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88 III Texte – A Hauptwerke

15 Gnosis und spätantiker Geist II. grundlegende Motivation, Methodik, Argumentation


Von der Mythologie zur und Struktur. Im zweiten Teil wird Jonas’ berühmter
Bericht über sein Vorkriegsprojekt zum Gnostizismus
mystischen Philosophie (1954) nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der Kontex-
tualisierung seines Schaffens kurz zusammengefasst,
Gnosis und spätantiker Geist. Teil II (im Folgenden was möglicherweise die Unterdrückung von Gnosis II
kurz Gnosis II) ist Jonas’ unvollendetes Buch. Seine Si- in der zeitgenössischen Rezeption erklärt. Der Beitrag
tuation ist bemerkenswert und zweifellos verwirrend. schließt mit einem Hinweis auf eine provokative Im-
Im Allgemeinen wurde es weitgehend vergessen. Die plikation oder Perspektive, die eine Neubewertung
zeitgenössische Rezeption, Wahrnehmung und das von Gnosis II für die weitere Erforschung von Hans Jo-
Verständnis von Jonas’ Arbeit zum Gnostizismus ori- nas und der Philosophie des 20. Jahrhunderts, ins-
entierten sich tendenziell an The Gnostic Religion von besondere von Heidegger, haben könnte.
1958 (s. Kap. 16), der am leichtesten zugänglichen
Präsentation von Jonas’ Projekt, das sich hauptsäch-
lich auf Gnosis I, veröffentlicht 1934 (GG I; s. Kap. 14), 15.1 Philosophische Hermeneutik:
stützt. Die Verdrängung der Gnosis II wurde also zu- Entmythologisierung
nächst von Jonas selbst vorgenommen, der bereits
im Vorwort zu der ersten Veröffentlichung des un- Gnosis II bietet zwei grundlegende Beobachtungen.
vollendeten Buches im Jahr 1954, 20 Jahre nach der Erstens beschäftigte sich Jonas’ ursprüngliches Projekt
Gnosis I, seine Distanz zu seiner früheren Arbeit zur über Gnostizismus von Anfang an in seinen konzep-
Gnosis zum Ausdruck brachte. Jonas’ Selbstentfrem- tuellen Grundlagen mit dem Verhältnis von Wissen
dung von seinem ›Gesellenstück‹, wie er es nannte, und Ethik. Zweitens war es die Philosophie von Hei-
war eo ipso seine Entfremdung von seiner Vorkriegs- degger, die Jonas als geeignet für dieses ethische An-
welt: nicht zuletzt der Welt der deutschen Philosophie liegen identifizierte.
in der Schule von Heidegger. Auf der methodischen Ebene, wie in der Einleitung
Wenn die Distanzierung von Gnosis II so verständ- in Gnosis I kurz angedeutet, aber im früheren Text der
lich ist, ist sie dennoch bemerkenswert, sofern Gno- Einleitung in Gnosis II ausführlich erläutert, und zwar
sis II tatsächlich den ursprünglichen Kern von Jonas’ in Anlehnung an Jonas’ noch früheres Buch über Au-
Projekt über Gnostizismus enthält. Provokativ gespro- gustinus (APF, Anhang I), hat Heideggers Philosophie
chen: Es ist der vergessene unvollendete Teil II, der so- Jonas’ Projekt nicht nur mit konzeptuellen Werkzeu-
wohl den Anfang als auch das Ende von Jonas’ Projekt gen ausgestattet, sondern Jonas’ Arbeit über Gnostizis-
beinhaltet. In der Tat ist Gnosis II, obwohl erst 1954 mus als philosophische Hermeneutik historischer Tex-
veröffentlicht, in vielerlei Hinsicht einer Neuformulie- te vorkonfiguriert. Dieses Projekt war für Jonas eine
rung von Jonas’ Dissertation Der Begriff der Gnosis, Gegenmaßnahme zur Hermeneutik dessen, was er in
die 1928 (HJN, 13-13-30) eingereicht wurde, viel nä- der Gnosis I als »motiv-geschichtliche Forschung« be-
her. Die Einführung und die ersten beiden Kapitel zeichnete (GG I, 9). Letztere behandelt nach Jonas his-
wurden bereits 1930 wörtlich als ›Teildruck‹ der Dis- torische Texte als materielle Objekte – ideenlose Dinge,
sertation veröffentlicht (BG). Teil II wurde konzipiert Materie ohne Geist, sodass ihr Wissen nur in objekti-
und größtenteils zuerst geschrieben. Dies macht das ven Informationen bestehen kann. Bei der Erforschung
Vergessen dieser Arbeit umso interessanter – und be- eines Mythos, wie des gnostischen, betrachtet die his-
deutender. Durch eine neue Berücksichtigung von torische Forschung den Mythos daher nur »nach sei-
Gnosis II könnte aus heutiger Sicht ein neues Licht auf nem stofflichen Bestand [...] nach welchem vielmehr
Jonas’ ursprüngliches Vorkriegsprojekt zur Gnosis ge- auch er [der Mythos] nur ein verfügbares Element in-
worfen werden – teilweise im Gegensatz zu dem Licht, nerhalb der Stoffmannigfaltigkeit und [...] ein Gegen-
das Jonas selbst nach dem Krieg darauf geworfen hat. stand möglicher Synthesen ist; als solcher gibt er sich ja
Diese Neubewertung wird jedoch eine Wiederherstel- auch jeder nur gegenständlich-mythographischen Be-
lung von Jonas’ ursprünglichem Verständnis seiner trachtung« (GG II, 1). Die historische Forschung wen-
Lehrlingsarbeit in Bezug auf die Arbeit seines philoso- det das »›naturwissenschaftliche‹ Anschauungssche-
phischen ›Meisters‹ Heidegger sein (s. Kap. 4). ma [...] gleichsam dinglicher Elemente« (GG II 1, Fn. 2)
Im Folgenden wird im ersten und Hauptteil des an. Diese Art von Wissen bleibt daher von jeglichen
Beitrags das Buch Gnosis II selbst vorgestellt, dessen praktischen, ethischen Belangen unberührt.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021
Michael Bongardt u. a. (Hg.), Hans Jonas-Handbuch, https://doi.org/10.1007/<https://doi.org/10.1007/978-3-476-05723-5_15
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Jonas’ philosophische Hermeneutik hingegen be- mythologisierung beschrieb, der innerhalb des alten
trachtete historische Texte nicht als Objekte, sondern Gnostizismus stattgefunden hatte, ist die Rückkehr der
– unter expliziter Bezugnahme auf Cassirer und Hus- textuellen Objektivierung zurück zum menschlichen
serl – als »Objektivationen«, und zwar einer ursprüng- Subjekt. Dieser Prozess der »Re-Subjektivierung« (GG
lich subjektiven (GG II, 5) oder, um mit Jonas zu II, 4) bedeutet, innerhalb der Dynamik der Erkenntnis
sprechen, existentiellen Bedingung – nicht nur des des historischen Textes, die rein theoretische Bezie-
Bewusstseins, sondern des Daseins. Der historische, hung zum Text als Objekt, als Gegenstand in eine Be-
mythologische Text ist »die objektivierende Ver-Äu- ziehung zum Text als existentielle Möglichkeit, eine
ßerung von existenzialen Phänomenen« (GG II, 5). mögliche subjektive Leistung zu konvertieren: von Er-
Wie Jonas in Heideggers Sein und Zeit (1927) las, exis- kenntnis als Theorie zu Erkenntnis als Praxis.
tiert das menschliche Dasein in Bezug auf oder im
Wissen oder im Verstehen seiner selbst und seines
Seins (Seinsverständnis), und es versteht sich, indem 15.2 Das Konzept der Gnosis: Entwelt-
es sich in die Welt, als eine Welt von Dingen, von Ge- lichung
genständen, zuerst projiziert und sich dadurch selbst
verfremdet (»Verweltlichung des Menschlichen« [GG Dieses allgemeine hermeneutische Prinzip und Pro-
II, 6]). Wörter, Texte, Bücher wären eine besondere, jekt wird, wie oben erwähnt, auch in Gnosis I sehr
weil explizite Form der Objektivierung, insbesondere knapp erwähnt. Die bereits 1930 veröffentlichte Ein-
in Form des Mythos, »[der] umfassende[n] Weltdeu- leitung in Gnosis II zeigt die große Nähe zwischen Jo-
tung des Mythos« (GG II, 10), die die objektive Reali- nas’ hermeneutischem Akt und dem von ihm gedeu-
tät reproduziert und darstellt. Wir können vielleicht teten Text, nämlich alter gnostischen Literatur. Der
sagen, dass diese selbstentfremdende Objektivierung Akt der Entmythologisierung, den Jonas an dieser Li-
der menschlichen Existenz durch die Kenntnis der teratur in Gnosis I durchführte, enthüllte tatsächlich
historischen Philologie perfektioniert wird, die der er- unter dem gnostischen Mythos oder der ›Gnosis‹ in
kenntnistheoretischen Konfiguration der modernen ihrer engen, historisch-philologischen Bedeutung ein
Naturwissenschaften nachgestaltet ist. existentielles Prinzip, eine historische menschliche
Im Gegensatz dazu bewirkt die philosophische Her- Leistung, welche Jonas »Gnostische Bewegung« (GG
meneutik die Gegenbewegung der Rückkehr des Da- I, 43) nannte, nämlich ›Gnosis‹ in ihrer weiteren Be-
seins zu sich selbst, indem sie den objektiven, dogmati- deutung. Die grundlegende existentielle Leistung des
schen oder mythischen Text in existentielle Katego- Gnostizismus, wie Gnosis I es dargestellt habe, ist eine
rien, d. h. Kategorien der menschlichen Verfassung, menschliche Tendenz, sich von der Welt zu distanzie-
zurückübersetzt. Dies ist genau das Grundprojekt von ren oder zu entfremden, eine Tendenz der Weltvernei-
Jonas in Gnosis, das sich in der Struktur des Werkes wi- nung: Entweltlichungstendenz (GG I, 5; GG II, 11).
derspiegelt. Die Untersuchung skizziert und führt eine Was Gnosis II jetzt klarstellt, ist, dass diese gnosti-
Bewegung aus: von Teil 1. Die mythologische Gnosis zu sche Bewegung aus der existentiellen Rückkehr des
Teil 2. Von der Mythologie zur mystischen Philosophie, ›Daseins‹ aus seiner Selbstobjektivierung und Selbst-
von der Mythologie zur Philosophie. Zwar bezeichnen entfremdung in der Welt hervorgeht. Der Gnostizis-
»Mythologie« und »Philosophie« in diesen Titeln die mus als Weltverneinung würde sich aus »elementars-
Gattungen historischer (gnostischer) Texte, die sie un- te[n] Tatsachen des Daseins« (GG II, 12) ergeben, wo-
tersuchen. Und doch könnte der Übergang vom My- bei Dasein »selbst entdeckt [wird] in seiner Grund-
thos zur Philosophie im antiken Gnostizismus, in dem bewegtheit des Verfallens, seinem wesentlichen Be-
der Mythos entmythisiert wird, wie Jonas es darstellt nommen- und Aufgesogensein von der Welt. Die Be-
(GG II, 3), so gelesen werden, dass er das hermeneuti- fremdlichkeit der Entdeckung des völligen eigenen
sche Prinzip seines eigenen Philosophierens gleicher- Überfremdetseins bricht auf als Un-heimlichkeit der
maßen beschreibt oder vorschreibt. Welt« und damit als Weltangst und als »Drang nach
Diese hermeneutische Operation wird unter dem Erlösung aus der Welt« (GG II, 12). Die gnostische Be-
Titel Entmythologisierung (s. Kap. 62) zu Jonas’ wichti- wegung wird daher ausdrücklich als dieselbe Bewe-
gem Beitrag zur Theologie des 20. Jahrhunderts. Die gung der Heidegger’schen Hermeneutik dargestellt,
existentielle – und nicht nur wissenschaftliche – Be- die Jonas für seine Lektüre des historischen Gnostizis-
deutung dieser Operation, wie Jonas sie auf den ersten mus aufgreift. Entweltlichung, Weltverneinung, ist
Seiten der Gnosis II in Bezug auf den Prozess der Ent- mit Entmythologisierung, Mythos-Verneinung ver-
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wandt. Gnosis wäre demnach eine Re-Subjektivierung Die ersten beiden Kapitel von Gnosis II bieten eine
(»Rückgabe« [GG II, 18]): eine Rückkehr von der Artikulation dieser grundlegenden inneren Spannung
Theorie in die Praxis. des gesamten Gnostizismus durch eine synchrone Ty-
In der Tat scheint es, dass Jonas’ grundlegendste pologie verschiedener – nach Jonas’ Verständnis –
und erste Erkenntnis über den Gnostizismus darin be- gnostischer Phänomene. Die Typologie basiert auf ei-
stand, dass der griechische Begriff ›Gnosis‹ im Gegen- ner Bewertung der praktischen oder ethischen Quali-
satz zum Begriff ›Episteme‹ dazu verwendet wurde, tät der verschiedenen Erscheinungsformen der ›Gno-
um eine Erkenntnisbeziehung zur Welt zu bezeich- sis‹ in Bezug auf den grundlegenden griechischen
nen, die nicht nur eine Beziehung zum Objekt, d. i. moralischen Begriff von arete, der oft als ›Tugend‹
Theorie, sondern eine performative, praktische Bezie- übersetzt wird. In der Tat untersuchte Jonas die gnos-
hung ist: Wissen als Heilpraxis. ›Gnosis‹ bezeichnet tische Ethik als Bruch mit und wesentliche Umwand-
Erkenntnis als Heil- oder Therapiepraxis, als Escha- lung der hellenischen moralischen Tugend. Kapitel 1,
tologie: »Seinem Inhalt nach ist der gnostische My- »Auflösung des antiken ἀρετή-Begriffes im Bereich
thos ein eschatologischer; als solcher nicht einfach der Gnosis«, behauptete eine grundlegende negative
Seins-Erkenntnis, sondern wesentlich Heils-Erkennt- Wirkung des Gnostizismus gegenüber der klassischen
nis. Hierdurch ist ein unmittelbar praktischer Rück- griechischen Tugend. Kurz gesagt ist es Jonas’ Argu-
bezug auf das Dasein gegeben« (GG II, 17). Aufgrund ment, dass die weltverneinende Tendenz des Gnosti-
dieses praktischen Wesens der Gnosis kann gesagt zismus eo ipso die wesentlich weltliche griechische
werden, dass es im Gegensatz zu bloßer kontemplati- Ethik ungültig macht. Jonas porträtierte verschiedene
ver Episteme und Theorie steht. Mit anderen Worten, Formen dieser gnostischen Negation von Arete in den
Jonas’ ursprüngliches Projekt zum Gnostizismus historischen Phänomenen der hermetischen Enthal-
könnte in einem umfassenderen intellektuellen Pro- tung (GG II, 28), der Ablehnung von »Werken« in
jekt angesiedelt sein, das darauf abzielte, eine histori- der christlichen Gnosis (GG II, 29–39), »weltliche[n]
sche Bewegung weg vom klassisch griechischen, pa- Selbstverzichts« in der frühchristlichen Gemeinschaft
radigmatisch platonischen und aristotelischen ver- (GG II, 34), der mandäischen und manichäischen
dinglichten Wissen zurück zur ethisch-existentiellen »Minimalisierung der Weltbeziehungen« (GG II, 36)
Gnosis, »Erkenntnis von Gut und Böse« (Gen. 2, 17), und bei Philo, den Jonas als »vieldeutig« bezeichnet
aufzudecken und damit vorzubereiten. In diesem Pro- und als eine »innere Zersetzung des griechischen
jekt, um es provokativ zu formulieren, stand Platon ἀρετή-Begriffs durch jüdische und – gleichsam kryp-
für Verdinglichung und letztendlich für Nihilismus, tognostische Motive« (GG II, 38) darstellt.
während Heideggers Denken den Weg zur jüdisch- Kapitel  2, »Vorwegnahme des eschaton und die
christlich-gnostischen Ethik ebnen sollte. Ausbildung eines gnostischen ἀρετή-Begriffs«, kon-
zentriert sich dann auf den zweiten, positiven Mo-
ment der Entwicklung der gnostischen Ethik. Mit an-
15.3 Das Problem der Gnosis: Objektivation deren Worten, nach der ›Entweltlichung‹, einschließ-
der Entweltlichung lich der Negation von Welttugenden, wie in Kapitel 1
erläutert, befasst sich Kapitel 2 nun mit dem Prozess,
Um diese Beobachtung weiter zu untermauern und zu in dem diese weltverneinende Haltung selbst zu »ei-
verfeinern, ist es wichtig, das grundlegende Problem nem herstellbaren Zustand innerhalb des diesseitigen
oder Risiko zu verstehen, das Jonas ursprünglich im Lebens« (GG, II 43) wird, d. h. ein System der Praxis
Gnostizismus identifiziert hat. Wenn existentielle innerhalb der Welt, mit einer eigenen, weltnegieren-
Gnosis, die umfassendere historische »gnostische Be- den Ethik. Jonas’ Typologie untersucht daher die Ge-
wegung«, Entweltlichung, Weltverneinung, als ethi- meinschaftsethik, die im frühen Christentum als Re-
sche Resubjektivierung von Erkenntnis durchführte, aktion auf die Krise des »anarchischen Individualis-
war dieser Vorgang durch eine tiefe und konstitutive mus« entwickelt wurde; die Paulus veranlasste, die
Ambivalenz gekennzeichnet: Einerseits negierte er die Gnosis aus seiner Liste der Tugenden (pistis, elpis, aga-
Welt, anderseits aber war diese Negation selbst eine pe) zu streichen und »Liebe« nicht als die des Indivi-
Art Praxis in und von der Welt, nämlich eine Art duums zu interpretieren, als Liebe zu Gott, sondern
Ethik. Der Gnostizismus, kurz formuliert, zeigte not- als gemeinschaftliche Nächstenliebe (GG II, 43–48);
wendigerweise das Paradoxon der Verweltlichung der die mystische Praxis der hermetischen Betrachtung
Entweltlichungstendenz (GG II, 13). Gottes (GG II, 49 ff.); die Meditationstechniken von
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Mithras (GG II, 55); und das »reale Erfahrbarwerden Philo paradoxerweise in den traditionellen griechi-
der Weltlosigkeit«, das durch die Rituale der Mys- schen Kategorien der weltlichen Kontemplation, »ein
terien-Religionen geboten wird (GG II, 60). fremder Gehalt in einer vorgegebenen Form«, in ei-
Basierend auf dieser letztgenannten Typologie ist nem Prozess, den Jonas nach Spengler »Pseudomor-
Jonas’ Grundbehauptung, dass die innere Spannung phose« nannte (GG II, 81; GG I, 43; s. Kap. 16).
des Gnostizismus, d. h. die Erzeugung einer welt- Philo, so Jonas’ Behauptung, erzeugte also »das erste
lichen Praxis der Weltverneinung, konzeptionell und Sich-selbst-Mißverstehen« (GG II, 90) des neuen
historisch in zwei grundlegenden alternativen Modi gnostischen Wissens und verwendete den plato-
ausgeführt wurde. Die eigentliche gnostische Litera- nischen »Primat der Anschauung« (GG II, 92), d. h.
tur, ›Gnosis‹ im engeren Sinne, stellte nur einen Mo- des Wissens als Sehen von Weltobjekten, für die Er-
dus dar, den Jonas’ Arbeit zu problematisieren ver- kenntnis des nicht-weltlichen Gottes, wodurch die
suchte. Im Gegensatz zur ›Gnosis‹ stellte Jonas den Vorstellung von Gott als »des höchsten Seienden« (GG
Modus von ›Pistis‹, Glauben, auf. Er stützte diese II, 77, 98), einem Superobjekt, erzeugt wird. »Als Ju-
grundsätzliche begriffliche Unterscheidung u. a. auf de«, unterstrich Jonas, stehe Philos Gedanke in einem
2 Kor. 5,7: »Denn wir wandeln durch Glauben, nicht »radikalen Abstand« zum Gnostizismus. Der philo-
durch Schauen«. Das Gegenteil von Glauben, Pistis, nisch-jüdische »Agnostizismus« (GG II, 77) sei den-
das Jonas als Gnosis-Erkenntnis identifizierte, wird in noch »kryptognostisch«, sofern Philos »Israel« wört-
diesem Vers als ›Schauen‹ bezeichnet. Tatsächlich ist lich (‫לא‬-‫» )רשי‬der Gott Schauende« (GG II, 70, 96) ist,
das Problem, das Jonas ursprünglich in spezifisch derjenige, »der Gott sieht oder betrachtet«, d. h. Er-
gnostischen Entweltlichungstendenzen beobachtete, kenntnis des Nichtweltlichen durch weltliche Katego-
nicht, wie es später aus »Gnostizismus, Nihilismus rien. Die resultierende Form der Erkenntnis, die nach
und Existenzialismus« hervorgehen wird (s. unten), Jonas aus der Philo’schen Erkenntnistheorie als Para-
dass es zu weit von Platon entfernt war, sondern im digma für jeden zukünftigen Gnostizismus hervor-
Gegenteil, dass es erkenntnistheoretisch zu platonisch geht, ist die »mystische Erkenntnis Gottes«. Mystische
blieb, indem es die existentielle Operation der Deob- Erkenntnis ist nicht rein theoretisch, kein wissen-
jektivierung in Kategorien objektiven Wissens – der schaftliches Epistem, sondern wesentlich Praxis, d. h.
Theorie, des ›Schauens‹ – konzeptualisierte. Wie Jonas sie strebt danach, Gott im Sinne einer Annäherung an
bereits in seiner Dissertation prägnant formuliert hat, Gott zu kennen, indem es letztendlich das eigene Selbst
erfolgte die gnostische ›Verweltlichung von Entwelt- und die eigene Welt in Ekstase transzendiert (GG II,
lichungstendenz‹ nach der Methode der ›Objektivati- 99). Dergestalt führte Philo, so argumentiert Jonas,
on einer Entweltlichungstendenz‹ (HJN, 13-30-1-2). den ersten Keim der Gnosis ein, nämlich Erkenntnis
als weltnegierende, protonihilistische Praxis.
Kapitel 4, »Vom zweiten zum dritten Jahrhundert,
15.4 Von der Mythologie zur mystischen oder: Von der mythologischen zur philosophisch-
Philosophie: Philo, Origenes, Plotin mystischen Gnosis«, stellt, wie der Titel schon sagt,
den Kern des gesamten Projekts von Gnosis, Teil I und
Der Hauptteil der Gnosis II widmet sich der Demons- Teil II, dar. Wie oben erwähnt, präsentiert und artiku-
tration und Weiterentwicklung dieser Grundthese in liert dieses Projekt das ethisch-philosophische Pro-
mehreren antiken und spätantiken Korpora, die Jonas blem des Gnostizismus in Form einer diskursiven Ge-
zufolge den Gnostizismus im engeren Sinne darstellen. nealogie, d. h. der Entwicklung des gnostischen Dis-
Als Ur-Instanz des gnostischen oder proto-gnosti- kurses von der Mythologie zur Philosophie. Insbeson-
schen Diskurses, den Jonas als »krypto-gnostisch« be- dere stellt Jonas »Hauptthese« eine »innere Genese«
schrieb (GG II, 98), handelt Kapitel  3 von »Gottes- zwischen der »Gnosis des zweiten Jahrhunderts und
erkenntnis, Schau und Vollendung bei Philo von Ale- als Neuplatonismus des dritten und der folgenden
xandrien«. Es geschehe bei Philo, dass die Konfigurati- Jahrhunderte« auf – basierend auf »morphologische[r]
on der gnostischen Weltverneinung historisch im Verwandtschaft« und nicht auf »direkte[n] Zeugnis-
Gewand der griechischen Weltlichkeit auftauchen se[n]« tatsächlicher Einflüsse (GG II, 131). In der Tat
würde, genauer gesagt, »der gnostischen Gottesidee in lokalisierte Jonas die »Vollendung« des gnostischen
den Kategorien griechischen Denkens, eines fremden Diskurses im dritten Jahrhundert, als die Gnosis die
Gehalts in einer vorgegebenen Form« (GG II, 80). Der voll entwickelte Form von Erkenntnis mit »soteriologi-
gnostische, antikosmische, fremde Gott erschien in scher« Funktion annimmt (GG II, 124, 149 f.).
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Die Grundbewegung von Jonas’ Genealogie läuft lich war, dass der paradigmatische gnostische – d. h.
zwischen zwei grundlegenden Genres oder Diskurs- dualistische – Mythos für Jonas eher ein Valentinia-
modi: vom Mythos zur Philosophie. Die Bewegung nischer Monismus als die »eigentlich gnostische[]
beginnt in der mythischen Form, die Jonas als »un- Spekulation« war (GG I, 362). Der Monismus ist ge-
eigentlich« (GG II, 125) ansieht, d. h. als unpassend nau dort, wo die objektivierende Tendenz des Gnosti-
oder unecht, als die »äußerliche« (GG II, 126) Form zismus den Dualismus anführt, indem er den »sub-
des Gnostizismus. Die detaillierte und umfassende stantiellen Dualismus« in einen internen, dyna-
Darstellung und Analyse der gnostischen Mythologie mischen oder dialektischen Dualismus als die innere
wurde von Jonas in Gnosis I von 1934 vorgenommen. Spannung einer übergeordneten einheitlichen »spiri-
Nachdem er bereits in seiner Dissertation von 1928 tuellen« Einheit umwandelt (GG II, 156). Entspre-
sowohl die genealogische Hauptthese als auch die chend ist der Valentinianische Mythos, das Paradigma
Analyse der gnostischen Philosophie als Vollendung des Gnostischen Mythos, als solches auch der »Grenz-
des genealogischen Prozesses formuliert hatte, lieferte punkt« (GG II, 144) der Mythologie, deren ›Geschich-
Gnosis I rückwirkend den Ausgangspunkt für diesen te‹ eigentlich ein Ereignis von reiner Immanenz be-
Prozess. Aus der Vielzahl der gnostischen Mytholo- schreibt, weniger eine zeitliche Erzählung als einen
gien destillierte Gnosis I eine ursprüngliche gnosti- Prozess von Logos. Der gnostische Mythos ist also für
sche Erzählung über den Bruch zwischen Weltimma- Jonas in der Tat die »Entmythisierung der Anschau-
nenz und göttlicher Transzendenz, den »antikos- ungsgrößen« (GG II, 169), nämlich ein Mythos, der
mische[n] eschatologische[n] Dualismus« (GG I, 5), sich selbst entmythologisiert.
der durch Jonas zur kanonischen Definition des Gnos- Auf diese Weise entwickelt und vollzieht sich der
tizismus geworden ist. gnostische Mythos spontan durch seine eigene innere
In Gnosis II, Kapitel 4, zeigt Jonas jedoch, wie die Dynamik in der gnostischen Philosophie. Die Entmy-
theoretische, objektivierende griechische Erkenntnis- thologisierung wandelt letztendlich alle sachlichen,
theorie, welche dem gnostischen Mythos zugrunde ge- historischen, zeitlichen Objekte in abstrakte Begriffe
legt wurde (vgl. Philo), in diesem Mythos, der von ei- um, und dementsprechend wird empirisches Wissen
nem kosmischen Dualismus erzählte, eine Tendenz er- oder Erfahrungswissen in Spekulationen von rein kon-
zeugt, Transzendenz in Immanenz umzuwandeln. Auf zeptueller Notwendigkeit und »autonome[r] Reprodu-
diese Weise wurde absoluter statischer Dualismus – zierbarkeit« umgewandelt (GG II, 165). Die Grundele-
von Jonas »substantielle[r] Dualismus« (GG II, 153) mente des gnostischen Denkens wurden von Jonas be-
genannt – in dynamischen, dialektischen Dualismus reits in seiner Analyse von Philo (Kapitel  3) als der
umgewandelt, nämlich als innere Spannung innerhalb krypto-gnostischen Entstehung des Gnostizismus in
eines monistischen Systems dargestellt. Jonas ver- platonischen Kategorien dargestellt. Die eigentliche,
anschaulicht dies, indem er den gnostischen Mythos reife Figur der gnostischen Philosophie wird jedoch
dem jüdisch-christlichen biblischen Mythos gegen- später von Jonas in »Die Systeme des dritten Jahrhun-
überstellt. Jüdische und christliche Mythologie, be- derts« identifiziert, wie im Titel von Kapitel 5 angekün-
hauptet er, kennzeichnet eine absolute Distanz zwi- digt, v. a. in den Werken von Origenes und Plotin.
schen Welt und Gott als eines »personenhaften Ver- Kapitel 5, das letzte der unvollendeten Gnosis II, ist
hältnisses Gott – Kreatur« (GG II, 134), als absolute Origenes gewidmet, in dessen Gedanken Jonas die
Beziehung zu einem »Er«, durch Hören ohne Sehen, Entstehung der in der griechischen Philosophie noch
als offene Beziehung von pistis, von Glauben und Zeit- nie dagewesenen neuen Form des begrifflichen »Sys-
lichkeit (GG II, 130–138). Die gnostische Mythologie tems« erkannte (GG II, 204). Für Jonas ist das philoso-
hingegen, so Jonas’ Beobachtung, »entpersonalisiert« phische System die konzeptuelle Essenz des monis-
den Dualismus, sodass die Beziehung zum göttlichen tischen Mythos der Gnosis. In Origenes De Principiis
Wesen nicht mehr eine Beziehung zu einem »Er«, son- beobachtet Jonas eine diskursive Konfiguration, die
dern zu einem »Es« ist. Dementsprechend tendiert die auf der Prämisse der »absolute[n] Einheit« basiert
gnostische Erzählform von Natur aus zur Konzeptuali- (GG II, 178), als eine Einheit, die gleichzeitig ein Ple-
sierung und »Rationalisierung« (GG II, 141), die rom, eine Vielzahl von spirituellen Einheiten und so –
Transzendenz zur Immanenz und die mythische Äu- »Einheit in der Vielheit« (GG II, 182) ist. Es soll be-
ßerlichkeit zur mystischen Innerlichkeit (GG II, 143 f.). merkt werden, dass das System Origenes, wie Jonas
Dies erklärt die Tatsache, die in Gnosis I bereits weiter andeutet, nicht richtig »gnostisch« ist, da seine
sichtbar, aber unerklärlich oder sogar widersprüch- grundlegende Dynamik nicht durch die Gnosis, d. h.
15  Gnosis und spätantiker Geist II. Von der Mythologie zur mystischen Philosophie (1954) 93

durch die Kraft der Erkenntnis, sondern durch die 173), dachte, blieb die von ihm durchgeführte Ent-
Kraft des »Willens« (GG II, 182) angeregt wird. Das weltlichung eine »Objektivation« (PT, 171), die unter-
primäre dynamische Prinzip in Origenes’ Denken ist worfen war der »Ontologie der Weltdinglichkeit« (PT,
nicht intellektuell, sondern moralisch (GG II, 189); ih- 166). Wie Jonas 1964 in Heidegger’schen Begriffen er-
re konzeptionelle Bewegung verläuft nur sekundär klärte, »[erscheint] das radikal ›Andere‹ der Welt, als
zwischen Wissen und Unwissenheit und v. a. zwischen welches das Dasein sich in einem letzten Grunde fin-
Gut und Böse durch Kräfte wie »Schuld«, »Gerechtig- det – dies, was die Gnosis im Fremdheitserlebnis ent-
keit« und »Strafe« (GG II, 184–187). deckte, als Weltangst erfuhr und als Ruf des Unwelt-
Jonas erachtet Origenes’ Diskurs insofern dennoch lichen ›hörte‹ – [bei Plotin] zu einem substanzialen
als gnostisch, als sein moralisches kosmisches Schema ›Was‹ im metaphyischen System hypostasiert« (PT,
von allen Eigennamen einschließlich Satan und Chris- 172). Dementsprechend, so fasst dies Jonas’ grund-
tus abstrahiert (GG II, 201), sodass es eine Konfigura- legende Kritik gegen den Gnostizismus zusammen,
tion von bloßen »Figuren« oder »Funktionen« bleibt »ist [Plotin] damit im Theoretischen eben dem bereits
(GG II, 191), wo »alles zu allem werden kann«, in ei- erlegen, was sein praktischer Entwurf gerade über-
nem »Kreislauf der Wesen« (ebd.) oder einem »Kreis- winden will: die Weltbefangenheit des natürlichen
lauf der Welten« (GG II, 192). Das System Origenes Daseins« (PT, 166).
stellt daher für Jonas einen entscheidenden Meilen-
stein für den »Fortschritt in jener Richtung der Ent-
mythisierung« dar (GG II, 209), indem es die Gnosis 15.5 Die Alternative zur Gnosis: Pistis
für die richtige soteriologische oder therapeutische
Praxis der Theorie zugänglich gemacht hat, wie sie be- Zum Schluss dieses Berichts über Gnosis II mag es auf-
reits in Philo aufgetaucht ist, nämlich für die mysti- schlussreich sein, auf Jonas’ Alternative zur Gnosis
sche Kontemplation (GG II, 209). Die tatsächliche hinzuweisen, nämlich auf die andere Art der Entwelt-
Anwendung des Denkens von Origenes in der mysti- lichung, die Jonas identifiziert, aber unentwickelt ge-
schen Praxis habe laut Jonas erst 150 Jahre nach Ori- lassen hat. Die Alternative zur Gnosis war für Jonas
genes in der Arbeit des asketischen Mönchs Evagrius keine platonische Idee, sondern Pistis. Jonas identifi-
Ponticus (GG II, 218) stattgefunden. ziert ›Pistis‹ bei Paulus und bereits bei Philo als das
Das letzte Ziel und die vollständige Reifung der nicht-objektivierende, nicht-verdinglichende Verhält-
gnostischen Bewegung von der griechischen Tugend nis zur nicht-objektiven, weltfremden Transzendenz,
zum antiken Nihilismus wurde von Jonas seit den frü- nämlich nicht als Theorie, sondern als Praxis und
hen Phasen seines Projekts als der Neuplatonismus des Handlung. Während die ›Gnosis‹ die Transzendenz
Plotin (s. Kap. 7) identifiziert (GG II, 41, 123), mit der als eine Welt jenseits oder außerhalb der Welt suchte,
»vollkommensten Befreiung der Mystik zu sich selbst« vollzieht ›Pistis‹ die Transzendenz innerhalb dieser
(GG II, 143). Es ist genau die Abwesenheit von Plotin in Welt als eine nicht theoretische, zeitliche Beziehung
Gnosis II, die es unvollendet ließ. Dennoch hat Jonas in zu einem nicht objektivierten Anderen. In Gnosis II
den Jahren nach der Veröffentlichung von Gnosis II identifizierte Jonas die ethische Praxis von Erkenntnis
mehrere Texte zu Plotin veröffentlicht, die eine Reihe als Pistis in der christlichen Kirche, im biblischen Ju-
zentraler Elemente seines beabsichtigten fehlenden dentum und bei seinen Zeitgenossen in Heideggers
Kapitels enthalten. In Anbetracht von Jonas’ Gesamt- Sein und Zeit.
projekt in Bezug auf den Gnostizismus, wie es oben Diese letzte Beobachtung ist im Hinblick auf Jonas’
vorgestellt wurde, ist es nennenswert, dass Jonas, unter spätere Selbstinterpretation seines frühen Werks über-
Berufung auf Richard Harder, Plotin als »das sichtbare raschend. Um dies zu verstehen, folgt ein kurzer Blick
Symbol eines Frontwechsels der Ethik« ansah (PT, auf Gnosis II im weiteren Kontext von Jonas’ Arbeit.
143), wo »die Rückbiegung in den Kreis des isolierten
Subjekts [...] einen neuen Begriff der Tugenden oder
der Tugend als solcher [ergibt], der ihrem ursprünglich 15.6 Gnosis II im Kontext: Jonas’ Selbst-
›politischen‹ und aufs Handeln gerichteten Sinn radi- interpretation
kal widerspricht. Ihr Vollzug ist gänzlich immanent ge-
worden und braucht keine Welt mehr« (PT, 150 f.). Jonas’ eigener Bericht über seine Arbeit wurde ur-
Da Plotin jedoch weiterhin »im Stile griechischer sprünglich in »Gnosis, Existentialismus und Nihilis-
Philosophie«, d. h. mit dem Primat des »Sehens« (PT, mus« (s. Kap. 29) umrissen. Dieser Bericht schildert
94 III Texte – A Hauptwerke

die Beziehung zwischen Jonas’ Gnosis-Projekt und gunsten einer anderen Welt abgewertet hat, sie sei
Heideggers Philosophie als äußerlich und technisch, fremd, feindlich, transzendent und unzugänglich, ent-
fast zufällig. Nach diesem Text bot Heideggers Phi- wertet der Existenzialismus von Sartre und Heidegger,
losophie ursprünglich einen allgemeinen theoreti- so Jonas, diese Welt, ohne eine andere Welt anzuer-
schen Rahmen für Jonas’ Versuch, das historische kennen. Es handelt sich um einen »Dualismus ohne
Phänomen des alten Gnostizismus zu analysieren: Metaphysik« (BFG, 400; GR, 340), der sich auf reine
»Als ich mich vor vielen Jahren dem Studium der Immanenz und Immanenz ohne jegliche Transzen-
Gnosis zuwandte, fand ich, daß die Gesichtspunkte, denz beläuft und daher jegliche Möglichkeit aus-
die ›Optik‹ gewissermaßen, die ich in der Schule Hei- schließt, stabile Werte oder Gesetze für die Weltethik
deggers erworben habe, mich instand setzten, Aspekte anzuerkennen. In der Jonas-Analyse hat die Heideg-
des gnostischen Denkens zu sehen, die bisher noch ger’sche anti-weltliche Erkenntnistheorie den festen
nicht gesehen worden waren« (BFG, 377; GR, 320). und gegenwärtigen Objekten der platonischen Theorie
Die Begegnung zwischen Heidegger’scher Philoso- als Vision der Dinge keinen Platz eingeräumt. Dem
phie und Gnosis begann »als Begegnung einer Metho- menschlichen Wissen jegliche Objektivität abzuspre-
de mit einer Materie« (BFG, 378; GR, 321). Insbeson- chen, bedeutet, ihm jegliche mögliche Normativität
dere benutzte der Schüler Jonas die Grundkategorien unmöglich zu machen und verurteilt so die mensch-
von Heideggers Bericht über die menschliche Exis- liche Praxis zu reinem ›Willen zur Macht‹.
tenz, Daseinsanalytik, um den existentiellen Grund- Es ist bemerkenswert, dass Jonas’ Wertschätzung
zustand oder den Geisteszustand zu beschreiben, aus für den Platonismus sich so dramatisch verändert hat
dem die gnostische Literatur vermutlich historisch zwischen Gnosis II, wo es die platonische Theorie war,
hervorgegangen war (GG I, 90). die letztendlich die ethische Berufung des gnostischen
Erst später, so der Bericht von Jonas aus dem Jahr Wissens gefährdete, und »Gnostizismus, Existenzia-
1958, entdeckte er eine tiefe Affinität zwischen dem lismus und Nihilismus«, wo die platonische Theorie
alten Gnostizismus und Heideggers modernem Exis- zur Bedingung für die Ethik wurde. Es ist ferner be-
tenzialismus – zuvor nur »dunkel gefühlt«: »Rück- merkenswert, dass diese These bereits in der ersten
schauend bin ich geneigt, zu glauben, daß es die An- veröffentlichten Fassung von »Gnosis, Existentialism,
ziehungskraft dieser dunkel gefühlten Nähe war, die and Nihilism« aus dem Jahr 1952 (»Gnosticism and
mich überhaupt zuerst in das gnostische Labyrinth Modern Nihilism«) formuliert wurde, und zwar zwei
gelockt hatte« (BFG 377; GR, 320). Die Affinität wür- Jahre vor der ersten Veröffentlichung von Gnosis II im
de in einer ähnlichen problematischen Beziehung lie- Jahr 1954. Die Geschichte der Gnosis II wurde vor ih-
gen, die beide intellektuellen Projekte, beide Systeme rer Veröffentlichung geschrieben.
oder Formen des Denkens oder Wissens, d. h. die Wie oben erwähnt, muss sich die zukünftige For-
Gnosis und die Heidegger’sche Existenzphilosophie, schung mit der Frage befassen, ob Jonas’ Kritik an
zur Praxis haben, nämlich ihre ethische Implikation. Heidegger in Amerika von 1952, d. h. zwei Jahre vor
Diese gemeinsame problematische praktische Impli- der ersten Veröffentlichung von Gnosis II, als moder-
kation von Gnostizismus und Existentialismus wur- ner Gnostiker tatsächlich die weniger mächtige Inter-
de von Jonas als ›Nihilismus‹ bezeichnet (s. Kap. 29). vention von Jonas gegenüber dem Denken des Lehrers
Tatsächlich ist ›Nihilismus‹ für Jonas, inspiriert in gewesen ist als sein Versuch im Deutschland der frü-
diesem Punkt von Nietzsche (wie es auch Heidegger hen 1930er Jahre, Heidegger als Erben der jüdisch-
war), die praktische Implikation einer Philosophie, christlichen Ethik zu lesen.
die jede Möglichkeit ausschließt, Gesetze, Werte
oder Ethik anzuerkennen, um das Leben in dieser Literatur
Brumlik, Micha: Ressentiment – Über einige Motive in Hans
Welt zu führen: »die Leugnung objektiver Norm« Jonas’ frühem Gnosisbuch. In: Christian Wiese und Eric
(BFG, 390; GR, 331). Jacobson (Hg.): Weiterwohnlichkeit der Welt. Zur Aktua-
Der Hauptschwerpunkt von Jonas’ Kritik an Hei- lität von Hans Jonas. Berlin 2003, 127–144.
degger in »Gnostizismus, Existenzialismus und Nihi- Cahana, Jonathan: A Gnostic Critic of Modernity: Hans
lismus« war die Behauptung, dass Heideggers Existen- Jonas from Existentialism to Science. In: Journal of the
American Academy of Religion 86/1 (2018), 158–180.
zialismus als die vollendete Form der modernen Er-
Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 182001.
kenntnistheorie dem gnostischen Nihilismus nicht Lapidot, Elad: Hans Jonas’ Work on Gnosticism as Counter-
nur ähnelte, sondern ihn auch verstärkte und radikali- history. In: Philosophical Readings IX (2017), 61–69.
sierte. Während der alte Gnostizismus diese Welt zu-
15  Gnosis und spätantiker Geist II. Von der Mythologie zur mystischen Philosophie (1954) 95

Lazier, Benjamin: God Interrupted. Heresy and the Euro- Kritische Studienausgabe. Bd. 5. Hg. von Giogio Colli und
pean Imagination between the World Wars. Princeton/ Mazzino Montinari. München 92007, 245–412.
Oxford 2008.
Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral [1887]. In: Elad Lapidot

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