Tod der Raum­
zeit eines einzigartigen Materials: jenem der bewohnbaren
Erde, dieses "Ganzen", das uns doch vor der kosmischen
Leere schützt, die einige zu erobern behaupten, während
andere ebenso entschlossen sind, zu ihren Geheimnissen
vorzudringen, und zwar bis zum Mittelpunkt der Erde,
ungeachtet der Risiken, die sie eingehen.
",Die Rüstungsforscher sind die modernen Alchimisten.
Sie arbeiten im Geheimen und werfen das Los über uns alle',
erklärt Solly Zuckerman. ,Sie haben vielleicht nie Kampf­
handlungen miterlebt, haben vielleicht nie die Schrecken
des Krieges erlitten, aber sie können die Instrumente der
Zerstörung herstellen."'9
Vom Arsenal von Venedig zu Galüeis Zeiten über das
ManhotitJn Project von Los Alamos bis zu den Geheimlabors
nach dem kalten Krieg ist die Wissenschaft zum Arsenal der
Großunfälle geworden, zur Großfabrik für Katastrophen,
und unterdessen kündigen sich die Katastrophen des Hy­
perterrorismus an.
"Wer vorsätzlich Böses tut, den nennt man einen Böse­
wicht!" So steht es im Buch der Sprüche. Wie anders als den
Gipfel der Bosheit soll man das nennen, wenn nicht nur
Flugzeuge und verschiedenste Fahrzeuge entführt werden,
sondern eben das "große Fahrzeug", die Gesamtheit der
Erkenntnis, in der Physik genauso wie in der Biologie

93
oder in der Chemie, nur um schließlich das größtmögliche
Terrorpotenzial zu erreichen?
Weiters hat sieb laut Martin Rees seit Mitte des letzten
Jahrhunderts, genauer gesagt seit der Kubakrise 1962, das
Risiko eines weltweiten nuklearen Desasters auf SO Prozent
erhöht. Zu diesem Risiko, das bekannt ist und oft herunter­
gespielt wird, um das ständige Wettrüsten zu rechfertigen,
kommt heute, wie wir gesehen haben, die wachsendeGefahr
unglaublicher Entdeckungen in einem Ausmaß hinzu, das
jeder Vernunft spottet.
Hören wir nun die bildhafte Beschreibung von Minen­
suchern der Sowjetarmee aus der Zeit von 1945 bis 1950:
"Unsere Einheit würde nicht aufgelöst werden: wir sollten
die Felder entminen, die Bauern brauchten den Boden.
Der Krieg war für alle vorbei, nur für die Minensucher
ging er weiter. Das Gras stand hoch, alles war gewachsen
während des Krieges, und wir hatten Mühe, uns einen Weg
zu bahnen, dabei lagen doch überaU um uns herum Minen
und Bomben. Doch die Leute brauchten die Äcker und
wir beeilten uns. Jeden Tag starben Kameraden. Jeden Tag
mussten wir jemanden beerdigen"10, erzählte eine Soldatin
der Pioniertruppen der Autorio Svetlana Alexijewitsch,
die selbst Zeugin des Atomunfalls von 1986 ist ... Aber in
Tschernobyl wurden nicht Minensucher geopfert, sondern
die Erde! Selbst das Absurde Theater hätte nicht den apoka­
lyptischen Pleonasmus gewagt, die Erde zu beerdigen!
Was heute vermint, kontaminiert ist, das st
i die Wissen­
schaft, denn das gesamte Wissen si t buchstäblich vergiftet
durch ein "Wettrüsten um Massenvernichtungswaffen", das
unsere Erkenntnisse verpestet und sie demnächst, wenn wir
nicht aufpassen, für das Gute unbrauchbar macht.
Müssen wir nach MutterErde nun bald die "Wissenschaft"
begraben, diese "Weisheit" eines Wissens, das doch das
Besondere am l-lo111o Sapie!IS ist?
"Krieg führt man mit Waffen, nicht mit Gift", dekre­
tierten die römischen Juristen. In WeiterführungdieserFest­
stellung erklärte der damalige Generalsekretär der UNO,

94
Sithu Thant, im Juli 1969: ,,Der Begriff unkontrollierbarer
Feindseligkeiten ist mit jenem der militärischen Sicherheit
unvereinbar."11
Was folgte, ist bekannt, nämlich eine exponentielle Ent­
wicklung dieser biologischen und chemischen "Waffen",
die die Menschheit genauso bedrohen wie Atomwaffen.
Der UNO-Generalsekretär berief sich auf rein miitärische
l
Argumente und nicht etwa moralische Einschätzungen, als
er mit den Worten schloss: "Die bloße Existenz dieser
Waffen trägt zu internationalen Spannungen bei, ohne
dass sie im Gegenzug offensichtliche militärische Vorteile
darstellt."12
Knappe vierzig Jahre später hat sich diese Voraussage
durch den terroristischen Überdruck bewahrheitet, der die
internationale Politik vollkommen pervertiert.
Denn wenn die Massenvernichtung in die Reichweite der
Ausgeschlossenen rückt, dann verschwindet die Theorie
der Abschreckung, und wir sind allen Katastrophen, wie
absichtlich von Untergrundorganisationen ausgelösten
Katastrophen oder eben "Großunfällen" in der Industrie
oder in anderen Bereichen, schutzlos ausgeliefert.
Eines der vergessenen Beispiele dafür ist die Entdeckung,
die ein demokratischer Abgeordneter am Flughafen von
Denver machte: ein Depot von 21 108 Projektilen, jedes
davon bestand aus einem Cluster von 76 Gasbomben, und
das Ganze nicht feuergesichert. Dieses versteckte Arsenal
hätte die ganze Erdbevölkerung auslöschen können.u
Doch kommen wir auf Russland zurück, mit den liebens­
werten Vorschlägen, die den jungen Opfern der Tscherno­
byl-Katastrophe gemacht wurden: "Seit 1995 vergibt die
ukrainische Regierung an die Kinder in der kontaminierten
Zone per Dekret Ferien am Meer, an der Krimküste. Neben
unter anderem Magnetfeld- und Aromatherapie besteht der
Hauptverdienst der Kur vor allem darin, dass die Kinder
vom Letzten Ufer'� ans Meer kommen." 15
Zur Verschönerung ihres Sommeraufenthalts wurde die
ehemalige Luftwaffenbasis Kazachya, auf der Delfine für das

95
Tragen von Minen dressiert wurden, in einen aquatischen
Erlebnispark umgebaut, ein Marine-Land des sozialen Aus­
gleichs.

"Gott hat weise gehandelt, als er die Geburt vor den Tod
stellte, was wüsste man sonst über das Leben?", schrieb
Alphonse Allais ...
Seit damals hat sich dieser Humor, den Pierre Dac
scheinbar bis zur Neige ausgekostet hat, wie ein Hand­
schuh umgestülpt. Die Ursache, der Ursprung des Lebens,
besser gesagt des Überlebens der Menschheit ist die He­
rausforderung des Todes. Nicht des Todes des Anderen,
eines Feindes oder irgendeines Gegners, sondern des Todes
a/le1; des suizidalen Zustands einer gegenseitig gesicherten
Zerstörung. Wenn das nicht das Theaterdes Unsinns ist, dann
sieht es ihm erschreckend ähnlich, so sehr, dass man den
Aphorismus von Alphonse Allais umkehren müsste: "Der
Dämon des Unsinns hat weise gehandelt, als er das Lebens­
ende vor seinen Beginn stellte, was wüsste man sonst über
das Nicht-Leben?"
Tatsächlich, das haben wir schon bemerkt, ist das Wissen,
das heute in den Labors der "fortschrittlichen" Forschung
gefragt ist, nicht nur das über die Ardagerung, das Zustande­
kommen einer exzentrischen Arbeitslosigkeit, sondern über
die Ausiö.rchung, das Ende von allem, in anderen Worten das
umgekehrte Lebm.
So ist die Vorahnung vom Ende nach und nach in das
wissenschaftliche Denken eingedrungen, bevor es die poli­
tische Ökonomie der globalisierten Welt befallen hat.
Eine der umstrittensten Fragen in der Geistesgeschichte
stellt sich hier und jetzt: nämlich die nach einem möglichen
Dopiltg der technischen Kultur, oder sogar des gesamten
wissenschaftlichen Denkens.
Ein "Doping", das nicht die Muskelleistung eines Athleten
steigert, der gegen seinen Willen in den Wahn einer gren­
zenlosen Vervollkommnung hineingezogen wird, sondern
das militärische Erkmntni.rse steigert, im Sinne der Macht,

