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EDITORIAL

E ben dachte ich noch, ich hätte mich aus völlig


freien Stücken dazu entschlossen, für Sie dieses
Editorial zu schreiben. Doch nach Lektüre unseres
Interviews mit dem Max-Planck-Forscher Wolf Sin-
ger auf Seite 72 bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Unser persönlicher freier Wille ist in den Augen des
Frankfurter Hirnforschers „ein kulturelles Kon- Reinhard Breuer
Chefredakteur
strukt“. Die Spektrum-Redakteure Inge Hoefer und
Christoph Pöppe fragten, ob es denn sein freier Wille sei, uns dieses Inter-
view zu geben? Konsequent antwortete Wolf Singer: „Ich fürchte nein.“
Schon in früher Kindheit – so früh, dass wir uns daran nicht mehr erin-
nern können – würden wir das Konzept eines freien, autonomen Selbst
erst entwickeln.
Und zwar dank der Fähigkeit unseres Gehirns, sich in andere hineinzu-
versetzen – etwas, das uns von den meisten Tieren unterscheidet. Mich
erinnert das an Einsteins Diktum über das Verfließen der Zeit, hier ge-
münzt auf den freien Willen: Es handelt sich zwar um eine Illusion, je-
doch eine äußerst hartnäckige.

I m Zeitalter von BSE-Epidemie und Creutzfeldt-Jakob-Erkrankungen


sehen sich viele genötigt, ihre bisherigen Essgewohnheiten zu ändern.
Zum Glück hatte ich meinen Fleischkonsum in
den letzten Jahren ohnehin schon reduziert.
Dass vieles, was heute auf unseren Tisch
kommt, auf das 17. Jahrhundert zurückgeht,
habe ich erst jetzt erfahren. Damals wandel-
te sich die mittelalterliche Alchimie zur
moderneren, aber immer noch vorwissen-
schaftlichen Chemie. Sie verdrängte die aus
der Antike stammenden, zum Teil noch magi-
Salat, angemacht schen Vorstellungen über Ernährung. Unter die-
mit Essig und Öl
sem Einfluss stellte die feudale Oberschicht ihre
Essgewohnheiten um. Alsbald wurden Mehlschwitzen und Fonds ange-
rührt, wurden Salate, Saucen und süße Desserts serviert. Viele dieser neu-
en Gerichte und Zubereitungsarten blieben bis heute erhalten – obwohl
dahinter eine weitgehend überholte Ernährungstheorie steckt (Seite 66).

E ine neue Serie und eine neue Rubrik werden Sie vielleicht schon
bemerkt haben: Bereits in 5. Folge stellen wir Ihnen „Das Protein des
Monats“ vor. Es vermittelt Einblicke in das brandaktuelle Gebiet der
„Proteomik“, das die Ergebnisse der Humangenom-Forschung vielfältig
nutzbar macht. Diesmal präsentiert unser Kolumnist Michael Groß das
„Rhodopsin“, das beim Sehprozess im Auge eine zentrale Rolle spielt
(Seite 23). Die „Mathematischen Unterhaltungen“ haben, im Monats-
wechsel, eine Schwesterrubrik erhalten: „Physikalische Unterhaltungen“.
Der Physikprofessor Wolfgang Bürger zeigt Ihnen, wie bestimmte Rätsel
des Alltags funktionieren, so der „Wirbel in der Badewanne“ (im Januar-
Heft) oder die „Lichtmühle“ auf Seite 104.
Herzlich Ihr
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


INHALT: FEBRUAR 2001

TITELTHEMA: ASTRONOMIE
TITELBILD:
Geisterhaft reflektiert eine pechschwarze
Wolke aus Staub und Gas das Licht eines Kosmischer
der hellsten Sterne im Plejaden-Sernhaufen.
Bekannnt als „Barnards Merope-Nebel“ IC
249, wurde die Wolke bei einer Kollision
Staub Seite
Seite 30
mit dem Stern zerrissen. Die Lichtstrahlen
links oben entstanden erst im Hubble-Tele-
skop, mit dem diese Aufnahme gelang.
Foto: NASA und The Hubble Heritage Team (STScl/Aura)

MONATSSPEKTRUM

12 Wenn Tiefseeberge das Festland rammen


Vulkane auf einer abtauchenden
ozeanischen Platte hobeln den
Kontinentalrand von unten ab
14 Gesegnet mit ererbtem Reichtum Von J. Mayo Greenberg
Frappante Genvielfalt der Isländer
Die Abfallprodukte von Sternexplosionen, winzige Staubkörner im interstel-
16 Interview: BSE und kein Ende laren Raum, haben die Geschichte unserer Galaxis entscheidend beeinflusst.
Prof. Detlev Riesner zum
Rinderwahn in Deutschland
21 Schluss mit dem Versteckspiel PHYSIOLOGIE
des Tuberkulose-Erregers
Neue Impfstrategie bei Tuberkulose
Molekulare Muskelmaschinen Seite 36
Von Stefan Galler
23 SERIE: Die Botschaft des Genoms V
Rhodopsin:Purpur im Auge Gewichte heben, Lasten halten und Bälle werfen – ohne unterschiedliche
24 Freigebigkeit lohnt sich Fasertypen in unseren Muskeln wären die vielfältigen Anforderungen
Experiment beweist: Großzügigkeit nicht zu bewältigen.
bringt Profit durch Imagegewinn
27 Bild des Monats
Flatternder Faden ARCHÄOLOGIE

SPEKTROGRAMM
Wer waren die ersten
Amerikaner? Seite 42
28 Anstößige Neutrinos • Widerstandsloser
Fußball • Fliege auf Abwegen • Gehirn Von Sasha Nemecek
aus Knochenmark • Marssedimente u.a.
Es galt als sicher: Jäger folgten
HAUPTARTIKEL
Mammutherden vor 13000 Jahren
von Sibirien über die Bering-
30 TITELTHEMA: Kosmischer Staub Landbrücke nach Amerika. Neuere
Abfallprodukte von Sternexplosio- archäologische Funde deklassieren
nen bilden riesige Wolken im All dieses Standardmodell aber als eines
unter mehreren. Jagten die ersten
36 Molekulare Muskelmaschinen
Amerikaner Fische statt Mammuts?
Vielfältige Typen an Muskelfasern
für abgestimmte Leistungen
42 Wer waren die ersten Amerikaner?
Erreichten die Pioniere ihre QUANTENPHYSIK
Neue Welt mit Booten oder zu Fuß? Das kälteste Gas
50 Bose-Einstein-Kondensat im Universum Seite 50
Experimente mit dem exotischen
Quantengas Von Graham P. Collins

58 Computer-Pflanzen Seit kurzem gelingt es, winzige


Blumen, Bäume und ganze Gaswölkchen knapp über dem absoluten
Landschaften aus dem Baukasten Nullpunkt in einen kollektiven
66 Wurzeln der modernen Küche Quantenzustand zu versetzen. Solche
Überholte, obskure Ernährungs- Bose-Einstein-Kondensate werden nun
theorien prägen unsere Esskultur intensiv erforscht und auf mögliche
Anwendungen untersucht.

4 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


COMPUTERGRAFIK

Computer-Pflanzen Seite 58 72 Spektrum-Interview


mit Wolf Singer über das Ende
Von Oliver Deussen und Bernd Lintermann
des freien Willens
Moderne Algorithmen der Computergrafik 76 Technoskop-Magazin
ermöglichen die Herstellung realistisch Optronik: Lichtschalter für
wirkender Naturszenen. Damit eröffnen sich Glasfasernetze
neue Anwendungen in der Visualisierung
ökologischer Daten sowie eine neue Qualität FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT
virtueller Welten in Simulatoren und auch
Computerspielen. 84 Wenn Schnee schwach wird
Entstehung von Lawinen
86 ... und der Zukunft zugewandt
Berlin-Adlershof: Deutschlands
ERNÄHRUNG
größter Technologiepark

Der Ursprung der modernen Küche Seite 66


88 Am Rande
Urfluch und Ekstase im Weltall
Von Rachel Laudan
90 Gastkommentar
Süßspeisen werden nach dem Hauptgericht serviert – warum eigentlich? Therapeutisches Klonen –
Die Antwort liegt in revolutionären medizinischen Konzepten Für und Wider
des 17. Jahrhunderts, die von der damals aufkommenden Chemie
geprägt waren. Obwohl vorwissenschaftlich, bestimmen sie BUCH-REZENSIONEN
unsere Essgewohnheit bis heute. 96 Peter Rothe: Erdgeschichte
Susan Aldridge: Zaubermoleküle
Brockhaus Redaktion (Hg.):
Technologien für das 21. Jahrhundert
Ernst Mayr: Das ist Biologie
R. Riedl: Strukturen der Komplexität
CD-Rom: Sigmund Freud und die
INTERVIEW Geheimnisse der Seele
Das Ende des freien Willens? Seite 72
PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN
Mit Wolf Singer
104 Die Lichtmühle
Neue Erkenntnisse der Hirnforschung verändern
unser Bild vom Menschen. Prof. Dr. Wolf Singer, WEITERE RUBRIKEN
Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung,
äußert sich über Bewusstsein, die Grenzen des freien 3 Editorial
Willens und die Folgen für unser Rechtssystem und
Erziehungswesen. 8 Leserbriefe
9 Impressum
95 Im Rückblick
103 Preisrätsel
Technoskop-Magazin 108 Wissenschaft im Alltag
Optronik: Seite 76
Hydraulische Bremsen

Lichtschalter 110 Vorschau März 2001

für Glasfasernetze
Netzknoten sind der Flaschenhals der
schnellen Kommunikationsleitungen,
denn die Vermittlung von Signalen
erfolgt bislang elektrisch.
Außerdem:
Kunststoffe, die verrotten können und Kompetenz und Aktualität
doch haltbar sind; Laufschuhdesigner
hören auf Biomechaniker Täglich Meldungen aus Wissenschaft,
Forschung und Technik. Dazu Hintergrund-
Technogramm: informationen, Software, Preisrätsel und
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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 5


LESERBRIEFE

G. ALDANA, J. PAUL GETTY TRUST


Ultrakurze Laserblitze Darwins Einfluss auf das moderne Weltbild
November 2000 September 2000

Präzise Messerschnitte Die Praxis spricht für Rückschritt


LASIK hat sich in den USA zum Standardverfahren in der Im Artikel wird behauptet,
refraktiven Chirurgie entwickelt. Ein ähnlicher Trend ist in dass Darwin eine naturwissen-
Europa zu verzeichnen. Die Aussage, dass der herkömmliche schaftliche Basis für die Ethik
Schnitt der Hornhautkappe mit geliefert haben solle. Wenn
einem Skalpell „ein riskantes dem so wäre, müsste eine
SLIM FILMS
Verfahren ist, das raue Schnit- Fortentwicklung der mensch-
te erzeugt“, ist verunsichernd lichen Gesellschaft zum Posi-
und irreführend. Tatsache ist, tiven hin doch gerade heute,
dass seit Jahren mit Mikro- wo nach Aussage von Herrn
keratomen (den Skalpellen) Mayr unsere wissenschaftli-
Schnitte im klinischen Betrieb che Denkweise von der Evo-
sicher durchgeführt werden. lutionstheorie wesentlich gebildeten Menschen den
Selbst Mikrokeratome einfa- geprägt sein soll, beobachtbar Glauben an eine dem Men-
cher Bauart erzeugen keine sein. Die Praxis spricht eher schen übergeordnete Trans-
rauen Schnitte. Aus beugungs- für das Gegenteil – große zendenz teilen.
optischen Gründen wird die Teile der Menschheit stehen Widersprechen muss ich
Präzision des Schnittes (Loch- mehr denn je am Abgrund. auch Mayrs Argumentation, es
muster) eines Femtolasers von Auch jüngere Spektrum- habe sich die Ansicht bestä-
seinem Fokus begrenzt. Im Artikel (z. B. Kleinwaffen – tigt, dass die Evolution der
nahen Infrarot beträgt z. B. der eine mörderische Weltplage Lebewesen sich in kleinen
Durchmesser der geschosse- (8/2000), Kindersoldaten (10/ Schritten vollzogen hätte. Der
nen Löcher typischerweise 2000) belegen deutlich, dass Fossilbericht legt nahe, dass
drei bis fünf Mikrometer (ca. es mit dem vernunftgemäßen die Entstehung der Arten –
Ultrakurze Laserpulse lösen das Doppelte in der Höhe). Denken und dem das Überle- wenn sie sich denn ohne ex-
Augenhornhaut ab. Ein gutes Mikrokeratom mit ben und Wohl der Gemein- ternen Anstoß „entwickelt“
einer hochwertigen Messer- schaft fördernden Altruismus haben – eben nicht in kleinen
führung erreicht diese Präzision leicht. Wie präzise mit Mes- bei der menschlichen Spezies Schritten, sondern in gewalti-
sern geschnitten werden kann, beweisen auch Mikro- und nicht weit her sein kann. gen Sprüngen abgelaufen sein
Ultratome; Schnittdicken unter 100 Nanometern in unter- Martin Zierau, Pansdorf muss. Bis heute fehlen sämtli-
schiedlichen Materialien sind Stand der Technik. Diese Präzi- che Bindeglieder, die die
sion wird mit Femtolasern beschriebener Bauart auf Grund der In kleinen Schritten oder Ansicht eines graduellen
verwendeten Wellenlängen nicht erreichbar sein. Wichtiger für gewaltigen Sprüngen? Verlaufs stützen müssten.
den Patienten dürften allerdings andere Kriterien wie z. B. Bei Mayrs Aussage „Kein Daniel Körtel, Kassel
kurze Eingriffszeiten sein: Zur Zeit schneiden Mikrokeratome gebildeter Mensch wird die
zehnmal schneller als ein scannender Laser. Evolutionstheorie anzwei- Diskussion um Determinismus
sis ltd., Frank Ziemer, Biel, Schweiz feln“ fange ich an, fast Im Rahmen seines (späteren)
sprachlos zu werden. Seit Weltbildes vertrat Einstein
wann ist der Glaube an die einen über rein physikalische
Unsichtbare Wunden – September 2000 Evolutionstheorie Maßstab Sachverhalte weit hinausge-
Wie lange dauern psychische Kriegsschäden? für den Bildungsgrad des henden Determinismus. In
In zwei außerklinischen Therapiegruppen mit je zehn Einzelnen? Wie verträgt sich seinen späteren Jahren war er
Patienten, die alle aus Flüchtlings- oder sonstwie durch dies mit der im Heft 11/99 Spinozist. Dazu bekennt er
den 2. Weltkrieg entwurzelten deutschen Familien stamm- („Naturwissenschaft und sich verschiedentlich selbst.
ten, definierten sich alle trotz unterschiedlicher Einzelpro- Religion in Amerika“) vorge- Der Determinismus der Phi-
blematik über Leistung und beklagten sich über eine stellten Erhebung, wonach 40 losophie des Spinoza und
lieblose Familie. Die Einzelleistungsfähigkeit der Patien- Prozent der amerikanischen Einsteins schließt auch den
ten war während des Krankheitsverlaufs stark schwan- Naturwissenschaftler an Gott menschlichen Willen nicht
kend geworden. Die Krankheitssymptome betrafen bis zu glauben. Es muss festgestellt aus.
drei Generationen. werden, dass doch eine nicht Dr. Cornelia Liesenfeld,
Wenn statistisch betrachtet in den alten Bundesländern unerhebliche Anzahl von Augsburg
ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung psychische Beschä-
digungen aufweist und therapiert werden sollte, könnte
eventuell ein namhafter Teil davon auf Nachwirkungen Durchs arktische Eis zum Alpha-Rücken
des 2. Weltkrieges zurückzuführen sein. Die Untersu- November 2000
chung dieses Aspekts ist bei statistischer Auswertung der
vorhandenen Anamnesen recht leicht. Angesichts der Der nautische Knoten
Generationenentwicklung könnte vielleicht festgestellt Im nautischen Gebrauch ist Knoten die Einheit der Geschwin-
werden, wie lange eine Bevölkerung zur Assimilation der digkeit und bezeichnet Seemeilen (1852 Meter) pro Stunde.
psychischen Kriegsschäden braucht. Gemeint war in dem Artikel wohl, dass am 10./11.7. eine
Wolfram Stratmann, Retzow Strecke von 6,5 Seemeilen zurückgelegt wurde.
Dr. Jörg Peter Ewald, Landau

8 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Die Suche nach außerirdischem Leben sich und ihre Kommunika-
November 2000 tionssignale zu tarnen. Dieses
Prinzip hat sich – bei aller
Reisedauer: 300 Jahre Rücksichtslose Völker technisch Vielfalt in der Evolution der
Die Kolonisierung der Gala- am stärksten irdischen Fauna – überall als
xis wäre weitaus komplizier- Die Erde ist nur 0,0002 % erfolgreiche Strategie durch-
ter als in den Artikeln darge- ihrer bewohnten Zeit von gesetzt, sowohl bei Jägern
stellt. Angenommen, ein zivilisatorisch begabten Wesen wie bei Beutetieren. Beide
Generationenraumschiff mit besiedelt, die 3,5 Milliarden wollen nicht entdeckt werden
einer Mindestbesatzung von Jahre benötigten, um sich zu und erhöhen so ihre Überle-

NASA UND SPACE TELESCOPE SCIENCE INSTITUTE


200 Personen würde mit entwickeln. Hätte man die benschance. Das Prinzip
einem Zehntel der Lichtge- Erde vor 100 Jahren aus dem Auffälligkeit gibt es nur bei
schwindigkeit einen 30 Licht- Weltall abgehorcht, wäre Tieren, die entweder unge-
jahre entfernten Stern ansteu- Funkstille gewesen. Es ist nießbar oder gefährlich sind,
ern: Die Reise dauerte dann nicht nur der evolutionäre in eine Falle locken wollen
300 Jahre, rund zehn Genera- Schritt von Ein- zu Mehrzel- oder Imponiergehabe zeigen.
tionen. Die Gesamtmasse des lern zu beachten, es sind auch Prof. Max J. Kobbert,
Raumschiffs müsste rund evolutionäre Schritte einzube- Münster
100 000 Tonnen betragen. ziehen, die Empfindung, Be-
Zum Beschleunigen und wusstsein, Kommunikation, Energieproblem setzt Grenzen
Abbremsen des Raumschiffs Technik entstehen ließen. Wenn es heißt, dass das Sterbender Stern:
wäre eine Energie von insge- Merkwürdigerweise ist techni- Milchstraßensystem von Starb mit ihm auch Leben?
samt 2,5 x 1016 Kilowattstun- sche Entwicklung ausgerech- außerirdischen Zivilisationen
den erforderlich – das 200fa- net bei den kriegerischsten, nur so wimmeln sollte, dass
che der Energie, welche die aggressivsten und rücksichts- sie sich aber paradoxerweise mangel und stark veränderte
ganze Erdbevölkerung in losen Völkern am stärksten. bisher nicht bemerkbar ge- Lebensgrundlagen gekenn-
einem Jahr verbraucht (1998: Hans-Jörg Teubner, macht haben, so wird meines zeichnet sein wird.
1,1 x 1014 Kilowattstunden). Hamburg Erachtens ein wesentlicher Nimmt man aber an, dass
Dr. Sebastian von Hoerner, Sachverhalt zu wenig berück- die Zeitspanne interstellarer
Esslingen Mimikry-Strategie sichtigt: nämlich das Energie- Kommunikationsfähigkeit
Das Fermi-Paradoxon beruht problem und die daraus mög- nur wenige hundert Jahre
Briefe an die Redaktion ... vermutlich auf einer Mimi- licherweise resultierende sehr beträgt, so verliert das Fermi-
kry-Strategie. Warum sollen begrenzte Lebensdauer inter- Paradoxon an Gewicht: Es
... richten Sie bitte mit Ihrer
Außerirdische durch unvor- stellar kommunikationsfähi- mag in unserer rund 10 Mil-
vollständigen Adresse an:
sichtig ausgesandte Signale ger Zivilisationen. Ich erwar- liarden Jahre alten Galaxis
Spektrum der Wissenschaft unnötige Risiken eingehen? te, dass unsere technische durchaus Millionen techni-
Ursula Wessels Da sie nicht wissen können, Zivilisation nach der bevor- scher Zivilisationen gegeben
Postfach 104840 welchem potenziellen Ag- stehenden Erschöpfung fossi- haben und auch zukünftig
69038 Heidelberg gressor/Kolonisator sie damit ler Energieträger auf einen noch geben – aber wohl keine
Informationen über einen neuen „post-fossilen“ Zu- gleichzeitig mit uns.
E-Mail: wessels@spektrum.com
lebenstauglichen Planeten stand kollabieren wird, der Prof. em. Werner Oldekop,
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geben, ist die beste Strategie, durch allgemeinen Energie- Braunschweig

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Geschäftsführer: Dean Sanderson 69) 92 01 92 82; Stuttgart: Erwin H. Schäfer, Norbert
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Markus Bossle Tel. (0 62 21) 504-741/742, Burchardstraße 17, 20095 Hamburg, Tel. (0 40) 30 18 31 84, 415 Madison Avenue, New York, NY 100017-1111
E-Mail: marketing@spektrum.com Fax (0 40) 33 90 90; Hannover: Egon F. Naber, Sextrostraße 3- Editor in Chief: John Rennie, Publisher: Sandra Ourusoff,
Übersetzer: An diesem Heft wirkten mit: Dr. Johannes Classen, 5, 30169 Hannover, Tel. (05 11) 9 88 47 14, Fax (05 11) 8 09 Associate Publishers: William Sherman (Production), Lorraine
PD Dr. Udo Gansloßer, Dr. Hilde Fischer, Andrea Jungbauer, 11 23; Düsseldorf: Cornelia Koch, Werner Beyer, Herbert Piehl, Leib Terlecki (Circulation), Chairman Emeritus: John J. Hanley,
Dr. Rainer Riemann, Peter Schütz. Klaus-P. Barth, Zollhof 30, 40221 Düsseldorf, Postfach 10 26 Chairman: Rolf Grisebach, President and Chief Executive
Verlag: Spektrum der Wissenschaft, Verlagsgesellschaft mbH, 63, 40017 Düsseldorf, Tel. (02 11) 30 135-20 57, Fax (02 11) Officer: Gretchen Teichgraeber, Vice President: Frances
Postfach 104840, 69038 Heidelberg; 13 39 74; Frankfurt: Anette Kullmann, Dirk Schaeffer, Markus Newburg; Vice President, Technology: Richard Sasso

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 9


MONATSSPEKTRUM

PLATTENTEKTONIK Platte setzt sich entlang der Kontaktflä-


che zwischen beiden über mehrere Dut-
zend Kilometer bis in Tiefen von über
Wenn Tiefseeberge hundert Kilometern fort. Dabei kommt es
zu einem bedeutenden Austausch von Ge-

das Festland rammen steinsmassen und Fluiden (Flüssigkeiten


oder Gasen), der einen intensiven Vulka-
nismus hervorruft. An den Rändern kol-
lidierender Platten treten daher weltweit
Vor der Pazifikküste Costa Ricas ließ sich die meisten Vulkaneruptionen auf. Hier
mit geophysikalischen Methoden erstmals direkt zeigen, entladen sich zudem neunzig Prozent der
seismischen Energie auf der Erde.
wie eine ozeanische Platte beim Abtauchen unter einen Manchmal schabt die obere Platte
Kontinentalrand Material von dessen Unterseite abschabt. von der abtauchenden Lithosphäre Sedi-
mente ab, die dann an ihrem Rand zu
zurück in den Erdmantel sinkt. Diese so einem so genannten Akkretionskeil auf-
Von César R. Ranero genannte Subduktion findet zum Beispiel geschoben werden. Dies ist jedoch kein
und Roland von Huene an der Westküste Süd- und Mittelameri- effizienter Prozess; daher verbleibt viel
kas statt. Sediment auf der absinkenden ozeani-
ie etwa hundert Kilometer dicke, fes- Die Wechselwirkung zwischen der schen Platte und wird zusammen mit ihr

D te Schale des Erdballs – die so ge-


nannte Lithosphäre – gliedert sich in
eine Anzahl von Platten, die auf dem zäh-
abtauchenden und der darüber fahrenden in die Tiefe verfrachtet.

plastischen Erdmantel „schwimmen“ Das perspektivische Relief des Kontinentalrandes vor der Pazifikküste Costa Ricas
und sich relativ zueinander bewegen. Da- beruht auf Fächerecholot-Daten, die das deutsche Forschungsschiff „Sonne“ auf meh-
bei kollidieren sie an mehreren Stellen reren Fahrten gesammelt hat. Die Höhen sind farbcodiert und Festlandbereiche nach
älteren Karten mit geringerer Auflösung wiedergegeben. Die abtauchende ozeanische
auch miteinander. Ist ein Kollisionspart-
Platte besteht aus drei morphologisch unterschiedlichen Regionen: dem Cocos-Rücken
ner eine kontinentale und der andere eine (oben rechts), einem Gebiet mit großen Tiefseebergen (Mitte) und einem glattem Seg-
ozeanische Platte, reicht die höhere Dich- ment (unten links). Diese Dreiteilung spiegelt sich auch in der Topographie des Konti-
te der letzteren im Allgemeinen aus, dass nentalrandes wider. Gegenüber dem Cocos-Rücken hat er sich gehoben; hier finden
sie sich unter die spezifisch leichtere sich ein schmaler Schelfabhang und eine Halbinsel. Wo die Tiefseeberge subduziert
kontinentale Platte schiebt und schräg werden, ist die Hangbasis von Furchen durchsetzt. Vor dem flachen Ozeanboden fällt
der Kontinentalhang sanft ab und weist ein regelmäßiges System von Schluchten auf.

CÉSAR R. RANERO UND ROLAND VON HUENE


83°20'W

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84°00'W

Furche
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85°00'W

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v v v v v v v
v v v v v v ozeanische Platte v · FEBRUAR
v SPEKTRUMv DER WISSENSCHAFT
v v 2001v
12 v v
8°00'N
9°00'N
10°00'N
Nord Tiefseegraben

1
F1
13
Zerklüftung Rutsc
hung
Canyons

Tiefseeberge
12
F2
Sedimentbecken
13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0

Sonne8
1 - Profi
l 17 F3

CÉSAR R. RANERO UND ROLAND VON HUENE


Hangsedimen
Beginn d te
es Grun
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Tiefe in Kilometern

4 5 6
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Kontinentalrandes ozeanis Frontalkei

9˚ 0
Kilometer

0'N
ze 25 20 15 10 5 0
ngren
Platte
9˚ 2
0'N

nse
Megali Drei Furchen (F1– F3) im Kontinentalhang vor Costa Rica zeigen unterschiedliche Sta-
7.grd/Azi290/Ele25/Ilum90 dien der Subduktion von Tiefseebergen. Eine Aufwölbung am Ende der Furchen F1 und
F2 verrät die momentane Position von zweien dieser bereits „abgetauchten“ Berge. Im
reflexionsseismischen Profil ist die Obergrenze der absinkenden Platte bis in etwa elf Ki-
Umgekehrt passiert es aber auch, lometer Tiefe deutlich zu erkennen. Unmittelbar darüber befinden sich an einigen Stellen
dass die untere Platte Material von der riesige Gesteinslinsen. Sie bestehen vermutlich aus Material, das von der kontinentalen
oberen abhobelt. Eine solche Subdukti- Platte abgeschabt wurde und nun mit subduziert wird. In dem kleinen Frontalkeil haben
onserosion kann an zwei Stellen stattfin- sich dagegen vermutlich Sedimente angelagert, welche die kontinentale von der ozeani-
den: am Fuß des Kontinentalhanges am schen Platte abgekratzt hat. Rote Linien markieren den Verlauf seismischer Profile.
vorderen Plattenrand und an der Unter-
seite der kontinentalen Platte. Ersteres
zeigt sich daran, dass der Kontinental- Tiefseeberge in verschiedenen Stadien nächst stark gedehnt und auseinanderge-
hang an dieser Stelle zerklüftet und ein- ihres Vordringens unter die kontinentale brochen. Dann kippt der Meeresboden
gebuchtet ist; Letzteres erkennt man an Kruste geschaffen haben. So verlaufen seewärts, sodass die Sedimentdecke
einer Absenkung des Plattenrandes um im Kontinentalhang mehrere Furchen schließlich den Hang hinunterrutscht.
mehrere Kilometer – von fast Meeres- senkrecht zur Plattengrenze (Bild oben). Dadurch entsteht eine Furche, die so breit
spiegel-Niveau auf die Meerestiefe unter- Teils zeigen lokale Hebungen am Ende ist wie die Spitze des Tiefseeberges (F2
halb des Kontinentalhanges. Wenn die der Furche noch an, wo sich der jeweilige im Bild oben).
obere Platte so weit absackt, muss sie von Tiefseeberg auf seinem Weg hinab in den Bei der weiteren Subduktion schabt
unten stark verdünnt worden sein. Erdmantel gerade befindet. der Tiefseeberg schließlich auch Material
Wenn ein Tiefseeberg sich in die von der Unterseite der oberen Platte ab.
Schnappschüsse eines Dramas Basis der kontinentalen Platte pflügt, Dies lässt sich auf der neuen, detaillierten
unter der Kruste schiebt er zunächst deren dünne Randzo- Karte des Meeresbodens vor Costa Rica
ne beiseite, die aus angelagerten weiche- erstmals direkt erkennen. Dort erscheint
Besonders dramatische Beispiele für ren Sedimenten besteht. Dabei zerstört er eine breite Furche, die mehr als 50 Kilo-
Subduktionserosion bieten Tiefseeberge, die Hangbasis und ritzt eine etwa zehn meter den Kontinentalhang hinaufläuft
die sich mit der abtauchenden ozeani- Kilometer lange Kerbe in den Plattenrand (F3 im Bild oben). Obwohl sie teilweise
schen Platte unter den Kontinentalrand (F1 im Bild oben). mit jüngeren Sedimenten angefüllt ist,
schieben. Faszinierende Schnappschüsse Danach endet die Zone weicher Sedi- zeigt ihre Tiefe an, dass die obere Platte
dieses Vorgangs lieferte nun erstmals die mente, und der Tiefseeberg trifft auf den durch tektonische Erosion an ihrer Basis
großflächige Vermessung des Pazifikbo- harten Kern der kontinentalen Platte, der Material verloren hat, während der abtau-
dens vor Costa Rica (Bild links). Die aus Gestein des Grundgebirges besteht. chende Tiefseeberg unter ihr entlang ge-
ozeanische Platte bewegt sich hier mit Die Folgen sind nicht ganz so drama- schrammt ist.
etwa neun Zentimetern pro Jahr frontal tisch, wie man vermuten könnte. Entlang Zusätzlich zur oberflächlichen Kar-
auf den Kontinent zu. der Grenzfläche zwischen den Platten tierung des Kontinentalrands bei Costa
Detaillierte Reliefkarten des Meeres- sammeln sich nämlich Fluide, die unter Rica per Fächerecholot wurde mit seismi-
grundes, die das deutsche Forschungs- hohem Druck stehen und die Scherfläche schen Methoden auch der Untergrund
schiff „Sonne“ mit Fächerecholoten auf- schmieren. Dadurch verringern sie die „durchleuchtet“. Dabei machten die Geo-
genommen hat, zeigen charakteristische Deformation und Erosion. Allerdings physiker eine weitere interessante Entde-
Strukturen, die zehn bis zwanzig Kilome- werden die Sedimente am Meeresboden ckung: Dicht oberhalb der abtauchenden

ter breite und 1000 bis 2500 Meter hohe über dem Gipfel des Tiefseeberges zu- ozeanischen Platte sind riesige Gesteins-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 13


MONATSSPEKTRUM

linsen von 10 bis 15 Kilometern Länge Form der Erosion mit geophysikalischen schwerer Erdbeben beeinflussen. Seit
und 1 bis 1,5 Kilometer Höhe zu erken- Methoden abzubilden. Die neuen Beob- langem fragen sich die Geophysiker, wel-
nen. Woher stammen diese Megalinsen? achtungen ermöglichen damit ein besse- che Prozesse es sind, die immer wieder
Sind es subduzierte Sedimente, die sich res Verständnis, wie die basale Erosion schlagartig gewaltige Mengen seismi-
von der abtauchenden ozeanischen Platte kontinentaler Platten an Subduktionszo- scher Energie tief unter den Küstenregio-
gelöst und von unten an die kontinentale nen abläuft und welche Art von Material nen des Pazifik und des Mittelmeeres
Platte angelagert haben? Oder bestehen jene Vulkane bildet, die den Pazifischen freisetzen. Eine weitere offene Frage ist,
die Megalinsen umgekehrt aus erodier- Ozean wie ein Feuergürtel umgeben. warum einige Erdbeben verheerende
tem Material der oberen Platte, das sich Insgesamt liefern die Ergebnisse von Flutwellen (Tsunamis) hervorrufen, an-
die untere Platte einverleibt hat? Costa Rica Einblicke in den subduktions- dere aber nicht.
Eine Anlagerung von Material an die bedingten Material- und Fluidtransport in Je höher die Auflösung seismischer
obere Platte oder eine Verdickung durch das Erdinnere, wie es sie so detailliert nie Reflexionsdaten ist und je leistungsfä-
Kompression erscheint wenig wahr- zuvor gegeben hat. Das ist umso wichti- higer die Computerprogramme zu ihrer
scheinlich; denn dann müsste die konti- ger, als die Materialien, die an Subduk- Auswertung sind, desto mehr Einzelheiten
nentale Platte oberhalb der Megalinsen tionszonen in die Tiefe wandern, den kommen ans Licht, die das Verständnis –
deutlich angehoben worden sein. Dafür Entstehungsort und die Eigenschaften und damit möglicherweise auch die Vor-
finden sich aber keine Anzeichen; statt- hersage – von Naturkata-
dessen erscheint die obere Platte durch strophen erleichtern. Lei-
normale Abschiebungen gedehnt. Das Dr. César R. Ranero hat Geologie an der Universität der ist die Wissenschaft
spricht für die zweite Vermutung, wo- des Baskenlandes studiert und 1993 an der Univer- aus Kostengründen nicht
nach die Linsen große Gesteinskörper sität Barcelona (Spanien) promoviert. Er arbeitet in der Lage, die derzeit
sind, die sich von der oberen Platte seitdem am Geomar Forschungszentrum für Marine fortschrittlichsten Techni-
abgelöst haben und nun zusammen mit Geowissenschaften der Universität Kiel. ken einzusetzen. Sie muss
der unteren die Subduktionszone hinab- Prof. Roland von Huene hat an der Universität von immer noch mit geo-
wandern. Kalifornien in Los Angeles Geologie studiert und physikalischen Methoden
Nach dem Ablösen könnten die Lin- 1960 promoviert. Er arbeitete für die US-Marine auskommen, die der Stan-
sen mit der Zeit zerbrechen und schließ- und für das Geologische Bundesamt der USA, ehe dardausstattung bei der
lich völlig zerrieben werden; sie würden er 1989 die Abteilung „Marine Geodynamik“ am geophysikalischen Explo-
dann in Form von Schlamm entlang der Geomar gründete. Seit der Emeritierung im Jahre ration der Ölindustrie um
Subduktionszone weiter transportiert. 1996 lebt er abwechselnd in Kalifornien und Kiel. 10 bis 15 Jahre hinterher-
Nie zuvor war es gelungen, eine solche hinken. ■

POPULATIONSGENETIK verglichen die Ergebnisse mit dem Gen-


pool in anderen europäischen Ländern
(„Nature Genetics“, Bd. 25, S. 373). Das
Gesegnet mit überraschende Ergebnis: Auf Island ist
die genetische Vielfalt keineswegs gerin-

ererbtem Reichtum ger, sondern sogar größer als auf dem


Festland.
Über die Ursachen dieser Merkwür-
digkeit lässt sich im Moment nur speku-
Die Abgeschiedenheit einer Insel fördert Inzucht – sollte man lieren. Möglicherweise nahm an der Be-
meinen. Doch die Bewohner Islands erfreuen sich offenbar siedlung Islands vor etwa 1100 Jahren
ein guter Querschnitt der europäischen
der größten genetischen Vielfalt unter allen Europäern. Bevölkerung teil, zumindest was die Ge-
ne betrifft. Vielleicht sorgten am Anfang
Von Axel Brennicke Warum waren die Spezialisten von durchziehende Wikinger für frisches
deCODE Genetics gerade auf die Gen- Blut; später gingen viele Isländer auf
daten der Isländer erpicht? Einer der Arbeitssuche ins Ausland, von wo sie
or zwei Jahren machte die Regierung Gründe ist die Annahme, dass die ferne ihre Partner und Nachkommen mit zu-

V Islands ein spektakuläres Geschäft.


Sie verkaufte die Rechte an den me-
dizinischen und genetischen Daten der
Lage der Insel und die jahrhundertelange
Isolation ihrer Bewohner Inzucht begüns-
tigt und so einen hochgradig homogenen
rück auf die Insel brachten. So könnte die
Paradoxie zu erklären sein, dass sich aus-
gerechnet auf diesem abgelegenen Eiland
275 000 Inselbewohner exklusiv an die Genpool geschaffen habe. Dergleichen das differenzierteste Erbgut in ganz Eu-
Firma deCODE Genetics. Für einige Mil- ist für die Suche nach statistischen Zu- ropa findet.
lionen Dollar darf das amerikanische sammenhängen zwischen Erkrankungen Der Firma bleibt ein Trost: Sie hatte
Unternehmen vorerst zwölf Jahre lang und Erbgut besonders günstig. einen zweiten Grund, die isländische Be-
genetische Profile in isländischen Fami- Doch möglicherweise stimmt die An- völkerung als Genreservoir zu wählen, in
lien auf ihre Verknüpfung mit Erbkrank- nahme nicht. Jetzt haben Einar Arnason dem sich gut nach erblichen Krankheits-
heiten untersuchen. Die Firma hofft, da- und seine Kollegen von der Universität dispositionen fahnden lässt. Die Bewoh-
durch Gene zu finden, die Veranlagungen Island in Reykjavik die Probe aufs Exem- ner der unwirtlichen Insel sind nämlich
für die verschiedensten Krankheiten be- pel gemacht. Sie untersuchten einen re- begeisterte Genealogen, die ihre Abstam-
inhalten – von der Schuppenflechte über präsentativen Querschnitt von 73 Islän- mung und Verwandtschaftsverhältnisse
den Brustkrebs bis zum Schlaganfall. dern auf ihre genetische Variabilität und vielfach über Jahrhunderte zurückverfol-

14 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


schickt – bisher allerdings
nur in den USA. Das Ziel,
mindestens 100 000 Perso-
nen in die Datenbank aufzu-
nehmen, wird sicherlich
bald erreicht sein. In der
ersten Woche haben schon
tausend Freiwillige den Fra-
gebogen ausgefüllt.
Für das nächste Jahr pla-
nen das Medical Research
Council und der Wellcome
Trust in England ein ähn-
HARPA SVEINSDOTTIR, AKUREYRI

liches Projekt. Sie wollen


Daten von etwa 500 000
Personen im „besten Alter“
erheben, um auch weit-
läufige Verbindungen zwi-
schen Genen, Lebensstil und
Nicht nur äußerlich, sondern auch genetisch sehr verschieden: Schüler einer Abiturklasse in Island Krankheiten statistisch ab-
sichern zu können. Und so
wird es vielleicht nicht mehr
gen können. Mit diesem Pfund zumin- zu ihrer Lebensweise und eine Blut- lange dauern, bis wir uns alle mit unserem
dest kann deCODE Genetics weiterhin probe zur Verfügung stellen. Unter genetischen Profil und unseren kleinen
wuchern. www.DNA.com kann man einen Frage- Lastern oder Schwächen in solchen
Aber auch andere Firmen folgen auf bogen über die medizinische Geschichte Datenbanken wiederfinden. Ob sich die
ihre Weise der vermuteten Goldader. So der Familie aus- medizinische Verhei-
sucht das kalifornische Unternehmen füllen, woraufhin ßung erfüllt, bleibt ab-
DNA Sciences im Internet Freiwillige, die Firma jeman- Prof. Dr. Axel Brennicke lehrt zuwarten; die Gefahr
die Krankheiten in ihrer Familienge- den zum Blutab- Botanik an der Universität Ulm. für den Datenschutz ist
schichte angeben sowie Informationen nehmen vorbei- dagegen real. ■

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 15


MONATSSPEKTRUM MONATSSPEKTRUM
INTERVIEW

den – etwa über Ausscheidungen, die als

BSE und kein Ende Naturdünger auf die Weide kommen?


Riesner: Bei Rindern ist ein Infektions-
weg über die Weide unwahrscheinlich.
Selbst wenn Weiderinder durch verunrei-
nigtes Tierfutter infiziert wären, betrüge
Nun hat der Rinderwahn auch die deutschen Viehställe erfasst. die Erregermenge in den Ausscheidungen
Prof. Dr. Detlev Riesner, Leiter des Instituts für Physikalische Biologie nur einen sehr geringen Bruchteil derjeni-
gen im Futter. Man hat in Großbritannien
und Mitglied des Biologisch-Medizinischen Forschungszentrums keinen epidemiologischen Zusammen-
an der Universität Düsseldorf, äußert sich zum Stand der BSE-Krise. hang mit einer Verseuchung von Weide-
vieh erkennen können. Beim Schaf ist das
Risiko einer Infektion über die Weide da-
Spektrum der Wissenschaft: Ist die Auf- Riesner: Die Artenschranke ist prinzipiell gegen hoch. Schafwiesen können ver-
regung um die ersten BSE-Fälle in Deutsch- nicht leicht zu überwinden. Sie ist zwi- seucht werden. Anders als heute gab es
land gerechtfertigt? schen Wiederkäuern wie Schaf und Rind dadurch früher auch in Deutschland Scra-
Professor Detlev Riesner: Ich kann sie geringer – und leider auch zwischen Rind pie-Epidemien. Doch die Schafhalter be-
nur teilweise nachvollziehen. Beunruhi- und Mensch. Die Artenschranke etwa von folgten damals einfach von sich aus empi-
gend ist, dass BSE nicht hätte auftreten Rind auf Schwein hat man bisher nur im rische veterinärhygienische Regeln und
dürfen, weil seit sechs Jahren die Verfütte- Experiment überwinden können. Dabei brannten die Wiese ab. Und so haben sie
rung von Tiermehl an Wiederkäuer verbo- erhielt jedoch das Schwein eine Injektion wohl die Epidemie in den Griff bekom-
ten ist. Es gibt natürlich die marginale von infiziertem Material direkt ins Gehirn men. Eine Übertragung über die Weide ist
Möglichkeit, dass die Rinder spontan, also – auf eine solche Idee würde kein Bauer auch dadurch möglich, dass ein ablam-
ohne äußeren Anlass krank geworden sind; kommen. Selbst wenn ein Schwein mit mendes Mutterschaf die hochinfektiöse
aber das wäre eine unglaubliche Koinzi- infektiösem Tiermehl gefüttert wird, er- Nachgeburt dort zurücklässt und die an-
denz. Davon können wir nicht ausgehen. krankt es sehr wahrscheinlich nicht – zu- deren Tiere sie fressen. Zudem sind die
Spektrum: Demnach hat das EU-Gesetz mal seine Lebenszeit für eine massive Innereien des Schafes viel ansteckender
von 1994 offenbar nicht gegriffen. Ist das Ausbreitung des Erregers zu kurz ist. als die der Kuh. Bei Rindern hat man
generelle Verbot von Tiermehl eine ange- Spektrum: Das Prion-Protein existiert in Prionen nur in bestimmten Lymphknoten
messene Reaktion? zwei Formen: einer natürlichen, die harm- und im Enddarm gefunden, bei Schafen
Riesner: Ich würde nicht sagen, das Ge- los ist, und einer mit veränderter Struktur dagegen auch in der Milz und in anderen
setz hätte nicht gegriffen. Aber es gab of- oder Konformation, die krank macht. Die Organen. Schafe kratzen sich auch sehr
fenbar Löcher bei der Kontrolle. Für das veränderten Partikel infizieren die natürli- stark an Zäunen und Pfählen; dadurch ist
nun beschlossene generelle Tiermehlver- chen, indem sie diese zum Umklappen in gleichfalls eine Übertragung möglich.
bot sehe ich keinen wissenschaftlichen die falsche Konformation veranlassen. Spektrum: Kennt man noch andere Über-
Grund, nur einen ordnungspolitischen An- Weiß man inzwischen, wie dieser Vorgang tragungswege?
lass, nämlich durch dieses Gesetz die Ver- genau abläuft? Riesner: Einigermaßen gesichert ist der
fütterung an Rinder effektiv zu verhindern. Riesner: Der prinzipielle molekulare Me- vom Muttertier auf das Kalb. Die Wahr-
Spektrum: Sinn würde das generelle Ver- chanismus ist leider immer noch unbe- scheinlichkeit einer Übertragung sechs
bot für Tiermehl dann machen, wenn die kannt. Viele Labors der Welt arbeiten da- Monate vor Krankheitsausbruch bei der
Artenschranke leichter zu überwinden wäre ran, den Umklapp-Effekt in vitro, also im Mutter liegt aber nur bei zehn Prozent, ist
als bisher bekannt, wenn also Prionen – „Reagenzglas“, nachzuvollziehen und da- also sehr gering.
jene Proteine, die Scrapie bei Schafen, BSE mit die Prion-Hypothese wirklich moleku- Spektrum: Wie groß ist das Risiko einer
bei Rindern und die neue Variante der lar zu beweisen. Dann müsste man aber Verbreitung durch Insekten?
Creutzfeld-Jakob-Krankheit beim Men- künstlich infektiöse Partikel erzeugen Riesner: Wir haben bei uns im Labor Ma-
schen hervorrufen – auch Schweine, Geflü- können, und das war bisher nicht möglich. den von Fleisch fressenden Fliegen auf in-
gel oder Fische befallen könnten. Gibt es Spektrum: Können Prionen außer durch fiziertes Rinderhirn gesetzt. Nach dem Ver-
dazu neuere Erkenntnisse? die Nahrung auch anders übertragen wer- puppen der Maden konnten wir in ihren
Innereien – mit der Zeit abnehmend – In-
fektiosität nachweisen. Wenn also die Pup-
pen auf der Wiese gefressen werden, haben
wir ein Problem. Jetzt wollen wir experi-
mentell herausfinden, ob auch Fliegen
Prionen übertragen können. Dazu müsste
eine mögliche Infektiosität in der Puppe
bis ins Fliegenstadium erhalten bleiben. In
diesem Falle würde es gefährlich.
Spektrum: Könnte die neue Variante der
Creutzfeld-Jakob-Krankheit durch Blut-
transfusionen in Krankenhäusern übertra-
gen werden?
ERIC LICHTENSCHEIDT

Riesner: Bei der klassischen Variante ist


dieser Übertragungsweg nie nachgewie-
sen worden. So haben Blutspender, die
später krank geworden sind, epidemiolo-

16 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


gischen Untersuchungen zufolge keinen Riesner: Was die britischen
der Empfänger angesteckt. Bei der neuen Wissenschaftler schon früh an
Variante ist das nicht sicher. Diese Erre- Erkenntnissen gewonnen hat-
ger-Stämme finden sich wohl vermehrt ten, hätte die britische Regie-
auch im peripheren Kreislauf, etwa in den rung allemal wissen können.
Mandeln, und so besteht wohl eine Gefahr Sie hat aus politischer Oppor-
bei Bluttransfusionen. tunität aber nicht auf die aktu-
Spektrum: Was weiß man über das Erkran- ellsten Berichte und Gutachten
kungsrisiko, über Dispositionen? In einer zurückgegriffen, sondern sich
Herde erkrankt ja auch nicht jede Kuh ... viel zu lange auf den South-
Riesner: Nur ein bis zwei Prozent der mit wood-Report gestützt, der das
Prionen-verseuchtem Tiermehl gefütter- Risiko für den Menschen als
ten Rinder infizieren sich. Man kennt eine verschwindend gering ein-
genetische Disposition: eine bestimmte schätzte. Auf einer Konferenz
veränderte Aminosäure im natürlichen ERIC LICHTENSCHEIDT in England 1991 antwortete
Prion-Protein. Betrachten wir – nach der Prusiner auf die Frage, ob BSE
bisherigen empirischen Erfahrung mit auf den Menschen übertragbar
vCJK-Patienten – die Disposition des sei, wir Wissenschaftler müss-
Menschen, so sind 35 Prozent anfällig, 50 ten ehrlicherweise zugeben,
Prozent dagegen nicht, und bei den restli- dass wir es nicht wüssten. Da-
chen 15 Prozent weiß man es nicht. Das oreszenz-Korrelations-Spektroskopie und rauf bemerkte der Chief Medical Officer,
betrifft die Anfälligkeit, die direkt im Pri-
nutzt nicht die Protease-Beständigkeit der Keith Meldrum, BSE könne ganz sicher
on-Gen angesiedelt ist. Es gibt wohl auch infektiösen Prionen aus, sondern ihre Fä- nicht übertragen werden. Wer definiert
eine gewisse Anfälligkeit, die von benach- higkeit, sich zu Aggregaten zu vereinigen, wissenschaftliche Erkenntnis: ein Politiker
barten Bereichen herrührt, aber sie ließ also praktisch zu verklumpen. oder eine anerkannte wissenschaftliche
sich natürlich nur im Tiermodell feststel- Spektrum: Die Firma Vetmedica, eine Größe? Eine solche Anmaßung der Politik
len, nicht beim Menschen. Tochter des Pharmakonzerns Boehringer- ist schlimm.
Spektrum: Anbieter von BSE-Tests haben Ingelheim, hat angeblich einen Bluttest ent- Spektrum: Haben Sie in den letzten Jahren
derzeit Hochkonjunktur. Sind diese Tests zu-wickelt, mit dem sich die Infektion schon am Ihre Risiko-Einschätzung revidieren müs-
verlässig? lebenden Tier nachweisen lässt. Wie funk- sen, oder entspricht die momentane Ent-
Riesner: Ja. Die Tests, die unter anderen tioniert er? Und bringt er den Durchbruch wicklung Ihren Erwartungen?
die Schweizer Firma Prionics zur Zeit für eine optimale Kontrolle? Riesner: Ich habe immer vorausgesagt,
kommerziell anbietet, beruhen auf einer Riesner: Bisher konnten im Blut erkrank- dass wir in Deutschland auch ein paar Fälle
zehn Jahre alten, ausgereiften Technolo- ter Tiere keine Prionen nachgewiesen wer- der neuen Creutzfeld-Jakob-Variante be-
gie. Dabei werden Proteine aus Gewebe- den. Vielleicht stützt sich der erwähnte kommen würden – allein schon durch die
proben des Gehirns durch ein Enzym na- Test auf einen Faktor im Blut, der die Reisen Deutscher nach England. Ich bin
Infektion indirekt anzeigt. von ein paar Prozent der britischen Fälle
Die äußerst spärlichen In- ausgegangen; glücklicherweise sind es bis-
„Vielleicht müssen wir mehr mit formationen von Boehrin-
ger-Ingelheim reichen für
her sehr viel weniger, aber die Statistik
schützt uns noch nicht. Was die BSE-Fälle
anderen Übertragungswegen rechnen.“ eine Bewertung derzeit bei Rindern in Deutschland betrifft, war ich
nicht aus. Ein zuverlässi- schon vor den Routine-Tests davon über-
ger Test am lebenden Tier zeugt, dass bei entsprechend rigorosen
mens Protease abgebaut; nur das infektiö- wäre natürlich ein gewaltiger Fortschritt. Überprüfungen einige infizierte Kühe ge-
se Prion-Protein bleibt wegen seiner Sta- Mit allzu optimistischen Erwartungen funden würden. Derzeit rechne ich mit
bilität intakt, und Antikörpertests weisen sollte man aber im Moment noch vorsich- maximal so vielen wie in Frankreich, wahr-
es dann nach. Allerdings können die Tests tig sein. scheinlich weniger, und bestimmt werden
die krankmachenden Prionen erst anzei- Spektrum: Bisher war die Creutzfeld-Ja- wir keine britischen Verhältnisse bekom-
gen, wenn diese sich bereits stark ausge- kob-Krankheit unheilbar. Wie beurteilen Sie men. Aber es gibt auch eine negative Erfah-
breitet haben. Deshalb werden neue Ver- die Aussichten auf eine Therapie? rung: Die britische Epidemie geht nicht so
fahren für empfindlichere Tests entwi- Riesner: Es gibt bisher nur einige Ansätze schnell zurück wie vorausgesagt. Vielleicht
ckelt. Das Labor von Stanley Prusiner, dazu. Sie laufen darauf hinaus, die Umfal- müssen wir in der Tat mehr mit anderen
dem Pionier der Prionenforschung, arbei- tung und das anschließende Aggregieren – Übertragungswegen rechnen.
tet an einem Test, der nicht das Endpro- also Verklumpen – der Proteine mit der Spektrum: Essen Sie noch alles?
dukt, sondern schon das Intermediär-Pro- falschen Struktur zu verhindern. So kennt Riesner: Ich würde Hirn heute auch in
dukt, das viel früher erscheint, nachweisen man Peptide, die sich spezifisch an das Deutschland nicht essen. Was Fleischpro-
soll. Dabei handelt es sich um eine bereits natürliche Prion-Protein anlagern und sein dukte wie Wurst angeht, hat die heimische
umgewandelte Form, die aber noch durch Umklappen in die falsche Konformation Fleischindustrie leider versäumt, klar zu
das Enzym Protease abgebaut wird. So hemmen können. Bis zum praktischen sagen, dass sie dafür kein Hirn mehr ver-
ließe sich die Infektion nicht erst einen Einsatz ist es aber noch ein weiter Weg. wendet – und natürlich müsste das auch
oder zwei Monate, sondern vielleicht Spektrum: In Großbritannien haben sich wirklich stimmen. Bei einem Steak habe
schon ein Jahr vor Ausbruch der Krank- Forscher laut über die Ignoranz der Politiker ich sicher keine Bedenken. ■
heit feststellen. Auch wir arbeiten zusam- beschwert. Haben die offiziellen Gesund-
men mit der Firma Evotec an einem neuen heitshüter auf schon skandalöse Weise ver- Das Interview führten
Test. Er arbeitet mit der so genannten Flu- sagt, oder waren die Wissenschaftler zu leise? Marion Kälke und Dieter Beste.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 (Seiten 18, 19 und 20: Anzeige und Beihefter) 17
MONATSSPEKTRUM

MEDIZIN
Elektronisches
Schluss mit dem Versteckspiel Gesamtregister
des Tuberkulose-Erregers Die mit Folio Views
erstellte Version der
Der Auslöser der Tuberkulose ist deshalb so tückisch, weil er, Registerdatenbank
vom Immunsystem unbemerkt, in bestimmten Abwehrzellen erschließt sämtliche
überdauern kann. Doch auch in seinem Versteck braucht Beiträge, die seit 1978 in Spektrum
er Energie, die er auf einem speziellen Syntheseweg gewinnt. der Wissenschaft erschienen sind.
Über das Inhaltsverzeichnis können
Dies nutzt ein neuartiger Therapieansatz. Sie bequem auf die einzelnen Regis-
tereinträge zurückgreifen. Durch
Von Dagmar Knopf lust auf. Obwohl hauptsächlich die Atem- Eingabe mehrerer Begriffe und Ver-
wege von der Erkrankung betroffen sind, wendung von Abstands- oder
können grundsätzlich alle Organe befal- Boolschen-Operatoren grenzen Sie
ehr als ein Jahrhundert liegt die Ent- len werden.

M deckung des Tuberkulose-Erregers


durch Robert Koch nun zurück.
Doch die Seuche ist bis heute nicht be-
Wegen der hohen Ansteckungsgefahr
ist eine sofortige Diagnose und Behand-
lung äußerst wichtig. Bisher müssen die
Ihre Recherche ein. Die Suchmaske
ermöglicht Ihnen eine zielgenaue
Anfrage. Dabei können Sie direkt
entscheiden, in welchen Feldern der
siegt. Noch immer infiziert sich jedes Kranken über einen Zeitraum von min-
Jahr ein Prozent der Weltbevölkerung, destens sechs Monaten Antibiotika ein- Datenbank recherchiert werden soll.
und bei zwei Millionen Menschen endet nehmen, um der Infektion dauerhaft Herr Zugleich gibt Ihnen der Ergebnis-
die Infektion tödlich. zu werden. baum eine grafische Übersicht über
Besonders hoch ist die Zahl der Tu- Dies ist nicht nur teuer – die lange die gewählte Recherchestrategie.
berkulose-Fälle in Südostasien. Seit den Dauer der Therapie birgt auch ein hohes Nach beendeter Suche liefert das
frühen neunziger Jahren steigt die Infek- Risiko, dass sie nicht korrekt bis zum Inhaltsverzeichnis eine Übersicht der
tionsrate aber auch in seit langem unge- Ende durchgeführt wird und daher er-
fährdeten Erdteilen wie den USA oder folglos bleibt. Manchmal hören die Pa-
gefundenen Dokumente. Per Maus-
Europa wieder an. In Großbritannien et- tienten vorzeitig auf, ihre Medikamente klick können Sie alle oder auch ge-
wa hat sie in den letzten zehn Jahren um einzunehmen, weil sie sich besser fühlen. zielt nur einzelne Dokumente für die
achtzig Prozent zugenommen. Vor allem in Entwicklungsländern ist zu- Anzeige auswählen und dann am
Auslöser der Krankheit ist das Myco- dem die Lieferung der Antibiotika teil- Bildschirm durch die Suchergebnisse
bacterium tuberculosis, das durch Tröpf- weise unzuverlässig. blättern.
cheninfektion verbreitet wird. Schon we- Doch diese Probleme könnten schon Markieren Sie relevante Doku-
nige Exemplare im Speichel eines Patien- bald der Vergangenheit angehören; denn mente mit einem elektronischen
ten mit offener Tuberkulose reichen für nun verspricht ein neuer Therapieansatz, Textmarker oder fügen Sie individu-
die Übertragung aus. Die Inkubationszeit die Behandlungsdauer auf wenige Wo-
beträgt vier bis sechs Wochen; dabei tre- chen zu verkürzen. Er richtet sich gezielt
elle Notizen hinzu; Sie können später
ten unspezifische Symptome wie Appe- gegen eine Achillesferse des Bakteriums, dann auch nach diesen Anmerkungen
suchen. Der Inhalt der Datenbank

titlosigkeit, Müdigkeit und Gewichtsver- die erst kürzlich entdeckt wurde.


lässt sich ausdrucken oder auch ex-
portieren, wobei Ihnen gängige For-
mate zur Verfügung stehen (zum Bei-
WÜNSCH / IFA

spiel WinWord, WordPerfect, RTF


oder ANSI).

Windows Register 1978 bis 2000,


3 1/2-Zoll-Diskette, DM 80,–.
Update Windows Register 2000,
3 1/2-Zoll-Diskette, DM 20,–.

Ausgestrichenes Eine Bestellkarte finden Sie auf den Seiten 93/94.


Blutserum eines
Tuberkulose-
patienten mit
Mycobacterium
tuberculosis (rot
angefärbt)

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


MONATSSPEKTRUM

Auch wenn das Immunsystem mit


den Krankheitserregern allein gelassen
wird, bekämpft es sie während der ers-
ten infektiösen Phase meist noch recht
erfolgreich und kann ihre Anzahl auf ei-
nige wenige reduzieren. Doch das Bak-
terium verschwindet nicht ganz. Es ent-
kommt der völligen Vernichtung, indem
es in bestimmten Abwehrzellen – so ge-
nannten Makrophagen oder Fresszellen
– Unterschlupf sucht und sich dort vor
weiteren Angriffen des Immunsystems
versteckt. Erst wenn die Körperabwehr
des Wirtes geschwächt ist – etwa durch
eine HIV-Infektion –, schlägt der Erre-
ger wieder zu, und die Krankheit bricht
erneut aus – meist mit tödlichem Ende.
Doch auch nachdem das Bakterium
in den Makrophagen untergetaucht ist,
erhält es gewisse Lebensfunktionen auf-
recht. So gewinnt es auf einem besonde-
ren Stoffwechselweg, der als Glyoxylat-
zyklus bekannt ist und nur in Bakterien,
Pilzen und Pflanzen vorkommt, aus Fett-
säuren Energie.
John McKinney und seine Kollegen
vom Laboratory of Infection Biology der
Rockefeller-Universität in New York ha-
ben nun geprüft, ob ein Eingriff in diesen
Stoffwechselweg dem Bakterium viel-
leicht den Todesstoß versetzen könnte.
Dabei konzentrierten sie sich auf ein En-
zym, das im Glyoxylatzyklus benötigt und
vom Tuberkulose-Erreger selbst herge-
stellt wird: die Isocitrat-Lyase. Um festzu-
stellen, wie wichtig dieses Enzym für das
Überleben der Bakterien ist, erzeugten die
Forscher einen Stamm, der keine Isocitrat-
Lyase produzieren konnte. Zwar gedieh er
in der Anfangsphase der Infektion genau-
so gut wie die normalen Erreger, aber in
der späteren stillen Phase erwies er sich
als nicht überlebensfähig.
Eine Erfolg versprechende Therapie
könnte also darin bestehen, die Isocitrat-
Lyase auszuschalten. Das kann mit einer
Substanz geschehen, die sich an das akti-
ve Zentrum des Enzyms anlagert und es
blockiert.
Bei der Entwicklung eines solchen
Hemmstoffs ist es hilfreich, die Struktur
des Zielmoleküls zu kennen. Entspre-
chende Untersuchungen durch James
Sacchettini von der Texas-A&M-Univer-
sität in College Park ergaben, dass das
Enzym bei der Arbeit seine Form ändert.
Nachdem es das umzuwandelnde Part-
nermolekül gebunden hat, schließt es das
aktive Zentrum und nimmt eine kompak-
tere räumliche Gestalt an. Erst nach dem
Ende der Umwandlung öffnet es sich wie-
der und entlässt die Reaktionsprodukte.
Ein künftiges Medikament könnte
genau an diesem Punkt ansetzen. Man
bräuchte einen synthetischen Hemm-

22 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


stoff, der sich an gern. Da die Isoci- kämpft, würde sich auch die Dauer der
das aktive Zentrum Dagmar Knopf ist promovierte trat-Lyase in Wir- Behandlung deutlich verkürzen – von
bindet, aber nicht Biologin und freie Wissenschafts- beltieren – und so- bisher mindestens sechs Monaten auf nur
umgesetzt werden journalistin in Düsseldorf. mit auch im Men- noch einige Wochen. Dies sollte die Ak-
kann. Dann würde schen – nicht vor- zeptanz und exakte Befolgung der Thera-
das Enzym dauer- kommt, sollte ihre pie durch die Patienten und damit die
haft in seiner geschlossenen Form gehal- Blockade keine gefährlichen Nebenwir- Heilungsrate verbessern – ein großer
ten und wäre nicht mehr funktionsfähig. kungen hervorrufen. Fortschritt, wenn man bedenkt, dass ein
Von seiner Energiequelle abgeschnitten, Und weil der Wirkstoff das Bakte- Drittel der Weltbevölkerung mit den Bak-
müsste der Erreger buchstäblich verhun- rium gezielt in seinem Versteck be- terien infiziert ist. ■

Serie: Die Botschaft des Genoms (Teil V)

GRAFIK: JEFF JOHNSON


Anlässlich der Entschlüsselung des
menschlichen Erbguts stellen wir
Rhodopsin
zwölf darin codierte Proteine in ei-
ner Serie beispielhaft vor. Purpur im Auge Michael Groß ist
Biochemiker in
Oxford (England)

W enn Licht auf die Netzhaut des Au- Während es im inaktiven Dunkel-Zustand
ges fällt, löst es ein chemisches einen markanten Knick in seiner Molekül-
Signal aus, das über mehrere Zwischen- kette aufweist (cis-Form), geht es nach
in der Zellmembran offen hält. Die Kanä-
le schließen sich folglich, wodurch sich
die Ladungsverteilung zwischen Innen-
schritte wiederum einen Nervenimpuls Aufnahme eines Lichtquants in die lang- und Außenseite der Zelle ändert: Ein
erzeugt; dieser wird ins Gehirn weiter- gestreckte trans-Form über. Dieses Um- Membranpotenzial entsteht, und aus
geleitet, wo die Verarbeitung der visuel- klappen löst Verschiebungen in der dem Lichtreiz ist ein elektrisches Signal
len Information und damit das eigent- Struktur des Opsins aus, die sich bis zu geworden, das nun von Nervenzellen
liche Sehen stattfindet. Die erste Station seiner dem Zell-Inneren zugewandten weitergeleitet werden kann.
auf diesem komplizierten Signalweg Seite fortpflanzen.
befindet sich in der Außen-
membran der Netzhautzellen
(Stäbchen und Zapfen). Als
Steckbrief
inige Sekunden nach
dem Umklappen löst sich
das trans-Retinal vom Opsin.
E
Signalwandler in den lichtemp- ➤ Molekulargewicht: 38 892 Im Dunkeln geht es dann
findlicheren (aber farbenblin- ➤ Aminosäuren: 348 wieder in die geknickte cis-
➤ 7-Helix-Bündel Form über und bindet sich
den) Stäbchen dient das Rho-
➤ Photorezeptor
dopsin, wegen seiner Farbe ➤ Chromosom Nr. 3
schließlich erneut an ein
auch Sehpurpur genannt. Es Opsin-Molekül: Der Kreislauf
besteht aus dem Protein Opsin kann von vorne beginnen.
und einem kleinen, aber wich- Die sieben Helices des Rho- Rhodopsin gehört zu ei-
tigen Anhängsel: dem von dopsins, die sich durch die ner großen Klasse von mehr
Membran der Netzhautzellen als tausend Membranprotei-
Vitamin A abgeleiteten Molekül
schlängeln, bilden eine Art
Retinal. nen, die alle die empfangene
Fass, in dessen Mitte der
Aus der charakteristischen Nachricht an ein G-Protein
K. PALCZEWSKI ET AL., SCIENCE, BD. 289, S. 740

Lichtrezeptor Retinal sitzt.


Abfolge von wasserliebenden weiterreichen. Sie dienen
und wassermeidenden Amino- nicht nur als Signalwandler
säurebausteinen ließ sich schon 1992 Dort kommt für die meisten Sinneswahr-
ableiten, dass sich die Eiweißkette des es innerhalb we- nehmungen, sondern auch
Opsins in sieben langgestreckten Helices niger Millisekun- als Rezeptoren für Hormone
zwischen der Innen- und der Außenseite den zu einer und andere wichtige Boten-
der Membran hin- und herschlängelt. Al- kaskadenartigen stoffe. Insgesamt machen sie
lerdings gelang es erst vor einem halben Verstärkung des über ein Prozent der mensch-
Jahr, diese Prognose durch die Ermittlung Signals über drei lichen Gene aus. Da die Kris-
der hochaufgelösten Kristallstruktur des Stationen. Zu- tallstruktur des Rhodopsins
dem menschlichen Protein nahe ver- nächst wird Transducin aktiviert. Es ge- erste detaillierte Einblicke in den räumli-
wandten Rinderrhodopsins zu bestätigen hört zur großen Familie der G-Proteine, chen Aufbau eines solchen zellulären
und mit wichtigen Details zu ergänzen; die darauf spezialisiert sind, eingehende „Nachrichtenempfängers“ lieferte, geht
denn Membranproteine sind notorisch Botschaften in das Zell-Innere weiterzu- ihre Bedeutung weit über das Verständ-
schwierig zu kristallisieren. leiten. Transducin „entsichert“ dann das nis des Sehvorgangs hinaus. Ihre genaue
Genau in der Mitte des fassartigen Enzym Phosphodiesterase, und dieses Analyse dürfte Erkenntnisse erbringen,
Raums, den die sieben Helices bilden, spaltet schließlich den Botenstoff cycli- die Analogieschlüsse und Vermutungen
sitzt das Retinal. Dieses kleine Molekül sches Guanosin-monophosphat, der nor- über viele andere, ebenso wichtige Sig-
ist die Antenne, die das Licht einfängt. malerweise so genannte Natriumkanäle nalwege erlauben.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 23


MONATSSPEKTRUM

EVOLUTION DES VERHALTENS Die virtuellen Spieler im Computer


hatten einen erkennbaren „Geberstatus“,
der zu Beginn ihres Daseins jeweils
Freigebigkeit lohnt sich „null“ betrug. Jede geleistete oder unter-
lassene Hilfe ließ ihn um einen Punkt
steigen oder fallen. Die simulierten Indi-
Anderen zu helfen kann sich durch viduen richteten sich bei ihren Entschei-
Imagegewinn indirekt bezahlt machen. Das bestätigen nach dungen nach vererbbaren Helferstrate-
gien, die von –5 bis +6 reichten. Ein
Computersimulationen nun auch reale Experimente. Spieler mit einer –5-Strategie hilft jedem,
der einen Geberstatus von mindestens –5
nen gelang ihnen der Nachweis, dass sich hat, also fast allen. Ein Individuum mit
Von Manfred Milinski
unter realistischen Bedingungen in einer einer +6-Strategie unterstützt dagegen
Population tatsächlich die ererbte Tendenz nur solche Mitspieler mit einem Geber-
er gibt, dem wird gegeben“. So einbürgern kann, vor allem denjenigen zu status von mindestens +6, also fast nie-

W steht es in der Bibel; allerdings lässt


das Bibelwort offen, ob die Beloh-
nung schon auf Erden oder erst im Jen-
geben, die als großzügig bekannt sind.

Evolution der Großzügigkeit


manden. Die 0-Strategie unterscheidet
am stärksten zwischen Helfern und Ver-
weigerern. Ein solcher Spieler gibt je-
seits erfolgt. Dass sich Geben für den Ge- im Computer dem, der mindestens genauso oft Hilfe
ber auszahlt, kann man erwarten, wenn gewährt wie verweigert hat. Jede Strate-
„eine Hand die andere wäscht“ oder wenn Nowak und Sigmund simulierten einen gie bekam entsprechend ihrem Nettoge-
gilt: „Wie du mir, so ich dir“. Falls die Evolutionsverlauf mit beispielsweise winn – dem Wert der erhaltenen Hilfe
Hilfe weniger kostet als sie dem Gehol- hundert Spielern, die Hilfe geben oder abzüglich der Kosten durch geleistete
fenen bringt, können beide profitieren, empfangen konnten, aber nie auf dassel- Hilfe – Nachkommen in der nächsten Ge-
sofern sich der Empfänger entsprechend be Gegenüber mit vertauschten Rollen neration.
erkenntlich zeigt. trafen – direkte Reziprozität war ausge- Auf diese Weise sollte sich in einem
Für solchen reziproken Altruismus schlossen. Generell war die Hilfe für den „natürlichen“ Selektionsprozess schließ-
gibt es viele Beispiele bei Menschen und Empfänger mehr wert, als sie den Geber lich diejenige Helferstrategie durchset-
Tieren. Unser gesamtes Wirtschaftswe- gekostet hat. Das ist eine plausible An- zen, deren Spieler den höchsten Netto-
sen basiert darauf; denn bei jedem Ge- nahme, auch wenn man nicht gleich an gewinn erzielten. Welche wäre es? Nach
schäft gehen beide Parteien davon aus, die Rettung eines Ertrinkenden denkt, die 150 Generationen bestand die Computer-
dass es für sie vorteilhaft ist. Um diese den Retter nur die Armbewegung kostet, population fast nur noch aus Spielern mit


„direkte“ Reziprozität zu erleichtern, ha- mit der er den Rettungsring wirft. der 0-Strategie, die am klarsten zwischen
ben unsere Vorfahren das Geld als leicht
abzustufende Gegenleistung erfunden.
Kann es sich aber auch lohnen, jeman- In einem Experiment an der Universität Bern mussten in acht Gruppen
dem zu helfen, von dem keine Gegenleis- jeweils zehn Studenten mehrfach entscheiden, ob sie einem anonymen
tung zu erwarten ist? Gruppenmitglied, dessen „Geberstatus“ an der Tafel angeschlagen war, Geld
Schon seit Jahrzehnten diskutieren geben oder nicht. Damit sie selbst ebenfalls anonym blieben, teilten sie ihre
Evolutionsbiologen die Idee, dass selbst- Entscheidung über verdeckte Schalter mit, die entweder eine grüne („ja“)
lose Hilfe den „Status“ einer oder eine rote Lampe („nein“) vor dem Spielleiter aufleuchten ließen.
Person aufwertet und dass
ein höherer Status Vertrauen
und Vorteile in vielen sozia-
len Situationen nach sich
ziehen kann. Bis vor kurzem
gab es allerdings keinen Be-
weis für diese These. Spiel-
theoretisch betrachtet, lautet
die Kernfrage: Würde sich in
der Evolution die Strategie
durchsetzen, bevorzugt die-
jenigen zu unterstützen, die
selbst schon anderen gehol-
fen haben?
Im Jahre 1998 konnten
Martin Nowak von der Uni-
CLAUS WEDEKIND UND MANFRED MILINSKI

versität Oxford und Karl Sig-


mund von der Universität
Wien zeigen, dass die theore-
tische Antwort „ja“ lautet
(Spektrum der Wissenschaft
9/98, S. 30). Mit einem ma-
thematischen Evolutionsmo-
dell und Computersimulatio-

24 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


MONATSSPEKTRUM

positivem und negativem Geberstatus der Spieler. Würden die Studenten unter sechs Runden hinweg nicht so konse-
unterscheidet. Wenn der Bekanntheits- diesen Umständen überhaupt irgendet- quent eine bestimmte Helferstrategie wie
grad variiert wurde, war dieses Ergebnis was geben? An sich macht es ja keinen ihre virtuellen Pendants. Das Experiment
umso ausgeprägter, je genauer der Geber- Sinn, jemandem etwas zu spenden, von war zu kurz, um individuelle Verhaltens-
status der Empfänger bekannt war. Sofern dem keine Gegenleistung zu erwarten ist; kriterien feststellen zu können. Inwieweit
andere die guten Taten mitbekommen, konsequente Verweigerer könnten ihr Menschen wirklich konsistente Helfer-
gilt also wirklich – zumindest im Com- Startgeld von sieben Franken sicher mit strategien haben, ließe sich nur in Spielen
putermodell: Wer gibt, dem wird gege- nach Hause nehmen. herausfinden, die über sehr viel mehr
ben. Daraus folgt die Maxime: „Tue Gu- Wenn die Spieler aber trotzdem etwas Runden laufen. Die Tatsache, dass schon
tes und rede darüber.“ gaben, würden sie ihr Geld dann zufällig ganz am Anfang, als alle den Geberstatus
Ist das nur graue 0 hatten, häufig gege-
Theorie, oder verhalten Spieler erhält Geld Spieler erhält nichts
ben wurde, könnte al-
sich Menschen tatsäch- 0,50
lerdings bedeuten, dass
lich so? Um diese Fra- die von Nowak und
ge zu testen, führten Sigmund vorausgesag-
Claus Wedekind von 0,25 te 0-Strategie tatsäch-
der Universität Edin- lich vielfach ange-
burgh und ich ein Ex- wandt wird.
Geberstatus

periment mit 80 Stu- 0 Der finanzielle Er-

CLAUS WEDEKIND UND MANFRED MILINSKI


dierenden an der Uni- folg der verschiedenen
versität Bern durch –0,25 Spielweisen lässt sich
(Science, Bd. 288, S. einfach beschreiben:
850-852). Jeweils zehn Zwar erhielten die
Versuchspersonen sa- –0,50 Großzügigen deutlich
ßen für eine Stunde zu- mehr als die Knauseri-
sammen in einem 1 2 3 4 5 6 7 8 gen; da sie andererseits
Raum und wurden ein- Gruppe auch mehr gaben, war
zeln gefragt, ob sie ei- ihr Nettogewinn aber
nem zufällig bestimm- Die Teilnehmer des Experiments waren großzügigen Mitspielern gegenüber nicht unbedingt sehr
ten anderen Gruppen- freigebiger. Wie das Diagramm belegt, hatten in allen acht Gruppen Studie- viel höher. Vielleicht
rende, die Geld erhielten (grüne Säulen), im Durchschnitt einen höheren
mitglied einen Franken Geberstatus als solche, die nichts bekamen (rote Säulen). bringt ein hoher Geber-
geben wollen. War die status zusätzliche Vor-
Antwort „ja“, wurde teile wie Vertrauen und
ihnen der Franken (in einigen Gruppen über die anonymen Mitspieler verteilen Einfluss, die sich nicht direkt in Franken
auch zwei) vom Konto abgezogen, und oder in Einklang mit den Ergebnissen der oder Mark bemessen lassen.
der Empfänger erhielt vier Franken, da- Computersimulation von Nowak und Das Evolutionsspiel mit den Berner
mit Hilfe mehr einbringt, als sie kostet. Sigmund diejenigen bevorzugen, die sich Studierenden war ein Experiment, das
Jede Person kam insgesamt sechsmal so- ihrerseits freigebig zeigten? Natürlich unter künstlichen, streng kontrollierten
wohl in der Geber- als auch in der Neh- wurden die Studenten nicht über diese Bedingungen durchgeführt wurde. Den-
merrolle an die Reihe. Theorie informiert, sondern nur über die noch hatte es einen Bezug zur Wirklich-
Spielregeln. keit: Es ging um richtiges Geld, das man
Geberstatus spielt eine Rolle Auch ohne Aussicht auf direkte weggeben oder behalten konnte. Die Teil-
Gegenleistung erwiesen sich die anony- nehmer des Spiels haben erstmals vorge-
Theoretisch konnte jemand, der nie gab, men Spieler als erstaunlich großzügig: führt, dass indirekte Reziprozität, die den
aber immer etwas erhielt, mehr als 30 Die Spendenbereitschaft schwankte in Geberstatus des Empfängers berücksich-
Franken verdienen. Die Studenten wuss- den acht Gruppen zwischen knapp 50 und tigt, das Verhalten von Menschen beein-
ten, dass sie nie auf dieselbe Person mit über 80 Prozent. Mithin wurde sehr häu- flussen kann. Das ist eine wichtige Er-
vertauschten Rollen treffen würden – di- fig gegeben, aber auch recht oft die Unter- kenntnis. Anders als die direkte Rezipro-
rekte Reziprozität war wie im Computer- stützung verweigert. Das bot gute Voraus- zität, die auf Zweierbeziehungen be-
modell ausgeschlossen. Um auch zu ver- setzungen, um feststellen zu können, ob schränkt ist, ermöglicht die indirekte Re-
hindern, dass der tatsächliche persön- bei der Hilfsbereitschaft der Geberstatus ziprozität nämlich auch Kooperation in
liche Status der Teilnehmer eine Rolle des Empfängers eine Rolle spielt. größeren Gruppen. Dabei erfordert sie,
spielen konnte, erhielten sie Pseudonyme Das Resultat war eine klare Bestäti- den Status aller Gruppenmitglieder stän-
und teilten ihre Entscheidungen über ver- gung der Computersimulation. Die Stu- dig zu beobachten und die eigene Reputa-
deckte Schalter mit. Immer zwei Pseudo- denten spendeten tatsächlich bereitwilli- tion zu pflegen. Dazu gehört nicht nur
namen wurden als potenzieller Geber ger, wenn der potenzielle Empfänger ei- Vorausplanung – auch Täuschung und
und Empfänger aufgerufen. Der Geber- nen höheren Geberstatus hatte (Bild). Be- Manipulation sind möglich und müssen
status jedes Mitspielers stand für alle sonders galt das für die Spieler, die mit als Risiko von jedem kalkuliert werden.
sichtbar unter seinem Pseudonym auf ei- ihren Franken geiz- Dies könnte, wie No-
nem großen Protokollblatt an der Tafel ten: Sie gaben nur den wak und Sigmund
und wurde nach jedem Zug aktualisiert. großzügigsten Mit- Prof. Dr. Manfred Milinski leitet meinen, eine starke
Alle wussten, dass auch nach dem spielern etwas. die Abteilung Evolutionsöko- evolutionäre Kraft
Spiel und bei der Auszahlung die Anony- Allerdings ver- logie am Max-Planck-Institut gewesen sein, die un-
mität gewahrt bliebe – nicht einmal die folgten die Versuchs- für Limnologie in Plön. sere Intelligenz mit-
Spielleiter kannten die wahre Identität teilnehmer über die geformt hat. ■

26 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


BILD DES MONATS

Flatternder Faden
W arum Fahnen im Wind flattern ist eines
der schwierigsten ungelösten Rätsel der
Physik. Jun Zhang und seine Mitarbeiter an
der New York University haben es experimen-
tell auf den einfachsten Fall reduziert: einen
0,15 mm dicken und 2–6 cm langen Faden
in einem strömenden Seifenfilm. Überra-
schenderweise fanden sie, dass der Faden
unterhalb einer kritischen Länge gestreckt
bleibt (unten). Wie die Interferenzaufnahmen
zeigen, bildet sich an seinem Ende eine Serie
aus Wirbeln mit alternierendem Drehsinn. In
der analogen Schleppe des flatternden Fadens
drehen sich benachbarte Wirbel dagegen
meist in derselben Richtung (rechts).
JUN ZHANG, NEW YORK UNIVERSITY

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 27


Raumstation ISS

Der Bau der Internationalen Raumstation ISS wird das Rush Hour Railroad
größte von Menschenhand geschaffene Objekt außerhalb der
Erde darstellen. Die Raumstation wird erst in einigen Jahren Loks und Waggons werden
fertig gestellt sein. Sie können aber schon jetzt aus 183 entsprechend der Spielkar-
Einzelteilen im Maßstab 1:144 Ihre eigene Raumstation ten aufgestellt. Wer kann die
realisieren (745 mm Länge, 500 mm Spannweite, 406 mm rote Lok in die Ausfahrt
Höhe). Der Modellbaukasten enthält u. a. Aluminium- lotsen? Von 50 Aufgaben
Vierkantstäbe zur Unterstützung der Konstruktion, Display- sind 10 von Kindern ab 6
ständer mit Erdhalbkugel, bewegliche Sonnenpanele, Jahren zu lösen; DM 55,–.
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SPEKTROGRAMM

ÖKOLOGIE CHEMIE

Fehlgeleitete biologische Widerstandsloser Fußball


Schädlingsbekämpfung
S upraleiter transportieren
Strom ohne Widerstand
60 Kohlenstoff-Atomen be-
steht. Schon vor zehn Jahren

M it einer Flügelspannbreite von 15 Zentimetern ist der


Cecropiaspinner Nordamerikas größter Nachtfalter. Doch
sein Bestand ist in den letzten hundert Jahren drastisch zu-
und somit verlustfrei – aller-
dings nur unterhalb ihrer so
genannten Sprungtemperatur,
erwies sich, dass es beim Do-
tieren mit Alkalimetallen, was
dem Zufügen von Elektronen
rückgegangen. George Boettner und seine Kollegen von der die bei supraleitenden Metal- entspricht, supraleitend wird
Universität von Massachusetts in Amherst glauben nun den len maximal –250 °C beträgt. – mit Sprungtemperaturen bis
Grund dafür gefunden zu haben. Danach ist der Falter das Op- Die notwendige starke Küh- –240 °C. Batlogg und seine
fer einer Maßnahme zur ökolo- lung schränkt praktische An- Kollegen verfolgten nun die
JIM KALISCH, UNIVERSITY OF NEBRASKA,

gischen Schädlingsbekämpfung wendungen erheblich ein. umgekehrte Strategie: Sie


im 19. Jahrhundert. Damals Zwar wurden vor 15 Jahren entfernten elektrochemisch
DEPARTMENT OF ENDOMOLOGY

verursachte der Schwammspin- Kupferoxidkeramiken ent- mehrere Elektronen aus dem


ner große Schäden in amerika- deckt, die teilweise schon ab C-60-Molekül. Hierbei er-
nischen Laubwäldern. Um ihn –140 °C Strom widerstands- reichten sie mit drei fehlen-
einzudämmen, importierten los leiten, aber sie sind sprö- den Elektronen je Fulleren die
Unabsichtliches de und lassen sich nur höchste Sprungtemperatur:
die betroffenen Bundesstaaten
Opfer: der
Cecropiaspinner einen natürlichen Feind der schlecht verarbeiten. Nun hat –221°C. Nach theoretischen
Schmetterlinge: die zu den Rau- das Team um Bertram Bat- Abschätzungen der Wissen-

SCIENCE
penfliegen gehörende Art Compsilura concinnata. Doch die logg von den Bell Laboratori- schaftler sollte eine weitere
Fliege legt ihre Eier in die Raupen von mindestens 180 Insek- en in Murray Hill (New Jer- deutliche Steigerung möglich
tenarten – darunter auch die des Seidenspinners. Wie sehr sey) einen neuen Kandidaten sein, wenn es gelingt, die
dieser betroffen ist, belegten die US-Forscher in einem Experi- für einen Hochtemperatur- „Fußbälle“ durch Einbau zu-
ment, bei dem sie Raupen des Nachtfalters an bestimmten Supraleiter gefunden: das sätzlicher Atome auseinander
Plätzen aussetzten und nach einer Woche wieder einsammel- wohlbekannte Fulleren, des- zu drücken. (Nature, Bd.
ten. 81 Prozent dieser Tiere waren von der Fliege befallen und sen fußballartige Struktur aus 408, S. 549)
starben. Das breite Wirkungsspektrum von C. concinnata wird
wohl vielen Schmetterlingsarten in den Wäldern der Vereinig-
ten Staaten zum Verhängnis. Mindestens vier Arten der Sei- PLANETOLOGIE
denspinner gelten in Massachusetts bereits als bedroht.
Noch mehr Wasserspuren
ASTROPHYSIK auf dem Mars
Anstößige Neutrinos
G ab es früher Wasser auf dem
roten Planeten? Dieser Frage

M anche Neutronenster-
ne, die als Endpro-
dukte von bestimmten Su-
gestellt. Danach würden
die bei einer Supernova
entstehenden Neutrinos
gehen Astronomen mit brennender
Neugierde nach, da es die Voraus-
setzung für mögliches Leben ist.
pernovae entstehen, wan- nicht, wie bisher angenom- Neueste Aufnahmen
dern mit ziemlicher Ge- men, im Kern festgehalten, der Nasa-Sonde Mars
schwindigkeit durchs All. sondern durch Oszillation Global Surveyor zei-
Doch was hat ihnen ihren in so genannte sterile Neu- gen nun Sedimente in
Schub verliehen? Eine gän- trinos umgewandelt. Deren vielen Kratern des Pla-
gige Theorie unter Astro- Freisetzung wiederum er- neten, deren gleich-

NASA, MARS GLOBAL SURVEYOR


physikern sieht den umtrie- folge nicht immer symme- mäßige Schichtung
bigen Stern als ehemaligen trisch, sondern könne dem darauf hindeutet, dass
Partner eines Doppelstern- Neutronenstern einen Im- sie von Wasser abge-
Systems. Wenn er im Ver- puls erteilen und ihn so in lagert wurden. Wie
lauf der Supernova-Explosi- Bewegung setzen. Zwar Michael Malin und
on seine äußere Hülle ab- konnte bislang noch nie- Kenneth Edgett von
sprengt, verschieben sich mand die Existenz der hy- Malin Space Science Solche gleichmäßig geschichteten Sedimen-
die Gravitationskräfte zwi- pothetischen sterilen Neu- Systems in San Diego te können nur in Seen enstanden sein.
schen beiden Partnern, so- trinos beweisen. Doch ihre (Kalifornien) nach
dass beide ihre Bewe- stark richtungsabhängige Auswertung der Bilder vermuten, wurden die Sedimente bei
gungsrichtung ändern. Her- Emission böte zugleich regelmäßigen Überflutungen in die Seen geschwemmt, die vor
man Mosuera Cuesta vom eine Erklärung für Unregel- 3,5 bis 4 Milliarden Jahren die Krater füllten. Dort setzten sie
brasilianischen For- mäßigkeiten in der expan- sich in dünnen Schichten ab, die sich verfestigten, wenn die
schungszentrum für Physik dierenden Hülle von Super- Gewässer dann ruhten. Allerdings fehlen Rinnen und Kanäle,
in Rio de Janeiro hat nun novae. (The Astrophysical durch die das Wasser in die Seen geflossen sein könnte. Mög-
eine andere Hypothese auf- Journal, Bd. 544, S.61 ) licherweise hat die Erosion ihre Spuren verwischt. (Nature,
Bd. 408, S. 549)

28 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


MEDIZIN PALÄONTOLOGIE

Gehirn aus Knochenmark Gefiederte Echsen und


Urvögel aus China
E mbryonale Stammzellen
gelten als Alleskönner,
zierten genetisch veränder-
ten Mäusen, die keine wei-
da sie noch ihr gesamtes
genetisches Programm abru-
ßen Blutkörperchen bilden
konnten, mit Fluoreszenz-
farbstoff markierte Knochen-
D ie Abstammung der Vögel ist bis heute umstritten. Nun
liefern zwei neue Fundstücke aus China weitere Hinweise
darauf, dass sie sich aus Dinosauriern entwickelten. Xing Xu
markszellen erwachsener vom Institut für Paläontologie und Paläanthropologie der Wir-
Artgenossen. Vier Monaten beltiere in Peking stellte das 124 Millionen Jahre alte Fossil
nach der Behandlung fand eines Tiers von der Größe einer Krähe vor, dessen Krallen wie
das Team die fluoreszieren- bei baumbewohnenden Vögeln, die auf Ästen sitzen, gebogen
den Zellen in verschiedenen waren. Microraptor zhaoianus, so sein Name, ist der kleinste
Regionen des Gehirns – un- bisher bekannte Vertreter der Theropoden, der auf zwei
ter anderem im Cortex und Beinen laufenden Saurier, die vor
Hypothalamus. Zu ähnlichen 230 bis 64 Millionen Jahren lebten.
Eine ins Gehirn
gewanderte Kno- Ergebnissen kam ein Team Mit seinem langen Schwanz und als
chenmarkszelle von Helen Blau von der Federn gedeuteten Strukturen könnte er
(Pfeil/grün) produ- Universität Stanford, das die Lücke zwischen ihnen und den Vö-
ziert Neuron- ebenfalls Knochenmark über- geln weiter einengen. Neue Erkenntnisse
spezifische trug. Auch hier erreichten über die Entstehung der Federn lieferte
Proteine (rot). die injizierten Zellen das der Fund von Protopteryx fengningen-
Gehirn und integrierten sich sis. Er lebte in der frühen Kreidezeit und
fen und sich somit in alle sowohl in der Großhirnrinde gehörte den damals weit verbreiteten
Zelltypen entwickeln können. als auch in Riechkolben, Enantiornithinen an – einer Vogellinie,
Doch zwei neue Arbeiten er- Hippocampus und Kleinhirn. die inzwischen ausgestorben ist. Laut
härten frühere Befunde, wo- Dass die Zellen nicht nur Fucheng Zhang und Zhonghe Zou, die
nach sich auch so genannte ins Gehirn einwandern, son- das Fossil entdeckten, soll der staren-

SCIENCE
pluripotente Stammzellen dern sich dort auch zu funk- große Vogel seine Federn in erster Linie
ausgewachsener Tiere, wie tionsfähigen Nervenzellen zur Isolierung, aber auch für Flugversu-
Knochenmarks- und Leber- entwickeln und Synapsen che genutzt haben. Die beiden Forscher Als Federn gedeutete Struktur
zellen, im Organismus je ausbilden, eröffnet aufregen- kommen zu dem Schluss, dass sich (rechts) bei Protopteryx (links)
nach Umgebung in unter- de neue Möglichkeiten, ver- die Vogelfeder vor 100 Millionen Jahren
schiedliche Zelltypen ausdif- loren gegangene Nervenzel- in vier Evolutionsschritten aus der Dinosaurier-Schuppe ent-
ferenzieren. Eva Mezey und len bei neurologischen Er- wickelte, indem sich erst die Schuppe verlängert und dann
ihre Kollegen vom nationalen krankungen wie Parkinson ein Mittelschaft gebildet hat. Anschließend entstanden Seiten-
Institut für neurologische Er- oder Alzheimer zu ersetzen. triebe. Die Entwicklung vieler kleiner Triebe bildete den
krankungen und Schlaganfall (Science, Bd. 290, S. 1775 Abschluss zur Vogelfeder. (Nature, Bd. 408, S. 705, Science,
in Bethesda (Maryland) inji- und 1779) Bd. 290, S. 1955)

ZOOLOGIE
Millimeter große Winzling hat fort. Eine solche Parthenoge-
Winzling der Extraklasse noch eine Besonderheit zu nese ist bei den Rädertier-
bieten. Bislang entdeckten chen bekannt – allerdings nur

I m kalten Quellwasser von


Grönland entdeckten die
Zoologen Reinhardt Kristen-
logen mit ihrem kälteresisten-
ten Findling eine neue Klas-
se: die Micrognathozoa
die Zoologen nur Weibchen.
Möglicherweise pflanzt sich
der Neuling durch einge-
im Wechsel mit zweige-
schlechtlicher Fortpflanzung.
Ob Limnognathia wirklich
sen von der Universität Ko- (Kleinkiefertiere). Der nur 0,1 schlechtliche Vermehrung ganz ohne Männchen aus-
penhagen und Peter Funch kommt, wird
von der Universität Aarhus sich erst bei
ein winzig kleines Tierchen, Züchtungs-
das sich in keine der vorhan- versuchen
denen Klassen einordnen las- zeigen.
sen wollte. Limnognathia (Journal of
maerski, wie sie es nannten, Morphology,
weist einen kompliziert ge- Bd. 246,
bauten Kiefer auf, was seine S. 1)
REINHARDT KRISTENSEN, PETER FUNCH

Zugehörigkeit zu den Kiefer-


mündern nahe legt. Sein Nie-
rensystem hingegen ähnelt Dieser Exot
dem der mikroskopisch klei- passt in kein
nen Rotarien oder Rädertier- konventionel-
chen. So gründeten die Zoo- les Schema.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 29


ASTRONOMIE

Kosmischer
Staub
Die Abfallprodukte von Sternexplosionen,
winzige Staubkörner im interstellaren Raum, haben die
Geschichte unserer Galaxis entscheidend beeinflusst.
VON J. MAYO GREENBERG
ANGLO-AUSTRALIAN OBSERVATORY/ROYAL OBSERVATORY, EDINGBURGH

30 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


B lickt man in einer klaren Nacht zum Ster-
nenhimmel, so zeigen sich in dem von
Milliarden von Sternen schwach schim-
mernden Band der Milchstraße einige dunkle Fle-
cken. Sir William Herschel, aus Deutschland stam-
mender, in England tätiger Astronom im 18. Jahr-
hundert, sah in diesen Flecken regelrechte Löcher
im Himmel, leere Räume ohne Sterne.
Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckten Astro-
nomen, dass diese dunklen Flecken in Wirklichkeit
riesige Staubwolken sind, die das Licht der dahin-
terliegenden Sterne verschlucken. Die einzelnen
Partikel dieser Wolken sind dabei winzig klein:
über hundertmal kleiner als der Staub, den man
etwa beim Hausputz aufwischt. Und doch haben
solche winzigen Staubkörnchen die Entwicklung
unserer Galaxis und die Entstehung von Sternen
im gesamten Universum entscheidend beeinflusst.
Noch bis in die fünfziger Jahre war der kosmi-
sche Staub für viele Astronomen ein Ärgernis, da
er sie vor allem an der Beobachtung entfernterer
Sterne hinderte. Seitdem beschäftigen sich Wis-
senschaftler jedoch verstärkt mit den interstellaren
Staubkörnern, messen deren Verteilung und be-
stimmen ihre chemische Zusammensetzung mit
Teleskopen auf der Erde und im Weltraum. Die
Fülle neuer Beobachtungen und Erkenntnisse er-
möglichte es, plausible Hypothesen zu entwickeln,
wie diese Staubteilchen entstanden sein könnten.
Aigen Li, ein früherer Student von mir und derzeit
Postdoc an der Universität Princeton, hat zusam-
men mit mir eine Theorie entwickelt, die wir das
„Vereinheitlichte Staubmodell“ nannten. Auch
wenn andere Forscher alternative Thesen unter-
stützt haben, glauben wir, dass unser Modell die
neuen Beobachtungen am besten beschreibt.

Kosmische Teilchen so groß wie Partikel


im Zigarettenrauch

Im Sternengewirr unseres Milchstraßensystems sind


die Staubwolken in der galaktischen Ebene konzen-
triert, besonders an den Innenseiten der Spiralarme.
Diese erscheinen ziemlich fleckig, weil dort viele
dichte Sternhaufen in Staubwolken eingebettet sind.
Diese Wolken dämpfen das Sternenlicht stärker im
Blauen und Ultravioletten als im Roten und Infraro-
ten. Deswegen erscheinen sie bei Beobachtungen
durch Staubwolken hindurch immer rötlicher als in
Wirklichkeit. Aus dem gleichen Grund wirkt unsere
Sonne in Horizontnähe beim Auf- oder Untergang
rötlich, da ihr Licht vom Staub und Gas in der Erd-
atmosphäre gestreut wird.
Die größten der interstellaren Staubpartikel ha-
ben etwa die Größe der Teilchen im Zigaretten-
Der Pferdekopfnebel (oben) ist eine
riesige Wolke aus Staub und Gas im rauch. Die so genannte Extinktionskurve des inter-
Sternbild Orion, etwa tausend stellaren Staubes, also die Dämpfung des Lichts in
Lichtjahre von der Erde entfernt. Der Abhängigkeit von der Wellenlänge, weist auf drei
helle Stern auf der gegenüberliegen- Arten von Staubkörnern hin (siehe Kasten Seite
den Seite ist Zeta Orionis, der östliche 33). Die Teilchen, die das Licht im sichtbaren Be-
Stern im Gürtel des Orion. reich des Spektrums abschirmen, sind länglich mit
etwa 0,2 Mikrometer Durchmesser (0,2 Millionstel
eines Meters) und etwa der doppelten Länge. Sie
bilden etwa 80 Prozent der Gesamtmasse des inter-

stellaren Staubes.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 31


ASTRONOMIE

Jedes Staubkorn enthält einen winzi- achteten Wissenschaftler im Infrarotlicht Nach fünf Milliarden Jahren flaute
gen festen Kern, ummantelt von Eis und die Absorptionslinien von gefrorenem jedoch der Sturm dieser Supernovae ab.
organischem Material. Ein „Buckel“ im Wasser. Spätere Beobachtungen zeigten Stattdessen traten nun auch weniger
ultravioletten Teil der Extinktionskurve auch die Präsenz von Kohlenmonoxid, massereiche Sterne in ihre Altersphase,
weist auf das Vorhandensein wesentlich Kohlendioxid, Formaldehyd und vielen das so genannte Rote-Riesen-Stadium,
kleinerer Partikel (mit Durchmessern anderen Verbindungen. Im Fachjargon ein: Sie blähten sich auf, kühlten dabei
von 0,005 Mikrometer); aus ihnen beste- heißen diese Substanzen „volatil“ (flüch- ab und strahlten fortan vor allem im röt-
hen etwa 10 Prozent der gesamten Staub- tig) – sie gefrieren beim Kontakt mit den lichen Licht. Als diese Sterne sich weiter
masse. Diese Körnchen sind wahrschein- kalten Staubkörnern, verdampfen aber ausdehnten und abkühlten, bildeten sich
lich amorphe kohlenstoffhaltige Festkör- wieder, sobald sich der Staub erwärmt. in ihren Atmosphären Silikatteilchen, die
per, vermutlich angereichert mit etwas Im Gegensatz dazu werden die Substan- in den interstellaren Raum hinausgebla-
Wasserstoff, aber wenig oder keinem zen im Innern als „refraktär“ bezeichnet sen wurden.
Stickstoff und Sauerstoff. Das hochener- – sie bleiben auch bei höheren Tempera- Einige dieser Partikel drangen in
getische UV-Licht schließlich wird ins- turen im festen Zustand. Gaswolken ein, die sich zwischen den
besondere von den kleinsten aller kosmi- Rund ein Promille trägt der interstel- Sternen befinden. Bei den tiefen Tempe-
schen Staubteilchen absorbiert – sie sind lare Staub zur Gesamtmasse unserer Ga- raturen in diesen Wolken fror jedes Atom
nur etwa 0,002 Mikrometer groß. Diese laxis bei – vermutlich mehr als das Hun- oder Molekül, mit dem diese Staubteil-
winzigen Körnchen – sie bilden die rest- dertfache der Masse aller Planeten des chen kollidierten, auf deren Oberfläche
lichen 10 Prozent der kosmischen Staub- Milchstraßensystems zusammen. Die fest – ähnlich wie Wasserdampf auf kal-
materie – halten die Forscher für große Partikel sind im Weltraum äußerst dünn ten Glasscheiben kondensiert. Auf diese
Moleküle, vergleichbar mit polyzykli- verteilt: In einem Würfel von hundert Weise wuchs auf jedem der Silikatkerne
schen aromatischen Kohlenwasserstof- Metern Kantenlänge befindet sich im zunächst ein innerer Mantel, der aus
fen (PAHs für polycyclic aromatic hy- Mittel gerade ein Körnchen. Da das Ster- komplexem organischen Material be-
drocarbons) in Autoabgasen. nenlicht aber Tausende von Lichtjahren steht, darum gehüllt ein äußerer Eisman-
Weil diese Staubkörnchen zumeist in durch Staub zurücklegt, kann sogar diese tel bestehend aus simpleren gefrorenen
großer Entfernung zu den Sternen durchs hochverdünnte Verteilung die Strahlung Gasmolekülen.
All treiben, können sie typischerweise noch deutlich dämpfen. Also stellt sich Bei diesem Prozess nahm die Dichte
bis auf –268 Grad Celsius abgekühlt die Frage: Wodurch wurde die Galaxis so der Staubkörner in den Molekülwolken
sein, 5 Grad über dem absoluten Null- staubig? beständig zu: auf zehntausendmal mehr
punkt. In den vierziger Jahren hatte der Partikel pro Volumeneinheit als außer-
brillante holländische Astronom Henk Am Anfang war der halb der Wolken. Damit hatte der Staub
van de Hulst die Theorie aufgestellt, dass Kosmos staubfrei die Dichte, um nahezu alle Strahlung am
einige der Atome wie Wasserstoff, Eindringen in die Wolke zu hindern, was
Sauerstoff, Kohlenstoff und Stickstoff – In der Anfangszeit unseres Universums, die Temperatur innerhalb des Gases wei-
von denen man weiß, dass sie im inter- vor vielleicht 15 Milliarden Jahren, gab es ter senkte. Mit der Abkühlung reduzierte
stellaren Raum vorkommen – an der kal- nach gängiger Theorie noch keinen Staub. sich der Gasdruck im Wolkeninneren, so-
ten Oberfläche der Staubkörner anhaf- Wie alle jungen Galaxien bestand auch dass nun die Gravitation geringerer Mas-
ten. So legen sich diese einen Mantel aus das Milchstraßensystem damals nur aus sen die Oberhand gewann. Somit konn-
gefrorenem Wasser, Methan und Ammo- Wasserstoff, Helium und einer geringfü- ten sich jetzt auch kleinere Gaswolken
niak zu. Ich habe diese Theorie später gigen Menge anderer leichter Elemente, unter ihrer Schwerkraft zusammenziehen
„Schmutziges Eis“-Modell getauft. die beim Urknall entstanden waren. Da- und kleinere, sonnenähnliche Sterne her-
Erst Anfang der siebziger Jahre stie- mals konnten nur besonders schwere vorbringen. Indem er die Bildung kleine-
ßen Astronomen auf klare Beweise für (massereiche) Wolken aus Wasserstoff rer Sterne erleichterte, veränderte der
diese Theorie. Bei der Analyse von Infra- und Helium kontrahieren und so die Ster- kosmische Staub also drastisch das Profil
rotspektren von Sternenlicht, das durch ne bilden. Deshalb wurde unsere Galaxie unserer Milchstraße.
interstellare Staubwolken hindurchging, von gigantischen Sternen des so genann- Ein weiterer Faktor: Der interstellare
entdeckten sie Absorptionslinien von Si- ten O- und B-Typs dominiert, die bereits Staub wird in einem ständigen Kreislauf
likaten – Verbindungen aus Silicium, nach einer kurzen Lebensspanne von eini- umgewälzt – also laufend erzeugt und
Magnesium und Eisen. Silikate bilden gen Millionen Jahren als „Supernovae“ wieder vernichtet. Wenn aus dichten
den festen Kern der kosmischen Staub- explodierten. Diese Supernovae produ- Gas- und Staubwolken junge, heiße Ster-
teilchen. Etwa zur gleichen Zeit beob- zierten den ersten Staub des Universums. ne entstehen, verdampfen die Staub-
Astronomen sehen die körner in der Umgebung dieser Zone. Si-
Anzeichen davon in frü- licium und andere Elemente dieser
Literaturhinweise hen Galaxien, die sie Staubkörner werden dann entweder von
Urzeugung aus Kometenstaub? Von J. Kissel und F. R. Krue- mit Infrarot-Teleskopen den jungen Sternen aufgesogen oder
ger, Spektrum der Wissenschaft, Mai 2000, S. 64. im Submillimeterbe- werden Bestandteil von ihren Planeten
Erste direkte chemische Analyse des interstellaren Staubes. reich beobachten. Aber und Asteroiden.
Von F. R. Krueger und J. Kissel, Sterne und Weltraum, Bd. 39, dieser Staub hatte im Überwiegend wird der Staub jedoch
Mai 2000, S. 326. interstellaren Medium weggeblasen und gelangt dabei in dünne
Cosmic Dust in the 21st Century. Von J. M. Greenberg und Ch. nicht lange Bestand – Wolken – Regionen im Weltraum mit
Shen, Astrophysics and Space Science, Bd. 269, S. 33 (1999). Stoßwellen nachfolgen- deutlich geringerer Teilchendichte. In
A Unified Model of Interstellar Dust. Von A. Li und J. M. der Supernovae zerstör- dieser raueren Umgebung werden die
Greenberg, Astron. Astroph., Bd. 323, Nr. 2, S. 566 (1997). ten die Staubteilchen Staubteilchen weiter vernichtet. Ihre Eis-
Weblinks unter www.spektrum.de/aktuellesheft.html kurz nachdem sie ent- mäntel werden durch ultraviolette Strah-
standen sind. lung, Zusammenstöße der Teilchen un-

32 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Unsere staubige Milchstraße
S taubwolken wie die im Rosettennebel sind Brutstätten neu-
er Sterne. Die Staubkörner schirmen die Strahlung inner-
halb des Gasnebels ab und machen es so für diesen einfacher,
nen passiert (siehe unten), zeigen die Anwesenheit dreier Ar-
ten von Staubpartikeln: Staubkörnern mit Mantel, kohlen-
stoffhaltigen amorphen Festkörpern und großen Molekülen
zusammenzufallen und Sterne zu bilden. Während dieses Pro- ähnlich den polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen
zesses wird der größte Teil des Staubes ins All geblasen. (PAHs). Die ummantelten Staubkörner verursachen die Polari-
Messungen der Verringerung des Sternlichts, dass diese Regio- sierung des Sternenlichts in allen Wellenlängen.

ANGLO-AUSTRALIAN OBSERVATORY/ROYAL OBSERVATORY, EDINGBURGH (FOTO) / CLEO VILETT (GRAFIK)


5
PAH-ähnliches
Molekül

Dämpfung des Sternenlichts


Extinktions- 0,002 Mikrometer
kurve
3 ummanteltes
PAH- Staubkorn
ähnliches
Molekül
2 ummanteltes
Staubkorn
0,34 Mikrometer

Kohlenstoff-
1 partikel
Kohlenstoff-
partikel

0
2 4 6 8 10
0,005 Mikrometer
Wellenzahl (Wellen pro Mikrometer)

tereinander und Stoßwellen der Superno- pernova und konserviert so das Staub- zehntausendfach intensiver ist als in den
vae abgetragen und teilweise sogar zer- korn, bis es vielleicht wieder in den dichteren Molekülwolken. Das UV-Licht
stört. Übrig bleiben dann Rudimente: Si- Schutz einer anderen dichten Gaswolke verwandelt die Substanzen des inneren
likatkerne, umhüllt nur noch von ihrem gelangt. Mantels in „organische Verbindungen
inneren Eismantel aus organischen Mo- Um meine Theorie zu testen, startete der zweiten Generation“. Diese zusätzli-
lekülen. ich im Labor mit Experimenten, in denen chen Prozesse durch ultraviolette Strah-
Das Vorhandensein dieses organi- die Entstehung eines Eismantels auf lung erhöhter Intensität waren im Labor
schen Mantels hatte ich schon vor drei Staubteilchen simuliert wurde. 1970 be- nur sehr schwer zu reproduzieren.
Jahrzehnten postuliert. Damals war mir gannen wir diese Versuche an der Staats- Doch dann klopfte das Glück an
aufgefallen, dass die Silikate allein nicht Universität von New York in Albany, und unsere Labortür. Gegen Ende der achtzi-
ausreichen, um die Dämpfung des Ster- setzten sie 1975 an der Universität von ger Jahre lud uns Gerda Horneck vom
nenlichts zu erklären, wenn es die Staub- Leiden in den Niederlanden fort. Unsere Deutschen Zentrum für Luft- und Raum-
wolken durchdringt. Ich vermutete da- Forschungsgruppe bestrahlte unter- fahrt ein, ein Satellitenexperiment na-
her, dass im Eismantel des einzelnen schiedlichste Mixturen von Eis mit ultra- mens Exobiology Radiation Assembly
Staubkorns eine Schicht kohlenstoffrei- violetter Strahlung bei Temperaturen von mitzubenutzen. Diese Plattform war da-
chen Materials durch chemische Reak- –263 Grad Celsius, und erwärmte sie für gebaut, biologische Proben lange
tionen entsteht, die bereits einsetzen, so- dann. Wir erhielten jeweils eine gelbli- Zeit einer UV-Strahlung auszusetzen. Sie
lange sich das Staubkorn noch in den che Substanz, die wir „gelbes Zeug“ bot die ideale Gelegenheit, unser „gelbes
dichten Molekülwolken befindet. tauften: eine Mischung aus Glycerol, Zeug“ durch UV-Strahlung weiter zu
Wie entsteht dieser Eismantel aus or- Glyceramid, einigen Aminosäuren wie prozessieren. Unsere Forschungsgruppe,
ganischen Molekülen? Nach meiner Glycin, Serin oder Alanin sowie einer der Menno de Groot, Celia Mendoza-
Hypothese zersetzen zuerst energierei- Reihe anderer Moleküle. Gómez, Willem Schutte und Peter Weber
che UV-Strahlen die Wasser-, Methan- angehörten, bereiteten die organischen
und Ammoniakmoleküle auf der Staub- Mit dem Space Shuttle klopfte Proben vor und schickten sie mit dem
oberfläche zu freien Radikalen, aus de- das Glück an die Labortür Eureca-Satelliten (European Retrievable
nen sich dann organische Moleküle wie Carrier, rückholbare europäische Träger-
Formaldehyd bilden. Unter der fortge- Etwa zur gleichen Zeit entdeckten Astro- plattform), der 1992 vom Space Shuttle
setzten UV-Bestrahlung entstehen kom- nomen Anzeichen komplexer organi- ausgesetzt wurde, in den Weltraum.
plexere Verbindungen, die wir „organi- scher Verbindungen im Staub diffuser Nach einem Jahr – aber nur vier
sche Verbindungen der ersten Genera- Wolken. Unsere Laborergebnisse konn- Monaten tatsächlicher UV-Bestrahlung
tion“ nennen. Diese bleiben auf dem Si- ten die beobachteten Absorptionslinien durch die Sonne – fing das Space Shut-
likatkern haften, auch wenn das Staub- im infraroten Spektrum zwar nicht exakt tle den Satelliten wieder ein, und wir er-
korn die Molekülwolke verlässt und der reproduzieren, aber eigentlich hätte uns hielten die Proben zurück. Sie waren nun
äußere Eismantel zerstört wird. Tatsäch- diese Differenz nicht überraschen sollen. braun. Die Farbänderung bewies, dass
lich schützt der organische Mantel den In diffusen Wolken sind Staubkörner ul- sich die Substanzen mit Kohlenstoff an-

Silikatkern vor den Stoßwellen der Su- travioletter Strahlung ausgesetzt, die gereichert hatten. Als wir dieses „braune

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 33


ASTRONOMIE
Der Zyklus des kosmischen Staubes
Jedes interstellare Staubkorn durchläuft diesen 100 Millionen Jahre
währenden Zyklus bis zu fünfzigmal, bevor es zerstört wird.

1 In den diffusen Wolken mit wenig


2 Wenn der Staub in eine dichte
Gas ist der Staub eine Mischung
Gaswolke eindringt, haften die Atome
aus Staubkörnern mit Mantel,
und Moleküle des Gases auf den um-
Kohlenstoffpartikeln und PAH-
mantelten Staubkörnern und bilden einen
ähnlichen Molekülen. 3 Ultraviolette
äußeren Eismantel. Die Kohlenstoffpartikel
und die PAH-ähnlichen Moleküle lagern sich Strahlung verändert
ebenfalls an den ummantelten Staubkörnern an. das Material im
Eismantel und
erzeugt eine Lage
von komplexen
organischen
Verbindungen.
Dabei entsteht eine
5 Wenn das ummantelte Staubkorn gelbliche Substanz.
wieder in eine diffuse Gaswolke gelangt,
wird es stärkerer UV-Strahlung ausge-
setzt. Diese verdampft den Eismantel und
wandelt das organische Material weiter
um. Die gelbe Substanz wird braun.

6 Supernova-
Stoßfronten
beschleunigen die 4 Wenn die Wolke sich zusammen-
Staubkörner und verursachen zieht und einen Stern bildet,
heftige Zusammenstöße, die die verklumpen ummantelte Staubkörner
organischen Mäntel zertrümmern. Diese und bilden so einen Kometen. Aber
Trümmer werden zu Kohlenstoffpartikeln die überwiegende Mehrheit des
DON DIXON

und PAH-ähnlichen Molekülen. Staubes wird ins All zerstreut.

Zeug“ mit einem Infrarot-Spektrometer Staub erklären. Sobald Supernova-Ex- mantel aufgehen. Die organischen Mole-
untersuchten, fanden wir genau die glei- plosionen die größeren Staubkörner zer- küle werden dann durch die ultraviolette
chen Absorptionslinien, wie sie im inter- trümmern, brechen die kleineren Partikel Strahlung weiterverwandelt, und der Zy-
stellaren Staub entdeckt worden waren. von dem organischen Mantel ab. Jedes klus beginnt aufs Neue.
Auch wenn unsere Proben höchstens ummantelte Staubkorn erzeugt dann ei- Andere Forscher haben alternative
einem Zehntel der maximalen Bestrah- nen Schwarm von Hunderttausenden Theorien vorgeschlagen, welche die
lung eines Staubkorns in einer diffusen winziger Staubteilchen. Lichtdämpfung durch den interstellaren
Wolke ausgesetzt waren, hatten sie große Staub ohne einen Mantel aus organi-
Ähnlichkeit mit dem organischen Mate- Eismantel aus schem Material auf den größeren Staub-
rial im kosmischen Staub. Diese Experi- organischen Molekülen körnern erklären. So postulierte etwa
mente bildeten die Basis für das verein- John S. Mathis von der Universität von
heitlichte Staubmodell, das Aigen Li und Irgendwann einmal wird der gesamte Wisconsin-Madison, dass die größeren
ich aufgestellt hatten. Demnach bilden Staub von dichten Molekülwolken einge- Staubkörner poröse Konglomerate klei-
sich die zwei kleineren Typen inter- fangen. Innerhalb dieser Wolken kolli- nerer Graphit- und Silikatteilchen seien.
stellarer Staubkörner – die amorphen dieren die Staubkörner immer häufiger Aber diese Modelle können eine andere
kohlenstoffhaltigen Partikel sowie die mit den Atomen und Molekülen des Ga- Eigenschaft des interstellaren Staubes
PAH-ähnlichen Moleküle – durch UV- ses. Nach etwa einer Million Jahren nicht befriedigend erklären: wie er das
Bestrahlung der organischen Substanzen wächst auf den größeren Staubkörnern durchgehende Licht polarisiert, das heißt
in den größeren eisummantelten Staub- ein Eismantel heran, der hauptsächlich die elektromagnetischen Wellen in eine
körnern. aus gefrorenem Wasser und Kohlenmon- bestimmte Richtung ausrichtet. Dazu
Wir brachten unsere Probe des „brau- oxid besteht. Diese Verbindungen haben muss jedes der größeren Staubkörner wie
en Zeugs“ zur Analyse zu Seb Gillette die Astronomen in dichten Staubwolken ein Zylinder oder Sphäroid geformt sein
von der Universität Stanford, der über um Sterne nachgewiesen, zusammen mit und sich um seine kürzere Achse drehen
raffinierte Verfahren der Massenspektro- kleineren Mengen von Kohlendioxid, wie ein rotierender Stab.
metrie verfügte. Gillette fand in der Pro- Formaldehyd und Ammoniak. Auch Um das Licht zu polarisieren, müs-
be außerordentlich viel PAHs. Nach wenn niemand direkt beobachtet hat, sen die Rotationsachsen aller Staubkör-
unserem vereinheitlichten Staubmodell was mit den Kohlenstoffpartikeln und ner außerdem in dieselbe Richtung zei-
können die chemischen Prozesse in den den PAH-ähnlichen Molekülen in den gen – ein Effekt, der Magnetfeldern in
ummantelten Staubkörnern nahezu alle Molekülwolken geschieht, so ist es un- den Staubwolken zugeschrieben wird.
kleinen kohlenstoffhaltigen Partikel und vermeidlich, dass sich diese an den grö- Der Erfolg des vereinheitlichten Staub-
PAH-ähnliche Moleküle im interstellaren ßeren Staubkörnern anlagern und im Eis- modells ist, dass die hypothetischen um-

34 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Dieses Kometenstaub-Modell des
Autors zeigt eine lose, drei Mikrome-
ter große Anhäufung von hundert
mantelten Staubkörner die beobachtete ummantelten Staubkörnern. Da sie
Polarisation bei allen Wellenlängen er- reich an organischen Verbindungen
klären können. sind, könnten solche Klumpen
Kometen sind wahrscheinlich die äl- Saatkeime des Lebens auf der Erde
gewesen sein.
testen Überbleibsel des solaren Urnebels
– jener Wolke aus Gas und Staub, aus der
unser Sonnensystem einst geboren wur-
de. Während Astronomen immer neue 1986, als die Raumsonden Giotto sowie
Erkenntnisse über die chemische Zusam- Wega 1 und 2 zum Halleyschen Kometen
mensetzung von Kometen und interstel- flogen, der sich der Sonne alle 76 Jahre
larem Staub gewinnen, verstärkt sich die nähert. Alle drei Raumsonden analysier-
Meinung, dass Kometen ursprünglich ten in Halleys Koma (der Gas- und
aus Anhäufungen von Staubkörnern ent- Staubhülle um den festen Kometenkern)

LOEK ZUIDERDUIN
standen sind. Wir können daher anneh- Masse und chemische Zusammenset-
men, durch die Beobachtung von Kome- zung aller Partikel. Die Staubteilchen
ten auch mehr über den interstellaren trafen mit Geschwindigkeiten von rund
Staub zu erfahren. 70 Kilometern pro Sekunde auf die
Als die Planeten und Kometen zu- Messgeräte und zerbrachen in ihre ato-
sammen mit der Sonne vor 4,6 Milliar- maren Komponenten. Die Instrumente Kometenstaub enthält nicht nur organi-
den Jahren entstanden, haben die um- registrierten dabei unerschiedlichste sches Material, sondern hat auch eine
mantelten Staubkörner in der protosola- Teilchenmassen, von 10–14 Gramm, was Struktur, die ideal für die chemische
ren Wolke höchstwahrscheinlich all die man für einzelne Staubkörner mit Mantel Evolution ist, wenn es einmal im Wasser
kleineren kohlenstoffhaltigen Partikel erwartet, bis hin zu 10–18 Gramm, die eingetaucht ist. Kissel und Krueger ha-
und die PAH-ähnlichen Moleküle absor- typisch sind für kleinere kohlenstoffhal- ben gezeigt, dass kleine Moleküle sehr
biert, ebenso alles Kohlenmonoxid und tige Partikel. leicht von außen in den Klumpen ein-
andere flüchtige Substanzen. Nur Was- Die Astrophysiker Jochen Kissel dringen können, aber größere Moleküle
serstoff und Helium blieben ungebunden vom Max-Plank-Institut für Extraterres- innendrin stecken bleiben. Solch eine
zurück. Die Staubkörner stießen häufig trische Physik in Garching, Franz R. Struktur kann die Produktion von immer
genug zusammen, um große lose zusam- Krueger vom Ingenieurbüro Krueger in größeren und komplexeren Molekülen
menhängende Konglomerate entstehen Darmstadt, sowie Elmar K. Jessberger anregen, und möglicherweise als winzige
zu lassen. Nach der vorherrschenden von der Universität Münster bestimmten Brutstätte für die ersten primitiven Le-
Theorie entwickelten sich diese lockeren später, dass der Staub Halleys aus Kon- bensformen dienen. Ein einzelner Komet
Klumpen nun zu den Kernen der Kome- glomeraten von Teilchen mit silikati- könnte bis zu 1025 dieser „Saatkeime“
ten. Diese Kerne müssen sehr porös sein, schem Kern und organischem Mantel be- auf die junge Erde gebracht haben.
also viele Hohlräume enthalten. Mein standen – genau wie meine ursprüngli- Die Nasa und die Europäische Welt-
eigenes Modell für die Substanz der Ko- che Theorie für Kometen vorhersagte. raumagentur Esa unternehmen oder pla-
metenkerne enthält hundert mittelgroße Ihre Schlussfolgerungen beruhten auf nen Missionen, die uns mehr über die
protosolare Staubkörnchen, zusammen- dem Umstand, dass die Sauerstoff-, Koh- Natur der Kometen und des interstellaren
gebacken zu einem drei Mikrometer gro- lenstoff- und Stickstoffatome an den De- Staubes enthüllen werden. Die im Febru-
ßen Konglomerat. Diese Gebilde sind zu tektoren der Raumsonden etwas früher ar 1999 gestartete Nasa-Sonde Stardust
80 Prozent des Volumens hohl. ankamen als die Silizium-, Magnesium- soll im Jahr 2004 am Kometen Wild-2
Seit ihrer Entstehung umkreisen Ko- und Eisenatome. vorbeifliegen und eine Staubprobe von
meten die Sonne in der Oortschen Wolke der Kometenkoma zurückbringen. Auf
und dem Kuiper-Gürtel weit außerhalb Der Staub als Zeuge für die dem Flug dorthin sammelt die Sonde
der Planetenbahnen. Doch gelegentlich Geburt der Galaxis auch Proben des interstellaren Staubes
werfen Gravitationsstörungen die fernen ein, wie er sich durch unser Sonnensys-
Kometen auf Bahnen, die sie näher an Wie alt ist Halleys Staub und der in den tem bewegt.
die Sonne heranbringen. Neuerungen in anderen Kometen? Wir wissen, dass der Noch ehrgeiziger ist die geplante
unserem Verständnis kosmische Staub zum Zeitpunkt der Ent- Rosetta-Mission der Esa. Ihr Start ist
von Kometen gab es stehung der Kometen bereits etwa fünf für das Jahr 2003 vorgesehen. Danach
Milliarden Jahre alt war. So lange ver- wird das Raumfahrzeug in eine Umlauf-
weilt nämlich ein Staubkorn im Mittel bahn um den Kern des Kometen Wirta-
im interstellaren Raum, bevor es von ei- nen einschwenken und eine Landesonde
J. Mayo Greenberg
nem neu entstehenden Stern verschlun- zur Oberfläche des Sonnentrabanten
promovierte 1948 an
gen wird. schicken.
der Johns Hopkins
Und weil die Kometen der Sonne selbst Diese Weltraummissionen werden
Universität in
4,6 Milliarden Jahre alt sind, hat der zweifellos neue Wege für die Forschung
theoretischer Physik.
Staub wahrscheinlich ein Alter von fast ebnen. Astronomen betrachten den Staub
1975 ging er zur
10 Milliarden Jahren. Die Analyse des zwischen den Sternen nicht mehr als läs-
Universität von
Kometenmaterial erlaubt uns somit, das tiges Hindernis. Längst ist er eine wichti-
Leiden in den Nieder-
Frühstadium unserer Galaxis zu erfor- ge Informationsquelle über die Entste-
landen. Dort begrün-
schen. hung von Sternen, Planeten und Kome-
dete und leitete er das Labor für
Kometenstaub hat vielleicht auch ten. Und vielleicht enthält er sogar Hin-
Astrophysik, in dem er seitdem die
eine Rolle dabei gespielt, Leben auf der weise auf den Ursprung des Lebens auf
chemische Evolution, die Zusam-
Erde zu säen. Jedes lockere Klümpchen der Erde. ■
mensetzung von Kometen und den
Ursprung des Lebens erforscht.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 35
PHYSIOLOGIE

Molekulare
Muskelmaschinen
Gewichte heben, Lasten halten und Bälle werfen – ohne unterschiedliche Fasertypen
in unseren Muskeln wären die vielfältigen Anforderungen nicht zu bewältigen.
VON STEFAN GALLER

D
rei Milliarden Herzschläge in zum molekularen Mechanismus der Wer beispielsweise die Hand zur
einem Menschenleben, Höchst- Kraftentwicklung auf eine noch solidere Faust ballt, hat Nervensignale vom Ge-
leistungen im Laufen, Gewicht- Grundlage gestellt. Lohn der Mühe unter hirn zu bestimmten Muskeln geschickt.
heben und Springen, daneben anderem: die Entdeckung eines Fasertyps Sie wirken wie ein zündender Funke: Ein
die kontinuierliche Arbeit des Darmes mit einer bislang unbekannten Variante Zisternensystem, das die Myofibrillen je-
und der Atmung: All das ist nur möglich, des wichtigsten Muskelproteins. Es macht der Muskelfaser umspinnt, schüttet
wenn Muskel nicht gleich Muskel ist. den Muskeln noch effizienter. Um zu ver- schlagartig Calcium-Ionen aus; die wie-
Und in der Tat: Schon ein kurzer Blick stehen, wie das geschieht, ist es zweck- derum besetzen sogleich spezielle Emp-
durchs Mikroskop genügt dem Fach- mäßig, sich die Funktionsprinzipien der fängermoleküle, worauf die Myofibrillen
mann, um das Muskelgewebe des Bewe- Muskelkontraktion zu vergegenwärtigen. ihre Kraftakte beginnen.
gungsapparates, der so genannten Skelett- Tausende von Muskelfasern bauen ei- Tausende von Myofibrillen in einer
muskeln, von dem der inneren Organe zu nen Skelettmuskel auf. Dies sind aber Muskelfaser und wiederum Tausende von
unterscheiden. keine „Fäden“, sondern riesige Zellen, al- Fasern in einem Muskel werden über die
Das Instrument verrät jedoch nicht bis lerdings ausgesprochen schlauchförmige. Calcium-Konzentration präzise aktiviert
ins Letzte, woher die offensichtliche funk- Bei einer Dicke von etwa dreißig bis gut und bei Bedarf wieder ruhig gestellt –
tionelle Vielfalt der rund 400 Skelettmus- hundert Mikrometer (tausendstel Milli- Grundvoraussetzung für eine koordinierte
keln unseres Körpers rührt. Wie jeder- meter) werden sie immerhin mehrere Bewegung. Die parallele Anordnung der
mann schon am eigenen Leib erfahren Zentimeter lang. Als Besonderheit enthal- Myofibrillen wie auch der Fasern in Ske-
hat, arbeiten bestimmte Muskeln von ten Muskelfasern neben zahlreichen Zell- lettmuskeln bündelt die winzigen Kräfte
vornherein schneller, präziser, ausdauern- kernen vor allem „Myofibrillen“. Das der einzelnen Komponenten zur geballten
der oder kraftvoller als andere – wobei sind verkürzungsfähige, etwa ein Mikro- Kraft etwa einer Faust.
das eine aber das andere nicht völlig aus- meter dicke Stränge, genauso lang wie die Das Motto „Viel Wenig gibt auch ein
schließt. So sind für die Feinmotorik beim Fasern selbst. Dicht gebündelt, füllen sie Viel“ setzt sich innerhalb der Myofibrillen
Klavierspiel die gleichen Muskeln zustän- einen beträchtlichen Teil des Zellinneren fort. Wie die Muskelzelle selbst sehen
dig wie für den festen Griff beim Tragen aus (Foto Seite 38). auch sie wie prall gefüllte Schläuche aus,
einer Einkaufstasche. aber mit Querwänden in
Die Ursachen für die regelmäßigen Abständen.
funktionelle Vielfalt ver- Diese abgeteilten kleinen
bergen sich vor allem in Skelettmuskeln als Herzmuskelersatz Gefache – Fachleute
feinen Nuancen der mo- sprechen von Sarkome-
lekularen Bausteine: Von
Muskelfaser zu Muskel-
V or 15 Jahren berichteten bis zum Lebensende. Das Ent-
die Pariser Herzchirurgen scheidende für den Erfolg der
Alain Carpentier und Juan Carlos neuen Operation war daher das
ren – sind die „Kraftkam-
mern“ der Muskeln. Von
faser weichen viele der Chachques über eine neuartige nachfolgende Spezialtraining ihren beiden scheibenför-
darin enthaltenen Protei- Operation, mit der sie eine be- des früheren Rückenmuskels. migen Abgrenzungen aus
ne geringfügig, aber doch sondere Form schwerer Sein Nerv wurde nach ei- ragen dünne parallele
entscheidend voneinan- Herzinsuffizienz lindern nem sorgfältig angelegten Proteinfäden, die Aktin-
der ab. Der Fachmann konnten. Sie hatten einen Plan gereizt, unterbro- filamente, zur Mitte der
spricht von Strukturva- bestimmten Rückenmus- chen von immer kürze- Kammer. In ihrer Anord-
rianten oder Isoformen. kel von seinen Ansatz- ren Ruhepausen, bis der nung erinnern sie ein we-
Einige wesentliche stellen gelöst und wie ein Muskel nach einigen nig an die Borsten einer
Korsett um die Herzkam- Wochen nicht mehr er-
© 2000 HERZDIAGNOSTIKZENTRUM BGMBH, MÜNCHEN

neue Erkenntnisse hierzu Bürste. An ihnen „klebt“


haben unsere Forschun- mern gelegt. Ein speziell müdete. Danach unter- in regelmäßigen Abstän-
gen und die anderer Wis- entwickelter Stimulator re- stützte der Skelettmuskel den der erwähnte Cal-
senschaftler in den letz- gistrierte den Herzschlag und den Herzschlag – ein eindrucks- cium-Rezeptor. In der
ten Jahren erbracht. Hand regte den verpflanzten Muskel im volles Beispiel für die Anpas- Mitte der Kammer erstre-
in Hand damit wurde die gleichen Takt zur Kontraktion an. sungsfähigkeit diese Gewebes. cken sich – wiederum
bewährte, aber vereinzelt Normalerweise kann ein Ske- Seit der Pionierarbeit der beiden parallel – dickere seilarti-
lettmuskel nicht rund um die Pariser Herzchirurgen wurden
noch bezweifelte Theorie ge Proteinstränge: die
Uhr arbeiten; er braucht Erho- inzwischen weltweit zahlreiche
lungspausen. Ein Herzmuskel solcher Operationen erfolgreich
36 hingegen schlägt unermüdlich durchgeführt. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001
Calcium-Speicher
(sarkoplasmatisches
Retikulum)

Ausläufer der
Oberflächenmembran
(Transversal-Tubuli)

Mitochondrium
PETER STEINBACHER

Myofibrille eines Skelettmuskels

Tauchfahrt in eine Muskelzelle: Die Route verläuft zwischen drei der vielen „Myofibrillen“
(rot). Das sind kabelartige Stränge aus seriell geschalteten kontraktilen Elementen,
„Myosinfilamente“. Sie ragen ein Stück umsponnen von einem Netzwerk aus Calcium-Speichern (gelbgrün). Zur Kontraktion
weit zwischen die „Borsten“ und sehen angeregt werden sie, wenn ein Nervensignal über schlauchförmige Ausläufer (beige)
ein wenig nach Stacheldraht aus. Ihnen der äußeren Zellmembran eintrifft und Calcium freisetzt. Energie für die Muskelarbeit
liefern die hier blau gezeichneten Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle.
entspringen nämlich in regelmäßigen Ab-
ständen kleine Stacheln, genauer: Greifar-
me in Form eines abgeknickten birnenför- nicht direkt beobachten können, sind wir signal hin aber Calcium die dünnen Fäden
migen Köpfchens. Jedes sitzt mit seinem auf Schlussfolgerungen angewiesen, die indirekt griffiger macht, können die Köpf-
Hals auf einem langen Schaft, der mit an- sich aus indirekten Ansätzen ergeben. chen fester und beständiger andocken, ehe
deren den „Draht“ selbst bildet. In diesen Wahrscheinlich aber interagieren die sie wieder loslassen. So ziehen sie bei je-
Myosinköpfchen sehen die meisten Mus- Myosinköpfchen fortwährend – auch dem „Nicken“ die ergriffenen Borsten um
kelforscher, auch wir, die eigentlichen be- wenn der Muskel ruht – mit den umlie- mehrere millionstel Millimeter in Rich-
wegenden Elemente, die molekularen genden „Aktin-Borsten“ ihrer Kammer- tung Kammermitte.
Motoren. hälfte, indem sie sich im raschen Takt mit Offenbar beugt sich nicht der gesamte
Da wir Forscher das molekulare Trei- einem „Kopfnicken“ anklinken und sofort birnenförmige Greifarm, sondern nur sein

ben in den Kraftkammern der Muskeln wieder loslassen. Sobald auf ein Nerven- sich verjüngender Halsteil. Darauf lassen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 37


PHYSIOLOGIE

Ergebnisse der letzten Jahre Proteine der Myofibrillen treten


schließen. Wie auch immer: Da in mindestens zwei Strukturva-
die Köpfchen jedes Mal weiter rianten auf. Mehrere solche
vorn zupacken, rücken die „Isoformen“ gibt es vor allem
Bürstengriffe – sprich die Quer- bei der so genannten schweren
wände – sukzessive aufeinan- Myosinkette. Sie ist die Haupt-
der zu: Die Kraftkammer ver- komponente jenes Proteins, das
kürzt sich teleskopartig um ins- die Myosinfilamente aufbaut

W. STOIBER UND A. SÄNGER


gesamt mehrere zehntel Mikro- und in einem Greifarm endet.
meter. Wegen der riesigen Zahl Wenn nun Muskelfasern
aneinander gereihter Gefache mit unterschiedlichen Varianten
in jeder Myofibrille summiert der schweren Myosinkette sich
sich dies letztlich zu einer sicht- jeweils unterschiedlich schnell
baren Verkürzung der Fasern verkürzen, dann darf man mit
und insgesamt des Muskels. einiger Gewissheit schließen,
schwere Myosinkette Myosinköpfchen
Aber nicht nur Bewegung, Myosinfilament dass das Protein allgemein für
sondern auch zum Beispiel das den molekularen Mechanismus
bloße Halten einer Last kostet der Verkürzung verantwortlich
Energie. Man lese das Heft ein- ist. Je enger die festgestellte

PETER STEINBACHER
mal mit horizontal vorgestreck- Korrelation, desto gesicherter
ten Armen weiter. Die Myosin- die Schlussfolgerung.
köpfchen in den haltenden Forscher haben bereits
Muskeln setzen dann die ergrif- Riesenprotein Titin Aktinfilament Troponin mehrfach untersucht, wie gut
fenen dünnen Fäden bloß unter die maximale Kontraktionsge-
Spannung, ohne sie zu ver- Gebündelte Kraft: Geordnete Bündel von Proteinfäden füllen schwindigkeit einzelner Mus-
schieben. Sie rudern sozusagen die Sarkomere, die einzelnen „Kraftkammern“ der langen kelfasern mit den jeweils darin
auf der Stelle, können nur im- Myofibrillen. Die Trennwände erscheinen im Elektronen- vorhandenen Varianten der
mer wieder am selben Punkt zu mikroskop als tiefdunkle, leicht gezackte Balken (oben). Die schweren Myosinkette korre-
wichtigste Rolle beim Kraftakt der Muskeln spielen dünne
ziehen versuchen. Proteinfäden aus Aktin (blau) und dickere Seile aus Myosin
liert. Die ermittelten Bezüge
Diese Rudertätigkeit er- (rot) mit abstehenden Köpfchen als Greifarme. waren aber nur teilweise über-
scheint hier auf den ersten zeugend. Auch mein Labor hat-
Blick widersinnig; denn halten te zunächst diesen Weg be-
ließe sich eine Last auch, wenn die Myo- und sich erst nach Zeit raubenden Vorgän- schritten. Viel aufschlussreicher erwiesen
sinköpfchen einfach währenddessen stur gen wieder bewegen ließe. sich dann unsere Studien, die statt der
an den dünnen Fäden angeklinkt blieben. Genau wie die Myosinköpfchen ande- Verkürzungsgeschwindigkeit die so ge-
Beispielsweise halten die Schließmuskeln rer Säugetiere rudern auch unsere also nannte Dehnungsaktivierung verglichen.
von Muscheln auf diese Weise die Scha- fortwährend, sodass unsere Skelettmus- Die Dehnungsaktivierung ist ein ver-
len ohne Energieaufwand geschlossen. keln – außer in der Totenstarre – flexibel blüffendes, im Prinzip aber einfach mess-
Warum ist dieser ökonomische Mechanis- bleiben. Die Myosinköpfchen arbeiten al- bares Phänomen. Man spannt eine hül-
mus nicht auch in unseren Skelettmuskeln lerdings nie im Gleichtakt. Würden sie lenlose Muskelfaser wie eine Wäschelei-
verwirklicht? Ganz einfach: Sie würden das tun, käme es im regelmäßigen Rhyth- ne zwischen zwei Pfosten und regt sie an,
erstarren und sich nicht sogleich bei Be- mus zu „haltlosen Zuständen“. Da sie Zugkraft zu erzeugen (siehe Kasten auf
darf weiter verkürzen können. Für den aber zeitlich unkoordiniert arbeiten, sum- Seite 40). Dann rückt man den einen
Schließmuskel der Muscheln ist das kein miert sich das Ganze zu einer konstant „Pfosten“ blitzschnell ein Stückchen wei-
Problem; er kann sich ohnehin nicht wei- anhaltenden Zugkraft, die es erlaubt, Las- ter fort und verfolgt am anderen, wie sich
ter verkürzen, wenn die Schotten dicht ten dauerhaft zu halten und gleichförmige die darauf ausgeübte Zugkraft ändert.
sind. Wir hingegen wären sicherlich nicht Bewegungen auszuführen. Zunächst steigt der Wert abrupt, kehrt
erfreut, wenn unser horizontal ausge- Wie schon angedeutet, unterscheiden aber, wenn die neue Länge erreicht ist,
streckter Arm in seiner Position erstarrte sich die einzelnen Muskelzellen, die Mus- zum Ausgangswert zurück. Doch noch
kelfasern, in ihren Eigenschaften. Je hete- während des Abfalls oder kurz danach,
rogener ein Muskel in dieser Hinsicht zu- steigt er merkwürdigerweise nochmals
Literaturhinweise sammengesetzt ist, desto breiter sind sei- vorübergehend an.
Alter Muskel rostet nicht. Von Dirk Pette. ne Einsatzmöglichkeiten. Für eben diesen unerwarteten Kraft-
In: Konstanzer Universitätsreden, Uni- Wie kommen nun Unterschiede im anstieg, der verzögert nach einer Deh-
versitätsverlag Konstanz, 1998. Verhalten einzelner Muskelfasern zu Stan- nung auftritt, hat sich der Name „Deh-
Skelettmuskel als Herzersatz. Von Dirk de? Eine Vielzahl von möglichen Einfluss- nungsaktivierung“ eingebürgert. Worauf
Pette. In: Konstanzer Universitätsreden, faktoren kann variieren: sei es die Kontrol- könnte er beruhen? Werfen wir einen
Universitätsverlag Konstanz, 1990. le durch die Nervenfasern, das Weiterleiten Blick in die molekularen Kraftkammern
Two functionally distinct myosin heavy ihrer Befehle ins Zellinnere, die Energie- und überlegen uns, was geschieht, wenn
chain isoforms in slow skeletal muscle versorgung oder das molekulare Gesche- eine Muskelfaser plötzlich etwas ge-
fibres. Von S. Galler et al. in: FEBS Let- hen in den Myofibrillen. Auf Letzteres streckt wird. In jeder Kraftkammer ihrer
ters, Bd. 410, S. 150 , 1997. werde ich mich hier beschränken. zahlreichen Myofibrillen zieht man da-
Weitere Hinweise finden Sie unter www. Voraussetzung für Variationen in der durch die dünnen Molekülfäden – die
spektrum.de/aktuelles heft.html Funktion sind immer Modifikationen in Borsten – etwas weiter aus dem Bereich
den beteiligten Strukturen. Die meisten der dicken Stränge heraus. Da deren

38 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Greifarme alle asynchron rudern, halten Varianten der Greifarme, dann könnte dern die Eiweißstoffe, angetrieben von ei-
in jedem Augenblick stets viele „Hän- sich die Fachwelt sehr viel sicherer sein, nem elektrischen Feld, durch das moleku-
de“ die Borsten fest. Das ruckartige dass diese tatsächlich die krafterzeugen- lare Maschennetz eines Polyacrylamid-
Wegziehen ihres Halts dehnt sie jäh. den Elemente darstellen. Gels und trennen sich entsprechend ihrer
Den Widerstand, den sie dabei leisten, Zusammen mit meinem Mitarbeiter Größe und Ladung. Das Ergebnis ist
messen wir als ersten, abrupten Kraft- Karlheinz Hilber prüfte ich deshalb in schließlich ein Muster von Streifen, von
anstieg. meinem Labor an der Universität Salz- denen jeder ein Protein repräsentiert.
Etliche Greifarme werden wahr- burg einige hundert „enthäutete“ Fasern Als wir die gewonnenen biochemi-
scheinlich so sehr gedehnt, dass sie sich aus Beinmuskeln von Ratten und Ka- schen Daten mit den physiologischen
eher als vorgesehen lösen. Dies äußert ninchen auf ihr Verhalten. Das geschah Eigenschaften der Muskelfasern vergli-
sich in dem markanten Kraftabfall nach in einer eigens entwickelten Apparatur, chen, zeigte sich ein verblüffend enger
dem Ruck. Nach kurzer Zeit heften sich um exakte Messungen unter konstanten Zusammenhang zwischen der Zeit bis
die losgelösten Arme wieder an und üben Bedingungen zu ermöglichen (siehe zur maximalen Dehnungsaktivierung
nun vorübergehend ziemlich taktgleich Abbildung im Kasten auf Seite 40). und der Art der schweren Myosinkette
Zugkräfte aus. Die Dehnungsaktivierung Die anschließende diffizile Proteinana- (Diagramm auf Seite 41): Am schnell-
repräsentiert somit vermutlich einen ge- lyse übernahm das biochemische Labor sten reagierten Fasern vom Typ 2B,
meinsamen molekularen Kraftakt von von Dirk Pette an der Universität Kon- gefolgt von Typ 2D und dann Typ 2A.
Greifarmen, die infolge der abrupten Deh- stanz. Bestimmt wurden vor allem die Weit abgeschlagen rangierte Typ 1; die-
nung vorübergehend zeitlich synchroni- Strukturvarianten der schweren Myo- se Fasern waren im Mittel etwa 30-mal
siert wurden. sinkette. Aus den Muskeln der Glied- langsamer als die schnellsten. Die je-
maßen erwachsener Säugetiere waren weiligen Mischfasern lagen mit ihren
Fasern bis dahin vier solcher Varianten be- Werten zwischen den reinen Fasertypen,
auf der Streckbank kannt: 1, 2a, 2b und 2d. Muskelfasern, ohne sich damit zu überschneiden.
die ausschließlich eine dieser Sorten Selbst das genaue Mischungsverhältnis
Das alles klingt plausibel, ist aber reine enthalten, tragen analog die Bezeich- ihrer beiden Ketten-Varianten wirkte
Theorie. Was in den Kraftkammern tat- nung Typ 1, Typ 2A, Typ 2B und Typ sich aus: Ein höherer Anteil der Varian-
sächlich im Detail passiert, entzieht sich 2D. Neben diesen „reinrassigen“ Faser- te 2d beispielsweise verlangsamte die
unserer Kenntnis. Doch alle Forscher – typen gibt es auch Mischfasern mit Reaktion stärker als ein geringer An-
auch die wenigen, die das Konzept der zwei Varianten. teil. Wir durften daher berechtigt an-
Myosinköpfchen als Verursacher der Analysiert wurden die Proteine mit nehmen, dass die Geschwindigkeit der


Muskelkraft ablehnen – dürften sich in ei- Hilfe der Gel-Elektrophorese. Dabei wan- