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1963
WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT
DARMSTADT
Fotomechanischer Nachdruck der 1. Auflage, Oslo 1941
Erstmals veröffentlicht in:
Skrifter utgitt av Det Norske Videnskaps-Akademi i Oslo.
li. Historisk-Filosofisk Klasse. r 941. No. 2
Volk und Staat, S. 20. Der König als "Heilstatsache" und Verkörperung
des Volkes, S. 20. Opposition gegen das Königtum, S. 21. David
als ldealkönig, S. 22.
VI
D r i t t e r Te i 1. D a s G o t t e s v o 1k i m N e u e n Te st a m e n t.
Meine Arbeit mit dem Thema "Das Volk Gottes" nahm während meiner
Studienzeit an deutschen Universitäten seintm Anfang, unter dem Eindruck
des damaligen Kirchenkampfes. Vollendet wurde das Manuskript in hektischen
Sommermonaten 1940. Das Buch erschien innerhalb der Schriftenreihe der Nor-
wegischen Akademie der Wissenschaften. Die Zahl der für die Buchhandlungen
bestimmten Exemplare war nicht sehr groß, und schon Ende des Krieges war
das Buch ausverkauft, z. T. weil eine erhebliche Anzahl von dem damaligen
Reichskommissariat der besetzten norwegischen Gebiete bezogen worden war.
Für welchen Zweck, läßt sich nur erraten. Daß das Buch in den angelsächsischen
Ländern nicht ganz unbeachtet blieb, habe ich meines Wissens vor allem den
beiden Herren Professor H. H. Rowley in Manchester und Otto A. Piper in
Princeton, New Jersey, zu verdanken.
Vor einigen Jahren war eine englische Übersetzung des Werkes geplant. Ich
habe aber empfunden, daß es nicht zu verantworten gewesen wäre, das Buch
unrevidiert in eine neue Sprache übertragen zu lassen. Nachdem ich ein paar
Monate an dem Plan einer nur geringfügigen Revision unter Berücksichtigung
neuerer Literatur und eigener Forschungen gearbeitet hatte, stellte es sich her-
aus, daß es so nicht ging. Das Buch hätte völlig neu geschrieben werden müs-
sen. Dazu fehlte mir nicht nur die Zeit, sondern auch der Mut. Schon bei dem
Ausgangspunkt, der Gleichsetzung von "Kirche" mit "Israel" und "Volk Got-
tes", wären viel mehr Vorsicht und methodische Sauberkeit vonnöten gewesen.
So muß das Buch bleiben, wie es ist. An vielen Punkten habe ich umgelernt,
und die Forschung ist vorwärts geschritten. Ich hoffe jedoch, daß nicht nur die
angehäufte Stoffmenge, sondern auch einige der im Buch gezogenen großen
Linien immer noch Beachtung verdienen, und ich bin deshalb der Wissen-
schaftlichen Buchgesellschaft dankbar, daß sie die Initiative zu einer Neuausgabe
ergriffen hat.
Eine vollständige Bibliographie der seit 1941 hinzugekommenen Lite-
ratur zum Thema Kirche und Volk Gottes würde sehr umfangreich werden.
Eine gute Auswahl bietet K. Stendahl in dem Artikel Kirche II, Im Urchri-
stentum, in RGG, 3· Aufl., 111, 1959, Sp. 1297-1304. Hier wird auch "der neue
Konsensus" in erfrischender Weise in Frage gestellt. Besonders genannt sei die
XIV
umfassende, das Thema weit über die Grenzen des Urchristentums hinaus ver-
folgende Monographie von Albrecht Oepke, Das neue Gottesvolk in Schrift-
tum, Schauspiel, bildender Kunst und Weltgestaltung, Gütersloh I950. Eine
kritische Würdigung repräsentativer Beiträge hat Joseph M. Shaw vorgelegt
in seiner Dissertation, The Concept of the 'People of God' in Recent Biblical
Research, Princeton Theological Seminary, I958 (ungedruckt).
Daß auch der Verfasser des Werkes "Das Volk Gottes" seit I94I mit dem
Fragenkreis weitergearbeitet hat, darf durch einen Hinweis auf einige Aufsätze
illustriert werden:
Der Name Israel. I. Zur Auslegung von Gal. 6, I6. Judaica 6, I950, S. I6I-I7o.
La terre ou coulent le lait et le miel, selon Barnabe 6, 8-I9. Aux sources de
la tradition chretienne. Festschrift Goguel, Neuehatei/Paris I950, S. 62-70.
A New and Living Way (Hebr. IO, I9-25). Interpretation 5, I95 I, S. 40I-4I2.
The Parables of Growth. Studia Theologica 5, I95I, S. I32-r66.
Die Messianität Jesu bei Paulus. Studia Paulina in honorem Johannis de
Zwaan, Haarlern I953, S. 83-95.
Die Passionsgeschichte bei Matthäus. New Testament Studies 2, I 95 5, S. I 7-32.
The People of God. Ecumenical Review 9, I956, S. I54-r6r.
Markusevangeliets sikte. Svensk Exegetisk Arsbok 22-23. Festschrift Ode-
berg, Lund I958, S. 32-46.
'A People for His Name' (Acts I 5: I4), New Testament Studies 4, I957,
s.3I9-327·
Kerygma og kirke i de fire evangelier. Norsk teol. tidsskrift 6o, I959, S. I-20.
Kristus, jödene og verden etter Johannesevangeliet. lbd. S. 189-203.
The Johannine Church and History. Current lssues in New Testament Inter-
pretation. Festschrift Piper, New York 1962, S. 124-142.
Oslo, 13. August I962
Leider weiß ich nur zu gut, daß meme Abhandlung noch viel zu
wünschen übrig läßt, gerade auch was die Benutzung der rabbinischen
Literatur anbetrifft. Teilweise mag das dadurch entschuldigt werden, daß
mir hier in Oslo die rabbinischen Quellen zum Teil nur in Übersetzung,
zum Teil überhaupt nicht zugänglich waren. Meine Beispiele wurden daher
zum großen Teil den Sammelwerken von Bacher, Billerbeck, Bonsirven u. a.
entnommen, so weit möglich aber nach den Quellen kontrolliert. Selbständig
excerpiert habe ich mit Hilfe von Übersetzungen und Urtexten die Midrasche
Mechilta und Genesis rabba, sowie einige der wichtigsten Mischnatraktate
und kleinere Abschnitte des babylonischen Talmud.
Die Arbeit wurde von Frau Pfarrer Günther abgeschrieben und einer
sprachlichen Korrektur unterzogen. Auch ihr möclite ich meine Dankbarkeit
für ihre große Mühe aussprechen. Die Arbeit lag im August 1940 im
Manuskript abgeschlossen vor, seitdem habe ich einige kleinere Änderungen
vorgenommen, so daß ich für Verstöße gegen die deutsche Sprache allein
die Verantwortung trage.
Meinem Lehrer, Herrn Professor dr. Lyder Brun danke ich nicht nur
für das grobe Interesse, das er für diese Untersuchung bewiesen hat, sondern
auch für die vielseitige Förderung meiner Studien, die ich seit meiner ersten
Studentenjahre durch ihn erhalten habe. Mein Onkel, Herr Stadtpfarrer
Bretteville Jensen hat Immer ein reges Interesse für meine Studien gehabt
und hat sich auch die Mühe gegeben, die Korrekturen mitzulesen.
Am meisten habe ich meinen Eltern und meiner Frau zu danken,
davon braucht aber hier nicht ausführlich geredet zu werden. Genannt sei
nur, dafl sowohl meine Studienreisen wie auch die Drucklegung des um·
fassenden Manuskriptes in dieser Zeit, trotz des freundlichen Entgegenkommens
der norwegischen Akademie der Wissenschaften, ohne die finanzielle Unter·
stützung meines Vaters, des Stadtpfarrers Th. Dahl, nicht möglich gewesen
wäre, und dafl meine Frau, fil. mag. Birgit Rosencrantz Dahl, bei der.
Korrekturlesung die Hauptlast getragen hat.
Oslo, Mai 1941. N.A.D.
Zur Einführung
Erster Teil.
DAS GOTTESVOLK IM ALTEN TESTAMENT
Es kann sich hier nicht darum handeln, eine Monographie über das
Wort "Israel" zu geben. 2 Dies wäre für unseren Zweck etwas viel zu
Spezielles. Viele Fragen, die hier zu behandeln wären, z. B. das Verhältnis
von Israel = das Nordreich und Israel = das Gesamtvolk, haben auch für
uns keine grofue Bedeutung, wenn wir die Voraussetzungen für das Ver·
ständnis von Israel zur ntl. Zeit klarzulegen versuchen. Was uns interessiert,
ist das Selbstbewußtsein des Volkes Israel, das israelitische "Nationalgefühl".
Wenn die atl. Verfasser von Israel reden, reden sie ja nicht über irgend
einen Gegenstand, sondern von sich selbst, weil sie als Glieder des Volkes
Israel reden. Andererseits kann es sich nicht darum handeln eine Geschichte
dieses Nationalgefühls zu schreiben, dies wäre, jedenfalls für einen Nicht·
Fachmann, eine z. Z. unlösbare Aufgabe. 3 Wir können uns aber auch nicht
damit begnügen, die Anschauungen des schon abgeschlossenen und kano·
nisch gewordenen AT's so darzustellen, wie sie von einem Menschen zur
Zeit des Paulus verstanden wurden. Auch dies wäre eine äufuerst schwierige
Aufgabe, für die unser Einfühlungs-Vermögen nicht genügen würde. Der
Begriff Israel, wie er sich um die Zeitenwende findet, ist durch die Tradition
bestimmt, und diese Tradition können wir nur dann verstehen, wenn wir
auch ihr geschichtliches Werden kennen. So werden wir nur eine Skizze
geben können, in der wir nach dem Wesen des atl. Israel-Begriffes fragen,
aber auch das Werden soweit möglich zu berücksichtigen versuchen, selbst
wenn sich daraus einige Unebenheiten der Disposition ergeben.
Durch dieses Wort ist auch ihre Zusammengehörigkeit mit anderen Völkern
ausgesagt, der Sprache und dem Blute, ursprünglich vielleicht aber eher
der sozialen Zusammengehörigkeit nach. 1 Dadurch werden wir daran erinnert,
daß am Anfang der Geschichte Israels nicht ein geschlossenes Volk, sondern
eine Reihe einzelner Stämme, dem System nach zwölf, stehen. Auch als
die Stämme nicht mehr eine politische Realität waren, blieb die Stammes-
ideologie wichtig. Das Volk hieß immer noch die "Stämme Israels", die
"zwölf Stämme" oder nach den wichtigsten unter den Stämmen "Juda",
"Joseph", "Ephraim ". Das israelitische Nationalgefühl ist aus dem Stammes-
gefühl erwachsen. Das Volk ist einGroß-Stamm (Ps 74,2; Jer ro, r6).
Anders als im griechischen Polis oder in den orientalischen Welt-
reichen oder auch in den kanaanäischen Stadtkönigtümern hat sich in Israel
ein wirkliches Volksbewußtsein entwickelt. Ein, dem israelitischen analoges
Nationalgefühl finden wir bei den Nachbarvölkern, Aram, Edom, Ammen
und Moab. 2 Und doch sind diese nicht wie Israel zu einem klaren nationalen
Selbstbewußtsein gekommen, das die Jahrhunderte überdauert hat und uns
noch heute lebendig gegenübertritt. So wird das Urteil v AN DER LEEuw's
zu Recht bestehen: "Das jüdische Volk ist das erste historische Beispiel
einer Nation." 3 Daß aus den Hebräer-Stämmen das Volk Israel wurde,
hatte seinen Grund in der Religion und in der Geschichte des Volkes.
Diese Faktoren, "Blut und Rasse", Religion, Geschichte sind auch für das
israelitische Selbstbewußtsein die entscheidenden.
Die nationale Zusammengehörigkeit wird zunächst als Blutgemeinschaft
verstanden. Es ist charakteristisch, daß das Wort für Volk, iam, zugleich
Verwandter bedeutet. 4 iam heißt sonst, in dem prägnanten Gebrauch des
Wortes, die Vollbürger eines Gebietes, die Grundbesitzer, die ehe-, rechts-,
kriegs- und kultfähig sind, das iam-ha'iirä!j. 5 Das Wort wird vor allem von
dem einen Volk, Israel, gebraucht und tendiert auf die Bedeutung Gottes-
volk. Das andere Wort dagegen, goj, pl. go}tm, ist Bezeichnung der Volks·
ganzheit als politische Größe, 6 wird vor allem von den anderen Völkern
gebraucht und gewinnt mit der Zeit die Bedeutung "Heidenvölker". 7 Durch-
geführt wird diese Trennung der Begriffe allerdings bei weitem nicht.
Der eigentliche Name des Volkes ist jisrii'il. Auch dieser Begriff zeigt
die entscheidende Bedeutung der Blutgemeinschaft. Denn der Name des
Volkes ist zugleich Name seines Ahnherrn, und ja~a/Job ist zugleich der
Name des von diesem Heros abstammenden Volkes. Der Ahnherr und das
Volk darf eben nicht geschieden werden, nach israelitischer Anschauung
lebte das Volk schon im Ahnherrn, und der Ahnherr lebt noch in seinem
Volke (vgl. z. B. Gen 25,23; 48,r6). 8 Das Volk ist eine Familie, ein "Haus",
bel jisrii'il, die Israeliten sind der "SaTI]e" Abrahams, Isaaks und Jakobs;
sie sind die "Söhne Israels" usw. Die Anschauung ist in der Familien-
geschichte Abrahams systematisiert, hat aber ihre Grundlage in einer viel
unreflektierteren, primitiven Auffassung. Das Primäre ist die Gesamtheit,
jisra'ef, und die Einzelnen haben ihr Leben nur als Glieder dieser Gesamtheit,
4
als b'ne jisra' i!l. ] ede Gemeinschaft und vor allem die Volksgemeinschaft
wird als Blutgemeinschaft verstanden. 9
Das Volk ist also eine große Familie, ein großes Geschlecht. joHs.
PEDERSEN hat die entscheidende Bedeutung des Geschlechtes für den Israeliten
Ausdruck dafür, daß Israel JHWH gehört. Das Wesen JHWH's ist da-
durch in das Volk hineingelegt, und das Volk in seine Sphäre hinein-
genommen worden. Das Volk lebt nicht durch sich selbst, sondern "im
Namen JHWH's" (Mich 4,5; vgl Ps 20,8 LXX). Ein anderer Ausdruck
für die Zugehörigkeit Israels zu JHWH ist, daß von dem "heiligen Volke"
die Rede ist (göj !Jadös Ex rg,6; iam !Jadtis Dt 7,6; r4,2.2r; 26,rg; 28,9);
denn heilig ist, was JHWH gehört und der profanen Sphäre entnommen
ist. 25 Heilig ist das Volk nicht durch eine immanente Heiligkeit des Blutes,
sondern weil es JHWH gehört 26 (vgl auch Lev I I,44 f; I9,2; 20,7 f. 24.26).
Die Heiligkeit gehört JHWH, er nimmt sich Israels an und gibt dem Volke
an seiner Heiligkeit teil.
Das Verhältnis Israels zu JHWH wird auch durch verschiedene Bilder
verdeutlicht. Kaum bildlich zu nennen ist es, wenn die Israeliten die iaga.rjlm,
Israel der iä!Jäd JHWH's heißen (Lev 25,55; Dt 32,36.43; Jes 54,17;
Ps 90,I3.I6 etc; Jes 44,I f; 45,4; Jer 3o,ro); denn das Eigentums- und
Dienst-Verhältnis ist völlig real gemeint. 27 Daneben heißt Israel der Sohn
JHWH's (Ex 4,22 f; Hos Ir,r; Jer 31,9.20i Ps 8o,r6), die Israeliten seine
Söhne und Töchter (Dt J4,I; 32,5 f. rg; Jes I,2.4; 30,r.9; 43,6; 63,8;
Ps 73,I5 etc). 28 Weiter wird das Verhältnis zwischen Gott und dem Volke
als eine Ehe dargestellt (Hos I-3; Jer 2,2ff32; 3,rff; Jes 54,5; Hes r6; 23).
Klassisch geworden sind auch die Bilder von Israel als Wein stock, bzw.
Weingarten (Hos Io,r; ]er 2,2I; Ps 8o,9 ff; Jes 5 etc) oder Herde des
Herrn (]es 40, I I; Jer 23,2 ff; Hes 34).
Daß Israel das Volk JHWH's ist, ist die Kehrseite davon, daß JBWH
der Gott Israels ist. Auch dies kommt in einer reich variierten Termino-
logie zum Ausdruck. JHWH ist "der Hebräer Gott", "der Gott Israels",
bzw. "unser, evt. euer Gott", "der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs", "der
Gott der Väter" usw. Jesaja und seine Nachfolger nennen ihn "den Heiligen
Israels". JHWH heißt "Herr, Vater, Richter, König und Schöpfer"
Israels, er ist "ffelfer" (mösla;) und "Löser" (gö'el), "Schild und Schutz,
Burg und Fels". Kurz: er ist der Herr Israels, der Große, Erhabene und
Mächtige, der mit dem Volke verbunden ist, wie Graf BAUDISSIN die
israelitische Gottesvorstellung auf dem Hintergrund der gemeinsemitischen
klar geschildert hat. 29
Gott und Volk gehören eng zusammen. Die Sache des Volkes ist die
Sache Gottes und umgekehrt. Der Sieg und das Glück Israels macht den
Namen und die Ehre JHWH's groß (2 Sam 7,26; Ps Io6,8; Jer 33,9 etc);
wenn Israel unterliegt, wird dagegen auch der Name JHWH's von den
Völkern geschmäht (Jos 7,7-9; Dt 32,27; Ps 79,9 f; Hes 20,9.I4.22.44i
36,20 ff etc). JHWH wird wegen seines großen Volkes (Num I4,I3 ff;
Jos 2,9-II; I Sam q,46; 2 Sam 7,22 f; I Reg 8,59 f) und Israel wegen
seines großen Gottes gerühmt (Ps 3J,I2i 144,I5; Dt 4,7; 32,43; 33,29).
Die ganze Existenz des Volkes Israel ist dadurch bestimmt, daß JHWH
mit diesem Volke seinen Bund geschlossen hat b'rlt ist der typische
7
C. Der Kultus.
Durch den gemeinsamen JHWH-Kultus der Hebräerstämme ist das
Volk Israel entstanden. Bis zur Staatenbildung unter den Königen fehlte
eine gemeinsame politische Organisation. Die einzelnen Stämme lebten für
sich, der JHWH-Kultus war, was sie vereinte. Am Anfang der Geschichte
8
D. Der Krieg.
In alter Zeit sind Kultus und Krieg die beiden Anlässe gewesen, bei
denen die Stämme als einheitliches Volk gehandelt haben (vgl Jdc 5;
Ex 17,16). Was im Kultus geschah, Konzentrierung und Erneuerung der
seelischen Kräfte des Volkes durch die schöpferische Gegenwart JHWH's,
geschieht auch im Kriege. 46 11 Das Kriegslager, die Wiege der Nation, war
auch das älteste Heiligtum. Da war Israel, und da war Jahwe." 47 Die
Lade 48 wird im Krieg mitgeführt, und die Posaunen rufen zum Krieg wie
zur kultischen Feier.
IO
Restauration unter Josija, 56 sowie viele andere Episoden aus der Geschichte
Israels und des Judentums.
Daneben finden wir in späterer Zeit auch eine andere, "pazifistische"
Stimmung. 57 Man war der vielen unglücklichen Kriege müde und sehnte
sich nach einer kommenden Friedenszeit. Das Leben der Erzväter wurde
als ein friedliches Hirtenleben ausgemalt. Man traute nicht mehr der eigenen
Kraft, das Handeln JHWH's wurde von der kriegerischen Stärke Israels
völlig losgelöst. Nicht Schwert, nicht Roß und Wagen, allein der Name
JHWH's gibt den Sieg (Ex 34,10 f; 14,24; Dt 7,17 ff; 8,7-17; Jos IO,IO f;
23,9 f; 24,12; 1 Sam 17,47; Ps 44,4 f; Hos 1,7 etc). Nicht Israels Waffen
haben den Erfolg gebracht, sondern allein das wunderbare Eingreifen
JHWH's (Jdc 7; Jos 6 etc). Nur ein Jesaja hat es gewagt, diese Auf·
fassung in praktische Politik umsetzen zu wollen (Jes 7,4 ff; 30,15 ff; 31,1 ff
etc). Aber auch sonst ist diese Stimmung verbreitet. Der dynastische Krieg
der Gegenwart wird verurteilt, während die Kämpfe der alten Zeit im verherr·
lichten Licht erscheinen, nicht als wirkliche Kriege, sondern als unmittelbarer
Triumph JHWH's. 58 Die Kriege JHWH's sind nicht mehr Taten des
Volkes in der Gegenwart, sondern Gnadentaten Gottes in der Vergangenheit.
F. Die Urgeschichte.
"Das nationale Selbstbewufutsein Israels ist durchaus geschichtlich be-
gründet." Diesen Satz A. ALTS 67 hat schon das Vorhergehende genügend
bestätigt. "Israel" ist weder eine rein naturhafte, noch eine mythische oder
13
9,25 ff; Jes 63,7-64,II). So gibt die immer von neuem ergriffene Ge-
schichte dem Volke Zuversicht für Gegenwart und Zukunft.
Die Geschichte verpflichtet aber zugleich. Die Urgeschichte stellt einen
Anspruch an das Volk: 78 das Leben des Volkes mufu so gestaltet werden,
dafu es mit dem Erlöstsein aus Ägypten übereinstimmt. So darf z. B. der
Fremdling nicht unterdrückt werden, denn Israel ist selbst in Ägypten
Fremdling gewesen und durch JHWH befreit worden {Ex 22,20; Lev 19,34;
Dt 10,19; 24,!7 f; vgl 15,15). Die Israeliten dürfen nicht anderer Menschen
Sklaven werden, denn sie sind Sklaven JHWH's, und die Befreiung aus
Ägypten begründet seinen Anspruch auf sie {Lev 25,55). Er hat Israel als
sein Volk erworben, deshalb darf er Gehorsam fordern. Die majestätische
Selbstaussage: "Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt
hat", dient immer wieder zur Einführung und Begründung der Gebote
(Ex 20,2; Lev II,45; 19,36; 22,33 etc; Dt 5,6.15; 6,21 ff etc; Ps 81,II).
Der Hinweis auf die Geschichte ist ein Hauptmotiv der Vermahnungen
(jos 24; Ps 8r; 95 etc). So greifen auch die Propheten auf diese Ur-
geschichte zurück, um zu zeigen, wie Israel voll Dankbarkeit die Gebote
erfüllen müfute (Am 2,ro; Hos 11,1 f; 13,4 ff; Mich 6>4 ff; Jer 2,1 ff). Wenn
aber der Anspruch der Geschichte, d. h. des in der Geschichte handelnden
Gottes, auf das Volk nicht erfüllt wird, wird die Geschichte zu einer Anklage
gegen das Volk (Am 3,2; Hes r6; 2o; 23; vgl Ps 78 etc). Auf alle Fälle
ist das Ziel der Erlösung, dafu die Auserwählten die Gebote JHWH's halten
sollen {Ps ro5,45). Mit der Erlösung aus Ägypten gehört deshalb die Bundes-
schliefuung und Gesetzgebung auf Sinai unlöslich zusammen.
Neben den Auszugstraditionen treten die Sinaitraditionen etwas in den
Hintergrund. 79 Doch gehören auch diese zur "Urgeschichte" {vgl aufuer
Ex 19-34 auch Dt 4,32 f; 5,2 ff; 9,9 f; 28,69; ]er 7,22 f; rr,r ff; 31,32;
Ps 50,5 {?); 78,5 f; 8r,ro f; r Reg 8,9). Die Versammlung des Gottes-
volkes um Sinai ist die israelitische "Urversammlung", von der die späteren
Versammlungen gewissermafuen Abbildungen und Darstellungen sind. 80 Die
Zeit dieser Versammlung heifut jtim ha#ähiJl {Dt 9,1o; ro,4; 18,16 vgl
s,r9). Hier war das Volk zum ersten Mal vor Gott versammelt, und was
hier geschah, ist für die Gemeinde aller Zeiten konstituierend. Alle Ord-
nungen des Volkes werden auf Verordnungen dieser "Urversammlung"
zurückgeführt {z. B. die Organisation. Ex 18).
Die Geschehnisse am Schilfmeer und am Sinai gehören in der späteren
Tradition eng zusammen. Am Schilfmeer offenbarte JHWH seine Macht
und rettete das Volk. Am Sinai offenbarte er sein eigentliches Wesen und
trat mit dem Volke in persönliche Gemeinschaft, indem er den Bund auf-
richtete (Ex 24,9-11 etc). Dort offenbarte sich JHWH in seiner Tat, hier
offenbarte er sich in seinem Wort. Der grofue Vorzug Israels kann auch
darin gesehen werden, dafu das.Volk damals das Wort JHWH's hörte und
am Leben blieb {Dt 4,33 f; 5,20 ff). Durch sein Wort hat JHWH Israel
zu seinem Volke gemacht {Ex 19,3-6 vgl Dt 27,9). Das Verhältnis zwischen
Israel und JHWH ist ein persönliches, weil es durch diese göttliche Anrede
16
an das Volk begründet wurde. 81 Wie JHWH sich durch sein Wort an
Israel freiwillig gebunden hat, so hat sich auch das Volk durch seine frei-
willige Antwort zum Gehorsam verpflichtet (Ex 19,8; 24,3). Auch diese
Entscheidung des Volkes gehört .in· die "Urgeschichte" hinein (vgl auch
Jos 24), ist aber allerdings erst durch die zuvorkommende Gnade und
Offenbarung JHWH's möglich gemacht.
Das Entscheidende, was am Sinai geschah, wird für die S!Jätere Zeit
immer mehr die Gesetzgebung, die eigentliche Bundesschließung tritt da-
hinter zurück und wird fast nur zu einer Verpflichtung des Volkes auf das
Gesetz (Ex 24). Für Deuteronomium steht die Gesetzgebung durchaus in
dem Vordergrund (4,Io ff; s; 9,9 ff). Nach der Priesterschrift geschieht am
Sinai überhaupt kein neuer Bundesschluß, 82 und doch ist gerade hier die
Gesetzgebung am Sinai das große Geschehen, an dem alles geschichtliche
Interesse haftet. Auch das Wort b'ril gewinnt oft die Bedeutung von Gesetz
(z. B. Dt 4,13.23; auch Ex I9,5l. Die Größe Israels ist, daß diesem Volke
das Gesetz JHWH's gegeben wurde, und daß es seinen Willen kennt
{Dt 4,6-8; 33,4.8 ff etc; Ps 78,5; Io3,7; I47,I9 f).
Das Gesetz ist Gabe und Forderung JHWH's, es ruft Israel zu einem
Leben in freier Entscheidung und persönlicher Gemeinschaft mit ihm. Es
stellt das Volk vor zwei Möglichkeiten: Ungehorsam oder Gehorsam, Fluch
oder Segen, Untergang oder Heil (Dt 27-30; I I; Lev 26 etc). Die Ent-
scheidung des "Urisrael" muß immer neu vollzogen werden, dann wird
JHWH das Volk segnen und sein heilsgeschichtliches Handeln mit dem
Volke zum Ziele führen.
Die Erlösung aus Ägypten zielt also auf die Gesetzgebung hin und
auf das Leben Israels in Gehorsam als ein gesegnetes Volk. Aber auch
nach rückwärts steht sie in einer "heilsgeschichtlichen" Kontinuität. Vor
der "Urgeschichte" Israels liegt eine "Vorgeschichte" des Volkes. Besonders
in Dt greift die Erzählung von der Auswanderung auf diese "Vorgeschichte"
zurück, JHWH hat Israel aus Ägypten erlöst, weil er seines Eides an
Abraham gedachte. (Ex 2,24; Dt 7,7 f etc). So wird die zuvorkommende
Gnade JHWH's besonders hervorgehoben.
Ursprünglich ist die Erzvätertradition selbständig, eher eine Parallele
zur Auswanderungstradition. 83 Aber auch so besagt sie, daß die Existenz
des Volkes von Anfang an i~ dem schöpferischen Verheißungswort Gottes
seinen Grund hat (Gen I2,2 f; IS,s ff; 22,I6 f; 26,4.24; 28,I3 f; 35,Io f).
JHWH hat in seiner souveränen Freiheit Abraham erwählt, und Abraham
gehorchte, er vertraute Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet
{Gen IS,6). Durch seinen "Glauben" ist Israel das Volk Gottes. Das
Wesentliche an den Erzvätern ist der Eid und der Bund Gottes. Immer
stärker hängt das Selbstbewußtsein Israels an dem Glauben, daß JHWH
seinen Eid an den Patriarchen nicht vergessen werde (Ex 32,I3; Lev 26,42 ff;
Dt I,8; 4,31; 6,Io; 9,27 etc; 2 Reg I3,23; Mich 7,2o; I Chron I6,I4ff;
Ps Ios,8 ff). Das Wort b•rit wird gern, wenn nicht vom Gesetz, so von
17
dieser Zusage ·Gottes an die Väter verwendet, an die sich die Israeliten
um so fester klammerten, je mehr sie an der Gegenwart verzweifeln mußten
(Gen 15,18; Ex 6,4; Lev 26,42; Dt 4,31; 7,12 etc).
Die Erzvätertradition betont, wie GALLING hervorgehoben hat, den
"groß-israelitischen" Gedanken. 84 Die Einheit, Größe und Macht des Volkes
und die Rechtmäßigkeit seines Anspruches auf das Land Kanaan und den
Segen des Landes wird durch diese Tradition begründet. Aber auch die
Auswanderungstradition und die Sinaitradition zielen auf die Landnahme
und auf das gesegnete Leben Israels in Kanaan hin.
.Besitz des Landes und das Geniefuen seiner Fruchtbarkeit (z. B. Gen 27,27 ff;
Lev 26,4 ff; Dt II 1 13-q; 28,I-I4). Der Fluch dagegen, das grofue
Unglück, das dem Einzelnen und dem Volke droht, ist von dem Lande
weggetrieben zu werden (Lev 26,33 ff; Dt 4,25 ff; 28,63 ff; I Sam 26,19;
I Reg g,6 f; 14,15 f; Am ],!]). Israelitisches Leben im Vollsinn des
Wortes gibt es nur innerhalb des Landes Israel. Das Land ist nicht etwas
Totes, sondern es gehört zu der lebendigen Ganzheit Israels. 7 Das Land
handelt in seinen Bewohnern, es sündigt (Hes 7,23), und JHWH richtet
es und macht es zur Wüste (Dt 29,21 ff; Jes 24,5-10; Jer 4,23-26). 8
Andererseits kann JHWH gegen das Land gnädig sein (Dt 32,43 etc). So
ist das Schicksal des Landes und das Schicksal des Volkes eng verbunden.
Die Art des Landes und die Art des Volkes durchdringen sich. Beide
haben von JHWH ihre Art bekommen. Auch JHWH ist mit dem Lande
verbunden (I Reg 20,23; 2 Reg q,24 ff; 1 Sam 26,I9; Jdc II,23 f etc).
Das Land gehört JHWH, es ist sein Eigentum und Erbland (Ex 15,17;
Ps 68,1o; 79,I; I Sam 26,19; Jer 2,7; I6,r8). 9 Deshalb verunreinigten die
Heiden das Land und mufuten vertrieben werden (Lev I8,24 ff; Dt
9,4 f etc). Auch die Israeliten verunreinigen das Land, wenn sie sündigen
(Lev 18,26ff; Num 35,33f; Dt 21,23; Jer 3,2.9; 2,7; 16,18; Ps 1o6,38),
und das Land mufu die Sünder ausspeien (Lev 18,28; 20,22). Kanaan ist
ein reines Land, das "heilige Land" (Ps 78,54; Zach 2,I6 vgl Ex 15,16 f).
Heilig ist es, weil es JHWH gehört, er ist der Spender des Segens, deshalb
sind auch die Ackerfeste Feste JHWH's. Doch ist im AT von der Heilig·
keit des Landes wenig die Rede. Auch die heiligen Stellen sind nicht an
sich heilig, sondern sind ErscheinungssteHen JHWH's.
Die Verbindung von Land und Volk wird nicht mytisch-naturhaft,
sondern geschichtlich verstanden. Der Besitz des Kulturlandes steht im
Mittelpunkt der Geschichtsbetrachtung. 10 Neben dem Auszug aus Ägypten
ist der Einzug in Kanaan das wichtigste Ereignis in der nationalen Heils·
geschichte (z. B. Dt 7,17 ff; 8,7 ff; 26,5-9; 32,48 ff; I Sam 12,8; Am 2,1o;
]er 2,7; 3,19; 32,21 ff; Ps 44,I ff; 136,21 f etc). Die Geschichtsschreiber
haben ihre Werke mit der Landnahme abgeschlossen (P., auch ]. und E.?).U
Aber es geht eben um die Geschichte. Israel kennt Geographie nur in
Form der Geschichtsschreibung, während in Griechenland die Historie
(Herodot) aus der Natur· und Erdkunde (die jonische Historie) entstand.
Das Land ist nicht naturhaft mit dem Volke verbunden, sondern ist
eine Gabe JHWH's (Lev 25,38; Num 15,2; Dt 1,21.25; 3,18; Jos I,2 I I
etc etc). Immer stärker wird betont, dafu Israel das Land nicht aus eigener
Kraft eroberte, sondern dafu JHWH die Feinde vor Israel wegtrieb (z. B.
Dt 3,22; 4,37 f; 7,16 ff; 8,q f). Es ist die Geschichte, die den Anspruch
Israels auf das Land begründet, es ist das Land der Väter (Gen 31,3;
48,21). Und das Entscheidende ist dabei der Eid JHWH's an die Väter,
der ihnen das Land eidlich versprach (Gen I2,7; 13,15 ff; 50,24; Ex I3,5;
Num II,I2; I4,16.23; Dt I,8; 6,10.18.23 etc etc).
19
Der Boden ist Israel durch das Wort JHWH's zu eigen gegeben. So
ist Israel an Kanaan gebunden, und das Heil ist durchaus diesseitig. Aber
diese Bindung ist jedoch nicht eine letzte. Es ist das Wort JHWH's, das
beide verbunden hat. JHWH hat seine ganze Kraft daran gesetzt, dem
Volke dieses Land zu geben. Wenn aber Israel den Bund bricht, kann
JHWH gerade um seiner Ehre willen das Land zerstören (Hes 33,24 ff).
JHWH war der Wüstengott vom Sinai, der Führer seines Volkes.
Deshalb konnte er nicht wie ein gewöhnlicher Baal an den Boden gebunden
seinY Und Israel war schon vor der Landnahme das Volk JHWH's ge-
wesen, deshalb wurde der Boden nie für das Volk von konstitutiver Be-
deutung. Das in der Wüste wandernde Volk blieb das vorbildliche Urisrael
(Hosea!). Auch die Patriarchen, die Prototypen des Volkes, werden nicht
als Bodenbesitzer, sondern als gerz~m geschildert (Gen q,8; 23.4; 28,4;
47,9 etc). Die besondere Verbundenheit der Leviten mit JHWH zeigt sich
darin, dafu sie "im Lande keinen Erbbesitz haben, denn JHWH ist ihr
Erbbesitz" (Dt 10,9; 12,12; Num 18,2o; Jos 13,14.33). "Sie sind geradezu
der vollendetste Typus des "Gaststammes" innerhalb der israelitischen
Gemeinschaft" Y Dafu Israel kein erdverbundenes Ackervolk werden darf,
ist die Meinung der Rechabiten, die als besondere JHWH-Eiferer an dem
Leben und den Sitten der Wüstenzeit festhielten und in dem Lande nur als
Fremdlinge leben wollten (]er 35; 2 Reg 10,15 ff). Diese Reaktion blieb
vereinzelt. Aber die Auffassung, dafu die Israeliten eigentlich geri'"m, Gäste
oder Fremdlinge, im Lande seien, gewinnt auch sonst eine prinzipielle
Bedeutung. Das Land gehört JHWH, und die Israeliten leben als "Gäste"
in seinem Erbbesitz (Lev 25,23; I Chron 29,14f; Ps39,13; II9,19).
Die soziologische Grundlage dieser Anschauungen hat MAx WEBER klar-
gelegt, gerade die jahwistischen Kreise im Volke lebten als halbnomadische
Kleinviehzüchter. 14 Vielleicht werden auch mit dem Namen Hebräer ursprüng-
lich solche halbnomadische, nicht sefuhafte Leute bezeichnet. 15 Fast nie hatte
Israel das Land Kanaan in ruhigem, dauerndem Besitz, es wurde fast immer
von mächtigeren Feinden unterdrückt oder bekämpft. Das ruhige Leben im
Lande war oft mehr Wunsch als Wirklichkeit. Um so fester muflte sich
das Volk an die Verheifuungen halten. Und als das Land wieder unter
fremde Oberherren kam, wurde das Bewufltsein des Gastseins im Lande
wieder gestärkt. Für die Folgezeit war es aber von gröflter Bedeutung,
daf3 der Begriff Israel niemals an das Land unlösbar gebunden wurde, und
daß das Volk wufute, seine eigene Existenz nicht aus dem "Boden", sondern
aus dem geschichtlichen Handeln JHWH's erhalten zu haben. Den Anspruch,
"das Israel Gottes" zu sein, konnte die Judenschaft, das Gastvolk in allen
Ländern, erheben, und später konnte die christliche Kirche in allen Völkern
und Ländern diesen Anspruch aufnehmen. Das Land aber wird Kanaan
und Palästina (= Philistäa) genannt. Das Verhältnis von Volk und Land
ist a_lso eigentümlich doppeldeutig. Ähnlich ist auch die Relation zwischen
Volk und Staat.
20
auszeichnet, ist, daß er der Auserwählte JHWH's ist (Ps 78,70; 8g,4.20;
I Sam Io,24; r Reg 8,I6; Dt q,IS etc)/3 und daß JHWH ihn liebt
(2 Sam I2,24; Neh I3,26)24 und an ihm Gefallen hat (Ps I8,2o; 2 Sam I5,26;
I Reg Io,g). 25 Der König ist in besonderer Weise Knecht JHWH's (2 Sam
3,I8; 7,26; I Reg 8,24.28.66 etc) und kann JHWH seinen Gott, Vater,
Schild und Burg nennen (Ps 89,27; 28, I; I 8,3). 26 JHWH heißt der "Gott
Davids", während er sonst selten Gott einzelner Menschen genannt wird
(2 Reg 2o,s; I Chron rr,2; I21 I8 etc). 27
So ist der König Vertreter Gottes, durch ihn herrscht JHWH über
sein Volk. Er ist "eine wirkliche Heilstatsache", 28 seine Gegenwart ist die
Grundlage des Gedeihens und der nationalen Sicherheit. Er lebt in inniger
Gemeinschaft mit JHWH, und durch ihn lebt auch das Volk in dieser
Gemeinschaft. Er ist wirklich ein Mittler zwischen Gott und dem Volke,
durch die Erwählung des Königs ist das Volk erwählt (vgl I Reg Io,g). 29
Er ist zugleich der Vertreter des Volkes vor Gott. Jeder Israelit steht
JHWH gegenüber als Vertreter des Gottesvolkes und Träger seiner Art,
der König tut es aber in besonderem Sinne.
Die vom Gotteskönig verwendete Terminologie entspricht genau der
vom Gottesvolke üblichen. In besonderer israelitischer Ausprägung finden
wir im AT starke Ausdrücke für den Glauben, daß der König die Ver·
körperung des Volkes ist, der alle Kräfte des Volkstums in sich zusammen·
fafut. Er ist Lebenshauch und Schild (Threni 4,20; Ps 8g, rg), die Leuchte
Israels (2 Sam 2I,q). Die Sache des Volkes ist die Sache des Königs,
sein Wohlergehen ist das Glück des Volkes (Ps 28; 63,I2; 66; rr8;
I Reg 8,3o.sg). Die Sünde des Königs ist die Sünde des Volkes und um-
gekehrt (2 Sam 24; I Reg g,I-g etc).
Diese Identität zeigt sich im Kultus, wo der König der Repräsentant
des Volkes ist {Ps 2; IIo; II8; I Reg 8). 30 Sie zeigt sich auch im Kriege,
wo Sieg oder Niederlage des Volkes und des Königs dieselbe Sache ist
(Ps I8; 2o; 28 etcl. Auch im Rechtsleben zeigt sie sich, denn der König
muß gerecht sein und in dem Volke das Recht walten lassen (vgl z. B.
2 Sam 8,Is; I4,I ff; IS,I ff; I2,I ff; I Reg g,s ff; 3,8 ff). Davon ist der
Segen JHWH's über das Volk abhängig {Ps r8,2r ff; 45,7-8; 72; roi;
Dt q,r8-2o etc). Das deuteronomistische Geschichtswerk macht dies an-
schaulich. Das Volk wird zu jeder Zeit nach den Königen beurteilt, und
von ihrer Art hängt das Glück oder Unglück für das Volk ab.
Die Beurteilung der Könige durch die Deuteronomisten weicht von der
Glorifizierung der Königspsalmen stark ab. Es findet sich aber eine noch
stärkere antikönigliche Stimmung, welche das Königtum überhaupt als heid-
nisches Wesen verurteilt. In Israel sollte JHWH der einzige König sein
(I Sam 8; ]dc 8,22 f; 9,7 ff; vgl auch Dt I7 und Hosea). In der Tat zeigte
es sich ja schon zur Zeit Salomos, daß das mächtige Königtum eine starke
Verweltlichung mit sich brachte. Für die spätere Zeit, die dies vergessen
hatte, erschien allerdings im allgemeinen die davidisch-salomonische Ära als
22
eine Idealzeit, und die Kritik richtete sich gegen die Könige der Gegenwart,
die von dem grofuen Vorbild Davids abgefallen waren.
Das Nordreich brach allerdings mit dem Hause Davids. Dort wirkte
das Königtum nicht so wie in Juda zur Stärkung des nationalen Selbst-
bewufutseins und das Volk ging mit dem Staat zugrunde. In Juda, wo
der Staat wieder "Nationalstaat" wurde, waren die Traditionen des davidisch-
salomonischen Reiches Jebendig. 31 Dieses Reich und der König David selbst
erschien der Nachwelt in einem stets verklärteren Lichte (I Reg s,I-I4;
Io,23 ff; I Chron I I -29). Die späteren Könige in Juda sind eben Nach-
kommen Davids, und das ist das eigentlich Königliche an ihnen. Die Königs-
psalmen rühmen nicht die einzelnen Könige, sondern den davidischen König.
Und je weniger die Wirklichkeit der Theorie entsprach, um so gröfuere
Bedeutung gewann für den Glauben David und das Wort JHWH's an ihn
(Ps 89,3 ff; I32; I Reg II,I2 f. 32-36; IS,4 f; 2 Reg 8,I9; I],2I f; I9,34;
20,6 etc). Die Hoflnung Judas knüpfte sich an die Verheifuung an David,
dafu Könige aus seinem Samen für immer über Israel regieren sollten
(2 Sam 7; 23; I Reg 8,IS f. 23 ff; I Chron I7 1 II ff; 22,ro; 28,2 ff etc).
Diese Hoffnung auf einen gesalbten König aus dem Hause Davids hielt
unter den Judäern das Israelbewufutsein lebendig auch nach dem Untergang
des Staates (vgl 2 Reg 25,27-30).
David steht für die spätere Zeit als der typische Israelit, als frommer
Psalmendichter und Kultgründer, sowie als nationaler König. Israelitisches
Leben im vollen Sinne gibt es nur unter einem König vom Hause Davids
und nach der Art Davids. Das chronistische Geschichtswerk läfut die
Geschichte des Nordreiches einfach aus. Sie gehört nicht zur Geschichte
Israels. Weil die Söhne Davids über Juda regierten, ist nur Juda Israel;
das Volk Gottes (vgl 2 Chron II,3; I2,I; I3,4 ff; 20,29; 21,2; 24,s.r6';
28, 19.23). 32 Für den Chronisten ist das wahre Israel das Volk unter dem
gesalbten König aus dem Hause Davids. Zu seiner Zeit regiert kein
Davide mehr. Das beifit aber, dafu das wahre Israel für ihn einerseits der
vergangenen Königszeit angehörte, andererseits das Reich des kommenden
Messias ist !33
vgl Jer 2,3). Das Volk ist zum Haupt und nicht zum Schwanz bestimmt
(Dt 28,1.13; 26,19).
In Übereinstimmung mit der ganzen Richtung des atl. Denkens wird
diese zentrale Bedeutung Israels wesentlich geschichtlich verstanden. Die
israelitische Geschichte ist die Mitte der Weltgeschichte. Für die Propheten
ist Entstehung und Zerfall, Sieg und Niederlage der Weltreiche immer ein
Glied im Plane JHWH's mit seinem Volke Israel. Schon der Jahwist hat
die Darstellung der Geschichte Israels mit einem Schöpfungsbericht ein·
geleitet, und für die Psalmen gehört die Schöpfung der Welt und die Er-
lösung Israels aus Ägypten unlösbar zusammen. Beides zusammen wird
als Sieg JHWH's über den Urdrachen geschaut (vgl Ps 74,13 ff; 93; 95;
114; 135; Ex 15 etc; Ps 87,4; 89,II; Jes 51,9 f). 46 Die Schöpfung der
Welt hat für das AT kaum eine selbständige theologische Bedeutung,
sondern ist der Anfang der HeilsgeschichteY Der Gott, der Israel aus
Ägypten erlöstel war kein anderer als der Weltschöpfer und zeigte sich
damals wiederum als der Schöpfer. Das Gottesvolk ist durchaus mit der
natürlichen Welt der Schöpfung verbunden, aber so, dafl Israel Sinn und
Ziel der Schöpfung und Mitte der Welt ist.
In der Priesterschrift kommt diese Auffassung in monumentaler Schau
zum Ausdruck.4 8 Drei grofle konzentrische Kreise sind gezogen. Zuerst
der Weltkreis, die geschaffene Menschheit; dann der noachitische Kreis,
durch die Gebote Gottes an Noah bestimmt; zuletzt der Abraham-Kreis,
durch Beschneidung und Gesetzt bestimmt. Das Zentrum, von dem aus
alles gesehen wird, ist die Kapporäth des Allerheiligsten. 49 Dieses Geschichts-
bild entspricht genau dem Weltbild. Während aber das Weltbild von auf3en
übernommen wurde und ihm im AT keine entscheidende Bedeutung zu-
gemessen wird, ist das Geschichtsbild der charakteristische Ausdruck für
das Selbstbewuf3tsein Israels.
Diese Selbsteinschätzung stand in einem krassen Widerspruch zur vor-
handenen Wirklichkeit. So finden wir im AT auch andersartige Aussagen;
Israel ist ein Volk der Geringen, Armen und Demütigen (Ps 12,6; 74,21.19
etc), 50 es ist das kleinste Volk (Dt 7,7). Die Völker sind in sich grof3 und
stark, ihre Sache ist es, Rosse und Reiter zu haben. Die Stärke Israels
dagegen liegt allein bei JHWH, der den Schwachen und Demütigen bei-
steht und die Weltvölker zu schanden macht. Die zentrale Stellung Israels
in der Welt ist also nur dadurch gegeben, daf3 der Gott des Himmels und
der Erde der Gott Israels hat sein wollen.
Bei der Begegnung mit den anderen Völkern und Staaten nimmt das
israelitische Selbstbewuf3tsein die Form des Erwählungsglaubens an ; 51 aus
allen Völkern hat JHWH das eine, Israel, für sich erwählt, während er
die anderen Völker seinen Engeln überlassen hat (Dt 32,8 f LXX; 4,rg;
Ps 8g,6 ff; 58; 82; Jes 24,21). 52 Ein gewisser Universalismus ist die Vor-
aussetzung des Erwählungsglaubens. Das Verhältnis JHWH's zu Israel und
zu den übrigen Völkern ist ein Problem geworden, und der Erwählungs-
gedanke ist die Antwort auf die Frage, weshalb gerade Israel das Volk
JHWH's ist, wenn doch Himmel und Erde und alle Völker ihm gehören,
und er sie nach seinem Willen lenkt. Die Erwählung Israels bedeutet auch
keinen Verzicht JHWH's auf die übrigen Völker; gerade durch die Er-
wählung Israels macht er seinen Herrschaftsanspruch auf die ganze Welt
geltend. Andererseits hat der israelitische "Universalismus" fast immer die
Voraussetzung, daf3 Israel das Zentrum des Universums ist. Gerade die
Psalmen, welche die Weltherrschaft JHWH's preisen, sind Ausdruck eines
durchaus national bestimmten Glaubens (Ps 46; 47; g6; 97; g8; 100 etc). 53
Und der grof3e "Universal ist", Deutero-Jesaja, ist zugleich der Klassiker
des Erwählungsglaubens. Gerade die Zeit, für die es klarer geworden war,
daf3 JHWH nicht nur Gott des Volkes, sondern Gott der Welt war, forderte
von dem Volke JHWH's, daf3 es als heiliges Volk von den übrigen, götzen-
verehrenden Völkern gesondert leben sollte (Deuteronomium, Heiligkeits-
gesetz, Priesterschrift).
Die Kehrseite des Erwählungsbewuf3tseins ist also, daf3 eine selb-
ständige Existenz der anderen Völker nicht geduldet werden kann. Die
alte, unmittelbare Abwehr alles Fremden wird bewuf3te Absonderung und
oft Fremdenhaf3. 54 So fordert Deuteronomium die Ausrottung der alten
Einwohner Kanaans {z. B. 7, r ff. r6 ff). Für viele Psalmen gehören die
anderen Völker zu den Chaosmächten am Rande der Erde, welche sich
gegen JHWH erheben, aber von ihm vernichtet werden (Ps 65,9; 2; 46;
48; 76; 83 etc; vgl Joel 4; Zach 12; 14; Hes 38 f etc). 55 Nach anderen
Stellen kommen die Völker günstiger weg. Sie sind in der Weltgeschichte
oft hauptsächlich Zuschauer des Handeins Gottes mit seinem Volke (Ex
IS,I4 f; Dt 2,25; Jos 2,9 ff; 4,24 etc; I Reg 8,6o; andererseits r Reg
9,7 ff; Dt 28,37; 29,23-27 etc). Die Völker haben die Aufgabe, JHWH
für seine Grofutaten an Israel zu loben (Ps 66; 67; 96; I I7; vgl Hes 36,36;
39,2I). Ausgesprochen ist an einigen Stellen schliefulich auch die Hoffnung,
dafu sie nach Zion kommen werden, um JHWH dort anzubeten, dann
werden sie auch ihr eigenes Leben erhalten (Ps 22,28; 72, II; 86,9; 102,23;
I Reg 8,4I ff; Jes 2,I ff; II,Io; 49,6 f; ss.s; Jer I6,I9 ff etc). Zwischen
diesen Anschauungen bestehen grofue Unterschiede, die gemeinsame Grund-
überzeugung ist aber, dafu Israel als erwähltes Volk JHWH's das Hauptvolk
der Welt und der Weltgeschichte ist, und dafu die übrigen Völker JHWH
und Israel untergeordnet sind und sein werden. 56 Diese zentrale Stellung
hat Israel, weil an dieses Volk allein das Wort Gottes ergangen ist.
Israels und an die besondere Bedeutung des Volkes für JHWH (Am 6,1 f;
9,7; Hos 8,2). Das "heilige Volk" ist ein sundiges, widerspenstiges Volk
(Jes I,Io; 6,s; ro,6; 30,I.9i ]er 2i s,2o; Hes 2,s.8; 3,7 etc). Das
rechte Verhalten des Volkes hatte Sündenbekenntnis und Umkehr sein
müssen, nicht Vertrauen auf die eignen Privilegien.
Die Propheten verkünden das "Nein" Gottes zu Israel und seiner
Religion. Ihre Botschaft bedeutet die tiefgreifendste Infragestellung des
israelitischen Volkes. Sie verkünden nicht eine neue Lehre über Gott und
Volk, sondern die über das Volk hereinbrechende Gotteswirklichkeit, 8 die
schon in ihren Worten gegenwärtig ist und sich zum Unheil des Volkes
auswirkt. Aber dieses "Nein" zu dem erwählten Volke ist doch das "Ja"
Gottes zur Erwählung. Was kommt, ist nicht irgend eine Katastrophe, und
JHWH steht dem Volke nicht gleichgültig gegenüber. Es ist JHWH selbst,
der Gott Israels, der zum Gericht über sein Volk kommt, und Israel muß
sich aufmachen, um seinem Gott zu begegnen (Am 4,I2i vgl s,I7i 6,Io).
Durch das Gerichtswort der Propheten wird Israel dem richtenden Gott
persönlich gegenübergestellt, gerade darin zeigt sich die letzte Verbunden·
heit von Gott und Volk und die letzte Gnade JHWH's. Das Volk, das
unter die Gerichtsworte JHWH's gestellt ist, gehört doch JHWH.
Gott läßt das Volk wissen, was kommen muß. Das eröffnet aber die
Möglichkeit, daß das Volk noch hören und gehorchen kann. Die Gerichts-
verkündigung wirkt zwar Verstockung des Volkes (]es 6,9 f), ist aber doch
zugleich ein Ruf zur Umkehr, ob das ausdrücklich gesagt wird oder nicht
(vgl Am 5,4 ff.14 f). 9 Die hereinbrechende Gotteswirklichkeit und ihre Vor-
wirkung in dem Gotteswort der Propheten stellt Israel in eine letzte Ent-
scheidung. Die Existenz Israels ist also für die Propheten nicht so sehr
durch die Vergangenheit als durch die Zukunft bestimmt, und zwar derart,
daß sie von der Entscheidung gegenüber dem zum Gericht kommenden
Gott abhängt.
Diese Entscheidung des Volkes muß sich aber in der Entscheidung
seiner Glieder vollziehen (vgl bes Hes 18; 33, 10-20). Mit dieser Möglich-
keit scheinen Amos und Hosea noch nicht zu rechnen, für sie bildet das
Volk zu sehr eine Einheit. 10 Schon in der Elias-Erzählung ist aber eine
solche Scheidung vorausgenommen (1 Reg 19,r8). Und bei Jesaja steht
der Gedanke an den sich bekehrenden Rest schon seit dem Anfang seiner
prophetischen Tätigkeit fest (S'' ar jasul! 7,3). 11 Die Voraussetzung dieses
Gedankens ist, daß das Volk in seiner,Ganzheit nicht mehr als Volk JHWH's
ebt, und daß auch die Umkehr des ganzen Volkes nicht mehr möglich ist.
Was das ganze Volk hätte tun sollen, wird aber der Rest tun. So ist also
der Restgedanke die Heilsbotschaft in der Unheilsverkündigung.
Die Menge des Volkes muß untergehen, ein Rest wird sich aber
bekehren und wird zu den alten idealen Zuständen zurückgeführt werden
(vgl noch Jes ro,2o f)Y Der Rest wird das sein, was ganz Israel hätte
sein sollen, ist also das "wahre Israel" _13 Das Entscheidende ist dabei, daß
33
nur bei dem Rest der Glaube zu finden ist, und der Glaube ist nach
Jesaja für Israel "die einzig mögliche Existenzform"Y Das Volk als Ganz·
heit sucht eine menschliche Sicherung der eignen Existenz, nur der Rest
verzichtet darauf, vertraut allein auf JHWH und gibt ihm die ihm ge·
bührende Ehre (Jes 7,9; 28,r6 f; 8,r6-r8). 15 So lebt der Rest "sola fide"
und zugleich "sola gratia ", indem er auf eigene Aktivität verzichtet und
JHWH alles tun läfut. Auch die Bekehrung und der Glaube des Restes
ist nicht menschliche Leistung, sondern göttliche Setzung (]es r,8 f; 28,16). 16
JHWH selbst erwählt den Rest und führt auf diese Weise seine Erwählung
israels an diesem Rest zum Ziel.
So ist es die innere Art, die den Rest charakterisiert, Bekehrung,
Glaube, göttliche Setzung. Die Quantität dagegen ist im Begriff nicht
entscheidend.U Der Rest ist keine vorhandene Gemeinde der Gegenwart.
Keiner der Propheten hat daran gedacht, eine solche zu stiften. 18 Er wird
erst dann sichtbar werden, wenn JHWH handelt und das übrige Volk
vernichtet. Und doch ist der Rest keine ideale oder rein zukünftige Größe,
sondern wer den Glauben hat, ist schon in der Gegenwart als Glied des
kommenden Restes b.ezeichnet. Die Hoffnung Jesajas war vielleicht ur-
sprünglich die, daß ganz Juda, jedenfalls Jerusalem "Rest" sein sollte
(14,32), er hat aber nur einen Jüngerkreis zu sammeln vermocht (8,16-r8). 19
Dieser Kreis wird nicht mit dem Rest identifiziert, aber die Schar der
Glaubenden innerhalb des ungläubigen Israels ist ein "Zeichen" für die
Scheidung zwischen dem abgefallenen und dem wahren Israel, für das
Kommen des Gerichtes und die Rettung des Restes. (8,r6~ r8). Zu dieser
Schar gehört, wer dem Worte des Propheten· Glauben geschenkt hat. Von
der Entscheidung des Einzelnen für oder wider seine Botschaft hängt die
Zugehörigkeit zum Rest ab, und wer zu diesem Gottesvolk der Zukunft
gehören will, muß sich von dem sündigen Wesen des gegenwärtigen
Volkes lossagen.
Jesaja erhofft für den Rest nur ein bescheidenes Dasein in aller Ein·
fachheit (vgl noch Zeph 3,11-13). Es lag aber doch in dem Begriff, daß
Gott noch an der Erwählung Israels festhielt und aus dem sündigen und
bedrückten Volk der Gegenwart ein neues Volk in Gerechtigkeit und Frieden
schaffen wollte. In dieser Richtung ist der Begriff von den Nachfolgern
Jesajas ausgebildet worden. 20 An den Rest konnten sich alle Hoffnungen
Israels knüpfen. So ist der Begriff ein fester Terminus der Heilseschatologie
geworden (Jes 4,2 ff; u,r r f.16; 28,5 f; 37,31 f; Mich 2,12 f; 4,6 f;
5,6 f; Zeph 2,7.9 etc).
In dieser Weise entstand eine Scheidung zwischen "Israel" und "Israel",
die für die Folgezeit von gröfuter Bedeutung wurde. Die paulinische Unter·
Scheidung zwischen 'Jcrpoc~A XOC'"t"Ot crocpxoc und 'lcrpoc~A XIX'"t"Ot me:up.oc darf man
allerdings nicht auf die Propheten zurückdatieren. 21 Der Rest ist nur inner·
halb des Israels "nach dem Fleisch" zu suchen, er ist mit Jerusalem und
dem Tempel unlösbar verbunden. Auch ist dieser Rest keine selbständige
34
deportiert, und in der Folgezeit lebte nur eine Minderheit im alten Lande.
Mit der Zeit entstand das jüdische Diasporavolk. Das Land Juda selbst
wurde babylonische und später persische Provinz. Sogar die hebräische
Sprache wurde nicht mehr allgemein gesprochen. Die alten sozialen Ein-
heiten der Sippen wurden vollends aufgelöst, das Gefühl der Zusammen-
gehörigkeit des ganzen Volkes lockerte sich (Hes 18), der Einzelne war
fortan mit seiner Familie verselbständigt. 25
Die Klagelieder geben der Stimmung dieser Zeit Ausdruck. Und auch
sonst sehen wir, wie die Katastrophe als Ende der Existenz des Volkes
JHWH's empfunden wurde. JHWH hatte das Volk verworfen (Jes 63,19;
Dt 32,19 f; Zach 10,6) und das Land verlassen (Hes 8,12 f; 9,9; vgl 10,18 f;
1 1,22-25). Die Geschichte Israels ist hiermit zu Ende (Königsbücher).
Von Israel kann nicht mehr als von einem göj gesprochen werden, denn
es fehlt alles, was zu einer Nation gehört; go}tm sind jetzt nur die fremden
Nationen. 26 Aber auch das Wort fam tritt zurück und wird, besonders von
der Priesterschrift, mit iet}a ersetzt. 27 Sogar das Wort ]isra'el verschwindet
fast aus dem alltäglichen und politischen Sprachgebrauch. 28 Lehrreich ist
besonders der Sprachgebrauch des Jeremiabuches. Während Jeremia vor
597 jisra'el gebraucht, redet er von dem späteren Rumpfstaat nur als von
Juda und Jerusalem. 29 Und sein "Biograph" Baruch verwendet den Namen
jisra'el als Bezeichnung des Volkes fast garnicht, 30 dafür findet bei ihm
der Name ]"hitt}tm zum ersten Mal eine umfassende Verwendung (Jer 32,12;
34,9; 38,19; 40,II.r2; 41,3; 43,9; 44,1). Das Wort "Judäer" (2 Reg r6,6)
wird jetzt die gewöhnliche Bezeichnung der über die Welt zerstreuten "Juden"
(Jer 52,28.30; Esr 6,7.14; Nehemia-Memoiren; Esther etc).
Und doch ist das Israelbewußtsein nicht untergegangen, sondern diese
Juden in Babylonien, Judäa und sonst überall haben den Anspruch er-
hoben, daß jetzt sie "Israel" wären. Dieser Name war jetzt aber nicht
mehr Ausdruck einer gegebenen Tatsache, sondern enthielt ein religiöses
BekenntnisY Dies war allerdings nicht etwas ganz neues. Ein religiöses
Moment lag in dem Namen von Anfang an und trat bei dem Gebrauch
des Wortes zur Bezeichnung des Reiches Juda deutlich hervor. Jetzt kam
aber in den Begriff auch ein Moment persönlicher Entscheidung der Ein-
zelnen hinein: Israelit war, wer zu Israel gehören wollte. Die Gemeinschaft
nach innen und die Abgrenzung nach außen wurde eine freiwillige Sache.
So entstand das jüdische "Pariavolk" 32 als Träger des Namens Israels.
Vorbereitet war diese Entwicklung durch die Volk·Gottes Theologie, welche
die gegebenen sozialen Einheiten beiseite geschoben und den Einzelnen
unmittelbar als Glied der idealen Größe des Gottesvolkes gesehen hatte. Vor-
bereitet war sie auch durch die Loslösung des Gotteswillens von dem nationalen
Volksleben und die Forderung persönlicher Entscheidung durch die Ver-
kündigung der Propheten. Indem sie auf das Alte zurückgriffen, haben die
Geschichts- und die Gesetzesschreiber und die Propheten je in ihrer Weise
das Neue vorbereitet. 33
"Israel" hat die Krise überleben können, weil JHWH nicht ein ge-
wöhnlicher semitischer Vo1ksgott, sondern der freie Gott der Propheten
war, der selbst sein Volk vernichten konnte, um es zu seiner Zeit wieder
entstehen zu lassen. Der Gott Israels ist für die Folgezeit der einzige
Gott, 34 und Israel ist nicht eine Nation wie die anderen, sondern die
Gemeinde Gottes. So ist es die Verehrung des alleinigen Gottes, die die
Juden allenthalben vereinigt und zu "Israel" macht. Nach dem Untergang
der Nation entsteht das Judentum als religiöse Gemeinschaft, so wie vor
der Entstehung der Nation der religiöse Stammesbund gestanden hatte.
Schon vor Landnahme, Staatenbildung und Tempelbau war Israel das Volk
JHWH's gewesen, so konnte es auch jetzt ohne Land, König und Tempel
Volk JHWH's bleiben. 35 Die jüdische Gemeinschaft ist keine Nation mehr,
aber sie wird auch nicht zur Kirche, denn sie ist Trägerin aller nationalen
Traditionen und Hoffnungen. Israel wird jetzt erst recht eine Gröfue sui
generis, sowohl Volk als religiöse Gemeinde. 36 Der Israel-Gedanke ist also
von den Juden festgehalten worden, wenn auch in neuer Ausprägung.
Wichtig war dabei vor allem eine neue Deutung der alten Geschichte, die
Ausbildung der Eschatologie und die neue Ausformung des Gesetzes, von
Bedeutung aber auch die Reorganisierung einer jüdischen Gemeinde in
Jerusalem.
D. Die neue Deutung der Geschichte.
Dafu der Untergang des Staates als Ende der nationalen ·Geschichte
empfunden wurde, zeigt sich besonders deutlich darin, dafu von der Folge-
zeit nur ganz gelegentlich geschichtliche Traditionen bewahrt wurdeh. Deshalb
ist ja auch unser Wissen von der Geschichte des Judentums so gering.
Um so eifriger hat man aber die alten Traditionen gepflegt. Gerade· zu
dieser Zeit sind sie ja auch zu dem grofuen Geschichtswerk vereinigt worden,
das wir als Kern der Bücher von Genesis bis 2. Buch der Könige noch
immer vor uns haben. Durch diese Hinwendung zur nationalen Geschichte
ist das israelitische Nationalbewufutsein erhalten geblieben.
Das deuteronomistische Geschichtswerk ist aber nicht nur eine Zu-
sammenfassung der alten Überlieferungen, sondern zugleich eine neue Deutung
der Geschichte, die schon vor dem Exil vorbereitet war, und jetzt ihre
systematisierte Durchführung bekamY Die ganze Geschichte wird von dem
Vergeltungsdogma aus verstanden. Das grofue nationale Unglück und die
vielen früheren Kalamitäten wurden als Strafe JHWH's wegen der Sünden
des Volkes gedeutet. Die Geschichte wurde von dem Gesetz aus be-
trachtet; und mit den idealen Mafustäben des Deuteronomiums gemessen,
erschien die Volksgeschichte als Volkssünde und Gottesgericht. Die Geschichte
der Könige von Israel und Juda war e~ne nur an wenigen Stellen durch-
brochene Reihe von Sünden und Übeltaten.
So hatten es ja in ihrer Weise schon die Propheten gesehen (vgl
Hos 10,9; r2,3 ff; 9,7-ro; Am 4,6 ff; Jer r,r6; 2; 3,22; 4 1 14.18.22
DAS VOLK GOTTES 37
So soll die Endzeit des Volkes gleich der Urzeit werden, wenn auch
die Endzeit noch herrlicher werden wird: "Fürwahr, es kommt die Zeit,
ist der Spruch JHWH's, da wird man nicht mehr sagen: So wahr JHWH
lebt, der die Israeliten aus Ägypten geführt hat! sondern: So wahr JHWH
lebt, der die Angehörigen des Hauses Israel aus dem Nordland und aus
allen Ländern, wohin er sie verstof3en hatte, hergeführt hat, daf3 sie wieder
auf ihrem Boden wohnten!" (Jer 23,7 f= r6,14 f). Die Parallelität be'ider
Erlösungen wird weitgehend durchgeführt. Wie in Ägypten ist Israel unter-
drückt und in Not (Jes 52,4 f; 10,24). Auf die Verstockung Pharaos wird
vielleicht in Hes 38; Joe! 4 angespielt. 46 Wie damals soll aber auch jetzt
das Volk die Wunder JHWH's sehen (Mich 7,rs). Die ägyptischen Plagen
werden nochmals die Feinde Israels treffen (Hes 38,22; Joel r; 3,3;
Zach 14,12 ff; Jes 19,5 ff). Mit "starker Hand und ausgestrecktem Arm"
(Hes 20,33·34i vgl Jes sz,ro; 40,ro; II,II) wird JHWH wieder ein-
greifen, er wird selbst vorangehen und das Volk führen (]es 52,12;
Mich 2,13), und Israel soll einen neuen Exodus 47 erleben (Jes 48,20)
und wird wie am Schilfmeere wunderbar gerettet werden (]es rr,rs f;
42,I5i 43,I6ff; 44,27; so,z; sr,9 f; Zach ro,ro n. Die Feinde werden
wie die Ägypter umkommen (Jes 43,16 f; 10,24-26), JHWH wird noch-
mals Rahab besiegen (]es sr,9fi q,r2--14i 27,1i Hab 3,8ff). Israel wird
ein neues Siegeslied anstimmen (]es 42,ro; 12,5 vgl Ex 15,r), während
die Völker wie damals als Zuschauer dabeistehen (Mich 7,16; Res 37,28;
38,27 f; vgl Ex 15,14 ff). Es folgt ein neuer Wüstenzug (aus Babel! Jes 40,3;
+3,19; 49,11), wo das Wasser wieder in wunderbarer Weise hervorquellen
wird (]es 48,21; 41,18 f; 43,19; 49,ro; 35,6 f).
Wie am Sinai wird sich JHWH offenbaren, bei dem Volke gegen-
wärtig sein (]es 4,5; Zach 2,9) und die Völker zum Entsetzen bringen
(]es 30,30 f; Mich 1,2-4; Zeph r,r8 etc). Wie in der ägyptischen Wüste
wird er mit Israel rechten ·(Hes 20,35 ff). So wird er auch an Stelle
des alten Bundes einen neuen Bund setzen, einen ewigen Friedensbund
(Hes 16,6off; ]er 32,40; Mal 3,1; Jes 59,2r; 6r,8 vgl 54,8-10). Der
neue Bund und das neue Gesetz soll aber anderer Art sein: "Vielmehr
darin soll der Bund bestehen - - : Ich lege mein Gesetz in ihr
Inneres und schreibe es ihnen ins Herz, und so soll ich ihr Gott sein, und
sie sollen mein Volk sein!" (]er 31,31-33). So wird die Endzeit eine
Rückkehr der Mosezeit sein, 48 Israel soll wieder Richter wie damals be-
kommen (]es 1,26 vgl Ex 18,13 ff). Hosea verkündigt, daf3 Israel in die
Wüste zurückkehren muf3, damit das Gottesverhältnis von damals wieder
hergestellt werde (2,16-19; 12,10).
Der beherrschende Gedanke ist aber, daf3 der neue Exodus und der
neue Bund auf eine neue Landnahme hinzielt. JHW~ ~ird nochmals aus
Edom kommen, um seinen Krieg zu führen (Jes 63,r-6; 59,15-2o; 9,3;
10,26). Alle aus (Israel und) Juda Weggeführten, später die ganze jüdische
Diaspora, werden wieder nach Kanaan gesammelt werden (z. B. Jes I I ,ro- r6;
I4 1 I f; 27 1 I2j 43,5; 56,8; jer I2,15j 23,8; 30,3.IOj 3I 1 7-J2j 32,37 j
33.7; Hes I I' I7; 20,41; 28,25 f; Zeph 3.19 f; Mich 2,12 f; 5,2; Zach 8,7 f;
10,8 ff). JHWH wird wiederum Juda (bzw. Israel) als sein Erbteil auf
dem heiligen Boden in Besitz nehmen und das Volk dort wohnen lassen
(Zach 2,r6; vgl Jes 62,4; Am 9,15; Hes 20,42; 34,I4). Die Grenzen des
Landes werden genau festgestellt, es soll wiederum den Stämmen Israels
zugeteilt werden (Hes 47,r3-48,29). "Das Land zu erben" ist das Los
der Erlösten (]es 65,9; 6o,21; vgl Ps 25,13; 3719.11). Die Hoffnung auf
das Land schließt ja die Hoffnung auf ein friedliches und gesegnetes Leben
im Lande in sich; Israel soll die Fruchtbarkeit des Landes ungestört genießen
(vgl z. B. Am 9,1 r-r5; Hos 2,2o; joel2,r8-27; 4,18; Zach 8,11 f; Jes 2,4;
30,19-26; 6o,q ff; Jer 31,I2-q; Hes 36,9-- 15.29-38). So wird
das neue Israel das werden, was das alte hätte sein sollen. Die Israeliten
werden lange leben und einen großen Nachwuchs haben (Zach 8,4 f;
Hos 2,r; Jes 65,20; ]er 23,3; 30,19).
Die Hoffnung gilt zunächst der Zukunft Judas (so Jesaja, Dt· Jesaja;
Je.; 24-27; Joel 3-4 etc). Die Hoffnung, dafu das kommende End-Israel
das wiederhergestellte Ur-Israel sein soll, kann aber auch in der Hoffnung
auf die Wiederherstellung des alten Zwölfstämmevolkes Ausdruck finden
(]er 31,1; Zach 9,I; Hes 48; vgl auch die Priesterschrift). Daneben gibt
es aber noch einen dritten Typus der Hoffnung: das davidische Doppelreich
Israel-Juda soll wieder aufgerichtet werden (Hes 37,15-28; vgl2o,4o; 34,23;
Jer 31,18 ff; 33,14-18; Jes 11,10 ff; Ob r8ff; Hos 2,2). 49 Nicht nur die
Mose-Zeit, sondern auch die David-Zeit galt ja als die ideale Zeit des
Volkes. Deswegen hofft man auf die Wiederkehr dieser Zeit (vgl Jes 55,3;
Am 9,11-15) und aufdie Erneuerung des davidischen Königtums, vielleicht
sogar auf die persönliche Wiederkunft Davids. 50
Die Stellung des Messias in der jüdischen Eschatologie ist eigentümlich.
Oft bleibt er unerwähnt, an anderen Stellen spielt er die Hauptrolle. Dies
wird aber verständlich, wenn man sieht, daß der Messias weniger der Heil-
bringer als das von JHWH gebrachte Heil ist. Wie der König das Volk
verkörpert, so verkörpert der Messias das messianische Volk, das neue Israel. 5 1
Sein Kommen ist das Zeichen dafür, dafu die Herrschaft der Heidenvölker
über Israel endlich zu Ende und die Heilszeit angebrochen ist (Jes 9,1-6;
Jer 30,8 f; Mich 4,8; 5,1-5). Daß ein davidischer König wieder zur Herr-
schaft kommt, garantiert, dafu das Heil der Davidszeit wiedergekommen ist
oder auch übertroffen wird (Hos 2,2; 3,4f; Jes 1r,ro; 33,17; Jer 33,14-26;
Hes 34,23 f; 37,22.24 f; Zach 12,8). Der messianische König bedeutet
Freiheit und Herrschaft Israels, gerechte Regierung und Friede (Jes 9,6;
11,1-9; r6,5; 32,1--5; ]er 23,5f=33,r4f; Zach 9,9f). So ist die
Messiaserwartung Zusammenfassung der ganzen Hoffnung Israels geworden;
als gesegnetes Volk Gottes soll es im eigenen Lande unter eigenem
König leben.
Ebenso kann sich aber die Hoffnung um Jerusalem und den Tempel
konzentrieren (Hes 40-42; Hag 2,6-9; Zach 1,16 f). 52 ·Neben der
nationalen Messiashoffnung hat diese Erwartung einen stärkeren religiösen
Charakter; doch können natürlich beide Gedanken kombiniert werden
(Zach 6,12 f; vgl Jes 28,16). Der zentrale Inhalt der Hoffnung ist, daf3
Gott wieder im Tempel wohnen und so in seinem Volke gegenwärtig sein
will (Hes 37,27; 43,1 ff; joel4,16f.2r; Zeph 3,17; Zach 2,14-17; 8,1-3).
Er wird Jerusalem wiederum erwählen (Zach 1,q; 2,16), die Stadt soll
wieder die heilige Stadt JHWH's sein (]es 6o,14; ]er 3,16 f; Joel 4,17;
Zach 8,3). Alles andere ist segensreiche Folge der Gegenwart Gottes,
Zion wird als völkerreiche Stadt in neuer Herrlichkeit erbaut werden usw.
(Jes 44,26.28; 49 1 J4-21j 52,9; 6o; 33,20 ff; Zeph 3,14 f; Ob q;
Zach 2,5-9). In der letzten Zeit soll Zion werden, was es in der Kult-
mythologie schon war, höchster Punkt der Erde, ein Paradiesland (Jes
2,2-4=Mich 4,1-4; Zach 14,8.1o; Hes 47,1-12). Dorthin wird man
aus allen Ländern pilgern, um an dem Segen des Gottes Israels Teil zu
bekommen (Jes 2,2-4; 56,7; 6o,3f; Zach 8,20-23; Jer 3,17 etc).
Die Rolle der Heidenvölker im Zukunftsdrama ist eine sehr ver-
schiedene. Neben der Hoffnung, daf3 sie sich bekehren werden und mit
Israel zusammen unter der Gnade Gottes leben (vgl Jes 191 21-25; 25,6 f;
42,6; 49,6; 44·Si 45,14j ss.4f; 66,18ff; Zach 2,I4-17i Zeph 3.9),
stehen noch andere Gedanken, nach denen sie vernichtet werden (vgl Jes
34,1 ff; 23; Hes 25-32; Zeph 2; Jer 46-51 etc, vgl oben S. 26 f),
oder nur als Zuschauer dastehen sollen (z. B. Mal 3,12). Im Zentrum der
Hoffnunng steht aber immer Israel, das Volk JHWH's. Auch die Hoffnung
auf eine Wiederherstellung paradiesischer Zustände in der Natur dient
hauptsächlich dazu, der Erneuerung Israels eine glänzende Umrahmung zu
geben (vgl Jes 11,6-8; 6s,q.25; 66,22; 24,23 etc). Es ist aber deutlich,
daf3 es nicht nur um die Wiederherstellung des alten Israels geht, sondern
um ein seliges End-Israel auf einer umgewandelten Erde.
Auch die innere Art des Volkes soll erneuert werden, und zwar soll
sie ganz anders werden als in der Gegenwart und auch in der alten Zeit.
Die Macht der Sünde wird in dem neuen Israel gebrochen sein, das Volk
soll den Willen JHWH's kennen und in Gerechtigkeit leben (vgl Jer 31,33 f;
32,39; Zeph 3 1 11-13; Jes 1,26 f; 4,3 f; 26,2; 32,3 ff; 60,21; Zach 13,1 f.
8 f). JHWH wird dem Volke ein neues Herz und einen neuen Geist geben
(Hes 11,19 f; 18,31; 36,26). An die Stelle der Beschneidung des Fleisches
soll die Beschneidung des Herzens treten (Dt 30,6; vgl Jer 4,4; 9,24 f).
Nicht nur über einzelne Erwählte, sondern über das ganze Volk wird JHWH
seinen Geist ausgieflen (Joel 3,1 ff; vgl Jes 32,15; 44,3; 59,21; Hes 36,27;
39,29; Hag 2,5; Zach 12,10). In diesem Sinne wird das neue Volk ein
"Israel nach dem Geiste" sein. Dieses neue Leben wird dadurch ermöglicht,
daf3 JHWH die Sünde des Volkes vergeben wird (Jes 43,25; 44,22;
33,24; 4,4; Jer 31,34; 33,8; Hes 16,63; Mich 7,18-2o; Zach 3,9 etc).
Das neue Israel ist von dem alten dadurch unterschieden, daß es von der
Vergebung der Sünden lebt. Es entsteht nur durch "ein schlechthinniges
Wunder der Gnade JHWH's; der Weg von dem alten zu dem neuen
Israel heißt Auferstehung der Toten (Hes 37; Hos 6,2; Dt 32,39; so auch
Jes 26,19?) oder neue Geburt (Jes 66,7-9; vgl 54,1). Tod und Auf-
erstehung Israels ist die Summe der prophetischen Gerichts- und Heils-
verkündigung. 53
Wie eine Verkörperung des sterbenden und auferstehenden Israels
erscheint der iägd"rj ]HWH (]es 42,1 ff; 49,1 ff; 53). Weder eine rem
kollektive, 54 noch eine rein individuelle Deutung hat hier befriedigt. Der
iäbäd ist ein Einzelner (der Prophet selbst? 55 oder ist es der Schüler, der
hier seinen Meister verherrlicht?), 56 dieser Einzelne ist aber Vertreter des
Volkes. 57 Durch seine Verkündig-ung erfüllt er die Aufgabe des Volkes.
Mit dem Volke und für das Volk leidet und stirbt er. So ist auch seine
Erweckung eine Verheißung auf die Neuerstehung des Volkes. Hier wird
die Zerstreuung und das Leiden Israels unter den Völkern nicht nur als
schlimme Durchgangszeit vor der neuen Herrlichkeit des Volkes, sondern
sinnvoll als Weltmission und stellvertretendes Leiden verstanden.
Nur wenige werden diese Gedanken verstanden haben. Mit dem Leben
in der eigenen Zeit mußte man sich auf alle Fälle abfinden. Die meisten
gingen aber andere Wege als der große Dichter der iagärj ]HWH-Lieder.
G. Das Judentum.
Wir haben eben den Begriff "Israel-Ideologie" verwendet, diese "Ideo·
logie" ist aber keine leere Spekulation, sondern ist durchaus gegenwarts-
bezogen, man wünscht eine religiös-nationale Politik zu führen. So sind
auch tatsächlich die religiösen Ideale die treibenden Kräfte bei der Wieder-
herrstellung in Jerusalem. 73 Als Vertreter dieser Restaurationspolitik sind
die Propheten Haggai und Zacharja besonders zu nennen, die nicht nur
für den Bau des Tempels (Hag 1,7 ff; Zach 4,8 ff etc), sondern auch für
die Aufrichtung eines davidisch-messianischen Königtums unter Serubbabel
eiferten {Hag 2,23; Zach 4,14; 6,rr ff). Das letztere hat sich nicht ver-
wirklichen lassen, kein jüdischer Staat, sondern nur der Tempel als Zentrum
der religiösen Gemeinde ist wiederhergestellt worden. Aber auch das war
für die Überwindung der Krise bedeutsam und gab die Gewißheit, daß
JHWH sein Volk doch nicht verlassen hatte, wenn auch der zweite Tempel
nur als eine Zwischenordnung empfunden wurde (Hag 2,3). Mit ·dieser
Restaurationspolitik hängt es wohl auch zusammen, daß der Name Israel
jetzt wieder allgernein gebraucht wird (Priesterschrift, Chronist, Zusätze zu
den Propheten). 74
Dit Restauration ist durch Esra und Nehernia zu Ende geführt worden.
Nehernia hat die Mauern Jerusalems wieder hergestellt. Auch eine beschränkte
politische Restauration ist insofern durchgeführt, als Jerusalem mit Judäa
von nun an eine selbständige persische Provinz wird. 75 Dadurch wird
Jerusalern das Zentrum der Judenschaft, und das Leben kann hier in vor·
bildlieber Weise nach dem Gesetze gestaltet werden. Die Absonderung
von den halb-heidnischen und samaritanischen ~amme hä'äräs wird dabei
Hauptsache (Esr 9; 10; Neh 1o; 13,3.23-27; vgl Mal 2,ro-12). 76 Mit
dem Namen Esras ist besonders diese Absonderung und die Verpflichtung
des Volkes auf das Gesetz verbunden (Esr 7-9; Neh 8).
Diese Restaura.tion ist die letzte Begebenheit in der Geschichte Israels,
von der atl. Tradition~n berichten. Durch den Bau des zweiten Tempels
und die Verpflichtung auf das Gesetz ist die Grundlegung des Judenturns
vollendet. Das spätere Judenturn blickt auf diese Zeit der "großen Syna-
goge" als der eigenen Gründungszeit zurück. Es scheint, als ob man in
dieser Neugründung auch eine Parallele zu dem Entstehen Israels gesehen
hat. Die Versammlung unter Esra bildet ein Gegenstück zur Sinaiversamm-
lung,77 die Rückkehr aus dem Exil ist ein neuer "Exodus" (Esr 8). 78
Für daß Bewußtsein der späteren Zeit war das ganze Volk im Exil
gewesen, und die rechten Israeliten waren insgesamt Rückwanderer aus
Babel. Die b•ne haggölä (Esr 8,35; 10,7.16 etc) bilden das wahre Israel,
"der heilige Same" (Esr 9,2). Der !!•hat haggolä (Esr ro,8) ist jetzt "die
ganze Versammlung" (Esr IO,I2.14). In ihr wird der von den Propheten
verheißene Rest erblickt (Esr 9,8. r 3· I 5; vgl Hag 2,3; Zach 8, I I f). So
sehen wir1 wie sich die Tendenz zu einer kastenmäßigen Absonderung auch
in Judäa durchsetzt. Zwischen den Rückwanderern und der Landbevölkerung,
zwischen den Israeliten reiner Abstammung und den Leuten mit gemischtem
Blute, zwischen Gesetzesstrengen und Gottlosen darf es keine Gerneinschaft
geben. Der @ähäl ist selbst kastenmäßig gegliedert; die Priester, die Leviten
und das Volk Israel bilden drei Gruppen (Esr 6,16; 7,16; 8,rs; ro,s;
Neh 8,13; 10,29·35·40j' II,2o; 12,30; 2 Chron 30,25; Ps 135,19 f etc).
Bei der Wiederherstellung in Judäa wirken also verschiedene Tendenzen
zusammen, nationale -Repristination und eschatologische Hoffnung, Hierokratie
und Nornokratie. Daß die Restauration nicht zu. einer völligen Gleich·
schaltung führte, zeigt auch die spätere Literatur. In der Chronik scheinen
Leviten das Wort zu führen. 79 Hier begegnet uns eine Freude am Kultus,
47
an Psalmen und Predigten, die eine ganz andere Stimmung als die detail-
lierten Gesetze der Priesterschrift zeigen. 80 So ist auch nicht von der (et}ä
die Rede, sondern wie im Deuteronomium von dem /fähäl, der Zusammen-
kunft des Volkes zur kultischen Feier im Tempel, aber auch der politischen
Volksversammlung. 81 Im allgemeinen sind es dabei die führenden Schichten,
die das Volk repräsentieren und den kähäl bilden. 82 Hinter der Polemik
gegen das Nordreich und der starken Betonung der davidischen Tradition
steckt wohl der Protest gegen den Anspruch der Samaritaner, auch "Israel"
zu sein.
In dem nachexilischen Psalter scheint der alte Israel-Gedanke ziemlich
unverändert erhalten zu sein, wie es ja in liturgischen Texten zu erwarten
ist. In der Versammlung erklingt das Lob JHWH's. Der Opferkultus
scheint dagegen für die Psalmenfrömmigkeit keine grofue Rolle zu spielen. 83
In einigen Psalmen wird dagegen deutlich, dafu die Freude Israels sich vor
allem auch auf den Besitz des Gesetzes gründet (r 19; 19 b u. a.). In den
sicher nachexilischen Psalmen spielt das Gefühl der Unbedeutendheit und
Sündigkeit des Volkes und die Klage über den fremden Oberherren eine
grofue Rolle (vgl Ps sr; J2j J4j s8; 123; I24j I25j 130; I3I; 37; 49;
73; 25; 86; II6; 143). 84 Das Bekenntnis der Sünden und die Demütigung
vor JHWH, und andererseits die Behauptung, den gottlosen Frevlern gegen-
über unschuldig Leidende zu sein, ist für die Gemeinde dieser Zeit
charakteristisch. Unter den Gottlosen werden aber nicht nur die heidnischen
Herrscher zu verstehen sein, sondern ebenso Israeliten (Ps SS,I3-15;
94,8), die sich den Herrschenden und ihrer Lebensweise angeschlossen
hatten. 85 Ebenso sind wohl die armen, bedrückten Frommen nicht einfach
die als Gesamtheit frommen Israeliten, sondern gt"lrad~ die frommen
Israeliten, welche wissen, dafu ihre Sache die Sache Israels ist. Auch hier
zeigt sich die Tendenz zur Absonderung; nur die armen Frommen, die
"Stillen im Lande" (Ps 35,20; vgl 34,19), sind das "wahre Israel". 86 Dafu
sie eine organisierte Sondergemeinde gebildet haben, ist aber nicht wahr-
scheinlich,87 die Versammlung der Frommen, von der die Rede ist, ist die
Tempelversammlung (Ps 22,23.26; 35,18; 4o,ro.u; 149,1; vgl ru,r; 62,9
nach LXX). Jedenfalls wird man die Stellen, die von einer Versammlung
der Übeltäter reden, nicht auf Parteigemeinden beziehen dürfen. Ps 26,5
heifut /fähäl und Ps 22,!]; 68,31 und 86,14 ierjä einfach Versammlung,
Rotte. Höchstens Ps 1,5 könnte die iada1 fiaddzkzm eine ecclesioltl in
ecclesia sein.
Eine ähnliche religiös-soziale Scheidung im Volke sehen wir auch bei
Trito-Jesaja. 88 Über das gesamte Volk hat JHWH seine gerechte Strafe
verhängt, und das Heil ist durch die Sünde des Volkes verzögert worden
(s7,I--I3j s8; 59). Jetzt wird aber das Heil für Jerusalem kommen, und
die sich Bekehrenden (59,20), die Demütigen und Zerknirschten (57, 15
vgl 6r,r) werden als Knechte und Auserwählte JHWH's (65,8 f. 13 ff)
dieses Heil erleben. Während die gottlosen Israeliten ihre endgültige Strafe
bekommen werden (66,24; 65, I I f; 57,20 f), werden auch die Heiden, die
sich JHWH anschließen, zu der Versammlung im Tempel zugelassen werden,
und der Tempel wird ein Bethaus für alle Völker sein (56,3-8). So wird
deutlich, wie das Gottesvolk, bzw. die "Kirche" erst der Zukunft angehört,
während in der Gegenwart die Gemeinschaft der Frommen die Hüterin der
Traditionen und Hoffnungen ist. 89 Das Judentum hat nicht nur eine "Hoch-
kirche", sondern auch eine "Gemeinschaftsfrömmigkeit" gehabt, für welche
die persönliche religiöse Haltung der Einzelnen das Entscheidende war.
Typisch ist die verschiedene Auslegung von Dt 23 in Neh 13,1 und Jes
56,3 ff. Dort wird die Aussonderung der Fremdvölkischen von der Ver-
sammlung Gottes (~'hat 'ä!ohim) nach dem Buchstaben des Gesetzes streng
durchgeführt. Hier werden Verschnittene und Fremde zugelassen, wenn
sie nur die religiösen Bedingungen erfüllen.
Daneben finden wir aber auch Strömungen, die der Absonderungs-
tendenz in der einen wie in der anderen Form fremd gegenüberstehen.
Das Buch Jona ironisiert über den Hochmut der jüdischen Partikularisten.
In der Weisheitsliteratur spielt der Begriff Israel überhaupt keine Rolle,
man ist mit der Lebensführung der Einzelnen und den Problemen des
individuellen Lebens beschäftigt (Proverbia, Hiob, Qohälät). In den inter-
national und humanistisch eingestellten Kreisen der Weisen hat weder
Erwählungsglaube noch Eschatologie Fuß gefaßf. 90 Erst ben Sirach zeigt
eine Annäherung der Weisheit an den Israel-Gedanken.
Wie wenig das in der nachexilischen Zeit normativ gewordene Israel-
Ideal überall durchdringen konnte, zeigen die Elephantinepapyri. 91 Abseits
steht aber auch das zum späteren Kanon gehörende Buch Esther. Nicht
der klassisch atl. Israel-Gedanke tritt uns hier entgegen, sondern der fanatische
Nationalstolz und Fremdenhaß der in. der Diaspora unterdrückten Juden.
Der Erwählungsglaube hat die jüdische Absonderung mit sich gebracht,
was zu "Antisemitismus" und Judenpogromen geführt hat (Esth 3,8.r3).
Und so wurden aus dem Volke Israel die verhaßten und hassenden Juden,
die doch für ihren Gott missionierten (8, I 7).
Das Buch Esther führt uns von dem atl. Israel-Gedanken zu semer
Umbildung im späteren Judentum. In anderer Weise tut das auch das
Buch Daniel, das sich enger an den klassischen atl. Begriff vom Volke
Gottes anschließt, aber seine Umformung in der Apokalyptik zeigt, auf die
wir später zurückkommen werden. Den atl. Teil unserer Untersuchung
können wir hier abschließen.
49
Zweiter Teil.
DAS VOLK GOTTES IM SPÄTJUDENTUM
I. NATION UND KIRCHE
A. Das Problem.
Die christliche Kirche wufute sich als das "wahre Israel" und legte das
AT in diesem Sinne aus. Um diese Übertragung zu verstehen, genügt es
nicht, den Sinn des Begriffes "Israel" im AT festzustellen. Wir müssen
auch untersuchen, in welcher Weise der Israel-Gedanke in der Werdezeit
der Kirche lebendig ist. Inwiefern ist im Spätjudentum 1 der atl. Israel-
Gedanke festgehalten, inwiefern ist er umgewandelt? Wie weit läfut sich
das Werden der Kirche und des Kirchengedankens aus der soziologischen
Problematik des Spätjudentums erklären? Während wir für das AT die
wesentlichen Momente des Begriffes "Israel" herauszuarbeiten versuchten, legt
es unsere jetzige Fragestellung nahe, Unterschiede, Spannungen und Gegen-
sätze innerhalb des spätjüdischen Verständnisses von "Israel" zu unterstreichen.
Für das Spätjudentum ist zweierlei kennzeichnend: erstens das zähe
Festhalten an dem Alten, Überlieferten, zweitens aber eine durchgreifende
Umbildung der Frömmigkeit und des Lebensgefühls. Nur scheinbar schliefut
sich beides aus, wie das Folgende genügend zeigen wird. Beide Tendenzen
sind auch nichts spezifisch Jüdisches, sondern sie zeigen die Verbundenheit
des Judentums mit der Geschichte der antiken Welt. Um die Problematik
des Spätjudentums zu verstehen, müssen wir es nicht isolieren, sondern
im Zusammenhange mit der gesamten Zeitlage sehen.
Das vorexilische Israel war eine Nation unter Nationen gewesen. Seit
der Perserzeit war aber für die Völker des vorderen Orientes von einem
nationalen Eigenleben keine Rede mehr. 2 Vollends in der römischen Zeit
war der Gesichtskreis nicht "national" sondern "ökumenisch". Das Judentum
der ntl. Zeit lebt innerhalb der römischen Ökumene. Zu den Weltreichen
gehören die Weltsprachen (die aramäische, griechische, römische), und es
entsteht eine Weltkultur. Die geschlossenen sozialen Einheiten der Städte
oder Nationen geraten mehr oder weniger in Auflösung. Statt dessen
werden die auf freiwilligem Anschlufu beruhenden Gesellschaften von
immer gröfuerer Bedeutung; die freien Vereine, {Hoccrot, collegia, sind
für die späthellenistisch-römische ·Zeit charakteristisch. 3 Die Polis ist in
Auflösung, die "Kosmopolis" in den Gesichtskreis getreten. 4
Schon im Perserreich hat der grofue Prozefu der Rassenmischung, des
kulturellen und religiösen Synkretismus angefangen. Das Vordringen der
Griechen hat diesen Prozef3 ungeheuer gefördert. Die nationale Eigenart
der orientalischen Völker verschwindet zwar nicht, aber sie wird in den
Hintergrund geschoben. Die Fasade ist überall die griechische, das Ein-
heimische ist höchstens in einer "interpretatio Graeca" präsentabel. A her
auch das Wesen des Griechischen wird durch diese Ausbreitung gewandelt.
Der Gegensatz zwischen "Hellene" und "Barbar" ist nicht länger ein
nationaler, sondern vielmehr ein kultureller. 5 "Hellene" ist, wer an der
hellenischen Kultur teilhat. Durch das Vordringen Roms wird auch die
nach dem Tode Alexanders verloren gegangene politische Einheit wieder-
hergestellt. Aber auch "civis Romanus" hört auf ein "völkischer" Begriff
zu sein und bezeichnet in der späteren Zeit die politische und juridische
Würde, nicht aber die Zugehörigkeit zur Stadt Rom, dem Wohnort, der
Abstammung und der Sprache nach. Umgewandelt wird z. B. auch der
Begriff "Chaldäer": so kann in dieser Zeit jeder Astrologe heif3en. 6
Der kulturelle Umbruch wirkt sich vor allem auch in der Religions-
geschichte aus. 7 Die alten nationalen Religionen haben vielfach ihre Lebens-
kraft verloren oder sind in innerer Umformung begriffen. Die Religion war
in älterer Zeit vor allem Sache des Kollektivums gewesen, die Götter waren
geknüpft an Stadt und Nation, Politik und Krieg, an das Naturleben, an
Ackerbau und Viehwirtschaft, an die Fruchtbarkeit der Menschen und der
Erde. Jetzt gehen Politik und Religion auseinander. Zwar wächst in dem
Herrscherkult des Imperiums eine neue politische Religion empor, aber für
seine eigentlich religiöse Sehnsucht mufLderMensch anderswo Befriedigung
suchen. Die Religion wird Bache des ~ndividuums. Und das Heil, das der
Einzelne in seiner Religion sucht, ist kin jenseitiges geworden, es ist über-
natürliche Erkenntnis und Unsterblichkeit. Alte Kulte, die einmal mit der
Natur, dem Boden und dem Staatswesen verbunden gewesen waren, tauchen
in verwandelter Form als missionierende Mysteriengemeinden im Römer·
reiche auf.
Ihren Erfolg haben diese Religionen auch gerade deshalb, weil sie
keine Neubildungen sind, sondern sich auf uralte Überlieferungen und
Traditionen berufen können. Zwar ist die Erscheinungsform wie das Wesen
der hellenistischen Mysterienreligionen etwas ganz Neues geworden, mit den
Urformen dieser Religionen verglichen. Aber trotz, oder wegen dieser
Umformung ist das Alter dieser Kulte von gröf3ter Bedeutung, denn das
Alter garantiert das durch sie dargebotene Heil. Die späthellenistische Zeit
ist nicht lebensfrisch, neuschöpferisch. Das Schöne und Gute ist für sie
zugleich das Alte, von dessen Lob die Welt voll ist. Es ist die Zeit des
aufkommenden Attizismus und Archaismus in Sprache und Literatur.
Es ist das bleibende Verdienst WILHELM BouSSFfTS, das spätere Judentum
in diesem grof3en religionsgeschichtlichen Zusammenhang gesehen und ge·
deutet zu haben. 8 Er stellte die religiöse Eigenart des Judentums der
hellenistischen Zeit klar ins Licht. Die Sonderstellung des Judentums auch
zu dieser Zeit liegt darin, daf3 sich der atl. Mo~otheismus, trotz gewisser
53
diejenigen, welche "Gott lieben" / 7 "ihn fürchten" ,38 "seinen Namen kennen 11 , 39
"ihn anrufen" 411 u. dgl. Diese Namen betonen zum Teil stärker die subjektive
Seite der Frömmigkeit, liegen aber doch völlig innerhalb der atl. Linie.
Wie schon im AT ist es im einzelnen oft schwierig zu wissen, ob damit die
Gesamtzahl der Israeliten als Verehrer des wahren Gottes, die fromme Mehr-
heit des Volkes oder nur eine kleine Sondergruppe der Frommen gemeint ist.
Der traditionelle Israel-Gedanke spiegelt sich auch in der Beurteilung
der Heidenvölker wieder. Der Gegensatz zwischen dem iam und den göjlm
ist geblieben, wenn auch die Terminologie teilweise gewechselt lpt (vgl
unten S. 73 und 74). Die Heidenvölker sind gottlos und gottverlassen. 41
Sie sind ihren Engelfürsten überlassen; 42 z. T. werden die Heidengötter
sogar als Dämonen aufgefafltY Die Israeliten verachten die Heiden als
unsittlich und scheuen ihre Gemeinschaft, weil sie unrein sind. 44 Eine
günstigere Beurteilung der Heiden findet sich zwar auch 45 wie schon im
AT, im allgemeinen ist aber das Spätjudentum durch einen Exclusivismus
gekennzeichnet, der im AT verwurzelt ist, aber jetzt verstärkt und versteift
worden ist.
In dem Widereinander von Gottesvolk und Heidenvölker steht Gott
natürlich auf der Seite seines eigenen Volkes, 46 die Sache des Volkes ist
seine Sache, die Feinde des Volkes sind seine Feinde: "Jeder, der gegen
Israel aufsteht, ist so, als wenn er gegen den Heiligen, gebenedeit sei er,
aufstünde" (M Ex 15,7 HR 134 f; S Num 10,35 § 84 Hor 81-83). 47 Gott
ist selbst in Israel gegenwärtig, er geht mit seinem Volke sogar ins Exil
und kehrt mit dem Volke zurück (S Num 35,34 § 161 Hor 222 f; b Meg 29 a;
M Ex 15,7; S Num 10,35 wie oben). Als Gott Israel aus Ägypten erlöste,
erlöste er gleichsam sich selbst (M Ex I2,4I HR SI f; rs,7 HR 134 f;
S Num ro,35 § 84 Hor 82 f). 48 Andererseits soll Israel auf der Seite Gottes
stehen und "seinen Namen heiligen". 49 Die "Heiligung des Namens" ist ein
etisches Hauptmotiv, besonders für den Verkehr mit den Nicht-Juden. 50 Die
Ehre Gottes ist gleichsam den Israeliten anvertraut; wenn sie seinen Willen
tun, wird sein Name in der Welt grofu gemacht (vgl z. B. M Ex 15,2 f
HR 128 f; 20,6 HR 227). Gott verherrlicht sich an Israel, er schützt und
segnet das Volk und tut Wunder um seines Namens und seiner Ehrewillen
(vgl z. B. M Ex 13,4 HR 62 f;'If,IS HR g8). 51
Was Israel die Sonderstellung als Volk Gottes gibt, ist in der Haupt-
sache dasselbe wie im AT. Es ist die Abstammung von Abraham, der
Kultus und d:e Theokratie. Immer noch steht das Gottesvolk unter der
gegenwärtigen Willensoffenbarung Gottes, blickt aber zugleich zurück auf
die geschehene und vorwärts auf die kommende Offenbarung. Gesetz,
Geschichte und Eschatologie sind immer noch die entscheidenden Momente.
Sie werden aber nicht nur aus dem AT überflommen, sondern auch in
verschiedene Richtungen weiter entwickelt und kommen in den ver-
schiedenen Strömungen und Richtungen des Spätjudentums oft einseitig
zur Geltung. Wir werden deshalb die einzelnen Momente gesondert betrachten,
55
Im anderen Juden sieht man den Bruder ('äb, döe:A~o~) und den Nächsten
(reai, -rrA'Yjcr[ov), d. h. den Volksgenossen. 72 Das griechische Judentum hat
dafür auch die Wörter cruyye:v~~' op.o~uAo~, op.oe:8-v~~; die Heiden gelten
dementsprechend als dAAo~uAot, dAAodl-ve:r~ usw. 73 Die Juden fühlen sich
also auch in der Diaspora durchaus national verbunden. Das Zeugnis der
griechischen und römischen Schriftsteller bestätigt dies, auch in ihren Augen
bilden die Juden eben die jüdische Nation. 74 Wer sich der jüdischen Religion
anschließt, muß auch im nationalen Sinne Jude werden und mit den heimat-
lichen Göttern und Sitten auch Vaterland, Eltern und Verwandte übergeben
{vgl Tacitus, Hist. V 5, Reinach Nr r8o; Juvenal Satire XIV roo~1o4,
Reinach Nr 172; Philo, Spec leg I 52; IV q8; Virt 102 ff). Und doch
werden die Proselyten nicht Vollbürger der jüdischen Nation, am Lande
haben sie keinen Anteil (M Ma Sehe V 14), Gott dürfen sie nicht als "Gott
unserer Väter" anreden, sie sollen sagen "Gott der Väter Israels" bzw.
"Gott euerer Väter" (M Bikk I 4). Weibliche Proselyten dürfen sich nicht
mit Priestern verheiraten. 75
So ist auch zu dieser Zeit das Bewußtsein, von gemeinsamem Blute
zu sein, unter den Juden lebendig. Die biblischen Verbote gegen Mischehen
mit Fremden werden immer wieder eingeschärft. 76 Das zeigt zwar, daß die
Verbote nicht gehalten wurden, aber auc.h, daß sie trotzdem für das
Bewußtsein stets gegenwärtig waren. Die Juden empfinden, daß sie allein
sich der Rassenmischung enthalten: "Nostrum uero genus permansit purum,"
rühmt sich Josephus seines Volkes (Ap II 69). Welche Bedeutung die
jüdische Familie damals, wie zu allen späteren Zeiten, als Zelle der jüdischen
Nation hatte, ist bekannt. 77 Was die heutige völkische Ideologie "Blut und
Rasse" nennt, - im Hellenismus wurde es cruyysve:toc genannt - spielte
also schon im Judentum eine bedeutende Rolle, was auch daß große Interesse
für die Ahnentafel zeigt. 78 Die Bedeutung der Familiensuccession zeigt
sich nicht nur unter den Hasmonäern und Herodianern, unter den Hohen-
priestern, Priestern und Leviten und in dem "Laienadel" der alten Ge-
schlechter, sondern auch in der Schriftgelehrtendynastie des Hauses Hilieis
und in der Zelotendynastie des Hauses· Judas des Galiläers. 79
Wie die gesellschaftliche Gliederung des gesamten Judentums der Zeit
J esu in einem bisher noch nicht beachteten Maße von dem Grundgedanken
der blutmäfuigen Reinerhaltung des Volkstums beherrscht war, hat Joachim
JEREMIAS aufgezeigt. 80 Das Volkstum war nach der Abstammung gegliedert.
Nur die drei obersten Klassen, Priester, Leviten und Israeliten reiner Ab-
stammung {dafür sagen die Rabbiner einfach }isrii'e!) waren die eigentlichen
Träger des Namens Israel und der zu diesem Namen gehörenden Würde-
stellung. "Die reinrassigen Familien, nur sie, stellen das wahre Israel dar. " 81
Nur diese Voll-Israeliten haben die vollen bürgerlichen Rechte, sie allein
können die öffentlichen Ehrenämter bekleiden, ihre Frauen allein die Priester
heiraten. Nur sie haben an den Verdiensten der Väter teil, und ihnen
s8
ist das messianische Heil garantiert. 82 Die Proselyten und die illegitimen
Israeliten verschiedener Klassen bilden mehr ein Anhängsel zum Volk. 83
Eine andere nationale Bindung, ·die auch erwähnt werden muß, ist die
Gebundenheit an das Vaterland und die Vaterstadt. 84 Der Zerstreuung des
Judentums über die ganze Welt zum Trotz, ist das erdgebundene Moment
des Nationalgefühls nicht verschwunden; in gewisser Weise ist es sogar
noch stärker als im AT, wo alles durch die heilsgeschichtliche Betrachtung
bestimmt war. Für das Judentum ist das "Land Israel" das "heilige Land"
(2 Mac r,7.29; Sap 12,3; 2 Bar 63,10; 7r,r; 84,8; Or Sib III 267;
V 281; Philo, Legat 202.205.330; Jos Bel V 377 vgl 4oo; M Ex 12,1
HR 2 f etc). 85 Jerusalem ist die "heilige Stadt" (Sir 49,6; I Mac 2,7-12;
2 Mac 3,1; Tob 13,10; vgl Sap 9,8), die "Stadt Gottes" (Sir sr,r2 c 7
(hehr.); 2 Bar 3,5; Or Sib V 25o; p Sehern esre 14; Jos Bel VI 98;
VII 328). 86 Die Rabbiner schreiben dem Lande eine sühnende Bedeutung
zu (S Dt 32,43 § 343 Friedm 140, R Meir, Tan 3; b Keth rrr a, R Eleazar
b Am 3). Das Land zu verlassen ist eine große Sünde, wer im Lande
lebt und begraben wird, gehört zu dem wahren Israel und ist der kom-
menden Auferstehung gewiß' (S Dt I 2,29 § 8o Friedm 9 r b; M Keth
XIII rr, dazu die Gernara b Keth rro b-rr2 b; b Qid 31 b; b BB 91 a).
Und auch die Juden der Diaspora sind voll Liebe zum Vaterland und
rühmen dessen Herrlichkeit (vgl Ep Ar 83-120; Sap 12,7; Or Sib V
261-263; Jos Ap I 195 ff (aus Ps-Hekataios); Bel V 17-2o; 136-247;
VII 375 f). Sie betrachten alle "die heilige Stadt als ihre Metropole",
heißt es in einem oft angeführten Worte Philos (Flacc 46, vgl Legat 281 ff;
Spec leg II r68). 87
Ein dritter zu nennender Faktor ist der juridische. Die jüdische
Religion ist mit dem Rechtsleben eng verbunden, und das jüdische Recht
ist auch ·~u" dieser Zeit kein bloßes Vereinsrecht oder Kirchenrecht, sondern
durchaus nationales Recht. Das jüdische Volk hat nicht nur ein eigenes
"Gesetz", sondern auch eine eigene Jurisdiktion. 88 Der Rabbiner ist nicht
nur Theologe, sondern auch Jurist. Das Synedrion zu Jerus·alem ist die
oberste juridische und zum Teil auch politische Gewalt; 89 sein Vorsteher,
der Hohepriester, ist in der Diaspora als erster Leiter der jüdischen Nation
anerkannt worden, wenn auch seine Autorität dort allerdings wahrscheinlich
nur eine moralische war (vgl auch die Stellung des späteren· Patriarchen). 90
An Orten mit rein jüdischer Bevölkerung ist die synagogale Gemeinde mit
der politischen identisch. 91 Und auch die Judengemeinden der Diaspora
haben ihre eigene Organisation und eine verschiedenartig umgrenzte J u ris-
diktion,92 und dies haben sie nicht· (oder nicht nur) als religiöse Körper-
schaften, sondern als Zellen der jüdischen Nation. 93 Auch das römische
Recht ist mit der Stellung der jüdischen Nation beschäftigt, die Privilegien
werden gerade dem Volke als solchem zugestanden, 94 aber auch strafende
Maßregeln können das ganze Volk treffen. 95
59
gesteigert war, dafu er sich innerhalb der Welt des politisch Möglichen
überhaupt nicht mehr verwirklichen liefu.
Symptomatisch ist es schon, dafu die makkabäische Erhebung, der
Kampf für Israel und das Gesetz, ausgerechnet mit einem Bruch des
Gesetzes seinen Anfang nahm: sie fingen an, am Sabbat gegen die Feinde
zu kämpfen (r Mac 2,40-41; Jos Ant XII 276-278). Und um die Freiheit
des Volkes behaupten zu können, mufuten die Hasmonäer Realpolitik treiben
und ihre Herrschaft durch Bündnisse mit fremden (heidnischen!) Staaten
sichern (r Mac 8; 12; 14,r6-23). Man schmeichelt den Römern nach
bestem Vermögen und gibt sogar vor, mit den Spartanern in uralter Ver-
wandtschaft zu sein, auch jene seien Nachkommen Abrahams (r Mac 12,6.21;
2 Mac 5,9; Jos Ant XII 225 ff).
Das jüdische Volk mufute, wenn es Aufuenpolitik treiben wollte, unter
den anderen Völkern seinen Platz einnehmen, und zwar war es unter den
grofuen Nationen ein kleines Volk. Von dem Gegensatz zwischen Israel
und den Heiden konnte dann keine Rede mehr sein. So wurde das im
Kampf gegen den Hellenismus entstandene hasmonäische Reich doch in
seiner Weise selbst ein kleines späthellenistisches Fürstentum. Die späteren
Hasmonäer förderten die hellenistische Kultur, 99 sie nahmen griechische
Namen an, liefuen sich euepyt'r'Yj~ nennen (jos Ant XIII 214, vgl 318;
XIV 253), Aristobulos auch <pLAD..A.7jv (Ant XIII 318). So ist es nicht zu
verwundern, dafu die "Frommen" mit den Makkabäern ebenso feierlich
brechen mufuten, wie sie sich ihnen einstmals angeschlossen hatten (vgl die
Beurteilung der Makkabäer in den Psalmen Salomos). 100 Noch viel weniger
konnte natürlich die Form eines jüdischen Nationalismus, dem ebenfalls die
Herodianer in ihrer Weise aufrichtig huldigten, dem Israel-Gedanken ge-
recht werden. 101
Nochmals zeigen dann die Zeloten, dafu der Israel-Gedanke immer
noch von politischer Bedeutung war, und dafu er das Panier für national-
enthusiastische Bewegung werden konnte. In ihrer Weise sind die Zeloten
die folgerichtigen Vertreter des Judentums gewesen. Aus dem Glauben
an Gott als den einzigen Herrn des Volkes (Jos Ant I 20; IV 223.297;
Ap li 185) zogen sie die politische Konsequenz und wollten keine Fremd-
herrschaft anerkennen (Ant XVIll 23; Bel VII 323. 410). Sie wollten aber
nicht nur die politische Selbständigkeit wiederherstellen, welche die Juden
unter den Hasmonäern besafuen, Sie wollten vielmehr das "Israel Gottes"
auf Erden herstellen, 102 so wie es in der Hoffnung aller lebte. Was sie
u·nter der Führerschaft Gottes herbeiführen wollten, war die messianische
Erlösung. Auch bei ihnen ist allerdings die politisch militärische Wirklichkeit
"menschlich-allzumenschlich" und steht zu den treibenden religiösen Motiven
in schroffem Widerspruch. Nicht nur das Ritualgesetz wird durch die
Kriegsführung verletzt. In der Hitze des Kampfes entfaltet sich ein persön-
licher Ehrgeiz und eine Streitsucht, die aller Volksgemeinschaft höhnt.
Auch die schlichteste Rechtschaffenheit wird unter die Füfue getreten.
61
Josephus kann mit bitterer Ironie Agrippa den Zeloten vorhalten lassen,
daß sie in ihrem Kampf für das Gesetz das Gesetz schlimmer als irgend
jemand sonst übertreten (Bel II 391 ff; vgl die Reden des Josephus V 362 ff;
VI 99 ff und die ganze Darstellung z. B. Bel IV I so; li 449 - 456).
Die Zeloten wußten, daß die Verwirklichung der Herrschaft Gottes
und Israels nicht eine historisch-menschliche, sondern eine eschatologisch-
göttliche Möglichkeit war. Deshalb hofften sie auf das Wunder Gottes.und
erwarteten bis zum letzten Augenblick, daß Gott in den Kampf eingreifen
würde. Während sie hofften, wurde aber der Tempel verbrannt und die
letzte Schanze erobert (vgl Jos Bel V 458 f; VI 98; 252 ff; 283 ff; 3I0-3IS).
Der Israel-Gedanke trieb mit innerer Konsequenz zum politischen Handeln,
das politische Handeln aber mußte mit Notwendigkeit zum Untergang
führen. Als Nation befinden sich die Juden zur Zeit des NT's auf dem Wege
zu dieser Katastrophe.
Der Versuch ein jüdisches Staatswesen zu gründen, mußte also ent-
weder zur Aufgabe der Eigenart Israels oder zum aussichtslosen Kampf
gegen die Weltherrscher führen. Die verhaßte Fremdlingsherrschaft war
doch die Voraussetzung für die eigene Existenz. Nicht ohne Grund wurde
für die fremden Oberherrn geopfert und gebetet (I Bar I, I o- r 2; I Mac
7,33; Jos Bel li I97; Philo, Legat 152 f ·.355-357; Aboth Ili 2; b Ab
zar 4 a etc). Denn unter ihrer Oberherrschaft konnten die Juden einen
modus vi vendi finden; deshalb konnte das Volk auch nach der Katastrophe
erstaunlich unberührt weiter leben. Die Volksgemeinschaft wurde vielmehr
noch inniger, und eine schon angefangene Entwicklung wurde zu Ende
geführt: die Entwickling Israels zur Synagoge (bzw. "Pariavolk"). Was
"Israel" für den Juden bedeutet, war nicht mehr durch die Wahrnehmung
der politischen Wirklichkeit gegeben, sondern allein durch den Glauben
an das Wort des Herrn. In der äußeren Wirklichkeit konnte das Leben
der Judenschaft oft mehr dem einer "Kirche" als dem eines n Volkes" ähneln.
Tempel und Opfer in der Diaspora und zur Empfehlung der Synagogen.
In den Psalmen Salomos führt die synagogale Frömmigkeit das Wort.
"Die Synagogen Israels" ist hier Bezeichnung der Judenschaft (10,7). Die
wahren Israeliten sind diejenigen, welche die "Synagogen der Frommen
lieben" (q,I6; vgl auch I7,43). Hier ist von der Zusammenkunft die
Rede, schon I Mac 2,42 erscheint aber die auv!Xywy~ 'Aatl'i!X(wv als eine
geschlossene Sondergemeinde der Frommen (vgl7, I 2 auviXywy~ yp1XjLjLIX't'EWV).
Wie k'nistä so bekommt auch auviXywy~ mit der Zeit die Bedeutung
von Versammlungsgebäude, was z. B. bei Josephus der Fall ist (Bel li
285.289; VII 44; Ant XIX 300.305). Auch Philo, der das Wort fast nicht
gebraucht, kennt nur diese Bedeutung (Omn prob lib 8I, für die Zusammen·
künfte sagt er gelegentlich auviXywytiX Legat 3 I I f; Somn li I 27 ). 149 Auch
im NT ist dies die gewöhnliche Bedeutung, doch finden sich auch die
anderen (Act 13,43=Versammlung; 6,9; 9,2=Gemeinde, vgl Apoc 2,9; 3 19).
In den Inschriften scheint im allgemeinen an die lokalen Gemeinden 150
gedacht zu sein, doch kann auch das Gebäude gemeint sein. 151 Eine Ent·
scheidung ist nicht immer möglich, denn jede Synagogengemeinde hat ihr
eigenes Synagogengebäuqe gehabt.
Es wird wohl auf eine Rückwirkung der aramäischen und griechischen
Wörter zurückzuführen sein, dafl eine spätera Zeit auch in dem hebräischen
Wort ietjä einen Ausdruck des "synagogalen Kirchenbegriffes" gefunden hat.
Im hebräischen Sirach ist diese Verknüpfung des Wortes mit der Synagoge
noch nicht hergestellt. Nur die sekuläre Verwendung des Wortes fällt
auf; im allgemeinen denkt der Verfasser an die "Gemeinde des Tores"
(7,7; 42,11; vgl 4,7; 41,18; 44,15). 152 Etwas anders liegt die Sache in der
Damaskusschrift, wo nicht nur die als sündig verurteilte Gesamtgemeinde
(1,8; 4,7; 9,22), sondern auch die ausgesonderte "Gemeinde des neuen
Bundes" eben ietjä beifit (11,1 ff etc). 153
Bei den Rabbinern ist es vollends deutlich, dafl sie bei iegä an die
Gemeinde in den Synagogen und nicht an die Versammlung im Tempel
denken. Zwar kann das Wort in traditionellem Sprachgebrauch auch von'
der Gesamtgemeinde verwendet werden (M Ex I4,15 HR 97; Ex R 21, 84 a,
Wünsche S. qo; vgl M Pes V 5; M Hor III 6), im allgemeinen wird es
aber nur für kleinere Gemeinschaften gebraucht. 154 Zur Bildung einer ietjä
sind zehn Männer nötig (hamminjän vgl Num 14,27; dazu M Sanh I 6 etc;
M Meg I 3; j Schebiith IV 2 Schwab Il S. 356; Gen R 9I 13 zu 42,4 Th-A
IIIo). Wo keine IO Männer sind, wird deshalb auch in der Synagoge kein
Gottesdienst gehalten (M Meg IV 3). Aber nicht nur die Versammlung zum
Gebet beifit ietjä (b Ber 6 a; j Ber IV 8 f, II c, Schwab I S. 90), sondern
auch der Gerichtshof, das "Sanhedrin" (M Sanh I 6; M Hor I 4·5i b Hor 3 b;
b Sanh 13 b. I6 a; b BQ 90 b etc; vgl Num 35,24 f; Lev 4,I3).155
Gerade hier zeigt sich die Eigenart des synagogalen "Kirchenbegriffes".
Die Gegenwart Gottes ist an keinen einzelnen Ort gebunden. Wo zehn,
ja wo zwei oder drei sich um die Tora versammeln, da ist die Sehechina
68
einen bescheidenen Sinn und einen demütigen Geist!" (Aboth V 19). Wenn
man solche Gelegenheitsaussagen auch nicht dogmatisieren darf, so zeigen
sie doch die Tendenz zur Spiritualisierung der Abrahamskindschaft.
Wenn Rabbiner solche Anschauungen haben, kann es nicht wunder
nehmen, daf3 wir bei Josephus auf eine mehr philosophische Formulierung .
stof3en: nicht Abstammung allein, sondern Lebensrichtung begründe die
Verwandtschaft (o!xe:uh·"'l~ - Ap II 210). Bei Philo sind ähnliche Aussagen
recht häufig (vgl unten S. 109). Auch andere nationale Begriffe werden
spiritualisiert, für die Synagoge können sich z. B. die Kämpfe Israels als
geistige Kriege ausnehmen (Sap s,I6 ff; 4 Mac 12,14; 13,I6; 16,14; J7,11 ff;
Test Rub 6,12; Sim 5,5; Dan 5,1o; aber auch M Ex 17,8 ff HR 176 ff,
R Eleazar aus Modiim, Tan 2). 192
Der Gegensatz zu den Nicht-Israeliten wird oft weniger als ein nationaler,
denn als ein religiöser und ritueller empfunden. 193 göjim heif3t nicht mehr
Völker, auch nicht Heidenvölker, sondern einfach "Heiden", und man bildet
dazu den Singular göj=Heide, fern. göjä-gö}öi. In derselben Weise hat ja
auch ]isrii'el die Bedeutung Israelit gewonnen, andere Beispiele solcher
Individualisierung der Begriffe ist min und iam ha'äräfi. Im griechisch
redenden Judentum kann in derselben Weise E.frv"IJ die Bedeutung "Heiden"
annehmen, 194 und 'louBotro~ kann ein religiöser Terminus, ohne jeden
"völkischen" Beiklang werden, und den Bekenner des jüdischen Gottes-
glaubens bezeichnen (vgl Bel et Dr 28; 2 Mac 9,17; Jos Ant XX 38 f;
XIII 258; Ps-eiern Horn II,I6; Rec V 34,2; Reinach Nr 74·78·99 vgl 47). 195
Besonders in Rom sind die Gemeinden auch als religiöse Vereine organi-
siert, in den östlichen Städten tritt dagegen das völkische Moment stärker
hervor. 196
Es haben sich in dieser Zeit zahlreiche Proselyten (gere ijärjä~, 7rpoa-fJAu-rot)
den jüdischen Gemeinden angeschlossen und sind "Juden" geworden. Zur
Aufnahme gehörte wohl schon zu unserer Zeit Beschneidung, Taufe und
Opfer. 197 Um die Gemeinden scharte sich aber auch eine weitere Schar von
Gottesfürchtigen (ji-?e siimajim, cpoßoup.e;vot, cre:ßop.e:vot 'TOV &e:ov, &e:ocre:ße:r~,
metuentes). Ohne sich beschneiden zu lassen, hielten sie sich doch an
den jüdischen Gottesglauben und zum Gottesdienst, hielten einige der
wichtigsten Gesetze (vgl z. B. M Ex 22,20 HR 312; C I I 285.529;
Jos Ant XIV uo; XX 195; Juvenal Satire 14;96-109, Reinach Nr 172;
Act 10,2; 13,16.26.43·50; 17,4·17). 198 Es ist durch neuere Forschungen
ganz klar geworden, daf3 das Judentum in diesen Jahrhunderten eine
ausgeprägte Missionsreligion war. 199 Anziehend wirkte der Monotheis-
mus, anziehend auch der Gottesdienst der Synagoge. Die Übersetzung
der heiligen Schriften haben auch der Mission gedient, eine apolo-
getische und werbende Literatur entstand. Vielleicht gab es auch umher-
reisende Missionare/00 aber gröf3ere Wirkung hatte die Werbung der Ein-
zelnen an Ort und Steile. In der sozialen und religiösen Auflösung der
Zeit gab die fest geschlossene jüdische Gemeinde Sicherheit für das Leben
74
in dieser und in jener Welt. So konnte das Judentum mit grof3em Erfolg
mit den anderen missionierenden Religionen der Zeij: und auch mit dem
jungen Christentum konkurrieren. 201 Die Mission ist vor allem Sache des
piasporajudentums gewesen, aber auch Palästinenser können behaupten, die
Israeliten seien unter die. Völker zerstreut worden, damit sich ihnen Prose-
lyten anschliefuen sollten (b Pes 87 b, R Eleazar b Schammua, Tan 3; vgl
Tob 13,3; 14,4 ff und der Jude bei Celsus, Origenes Cels I 55). Diese
umfassende Werbung von Proselyten ist es, was dem Judentum am stärksten
den nationalen Charakter nimmt und ihm ein "kirchliches" Gepräge gib't. 202
Aber auch die Stellung der Apostaten zeigt, in wie hohem Mafue die
jüdische Gemeinschaft religiös bestimmt ist. 203 Wer mit der jüdischen
Religion bricht, durch Wort oder Taten, wird aus der Gemeinschaft aus-
gestoben. Er ist kein Jude mehr (vgl I Gr R IV 1431 (Smyrna): o[ 7to't"e
'louoociot; cfr auch Sus Theod 56). Der Apostat ist schlimmer als der Heide,
als gottloser Sünder ist er der Verurteilung und Strafe anheimgefallen (vgl
r Mac r,r5; 3 Mac 1,3; 2,31.33; 7,ro-r6; M Sanh X r; M Ex 12,43
HR 53; 23,4 HR 324; b Chul5 b; Philo, Spec leg I 55.315 f; Ili 125-127;
Praem 162 f etc). Wie die Synagogen um den Segeri Gottes für die Prose-
lyten beten (Sehern esre 13), so beten sie auch um die Bestrafung der
Abgefallenen und der Sektierer (Sehern esre 12).
Und doch ist dies nur die eine Seite der Sache. Das "Völkische"
kann zwar in den Hintergrund treten, aber es verschwindet nie. Die
Apostaten bleiben doch Glieder des jüdischen Volkes, und können mit
Gewalt zum Judentum zurückgeführt werden (r Mac 2,45 ff). Durch die
Waffen der Makkabäer wurden ja auch Proselyten gewonnen (Jos Ant
XIII 257 f .318 f ·395 ff, vgl Ant XV 253 f; Vita 112 f; Strabo Geographie
XVI 2 §.. 341 Reinach Nr 54; Ptolomäus, Reinach Nr 47). Mit den Voll-
israeliten,. gleichberechtigt können die Proselyten nach den Bestimmungen
der Halacha nicht werden. 204 Die Stellung der Rabbiner zu den Proselyten
war überhaupt eine zwiespältige, viele, wie z. B. R. Eilezer b. Hyrkanos,
sehen sie mit feindlichen Augen an. 205 Nach einer weitverbreiteten Ansicht
werden in den Tagen des Messias keine Proselyten angenommen (b Jeb 24 b;
Ab zar 3 b; vgl Ps Sal 17,28); nur in der Leidenszeit Israels dürfen Fremde
sich Israel anschliefuen, die messianische Zukunft gehört aber der Nation. 206
Um noch eins zu nennen: der Gegensatz jisrä'el-göj ist ein individueller
und religiöse~ geworden, der Gegensatz zu den fremden, herrschenden
Nationen ist aber geblieben, und man hat für sie eine neue Bezeichnung
bekommen, 'ummöl häiolam, die Nationen der Welt.
Wenn auch das Individuum und die individuelle Frömmigkeit in der
Synagoge eine grofue Rolle spielt, so ist dies doch ein "Individualismus"
eigener Art. Der Einzelne ist Glied des Volkes und Träger seiner Art,
er ist eben jisra'el. Ein jeder soll sich selbst so betrachten, als wäre er
aus Ägypten ausgeführt worden (M Pes X 5). Jeder Israelit hat einen
höheren Wert als alle Heidenvölker zusammen, wer einen Israeliten tötet,
75
das diesseitige Heil der Nation nicht mehr von entscheidender Bedeutung
sein. Der anthropologische Dualismus führte zu einer "Vereinsamung des
Ichs"; wer nur an der Verwandtschaft der Seele mit Gott interessiert war,
mufute der natürlichen Verwandtschaft mehr oder weniger gleichgültig gegen-
überstehen.221 Dies zeigt sich z. B. in dem Entstehen einer Art apokalyp-
tischer Visionsliteratur, die nicht an der Endgeschichte Israels, sondern an
dem jenseitigen Schicksal der Seelen interessiert war. In der griechischen
Baruch·Apokalypse klagt der Seher über das zerstörte Jerusalem und über
das den Heiden preisgegebene Gottesvolk. Die Beantwortung der Frage
erfolgt aber durch eine Himmelsreise, wo · "Baruch" die Bestrafung der
Sünder und die Belohnung der Gerechten im Jenseits sehen darf. Zu der-
selben Gattung zählen auch andere Apokalypsen; die meisten sind allerdings
nur in christlicher Redaktion erhalten. 222 Auch die Henoch-Schriften sind
in diesem Zusammenhang zu nennen; das Wort "Israel" findet sich in ihnen
nur selten (I Hen 20,5 nach einer Konjektur; 3 Hen 2,3; I8,q; 26,I2;
4+,9 f; 45,4-6; 48 A s.6.Io; 48 D 4.7; IS cod. B 2.3; 22 cod. B 2.5;
es fehlt im 2 Hen und in den Henoch·Metatron-Abschnitten des 3 Hen),
und auch die Sache kann in den Hintergrund treten (vgl unten S. 85 f .116
und I32).
Diese Schriften bilden aber Ausnahmen und sind für das Judentum
nicht repräsentativ. Im allgemeinen dienen die neuen Gedanken nur dazu,
die Gröfue und Herrlichkeit Israels um so mehr hervortreten zu lassen. 223
Das Judentum hat einen neuen, weltweiten Gesichtskreis bekommen; 'ii'Jläm
gewinnt unter dem Einfluß des griechischen xocrp.o~ die Bedeutung "Welt".
Die Folge ist aber nicht Kosmopolitismus, sondern die Behauptung: Israel
sei das Zentrum der Welt. Schon im AT waren ja Ansätze zu dieser
Betrachtung vorhanden, Zion war der Nabel der Erde usw. 224 Jetzt wird
daraus ein spekulatives Weltbild, 225 Zion ist als Nabel der Erde zugleich
der höchste Punkt (Jub 8,I9; I Hen 26,r; 90,26; hebr Test Napht 8,I;
Jos Bel III 52; Ep Ar 83; b Qid:69 a; S Dt 32,I3 § 3I6 Friedm I35 b
etc). Von Zion, näher bestimmt 'von dem 'ägän s'ltjjä, dem unter dem
Allerheiligsten liegenden Felsen, 226 aus wurde die Welt geschaffen (Tos
Joma III 6; j Joma V 3, 42 c, Schwab V S. 2I8 f). Das Heiligtum ist
eine Grundfeste des Kosmos (Pesiqta R K I, Buher 5 b--:-6 a, Wünsche
S 6 f) und das Land Israel das erste Land der Schöpfung (b Taan ro a;
Or Sib V 330 f). Die jüdischen Hellenisten reden ihrerseits nicht nur
davon, wie der Tempel in der ganzen Welt bekannt ist (Jos Bel IV 262.275;
V 17 f .2I6; Ant III 318 ff; XX 49 etc), sondern auch davon, daß der
Tempel ein Abbild des Kosmos sei (Jos Ant III I79 ff; Bel V 208 ff), und
daf3 der Tempeldienst eine kosmische Bedeutung habe (Jos Bel IV 324;
Philo, Spec leg I r68. 190 etc).
Man behauptet, die Welt sei nur um Israels oder seiner Väter willen
geschaffen (As Mos I,I2; 4 Esr 6,ss-s9; 7,II; 2 Bar I4,I8 f; IS,7; 2I,24;
S Dt II,2I § 47 Friedm 43 ab; Gen R I zu r,I Th-A 6 f etc). 227 Um
Israels willen wird die Welt auch erhalten (b Taan 3 b; b Ab zar IO b;
b Joma 38 b; b Jeb 63 a; j Schebiith IV 3 Schwab li S. 359i Gen R 66,2
zu 27,28 Th-A 745 f; Lev R 23 Wünsche S. IS4i Cant R 2,2; 7,1
Wünsche S. SS·I63). 228 Der Gerechte erhält die Welt, der Ungerechte
verdirbt sie (Aboth V I vgl VI 6). Schon Jochanan b Zakkai sagt, die
"Söhne der Tora" seien Versöhnul?g für die Welt (Tos B Q VII 3). 229
Die Grundlagen des israelitischen Lebens sind auch die Grundlagen der
Welt: Tora, Kultus und Wohltätigkeit oder auch Recht, Wahrheit und
Frieden (Aboth I 2.I8).
Israel ist Anfang und Erstlingsgabe der Schöpfung (As Mos 1,13;
Philo, Spec leg IV I8o; vgl Sir LXX 36, 14), die Israel-Idee existiert vor
allem anderen (Gen R 1,4 zu 1, I Th-A S. 6 f, R Schemuel b Jizchaq,
p Am 3i vgl M Ex 14,15 HR 99, R Eleazar aus Modiim, Tan 2). 230 Die
geschichtliche Erlösung und Erwählung Israels genügt nicht mehr, man
sucht eine ewige Grundlage der Existenz des Volkes. Präexistenz- und
Prädestinationsgedanken werden bedeutungsvoll. Relativ spät und selten
findet sich die Vorstellung, daß Israel eine präexistente Größe sei. Viel
älter ist die Spekulation über die präexistente Weisheit, die in Israel eine
vVohnung gefunden hat (Sir 24 bes 8-I2j I Bar 3.9-4.4 bes 3t37i
Sap 6-9 bes 7,27; IO-I2j vgl schon Prov 8,22fl"). 231 Die Weisheit wird
mit dem Gesetze identifiziert (Sir 24,23; 1 Bar 4, I; 2 Bar 38,4; 44, I 4;
48,24), und die spätere Zeit redet daher viel von der Präexistenz des
Gesetzes (z. B. Aboth III I4; VI Io; vgl r Hen 99,2). 232 Auch andere für
das Volk wesentliche Heilsgüter stellt man sich als präexistent vor, z. B. den
Tempel, die Buße, den Namen des Messias, den Lohn des kommenden
Äons, und auch was sonst in die Eschatologie gehört (b Pes 54 a;
b Ned 39 b (Bar); 4 Esr 7,26.so.77.83·9Si 8,52 etc). 233
Das Spätjudentum kennt aber auch die Vorstellung von einer allge-
meinen Präexistenz der Seelen (Test Napht 2; 4 Mac 18,23; 2 Hen 23,4;
3 Hen 43 etc). 234 Nach der Vorstellung späterer Gelehrten gehören auch
diese präexistenten Seelen zu Israel, sie waren alle bei der Gesetzgebung
-a:m Sinai gegenwärtig (Ex R 28 Wünsche S. 207 etc). 235 Neben Präexistenz-
gedanken treten auch Prädestinationsgedanken auf; alles was. auf Erden
geschieht, ist schon im Himmel vorausbestimmt (2 Bar 23; Apoc Abr 22;
26; 29,17; Ant bibl 9,4 (Io C); b Sanh 38 b). Die Zahlen der Seelen,
die geboren werden sollen, die Jahre und die Weltperioden, die kommen
müssen, sind schon im voraus festgestellt. 236 Auf den himmlischen Tafeln oder
in den himmlischen Büchern steht aufgeschrieben, was geschehen soll Uub 1,29;
I6,3; 23,33; 2 Hen 23; vgl 49,2.; 53,2 etc). 237 Konsequent durchgeführt
wird der Prädestinationsgedanke selten, vielleicht bei .den Essäern (Jos Ant
XIII I72 etc). Die Pharisäer dagegen rechnen daneben mit einer Wahlfreiheit
des Menschen (Jos Ant XIII 172; XVIII I3i Bel II 162 f und Aboth III 15 f). 238
Aber auch so zeugt diese Vorstellung von der Tendenz, das Heil im Jenseits
zu verankern. Die Geschichte dagegen ist entwertet worden.
79
Die himmlischen Tafeln sind wohl als Vorbilder der Tafeln des
Gesetzes verstanden worden. Auch sonst spielt die Vorstellung von den
himmlischen Vorbildern eir,e grof3e Rolle. Es gibt ein himmlisches Heiligtum
mit einem himmlischen Altar, wo die himmlische Liturgie verrichtet wird
(Test Levi 3; Si j Joma VII 3, 44 b, Schwab V S. 244; j Ber IV 6 Schwab I
S. 89; Gen R 55,7 zu 22,I Th-A 590 f; 69,7 zu 28,17 Th-A 797 etc)/39
und wo die Engel die himmlische IJ'riussa singen (Schema Bened }o$er 3;
b Sehern esre 3; Const Ap VII 35; I Hen 39 1 I2). 240 Auch vom himm-
lischen Jerusalem ist hier und dort die Rede (2 Bar 4; b Taan 5 a;
b Chag I2 b). 241 Es entspricht sich weiter die obere und die untere Familie
(piimiljii Sä/ ma~ata und piimilja so;'/ mat(a b Ber I6 b. I7 a; b Sanh 98 b.
99 b etc), die obere und die untere Akademie V'sibä, aram. m•Jifltä b Ber
I8 b; b Git 68 a), der obere und der untere Gerichtshof (he1 dln b Tem 3 ab;
Mak 23 b etc), das obere und das untere Heer ('isfraljä, $iibä Cant R 3, II;
2,7 Wünsche S. Ior.6s; Ex R IS Wünsche S. 106 f) usw. 242 Ganz allgemein
kann es heif3en: "Alles, was oben ist, ist auch unten" (M Ex IS,I? HR ISOi
vgl . Ex R 33,4 Wünsche S. 257 f). Hinter diesen Gedanken steht das
astrale Weltbild Babyloniens, vielleicht auch die platonische Ideenlehre.
Charakteristisch ist aber auch die jüdische Umformung der Gedanken. Die
himmlische Welt wird weder durch Sterne noch durch Ideen, sondern durch
die Engel vertreten, das irdische Gegenstück ist Israel, vor allem die Rabbiner,
die auch zur himmlischen Akademie zugelassen werden können (vgl z. B.
b BM 85 a b). 243
Die Zusammengehörigkeit der Israeliten mit den Engeln begegnet uns
schon in den atl. Pseudepigraphen. Die Engel sind die Heiligen im Himmel
(Dan 8,I3i Tob 8,ISi n,I4i Sir 42,17; Ps Sal 17.43 (?); Test Levi 3,3;
I Hen 9,3; I2,2 etc), mit denen die Israeliten als die Heiligen auf Erden
zusammengehören (Jub I5,27; Tob I2,IS (cod A, B) etc). Wie die Israeliten
sind auch die Engel "Söhne Gottes" (I Hen 6,2; I3,8; 14,3 und
seine "Auserwählten" (Tob 8,ISi I Hen 39,Ii s6,3·4 (?); 6I,4.IO.I2).
Michael, der Vornehmste unter den Erzengeln, ist zugleich der Fürst und
Vorkämpfer Israels (Dan 10,I3.2I; I2,I-3i I Hen 20,5; vgl89,6I-64.70.76;
90,I4.20.22j As Mos Io,2; Apoc Abr 10,17; b Joma 77 a etc). 244 Eine
ähnliche Funktion kann auch Gabriel haben (b Sanh 26 a b. 95 b etc). 245 In
der späteren Spekulation erscheint Metatron als eine Mittlergestalt, der z. B.
als himmlischer Schreiber die Verdienste Israels aufzeichnet. 240 So wird das
Volk Israel von Engeln beschützt (vgl noch 2 Mac 3,25-30; I0,29 f;
11,6-n; I5,22 f; Const Ap VII 38,7). Das Volk hat aber auch noch
andere Fürsprecher im Jenseits, die eigenen Vorväter (M Ex I6,I4 HR I65;
b Schab 89 b; vgl 2 Mac IS,I4i Jos Ant I 23I; Philo, Execr I66; vgl
2 Hen 53, I (polemisch!)).
Israel hat nach spätjüdischer Anschauung viele überirdische Helfer,
das Volk hat jedoch auch überirdische Feinde. Zu der Erweiterung der
Perspektiven gehört das Hineindringen eines dualistischen Moments in die
Bo
Weltanschauung. 247 Schon im Buche Daniel streitet Michael mit den Engel-
fürsten Persiens und Griechenlands (10, I3. I9 [). In der Tiervision des Henoch
erscheinen siebzig Völkerengel als Feinde Israels (I Hen 8g,sg-go,27).
In anderen Schriften ist dann die dämonische Macht in dem einen Teufel
konzentriert. Im Buche der Jubiläen sehen wir die dualistische Zuspitzung
des Gegensatzes zwischen Israel und den Heiden; auf der einen Seite stehen
die "Kinder des Bundes" (I5,26), auf der anderen die "Kinder des Verderbens",
die "Söhne Beliars" (I5,26.33). Es wird erzählt, wie der "Fürst Mastema"
den Auszug der Israeliten aus Ägypten zu ver-hindern suchte (48,2 ff);
ähnliches wissen die Testamente der Patriarchen von Beliar zu berichten
(Test Joseph 20,2; vgl Dam 7,Ig). Auch die Weisheit Salomos erzählt,
dafl die Gottlosen "der Teil des Teufels" sind (2,24). Am stärksten ist
der Dualismus in der streng nationalistischen Apokalypse Abrahams. Die
Macht über die Menschen teilen Gott und Azazel miteinander (2o,s),
ja, alle Heidenvölker gehören Azazel, nur Israel hat Gott für sich aus-
gesondert (22,6 f; vgl 20-22; I3-I4; 3I). So gibt es in der Welt
zwei .Möglichkeiten: Gott oder dem Teufel anzugehören. Die Völker
gehören dem Teufel, nur Israel gehört Gott und ist der Macht des
Teufels entrissen.
Bei den Rabbinern treten die dualistischen Motive in den Hintergrund. 248
Doch können auch sie von dem Todesengel als dem bösen Kosmokrator
reden, der nur über das Volk der Söhne Gottes keine Macht besitzt
(Lev R IB, I 18 a, Wünsche S. 1 I9 f). 249 Andererseits können sie den Satan
mit dem 11 bö;;en Trieb" identifizieren, aber auch aus dessen Herrschaft sind
die Israeliten durch die Tora befreit, können ihn jedenfalls nach dem Vorbild
der Väter erfolgreich bekämpfen (b B B I6 a- 17 a etc). 250 Auch in den
Testamenten der I2 Patriarchen wech;;eln die Betrachtungen zwischen
psychologischen und dämonologischen Gesichtspunkten ab; 251 hier wird
besonders betont, wie der Einzelne zwischen ,Licht und Finsternis, zwischen
dem Gebote Gottes und den Werken Beliars und seiner Geister zu wählen
hat (Test Rub 2; Sim 5,3; 6,6; Levi Ig; Judae 20 etc).
Gerechte und Gottlose stehen sich als zwei scharf getrennte Gruppen
gegenüber (vgl z. B. I Hen 94-ros, auch I,r.B.g; Test Asser I und s;
Sap I - 5 etc). Die Gerechten sind das Geschlecht des Lichtes und werden
in alle Ewigkeit glänzen, die Gottlosen sind in der Finsternis geboren
und werden zum Schlufl wieder in die Finsternis geworfen (I Hen
I oB, I I - I 5, Zusatz, nur äthiopisch). So vollendet sich die Erweiterung
des Gesichtskreises in eine grofle Endperspektive, hier ewiges Leben, dort
endgültige Strafe (vgl unten S. 83 ff). Jedenfalls im groflen ganzen herrscht
dabei die Überzeugung, dafl den Israeliten das ewige Leben zuteil wird,
sie sind Söhne der zukünftigen Welt (Gen R 35,5 zu g,I6 Th-A 332
vgl 40 (4 I ,g) zu r 3, I 5 Th-A 396). Die Heiden dagegen sind für Gehenna
bestimmt (b Sanh rosa; b B M 33 b). Diese Welt gehört den Nationen, die
kommende aber gehört Israel (Pesiqta R K 6, Buber 59 b, Wünsche S. 73;
8r
S Dt 32,8 § 3II Friedm I34 ab). "Ganz Israel hat Anteil an der kom-
menden Welt" (M Sanh X I). Ein Sohn des kommenden Äon ist, wer im
Israel-Lande wohnt, die heilige Sprache spricht und morgens und abends das
Schema rezitiert (S Dt 32,43 § 333 Friedm r 40 a, R. Melr, Tan 3). 252 So wird
das ewige Leben das eigentliche: "Diese Welt ist wie ein Vorzimmer für
die zukünftige \Velt" (Aboth IV I6). Als frommes Glied des Volkes Israel
in dieser Welt zu leben, ist die Vorbereitung für aas Leben in der zu-
künftigen Welt.
So vollendet sich der Ring. Israel besteht von Ewigkeit zu Ewigkeit
(vgl M Ex I4,15 HR 99, R Eleazar aus Modiim, Tan 2). Das innerwelt-
liche Leben Israels ist nur eine Etappe auf dem Weg, der von dem ewigen
Ratschlufu Gottes zu der ewigen Gemeinschaft der gerechten Israeliten mit
ihm führt. Die k'nesät ]isrä'el wird eine hypostasierte, überweltliche, himm-
lische Gröfue. Diese Auffassung gehört vor allem der späteren Zeit an, in
der Kabbala kommt sie zu voller Entfaltung (vgl unten S. rr8). Sie bahnt
sich aber schon bei den Tannaiten an, was man aus den Aussprüchen
R. Schimeon b Jochais ersehen kann (z. B. Gen R I r,8 zu 2,3 Th-A 95). 253
Allem Traditionalismus zum Trotz ist also "Israel" im Spätjudentum
etwas ganz anderes geworden, als "Israel" im AT war. Die Religion ist
individualisiert und spiritualisiert und hat neue Perspektiven bekommen.
Nur ein überweltlicher Begriff "Israel" kan dieser Frömmigkeit genügen.
Dem Einzelnen genügt nicht mehr das Teilhaben an dem nationalen Heil.
Die Frage nach Erlösung von Sünde, Tod und Teufel ist lebendig geworden,
da genügt nicht mehr der Hinweis auf die Erlösung aus Ägypten. Dadurch
hat die Offenbarung Gottes in der Geschichte und die völkisch-geschichtliche
Erlösung weitgehend an Bedeutung verloren. Statt dessen sucht man die
Sonderstellung Israels in anderer Weise zu begründen. Dafür haben sich
verschiedene Möglichkeiten geboten, die aber alle von dem atl. Verständnis
von "Offenbarung" und "Kirche" wegführen.
vgl Jub 1,22 f; 5,17; 23,26; 2 Bar 44,7-8; 46,5f; 48,22; 84,2.6; 8s,+;
Test Judae 26,I; As Mos I,17; Pseudo-Ezechiel bei Clemens Paed I 9I,2;
Aboth V 20; b Joma 86 ab; b Sanh 97 b etc). 7 In dieser Welt mufu Israel
ein leidendes und büfuendes Volk sein, denn wer zu dem kommenden Volke
Gottes gehören will, mufu in dieser Welt ein Büfuender gewesen sein.
Diese Stimmung ist zwar nicht überall vorhanden. Vor dem Jahre 70
wird sie vielmehr nur in einigen 11 pietistischen" Kreisen im Volke die
herrschende gewesen sein. Wir finden auch Spuren des Glaubens, dafu
die Heilszeit schon hereingebrochen, oder schon im Hereinbrechen ist, was
ja in der Freiheitszeit der Makkabäer und zur Zeit der grofuen Aufstände
nicht verwundern kann (vgl I Mac I4,8-rs; I Hen 90,9.I9; gi,I2j Jub
23,9-3I; Test Levi I8 und oben S. 6o f). Dieser Glaube wurde aber von
der trüben Wirklichkeit als Illusion entlarvt. So nimmt man seine Zuflucht
zu der Gewifuheit, dafu der Höchste nicht nur eine, sondern zwei Äonen
geschaffen hat (+ Esr 7,so), und dafu der alte Äon bald zu Ende gehen
und der neue hereinbrechen wird (4 Esr 4,26 f etc). 8
Auf alle Fälle ist erst das Israel der eschatologischen Zukunft 11 Volk
Gottes" im Vollsinn dieses Begriffes. 9 Die Gemeinde der Gegenwart ist
wartende Gemeinde. Die Heilsgewifuheit und das Kirchenbewufutsein gewinnt
man nicht durch den Blick auf die schon geschehene Erlösung, sondern
durch die Hoffnung auf die kommende. Dadurch, dafu Gott in der Endzeit
das Volk erlösen wird, zeigt sich seine grofue Liehe zu seinem Volke
(Tob 13,8; 14,5i 3 Mac 2,19 f; Ps Sal II,1.9; Test Seb 8; 9; Napht 4,5;
2 Bar 78,7 etc). Immer wieder betet der Fromme, dafu diese Erlösung 10
eintreten möge (z. B. p Sehern esre 2. s-7· ro-I4. r6. I8; Ps Sal s,I8 f;
7,Io; 9,8-II; Io,8; 12,6; 17 145; I8,s; Lc I,S+-68).
Wie im AT wird dabei auch im Spätjudentum die eschatologische
Erlösung als ein höheres Gegenstück zu der Befreiung aus Ägypten ange-
sehen.11 Die messianischen 11 Wehen" werden die Leiden Israels bis zum
höchsten steigern; 12 wie aus Ägypten werden sie aber erlöst werden, und
zwar in der Osternacht (so R. Jehoschua, Tan 2, M Ex I2,42 HR 52;
b R hasch I I b)Y Wie am Sinai wird Gott erscheinen (r Hen I 14 -7;
2 Mac 2,8). Wie am Sinai wird der Todesengel seine Macht verlieren,
und es wird in dem Volke keine Tauben, Blinden oder Lahmen geben. 14
Auch das Manna- Wunder wird sich wiederholen (2 Bar 29,8; M Ex
16,25.33 HR 169.172). 15 Der Messias selbst wird als der zweite Erlöser
dem ersten Erlöser, Mose, gegenübergestellt (Pesiqta R K 5 Buher 49 b,
Wünsche S. 58). 16 Von dem neuen Bund der Endzeit ist ein paar Male
im Anschlufu an biblische Texte die Rede (z. B. S Lev 26, 9 Weiß 111 a}. 17
Wer sind nun die Glieder dieses erlösten Volkes? Daß das Volk der
Heilszeit irgendwie "Israel" ist, steht fest, im einzelnen können aber die
Vorstellungen recht stark variieren. 18 Die einfachste Antwort ist die Gleich-
setzung der Heilsgemeinde mit Israel, ohne weitere Spekulationen (vgl z. B.
Sehern esre 7; Ps Sa! r 7; As Mos; Or Sib III und V). Wenn die Rabbiner
darüber nachdenken, sagen sie "ganz Israel", aber sie führen doch viele
Ausnahmen an (M Sanh X r). Auch können sie hervorheben, daß es die
Israeliten reiner Abstammung oder die in Palästina wohnenden Israeliten
sein werden. 19 Nach der gewöhnlichen Anschauung werden aber alle über
die Welt zerstreuten Juden nach Palästina gesammelt und alle Israeliten
in dem heiligen Lande miteinander leben (Tob 13,5; 14,4 f; 1 Bar 4,36 f;
s,s-9; 2 Mac 1,27j 2,?.16ff; Ps Sal 8,28; I I j Jub r,rs; 1 Hen 57;
90,33 f; Test Judae 23,5; Napht s; 6; Ass 7; 2 Bar 78,7; 84,2; Apoc
Abr 31; Sehern esre ro; S Num 10,35 § 84 Hor 227 etc). 20 Noch voll-
ständiger kann man sich die Wiederherstellung vorstellen, auch die zehn
Stämme sollen zurückkommen; in dem eschatologischen Gottesvolk werden
alle zwölf Stämme wieder vollzählig vorhanden sein (Ps Sal 17.43 f; Test
Joseph 19; 4 Esr 13 1 12.39-47; 2 Bar 77-87; vgl Or Sib II 17o-r76;
Jos Ant XI 133; die Ansichten der Rabbiner stehen hier gegen einander
M Sanh X 3; b Sanh 110 b; Gen R 28 zu 6,7 Th-A 263). 21
Es findet sich aber auch die von den Propheten übernommene An-
schauung, dafu nur der Rest Israels gerettet werde.n soll. 22 "Hilf, Herr,
deinem Volk, dem Überrest Israels", lautet eine kurze Zusammenfassung
des Achtzehngebetes (M Ber IV 4, R. Jehoschua, Tan ~). Damit wird an
das ganze, in der Gegenwart übriggebliebene Volk gedacht,. und ähnlich
wird Or Sib V 384 zu verstehen sein. Nach der Apokalypse Abrahams
werden aber nur die Frommen in einer vorher bestimmten Anzahl übrig-
bleiben (Apoc Abr 29,17). In der Apokalypse des Baruch wird der Rest
mit den Einwohnern des heiligen Landes gleichgesetzt (4o,2; vgl 36-4o;
29,4; 71,1) oder mit dem Volke der Gegenwart (77,2; 8o,s}. Auch Pseudo-
Esra erwartet den Rest im heiligen Lande zu finden (r2,34), denkt aber,
daß nur wenige gerettet werden (7,47; 8,1-3). Diejenigen, die um ihres
Glaubens und ihrer Werke willen in der letzten Drangsal bewahrt bleiben,
werden den Rest bilden und das Heil der messianischen Zeit erleben (9,7 f;
13,16-24.26.48 f; 6,25; 7,27 f).
Daß die gottlosen Israeliten von der Heilsgemeinde ausgeschlossen sein
werden, ist eine verbreitete Vorstellung, nur darüber, ob sie einzelne Aus-
nahmen, oder vielleicht sogar die Mehrheit sein werden, bestehen verschiedene
Ansichten. 23 4 Esra scheint zwar mit seinem Pessimismus ziemlich allein
85
zu stehen, jedoch meint man auch sonst häufig, daß nur diejenigen, die als
rechte Israeliten nach dem Gesetze Gottes leben, zum endzeitliehen Israel
gehören werden. Die Heilsgenossen sind die "Gerechten" (4 Esr 4 135·39i
7.17.18 etc; 2 Bar I4,12j I5,7i 30,2 etc; Apoc Abr 13,Ili q,r3;
Test Dan 5,12; CI I 78.u8.r5o.193·28r.632 usw), 24 oder auch die "Frommen"
(4 Esr 4,27; 8,57; CII55.340 etc) und die "Glaubenden" (4 Esr 7 1 131;
2 Bar 54,21; Or Sib V 426). Die Ehrennamen der Israeliten sind also auf
die Glieder des eschatologischen Gottesvolkes übertragen. Fast nur in
diesem eschatologischen Sinne spricht man jetzt von den "Heiligen" (Dan
7,18.22.25.27; 8,24 (LXX auch 8,25); Test Levi r8,rr.14; Test Dan 5,r2;
Or Sib V 432) und den "Auserwählten" {Sap 3,9; Jub r, 29 etc).
Diese Bezeichnungen sind in dem äthiopischen Henoch-Buch sehr häufig, die.
Frage wer diese" Auserwählten" sind, läßt sich aber für r Henoch nicht einheitlich
beantworten; es ist ja auch kein Buch, sondern eine Kompilation vieler Bücher,
die wir vor uns haben. In der "Zehn-Wochen-Apokalypse" (93; 91,12- I?) sind
"die Kinder der Gerechtigkeit"= "die Auserwählten der Welt" ="die aus-
erwählten Gerechten"= "die Pflanze der Gerechtigkeit" usw =das Volk Israel
(93 1 2.5.8.ro; 91,12). Jedoch sind in 93,6 "die Heiligen und Gerechten" die
Propheten. Auch in den "noachitischen" Fragmenten sind die "Gerechten"
(ro, 17 vgl r6), bzw. die "Gerechten und Heiligen" (65,12) mit den Israeliten
gleichzusetzen. An anderen Stellen dieser Fragmente ist allerdings von den ver-
storbenen Gerechten {6o,2.8) oder von den "heiligen" Engeln {6o,4; 65, 12 a)
die Rede. Auch in der" Tiervision" (85-90) handelt es sich um das Volk Israel,
wegen der symbolischen Sprache fehlt hier aber die sonst übliche Terminologie.
Anders stehtjedoch die Sache innerhalb der "Paränesen" (92; 94-105).
"Gerechte", "Weise", "Fromme" und "Heilige" (~lxoctot 98,12 ff; 99 13.16
etc; cppoVtfLOI 98,9; 99,10; IOo,6; I04 1 l2j ÖO"tOI I03 1 9i l04 1 I2i E:UO""IJ~E:it;
roo,s; ro2,4.6; ro3,3; ocytot roo,s) heißen hier die armen Frommen (in
Israel 94,2), die von den gottlosen Reichen und den Machthabern außer-
halb und innerhalb des Volkes unterdrückt sind, die aber dereinst über
ihre Feinde triumphieren werden (92,3-5; 94,II; 95,7; 96; 98,12 ff; 103;
r 04, r ff). 25 Sie sind diejenigen, die an die Bücher Renochs glauben und
sich darüber freuen (ro4,12 f; vgl 92,1; 99,10; roo,6). Schwieriger ist zu
entscheiden, wer im ersten Teil des Buches (Kap. r-36) die "Auserwählten",
"Gerechten" und "Heiligen" sind (letzteres nur 32,3). Diese Termini stehen
hier nur in rein eschatologischen Zusammenhängen (r,8; 5,6-8; 25 14 ff;
27,3 f; 32,3). Weder nationalen noch "ebjonitischen" Pathos kann man
hier bemerken, die Art der Heilsgenossen ist nur religiös-ethisch bestimmt.
Wenn es heißt, daß sie "das Land erben" (5,7) und von dem Baum "an
dem heiligen Ort beim Hause Gottes" essen sollen (25 15), so wird aber
doch dadurch deutlich, daß es sich irgendwie um "Israel" handelt. Zur
Erklärung dürfen wir ·die Vorrede des ganzen Buches heranziehen ( r, r- 3):
das Buch ist "die Segensrede Henochs, mit der er die auserwählten Ge-
rechten segnete, die am Tage der Trübsal vorhanden sein werden, wenn
86
man alle gottlosen Sünder beseitigt". D~s soll doch wohl heiflen, dafl die
Glieder des Henoch-Kreises und Leser des Buches gewifl sind, dafl sie
die von dem Gottesmann der Urzeit vorausgesehenen "auserwählten Ge-
rechten" sind, oder richtiger, dafl sie es bei dem nahen Ende sein werden.
Dafl sie dies als Glieder und Vertreter des Volkes Israel sind, ist nur eine
unbetonte Voraussetzung.
Wer in den "Bilderreden" die "Heiligen" sind, ist auch nicht ganz
deutlich erkennbar. Der Verfasser dieses Abschnittes kennt nicht nur
Engel als "Heilige" im Himmel (39,5; 47,2; 57,2 etc), sondern auch ver-
storbene "Gerechte" (38,r; 39,4.6.7; 48,r; 70,3·4), "Auserwählte" (3916.7;
4o,5; 48,r; 70,3) und "Heilige" (39,4; 45,r; 48,r), die im Himmel ihre
Wohnungen haben. Am Ende der Tage wird ihre Gemeinde erscheinen
(38,r). Es gibt aber auch auf Erden "auserwählte Gerechte" (38,2; vgl
53,7; 6r,r3; 62,I2.I3.15) und "Heilige" (43,4), welche die grofle Um-
wandlung erleben werden (5o,r f). Beide Gruppen bilden zusammen die
endzeitliche "Gemeinde der Heiligen und Auserwählten" (62,8), so dafl an
den meisten Stellen an alle Heilsgenossen, verstorbene wie überlebende,
gedacht ist (38,3-5; 4r,8; 45,5 -6; 48,4.7·9; 51,2.5; 58; 6r,3 f .r3;
62,7.8; 71,J7). Diese Gerechten haben "diese Welt der Ungerechtigkeit
gehaflt" und waren "im Herzen betrübt" (48,7·4). Von den Sündern unter-
drückt (46,8; 53,7; 62,rr) haben sie ihre Blicke senken müssen (62,15).
Sie werden aber triumphieren, wenn die Könige und die Mächtigen der Erde
zu Grunde gehen (38,4 f; 46,4-8; 48,8; 53,5; 54,2; 62,3-6.9-12; 63).
Es ist auch von dem "Land seiner Auserwählten" und der "Stadt seiner
Gerechten" (56,6.7) die Rede, und der Apokalyptiker weissagt den Ansturm
der Heidenvölker auf Jerusalem und die nachfolgende Rückkehr der Zer-
streuten (56- 57). Es wird also hier von den durch die Heidenvölker
unterjochten Juden die Rede sein. 26 Jedoch scheinen sich unter den Gott-
losen auch Israeliten zu befinden (46,8), und wir hören hie und da Univer-
salistische Töne (48,4; 5r, r). Es ist aber doch deutlich, dafl hier kein
Universalismus vorliegt, sondern nur eine eigentümliche Umprägung des
Bewufltseins, Volk Gottes zu sein. Der theokratische Staat und die offizielle
Kirche scheinen den "Gerechten" allerdings ziemlich gleichgültig zu sein.
Wenn auch die ,,Heiligen" nirgends ausdrücklich mit den Gliedern eines
He~och-Kreises identifiziert werden, so ist doch deutlich, dafl in erster
Reihe an sie gedacht wird, aber nicht nur an sie, sondern auch an alle
Juden, deren Glaube und Leben dem Ideal dieser pietistischen Apokalyptiker
entspricht. Nach dem Bilde ihrer eigenen Versammlungen stellen sie sich
ja auch die eschatologische Heilsgemeinde vor (46,8; 53,6; 38, r; 62,8).
Gemäfl der Anschauung dieser "Bilderreden" bilden die verstorbenen
Gerechten schon jetzt eine himmlische Gemeinde, die am Ende der Tage
sichtbar werden wird (r Hen 38,i; vgl 39·4 ff; 40,5; 49,3; 53,6; 70).
Dieselbe Vorstellung findet sich auch im 4 Esra (7,28; 13,52; 14,9).
Daneben steht aber die gewöhnlichere Hoffnung, dafl die Toten am Weltende
auferstehen werden (I Hen SI; 6I,5). Diese verstorbenen Gerechten, die
auferweckt werden, um das selige Leben des triumphierenden Israels mit·
zuerleben, sind die Märtyrer (2 Mac 7,9-I4.36; I2 143 ff; Dan I2 1 I f(?);
I Hen 90,33; vgl Tacitus Hist. V s, Reinach Nr I8o), die Erzväter (Test
judae 25; Sim 6,2; Seb Io,2; Benj Io; vgl 2 Bar 21,24) oder auch alle
Gerechten (I Hen 91 1 1o; 92,3; 2 Bar 30,I; Jos Ant XVIII I4; Ps Sal
3, I I f), alle, welche im Lande Israel wohnen (b Keth Ir I ab; vgl Jos
Ant XX 9Sl, alle Israeliten (M Sanh X I; b Ber s8 b; vgl Celsus bei
Origenes Cels V 14), oder alle Menschen (4 Esr 7,32; 5,45; 2 Bar 42,7;
so,2; Gen R I3,6 zu 2 15 Th·A u6; j Ber IX 3, I3 d, Schwab I S. 162). 27
Schließlich gibt es einen dritten Typus, der das ganze Leben des triumphie-
renden Israels ins Jenseitige verlegt; im Himmel werden sich die gerechten
Israeliten mit den Erzvätern gemeinsam freuen (4 Mac 5,37; 7,I9; 13,I7;
r6,25; I8,23; vgl 2 Hen 9 etc). 28
Fraglich ist zuletzt, ob auch Heiden zu der Heilsgemeinde zugelassen
werden sollen. Dies kann verneint werden (vgl z. B. R. Eliezer b Hyrkanos,
Tan 2, b Sanh IOS a, in Diskussion mit R. Jehoschua). 29 In den Tagen
des Messias werden keine Proselyten angenommen, sagen öfters Rabbiner
(vgl oben S. 74). Weit verbreitet ist aber auch die Ansicht, daß die Heiden
den Gott Israels anerkennen müssen, sie werden umkehren und sich den
Israeliten anschließen (Tob 13,13; I4,6; I Hen I0,2I; 48,4; 90 130.33;
Ps Sal q,29-3I; Or Sib Ili 558ff; 6I6ff; 715ff; 740; 772ff; V 276ff;
428; 484ff; Apoc Abr 29,20; Test Judae 25,5; Napht 8,3 (und sonst oft
in Test XII, aber die meisten Stellen sind als christliche Interpolationen
verdächtig); b Ab zar 3 b, R. Jose, Tan 2; 24 a; b Sanh IOS a, R. Jehoschua,
Tan 2, etc). 30 Im allgemeinen ist dabei die Vorau!i'setzung, daß die Heiden
eine untergeordnete Stellung einnehmen und den Israeliten dienstbar sein
werden. Es gibt aber auch Aussagen, die damit rechnen, daß sie mit den
Israeliten gleichberechtigt sein werden (z. B. S Dt 32,13 § 317 Friedm I35 b). 31
Die Art dieser Gemeinde ist die größte Vollkommenheit. Gott wird
selbst in dem Volke wohnen (Jub I,q.26; Or Sib III 787; Test Seb 8,2;
Dan 5, I 3; p Sehern esre I 6 l = b 17) ). Er wird als "der Gott Israels und
der Vater d~r Kinder Jakobs und der König auf dem Berge Zion" an er·
kannt werden (Jub I,28), sein Königtum wird offenbar werden. 32 Das Volk
der Endzeit ist heilig (Ps Sal I7 1 26.32.43), von allen Sünden gereinigt und
von allen Sündern befreit (Ps Sal I 7,22 f .32.4I; Jub 4,26; 50,5; I Hen
Io,22; 39,6; 49,2; 69,29; 9I,q; 92,5; 2 Bar 73,4; Test Levi I8; Judae 24;
Or Sib V 431 etc). Kein Verführer wird mehr da sein (Jub 23,29; Test
Levi I8), auch die eigene Lust zum Bösen ist entfernt worden (4 Esr 8,53 etc).
Die Herzen sind beschnitten worden (Jub I,23), ein neues Herz ist den
Heilsgenossen gegeben (Apoc Mos 13; vgl 4 Esr 6, 26 f). Sie werden in
Weisheit und Gerechtigkeit leben (I Hen 9I,Io; 92,4). 33 Der heilige Geist
wird wiederum über das ganze Volk ausgegossen werden (Test Levi I8,u;
Judae 24,2 f; vgl Jub 1,23; Or Sib IV 46.189).
88
lassen (I7,26.27.29.32.43; r8,8). Selbst stark durch den Segen des Herrn,
läßt er niemand im Volke schwach sein (I7,37-4o). Er lebt in der Furcht
Gottes, und sein Volk ist voll Gottesfurcht (17,40; r8,7-9). Gott ist sein
König (17,34) und durch ihn wird das Königtum Gottes über das ganze
Volk verwirklicht li7,r.4).
Nicht nur der irdisch·nationale Davids-Sohn, sondern auch der himm-
lische "Menschensohn" ist mit dem t"schatologischen Volke eng verbunden.
Bei Daniel erscheint einer "wie ein Mensch", es ist ein Individuum, zugleich
aber ein Kollektivum, "das Volk der Heiligen des Höchsten" (7,18.22.27).
Der Verfasser des Danielbuches hat den "Menschenähnlichen" als ein Symbol
des Volkes verstanden. 56 Doch zeigt die spätere Tradition den individuell-
kollektiven Doppelcharakter dieser Gestalt, und dies wird auch das Ursprüng-
liche gewesen sein. 57 Die rabbinische Auslegung versteht Dan 7, r 3 messianisch. 58
Ebenso die Septuaginta, wo der "Menschensohn" mit dem "Alten von Tagen"
identifiziert wird (7,9 f. 13.22; ähnlich Apoc Joh r, I3 f). Nach der Deutung
war aber von der Übergabe der Herrschaft an das Volk die Rede, der
Übersetzer macht deshalb in V. 13 die Hinzufügung: xod ot -rrocpecr"r"'JXO-re;
-rrocp'Yjcrocv ocu"t'<ji; das Volk der Heiligen umgibt also den Menschensohn und
erscheint mit ihm. 59 Auch Ps 109,3 LXX redet von einem präexistenten,
von Gott gezeugten Herrscher, der mit den "Heiligen" zusammengehört;
vielleicht steht da, wie Ps 8, der "Menschensohn" vor dem Auge des
Übersetzers.
In den "Bilderreden" des äthiopischen Benachbuches finden wir wieder
dieselbe Einheit von Menschensohn und eschatologischer Gemeinde. Der
präexistenten himmlischen Gemeinde, von der schon die Rede war, ent-
spricht der präexistente, himmlische Menschensohn (48,3; 70,1; =der Messias
48,ro; 52,4).60 Zu dem Menschensohn-Erlöser gehören die erlösten Menschen;
der Auserwählte und die Auserwählten, der Gerechte und die Gerechten
gehören zusammen. 61 Der Auserwählte hat seine Wohnung "unter den
Fittichen des Herrn der Geister", und dort wohnen die Auserwählten bei
ihm (39,3-8 vgl 40,5; 41,2; 45,1). Er verkörpert sie in sich: "in ihm
wohnt der Gejst derer, die in Gerechtigkeit entschlafen sind" (49,3). 62
Wenn der Gerechte erscheint, wird auch die Gemeinde der Gerechten
sichtbar werden (38,2 und r). Nun ist aber auch schon von Gere~hten
und Auserwählten auf der Erde die Rede. Vor ihren Augen wird der
Gerechte erscheinen (38,2), der verborgene Name des Menschensohnes wird
ihnen geoffenbart (69,26 vgl 48,7; 62,7). Er ist ihr Stab und ihr Behüter
(48,4.7). Bei ihm ist die Gerechtigkeit und die Weisheit, die er seinen
Genossen zuteil werden läßt (46,3; 48,r). Sein Triumph über die Mächtigen
und die Sünder ist zugleich ihr Triumph {46; 52,6-9; 55,4- 56,8; 62;
63; 69,26 -29). 63 Unter den Lebendigen und den Toten wird der Auser-
wählte die Gerechten und Heiligen auswählen (45,3-5; 51,2-5), und
sie werden in alle Ewigkeit bei dem Menschensohne sein (62,8. 13 f;
7 I, I 6 f).
Schwierig ist es hier nur zu wissen, wie wir uns das Verhältnis
zwischen den Gerechten im Himmel, auf der Erde und unter der Erde
(sr,r ff) vorzustellen haben, und wie das Verhältnis Henochs zu dem
Menschensohn zu verstehen ist. 64 Vielleicht sind nur besonders Gerechte,
wie Henoch (70) und die Erzväter (70,4) und die Märtyrer (47) schon jetzt
bei dem Menschensohn, während die übrigen Gerechten (Juden) erst bei
der Offenbarung des Menschensohnes auferweckt und mit seiner Gemeinde
vereinigt werden (vgl unten über 4 Esr). Wollte man auch Kap. 7r mit
dem Vorhergehenden in Einklang bringen, so müßte man an eine "Ein-
verleihung" des Henoch in diese "Gesamtperson" des Menschensohnes denken.
Doch scheint diese Stelle darüber hinauszugehen, und von einer Inthronisation
des Henoch als Menschensohn zu reden. 65
Im 4 Esra ist von dem Kommen des "Menschen" aus dem Meere die
Rede (Kap. r3). Nach der Besiegung des feindlichen Heeres ruft dieser
Mensch ein friedliches Heer zu sich (r3, r2 f). Gedeutet wird dieses Heer
als die zurückkehrenden zehn Stämme (13,39-47) und die in Palästina
Übriggebliebenen (r3,48-49). Auch hier gehört also zu dem "Menschen"
das eschatologische Volk, die zwölf Stämme. Wenn an dieser Stelle die
verstorbenen Gerechten nicht erwähnt werden, so wird das dadurch erklärt,
daß sie in dem "Menschen" inkorporiert sind. Der "Mensch", der ver-
borgen ist und offenbar werden wird, ist nicht der Messias allein, sondern
der "Knecht Gottes" und seine Genossen (!3,52). 66 Auch sonst ist davon
die Rede, daß Esra und seinesgleichen zu dem Gottesknecht entrückt
werden (r4,9·49). Mit dem Messias werden sie zum 4oo-jährigen messianischen
Reiche erscheinen (7,28 f vgl 6,26). Wenn hier der "Mensch" zugleich
"Knecht" Gottes heißt, so wird eine Kombination von dem "Menschensohn"
und dem "Gottesknecht" von Dan 7 und Jes 53 vor1iegen. 67 Dieser Messias
stirbt zwar, aber er leidet nicht, er ist der König des triumphierenden
Israels. Erst die spätere Zeit scheint einen leidenden Messias zu kennen,
auch da ist aber die Einheit des Messias mit der Gemeinde ein Hauptmotiv:
der Messias soll nicht nur an dem Triumph, sondern auch an den Leiden
Israels teilnehmen. 68
Wieder eine andere Heilandsgestalt ist der Priesterkönig in den
Testamenten der Patriarchen. Auch er bringt das Heil für Israel (Test
Sim 7,r f; Joseph rg,rr). Als paradiesischer Friedenskönig öffnet er das
Paradies und bringt Frieden (Test Levi r8). Auf ihm ruht der Geist der
Heiligkeit, und dieser Geist wird über die Israeliten ausgegossen, und sie
werden seine Söhne sein (Test Levi r8,7.rr; Judae 24,2.3). Dieser geist-
licne Messias vertritt eine geistliche Heilsgemeinde, 69 während im allgemeinen
der Messiaskönig gerade ein Symbol der nationalen Wiederherstellung ist.
Es zeigt sich also auch in der Eschatologie die Spannung zwischen nationalen
und "kirchlichen" Tendenzen, so wie das Dominieren des Nationalen.
Ebenso finden wir zugleich in der Eschatologie individualistische Ten-
denzen. Die individuelle Vergeltungslehre ist mit Recht als der höchste
92
B. "Interpraetatio Graeca".
Für die späthellenistisch-römische Zeit ist die Hellenisierung des Orients
und die nachfolgende Orientalisierung des Occidents charakteristisch. Das
Judentum steht unter einem doppelten Einflufu. In der Apokalyptik zeigt
sich der Einflufl des Orients, besonders des Iran. Im kulturellen Leben
zeigt sich vor allem die Hellenisierung. Von der hellenistischen Art des
makkabäischen Fürstentums war schon die Rede. Trotz aller Eigenart hatte
auch Jerusalem in vielem ein durchaus hellenistisches Gepräge, selbst dort,
wo es am stärksten jüdisch war; der Tempel wurde zu einem Prachtbau
im hellenistischen Stile umgestaltet. Von der Hellenisierung in Palästina
zeugen auch die griechischen Wörter im Talmud ebenso wie die korinthischen
Kapitäle der Synagogen. 74
Viel stärker macht sich natürlich die Vermischung von Judentum und
Griechentum in der Diaspora bemerkbar. Die grofue Mehrzahl des jüdischen
Volkes lebte bekanntlich zu dieser Zeit in der "Zerstreuung". 75 Die innere
Voraussetzung für die Ausbreitung des Judentums und für die Bewahrung
seiner Eigenart liegt in dem Begriff "Volk Gottes", wie er nach dem Exil
umgebildet wurde. Nicht die Bindung an ein eigenes Land, einen eigenen
Staat oder eine eigene Sprache war für die Erhaltung des jüdischen Volks-
93
Das Wort "Israel" kommt nur selten vor (C I I 526 vgl 21) und dann
fast immer hebräisch (293·397 ·349 etc). Und doch zeigen die jüdischen
Katakomben wie der Einzelne, wie im Leben (C I I 203.32I.476.so9l, so
auch im Tode (vgl der Segenswunsch sälöm ial jisrä'el bzw. "t"ijl "Aociji xoc(pm
293·397·599·6so.66I.67o und 699-702.704-708) und nach dem Tode
(vgl der Wunsch fLE"t"Oc "t"WV ö~x.oc~wv ~ x.otp."'l)cr~~ ocu"t"ou u. ä. C I I 78.110.
II8.ISO.I93·28I.S26-s5-2I0.632 vgl 569.661.571.476) mit dem Volke
verbunden bleibt. Immer wieder wird die Stellung der Verstorbenen in der
Synagoge hervorgehoben, immer wieder kultische Symbole, Menorah, Ethrog,
Lulab, Schophar usw. abgebildet. 81 Abbildungen (Lade und Torarolle) und
Inschriften (CI I 72.III.I32.203.476.482.554·634 a) zeigen wie das Gesetz
im Zentrum der Frömmigkeit steht. 82 Die Bedeutung der nationalen Ge-
schichte ist auch aus ihrer Verherrlichung in den Synagogen-Malereien in
Dura-Europos zu ersehen, während darüber diskutiert wird, ob die Kata-
komben-Malereien z. T. als eschatologische Symbole zu verstehen sind. 83 Im
ganzen zeigt also das archäologische und inschriftliche Material, wie sich
trotz griechischer Sprache und hellenisierter Form die atl. "völkische"
Frömmigkeit erhalten hat. Jedoch ist deutlich, daß gewisse Tendenzen des
"synagogalen Kirchenbegriffes" in der Diaspora besonders stark gewirkt
haben, z. B. die individuelle Jenseits-Hoffnung, während andererseits mit
dem Namen "Israel" auch viele atl. Motive zurückgetreten sind.
Der Unterschied zwischen dem Judentum in Palästina und dem Juden-
tum in der Diaspora ist also nicht allzu grofu, und wir haben im Vorher-
gehenden neben den palästinensischen Quellen auch solche aus der Diaspora
benützt. Und doch sind auch Unterschiede vorhanden. Das liegt schon in
der Verschiedenheit der Sprachen. Die Übertragung ins Griechische bedeutete
auch sachlich eine Hellenisierung; mit der griechischen Sprache wurden
auch griechische Denkformen übernommen, und das Bewußtsein der Juden,
"Volk Gottes" zu sein, wurde in griechischen Begriffen ausgedrückt und
dadurch verändert. Die Übersetzung ins Griechische bedeutete zugleich
eine gräzisierende Umdeutung, eine "interpretatio Graeca". De"r "Helleni-
sierung des semitischen Monotheismus" sf entspricht eine "Hellenisierung
des jüdischen Nationalismus".
Die Übersetzung der hebräischen Bibel zeigt nur die Anfänge dieser
Umdeutung. Sie war durch die hebräische Vorlage und wohl auch schon
durch die gottesdienstliche Sprache des hellenistischen Judentums 85 zu fest
an den traditionellen Israel-Gedanken gebunden. Die griechischen Wörter
sind hier oft nur Zeichen, welche den Sinn der hebräischen Begriffe ver-
mitteln. Aber auch dadurch eröffnet die Übersetzung die Möglichkeit, daß
spätere Geschlechter die Wörter von den griechischen Begriffen her ver-
stehen.86 Denn es bedeutet eine Verschiebung, wenn z. B. vop.o~ für törä,
Ö'ij p.o~ für mispäbä 81 und hx."A"'I)cr(oc für ftähäl eintritt. Wenn crtJvocywy~ für
ier}ä gesetzt wird, so wird der synagogale "Kirchenbegriff" in das AT
hineininterpretiert (vgl oben S. 66). Die Übertragung bedeutet aber nicht
95
immer eine Verschiebung, sie kann auch eine schon vorhandene Tendenz
unterstreichen, wie z. B. wenn ex.x.);'lcr[oc mehr als /fähäl eine technische
Bedeutung hat. So kann beispielsweise auch die Unterscheidung zwischen
Aoco~ und e&v'IJ straffer durchgeführt werden als die zwischen iam und
gojim. 88 Die Vorliebe der Übersetzer für ex.Ae:X."t'O~ zeigt eine verstärkte
Betonung des Erwählungsgedankens. 89 Das wichtigste Beispiel ist bekannt-
lich die Ersetzung des Tetragramms mit dem griechischen x.upto~. 90 Dadurch
wurde vollends deutlich, daß der Gott Israels kein Volksgott war, sondern
daß Israel das erwählte Volk des Herrn der Welt war. Dementsprechend
kann auch das israelitische Sendungsbewußtsein und der Missionsgedanke
stärker unterstrichen werden. 91 Der Übersetzer des Buches Sirach ist sich
der Schwierigkeiten jeder Übertragung bewußt, zeigt aber selbst den
griechischen Einfluß in der Wertung der Schriften als Mittel zur Bildung
(Sirach LXX, Prolog). Die Legende des Aristeasbriefes hebt den Stolz der
Juden, in den heiligen Schriften etwas zu haben, was auch die Griechen
bewundern müssen, hervor (Ep Ar 3.Io f .31.312 f) und zeigt zugleich, wie
diese Übersetzung der jüdischen Apologetik und Propaganda dienen konnte.
Viel stärker als in der Übersetzung der hebräischen Bibel tritt uns
aber die Hellenisierung in den in dieser Zeit neu entstandenen Schriften
gegenüber, die auch literaturgeschichtlich zu der hellenistischen Literatur
gehören. Das gilt schon von dem ursprünglich hebräisch geschriebenen
I Makkabäerbuch, das den nationalen Widerstand der Juden gegen die
Hellenisierung verherrlicht, aber selbst keine Fortführung der atl., sondern
eine Abzweigung der hellenistischen Geschichtsschreibung ist! Noch deut-
licher wird es in der jüdisch-alexandrinischen Literatur (Sapientia; 2-4 Mac;
Fragmente bei Alexander Polyhistor; Philo und Josephus). Wie viel hier
jüdisch, wie viel hellenistisch ist, läßt sich nicht auf eine Formel bringen.
Im allgemeinen kann man aber ein Dreifaches feststellen. 1. Die literarischen
Formen und Gattungen sind nicht der alten jüdischen Tradition, sondern
der hellenistischen Umwelt entnommen. 2. Diese Formen, Historie, philo-
sophische Abhandlungen, Epos, Tragödie usw., werden zur Verherrlichung
des eigenen Volkes verwendet; der Inhalt ist, der hellenistischen Einkleidung
zum Trotz, durchaus jüdisch. 3· Durch die hellenistische Einkleidung ist
aber nicht nur die Form, sondern auch der sachliche Gehalt des Judentums
verändert worden. Man hat die hellenistische Auffassung von dem Menschen
und der Gemeinschaft übernommen, um zu behaupten, daß die ideale Form
dieses Gemeinschaftslebens im Judentum gegeben war. Das Judentum hat
der Hellenisierung nicht widerstehen können, sondern gerade, um sich in
der hellenistischen Welt behaupten zu können, mußte man zu den griechischen
Begriffen und Gedanken greifen.
Die Judenschaft und ihre Versammlungen werden mit griechischen
Termini bezeichnet, die eine Sonderstellung in keiner Weise andeuten, so
wie oxAo~ (Jos Ant VII 86.Ig6; VIII 2.III etc), 1rA'ijito~ (I Mac 8,2o;
2 Mac II,I6; Ep Ar 42·45·3o8.3Io; Jos Ant III 24.27.34; Bel I I53;
466; II 4.12.13 etc etc), 92 8-ijp.o~ (LXX Dan 8,24; 9,16; u,23.32; 1 Mac
8,29; 12,6; 14,20-25; 15,17; 2 Mac 4,48; u,34; Jdt 4,8; Jos Ant IJI
224.242; V 243; XX 1I.172.219; Bel V 362 etc), op.~),o~ (]os Ant IV 25;
V 17), cruvoSo~ (]os Ant XIV 235; XVII 207.293; Bel IV r6o; Vita 279·311;
Philo Legat 316; I Gr R I 1024), o-UA:Aoyo~ (]os Ant XVIII 284; Philo,
Spec leg I 325.344; Leg alleg III 81; Somn II 184 etc; I Gr R I 1024),
1l'<Xv~yup~~ (]os Bel V 230; Philo, Spec leg III 183; Vita Mos II 159),
crucr-r'l)p.<X (2 Mac 15,12; 3 Mac 3,9; Jos Ap I 32). 93 Insofern diese Wörter
eine technische Bedeutung haben, sind sie teils dem politischen Leben, teils
dem Vereinswesen entnommen, aber welchem von diesen läßt sich nicht
immer entscheiden. Die Vereine waren ja auch nach dem Vorbild der
städtischen Kommunen organisiert. 94 Auf alle Fälle ist es also die klassische
Ausprägung des griechischen Gemeinschaftsgedankens im Begriff der Polis,
welche das ] udentum beeinflußt hat.
Die Polis war göttlich, und als Glied der Polis, als ~ij)ov 1l'OAmxov
hatte der Mensch sein Leben. 95 Der Begriff der Polis berührt sich also
mit dem jüdischen Begriff des Gottesvolkes, darin liegt die Möglichkeit für
die Umbildung des Begriffes des Gottesvolkes nach dem Polis-Begriff. Der
Einfluß der Polis .erstreckte sich bis auf die Gestaltung des "politischen"
Lebens in Jerusalem (vgl oben S. 63). In der Diaspora hatten die Juden
zwar keine eigene P~lis, aber sie bildeten, z. B. in Ägypten und Kyrenaika
doch ein eigenes "Politeuma", eine Kolonie von Ausländern, ein politisches
Gemeinwesen mit eigener Organisation und innerer Jurisdiktion, wie z. B.
die Kreter~ Phryger und Idumäer es auch taten (I Gr R I 1024; Ep Ar 310;
vgl Jos Ant XII ro8; XIV II5-II8). 9~
Aber viel stärker als die sozialen Verhältnisse ist das soziale Denken
der hellenistischen Juden durch den Begriff der Polis bestimmt wordenY
In dieser Ideologie hat das Wort 1l'OA(-reup.<X die Bedeutung_von Verfassung,
Staat; und Josephus sieht in der Ordnung der Verfassung die Eigenart des
Judentums (Ap II I45·165.184.250.; Ant I 5 vgl XI 157). Häufiger ist
das Wort 1l'OA~n(oc, welches auch am meisten in der Bedeutung "Verfassung"
verwendet wird (2 Mac 4,II; 6,23 (co.d. A); 8,17; 13,14; 4 Mac 3,2o;
8,7; 17,9; Jos Ap I 189 (Ps.-Hekataios); Ant III 84; V 98; XV 281;
Bel I 169.178; Philo, Spec leg III 51; IV 1o; Rer div her 169). Seltener
wird an das jüdische Staatswesen, an die jüdische Nation (Jos Ap II 188.226;
Ant XVIII 9; Philo Legat 193 f .349; Virt 108 etc) oder an den jüdischen
Wandel gedacht ( = politisches Dasein Jos Ant X 43; XII 240; C I I 694).
Ob aber das Wort so oder so angewendet wird, auf alle Fälle ist die
jüdische "Politeia" das, was das judenturn zum Judentum macht, und der
Einzelne ist Jude, weil er und insofern er an dieser "Politeia" teilhat
(vgl Philo Spec leg I 63.314·319; IV 55-I00.105.120.149; Vita Mos II 211).
1l'o),~n(<X kann auch die Bedeutung "Bürgerrecht" haben, und wird in diesem
Sinne von dem Bürgerrecht in den hellenistischen Städten gebraucht, welche
die Juden für sich in Anspruch nehmen (3 Mac 3,21.23; Jos Ant XII
97
vgl aber auch Fuga ro f etc), 102 scheint Josephus die Aristokratie als die
beste und eigentlich jüdische Verfassung anzusehen (Ant IV 223; VI 36 etc).
Das Wissen von der Einzigartigkeit des jüdischen Staatswesens kann ihm
aber auch dazu führen, die neue Formel, Theokratie, zu prägen (Ap II 165).
Die jüdische Eigenart zeigt sich ja auch sonst, z. B. wenn von dem "Demos"
Gottes die Rede ist (Ant XIV 24).
Zu den von n-6At~ abgeleiteten Begriffen finden sich keine hebräischen
Äquivalente. Zu der Stadt gehören aber auch die Gesetze; wo keine
Nomoi herrschen, gibt es keine Politeia (Aristoteles, Politica IV 4,7, 1292 a).
Immer wieder werden auch von den hellenistischen Juden die Begriffe
n-oAt't"doc: und vop.ot zusammengestellt (Jos Ant I 1o; III 213; IV 45.184.
193-195· 198. 223. 292. 312j V 132; XI I40j Ap I 250.265; II 222.287;
Philo, Spec leg I 314; II 73; IV 159). Von den jüdischen "Gesetzen"
konnte man um so mehr reden, weil das Gesetz schon im AT eine Haupt·
sache war. Die hellenistischen Juden haben aber den Begriff nicht von
dem hebräischen torä, sondern von dem griechischen Nomos aus verstanden.
Josephus stellt die Politeia und die Nomoi des Mose denjenigen des Plato
gegenüber, um zu behaupten, dafu die mosaische Politeia und die mosaischen
Nomoi noch idealer seien (Jos Ap li 220 ff .256 ff). Auch sonst will er
die Überlegenheit der jüdischen Gesetze durch einen Vergleich mit den
griechischen erweisen (Ap li 161-163. 250-295). Immer wieder wird
die Vorzüglichkeit der jüdischen Gesetze gerühmt (4 Mac II,5; Jos Ant I
15.21 -24; XVIII 28o; Ap li 146 ff .278 f etc; Philo, Vita Mos li r2
und passim; Hypothetica bei Euseb Praep eug VIII 7). Einzigartig ist ihre
Gerechtigkeit (Ep Ar r68 f; Jos Ant XVI 174-178 etc) und ihre Humanität
(Jos Ant XVI 42; Ap II q6.2II-214; Philo, Spec leg II 104 etc). Man
rühmt sich der jüdischen ~>uvop.(oc: (4 Mac 3,2o; 4,24; 7,9; 18,4; Philo,
Spec leg III 131; Hypothetica bei Euseb Praep eug VIII 6,8) und sucht
die Vernünftigkeit der Gesetze zu beweisen, mufu aber dabei teilweise zu
alle_gorisierenden Umdeutungen greifen (Ep Ar r28-r71; Jos Ap li 145-235;
Philo, Spec leg passim). 103 Die Übereinstimmung des mosaischen Gesetzes
mit dem Gesetz der Natur ist ein Lieblingsthema des Philo (Spec leg li
129 f; III 137; IV 131; Virt 18; Op mundi 3; Vita Mos li 48.51 f).
Nur einige Außenseiter werden die buchstäbliche Geltung des Gesetzes
fallen lassen haben, um sich nur an die allegorische Deutung zu halten
(Philo, Migr Abr 89 ff). Die meisten haben durch eine "natürliche Theo·
logie" die "vernünftige Orthodoxie", bzw. "Orthopraxie" zu begründen
versucht. 104 Sie sind fest davon überzeugt,· daß das Gesetz das Gesetz
Gottes ist (Jos Ant XI 123 ff .230; VII 277). Und doch ist das Gesetz
für sie nicht wie für die Rabbiner eine kontigente Willenskundgebung
Gottes, der man zu gehorchen hat, auch wenn die Gründe der Tara un·
verstandlieh bleiben. Die Hellenisten meinen, die Vernünftigkeit der mo·
saischen Gesetze beweisen zu .können. Das Gesetz ist ihnen erhaben und
deshalb göttlich, cr~>p.v6~ (Ep Ar 5·171.313), l~>po~ (Jos Bel I ro8; V 4o6;
99
Philo, Virt 94i Vita Mos I I etc), &e~o~ (Ep Ar 3 vgl 31; 4 Mac s,r6.r8;
6,21 etc; Philo, Vita Mos II 12 etc).
Die Theorie von der Vernünftigkeit des Gesetzes ist eine apologetische
Konstruktion. Ein psychologisch viel wichtigeres Motiv zum Festhalten an
den Gesetzen lag darin, daß sie "väterlich" waren. Nichts ist für das
nationale und religiöse Selbstbewußtsein des hellenistischen Judentums so
charakteristisch wie der Begriff 7l"iX'Tpto~ bzw. 'TOc 7l"iX'Tptoc. Durch diesen
Begriff konnte man den hellenistischen Menschen das zähe Festhalten an
den eigenen, oft so seltsamen Lebensformen begreiflich machen, denn die
Ehrfurcht vor dem Alten und Ererbten war überall groß. 105 Das Festhalten
an dem "Väterlichen" konnten auch die Nicht-Juden verstehen, erlauben
oder gar rühmen {vgl Jos Ant XIV 194-213.2I6.227.235·242.245·258.263;
XVI 163.I71; XIX 283.290; XX I3 (Urkunden); XIV u6 (Strabo); XIII
251 (Nicolaus von Damaskus); Reinach Nr 36 § I (Diodorus von Sizilien);
107 § r; ro9 § 7 {Dio Cassius); Celsus bei Origenes Cels V 25.34 f).
Diese echt hellenistische Betonung des "Väterlichen" hat die Juden
vor einer völligen Hellenisierung bewahrt. Denn durch die Liebe zum
"Väterlichen" konnten die Diasporajuden auch als hellenistische Menschen
an der ererbten Religion und den jüdischen Lebensformen festhalten (vgl
auch Jos Ap II I82 f). Väterlich ist die Verfassung (11"!X'Tpto~ 7l"OAtn(oc 106),
väterlich sind die Gesetze {mhptot vop.ot 107), väterlich die Sitten (1t"!X'Tptoc
E:&1j, 108 bzw. s&o~, 109 s&tcrp.oc, 110, cruv~&etoc, l11 oder nur 'TOc 7l"iX'Tptoc 112) und väter-
lich die Überlieferung (11"iX'Tpto~ 1t"ocp!X3ocrt~ 113). Väterlich ist auch der Boden
(11"iX'Tpto~ y'lj bzw. 7l"oc'Tpt~ 114 ), und die Sprache {1t"oc'Tpto~ y "Aiiicrcroc, y Aiii'T'T1j 115),
väterlich der Kultus {1t"oc'Tpto~ &p1jO"lteLOC 116), die Feste (1t"oc't"pto~ sop't"~ 117) und
die ganze Frömmigkeit (11"iX'Tpto~ eucreßetoc 1' 8). An dem allen hält man fest,
weil es "väterlich" ist; was dem "Väterlichen" widerstreitet, wird dagegen
im Volke nicht geduldet. 119 Der Begriff 7l"iX'Tpto~ entspricht also etwa dem
heutigen "artgemäß", nur daß die moderne "völkische" Weltanschauung das
Biologisch-Naturhafte, die Antike dagegen - und mit ihr das antike Juden-
tum - das Geschichtlich-Gewordene betont. Der Begriff 'TOc 1t"oc'Tptoc kann
Bezeichnung der jüdischen Religion werden (Jos Ant XVII 26; XX 41.43·roo;
Bel VI Io7 etc). Sachlich gleichbedeutend ist "dc 'louooc(wv s&1j (Ant XX
I7-38·75·I39-I46), nur betont der Ausdruck 'TOc 7l"iX'Tptoc zugleich das Alter
dieser Sitten.
Neben der Rationabilität der jüdischen Gesetze ist das Alter der
Gesetze und des Volkes das Hauptargument, worauf sich der jüdische
Apologet beruft (Jos Ap I 1-218; 120 Antiquitates, bes I 16; vgl Philo,
Hypothetica bei Euseb Praep eug VIII 6). Alter bedeutet für die Helle-
nisten an sich Größe und Würde. Und die alte Geschichte der Hebräer
wird auch "griechisch int~pretiert", um dem Geschmack der hellenistischen
Menschen entgegen zu kommen. Sie wird mit den griechischen Sagen oder
mit der bekannten Weltgeschichte verflochten (Or Sib III 97-294; Kleo-
demos Malchos bei Jos Ant I 240 f; Ps-Hekataios bei Jos Ap I r83 ff;
IOO
1 Mac I,I ff). Die alte Geschichte wird durch Historienwerke hellenistischer
(Philo, Hypothetica bei Euseb Praep eug VII 7,I9i Jos Ap II 209 f;
vgl Ant IV 237, was Josephus als Beweis anführt, ist aber in Wirklichkeit
Proselytismus). Mantik und Magie gibt es bei den Juden nicht (Or Sib III
22 I - 233). Vor allem wird ihre sexuelle Reinheit rühmend hervorgehoben
(Ep Ar I5I ff; Or Sib III 594--6oo; IV 33 f; .Philo, Joseph 42 vgl Spec
leg IV 55)Y6 Die Frauen der Juden sind die schönsten (Jdt I O,I9; I I ,2 I;
Esth 2,7.I7i Joseph und Asenath 1,5), ihre Männer die tapfersten im Kampf
(Esth 6,I3i Jos AntI 6 etc) wie im Leiden (4 Mac 9,I8 etc; 2 Mac 6,I8 ff; 7).
Gerühmt wird deshalb ihre Tapferkeit und ihr Heroismus (&vöpe:Loc 4 Mac
q,23; Jos Ant III 58; vgl Philo, Spec leg IV 224; Virt 42-5o; euocvop(oc
2 Mac 8, 7; I 5. I7; &vopocyoc&(oc 2 Mac J4, I 8 vgl I Mac 5·56 etc; 4 Mac I ,8;
Jos Bel I 376).
Auch &pt:T~ kann mit besonderer Berücksichtigung auf diese Tapfer-
keit verwendet werden (2 Mac 6,3I; I0,28j 15,17; Jos Ant III 58 etc).
Gewöhnlich hat aber das Wort die weitere Bedeutung von "Vorzüglichkeit",
"Tugend"; Die "Tugend" der Juden ist größer als die anderer Völker,
das ist die Eigenart des Volkes nach der hellenisierenden Anschauung
(4 Mac I,ro; I7 1 I2.23; 2 Mac 15,I2; 3 Mac 6,r; Ep Ar I22.200.277 f;
Jos Ant I 6.20.23; IV IJ4.I82.294; Ap II 42.15I etc; Philo, Fraern
66.93. I I 4). Das Wort &peT~ kann fast die Bedeutung "jüdische Religion"
annehmen (4 Mac I,2.8; 7,22; 9,8.r8.3I; IO,Io; I 1,2; I2,I4i ähnlich
xocAoxocyoc&(oc 4 Mac I,ro; II 1 22j 13,25).
Zur Tugend erzogen sind die Juden durch die "Paideia" des Nomos
(4 Mac I,q; Io,ro; I3 122j vgl 5,23 f; I3,24; Jos AntI 6). Die griechisch-
hellenistische "Paideia 11 127 geschah in der politischen Gemeinschaft, dieser
Erziehung zur Tugend diente aber auch die Philosophie. Für den helle-
nistischen Juden übernahm das mosaische Gesetz diese Rolle, "Tugend 11
ist ja hier gleich Beobachtung des Gesetzes (Jos Ap Il r83.226 etc). Dem
hellenistischen Publikum konnten nun diese Gesetze sowohl als Gesetze
eines Staates wie als philosophische Lehren dargestellt werden. Das
Judentum ist nicht nur eine "Politeia 11 , es ist auch eine Philosophie. Als
die Griechen zum ersten Male Juden kennen lernten, haben auch sie den
Eindruck gewonnen, daf3 die Juden ein philosophisches Volk waren (Reinach
Nr 5 (Theophrastos), Nr 7 (Klearchos von Soli, Jos Ap I I77 ff), Nr 8
(Megasthenes bei Clemens Strom I I5, 72,5), Nr I4 (Hermippos von Smyrna
Jos Ap I I64 f; Origenes, Cels I 15)). 128 Diese günstige Beurteilung ist in
späterer Zeit dem "Antisemitismus 11 gewichen, die Juden selbst betonen
aber gern den philosophischen Charakter ihres Volkes.
Voll Liebe zur Weisheit ist die Sapientia Salomonis (bes 6--9). Die
Weisheit lehrt alle Tugenden (8,7), ist aber vor allem in der Geschichte
Israels wirksam (Ioff). 129 Israel ist das Volk der Weisheit und das Volk
der Weisen (6,24), der gerechten Söhne Gottes (3,L9i 5·5·I5i I0,20j
Ir,r4; I2,7-9i I6,q etc). Die Gottlosen dagegen sind die Heiden und·
die abgefallenen Israeliten (I,9.I6; 3,Io; I0,2o; I2 1 9i I6,I6.r8 etc). Die
102
Der Grund zu dieser Bevorzugung der jüdischen Mittel ist, dafu der
geheime, grofue und zauberkräftige Gottesname mit jerusalem verbunden,
an Israel offenbart und von den Juden gekannt ist (vgl PGM Xlll 997;
V II5; XII 264 etc). Immer wieder werden ja zum Zauber die Namen
'IOCw, 1:1Xß1Xw1t, 'AöwviX[ und viele andere Formen des hebräischen Gottes-
namens verwendet (vgl auch Origenes Cels I 24; M Sanh X r b). Angerufen
wird der "Gott der Hebräer" (PGM XXII B r8; IV 3019 f ( = Jesus!)), der Gott
Abrahams, Isaaks und Jakobs usw. (PGM IV 1231 f; XXXV 14 vgl V 48o;
XXII b 2; I Gr R 950,2 f .38 f; 158 Bayrüther Silberband 71-73; 159 Origenes
Cels IV 33; I 22; Justin Dial85,3). Mit den Namen Abraham, Isaak und Jakob
sind die Zauberkräfte verbunden (PGM Xlll 8r6 f, vgl CI I 650,9 f; 719,5),
und ihre Namen werden zusammen oder für sich als Zauberworte verwendet
(PGM XII287; Xlll975; I2r9 f; IV I377·I735 etc; V 134; Xll37o.46r.474
etc). 160 Der fremde, sakrale Name des Volkes, "Israel", wird ein Zauber-
name (PGM IV r8r5 f; XXXVI 310 vgl IV 3055; :i034i V rrr.rq;
XXII b 19; I Gr R 950·3·39· oft mit Entstellung der Form des Namens).
Man macht Beschwörungen bei dem Gesetze und bei dem Gottesdienst
(PGM XIII 975 vgl 233; CI I 65o.7I9). Man gedenkt der Gnadenerweisung
Gottes an Abraham (PGM XXII b 6 vgl 19 f), der Aussonderung der Frommen
(I Gr R 95o,rr), der Befreiung aus Ägypten, des Überganges über das Schilf-
meer und über den Jordan (PGM IV 3033-3055; XXXVI ro8 f; I Gr R
950,12; Origenes, Cels IV 34), um solche Wundertaten nochmals herbei-
führen zu können. 161 Man wünscht mit den mystischen Kräften der Patri-
archen erfüllt zu werden (PGM Xlll 815 f), identifiziert sich mit Jakob
(PGM XXII B) oder mit Mose und stellt sich in die Reihe der Propheten
(PGM V ro8 ff; vgl III 145 ff; XII 71). Der Magiker kennt die "Mysterien,
die von Israel gefeiert werden" und kann sie nachahmen (PGM V IIo).
Ein System ist in dem bunten, synkretistischen Gemisch dieser Papyri
nicht zu finden. Und doch könnten wir gewisse Grundüberzeugungen der
Magiker nennen. Hier sei nur hervorgehoben, dafu die einzelnen Götter
als Offenbarungen der einen göttlichen Welt des "Aion" verstanden worden
sind, und zwar so, dafu diese göttliche Welt oder dieser Weltgott als
Zauberkraft aufgefafut ist (PGM XII 238-268; XIII 62-72; 943- roor).
Auch Jao Sabaoth kann mit dem "Aion" identifiziert werden (PGM V 468;
XIII 926 f), wofür vielleicht auch der Name 'Apß1X1ttexw ein Ausdruck ist. 162
Abraham, lsaak, Israel sind Träger der Zauberkraft dieses Aion-Iao, ihre
Namen können deshalb entweder für die in den Mysterien des Gottes ein-
geweihten Personen oder nur als Zauberworte verwendet werden. Auch
der Zauberer soll sich mit diesem Iao identifizieren (PGM III 265 f:
eyw e:lp.L • • • • • 'M11) 2:1Xß1Xw{}; vgl lii 457; IV 385 ff; XII 74). In der
umfassenden Einheit der Zauberwelt ist der Gott, das Gottesvolk und der
Zauberer alle mit einander identisch. Zu fragen ist, ob diese synkretistisch-
mystische Umbildung der Begriffe JHWH und Israel erst auf der Stufe
des Zaubers erfolgt ist, oder ob zuerst ein schon synkretistisch-mystisches
107
oder mit Rücksicht auf die Sprache vor. Er kann auch allegorisiert werden;
das geschieht aber nicht häufig (Migr Abr 20). 'Tcrpoc-~A steht hauptsächlich
in Bibelzitaten; sonst am meisten in Allegorien. (Philo deutet ]isrä'el =
'is ro'ä 'el = 0 6pwv .[}eov u. dgl.) Diese in den Namen ZU Tage tretende
Stufenfolge ist für die Gedanken Philos bezeichnend.
Wir fangen mit der untersten Stufe an. Philo ist mit dem Volke der
Juden eng verbunden, vertritt es bei dem römischen Kaiser und schreibt
Bücher zur Verherrlichung der Juden und Beschämung ihrer Feinde (Legatio
ad Gaium, In Flaccum und eine oder zwei apologetische Schriften). 169 Alle
Momente des jüdischen Nationalbewufutseins finden sich bei ihm. "Alle
seid ihr gleichberechtigt, ihr seid ein Geschlecht, habt dieselben Väter,
seid ein Haus, habt gleiche Sitten, gemeinsame Gesetze und vieles andere,
was jedes für sich eure Zusammengehörigkeit festigt und euch zu gegen-
seitigem Wohlwollen verbindet" (Vita Mos I 324). Sogar die messianische
Hoffnung teilt er, die Juden werden an einem Tage frei werden und
"von einer göttlichen, übermenschlichen Erscheinung" geleitet, nach ihrem
Lande zurückgeführt, wo sie den Frieden und alle Güter der Endzeit ge-
niefuen werden (Exsecr 162-172; vgl Fraern 87-97; Virt 75·77; Vita
Mos II 288). 170
Von der Sonderstellung des jüdischen Volkes spricht Philo gern, die
Juden "nehmen die höchste Rangstufe ein unter dem Schöpfer und Vater
aller Dinge als Heerführer" (Virt 77; vgl Spec leg I 5.51; Abr 98; Legat
117). Das Volk steht "zu den göttlichen Dingen in ganz enger Verwandt-
schaft" (Virt 79). Zu den anderen Völkern verhält sich dieses Volk wie
der Himmel zur. Erde (Vita Mos I 217). Überhaupt ist Philo weitgehend
ein typischer Vertreter des hellenistischen Judentums, bei keinem ist die
"interpraetatio Graeca" des jüdischen Nationalbewufutseins konsequenter
durchgeführt. Deswegen haben wir ihn denn auch im Vorhergehenden oft
zitiert. Natürlich hebt Philo besonders die Weisheit, Tugend und Frömmig-
keit des Volkes und seiner Heroen -hervor (vgl z. B. Fraern 83 f und weiter
die Schriften "De Abrahamo" und "De vita Mosis"). Der wahre Adel des
Volkes ist gerade diese Tugend und, Frömmigkeit (vgl Exsecr 171 f;
Virt 187-227). Die Juden sind die "Schüler des Mose" (Spec leg I 319
vgl Dt 13,18 (19) LXX; I 59·345; li 256); und die Proselyten, die sich
dem Volke aus freiem Willen angeschlossen haben, werden fast höher
geachtet als die Juden, die von Geburt an dem Volke zugehört haben
(Spec leg I 51-55; Virt 102-104.182.219).
Dann kann aber weiter das nationale Moment völlig in den Hinter-
grund treten, so daf3 nur von einer übernationalen Gemeinde aller frommen
Menschen die Rede ist. "Die Staatsgemeinschaft beruht überhaupt nur auf
Tugenden," meint er (Spec leg II 73 vgl 45). Neben denjenigen, die
äufuerlich Proselyten sind, gibt es auch geistige Proselyten, welche die
"seelischen Begierden beschnitten" und die polytheistische Gesinnung ver-
lassen haben, und zu dem einen Gott und Vater hingekommen sind (Quaest
109
Ex 22,20, Rendei Harris S. 49 f; vgl Virt r78 f). Man findet Griechen,
die durch ihre Philosophie zu derselben Gotteserkenntnis gelangt sind;
welche den Juden im Gesetze geoffenbart ist (Virt 6s), so wie Plato,
o ltpWTotTO~ (Omn prob lib 13). Andererseits gibt es viele, die Nachkommen
Abrahams sind, aber nicht zu der wahren Gemeinde Gottes gehören (Spec
leg I 54 ff; IV 182; Exsecr 152). Philo polemisiert dagegen, daß man auf
die Abstammung baut, wenn die eigene Tugend fehlt (Virt 226 f).
Die später so wichtige Unterscheidung zwischen der "sichtbaren" und
der "unsichtbaren Kirche" finden wir zum ersten Male bei Philo aus-
gesprochen. Mit dem Begriff exx.Aljcr(oc beschäftigt er sich vor allem bei
der Exegese von Dt 23, und diese Stelle versteht er sowohl wörtlich als
auch allegorisch. Von der "ecclesia visibilis" sind ausgeschlossen die
"weibischen Männer", die "Söhne von Buhlerinnen" usw. (Spec leg I
324-326 vgl Virt 108). 171 Von der "ecclesia invisibilis" dagegen sind
ausgeschlossen die Verneiner der Ideenlehre (ci7rox.o7roc;) und die Atheisten
(&A.oc8(occ;), die alle an Weisheit unfruchtbar sind, die Polytheisten (ex 1ropvljc;)
und diejenigen, welche die eigene Vernunft oder die eigenen Sinne ver-
göttern (Ammoniter und Moabiter; Spec leg I 327 ff; vgl Leg alleg III 8.81;
Post Caini 177; Deus imm 1rr; Migr Abr 69; Mut nom 204 f).
In dieser heiligen Gemeinde wird nicht nach der Abstammung gefragt,
der wahre Adel der Weisheit und Tugend hat in der Verwandtschaft der
Seele mit Gott den Grund (Virt 218 vgl Exsecr 163). 172 Auch unter den
Menschen ist die wahre Verwandtschaft die geistige, die in gemeinsamer
Tugend und Frömmigkeit besteht (Spec leg I 317; II 73; III 126.155;
IV 159; Virt 179). Die Patriarchen interessieren daher nicht als historische
Väter des Volkes, sondern nur als Muster der Tugenden oder gar nur als
symbolische Einkleidungen (so vor allem in dem großen allegorischen
Kommentar). 173 Dieser unsichtbaren Gemeinde aller Frommen, dem "Ge-
schlechte der Weisheit" gelten die atl. Verheißungen (Somn I 175; vgl
Sacr A C 87; Plant 47 ff; Migr Abr 56 f etc). Die Weisen sind "Königs-
residenz und Priestertum Gottes" (~occr(AeLov xoct !ep·cheO(J-ot &eoü Ex 19,6
LXX; Sohr 64-66 vgl Abr s6-59). Sie sind nicht nur Schüler des Mose
(Det potins 86; Post Caini 12; Confling 39; Rer div her 81 etc), sondern
auch Schüler der Weisheit (Spec leg I so; Ehr 72), des Logos (Somn I
124), ja Schüler Gottes (Virt 218; Sacr A C 79).
Dieser doppelte "Kirchenbegriff" entspricht dem doppelten Begriff des
Gesetzes bei Philo. Die Juden sind Glieder der "sichtbaren Gemeinde",
weil sie nach dem Gesetze des Mose leben. Das mosaische Gesetz ist aber
nur die Verkörperung des ungeschriebenen Gesetzes GottesY 4 Die Glieder
der "unsichtbaren Gemeinde" haben dagegen das buchstäbliche Gesetz
eigentlich nicht mehr nötig, denn sie leben unmittelbar nach dem göttliehen
Gesetz, das in der Natur, in der Welt und in der Vernunft offenbart ist. 175
Wie das mosaische Gesetz ein Abbild des "ungeschriebenen Gesetzes"
ist, so ist das jüdische Gemeinwesen ein Abbild des Weltstaates. Die Idee
110
von der grofuen Polis der Welt (p.eyocAo'l\"oAt~) spielt bei Philo eme be-
deutende Rolle (Spec leg I 13.34; Op mundi 19 f; Jos~ph 29; Quaest Ex
24,12 II § 42 etc). 176 Gott ist ihr Urheber, durch den Logos hat er sie
aus den vier Elementen aufgebaut (Cher 127 vgl Prov I § 23 Aueher S. 12).
Der Logos regiert die Welt als eine demokratische Polis (Deus imm q6).
Die Verfassung des Mose ist ein treues Abbild der Verfassung der Welt-
stadt, deshalb fing er seine Gesetze mit der Beschreibung der Schöpfung
an (Op mundi 2 ff; Vita Mos II 48). Dementsprechend ist das mosaische
Heiligtum ein Abbild des grofuen Tempels der Welt (Vita Mos II 71- 1o8;
Quaest Ex 25,23 ff II § 69 ff vgl Spec leg I 66; Somn I 215), ebenso sym-
bolisiert die hohepriesterliche Amtstracht das Weltall (Spec leg I 84-97;
Vita Mos II 109 ff; Quaest Ex 28,2 ff II § 107 ff) 177 und der Gottesdienst
ist eine kosmische Liturgie für alle Menschen gehalten, eine Darstellung
der kosmischen Harmonie (Spec leg I g6 f .r68.19o; II rso ff .r62 f .167.
I7 r:r88 ff; Vita Mos I 149). Durch pythagoreische Zahlenspekulationen
wird bewiesen, dafu die Erwählung Israels mit der Schöpfung der Welt
harmoniert (Quaest Ex 24, r6 f II § 46, Rendei Harris S. 6o; vgl Quaest
Gen 17,12 III § 49). So will der "Kosmopolitismus" Philos das eigenartig
Jüdische nicht aufheben, sondern dafür die tiefste Begründung geben. 178
Der Weg zum Kosmopolitismus ist gerade die mosaische "Politeia".
Kosmopoliten sind die Juden als solche (vgl Op mundi 3), recht eigent-
Iich aber die Glieder der "unsichtbaren Gemeinde", die Weisen (Migr
Abr 59; Vita Mos I 157; Somn I 243). Zu der himmlischen Stadt der
Tugend, zur Stadt Gottes gehören nur die wenigen wahren Jünger der
Weisheit unter Hellenen und Barbaren (Spec leg II 44-48; vgl Legalleg
III 1.8.}.244; Agric 8r). Aber über alle Kosmopoliten dieser Welt stehen
die Kosmopoliten der noetischen Welt, die Gottesmänner, Priester und
Propheten, die zu dem unvergänglichen und unkörperlichen Staate der
Ideen gehören (Gigant 6r, vgl Somn I 46; Op mundi rs ff).
Mit der Idee der "Weltstadt" berührt sich also eng die Vorstellung
von der himmlischen Heimat und des himmlischen Wandels. Wir sollen
"nicht mehr auf der Erde gehen, sondern in Aethers Höhen schweben"
(Spec leg I 207, vgl II 45; III r f). Dies bedeutet Gemeinschaft mit Sonne
und Mond, vor allem aber ein Leben in der Tugend, denn sie ist die
himmlische Vaterstadt (Virt 190; Cher 2 etc). Wer sich mit den en-
cyclischen Wissenschaften beschäftigt, wohnt dort nur als Fremder; das
Bild dafür ist Hagar (Sacr A C 43 f; Leg alleg III 244; Congr 20 ff) und
Abraham in Charan (Somn I 48.r6o). Der wirklich Weise ist aber dort
und nur dort zu Hause (Abr 31; Leg alleg 111 I ff; Somn I 151). Die
Weisheit ist seine Wohnung, der Logos, ja, Gott selbst ist seine Vater-
stadt und Verwandts~haft (Leg alleg III 46; Migr Abr 28; Rer div her 27).
Diese Gedanken können verschieden gewendet werden: I. Die Weisheit
~st füt die Menschheit das allein Angemessene (Migr Abr 218). Wer fern
von der Tugend lebt, ist heimatlos in der Fremde (Virt 190; Leg alleg
III
III I ff). Durch die Laster kommt die Seele in die "Zerstreuung" (Praem
us). 2. In der Welt soll aber der Mensch als ein Fremder, 1t'ocpotxo~, leben.
Als Fremder, dem nichts als Eigentum gehört, soll der Mensch von allem
frei und unabhängig sein (Cher I08 ff; Vita Mos IS7 f). Der einzige
"Bürger" ist Gott, die Menschen sollen in seinem Staate Paröken sein
(Cher I20-12I). 3· Damit wird aber wieder ein anderes Bild vermischt; es
ist die Welt des Körpers, in der der Mensch ein Fremder sein soll: "Jeder
von uns ist gleichsam in diese Welt wie in eine fremde Stadt gekommen,
an der er vor der Geburt keinen Anteil hatte, und nach seiner Ankunft
wohnt er darin nur als Beisasse, bis er die ihm zugemessene Lebenszeit
beendet hat" (Cher 120). Während seines Erdenlebens muß der Weise
in zwei Welten leben, aber das ganze leibliche Dasein achtet er als einen
Aufenthalt in einem fremden Land. Seine Vaterstadt hat er im Himmel,
und seine Seele verläßt ihre himmlische Heimat nicht, sondern führt dort
oben in der himmlischen Stadt ihr eigentliches Leben (Agric 64 f; Conf
ling 76-82; Rer div her 82.267; Quaest Gen IS, I 3 III § ro). Wir sehen
hier, wie verschiedene Motive sich in dem Denken Philos zusammenschlingen.
Das Paroiki-Dasein des Juden wird ein Sinnbild für das stoische Ideal des
Weisen, der allem Irdischen gegenüber frei und unabhängig ist und die
Tugend zur Heimat hat. Aber mit diesen jüdisch-stoischen Gedanken ver·
bindet sich wiederum ein platonisch-gnostischer Mythus von der himmlischen
Heimat der Seelen und ihrer Zerstreuung in der Körperwelt.
Auch sonst sehen wir bei Philo das Zusammenwirken der Motive ver-
schiedener Herkunft. Der Begriff der "unsichtbaren Gemeinde" und der
Kosmopolitismus führte, jedenfalls in dem Denken Philos, zur Auflösung
der geschlossenen, konkreten Gemeinschaft. Dafür spielt die Menschheits-
idee bei ihm eine große Rolle. Immer wieder spricht Philo von dem
"ganzen Geschlecht der Menschen" (vgl z. B. Virt ug.I49; Praem Ss;
Leg alleg I 4S etc). Jeder Mensch ist ihm Träger derselben Natur und
Vernunft (Exsecr ISS·I63), und "Philanthropie" ist deshalb die gegen alle
gebotene Haltung (Spec leg I 294 f; Virt SI ff; Exsecr ISS etc). So kann
sich mit dem Kosmopolitismus ein ausgesprochener Individualismus ver-
binden. Um die himmlischen Mächte ungestört betrachten zu können, hält
sich der "Weltbürger" von allen Ansammlungen der Ungebildeten fern
(Spec leg II 44 f). Die wahre Einsamkeit kann aber auch in einer tausend-
köpfigen Menge erlebt werden (Leg alleg II Ss). "Der wahre Diener und
Beter aber, auch wenn er der Zahl nach nur einer ist, bedeutet - - -
ebensoviel wie das ganze Volk und ist einem ganzen Volke gleichwertig"
(Virt I8S f; vgl Praem 23; Decal 37). Für Philo ist einerseits das jüdische
Volk die Verwirklichung des stoischen Ideals der Weisen, andererseits
überträgt er alle Hoheitsprädikate des Gottesvolkes auf den (stoischen)
Weisen. Gott ist sein Gott, und dieser ist das "Volk Gottes,, (Virt I84
vgl Dt 26,r6 f). Der Geist des Weisen ist die "Königsresidenz und das
Haus Gottes", das "auserwählte Volk", das "Heilige des Heiligen" usw
112
(Praem 123-125 vgl Lev 26,12 f; Dt 28,13). Dem Weisen gilt die Ver·
heifuung Gottes an Abraham, er ist der "Erbe der göttlichen Dinge" (Migr
Abr 53.118 f; Rer div her 313 et passim). 179
Je höher Philo sich erhebt, um so mehr läfut er die empirische Ge·
meinde der Synagoge . und das jüdische Volk hinter sich. Er redet dann
auch nicht mehr die Sprache der Stoa, sondern greift vielmehr zu Termini
der Mysterienreligionen. Die "Streber" und "Liebhaber der Weisheit"
(occrx.Yj't"ott ... Spec leg II 44, vgl Ebr 48 etc, Epotcr't"oct crocp(oc~ Migr Abr 57;
Cher 41), die "Kämpfer der Tugend" (oc&AYj't"ott ocpn"Yj~ Fraern 5, vgl Leg
alleg III 14) sind die "Eingeweihten der Philosophie" (ot cpt"Aocrocp[oc~ &occrthoct
Cher 85), sie bilden die "altehrwürdige Kultgenossenschaft der Strebenden"
(o ocpxocro~ OCO"lt"Yj't"WV 3-[occro~ Post Caini IOI). Philo redet die Mysten an,
verkündigt die Mysterien und preist Mose als den grofuen Hierophant
(Cher 42-49; Sacr AC 6o-62 etc). 180 Schon der gewöhnliche Jude soll
ein "Geweihter" ('t"eAe:ta~) sein und die Wahrheit über Gott kennen (Spec
leg I 63). Aber stufenweise kann man immer höher steigen, in gröfuere
Mysterien eingeweiht und so Glied einer immer göttlicheren Mysterien-
gemeinde werden. Zu der "allerheiligsten Kultgenossenschaft" (!e:pw't"oc't"o~
3-[occro~) der Kardinaltugenden werden die "Asketen", die Strebenden,
zugelassen (Vita Mos II 185; vgl Post Caini Ior; Somn II 10). Das be·
sondere "Erbe" Gottes ist die Gemeinde (&[occro~) der weisen Seelen (Plant 58).
Auch diese unkörperlichen Seelen sind nach Rangunterschied geordnet
(Plant 14). Wer zur höchsten Stufe aufsteigen wilh, mufu nicht nur in
vollkommener Tugend leben, sondern wie die Väter (Rer div her 258-26"2;
Vita Mos I 57 etc) ein Prophet sein und in der Extase aus sich selbst
herausgehen (Rer div her 68 f .78 f .85.249-266). Höher als die Hörenden
stehen die Sehenden, höher als das Volk ("Aoco~) der Lernenden steht das
unsterbliche, vollkommenste Geschlecht (yivo~) der wohlgebildeten Schüler
Gottes, deren Kultgenosse Isaak ist (Sacr AC 5-7).
Wenn Philo auch viel von dieser Mysteriengemeinde redet, darf man
sich nicht dazu verleiten lassen, eine von dem normativen Judentum ge-
schiedene jüdische Mysteriengemeinschaft zu konstruieren. 181 Es handelt
sich hier ja um die himmlische Schar der Seelen! Dieselbe Sache konnte
er ja auch mit dem Bilde von dem in der Welt in Zerstreuung lebenden
Volke der Seelen ausdrücken. Er redet gern von der Seele als einem Volk
(),oco~ bzw. ),e:w~ Agric 88; Leg alleg III 163; Agric 44; Ehr 37; Migr
Abr 14). Dieses Volk der Seelen soll aber in die Heimat zurückkehren.
Der Name "Hebräer" deutet dies an, denn Hebräer heifut "Übergehender",
7re:poc't"Yj~, was auf das Fortschreiten oc1t"o 't"WV oc!cr&Yj't"wv E1t"t 't"!X VOYj't"OC hin-
weist (Migr Abr 20). Vorbildlich ist Abraham; seine Wanderung vom
Chaldäerland über Charan in das gelobte Land ist ein Bild für den stufen-
weisen Aufstieg der Seele von der Körperwelt zu Gott (Leg alleg II 59;
III 42; Det pot ins 159; Gig 62; Migr Abr I ff . q6 ff). Vor allem aber
ist der Auszug Israels aus Ägypten das Bild der wahren Erlösung. Ägypten
113
ist der Körper und seine Begierden (vgl Leisegangs Index s. v.), das Seufzen
der Israeliten ist das Stöhnen der dem Körper verhafteten Seele (Leg alleg HI
2I2-215; Det pot ins 93-95), und der Auszug ist ihre Befreiung (Post
Caini I 55; Migr Abr 14 ff). Das Päsachfest, 7trfrrxoc, heißt 3tocßoc-rljptoc, Über-
gang, nämlich Übergang der Seele von der körperlichen zur himmlischen
Welt (Spec leg II I45 ff; Leg alleg III 94; Migr Abr 25, vgl Quaest Ex
I2,II I§ 4). Auf dem Wege wird dem Volke Manna gegeben - die Seele
wird mit dem göttlichen Logos gespeist (Leg alleg III I62- 176; Fuga
I37 ff; Rer div her 79 vgl I9I etc). Wie Israel mit Amalek kämpfen
muß, so liegt die aufsteigende Seele mit den irdischen B~gierden in Streit
(Leg alleg Ili I86 f; Migr Abr I43; vgl Deus imm I44 ff). "Die Königs-
straße" durch Edom ins gelobte Land ist der Weg_ der Seele zu Gott (Post
Caini 1oi; Deus imm I44.I59ff .I8o; MigrAbr I46; Spec leg IV 168). 182
Durch verschiedene Bilder variiert also Philo das Motiv des Aufsteigens
von der Schlechtigkeit zur Tugend, von der Körperlichkeit zu Gott. Immer
wieder haben wir gesehen, wie die "Gottesgemeinde" nach seinem Begriffe
stufenweise gegliedert ist, wenn auch diese Abstufung nicht streng systema-
tisiert wird. Ein charakteristischer Ausdruck für diese seine Anschauung
ist nun auch die Verwendung des Wortes "Israel". 'Icrpoc-fp, heißt: r. das
empirische Volk der Juden, weil nur dieses Volk "Gott sieht" (Legat 4;
Quaest Gen q,r2 III § 49; Quaest Ex 24,I6 f II § 46, Rendei Harris
S. 6o; vgl Abr 57). - 2. Die "unsichtbare Gemeinde", das "sehende
Geschlecht" (Deus imm I44; Rer div her 279). - 3· Der Weise, der
Gottesseher (Migr Abr I I3 und besonders Stellen die von dem Patriarchen
handeln Migr Abr 38 f; Post Caini 63; Rer div her 78). - 4· Die Seele
(Leg alleg II 34) oder der gottschauende Teil der S~ele, vou~ (Leg alleg III
r86; Somn II I73; Post Caini 89-92; Conf ling 92); - 5· Abstrakt,
die Schau Gottes (öpoccrt~ 3-e:ou Ebr 82; Conf ling 72; Fuga 208, vgl
Sacr A C I2o). - 6. Der Logos heißt &px~ x.ocl övol-l-oc &eou x.ocl 'A6yo~
x.ocl 6 x.oc'T' dx.ovoc ocv%pw7to~ x.ocl 6 6pwv, 'lcrpoc~'A (Conf ling 14p, vgl 148
und Leg alleg I 43, wo die Weisheit u. a. öpoccrt~ 3-o:ou heißt).
Diesen phiionischen Gedanken liegt das sogenannte "alexandrinische
Weltschema" zu Grunde; der Weg geht zuerst von oben nach unten, dann
von unten nach oben, und das kosmische Drama besteht in dieser ab-
steigenden und aufsteigenden Bewegung. 183 "Gott und Israel" sind bei
Philo immer noch die beiden Pole der Frömmigkeit, sie werden jedqch
im Sinne dieses "alexandrinhchen Weltschemas" verstanden. Das Licht
und die Göttlichkeit strömt von dem einen Gott, dem Urquell des Lichtes
durch den Logos und die Logoi, durch die "schöpferische" und die
"königliche Kraft", durch die "Kraft der Barmherzigkeit" und die "Kraft
der Gesetzgebung" in die Welt hinein. 184 Israel wird an dem göttlichen
Logos Teil gegeben, was durch die Wolkensäule (Rer div her 201 ff),
das Manna (Leg alleg III I62 ff etc) und durch den Hohenpriester symboli-
siert wird (Gig 52; Fuga ro8.ri8 etc). Dadurch wird das Aufsteigen
114
Menschen "aus Ägypten ( = dem Leibe) fliehen und jenseits des Roten
Meeres in· die Wüste gelangen, d. h. von dem Mischzustande hier unten
nach dem oberen Jerusalem" (V 7,39 vgl 41). Jes 49,15 wird auf den
"Adamas" bezogen, der sich über "seine eigene Menschen", die Pneumatiker,
erbarmt (V 8,q =Kap 21). Die Pneumatiker sind "die Kinder der Einsamen",
die viele werden sollen (V 8,36 =Kap 25 vgl Jes 54,1). "Die schöne und
gute Erde" ist das Pieroma (V 8,30 vgl Dt 31,2o); das "untere Jerusalem",
über das Jeremias klagt, ist "die untere vergängliche Geburt", denn Jeremias
kannte den "vollkommenen Menschen" (V 8,37, evt. zu Kap 25 gehörig;
vgl Jer 31,15; 17,9). Die Beispiele zeigen deutlich, wie die Gottesvolk-
Ideologie im Sinne des gnostischen Anthropos-Mythos verstanden worden ist.
Die Deutung des Auszugs aus Ägypten als der Befreiung vom Leibe
finden wir auch bei den Peraten wieder (Hippolyt, Elenchos V 16,4 -8).
Besonders charakteristisch ist für diese Sekte die Deutung der Schilderung
der Israeliten in der Wüste, die unter den Schlangen zu leiden haben,
aber durch die eherne Schlange gerettet werden, als einer Darstellung der
durch die Gestirnmächte bedrohten, aber durch die "vollkommene Schlange"
geretteten Pneumatiker (Elenchos V r6,5-8.11 ff). Etwas and«:;rs, rein
anthropologisch, wird das Exodus-Motiv in der dem Magier Sirnon
zugeschriebenen grof3en "Apophasis" ausgenützt (Hippolyt Elenchos VI 15).
Aus dieser Schrift kennen wir auch eine allegorische Interpretation von
Jes 5, in der das "Haus Israel" mit dem "Anthropos" (=Juda Jes 5,7 LXX)
und mit dem Weltbaum identifiziert wird. Der Stamm, die Zweige und
die Blätter dieses Baumes werden vernichtet, die Frucht aber wird in die
Scheune gebracht; d. h. die Materie verfällt der Vernichtung, die Pneuma·
Teile werden aber in dem "erlösten Erlöser" vereinigt, wenn sie zu "Bild"
(Eikon) geworden sind und ihre eigene Gestalt (Morphe) wiedergewonnen
haben (Elenchos VI 10 vgl 9,9-8).
Diese Bilder erinnern an die· aus Philo bekannten; von ihm unter-
scheiden sich aber die eigentlichen Gnostiker durch die Radikalität ihres
antikosmischen Dualismus. Das Irdische ist für sie nicht "Schatten" und
"Gleichnis", es ist· die böse, feindliche- Macht. Der Unterschied wird
deutlich, wenn wir neben Philos Gedanken über die "sichtbare" und die
"unsichtbare Ekklesia" die Lehre der Naasener stellt, es gebe drei "Kirchen":
die "erwählte Ekklesia" ist "engelhaft", die "berufene" ist "seelisch", die•
"gefangene" ist "irdisch" (Elenchos V 6,7). Gedacht wird dabei an den
"Stamm der Seelen", in der himmlischen Heimat, in dem Erlösungsprozef3
oder in der Gewalt der Materie sich befindend. 200
Für die radikale Gnosis haben die alttestamentlichen Allegorien nicht
mehr eine strukturelle, sondern nur noch eine ornamentale Bedeutung. Wie
dabei die gnostische Allegoristik nicht nur zur Umdeutung, sondern zu
völliger Verkehrung des atl. Israelgedankens führte, zeigt das "Baruchbuch"
des Justin (Hippolyt, Elenchos V 26 f). Nach dem "System" dieser Schrift
gibt es drei Prinzipien des Alls, zuerst der "Gute", zweitens "Elohim"
II8
und drittens "Edem" oder "Israel". Der "Gute" ist der Urgrund, "Elohim"
ist das Göttliche, wie es sich mit dem Irdischen verbinden kann, das
Pneuma. "Edem-lsrael" ist das weibliche, psychisch-kosmische Prinzip,
die Materie, mit der sich "Elohim" in Liebe verbindet. Die Erlösung
besteht nun in der Befreiung des von der Psyche festgehaltenen Pneuma,
in der Scheidung von "Elohim" und "Edem". Aus dem Bild der Ehe
zwischen Gott und Israel ist also hier ein Mythus von der Verbindung
von Pneuma und Psyche geworden, und Israel ist hier nicht das "Volk"
der erlösten Seelen, sondern die Welt, aus der der Geist erlöst werden mufu.
Bei diesem Justin ist die jüdische Grundlage der Gnosis noch deut-
lich.201 Anderswo führte aber die gnostische Opposition gegen die Welt,
die Schöpfung und das Gesetz zum Kampf gegen den atl. Schöpfergott.
Der "Antisemitismus" erhielt dadurch eine eigentümliche, neue Begründung;
die Juden waren das Volk des bösen Demiurgen und Gesetzgebers und
deshalb verhaf3t. 202 Da der Gnostizismus in seiner weiteren Entwicklung
zum fanatischen Kampf gegen das AT führte, ist es nicht zu verwundern,
dafu er in der Geschichte des Judentums nur eine vorübergehende Rand-
erscheinung wurde. Und doch hat der "mystische", bzw. "gnostische"
Begriff "Israel" im Verborgenen weitergelebt, denn in der mittelalterlichen
Kabbala tritt er wieder an den Tag. Hier erscheint "Israel" wiederum als
eine mystische, himmlische Gröfue. "Israels Seele emaniert aus der Heilig-
keit Gottes selber." Jakob-Israel ist ein irdisch-himmlisches Doppelwesen,
dem irdischen Israel entsprechen gleichnamige Himmelsräume und himmlische
Wesen. Das irdische Israel wird von den himmlischen Kräften bestimmt,
und andererseits sind die Schicksale des irdischen Israels für die himmlische
Welt von entscheidender Bedeutung. 203
Zunächst wurde aber alle "gnostische" Spekulation von dem "norma-
tiven" Judenturn zurückgedrängt. Und doch ist daran zu erinnern, dafu
auch von den Rabbinern "Israel" nicht als eine innerweltliche Gröfue ver-
standen wurde. Auch für sie entsprechen sich ja die "untere" und die
"obere" Gemeinde; Israel ist Anfang, Mitte und Ende der Schöpfung. 204
Hier sind aber alle fremden Gedanken assimiliert und ad maiorem gloriam
Israel- angewendet. Im Zentrum der Betrachtung steht die Tora, als Volk
der Tora ist Israel das Volk Gottes.
die Gabe des Gesetzes der grofue Vorzug ist, der Israel von den Völkern
scheidet (4 Esr 3· 18 f; 9,30 f; 2 Bar 48,22 ff; 77 ,3. 15 f etc). 212
Die Tora ist die Verfügung (b•rit) Gottes, die Israel an ihn bindet. 213
Und wie der "Bund" so wird auch das "Königtum Gottes" auf die Tora
als den Herrschaftsanspruch Gottes bezogen; bei der Gesetzgebung hat
Gott sein Königtum aufgerichtet, und die Israeliten haben ihn als König
anerkannt (M Ex 20,2 HR 219; S Lev 18,2 Weifu 85 d, R Schimeon b
Jochai, Tan 3). 214 Damit berührt sich die Vorstellung vom "Joch" des
Himmelkönigstums, bzw. Gottes oder der Tora, welches die Israeliten auf
sich genommen haben. 215 Indem die Israeliten das Königtum des Himmels
und das Joch der Tora auf sich genommen haben, haben sie Gott als ihren
einzigen Berrn anerkannt und gehören deshalb Gott. Diese Anerkennung
des Herrschaftsanspruches Gottes ist das Entscheidende, sie muß sich aber
im Gehorsam gegen die einzelnen Gebote auswirken (vgl M Ex 20,2
HR 222). 216
Die Vorstellungen von dem Bunde, dem Königtum und dem Joche Gottes
zeigen, dafu wir uns das Verhältnis von Tora und Israel nicht zu mechanisch
vorstellen dürfen. Was betont wird, ist aber die Anerkennung des Herr-
schaftsanspruchs Gottes, die Annahme des Gesetzes von Seiten der Israeliten.
Oft wird we~iger über die Güte des gebenden Gottes als über die Würde
der empfangenden Israeliten reflektiert; wenn Gott ihnen die Tora gab,
so geschah das, weil sie allein dazu würdig waren (vgl S Dt 32,8 § 3 I 1
Friedm 134 a; Lev R 13,2 Wünsche S. 85, R. Schimeon b Jochai; Num
R 3 1 Wünsche S. 37 f, R. Jose b Chalaphata, Tan 3; Cant R 1,4, Wünsche
S. 24, R Me'ir Tan 3). Das Wichtigste, was am Sinai geschah, ist dem-
nach die Zusage der Israeliten: "Alles, was JHWH gesagt hat, wollen
wir tun und befolgen" (Ex 24,7). Wenn Gott nicht vorausgesehen hätte,
dafu die Israeliten am Sinai das Gesetz annehmen würden, hätte er die
Welt überhaupt nicht bestehen lassen (b Schab 88 a; b Ab far 5 a; vgl
Cant R 2,2; 7,1, Wünsche S. 55 und 163), und Adam hätte keine Kinder
gezeugt (Gen R 21,8 zu 3,24 Th-A 204). Durch diese Annahme der Tora
hat sich Israel vor allen anderen Völkern ausgezeichnet und seine Sonder-
stellung gewonnen (Gen R 33,1 zu 8,1 Th-A 298 f, R Jischmael Tan 2).
Nach rabbinischer Anschauung hatten ja auch die Heidenvölker die Mög·
lichkeit das Gesetz anzunehmen, denn es wurde in der Wüste öffentlich
proklamiert und zwar in allen siebzig Sprachen der Welt (M Ex 19,2 HR
205 f; 20,2 HR 221 f; SDt 33,1.2 § 343 Friedm 142 b; b Sota 35 b etc). 217
Die Weltvölker haben also keine Entschuldigung und können sich nicht
beklagen; das Gesetz ist ihnen angeboten worden, sie haben es jedoch ab-
gelehnt, und schon die sieben noachitischen Gebote haben sie übertreten
(M Ex 20,2 HR 221 f; b Ab zar 2 b etc}. 218
Durch diese Theorie wird eine ethische Motivierung der Sonderstellung
Israels erreicht; von einer Erwählung Israels durch Gott im atl. Sinne kann
aber nicht mehr gesprochen werden. Die Initiative liegt auf der Seite
I2I
Israels: "Ihr habt mich zu einer IJ.ati'l!ä (=Gegenstand der Erwählung? 219)
in der Welt gemacht, so will auch ich euch zu einer IJ.ati'gä in der Welt
machen" (b Chag 3 a, R Eleazar b Azarja, Tan 2; vgl b Ber 6 a). Die
Existenz Israels als Volk Gottes hängt nach dieser Anschauung nicht mehr
von der freien Wahl Gottes ab, vielmehr hat Gott die Israeliten nötig, damit
sie sein Gesetz halten. Nach der Ansicht des Amoräers Levi kann Israel
geradezu darauf pochen, daß es das Gesetz annahm; von allen anderen
Völkern ist Gott schmählich abgewiesen worden (Thre!'li R 3,I Wünsche
S. II8; vgl aber schon SDt 33,5 § 346 Friedm IH a). 220
Nach dem AT war das Gesetz die Willenskundgebung JHWH's an
das von ihm erlöste Volk, für die Rabbiner wird das Heil in und mit der
Tora gegeben. Als die Israeliten am Sinai das Gesetz empfingen, verlor
der Todesengel seine Macht über sie, es waren damals keine Kranke,
Blinde, Stumme oder Lahme in der Gemeinde, die Israeliten durften Gott
schauen und glänzten voll Herrlichkeit (M Ex 2o,I8 HR 235; 20,19 HR
237; S Num 5,3 § I Hor 4; Lev R 18 1 r8 a, Wünsche S. 1 I9 f; Ex R
SI Wünsche S. 342 f; Pesiqta R K Buher 37 a und Io6 a-107 a, Wünsche
S. 42 f und 138 etc). 221 In diesem Zustand des unbedrohten Lebens und
der Herrlichkeit blieben sie aber nicht lange, denn alles ging durch die
Sünde mit dem goldenen Kalbe verloren (b Schab 88 a etc). 222 Erst in
den Tagen des Messias werden die Israeliten wieder das Heil so wie am
Sinai erleben. 223
Aber auch in der Zwischenzeit wird Israel durch die Tora das Leben
zuteil. 224 ,,Viel Tora, viel Leben," sagt schon HiUel (Aboth II 7). Später
heißt es: "Groß ist die Tora, denn sie gewährt denen, die sie befolgen,
Leben in dieser Welt und in der künftigen Welt!" (Aboth VI 7}. Die Tora
ist ganz Leben (Ex R 4I Wünsche S. 289, vgl M Ex 15,26 HR IS8}, sie
ist der Lebensbaum (SDt I I 122 § 48 Friedm 84 b etc), 225 das Heilmittel des
Lebens (SDt II,I8 § 45 Friedm 82 b etc)226 und das zum Leben nötige
Brot (Gen R 70,5 zu 28,20 Th-A 8o2; 54, I zu 21,22 Th-A 576 etc) 227
und Wasser (SDt I I 122 § 48 Friedm 84 a; Cant R I,2 Wünsche S. I9 f). 228
Ebenso ist die Tora für Israel das Licht (S Num 6,25 § 4I Hor 44; b B B
4a; b Meg I6b)/29 die Kraft (M Ex I5,2.13; J7 1 Ir; I8,I HR r26.q6.
r8o.r88 etc), 230 die Herrlichkeit (SDt II 1 2I § 47 Friedm 83 b}, der Schmuck
und die Krone (S Num I8,2o § I 19 Hor I44; SDt 1 I 1 22 § 48 Friedm
84 b). 231 Durch die Tora wird den Israeliten auch Weisheit (Aboth III 17;
b Qid 49 b; Pesiqta R K 4 Buher 37 a, Wünsche S. 42)/32 Freiheit (Aboth
VI 2; Ex R 41 Wünsche S. 291), 233 Friede (S Num 6,26 § 42 Hor 42),
und Freude (vgl b Schab 130 a; b Ber 3I a} gegeben. Sie ist "das Gute"
schlechthin (Aboth VI 3 etc). 234 Die Tora ist für Israel das Lebenselement,
wie für die Fische das Wasser (b Ber 6I b; Ab zar 3 b). Ohne Tora (im
Nicht-Tora) vermag Israel überhaupt nichts (M Ex 17,8 HR 176).
Die Tora ist eine göttliche, lebensschaffende Potenz, und alle Aussagen
von der himmlischen, ewigen Weisheit werden auf die Tora übertragen. 235 .
122
Das Leben ist Israel durch den Besitz der Tora gegeben und ist nicht
erst Lohn für ihre Erfüllung. R Schimeon b Jochai meint sogar, die Tora
sei um Israels willen geschaffen. Sie besteht ewig, wieviel mehr Israel!
(Eccl R zu 1,4 Wünsche S. 8, vgl SDt 11,21 § 47 Friedm 83 b). Aber
auch die andere Seite kann betont werden, die Tora besteht in einzelner.
Geboten. Durch die Satzungen und deren Beachtung (nti$wö1) wird Israel
geheiligt (S Lev 20,7 Weiß 191 d; b Ber 6o b; Musaphgebet für das
Neujahr 2 etc). Je mehr Gebote, um so mehr Heiligkeit (M Ex 22,30
HR 320; M R Sb J Ex 19,6 Hoffm 95; S Num 15,40 § II5 Hor 127).
"Der Heilige, gelobt sei er, wollte Israel zu Verdiensten bringen (bzw.
rechtfertigen, zakköt), deswegen hat er ihnen viel Tora und Gebote erteilt"
(M Mak III 16, vgl b Schab 49 a; Num R 17 Wünsche S. 443). 236 Jedes
der vielen Gebote gibt den Israeliten Anlaß zum Studium und zum Tun
und vermehrt so die Würde Israels. Das Volk ist dazu erwählt, sich mit
den Geboten zu beschäftigen: "Ihr sollt mir sein (Ex 19,6) - ausgesondert
für mich, mit der Tora beschäftigt, mit den Geboten beschäftigt" (M R Sb J
Ex rg,6 Hoffm 95). 237
Israel ist das Volk, das die Tora studiert. Wenn die Israeliten sich
mit den Geboten beschäftigen, werden alle sehen, daß sie die Kinder Gottes
sind (Dt R 7,9 Wünsche S. 89 f). Dieses Studium ist die Stärke des
Volkes, das Hochhalten der Hände des Mose bedeutet das Festhalten an
der Lehre, das Niedersinken das Sinken der Gesetzeskunde in Israel (alle-
gorische Erklärung von Ex q,11, M Ex 17,11 HR r8o, vgl Jalqut § 264,
R. Eliezer b Hyrkanos Tan 2). 238 Auch der heidnische "Philosoph" muß
zugeben, dafu Israel so lange unbesiegbar ist, als die Kinder die Tora
studieren (Gen R 65,20 zu 27,22 Th-A 734 f, vgl Pesiqta R K 121 a und
120 b, Wünsche S. 164 und 163). Das Studium ist eine Pflicht aller
Israeliten (SDt I I 1 22 § 48 Friedm 84 b; Aboth II 8 b; III 2.3.7; IV ro), und
es gibt viele Aussagen, die das Studium verherrlichen. 239 Die Frömmigkeit
besteht vor allem in diesem Studium des Gesetzes (vgl z. }3. Aboth I 4
b. 5 c. 15; II 8.r2 b .14 a .16).
Die Tora wurde am Sinai gegeben; in dieser Sinaioffenbarung waren
nach rabbinischer Anschauung auch schon die Propheten, die Schriften und
die mündliche Tradition enthalten. 240 Man sucht deshalb, alle Lehren und
Gesetzesvorschriften aus dem Pentateuch zu begründen durch die bekannte
künstliche "Exegese". Die Rückführung der gesamten Halacha auf die
Sinaioffenbarung kann aber auch so geschehen, dafu man behauptet, es
wurde am Sinai zwei Toroth gegeben, eine schriftliche und eine mündliche
(SDt 33,10 § 351 Friedm 185 a, R Gamliel, Tan 2; vgl b Schab 31 a,
Hillel, etc). Als später die Heidenchristen sich das AT aneigneten und
den Anspruch erhoben, "Israel" zu sein, sah man den Grund dafür, daß
die Überlieferung nicht schriftlich gegeben war, darin, dafu sie ein Sonder-
besitz Israels bleiben sollte. Gott wird nur diejenigen als seine Kinder
anerkennen, die sein Geheimnis kennen, und das Geheimnis Gottes ist die
!23
Die Voraussetzung für die sühnende Wirkung dieser Mittel ist die "Umkehr",
die das Hauptmittel zur Wiedererlangung der Gerechtigkeit ist (b Joma
86 a etc). 253 Für besonders grobe Sünden genügen allerdings auch die Um-
kehr und die kultische Sühne nicht, erst durch Leiden wird für diese Sünden
Sühne geschaffen (b Joma 86 a etc). Durch diese "obedientia passiva"
erwerben die Israeliten die Verdienste, die sie sich durch die "obedientia
activa" nicht haben erwerben können. 254 Zuletzt sühnt auch noch der Tod
die Sünden eines Menschen (S Num 15,31 § II2 Hor 121; M Sanh VI 2;
b Joma 86 a; Tos Ber 17; b Ber 6o a etc). 255 Im Anschluf3 an diese Vor-
stellung kann es auch heif3en, daf3 der Tod Israels durch die Heiden als
Sühne angesehen wird (S Dt 32.43 § 333 Friedm 140/a). Anderswo heif3t
es dagegen, daf3 Gott die Weltvölker als Sühne für Israel hingibt (M Ex
21,30 HR 286, R. Jischmael Tan 2). Auf alle Fälle wird Gott für sein
Volk Sühne schaffen; Israel wird glücklich gepriesen: "Wie das Tauchbad
die Unreinen reinigt, so reinigt der Heilige, gelobt sei er, Israel" (M Joma
VIII 9; Pesiqta R K 25 Buber 157 b, Wünsche S. 225). 256 Dabei kann
das Vergeltungsschema durchbrechen werden; Gott, der sein Volk liebt,
wird auch die Sünden des Volkes vergeben (vgl S Dt 21,8 § 2Io Friedm
II2 b; Siphre zuta zu Num 27,17 Hor 320). 257
Mit der Sühnevorstellung kann der Stellvertretungsgedanke verbunden
werden. Das Leiden und der Tod der Gerechten sühnt nicht nur ihre
eigenen Sünden, wenn sie welche haben, sondern kommen dem gesamten
Volke zugute (vgl z. B. Gen R 44,5 zu I5,I Th-A 429). 258 Die Märtyrer
haben stellvertretend für das Volk gelitten (vgl auch 2 Mac 7,18.33·38.43;
4 Mac 6,29; I7 ,2I f etc); auch die Väter und Propheten stellt man sich
als stellvertretend leidende Gerechte vor (z. B. M Ex I2,I HR 4; I5,I
HR I I 7 etc). Daneben kommt auch die aktive Gerechtigkeit der Ge-
rechten dem ganzen Israel zugute. Das Volk wird noch als eine
Einheit gesehen, und wie die Schuld, so werden auch die Verdienste der
Einzelnen dem Gesamtvolke angerechnet (vgl M Ex 20,2 HR 219; 19,6
HR 209; M R S b J I9,6 Hoffm 95; b Sanh 27 b). 259 Die spätere Zeit
schätzt die Verdienste der Rabbiner noch höher als die Verdienste
der Märtyrer. 260 Eigentlich sollten alle Israeliten Gelehrte sein, das
ist aber praktisch unmöglich (vgl b Ber 35 b etc), die Ungelehrten können
aber die Rabbiner unterstützen, so daf3 diese von Nahrungssorgen unbe-
kümmert sich ganz dem Studium hingeben können, und dies wird ihnen
dann angerechnet, als ob sie selbst Gelehrte wären (vgl Gen R 72,5 zu
30,I6.r8 Th-A 841-843; b Keth III b; Threni R Prooem, Wünsche
S. I [). 261 Auch die Gebotserfüllungen der Gerechten haben stellvertretende
Bedeutung, um der Gerechten willen wird das gesamte Volk gerettet werden
(b Erub ror a; b Sukka 45 b; j Ber IX 3 Schwab I S. r62 f, R Schimeon
b Jocbai Tan 3; Pesiqta R K ro Buber 88 a, Wünsche S. 113; Gen R 33
127
zu 8,1 Th-A 299f etc; vgl 4 Esr 8,26-3o; 2 Bar 2,2; 14,5-7; 48,r9;
85,1 [). 262 Gerade indem die Gerechten sich absondern, um das Gesetz
restlos erfüllen zu können, schaffen sie also dem Gesamtvolke Verdienste,
die auch den Gottlosen zugute kommen.
Solche Gerechte erweckt Gott in jeder Generation, damit Israel niemals
ohne Verdienst sein soll (Gen R 44,5 zu 15,1 Th-A 428 f; b Joma 38 b).
Besonders wichtig aber sind die Verdienste der Erzväter, denn wenn auch
jeder Israelit "Israel" vertritt, so tun es doch die Erzväter in ganz besonderer
Weise. 263 Was von ihnen gilt, gilt auch von dem Gesamtvolke (vgl Gen
R 40,6 zu r2,r6 Th-A 386). Ihre VerdLenste kommen den Israeliten zu
allen Zeiten zugute (vgl z. B. M Ex 12,1 HR 3; 12,13 HR 62; 14,15 HR
98 f; Aboth II 2 b; V 2 b .3; Pesiqta R K 23 Buher 154 b, Wünsche 218 f;
auch 2 Bar 78,7; 84,8.1o; Test Levi 15,4; Ass 7,7; Jos An~ IV 2; XI 169;
Philo Spec leg IV 181). 264 Man sucht deshalb nach Möglichkeit etwaige
Makel aus dem biblischen Bilde der Väter und des alten Israels zu tilgen. 265
Die Sünden der späteren Geschlechter werden durch die Vorzüge der Väter
mehr als aufgehoben: "Die Gemeinde Israel spricht: Schwarz bin ich durch
meine Werke, aber anmutig bin ich durch das Werk meiner Väter" (Cant
R 1,5 Wünsche S. 30).
Diese Sühne- und Stellvertretungsgedanken machen es möglich, den
Glauben, dafu nur die nach dem Gesetze . Gerechten im Gericht Gottes
bestehen werden, mit dem Glauben, dafu ganz Israel gerettet wird, zu
vereinigen. Der "Israel" ·Gedanke, seit dem Anfang des hellenistischen
Zeitalters in Auflösung und mannigfacher Umbildung begriffen, hat hier
wieder eine relativ geschlossene, normative Gestalt gefunden. Die Ver-
einheitlichung der Gesetzesinterpretation und der Frömmigkeitspraxis hat die
Einheit Israels für Jahrhunderte gesichert. Die Rabbiner haben sich die
gröfute Mühe gegeben, diese Einhet zu erreichen. Dafu keine "Parteiungen"
in Israel entstehen dürften, war für sie ein Leitsatz von gröfuter Tragweite
(vgl S Dt 21,I8 § 218 Friedm II4 a; b Sota 25 a; b B M 59 b; b Sanh
88 b; b Meg 3 a). 266 Selbst berühmte Lehrer, z. B. Rabbi Eliezer b Hyrkanos,
werden vor die Alte~mative: Unterordnung oder Bann, gestellt (b B M 59 b;
vgl j Sanh VIII 6, 26 b, Schwab XI S. 30 etc). Wie wichtig den Rabbinern
die Beseitigung der Haeresi war, zeigt vor allem die birka1 hammtn{m im
Achtzehngebet (Sehern esre 12; vgl b Ber 28 b etc). Aber gerade dieser
Kampf der Rabbiner ist ein Zeugnis dafür, dafu ihr "normatives Judentum"
gar nicht alleinherrs!=l:lend war. 267 Erst nach dem Untergang Jerusalems
und dem Bar Kochba-Kriege hat es sich durchzusetzen vermocht. In der
Entstehungszeit der Kirche gab es im Judentum eine Reihe Sondergruppen
und Sekten. "Israel wurde nicht eher ins Exil geschickt, als bis sich vier-
undzwanzig Sekten gebildet hatten" (j Sanh X 5, 29 c, Schwab XI S. 61).
I28
E. Die Sondergruppen.
Schon im AT fanden wir, daß besondere Gruppen sich irgendwie als
das "wahre Israel" gefühlt haben (vgl oben S. 32 f .46.4 7 f). Im Spät·
judenturn werden sehr häufig Namen und Ehrenprädikate des Gottesvolkes
auf solche kleinere Gruppen übertragen. 268 Dabei braucht es sich gar nicht
immer um "Sekten" zu handeln. Die allgemeine Tendenz, nur oder jeden-
falls besonders die Frommen als das "wahre Israel" anzusehen, kann ver-
schiedentlich spezialisiert werden.
Um Judas Makkabäus schart sich eine exxA:fJcr(oc mcr't"wv, die als Ver-
treterin des Gottesvolkes die Kriege Israels führt (r Mac 3, I3 vgl 2). Schon
vorher scheint die "Synagoge der Chasidäer" bestanden zu haben, eine
gesetzestreue Gemeinde der Frommen, die sich als Vertreterin der Gesamt-
gemeinde Israels fühlte (I Mac 2,42; vgl 7,I2 f; 2 Mac 14,6; Dan 11.33·35;
r Hen 90,6 ff). Nachfolger der Chasidäer sind, wie im allgemeinen ange-
nommen wird, die Pharisäer.'lfJ9 Sie fühlen sich als die besonders jüdischen
unter den Juden, bilden die dxptßo:cr't"oc't""'J oc'Lpo:crt; (Act 26,5; vgl Jos Bel I
uo; II r62; Vita I9I und Phil 3,5). Ihr Name ist ihnen vielleicht von
den Gegnern beigelegt ( = die Separatisten). Er ist aber als Ehrenname
aufgefaßt worden, denn nach rabbinischem Sprachgebrauch ist p<rüslm =
IJ'rj{jstm. Sie sind, was alle Israeliten hätten sein sollen, die Heiligen, weil
die Abgesonderten (vgl M Ex I9,6 HR 209; S Lev u,44 Weiß 57 b;
20,26 Weiß 93 d etc). 270 Sie bilden das wahre Israel, während die iamme
ha'ärä~ und die Sadduzäer (b Erub 68 b, anders jedoch R Gamliel II ebd)
mit den Heiden auf einer Stufe stehen. 271
Vielleicht sind es die Mitglieder der caritativen Gemeinschaften der
Pharisäer, von denen als b'n~ hakk'nesa!. gesprochen wird (M Zabim III 2;
M Bechor V 5 etc), 212 es fragt sich jedoch, ob man nicht mit der schlichten
Bedeutung "Gemeindemitglieder" auskommt. Eine pharisäische Genossen-
schaft ist es (nach Joach. JEREMIAs) 273 auch gewesen, die sich mit dem Namen
der Gesamtheit "die heilige Gemeinde (zu Jerusalem)" nannte Whälä /ßaddlsä
bzw ;erjä IJ'rjösii; b Beza 14 b und Par; 27 a; b Ber 9 b; b R hasch 19 b).
Eine spätere Zeit hat allerdings bei diesem Namen an einzelne hervorragende,
asketische Fromme gedacht (j Ma Sehe II Io, 53 d, Schwab III S. 218;
Eccl. R 9,7 zu 9,9 Wünsche S. I23). Derartige asketische Fromme gelten
als Heilige (b Taan I I a etc)/74 sie sind "Abgesonderte" (.tt'rüsi'm b B B
6o b). Solche Sonderfromme vergangener Zeiten sind es wohl auch, die
als bastr}lm harlsqnlm gerühmt werden (M Ber V I; b Ber 32 b; b Schab
64 b .121 b.150 b; b Men 40 b; b Ned ro a etc). 275 Auch auf die Ma"rtyrer
werden Ehrenprädikate des Gottesvolkes übertragen, sie sind die "Gerechten"
(I Hen +7), die "Heiligen (Gottes)" (S Dt 33,3 § 344 friedm 143 b),
gelten in besonderer Weise als Kinder Abrahams und Glieder des Bundes
(4 Mac 6,q.22j 9,21j I3,12.qj I4,20j rs,28; 16,I9-22.25; q,6;
129
Die Gemeinde hat eine straffe Organisation (II; 15; 16 etc), und wird
von einem monarchischen "Bischof" geleitet (16; 19,8.1o; 17,6-8). 283
Unter ihm stehen schriftgeiehrte Priester oder evt. Leviten als Vorsteher der
kleineren Gruppen (is,s-8; q,s). Man hat eine eigene Rechtssprechung
(10,13-II,4; q,8) und strenge Kirchenzucht (9,12 -27; I0,16; q,s.6;
19,5; B 9,II -38.49). Innerhalb der Gemeinde herrscht eine Gemeinschaft
der gegenseitigen Liebe und Unterstützung (8,q.r9; ro,r-s; 18). Von
den Heiden (13,24; 14,7-II) und von der sündigen Menge des jüdischen
Volkes (8,r2; 9,18.24 = B; r6,7; vgl6,7) sollen sich die Gemeindeglieder
absondern.
Das Gesetz des Mose nimmt die Gemeinde für sich in Anspruch (vgl
8,5-9; 9,6; 19 1 7-q). Es ist die Norm für das Gemeinschaftsleben
Israels (vgl 4,9 ff; 7,5 f .8; 8,2 etc), aber nur die Damaskusgemeinde kennt
seine richtige Auslegung, die in mündlicher und schriftlicher Form festgelegt
ist (6,s; 8,9.I4f; 9,1 =B; 1S,I-3·7; I9,IO; 11,2; rs,s; q,s). Die
Damaskusschrift selbst enthält zum Teil diese Halacha (Kap. 10-20), die
in der Hauptsache mit der rabbinisch-normativen übereinstimmt; abweichend
ist besonders das Verbot der Polygamie und der Nichtenehe (7,r-rr). 284
Auf Grund ihrer allein richtigen Halacha, wissen sich die Sektierer als
diejenigen, die nach dem Gesetze handeln (s,r-2; 6,5; 8,9-9,1; r6,r2;
2o,s; B 9,5o). Sie bilden das Haus der Tora (B 9 135.38). Neben dem
Gesetz werden auch die Propheten häufig zitiert. 285 Die Schriftauslegung
ist eigenartig, denn die Worte der Schrift werden als Aussagen über die
vergangene und zukünftige Geschichte der Gemeinde des neuen Bundes
verstanden (vgl z. B. 5,6 ff; 8,4-9.II; 9,2-r0.23 f). Neben dem AT sind
auch andere Schriften hoch geschätzt (1 r,2; rs,s; 17,5; 6,1o; 9,28; 2o,r).
Zu betonen ist noch, daf3 die Gesetzeskenntnis und die geschichtlich-
eschatologische Deutung der Zeit als Geheimwissen der Gemeinde geschätzt
wird (r,8; 5 1 Ij 191 10).
Die Gemeinde glaubt in der Endzeit zu leben. Ihre treuen Glieder
sind die Zadoksöhne (Hes 44,15), "die Auserwählten Israels, die mit Namen
genannten, die am Ende der Tage bestehen werden" (6,2). Von den fest-
gesetzten Perioden (2,8) sind seit der Eroberung Jerusalems durch Nebu-
kadnezar bis zur Entstehung der Gemeinde (1,5) schon 390 Jahre verlaufen;
damit hat die letzte Periode vor dem Ende angefangen (1,5.7 f). In diesen
Jahren wird Belial gegen Israel losgelassen (6,9), und der Zorn Gottes
entbrennt gegen das Volk (B 9,39 f). Es ist die "Zeit des Frevels"
(8,9.12; 15,4; 19,7, vgl B 9,47 und 9,ro-rr). 286 Der "Spötter" ist auf-
getreten (r,ro). Während dieser Jahre muf3 die Gemeinde auf3erhalb des
Landes in Damaskus leben (6,3·5·7; 8,6.9 f; B 9,29). Die Dauer dieser
Periode .oder des letzten Teiles derselben wird auf vierzig Jahre berechnet
(B 9,39), was wahrscheinlich der vierzigjährigen Wüstenzeit Israels ent-
sprechen soll. 287 Auch sonst wird diese Parallelisierung angedeutet. Die
Gemeinde und ihre Siedlungen werden "Lager" genannt (9,1 = B; ro,7;
r 5.4.6; I 6, r.6.8.9; 17, r.6), und die Ordnungen des "Lagers" entsprechen
den mosaischen Ordnungen für das Volk in der Wüste (!5,4 f vgl Ex I8,25;
und I5,6 vgl Num 27,2I). 288 Wie damals (4,7), so ist auch jetzt ein gott-
gesandter Lehrer erschienen (I,7; B 9,50·53), und wie Belial den Jachne
auftreten liefu, so sind jetzt die "Grenzverwischer" aufgetreten (7,I9-8,I).
Ein Parallelismus besteht ja auch zwischen dem Bunde am Sinai (4,9; vgl
I,4; 8,3; 9,25 f) und dem neuen Bunde im Lande Damaskus (8,I5; 9,28;
vgl 6,5 f).
Die vorletzte Periode dauert "bis dafu der Messias aus Aharon und
Israel" (I5,4; I8,8; B 9,I0.29), bzw. "der Lehrer der Gerechtigkeit am
Ende der Tage auftritt" (8,Io). 289 Dieser aharonitisch-priesterliche Messias
wird aus der aharonitisch-priesterlichen Gemeinde entstehen und ihr Fürst
sein (vgl 9,9). Die Herrlichkeit Gottes wird für Israel aufstrahlen (B 9,49),
und die Gemeinde wird nach der "Wüstenzeit" in Damaskus das Land
Gottes in Besitz nehmen und den Erdkreis mit ihren Nachkommen füllen
(I,5; 2,9; 5,6; 8,2I; B 9,50-54). Auch die Verheißungen Israels nimmt
also die Damaskusgemeinde für sich in Anspruch, ebenso wie die Väter,
den Gottesdienst und das Gesetz. Wie die christliche Kirche beansprucht
sie das "Israel Gottes" zu sein.
Viel schwieriger ist es, etwas über das "Selbstbewußtsein" der in der
apokalyptischen Literatur zu Worte kommenden Kreise zu sagen. 290 Diese
Kreise haben wahrscheinlich nicht den geschlossenen Charakter der Damaskus-
gemeinde gehabt. Um die Offenbarungen Renochs scheint sich ein Kreis
gesammelt zu haben, dessen Selbstbewußtsein durch die Kenntnis der
Geheimnisse des weisen Urvaters bestimmt war- (vgl I Hen I,r; 92,I;
94,2; 104,I2 f etc). 291 Aus dem griechisch-äthiopischen Henochbuch wissen
wir, daß sich die Henochiten als die "auserwählten Gerechten" der
Endzeit fühlten (vgl oben S. 85 f). Die "Kirche" ist aber für sie eine
zukünftige Größe, eine geschlossene Gemeinde oder Sekte haben sie kaum
gebildet. Das slavische Henochbuch ist weniger eschatologisch, mehr mystisch
(vgl oben S. u6); aber auch hier hören wir von "treuen Männern", "Gottes-
fürchtigen" und "Gerechten", die am Ende triumphieren werden; vor den
Augen "Henochs" stehen dabei die gläubigen Leser seiner Schriften (2 Hen
35; 48,6-9; 9). Das hebräische Henochbuch scheint von einem ähnlichen
pietistisch-mystischen Milieu zu stammen; es zeigt wie sich die Benach-
traditionen durch Jahrhunderte lebendig erhalten haben. 292 Wenn der Ge-
danke, dafu die Henochiten das "wahre Israel" seien, nicht betont wird, so
hängt das damit zusammen, dafu der "Israel"-Gedanke bei ihnen überhaupt
keine große Rolle gespielt hat; sie leben mehr an der Peripherie des
Judentums, ohne sich bewußt als Sektierer zu fühlen. Daß die Vertreter
des offiziellen Judentums diese Hochschätzung des Henoch mißbilligt haben,
können wir daran erkennen, daß in dem ältesten Midrasch zur Genesis
dem Henoch eine recht ungünstige Beurteilung zuteil wird (Gen R 25 zu
5,24 Th-A 238 f).
1 33
Mit der Henochliteratur berühren sich die Testamente der zwölf Patrt'-
archen (vgl Test Sim 5.4; Levi 10,5; 14,1 Mss; 16,1 Mss; Judae 18,1 Mss;
Seb 3.4 Mss; Dan 5,6; Napht 4,1; Benj 9,1 Mss; 10,6). Hier spielt der
"Israel" -Gedanke eine gröf3ere Rolle. Die Söhne der Patriarchen werden
immer wieder angeredet (Test Rub 1,1.4; Sim 1,1; 2,1; Levi 1,1; 1o,1),
und natürlich wird dabei an die Leser des Buches gedacht, an sie sind
die Mahnungen und die Verheif3ungen der Stammväter an ihre Nachkommen
gerichtet. Es ist aber zweifelhaft, ob die hier zu Worte kommenden apo-
kalyptischen "Pietisten" 293 eine geschlossene Gemeinde gebildet haben, noch
mehr, ob sie ein besonderes "Gemeindebewuf3tsein" gehabt haben. Sie
gehören eher zu den "Stillen im Lande", die auf die Erlösung Israels
hoffen (Lc 2,38). 294 Für sie gehört die wahre Gottesgemeinde der Zukunft
an, eine Sondersynagoge in der Gegenwart haben sie nicht gebildet.
Galiläa war wahrscheinlich die Heimat dieser apokalyptischen Kreise.
Mit gröf3erer Sicherheit wissen wir aber, daf3 dort die Zeloten zu Hause
waren. 295 In der Zeit von dem Tode des Herades an haben sich immer
neue Scharen gebildet, die für die Freiheit Israels kämpfen. Durch die
neue Prophetie ermutigt, und von messianischen Führern geleitet, wollen
sie die Erlösung Israels herbeiführen. 296 Wer nicht mitkämpft, ist für sie
ein Fremder und Feind des Volkes (Jos Bel II 264 f; VII 254 f). In der
eigenen Schar können auch sie das eschatologische Gegenstück zu dem
mosaischen Israel sehen. Deshalb ziehen die Scharen so oft in die Wüste
hinaus (Jos Bel li 259 = Ant XX 167 f; Bel II 261 -263; Bel VI 351;
VII 438; Ant XX 188). Man erhofft eine Wiederholung der Wunder aus
der Zeit der Wüstenwanderung und der Landnahme Israels (vgl bes Ant
XX 97.168.I7o).
Die Apokalyptiker wie die Zeloten stehen trott Abweichungen dem
Pharisäismus nahe. Als Gegner der Pharisäer sind dagegen die Sadduzäer
bekannt. Leider fehlen uns authentische Zeugnisse, die zeigen könnten,
wie diese ihre eigene Stellung beurteilt haben. Wir können mit ziemlicher
Sicherheit annehmen, daf3 sie sich zum Tempel gehalten und auf alle
"Sondersynagogen" herabgeschaut haben. Zu den Sadduzäern gehörten
ja die vornehmen Priester und der Laienadel; auf Grund ihrer Abstam-
mung und ihres Konservatismus 297· in Theologie und Kultbräuchen haben
sie sich als die legitimen Führer Israels empfunden. Daß sie ihre eigene
Partei (Orden? Schule?) als das "wahre 'Israel" angesehen haben, ist aber
nicht wahrscheinlich. Anführen kann man in diesem Zusammenhang, daß
in der Mischna die Priester das "heilige Volk" genannt werden können
(M Joma IV 2).
Über die Essäer sind wir etwas, aber nicht viel besser unterrichtet.
Der vielbehandelten Frage nach dem Ursprung des Essäismus können wir
hier nicht nachgehen. Was uns hier interessiert ist die einfachere Frage,
wie die Essäer selbst ihre Stellung im jüdischen Volke empfunden haben.
Nach unseren Quellen (Philo und Josephus) sind sie bewuf3t jüdisch gewesen,
1 34
und es ist wohl zu Unrecht, daß man darin eine tendenziöse Darstellung
gesehen hat:298 Für Josephus bilden sie eine jüdische Schule (o:'LpEcrt~ Bel II
I22.I37·I42j Ant XIII qr f vgl XVIII I i ff). Sie sind jüdischer Ab-
stammung (Bel II Ir 9) und leben in strenger Absonderung (Bel II I so;
vgl Hippolyt Elenchos IX 26, wo jedoch eine Vermengung mit Sikariern
vorliegt). 299 Sie sind an der Geschichte des jüdischen Volkes beteiligt, im
Kampf und im Leiden (Bel I 78-8o = Ant XIII 311-313j II 152. 567;
III rr; Ant XV 371-379; XVII 346; Philo, Omn prob lib 89-91). Mit
größter Strenge beobachten sie das Gesetz (Bel li 145; Omn prob lib 8o f),
vor allem den Sabbat (Bel II 147; Omn prob lib 8r) und die Reinheits-
vorschriften (Bel II I29-I38.IS9·I6I). Die blutigen Opfer haben sie viel-
leicht verworfen, die Verbindung mit dem Tempel jedoch nicht abgebrochen
(Ant XVIII I9, wo Text und Deutung leider unsicher sind; 300 Omn prob
lib 75; vgl Bel V 145; Ant XIII 3II und evt M Scheq V 6).
Innerhalb des Volkes haben sie aber eine streng abgeschlossene Ge-
meinschaft, eine Art Mönchsorden gebildet. Sie haben ihre eigenen gottes-
dienstlichen Zusammenkünfte in Häusern, die sie gut jüdisch Synagogen
nennen (Omn prob lib 8I). Das Gesetz legen sie in einer besonderen
Weise aus, haben ihre eigene Jurisdiktion und eigene Observanzen (Bel II
II9.I4S·I6o). Wie ihr Name (wohl ostsyrisch: /:lasen, l;asa;fä) und ihre
Abzeichen (Hacke, Schurz, Kleid; Bel II I37l zeigen, wollen sie die be-
sonders Reinen sein. Innerhalb des Ordens herrscht unbedingte Gemeinschaft,
Bruderliebe (Bel II II9-I22j Philo, Apologie, Euseb Praep eug VIII II,2),
gegenseitige Unterstützung (Bel li I34j Omn prob lib 87 f; Praep eug
VIII II,I3), Gastfreiheit (Bel II I24 f), Mahlgemeinschaft (Bel II I29 ff .I38)
und Gütergemeinschaft (Bel II I 22 f . I 27; Ant XVIII 20; Omn prob lib
76 f .85 f; Praep eug VIII u,4 f). Sie bilden eine Art Mysterienverein,
in dem man erst nach bestandener Probezeit aufgenommen wird (Bel II
I37 f .I so). Das Geheimwissen des Ordens ist streng- esoterisch (Bel II
141 f), die Geheimnisse waren wohl angelologischer, soteriologischer, magisch-
medizinischer und sonst "gnostischer" Art (vgl Bel II r28.I36.I42.I54-I58;
Ant XIII I72; XVIII I8; Omn prob lib 8o). Sie treten auch als Propheten
auf (Ant XIII 3II-313; XV 373 ff; XVII 346-348).
Diese und andere Eigentümlichkeiten lassen sich kaum aus einer rein
innerjüdischen Entwicklung verstehen. Das schließt aber nicht aus, daß
die Essäer sich selbst als besonders gute Israeliten haben ansehen können.
Das Gottesvolk galt als eine Gemeinschaft der Reinen, der die Geheimnisse
Gottes geoffenbart waren, und der Begriff "Israel" konnte "gnostisch" ver-
standen werden. So dürfen wir die Frage stellen, ob auch die Essäer ihren
Orden als das "wahre Israel" angesehen haben. Die Antwort bleibt bei
dem Stand unserer Quellen allerdings unsicher. Zu beachten ist ein Wort
Philos: "Unser Gesetzgeber hat Myriaden von den Schülern zur Gemein-
schaft bereitet, die Essäer genannt werden" (Praep eug VIII I I, I).
Damit kann man zusammenstellen, was Plinius über das große Alter der
1 35
Essäer ("gens aeterna" Hist nat V 17, Reinach Nr rso) und Josephus über
ihre Ehrfurcht vor dem Namen des Gesetzgebers sagt (Bel li I45·IS2), und
die Folgerung ziehen, daß die Essäer ihren Ursprung auf Mose zurück-
geführt haben. 301 Wenn wir dann auch Eusebius glauben dürften, würden
wir noch mehr sagen können. Er erzählt, das jüdische Volk sei in zwei
Teile ("t"p:~p.oc:"t"oc:) geteilt. Die Menge wird durch das buchstäblich verstandene
Gesetz regiert, andere dagegen werden durch allegorische Auslegung zu
höherer Einsicht geleitet (Praep eug VIII ro,r8.19). Das Verhältnis der
Essäer zum jüdischen Volke wäre darnach nach der Analogie des Verhält-
nisses der Gnostiker (oder der Mönche) zur katholischen Kirche zu ver-
stehen. Es ist möglich, daß Eusebius auch diese Nachricht aus seiner
Quelle schöpft (Philo; vgl Omn prob lib 82 über Allegorese der Essäer), 302
er kann sich aber auch selbst nach den genannten Analogien diese Vor·
stellung von den Essäern gemacht haben. Die Nachricht hat eine gewisse
innere Wahrscheinlichkeit für sich, die Essäer sind in der Tat eine Art
jüdische "Gnostiker" und jüdische "Mönche", es würde gut passen, wenn
sie sich als Schüler Mose im höheren Sinn aufgefaßt haben. 303
Den Essäern nahestehend sind andere Täufersekten des Jordanbeckens,
die wir besonders aus den Schriften der späteren christlichen Haeresiologen
kennen: Hemerobaptisten, Masbotheer, Nasaräer usw. (Hegesipp bei Euseb
Hist ecei IV 22,5.7; Justin, Dial 8o 14; Const Ap VI 6; Ps-eiern Rec I 53 ff;
Epiphanius Pan haer XVII-XIX). 304 Hierhin gehören wohl auch die
"Morgentäufer" des Talmud (Tos Jad II 2o; b Ber 22 a), 305 die "Frommen"
des vierten Buches der sibyllinischen Orakel (24 ff etc) 306 und die Ur-
ahnen der Mandäer. 307 Wir haben es hier immer wieder mit Sonder-
gemeinschaften der Reinen, Geweihten und Gottgelehrten zu tun, die die
Verbindung mit dem atl. Gottesglauben, dem mosaischen Gesetze und der
Gemeinde Israels irgendwie bewahrt haben. Charakteristisch ist die hohe
Wertung der Taufe und der Bäder, die oft mit Verwerfung der blutigen
Opfer verbunden ist (Or Sib IV 8 ff .27 ff .162 ff; Epiph Pan haer XVIII
1.4 f (Nasaräer, ohne Erwähnung der Bäder); XIX 3,6-7 (Elchasai); vgl
XXX 16 (Ebjonäer); Ps-eiern Rec I 36 ff .48.54). Zum Teil zieht man
daraus die Folgerung, daß die Opfergesetze des Pentateuchs gefälscht oder
nur als Konzession an das sündige Volk gegeben seien, während diese
Sekten jedoch im allgemeinen nur den Pentateuch allein anerkannten
(Epiph Pan haer XVIII 1,3 f (Nasaräer); XIX 5 (Ossäer); LIII 1,7 (Samp·
säer); XIX r,s; Origenes Horn in Ps 82 bei Euseb Hist eccl VI 38
(Elchasai); vgl Pan haer XXX r8,4 -9 {Ebjonäer, vgl Irenäus Adv haer
I 26,2); Ps-dem Horn TI 38-40·43-52; III 43-56). Dementsprechend
werden sie in ihren eigenen, taufenden und nicht opfernden Gemeinschaften
die wiederhergestellte mosaische Gemeinde gesehen und den Begriff des
Gottesvolkes gnostisierend gedeutet und sektenhaft verengt haben. 308 Eine
solche Gemeinde hat auch Elchasai {vgl oben s. I rsl begründet; Hippolyt
erzählt, daß denjenigen, die seinem Buche Glauben schenkten und sich mit
seiner Taufe taufen ließen, "Anteil mit den Gerechten" versprochen wurde
(Elenchos IX 15,3), Von der Bedeutung solcher "gnostischen" Sektierer
zeugt auch die Polemik der Rabbiner gegen die Minim, die nur zum Teil auf
die Judenchristen zu beziehen ist. 309 Neben den Täufersekten um den Jordan
scheinen besonders in Samarien solche synkretistisch-gnostische Sekten an
der Peripherie des Judentums entstanden zu sein, wovon die Namen Sirnon
Magus, Menander und Dositheus zeugen (vgl Act 8,g- 24; Joh 8,48;
Origenes Cels I 57; VI II; Ps-dem Horn II 23 ff; Epiph Pan haer IX-XIII;
XXI; Hippolyt, Elenchos VI 7-2o; Irenäus, Adv haer I 23 etc). 310
Samarien war aber zugleich der Sitz der alten samaritanischen Gemeinde,
die den Anspruch machte, das "wahre Israel" zu .sein. 311 Im Streit mit den
Juden, die sie Kuthäer schelten, behaupten sie, daß sie die legitimen Nach-
kommen der nördlichen Stämme sind (Jos Ant IX 291; XI 341; Joh 4,12), 312
und daß Garizim der von Gott erwählte heilige Ort ist (Joh 4,20). 313 Von
den Heiden sondern sie sich streng ab (Theodotus bei Euseb Praep eug
IX 22,6 f; Epiph Pan haer IX, vgl Anaceph IX 3). Sie behaupten außer-
dem die wahre Priesterschaft 314 und die unverfälschte Schrift (den Penta-
teuch) und deren richtige Auslegung zu besitzen. 315 Sie fühlen sich als die
Beobachter des Gesetzes und deuten ihren Namen in dieser Weise (söm'rtm=
Beobachter, vgl Epiph Pan haer IX 1,2). 316 Nach ihrem Geschichtsbild führt
die gerade Linie von Mose bis zur samaritanischen Gemeinde, während die
Juden seit Eli Schismatiker sind. 317 Sie haben auch ihre eigene Eschatologie;
als Erneuerer der Gemeinde erwarten sie den von Mose verheißenen Pro-
pheten, den Ta'eb aus dem Stamme Levi. 318 Auch in Samarien sind unter
der Römerherrschaft "messianische" Bewegungen entstanden (Jos Ant XVIII
85-87; Bel III 307 ff). Das Verhältnis der Samaritaner zu den Juden
ist nicht eindeutig; Josephus behauptet, daß sie opportunistisch bald be-
anspruchen Juden zu sein und bald die Verwandtschaft mit den Juden ver-
leugnen (Ant IX 291; XI 340-344; XII 257-264; XVIII .zgf; XX 118-136).
Die jüdische Beurteilung der Samaritaner ist schwankend, weitgehend werden
sie mit den Heiden auf eine Stufe gestellt. 319
Samaritaner hat es nicht nur in Samarien gegeben, sondern auch in
der Diaspora, vor allem in Ägypten, wo auch eine hellenistisch-samari-
tanische Literatur entstanden ist (vgl das Gedicht des Theodotus bei Euseb
Praep eug IX 22, und den anonymen Historiker a. a. 0. IX 17; 18). 320
Überhaupt wird das Judentum in der Diaspora noch häufiger als in Palä-
stina von dem "normativen" Typus abgewichen sein. Wie früher in
Elephantine werden auch in dieser Zeit illegitime Tempel bestanden haben
(vgl die Polemik Ant bibl 22 S. 22 f). Bekannt ist der Oniastempel in
Leontopolis, der zur Stärkung der ägyptischen Judenschaft dienen sollte
(Jos Ant XIII 66 f). Die sich um diesen Tempel Sammelnden haben sich
auf die Legitimität seiner Hohenpriester berufen und in dem Tempelbau eine
Erfüllung der Weissagung Jes 19,18 f gesehen (vgl Jos Bel VII 421-436;
Ant XIII 62-73; b Men 109 a b). 321 Bei anderen Gruppen ist die schis-
1 37
TiX &&v"ll eocuTq> e!~ Aocov ';eptoucrwv, 't"Ov &A"ijlhvov 'lcrpoc~A x.'t"A) wird aber nicht
nur TiX &&v"fl, sondern auch ('t"ov) &A"Ij{hvov, wenn nicht der ganze Satz,
eine christliche Interpolation sein. 326 Die Auffassung der Gebete als einer
Mysterienliturgie ist verfehlt, sie zeugen nur von der reicheren kultischen
Ausgestaltung des Synagogengottesdienstes nach dem Falle des Tempels.
Mit gröfuerem Recht hat A. DIETRICH 327 in den "reinen Männern" des
grofuen Pariser Zauberpapyrus (PGM IV 3085) Glieder einer jüdischen
Sondergemeinschaft gesehen. Hier ist in der Tat ein Kreis der jüdischen
Exorzisten an die Stelle des Gottesvolkes getreten. Zweifelhaft ist dagegen,
ob wir gerade an die Essäer oder die Therapeuten zu denken haben.
Noch eine letzte Gemeinschaftsbildung haben wir hier zu beachten,
die uns an die Schwelle des Neuen Testamentes heranführt: die ]o·
hannesjünger. 328 Ihre Gemeinde hat eine geraume Zeit nach dem Tode
des Täufers bestanden (vgl Act rg,r-s, vgl r8,25 und die Polemik
Mt rr,rr Q; Joh r,6-8.rg ff; 3,25 ff etc). Auch sie scheinen eine ge·
schlossene Gemeinschaft mit eigener Frömmigkeitspraxis, Taufe, Gebet
(Lc rr,r) und Fasten (Mc 2,r8) gebildet zu haben. Von den anderen
Sondergruppen ist aber diese deshalb verschieden, weil Johannes nicht ein
Sektenstifter, sondern ein eschatologischer Gerichtsprophet war. Herodes
Antipas hat allerdings in der Täuferbewegung eine Art Zelotismus gewittert
(Jos Ant XVIII r r8), in Wirklichkeit entspricht aber Johannes' Auftreten
gegen den König {vgl Mc 6,r8; Lc 3,rg) vielmehr der Gerichtsverkündigung
der atl. Propheten wider die Machthaber.
Johannes steht auf dem Boden des Spätjudentums und vertritt dessen
apokalyptisches Weltbild mit den erweiterten Perspektiven und der indi-
vidualisierten Frömmigkeit. Innerhalb dieses neuen Rahmens hat er aber
die prophetische Gerichtsbotschaft neu aufgenommen. Wie für die Propheten,
so ist auch für den Täufer Israel das Volk Gottes (vgl die wahrscheinlich
aus Täuferkreisen stammende, 329 mit atl. Gedanken gesättigte Kindheits·
geschichte des Täufers, Lc r). Aber wie sie, ruft er gerade die Glieder
und besonders die Führer des Gottesvolkes zu Umkehr (Mt 3,7 f Q). Die
Israeliten sind ihm Bäume im Garten Gottes, aber die Axt ist schon an
die Wurzel der Bäume gelegt (Mt 3,ro Q). Sie dürfen sich nicht damit
beruhigen, dafu sie Abraham zum Vater haben, denn Gott vermag aus den
Steinen Abraham Kinder zu erwecken (Mt 3,9 Q). Der "Stärkere" (=der
Messias? der Menschensohn?) wird kommen, er wird aber nicht über die
Feinde Israels, sondern über Israel selbst das Gericht bringen (Mt 3,rr f Q).
Auf das kommende Gericht weist auch das ganze Auftreten des Täufers
hin, seine Kleidung (Mc r,6), seine Askese (Mt rr,r8 Q; vgl Lc r,rs)
und auch seine Taufe. Die Taufe ist für alle Glieder des Gottesvolkes
nötig; sie sind also unrein und bed,ürfen der Umkehr, Reinigung und
Vergebung (Mc 1,4 f; vgl Jos Ant XVIII 117). 330
Ist diese Taufe als Initiationsritus einer neuen Gemeinde zu verstehen ? 331
In dieser Weise müfute sie in der Tat aufgefafut werden, wenn sie aus der
1 39
Proselytentaufe abzuleiten wäre. Dann hätte Johannes die Juden als Heiden
behandelt, die erst durch Umkehr und Taufe Glieder des (eschatologischen)
Gottesvolkes werden konnten. Dan Johannes "in der Wüste" das Volk
um sich sammelte (Mt I I, 7 Q; Mc I ,3 fl, wäre dann ein eschatologisches
Gegenstück zu der Wüstenzeit Israels, und die Taufe im Jordan würde
ebenfalls als ein Gegenstück zu dem Übergang des Jordans (und des
Schilfmeeres) aufzufassen sein. 332 Diese Konstruktion ist aber kaum haltbar.
Mir ist es wahrscheinlicher, daf3 Johannes an die Taufgebräuche der Täufer-
sekten des Jordanbeckens angeknüpft hat, um sie zu einem einmaligen,
eschatologischen Reinigungsakt umzugestalten, vielleicht unter Anknüpfung
an Schriftworte wie ]es I,r6; Jer 4,I4; 33,8; Hes 30,25; Zach I3,r-
Die reine Gottesgemeinde gehört für Johannes noch der Zukunft an, sie
wird durch das kommende Gericht hergestellt werden: der "Stärkere"
wird durch eine "Taufe mit Geist und Feuer" die Gemeinde erneuern
unrl reinigen (Mt 3,II Q, vgl Mc 3,8) und seinen Weizen in die Scheune
sammeln (Mt 3,12). Die von Johannes Getauften werden nicht in ein
organisiertes Gemeindeleben hineingeführt, nur die bekannte Alltagsethik
wird ihnen mit letztem Ernst eingeschärft (Lc 3,ro-r4l. Einen geschlossenen
Kreis haben nur diejenigen gebildet, die im engeren Sinne seine Jünger
waren (Mc 2,r8; 6,29; Mt rr,2 Q; Lc II,r; Job I 135·37; 3,25; 4,r).
Wenn diese Gemeinschaft auch nicht das eschatologische Gottesvolk ist,
so zielt sie doch auf die kommende, gereinigte Gemeinde hin, ebenso wie
die Wassertaufe auf die Taufe mit Geist und Feuer hinweist. 333 Auch in
der Kindheitsgeschichte wird die Aufgabe des Johannes nur darin gesehen,
daf3 er "viele von den Söhnen Israels zu dem Herrn ihrem Gott bekehren"
und dem Herrn "ein gerüstetes Volk bereit machen" wird (Lc r,r6 f).
Die etwas unklare Stellung der Gemeinschaft der Getauften, bzw. der
Johannesjünger-, entspricht der Unklarheit darüber, wer eigentlich der Täufer
war. War er ein Prophet (Lc r,76; 3,2; Mc rr,32)? Der (letzte) Prophet
(Job r,2r.25, vgl Mt rr,9 Q)? Der verheif3ene Rufer in der Wüste
(Mc r,3; Job r,23, vgl Jes 40,3)? Elias (Mc 9,rr-r3 =Mt J7,ro-r3;
Job r,2r, vgl Mc r,2; Mt rr,ro Q; Lc r,r7.76)? Der Messias (vgl Lc 3,15;
Act 13,25; Job r,2I.25; 3,28; Ps-eiern Rec I 54 (lat).6o)? Würde er nach
seinem Tode wiederkehren (Mc 6,r4.r6; 8,28)? Alle diese Fragen sind
gestellt, mitunter auch bejaht worden. Die Geschichte des Täufers ist
den Jüngern eine heilige Geschichte gewesen, die sie im Lichte des AT
gesehen haben (Mc I,2 f; Lc 1,5 ff etc). Die Frage nach der Bedeutung
-der Person des Täufers scheint dieser selbst abgewiesen zu haben
(Mc I,7 Par; Act I3,25; vgl Job r,r5.20 ff; 3,28ff), 334 für seine späteren
Jünger ist sie aber von größter Bedeutung. Dem entspricht, daf3 nach
dem Tode des Täufers eine gewisse "Verkirchlichung" der Gemein-
schaft seiner Jünger eingetreten zu sein scheint, während die aktuelle,
eschatologische Gerichtsbotschaft mehr in den Hintergrund getreten ist.
Wie man aber zu keinem eindeutigen Verständnis des Täufers gekommen
140
diese in potenziertem Grade Träger der "Art" des Gottesvolkes sind. Mit
dieser Wertung der Einzelnen als Vertreter der Gesamtheit hängt auch der
Stellvertretungsge_danke zusammen; die Verdienste, welche z. B. die Gelehrten,
die Märtyrer und die Erzväter haben, kommen dem Gesamtvolke zugute.
Solche Repräsentanten, die das gesamte Wesen des Gottesvolkes in sich
schliefuen, und dem ganzen Israel an ihrer Art teilgeben, sind vor allem
die Erzväter und der Messias.
Denselben Sinn hat es, wenn Sondergemeinschaften den Anspruch
erhoben haben, das "wahre Israel" zu sein. Diese Sondergruppen können
Kerngerneinden innerhalb der Synagoge oder schismatische Sekten sein,
oder auch eine Mittelstellung zwischen diesen beiden Extremen einnehmen.
Auf alle Fälle sind sie von dem Bewufutsein erfüllt, dafu nur in dem eigenen
Kreise das Wesen des Gottesvolkes wirklich zur Darstellung kommt. Von
den ausgesprochen sektiererischen Gruppen abgesehen, hoffen sie zugleich
das Gesamtvolk durch ihre eigene Art zu prägen. Sie behaupten, dafu sie
allein das richtige Verständnis der Offenbarung haben und deshalb auch,
dafu nur sie nach dem Willen Gottes leben. Zu der Offenbarung im AT
treten oft andere, z. T. geheime Offenbarungen hinzu, welche Sonder-
eigenturn der Gruppe sind. Neben dem AT haben sie deshalb oft auch
andere heilige Schriften. Auch das AT kann man so auslegen, als wäre
dort von der Sondergemeinde die Rede.
Für das Verständnis der Urkirche ist ferner wichtig, dafu der Begriff
des Gottesvolkes nicht nur auf Sondergruppen beschränkt wurde; es sind
auch Ansätze vorhanden, ihn über die nationalen Grenzen hinaus zu er-
weitern. Die jüdische Gemeinde ist eine missionierende gewesen, und viele
Proselyten sind Glieder des Gottesvolkes geworden. Wir haben aber gesehen,
dafu die Proselyten dabei eigentlich zugleich Glieder der jüdischen Nation
wurden. Ein gewisser "Universalismus" ist zwar vorhanden, aber als
Zentrum des Universums steht das Volk Israel. Zwar konnte in der Dia-
spora die nationale Beschränkung wirklich durchbrachen werden, aber dann
nur unter Preisgabe der Eigenart des Judenturns und des alttestamentlichen
Glaubens, so dafu solche Richtungen in den allgerneinen Synkretismus der
Zeit hineingezogen wurden.
Zur Bildung des Begriffes "Israel nach dem Geiste" sind im Judenturn
in zweifacher Weise Ansätze vorhanden. Das eschatologische Gottesvolk
sollte die Gabe des Geistes erhalten; nach der Ansicht vieler sollten auch
Heiden zu diesem Volke der Endzeit zugelassen werden. Als Vertreter
dieses geistbegabten, endzeitliehen Gottesvolkes haben sich Zelotenscharen
empfunden, während die Apokalyptiker nur auf das Erscheinen dieser
Gemeinde hofften. In ganz anderer Weise findet sich die Idee eines
"Israel nach dem Geiste" bei Philo. Bei ihm handelt es sich um die un-
sichtbare, himmlische Gemeinde der Frommen, bzw. der Gottesschauenden,
zu der auch besonders weise und gerechte Griechen gehören. Wahr-
scheinlieh hat es auch Kreise jüdischer Gnostiker gegeben, die sich selbst
als "Pneumatiker" und als Vertreter des "himmlischen", "pneumatischen"
Israels empfunden haben. Im Spätjudentum vorhanden sind also viele An-
sätze zur Bildung des Begriffes einer übernationalen Kirche, die das wahre
"Volk Gottes" sein sollte. Es ist aber bei den Ansätzen geblieben, und
der Sieg des Talmudjudentums bedeutet eine neue rituelle und nationale
Einschränkung und Absonderung. Dies war wohl auch der einzig mögliche
Weg, wenn sich das Judentum als Judentum behaupten und an den über-
lieferten religiösen Werten festhalten sollte. Nur durch ein neues Geschehen
wurde die Überwindung der nationalen Schranke und die Bildung einer
Kirche aus Heiden und Juden möglich.
Dritter Teil.
DAS GOTTESVOLK IM NEUEN TESTAMENT
I. JESUS UND ISRAEL
A. Jesus als Jude.
Wenn wir die Stellung Jesu zu bestimmen versuchen, müssen wir die
synoptische Tradition als Hauptquelle benützen. Dabei ist es nicht möglich,
zwischen "echten" Worten Jesu und Gemeindebildungen zu unterscheiden.,
Es wäre durch diese Unterscheidung auch nicht so viel gewonnen. Alle
Worte Jesu sind durch die Gemeinde hindurchgegangen, und nur die Worte
sind überliefert, an denen die Gemeinde ein Interesse hatte. Worte, die
erst in der Gemeinde entstanden sind, können die Haltung des Meisters
richtig wiederspiegeln, während nicht alle Worte, die Jesus ausgesprochen
hat, für ihn charakteristisch zu sein brauchen. Wir haben also nur nötig,
nach der sachlichen "Echtheit" der einzelnen Worte zu fragen. Das Kriterium
zur Beurteilung der einzelnen Worte liegt dabei in dem Gesamtbild der
Verkündigung Jesu, das wir aus den synoptischen Evangelien gewinnen
(Querschnitt-Betrachtung). Ein anderes Kriterium liegt in dem Geschichts-
verlauf, Jesus war Jude, seine Jünger bildeten eine neue Kirche; 1 die
"echten" Worte Jesu müssen sich in diesen Geschichtsverlauf an ihrer
Stelle einordnen lassen (Längsschnitt-Betrachtung). 2
Der Verzicht auf eine reinliche Scheidung zwischen authentischen J esus-
Worten und Gemeindebildungen darf nicht zu einer unkritischen Haltung
führen. 3 Gerade wo es um die Kirche geht, müssen wir mit der Möglichkeit
rechnen, daf3 die spätere Gemeinde, die ihren Ursprung auf Jesus zurück-
führte und in ihm den Herrn der Kirche sah, auch die Überlieferung von
Jesus in ihrem Sinne umgestaltet hat. Es scheint in der Religionsgeschichte
eine allgerneine Regel zu sein, dafl nach einer Revolution gegen ein
bestehendes Kirchenturn eine Periode neuer, "kirchlicher" Versteifung folgt.
Es erfolgt dann auch eine "Verkirchlichung" des Bildes der revolutionären
religiösen Führer, wir können z. B. an das Bild der Gerichtspropheten im
Spätjudenturn, an die Franziskuslegende der katholisch€n Kirche oder an .
das Luther-Bild der lutherischen Kirche denken. Daß das Jesus-Bild der
Kirche keine Ausnahme ist, beweist deutlich die spätere Entwicklung. Eine
solche "Verkirchlichung" zeigt sich schon in dem Jesus-Bild des Johannes-
evangeliurns, das allerdings viel zu eigenartig ist, um durch eine solc~e
Formel wirklich umschrieben zu werden. Es kann nicht geleugnet werden,
daf3 dieselben Tendenzen sich schon innerhalb der synoptiscben Überlieferung
1 45
C. Der Menschensohn.
Wir haben gesehen, wie eng Gottesvolk und Messias nach atl. und
jüdischer Anschauung zusammengehören (vgl oben S. 40 und S. 89 ff). Für
das Verständnis der Stellung Jesu zu Israel ist es deshalb von entscheidender
Bedeutung, seine Haltung der Messiasfrage gegenüber klarzulegen. Dabei
ist es angesichts des Bestandes der Quellen und der Problemlage in der
Forschung nicht ratsam, von dem "messianischen Selbstbewufutsein" Jesu
als einer gegebenen Tatsache auszugehen, um von da aus Schlüsse auf
seine Gedanken über ein messianisches Volk zu ziehen. 27 Wir werden viel-
mehr von den Stellen ausgehen müssen, die ohne direkt messianische
Einkleidung das Sendungsbewufltsein jesu zum Ausdruck bringen.
Eine wichtige Beobachtung haben wir schon gemacht; anders als die
Propheten motiviert Jesus das Gericht allein mit der Ablehnung seines
eigenen Werkes und Wortes von seiten der Israeliten. Alle Faktoren, die
das Gottesvolk konstituierten und auch für jesus wichtig waren, verlieren
gegenüber dem kommenden Reiche und der Sendung Jesu ihre entscheidende
Bedeutung. Das zeigt sich z. B in der Stellung Jesu zur Volksgemeinschaft
und Familie. Das Kommen des Endes wird jeden Einzelnen aus seiner ·
natürlichen Gemeinschaft herausreißen; der eine wird mitgenommen und
der andere zurückgelassen (Mt 24,40 Q vgl 37-39 Q). Die Entscheidungs-
stunde ist aber schon jetzt da, und der Einzelne wird aus seiner Gemeinschaft
herausgerufen; Jesus ist gekommen, um "Schwert auf die Erde" und Streit
in die Familien zu bringen (Mt 10,34-36 Q vgl Mich 7,6; Mc ro,29 fPar).
Seine Schüler ruft er von der Arbeit und von dem Vater weg (Mc 1,16-20
vgl Lc 5, r- rr). In der neuen Situation müssen auch die wichtigsten
Pietätspflichten zurücktreten (Lc 9,57-62 =Mt 8,19-22). Nur wer Vater
und Mutter haßt, kann Jesu Jünger sein (Lc 14,26 =Mt 10,37). Seinen
wahren Bruder, seine Schwester und Mutter sieht Jesus nur in denjenigen,
die den Willen Gottes tun (Mc 3,31~35 Par). Diese Haltung entspringt
nicht einer Geringschätzung der dem Juden so wichtigen Pflichten gegen die
Familie; diese werden vielmehr von Jesus hoehgehalten (vgl Mc 7,9-13 Par),
aber "hier ist mehr als das Band des Blutes!" Gegenüber dem Aufstrahlen
des Gottesreiches in Jesu Wort und Werk verliert die Pflicht zur Erhaltung
des Volkstums, die Pflicht zur Ehe ihre Bedeutung: "Es gibt Verschnittene,
die sich um des Himmelreicheswillen selbst verschnitten haben!" (Mt19, 1 o- I 2).
Um in das Leben einzugehen; muß der Einzelne sogar seine wert-
vollsten Glieder preisgeben (Mc 9,43-48 Par). Gefordert werden kann auch
die Preisgabe des Eigentums fMc ro,q-31 Par; vgl Mt6,r9-21.24-34 Q;
Lc 12,13- 21.33; r6,g-r2). Wer Jesus nachfolgen will, muß sogar auf sein
eigenes Leben verzichten (Mc 8,34 f Par; Mt 10,38 f Q). Diese Forderungen
sind von den atl. Gedanken weit entfernt, nach denen dem Einzelnen ein
gesegnetes Leben zugesagt war, wenn er das Gebot Gottes nicht übertrat,
und Segen, wie Gebot, über den Rahmen des Natürlich-Völkischen nicht
hinausging (vgl oben S. I7 ff und 39 f etc). Auch von der im ganzen anti-
asketischen Einstellung des Spätjudentums ist die Forderung Jesu durch
ihre Radikalität unterschieden. Die neue Forderung entspringt der neuen
Situation; um des Reiches willen, das Jesus bringt (bzw von dem er gebracht
wird)/8 muß der Mensch alles preisgeben (vgl auch Mt 13,44-46); alles
wird wertlos oder gar schädlich.
In dieser neuen Situation verliert nicht nur die Familie, das Eigentum
und das Leben an Bedeutung, sondern ebenso auch die heilige Geschichte
Israels. "Hier ist mehr als Jona - mehr als Salomo" (Mt .12,41 f Q). Jetzt
ist die Zeit der Erfüllung da: "Viele Propheten und Gerechte begehrten
zu sehen, was ihr seht, und sahen es nicht, und zu hören, was ihr hört,
und hörten es nicht!" (Mt 13,16 f Q; vgl auch Lc 4,21). "Unter den Weib-
geborenen ist keiner gröfuer als Johannes, der Kleinste im Gottesreich ist aber
gröfuer als er" (Lc 7,28fQ; vgl auch Mt 11,12.13; Lc 16,16). Angedeutet
wird die übergeordnete Stellung Je~u auch in dem Worte vom Sohne Davids,
der der Herr Davids ist (Mc 12,35-37 Par; vgl auch Mc 2,25 f Par). Wenn
auch die Autentizität dieser Worte nicht immer sicher ist, so würde selbst
sein Schweigen der atl. Heilsgeschichte gegenüber zeigen, dafu seine Haltung
richtig verstanden ist.
Ganz in derselben Weise steht es auch mit dem Kultus. "Hier ist
mehr als der Tempel!" (Mt 12,5 f.- Das Wort fehlt bei Markus; sachlich
ist es aber "echt"; vgl auch Mc 14,58 Par). Als "Königssöhne" sind Jesus
und die Seinen von der Pflicht zur Zahlung der Tempelsteuer befreit
(Mt q,24-27). 29 Es ist jetzt (messianische) Hochzeit, das Fasten ist für
die Jünger Jesu unangebracht (Mc 2,18 f Par). "Der Menschensohn ist der
Herr auch über den Sabbat" (Mc-2,28 Par; vgl 2,27).
Auch in der Lehre Jesu zeigt sich seine e~oulik: er lehrte wie einer,
der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten (Mc 1,22.27; Mt 7,2g).
Aber, was er bringt, ist nicht nur mehr als die Lehre der Schriftgelehrten;
es ist auch mehr als das Gesetz des Mose. 30 Gegenüber dem, was zu
den Alten gesagt wurde, steht das Majestätische: "Ich aber sage euch --!"
(Mt 5,22 ff). "Alle Propheten und das Gesetz haben bis auf Johannes
prophezeit!" (Mt rr,13). Die Form des mosaischen Gesetzes war zum
Teil durch die Hartherzigkeit der Juden bestimmt; Jesus bringt den ursprüng-
lichen Willen Gottes wieder rein zum Ausdruck (Mc 10,2-g). Wie das
Gesetz selbst, so wird auch die 1 Gerechtigkeit des Gesetzes von dem Neuen
übertroffen: "Der Menschensohn hat Vollmacht, auf der Erde Sünden zu
vergeben" (Mc 2,10 Par). Gott, dem Vater, gefällt nicht so sehr die Gemein-
schaft der "Gerechten", die das wahre Israel darstellen wollten, als die
Gemeinschaft der Sünder, unter denen Jesus gegenwärtig ist (Mc 2,15·-!7
vgl 18 f Par; Lc 15,1 ff; 7,36- so; 19,1- 10).
Jesus ist nicht nur ein neuer Gesetzgeber, 31 er tritt selbst an die Stelle
der Tora. Der Spruch Mt 18,20 schlieflt sich bekanntlich an rabbinische
Aussagen eng an (Aboth III 6 etc, oben S. 67 f); an die Stelle des gemein-
samen Studiums der Tora ist aber die Zusammenkunft "im Namen Jesu"
getreten, an die Stelle der Gegenwart der Sehechina die Gegenwart Jesu.
Es mag richtig sein, dafl hier der Auferstandene spricht, 32 es gibt aber
auch andere Worte, in denen die göttliche Weisheit das Subjekt ist, und
wo Jesus sich mit ihr identifiziert (vgl Lc I I ,49-5 I: die Weisheit spricht=
Mt 23,34-36: Jesus selbst spricht). 33 Jesus, nicht das Gesetz, ist die Inkorporation
der Weisheit Gottes. 'Venn er die Menschen einladet, sein Joch auf sich zu
nehmen (Mt II,28-3o), so ist das ein Gegenstück zu der Aufforderung sich
153
unter das Joch der Weisheit zu stellen (Sir 51,26 f. Vgl auch die rabbinischen
Aussagen vom Joch der Tora, des Himmelreiches, Gottes usw, oben S. 12ol.
Auch das Wort an Jerusalem (Mt 23,37-39) ist wohl ein Wort der Weisheit
(ein von Jesus aufgenommenes Zitat?); es spricht die in Jesus personifizierte
Weisheit Gottes (vgl auch Mc 9,19 Par und Lc 7,35 Q). Die Worte Jesu,
des "W eisheitslehrers", haben also den verborgenen Hintergrund, daß
Jesus die Weisheit ist! In gleicher Weise liegt hinter seinen prophetisch-
apokalyptischen Worten die Überzeugung, daß das Königtum Gottes in
seiner Person inkorporiert sei (oci.rroßocmAdoc). 34 Dabei gehört Weisheitslehre
und Eschatologie eng zusammen, schon die "Weisheit" des Judentums kann
apokalyptisch sein, und die Apokalypsen enthalten viele Weisheitslehren.
Hinter den soeben genannten Stellen steht wahrscheinlich ein apokalyptischer
Mythus von der göttlichen Weisheit, die auf Erden eine Wohnung suchte,
aber nicht finden konnte (vgl I Hen 42~ f; 4 Esr 5.9 f). 35
Der Zusammenhang zwischen dem Kommen des Königtums Gottes und
der Sendung Jesu ist nicht nur der, daß Jesus das kommende Gottesreich
verkündigt hat. Seine Heilungen sind Zeichen, sie zeigen, daß die Macht
des Satans s~hon gebrochen (vgl Lc Io,I8; 11,21 f; Mc 3,23-27) und das
Gottesreich schon im Kommen begriffen ist (Mt 12,28 Q; vgl Mt 11,2-6 Q).
Wie in dem Werke so ist auch in dem Worte Jesu das kommende Gottes-
reich schon gegenwärtig (vgl Mt 11,5 Q); 36 zwischen der Heilsverkündigung
Jesu und dem Kommen des Gottesreiches "in Kraft" (Mc g,I) besteht eine
geheimnisvolle Verbindung wie zwischen Aussaat und Ernte (Mc 4,1 -9 Par;
4,26-29; 4,30-32 Par; vgl Mt 13,33 Q). Daß nicht irgendwelche wunder-
bare Ereignisse in der Natur, sondern Jesus selbst das Zeichen für das
Reich ist, wird auch der Sinn des Wortes Lc 17,20 f sein (vgl Lc 11,29 fQ).
Ebenso wird auch in dem rätselhaften Worte Mt 11,12 Q die Gegenwart
des Gottesreiches in Jesus vorausgesetzt.
Wo der Blick sich auf qie Zukunft richtet, ist deutlich, daß das Kommen
des Gottesreiches mit der "Parusie" Jesu zusammenfällt. Die Stellen, die
von dem Reiche Gottes als dem "Reiche" Jesu reden, sind allerdings wenige
und meistens kritisch unsicher (vgl Lc 22,29 f; Mt 13,41 (Gleichnisdeutung);
16,28 (anders Mc 9,1); vgl 20,21 (anders Mc 10,37); Lc 23,42). Aber nach
anderen Stellen ist es deutlich, daß das Kommen des Königtums Gottes mit
dem Kommen des Menschensohnes in Herrlichkeit zusammenfällt (Mc 8,38;
13,26 f; 14,62 Par; Mt 24,27 Q; 24,37 Q ·44 Q; 10,23; 19,28; 24,39; 25,31;
Lc 17,3o; 18,8; 21,36; vgl auch die Gleichnisse Mc 13,35 f; Mt 24,45 ffQ;
25,1 ff; Lc 12,35-38; I91 I2ff): Eine ausdrückliche Verbindung von Menschen-
sohn und Gotteskönigtum liegt an diesen Stellen allerdings nicht vor; man
wird aber daran erinnern müssen, daß auch bei Daniel Menschensohn und
Königtum (Gottes, bzw des Gottesvolk es) zusammengehören (Dan 7,13 f .22.27;
vgl 2,31.;-·4s). Ebensowenig wird ausdrücklich gesagt, daß der kommende
Menschensohn Jesus ist; wohl aber, daß des Menschensohnes Urteil im Gericht
von der Stellung des Einzelnen zu Jesus abhängt (Mc 8,38 = Lc,9,26;
1 54
vgl Lc 12,8 f; anders Mt 10,32 f)Y Es ist aber klar, daß die Evangelisten
"der Menschensohn" als eine Selbstbezeichnung Jesu auffassen, und es
liegt kein entscheidender Grund vor, die Richtigkeit dieser Deutung zu
bestreiten.
In diesem Zusammenhang ist es nicht möglich in die verwickelte Debatte
über den "Menschensohn" in den Evangelien einzugreifen. 38 Neben den
eschatologischen Stellen stehen bekanntlich solche, in denen Jesus in
gegenwartsbezogenen Aussagen statt "Ich" "der Menschensohn" sagt
(Mc 2,10.28 Par; Mt 8,20 Q; I 1,19 Q; über die Voraussagen des Leidens
vgl unten). Man hat oft gemeint, daß diese Aussagen sekundär seien,
entweder sei ursprünglich der Mensch überhaupt gemeint (Mt 8,2o; Mc 2,10.28),
oder eine einfache "Ich"·Aussage sei zu einer "Menschensohn"·Aussage um·
geformt (so sicher Mt 16,13 vgl Mc 8,27). 39 Die Möglichkeit muß zugegeben
werden, nötig scheinen mir solche kritische Operationen nicht zu sein. Die
merkwürdige Verwendung des "Menschensohn"-Namens stimmt gut überein
mit dem Bilde von der Stellung Jesu zu Israel, die wir im Vorhergehenden
gewonnen haben. Die Selbstbezeichnung enthält einen geheimnisvollen
Doppelklang. Einerseits ist sie so schlicht wie möglich, der "Menschensohn"
ist einfach ein Glied der Gattung "Mensch". Andererseits ist es eine
unüberbietbare Hoheitsaussage; der "Menschensohn" ist der "Mensch", der
himmlische Weltrichter. Die "Menschensohn"-Aussprüche Jesu betonen
einerseits seine Menschlichkeit (Mt u,19 Q) und seine Niedrigkeit (Mt 8,20 Q;
vgl Mc 10,45; 9,31 und übrige Leidensaussagen), andererseits seine Vollmacht
(Mc 2,10.28; vgl die Parusieaussagen). Der Mensch Jesus ist im Verborgenen
der 11 Mensch" ! 40 So verstanden ist in der Selbstbezeichnung "Menschen·
sohn" geheimnisvoll alles zusammengefaßt, was die Stellung J esu zu Israel
kennzeichnet; einerseits ist er einfach ein Glied des Volkes Is,rael, andererseits
ist seine Sendung an Israel der entscheidende Vorzug des Volkes. Hier
geht es um mehr als die Blutgemeinschaft, mehr als die Heilsgeschichte,
mehr als den Kultus, mehr als das Gesetz: das Kommen des Gottesreiches!
Als ein Ausdruck dieser doppelten Stellung Jesu wird auch das Rätsel·
wort von dem Messias als Davids Sohn und Davids Herr verständlich
(Mc 12,35-37 Par)Y Dies stellt uns vor die Frage, ob Jesus auch den
Messiasnamen für sich in Anspruch genommen hat. Eine eindeutige Antwort
auf diese Frage läßt sich allerdings schwer geben, wie es scheint, weil
Jesus selbst sie nicht gegeben hat (vgl Joh 10,24 f). Deutlich ist aber, daß
Jesus schon zu seinen Lebzeiten als Messiasprätendent aufgefaßt worden
ist; als solcher ist er von den Römern gekreuzigt worden, was die Kreuzes·
inschrift "König der Juden" sicher bezeugt (Mc 15,26; vgl 15,2.9 und Par),
als solcher ist er ihnen auch von den Juden übergeben worden (Mc 14,61 ff Par),
und als solcher wird er verspottet (Mc 15,r6-2o.32 Par). Als Messias wird
er nach den Evangelien auch von der Volksmenge gehuldigt (Mc 1 r,ro Par;
vgl auch Job 6, I 4 f) und von den Kranken um Hilfe angefleht (Mc ro,48 f
Par; Mt 9,27; 15,22; vgl die Wotte der Dämonen Mc 3,1 I; 5,7; Lc 4,4~).
1 SS
Die Jünger haben ihn durch den Mund des Petrus als den Messias bekannt
(Mc 8,29 Par). Jesus selbst hat sich aber nicht öffentlich als den Messias
proklamiert; seine Antwort an den Rat (Mt 26,64; Lc 22,67-69; anders
jedoch Mc q,62) und an Pilatus (Mc rs,2; vgl Joh 18,33 ff) scheinen rätselhaft
und ausweichend zu sein; auf das Bekenntnis des Petrus hat er nach Markus
nur mit dem Schweigegebot geantwortet (Mc 8,30)/2 erst Matthäus bringt
die Seligpreisung an Petrus (Mt 16,q).
Es ist in der Tat wahrscheinlich, dafu Jesus die Messiasfrage weder
mit "ja" noch mit "nein" beantworten konnte. 43 Der Messiaskönig, wie
man ihn erwartete, war er nicht, und erhoffte er auch nicht zu werden!
Der treffende Ausdruck für seine Sendung war nicht der Begriff des Messias,
sondern der Begriff des "Menschensohnes", wie er von Jesus neu geformt
wurde, mit dem doppelten Hinweis auf Niedrigkeit und kommende Herr-
lichkeit; erst wenn der Messiasbegriff in diesem Sinne gedeutet wurde,
konnte er auf Jesus angewendet werden (vgl Mc 12,3s--37). Jesu Werk
war ein messianisches, insofern als man keinen anderen erwarten sollte, 44
und insofern die Gemeinde durch seine Sendung neu konstituiert werden
sollte. Die Stellung Jesu entspricht derjenigen des theokratischen Königs
dadurch, dafu in ihm alles zusammengefast ist, was Israel zum Volke
Gottes macht!
Häufiger als direkt "messianische" Aussagen Jesu begegnen uns in
der Synopse solche, in denen er sich als der "Sohn" bezeichnet (vgl die
den Späteren, Lc 21,33; Mt 24,36 Mss, anstöfuige Aussage Mc 13,32). In
dieser Selbstbezeichnung liegt eine doppelte Beziehung zu Gott, dem Vater,
und den Israeliten, den "Söhnen" (nicht nur der gesalbte König, sondern
auch Israel heifut ja "Sohn Gottes"; vgl ferner Mc 1,11 und 9,7 Par; 3,11
und s.7 Par; 14,61; IS 139 Par; Mt 4,3.6 Q).
Gott, der Vater Israels, ist in besonderer Weise der Vater Jesu
(Mc 8,38; 14,36; Mt u,2s-27 Q; 7,21; 10,32 f etc; Lc 22,29). Und wenn
es Mt 11,27 ( = Lc 10,22) heifut: "Keiner kennt den Sohn als nur der Vater,
und keiner kennt den Vater als nur der Sohn und der, dem der Sohn es
offenbaren will," so stimmt dies jedenfalls insofern mit dem Gesamtzeugnis
der Synoptiker überein, als in Jesus alle, bzw die entscheidende Offenbarung
Gottes gegeben ist (vgl auch Mt II,2S f= Lc 10,21). 45 Wir haben gesehen,
daß im Judenturn "Offenbarungsbegriff" und "Kirchenbegriff" korrespondieren
(vgl oben S. 140 f); indirekt ist demnach in Mt u,27 auch gesagt, dafu
Israel nur durch Jesus das Volk Gottes sein und bleiben kann. Das Gleichnis
von den Weingärtnern zeigt deutlich, daß die Stellung Israels sich an der
Haltung zu dem "Sohne" entscheidet (Mc 12,1 ff).
Diesern Gleichnis ist das Schriftwort (Ps 118,22 ff) vom verworfenen
Stein angehängt. Dieses Wort besagt: 1. Jesus ist der "Stein", der Schluß.
stein (bzw Eckstein), durch den der ganze Bau (des Tempels =der Gemeinde)
zusammengehalten wird; 2. er wird von Gott als solcher eingesetzt werden,
bei seiner Parusie; 3· vor dieser Einsetzung steht aber seine Verwerfung
von den "Bauleuten", d. h. den Führern Israels. 46 Das Gleichnis und das
Schriftwort zeigen deutlich die Zusammengehörigkeit von Gerichtsworten
und Leidensaussagen Jesu. Die beiden Paradoxe : das Gottesreich wird
über die Israeliten das Gericht bringen, und der Messias wird von den
Israeliten verworfen werden, gehören sachlich eng zusammen. Jesus stellt
sich in die Reihe der Propheten, die über Israel das Gericht verkündigten
und von den Führern des Volkes verfolgt wurden (Mc 6,4 Par; 12,1 ff Par;
Lc 13,34 f Q; 13,33; vgl II,+7-SI Q; 6,22 f Q). Wenn auch die Leidens-
aussagen im einzelnen als "vaticinia ex eventu" stilisiert sein mögen
(vgl Mc 8,31-33; 9,30-32; 10,32-34 und Par), so gehört der Leidens-
gedanke doch organisch mit Jesu Reichsverkündigung und seinem Sendungs-
bewußtsein zusammen (vgl noch Mc 2,2o; 8,34; g,12; I0,38·45i 14,8.2r.22ff
27.35 f .41; Lc 11,29 fQ(?); 12,so; 17,25; 9,31)Y
In den Worten, die deutlicher von der Bedeutung des Todes Jesu
reden, wird dieser Tod als eine Stellvertretung angesehen, der Menschen-
sohn gibt sich selbst als "ein Lösegeld für viele" (Mc 10,45 =Mt 20,28;
vgl Mc 14,22 -24). Vielleicht liegt hier eine schon im Spätjudentum angebahnte
Kombination von dem Menschensohn aus Dan 7 und dem leidenden Gottes-
knecht aus Jes 53 vor; Jesus hätte dann anders als die Apokalyptiker auch
den Gedanken des stellvertretenden Leidens des Gottesknechtes ausgewertet. 48
Der textliche Befund kann diese Vermutung allerdings nicht zu vollkommener
Gewißheit erheben; 49 mit größerer Sicherheit darf man feststellen, daß Jesus
an die jüdischen Gedanken von dem leidenden Gerechten angeknüpft hat.
Wir haben gesehen, dafl die leidenden Gerechten als die wahren Vertreter
des Gottesvolkes angesehen, und ihren Leiden eine stellvertretende Bedeutung
zugeschrieben wurde, durch ihre Leiden erhielt Israel das Leben (oben S. 82 f
und 128). Jesus ist nicht nur ein leidender Gerechter, sondern der leidende
Gerechte, so wie er mehr als die Väter, Könige und Propheten und mehr als
der Tempel und das Gesetz ist, die Inkorporation der Weisheit und des
Königtums Gottes, d er Sohn Gottes und der Menschensohn. Durch seine
Sendung wird das Gottesvolk konstituiert, wie durch sein Wort und Werk
so auch durch sein Leiden, was in dem Abendmahlswort über den Kelch
deutlich gesagt wird: "Dies ist mein Blut, (das Blut) des Bundes, das für
viele vergossen wird" (Mc 14,24). Wir werden dabei an den Bund Gottes
mit Israel zu denken haben; :wenn I Cor n,25 von dem "neuen Bunde"
die Rede ist, so wird das eine spätere Verkirchlichung sein, und wir dürfen
das Markuswort nicht danach interpretieren; eine Anspielung auf Jer 31,31 ff
liegt bei Markus nicht vor. 50
Öfters sind die Leidensaussagen als Aussagen über den Menschensohn
geformt (Mc 8,31; 9,12; 9,31; I0 133·45; 14,21.41 und Par; Mt 12,40).
Das hat einen guten Sinn; mit der Niedrigkeit und Verborgenheit des
Menschensohnes hängt sein Leiden eng zusammen. Die Verwendung dieses
Begriffes und die eschatologische Gesamtstruktur der Verkündigung Jesu
machen es wahrscheinlich, daß auch den Leiden eine eschatologische Bedeutung
I 57
D. Die Jüngergemeinschaft.
Es steht nach allen Quellen fest, daß Jesus eine Schar von Schülern,
bzw Jüngern um sich sammelte. 56 Das bedeutet aber noch lange keine
"Kirchenstiftung", sondern ist ein Teil seiner Tätigkeit als Rabbi. Der Anschluß
an Jesus hatte keineswegs einen Austritt aus der israelitischen Religions-
gemeinde zur Folge; wie Jesus selbst, so blieben auch seine Jünger Juden.
Wenn sie innerhalb des Volkes eine besondere Gruppe bilden, so ist das
zunächst durchaus in derselben Weise, wie es etwa die Gelehrtenschüler,
die Mitglieder des pharisäischen Ordens oder die Jünger des Johannes auch
tun (vgl Mc 2,I8 ff .23 ff; 7,I ff; 8,14 ff; Lc II,I ff). Sie folgen Jesus nach,
wie auch sonst der Schüler seinem Lehrer nachfolgte (Mc I,I8 Par etc).
Auch die symbolische Zwölfzahl zeigt diese Bindung der Jünger an Israel;
sie sind die Vertreter des Zwölfstämmevolkes und die Boten Jesu an Israel
(Mc 3, I 4· I 6; 4, r o; 6, 7; I o,32; I I, I r etc), und ihre Sendung ist auf Israel
begrenzt (Mt 10,5 f .23). 57
Jesus war aber nicht nur Lehrer, sondern zugleich eschatologischer
Prophet, und seine Jünger sind nicht nur Vertreter des Volkes Israel, sondern
auch Zeichen für das kommende Reich Gottes. 58 Die Zwölf weisen nicht
nur auf das geschichtliche Zwölfstämmevolk zurück, sondern auch auf das
eschatologische voraus: "Ihr werdet - - - auf zwölf Thronen sitzen und
die zwölf Stämme Israels richten" (bzw "über sie herrschen" - Mt I9,28
vgl Lc 22,30). Was die Stellung der Jünger auszeichnet, ist ihre Anwart-
schaft auf das Königtum Gottes. Sie werden selig gepriesen; ihnen wird
die kommende Freude zugesprochen (die Seligpreisungen in der Formulierung
des Lukas, 6,20 ff; vgl ·Mt s, I 1 f). Sie sind die "Freunde" bei der
messianischen Hochzeit (Mc 2,I9 Par), die "Söhne", die von der Pflicht zt.Ir
159
sind (Mc r,r6-2o Par; Lc 5,1-u; Mc 2,13 fPar; 3,13 ff Par), berufen
aus der Familien· und Volks-Gemeinschaft heraus und in eine neue Gemein-
schaft hinein (vgl Mc ro,28-3o; 3,31-35 Par). Anders als die Nachfolge
eines rabbinischen Lehrers hat die Nachfolge Jesu den Charakter einer
persönlichen Lebensgemeinschaft (vgl Mc r,r8; 2,14 f; 8,34; ro,21.28;
Mt 8,19-22 Q etc). 63 Nicht die Lehre, sondern der Lehrer ist hier das Ent·
scheidende; deshalb gibt es für Jesu Jünger nur einen Lehrer (Mt 23,8.rol.
Sie sind die "Unmündigen", denen durch Jesus die Offenbarung Gottes
zuteil geworden ist (Mt 11,25-27 Q), die Lasttragenden, die das "Joch"
Jesu auf sich nehmen (Mt 1 1,28). Die Jünger bekennen sich zu Jesus (Mt
10,32 f Q vgl Mc 8,38 Par). Sie gehören Christus an (Mc 9,4r; vgl Mt 25,40;
18,6) und sind seine Freunde (Lc 12,4);- er ist der Hausherr, sie die Haus·
genossen (Mt ro,25, vgl 10,24; 24.45 ff Q; Mc 13,33 ff; Lc 12,35 ff). Die
Stellung der Jünger als Vertreter Israels und als Anwärter auf das kom-
mende Reich ist durch ihre Zugehörigkeit zu Christus bestimmt.
Die Verbundenheit der Jünger mit Jesus wird in der Aussendung
seiner Boten (Apostel) besonders deutlich; als seine Repräsentanten haben
sie an seiner Vollmacht teil (Mt 10,40-42; Mc 6,7 ff .30 etc). 64 Die Jünger·
schaft verpflichtet zur Teilnahme an der Arbeit und an dem Geschick Jesu.
Wie er, so sind auch sie zum Dienen bestellt und müssen Sklaven aller
sein (Mc 10,41-45 =Mt 20,24-28; vgl Lc 22,24-27; Mc 9,35 Par). Wer
Jesus nachfolgen will, muß sich selbst verleugnen und ihm bis in den Tod
folgen (Mc 8,34 f Par; Mt 10,38 f Q; vgl Mc ro,38 f Par). Wie Jesus selbst,
so haben auch die Jünger von den Behörden Israels nur Verfolgungen zu
erwarten (Mc 13,9-13 Par; Lc I2,II f; Mt ro,r6 Q; ro,17-25); dadurch
werden sie nicht nur Jesu, sondern auch der Propheten Nachfolger (Mt 5,
10-12 Q; 23,29-34 Q). Über diejenigen, die sie abweisen, wird aber
das Gericht Gottes kommen (Mc 6,u Par; Mt ro,r5 Q; 23,35 f Q). Es bricht
also hier eine Kluft zwischen der Synagogengemeinschaft lHld der Jünger-
gemeinschaft auf, und es liegt kein entscheidender Grund für die Anschau·
ung vor, daß nicht Jesus selbst das Aufbrechen dieser Kluft gesehen hat. 65
Die Frage ist nun, ob Jesus, da es unmöglich erschien das ganze
Volk Israel zu gewinnen, in den Jüngern etwa das "wahre Volk Gottes",
den verheißenen "Rest Israels" oder gar eine neue "Kirche" gesehen hat.
Das Material zur Beantwortung dieser Fragen ist gering, und die Spärlich·
keit des einschlägigen Materials vergrößert die auch sonst möglichen Be-
denken gegen die Echtheit der betreffenden Worte. Einige allgemeine
Erwägungen seien deshalb vorangestellt. Man hat gemeint. die Stellung
der Jüngerschar durch den Begriff einer "Sonder-k'nistä" verdeutlichen zu
können. 66 In der Tat gibt es einiges, was die Jünger nicht nur als Glieder
einer Schule des Rabbi Jesu, sondern zugleich als Mitglieder einer Sonder-
synagoge erscheinen lassen kann. Ihre Gemeinschaft besteht innerhalb der
israelitischen Volksgemeinde, wird aber zugleich durch die besondere Gottes·
offenbarung in J esus konstituiert; sie hat ein Sonderbekenntnis und ein
r6r
eigenes Gebet. Der Begriff der Sondersynagoge ist aber doch wenig
glücklich; eine Synagoge haben die Jünger Jesu nicht gebildet. Es fehlt
ein eigener synagogaler Gottesdienst und eine synagogale Organisation,
es fehlt auch eine Abgrenzung der Gemeinschaft nach der Art des phari-
säischen Ordens oder der Damaskussekte. Was eine Sondersynagoge kon-
stituierte, war eine Sonder-H111acha; Jesus war zwar ein Lehrer, aber was
er brachte, war nicht eine Halacha, die eine neue Sonder-k'nistä be-
gründete.
Eher konnte man die Gemeinschaft der Jesus-Jünger als einen apoka-
lyptischen Kreis nach der Art der "Henochiten" ansehen. Wie für diese,
so gehört auch für jene die wahre Gottesgemeinde der Zukunft an, in der
Gegenwart sind sie eine Schar der Wartenden, deshalb fehlt eine geschlossene
Gemeindebildung und ein fest geprägtes Gemeindebewußtsein. Aber die
Jünger Jesu sind wiederum nicht Hüter eines uralten apokalyptischen
Geheimwissens; durch den unter ihnen gegenwärtigen Menschensohn stehen
sie schon in der Zeit der Erfüllung, sie sind nicht nur Wartende, sondern
zugleich Gesandte Jesu. Daß die Jünger nicht nur zum Warten, sondern
zugleich zu eschatologischem Handeln berufen sind, läßt die zelotischen
Bewegungen als die nächstliegende Analogie erscheinen; in der Tat sind
wohl die sich um Jesus Sammelnden nicht nur von Gegnern (vgl Act
5,35 ff; Mc 15,6 ff), sondern auch von Jüngern (vgl Mc rr,r ff; 8,32 f;
Lc 22,38; 24,21 i Act I ,6; Joh 6, I5) als eine messianisch-zelotische Schar auf-
gefaßt worden. Die Absicht Jesu haben sie aber dann nicht verstanden, der
politische Messias einer revolutionär-zelotischen Bewegung war er gerade
nicht. Die Gemeinschaft der Jesus-Jünger hat innerhalb des Judentums etwas
Befremdliches an sich: eine Sondersynagoge ohne Synagoge und ohne
Halacha! ein apokalyptischer Kreis ohne Apokalyptik! eine messianische
Bewegung ohne Zelotismus! 67 Die nächste Analogie ist die Gemeinschaft
der Jünger des Täufers, mit der auch ein geschichtlicher Zusammenhang
bestanden haben wird, aber den Jüngern Jesu fehlt auch das für jene
Gemeinschaft Charakteristische: die Taufe!
Etwas Entsprechendes, wenn auch aus einer ganz anderen Zeit, sind
die Jünger der Propheten, besonders diejenigen des Jesaja. Wie diese
ein Zeichen für das Gericht über Israel und die Rettung des Restes sind
(Jes 8,r8), so sind die Jünger Jesu ein Zeichen für das Kommen des
Gottesreiches und für dessen Heil und Gericht. Diese Parallele ist in der
Ähnlichkeit der Situation begründet, dagegen wird es nirgends deutlich,
ob Jesus bewußt auf den Gedanken des "Restes" zurückgegriffen hat, um
ihn auf seine Jünger anzuwenden. 68 Aber trotz der fehlenden Bezeugung
scheint der Begriff des "Restes" die Stellung der Jünger treffend zu
umschreiben, während es sonst schwierig ist, eine treffende religionssozio-
logische Kategorie zu finden. Die Analogien, die wir zu verschiedenen
jüdischen Sondergruppen beobachtet haben, sind aber auch dann von In-
teresse, wenn keine unter ihnen ausreichend ist. Das Bewußtsein, irgend
wie das "wahre Israel" darzustellen, fanden wir bei Gruppen verschiedener
Art (oben S. r28-r4o), und auch von hier aus liegt es nahe zu fragen,
ob nicht Jesus seine Jünger in ähnlicher Weise betrachtet hat.
Wir haben allerdings nicht viele klare Zeugnisse dafür, daf3 dies der
Fall gewesen ist; die Jüngerschar ist bei Jesus nicht Gegenstand einer
besonderen theologischen Reflexion. Die Würdestellung Israels wird auf die
Jünger übertragen, wenn davon die Rede ist, daf3 sie "das Licht der Welt"
(und "das Salz der Erde") sind (Mt s,r4-r6, vgl 13), aber das Wort ist
deutlich eine verkirchlichende Umprägung des Spruches Mc 4,21 (= Lc 8,r6;
vgl Lc r1,33; Mc 9,5o; Lc 14,34 f). Besser bezeugt ist die Übertragung
des häufig verw~ndeten Bildes der Herde (bzw der Schafe) von Israel aut
die Jünger (Lc 12,32; Mc 14,27; Mt ro,r6 Q; vgl Mt r8,r2-14, hier hat
aber Lc 15,3-7 wahrscheinlich die ursprüngliche Fassung des Gleichnisses).
Sonst kann man darauf, daf3 die Jünger das "wahre Israel" seien, nur
indirekt schließen (über die exXA"flcr(oc-Stellen vgl unten): Gott, der Vater
Israels, ist ihr Vater (Mc II,2s; Mt s.48 Q; 6,8 Q; Lc I2,32j Mt s,r6.4s;
23,9 etc); das den Israeliten verheif3ene Reich wird ihnen gegeben. Diese
Worte aber gelten allen, die sich als wahre "Israeliten" zeigen, nicht den
Gliedern einer geschlossenen Jüngergemeinde.
Auch in der persönlichen Verbundenheit der Jünger mit Christus ist
eingeschlossen, daß sie die wahren Vertreter des Gottesvolkes sind. Zu
dem Messias gehört das messianische Volk, zu dem Menschensohn die
Heiligen und Auserwählten; daraus hat man die Schluf3folgerung gezogen,
daß Jesus in seinen Jüngern eine messianische Kerngemeinde gesehen hat. 69
Gegenüber solchen Aufstellungen ist aber Zurückhaltung unbedingt geboten.
Die Stellung Jesu zum Messias-Prädikat ist, wie wir sahen, nicht eindeutig.
Die Verbindung des Menschensohnes mit einer Gemeinschaft der "Heiligen"
ist in den synoptischen Jesus-Worten gar nicht so deutlich wie bei Daniel
und Henoch; und sofern sie vorhanden ist, so handelt es sich um die
Endgemeinde des Reiches Gottes, die zum Kommen des "Menschensohnes"
in Herrlichkeit gehört, oder um das Volk Israel, als dessen Glied der
"Menschensohn" in Niedrigkeit lebt. Daf3 Jesus seine Aufgabe darin
gesehen haben sollte, während seines Erdenlebens ein neues, messianisches
Volk zu schaffen/0 wird nirgends deutlich. Was die Stellung der Jünger
betrifft, so liegt diese darin, daß diejenigen (aus Israel), die sich zu Jesus
in seiner Niedrigkeit bekennen, hoffen dürfen, daf3 der Menschensohn bei
seinem Kommen in Herrlichkeit sich zu ihnen bekennen wird (um sie zu
Gliedern der Endgemeinde zu machen). Daf3 Jesus die Jünger zu einem
messianischen Volke organisierte, läflt sich aber aus unseren Quellen nicht
schließen. 71 Daß er, wie oft behauptet wird/2 in den zwölf Aposteln die
zwölf Stammväter eines neuen Israels gesehen hat, wird nirgends angedeutet.
Der symbolische Akt der Erwählung der Zwölfe enthält den Anspruch Jesu
auf das ganze Israel und den Hinweis auf die kommende, messianische
Herrschaft, nicht aber eine "Kirchenstiftung". 73
Wie steht es nun aber mit dem Abendmahl? Bekanntlich hat KATTEN·
BUSCH gerade darin einen Akt der Kirchengründung Jesu sehen wollen. 74
Das Abendmahl ist eine Mahlgemeinschaft und ist im Zusammenhang mit
dem religiösen Gemeinschaftsgedanken Jesu zu verstehen. Ob die Stiftung
des Abendmahles in den Rahmen einer Päsachmahlzeit fällt oder nicht, so
ist eine Verwandtschaft mit dem Päsachmahl deutlich, das auf die geschehene
Erlösung zurück- und auf die kommende hinwies. 75 Die Worte Jesu weisen
auf den Bund Gottes mit Israel zurück: "Dies ist mein Blut des Bundes,"
und auf die kommende Gemeinschaft im Reiche Gottes hin: "Ich werde
nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis auf jenen Tag, da
ich sie neu in dem Reiche Gottes trinke" (Mt q,24.25 vgl Lc 22,rs-r8).
Der Koinzidenzpunkt von Heilsgeschichte und Eschatologie ist aber nicht
mehr die Päsachfeier und das Päsachlamm, sondern die Person Jesu, die
in den Tod hingegeben werden wird, an der die Jünger unter dem Bild
von Brot und Wein Anteil bekommen. Der "für viele" sterbende Jesus
ist die Verkörperung des Bundes und des Reiches Gottes, und die Jünger
(die Zwölf!) sind als seine Genossen die Darstellung des wahren "Israels".
Ist diese Deutung richtig, dann sind in dem Abendmahl alle für den
Gemeinschaftsgedanken Jesu konstitutiven Momente zusammengefaflt: das
Volk des Bundes, die Gemeinschaft im Reiche Gottes, die Person Jesu, in
den Tod hingegeben, die zu ihm gehörenden Jünger. Dann ist aber anderer-
seits im Abendmahl kein neues Moment enthalten, das über den Gemein-
schaftsgedanken Jesu, wie wir ihn bis jetzt kennen gelernt haben, hinaus-
weist. Ein Akt der Kirchengründung, durch die Einsetzung einer neuen
kultischen Feier wäre das Abendmahl nur dann, wenn der Wiederholungs-
befehl tr Cor rr,24.25) ursprünglich wäre. Das ist aber aller Wahrscheinlich-
keit nach nicht der Fall.
Wir dürfen also sagen, dafl Jesus .in den Jüngern die wahren Ver-
treter Israels oder auch die Vertreter des wahren Israels gesehen hat, nicht
aber, dafl er in ihrer Gemeinschaft ein messianisches Volk, ein neues Israel
oder eine Kirche sah. Wenn Jesus dennoch von "seiner Kirche" gesprochen
haben sollte, kann das von seiner Situation und der Gesamtstruktur seiner
Verkündigung aus nur eine prophetische Voraussage gewesen sein. Wir
haben schon in anderem Zusammenhang auf einige Worte hingewiesen, die
in diesem Sinne verstanden werden können oder müssen. Besonders das Wort
von dem Niederreißen und Wiederaufbau des Tempels (Mc 14-,58 etc) ist hier
wichtig. Der neue Tempel kann nur die neue Gottesgemeinde sein, wahr-
scheinlich ist aber nicht an eine neue "Kirche" in der Geschichte gedacht, sondern
an die endzeitliche Gemeinde, die bei dem Erscheinen des Reiches Gottes errich-
tet werden wird. In derselben Weise wird das Zitat aus Ps rr8,22 f zu ver-
stehen sein (Mc r2,ro f Par): bei seiner Parusie wird Jesus der Schluflstein
des Tempels der Gemeinde werden (vgl oben S. rss f). Auch in dem
vorangehenden Gleichnis braucht, wie wir gesehen haben, nicht wie in
der Auslegung des Matthäus (21,4-3) an eine neue Gemeinde in der Ge-
schichte gedacht zu sein, die an die Stelle Israels treten soll (oben S. 150).
Wie es zweifelhaft blieb, ob Jesus von seiner Auferstehung als ein von
seiner Parusie zeitlich geschiedenes Ereignis redete, so bleibt es auch
zweifelhaft, ob er von der Bildung einer neuen Gemeinde als ein von dem
Kommen der Herrschaft Gottes unterschiedenes Geschehen redete (oben
S. 158 f). Die bei dem Tempelwort wie bei den Leidens- und Auferstehungs-
weissagungen genannte Frist von drei Tagen (Mc 14,58 Par; 8,31; 9,31;
10,34; Mt 12,40), die sich bekanntlich nicht als vaticinium ex eventu ver-
stehen läßt, bedeutet vielleicht ursprünglich die kurze Zeitspanne zwischen
dem Tode Jesu und dem Kommen des Gottesreiches. Die Stellung der
Jünger während dieser Zeit hätte Jesus dann Mc 14,27 f (vgl auch Mc 2,20)
vorausgesagt: "Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe werden
sich zerstreuen. Nachdem ich aber auferweckt bin, werde ich euch voran
nach Galiläa gehen." Dieses Wort kann ebenso gut wie auf die Erschei·
nungen des Auferstandenen auf die Parusie, das Kommen des Reiches
Gottes und die Sammlung der endzeitliehen Gemeinde hinweisen. 76
Mit Sicherheit können wir allerdings nicht sagen, was für ein Schicksal
jesus für seine Botschaft und für seine Jünger nach seinem Weggang
erwartet hat. Diese Unsicherheit macht auch die Beurteilung des Kirchen·
wortes an Petrus Mt 16,17-19 schwierig. 77 So wie das Wort bei Matthäus
steht, besagt es, daß Jesus an der Stelle der "Kirche" Israels seine Kirche
bauen will; in dieser Kirche soll Petrus auf Grund seines Messias-Bekennt-
nisses das Fundament sein und eine Autorität ähnlich der der höchsten
Behörden der jüdischen Theokratie haben. Das Wort führt dadurch über
den Rahmen der uns sonst bekannten Verkündigung Jesu hinaus, - viel-
leicht von der Sonderüberlieferung des Matthäus abgesehen - und zwar
in allen seinen drei Teilen: 1. durch Jesu vorbehaltslose Bejahung des
Messiasnamens, die seiner sonstigen Zurückhaltung entgegensteht; 2. durch
den Gedanken einer Stiftung "seiner Kirche", der nicht nur terminologisch,
sondern auch sachlich isoliert steht; 3· durch die Einsetzung des Petrus in
ein kirchliches Lehr· und Diziplinaramt, zu der die Bevollmächtigung der
Apostel zur Verkündigung und Wundertätigkeit nur teilweise eine Analo-
gie bildet. Bekanntlich ist denn auch die Echtheit dieser Worte bestritten
worden, 78 zum Teil allerdings mit nicht stichhaltigen Gründen. Daneben
hat man versucht einen ursprünglichen Sinn des Wortes festzustellen, der
mit den sonstigen Worten Jesu besser übereinstimme. K. L. ScHMIDT will
z. B. die Echtheit dadurch retten, daß er vermutet, Jesus habe nicht von
der Bildung einer neuen l;ähäl, sondern von der Bildung einer Sonder-
k'nistä gesprochen. 79 Das Wort würde dann nicht über die Anschauung,
daß die Jünger die Rest- und Kerngemeinde Israels seien, hinausführen.
Aber das griechische EX.X.A1Jcrb: ist als Bezeichnung einer religiösen Gemeinde
so auffällig, daß die Wahl dieses Wortes nur dann verständlich wird, wenn
die semitische Grundlage das sakrale Wort IJähäl, bzw. IJ'hälä war. Sodann
ist Mt 16,18 eine feierliche messianische Aussage; die Sache des Messias
war es aber nicht eine Sondersynagoge zu gründen, zu dem Messias
gehört vielmehr das endzeitliche Gottesvolk und der endzeitliche Tempel. 80
Schmidt weist besonders auf das Verbum o!xoBop.~crw hin, das dadurch die
Erklärung erhalten soll, dafu k'nistä das Haus ebenso wie die VersamJung
bezeichnet. Auch das ist nicht haltbar; nicht eine Synagoge, sondern der
Tempel ist das Gebäude, das Mt 16,18 vor Augen steht; der Fels ist nicht
ein beliebiger Stein, sondern der (kosmische) Fels des Tempels, der die
Fluten der Unterwelt (hier: die Pforten des Hades) zurückhält. 81 Rabbinische
Aussagen (allerdings späterer Zeit) bezeichnen Abraham als den Felsen,
auf dem Gott die Welt bauen konnte (bes Jalqut Schim. I § 766 zu
Num 23,9); 82 Petrus ist ein neuer Abraham und die Kirche Jesu ein
neues Israel.
Wenn die Beziehung des Kirchenwortes auf die "Sondersynagoge"
der Jünger Jesu nicht möglich ist, kann es im Munde Jesu nur als eine
prophetische Voraussage verstanden werden, die darauf hinweist, dafu Jesus
nach seinem Tod und seiner Auferstehung seine neue Gemeinde auf Petrus
bauen will (vgl auch Lc 22,32). Seine Verwerfung durch Israel bringt die
Verwerfung Israels mit sich, seine Verherrlichung die Bildung einer neuen
Ekklesia. 83 Wir haben gesehen, dafu auch andere Worte in diesem Sinne
verstanden werden konnten, wenn auch der Gedanke nirgends deutlich und
einwandfrei bezeugt ist. Demnach werden wir es nicht bestreiten können,
dafu Jesus das Wort in diesem Sinne gesprochen haben kann und werden
doch den Verdacht nicht los, dafu es als ein Wort des Auferstandenen aus
der Urgemeinde stammt.
Es bleibt aber noch eine letzte Möglichkeit zu erwägen. Wie in den
Worten vom Schlufustein und vom Niederreifuen und Wiederaufbau des Tem-
pels konnte auch in unserem Worte an die unter dem Bilde des eschatologi-
schen Tempels geschaute Gemeinschaft in der Herrschaft Gottes gedacht sein. 84
Das Wort an Petrus hätte dann die sachliche Parallele in dem Worte an die
Zwölf Mt 19,28 (vgl Lc 22,29 f und auch Apoc 21,14 und 3,12). Beidieser
Deutung würde V. 18 c eine Selbstverständlichkeit aussagen, wenn od.1T'ij~
auf die Kirche zu beziehen wäre; wahrscheinlich ist aber der Felsen
gemeint, der von den Todesmächten nicht überwältigt werden wird. 85 Der
Sinn der Verheifuung wäre dann entweder, dafu Petrus nicht sterben, sondern
das Kommen der Herrschaft Gottes erleben würde (vgl Mc 9,1 Par und
die entgegengesetzte Aussage Joh 21,18 f .21-23), 86 oder dafu Petrus
gegenüber den Anstürmen der Todesmächte in dem eschatologischen
Drangsal (und bei dem Tode Jesu) stand halten würdeY Das Wort an
Petrus wäre dann nicht die Einsetzung des Kirchenfürsten, sondern die
Seligpreisung des Jüngers, der Anwärter und Bote des Reiches Gottes
und der dazu gehörigen Gemeinde ist. Wenn man diese Deutung für den
Kontext des Matthäusevangeliums als unmöglich ansehen sollte, so ist auf
die Möglichkeit zu verweisen, dafu die Lobrede auf Petrus, 16,q- 19, die
Komposition des Evangelisten oder einer seiner Vorgänger auf Grund drei
r66
einzelner Worte Jesu (zu r6,19 vgl r8,r8) sein kann; 88 für das V. r8 zu-
grundeliegende Wort wäre dann die hier versuchte, rein eschatologische
Deutung anzunehmen. Eine völlige Sicherheit ist hier nicht zu erlangen,
ich glaube aber, daß der zuletzt genannte Lösungsversuch die größte
Wahrscheinlichkeit für sich hat; Jesus hat seine Auferweckung und seine
Parusie, das Kommen des Reiches Gottes und die Bildung der neuen
Gemeinde in eins gesehen. 89
An den übrigen Stellen, die direkt oder indirekt von der Kirche reden,
liegt eine kirchliche Umbildung der Tradition vor. Wenn Mt I 8, I 5- 17
von Jesus gesprochen wäre, so müßte es auf die Synagoge bezogen werden,
wahrscheinlicher ist es aber, daß wir mit einer Kirchenzuchtregel der
palästinensischen Gemeinde zu tun haben. 90 Mt r8,2o spricht der auf-
erstandene Herr der Kirche. Eine spätere Verkirchlichung ist es auch,
wenn an emtgen Stellen des Matthäusevangeliums der Terminus "Herrschaft
des Himmels" auf die Kirche bezogen wird (vgl s,r9; II,u; I3,S2;
r8,r.4 etc, doch ist diese Auslegung nicht unbedingt nötig). 91 Bei Matthäus
scheinen auch einige Gleichnisse auf die Kirche bezogen zu sein (vgl
5 1 13-16; 13,24-30.36-43 .47-50; IB,I0-14; 21,33-46; 22 1 I-I4
bes. I I - I 3 etc), ursprünglich war aber von dem Kommen des (eschato-
logischen) Reiches Gottes an die Welt, bzw. an Israel, die Rede. Sekundär
werden auch die Ausblicke auf die Evangelienverkündigung sein (Mc
I3,IO; I4,9l·
Unser Ergebnis ist also: die Frage, ob Jesus seine Jünger zur ex.x.):YJITLOC
gemacht hat, muß verneint werden. Und doch ist der Gedanke an eine
sx.x.A"Ijcr(oc in dem Wirken Jesu tief begründet. Seine Gegenwart bedeutet
Kommen des Königtums Gottes und "mehr als" alle früheren Gaben Gottes
an Israel. Der Sohn Gottes ist die Verkörperung des Volkes Gottes. Eine
Entschleierung dieses Geheimnisses dürfen wir vielleicht in den Geschichten
(Legenden) von der Taufe und der Verklärung Jesu sehen. In beiden
lautet die Gottesstimme: "Du bist mein geliebter Sohn, an dir fand ich
Wohlgefallen!" (Mc I, I I Par); "Dieser ist mein geliebter Sohn, hört auf
ihn!" (Mc 9,7 Par). In der Taufgeschichte erinnert die Gottesoffenbarung
bei dem Untertauchen Jesu an die Gottesoffenbarung am Schilfmeer.
(Dürfen wir auch daran erinnern, daß die Taube im Judentum das Bild
des Volkes Israel ist?) 92 In der sich anschließenden Versuchungsgeschichte
erinnert der vierzigtägige Wüstenaufenthalt Jesu an den vierzigjährigen
Wüstenaufenthalt Israels (vgl Massa= Versuchung!); auch die ausgeführte
Versuchungsgeschichte bei Mathäus-Lukas und die dort verwendeten Srhrift·
worte weisen auf die Wüstenzeit zurück. Der Sohn ist der eschatologische
Antitypus des Volkes! Mag es als zweifelhaft erscheinen, wieweit diese
Typologie hier beabsichtigt ist, so ist jedenfalls in der Verklärungsgeschichte
die Verbindung von dem Sohn mit dem Volke Gottes deutlich beabsichtigt. 93
Die Gegenwart des Mose und Elia bedeutet die Gegenwart der heitigen
Geschichte, die Lichtkleidung die der eschatologischen Herrlichkeit (vgl auch
die zu bauenden Hütten), die Wolke die Gegenwart Gottes, wie sie in der
Urzeit da gewesen war und für die Endzeit erhofft wurde (2 Mac 2,8). So
wird Jesus "verklärt" im Lichte der heiligen Geschichte und der herrlichen
Zukunft des Volkes Gottes. Die Jünger, durch Petrus, Jakobus und Jo-
hannes vertreten, dürfen dabei sein.
Daß sie bei Jesus sind, ist in der Tat, was die Jünger auszeichnet,
dadurch sind sie Vertreter (des wahren) Israels und Angehörige des König-
tums Gottes. Daß sie keine besondere Organisation und keine Kirche
gebildet haben, läßt die einzigartige, alles bestimmende Stellung Jesu nur
um so deutlicher hervortreten. 94 Das gewonnene Ergebnis wird durch die
Ereignisse bei dem Tode Jesu bestätigt. Es ist nicht so, daß Jesus einer
Sondersynagoge einen festen Bestand gegeben hätte, so daß sie den Tod
ihres Gründers überdauern und weiterbestehen konnte. Die Jüngergemein-
schaft ist vielmehr in Auflösung geraten. Erst durch die Gewißheit, daß
Jesus den Tod überwunden hatte, wurde auch die Jüngergemeinschaft zu
neuem Leben erweckt. Die Kirche ist die Schöpfung des Auferstandenen!
Gemeinschaft der Jünger Jesu zum Vergleich neben das aus den drei ersten
Evangelien gewonnene Bild zu stellen.
Wie nach den Synoptikern, so ist Jesus auch nach Johannes ein Glied
des jüdischen Volkes. 97 Er stammt aus Galiläa (4,43 f; 7,4r.52 etc), wo
Nazareth seine Heimatstadt ist (!,45 f, vgl r8,5.7; I9,I9). Sein Vater war
Joseph (1,45; 6,42), seine Mutter und seine Brüder sind Juden wie andere
(2, I ff . I 2; 7,3 ff). Stärker als bei den Synoptikern ist er nach der Dar-
stellung des Johannes mit dem religiösen Zentrum der Judenschaft, Jeru-
salem und dem Tempel verbunden: immer wieder zieht er zu den Festen
hinauf (2,I3.23; 5,1; 7,Io; I0,22; II,55 ff) und lehrt in dem Tempel (5,I4;
7,I4.28.37; 8,20.59; I0,23; r8,2o). Daneben lehrt er auch in den Syna-
gogen (6,59; r8,2o). Den Samaritanern gegenüber gilt er als ein Jude
(4,9 f .20 ff), und in der Diskussion mit den jüdischen Gegnern kann er
sich auf das Gesetz und seine Ordnungen berufen (7,19-23 etc). Wie
ein jüdischer Rabbi (1,38.49; 4,31; 6,25; 9,2; u,8) zieht er herum, von
seinen Jüngern begleitet (2,2.12; 3,22; 4, 1.2.8.27 etc). Diese Anhänger
gewinnt Jesus hauptsächlich unter den Jüngern des Johannes (1,37 ff, vgl
I0,41) und in dem von den Pharisäern verachteten "Haufen'' (7,31 f
40.47-49; 9,13 ff; II,45; I2,J7-I9), wenn auch Ausnahmen vorhanden
sind (3,1 ff; 7,50 f; 19,38 f, vgl 12,42). Es wird bei Johannes völlig deutlich,
daa diese Jüngerschar keine organisierte Gemeinde und auch keinen fest
abgeschlossenen Kreis bildet. Eine große Menge schließt sich Jesus an, aber
ohne zu einem tieferen Verständnis hindurchzudringen (2,23; 3,26; 4, I;
6,15; 7,3.12.31; 8,3of; 10.42; 11,45); andere werden seine festen An-
hänger und Begleiter, aber auch von ihnen fallen viele wieder ab (6,6o f
.66); am nächsten stehen ihm die Zwölf, doch unter ihnen ist auch der
Verräter (6,66-71.64; 13,10 f .18-30). Das Wort p.oc&lJ-r·~~ kann auf
alle Stufen der Jüngerschaft angewendet werden, von demjenigen an, der
sich nur für eine Zeit äußerlich anschließt bis zu dem "wahren Jünger"
(8,3I). Jesus ist aber nicht nur ein Lehrer, er erweckt auch den Eindruck
ein Prophet zu sein (4,19; 6,q; 7,4o; 9,17). Auch Johannes erzählt, daß
Jesus von Anhängern (6,14 f; vgl I2,I2 ff; 7,26.3t.4I), wie von Gegnern
(II,48; 18,31 ff) als ein politischer Messiasprätendent aufgefaßt worden ist,
während die Stellung Jesu zu der jüdischen Messiaserwartung in ein Ge-
heimnis gehüllt bleibt (8,25; 10,24; vgl 18,36 f; anders 4,25 f (in Samaria!)
und 20,3I, der Evangelist).
Auch nach Johannes wirkt also Jesus innerhalb des Rahmens des
jüdischen Landes, des jüdischen Volkes und der jüdischen Religion. Und doch
begegnet uns der Gegensatz zwischen Jesus und den Juden immer wieder.
Sabbatsheilungen Jesu geben den Anlaß zu Streitgesprächen (5 + 7,19-24; 9).
Er verkehrt mit Samaritanern (4). In Jetusalern reinigt er den Tempel, der zu
einem "Kaufhaus" gemacht worden war (2,14-17); gegen die Juden redet er
die schärfsten Gerichtsworte (5,37-47; 8,31 ff etc). Dies hat alles in den
synoptischen Berichten Parallelen, und doch kommt der Gegensatz zwischen
Jesus und den Juden hier anders und stärker zum Ausdruck als bei den Syn-
optikern. Aus einer äufueren und inneren Fernheit heraus spricht der Evange-
list von den "Juden" (vgl 2,6.13; 5,1; 6,4 etc), nach vielen Stellen ist es, als
ob die Christusfeindschaft in diesem Namen beschlossen ist (2,18.20i 5,10.15.
!6.18; 7,r.13i 8,48.52.57 etc). 98 Immer wieder versuchen die Juden den Tod
Jesu herbeizuführen (7,30.32·44i 8,37.59; 10,31; 11,8.47 ff). Es sind dabei vor
allem die Pharisäer (und Hohenpriester), die als Gesprächspartner und
Gegner Jesu auftreten (4,1; 7 1 32·45·47 f; 8,13; 9,13.15.40 f; rr,46 ff;
12,10.19), aber diese Führer sind für den Evangelisten die charakteristischen
Vertreter der Juden überhaupt. 99 In derselben Weise wie der Evangelist
redet auch der johanneische Jesus von den "Juden" (13,33; 18,20.36).
Er ist nicht ein Prophet, der seinem eigenen Volk das Gericht verkündigen
mufu; die "Juden" sind ihm vielmehr von vorneherein fremd und feindlich;
sie gehören nicht zu seinen "Schafen" '\1o,26). Sie glauben Mose nicht
(5,46 f); sie sind nicht Kinder Abrahams und nicht Kinder Gottes, sondern
Kinder des Teufels (8,37-47); ihre Sünde ist eine bleibende (9,40 f).
Die Fremdheit und der Widerspruch kennzeichnen die Haltung Jesu
nicht nur zu seinen jüdischen Zeitgenossen, sondern auch zu dem heiligen
Erbe, auf das sich diese berufen. Das Gesetz ist ihm "euer Gesetz" (8,q;
10,34; vgl 15,25; 71 19.23); ähnlich ist seine Haltung zu den Festen (7,8).
Die Erzählung von dem Weinwunder in Kana soll vielleicht den Gegensatz
zwischen der von Jesus gebrachten Hochzeitsfreude und den jüdischen
Reinigungsriten andeuten (2,1-11). Die Antithese kann scharf formuliert
werden: Die Abstammung von Abraham gibt nicht Freiheit (8,33 ff)! Nicht
Mose hat das Brot aus dem Himmel gegeben (6,32)! Weder auf Garizim
noch in Jerusalem soll Gott angebetet werden (4,21)! Aufuer dem Menschen-
sohn ist keiner in den Himmel hinaufgefahren - also auch nicht die
Gottesmänner in Israel, von denen dies erzählt wurde (3,13, vgl 1,18)!
Alle die vor Jesus kamen, waren Diebe und Räuber {1o,8)! Der Evangelist
gibt dieser Antithese die prinzipielle Formulierung: "Das Gesetz wurde durch
Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit durch Jesus Christus." {1,17)
In dem Streit zwischen den Juden und Jesus ist nach Johannes der
eigentliche Gegenstand die Behauptung Jesu, der Sohn Gottes zu sein.
Die Juden klagen ihn an, weil er sich Gott gleich macht (5,17 f; 6,41 f;
8,13.52 f; 10,33), Jesus wirft ihnen vor, dafu sie nicht an ihn glauben
(5,19-47; 6,26~'i8; 8,r2-58; 10,25 f .34-38). Und doch hätten sie
sehen müssen {9,41), denn die Schriften, denen Jesus fremd gegenüber-
steht, insofern sie Schriften und Gesetz der "Juden" sind, haben in
Wahrheit den einen Sinn, von ihm zu zeugen {5,39·45-47; 6,45; vgl3,14;
7,38; 10,34 f; 13,18; 15,25; 17,12; 19,24.28); wer Mose glaubte, müfute Jesus
glauben (5,46). Ebenso ist Abraham ein Zeuge Jesu, er sah seinen "Tag"
und freute sich (8,56- 58); wer ein Kind Abrahams wäre, müfute die Taten
Abrahams tun; wer Gott zum Vater hätte, müfute Jesus lieben (8,40.42).
Der "Lehrer Israels" hätte das Zeugnis Jesu verstehen und annehmen
1']0
müssen (3,10 f). Während das Wort "Jude" den Unglauben der Juden
mit enthält, bringt das \Vort "Israel" die göttliche Bestimmtheit des Gottes-
volkes zum Glauben an Jesus zum Ausdruck (vgl 1,31). Wer wahrhaftig
ein Israelit ohne Falsch ist, bekennt Jesus als den König Israels (1,47·49).
Das Königtum Jesu ist nicht von dieser Welt (!8,36), und doch ist er
der König Israels (1,49; 12,13); auch "Israel" ist nicht "von dieser Welt",
sondern "fast eine überzeitliche Größe". 100 In diesem Sinne - Jesus ist
als der König Israels das Zentrum der himmlischen Welt - und nicht
in dem theokratisch-messianischen, ist die Beziehung des traditionellen
Hirtengleichnisses 101 auf Jesus zu verstehen (ro); 102 dadurch wird auch
verständlich, daß er nicht nur der Hirte, sondern zugleich "die Tür zu
den Schafen" sein kann (10,7.9). 103 In entsprechender Weise wird auch
das Bild von dem Weinstock (15) verwendet; es ist ein traditionelles Bild
für Israel, Jesus aber ist der "wahre Weinstock". 104 Noch einige andere
Worte müssen hier genannt werden: 1,51 wird eine Gleichsetzung des
"Menschensohnes" mit Israel (=Jakob) angedeutet, denn die Stelle setzt
eine Exegese von Gen. 28,12 voraus, wo bö auf den Patriarchen bezogen
wurde. 105 Der Tempel, von dem Jesus spricht, ist sein Leib (2,19-22). 106
An anderen Steilen tritt Jesus als Lebenszentrum Israels an die Stelle der
Tora: er, nicht das Manna, nicht das "Brot" der Tora, ist das "Brot vom
Himmel", das "Brot des Lebens" (6,32ff); 107 er, nicht die Tora, nicht
Israel ist das "Licht der Welt" (8,12; 9,5; 12,46) ; 108 er, nicht die Lehre,
ist der \Veg, die Wahrheit und das Leben (14_,6); 109 Jesus ist, wie der
Evangelist zeigen will, au~h das wahre Päsachlamm (19,32 ff, vgl 1,29.36).
Dieselbe Doppelheit sieht man auch in dem Verhältnis zwischen J esus
und den Samaritanern.l1° Nicht der Brunnen Jakobs, sondern Jesus gibt
das lebendige Wasser (4,5-15), nicht auf Garizim, sondern "in Geist und
Wahrheit" soll der Vater angebetet werden (4,19-24); die heilige Geschichte
war aber die Aussaat, mit Jesus ist die Ernte gekommen (4,35 -38). 111 Der
Unterschied ist, daß die Samaritaner, bzw. einige unter ihnen, sich faktisch anders
als die "Juden" entscheiden und sich nicht auf ihre heilige Vergangenheit
festlegen, sondern zum Glauben an Jesus kommen (4,39-42). Was den
Täufer betrifft, so wird allein die positive Seite hervorgehoben: er legt
für Jesus Zeugnis ab (1,19-36; 3,23-36; vgl r,8.15; 5,33-36). Aber
auch hier schimmert die andere Seite hindurch: es wäre ein fatales Miß-
verständnis, in dem Täufer etwas mehr zu sehen und ihm eine selbständige
Bedeutung zuzuschreiben fr,2o-27; 3,27-31, vgl 1,8). Die wahren Jo-
hannesjünger werden Jünger Jesu (1,37 ff), es bleibt unausgesprochen, aber
wird doch deutlich, daß diejenigen, die Jünger des Johannes verbleiben, in
derselben Stellung wie die "Juden" stehen. 112
Diese doppelte Betrachtungsweise macht aber auch an den Grenzen
des jüdischen Volkes nicht halt. Die christusfeindlichen "Juden" sind Ver-
treter der gottlosen "Welt" (8,23.44; 9,39-41; 14,30; vgl 3,18-2o; 7,7;
15,r8 f etc), 113 und auf der anderen Seite ist Jesus nicht nur zu I$rael
qr
gesandt, sondern zu der Welt, die Gott liebte (3,16 f; ro,36; q,r8, vgl
6,33·5 I; 8,12 etc). Es gibt wahre Israeliten, die zum Glauben an Jesus
kommen; Jesus hat aber auch "andere Schafe, die nicht aus dieser Hürde
sind" (Io,r6). "Täter der Wahrheit" (3,21, vgl r8,37), Leute, die der
Vater zu dem Sohne zieht (6.44 vgl 37), gibt es nicht nur unter den
Juden, sondern in der ganzen Welt (r2,20 f; vgl auch den Prolog, r,I-
5· I I f). Diese Gedanken kommen in den Reflexionen des Evangelisten über
die Worte des Hohenpriesters besonders deutlich zum Ausdruck (II,49- 53).
Als Führer der Juden befürwortet Kaiphas den Todesanschlag gegen Jesus;
als Hoherpriester Israels dagegen müß er mit seinen Worten dem göttlichen
Ratschluß dienen, er weissagt, "daß Jesus für das Volk sterben werde, und
nicht für das Volk allein, sondern damit er auch die zerstreuten Kinder
Gottes sammelte und vereinte."
Es ist deutlich, daß diese Auffassungen von Israel als eine überwelt-
liche Größe und von der wahren Diaspora als eine Zerstreuung der Kinder
Gottes in der Welt sich mit den mystisch-gnostischen Gedanken berühren,
die uns schon innerhalb des Judentums begegnet sind. 114 Es ist bekannt,
daß dies keine isolierte Erscheinung ist; die ganze Vorstellungswelt des
Johannesevangeliums berührt sich weitgehend mit gnostischen Gedanken.m
Es ist in der Tat wahrscheinlich, daß die Aussagen, Jesus sei der Hirte,
die Tür, das Brot vom Himmel, das lebendige Wasser, das Licht, das
Leben usw. nicht nur auf jüdische Aussagen über Israel und die Tora,
sondern ebenso auf "gnostische" Aussagen über göttliche Gesandte und
Emanationen antithetisch zu beziehen sind. Was die (jüdischen?) Gnostiker
zu besitzen meinten, ist in Wahrheit nur in Jesus gegeben! 116 Die Aus-
sagen des Johannesevangeliums sind aber nicht einfach aus der Gnosis
übernommen, ihr Sinn wird durch die Verknüpfung mit dem Schöpfungs-
glauben, der urchristlichen Eschatologie und der Geschichte Jesu bestimmt. 117
Was die "zerstreuten Kinder Gottes" vor der "Welt" und die wahren
"Israeliten" vor den "Juden" auszeichnet, ist nicht der Besitz einer himm-
lischen Pneuma-Substanz, sondern die Prädestination Gottes. Diese Prä-
destination ist aber keine naturhafte Notwendigkeit. Vielmehr ist die Welt,
die durch den Logos geschaffen wurde (!,I ff), und die Juden, die dazu
auch noch die Gabe der Schrift erhalten haben, dazu bestimmt, an Jesus
gläubig zu werden. Mit Jesus und seinem Worte ist die Krisis gekommen:
der Mensch wird in die Entscheidung gestellt, ob er sich auf sein Weltsein
festlegen, oder den Glauben ergreifen und sich dadurch als ein "Täter der
Wahrheit" zeigen will; der Jude wird in die Entscheidung gestellt, ob er
sich auf sein Judensein festlegen oder den Glauben ergreifen und sich
dadurch als ein wahrer "Israelit" zeigen will. An sich haben demnach die
Israeliten, bzw. die Juden weder Vorteile noch Nachteile, aber weil Jesus
zunächst an sie gesandt wurde (4,22), wurde die Möglichkeit des Glaubens,
so wie die Möglichkeit der qualifizierten Sünde des Unglaubens zunächst
ihnen geben (vgl I5 7 22-24; 9,39-4I). Alles kommt auf die Stellung
zum Sohne an, an sich hat die Erwählung und die heilige Geschichte, der
Kultus und das Gesetz keine Bedeutung.
Nirgends ist im vierten Evangelium ausdrücklich von einer Ekklesia
Jesu oder von einem neuen Gottesvolk die Rede. Und doch ist der
Gedanke der durch Jesus begründeten religiösen Gemeinschaft ein Haupt-
gedanke des Evangeliums, vornehmlich der Abschiedsreden.U 8 Ihre Grund-
lage hat diese Gemeinschaft in der Tat Gottes. Die Jünger gehörten von
vorneherein Gott, und Gott hat sie an Jesus gegeben (q,6.g, vgl 6,37.
39·44·65). Jesus hat sie auserwählt (!3,18; 15,16.1g; vgl 6,7o), dadurch da&
er ihnen den Vater offenbarte (q,6-8) und ihnen die Möglichkeit des Glau-
bens gab (q,8, vgl 1,37 ff; 6,67 ff). Die Jünger sind dadurch der "Welt"
entnommen (8,12; 15,18 f; q,14-16) und haben die neue Geburt von
oben erlebt (3,5 ff, vgl 1,12 f). Sie sind die "Freunde Jesu" (15,14) und
leben in ihm, wie er in ihnen (15,1 ff; vgl 10,1 ff .27f; 12,26; q,14-16
etc). Dieser Gemeinschaft entspricht einerseits die Einheit des Sohnes mit
dem Vater (5,19 ff; 10,30 etc), anderseits· die Einheit der Jünger unter-
einander (13,34 f etc). Zwischen dem Vater, dem Sohne und den Gläubigen
besteht deshalb eine umfassende Einheit der gegenseitigen Liebe (10,14 f;
12,44 f; q,g-12 .20 f; 15,9 f; 17,g-II.21-26). Diese Einheit der Liebe
ist das Wesentliche in dem, was man den johanneischen "Kirchengedanken"
nennen kann. Es handelt sich aber dabei nicht um eine verschwommene
Einheit der "Mystik", sondern um die Einheit des "Wortes" .119 Der Vater
gibt selbst dem Sohne Zeugnis (5,37 f; 8,q f); Jesus redet, was er bei seinem
Vater gesehen und von ihm gehört hat (3,11.34i 8,26.28.38.4o; 12,49 f;
15,15i q,8) und gibt das Wort des Vaters an die Jünger weiter (q,8;14i
14,10.24); die Jünger werden es wieder an andere geben (15,27; q,2o).
Die Gemeinschaft der Jünger ist durch das Wort Jesu begründet (vgl
6,63.68; 15,3) und hängt davon ab, daß sein Wort in ihnen bleibt (15,7;
vgl 10,3.16.27) und sie in seinem Worte bleiben (8,3) und seinen Geboten
gehorchen (13,34; q,,15.21.23 f; 15 1 10.12.14).
Daß es sich hier nicht um eine zeitlose Mystik handelt, geht auch
daraus deutlich hervor, daß die Gemeinschaftsbildung Jesu auch nach der
Darstellung des Johannesevangeliums einen eschatologischen Charakter hat. 120
Der Gedanke der jenseitigen Vollendung der Gemeinde (14,1 ff, vgl 13,33·36;
17,24) wird allerdings nicht stark betont; jedoch brauchen die Stellen, die
von dem "jüngsten Tag" reden, nicht einer späteren Redaktion zugeschrie-
ben zu werden (6 139·40·44·54i 12,48; vgl 5,28 f). 121 Trotz der Überein-
stimmung mit der synoptischen Terminologie ist dagegen 3,3.5 kaum in
futurisch eschatologischem Sinne zu deuten; I2,36 noch weniger. Das
Kommen Jesu ist für Johannes das eschatologische Ereignis und bringt die
Krisis und die Auferstehung (5,22-27; I I ,25 f). Dementsprechend ist die
Zeit, wo "die wahren Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten",
die eschatologische Stunde, die "kommen wird und jetzt da ist" (4,21.23;
vgl 4,35). Weil der "Tag Jesu" der eschatologische "Tag" ist, freute sich
Abraham, als er ihn sah (8,56). Und doch ist während der Zeit der Wunder-
und Lehrtätigkeit Jesu "seine Stunde noch nicht gekommen" (2,4; 7,3o;
8,20; vgl 7 ,6.8). Erst als er verherrlicht wird und der "Erhöhung" durch
Kreuzigung und Auferstehung entgegengeht, ist "die Stunde" da (12,23.
27.31; 13,1.3I; 16,32; 17,1). In diesem eschatologischen "Jetzt" (vgl noch
r6,5.22.3o; 17 1 5·/·13) ist es, dafu der verherrlichte und zu verherrlichende
Jesus bei der letzten Mahlzeit durch die symbolische Fufuwaschung und
durch die Abschiedsreden und das Abschiedsgebet die Seinen in die Gemein-
schaft mit sich und mit dem Vater hineinführt.
Eschatologisch bestimmt ist aber nun wiederum der Tag, wo Jesus
nach seinem Fortgang zum Vater den Seinen wieder sichtbar werden wird
(ev ex.dvn -r?j ~fLspq: 14,19 f, vgl 16,25). Viel mehr als der synoptische
spricht der johanneische Jesus von der Stellung der Gläubigen nach seinem
Fortgang. Durch seinen Tod werden sie geheiligt werden (17,19). Nachher
wird aber Jesus wieder zu ihnen kommen, um sie in die Gemeinschaft mit
sich und mit dem Vater aufs neue hineinzunehmen (r4,I8-20.23.28; 16,16
-22; 17,20 ff). Dann wird er ihnen auch den "Geist der Wahrheit" als
"Fürsprecher" senden, der ihnen seine Worte vergegenwärtigen und sie "zu
der ganzen Wahrheit führen" wird (14,16 f .25 f; 15,26 f; 16,7-11.12-15)-
Die innere Seite des "kirchlichen" Lebens wird dadurch beschrieben, dafu sie
"an jenem Tage" zu dem Vater im Namen Jesu beten werden (16,23-26,
vgl. 14,13 f; 15,r6), die äufuere Seite dadurch, daß sie als Sendboten Jesu
(13,16 f 2o; 14,12; 17,18, vgl 4 135-38) von ihm zeugen (15,27 vgl 17,2o)
und deshalb in der Welt gehafut werden (rs,18-21; 16,33). Von einer
organisierten Kirche, vom Ämtern und Ordnungen ist dagegen keine Rede.
Eine viel diskutierte Frage ist, ob der johanneische Jesus von den Sakra-
menten spricht (vgl 3,3 ff; 6,51 ff, evt. auch 2,1-11; 6,1-13; 13,4-15
und 19,34). Mir scheint die wahrscheinlichste Lösung die, dafu auf die
Sakramente hingespielt wird; dafu aber nicht die kirchlichen Riten an sich,
sondern ihr geistlicher Sinn bedeutungsvoll ist (vgl das Verständnis der
Wunder als "Zeichen").
Wenn dies richtig ist, so entspricht die Stellung der Kirche gewisser-
mafuen der Stellung des jüdischen Volkes. Die äufuerlichen, sakralen Ord-
nungen sind an sich gleichgültig. Was das jüdische Volk anbetraf, so kam
es nur darauf an, dafu Israel von Gott zum Glauben an Christus vorher-
bestimmt war; was die Kirche anbetrifft, so kommt es nur darauf an, dafu
die Jünger von Gott in der Gemeinschaft mit Christus bewahrt bleiben.
Ebensowenig wie der Gedanke von dem erwählten Volke hat der Kirchen-
gedanke eine selbständige Bedeutung. Von hier aus wird verständlich, dafu
trotz des betonten Gegensatzes zwischen den Jüngern Jesu und der Syna-
goge (vgl noch 9,22.27 f; 12,42; 16,2-4) und der Auffassung der Schriften
und Väter Israels als Zeugen Jesu, der Gedanke, die Kirche sei das neue,
bzw. das wahre Israel, nicht ausgesprochen wird. Er kommt nur dadurch
zum Ausdruck, daß die Gläubigen in dem Sohne Gottes, der zugleich König
Israels ist, leben, und daß sie die Schafe des rechten Hirten, die Zweige
des wahren Weinstockes sind. Den Gedanken in anderer Weise als in
diesem rein christologischen zum Ausdruck zu bringen, hat für den johan-
neischen Christus und für den Evangelisten kein Interesse. Auch hier ist
eine Berührung· mit dem gnostischen Gemeinschafts-Gedanken deutlich, in
der die Gottesvolk-Ideologie dem Urmenschen- und Erlöser-Mythos unter-
geordnet wurde (vgl oben S. n4-r q); deutlich ist aber auch der Unterschied
zwischen dem geschichtslosen gnostischen Mythos und der geschichts-
gebundene urchristliche Glaube.
Es hat sich ergeben, dafu die Haltung des johanneischen Jesus sich
von derjenigen des synoptischen weitgehend unterscheidet. Wir heben
besonders hervor: r. Er steht dem Judentum viel ferner. 2. Die Botschaft
von dem Reiche Gottes und der dazu gehörigen Gemeinde der Endzeit tritt
zurück. 3· Seine Botschaft ist wesentlich Selbstzeugnis. 4· Die Gemeinschaft
zwischen dem Vater, dem Sohne und den Gläubigen tritt stark in den
Vordergrund, statt des Gebotes der Feindesliebe tritt das Gebot der Bruder-
liebe. In diesen Punkten sind Tendenzen fortgeführt, die sich in anderer
Weise auch in der späteren Geschichte und der Redaktion der synoptischen
Tradition geltend machen; grundlegend ist dabei, daß die irdische Geschichte
Jesu von seiner Erhöhung aus gesehen und gedeutet wird. 5· Für Johannes
eigenartig ist aber, dafu er nicht an den "normativen" oder den "apokalyp-
tischen", sondern an den "gnostischen" Begriff "Israel" anknüpft. Über
diesen Unterschied ist aber das Gemeinsame nicht zu übersehen: r. Jesus
ist mit dern jüdischen Volke und dessen Tradition verbunden, und steht
doch im Gegensatz dazu. 2. Die Sendung Jesu ist von eschatologischer
Bedeutung und an der Stellungnahme zu seinem Worte entscheidet sich
die Stellung des Volkes. 3· Jesus organisiert keine Kirche, sammelt aber
Jünger um sich, die mit ihm und dadurch mit Gott und mit einander persönlich
verbunden sind. 4· Dieser Gemeinschaftsgedanke Jesu kommt besonders
bei seinem letzten Mahl mit den Jüngern zum Ausdruck. 5· Die Gemeinschaft
der Jünger bildet kein neues Israel (bzw Volk Gottes, Ekklesia). Indirekt
(z. B. in dem Bild der Herde) kommt aber zum Ausdruck, daß sie das
"wahre Israel" ist. Wir können noch hinzufügen (6.): Auch nach Johannes
wird die Gemeinschaft der Jünger nach der Auferstehung Jesu neu begründet
(Joh 20; 21; vgl 14,19 f etc).
II. DIE GEMEINDE VOR UND NEBEN PAULUS
A. Die Anfänge.
Hat Jesus oder Paulus das Christentum, bzw die Kirche "gestiftet"?
Diese Fragestellung war eine -?eitlang beliebt und wirkt zum Teil noch heute
nach. Die kundigen Fachleute haben natürlich immer gewuflt, daß die Frage
falsch gestellt war, schon deshalb, weil zwischen Jesus und Paulus die
Urgemeinde steht. 1 Auf die Bedeutung der Urgemeinde - was den Kirchen-
begriff anbetrifft - wies besonders KARL HoLL 2 in seiner bekannten Akademie-
abhandlung hin. Seit HEITMÜLLER 3 und BoussET 4 haben wir ferner gelernt,
in der hellenistischen Urgemeinde in Antiochia ein wichtiges Zwischenglied
zwischen den Drapostein und Paulus zu sehen. Das Bild hat sich aber
noch weiter kompliziert; es wurde darauf hingewiesen, daß wir im vor-
paulinischen Heidenchristentum verschiedene Typen zu unterscheiden haben, 5
so wie darauf, daf3 ein "hellenistisches" Element schon in der Jerusalemer
Gemeinde ·vorhanden war (Stephanus). 6 Endlich hat man auch innerhalb der
jüdisch-palästinensischen Christenheit verschiedene Richtungen zu unter-
scheiden versucht; LoHMEYER behauptet z. B. einen doppelten Ursprung der
Gemeinde: Galiläa und Jerusalem. 7 Die Anfänge der Kirche sind nicht durch
Einheitlichkeit und klare Linien charakterisiert, sondern durch Reichtum und
Mannigfaltigkeit. Erst die Katholisierung brachte die Vereinheitlichung, das
hat B. H. STREETER,S was die Verfassung, und W. BAUER, 9 wa& die Lehre
anbetrifft, gezeigt. Dasselbe wird auch für den "Kirchenbegriff" gelten.
Dieses komplexe Bild entspricht freilich wenig der Darstellung der Apostel-
geschichte, die eine relativ einheitliche Entwicklung von den ersten Anfängen
in Jerusalem bis zur Evangelienverkündigung des Paulus in Rom zeichnet,
deren Folge war, dafl aus der Schar der messiasgläubigen Juden die heiden-
christliche Kirche wurde; die Pfingsterzählung nimmt diese Entwicklung
gewissermaflen vorweg und läflt die fertige Kirche auf einmal da sein. 10
Man mufl sich fragen, inwiefern der Verfasser von den ersten Anfängen noch
ein klares und zuverlässiges Bild gehabt hat. Unsere Haltung darf aber
nicht hyperkritisch werden, denn über Spannungen und Gegensätze innerhalb
der ältesten Kirche geschichtlich zu unterrichten, lag auflerhalb der Interessen
unseres Verfassers; 11 hie und da werden sie jedoch trotzdem fast wider
seinen Willen sichtbar. Wir dürfen also die Apostelgeschichte, allerdings
kritisch und vorsichtig, als Quelle benutzen, wenn auch unsere Aufgabe
keineswegs in einer Nachzeichnung ihres Geschichtsbildes bestehen kann.
Die ältesten und zuverlässigsten Quellen sind die Briefe des Paulus,
die einige Überlieferungen aus der Urgemeinde enthalten (I Cor rs,3 ff;
I I ,23- 25) und aus denen wir auch sonst noch Rückschlüsse machen können.
Eine wertvolle Ergänzung haben wir in den synoptischen Evangelien, die
schon WEIZSÄCKER 12 und auch ScHLATTER 13 als Quellen zur Geschicl-.ce des
apostolischen Zeitalters benutztei., und die durch die "formgeschichtliche"
q6
Methode noch fruchtbarer für eine solche Ausnützung gemacht worden sind. 14
Dazu kommen noch Rückschlüsse aus der späteren Geschichte und den
späteren Quellen, die von Paulus wesentlich unbeeinfluflt sind. Bei dieser
Dürftigkeit - und Mannigfaltigkeit - des Quellenmaterials werden alle
Versuche den .,Kirchenbegriff der Urgemeinde", bzw die Kirchenbegriffe
der vorpaulinischen Gemeinden zu rekonstruieren, etwas Hypotetisches an
sich haben. Der Versuch mufl nicht desto weniger gemacht werden.
Nach allen Quellen wird deutlich, dafu es die Auferstehung und die
Erscheinungen Jesu waren, die aus den Jüngern Jesu die Keimzellen der
Kirche Christi machten. 15 Das Kirchenbewufutsein der ersten Christen ist
der Reflex des Glaubens an den Auferweckten. Bei dieser Bildung der
Kirche können wir im Anschlufl an Lukas-Acta drei Momente hervorheben
(vgl auch I Cor rs,3-6). Zuerst die Auferweckung, bzw die Erhöhung
Jesu, die als seine Inthronisation als messianischer Herrscher, als "Sohn
Gottes in Kraft" verstanden wurde (Act 2,32-36; 4, rr; Rom I,4,
wahrscheinlich wie I Cor IS,3 ff nach alter Tradition; vgl Phil2,9-II;
Hebr 1,3~13 etc). 16 Der erhöhte Jesus ist bei Gott verborgen, er sitzt
zu der Rechten Gottes und ist zum König des Volkes Gottes eingesetzt;
dieser Glaube ist die Grundvoraussetzung für die Bildung des Kirchen-
begriffes. Als der Auferstandene ist Jesus dem Petrus und den Anderen
erschienen. Die Berichte über die Erscheinungen wollen von derTatsächlichkeit
der Auferstehung zeugen (I Cor IS,I ff; Mt 28,9; Lc 24,37-43; joh 20,
20.24-29; lgn ad Smyrn 3,I f=Nazaräerevg.), ein ebenso wichtiges Motiv
ist aber die Beauftragung der Apostel durch den Auferstandenen 17 : Petrus
(I Cor IS,s a; Gal 2,8; Lc 24.34; vgl Joh 2J,rs-q und Mt r6,I?-I9)
und die Zwölf, bzw die Elf (r Cor rs,s b vgl rs,7 b; Mt 28,r6-2o; Lc 24,
47-49; Act I,8; Joh 20,2I f; "Mc" r6,1s-r8) werden als Boten Jesu zur
Mission und Gemeindeführung bevollmächtigt (vgl auch I Cor IS,IO f; 9,I- s;
Act I,22; 3,I5; 10,4I f; r3,3I). 18 Diese Bevollmächtigung -der Apostel ist
das zweite, für die Kirchenbildung entscheidende Moment, als drittes kommt
die Entstehung einer wirklichen Gemeinde hinzu, die der Verkündigung der
Apostel Vertrauen schenkte und sich ihrer Leitung unterstellte. Dabei hat
es eine recht grofue Wahrscheinlichkeit für sich, dafu der paulinische Bericht
von dem Erscheinen Christi vor soo Brüdern (i Cor IS,6) und die lukanische
Pfingstgeschichte (Act 2) dasselbe Geschehnis in verschiedener Weise
berichten. 19 Auf alle Fälle hängt die Entstehung der Gemeinde und ihre
Empfängnis des heiligen Geistes mit der Auferstehungsgeschichte ~ufs engste
zusammen (Lc 24,49; Act 1,4.8; 2,33; Joh 20,22; 7,39; vgl 2 Cor 3,17).
Es liegt in der Natur der Sache begründet, dafl wir im einzelnen kein
historisch gesichertes Bild von diesen Anfängen gewinnen, sondern sie nur
durch ihre Reflexe im Glauben und Leben der durch sie entstandenen
Gemeinde erkennen können. 20
Aus dem Osterglauben sind nicht überall dieselben und nicht sofort
die vollen Konsequenzen für das Kirchenbewußtsein gezogen worden. Die
Neubildung der Gemeinschaft der Jünger Jesu im Glauben an seine Auf-
erstehung bedeutet zunächst jedenfalls keinen Bruch mit der jüdischen
Volksgemeinschaft. Die Apostelgeschichte läf3t den Petrus seine Volksgenossen
als "Brüder" anreden (2,29; 3,17) und berichtet, wie sich die ersten Christen
treulich zum Tempel hielten (2,46; 3,I ff; 5,I2.2o f .42; 2I,23 ff), was durch
die evangelische Tradition bestätigt wird, denn hier werden Weisungen für
die als Juden lebenden Jünger überliefert (evt. auch neu gebildet; vgl bes.
Mt 5,23-26, ein zur Frömmigkeitsregel umgestaltetes Parusiegleichnis,
Lc I2,57-59; Mc I3,I4; Mt 24,20). Ihre Aufgabe haben die Apostel
und die Gläubigen in der Gewinnung des Volkes Israel für den Messias
Jesus gesehen (Ga! 2,7 f; Act 2,39; 3,19-26; 5,30-32; Io,42; 2I,2o ff).
Die Aussendungsreden der Evangelien weisen auf eine Sendung der Jünger
zu Lebzeiten Jesu zurück, sind aber als Weisungen des Auferstandenen
für diese erste "Judenmission" verstanden und gestaltet worden (vgl bes.
Mt 9,37-Io,42).
Die Apostelgeschichte berichtet davon, wie diese erste Gemeinde im
ganzen Volke beliebt war (2,47; 4,2I; 5,I3.I6). Das wird Schönmalerei
sein, wahrscheinlich hat die Gemeinde zunächst überhaupt kein grof3es Auf-
sehen erregt. 21 Ein Widerspruch liegt auch darin, daf3 die Apostelgeschichte
selbst davon erzählt, dafl die Apostel verhaftet, gewarnt und gegeif3elt
wurden (4, I - 22; 5,17- 42), und daf3 die Gemeinde später verfolgt wurde
(8,I-3; r2; vgl I Thes 2,I4 f). Nach der Apostelgeschichte hat es
dabei den Anschein, daf3 die Verfolgungen fast nur von den verweltlichten
Kreisen im Volke ausgingen, von den Hohenpriestern, den Sadduzäern, dem
König Agrippa (4,1.5 f; 5,I7; I2,I; vgl 23,I ff), während die Pharisäer
eine hochmütige Gesinnung zeigten (5,34-39) oder gar als Auferstehungs·
gläubige auf der Seite der Christen standen (23, I ff).
Ein anderes Bild ergibt sich aus der synoptischen Überlieferung. Wenn
die Pharisäer in den Erzählungen immer wieder als Gegner Jesu auftreten
und Jesusworte von der Tradition sekundär gegen sie angewendet werden
(vgl Mc 3,6 gegenüber V. 2; Mc 3,22; Mt 12,24 gegenüber Lc II,I6 (aus Q);
Mt I2,33-35 gegenüber Lc 6,43-45; Mt I2,38 gegenüber Lc u,29;
Mt I5,I4 gegenüber Lc 6,39; Mt 2I 145 gegenüber Mc 12,I2; Mt 22,41
gegenüber Mc I2,35 etc)/2 wenn das Verhalten der Jünger den Anlaf3 zu
Konflikten gibt (Mc 2,I8-22; 2 1 23-28; 7,I ff), wenn die Jünger nach dem
Verhalten ihres Meisters gefragt werden (Mc 2,I5-17; Mt 17,24) und wenn
Streitworte Jesu als Warnungen an die Jünger vor den Pharisäern ein·
gekleidet werden (Lc 20,45; Mt 23,I gegenüber Mc I2,38; vgl Mc 8,r4-2I),
so zeigt dies, welche aktuelle Bedeutung das Verhältnis zu den Pharisäern
für die Urgemeinde hatte, und wie die Gläubigen mit jenen zu debattieren
hatten. 23 Daf3 freilich auch die Sadduzäer Gegner der Gemeinde waren,
wird dadurch deutlich, daf3 auch diese in der evangelischen Tradition zum
Teil sekundär hineingekommen sind (Mt 3,7 gegenüber Lc 3,7; Mt I6,I
gegenüber Mc 8,II; Mt I6,6.II f gegenüber Mc 8,I5l. Aktuell war auch
q8
die Frage nach dem Verhältnis zu den Zeloten und zu den Johannes-
Jüngern, davon zeugen die Warnungen vor den falschen Propheten und
Messiassen (Mt 7,15-20 gegenüber Lc 6,43 f; Mc 13,2I-23) und die
Zusammenstellung von Jesusworten zu einer Rede über den Täufer
(Mt 1 I ,2- I 9 Q; vgl die Täufertradition bei den Synoptikern und besonders
bei Johannes; oben S. I38 ff).
Dafu ein Gegensatz nicht nur zu einzelnen Gruppen, sondern auch zu
dem jüdischen Volke empfunden wurde, zeigt die Überlieferung (evt. auch
die Neubildung) von Gerichtsworten Jesu, die einen neuen Ton dadurch
gewannen, dafu sie jetzt zur Rechtfertigung der christlichen Sondergemeinde
in der Polemik gegen das Gesamtvolk dienten (vgl z. B. Mc I2,1-r2;
Lc 4,16-30 etc). In den Erzählungen vom Leiden Jesu wurC:e die Schuld
der Juden insgesamt stark unterstrichen (Mc J4,I.IO f ·43·55-65; I5,6- 14;
bei Lukas und Johannes wird diese Tendenz noch verstärkt. Vgl auch
Act 3 1 13-15; 4,Io f .25-28). Dafu dieser Gegensatz auch von den Juden
empfunden wurde, bezeugen ebenso wie die Verfolgungsgeschichte der
Apostelgeschichte auch die Verfolgungslogia der Evangelien, deren Tradierung
(und Weiterbildung) ihre aktuelle Bedeutung für die von den jüdischen
Behörden verfolgten Christen bestätigen (Mt ro,I6-25 vgl Mc I3 1 9-I3;
Mt 23,34 gegenüber Lc II,49; Mt .'),ro-12 Q etc). 24
Die Messias-Jesus-Gläubigen, die das ganze Volk gewinnen wollten,
sind zu einer Sondergruppe innerhalb des Volkes geworden, etwa in derselben
Weise wie die zelotischen Bewegungen vor dem Jahre 66 (vgl Act 5,36 f)
oder die Johannesjünger. Auch mit den Gemeinschaften der Pharisäer oder
der Essäer ließ sich ihre Gemeinschaft vergleichen. Sie bilden eine oäpscrt~, d. h.
eine Partei, nicht eine Sekte, innerhalb des Volkes (Act 24,5. I4). Der
Gegensatz zwischen der Gemeinde und dem Gesamtvolk erinnert an die
Stellung der Damaskusgemeinde, aber während die Glieder der "Gemeinde
des neuen~ Bundes" mit dem Gesamtvolk feierlich g-ebro<;hen zu haben
scheinen, wurden die Judenchristen erst allmählich und wider ihren Willen
aus der Synagoge hinausgedrängt (vgl Joh 9,22; I2,42; I6,2, so wie
rabbinische Quellen). Zwar wird nirgends deutlich, dafu sie sicn ebenso zu
den Synagogen gehalten haben, wie sie den Tempel besuchten, aber wenn
gesagt wird, dafu sie vor die synagogalen Gerichtshöfe gezogen werden
sollen, so setzt dies doch voraus, dafu sie Glieder der Synagoge geblieben
sind (Mc I 3,9 Par; Lc I 2, II; Mt 23,34). Wenn die Apostelgeschichte nichts
über den Synagogenbesuch der ersten Christen berichtet (nur 6,9f: Stephanus;
9,20: Paulus), so konnte .das allerdings 'damit zusammenhängen, daß, während
die Stellung des Tempels für die Gläubigen unverändert blieb, die eigenen
Zusammenkünfte an die Stelle des Synagogengottesdienstes traten. In diesem
Falle wäre die erste Gemeinde wirklich eine "Sondersynagoge" gewesen.
Der Begriff mag in der Tat die Stellung der Gemeinde einigerinafuen richtig
umschreiben, mit bewtifuter Tendenz wird sie allerdings nicht als Konkurrentin
179
Selbstbewufitsein der Gemeinde; sie wufute sich als die Gemeinde, der
der Wille und die "Weisheit" Gottes durch Jesus offenbart war (Mt 11,25-30;
23,34-39 Q). Die Art der Überlieferung ist die rabbinische, darin zeigt sich
der Zusammenhang mit dem Judentum; Jesus ist aber nicht ein Glied der
Traditionskette, sondern der einzige Lehrer, dessen Worte man überliefert;
darin liegt die Eigenart der "Kirche" gegenüber der durch die Tradition
bestimmten jüdischen Gemeinde. 30
Noch aufschlufureicher ist die Überlieferung der Geschichten über Jesus
in ihrem Zusammenhang mit dem Kerygma (Markus, evt. "Grundschrift";
vgl Act3,13-15; 4,1o; 5.3of; 10,37-41; vgl 1,22j 13,23-3!). Der
Kern dieser Geschichtsüberlieferung, richtiger: des Evangeliums, ist die
Leidensgeschichte, die zuerst als gröfuere Einheit eine gewissermafuen feste
Form erhielt; 31 die Gemeinde wufite sich vor Jlllem durch das Leiden und
den Tod Jesu konstituiert. In der Leidensgeschichte wurde betont, dafi
Jesus als "König der Juden" sterben mufute (Mc 151 2.9.12.18.26; vgl 15,32);
die Gemeinde fühlte sich als die Gemeinde des Messias. Erst durch die
Verbindung mit der Leidensgeschichte wurden die übrigen Einzelgeschichten
zur Einheit verbunden; diese Verknüpfung ist aber nicht erst durch die
schriftliche Redaktion der Evangelien erfolgt, die Überlieferung der Einzel-
geschichten ist vielmehr von Anfang an im Zusammenhang mit dem Kerygma
von dem Messias (Menschensohn) Jesus überliefert worden. 32 Das Selbst-
bewufutsein der Gemeinde hat ihren Grund in dieser Geschichte des Messias;
es wird betont, dafi sie, bzw. einige ihrer Glieder, Zeugen dieser Geschichte
gewesen sind (Act 1,21 f; 5,32; 10,39-42; 13,31; vgl die Rolle der Jünger
in den Evangelien Mc 1,16-2o; 14,33•51 f; 15,21.40 f etc und die Polemik
des Paulus 2 Cor 5,12-16; 11,18.23). Die Jünger sind die Zeugen der
Offenbarungen des Messias in der Zeit seiner Verborgenheit (Mc 5,37 ff;
9,2 ff. - Das "Messiasgeheimnis" ist nicht erst eine literarische Theorie
des Markus !). 33 Wenn dabei die Verständnislosigkeit der Jünger während
der Zeit des Erdenlebens Jesu immer wieder betont wird (besonders bei
Markus, 4 1 13.40f; 6,so-52; 7,18; 8,16-21; 9,9f .32; 14,37-41; vgl
Lc 18,34; Job 2,22; 12,r6; r3 1 7.28f; 1415.8f; r6,r2.qf), so ist das ein
Zeichen dafür, dafu erst die Auferstehung Jesu und die Gabe des heiligen
Geistes den Jüngern die Gewifiheit gab, die Geschichte des Messias miterlebt
zu haben und die Gemeinde des Messias zu sein. 34
Zu den neuen Einsichten, die die Jünger nach der Auferstehung gewannen,
gehört, nach Lukas und Johannes, auch das Verständnis für den Inhalt der
Schrift (Lc 24,25-27.32-44-47; Joh 2,22; r2,r6; 20,9). Die erste Gemeinde
hat die Geschichte des Christus im Lichte der heiligen Schriften gesehen
(r Cor 15,3; Act 2,25-35; 3,13.22-25; 4,11.24-28; 10,43), besonders
die Leidensgeschichte, aber auch die übrige evangelische Tradition ist reich
an alttestamentlichen Motiven. 35 Erst in einer späteren Zeit wird man auch
einen Schriftbeweis "de ecclesia" geführt haben (vgl jedoch Act 2,17-21;
Mc I4,27), 36 aber auch der Schriftbeweis "de Christo" beleuchtet das kirchliche
r8r
B. Theokratische Kirche.
Die weitere Geschichte des Petrus hat ihn dann immer mehr von
Jerusalem weg und zu der heidenchristliehen Kirche hingeführt (Ga! 2,II ff;
r Cor I,I2; 3,22; 9,5; I Clem 5,4). Die Petrusgeschichten der Apostel-
geschichte (bes Act 2; Io,I-II,I8; vgl IS), der erste Petrusbrief(NB! 2o4 ff:
die Kirche als Tempel und heiliges Volk; vgl4,17; s,I-s) und die apo-
kryphe Petrusliteratur, so wie schon die Kephaspartei in Korinth (I Cor
r,r2; 3,22) beweisen, dafl es heidenchristliche Kreise gegeben hat, die in
Petrus, nicht in Paulus ihren Apostel sahen. Auch das mit dem Namen
des Petrus verbundene Verständnis der Kirche als des neuen theokratischen
Gottesvolkes ist nicht auf judenchristlichem, sondern auf heidenchristlichem
Boden weiter entfaltet worden (Apostolische Väter etc; Rom!). Für die
späteren Judenchristen stand nicht Petrus, sondern Jakobus an erster Stelle.
C. Apokalyptische Armenfrömmigkeit.
Wir haben schon angedeutet, dafl es Anzeichen dafür gibt, dafl die
Anschauung, die Gemeinde sei schon jetzt die endzeitliche Ekklesia, im
palästinensischen Urchristentum nicht immer und nicht überall hervortrat.
Die Christen werden in der Apostelgeschichte öfters wie zu Lebzeiten
Jesu nur "Jünger" genannt (6,I f ·7; 9,LIO.I9.25 f .38; vgl das Johannes-
evangelium; Epiph Pan haer XXIX 7). 61 Daneben heiflen sie die "Brüder''
(Act I,IS f; 9,3o; I0,23; II,I.I2.29j I2,17; I Thes 4,Io; s,26 f; Jac I,2.9j
2,I.I4 f etc). Brüder sind für die Judenchristen auch noch die jüdischen
Volksgenossen (Act 2,29; 3,17; 7,2 etc; Rom 9,3); wenn die Glaubens-
genossen in besonderem Sinne so genannt werden, ist dies auch ein Aus-
druck für die Überzeugung, dafl sie das "wahre Israel" sind; 62 es fehlt
aber diesem Wort die Prägnanz und die theokratische Note, die dem Worte
sxx.A:Yjcr(oc anhaftet. Eine auf die Urgemeinde zurückgehende Bezeichnung
der Christen ist auch o[ ocytot (Act 9,I3-32-4Ij 26,Io; I Cor I,2; 6,I etc).
Dieses Wort ist ein Synonym zu ~ sxxA"'Ijcr!oc, denn "Heilige" sind die
Christen als Glieder der jetzt erschienenen Gemeinde der Enc!zeit; der
Zusammenhang mit dem "theokratischen Kirchenbegriff" zeigt sich auch
darin, dafl ot &ywt ohne nähere Bestimmung die Muttergemeinde in Jeru-
salem bezeichnen kann (I Cor r6,I; 2 Cor 8,4; 9,1.I2j Rom I5,25.26.3I). 63
Die mit dem Namen &ytot verbundenen Assoziationen sind aber ursprünglich
weniger theokratischer als apokalyptischer Art (vgl oben S. 85 ff; bei
Paulus vgl 2 Thes r,ro; I Thes 3,13 (evt =die Engel); I Cor 6,2; Col I,26).
Als die "Heiligen" konnten die Christen auch als diejenigen bezeichnet
werden, die jetzt in den eschatologischen Drangsalen lebten, und die dazu
bestimmt waren, nach dem Kommen des Menschensohnes Glieder des end-
zeitlichen Gottesvolkes zu werden; die johanneische Apokalypse zeugt von
einer urchristlichen Verwendung dieser Bezeichnung, die von der "heno-
chitischen" gar nicht so weit abwich, wie es nach dem paulinischen Sprach-
gebrauch den Anschein haben konnte (Apoc 5,8; 8,3-4; 13,7-10; 1g,8;
2o,g). 64 Ein Synonym der Bezeichnung o! &ytot ist o! sx"Ae:x't"o[ (Co! 3,12;
Rom 8,33; vgl oben S. 85 f). 65 Diesen Namen finden wir vor allem in
der "synoptischen Apokalypse" (Mc 13,20.22.27 =Mt 24,22.24.31; vgl Apoc
!7·14; Lc r8,7); die "Auserwählten" bilden nicht schon jetzt den /fähäl,
aber sie sind prädestiniert, Glieder der Gemeinde des Menschensohnes bei
seinem Kommen zu werden: "Er wird die Engel senden und seine Aus-
erwählten sammeln von den vier Winden her vom Rande der Erde bis
zum Rande des Himmels" (Mc 13,27). 66
Mit der Bezeichnung der Christen als "Heilige" und "Auserwählte"
hängt auch der Name "die Armen" zusammen; die Kirchenväter wissen,
daß sich die Judenchristen "'tJbjon[m" genannt haben (Origenes, Cels II r;
Epiph Pan haer XXX 17,2; Irenäus, Adv haer I 26,2 etc). Auch dieser
Name ist mit dem theokratischen Kirchenbegriff verknüpft worden, die
"Heiligen" in Jerusalem sind die "Armen" schlechthin (Gal 2,ro; vgl Rom
15,26).61 Seinen Ursprung hat er aber in der jüdischen "Anawim"-Frömmigkeit
(vgl Lc 6,20 und oben S. 82 f .133). Wir dürfen demnach schließen, daß
es in Palästina Christen gegeben hat, die sich einfach nach Art der "Heno-
chiten" als die armen Frommen fühlten, die noch auf die Erlösung hofften.
Als solche waren sie keine neue "Kirche", sondern einfach eine Sonder-
gruppe innerhalb des jüdischen Volkes. 68 Auf die Auffassung der Christen
als einer jüdischen Sekte weist auch der Name "Nazoräer" hin, der ihnen
vielleicht von den Juden beigelegt, aber auch von den Judenchristen selbst
verwendet wurde (Act 24,5; p Sehern esre 12; Tertullian Adv Mare IV 8;
Epiph Pan haer XXIX 1,3; Hieronymus, De vir in! 2.3; Comm in Jes 5,r8;
49·7; 52,5; MPL XXIV Sp 87.484-5!7 etc; vgl auch "Galiläet" Act 1,1 r;
2,7; Mc 14,70; Act Joh ed Bonnet, 1898, S. 152,25 (cod V)).
Nach dieser "ebjonitischen" Anschauung bedeutet also die Auferstehung
Jesu noch nicht, daß die Endzeit schon angebrochen und die Ekklesia schon
da ist. Diese "Armen" sind vielmehr bei dem Selbstbewußtsein, das die
jünger schon zu den Lebzeiten Jesu h<1tten, stehen geblieben, oder sind
gar zu der Haltung der jüdischen Apokalyptiker zurückgekehrt. Nicht der
Glaube an Jesu Heilstod und seine Inthronisation als messianischer Herr-
scher, sondern die Hoffnung auf sein zukünftiges Kommen als "Menschen-
sohn" in himmlischer Herrlichkeit konstituiert ihre Gemeinde. 69 Mit ihrem
"Gemeindebegriff" hängt ferner der Typus der Abendmahlsfeier zusammen,
der nicht durch den Gedanken an den Tod Jesu und den neuen Bund,
sondern durch den eschatologischen Ausblick bestimmt war, und der nicht
an das letzte Mahl mit Jesus, sondern an die gemeinsamen Mahlzeiten in
Galiläa anknüpfte (Mc 6,35-44; 8,1-ro; vgl Lc 22,15-19 a; Did g; ro;
Act 2,42.46). 70 Vielleicht müssen wir auch mit einer abweichenden Tauf-
praxis rechnen, denn die mit der Geistesvermittlung verbundene Taufe im
Namen Jesu scheint nicht von Anfang an von allen Jüngern geübt worden
188
zu sein (vgl Act 18,25; Ig,I-6). Vielleich hat man getauft, aber in der
Taufe nur eine Bubtaufe gesehen, wie es die Johannestaufe war, nicht
aber die Aufnahme in die messianisch-pneumatische Ekklesia. 71
Die hervorragendsten Vertreter dieses apokalyptischen Ebjonitismus
will LoHMEYER in den "Brüdern des Herrn" mit Jakobus an der Spitze
sehen. Dafür kann er u. a. anführen, daß nach dem Bericht des Hegesipp
(Euseb Hist eccl II 23,13) Jakobus die Frage der Juden nach der "Tür
Jesu" mit einem Hinweis auf das Kommen des Menschensohnes auf den
Wolken des Himmels beantwortet (vgl ferner die Antwort der Enkel
des Herrnbruders Judas über das Kommen Christi als Richter der Le-
bendigen und Toten; Euseb Hist eccl III 20,4 nach Hegesipp). 72 Bei der
spärlichen Verwendung des Begriffes "Menschensohn" außerhalb der synop·
tischen Überlieferung ist dies in der Tat bemerkenswert. Es hat Juden-
christen gegeben, die den Jakobus, nicht Petrus als den ersten Mann der
Kirche angesehen haben. 1 Cor 15,7 bildet, wie man mit Recht vermutet
hat, ursprünglich eine Parallele, nicht eine Fortsetzung zu der Formel 15,5; 73
es gab also eine Auferstehungstradition, nach der die Erscheinung Jesu
vor Jakobus die wichtigste Einzelerscheinung war. Eine spätere Überliefe-
rung von dieser Erscheinung ist in einem Fragment des Hebräerevangeliums
erhalten (bei Hier. De vir in! 2), wonach der Auferstandene spricht: "Mein
Bruder, iß dein Brot, d~nn der Menschensohn ist von den Schlafenden
auferstanden." Hier wird also der Auferstehungsgedanke dem Menschen-
sohngedanken - und dadurch dem Parusiegedanken - untergeordnet,
was durchaus zu dem Bild von dem "apokalyptischen Ebjonitismus"
stimmt.
Die Richtigkeit dieser Vermutungen wird dadurch gestützt, daß, wie
mit Petrus das Bild der Kirche als ein neuer Tempel verbunden war, mit
Jakobus eine synagogale Organisation zusammengehört. Neben ihm stehen
die Presbyter (Act u,3o; 151 2.4.22f; 16,4; 2I,I8), die nach der Art des
Ältestenrates in den Synagogen der Gemeinde vorstehen. 74 Von hier aus
erscheint es als bedeutungsvoll, daß der von eschatologisch-ebjonitischem
Pathos erfüllte Jakobusbrief von der Versammlung der Christen als auvcxywy~
öp.wv (Jac 2,2) und von den "Ältesten" spricht (5,14; hier allerdings
1t"ptcrßu-.tpo1 -.~~ txxA:Ija(IX~). In einer späteren Zeit berichtet Epiphanius,
daß die Ebjonäer ihre Gemeinde cruvcxywy~ und nicht EltltA"Ijcr(cx nennen, und
daß diese von Presbytern und Synagogenvorstehern geleitet wird (Pan haer
XXX 18,2). 75 Dafu Jakobus als Bruder des Herrn, und neben und nach ihm
die übrigen "Desposynoi" (vgl Act 1,14; 12,17; 21,18; Euseb Hist eccl I
7,II.14 (Julius Africanus); II 23; IV 22,4; III 32; III 19 (Hegesipp))/6 die
ersten Rangstellen innehatten, entspricht der großen Bedeutung der Ver-
·wandtschaft im Judentum; wir haben (oben S. 57) ähnliches schon in anderen
jüdischen Sondergruppen beobachtet. War für die Ekklesia des Petrus die
Gabe des heiligen Geistes entscheidend, so für die Sondersynagoge des
Jakobus die leibliche Verwandtschaft des Leiters mit Jesus. 77
Auch in der Auffassung des Apostolates scheinen Unterschiede bestanden
zu haben. Neben Petrus stehen die Zwölf, die schon zu den Lebzeiten
Jesu als seine "Apostel" ausgesandt worden waren (Mc 6,7 ff .30; Mt ro,2 ff) / 8
hier liegt die Wurzel der späteren kirchlichen Vorstellung von den Zwölf als
den Aposteln, die in der Apostelgeschichte die herrschende ist {Act 1,2.I3.26;
2,37.42 f; 6,2-6 etc; Act IS gehören wohl die Apostel mit Petrus
zusammen, die Presbyter mit Jakobus). Um Jakobus dagegen schließt sich
ein weiterer Kreis der "Apostel", wobei es nicht ganz klar ist, ob auch
Jakobus selbst als Apostel bezeichnet worden ist {I Cor IS 17; vgl 9,5;
Ga! I,I7.I9). 79 Zu diesem Kreise müssen diejenigen "Apostel" gehört haben,
die in Karinth als Gegner des Paulus auftraten {2 Cor I I ,5; 12,1 J: ot \mo:pA(ocv
.XmScrn:Aet; I I, 13: tjlo:uöocxocr"t"oAet), diese haben für sich eine Autorität in An·
spruch genommen, die größer als di~ des Paulus war, weil sie "Apostel" der
Urgemeinde, bzw des Herrnbruders Jakobus waren. Dieselbe apostolische
Würde haben wohl schon die Judaisten in Antiochia {Gal 2,12: "t"tvo:~ .Xxo
'locxwßou, vgl 2,4, wo XOC"t"OCO"XOmjcroct vielleicht eine Verdrehung von smcrxomjcroct
ist) 80 und in Galatia (vgl Ga! I,7 f; s,Io: die behauptete Autorität der Gegner,
und I, rr ff: die Antwort des Paulus) für sich beansprucht. Dieser Apostel-
begriff steht dem jüdischen Begriff sälta/:1 viel näher als derjenige des
Zwölfapostolats, weil hier die Aussendung und Bevollmächtigung auf eine
menschliche Autorität ( Jakobus) zurückgeht, oder jedenfalls durch sie vermittelt
ist. Die verschiedenen Auffassungen des Apostolats bestätigen also unsere
Vermutung von einem Unterschied zwischen dem "Kirchenbegriff" der
Petrusleute und dem der Jakobusleute.
Für Jakobus und seine Richtung ist charakteristisch, daß sie Glieder
der jüdischen Gemeinde bleiben. Als strenger Beobachter des Gesetzes
heißt Jakobus "der Gerechte" {Hegesipp bei Euseb Hist eccl II 23,4). Die
Bedeutung des Tempels ist bei den auf das Kommen des Menschensohnes
hoffenden "Armen" nicht durch die Auffassung der christlichen Gemeinde
als eines neuen Tempels gefährdet; freilich scheint ihnen weniger der
Opferkultus als das Gebet im Tempel und das Naziräat wichtig gewesen
zu sein (vgl Act 21,20 ff; vgl Hegesipp bei Euseb Hist eccl li 23,5 ff; Irenäus,
Adv haer I 26,2). 81 Auch diese Richtung ist an Jerusalem gebunden, dort
leben Jakobus und die Verwandten des Herrn (Act r,14; 2I,r8 ff etc;
Hegesipp bei Euseb Hist eccl II 23; IV 22,4 etc); der Anspruch LoHMEYERS,
die Brüder des Herrn mit "Galiläa" zu verbinden, muß deshalb bezweifelt
werden. Ein Unterschied findet sich vielleicht nur in der Begründung für
die Heiligkeit Jerusalems: für die Petrusleute ist Jerusalem die Stadt der
Ekklesia des Messias Jesus, für die Jakobusleute bleibt sie einfach die Stadt
des Tempels und das Zentrum Israels. Ob man in diesen Kreis<::n daneben
Galiläa als das durch das irdische Wirken und das eschatologische Kommen
des Men,schensohnes geheiligte Land der eschatologischen Erfüllung gesehen
hat, braucht in unserem Zusammenhang nicht entschieden zu werden; für
Jakobus selbst läf!t sich diese Auffassung jedenfalls nicht beweisen. 82
190
Während seines ganzen Lebens hat Jakobus für die Bekehrung seines
Volkes gebetet und gearbeitet (Ga! 2,9; Act 15,21; 2I,20 ff; Hegesipp bei
Euseb Hist eccl Il 23,6 f). Über seine Stellung zu den Heidenchristen gibt
uns Ga! 2 zuverlässige Nachrichten. 83 Danach hat er die Sendung des Paulus
(und Barnabas) zu den Heiden anerkannt und von den Heidenchristen nicht
gefordert, daß sie sich beschneidP.n lassen und gesetzestreue Israeliten werden
sollten (Ga! 2,3-Io). Andererseits haben seine Vertreter die Tischgemein-
schaft zwischen Judenchristen und Heidenchristen nicht dulden können
(Ga! 2,II ff). Von dem Standpunkt des Jakobus aus gesehen, war es also
wichtiger, daß die gesetzlich-kultische Reinheit des Goftesvolkes auch von
den Jüngern Jesu gewahrt wurde, als daß die Einheit der Kirche zustande
kam. Den inneren Zusammenhang dieser scheinbar widerspruchsvollen
Stellungnahme können wir von der apokalyptischen Menschensohnhoffnung
aus verstehen. Nach dem Worte Jesu würden Heiden in das Reich Gottes
eingehen (Mt 8, I I Q etc), und schon nach jüdischer Erwartung würde der
Menschensohn ein "Licht der Heiden" sein (I Hen 4-8,4- vgl oben S. 87,
ISO); die an Jesus gläubig gewordenen Heiden brauchten also nicht erst
Juden zu werden, um der eschatologischen Gemeinde des Menschensohnes
angehören zu dürfen; das änderte aber nichts daran, daß in der Gegenwart
Israel das Volk Gottes war, von dem die Tora beobachtet werden müßte.
Ist &es der Standpunkt des Jakobus gewesen, und das hat nach unseren
vorhergehenden Ausführungen alle Wahrscheinlichkeit für sich, so verträgt
sich damit aufs beste das sogenannte "Aposteldekret", das jedenfalls auf
Jakobus zurückgeht (Act IS,I9 ff; 2I,25), ob es nun auf dem "Apostel-
konvent" oder später erlassen worden ist. Der Sinn dieses Dekretes ist
nicht, daß die Heidenchristen eine Art jüdischer Halbproselyten werden
sollten; eingeschärft werden vielmehr diejenigen Gebote, die nach jüdischer
Ans.chauung allen Menschen als. Nachkommen Noahs auferlegt waren. 84 Es
ist leicht verständlich, daß nach der Meinung des Jakobus· die Heidenchristen
diese Gebote erfüllen mußten, um als "Brüder aus den Heideh" anerkannt
werden zu können. 85
Zweifelhaft ist es dagegen natürlich, ob die dem Jakobus in Act IS
beigelegte Rede die Anschauungen des Herrnbruders zum Ausdruck bringt.
Seine verba ipsissima enthält sie jedenfalls nicht; das Amos-Zitat ist im
Anschluß an die Septuaginta gegeben, der Urtext ließe sich in diesem
. Sinne nicht verwenden (Act I5 1 I6 f vgl Am 9,II f). Auch hier steht übrigens
der Wiederaufbau der "gefallenen Hütte Davids" an erster Stelle, die
Bekehrung der Heiden kommt in zweiter Reihe hinzu. Bemerkenswert ist
aber vor allem V. q: "Gott hat darauf gesehen, aus den Heiden ein Volk
für seinen Namen zu gewinnen." Die hier ausgesprochene Ansicht deckt
sich nicht mit der Anschauung, daß die Kirche das neue Volk, das "Israel
Gottes" sei. Vielmehr wird vorausgesetzt, daß Israel wie vorher das Volk
Gottes bleibt, dazu hat sich aber Gott noch ein anderes Volk, ein Volk
aus den Heiden genommen. 86 Aus diesen beiden 11 Völkern" soll dann die
endzeitliche Heilsgemeinde gesammelt werden, dürfen wir supplieren; diese
eigenartige Stelle (eine Analogie ist höchstens Act I8,Io) stimmt also gut zu der
Anschauung des Jakobus, wie wir sie vermutungsweise rekonstruiert haben.
Eine weitere Bestätigung erhält diese Rekonstruktion durch die Offen-
barung des Johannes. Der Zusammenhang dieser Schrift mit palästinensischer
apokalyptischer Tradition kann nicht angezweifelt werden, die Einschärfung
der Bestimmungen des Aposteldekrets ist besonders bemerkenswert (2,14.20).
Die Erfüllung der Verheifuung gehört für den Seher noch der Zukunft an:
"Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. . . . Das Zelt Gottes
ist bei den Menschen ... , und sie werden seine Völker sein, und Gott selbst
wird bei ihnen sein" (2I,I-3). Die apokalyptische Anschauung von dem
zukünftigen eschatologischen Charakter des neuen Gottesvolkes ist hier die-
selbe wie in der palästinensisch-ebjonitischen Apokalyptik; die eigentümliche
Wendung A.ocol oc\.vrou erklärt sich dadurch, dafu zu dem A.oco~ -&eou, Israel,
die Gläubigen aus allen Völkern hinzugekommen sind. Diese Anschauung
geht aus Kap 7 noch deutlicher hervor: zu den I44 ooo Versiegelten aus
den Zwölf Stämmen Israels gesellt sich die unzählbare Schar aus ·.llen
Völkern und Stämmen; es sind diejenigen, die aus der grofuen Bedrängnis
gekommen sind und ihre Kleider in dem Blute des Lammes weifu gewaschen
haben! Hier wird also deutlich ausgesprochen, dafu nur die gläubigen Juden
das "wahre Israel" bilden, die Heidenchristen aber gleichfalls zu der end-
zeitlichen Gemeinde gehören werden. 87
Gegen die Auffassung des Jakobus als charakteristischen Vertreters der
apokalyptischen Anawimfrömmigkeit lassen sich freilich Einwände machen.
Ist nicht gerade er einer der "Säulen" (Ga! 2,9), er der Vertreter der
theokratisch-kirchlichen Anschauung? Jakobus ist der Empfänger der Kollekte
(vgl Act 2I,I8 ff; Rom rs,3o-32); er überwacht von-Jerusalem aus die
christlichen Gemeinden der "Diaspora";-, spätere Judenchristen sehen in ihm
und seinen Nachfolgern monarchische Bischöfe der Ekklesia (Euseb Hist eccl
IV s, Jerusalemer Bischofsliste; IV 22,4, Hegesipp). Die Hochschätzung der
Verwandten Jesu mufu mit der Vorstellung von dem davidischen Messias,
nicht mit der Erwartung des apokalyptischen Menschensohnes zusammen-
hängen {vgl Euseb Hist eccl III 32,3; III I9 f: die Verwandten Jesu als
Davididen; Justin Dial48; Irenäus Adv haer I 26,2; lii 2I,Ij IV 33,4;
V I ,3; Hippolyt, Elenchos VII 34, I; X 22 usw: Jesus ist nach ebjonitisch-
nazoräischer Ansicht Sohn Josephs und dadurch Davids. Vgl auch Euseb
Hist eccl I 7,I4, Julius Africanus: Interesse der "Desposynoi" an der Ahnen-
tafel Jesu).
In der Tat kann nicht von zwei Urgemej.nden und auch nicht von zwei
völlig getrennten Kirchenbegriffen die Rede sein. Petrus und Jakobus wirken
in derselben Gemeinde in Jerusalem. Die Begriffe "Menschensohn" und
"Messias", die Vorstellungen vonder "Kirche Gottes" und von den "Heiligen",
"Erwählten" und "Armen" sind sowohl in den jüdischen wie auch in den
christlichen Quellen mit einander verbunden; sie sind es sicher auch in
der Urgemeinde und bei den führenden Männern dieser Gemeinde gewesen. 88
Der theokratische und der apokalyptische "Gemeindebegriff" sind nur
spezialisierte Formen des gemeinsamen Selbstbewußtseins der Urgemeinde.
Die betonte Unterscheidung beider "Gemeindebegriffe" muß erst der
systematisierende Historiker machen; das Recht zu dieser Unterscheidung
ergibt sich aus der späteren Differenzierung, die Linien führen von der
Urgemeinde einerseits zu der katholischen Kirche, andererseits zu den
jüdischen Sekten der Nazaräer und Ebjonäer. Daß Petrus die theokratisch-
kirchliche, Jakobus die apokalyptisch-ebjonitische Anschauung in abstrakter
Reinheit vertreten haben, davon kann keine Rede sein; das Recht den Namen
des Petrus vornehmlich mit jener, den des Jakobus mit dieser Anschauung
zu verbinden, meinen wir aber bewiesen zu haben.
Was besonders die Stellung des Jakobus betrifft, so müssen wir auch
damit rechnen, daß die späteren Judenchristen und auch schon seine eigenen
Zeitgenossen ihm eine Würde als Bruder des Messias zugeschrieben haben,
die er nicht selbst in derselben Weise für sich in Anspruch nahm. Jedenfalls
ist seine streng gesetzliche Haltung von den "Judaisten" in einer Weise
ausgenützt worden, die seiner eigenen Intention und seinem Abkommen
mit Paulus nicht entsprach. Nach der Meinung der Judaisten müßten die
Heidenchristen schon in der Gegenwart Glieder der Ekklesia, des wahren
Gottesvolkes werden (so auch Paulus, und - wenn auch unklar - Petrus);
Glieder des Gottesvolkes konnten sie aber nur werden, wenn sie durch die
Beschneidung israelitische Proselyten wurden (so auch Jakobus). Was die
Gesetzlichkeit d.er Judaisten von derjenigen des Jakobus unterscheidet, ist
cjas Fehlen einer über die Grenzen des Gesetzes und des Gottesvolkes hinaus-
gehenden apokalyptischen Hoffnung. Die "kirchliche" wie die "ebjonitische" ·
Anschauung hatten beide als Hintergrund die apokalyptische Erwartung;
der Unterschied war, daß nach jener Anschauung die eschatologische
Gemeinde schon da war, nach dieser erst noch der Zukunft angehörte.
Die judaistische Ansehauung dagegen ist dem gesetzlich-normativen "Israel-
Begriff" entsprungen (vgl Act I 5,5: "einige die zur Partei der Pharisäer
gehörten und gläubig geworden waren"); Jesus war nur an Israel gesandt
(Mt 15,24), seine Jünger ebenso (Mt Io,s f .23); Jesus hat als Messias das
Gesetz erfüllt und in seiner Gemeinde muß das Gesetz erfüllt werden
(Mt 5,17-I9; vgl Gal 2,II ff etc; Hippolyt Elenchos VII 34; X 22).
In dem Gemeindebegriff d~s palästinensischen Urchristentums sind also
viele Spannungen und eine große Mannigfaltigkeit vorhanden. Diese
Spannungen leben in dem späteren Judenchristentum weiter. Viele Juden-
christen wurden wie Petrus zu der heidenchristliehen Kirche geführt. Andere
hielten wie Jakobus selbst streng das Gesetz, ohne von den Heidenchristen
dasselbe zu verlangen, während wieder andere -jedenfalls in der Theorie -
immer noch den judaistischen Standpunkt vertraten: auch die Heidenchristen
müßten das Gesetz halten (vgl Justin, Dia! 46 f). Einige blieben soweit wie
möglich mit dem normativen Judentum verbunden, nur das Bekenntnis zu
I93
D. Die "Hellenisten".
Es ist seit langem anerkannt, dafu die Darstellung der Apostelgeschichte
den Streit zwischen den "Hellenisten" und den "Hebräern" verharmlost,
wenn das Übersehen der hellenistischen Witwen als einziger Grund dafür
genannt wird (Act 6,1 ff). 90 Die Hellenisten bilden eine besondere Gruppe
innerhalb der Urgemeinde, an ihrer Spitze stehen die "Sieben", die nicht
nur "Diakonen", sondern auch "Evangelisten" sind (vgl 6,8 ff: Stephanus;
8,5 ff Philippus). Das Kollegium der "Sieben" ist also eine Parallele zu
dem Kollegium der "Zwölf" mit Petrus und dem Kollegium der "Presbyter"
mit Jakobus an der Spitze. Dabei ist natürlich möglich und sogar wahr-
scheinlich, dafu dieses Kollegium im Einverständnis mit den Zwölf gebildet
worden ist (6,2-6). Unsere Kenntnis von dieser Gruppe ist gering, denn
wir verdanken sie nur dem Bericht der Apostelgeschichte. Es ist aber
wahrscheinlich, dafu Lukas hier seine Quelle (bzw seine Quellen) ziemlich
genau wiedergibt, und dafu diese Quelle, auch wenn sie aus Antiochia und nicht
aus Jerusalem stammt, doch eine gute Tradition enthält. 91 Die Gemeinde in
Antiochia ist von einigen dieser "Hellenisten" gegründet worden (Act I I, I 9 ff);
diese haben Stephanus als den ersten Führer ihres Kreises und den ersten
Märtyrer verehrt, und die Erinnerung an ihn bewahrt. Auch die Rede des
Stephanus, von der es zweifelhaft bleibt, ob sie von Stephanus selbst gehalten
worden ist, und auch ob sie ein ursprünglicher Bestandteil der Märtyrer·
geschichte ist (6,8·- r 5; 7,55 -6o)/2 wird nicht eine Komposition des Lukas
sein, sondern aus denselben Kreisen stammen. Wenn wir auch nicht die
eigenen Worte des Stephanus haben, so wird jedoch Act 6-7 ein zuverlässiges
Bild von den Anschauungen seines Kreises geben. 93
Der Name "Hellenisten" sagt uns, dafu diese Leute sich durch ihre
griechische Sprache, evt. auch durch griechische Lebensweise von den übrigen
Christen in Jerusalem unterscheiden. Die "Sieben" tragen alle griechische
Namen (6,s); einer ist ein Proselyt aus Antiochia, von den anderen hören
wir nicht, ob sie Juden oder Griechen sind. Dafu schon so früh in Jerusalem
ein Heidenchristentum entstanden sein sollte, widerspricht aber nicht nur
I94
dem Geschichtsbild cier Apostelgeschichte, sondern auch dem sich aus den
paulinischen Briefen ergebenden. 94 Auch wird in dem Bericht über Stephanus
deutlich, daß er als ein das Gesetz lästernder Jude vor dem Synedrium
angeklagt ist, und die Rede des Stephanus setzt sich von innerjüdischem
Standpunkt aus mit den Juden auseinander (vgl bes. 71 2.I2.I5-39·44 f). Die
"Hellenisten" sind also, wie auch gewöhnlich angenommen wird, Glieder
der hellenistischen Diasporasynagogen, von denen sich viele in Jerusalem
befanden. Stephanus diskutiert mit Leuten aus solchen Synagogen der
Diasporajuden in Jerusalem (6,9 f), eben weil er selbst zu ihnen gehört.
Bemerkenswert ist auch, daß das Geschichtsbild in Act 7 sich mehrfach mit
hellenistisch-jüdischer Tradition berührt (7,2 vgl Philo Abr 62.67. 7 r f; 7 >4
vgl Migr Abr I?7; 7,22 vgl Vit Mos I 21 ffetc; 7,38.53 vgl LXX Dt 33,2;
Jos Ant XV 136; Hehr 2,2).
Neben den Traditionen der hellenistischen Synagoge finden wir bei
den Hellenisten auch Spuren der apokalyptischen Erwartung (vgl 6,q: die
bevorstehende Umwälzung; 7,56: der Menschensohn vgl I Hen 7,52; der
Gerechte vgl I Hen 38,2 f) und der jüdischen Märtyrertheologie (vgl 7,52
und die Anlehnung an die Formen der Märtyrerlegenden in 6,8- I 5;
7,5s-8,2). 95 Von größter Bedeutung ist für sie das AT, und zwar wird
vor allem an die im späteren Judentum wenig lebendige prophetische Linie
desselben angeknüpft; die Kritik gegen das Volk und gegen die Bindung
des Volkes an Land, Tempel und Opferkultus (vgl oben S. 24, 31} wird in
der Stephanusrede aufgenommen (7,42-43 vgl Jer 7,I8 LXX; Am 5,25-27;
~ 7,49 vgl Jes 66,I f;- 7,5I vgl Jer 9,25; Jes 63,Io; Ex 33,3; Num 27,I4;
- 7,39-4I vgl Ex 32 etc).
Die Haltung der" Hellenisten" ist aber nicht nur durch die alttestamentlich-
jüdische Tradition bestimmt, sondern vor allem dadurch, daß sie Jünger
Jesu geworden sind (6,r.7). Jesus ist für sie der himmlische Menschensohn
(7,55 f; vgl der "Herr" 7,59 f); er ist der leidende Gerechte, der letzte
unter den verfolgten Propheten (7,52 vgl 37) und der prototypische Märtyrer
(vgl die Berührungen des Stephanusmartyriums mit der Leidensgeschichte
Jesu: 96 Act 6,I2 vgl Lc 22,66; - 6,I3-I5 vgl Mc I4,s6-58; - ?.ss f
vgl Lc 22,69;- 7,59 vgl Lc 23,46;- 7,6o vgl Lc 23,34 etc). 97 Die freiere,
aufgeklärte Haltung der hellenistischen Synagoge (oben S. 92-118 etc) hat
diesen "Hellenisten" ein Vorverständnis für die kritische Einstellung Jesu gegen-
über der Tempel- und Gesetzesfrömmigkeit gegeben, die den übrigen Jüngern
fehlte. Während die theokratische, die apokalyptische und die gesetzliche
Richtung in der tJrgemeinde, jede in ihrer Weise, gegenüber Jesus eine
Rückkehr in jüdische Anschauungen bedeuteten, brachte die "hellenistische"
Bewegung eine weitere Entfernung von dem normativen Judentum mit
sich. Die schon vordem freiere Einstellung dieser "Hellenisten" wurde durch
den Eindruck von dem Worte und dem Lebensausgang Jesu radikal kritisch;
Stephanus nimmt das Gerichtswort Jesu gegen den Tempel wieder aut
(Act 6, I4 vgl Mc q,sB Par; I 3,2 Par). Deshalb ist auch nur der hellenistische
Teil der Gemeinde verfolgt worden, was man mit Recht aus Act 8,1
(vgl 8,4-; II,I9) geschlossen hat. Wie weit die Hellenisten in ihrer Kritik
gegangen sind, wird nicht ganz klar. Die Apostelgeschichte spricht von
"falschen Zeugen", aber es ist nicht sicher, ob damit gesagt werden soll,
daß ihre Aussagen mit dem Tatbestand nicht übereinstimmen, oder daß sie
für die falsche Sache eintreten und dem wahren "Zeugen" Gottes (Act 22,20)
entgegenstehen, und dadurch die Aussagen des Stephanus verdrehen. 98 Nach
6, r 5 hat Stephanus erst für die Zukunft erwartet, daß Jesus (bei seinem
Kommen?) den Tempel niederreißen und die mosaischen Sitten ändern würde.
In der Verteidigungs-, richtiger Anklagerede Act 7 wird diese Kritik
entfaltet. Es sind drei Hauptmotive zu unterscheiden: r. Die Offenbarung
Gottes ist an keinen einzelnen Ort gebunden, Gott hat zu den Vätern in
fremden Ländern geredet und ist dort mit ihnen gewesen (7,2 ff ·9 ff . I 7 ff.
29ff .36ff ·4-4-l; er wohnt nicht in dem, "was mit Händen gemacht" ist (7,4-8 f).
Die Väter haben als Wanderer und Paröken gelebt (7,2 ff .5.6.9 f .12 fl' .29 ff.
36.4-4-; vgl 4-3). 2. Mose der "Herrscher und Erlöser" ist ein Typus und Zeuge
Christi (7,25·35·36·37) und die mosaische Zeit eine Parallele der Zeit Jesu
{?,17.25 ff ·35 ff .52 f). 3· Die Juden haben immer dem heiligen Geist und
den Boten Gottes widerstrebt (7 1 51-53, vgl 9: die Brüder Josephs; 25-29
·35·39-4-3: die Zeitgenossen des Mose). Das dritte Motiv ist zugleich die
Klammer, welche die beiden ersten miteinander verbindet; die Mosezeit
entspricht dadurch der Christuszeit, daß in beiden Fällen das Volk sich
gegen den von Gott gesandten Propheten wendet, während doch der von
dem Volke Verworfene der Erlöser ist (7,25-29·35·39-4-3 vgl 9 ff: Joseph
und seine Brüder; 52: die Propheten); die Juden wollen ihre Wanderschaft
nicht bejahen, sondern nach Ägypten zurückkehren (7,39 ff); statt des
Wanderheiligtums der Stiftshütte, das nach dem himmlischen Vorbild gemacht
war, baut Salomo einen Tempel als ortsgebundene Wohnung Gottes (V. 4-7).
Das ist die eigentliche Sünde der Israeliten.
Es bleiben allerdings einige Unklarheiten. Wenn gesagt wird (7,53),
daß die Israeliten das Gesetz nicht gehalten haben, soll das soviel heißen,
wie daß der Tempelbau und der Opferkultus ein Mißverständnis und eine
Übertretung des Gesetzes gewesen sind? Jedenfalls (vgl V. 4-2) scheint
vorausgesetzt zu werden, daß in der Wüste (und überhaupt in der Stiftshütte)
keine Opfer an JHWH dargebracht wurden, geopfert wurde vielmehr nur
dem goldenen Kalbe (V. 4-0 f) und dem Heer des Himmels (V. 4-2 f\, das
letztere eine strafende Verordnung Gottes (4-2). Daß Stephanus (bzw die
Hellenisten) den Tempel und den Opferkultus als Götzendienst angesehen
haben sollten, wäre aber doch eine zu kühne Annahme (vgl dagegen 7,7);
man könnte eher an eine Konzession an die Hartherzigkeit des Volkes
denken, aber ausgesprochen wird auch das nicht.
Die Stephanusrede ist eine Strafrede gegen das Gottesvolk; soll daraus
die Folgerung gezogen werden, daß Gott jetzt das jüdische Volk verworfen
und statt dessen die Kirche Jesu zu seinem neuen Volke gernacht hat? Wenn
dies der Sinn der Rede wäre, hätten wir also zu konstatieren, dafu der
"Kirchenbegriff" des Petruskreises von den Hellenisten weiter entwickelt
worden war. Aber diese Folgerung darfnicht gezogen werden. Das Gegenstück
zu der "Ekklesia" in der Wüste (7,38) ist nicht die neue Ekklesia, sondern
das jüdische Volk zur Zeit Jesu. Nicht die Kirche wird dem Tempel
entgegengestellt, als ein Haus, das nicht mit Händen gebaut ist, sondern
vielmehr das himmlische Heiligtum, der "Typos" den Mose auf dem Berge
sah {7,44), der "Ort der Ruhe Gottes" (49), der Thron, wo Jesus zur Rechten
Gottes steht {49·55 f). Von hier aus verstehen wir die volle Bedeutung des
Fremdseins der Väter; das Volk Gottes befindet sich wesenhaft aufWanderung
{vgl oben S. 19, 93, 110 f), und das Ziel dieser \iVanderung ist kein
irdischer Ort, sondern das himmlische Heiligtum. "Das wandernde Gottesvolk"
ist das Thema der Stephanusrede wie des Hebräerbriefes; 99 nur ist im
Hebräerbrief von dem "neuen Volke" die Rede; mit unserem Kapitel berührt
sich am nächsten Hebr 11,1-12,2. 100 Jerusalem sollte nur eine Station auf
dem Wege sein, auf dem Gott sein Volk führt {7.?·17·45). Das "Zelt des
Zeugnisses" war ein Abbild des himmlischen Typos, das dieser Wanderschaft
gemäfu war (V. 44 f) und auch David wollte nur ein Zelt (bzw eine Wohnung)
für das Haus Jakobs finden {V. 46 NB. "ii> o'ix.<p statt "ii> {teij"> Ps 132,5
LXX); der Bau des Tempels war deshalb eine Sünde, weil dadurch die
Wanderschaft des Gottesvolkes verneint wurde {V. 46); für Stephanus haben
der heilige Ort und die mosaischen Sitten nur eine zeitbegrenzte Bedeutung,
sie gehören der Wanderzeit des Gottesvolkes, nicht aber der kommenden
Heilszeit an (6,13 f).
Während die Juden dieselbe Haltung wie ihre Väter einnehmen (7,5I f),
stehen di~ Jünger in der gleichen Stellung wie Abraham, Joseph, Mose
und die Propheten; diese sind Vorläufer, jene Nachfolger des "Gerechten".
Mose ist ein Vorbild, Stephanus ein Abbild Jesu, deshalb ist auch Stephanus
nicht ein Spötter, sondern ein Nachfolger des Mose (vgl 6,5 mit 7,22; 6,8
mit 7,36; 6, I 1 ff mit 7,25 ff .38 ff). Die Geschichte Israels ist eine Geschichte
der Sünde und des Widerstandes gegen Gott (wiederum ein atl. Gedanke,
oben S. 36 f), aber innerhalb dieser Geschichte läuft auch eine andere Linie,
die von Abraham über Mose und über die Propheten zu Jesus und den
Jüngern führt, die Geschichte des "wahren Israels" ,1°1 die eine Geschichte
der Verfolgten und Leidenden, der Fremdlinge und Flüchtlinge ist. Wenn
in engem Anschlufu an die Stephanusgeschichte davon die Rede ist, daf3 die
übrigen Hellenisten "zerstreut" wurden (8,r.4; II 1 I9), wird man annehmen
dürfen, daf3 Stecr"It"ocp"fjcrotv hier nicht einfach im "allgemeinen Sinn" 102 gebraucht
ist; vielmehr klingt die technische Bedeutung von Stotcr1t"dpecr•&oct durch
{LXX Lev 26,33; Dt 4,27; 28,64; Tob 13,3; Esth 3,8; 9,19; Jes 11,12;
s6,8 etc; vgl Stot0"1t"Opoc); die verfolgten und zerstreuten Jünger Jesu bilden
jetzt das verfolgte und zerstreute "wahre Israel" .103
Innerhalb der Urgemeinde bildet die "hellenistische" Auffassung das
eine Extrem, das andere ist die "judaistische ", während Petrus etwa in
197
der Mitte zwischen beiden steht. Und doch scheint sich der "Gemeinde-
begriff" der Hellenisten mehr mit dem apokalyptisch-ebjonitischen als mit
dem theokratischen zu berühren. 104 Der Gedanke, die Gemeinde Jesu sei
schon jetzt das endzeitliche Gottesvolk, die Ekklesia, fehlt; der "Menschen-
sohn" -Begriff bestimmt die Christologie der "Hellenisten" wie die der
"Armen" (vgl auch die Ähnlichkeit des Berichtes von dem Martyrium des
Jakobus, Euseb Hist ecclll 23 mit der Stephanusgeschichte !). 105 Für beide
Richtungen bilden die Jünger Jesu nicht die neue Tempelgemeinde, sondern
eher eine Sondersynagoge; der Unterschied ist, dafu die Auffassung des
Jakobus durch die palästinensische, die des Stephanus durch die helle-
nistische Synagoge bestimmt ist. Stephanus ist kein Apostel der Heiden,
sondern ein Jünger aus der hellenistischen Synagoge. Wenn auch sein
Wirken und sein Tod ein Anlafu zu der Mission in Samaria und zu der
ersten Heidenmission wurde, so ist er kein "Paulus vor Paulus". Zu dem
paulinischen "Kirchenbegriff" sind bei Stephanus keine Ansätze vorhanden,
und die für Stephanus charakteristische Kritik gegen den Tempel fehlt
bei Paulus.
An den Standpunkt des Stephanus erinnert vielmehr derjenige des
Lukas. Auch für den Verfasser des Lukasevangeliums und der Apostel-
geschichte spielt der Gedanke, die Kirche sei die jetzt in Erscheinung ge·
tretene eschatologische Gemeinde, das neue Gottesvolk, keine grofue Rolle.
Das Christentum ist ihm einfach das wahre Judentum (Lc 1,32 f .46 ff;
2,10.29-32; r6,29-31i Act 2,39i 13,32f; 22,14i 23,6; 24,14ff; 25,8;
26,6 f; 28,17.20j vgl die Bezeichnung ~ oi>O~ Act 9,2; 19,9 etc) und steht
in einer ungebrochenen Kontinuität mit der alttestamentlichen Heilsgeschichte
(Lc 1-2; vgl 13,16; 19,10; Act r-5; 13,17 ff etc). Die Juden aber sind
widerspenstig und verwerfen das Wort und die Boten Gottes und dadurch
auch das ihnen gehörende Heil (Lc 4,16-3o; 23,1-25 etc; Act 13,45 ff;
28,17 ff etc), deshalb wird sie das Gericht treffen (Lc 13,1-9.24-30.34 f;
19,41-44; 23,28-31; Act 28,25-28 etc). 106 Das Leben Jesu ist eine
Wanderung, ein Passionsweg nach Jerusalem, wo er wie die Propheten
sterben mufu (Lc 9,51.53; 10,38; 11 1 47-51; 13,22.32-35; q,rr; 19,28;
22,28; vgl die Berührungen der lukanischen Passionsgeschichte mit den
jüdischen Märtyrergeschichten 107 und Act 2,23; 3,13-15; 5,30 f; 8,32 f
(= Jes 53,7 f); 13,27 ff so wie die Bezeichnung 1t"iXi:~ &e:oü Act 3,13.26;
4,27·30). Und wie Jesus so haben auch seine Jünger unter den Ver-
folgungen der Juden zu leiden (Lc 6,22 f .26; rr,47-51; 22,28; Act 4,5;
6-7; r2; 14,2.4 f .r9; 17,5; r8,12 ff; 19,9; 20,3.19; 21,27 ff etc).
Diese Auffassung: das Christentum ist das wahre Judentum, die Juden
aber sind Widersacher Gottes, die Propheten, Jesus und die Jünger sind
Märtyrer, die von den Juden verfolgt werden, erinnert stark an die
Stephanus-Tradition. Man kann deshalb fragen, ob nicht auch in der
Stephanusgeschichte nur die Auffassung des Auetor ad Theophilum zum
Ausdruck kommt. Und doch wird diese Folgerung nicht richtig sein. Die
eschatologische Hoffnung des Stephanus und die Kritik gegen Tempel und
Opfergesetze liegen dem Verfasser der Apostelgeschichte fern. Die Über-
einstimmung wird eher dadurch zu erklären sein, daß der Verfasser nicht
nur die Stephanusgeschichte und Stephanusrede, sondern auch viele andere
Traditionen (" antiochenische Quelle", bzw. "Jüngerquelle" in Acta; 108 Sonder-
überlieferung im Evangelium) aus Kreisen übernommen hat, die auf die ersten
"Hellenisten" in Jerusalem zurückgehen, d. h. wahrscheinlich aus der Gemeinde
in Antiochia. Vielleicht entstammt auch der Verfasser selbst demselben Milieu. 109
In anderer Weise berühren sich der Hebräerbrief und der Barnabas-
brief mit der Stephanusrede. Auf Parallelen im Hebräerbrief wurde schon
hingewiesen. Der Barnabasbrief führt die Kritik gegen den Tempel und die
Opfergesetze radikal zu Ende; die äußerliche Beobachtung der Kultusgesetze
ist nur Mißverständnis der Juden (2-3; 7- 10; 15-16 etc). Deshalb
gibt es nicht einen alten und einen neuen Bund, denn der Bund gehört
ausschließlich den Christen ; durch die Sünde mit dem goldenen Kalb haben
die Juden den Bund gebrochen, noch ehe er aufgerichtet war (Barn 4,6 ff;
13; 14). Wie das lukanische Doppelwerk so berühren sich der Hebräer-
und der Barnabasbrief mit der Stephanustradition dadurch, daß das Christentum
und auch der Gemeindebegriff unter dem Einfluß der hellenistischen Synagoge
stehen; der Unterschied liegt vor allem darin, daß die drei Schriften alle
von dem Standpunkt der nachpaulinischen Kirche aus geschrieben sind.
E. Judenchristliche Gnosis.
Das Bild der palästinensischen Christenheit wird dadurch noch
kompliziert, daß auch das Eindringen "gnostischer" Anschauungen in
die Gemeinde und die Anknüpfung "gnostischer" Propheten an christliche
Gedanken auf die Urzeit der Kirche zurückgeht. Nach der Apostelgeschichte
kam der erste Gnostiker, Sirnon Magus, der später als der Erzgnostiker
angesehen wurde,uo durch die Predigt des Philippus in Samaria zum
Glauben (Act 8,g- 13), und wollte trotz seiner Gottlosigkeit doch ein
guter Christ bleiben (8,r8-24). Die erste christliche "Gnosis" wäre demnach
durch die Verbindung der "hellenistischen" Form des palästinensischen
Christentums mit einer vorchristlichen, samaritanischen Gnosis entstanden.
Samaritanische Gnostiker, die irgendwie mit der Gemeinde Jesu in Ver-
bindung gekommen sind, scheinen auch Dositheus und Menander gewesen
zu sein. 111 Aber nicht nur die hellenistische, sondern auch die apokalyptisch-
ebjonitische Richtung des Urchristentums ist in die gnostische Bewegung
hineingezogen worden (Ebjonäer des Epiphanius, Pan haer XXX; Symmachus
nach Marius Victorinus, Com in Gal 1,19; 2,26 MPL VIII IISS-II62 vgl
Origenes bei Euseb Hist eccl VI 17); fraglich bleibt, ob sie erst nach der
Übersiedlung von Jerusalem nach Pella unter den Einfluß der jüdischen Täufer-
sekten gekommen ist (Elchasai), oder ob dieser Einfluß bis in die Urzeit
der Gemeinde zurückgeht. 112 Die Möglichkeit, daß "gnostische" Gedanken
199
durch die Johannesjünger auf die Jesusjünger vermittelt worden sind, wird
durch das Johannesevangelium nahe gelegt 113 (nach den Pseudoclementinen
sind Dositheus und Sirnon Jünger des Johannes, aber es ist zweifelhaft, ob
hier irgend eine geschichtliche Erinnerung vorliegt; vgl Rec II 7 ff).
Dafu auch die "gnostische" Deutung der Begriffe "Israel" und "Volk
Gottes" auf den urchristlichen Gemeindebegriff eingewirkt hat, haben wir
schon durch die Untersuchung des Johannesevangeliums gelernt; mit der
Möglichkeit, daß auch dem Johannesevangelium palästinensische Tradition
zu Grunde liegt, muß heute gerechnet werden. In der Sache ist aber das
Johannesevangelium und auch der johanneische "Kirchenbegriff" nicht
gnostisch, sondern antignostisch (oben S. 171, 174; vgl die Johannesbriefe).
Wie weit die Begriffe "Israel" und "Volk Gottes" auch in dem von dem
Christentum nur äufuerlich beeinflußten Gnostizismus auf jüdischem Boden
eine Rolle gespielt haben, läßt sich wegen des Mangels an Quellen nicht
sagen. 114 Es liegt nahe genug anzunehmen, daß man auch in diesen Kreisen
das AT allegorisch ausgelegt und den Begriff des Gottesvolkes mythisch·
ungeschichtlich gedeutet hat. Wenn z. B. Sirnon behauptet, die große Kraft
Gottes zu sein (Act 8,10 vgl9), so hat er wohl das Gottesvolk als Träger
dieser göttlichen Kraft aufgefaßt (vgl die Aussage bei Irenäus Adv haer
I 23,1; Tertullian De anim 34, er habe sich den Juden als Sohn, den
Samaritanern als Vater geoffenbart).
Ein wirkliches Zeugnis eines gnostischen Judenchristentums, für welches
das "Volk Gottes" der "Stamm der Seelen" ist, haben wir erst in den
Oden Salomos (wohl aus dem Anfang des 2. Jahrhunderts). 115 Hier heißen
die in dem Erlöser geeinten Erlösten das "Volk" Christi: "Ich trug ihre
Bosheit aus Sanftmut, mein Volk zu retten und zum Erbe zu gewinnen,
um nicht zu vereiteln die Verheißungen an die Erzväter, die ich verheißen
hatte zur Erlösung ihres Samens" (31,12 f). "Sie gingen ein in mein Leben
und wurden erlöst und wurden mein Volk in alle Ewigkeit" (1o,6). Der
Erlöser ist das Haupt, die Erlösten seine Glieder (I?,IS), und in diesem
Sinne heißen sie mit atl. Termini die "Auserwählten" (8,2o; 23,2.3; 33,13),
die "Heiligen" l22,r2; 23,1 vgl 9,6) und die "Gläubigen'' (4,3; 42,9 etc).
Der "Gemeinde begriff" dieser Oden erinnert stark an denjenigen des
Johannesevangeliums, nur ist der mythisch·gnostische Einschlag stärker, der
geschichtlich~christliche schwächer.
Einen ganz andersartigen judenchristliehen Gnostizismus lernen wir aus
den pseudo·clementinischen Schriften kennen. Hier liegt keine geschichts-
lose Mystik vor, sondern eine Art gnostischer Geschichtstheologie. Die
Anschauungen dieser Schriften berühren sich mit denjenigen der späteren
Ebjonäer (vgl oben S. 193), aber auch mit denen, die wir bei den ersten
"Hellenisten" gefunden habenY 6 Die Hellenisten hatten eine kritische Ein-
stellung gegenüber dem Tempel und dem Opferkultus; nach den Pseudo-
clementinen sind die Opfergesetze Interpolationen, durch die das Gesetz
erfälscht worden ist (Horn 2,38-40. 43-52; 3,43-56 etc; vgl oben
200
S, 135). Für die Hellenisten waren die Jünger Nachfolger der Väter und
der Propheten, nach den Pseudoclementinen sind die Christen die wahren
Juden (Horn 4,7; rr,r6; 20,22; Rec V 34; X 64; vgl I 32,1) und die
christliche Religion ist mit der mosaischen identisch (Horn 8,5-7; rr,r6;
vgl Rec IV 5; V 34; Horn 4,13); Jesus hat diese dadurch wiederhergestellt,
dat3 er die Opfer durch die Taufe ersetzte (vgl Rec I 39 etc). Die ungläubigen
Juden haben nur nicht erkannt, dat3 Jesus der verheif:!ene Prophet war (Rec I
40,2; 43,2; 50,5 etc). Für die Hellenisten war Mose ein Vorbild und Zeuge
Christi, nach den Pseudoclementinen sind Mose und Christus beide Inkarnation
des 11 wahren Prophetens", der zuerst in Adam inkarniert war (Rec I 32-52
etc, vgl oben S. 1 I 5). Die mit der mosaischen identische christliche Religion
ist also letztlich die Urreligion, die Religion des Urmenschen (Horn 8,ro).
Die Frage, wie weit in den Pseudoclementinen Traditionen aus der
Urzeit der christlichen Gemeinde vorhanden sind, ist noch nicht gelöst. 117
Die gänzlich verneinende Antwort von ScHWARTz 118 ist wohl noch nicht
das letzte Wort. Bei dem heutigen Stand der Forschung dürfen wir diese
Schrifte~ nicht als direkte Quellen für die spätere Entwicklung der 11 apo-
kalyptisch-ebjonitischen" oder der 11 hellenistischen" Richtungen in der Ur-
gemeinde oder für die erste judenchristliche Gnosis verwenden. Wohl aber
dürfen wir feststellen, dat3 die 11 apokalyptisch-ebjonitische" wie die 11 helle-
nistische" Strömung in der Urgemeinde Ausgangspunkte eines judenchrist-
liehen 11 Gnostizismus" geworden sind, und in den Pseudoclementinen - und
in anderer Weise in den Oden Salomos - ein Beispiel dafür sehen, wie
sich das Christusbild unq das Gemeindebewußtsein gestalteten, wenn das
Christentum vom Standpunkt des jüdischen Gnostizismus her verstanden
wurde. Diese Zeugnisse aus einer späteren Zeit können uns deshaloeinige
Andeutungen geben, wie wir uns das Bild des ersten christlichen 11 Gno-
stizismus" auf palästinensischem Boden ·vorzustellen haben. Dabei dürfen wir
allerdings nicht vergessen, daß in den Pseudoclementinen Sirnon Magus
immer wieder bekämpft wird (unter seiner Maske auch andere 11 Ketzer",
darunter wohl Paulus und Marcion); bei dem Mager wird die Verchrist-
Iichung viel äußerlicher gewesen sein. Wenn aus dem Bericht der Apostel-
geschichte (und der Kirchenväter) etwas feststeht, so ist es, daf3 sein
' 11 Selbstbewußtsein" nicht durch Jesus Christus bestimmt war, und mit dem
F. Heidenchristentum.
Schon vor Paulus war das Christentum nicht nur in Galiläa und Jerusalem
vorhanden. Wir hören von Gläubigen in Damaskus, Joppe, Lydda und
Cäsarea (Act 9,1 f .10 ff ·.3I ff; ro) und erfahren, daß die zerstreuten
11 Hellenisten" in Samaria (Act 8,4-25), in Phönikien, auf Cypern und in
Antiochia das Wort verkündigt haben (Act 11 1 19). Dabei handelt es sich
zunächst darum, dem ganzen Israel, auch den Samaritanern und den Diaspora-
201
Urgemeinde betonen {vgl oben S. r84, ferner das p.O(p&vO( && und die
christologische Verwendung von Ps no, Mc 12,35-37); ins Zentrum gerückt
worden ist er jedoch erst auf hellenistischem Boden unter dem Einfluß der
orientalischen K yrios-Kulte und der Septuaginta. Von dem K yrios· Namen
ausgehend, zeichnet Bausset ein sehr lebendiges Bild der Gemeinde. "Das
Korrelat zu dem xup1o~ Xp1cr-ro~ ist ... nicht der Einzelne, sondern die
Gemeinde, die exx:A:~cr(O(, das crwp.O( -rou Xp1cr-rou, und zwar zunächst die
gottesdienstlich organisierte Einzelgemeinde. " 157 Dieser Satz wird einiger
Einschränkungen bedürfen, 158 in der Hauptsache können wir ihm beistimmen.
Nach Bausset ist nun der Kyrios Christos der "Kultheros" ähnlich wie die
orientalischen Herren-Götter. 159 Das Korrelat zu dem Kyrios als Kultheros
ist aber die Ekklesia als Kultverein! Nun haben wir jedoch gesehen, daß
die heidenchristliehen Gemeinden sich nicht als "Kultvereine", sondern als
Versammlungen des Volkes Gottes gefühlt haben. 160 Daß dies auch in
Antiochia der Fall war, dürfen wir aus dem regen Verkehr dieser Gemeinde
mit Jerusalem und aus der Stellung des Barnabas, des Paulus und des
Petrus in Antiochia schließen {vgl Act II,22-3o; I3,I-3; I4,26-I5,35i
Gal 2, I I ff). Auf Grund unserer Untersuchung des Gemeindebegriffes müssen
wir also behaupten, daß Bausset das Bild der "heidenchristlichen Ur-
gemeinde" verzeichnet hat und stimmen mit dem Ergebnis überein, das
E. voN DoBscHüTz 161 folgendermaßen formuliert hat: "Der Kyrios ist nicht
der Kultgott einer eigenen Gemeinde, sondern der Herrscher über sein
Volk."
Dies wird gerade durch die Formel deutlich, die Bousset 162 zu der
Beschreibung des Kyrios-Kultes voranstellt. Paulus u. a. bezeichnet die
Christen als ot &mxoc'Aoup.e:vo1 -ro övop.oc -rou xup(ou ~p.wv 'IYJcrou Xp1crTou
{r Cor I,2; 2 Tim 2,22; Act 9,r4.2Ij 22,r6; Herrn Sim IX 14,3; vgl Rom
ro,r2). Auch diese Bezeichnung gehört zu den Würdenamen Israels. Als
"diejenigen, die den Namen des Herrn anrufen," sind die Christen die Glieder
des Volkes Gottes; das Neue liegt darin, daß der Kyrios jetz~ der Kyrios
Christos ist (vgl Rom ro,r3; Act 2,21 mit Joel 3,5). Der von Bousset
betonte Zusammenhang zwischen Kyrios-Name und Christus-Kultus wird
aber bestätigt, denn gerade die "in dem Namen des Herrn" Versammelten
wußten sich als die Versammlung des Volkes Gottes (I Cor 5,4; vgl s,r.7 f.
13). Bei der Taufe wurde der Name des Herrn über den Täufling genannt
(Act 2,38; ro,48; vielleicht bekannte auch dieser selbst xup1o~ 'IYJcrou~, Rom
ro,9 f; r Cor I2,r-3), und er wurde dadurch das Eigentum des Kyrios
(Act 8,r6; 19,5; vgl r Cor r,r3),t 63 so wie Israel deshalb das Volk Gottes
war, weil der Name JHWH's über den Israeliten genannt war (vgl Jac 2,7;
Herrn Sim VIII r,r; 6,4; 5 Esr r,24; 2,r6 mit Dt 28,ro etc; vgl auch Act
IS,I4.I7),1M
Die Verbindung mit dem alten Gottesvolk mußte vor allem in solchen
Gemeinden empfunden werden; in denen das AT in dem Gottesdienst ver·
lesen wurde. Wenn auch der Kyriostitel sich nicht einfach als eine Über-
207
tragung des Gottesnamens in der Septuaginta auf Jesus verstehen läfut, so ist
doch die Verknüpfung des Kyrios Christos mit dem "Kyrios" in der grie-
chischen Bibel von gröfuter Bedeutung. Wie Bausset 165 mit Recht annimmt,
wurden schon vor Paulus Bibelstellen, die von dem "Kyrios" redeten, auf
den "Kyrios Christos" bezogen (Act 2,21; Rom 10,13.16; r Cor 1,31; 2,16;
ro,2r f; 2 Cor ro,q; Phi! 2,11 etc). Dadurch kommt die engste Beziehung
zwischen dem "Herrn" Jesus, dem AT und der Geschichte Israels zu-
stande (vgl noch 1 Cor 10,4; 2 Cor 3,13-18). Der Begriff "Kyrios" ist
von dem Begriff "Messias", wie dieser nach der Auferstehung Jesu geprägt
wurde, doch nicht so weit entfernt (vgl Act 2,36); der Kyrios Christos ist
der Herr des Volkes Gottes.
Wir müssen uns allerdings davor hüten, in der Polemik gegen Bausset
in die entgegengesetzte Einseitigkeit zu verfallen. Wie es keinen einheit-
lichen "Kirchenbegriff" gegeben hat, so konnten auch mit dem Worte
"Kyrios" und dem "Kyrioskult" verschiedene Assoziationen verbunden
werden. Es ist also schon möglich, dafu es heidenchristliche Kreise gegeben
hat, für die Jesus nur der "Kultheros" war, so wie Bausset es schildert.
Was den Kirchenbegriff betrifft, mufu betont werden, dafu auch, wo die
Selbstbezeichnungen der Israeliten von den Christen übernommen waren,
nicht immer ihr Ursprung und die dadurch gegebene Bedeutung lebendig
war. Z. B. ist mit dem Wort ex.x:A:Vlo-loc sicherlich nicht immer der Vollgehalt
des Begriffes "Volk Gottes" verbunden gewesen. Aus späterer Zeit sind die
Briefe des Ignatius lehrreich. Ignatius verwendet den Begriff ex.x.A."lo-(oc gern
und mit graflern Nachdruck (vgl die Briefüberschriften; Eph 5,1; 17,1;
Trall2,3; Smyrn 1,2; 8 etc), aber die Auffassung, die Kirche sei das "Volk
Gottes" tritt nirgends hervor. An sich würde er dem Gedanken sicher
nicht widersprochen haben (vgl Magn 8-ro; Philad 5; 9), aber der Ge-
sichtspunkt interessiert ihn nicht, wie er überhaupt dem AT ziemlich gleich-
gültig gegenübersteht (vgl Philad 8). 166 Auch Ignatius wird seine Vorgänger
in älterer Zeit gehabt haben. Es gibt zu denken, dafu die Apostelgeschichte
neben den alttestamentlich-jüdischen Synonymen zu ex.x.A."lo-loc auch das pro-
fane griechische Wort -rr),~&o~ verwenden kann (Act 4,32; 6,2.5; rs,12.30). 167
Auch die häufige Verwendung des Pluralis tx.xA"jO'Lott (Act 16,5; r Cor r6,r.19;
2 Cor 8,r.18.[9.23.24; rr,8.28; 12,13; Apoc 1,4.II.2o; 2,7.11 etc) läfut
sich doch wohl nicht aus dem atl.-jüdischen Sprachgebrauch und der Auf-
nahme des Begriffes "Volk Gottes" in das Urchristentum restlos verstehen,
sondern deutet auf eine Verblassung des Begriffes exx.A"jO'Lot und auf Einflufu
des profanen Sprachgebrauches hin. 168 Wir werden damit zu rechnen haben,
dafu neben den Gemeinden, in denen das Bewufutsein, das neue Volk Gottes
zu sein, herrschte, und wo das Leben der Gemeinde in Übereinstimmung
mit diesem Selbstbewufutsein gestaltet wurde, auch andere bestanden haben,
die den hellenistischen Kultgenossenschaften bedeutend näher standen. Dabei
waren natürlich die Linien nicht scharf getrennt, sondern es waren viele
Übergänge vorhanden.
208
III. PAULUS
A. Kirche und Kirchenbegriff.
Für den Pharisäer SauJus war die Frage nach Gott zugleich die Frage
nach Israel. Es ging ihm nicht um die persönliche Heilsgewiflheit: "Wie
kriege ich einen gnädigen Gott?" sondern um das Heil für Israel: "Wie
soll das Gesetz erfüllt und ganz Israel gerettet werden?" 1 Als Eiferer für
die väterlichen Überlieferungen und für die Einheit Israels ist er Verfolger
der jungen christlichen Gemeinde geworden. In dem Eifer um die Verfolgung
zeigt sich aber zugleich eine grofle Selbständigkeit und ein starker Selbst·
behauptungswille des Paulus; er will seine Genossen übertreffen (Gal 1,13 f;
Phi! 3,4 -6) und weicht, wenn Wir der Apostelge_schichte glauben dürfen,
von dem Standpunkt seines Lehrers Gamaliels völlig ab (Act 22,3; 7,58;
8,3 etc; vgl 5,34 ff). Mehr als seine Genossen ist SauJus an sein Volk
gebunden, und trotzdem, nein, gerade deshalb ist er mehr als sie ein selb-
ständiger und einsamer Mensch.
Die Erscheinung des Christus vor dem Verfolger bei Damaskus bedeutete
für SauJus den völligen Bruch mit seiner jüdischen Vergangenheit. Er wurde
von seinem Volke getrennt und - vom jüdischen Standpunkt aus gesehen -
der grofle Apostat. Er wurde vereinsamt, und auch innerhalb der christ-
lichen Kirche behauptete er seine Selbständigkeit und blieb ein einsamer
Mann (Ga! r,r6f; Act 9,26.27; u,25f; 15,39; Phi! r,r4-q; 2,2of;
2 Tim 4,ro f .r6 etc). Zugleich ist aber sein ganzes Handeln und Denken
kirchlich bestimmt, der grofle Einsame ist zugleich der grofle Kirchenmann
der ersten christlichen Generation. Die Kontinuität in dem Leben des
Paulus ist aber nicht nur eine persönlich psychologi!lche, sondern zugleich
eine sachliche; die Bekehrung bedeutete für Paulus nicht, dafl die Frage
nach Gott von der Frage nach Israel gelöst wurde, sondern dafl beide
Fragen in neuer Weise miteinander verbunden wurden. Behauptete doch
die Gemeinde, der sich Paulus anschlofl, das "wahre Israel" zu sein.
Gerade die Gedanken des Paulus von der Kirche als das "Israel Gottes"
zeigen sowohl die tiefe Verbundenheit des Paulus mit der gesamten Urkirche
als auch seine grofle Selbständigkeit und Originalität.
Der Kirchengedanke des Paulus ist mehrfach untersucht worden, und
aus neuerer Zeit liegen mehrere wertvolle Monographien vor. 2 Wir brauchen
diesen Gedanken deshalb hier nicht nach allen Seiten hin neu zu unter-
suchen, sondern können uns auf den Gesichtspunkt, die Kirche als das
"Israel Gottes" beschränken. 3 Eine Untersuchung des paulinischen Kirchen·
begriffes unter diesem Gesichtspunkt ist eine Aufgabe, die von den vor-
liegenden Arbeiten über Paulus nicht überflüssig gemacht worden ist, denn
diese haben am meisten den Begriff "Leib Christi" ins Zentrum gerückt.
Zunächst müssen wir versuchen, auf Grund des exegetischen Tatbestandes
festzustellen, welche Rolle unser Gedanke in der Mission, in der Gemeinde·
verkündigung und in der Theologie des Paulus gespielt hat.
2IO
Der Name "Israel" kommt bei Paulus nicht häufig vor (II mal in
Rom g-u; I Cor IO,I8; 2 Cor 3,7.I3; Gal6,I6; Phil3,5; vgl Eph 2,I2).
Im allgemeinen ist er in dem traditionellen Sinne als biblischer Name des
jüdischen Volkes verwendet, kann dabei aber auf das wahre "Israel" inner-
halb Israels begrenzt werden (Rom g,6). 4 Die Übertragung auf die Kirche
Christi liegt nur Ga! 6,I6 vor. 5 Hier handelt es sich um einen liturgischen
Friedenswunsch im Anschlufu an jüdische Sitte, zugleich ist eine polemische
Spitze nicht zu verkennen. Vorausgesetzt wird die Übertragung auch I Cor
ro,I8, wo das alttestamentliche Israel 'lcrpoc~l xoc"t'dt crocpxoc genannt wird; dem-
nach ist die Kirche das 'lcrpoc~l xoc"t'dt 7t've:up.oc. Bemerkenswert ist, dafu es sich
hier um einen Vergleich zwischen dem Kultus der Kirche und dem Kultus
Israels, zwischen Abendmahl und Opfer handelt. Der Begriff des "neuen
Bundes", der mit dem des "neuen Volkes" korrespondiert, begegnet uns
in dem paulinischen Abendmahlsbericht (I Cor II,25; vgl auch 2 Cor 3,6).
Der Terminus "Volk Gottes" findet sich nur in Zitaten aus dem AT, und
zwar sowohl auf das jüdische Volk bezogen (Rom II,I f; Is,ro) wie auf die
Kirche übertragen (Rom 9,25 f; 2 Cor 6,16; vgl Tit 2,14; Act I8,Io). 6
Daneben findet sich aber eine Reihe Synonymen, Ehrennamen der Israeliten,
die auf die Christen angewendet werden ; unter ihnen stehen die Bezeich-
nungen ~ exxl'Ylcr(oc und o! ocywt voran. 7 Diese Ehrennamen werden in
allen Briefüberschriften verwendet, vielleicht im Anschlufu an die liturgische
Sprache. Erst aus unserer Gesamtuntersuchung kann sich ergeben, wie weit
Paulus und seine Gemeinden den Begriff "Volk Gottes" aus diesen Bezeich-
nungen heraushörten.
Was die Sache anbetrifft, so wird der Gedanke von der Kirche als
das neue Volk Gottes in mehreren christlichen "Mi draschen" entfaltet, die
sich eng an das AT anlehnen; in allen diesen Abschnitten haben wir den
Eindruck, dafu mehr oder weniger fest geprägte Lehrstücke vorliegen, die
Paulus schon vorher in den Gemeindeversammlungen zum Zweck der
Paränese oder der Polemik vorgetragen hat (I Cor ro,r ff; 2 Cor 3,7-I8;
6,I4-7,I; Rom 4; Ga! 3; 4,21-3I). 8 Sonst wird das Motiv selten aus-
geführt, spielt aber doch in der Auseinandersetzung mit dem Judaismus oder
dem Judentum eine große Rolle (vgl außer Ga! und Rom (g- r r) noch Phi! 3,3:
~p.e:i~ yocp ecrp.e:v ~ 1t'Ept"t'O[L~) und in den Vermahnungen an Gemeinden, in
denen das kirchliche Leben irgendwie gestört ist (vgl bes I Cor). Dem-
entsprechend findet sich der Gedanke hauptsächlich in den paulinischen
"Hauptbriefen"; in den Thessalonicherbriefen/ die in die Gründungszeit
einer Gemeinde hineinführen, wird er nur leise angedeutet.
Paulus schreibt an "die Ekklesia der Thessalonicher, die in Gott dem
Vater und im Herrn Jesus Christus ist" (I Thes r,I; 2 Thes I,I). Daraus
dürfen wir entnehmen, dafu Paulus die von ihm gegründete Gemeinde als
eine Versammlung des (neuen) Volkes Gottes angesehen hat. Ob aber auch
die Thessalonicher dies aus dem Gruß herausgehört haben, ist zweifelhaft;
211
mit dem Begriff "Ekklesia der Thessalonicher" muflten doch Griechen eher
den profanen Ekklesia-Begriff verbinden. Die nähere Bestimmung ist nicht
alttestamentlich, sondern rein christlich, wie in der Überschrift so auch in
dem Corpus der Briefe. Nur von der Offenbarung in Christus, nicht von
der im AT ist die Rede. Durch die Erwählung und Berufung Gottes, die
in Christus geschehen und durch die Verkündigung des Paulus an die
Thessalonicher aktualisiert worden ist, ist die Gemeinde entstanden (r Thes
1,4-10; 2,1-12.13; 4,7.14; 5,9.24; 2 Thes 2,13 f). Sie soll in Gehorsam
gegen den Willen des Herrn (r Thes 4,r-r2; 5,12-22; 2 Thes 2,15;
3,6-r5) und in der Hoffnung auf sein Kommen leben (r Thes r,ro; 2,rg;
4,13-5,ro; 5,23; 2 Thes r,5-2,r2).
Der Begriff Ekklesia wird in den Thessalonicherbriefen nur von den
Einzelgemeinden, nicht von der Gesamtkirche verwendet, aber es wird
doch deutlich, dafl die Gemeinde in einen gröfleren Zusammenhang gehört;
sie ist Nachfolgerirr der Gemeinden Judäas (r Thes 2,14) und selbst Vorbild
für andere Gläub_ige (r Thes r,7 f; 2 Thes r,4; vgl 3,1). Was das Ver-
hältnis zu dem jüdischen Volke anbetrifft, so wird nur die negative Seite
sichtbar (r Thes 2,14- r6). Die Mahnung, nicht "wie die Heiden, die
Gott nicht kennen" zu leben (r Thes 4,5. 13; 5,6; vgl 4,12; 2 Thes 3,2;
ähnlich Eph 4,17; 2,12), weist darauf hin, dafl die Christen das von den
Heidenvölkern und ihren Götzen abgesonderte Volk Gottes sind (vgl r
Thes r,g). Die Apokalyptik des zweiten Briefes berührt sich eng mit der
jüdischen (1,4 ff etc). Die Gedanken, die Paulus hier einer jungen Missions-
gemeinde vorträgt, haben in dem jüdischen "Kirchen begriff" ihre Wurzeln:
die Gemeinde ist durch Kultus, Geschichte, Eschatologie und Ethos konsti-
tuiert. Aber dieser "Kirchenbegriff" ist radikal verchristlicht, die Existenz
der Gemeinde ist ausschliefllich durch den geschichtlichen, gegenwärtigen
und kommenden Christus bestimmt. Der Gedanke, die Gemeinde sei das
"Israel Gottes" steht im Hintergrund, wird aber nirgends betont.
Diese Zurückhaltung, was den Kirchenbegriff anbetrifft, hängt damit
zusammen, dafl uns in den Thessalonicherbriefen kein ausdrückliches Zitat
aus dem AT begegnet. Paulus hat, wie es scheint, keinen Wert darauf
gelegt, seinen Gemeinden sofort das AT in die Hand zu legen 10 und auch
nicht darauf, sie darüber zu belehren, dafl die Kirche jetzt das "Israel
Gottes" sei. Dieser Kirchenbegriff gehört also nicht in die Missionspredigt
und wohl auch nicht in die erste Christenbelehrung des Paulus. Er hat in
den Versammlungen der schon mehr befestigten Gemeinden seinen Platz,
wo auch Paulus im Anschlufl an die traditionelle jüdische und die sich
bildende christliche Kultsprache redete, und wo er im Anschlufl an das
AT "predigte" .U Erläutert wird der Begriff sodann vor allem in der
polemischen Theologie des Paulus. 12 In der Gründungszeit legte Paulus
keinen Wert darauf, über das Wesen der Kirche zu belehren, er hatte
wohl auch keine Zeit dafür; der späteren Entwicklung gegenüber, die er
212
B. Die Abrahamskindschaft
Das Thema des Galaterbriefes ist "die Wahrheit des Evangeliums"
und "die Rechtfertigung aus dem Glauben", es kann aber auch als "die
wahre Abrahamskindschaft" umschrieben werdenY Beides gehört unlöslich
zusammen, denn das Verstehen des Evangeliums ist für Paulus zugleich
das Verstehen der eigenen Existenz der Gemeinde. 14 Die Behandlung dieses
Themas ist durch die Tätigkeit der Judaisten veranlaßt
Paulus teilt mit den Judaisten viele Voraussetzungen; auch er ist ein
Pharisäer gewesen, auch er weiß, daß Christus unter dem Gesetze lebte
(4,4), auch er kennt die Autorität der Schrift an und innerhalb gewisser
Grenzen auch die der Urgemeinde; auch für ihn sind es die Kinder Abra-
hams, die gerettet werden. Und doch ist für ihn der Standpunkt der
Judaisten nicht etwas, worüber sich diskutieren ließe, er kann darin nur
eine Verneinung des Evangeliums sehen, der er sein "Anathema" entgegen-
schleudert {1,6-g).
Worum es geht, sagt schon das Präskript; das Entscheidende, was
die Judaisten durch die Tat verleugnen, ist, daß Gott, der Vater, Jesus
Christus von den Toten auferweckt hat (I,r), und daß Christus "sich für
unsere Sünden hingab, um uns aus dem gegenwärtigen bösen Äon heraus-
zunehmen" (I,f). Die Sendung Christi geschah in "der Fülle der Zeit";
das vorbestimmte Zeitenmaß war voll, mit Christus ist die eschatologische
.Zeit gekommen, die Zeit der Knechtschaft ist vorbei, die Zeit der Freiheit
ist angebrochen (4,1-4; vgl 6,15 etc). Für Paulus ist die Gemeinde
Christi das zu der neuen Schöpfung gehörende "Israel Gottes" (6,15 f),
oder sie ist überhaupt · nicht das Volk Gottes. Daß sie es ist, beweist
die Erfahrung; der Geist, die Gabe Gottes an das Israel der End"zeit, ist
denjenigen gegeben, die die Glaubensverkündigung hörten (3, I - 5; vgl
4,6 f; 3, I 4). Dasselbe beweist für Paulus auch die Schrift, auf die sich
die Judaisten beriefen (4,21 -31). Die Erzählung von den zwei Söhnen
Abrahams weist darauf hin, daß es zwei Bundesschließungen und zwei
"Völke~" gibt. Ismael, der Sohn Abrahams "nach dem Fleische", der Sohn
der Sklavin, ist der Typus für das "Israel nach dem Fleische"; das in der
Knechtschaft lebt, und vertrieben werden soll. Isaak, der Sohn Abrahams
"nach dem Geiste", der Sohn der Freien, ist der Typus für das "Israel
nach dem Geiste", das Israel der Verheißung, das in Freiheit leben soll,
und dem das Erbe gehört. Die Ausführungen des Paulus werden deshalb
so verwickelt, weil er diese Typologie mit dem Gedanken an den Berg
213
Sinai und an die Stadt Jerusalem verknüpfen will. 15 Der Sinn ist aber
deutlich: die Juden sind Bürger des gegenwärtigen (irdischen) Jerusalem,
die Christen dagegen Bürger des oberen (zukünftigen) Jerusalem (4,25 f
vgl dazu oben S. 79 und 88 f). In den Erfolgen der christlichen Mission
sieht Paulus die Erfüllung der prophetischen Weissagung: "Freue dich, du
Unfruchtbare, - - denn zahlreicher sind die Kinder der Einsamen als die
jener, die den Mann hat" (]es 54,1; Ga! 4,27).
Der Gedanke, die Kirche sei das eschatologische Israel, das Gottesvolk
der Heilszeit, war schon vor Paulus vorhanden. Neu sind aber die radikalen
Konsequenzen, die Paulus daraus zieht. Hatte die vorpaulinische Gemeinde
die Wirkungen des heiligen Geistes vor allem in der neuen Prophetie und
den übrigen Wunder-Wirkungen gesehen, so ist für Paulus das ganze
Leben durch die Formel X.IX'"t'oc 7t'veüp.1X (bzw 7t'veup.1X'"t'tj Ga! 3,3; 4,29;
5,5.25) charakterisiert; sachlich gleichbedeutend ist die andere Formel
&v Xptcr'"t'ii> (Ga! 3,28 j vgl I ,22 j 2,4· I7 j 5,6 etc) j wieder andere Ausdrücke
für dasselbe sind X.IXLV~ X.'"t'Lcrt~ (Ga! 6,15 j vgl 2 Cor 5.!7) oder 7t'(cr'"t'i~
öt' dyoc1t''IJ~ &vepyoup.lfv'IJ (Ga! 5,6). Von dieser Gewifuheit aus, schon in der
Sphäre des Pneuma zu leben, wird alles, was zur Sphäre der Sarx gehört,
entwertet (vgl 3,3). 16 Was in dem alten Äon, dem Zeitalter der Sarx noch
wichtig war, wie der Unterschied zwischen Jude und Heide (Ga! 2,15),
zwischen "Beschnittenheit" und "Unbeschnittenheit", hat in dem neuen
Äon, dem Zeitalter des Pneuma, die Bedeutung verloren (Ga! 3,28; 5,6;
6,15; vgl I Cor 7,19; 12,13j Co! 3,II). Das Wesen des "neuen Volkes"
ist von ganz anderer Art als das Wesen des "alten Volkes"; sie sind
einander so verschieden wie alte Schöpfung und neue Schöpfung, wie
gegenwärtiger Äon und kommender Äon, wie Sarx und Pneuma. Und
doch heifut das neue wie das alte Volk "Israel". Der Unterschied ist eben
nicht wie der zwischen zwei Sachen, sondern wie der zwischen zwei
FlächenY Das alte Volk ist "Israel", aber auf der Fläche der alten Welt-
zeit; das neue Volk ist auch "Israel", aber auf der Fläche der neuen
Weltzeit.
Von hier aus ist die Verbundenheit der Christen mit der Geschichte
Israels und mit Abraham, dem Vater des Gottesvolkes zu verstehen, auf
der die Judaisten so grofues Gewicht legten. Die Antwort des Paulus ist,
"dafu die, die aus dem Glauben sind, Söhne Abrahams sind" (Gal 3,7).
Den Paulus interessiert Abraham überhaupt nicht als Anfänger der völkischen
Geschichte Israels, das wird daraus besonders klar, dafu nach seiner
Meinung die Erzählung von der Geburt Isaaks, wodurch Abraham der Vater
des Volkes Israel wurde, "allegorisch geredet" ist (4,24). Was Abraham
auszeichnete, war weder sein "Werk" noch sein (beschnittenes) "Fleisch",
sondern sein Glaube (3,6; vgl Rom 4,1-13). Der Vater des Gottesvolkes
ist er nur als Empfänger der Verheifuung Gottes, und diese Verheißung
versteht Paulus von ihrer eschatologischen Erfüllung in Christus aus (Gal
3,7-9.I4-I8; vgl Rom 4,17-25). Nicht die natürlich-geschichtliche
214
Kontinuität ist es deshalb, die die (wahren) Kinder Abrahams mit ihrem
Vater verbindet (das wäre "Sarx" und "Erga"), sondern das Wort Gott~s,
das an Abraham als "Epangelia" erging und an die Christen als "Evangelicin"
ergangen ist (Gal 3,8.14; vgl3,rff; Rom 4,13f.2off). Nicht der Glaube
als eine psychologische Haltung, sondern der Glaube an das Wort Gottes
macht die Gläubigen zu Kindern Abrahams. Daß durch diesen Glauben
auch die Heiden gerechtfertigt werden sollten, hat die Schrift, so wie Paulus
sie versteht, ausdrücklich vorausgesagt: "In dir werden alle Völker gesegnet
werden" (Gal 3,8 f; vgl Rom 4,17 f).
Die Voraussetzung des paulinischen Schriftbeweises ist, dafu sich die
Verheißung an Abraham auf Christus bezieht (vgl Rom 4,18 ff). In Ga! 3,16
wird dies mit besonderer exegetischer Kunst entfaltet. "Die Verheißungen
wurden dem Abraham und seinem Samen gesagt" (vgl Gen 13,15); Paulus
urgiert den singularischen Ausdruck ("iii cr7l"epflooc't"t crou) und bezieht ihn auf
Christus. Dies versteht Paulus aber nicht exclusiv, sondern inclusiv; alle,
die auf Christus getauft sind, haben "Christus angezogen" und sind "Einer
in ChristusJesus" (3,27 f), und weil sie Christus gehören, sind sie "Abrahams
Same, Erben nach der Verheißung" (3,29).
Auf die Verbundenheit mit Christus kam es auch den Judaisten an;
für sie war das Leben des Messias Jesus unter das Gesetz wohl das wich-
tigste Ereignis innerhalb der Geschichte Israels; deshalb war es ihnen auch
so wichtig, daß die durch die Jünger Jesu in Jerusalem verbürgte Konti-
nuität mit Jesus bewahrt blieb. Paulus würdigt aber Jesus überhaupt nicht
nach seiner Stellung innerhalb der völkischen Geschichte Israels. 18 Das Leben
Jesu unter dem Gesetz gehört für ihn noch der alten Weltzeit, der "Sarx"
an (Gal 4,4; vgl 2 Cor 5,16), wichtig ist nur, daß Christus in der Fülle
der Zeit von Gott gesandt wurde (Gal 4,4). Nach der "Sarx" beurteilt,
ist Christus als ein Gekreuzigter ein Verbannter (3,13), aber gerade durch
seine Selbsthingabe am Kreuz hat Christus "uns aus dem gegenwärtigen
bösen Äon" herausgenommen (1,4; vgl 3,13). Christus ist also für Paulus
nicht der Anfang einer neuen Epoche in der Geschichte des Volkes Israel;
"Christus gehören" heißt keineswegs, durch geschichtliche Kontinuität und
Tradition mit ihm verbunden zu sein, denn dies kann alles XIX't"Ot crocpxoc
verstanden werden. Christus angehören tut nur derjenige, der das Evangelium
glaubt und auf Christus getauft worden ist (3, 1 ff .27 ).
Paulus macht geradezu einen Vorzug daraus, daß sein Apostolat und
sein Evangelium nicht von Menschen stammt und nicht durch Menschen
vermittelt worden ist (1,1 .11 f.i:6 ff); er hat sein Evangelium durch eine
Offenbarung Christi empfangen, Gott hat ihn zum Apostel berufen (Ga!
r,1-12.15 f). Deshalb kann auch davon keine Rede sein, dafu er sich der
Gemeinde in Jerusalem untergeordnet hat, weil diese mit der Geschichte
Israels und der Geschichte Jesu verbunden war (1,16 ff; 2,1 ff). Zwar ist
es für ihn von entscheidender Bedeutung gewesen, sich mit den Jerusalemer
Autoritäten verständigen zu können (2,2), was ihm dabei wichtig gewesen
2IS
ist, ist aber die Einheit des Kerygma, die die Einheit der Kirche verbürgt
(2,2.5·7-9). 19 Die Geschichte hat also nach Paulus für die Ekklesia nicht
mehr dieselbe Bedeutung, die sie für das alte Israel hatte; 20 die die Kirche
konstituierende Geschichte ist nicht "Welt·Geschichte" und auch nicht eine
heilige nationale oder kirchliche Geschichte, sondern sie ist Endgeschichte,
ein eschatologisches Geschehen, das nur überliefert werden kann, indem
es verkündigt wird. Außer dem Evangelium kann die Geschichte Israels
keinen Anspruch auf die Heidenchristen begründen. Daran wird auch
durch die Tatsache, daß Gott dem Volke Israel das Gesetz gegeben hat,
nichts geändert.
Die Judaisten kommen von dem streng gesetzlichen Judentum her und
ziehen die Folgerung, daß zur wahren Abrahamskindschaft Gesetz und
Christus gehört. Paulus ist aber noch mehr Eiferer für das Gesetz gewesen
(Ga! r,r3 f). 21 Nach seiner Meinung nehmen die Judaisten weder das Gesetz
noch Christus ernst. Mit dem Gesetz Gottes läßt sich nicht spielen; ist das
Gesetz noch gültig, müssen. alle seine Gebote erfüllt werden (5,3; vgl 6,I3).
Wer den \Veg des Gesetzes zu Ende geht, wird folgerichtig Verfolger der
Gemeinde Christi, wie Paulus selbst (4,29; s,rr; 6,I2; vgl r,r3). Denn
daß der gekreuzigte Jesus der Messias und die Schar der Jesus-Gläubigen
die messianische Gemeinde sein sollte, ist vom Gesetz aus eine Unmöglich-
keit und eine Lästerung. Daß hier ein klares Entweder-Oder vorliegt, stand
schon dem Pharisäer SauJus fest, und ist für den Apostel Paulus die gegebene
Voraussetzung für sein Denken und Handeln. 22 Als ihm Christus als der
erhöhte Messias erschien, bedeutete das, daß sein ganzes Leben unter dem
Gesetz als ein Irrtum enthüllt wurde. Wer zum Glauben an Christus kommt,
um durch ihn gerechtfertigt zu werden, hat damit schon erkannt, daß ihn
die werke des Gesetzes nicht zur Gerechtigkeit führen (2, I 6; vgl 3· I - s).
Er hat dann das Gesetz ein für allemal preisgegeben, und diese Preisgabe
ist nur dann berechtigt, wenn das Gesetz nicht (mehr) der von Gott ver-
ordnete Weg zur Gerechtigkeit ist. Wer das Gesetz preisgegeben hat, um
in Christus gerechtfertigt zu werden, und dann doch die Geltung des Ge-
setzes anerkennt, stellt sich als Übertreter hin (2,r8; vgl 2,q).
Eine latente Spannung war schon im Judentum zwischen "Nomismus"
und "Eschatologie" vorhanden; denn die messianische Hoffnung eröffnete
die Möglichkeit, daß Gott, auch wenn Israel das Gesetz nicht erfüllt hatte,
den Messias und mit ihm die Erlösung und die Gerechtigkeit senden konnte,
und daß im messianischen Israel das Gesetz jedenfalls teilwejse seine Be-
deutung verlieren sollte (vgl oben S. 89). So lange aber die messianische
Gemeinde nur in der Unbestimmtheit reiner Zukunftserwartung vorhanden
war, konnte diese Spannung ertragen werden, und man konnte vermittelnde
Gedanken finden. Als aber di~ konkret-geschichtliche Gemeinschaft der
Jesusgläubigen den Anspruch erhob, schon in der Gegenwart das messia-
nische "Volk" zu sein, mußte aus der latenten Spannung ein offener
Gegensatz werden, wenn auch nicht für die galiläischen Fischer, so doch
2J6
für das hellsehende Auge des Pharisäers, dem es deutlich war, dafu diese
Gemeinschaft die Forderungen des Gesetzes nicht erfüllte. Das "Damaskus-
erlebnis" bedeutete deshalb für Paulus, dafu Gott unter Beiseitesetzung der
Gesetzesordnung den Messias gesandt hatte und die messianische Gemeinde
hatte entstehen lassen. 23 Die Gemeinde Jesu und nicht die Gemeinde des
Gesetzes ist deshalb seitdem für ihn das "wahre Israel", und von seinem
Standort in diesem messianischen "Israel" aus setzt sich Paulus mit dem
Gesetz auseinander.
Die göttliche Autorität der Schrift steht für Paulus fest, ebenso aber
die Ungültigkeit des Gesetzes als Weg zur Gerechtigkeit. Aus dieser
Antinomie hilft ihm seine Schriftgelehrsamkeit hinaus. Weil ihm der
Gegensatz zwischen Werke (des Gesetzes) und Glaube (an Christus) fest-
steht, so ist für ihn in dem Schriftwort: "Der Gerechte soll aus Glauben
leben" (Hab 2,4), schon der andere Satz enthalten "durch das Gesetz wird
keiner vor Gott gerechtfertigt" (Ga! 3, I I ; vgl Rom I, I 7 ; vgl auch Gal
3,IO.I2; 3,6; Rom 4,2 f; 3,20 f). Dafu die Verheifi!ungen Gottes in der
Schrift von dem Gesetz unabhängig sind, beweist Paulus im Römerbrief
durch die Feststellung, dafu zuerst der Glaube Abrahams ihm "als Gerechtig-
keit angerechnet wurde", und er erst nachher das Zeichen der Beschneidung
erhielt (Rom 4,9-I2), im Galaterbrief durch den Hinweis darauf, dafu das
Gesetz erst 430 Jahre nach der Verheifuung gegeben wurde (Gal3,IS-I8).
Die Minderwertigkeit des Gesetzes geht auch daraus hervor, dafu es "durch
Engel, durch die Hand eines Mittlers" angeordnet wurde (Ga! 3,Ig). Das
Gesetz ist also nur eine Zwischenordnung, die mit dem von Engelmächten
regierten alten Äon zusammengehört; unter dem Nomos steht nur das
"Israel kata sarka".
Von hier aus liegen Folgerungen nahe, die spätere "Paulinisten"
gezogen haben, dafu das Gesetz überhaupt nicht von dem Gott Christi
gegeben war {Marcion), oder aber dafu das Verständnis der Schrift als
buchstäblich gemeintes Gesetz überhaupt ein jüdisches Mifuverständnis war
(Barnabasbrief, vgl Rom 9,3I ff; 2 Cor 3•7 ff). Paulus selbst zieht aber
solche Folgerungen nicht; das Gesetz steht nicht gegen die Verheifuungen
Gottes (Gal 3,2r). Es steht für Paulus fest, dafu das Gesetz den Willen
Gottes zum Ausdruck brachte und das Gesetz Gottes war (vgl Rom 7,I2
etc). 24 Es war aber überhaupt nicht die Meinung Gottes, dafu das Gesetz
zum Leben- führen sollte (Ga! 3,2I); das Gesetz sollte in der von Gott
entfremdeten Welt eine gewisse Ordnung aufrechterhalten (3,23 f; 4,I-3),
vor allem sollte es aber die Sünde erst recht zur Sünde, zur Übertretung
des ausdrücklichen Gebotes Gottes machen (3,I9 vgl 22; Rom 4,15;
s, I3.20; 7,7 ff). Das Leben im alten Äon ist also ein Leben unter dem
Gesetz, und zwar macht erst das Gesetz die Schöpfungswelt zum radikal
sündigen, bösen Äon. Unter dem Gesetz mufute Christus sterben, aber
dadurch hat er "uns vom Fluch des Gesetzes losgekauft" (Ga! 3,I3) und
von der Knechtschaft des Gesetzes und des alten Äon befreit (4, I -7;
217
I,4; 2,I9 etc). Das Gesetz macht den bösen Äon radikal böse, und macht
deshalb die Gnade Gottes zu reiner Gnade (vgl auch Rom I -4). Das
"Israel nach dem Fleische" war zugleich das Israel der "Gesetzeswerke",
das "Israel nach dem Geiste" ist das Israel der "Glaubensgerechtigkeit" .25
Wer nach Christus noch für das Gesetz eintritt, leugnet dadurch die
Heilsbedeutung des Todes Christi und macht die Gnade Gottes zunichte
(Ga! 2,2I; 5,2.4), denn er bekennt, dafu er noch im alten Äon steht, und
verneint, dafu der neue schon angebrochen ist. Sich dem Gesetze unter·
ordnen, hiefue für die Christen zu den im alten Äon herrschenden kos-
mischen Mächten zurückkehren und Christus verleugnen (4,8- I I; vgl 5,2.4).
Das nachchristliche Judentum steht also für Paulus mit dem Heidentum auf
einer Stufe, nur vor Christus war Israel das Volk Gottes gewesen l
Paulus verneint also keineswegs, dafu das Gesetz die nach dem
Willen Gottes über Israel, über die Geschichte und über die Welt
herrschende Macht war; Christus ist aber Ende des Gesetzes, Ende der
Geschichte, Ende der Welt (vgl Rom Io,4; Ga! 6,14). In der neuen Zeit
ist Christus an die Stelle getreten, die in der alten Zeit das Gesetz inne-
hatte.26 Die neue Gemeinde lebt ev XpLcr't"<J'l in ähnlicher Weise wie die alte
Gemeinde EV VOp.CJ.llebte (Gal 3,II; 5,4; Rom 2,I2.20; 3, I9). 27 Weil Christus
an die Stelle des Gesetzes tritt, ist er nicht nur das Ende, sondern auch
die Erfüllung des Gesetzes. Das Gesetz als Gebot Gottes ist in dem Liebes-
gebot zusammengefafut (Gal 5,14; vgl Rom 13,8-Io), und in dem Sinne
behält es auch für die Christen als ein "Gesetz Christi" seine Gültigkeit
(Gal 6,2). Die Gemeinde, die "durch den Geist lebt", mufu auch "im Geiste
wandeln", nur dann ist sie nicht unter dem Gesetz (5,25 vgl 18). Die
eschatologisch-pneumatische Existenz wird nicht nur durch eine Rückkehr
zum Gesetz, sondern auch durch ein Leben "nach dem Fleische" verleugnet
(5,13 ff). Diejenigen, die durch den Glauben Kinder Abrahams sind, müssen
als das heilige Volk Gottes leben.
die Toten nicht auferstehen, dann gibt es keinen neuen Äon, dann kann
auch Christus nicht der Anfang dieses Äon sein, also ist auch Christus
nicht auferstanden (rs,r3).
Die Kirche lebt wesentlich von der Auferstehung her und zwar einer-
seits in dem Glauben an die Auferstehung Christi, andererseits in der
Hoffnung auf die Auferstehung der Toten. Sie ist das zu dem kommenden
Äon gehörende Volk Gottes, dies ist sie aber nur, weil sie dem auf-
erstandenen Christus gehört (vgl 3,23), nicht als ob die einzelnen "Heiligen"
als Pm:umatiker schon vollendet wären. Die Kirche g-ehört der eschatolo-
gischen Zwischenzeit zwischen der Auferstehung Jesu und seiner Wieder-
kunft an; das "schon" und das "noch nicht" der Erlösung ist beides gleich
wesentlich. Wer nicht verstanden hat, dafu die Kirche etwas Vorläufiges
ist, hat überhaupt nicht verstanden, was Kirche ist. Die korinthischen
Pneumatiker meinen aber, schon jetzt "zur Herrschaft gelangt" zu sein
(r Cor 4,7 ff; vgl 2 Tim 2,r8). Während Paulus die Galater darüber be-
lehren mufu, dafu sie schon aus dem alten Äon befreit und deshalb ohne
das Gesetz Kinder Abrahams seien, mufu er den Korinthern vorhalten, dafu
sie die "Ekklesia Gottes" nur in der Hoffnung auf die zukünftige Auf-
erstehung sind; sie leben noch in der Geschichte und müssen ein Leben
führen, wie es sich "Heiligen" geziemt. Von der Bewährung der Heilig-
keit des Gottesvolkes in dem geschichtlichen Leben reden die ersten vier-
zehn Kapitel des ersten Korintherbriefes. 29 Wir können deshalb sagen,
nicht "die Auferstehung der Toten", sondern das Leben des Volkes Gottes
ist das Thema des ersten Korintherbriefes, dem sich auch Kap. 15 unter-
ordnet, weil die eschatologische Situation des neuen Gottesvolkes von der
"Auferstehung der Toten" her zu verstehen ist. 30
Dafu wir damit das Thema richtig angegeben haben, wird zunächst
durch eine statistische-lexikalische Beobachtung bestätigt: der Begriff lx.x.'A:'lcr(oc
kommt im 1. Korintherbrief 22mal, im 2. Korinther gmal, in den übrigen
Paulusbriefen zusammen rgmal vor (nicht eingerechnet sind: Eph gmal;
1. Tim 3mal). Das Thema wird auch schon im Präskript angeschlagen;
nur in den beiden Korintherbriefen verwendet Paulus im Eingangsgrufu die
feierliche Formel lx.x.A"rjcr(oc Toü &eoü; damit wird der angeredeten Gemeinde
von Anfang an klargemacht, dafu sie nicht irgend eine korinthische Kult-
genossenschaft, sondern die Versammlung des Volkes Gottes ist. Durch
die beiden hinzugefügten Synonyme ~ytoccr!LivoL und X.A1j't"Ol ocytot 31 (I Cor 1,2)
wird dies noch nachdrücklicher eingeschärft. Paulus wendet sich an die
Gesamtheit der korinthischen Christen, auch wo es sich zunächst um Ver-
irrungen einzelner Gemeindeglieder handelt, und überwindet dadurch die
Tendenz zur Isolierung der Einzelnen (vgl 8,7-13; 14 etc); nach seiner
Anschauung haftet die Gemeinde als solche für alle ihre Glieder (vgl 5;
6; 12). Zugleich überwindet er die Isolierung der korinthischen Einzel-
gemeinde, sie ist ihm nicht die "Ekklesia der Korinther" (vgl r Thes
i,r; 2 Thes r,r), sondern "die Ekklesia Gottes, die in Karinth ist", qie
2IQ
Gemeinde und ihrem himmlischen Herrn; als der Gekreuzigte und Auf-
erstandene ist Christus zugleich der Gastgeber und die dargebotene Speise
dieses "Herrnmahles" (I Cor II,20.23-25; Io,I6). Durch die Feier des
Herrnmahles wird also die Gemeinde als "Ekklesia Gottes" konstituiert
(II,22 vgl 18; I0,17), und zwar als das "Israel kata pneuma".
Daf3 Paulus das Abendmahl mit dem Gedanken von dem neuen Israel
verbindet, geht nicht blof3 aus der typologischen Exegese 1 Cor 10,3 f
hervor. Dafu das Abendmal das Gegenstück zum Päsachmahl ist, wird
allerdings nicht gesagt, aber doch angedeutet. Der Terminus "Kelch des
Segens" (Io,I6) stammt aus der Päsachlitlirgie; die Formel "e:!~- &.vocp.v"'ljcrtv"
(II,24.25) erinnert an die Päsachhaggada; 40 die Einleitung der Abendmahls-
überlieferung mit den Worten: "In der Nacht, in der er verraten wurde"
(I I,23) zeigt, dafu Paulus über den Gang der Leidensgeschichte Bescheid
weif3 und macht es wahrscheinlich, dafu er das letzte Mahl Jesu als ein
Päsachmahl angesehen hat (vgl 5,7 f). Ausgesprochen wird eine andere
Parallele, die zwischen Abendmahl und Opfer; das "Israel kata sarka"
hatte an dem Altar, dem "Tisch des Herrn" (Mal I, 7. I 2) Anteil und dadurch
an Gott (Io,I8); das "Israel kata pneuma" hat an dem Abendmahlstisch,
dem "Tisch des Herrn" (1 Cor I0,2I) und dadurch an dem Herrn Anteil.
Am wichtigsten ist der in der Abendmahlsüberlieferung enthaltene Begrift
des "neuen Bundes". Der Kelch ist "der neue Bund in dem Blute Christi"
(II,2S). Die von Jeremia (31,3I) verheifuene eschatologische Heilsordnung
ist also durch den Tod Christi aufgerichtet, und cl.ie Gläubigen werden
durch das Abendmahl in sie hineingenommen und in ihr erhalten. Im ein-
zelnen kann Paulus verschiedene typologische Vorstellungen nebeneinander
verwenden. Und doch ist für ihn die Typologie keine exegetische Spielerei,
denn es ist ihm wesentlich, daf3 die Sakramente die Gemeinde als das
eschatologische Gottesvolk, das "Israel kata pneuma" konstituieren und an
einer eschatologisch-pneumatischen Heiligkeit Anteil geben.41
· Die Typologie in IO,I ff zu der wir zurückkehren, dient nun freilich
nicht dazu, über die Sakramente oder über das Verhältnis zwischen dem
alten und dem neuen Volke eine theoretische Belehrung zu geben, sondern
nur dem praktisch-paränetischen Zweck, die Christen vor der Sünde zu
warnen. Wenn auch die Väter ihre "Sakramente" hatten, so hatte Gott
an den meisten von ihnen "doch keinen Gefallen, denn sie wurden nieder·
gestreckt in der Wüste" (Io;s; vgl Num q,16), we'il sie nicht lebten, wie
es dem hei"!igen Volke Gottes geziemte (10,6 ff). Ähnlich wird es auch
den Christen ergehen, wenn sie in derselben Weise handeln; auch ihnen
kann die sakramentale Heiligkeit zum Gericht werden (vgl I I ,29 f). Die
Sakramente begründen keinen magisch-naturhaften "character indelebilis"; als
Hineinbeziehung in das Heilsgeschehen verpflichten sie zu einem geschicht-
lichen Leben nach dem Willen Gottes. 42 Die Heiligkeit des neuen wie des
alten Volkes Gottes ist also nicht nur kultisch-sakramental, sondern geschicht-
lich-kultisch-ethisch. Die Sakramente begründen die Ethik, die Ethik ent·
221
handeln, sondern auf den "schwachen Bruder" Rücksicht nehmen (8,7- I3;
I0,29) und auf den Eindruck, den ihre Handlungsweise auf die Auf!en-
stehenden so wie auf die "Ekklesia Gottes" macht (10,28.3 I -33, vgl dazu
das jüdische Motiv der "Heiligung des Namens"). Das Benehmen des
Gläubigen darf nicht nur durch die eigene Gnosis bestimmt sein, es muf!
vielmehr durch seine Stellung als Glied der "Ekklesia Gottes" bestimmt
werden; dieser Gesichtspunkt gibt den Ausführungen des Paulus in r Cor
8-10 wie im ganzen I. Korintherbrief ihre Einheit und hat die Einfügung
des "Midrasch" I o, I ff veranlaf!t.
Verletzt wird die Heiligkeit des Gottesvolkes auch durch die Unzucht,
die ebenso verunreinigt wie der Götzendienst (I Cor 10,8; 6,g.r8). Un-
erhört ist es deshalb für Paulus, daf! in der Gemeinde ein Fall von "Blut-
schande" vorkommt (5,1 ff). Derartiges wird schon unter den Heiden nicht
geduldet (5,1; vgl Lev r8,7 f etc), wieviel weniger sollte es im Volke Gottes
geduldet werden! Die Gemeinde ist die feiernde Festversammlung des
Volkes Gottes, deren Päsachlamm, Christus, schon geopfert ist; es darf in
ihr kein "alter Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit" vorhanden sein,
sondern nur "ungesäuerte Brote der Reinheit und Wahrheit" (5,7 f). Die
Unzucht des Einzelnen verunreinigt die ganze Gemeinde, Paulus schlief!t
deshalb die Behandlung des Falles mit der Aufforderung des Deuteronomiums:
"Tilget den Bösen aus eurer Mitte!" (5,13 vgl Dt 17,7 etc).
Von der Unzucht handelt auch der Abschnitt 6,12-20, wo aber zu-
nächst von dem Einzelnen die Rede ist, der nicht zugleich mit Christus
und mit einer Dirne vereint sein kann (6,15-I8). Dem Bilde vom Tempel
wird hier eine individuelle Anwendung gegeben; der Leib des Christen ist
der Tempel des heiligen Geistes (6,Ig). Doch steht auch hier der Gedanke
an die Gemeinde in dem Hintergrund {vgl 6,20 und die Mehrzahlsform
6,19 f). Der einzelne Christ existiert nicht für sich allein, ?ondern ist
Vertreter der Gemeinde; sein Leib ist ein "Glied Christi" (6,rs), durch
die Unzucht des Einzelnen wird deshalb der (ganze) Tempel des heiligen
Geistes verunreinigt. 47
Auch in Kap. 7, wo Ehefragen behandelt werden, steht der Gemeinde-
gedanke pur im Hintergrund. Die Ehe gehört für Paulus dem "gegen-
wärtigen Äon" an, für das "Israel kata pneuma" hat deshalb die Ehe nicht
mehr die positive Bedeutung, die sie für das "Israel kata sarka" hatte
(7,1 ff .I7 ff .26). Die jüdische Hochschätzung der Ehe ruhte unter anderem
darauf, daf! die. legitime Geburt "in Heiligkeit" für die Zugehörigkeit zum
}ßahäl wesentlich war. Die Gedanken des Paulus sind dagegen von der
eschatologischen Situation bestimmt; der Gedanke, das Kinderzeugen und
Kindererziehung auch für die Kirche eine positive Bedeutung haben könriten,
liegt völlig auf!erhalb seines Gesichtskreises. 48 Etwas Sündiges oder Un-
reines ist ihm aber das eheliche Zusammenleben keineswegs, auch der Leib
ist ihm ja eine Schöpfung Gottes. Ehe oder Nichtehe ist deshalb eine
nebensächliche Frage, entscheidend ist allein, daf! auch im ehelichen Leben
223
die Reinheit und Heiligkeit bewahrt bleibe; das gilt für das neue "Israel"
so gut wie für das alte. Von besonderem Interesse ist für uns 7,I4; Paulus
setzt hier den jüdischen Gedanken voraus, daß die Glieder des Gottesvolkes
,.in Heiligkeit", die Heiden dagegen in Unreinheit leben. 49 Nach jüdischen
Gedanken wurden nun die Juden durch leiblichen Umgang mit Heiden von
der Unreinheit "angesteckt". Paulus aber kehrt den Gedanken um; der
heidnische Ehegatte wird durch die christliche Gattin "geheiligt". Die
Heiligkeit des neuen Gottesvolkes braucht also nicht ängstlich gehütet zu
werden (vgl 5,9 f), wenn nur die Gemeinde und der einzelne Christ nach
dem Willen Gottes leben (vgl s,II), so wirkt die Heiligkeit der Christen
vielmehr selbst "ansteckend". 50
Aus der Stellung der Gemeinde als des Volke-s Gottes ergeben sicll
auch andere Forderungen als die, daß Götzendienst und Unzucht unbedingt
vermieden werden müssen (auch I Cor Io,6 und 9 f ist aber wohl zunächst
auf diese beiden heidnischen Hauptsünden zu beziehen). Die Heiligkeit und
Reinheit wird dann von Grund aus zerstört, wenn jemand an das Fundament
der Gemeinde rüttelt und "einen anderen Jesus verkündigt" (I Cor 3,I7
vgl I I; 2 Cor I I ,3 ff). Nicht unbedingt entscheidende, jedoch sehr große
Bedeutung hat es auch, daß die Gemeinde so "erbaut" wird, wie es ihrem
Wesen als Volk und Tempel Gottes geziemt (I Cor 3,Io-Is; 14). Die
Gemeinde ist zunächst in der kultischen Versammlung das Volk Gottes; es
ist deshalb wichtig, daß diese Versammlung in einer würdigen Weise gestaltet
wird. Die "Ekklesia Gottes" darf nicht verachtet werden (I I,22). In der
Versammlung um das Herrnmahl (II,J7-34l und in der Versammlung 1,1m
das Wort (I 4) muß alles "wohlanständig und ordentlich zugehen" (I 4,40 ).
Die Gemeinde soll wirklich erbaut werden (I4r3-S·l2 etc); der Außen-
stehende soll erkennen müssen, daß in der Ekklesia Gott selbst gegenwärtig
ist (I4,24 f; die Anlehnung an atl. Stellen, Dan 2,47; Jes 45,14; Zach 8,23;
Dt 4,7, zeigt, daß von der Gegenwart Gottes in seinem Volke die Rede ist).
Der Wortgottesdienst in Gegenwart der Außenstehenden, der lötw-roct
~ ocmcr-rot (14,23), wo die Gemeinde dem Gebet mit ihrem "Amen" zustimmt
(J4,I6}, entspricht gewisserrnaaen dem Gottesdienst der Synagoge. Paulus
legt aber gar keinen Wert darauf, ihn dem Synagogengottesdienst möglichst
ähnlich zu gestalten, von Schriftlesung und Predigt verlautet nichts; 51 ihn
interessiert nur, daß der Gottesdienst dem Wesen der neuen Gemeinde
entsprechen soll. Von der allgerneinen Forderung der Ordnung abgesehen,
kommt der Anschluß an die jüdische Sitte nur in dem Gebot an die Frauen
zum Ausdruck; auch wenn sie prophezeien, sollen sie ihr Haupt bedeckt
haben (u,2-I6); 52 nach 14,33 b-36 sollen sie überhaupt schweigen. 53
Das Schweigegebot wird nicht nur durch die gemeinkirchliche Sitte, sondern
auch durch einen Hinweis auf das Gesetz begründet (I4,34). Auch sonst
kann Paulus das Gesetz zur Begründung von Ordnungen des kirchlichen
Lebens verwenden (g,g.13; vgl .5,13; ro,r8 etc), er macht aber gar keinen
Versuch, dies systematisch durchzuführen, um die Lebensordnungen der
224
geordnet. 60 Wir können hier auf die früheren Untersuchungen dieses Begriffes
verweisen; in unserem Zusammenhang ist die wichtigste Frage die, ob
die Vorstellung vom Leibe Christi dem Gedanken vom Volke Gottes gegen-
über selbständig ist, so dafu wir bei Paulus zwei verschiedene "Kirchen-
begriffe" zu unterscheiden hätten/ 1 oder ob beide Vorstellungen auf einander
bezogen sind.
Der Begriff "Leib Christi" hat im Hellenismus mehrere Parallelen.
Das Bild von dem Leibe und den Gliedern war in der Populärphilosophie
beliebt. 62 Den stoischen Aussagen haftet nun aber eine ähnliche Doppelheit
an wie den paulinischen; neben dem Bilde steht die reale Aussage; die Welt,
bzw. die noetische Welt, ist ein Leib, dessen Glieder die Menschen sind.
In dieser letzten Wendung haftet also das Interesse nicht wie in dem
Organismusgedanken an der Verschiedenheit und dem Aufeinander-Angewiesen-
sein der Menschen, sondern an ihrer Gleichheit und Einheit: weil alle an
derselben Natur und Vernunft teilhaben, sind sie zur Menschenliebe verpflichtet
(vgl bes. Mare Aurel7,13; Seneca Ep 92,30; 95,51 f). 63 Eine andere Analogie
zu der realen Aussage bei Paulus ist in neuerer Zeit in der gnostischen
"Aion "-Vorstellung nachgewiesen; die in der Welt zerstreuten Teile des
himmlischen "Anthropos" sind Glieder des Urmenschen-Erlösers. 64 Dafu hier
wirkliche Analogien zu der paulinischen Vorstellung vorliegen, ist deutlich,
ebenso klar ist aber auch der Unterschied: die stoische Vorstellung ist
pantheistisch-kosmologisch; die gnostische ist dualistisch-soteriologisch -
insofern liegt sie der paulinischen näher - aber der Dualismus und die
Erlösung werden "naturhaft" verstanden. Die paulinische Anschauung dagegen
ist christologisch-eschatologisch und deshalb auch geschichtlich. 65 Die Frage
ist, ob hier mehr als Analogien vorliegen, nähmlich eine Übernahme und
Umwandlung der stoischen oder gnostischen Vorstellungen durch Paulus.
Was das stoische Bild anbetrifft, so kann die Abhängigkeit des Paulus nicht
geleugnet werden. Ob die Aussagen der älteren Paulusbriefe auch von
der gnostischen Vorstellung abhängig sind, ist schon aus chronologischen
Gründen schwieriger zu sagen. 66
Sachlich ist der Kirchenbegriff des Paulus aber derselbe, ob er nun
vom "Volke Gottes" oder vom "Leibe Christi" spricht. 67 Der "Leib Christi"
wird durch die Sakramente konstituiert und dadurch durch das Christus-
geschehen (10,16 f; 12,13). "Leib Christi" sind die Christen durch den Geist, 68
und im Leibe Christi ist der Unterschied zwischen Juden und Griechen
aufgehoben (12,13). Die Stellung als "Glied Christi" verpflichtet zu einem
heiligen Leben, vor allem zur Vermeidung der Unzucht {6,15). Im Leibe
Christi darf es kein "Schisma" geben, die Glieder sollen für einander sorgen
{12,25 vgl ·q. ff). Das stimmt genau mit dem überein, was Paulus von
der Kirche sagt, dort wo der Begriff "Volk Gottes" genannt wird oder
ungenannt vorschwebt. Die doppelte Verwendung des Begriffes "Leib Christi"
stimmt mit der doppelten Verwendung der Vorstellung vom "Israel kata
pneuma" überein. Der mystisch-realen Aussage entspricht das eschatologische
226
ev 7t've:up.oc) erinnernde Formel "ein Leib - eine Seele" fehlt aber dort. 74
Wenn im ausgeführten Bilde nicht von dem Leibe, sondern von dem Schafe
die Rede ist, so nur deswegen, weil es für die Rabbiner notwendig war,
an eine Bibelstelle anzuknüpfen. Die rabbinische Stelle exegiert den Begriff
"heiliges Volk", sachlich tut die paulinische dasselbe. Wir dürfen den Schlufu
ziehen, daf3 das hellenistische Bild durch das Judentum an Paulus vermittelt
worden ist oder jedenfalls, daf3 die Anknüpfung an die stoische (und evt.
gnostische) Terminologie dadurch erleichtert worden ist, daf3 ihm der Vergleich
zwischen dem Volke Israel und dem Leibe bekannt war.
Die jüdischen Aussagen sind freilich zunächst nur eine Parallele zu
der paulinischen Verwendung des Organismusgedankens; ihnen fehlt der
sakramentale Realismus {vgl "eine Seele"- Mechilta R Schim b J gegenüber
"ein Geist"- Paulus). Was die Aussagen des Paulus über die rabbinische
Parallele hinausführt, ist in der neuen, durch Christus bestimmten eschato·
logischen Situation der neuen Gemeinde begründet. Mit Recht hat man
aber darauf verwiesen, daf3 der Gedanke vom "Leibe Christi" auch in seiner
"mystischen" Verwendung eine jüdische Wurzel hat: die Einheit zwischen
Messias und messianischem Volke, zwischen dem Menschensohn und den
Auserwählten. 75 Das neue Volk Gottes kann deshalb nicht nur mit dem Leibe
verglichen, sondern auch als der "Leib Christi" angesprochen werden, weil
in und mit Christus auch die messianische Gemeinde erschienen ist. Man
kann sogar erwägen, ob r Cor r2,I2 mit "so verhält es sich auch mit dem
Messias" zu übersetzen sei, denn in dem determinierten "o Xp~cr't'o~" klingt
der Messias-Gedanke am ehesten noch hindurch (Rom 9,5; I Cor Io,4; vgl
I Cor I,I3; Il,3; 2 Cor 5,Io; Rom I5,3·7; Phi! r,I5·17; 3.7; Col3,4).
Dem sei, wie ihm wolle, jedenfalls liegt die sachliche Voraussetzung für
die Bildung des Begriffes "Leib Christi" in dem jüdischen Gedanken von
der Einheit zwischen Messias und messianischer Gemeinde, in dem christ·
Iichen Glauben an die Erhöhung Jesu und in der Gewifuheit, daf3 die
Gemeinde "in Christus" das zum neuen Äon gehörende Volk Gottes sei.
Weil in dieser Weise eine sachliche Analogie zu der gnostischen Vorstellung
gegeben war, konnte eine Anknüpfung an die gnostische Terminologie
möglich werden.
Eine paulinische Parallele haben wir in der Auffassung von Christus
als dem "letzten Adam" und dem "zweiten Anthropos", der gl'eich dem
ersten eine Menschheit in sich schliefut (I Cor I5,2r f ·44- 49; Rom 5,I2- I9;
vgl Ga! 3,27 f; Eph 2,15; 4,24; Co! 3,9). Dahinter stehen jüdische Adam·
Messias Spekulationen. 76 Besonders wichtig wäre für uns die Aussage:
"Der Sohn Davids kommt nicht eher als bis alle Seelen im güf zu Ende
sind" (b Jeb 62 a .63 b; b Ab zar 5 a; b Nidda I3 b; R Asi bzw. Jose, pAm 3),
wenn hier "güf" auf den Körper Adams zu beziehen ist, in dem alle Seelen
schon vorhanden sind. 77 Die eschatologische Pointe dieser Haggada legt
den Gedanken nahe, daf3 am Ende alle Menschen in den "Leib" des Messias
gesammelt werden sollen, wie sie am Anfang in dem "Leib" des Adams
228
gesammelt waren; zu vergleichen ist I Hen 49,3 (oben S. go) und die
Lehre des Symmachus: "eum ipsum (Christum) Adam esse, et esse animam
generalem" (nach Marius Victorinus MPL VIII I I 55 vgl oben S. l i sl.
Wir müssen also mit der Möglichkeit rechnen. dafu hinter dem mystischen
Begriff "Leib Christi" eine jüdische, messianologische Gnosis steckt. Auf
alle Fälle kann eine gnostische Interpretation eine jüdische nicht aus-
schliefuen, denn schon im Judentum war Israel-Gedanke und Aion-Vorstellung
verknüpft worden (vgl oben I06; S. II4ff); die Verwendung des Leib-
Glieder Schemas läfut sich freilich meines Wissens nicht als vorchristlich-
jüdisch belegen; vgl jedoch die Stelle aus dem "unbekannten altgnostischen
Werk" oben S. I I6, ferner Od Sal 6,16). 78
Ob nun die Anknüpfung an eine gnostische Terminologie tatsächlich
nicht nur im Kolosser- und Epheserbrief, sondern schon im r. Korintherbrief
stattgefunden hat, oder ob Paulus selbst den Begriff "Leib Christi" etwa
im Anschlufu an die Abendmahlsterminologie (und die stoischen und jüdischen
Bilder) gebildet hat, wird für uns eine nebensächliche Frage. Uns genügt
die Feststellung, dafu die Gemeinde gerade als Volk Gottes der Leib Christi
und als Leib Christi das Volk Gottes ist. 79 Der Begriff "Leib Christi" ist freilich
der charakteristischste Ausdruck des paulinischen Kirchengedankens, denn durch
ihn kommt die Eigenartdes neue n Gottesvolkes am klarsten zum Ausdruck.
Über den "Leib Christi" spricht Paulus in dem Abschnitt, der von
den Geistesgaben handelt (I Cor I2-I4). Für die Korinther sind diese
Gaben: Zungenreden, Gnosis, Sophia, Mysterien wissen, die wesentlichen
Gaben des Christentums. Auch für Paulus sind die übernatürlichen Geistes-
gaben von grofuer Bedeutung, denn sie beweisen, dafu die Kirche jetzt in
der eschatologischen Zeit, der Zeit der Erfüllung lebt (vgl I4,21.25 und
I Cor 2,6 ff, wo neben der Anlehnung an die Mysterienterminologie die
Anlehnung an die Sprache der Apokalyptik nicht zu übersehen ist). Für
Paulus wird aber die Kirche als das neue Gottesvolk nicht wesentlich
durch die Charismen konstituiert. Die Charismen unterliegen viel mehr
selbst der Prüfung (I2 1 1-3.10) und sind nur so weit wertvoll, als sie
zur Erbauung der Kirche dienen (I4). Konstituiert wird das von den
Heidenvölkern ausgesonderte Volk Gottes durch das Bekenntnis zum Kyrios
Jesus, und dieses Bekenntnis ist der Prüfstein, ob wirklich der Geist
Gottes spricht (I2,I-3). Nicht die verschiedenen Charismen, sondern das
Bekenntnis zum Kyrios, das Begabtsein mit dem einen Geist, die Zugehörigkeit
zum Leibe Christi ist das Wesentliche (I2,I -3.4- I I. 12 ff). Weil sie getauft
sind (r2,r3) und das Bekenntnis "Kyrios Jesus" abgelegt haben (r2,3),
haben alle Christen den heiligen Geist erhalten und sind als Pneumatiker
zugleich Charismatiker, 80 Glieder des endzeitliehen Gottesvolkes. Die Charismen
sind zwar erstrebenswert (12,31; I41 I), darüber hinaus gibt es aber etwas
Höheres, die Liebe (r2,3I b; 13; 14,r a). 81 Ohne Liebe ist auch der gröfute
Charismatiker nichts! Wie das Bekenntnis xupto~ 'I'YjcrOu~, wie '1t'VEU[LOC di.ytov
und crw1.Loc x.ptcrnu so umschreibt auch <Xyoc'1t''YJ das Wesen des neuen Volkes
Gottes. 82 Kapitel I3, I -7 ist em Lobgesang auf die Agape, etwa nach der
Art der jüdischen Lobreden auf die Weisheit oder das Gesetz; I3,8-I2
dagegen eine eschatologische Offenbarungsrede, und von dem apokalyptischen
Gegensatz zwischen dem "Vergehenden" und dem "Bleibenden" beherrscht. 83
Was vergeht, sind für Paulus die Charismen, denn sie sind nur "Stückwerk",
vorläufige Gaben der eschatologischen Zwischenzeit, und werden dann weg-
fallen, wenn das Vollkommene kommt (!3,7- I2). Die Agape dagegen bleibt,
sie ist das Wesen des kommenden Äon selbst Ü3,7-I3), zugleich die Gabe
des Geistes (Gal 5,22) und die Erfüllung des Gesetzes (Rom I31 8-Io),
deswegen auch das Lebenselement der Kirche,S 4 des neuen Volkes Gottes.
Das Leben der Christen mufu ein Leben in Heiligkeit und Einheit, vor
allem aber ein Leben in der Liebe sein. Deshalb ist in der Tat Kap. 13
der "eigentliche Höhepunkt" des ersten Korintherbriefes, 85 des Briefes,
dessen Thema das Leben des neuen Gottesvolkes ist.
die Herrlichkeit des alten Bundes nur eine vorläufige war (2 Cor 3, I 2 ff).
Dieses jüdische Mifuverständnis war aber in dem Willen Gottes eingeschlossen,
denn dadurch wurde Christus ans Kreuz, die Juden zu Fall und das Heil
zu den Heiden gebracht (Rom 9,30 ff; I I,8 ff; Ga! 3,I3). Und dem, der
das Gesetz in rechter Weise hört, wird auch der tötende Buchstabe zum
Leben, weil er ihn zur Erkenntnis der Sünden führt und so für die Recht·
fertigung durch Christus vorbereitet (Rom 3,2o; 7; Ga! 2,19).
Das Kreuz Christi bedeutet die Aufuerkraftsetzung des Wortes des
alten Bundes in seinem Charakter als "Gramma" und "Nomos" (2 Cor
3,14; Rom 7,r-6; Io,4; Co! 2,I5). Durch die Auferweckung des Ge-
kreuzigten hat Gott das neue Wort des Evangeliums eingesetzt (Rom
Io,6-8.I4 ff; I Cor IS,I ff; 2 Cor s,I8 ff; Ga! I,I2). Das Evangelium
ist dasselbe Wort Gottes, das in der Schrift vorherverkündigt war (Rom
I,I f; IO,ISi I Cor IS,3 f), und es ist d~ch etwas Neues, weil es nicht
mehr die Gestalt des Buchstabens hat, sondern als Wort des Auferstandenen
Kraft und Geist ist (Rom I,r6; IS,I9i I Cor r,I8; 2,4f; 2 Cor 6,7;
I Thes r,s; Rom 8,2; 1 Cor 2,ro; I2,4ff; 2 Cor 3,6.8). 100 Zwar wirkt
auch dieses Wort den Tod, nämlich für diejenigen, die es nicht annehmen,
und deshalb auch für die Juden, die noch an dem alten Buchstaben fest·
halten (2 Cor 3,14f; Rom Io,I6-2Ii vgl I Cor r,I8ff; 2 Cor 2,I5f;
4,3 f). Das eigentliche Wesen des Evangeliums ist aber Gerechtigkeit,
Leben und Heil zu bewirken (I Cor r, I8 ff; 2 Cor 2,14-17; 3,9;
4, I -6 etc); durch das Evangelium erweckt sich Gott ein neues Volk aus
Juden und Heiden (Rom 9,24-26; vgl ro,I4ff). Das Wort Gottes als
Buchstabe und das "Israel kata sarka", das Wort Gottes als Geist und
Kraft und das "Israel kata pneuma" sind demnach Korrelatbegriffe.
Die Einheit zwischen den Israeliten und den Christen liegt darin, daß
Gott mit allen beiden seinen Bund aufgerichtet hat, der Unterschied ist
der zwischen dem alten und dem neuen Bunde, was. Paulus an der schon
mehrfach erwähnten Stelle 2 Cor 3,4 ±r im Anschlufu an Ex 34,29 ff aus·
führt. Die Herrlichkeit des Antlitzes Mose zeigt die Herrlichkeit des alten
Bundes (3,7), diese Herrlichkeit war aber eine vergehende und zugleich eine
verhüllte, und zwar wurde sie gerade deswegen verhüllt, weil verborgen
werden sollte, dafu sie eine vergehende Herrlichkeit war (3,13- 15; Paulus
scheint hier' geradezu das falsche Verständnis der Juden schon in dem
Verhalten des Mose vorgebildet zu sehen. 101 Der Dienst des alten Bundes
war ein Dienst des Todes und der Verdammung, im Vergleich mit dem
Dienst des neuen Bundes, der ein Dienst, der Gerechtigkeit · und des
Geistes ist (3,6-9). Die Herrlichkeit des neuen Bundes dagegen ist eine
bleibende (3,8- 11); durch den Geist dürfen die Christen die Herrlich·
keit des Herrn schauen und gewinnen selbst an dieser Herrlichkeit teil
(3,17). 102 Diese "Herrlichkeit Gottes in dem Antlitz Christi" ist den
Christen durch die Verkündigung von Jesus Christus als dem Herrn ge·
offenbart (4,4- 6), 103 während die Juden auch die Herrlichkeit des alten
233
Bundes nicht erkannten, wegen der "auf der Vorlesung des alten Bundes"
(=Alten Testamentes) liegenden Decke (3, 14). Diese Decke wird erst
dann weggenommen, wenn erkannt wird, dafu der alte Bund in Christus
beseitigt ist (3, 14- r6). Dies haben die Christen erkannt, sie allein können
die Schriften richtig verstehen, weil sie darin nur das alte Testament sehen.
Weil die Christen erkannt haben, dafu die Herrlichkeit des alten Bundes
eine vergehende war, können sie die Herrlichkeit Christi auch in dem Alten
Testamente bezeugt sehen. Paulus ist davon überzeugt, dafl die Schrift
nicht nur um des alten Gottesvolkes willen geschrieben wurde; geschrieben
wurde sie vielmehr um der Christen, der Glieder des eschatologischen
Gottesvolkes willen, zu denen "die Enden der Äonen gekommen sind"
(r Cor IO,I I; vgl 9.9 f; Rom 4,23 f; 15,4; I6,25 f). Den Christen ist also
nicht nur das Evangelium geoft'enbart, sondern auch das alte Wort Gottes
in den Schriften ist ihnen neu erschlossen worden. Schriftauslegung
und Kirchenbegriff korrespondieren bei Paulus miteinander. Von seinem
Standort in dem "pneumatischen" Israel her gewinnt er das Recht zu
einer "pneumatischen" Auslegung des Alten Testamentes, und durch die
"pneumatische" Auslegung des Alten Testamentes gewinnt er das theolo-
gisch geklärte Verständnis der Kirche als "Israel kata pneuma" (vgl I Cor
ro,rff; 2 Cor 3,6ff; Gal 3; 4,21-31; Rom 9-II). 104
Der Dienst des neuen Bundes ist für Paulus der apostolische Dienst
(2 Cor 3). Zu dem Christusevangelium gehört wesentlich hinzu, dafl es von
dem Apostel - und von den Aposteln - verkündigt wird (Rom r, r ·5; I Cor
I5,I-rr; 2 Cor 4.5; 5,I8-20 etc) 105 deshalb sind die Gemeinden nicht,
nur an Christus und an das Evangelium, sondern flUCh an die Apostel
gebunden. 106 Dies wird vor allem an dem Verhältnis zwischen Paulus und
seinen Gemeinden deutlich. Er ist ihr Gründer (I Cor 3,6.ro etc) und ihr
Vater (I Cor 4,14 f; 2 Cor 6,13), ist ihnen auch wie eine Mutter (Gal 4,19
vgl I2-2o; I Thes 2,7-I2). Sein Dienst ist nicht mit der Gründung
beendet, sondern er ist fernerhin ihr Leiter (Phil 2, I 2; Rom I 21 3; r 5, I 5
etc) und soll die Gemeinde als eine reine Jungfrau zu ihrem Manne, Christus,
führen (2 Cor I I ,2). Zwischen dem Apostel und der Gemeinde besteht
eine Gemeinschaft im Geben und Nehmen (Rom I ,Ir f; I Cor 9,1I;
2 Cor 6,rr-r3; Phil 2,I8; 4 1 15), zuweilen auch eine Zusammenarbeit im
Evangelium (Phi! I 15-7; 4,ro-2o), immer eine gegenseitige Fürbitte
und Danksagung (Rom 1,8; r Cor I,4; Phi! 1,3 f; I Thes I,2 f etc
- Rom I5,30; 2 Cor I,II; Col 4.3; I Thes 5,25; 2 Thes 3,1).
Der Apostel ist der Diener der Gemeinde (I Cor 3,5; 2 Cor 1,24; 4,5)
und hat seinerseits einen Anspruch auf den Dienst der Gemeinde (r Cor
I6,17 f; Phi! 2,25 f 30; 41 IO-I9), wenn er auch meistens auf diesen
Dienst verzichtet hat (r Cor 9,4-15; 2 Cor II,7 ff; I Thes 2,7). Der
Apostel und die Gemeinde leben mit und für einander; er ist für sie das
Vorbild 107 und leidet stellvertretend für sie (I Cor 4,9-I3; 2 Cor I,6 f;
4,Io'-I2.r5; 12,I5; Co\ r,24). Was an dem Apostel geschieht, ist Tür
die ganze Gemeinde von Bedeutung (Rom r6,4; 2 Cor r,4-ri; 2,5;
4,ro-rs etc); was an der Gemeinde geschieht, trifft auch ihn, er trägt
sie ja in seinem Herzen (Phil r,7; 2 Cor 7,3; u,28 f etc). Das apostolische
Selbstgefühl des Paulus ist in den Gemeinden begründet (Phil 4,1; r Cor
rs,3r; vgl r Cor 9,1; 2 Cor 3,3; ro,r3-r6; 2 Thes 1,4) und das kirch-
liche Selbstgefühl der Gemeinden in dem Apostel (z Cor 5,12), und auch
am Tage Christi werden die Gerneinden der "Ruhm" des Apostels, der
Apostel der "Ruhm" der Gemeinden sein (r Thes 2,19; Phil 2,r6;
2 Cor r,14). 108
Dieses Für- und Mit- und ln-einander besteht zunächst zwischen Paulus
und seinen eigenen Gemeinden, aber darüber hinaus hat sein Apostolat
eine gemeinkirchliche, weltumspannende Bedeutung (Rom I,s.Io-rs;
II,I3 f; I5,I5-29i 2 Cor IO,I3-r6; vgl auch Rom r6,16; I Cor I6,19i
2 Cor 13,12). 109 Diese "heilsgeschichtliche" Stellung hat der Apostel nicht
an sich, denn in sich selbst ist er schwach (I Cor 2,3; 4,9-13; 2. Cor
3,4f; ro,IO; u,3o; 12,9f; Gal 4,13). Er hat für die Gemeinde keine
selbständige Bedeutung, sondern ist um ihretwillen da (r Cor r,12--17; 3,5;
3,22-4,1; 2 Cor I,24), wenn er freilich auch nicht vor der Gemeinde,
sondern nur vor Christus verantwortlich ist (I Cor 4,2- s). Seine Autorität
hat er nur als "berufener Apostel", als bevollmächtigter Vertreter Gottes und
Christi(Rorn l,r; I Cor r,Ij 9,Ij rs,B·-II; Gal r,I.15f). Nur als Träger
des Wortes ist der Apostel zu würdigen (Rom 1,r.s; I Cor I,J7 ff; 4,1;
2 Cor 2,14-6,Io; Gal r,6-9.11 f; Phil I,I2 ff), aber als solcher ist er
der Mitarbeiter Gottes (I Cor 3,9; vgl I Cor 9,23), 110 und Christus redet
und lebt in ihm (2 Cor 5,20; I3,3; Gal 2,19 f; 6,17; Phil I,8).
Ekklesia und Apostel sind also Korrelatbegriffe, und das auch in dem
speziellen Sinne, dafl die durch das Wirken des Apostels entstandene
Gemeinde das "Israel Gottes" ist. Paulus ist zwar der Apostel der Heiden
(Rom I,5i II,I3i rs,r6.r8; Gal r,r6; 2,7-9), er ist aber selbst "von
Natur" ein Jude und "nicht als Heide geborener Sünder'1 (Gal 2,rs;
vgl r,r3 f; Rom u,r; 2 Cor r 1,22 f; Phil 3,5 ff). Jerusalem ist der Aus-
gangspunkt seiner Mission (Rom 15,19). "Apostel sein, heiflt nicht einfach
zu d~n Heiden geschickt werden, sondern bedeutet allemal: von den Juden
zu den Heiden gesandt werden. "m
Ob Paulus sich nun Rom r,1; Gal r,rs ausdrücklich als "Pharisäer"
des neuen Bundes hat bezeichnen wollen, mag dahingestellt bleiben.U 2
Zweifelhaft ist auch, ob er, bevor er "Apostel Christi" wurde, ein "Apostel
des Synedriums" (vgl Act 9,1 f) oder ein jüdischer Missionar gewesen ist. 113
Der Zusammenhang des christlichen Apostolats mit dem jüdischen und die
neue Art des christlichen Apostolats entspricht dem Verhältnis zwischen
dem alten und dem neuen "Israel", nachdrücklich betont wird das aber
nicht. 114 Wichtiger ist, dafl Paulus auch sein eigenes apostolisches Wirken
im Lichte der atl. Typologie sieht. Als Apostel verrichtet er einen priester-.
liehen Opferdienst (Rom 15,16; Phil 2, J7).U 5 Sein apostolisches Sendungs-
235
vergrößern die Verantwortlichkeit und die Schuld der Juden, und nur In
dieser Weise steht der Jude an erster Stelle (2.4-9 f; 3,I9 f).
In einem anderen Lichte als in Rom r-3 sieht Paulus die Sünden
der Juden und der Heiden, wenn er ihre Stellung zum Evangelium berück-
sichtigt. Nicht die groben Sünden der Juden und der Heiden, sondern
gerade das, was bei ihnen menschlich gesehen das Wertvollste ist, hat sie
zu Fall gebracht. Die Juden suchen Zeichen und suchen durch Werke des
Gesetzes zur Gerechtigkeit zu gelangen; deshalb ist ihnen das Kreuz Christi
ein "Skandalon" (I Cor I,22 f; Rom 9,3I-Io,3; II 1 7 ff). Die Griechen,
die für Paulus die charakteristischen Vertreter der heidnischen Welt sind, 129
suchen Weisheit; ihnen ist das Kreuz Christi eine Torheit (I Cor I,I8-23).
Gott aber hat beschlossen, durch das Ärgernis und die Torheit des Kreuzes,
die Welt zu retten und hat dadurch die Werke der Juden und die Weisheit
der Griechen zunichte gemacht (I Cor I,r8-25; Rom 9,33). Gott hat
weder gerechte Juden noch weise Griechen erwählt, sondern das in der
Welt Törichte und Schwache, das, was nichts war, hat Gott ausgesucht,
um die Weisen und Starken, die in der Welt etwas gelten, zu beschämen
(I Cor I ,26-29; vgl 4,9- I3). Auch in diesem Lichte ergibt also die
Betrachtung der Stellung der Juden und der Heiden dasselbe Ergebnis:
nicht Einer darf sich vor Gott rühmen (I Cor I 129); das Heil ist aus-
schliefulich das Werk Gottes.
"Das Evangelium ist eine Kraft Gottes zum Heil - zuerst für den
Juden" (Rom I,I6). Dafu der Jude auch als Empfänger des Evangeliums
an erster Stelle steht, ist durch die heilsgeschichtliche Stellung Israels be-
gründet: "Christus ist ein Diener der Beschneidung geworden - um die
Verheifuung an die Väter zu bestätigen," dadurch wird die Wahrhaftigkeit
und die Treue Gottes erwiesen (Rom IS,8). Das Evangelium ist aber auch
für den Griechen eine Kraft zur Rettung (Rom I,I6; 3,3o; I Cor I,24 etc).
Für Paulus stellt sich nun die Sache so dar, daß einige von den Juden
-oder die meisten von ihnen- oder Israel als Ganzheit- das Evangelium nicht
geglaubt haben (Rom 3,3; vgl I I 1 I7.25; II,7ff; 9,3I-Io,3; IO,I9-21),
während nicht nur einzelne Heiden, sondern durch die einzelnen die Heiden
a]s solche gläubig geworden sind (Rom 9,30; I I, I I f; I 5,9- I 2. I 6.27;
Ga! 3,8.I4). Dadurch zeigt sich die souveräne Freiheit und die unbegründete
Gnade Gottes, der nicht nur der Juden, sondern auch der Heiden Gott ist
(Rom 3,26.29; 9 1 I4-26; Io,r2; rs,9).
In Christus gibt es "weder Juden noch Griechen", das ist ein
Fundamentalsatz in der Theologie des Paulus und ein Leitsatz seines
apostolischen Wirkens (Co! 3,II; Ga! 3,28; Rom IO,I2; vgl I Cor I2,r3;
7,I9; Ga! 5,6; 6,Is). Gegenüber Juden und Heiden ist die Kirche etwas
Neues, ein "drittes Geschlecht", wie man später sagte (I Cor ro,32). Mit
dem Ausdruck "die Heiden" kann Paulus die Nicht-Christen bezeichnen,
die dem neuen Israel nicht angehören (I Cor s,I; I2,2; I Thes 4,sl,l 30
wenn er auch nicht die Juden zu den "Heiden" rechnet (vgl jedoch Phil 3,2;
Ga! 4,8-10, oben S. 235 und 217; - der Ausdruck o! e~w umfaßt wohl
Heiden und Juden; I Cor s,r2 f; I Thes 4,12; Co! 4.s). Innerhalb wie
außerhalb der Kirche hat also nach der Meinung des Paulus der Gegensatz
zwischen Heiden und Juden seine eigentliche Bedeutung verloren. Nur
das missionarische Ziel bestimmt die Haltung des Apostels: den Juden
wurde er wie ein Jude, um Juden zu gewinnen - den "Gesetzlosen" wurde
er wie ein "Gesetzloser", um die "Gesetzlosen" zu gewinnen (I Cor 9,20 ff;
vgl Rom I,14). Dieses Prinzip der Prinzipienlosigkeit ist auch für andere
vorbildlich (1 Cor 9; vgl 10,33 f). Der ganzen Frage nach jüdischer
oder heidnischer Lebensweise darf innerhalb der Gemeinde kein allzu
großes Gewicht beigernessen werden. Wenn in Antiochia die Juden-
christen sich von den Heidenchristen zurückzogen, bedeutete das eine
Ge!ährdung der Einheit der Gemeinde und einen Zwang auf die Heiden-
christen, sich der jüdischen Lebensweise anzuschließen; deshalb mußte
Paulus aufs schärfste protestieren (Ga! 2,I I ff). Wenn nichts Derartiges auf
dem Spiele steht, darf der Christ gewordene Jude ruhig auch fernerhin als
Jude leben und tut nach der Meinung des Paulus recht daran (r Cor 7, r 8 f;
vgl Act 21,21 ff)Y 1 Wir dürfen hier auf die Äußerungen des Paulus über
die "Starken" und "Schwachen" verweisen, denn der "schwache Bruder"
ist wohl vor allem der Judenchrist (Rom 14; vgl r Cor 8; ro). 132 Weder
der "Schwache" noch der "Starke" darf den eigenen Standpunkt als den
für alle Christen verbindlichen ansehen; ein jeder soll nur in seinem eigenen
Gewissen sicher sein, und den anderen respektieren ;und auf ihn Rücksicht
nehmen. Gerade das Nebeneinander von einer freien und einer mehr
gesetzlich gebundenen Richtung innerhalb der Gemeinde zeigt dann, daß
weder Freiheit noch Observanzen, sondern allein der Glaube und die Liebe
entscheidend sind. Trotzdem der Unterschied zwischen Juden und Heiden
die prinzipielle Bedeutung verloren hat, ist also die Spannung auch innerhalb
der Gemeinde geblieben. Die Dialektik des Verhältnisses ist nicht ver-
schwunden, sondern macht sich in neuer Weise geltend. Das wird deutlicher,
wenn wir nicht auf das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen in
den Einzelgemeinden, sondern auf ihre Stellung in der Gesamtkirche sehen.
Nicht nur in ihrem Gläubigwerden, sondern auch in ihrem Gläubigsein
sind die Heidenchristen dem Paulus Vertreter der Heidenvölker insgesamt
(Rom 4·17 f; II,I3.2S; rs,9-12.I6.27; Ga! 2,12.14; Co! 1,27; vgl Eph
3,1). Deshalb kann er auch seine Gemeinden "od bc.x}Yjcr[oct -rwv !Hl-vwv"
nennen (Rom r6,4). Die christliche Ekklesia ist daher nicht nur an die
Stelle des israelitischen ~ähäl, sondern auch an die Stelle der griechischen
Ekklesia getreten, 133 spricht doch Paulus von der "Ekklesia der Thessa-
lonicher", den "Ekklesiai der Makedonier" usw. (I Thes 1,r; 2 Thes I,r;
2 Cor 8,r; I Cor I6,r.I9; Gal I,2); die christliche Ekklesia, nicht die bürger-
liche, ist ihm also die wahre Vertreterin der Städte und der Provinzen. Die
Einzei-Ekklesia vertritt das Volk Gottes an dem betreffenden Orte und vertritt
gleichzeitig ihre Stadt und ihre Provinz in dem Volke Gottes. Paulus denkt
"ganzheitlich", als Hellenist und römischer Bürger denkt er aber weniger
"völkisch II als "staatlich"; 134 daß 't"OC e-&v'Y) die Heiden V ö 1k er sind, darf
man nicht stark betonen. Zwar kann er neben dem Griechen und dem
Juden auch den Skythen nennen (Co! 3, r r), aber nicht der völkische,
sondern der kulturelle Unterschied zwischen Griechen und Barbaren ist für
ihn das wichtige (Rom Iri4). Paulus denkt weniger in "Völkern" als in
"römischen Provinzen" / 35 er spricht von "Asia" und "Achaia" und meint
die christlichen Gemeinden dort (Rom 15,26; 2 Cor 9,2; vgl 2 Cor r,r etc).
Die zuerst Gewonnenen sind ihm die "Erstlingsfrüchte", die dafür bürgen,
daß die gesamte Provinz für Christus gewonnen werden wird (Rom r6,5 f;
r Cor r6,rs). 136
Im Zusammenhange mit solchen Gedanken müssen wir auch den
Missionsplan des Paulus verstehen. Seine Aufgabe sieht er vor allem darin,
in den größeren Städten, besonders in den Provinzhauptstädten, Gemeinden
zu gründen. Weil diese Gemeinden die Provinzen repräsentieren, und dafür
bürgen, daß die Städte und durch sie die Provinzen unter dem Herrschafts·
anspruch Christi stehen, sieht Paulus seine Aufgabe dann für erledigt an,
wenn diese Gemeinden einen einigermaßen festen Bestand gewonnen haben.
Auch die kleineren Gemeinden, die von diesen Zentralgemeinden aus ge-
wonnen worden sind, gehören für Paulus zu seinem Missionsgebiet (vgl
den Kolosserbrief, bes 2,r). Auf "fremdem Grund", wo schon andere das
Evangelium verkündigt haben, und die Kirche schon vertreten ist, will
Paulus dagegen nicht bauen (Rom 15,20; vgl 2 Cor IO,I3-J6). Am Ende
der "dritten Missionsreise" kann Paulus deshalb sagen: "Ich habe in diesen
Gegenden keinen Raum mehr" (Rom 15,23); nur die Mißzustände in den
Gemeinden haben ihn länger aufgehalten, als ihm lieb war (Rom r, ro-r3;
15,22). Der Apostel muß immer weiter, er muß nach dem Zentrum der
Ökumene, nach Rom (Rom r,ro ff; 15,22 f). In diesem einen Falle, Rom,
macht er von seiner Regel, nicht dort zu wirken, wo Christus schon ver-
kündigt war, eine Ausnahme, deshalb die captatio henevolentiae (Rom r,II f;
vgl 15,14 ff). Seine Sendung an die Heiden fordert, daß er in Rom "wie
auch bei den übrigen Heidenvölkern einige Frucht" hat (Rom r,13 vgl 15).
Rom ist ihm die Hauptstadt der Welt und dadurch auch das Zentrum der
Heidenchristenheit; deshalb ist das Gläubigwerden der römischen Christen
in der ganzen Welt bekannt (Rom r,8); deshalb grüßt P_aulus sie von
"allen Gemeinden Christi" (Rom r6,r6); deshalb schreibt Paulus an sie-
den Römerbrief, wo er sein Evangelium in einer gründlicheren Weise als
sonst je erläutert; deshalb muß er selbst nach Rom kommen un_d hofft in
der dortigen Gemeinde eine Basis für seine weitere Arbeit zu gewinnen
(Rom 15,24). Rom repräsentiert ja nicht eine einzelne Provinz, sondern
die ganze Ökumene.
Bevor Paulus nach Rom kommen kann, muß er aber nach Jerusalem
gehen (Rom r 5,25 ff). Der Lebenskreis des Apostels hat nicht nur ein
Zentrum, sondern zwei: Jerusalem und Rom. 137 Schon als Pharisäer und
römischer Bürger war Paulus an Jerusalem und an Rom gebunden; für
den Apostel hat die dialektische Spannung zwischen diesen beiden Polen
einen tieferen Sinn bekommen, Jerusalem vertritt jetzt die Kirche der Juden,
Rom die Kirche der Heiden. Die Juden in der Kirche sind dem Paulus
ebenso wichtig wie die Heiden in der Kirche, bezeichnet doch auch er die
Christen in Jerusalem als die "Heiligen" schlechthin (Rom I5,25 f .3I;
I Cor I6,I; 2 Cor 8,4; 9,1.I2). Die Urgemeinde ist für die heidenchrist-
liehen Gemeinden das Vorbild (I Thes 2,14; vgl I Cor I4,36). Die Sonder-
stellung der Judenchristen liegt darin begründet, daß sie in dem "Israel
kata pneuma" das "Israel kata sarka" vertreten. Nach Rom 9-11 ist der
Name Israel überhaupt - stricte dictu - den gläubigen Juden vorbehalten,
während die Verwendung dieses Wortes zur Bezeichnung der Juden oder
der Kirche als eine Erweiterung des Begriffes nach der einen oder anderen
Richtung hin erscheint. 138
"Nicht alle, die aus Israel sind, sind I s r a e I, und weil sie Same
Abrahams sind, sind sie noch nicht Kinder" (Rom 9,6 f). Diesen Satz
beweist Paulus aus der Patriarchengeschichte: nicht Ismael, sondern nur
Isaak, nicht Esau, sondern nur Jakob waren "Kinder der Verheißung"
(9,7-I3). Dieser Schriftbeweis erinnert an Ga! 4,2I ff; aber während dort
bewiesen werden sollte, daß die Heidenchristen das "Israel kata pneuma"
wären, so hier bloß, daß nicht das gesamte Volk, sondern nur die von
Gott erwählten Israeliten "Israel" sind. 139 Sie sind der "Rest", und dieser
Rest wird von den Israeliten allein übrigbleiben (9,27-29 vgl Jes I0,22 f;
I,9lY0 Den Restgedanken verwendet Paulus auch in Kap. 11; aber während
er Kap. 9 betonte, daß nur ein Rest übrigbleiben sollte, betont er Kap. II,
daß wirklich ein Rest übrig geblieben ist (II,1.5-7). Den Beweis dafür
liefert ihm die Eliasgeschichte (II,2-4; vgl !.(3) Reg I9,Io-I8). Daß
nicht alle Israeliten zu dem wahren Israel gehören, zeigt deutlich die Frei-
heit Gottes in seiner Erwählung auch dem erwählten Volke gegenüber
(9,I4 ff .II-I3; vgl 11,22). Daß wirklich ein Rest übriggeblieben ist,
beweist die Treue Gottes und die Kontinuität seiner Heilshandlung (9,6. I I;
II,I.2.5·7·I6). Die Ausführungen des Paulus beziehen sich auf seine eigene
Gegenwart; wie zur Zeit der Patriarchen und der Propheten, so "ist auch
in der jetzigen Zeit ein Rest nach gnädiger Erwählung vorhanden" (II,5).
Diesen Rest bilden die Judenchristen. Zu ihnen gehört Paulus selbst; auch
er ist ein Israelit und dadurch Bürgschaft dafür, daß Gott sein Volk nicht
verstoßen hat (II, I f).
Abraham ist "unser aller Vater" (Rom 4,I6 vgl I.II f .I7 f). Die
Behandlung der Abrahamsgeschichte Rom 4 erinnert stark an Ga! 3; die
Ausführungen des Galaterbriefes sind aber einseitig polemisch, diejenigen
des Römerbriefes vielseitig dialektisch. Dort wurde behauptet, daß nicht
die Juden, sondern die Christen die Kinder Abrahams wären, hier, daß
die Verheißung für "den gesamten Samen, nicht nur für den aus dem
Gesetz, sondern auch für den aus dem Glauben Abrahams" feststeht (4,r6).
2 43
Dieser Gedanke kann an die jüdische Vorstellung erinnern, nach der Abraham
nicht nur der Vater Israels, sondern auch der prototypische Proselyt war,
und nach der die Verheißung, die Heiden sollten in Abraham gesegnet
werden, auf die Proselyten zu beziehen war. 141 Der Unterschied ist der, daß
für Paulus zum "Proselytwerden" nicht die Beschneidung, sondern allein
der Glaube an Christus notwendig ist. Dem Galaterbriefe näher stehen
die Ausdrücke 4,r r f, aber auch hier wird besonders hervorgehoben, daß
Abraham auch der "Vater der Beschnittenen" ist, nämlich derjenigen,
"die nicht bloß aus der Beschneidung sind, sondern auch in den Fußtapfen
des Glaubens unseres Vaters Abraham treten, den er als Unbeschnittener
hatte." \Venn Abraham als "unser Ahnherr nach dem Fleische" bezeichnet
wird, so wird dadurch angedeutet, daß er durch die Vermittlung der Juden-
christen der Vater der Kirche ist (4,r).
Näher ausgeführt wird diese Anschauung in dem Bild von dem Ölbaum
und den Zweigen (Rom u,r6-24). Der edle Ölbaum ist lsrael, 142 die
ungläubigen Israeliten sind herausgebrochene Zweige. "Ist aber die Erstlings·
gabe heilig, so ist es auch der Teig, und ist die Wurzel heilig, so sind es
auch die Zweige" (rr,r6). Mit der "Wurzel" sind die Urväter gemeint,
die "Erstlingsgabe" kann dieselbe Bedeutung haben, doch könnte dabei auch
an die gläubigen Juden als die "Erstlingsgabe" Israels an Gott gedacht
sein. 143 Jedenfalls ist "in der jetzigen Zeit" der Ölbaum mit seinen noch
stehen gebliebenen Zweigen der "Rest Israels", die "Auswahl" (vgl rr,r-7),
d. h. die Judenchristen. Dieser Rest ist in doppelter Hinsicht bedeutungsvoll:
I. Wie die "Erstlingsgabe" der Heiden für die Gewinnung der Heiden
insgesamt bürgte, so bürgt der "Rest Israels" für die Gewinnung des
gesammten Israels für Christus (I r,16.24). 2. Nur durch die Einheit mit
diesem "Rest Israels" gehören auch die Heidenchristen zu Israel und haben
an der Heiligkeit der Patriarchen, an den Verheißungen und an den übrigen
Heilsgütern Israels teil (rr,r8; vgl 15,27; 9.4-5). Der Heidenchrist ist
ein Zweig eines wilden Ölbaums, der "wider die Natur" auf den edlen
Ölbaum eingepropft worden ist (I I ,24); er ist gewissermaßen ein "Proselyt",
während die Judenchristen die wahren Israeliten sind. 144
Paulus kann also das Verhältnis zwischen der Kirche und Israel auf
zwei verschiedene Weisen sehen. 145 Einerseits: die Christen, nicht die Juden,
bilden die "Kirche Gottes", die Kirche ist "Israel kata pneuma", dasjüdische
Volk nur "Israel kata sarka". Andererseits: es gibt nur ein Volk Gottes,
Israel; die> Heidenchristen sind als Proselyten in dieses eine Volk ein·
gegliedert worden. Doch darf der Gegensatz zwischen beiden Anschauungen
nicht überbetont werden; wie wir gesehen haben (oben S. 213), ist für
Paulus die Kirche das eine Israel in der neuen eschatologisrhen Zeit; jene
Anschauung .betont die eschatologische Neuschöpfung, diese die heils-
geschichtliche Kontinuität. Durch das Nebeneinander beider Gedankenreihen
wird die Dialektik des paulinischen Denkens und ihr Sinn deutlich. Jene
Anschauung betont gegenüber judaistischerüberhebung, dao nicht Abstammung
und Werke, sondern allein der Glaube an Christus über die Zugehörigkeit
zur Kirche entscheidet; diese betont gegenüber heidenchristlicher Überhebung,
dafu der Heide noch weniger als der Jude Vorzüge hat; auch er hat keine
Sicherheit, sondern nur die Gewifuheit des Glaubens. Gott kann die ein-
gepropften Zweige wieder herausbrechen und die herausgebrochenen wieder
einpropfen (II,q -24). Die Spannung zwischen Judenchristen und Heiden·
christen in der Kirche weist darauf hin, dafu Gott frei ist, dem jüdischen
Volke und auch der heidenchristliehen Kirche gegenüber. 146 Keiner hat
einen Vorzug oder ein Verdienst, worauf er pochen kann, alle, die dem
"Israel Gottes" angehören, tun es nur durch den Glauben. Dafu Juden
verstofuen und Heiden zur Kirche berufen sind, beweist die Freiheit, die
Strenge und die Güte Gottes (g,I4 ff; I 1 ,22); dafu noch ein Rest Israels
vorhanden ist, beweist die Treue Gottes lg,6.Ir; II,I ff .2g; 3.3; IS,8).
Dafu die Kirche Christi nur als eine Kirche aus Heiden und Juden existiert,
macht den Heiden und den Juden anschaulich, dafu sie nur durch die freie
und treue Gnade Gottes in der Kirche leben.
Dafu der Heidenapostel den Judenchristen innerhalb der Kirche Christi
eine Sonderstellung einräumt, ist also nicht ein Überbleibsel jüdischer oder
judenchristlicher Anschauungen, 147 sondern hängt mit dem Grundanliegen
seines Glaubens und Denkens aufs engste zusammen. Ehe wir den Gedanken
von Rom I I zu Ende verfolgen, müssen wir im Lichte dieser Erkenntnis
die kirchliche "Politik" des Paulus nochmals betrachten. Wir können jetzt
die Bedeutung des Apostelkonvents für Paulus verstehen. Um der Einheit
der Kirche willen war es dem Apostel notwendig, sich mit der Gemeinde
in Jerusalem und ihren Leitern zu verständigen (Ga! 2,1 f). 148 Die Gemein-
schaft der heidenchristliehen Gemeinden mit der judenchristliehen Mutter-
gemeinde mufute erhalten bleiben, denn dadurch wurde die Kontinuität der
Heilsgeschichte gewahrt und die Zugehörigkeit der Gemeinden der Heiden zu
Israel gesichert. Die Anerkennung der gesetzesfreien Evangeliumverkündigung
an die Heiden mufute durchgesetzt werden, denn nur dadurch konnte bestätigt
werden, dafu die Kirche das neue, geistliche Israel, und die judenchristliche
Gemeinde wirklich der nur aus dem Glauben an Christus lebende "Rest
Israels" war.
An die. Übereinkunft in Jerusalem schlofu sich die Durchführung des
Kollektenwerkes (Gal 2,Io). Es ist dem Paulus von größter Bedeutung,
·dafu sich die heidenchristliehen Gemeinden willig und freudig beteiligen
(I Cor I6,I-4i 2 Cor 8-g). Die Kollekte ist ein Tatbekenntnis der Heiden-
christen zur Einheit der Ekklesia, eine Anerkennung davon, dafu sie an den
"Geistesgaben'' der "Heiligen" Anteil bekommen haben und dadurch in
"Israel" eingegliedert sind (vgl bes Rom I5,27). Dafu die heidenchristliehen
Gemeinden sich durch das Kollektenw-erk als "Israel" zeigen, wird durch
die alttestamentlichen Zitate und Anspielungen in 2 Cor 8-g deutlich
(bes. 8,rs=Ex I61 I8; vgl 9 1 7·9-IO)." Ebensowichtig, wie dafu die Kollekte
von den Heidenchristen freudig gespendet .wird, ist es dem Apostel aber, dafu
2 45
sie von den "Heiligen" in Jerusalem dankbar empfangen wird (Rom I5,30-32;
2 Cor9,I2-I4). 149 Indem sie die Kollekte annehmen, werden die Jerusalemer
ihrerseits die Einheit der Kirche aus Heiden und Juden bestätigen und
Gott "wegen des Gehorsams des Bekenntnisses" der Heidenchristen "zum
Evangelium Christi" preisen müssen (2 Cor 9,I3 f). In der Spende und der
Annahme de1· Kollekte kommt also zum Ausdruck, dafl in der Kirche Christi
die Heiden nicht ohne die Juden und die Juden nicht ohne die Heiden
leben können; die Juden wie die Heiden müssen Gott für die Gabe danken,
die sie durch die andere Gruppe erhalten haben, und so vereinigen sich
in der Kirche Heiden und Juden im Lobe Gottes (2 Cor 9,1 I-I5; vgl
Rom I5,8-r2). 150
Die Dialektik zwischen Juden und Heiden vollendet sich in der eschato-
logischen Perspektive, und die Eschatologie gibt die letzte Antwort auf die
Frage nach Israel. Ein kurzer Rückblick auf den Gedankengang Rom 9- I I
wird hier vonnöten sein. Kap. 9 (bes I4 -29) redet von der Souveränität
Gottes: als der Schöpfer ist Gott der freie Herr über seine Geschöpfe, er
ist auch an das erwählte Volk nicht gebunden; der Jude darf deshalb nichts
einwenden, wenn Gott die Mehrzahl der Israeliten verworfen und Heiden
angenommen hat. Kap. 9,30- I0 1 2I redet von der Schuld der Israeliten:
sie haben ohne Verstand für Gott geeifert, die Gottesgerechtigkeit verkannt
und die eigene aufzurichten gestrebt (Io,2 f); sie haben die Heilsbotschaft,
die ihnen angeboten wurde, nicht geglaubt, und sind deshalb selbst für ihre
Verwerfung verantwortlich. Diese Betonung der menschlichen Verantwort-
lichkeit steht in einer gewissen Spannung zu der Betonung der Souveränität
Gottes im Vorhergehenden, doch wird auch in diesem Gedankengang
angedeutet, dafl die Schuld der Israeliten von Gott vorausgesehen und
gewollt war (9,33; IO,I9). In Kap. I I wird wieder ein neuer Ansatz gemacht;
Paulus betont, dafl Gott sein Volk doch nicht verworfen hat, der Beweis
dafür ist das Vorhandensein des Restes (u,r-ro).
Bis hierher hat Paulus die geschichtlich gegebene Lage theologisch
erläutert. Von r r, r I an wendet er sich der Zukunft zu, um das Ziel
des Handeins Gottes mit seinem Volke zu enthüllen; I I, I I - I 2 bildet dabei
den Übergang, I I,q-23 (24) ist eine "Zwischenrede" .151 Der Fall der
Israeliten war in dem Heilsratschlufl Gottes eingeschlossen, denn dadurch
sollte das Heil zu den Heiden kommen (ri,II f .15.28.30). Aber das Heil
der Heiden ist nicht das Endziel; wie der Unglaube der Israeliten dem
Heil der Heiden diente, so soll der Glaube der Heiden dem Heil Israels
dienen, denn durch die Heiden sollen die Israeliten "eifersüchtig gemacht"
werden (II 1 II.I4; vgl ro,r9 ="Dt 32,2I). Auch der Dienst des Heiden-
apostels zielt deshalb letztlich auf die Rettung der Israeliten (II, 13 f).
P;mlus denkt dabei praktisch missionarisch (r I, I 4), aber auch eschatologisch:
Gott hat eine "Vollzahl ic der Heiden festgesetzt, erst wenn diese Zahl voll-
zählig ist, kann die endgültige Erlösung kommen. 152 Der Apostel verkündigt
hier ein "Mysterium": wenn die Vollzahl der Heiden eingegangen ist, wird
"ganz Israel gerettet werden" (II,25 f vgl 24; 2 Cor 3,16). "Und wenn
ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt bedeutete, was kann da ihre
Annahme anders bedeuten als Leben aus Toten?" (rr,rs vgl r2). Die
Wiederannahme Israels fällt demnach mit der Auferstehung der Toten und
der Vollendung der Kirche zusammen. 153 Durch die geschichtliche Dialektik
hindurch ist dann der unveränderliche Heilswille Gottes mit seinem Volke
zum Ziele gekommen (rr,28f). Die Heidenmission des Apostels ist die
Antwort auf die Frage des Pharisäers: wie soll ganz Israel gerettet werden?
Nach Paulus hatte also das Volk Israel seine heilsgeschichtliche Stellung
nicht um seiner selbst, sondern um der Heidenwillen lvgl auch Rom rs,Sff),
und die heidenchristliche Kirche hat ihre heilsgeschichtliche Stellung nicht
um ihrer selbst, sondern um Israels willen. Wie in der Erläuterung der
Sündengeschichte (Rom r,rS-3,20), so sieht Paulus auch in der Erläuterung
der Heilsgeschichte (Rom9-rr) "dieJuden", bzw. "Israel" und "die Heiden"
wesentlich als kollektive Einheiten. In beiden Fällen ist seine Denkweise
eine dialektische, und in beiden Fällen läuft die Dialektik auf dasselbe hinaus:
Heide und Jude sind vor Gott schuldig, Gott allein gehört die Gerechtigkeit,
und nur die Gnade Gottes kann den Heiden wie den Juden, den Juden
wie den Heiden retten. Die Zusammenfassung der Sündengeschichte und
der Heilsgeschichte ist das kurze Wort: "Gott hat alle unter den Ungehorsam
beschlossen, damit er sich über alle erbarme" (Rom I r,3r). Am Ende der
Gedanken über die Stellung der Heiden und der Juden steht deshalb die
Lobpreisung; "0 Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis
Gottes, wie unerforschlich sind seine Entscheidungen und wie unbegreiflich
seine \Vege! - - aus ihm und durch ihn und zu ihm ist alles; sein ist
die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen!" (Rom I I ,33-36).
von der schon eingetretenen und der zukünftigen Erlösung spricht {Recht-
fertigung, Adoption, Erlösung, Auferstehung mit Christus usw). Jedoch liegen
der Auffassung Scharlings richtige Beobachtungen zu Grunde; er bleibt aber
bei einer viel zu äußerlichen Lösung stehen. Um tiefer zu dringen, ist es
vor allem notwendig, sich klarzumachen, welche Auffassung Paulus von
dem Menschen hat.
"Für Paulus steht der Mensch von vornherein und immer in einem
geschichtlichen Zusammenhang, aus dem er in sein Jetzt kommt, und durch
den er bestimmt ist." Diese These BuLTMANNS 155 ist durch die eingehende
Untersuchung der paulinischen Anthropologie durch W. GuTEROD 156 bestätigt
worden. Wir können uns deshalb kurz fassen. Als Glied der geschaffenen Welt
ist der Mensch Schöpfung Gottes und für Christus bestimmt {vgl I Cor 8,6;
Co! I, r 5- I7 ). Als Glied der gefallenen Menschheit steht er aber unter der
Herrschaft der Sünde, der kosmischen Mächte und des Teufels {Rom 5,I2 ff;
6,r6-23; I Cor I5,22; 2 Cor 6,14-I6; Ga! 4,8-Io; Co! I,I3 etc).
Für diesen überindividuellen Zusammenhang, in dem der Mensch steht, hat
Paulus verschiedene Ausdrücke, die sachlich wesentlich dasselbe aussagen :
"Adam", "Sarx", "diese Welt", "dieser Äon". Diese Welt der Sünde ist
aber nicht eine Naturwelt außerhalb der Menschen, sondern eine Geschichts-
welt, mit welcher der Einzelne eins ist; er ist Glied der sündigen Menschheit,
indem er sich immer neu für die Sünde entscheidet, unter der er steht
{Rom5,I2; 6,I6.r9f). DerTod ist deshalb für den Einzelnen nicht Schicksal,
sondern "Sold der Sünde" (Rom 5,12; 6,21.23). Der Einzelmensch ist für
Paulus aber nicht nur ein Glied der Menschheit und der Welt, sondern aus
der Geschichte, in der er steht, immer entweder als Heide oder als Jude
bestimmt {Rom I,I8-3,20 etc), und Jude-Sein heißt sich für das Gesetz,
Heide-Sein sich für die Götzen entscheiden. Der Mensch ist also gerade
als verantwortlicher Einzelner immer zugleich "Glied". Weniger wichtig,
aber doch nennenswert, ist, daß der Jude ferner der Angehörige eines
bestimmten Stammes {Rom II,I; Phi! 3,5), der Heide der Angehörige eines
bestimmten Volkes und einer bestimmten Provinz ist (Rom I, I 4; Co! 3, 1 I;
Rom I6,5; I Cor I6, I5l-
w eil der Mensch immer durch seine und seiner Väter {sündige)
Vergangenheit bestimmt ist, kann er nur dadurch eine neue Existenz
erhalten, daß er von dieser Vergangenheit befreit wird. 157 Diese Befreiung
geschieht dadurch, daß er in Christus die Vergebung der Sünden bekommt
und für die durch Christus bestimmte Zukunft frei wird (Rom 3,25 J; 4,7 f;
2 Cor 5,I9; Co! 1,I4 etc). Durch den Tod und die Auferstehung Christi,
durch seine Taufe wird der Mensch von der sündigen Gesamtheit, deren
Glied er war, abgesondert und zu einem Glied des Leibes Christi gemacht
( r Cor 12,13; Ga! 3,27 f; vgl Rom 6 etc). Dies bedeutet nicht, daß er aus
der Geschichte herausgenommen wird, sondern daß er an einer neuen
Geschichte, der Geschichte des Volkes Gottes Anteil bekommt, die sein
Leben in der Gegenwart bestimmt. Der Heide, der Christ wird, wird aus
der Weltgeschichte in die Geschichte Israels hineinversetzt, seine "Väter"
sind von nun an die Väter Israels (I Cor IO,I; Rom 4,1.II f; II,I6 ff).
Der Jude, der Christ wird, kommt dadurch erst in Wahrheit zu seiner eigenen
Geschichte, die er von der Erfüllung in Christus aus neu zu verstehen lernt.
Die Geschichte, in der die Heiden und Juden als Christen stehen, ist freilich
nicht die Geschichte des Volkes Israels, denn diese ist vielmehr eine Geschichte
des Ungehorsams und der Sünde, sondern sie ist die Geschichte der
Verheif3ungen und der Gnadentaten Gottes, die auf die eschatologische
Zukunft ausgerichtet ist, und deshalb nicht Vergangenheit wird, sondern die
Gegenwart als Heilszeit qualifiziert.
Das Christ-Werden ist also nicht Privatsache des Individuums, es bedeutet
vielmehr den Übergang von einem "Glied-Sein" zu einem anderen "Glied-
Sein". Die Kirche entsteht nicht erst nachträglich durch den Zusammen-
schluf3 einzelner Christen zur Gemeinschaft. In gewisser Weise ist die
Kirche vielmehr "vor" den Einzelnen da, wie das Volk vor den Volks-
genossen, wie die Mutter vor den Kindern (vgl Ga! 4,26). Die Kirche ist
flir Paulus aber nicht eine himmlische, hypostasierte Gröf3e, die von den
einzelnen Christen mehr oder weniger unabhängig existiert. Wenn Paulus
Ga! 4,26 von dem oberen Jerusalem, das unsere Mutter ist, redet, konnte
man es freilich in dieser Weise verstehen, aber der Ausdruck steht einzig
da und ist durch die dem Paulus vorliegende Tradition und den Zwang
der gekünstelten Exegese bestimmt. Es ist nicht so, daf3 Gott durch den
Tod und die Auferstehung Christi die Kirche geschaffen hat, und die
Bekehrung der Einzelnen erst in zweiter Reihe hinzukommt. Zu der
Versöhnung gehört die Einsetzung des Wortes von der Versöhnung
(2 Cor 5,18 f); Gott schafft durch Christus die Kirche dadurch, daf3 er durch
das verkündigte Wort die Einzelnen beruft. Durch die Verkündigung des
Wortes werden die Menschen als Einzelne in die Entscheidung gestellt,
und die Kirche entsteht dadurch, dafl Einzelne dem Worte Glauben schenken. 158
Die Taufe bedeutet Aufnahme in die Kirche, aber gerade indem sie auch
ein Akt des Bekenntnisses des Täuflings ist (Rom 10,9 ff; I Cor I2,I -3)/59
und die Kirche existiert nur in diesem Bekennen ihrer Glieder. 160 Wenn
die Aussagen des Paulus von der Rechtfertigung und überhaupt von dem
erlebten Heil gewöhnlich eine Pluralisform haben, so dürfen wir dieses
"Wir" (bzw. "Ihr") weder individualistisch auflösen, noch kirchlich verding-
lichen; der Mensch ist nur in der Kirche gerechtfertigt, die Kirche ist aber
nichts anderes als gerechtfertigte Menschen.
Der Christ lebt nicht für sich selbst, sondern für den Herrn und dadurch
für die Brüder, um derentwillen Christus starb (Rom !4, 7 f . I 5; I Cor 8, II;
vgl Rom 12,I5 f; I5,I f; I Cor 12,24--26 etc). Christ-Sein heif3t Glied-Sein,
nämlich Glied des Leibes Christi sein, und zwar· ist der Christ zunächst
ein Glied der Einzelgemeinde, der er angehört (vgl z. B. I Cor I 6, I 7; Phi! 2,25;
auch I Cor I2), aber durch die Einzelgemeinde ist er ein Glied des gesamten
249
Gottesvolkes, denn die Einzelgemeinde ist ja eine Vertretung und eine Dar-
stellung der Gesamtkirche. Und doch geht der Einzelne in der Gesamtheit
der Kirche nicht unter. In der Kirche soll Einheit sein (Rom IS,S f; I Cor
I,ro ff; Phil I 1 27; 2,1-4; 4,2 etc), aber keine Gleichschaltung; Gott hat
den Einzelnen verschiedene Gaben gegeben (Rom 12,6-8; r Cor 12,4-30).
Gott hat_ nicht jedem dasselbe "Mafu des Glaubens" zugeteilt (Rom I 2,3);
keiner darf dem anderen seine Überzeugung aufzwingen, er mufu aber in
seinem eigenen Denken gewifu sein; ein jeder steht und fällt für seinen
eigenen Herrn (Rom I 4,3-5 vgl I o ff .22 f). Nur als Einzelner kann der
Christ gläubig werden, als verantwortlicher Einzelner mufu er auch als Christ
leben. Wie in der vorchristlichen Menschheit der Mensch sich immer wieder
für die Sünde entschied, unter der er stand, so kann "in Christus" der
Mensch nur dann ein Glied des Leibes Christi bleiben, wenn er sich immer
aufs neue für Christus entscheidet. Als Angehöriger der Gemeinde mufu'
deshalb der Einzelne "mit Furcht und Zittern" an seiner Rettung arbeiten
(Phil 2,I2 f; vgl 3,I2-I6; I Cor 9,24-27). Weil der Christ ein Glied
des Leibes Christi, des Volkes Gottes ist, hat er als Einzelner eine um so
gröfuere Verantwortung; seine etwaige Sünde ist nicht seine eigene Privat-
angelegenheit, sondern bedeutet eine Zerstörung der Heiligkeit des Volkes
Gottes (r Cor 6,I2-20 etc, vgl oben S. 2I8 ff). Der Christ ist nicht nur
für sich selbst verantwortlich, sondern auch dafür, daf3 er nicht einen Mit
christen zur Sünde verleitet (Rom I4,I3 ff; I Cor 8,7-I3 etc), und diese
Verantwortlichkeit für die Brüder stellt an die Christen eine positive For-
derung: "im Geist der Milde'! sollen sie die Fehlenden zurechtweisen
(Gal 6,Ij I Thes s.r4). Die beiden Forderungen: "jeder mufu seine eigene
Bürde tragen" und "traget einander die Lasten" gehören also unlöslich
zusammen (Gal 6,5.2). Der Christ ist gewissermafuen nicht selbst das
Subjekt seiner Handlungen, sondern die Liebe wirkt in ihm und bewirkt
eine restlose Selbsthingabe an die anderen, aber alles kommt darauf an,
dafu er als Einzelner diese Liebe hat (I Cor I3,4-7·I-3). 161 Als Glied
des Leibes Christi steht daher der Mensch als Einzelner vor Gott, und als
durch Christus bestimmter Einzelner lebt er für die Gemeinde. Der Christ
ist also "Glied", indem er persönlich verantwortlich ist und umgekehrt. Am
Beispiel des Paulus selbst, des Kirchenmannes und des Einsamen liefue sich
das schön zeigen, der Nachweis würde aber über die Grenzen unserer Arbeit
hinausführen (vgl oben S. 209). 162
Die persönliche Verantwortung der Einzelnen wird durch die eschatolo·
gische Erwartung besonders stark unterstrichen: "Jeder von uns wird vor
Gott für sich selbst Rechenschaft ablegen müssen" (Rom I41 I2 vgl Io f;
2,6-I6; I Cor 3.8.Iz-Is; 4·4 f; 2 Cor s,Io; Gal 6,7-g). Doch fehlt
auch in der Eschatologie der Gedanke an die Kirche und an Israel nicht
(2 Cor II,2j 4,I4j I Thes r,ro; 4,I3-I7; s,s-Io; I Cor IS,23j 2 Cor
I 1 I4; Phi! 2,16 etc; Rom n). 163 Vor allem ist zu beachten, dafu in der
Eschatologie sich die Gedanken des Paulus über das Individuelle und Kirch-
liehe hinaus in das Universale und Kosmische erweitern. Wir wollen jetzt
das Verhältnis zwischen der Kirche und der Welt untersuchen.
Das Weltall (o x.ocrp.o~, ~ x.-r[crt~, -r!): 7t"ocv-roc) 164 ist von Gott durch
Christus geschaffen (I Cor 8,6; Co! I,Is-q; Rom I,2off; II,36). Die
Schöpfung ist aber der Nichtigkeit unterstellt worden, und zwar um der
Sünde des Menschen willen (Rom 8,20.22), 165 die gegenwärtige Welt ist
der böse Äon (Rom 3,19; I Cor I,2of; 2,12; 3,I9; vgl Rom I2,2;
I Cor I ,20; 2,6.8; 3, I 8; 2 Cor 4,4; Ga! I ,4). Das Wort x.ocrp.o~ ist bei
Paulus nicht nur auf die Menschheit zu beziehen/66 wenn auch die Mensch·
heit im Zentrum seiner Weltbetrachtung steht; auch die Welt interessiert
den Apostel nicht als Natur, sondern als Geschichte, das Weltall ist ihm
der kosmische Rahmen der Menschheitsgeschichte. Weil das für die ganze
Welt gültige Gesetz Gottes dem Volke Israel gegeben wurde, ist für ihn,
wie für die Juden, Israel das Zentrum der Geschichte und der Welt (vgl
oben S. 25 f ·77 f). Zuweilen kann Paulus Israel und Kosmos auseinander-
halten: Kosmos ist die w elt außerhalb des Volkes Gottes (Rom J I I I 2. I s). 167
Der Tod Christi und seine Auferstehung haben kosmische Bedeutung;
das wird besonders im Kolosserbrief ausgeführt (r,I8-2o; vgl 2,14 f),
aber auch im 2. Korintherbrief wird jedenfalls die Bedeutung für die ganze
Menschheit betont: Gott versühnte in Christus die Welt mit sich selbst
(S,I8); einer starb für alle, also sind alle gestorben (5,14); 168 das Alte ist
vergangen, siehe, es ist neu geworden (5, I7)! Die ganze, uns schon be-
kannte Vorstellung, daß Christus das Ende des alten und der Anfang des
neuen Äon ist, hat ja ebenfalls eine kosmische Tragweite (vgl oben S. 212 ff).
Diese Bedeutung hat aber der Tod und die Auferstehung Christi nicht als
eine Begebenheit in der Natur oder in der Weltgeschichte, sondern als
eschatologisches Geschehen, das nur durch die Verkündigung des Wortes,
durch die Sakramente und die Geistesgaben gegenwärtig wird. Außerhalb
Christus ist die Welt immer noch "dieser Äon". Die Stellung der Gemeinde
in der Welt ist dadurch bestimmt, daß sie schon dem neuen Äon angehört
und noch in dem alten Äon lebt.
Die Christen sind Bürger des oberen Jerusalems, ihr "Staatswesen" ist
in den Himmeln, 169 dort haben sie ihr ewiges, nicht mit Händen gemachtes
Haus, die himmlische Kleidung, 170 ihr Leben ist mit Christus in Gott ver-
borgen (Gal 4,26; Phi! 3,2o; 2 Cor s,r ff; Col3,3 f). Das leibliche Leben
ist ihnen ein Leben in der Fremde (2 Cor s,6.9; vgl Phi! I ,23); 171 sie sind
von der Welt innerlich gelöst, wenn sie "die Welt benützen", so "wie
solche, die sie nicht ausnützen" (I Cor 7,31 vgl 29 f). Die Christen sind
von Gott berufen, deshalb sollen sie in der Welt keine Änderung oder
Besserung ihrer Lage anstreben: "Jeder bleibe in dem Beruf, in dem er
berufen wurde" (I Cor 7,20 vgl 2I-24). Sie sind auf der Erde nicht
mehr zu Hause, und dennoch sollen sie nicht "aus der Welt herausgehen",
sondern sich gerade in dem Zusammenleben mit den Menschen und in
ihrer Arbeit als Christen bewähren (t Cor s,10.I2; Rom I2,I8-2I;
I Thes 4,I2; 2 Thes 3,II f). Alles gehört ihnen, auch die Welt, und
doch sollen sie "den vorgesetzten Obrigkeiten untertan" sein (I Cor 3,22;
6,2 f; Rom 13,I ff). In Christus ist "nicht Mann noch Weib", und doch
soll die schöpfungsmäfuige Unterordnung der Frau unter dem Mann
erhalten bleiben (Gal 3,28 etc; I Cor II,3 ff; Col 3,I8). In Christus ist
"nicht Sklave noch Freier", und doch soll sich der Sklave gerade
als Sklave, der Herr sich gerade als Herr als Christ bewähren (Ga! 3,28
etc; I Cor 7,2I f; Col 3,22-4,I). In Christus ist "nicht Jude noch
Grieche", und doch bleibt der Jude auch als Christ Jude, der Grieche
Grieche (Gal 3,28 etc; I Cor 7,I8).
In den Christen ist schon die Kraft Gottes wirksam ; so lange sie noch
in der Welt leben, wird aber diese Kraft nur in Schwachheit vollendet
(I Cor I,24-2,5; 2 Cor 4,7 ff; 6,3-ro; I2,9 f; 13,3 f; Rom 8,26). Sie
haben schon den Geist als eine "Erstlingsgabe" und ein "Unterpfand"
bekommen (Rom 8,23; 2 Cor I,22; s,s), aber sie leben noch "im Fleische";
was ihnen gegeben ist, ist die Möglichkeit, nicht "nach dem Fleische",
sondern "nach dem Geiste" zu leben (Rom 8,2-II; Gal s,I3-2S; vgl
Col 3,5-r4; 2 Cor Io,2-4; Gal 2,2o). Das neue Leben ist zwar in ihnen
schon wirksam, aber auch noch der Tod (Rom 8,Io; 2 Cor I,8-Io;
4,Io-I2; 6,9 etc). Sie sind voll ewiger Freude und leben doch in ständiger
Trauer (Rom I2,I2; J4,I7; Phil 2,J7 f; 3,I; 4,4; Rom 8,23; 2 Cor s,2.4;
6,ro; 13,9). Weil die Christen schon der neuen Welt angehören und noch
in der alten Welt leben, gehört zu dem Christ-Sein das Leiden mit innerer
Notwendigkeit hinzu (Rom 8,23. 35 f; I2,r2.14; I Cor 4,9-I3; 2 Cor
I,4-II; 4,7-I8; 6,4-Io; II,23-33; I2,I-Io; Gal4,29; I Thes 2,14;
3,2- 4· 7). 172 Die kämpfende und leidende Kirche ist aber als solche schon
eine triumphierende; die Christen sollen sich nicht nur trotz der Leiden,
sondern auch in den Leiden und über die Leiden freuen (Rom 5,3 f;
2 Cor 4,17f; 7;4; Phil I,28-3o; 2,17f; Col I,24; vglauch2Cor2,I4).
Die Leiden sind "Christusleiden ", durch welche die Gemeinde und der
Apostel die innigste Vereinigung mit dem leidenden und gekreuzigten
Christus erleben (Rom 8,17; 2 Cor I,s; 4,ro f; Phi! 3,ro; Col I,24).
Es ist deutlich, dafu Paulus mit diesen Gedanken in der jüdischen
Tradition steht; schon für das Judentum war die Stellung Israels in der
Welt durch die Leiden bestimmt, und wie das alte (oben S. 82 f), so ist
auch das neue Israel eine leidende Gemeinde. Die Auffassung der Leiden
als "Christusleiden" ist vielleicht mit dem Gedanken an die "Messiaswehen"
zu verbinden; 173 wie überhaupt die eschatologische Zeit, so sind auch die
eschatologischen Drangsale schon Gegenwart geworden. Und doch zeigt
sich der Gegensatz zu dem Judentum an diesem Punkte besonders stark;
dafu die messianische Gemeinde eine leidende Gemeinde sein sollte, wäre
für einen Juden ein unerhörter Gedanke, soll doch die messianische Gemeinde
das triumphierende, zur Herrschaft gelangte Israel sein. Dieser Gedanke
war nur da möglich, wo an den gekreuzigten Jesus als den Messias geglaubt
wurde. Ob Paulus auch den Gedanken an eine besondere Zeit der trium-
phierenden Kirche festgehalten hat, ist nicht ganz sicher, nur Andeutungen
liegen vor. In Betracht kommt wesentlich die Stelle I Cor I5,23 ff; hier
scheint Paulus ein Zwischenreich zwischen der Auferstehung der Angehörigen
des Christus und dem Ende anzunehmen, 174 diese Zeit der Herrschaft Christi
wäre dann die Zeit der "triumphierenden Kirche". Fraglich bleibt, ob dieser
Gedanke auch an Stellen wie I Thes 4, I 6 f und Rom I I, r 5 vorausgesetzt
werden kann. Eine grone Rolle spielt der Gedanke von der "triumphierenden
Kirche" bei Paulus jedenfalls nicht, 175 seine eschatologischen Hoffnungen
gehen über das Kirchliche hinaus.
Die Kirche hat als das neue Volk Gottes die Stellung Israels als das
(verborgene) Zentrum der Geschichte und der Welt übernommen, nämlich
insofern die Welt als Schöpfung Gottes in Betracht kommt, denn dem
sündigen Kosmos gehören die Christen ja nicht mehr an. Diese Stellung
der Christen wird in , der Mahnung deutlich, die Gläubigen sollen "makel-
lose Kinder Gottes inmitten eines verkehrten und verirrten Geschlechtes
sein" und wie "Lichtkörper in der Welt" strahlen (Phi! 2,I5; vgl Dt
32,5 LXX; Dan I2,3). 176 Die Erlösung der Christen schließt deshalb die
ganze Schöpfung in sich: "Das Harren der Schöpfung wartet auf die
Offenbarung der Kinder Gottes" (Rom 8,18-22). Ebensowenig wie
Kirchliches und Individuelles darf man deshalb Kirchliches und Universelles
als widerstreitende Momente der paulinischen Heilslehre auffassen. Wie die
Erwählung Israels nicht im Gegensatz zum Herrschaftsanspruch Gottes über
die ganze Welt stand, sondern JHWH sich, indem er sein Volk erlöste,
als der Schöpfer der Welt offenbarte (oben S. 25 f), so steht auch die
"Erwählung" der Kirche nicht im Gegensatz zur Erlösung der gesamten
Schöpfung, sondern, indem Gott die Kirche als ein neues Israel erlöst,
offenbart er sich als der Neuschöpfer der Welt. Christus ist der Herr
der Kirche und der Herr der Welt, er ist das eine, indem -er das andere
ist (vgl z. B. I Cor 8,6; Phi! 2,Io f; Co! I,r5-23). Wie wir gesehen
haben, sind durch die Kirche aus Juden und Heiden das jüdische Volk
und die heidnischen Völker unter den Herrschaftsanspruch Christi gestellt,
und die "Erstlingsgaben" bürgen dafür, daß die Gesamtvölker Christus als
den Herrn bekennen werden. Wie Israel die "Erstlingsgabe" der Schöpfung
war, so ist das neue Israel die "Erstlingsgabe" der neuen Schöpfung; 177
wie die Erlösung Israels auf die Schöpfung der Welt zurückwies, so weist
die Erlösung der Kirche auf die neue Schöpfung hin (vgl Rom 8,I9-23).
Zu der neuen Schöpfung gehört nicht nur ein neues Gottesvolk,
sondern auch eine neue Menschheit. Dieser Gedanke kommt bei Paulus
in der Vorstellung von Christus als dem zweiten Adam zum Ausdruck
(I Cor I5,22.44-49; Rom 5,I2 ff). Man hat öfters die Idee von der
neuen Menschheit als eine Parallele zu dem Gedanken von dem neuen
Gottesvolk aufgefaflt und demnach die neue Menschheit mit der Kirche
gleichgesetzt. 178 Das ist aber nicht richtig. In I Cor I 5 ist ohne Zweifel
2 53
nicht von der Lebendigmachung in der Taufe, sondern von der endzeit-
liehen Auferstehung der Toten die Rede, die neue Menschheit ist nicht
die Kirche, sondern die Gesamtheit der Auferstandenen. In Rom 5 wird
dies nicht ebensodeutlich, aber auch diese Stelle weist auf das ewige
Leben hin (5,21), und die futurischen Aussagen werden als echtes Futurum
zu verstehen sein: im Endgericht werden "durch den Gehorsam des Einen
die Vielen als Gerechte hingestellt werden" (5,19 vgl 17 f). 179 Das neue
Volk ist jedenfalls nur der Anfang der neuen Menschheit wie der neuen
Schöpfung (vgl 2 Cor 5,17; Gal 6,r5).
Wir können also feststellen, daf3 Paulus nur im Hinblick auf die
Zwischenzeit zwischen der Auferstehung und der Wiederkunft Christi von
dem neuen "Israel" spricht, und nur im Hinblick auf die Vollendung von
der neuen "Menschheit". Während die Kirche die paradoxale Erfüllung
der jüdischen Erwartung eines erneuerten Israels in den Tagen des Messias
ist, vollendet sich in der Ewigkeitshoffnung des Paulus die Tendenz, das
Nationale und Kirchliche aus dem Bilde des kommenden Äon fortzulassen.
Werden dann zu der neuen Menschheit auch andere gehören als die
bewährten Glieder des Volkes Gottes? Das ist wieder eine spekulative
Frage, auf die Paulus keine Antwort gibt. Vieles weist aber auf ihre
Bejahung hin; sah doch Paulus in dem "Rest Israels" die Bürgschaft für
die Rettung ganz Israels, in den "Gemeinden der Heiden" die Bürgschaft
für die Rettung der Heidenvölker insgesamt. Wo Paulus von Christus als dem
zweiten Adam spricht, haben seine Worte in der Tat eine so universelle
Tragweite wie nur möglich (Rom s,r5-20; I C'or I5,22). Zwar mag es richtig
sein, das Paulus hier weniger an alle einzelnen Menschen als an die Mensch-
heit als Ganzes, und in derselben Weise Rom I I weniger an alle ein-
zelnen Juden .und Heiden als an Israel und die Heidenvölker als Gesamtheit
denkt; 180 auch dann bleibt aber bestehen, daf3 die Gedanken des Paulus dort,
wo er nicht von der Entscheidung der Einzelnen gegenüber dem Evangelium,
sondern von dem Heilsplan Gottes mit der Schöpfung, mit Israel und den
Heiden redet, auf die Vorstellung von einer "Apokathastasis pantön" hin-
führen (vgl Rom I I ,25- 32.36). Das letzte, worauf die paulinische Theologie
hinweist, ist jedenfalls weder Israel noch die Kirche Christi, sondern das
von Gott erfüllte Weltall: "Wenn ihm aber alles untergeordnet ist, dann
wird auch der Sohn sich dem unterordnen, der ihm alles untergeordnet
hat, und Gott wird alles in allem sein" ( r Cor I 5,28).
jeder für sich betrachtet werden mufu. Noch weniger als bis jetzt können
wir dabei freilich auf Vollständigkeit bedacht sein. Der herrschende Gedanke
von der Kirche als dem Leib, dessen Haupt Christus ist, können wir hier
nicht zur Untersuchung aufnehmen, 181 unsere Frage ist nur, wieweit auch
die Vorstellung von der Kirche als dem "Israel Gottes" eine Rolle spielt.
Zunächst finden sich auch im Kolosserbrief traditionelle Termini:
b.x.A"1ja(cx(1,18.24= die Kirche; 4,16= Einzelgemeinde; 4,15 = Hausgemeinde),
&:ytoL X.Qtt 7t"La't"Ot oc!ie:A(po( (1 ,2), EXAEX't"OL 't"OU &e:ou ocyLOL xcxl ~yot=jp.evoL (3, 12;
vgl auch 1,4.26; 4,15); die plerophorischen Ausdrücke und die betonte
Gleichsetzung der Ekklesia mit dem Leibe Christi gehen dabei über das
sonst bei Paul~s Bekannte hinaus, sind aber nicht besonders auffällig. Die
Frage ist, wie ~eit mit diesen übernommenen Ehrennamen Israels auch der
Gedanke, die Kirche sei "Israel", noch lebendig ist. Die Ausdrücke "Israel",
"Volk Gottes" etc. werden nicht verwendet, was man damit zusammenbringen
mufl, dafu auch ausdrückliche Beziehungen auf das AT fehlen, und auch der
Nachklänge aus der Schrift sehr wenige sind. Beides ist einigermafuen auf-
fallend, denn die Irrlehrer in Kolossä stehen jedenfalls in irgendwelchen
Beziehungen zu dem Judentum. .
So weit jüdische Observanzen hier in Betracht kommen, werden sie
aber nur als Menschenüberlieferungen und Menschengebote, als eine Verehrung
der Weltelemente und der Engel betrachtet (2,8.16-18.20-23). Diese
Auffassung ist auch im Galaterbrief angedeutet (3,19i 4,8-1o), im Kolosser-
brief ist sie aber die einzige, während der Gedanke an die Stellung des
Gesetzes im Heilsplan Gottes fehlt. Das wird mit der Art der kolossischen
Irrlehre zusammenhängen, denn man hat hier die Obsernpzen nicht judaistisch
als Anschlufu an das gesetzestreue Israel, sondern als Eipweihung in ein
kosmisches Mysterium aufgefafut, und die "MenschenüberHeferung" wird nicht
die normative Haiacha gewesen sein. 1u Für Paulus (bzw. für den deutero-
paulinischen Verfasser unseres Briefes) gehören diese Observanzen nur
der Sphäre der Sarx und des Kosmos an, der die Christen abgestorben
sind (2,20 f. u-13); die jüdischen Observanzen sind nur ein Schattenbild
des Zukünftigen (2,17).
Die wahre Wirklichkeit ist das Zukünftige, was zugleich droben ist
(-.dc p.eA'Aov-.cx 2,17; -.dc divw 3, r f). In dieser wahren, oberen, zukünftigen
Wirklichkeit haben die Christen schon ihr Leben, das mit Christus in Gott
verborgen ist (3,4). Ein Hoffnungsgut liegt für die Christen im Himmel;
und das "Mysterium bei den Heiden" ist, dafu diese Herrlichkeitshoffnung
- Christus selbst - in der Gemein<;le gegenwärtig ist (1,5.27). Die Christen
sind aus der Macht der Finsternis in das Reich des geliebten Sohnes Gottes
(=die obere, zukünftige Welt) versetzt worden und haben: am Los der
"Heiligen im Licht" (=der Engel)1 83 Anteil beko~men (1,13.12).
Was nun im Kolosserbrief besonders hervorgehoben wird, ist, dafu
neben dieser oberen, kommenden Wirklichkeit der Kosmos ke\ne selb·
ständige Realität hat. Christus ist der Anfang und das Prinzip. der
Schöpfungs- wie der Auferstehungs-"Welt" (r,rs-2o). Nur durch eine
Loslösung von Christus, in dem aber doch das Weltall allein seinen Be-
stand hat (r,q), haben die kosmischen Mächte eine selbständige Bedeutung
gewonnen; Christus hat aber am Kreuze über sie triumphiert und die Welt,
d. h. zunächst die Menschen und die übermenschlichen Gewalten, mit Gott
versöhnt- (2,r5; r,r9 f). Als der "Erstgeborene aller Schöpfung" und der
"~r~eborene unter den Toten" ist Christus das "Haupt aller Mächte und
Gewalten" und zugleich das "Haupt" der Ekklesia (r,rs.r8; 2,ro). Als
"Leib Christi" ist die Kirche das in Christus geschaffene und durch ihn
mit Gott versöhnte Weltall (r,r8; 2,I9); 184 die Christen leben deshalb
überhaupt nicht mehr in dem von Gott losgelösten Kosmos mit seinen
Elementargeistern; 185 sie sind der Welt gestorben, freilick in der Weise,
daß sie immer wieder ihre "Glieder auf der Erde" töten müssen (2,20 f;
3·5 -9).
Der Gedanke, die Kirche sei das Volk Gottes, tritt also im Kolosser-
brief deshalb zurück, weil der Gedanke, die Kirche sei die Schöpfung, wie
sie in Christus besteht, in den Vordergrund getreten ist. In diesem Ge-
danken ist aber auch jener mitenthalten; haben doch die jüdischen Observanzen
nur in der zum "Kosmos" gewordenen Schöpfung ihre Bedeutung. Weil in
der Kirche die ursprüngliche Schöpfung wieder zugänglich gemacht worden
ist, haben daher diese Observanzen ihre Bedeutung verloren. Indem Christus
am Kreuz über die Weltmächte triumphierte, hat er zugleich das Gesetz
vernichtet (2, I 4 f); wenn hier das Gesetz als ein "Schuldschein" bezeichnet
wird, so zeigt dies, daß die Stellung der Menschen vor Christus nicht ein-
fach gnostisch als ein Verfallensein an die kosmischen Mächte, sondern vor
allem echt paulinisch als Schuld aufgefaßt wird (vgl auch I,I4; 2,I3).
An der Heilsbedeutung des Kreuzes Christi gewinnen die Christen
auch nach dem Kolosserbrief in der Taufe Anteil (2,II). 186 Daß durch die
Taufe die Christen Glieder des "Israel Gottes" werden, wird dadurch deut-
lich, daß die Taufe a1s "Beschneidung Christi" bezeichnet wird. Die jüdische
Beschneidung beseitigte die" Vorhaut des Fleisches" (2,13), die "Beschneidung
Christi" beseitigt aber das Fleisch selbst, weil der Glaubende in der Taufe
mit Christus stirbt und aufersteht (2, I I f). Der Christ hat den "fleischlichen
Leib" ausgezogen und soll den "neuen Menschen" anziehen, - "da gibt
es weder Grieche noch Jude, weder Beschneidung noch Vorhaut - sondern
Christus ist alles und in allen" (3, 1 r). Die am Fleische vollzogene, mit
Händen gemachte Beschneidung gehört der uneigentlichen, irdischen Wirk-
lichkeit an und ist innerhalb dieser nur ein Bild der Befreiung aus dieser
Sphäre, die ebenso "Sarx" wie "Kosmos" heißen kann.
Was für die Beschneidung gilt, gilt für die jüdischen Observanzen über-
haupt, sie sind nur "Schatten des Kommenden", der "Leib aber gehört Christus"
(2,q). Dieser Leib ist die wahre, himmlische, eschatologische Wirklichkeit,
die in den "Kosmos" einen Schatten hineinwirft. Der dem Christus gehörende
Leib ist aber die Kirche. 187 Das Verhältnis zwischen "Israel kata pneum·a"
2 57
und "Israel kata sarka" wird also im Kolosserbrief als ein Unterschied
zwischen dem Leibe Christi und seinem Schatten aufgefaflt.
Man hat mit Recht bemerkt, dafl diese Auffassung an die Typologie
des Hebräerbriefes erinnert und sich von der Auffassung der früheren Paulus-
briefe, wo Verheiflung und Gesetz im Mittelpunkte standen, unterscheidet. 188
Andererseits müssen aber die Berührungen mit dem Galaterbrief betont
werden; wie dort, so gehört z. B. auch in dem Kolosserbrief das Gesetz
und die gegenwärtige, irdische Welt zusammen, Christus hat aber die Kirche
aus ihrer Gewalt befreit. Wenn dort vor allem die Abrahamskindschaft der
Gläubigen, hier die Stellung der Kirche in dem Weltall ins Auge gefaflt
wird, so läflt sich da,s aus den verschiedenen Antithesen verstehen, durch
die die Gedanken des Paulus bestimmt sind. Paulus geht auf die Voraus-
setzungen seiner Leser ein und spricht ihre Sprache. Wir werden demnach
in dem Kolosserbriefe eine durch eine neue Situation bestimmte neue Aus-
prägung des Kirchengedankens des Paulus sehen können. 189 Kompliziert
wird aber die Echtheitsfrage durch die Zusammengehörigkeit des Kolosser-
briefes mit dem Epheserbrief.
Nur in diesen beiden Briefen findet sich die Vorstellung von Christus
als dem Haupte und der Ekklesia als seinem Leibe. Im Epheserbrief haftet
das Interesse noch stärker an der Ekklesia; in keiner anderen Schrift des
NT steht die Kirche so betont im Zentrum. 190 Demgegenüber tritt das
Kosmische zurück {vgl jedoch r,ro.2o f; 3,ro.r8), die Betrachtung ist wieder
mehr heilsgeschichtlich, es handelt sich um die Stellung der Juden und der
Heiden. Die Umschreibung der vorchristlichen Lage der Heiden zeigt die
auch sonst für den Epheserbrief charakteristische Reichhaltigkeit; Finsternis,
Tod, Ungehorsam, Übertretungen sind bezeichnende Worte {2,r -2; 4,17- 19;
s,6.8.q). Das heidnische Leben ist ein Leben nach der Weise des Äon
dieser Welt, nach der Weise des Herrschers im Luftreich {2,2 vgl 6,11 f).
Besonders bemerkenswert ist aber, dafl dieses Leben der Heiden als ein
ln-der-Ferne- und In-der-Fremde-Sein aufgefaflt wird; die Heiden sind von
"dem Leben Gottes geschieden" {4,18), die Heidenchristen waren "ohne
Christus, von dem Staatswesen {7l'oAt-rdoc) Israels geschieden und den Zu-
sicherungen (<'itoc&~x.oct) der Verheiflung fremd, ohne Hoffnung und ohne Gott
in der Welt" (2,12), sie waren "die Ferne" {4,13·17), "Fremdlinge und
Beisassen" {~lfvot xocl 71'&potxot 2,rg). Nicht die Christen, sondern diejenigen,
die noch nicht Christen geworden sind, leben also nach dem Epheserbrief
fern der Heimat als Paröken in der W elt. 191 Dafl ihre Heima,t anderswo
ist, wird nicht durch einen gnostischen Seelenmythus, sondern durch den
Hinweis auf die Vorherbestimmung Gottes begründet {1.4 f .g; 3,n).
Dafl auch die (prädestinierten) Heiden am Heil Anteil bekommen sollten,
war aber ein Geheimnis, das den Menschen und auch den himmlischen
Mächten verborgen war {3,5·1o); erst als Gott in der Endzeit seinen Heilsplan
verwirklicht hat, ist es "den heiligen Aposteln und Propheten" enthüllt
worden {1,9 f; 3,5). Die besondere Berufung des Paulus und der Haupt-
inhalt des Epheserbriefes ist die Verkündigung dieses "Christusmysteriums":
der Anteil der Heiden arn Heil (3,1-rg; 2,II-22). Das ·Christwerden
bedeutet für die Heiden den Übergang von der Finsternis zum Lichte, vorn
Tode zum Leben, von der irdischen Existenz zur himmlischen (5,8.r4; 2,5 ff).
Dabei wird immer wieder betont, dafu die Heiden an diesem Heil nicht für
sich allein Anteil haben, sondern nur in Gerneinschaft mit Christus, mit den
Judenchristen, mit den Engeln (2,5 ff .rg; 3,6.18).
Wie das Heil durch Christus zu den Heiden gebracht wurde, wird in
dem Abschnitt 2,14-r8 geschildert; Christus hat die trennende Scheide-
wand, die Feindschaft zwischen den Heiden und den Juden und zwischen
diesen und Gott niedergerissen, da er das Gesetz zunichte machte und
dadurch zwischen Juden und Heiden und zwischen den Menschen und Gott
Frieden stiftete. 192 Die Heiden, die vorher "Ferne" waren, sind durch
Christus zu "Nahen" geworden (2, 13), und sind nicht mehr "Beisassen",
sondern "Mitbürger der Heiligen (=der Judenchristen oder der Engel?)
und Hausgenossen Gottes" (2,19). Diese Betrachtung erinnert an diejenige
in Rom II, nach der die Heidenchristen gewisserrnafuen als Proselyten in
die eine Gemeinde Gottes, Israel, eingegliedert werden; sie bleiben freilich
nicht Proselyten, sondern werden Vollbürger wie die Judenchristen.
Aus dem Abschnitt 2,rr-22 ergibt sich ferner, dafu für den Verfasser
des Epheserbriefes crwp.oc Xp~cr't'OU (2, r6) und voco~ Oiyto~ (2,2 I vgl 20.22)
mit ~ 7t'OA~'t'e(oc 't'Oti 'lcrpoc~A identisch sind; diese Gleichsetzung wird wohl
auch sonst feststehen (vgl 1,22 f; 3,6; 4,4.I2-r6.25; 5,23 ff). Dadurch
stimmt also der Epheserbrief mit den früheren Paulusbriefen überein, wenn
freilich auch die Bilder des Leibes und des Baues, wahrscheinlich also auch
der Begriff "Israel" anders angewendet sind. In der Interpretation dieser
Bilder dürften ScHLIER 193 und KXsEMANN 194 in der Hauptsache das Richtige
getroffen haben, von Einzelheiten müssen wir hier absehen. Als der Bau,
dessen Schiunstein Christus 195 und der Leib, dessen Haupt Christus ist, ist
die Kirche der himmlische "Anthropos" ( = "Aion"), die "Fülle" (7t'A~pwp.oc)
dessen, der alles in allem erfüllt (vgl 2,15; 1,20-23; 2 1 20-22; 4 112-16).
Die Christen sind als Glieder des Leibes Christi schon mit Christus "in
das Himmlische" versetzt (iv 't'01:~ t7t'oupocv(o~~ 2,6; 1,3; vgl r,2o; 3,ro; 6,12). 196
Der himmlische "Anthropos" ist aber zugleich der neue, eschatologische
(2,15). 197 Das eschatologische Moment in dem Kirchenbegriff des Epheser-
briefes kommt besonders dort zum Ausdruck, wo von dem den Christen
zugeteilten Erbe die Rede ist (I,II.J4.18; 3,6; 5,s). Dieses Erbe des
wahren Israels ist das eschatologische Heilsgut, für das die Christen den
heiligen Geist als Unterpfand erhalten haben (r,r3 f), es befindet sich
aber schon jetzt im Himmel; Paulus bittet, die Christen möchten erken-
nen, "wie reich die Herrlichkeit seines (Gottes) Erbes unter den Hei-
ligen (= den Engeln)" sei (r, r8). Mit dieser Stelle berührt sich eng
3,18, wo der Inhalt der Bitte ist: die Christen möchten "mit allen Heiligen
erfassen, was die Breite und Länge und Höhe und Tiefe sei." Dieser
259
kubische Raum, den die Christen erkennen sollen, ist nichts anderes als
das "Erbe", die als Kubus vorgestellte Himmelstadt ( = den Himmelraum ), die
zugleich das eschatologische Jetusalern (=den neuen Äon) ist (vgl Apoc 21,16;
Herrn Vis III 2,5). 198 Ihr eigentliches Wesen ist die Liebe Christi (3,19).
Das "Erbe" ist also letztlich nichts anderes als der himmlische Bau des
Leibes Christi selbst, so wie dieser zur Vollendung gekommen ist (vgl 3,19;
4,13.15 f; 1,10.23). Nach alledem gebraucht es keines besonderen Nach-
weises, daß der Christenname ol 61ymL auch im Epheserbrief die Christen
als Glieder des eschatologischen Gottesvolkes bezeichnet (1, 1.4. 15; 3,8;
4,12; 5,3; 6,18), aber eine besondere Note durch die Betonung davon erhalten
hat, daß die Christen als die "Heiligen" die Genossen der "Heiligen" im
Himmel, der Engel, sind (in diesem Sinne wahrscheinlich 1,18; 2,19; 3,18;
vgl Co! 1,12). 199
Die Kirche ist also einerseits das "Staatswesen Israels", andererseits
eine neue, himmlisch-eschatologische Gemeinschaft jenseits des Unterschiedes
zwischen Juden und Heiden, und zwar finden sich beide Anschauungen in
dem einen Abschnitt 2,II- 19 vereinigt. Wenn wir fragen, wie im Epheser-
brief der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Israel verstanden
wird, stoßen wir auf die Schwierigkeit, daß nur die Stellung der Heiden,
aber nicht die der Juden thematisch behandelt wird. Einiges läßt sich jedoch
sagen. Die Juden sind die "Nahen", die zu der "Politeia Israels" gehörenden
"Bürger", die erstberechtigten "Erben" und Glieder des Leibes Christi
(2,J7.I9 vgl r2; 3,6). 200 In scheinbar schroffem Widerspruch mit diesen Aus-
sagen sind nun aber nach 2,1 r die Juden nur "die sogenannte Beschneidung,
die "fleischlich", mit Händen gemacht ist". Auf die Judenchristen ist wahr-
scheinlich die Stelle 2,3 zu beziehen: "Auch wir waren von Natur Kinder
des Zorns wie die anderen etc. " 201 Die Juden wie die Heiden lebten
(wegen des Gesetzes) in Feindschaft mit Gott und wurden erst durch das
Kreuz Christi mit Gott versöhnt (2,14-16), und erhielten nur durch ihn
ihr "Los" zugeteilt (1,II). Was die Juden auszeichnete, war demnach nur,
daß sie durch die Verheißungen Gottes schon vor Christus Hoffnung hatten
(2,12; 3,6; 1,12 f). 202 Mit "Politeia Israels" kann demnach kaum an den
jüdisch-theokratischen Staat unter dem Gesetze an sich gedacht sein (2,12;
vgl 2,19), Sondern nur an Israel, sofern es Träger der Verheißung war.
Nun haben wir aber gesehen, daß in der Auffassung der Heiden und
der Kirche im Epheserbrief ein starker "gnostischer" Einschlag zu beobachten
war; es fragt sich deshalb, ob dies auch in der Auffassung von Israel der
Fall ist; durch die Korrelation von 2,19 mit 2,12 und mit 4,18 (-1j 7tOAtn(oc:
't"OÜ 'Icrpoc~A :f ~ ~w~ 't"OÜ &e:oü) und durch 3,6 (NB! crucrcrwfLoc) wird dies nahe
gelegt. Inwiefern gehört schon die "Politeia Israels" zum Pleroma, zum
"Leib Christi"? Nach Col 2,17 kann man antworten: wie der Schatten
des Leibes; aber vielleicht läßt sich die Antwort für den Epheserbrief näher
bestimmen. Die Stelle Eph 5,23 ff ist im NT dadurch einzigartig, daß hier
die Ekklesia, und nicht die zur Ekklesia berufenen Menschen, als der
Gegenstand des Heilswerkes, der Liebe und der Selbsthingabe Christi be-
zeichnet wird (5,23.25). Ja, es ist sogar die Ekklesia, die getauft und
dadurch geheiligt und gereinigt worden ist (5,26 f). Genau genommen,
müßte das heißen, daß die Ekklesia schon vor Christus da war, aber in
einem befleckten Zustand. Nun können die Ausdrücke freilich unpräzis,
oder die für die Kirche prädestinierten Menschen könnten als schon zur
Kirche gehörend betrachtet sein, aber näher liegt doch eine exaktere Inter-
pretation. Dann kann die Ekklesia nur das mit dem neuen identische alte
Israel sein, für das sich Christus hingab. Die Vorstellung der Ehe zwischen
Christus und der Ekklesia ist dann eine christliche Umprägung des atl.
jüdischen Bildes der Ehe zwischen JHWH und Israel (vgl Hos r -3 etc
und die allegorische Deutung des Hohenliedes). 203
Diese "alttestamentliche" Interpretation braucht nun freilich die "gnosti-
sche" Interpretation ScHLIERS nicht auszuschließen, das AT und die jüdische
Vorstellung konnte ja schon früher "gnostisch" verstanden worden sein,
was auch 5,3 I f beweist, wenn an der Deutung Schliers überhaupt etwas
richtig ist. 204 "Gnostisch" gesprochen wäre dann Israel die aus dem
"Pieroma" herausgefallene "Aion" Ekklesia, die durch die Reinigung in
der Taufe und die eheliche Vereinigung mit Christus in das Pieroma
zurili:kgeführt würde. Für den paulinisch deutenden Verfasser bedeutet
aber die Zugehörigkeit der Ekklesia-Israel zum Pieroma soviel wie: die
Verheißung. Die Scheidewand, die die Ekklesia-Israel von Gott trennt
ist das Gesetz (bzw. die Feindschaft) und die Zurückbringung in das
Pieroma heißt: Versöhnung mit Gott. Für mehr als eine Möglichkeit
möchte ich jedoch diese Deutung nicht ausgeben, aber erst durch sie scheint
es mir voll verständlich zu werden, wie die Kirche im Epheserbrief zugleich
der "Anthropos", das "Pleroma" und der "Leib Christi" und mit der
"Politeia Israel" identisch sein kann. Auf den möglichen Einwand, daß
ja im Epheserbrief besonders stark betont wird, daß das Heilswerk Christi
den Heiden zugute kommt, ist zu erwidern, daß gerade nach diesem Briefe
die Heiden gerettet werden, indem sie zu dem in Christus mit Gott ver-
söhnten Israel hinzukommen. Die