96
des Todestriebs. Darum mündet die Militarisierung der
Wissenschaft neuerdings in den Tod, nicht den der Seelen,
sondern den eines wissenschaftlichen Geistes, der in die
absurde Perspektive einer Vorherrschaft des Todesprinzips
hineingezogen wird, und das seit der Explosion der Atom­
bombe bis zur kommenden Explosion der Genbombe,
wobei dazwischen noch die Informationsbombe kommt,
die die Verpuffung des gesunden Menschenverstandes be­
günstigen wird.
Mit diesen "Nullsummen.spielen", die in gewisser Weise
olympische Spiele sind, kommt ein Fatalismus auf, der das
technowissenschaftliche Denken beeinflusst und uns den
Urifa/1derErkenflfns
i leichter verstehen lässt, der sich heute zu
jenem der Substanzen gesellt in einer Welt, die ein Opfer
des Terrors ist - und das mit dem stillen Einverständnis zu
vieler Wissenschaftler.
Jean-Pierre Vernant erklärte im August 2004: "Der mo­
derne Sport wird mit der Idee von einem unbegrenzten
Fortschritt in Verbindung gebracht, in den Techniken des
Körpers, in den Geräten, die in den verschiedenen Diszipli­
nen verwendet werden, und in der menschlichen Fähigkeit,
sich zu übertreffen und immer wieder seine Leistungen zu
steigern."
Und abschließend, in Bezug auf die olympischen Spiele
in Athen: "Der Begriff des Rekords hat keinen Platz in der
Welt der Olympiaden. Es geht darum, zu siegen, und nicht
darum, besser zu sein als die Vorgänger; nicht nur, weil
wir noch nicht über die technischen Mittel der präzisen
Zeitmessung verfügen, sondern weil es die Idee, der Sport
sei eine unbegrenzt perfektionierbare Tätigkeit, nicht gibt
und nicht geben kann."16
Tatsächlich stand der "Fortschrittsglaube" der großen
Veränderungen des 19. Jahrhunderrs in engem Zusam­
menhang mit jeder Art von Wettbewerb (politischem,
wirtschaftlichem, kulturellem) von der Zeit des industriellen
Aufschwungs bis zur zügellosen Konkurrenz am Ursprung
des heutigen Tin-hokapitalismus der Globalisierung.

97
Das erklärt das Ausmaß des Phänomens Doping und
der Regellosigkeit der globalen Wirtschaft außerhalb der
Stadien, bis hin zu den mehr oder weniger im Verborgenen
arbeitenden Labors der genmanipulierenden Biotechno­
logien. Ein Journalist erläutert, sehr weitläufig auf das
von Rene Girard entworfene Konzept der "mimetischen
Theorie" bezugnehmend: ,.Durch die mediale Vernetzung
des Wettbewerbs wird die Regellosigkeit unkontrollierbar.
Wenn die Konkurrenten bisher bloße Hindernisse auf dem
Weg zur Verwirklichung des ,Begehrens des Sieges' waren,
erfahren jetzt die Hindernisse als solche Wertschätzung. Das
,Begehren des Hindernisses' herrscht vor, und es geht eher
um die Gegnerschaft als um den Gegner selbst."17
Und er schreibt weiter, in Bezug auf diese mimetische
Verdichtung: "Unter diesen Umständen entwickelt sich der
Eventsport in Richtung einer Inszenierung, die auf einer
neuartigen Dramaturgie basiert, die es erlaubt, den Gegner
zu , verkohlen'. (. . .) Es ist also wahrscheinlich, dass uns
im Bereich des Dopings das Schlimmste noch bevorsteht.
Wenn nichts unternommen wird, strukturiert bald eine Art
pathologisches Begehren den Prozess des Zugangs zum Sieg,
das wiederum die Gegner zur Selbstzerstörung zwingt."
Im Vergleich zu den ,.olympischen Spielen" der Antike
haben die Überlebensspiele der Menschheit im Zeitalter der
nuklearen Abschreckung diese mimetische Pathologie ins
Unmäßige gesteigert. Doch was hier dabei ist, "verkohlt"
zu werden, genauer gesagt versiegelt, ist nicht mehr der im

Osten verschwundene Widersacher, sondern die Widrigkeit


mit ihren gesichts- und uferlosen, zum kollektiven Selbst­
mord bereiten Terroristen.
Hieß es nicht bis vor kurzem über Rechtswissenschaftler
in den USA, sie theoretisierten die Position, dass "wenn
Folter das einzige Mittel darstellt, um eine Atombomben­
explosion am Times Square zu verhindern, dann ist sie
angemessen"18?
Nach der Abschreckung auf allen Seiten ist also die Ver­
größerung der Folterkammer der nächste Punkt auf der

98
Tagesordnung des letzten Tages... Wenn nämlich alleserlaubt
ist, um das Ende der Welt zu verhindern, dann bedeutet das
das Ende von allem!
Das Ende des Rechts, inklusive dessen des Stärkeren,
verdrängt vom Recht du Wahtzsinnigmn: schnellstens die Lager
wieder aufbauen, alle Lager, nicht nur das n
i Guantanamo,
sondern auch die in Treblinka, Auschwitz und Birkenau,
um schließlich das einzuleiten, was Andre Chouraqui einst
die globale S hoah nannte.19

99
Die Dromosphäre

1978, vor etwa dreißig Jahren, startete die Bundesrepublik


Deutschland ein aufschlussreiches Experiment: den TPegfa/1
von GescbJPindigkeitsbegrenz;mgen auf derAutobahn. Diese Serie von
Tests und verschiedenen Umfragen, gemeinsam organisiert
von Regierung, Baufirmen und Automobilklubs, zielte
darauf ab, die veraltete Analyse der Ursachen von Auto­
unfällen zu überholen. Indem sie bis dahin vernachlässigte
Faktoren wie denZustand der Fahrbahnen, atmosphärische
Bedingungen und so weiter einbezogen, schienen sich
plötzlich öffentliche und private Einrichtungen darauf zu
einigen, die überhöhte Geschwindigkeit nicht mehr als eine
direkte Unfallursache anzuerkennen.
Den Untersuchungen zufolge sei die Geschwindigkeit
nicht die einzige, ja nicht einmal die Hauptursache von
Unfällen und ihrem Ausmaß, denn andere Faktoren hätten
viel mehr Anteil am Massengrab des Automobilverkehrs.
Man ahnt es bereits, das Argument für diesen Sinneswan­
del lag woanders. "Die Fahrzeuge, die für eine Geschwindig­
keit von 150 oder 200 Stundenkilometern konzipiert sind,
zu einer Reisegeschwindigkeit von nicht mehr als 130 zu
verurteilen, heißt, den technische11 Fortschtitt und damit die Stellm�g
der deutsc!Jm Industrie atrf ausländischen Mi:irkten zu VCI'Urtei/en, JJJas
derArbeitslosigkeit Tür und Toröffnet." , sagten die Hersteller.
Angesichts dieses Plädoyers entschied sich die Bun­
desregierung zur "Liberalisierung der Autobahn" . Auch
wenn den Autofahrern empfohlen wird, 130 Kilometer
pro Stunde nicht zu überschreiten, werden 200 oder 250

101
Stundenkilometer nicht mehr bestraft, die Selbstdisziplin
der Autofahrer genügt ...
Die französischen Hersteller waren beunruhigt und muss­
ten damals ein Gegenargument finden: "Auf der Autobahn
ist es wie im Wettbewerb. Je schneller ein Fahrzeug fahren
kann, desto verlässlicher ist es. Wer das Größte vermag, der
vermag auch das Geringste."
Für die Konkurrenz auf den ausländischen Märkten,
besonders in den USA, wo sich die deutschen Autos sehr
gut verkaufen, spielt die Geschwindigkeit, die strengen
Beschränkungen unterliegt, jedenfalls keine Rolle. Schon
eher die Verlässlichkeit, die von der Höchstgeschwindig­
keit abhängt, selbst wenn sie selten erreicht wird. Weil
sich Deutschland freiwillig für "heute ein paar Tote mehr
und dafür morgen weniger Arbeitslose" entschieden hatte,
erklärten die französischen Hersteller, die Konkun·enz zwürge
sie auf dmselben 1
19"eg.
Was dann folgte, ist bekannt: Massenarbeitslosigkeit in
Deutschland wie in Frankreich und anderswo ... Wiederum
aufschlussreich für diese Zeit ist die Akzeptanz der Opfer
der Straße als jene des Fortschritts. Weil seitdem jeder Au­
tofahrer eine Art "Testpilot" für Spitzentechnologie gewor­
den ist, wissen jene, die ihr Leben und das ihrer Nächsten
riskieren, dass sie es um der Verlässlichkeit des Produkts
willen tun, für das Wohlergehen des Unternehmens, mit
anderen Worten: für die Sicherheit des Arbeitsplatzes ...
Wenn die Weiterentwicklung der Automobilindustrie
durch ein Übermaß an Geschwindigkeit abgesichert und
garantiert wird, kommt das Riskieren des eigenen Lebens
für die Sicherheit der Geschwindigkeit einer Sicherheit des Tages­
ahl01ifs gleich; nicht mehr wie früher, als man sein Leben für
das Vaterland riskierte, für die Verteidigtmg des Lebensraums.
Mit dieser zumindest seltsamen Art der Einrichtung in
der Zeit, die gleichzeitig von der Sozialversicherung und
vom Zivilschutz bestätigt wird, die ja beide denAriJtitrmifall
und den Verkehr.rmifa/1 in der selben Rubrik führen, geht es
nicht mehr wie in der Vergangenheit darum, den Unfall

102
oder Fehlschlag zu verbergen, sondern darum, ihn nutzbar
zu machen, psychologisch gesprochen.
Ein Vorgang, der eine Art Deregulierung des Verhaltens
etablieren sollte, und der bereits ankündigte, dass nach der
Selbstregulierung der traditionellen Gesellschaften und der
Regulierung der institutionellen Gesellschaften die A1� der
grciffen Deregufierung kommen sollte, die wir heute erleben.
Dem Beispiel des russischen Volkes folgend, das einst zu
Opfern aufgerufen wurde, um die "strahlende Zukunft" des
wissenschaftlichen Kommunismus zu sichern, könnte man
den technischen Fortschritt der kapitalistischen Gesell­
schaften an der Opferzahl ihrer Konsumenten messen ...
Seltsamerweise bestand in dieser gar nicht so weit zurück­
liegenden Epoche der 1970er Jahre, als der technowissen­
schaftliche Fortschritt an das Risiko angepasst wurde, ein
schnelles Auto zu fahren, die (französische) Regierung unter
Raymond Barre ungeachtet der Katastrophe von Three Miles
Island (1979) auf der Notwendigkeit, den Bau französischer
Atomkraftwerke zu beschleunigen, und bewegte sich damit
in die Richtung dieser eschatologischen Perspektive.
Musste man nunmehr ernsthaft in Betracht ziehen, es
komme eine Zeit der offiziell zynischen oder sogar sadis­
tischen Machtausübung? Die Errichtung eines "Selbstmord­
staates", der weniger politisch als vielmehr transpolitisch
wäre, und den die Katastrophe von Tschernobyl bald durch
die Implosion der Sowjetunion veranschaulichen sollte?

Dafür lohnt es sich, auf eine alte Novelle von Ursula Leguin
zurückzukommen, die in Frankreich in dieser Zeit (1978)
��schienen ist: Direction of the Road, in der französischen
Ubersetzung unter dem Titel Le Chl11e et Ia Mort.
In dieser Geschichte lässt die Autorio einen mehr als
zweihundertjährigen Baum erzählen, wie er mit dem Klang
des Galopps der sich häufenden Postkutschen wuchs und
bald die Beschleunigung der Autos rniterlebte, bis zu dem
unglücklichen Unfall, derdieseIch-Erzählung einer Pflanze
beschließt.

103
"Früher", sagt die Eiche, "waren sie nicht so anspruchs­
voll. Die Pferde ließen uns nie schneller als im Galopp
vorankommen, und selbst das war selten. Aber heute zerrt
uns das Automobil in seiner Fahrt von Ost nach West; mich,
unseren Hügel, den Obstgarten, die Felder, das Dach des
Bauernhauses, meine Geschwindigkeit ist schneller als der
Galopp und noch nie habe ich mich so schnell bewegt. Ich
hatte kaum Zeit, riesengroß zu erscheinen, undmuss schon
wieder kleiner werden."
Noch weiter verfolgt unsere Eiche diese dromosleopiscbe
ViJion: "Haben Sie sich jemals überlegt, welche Anstren­
gung ein Baum aufwendet, wenn er einerseits in leicht
unterschiedlichen Geschwindigkeiten wachsen muss und
gleichzeitig wegen der Autos, die in die andere Richtung
fahren, zurückweichen muss?
Ich muss jetzt Minute für Minute, Stunde um Stunde
schneller und schneller werden: mit Volldampf wachsen,
mich auf volle Länge strecken und genauso überstürzt klei­
ner werden, unablässig, ohne Zeit zu haben, mich daran zu
freuen ..."
Und unsere ehrenhafte Eiche schwingt sich zur "Eiche der
Gerechtigkeit" auf: "Seit fünfzig bis sechzig Jahren schon
erhebe ich mich als Verteidigerio der natürlichen Ordnung
und erhalte den Menschenkreaturen ihre lllusion, sie be­
wegten sich irgendwo hin. Aber es ist etwas Furchtbares
mit mir geschehen, und dagegen erhebe ich in aller Form
Einspruch. Ich würde gern in zwei Richtungen gleichzeitig
gehen. Ich möchte gleichzeitig wachsen und schrumpfen.
Ich möchte mich bewegen, selbst in Geschwindigkeiten, die
einem Baum nicht angenehm sind. Ich bin bereit, mit all
dem weiter zu machen, bis zum Tag, an dem man mich fällt.
Aber ich weigere mich mit aller Kraft, zu etwas Ewigem
gemacht zu werden."
Darauf folgt diedetaillierte Beschreibung des Unfalls, bei
dem ein Autofahrer gegen die Eiche fährt: "Ich hatte ih11 atif
der Stelle getötet. Ich kmmte es 11icht vermeiden.", gibt der Baum zu.
,.Wogegen ich mich erhebe ist Folgendes: als ich auf ihn

104
traf, hat er mich gesehen. Er hat endlich aufgeblickt. Er
hat mich gesehen, wie ich noch nie zuvor gesehen worden
war, nicht einmal von einem Kind, nicht einmal zu der
Zeit, als die Menschen sich noch umschauten. Er hat mich
als Ganzes gesehen, und vielleicht bin ich das Einzige, was
er jemals gesehen hat ... Er bat mich mit dem Vorzeichen
der Ewigkeit gesehen und in dem Moment, als seine Vision
sich als falsch herausstellte, ist er gestorben."
Und unsere Eiche schließt philosophisch: "Das ist mir
unerträglich. Ich kann mich nicht zum Komplizen einer
solchen Illusion machen. Die Menschenkreaturen wollen
die Relativität nicht verstehen, von mir aus, aber sie sollen
zumindest das Verhältnis verstehen. Es ist ungerecht, mir
nicht nur die Rolle des Mörders aufzuzwingen, sondern
sogar die des Todes. Denn ich bin nicht der Tod. lch bin das
Leben."
Diesen mehr als dreißig Jahre alten Text auszugraben mag
heute anachronistisch erscheinen, aber das ist ein Irrtum,
oder vielmehr eine optische Täuschung der Beschleunigung
der Wirklichkeit.
Denn tatsächlich säumten zu Beginn des Ietzten jahrhun­
derts noch drei Millionen Platanen, Ahorne und Pappeln
unsere Straßen, davon bleiben nicht mehr als 400000, undsie
werden für 750 Tote pro Jahr verantwortlich gemacbt.2 Der
noch vor einem halben Jahrhundert vorherrschende Fatalis­
mus ist dem Prinzip kollektiver Verantwortung gewichen.
Daraus ging das Konzept "die Straße tJbt keifl Pardon" hervor.
In Straßenbaugesellschaften haben Statistiker berechnet,
dass das Risiko, in einem Unfall beim Fahren gegen einen
Baum zu sterben viermal größer ist als bei jeder anderen
Art von Unfall.
In ihrer Wortwahl sind die herrlichen Laubträger zu
potmziellm Hilidernissenjiir Menschenlehm verkommen, daher
sollen sie laut Rundschreiben von 1970 geopfert werden,
und zwar durch syste111atische A11sr0tf1mg.
Noch 2001 diffamierte der damalige Landwirtschaftsmi­
nister Jean Glavany Platanen als öffintliche Cefahrm.

105
Natürlich wagen gewisse Leute zu behaupten, dass ,.es
nicht Platanen sind, die vor Autos laufen", aber was soll
man denen entgegnen, die so weit gehen, an die Abschaffung
der Todesstrafe zu erinnern, um die Abholzung seitlicher
Hindenrisse zu rechtfertigen, dieser erschwerenden Faktoren
jedes Verkehrsunfalls? "Sicher", sagen sie, "jeder Autofahrer
muss sein Fahrzeug unter Kontrolle haben. Aber trotzdem
ist der Tod eine zu schwere Strafe."
Zwischen der Fiktion von gestern und der beschleunigten
Realität von heute ist alles gesagt, der Unterschied ist
verschwunden und die Vernunft mit ihm. In einem Einge­
ständnis der Ohnmacht sagte sogar ein Nationalrarsmitglied:
"Was wollen Sie, wir werden es niemals schaffen, dass sie
langsamer fahren!"
Die Tatsache, dass die Geschwindigkeit nicht nur das
Verhältnis abschafft, wie Ursula Leguin so treffend erklärte,
sondern auch die Vermmft, steigert noch die Bedeutung des
Unfalls des zeitgenössischen Denkens, anders ausgedrückt:
des Unfalls des Verkehrs der Erkenntnis zwischen dem
"Wesen" und dem "On", diesem Lebensraum, der nicht nur
das Tierreich - die Bewegung des Lebens -, sondern auch
die Pflanzen und das Gestein mit einschließt, das heißt die
Bereiche der Stabilität, der Unveränderlichkeit und letztlich
des Fortbesteheus des Geländes.
Wie lange noch bis zur Abschaffung der Hügel, der
Felswände, bis zur endgültigen Einebnung der Erdoberflä­
che?
Wie lange noch bis zur Beseitigung der Hochseewellen,
dieser Einheit aus kollateralen Hindernissen, die die Be­
schleunigung des technischen Fortschritts noch bremsen?
Wenn man sich an einem Tisch stößt, muss er dann besei­
tigt werden oder muss man lernen, ihm auszuweichen? ...
Seit wir die Distanzen scheinbar beseitigt haben, bleibt
zum Beseitigen nur noch der Widerstand des Materials, der
lirhosphärischen und hydrosphärischen Elemente.
So, wie wir vor nicht allzu langer Zeit mit Hilfe der
Fluchr.geschwindigkeit und der Gravitation, der Erdschwere

106
die gesamten atmosphärischen Elemente besiegt. haben,
müssen wir jetzt das besiegen, was noch an Materiellem dem
Fortkommen im Wege steht, dem drol!losphät ischetl Wettrennett
der selbstfahrenden Apparate.
Nach den Seidenarbeitern von Lyon und den englischen
Iuddistischen Maschinenstürmern ist also jetzt die Zeit für
die Motorenspezialisten gekommen, diese Jünger der systema­
tischen Vernichtung der Laubträger, ihres Schattens, der
dank der Klimaanlagen nicht mehr nötig ist ... Wie lange
noch bis zur Abschaffung der vier Jahreszeiten, bis sie durch
ein einziges temperiertes Klima auf der ganzen Erde ersetzt
werden? Wie lange noch, bis wir hinter Glas kommen,
oder eher unter Zwangsverwaltung der meteorologischen
Atmosphäre? Und das dank dieser anderen Sphäre, der
Dromosphäre des Fortschrittswettlaufs, der nichts anderes
ist als eine Inflation der dritten Art, weniger ökonomisch
als eschatologisch, denn die Beschleunigung der Realität
verdrängt jede historische Akkumulation.

"Weil wir immer nur besitzen wollen, sind wir selbst zu


Besessenen geworden", stellte schon Victor Hugo vor
zweihundert Jahren fest.
Es ist sinnlos, weiter nach der Ursache dieser Hypergewalt
zu suchen, die heute über die Welt hereinbricht, denn die
Geschwindigkeit ist selbst zur Quintessenz. dieser Gewalt
geworden, die nacheinander nicht nur jeden "zeitlichen"
Fixpunkt, sondern jede faktische Begrenzung auslöscht.
Nehmen wir das Beispiel der Statik und der Widerstands­
fähigkeit des Materials, das bei jedem Bau verwendet wird:
seit dem letzten Jahrhundert sind wir i!mmr schmller geiPOtden
bei der Herstelltmg von Beton, der zum Bau verwendet wird bei
diesen Bauwerken mit sehr langer Lebensdauer, die die Fort·
dauer und die Stabilität unserer Gesellschaften bedingen.
So sagte ein ein Architekt nach dem Einsturz eines Ter­
minals des Flughafens Paris-Charles de Gaulle im Mai 2004:
"Die Bauarbeiten müssen immer schneller vorangehen,
die technischen Anforderungen werden immer höher und

107
gehen an die Grenzen der Komplexität. Man kann sogar
von einer ,Ideologie der Geschwindigkeit' und der Leistung
sprechen."
Nein, lieber Kollege, das ist eben keine vorübergehende
Ideologie mehr, wie sie zu Beginn des Industriezeitalters
herrschte, sondern eine Dromologie, und das ist schlimmer,
denn diese formt die technisierten Zivilisationen als Ganzes,
wie schon Mare Bloch bemerkte.
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht angebracht,
den Begriff des Surrealis11ms, der aus dem küstlerisch-litera­
rischen Bereich kommt, aufdie Politik umzulegen, was zum
Beispiel die Tänzerin Sylvie Guillem macht, wenn sie sagt:
"Man muss tanzen, man darf nicht iiberta11�n {surdanser)",
mit anderen Worten, man soll sich mit ausschließlich cho­
reografischen Spitzenleistungen zufrieden geben.
In Wirklichkeit kann man genauso gut iiber-konsh-uieretr
wie iiber-zmtijmr, seit die technischen, wissenschaftlichen
und industriellen Spitzenleistungen vollständig von der
Beschleunigung der Wirklichkeit bedingt werden ... Daher
breitet sich auch eine Überwachu11g in alle Richtungen aus,
die jene "Aufmerksamkeit" aus der gar nicht so fernen Zeit
überbietet, als "die Menschen sich noch umschauten", eine
Zeit, von der uns Ursula Leguin nützlicherweise erzählt,
in baldiger Erwartung einer Über-Menschheit, die uns die
Fortschrittsapostel vorbereiten, versteckt in den Labors
der gentechnisch manipulierten Genese.
"Die Menschen ärgern sich über die Wirkungen, aber
mit den Ursachen finden sie sich ab", schrieb BossuetJ. Als
Echo darauf könnte man die Worte eines anderen großen
kritischen Kopf hinzufügen: "Wenn die Wissenschaft sich
nicht um ihre Wirkungen kümmert, wird sie zum Opfer
der Ignoranz. "4
Heute scheint die Sphäre der Beschleunigung der Wirk­
lichkeit eigenartigerweise das Prinzip Verantwortung um­
zukehren.
Mit dem tötenden Baum wird die Realität der Schuld vom
Schuldigen auf den Unschuldigen übertragen, auf die Un-

108
schuld einer pß41r':(jichen Unveränderlichkeit, die der Automobilität
eines Fahrzeugs die Stirn bietet, das überdies heutzutage noch
über Fahrerassistenzsysteme verfügt ...
Hier befällt die Dromoskopie - dieses optische Phänomen
des Abrollens, das die Blickrichtung des Straßenrandes
umkehrt, sodass die Bäume den Eiltdruck ennrken, über die
Windschutzscheibe zu eilen, bevor sie im Rückspiegel
verschwinden, während doch in Wirklichkeit das Gegenteil
geschieht - unsere gesamte Wahrnehmung und trübt unser
Urteilsvermögen so sehr, dass plötzlich das Opfer zum
mutmaßlichen Täter wird.
Außerdem beeinflusst dieses Phänomen der dromosko­
pischen Übertragung heutzutage unser Rechtssystem, und
die Behörden beunruhigt das nicht besonders: ich spreche
von dieser Schuldübertragung, die zahlreiche Strafgerichts­
prozesse durcheinanderbringt, und bei der das Opfer aus
der Kurzmeldung in der Zeitung auf subtile Weise zum
Schuldigen wird ... Diese Vertauschung ist wahrscheinlich
eine indirekte Folge der zu großen Beweglichkeit der
Blickwinkel in der unaufhörlichenBeschleunigung unserer
sozialen Verhaltensweisen.
Es genügt, zu beobachten, was sich zum Beispiel in Un­
ternehmen abspielt, die der wirtschaftlichen Globalisierung
unterworfen sind: sobald in der Chefetage ein ernstes Pro­
blem auftaucht, wird übertragen, wird ausgelagert, und je
heikler die geschäftliche Situation erscheint, desto schneller
wird gehandelt ... und das bis zum Outsourcing, das das
gesellschaftliche Leben umstülpt wie einen Handschuh.
Der Grund für eine solche Art der Wahrnehmung, die
die Realität des Augenblicks ausklammert, ist die fehlende
Verlllittlung, weil es keine Verzögerung mehr gibt, keine
zwischengeschalteten Intervalle.
Weil die Beschleunigung die Raum-Zeit unserer Hand­
lungen auf ein Nichts herunterschraubt, verkehrt sie plötz­
lich die Tatsachen in ihr Gegenteil. Und die Dromosphäre
erzeugt überall gleichzeitig eine scheinbare Rikke!ttwicklu11g des
envorlmren Wissefis und derErkenntnsi , bei derdie zeitliche Korn-

109
pression unserer Aktivitäten ziemlich genau das darstellt,
was Aristoteles "die Akzidenz der Akzidenzien" nannte.
Jener Vorgang zum Beispiel, der sich bei der Beschleuni­
gung im Auto ereignet, wo das, was mr Ort und Stelle bleibt, zu
fliehen scheint, während das Innere des Fahrzeugs unverändert
scheint, wiederholt sich heute in der medialen Wahrneh­
mung der Fernsehberichterstattung.
Das, was ich vor zwanzig Jahren Dromoskopie5 nann­
te, lässt sich heutzutage auf all unsere Errungenschaften
und Erkenntnisse anwenden, auf die Früchte einer längst
vergangeneu und so langsamen Epoche, dass die Errungen­
schaften selbst zu entfliehen scheinen, diskreditiert vom
wahnwitzigen Verlauf der Ereignisse der letzten Zeit.
Daraus folgt auch dieser Stillstand der Jetztzeit, der
Präsentis!Jlus heißt und nichts anderes ist als die Illusion
der Beschleunigung der Kommunikation, das Ineinander­
schieben einer flüchtigen Teleobjektivität, die immer mehr
die bewährte Objektivität ersetzt; auf dieselbe Weise, wie
die dromoskopische Illusion des Autos die Ränder der
Fahrbahn erbeblich beeinträchtigt, indem sie die Unbe­
weglichkeit der Umwelt beweglich erscheinen lässt und
dem Fahrzeuginsassen den Komfort der mitgeführten
Unveränderlichkeit vorgaukelt, der sich nur bei einem
Unfall verflüchtigt, wenn eine frontale Kollision plötzlich
wieder klare Tatsachen schafft.
Die Unveränderlichkeit des Hindernisses tritt hier auf
wie ein Friedensrichter, der Perspektiven verschiebt, und
der Baum oder die Mauer sind dabei immer nur Platzhalter
dessen, was im Grunde genommen das Hindernis dergeoph),si­
kalischm Endlichkeit in einem abgeschlossenen Lebensraum ist,
für eine Tierart, die genauso "irdisch" wie "menschlich" ist,
was uns keine noch so geniale Genmanipulation austreiben
wird können, dem postmodernen Wahnsinn eines virtuellen
Raums zum Trotz; dieser sechste Ersatzlwrtinent, der für einen
Neokolonialismus letztlich genauso ungeeignet ist wie der
Weltraum trotz seiner Eroberung durch die "bemannten
Flüge" der NASA in den 1960er Jahren.

110
Weiche astronautische Illusiotl verbarg sich eigentlich damaLs
hinter den Mondmissionen? Um welche Eroberungen,
um welche "Auswirkungen" ging es denn damals, wenn
nicht um jene eines unendlich befahrbamr, aber unbnvohnbaren
Raumes!
Mit anderen Worten, um eine kosmische Leere ohne
Bezug zum Biosphärenraum, in dem das, was befahrbar ist,
auch gleichzeitig bewohnbar ist, wo Verkehr und Besiede­
lung .,im selben Haus wohnen".
Exotische Leistungen voranzutreiben und jede "Be­
hausung" zu vernachlässigen, war Unsinn, ein panisches
Verhalten der Deterritorialisierung, das nur vom "Gleich­
gewicht des Schreckens" zwischen Ost und West herrühren
konnte, aus Überlegungen der Wahrscheinlichkeit eines
Atomkonflikts, der die Erde endgültig ungeeignetfür das Leben
gemacht hätte.
So war die sogenannte .,Eroberung des Weltraums" nur
die Bestätigung von Bossuets Feststellung, weil die Ursache
für diesen "exotischen" Fortschritt immer nur die Wirkung
der Abschreckung zwischen Kommunismus und Kapita­
lismus war. Wie vor Kurzem ein Marineoffizier feststellte:
"Ist ein gelungenes Militärmanöver nicht eine gerade noch
verhinderte Katastrophe?"
Wenn es stimmt, dass es nie Gewinn ohne Verlust gibt,
und dass also der technische Fortschritt nur ein freiwilliges
Opjet·ist, dann beweist uns das einmal mehr der Aufschwung
der interstellaren Raumfahrt in den Jahren des Kalten
Krieges.
In dieser Epoche, als das Aufstellen sowjetischer Raketen
auf Kuba (1962) das so empfindliche Gleichgewicht zwi­
schen den Blockstaaten gefährdete, bedrohte ein großes
Risiko den Planeten Erde, bei dem, so der Astrophysiker
Martin Rees, "di e Überlebenschancen der Menschen auf
der Erde nicht über fünfzig Prozent lagen."6
Was der Historiker Artbur Schlesinger, ehemaliger Bera­
ter des Präsidenten John F. Kennedy, bestätigt, wenn er in
seinen Memoiren schreibt: "Die Kubakrise war nicht nur

111
der gefährlichste Moment im Kalten Krieg, sondern der
gefährlichste in der Geschichte der Menschheit."7
Da ist es schon, das gelungene Manöver: Die Eroberung
des Weltraums als Resultat der knapp verhinderten Ka­
tastrophe der Opferung des Planeten im Duell zwischen
Ost und West!!! Dieses "Militärmanöver" scheint heute
seltsamerweise wieder gestartet zu werden, denn das Pen­
tagon führte im Sommer 2004 die Installation der ersten
Raketen des geplanten "Raketenabwehrschildes" durch, in
der Hoffnung, sie für die Präsidentenwahl am 2. November
i n Stellung zu bringen, und das ohne vorher im Experiment
die Effizienz dieses Systems überprüft zu haben. Genauso
wenig änderte der damalige scheidende Präsident George
W. Bush in seinem Wahlprogramm die zu Jahresbeginn
eingeschlagene Linie in Bezug auf die Raumfahrt. So soll
nach der Errichtung der Raumstation ISS im Jahr 2014 ein
neues Gefährt seine erst bemannte Mission absolvieren,
bevor es zwischen 2015 und 2020 die Amerikaner auf den
Mond bringt. Sein demokratischer Gegenkandidat John
Kerry kritisierte offen diese unsinnig kostspieligen Ziele
und legte im Bereich der Raumfahrt weder Vorgaben noch
einen Zeitplan fest.8

Als Verkünder des Perspektivenwechsels schrieb Nietzsche:


"Liebe deinen Fernsten wie dich selbst!"
In den USA scheint diese Azimutalprojektion heute wieder
zu Ehren zu kommen, nach dem Mono: "Um den nahen
Feind zu vernichten, muss man zuerst den in der Ferne
treffen."9 Ob Präventivschlag am Ende des Kalten Krieges
oder Präventivkrieg gegen den Terrorismus, seit langem ist
ein und dieselbe "transhorizontale" Logik am Werk.
Eine dromologische Logik des Wettlaufs um "umfassende"
Vorherrschaft, die den Nächsten zugunsren des Fernen ver­
schwinden lässt, zugunsten aller Fernen, alles Fremdartigen,
mit anderen Worten, zugunsren aller Fluchtbewegungen!
Ein Wettlaufjenseits von Gut und Böse, derj
egl
ih
ces Diesseits
verleugnet und letzten Endes in diese topologische Um-

112
kehrung mündet, in der dann das Globale für die Innerlichkeit
einer abgeschlossenen Welt steht und das Lokale für die
Außerlichkeit, den großen Stadtrand einer Geschichte ohne
Geografie - eine Chro11osphäre der Gegenwart, der "Echtzeit",
die der Geosphäre des Lebensraums nachfolgt.
Und das ist, wie man zugeben muss, die Schlussfolgerung
aus Bossuets klugem Spruch: "Die Menschen ärgern sich
über die Wirkungen, aber mit den Ursachen finden sie sich
ab." Nur mit einer Korrektur: es sind die "Schwachen" , die
sich über die Desaster des technischen Fortschritts ärgern,
und die "Mächtigen", die sich am leichtesten mit den Ur­
sachen abfinden.
Für die Ausgeschlossenen, Ausgestoßenen allerorts läuft
die Verwerfung der Globalisierung auf eine umfassende
Exklusion hinaus - ohne hier nochmals von der großen
transkontinentalen Armutsmigration zu sprechen.
Was soll man zum Beispiel zu den greisen Rentnern sagen,
die ständig um die Welt reisen, um noch alles zu sehen, bevor
sie sie verlassen, während sich niemand über die arbeitslosen
Jugendlichen aufregt, die schon alles gesthm habm, bevor sie
überhaupt existieren?
Der Fortschrittsdruck der Dro111osphäre ist letztlich nur
eine Flucht nach vorn, die zu dieser Au.rlagenmg führt, die ja
immer nur der postmoderne Ausdruck für die Auslöschung
ist. Die Offenbarung einer Endlichkeit, in der die schöne
Totalitäf0 Hegels ungeschminkt erscheint, weil das Globale
alles Lokale verdrängt.
Nach zwei Jahnausenden der Erfahrungen und der Nie­
derlagen, der Unfälle aller Art, führt das dritte Jahrtausend
mit der Globalisierung das Paradux der Niederlage des Erfolgs ein,
denn erst der Erfolg des Fortschritts erzeugt das Desaster.
Der vollständige Unfall einer nunmehr gewissenlosen Wis­
senschaft, deren arroganter Sieg ihre früheren Wohltaten
bis auf die Erinnerung zunichte macht.
Ein einschneidendes Ereignis in einer langen Geschichte
der Erkenntnis, dessen Tragik die Globalisierung gleichzei­
tig offenbart und maskiert.

113
In Zukunft werden es nicht mehr so sehr der Irrtum, das
Versagen, noch nicht einmal die Katastrophe großen Aus­
maßes sein, die die Wissensvermehrung aufhalten, sondern
gerade das Übermaß an Wissensaufwand, das an die Grenzen
eines kleinen Planeten stößt. Als hätte das Vorantreiben
des technowissenschaftlichen Fortschritts im vergangeneo
Jahrhundert die WisseTJschajt gedopt, so wie einige verbotene
Substanzen den Körper eines Athleten dopen. Die Grenze
ist hier also nicht mehr die angeborene Schwäche der Kennt­
nisse, sondern eben die Macht einer Wissenschaft, die zur
"Supermacht" geworden ist in dem Wetdauf um Leben und
Tod, der vor nicht allzu langer Zeit mit dem Jf/etlliisten die
Militarisierung der Wissenschaft eingeleitet hat.
Es ist eine unüberschreitbare Grenze, denn sie ist die
Frucht eines wachsenden Erfolges, den niemand wirk­
lich bestreitet, der jedoch Erkenntnisse zunichte macht,
die gestern noch auf der Bescheidenheit experimentellen
Wissens gründeten, iJVeitrangiges Wissm vom Ursprung der
wissenschaftlichen Vernunft, das durch die Maßlosigkeit
seiner Auswirkungen, seiner panischen Konsequenzen
er:strangig geworden ist.
Und wieder ist der Vergleich mit dem Doping im Sport
aufschlussreich: denn was nützt ein Fortschritt, der die­
jenigen, die angeblich von ihm "profitieren", nicht nur
verändert, sondern buchstäblich auslöscht?
Desaster eines kommunikativen Fortschritts, das die
Grenzen der Welt künftig genauso wenig zu fassen vermö­
gen wie die Masse der Lebenden ... Tatsächlich können die
Desaster des Fortschritts im Gegensatz zu den Niederlagen
des experimentellen Wissens nicht mehr überwunden
werden, wie das in der Vergangenheit mit den Schwächen
einer neu erlangten Erkenntnis getan wurde, n
i der nicht
weit zurückliegenden Zeit, als der bescheidene Geist die
"Wissenschaft" noch mit der "Philosophie" verband.11

Doch kommen wir zurück zum Phänomen der Beschleu­


nigung der Wirklichkeit, das heute in den Veränderungen

114
der Perspektiven in der Außenpolitik der Staaten spürbar
wird.
Seit etwa einem Jahrzehnt empfinden die USA bilaterale
Konflikte als innere K1iege mit mehr oder weniger schurkschen
i
Staaten ... Doch in dieser extrovertierten Welt täuscht sie
die rasche Entsendung von bewaffneten Streitkräften son­
derbarerweise bezüglich der Realität ihrer Hegemonie.
So wie die Anpassung des Auges beim Autofahrer von
der Fahrtgeschwindigkeit des Fahrzeugs abhängt, da der
B1·emrpunkt sich je nach Beschleunigung verschiebt, genau so
11erschiebt sieb heute diegeostrategische Wabmehmung de1· an;e�ikanischm
Supermacht über die Grenzen der Vereintm Nationm hinaus und trifft
sich mit der E1·dkrünmmng.
Die Dromosphäre ist für sie demnach keine Metapher des
Fortschritts mehr, sondern eine gesicherte Tatsache ihrer
geopolitischen Wahrnehmung, in der sich topalogische
Umkehrungen häufen.
Ein geistreicher Mann stellte sich kürzlich diese Frage:
"Wie kann die amerikaaisehe Gesellschaft, so vielfältig, so
multikulturell, nach außen eine dermaßen monolithische
Weltsicht haben? Es wird viel vom amerikanischen Impe­
rium gesprochen, aber das ist ein barrikadiertes Imperium.
Die Amerikaner leben in .Bunk.ern. "12
Dabei ist die Antwort darauf einfach, sogar zu einfach.
Dieses Monolithische ist nicht mehr Ausdruck einer "to­
talitären" Macht, vergleichbar mit denen der jüngeren Ver­
gangenheit, sondern Ausdruck des endgültigen Abschlusses,
der Verwerfung der Weh.
Diese "globalitäre" Wahrnehmung ist also wirklich jene
der Dromosphiire, die sehr eng an die Krümmung der Erdkugel
anschließt, und hier erreicht die Dromoskopie ihren Höhe­
punkt, denn ihr Horizont ist nicht mehr jene Linie, die Him­
mel und Erde trennt, sondern einzig diegeodätirche Kti.imrmmg, die
das Volle 110m Lemn trennt, die "biosphärische" Fülle von dieser
"exosphärischen" Endlichkeit, diesem interstellaren Raum,
der alles bedingt, sogar den Erdwnfang, denn "jede Grenze
kommt von außen", und die Kugelform der Himmelskörper

115
kommt von ihrer ständigen Bewegung, genauer gesagt von
ihrer mehr oder weniger schnellen Rotation.
Und in Anbetracht des Urknalls, der niemanden zu beun­
ruhigen scheint, ist der erwähnte monolithsche
i Bunker nichtS
anderes als ein Rückzugsgebiet: das der Geschichte.
Indem sie ihre Erdumrundung vollendet, schließt die
Dromosphäre das Zeitalter der politischen Revolutionen, um
die Büchse der Pandora mit den transpolitischen Offenba­
rllngen zu öffnen. Das ist vielleicht der wesentliche Punkt
in Malraux' Eingebung bezüglich des 21. Jahrhunderts.
Lesen wir, im Sinne einer Bestätigung dieses "histo­
rischen Tellurismus", Thomas Ferenczi in einem Editorial
zur Erweiterung der Europäischen Union: "Europa bedeu­
tet auch Innenpolitik. Kann man zum jetzigen Zeitpunkt,
wo europäische und nationale Politik sich mehr und mehr
vermischen, diese im Augenblick der Wahl auf sinnvolle
Weise trennen, ohne so weit zu gehen, ein linkes und ein
rechtes Europa einander gegenüberzustellen, mit dem
Risiko, ein Zerrbild zu erzeugen? Hat man nicht das
Recht auf eine gewisse Kontinuität?" Und er schließt mit
den Worten: "Was bei diesen Kontroversen auf dem Spiel
steht, ist die französische Politik in ihrer europäischen
Dimension."13
Was unser Leitartikelschreiber hingegen nicht wahr­
ni.mmt, ist "die Krise des Begriffs der Dimension"14• Die
Krise ganzer Dinremionen, der geometrischen wie der geo­
politischen, die heute in eine Fraktaliriertmg des Konzepts der
(nationalen, gemeinschaftlichen) Identimtmündet und damit
in diesen "kritischen Raum", in dem nichts mehr ganz
ist außer der "astropolitischen" Sphäre, die niemand sich
vorzustellen wagt, abgesehen vom Kleinen Prinzen! Das ist
letztendlich das Zeitalter der Offenbarung, das auf jenes der
Revolutionen folgt, deren Drehmoment erschöpft ist, und
zwar buchstäblich durch das Übermaß an beschleunigtem
"Progressivismus" im vergangeneu Jahrhundert.
In einem prophetischen Interview erklärte Alain Rousset,
Präsident des französischen Regionalrats: "Die Gesellschaft

116
ist unruhig, sie entwirft keine Zukunftsprojekte mehr, kann
sich nicht mehr vorstellen, dass das Morgen besser sein
wird als das Heute. Wir brauchen Nachdenkzeit, um die
FortSchrittsidee wiederzufinden. Diese ist am meisten mit
der Linken verknüpft, ebenso wie die Idee der Gerechtig­
keit. "15
Natürlich handelt es sich hier, wie mansich denken kann,
nicht nur um die linken Fraktionen im Parlament, denn
das Hindernis der Endlichkeit übertrifft bei Weitern die
Demokratie und ihre Institutionen. Im Jargon des Straßen­
bauamtes zum Beispiel werden Bäume, Lärmschutzwände
oder Leitplanken neben Autobahnen gewöhnlich seitliche
Hindernisse genannt ... Wie soll man das ft"ontale Hindernis
nennen, das die Erdkrümmung für jene darstellt, die noch
vorgeben, "in die Richtung der Geschichte zu gehen"?
Sie sind Vertreter eines historischen Materialismus, der
einen so offensichtlichen geophysikalischen Materialismus
in den Wind schlägt. Egal ob proletarischer Internationalis­
mus gestern oder Turbokapitalismus des geeinten Marktes
heute, der Tag wirdkommen, wo der Planet das Desasterde.r Fortschritts
gt, diesen Kollateralschaden, der, wie in diesem
nicht mehrerträ
Essay immer wieder betont wurde, aus der Beschleunigung
nicht nur der Geschichte der Menschheit, sondern jedweder
Realität resultiert.
Tatsächlich, und das ist vielleicht zum ersten Mal für jeden
Einzelnen spürbar, ist der Umkreis des Lebens sl1-eng eingegrenif VOll
du· Leere.
Aufdie frühere biosphärische Fülle folgt nunmehr dieser
negative Horizont, der gleichzeitig die Welt und dasJenseits
definiert.
"Außerhalb ist immer noch innerhalb", behaupteten die
Architekten der gestern noch triumphierenden Moderne.
Künftig wird außerhalb der Exodus sein, die Exosphäre
eines lebensfeindlichen Raumes.
Schauen wir uns zur Bestätigung dieser Feststellung der
Unzulänglichkeit die Suche nach Exoplaneten außerhalb
unseres Sonnensystems an. Erdähnlicher Planet sagt man,

117
und meint einen Himmelskörper, der vom Typ der Erde
gleicht, also iff!,loicb klein und solide ist.
Das ist eine schwierige Suche, denn noch wurde kein ex­
trasolarer Planet gefunden, der Lebensformen beherbergen
könnte, alle bisher lokalisierten sind riesige Gasblasen, zu
heiß, um die für das Entstehen bewohnbarer Zonen nötige
Chemie hervorzubringen.16
Ungeachtet dessen verkündete das Astropi!JsicalJouma/Ende
August 2004, amerikaaisehe Forscher hätten soeben solche
Planeten entdeckt!
Schließlich erfuhr man jedoch, dass diese exotischen Pla­
neten die vierzehn- bis zwanzigfache Masse unserer alten
Erde besitzen. Die USA versuchten einmal mehr in dieser
Jagd nach der Super-Erde den alten Mythos der "Grenze
der Zivilisation" wiederzubeleben, einen nicht mehr "trans­
horizontalen" Wilden Westen der Pioniere der Auswande­
rung um jeden Preis, sondern einen Transhumanismus der
Auswanderung in ein größeres Gebiet, ein gelobtes Land
für eine "Neue Welt", die nicht im Westen des Kontinents,
sondern über unseren Köpfen liegt, am Firmament!
Nach dem Einsturz der New Yorker Sloqline 2001 musste
man dringend etwas finden, um den amerikanischen Traum,
den Mythos der offensichtlichen Bestimmung der USA
weiter aufrecht zu erhalten. Der Prediger Billy Graham
sagte am 14. September 2001 deutlich: "Wir haben jetzt
die Wahl: als Volk und als Nation zu implodieren und uns
emotionell und spirituell zu spalten; oder aber stärker zu
werden durch diese Schwierigkeiten und auf einem soliden
Fundament wieder aufzubauen."17
Werden nach der Sowjetunion die USA vor unseren Au­
gen implodieren und sich auflösen wie die Twin Towers?
Oder werden wir Zeugen einer exotischen Neugründung
nicht nur Amerikas, sondern der Vereinten Nationen? ...
Und wird die Menschheit letzten Endes abheben, zum
UFO werden, wie die Jünger des Nt111Age oder die Survi­
val-Sekten behaupten, von denen es in den USA nur so
wimmelt?

118
Wenn auch die Globalisierung sicher nicht das Ende
der Welt ist, gleicht sie doch einer Art Reise zum Mittelp1mkt
der Weft, in diesen Mittelpunkt der Echtzeit, der auf ge­
fährliche Weise den Mittelpu11kt der Wdt ersetzt, diesen sehr
realen Raum, der dem Handeln noch Intervalle und Ver­
zögerungen aufzwang - vor dem Zeitalter der allgemeinen
Interaktion.
Alles- und ZJVtlr sofort! Das ist das wahnsinnige Motto der
hypermodernen Zeit, des Hyperzentrums einer zeitlichen
Kompression, in der sich alles staut, alles unaufhörlich zu­
sammenschiebt unter dem mächtigen Druck der Telekom­
munikation, in einer "teleobjektiven" Nähe, die außer ihrer
kommunikativen Hysterie nichts Konkretes an sich hat.
Erinnern wir uns: Zuviel Licht heißt Blendung, heißt
Blindheit; zuviel Gerechtigkeit heißt Ungerechtigkeit;
zuviel Geschwindigkeit, zuviel Lichtgeschwindigkeit heißt
Stillstand, rasender Stillstand.
Ist es nach der schon alten Feststellung des Einflusses
des atmosphärischen Drucks auf die Meteorologie nicht
angebracht, endlich die verwüstenden Auswirkungen des
dromosphärischen Drucks aufzuzeigen, nicht nur auf die Ge­
s.�hichte und ihre Geografie, sondern auch auf die politische
Okonomie einer Demokratie, die nunmehr der Dromokratie
der Maschinen unterworfen ist; Maschinen, die systematisch
Zerstörung produzieren und damit zu Kriegsmaschinen
geworden sind?
Nehmen wir, um diesen Wahnsinn zu veranschaulichen,
eine letzte Anekdote. In den USA bekommt man den
Planeten seit Kurzem im Goldfischglas: als Nebenprodukt
der NASA-Forschung ist die Ecosphere eine vereinfachte
Version unseres Ökosystems, aber auch der letzte Schrei
als Spielzeug, als Einrichtungsgegenstand. Eingeschlossen
in die Glaskugel ist eine Nachbildung der Atmosphäre
mit einerLebensdauer von zwei Jahren. In einer optischen
Täuschung wird der Besitzer zum Herr über ein Universum
im Kleinformat.

119
Anmerkungen

Erster Teil

Vorwort

Paul VALERY, Cal!iers/Hefte I, S. Fischer 1987, übers. Köhler,


Schmidt-Radefeldt u.a.
2 A. d. Ü.: Virilio spielt hier mit der Polysemantik des frz.
Begriffs coup, der je nach Zusammenhang Schlag, Stoß, Tritt,
Streich ... bedeuten kann.
3 Paul VALERY, op. cit.
4 A. d Ü.: Friedenszentrum und Museum zum 2. Weltkrieg.
5 A. d. Ü.: Unübersetzbares Wortspiel. Im Französischen wird
der aristotelische Begriff mit accident wiedergegeben, also mit
demselben Wort, das auch Unfall, Zufall bezeichnet. Diese
Doppelbedeutung trifft auch aufdie folgenden Erwähnungen
der aristotelischen Akzidenzen zu.
6 Paul VALERY, op. c it..
7 Paul VALERY, op. cit.
8 Hermann RAUSCHNING, DieRevo!Hfirm duNihilismm, Europa­
Verlag, Zürich 1938, 5. Aufl.
9 Paul VIRILIO, Ce q11i arrive. Naissa!Jce de Iaphilofolie, GaWee 2002.

Die Erfindung der Unfälle

A. d. Ü.: Virilio verwendet hier einen von Gilles Deleuze und


Felix Guattari geprägten Begriff, siehe: Gilles DELEUZE,
Felix GUATTARI, A11ti-Ödip11s. Suhrkamp Verlag, Frankfurt
am Main 1974, übers. von Bernd Schwibs.

121
2 Vergessen wir nicht, dass erst der intensive Einsatz von
Hochleistungsrechnern die Entschlüsselung des menschlichen
Erbgutes ermöglicht und so das fatale Auftauchen desgenetiscbett
Unfalls erleichtert hat.
3 Im Herbst 2002 wurde in Lissabon, organisiert vom CERN,
dem London Institute und der Gulbenkian Foundation, das
Kolloquium Signatunt de /'invisible (dt. etwa: Signaturen des
Unsichtbaren, A. d. ü.) in Anwesenheit von John Berger und
Maurice Jacob abgehalten.
4 Ein Beispiel für wissenschaftliche Inkonsequenz: am 13. Juli
2002 wurde die Herstellung eines !)'nthetischm Poliomelitis-Vims
im Labor angekündigt - einer heute fast vollständig ausgerot­
teten Krankheit. Robert Lamb, Präsident der amerikanischen
Gesellschaft für Virologie, äußerte daraufhin die Befürchtung,
künftig könnten auch Terroristen biologische Waffen dieses
Typs entwickeln.

Die These des Unfalls

Die Internationale Zi,rilluftfahrt-Organisation (ICAO) hat die


Schaffung einer weltweiten Koordinationsstelle von Luftfahrt­
versicherungen gebilligt, die Kriegsschäden abdecken. Diese
Stelle soll im Fall eines teilweisen odervollständigen Rücktritts
der privaten Versicherungen nach den Attentaten des 11.
Septembers einspringen. (zit. nach: Le Mo1rde, 18. 6. 2902).
2 Zit. nach Francesco DI CASTRI, L 'Ecologie en temps rief, Editions
Diderot, o.J.
3 Joh 8,32. Zit nach: "La CIA au service de Hollywood", in: Le
Jo�tmal d11 Difllanche, 16. 6. 2002.
4 Artbur MILLER, zit. nach: Ces comidims qHi noHsgo11vernent, Edi­
,

tions Saint-Simon, 2002.


5 Zit. nach: "L'insecurite, programme prefere de Ia tele", in:
Libiratiofl, 28. 4. 2002.
6 Kar! KRAUS, In diesergroßC/1 Zeit, in: Ausge/llählte Schrijte11 2, Lan­
gen/Müller, München 1971.
7 Ebenda.
8 H. G. WELLS, Der Luftkrieg, dtv 1983.

122
Das Museum der Unfälle

1 Zit. nach: LeM. ofllk, 24. 2. 2001.


2 Zit. nach: Le NouvelObsen>ateur, Artikel v. Jacques JULLIARD,
30. 1. 2002.
3 Zit. nach: ARISTOTELES, Kategorien. Meiner, Hamburg
1974.
4 Zit. nach: Gaston RAGEOT, L'Homnte standard. Pion, Paris
1928.
5 Zit. nach: Le Monde, 28. 6. 2002. Artikel v. Pierre BARTHE­
LEMY, "Les astero"ides constituent le principal risque nature!
pour la Terre" (dt. "Asteroiden stellen das größte natürliche
Risiko für die Erde dar").

Die Zukunft des Unfalls

Friedrieb NIETZSCHE, Die Geburt derTragiidie oder: G1icchentht1m


urrd Pes.rimimms, Reclam, Stuttgart 1993, Kapitel 18.
2 Ebenda.
3 Zit. nach: Henri ATLAN, La Scimce, est-elle inhumcrine?, Bayard
2002.
4 Zit. nach: Victor HUGO, Cboses vues, Gallimard 2002. Madame
Swjetschin (1782-1857) war eine christliche Demokratin, be­
freundet mir dem Geistlichen Lacordaire.
5 Kar! KRAUS, In diesergroßen Zeit, in: Ausgewablte Scbrißen2, Lan-
gen/Müller, München 1971.
6 Werner Heisenberg: P!!),sik und Philosqphk, Hirzel, Stuttgart 2000.
7 Kar! KRAUS, op. cit.
8 Hen.ri ATLAN, La Science, est-elle in!Jumai11e?, Bayard 2002.
9 Zit. nach: Liberatio11, Artikel "Hermann docteur es fraude",
26. 10. 1999.
10 Zit. nach: La Crox,i Artikel "Le savant fou", 8. 8. 2002.
11 Zit. nach F. GOUX-BAUDIMENT,E. HEURGON,J. LAN­
DRIED (Hg.): Experti.res, dibalpublic, L' Aube 2001.
12 Nach der "Vom Schwachen zum Starken" genannten Nukle­
arstrategie, die durch die französische Schlagkraft die Auswei­
nmg des Konzepts derAbschreckung rechtfertigte, wurde 1990
die Strategie "Vom Schwachen zum Wahnsinnigen" lanciert,
um den Problemen der Verbreitung von Atomwaffen entge-

123
genzuwirken. Vgl. Ben CRAMER, Le Nucleain dmu t011ssesEtats,
Alias 2002.
13 Im Original crepusm/e des /ieux, das an crepuscu/e des dimx (Götter­
dämmerung) anklingt. (A. d. Ü.)

Der Erwartungshorizont

1 Virilio verwendet Venve1jung hier und im Folgenden als An­


spielung auf das psychoanalytische Konzept Lacans, der den
Begriffvon Freud übernommen hat: Es handelt sich um einen
der Verdrängung vergleichbaren psychischen Prozess, der vor
allem für das Krankheitsbild der Psychose spezifisch ist. Vgl.
u.a.:]. LACAN, Di e Übertmgwrg. DasSemina1; Buch VIII, Passagen,
Wien 2008, übersetzt v. H.-D. Gondek. (A. d. ü. ).
2 Zit. nach: Artikel "Programme sans couleur pour !es Verrs",
in: Liberatio11, 8. 5. 2002.
3 Kar! Kraus: In diesergroßen Zeit, in: Ausgewählte Schtiftm2, Langen/
Müller, München 1971.
4 Zit. nach: mpra, Nr. 1 , $. 37.
5 Paul VALERY, Cahersi / Hifte I, $. Fischer 1987, übers. Köhler,
Schmidr-Radefeldt u.a.
6 Ebenda.
7 Beliebte französische Cerniefiguren der 1920er Jahre (A. d. Ü).
8 Zit nach: Brigitte FRIANG, Regarde-toi qui meurs. Le Fe!in 1997.
9 Kar! KRAUS, lt1 diesergroßen Zeit, in: Allsgewählte Schriften 2, Lan-
gen/Müller, München 1971.

Die unbekannte Größe

1 Zit. nach: Victor HUGO, ChoJes vues, op. cit.


2 Sigmund FREUD, Das Unbehagmn i derKultur, in: Studienausgabe
Bd. IX, Fischer Verlag, Frankfurr/M. 1974, 200.
3 Zit. nach: Sylvie VAUCLAIR, La Chanson du so/eil, Albin Michel
2002.
4 Zit. nach: LeFigaro, Artikel "Une loi pour sauver Ia nuit noire",
3. 6. 2002.
5 Zit. nach: Roberr ANTEL:tviE, Das Memcbe?Jgeschlecht, Hanser,
München 1987.

124
6 Maurice BLANCHOT, Das Unzerstörbare. Einunendlicbe.s Gespriicb
überSprache, LiteraturrmdExisten� Hanser Verlag, München 1991.
Übers. von Hans-Joachim Metzger und Bernd Wilczek.
7 Maurice BLANCHOT, ebenda.
8 Maurice BLANCHOT, ebenda.
9 Maurice BLANCHOT, ebenda.
10 "Oie Zeit ist die Akzidenz der Akzidenzen. " Aristoteles,
Physik, IV. A.. d. 0.: Wie bereits im Vorwort (vgl. dort
Anm. 5) bezieht sich Virilio hier auf die Homonymie des
französischen actident, das sowohl A.k�denz als auch U?ifall,
Zufall bezeichnet.
11 Zit. nach: Victor Hugo: Choses IIIJes, op. cir.

Zweiter Teil

Die öffentliche Emotion

Zit. nach: Thierry WIDEMAN, "La dissuasion convention­


nelle", in: Les Caber.f
i de Mars, 3/2003.
2 Zit. nach: Philippe de FELICE, Foules en Je/ire, extases co!leclitoes,
Albin Michel l947.
3 Im Original immer deutsch. (A.. d. ü.)
4 Im September 2004 zeigte der ßpacc Patd Ricard in Paris Sandy
Amerios Storytelling CiJnmmnities qf Emofio11s betitelte Ausstellung.
5 Zit. nach: Philippe PONS, "Le plaidoyer de Sadako Ogara
pour la securite humaine", in: Le lVlOtJdt, 6.1.2004.
6 Zit. nach: Paul VIRILIO, Forvarmihi/ism - 1111JUvement animlpar Ia
FMiratiiJn des]ermessesocialistes suldiJiscs. Defense populaire et luttes
ecologiques, Paris 1978.

Der eigentliche Unfall

Marrio REES, Umerelet�eStunde, Bertelsmann, München 2003.


Übers. v. Friedrich Griese. $. 158.
2 Ebenda.
3 Ebenda.
4 Noch einmal Aristoteles: "Die Zeit ist die Akzidenz der Ak­
zidenzien."

125
5 Franz KAfKA, .Das Stadtwappen", in: Sämtliche Erzöhllmgen,
Fischer, Frankfurt am Main 1969, S. 307.
6 Zit . nach: Jacques ISNARD, .,Le se nat autorise M. G. W.
Bush en matiere d'armes nucleaires antibunker", in: Le Monde,
18. 9. 2003.
7 Zit. nach: Herve MORIN, "Une coulee de metal pour plonger
au centre de Ia Terre", in: Le Mondt, 17. 5. 2003.
8 Zit. nach: Denis DELBECQ, n i : L'birotion, 18. 6. 2003.
9 Martin REES, Utzm·e letzteSturule, Bertelsmann, München 2003.
Solly Zuckerman war lange Jahre Berater der britische n Re­
gierung, deren Spur sich auch durch W. G. SEBALDs Luftkrieg
und L'terotur (Hanser, München-Wien 1999) zieht.
10 Svetlana A. ALEXIJEWITSCH, Der IVeg i hat hin wtiblirhu
Gesicht, btv, Berlin 2004 (2. Aufl.). Übers. v. Ganna-Maria
Braungardt.
1 1 Zit. nach: Jacqueline GIRAUD, "L'arme bacteriologique: un
boomeran g", in: L'Express, 25. 3. 1969.
12 Ebenda.
13 Ebenda.
14 Anspielung aufden Film Das Letzte Ujtr(1959) von Stanley Kra­
mer, in dem es um eine nukleare KataStrophe geht. (A. d. 0.)
15 Louis MORlCE überdie Sendung Tholasso, .,Escale en Crimee",
in: Lel\'ouue/Obsm'tlUMr, 14. 5. 2004.
16 Interview von Roger-Pol Droit mit Jean-Pierre Vernant, in:
Le Monde, 21. 8. 2004.
17 Alain LORET, ..Ineluctable dopage?", in: Le M.otJde, 24. 8.
2004.
18 William Burdon, Präsident des Vereins Sherpa (eine 2001
gegründete internationale NGO von Juristen mit dem Ziel,
große Konzerne zu mehr so zialer Verantwortungzubewegen
und die Einhaltung von Menschenrechten zu überprüfen ,
A d. 0.), Artikel "Forcement coupablcs", in: Le Monde diplomo­
tique, September 2004.
19 Carol Gilbert, dominikanische Ordensschwester, ist im Ge­
fängnis von Alderson {USA) inhaftiert, weil sie 2002 in eine
Atomwaffenbasis in Colorado eingebrochen war, um ihre
Ablehnung der Irak-Invasion zu demonstrieren. Sie sagte an­
lässlich des dritten Jahrestags des 11. September 2001: Jeder
soll die Ablehnung des Todes kundtun und sich für das Leben
einsetzen." In: /� Croix, 8. 9. 2004.

126
Die Drornosphäre

In:Jean-Pierre ANDREVON (Hg.), U. livred'orde /oscience-ftction,


Pocket, 1984.
2 Zit. nach: Benoit HOPQUIN, "L'arbrequi tue", in: LeMonde,
13. 4. 2004.
3 Jacques Benigne Bossuet (1627-1704), berühmter französischer
Geistlicher und Autor (A. d. 0.).
4 Zit. nach: Victor HUGO, Choses vues, op. cit.
5 Paul VIRlLIO, Dur negati�'li Hori�llf. .ßewogmzg- Ge.schJvindigkeit
- Be.rch/eunigung, Hanser, München-Wien 1989.
6 Martin REES, Utum letzte Shmde, op. cit.
7 Ebenda.
8 Zit. nach: "La recherche selon Bush et Kerry", in: L e Monde,
17. 9. 2004.
9 Aus einem Interview mit John Randal, in: SHd-Ouest Dimonche
(Z eitung) , 12. 9. 2004.
10 Im Original deutsch (A. d. ü.).
11 In einem Brief an Jean Paulham aus dem Jahr 1943 schrieb
Anwnin Artaud: Je mehr die Zeit fortsChreitet, desto mehr
entfernen wir uns vom Maß der Ztit und ihrem Begriff, wie
übrigens auch von dem des Raumes, und desto mehr nähert sich
unser Bewusstsein dem Unendlichen und dem Ewigen an, kurz,
dieser vereinigenden und kontemplativen Lebensweise, durch
die alle großen Mystiker und alle Heiligen mit Gott kommuni­
ziert haben." In: Antonin ARTAUD, <EtiVro!, Gallimard, Paris
2004.
12 Henri Laurens in einem Interview mi t Jose Gar�on und J.-P.
Perrin, in: LibiroliotJ, 2004.
13 Zit. nach: Thomas FERENCZI, "Analyse 2004", in: Le
MotJde.
14 Paul VIRILIO, L'Epn<e critique, Christian Bourgois, 1984.
15 In: StJd-Ot�ul, Herbst 2004.
16 Zit. nach: Philippe PAJOT, "Terres gea ntes d'autres soleils",
in: LeMonde, 3. 9. 2004.
17 Zit. nach: Sebastien FATH, DieN binisst I'AIIlin'<Jue! Ln riligion de
lo Maiso11 Bkmche, Le Seuil 2004.

127

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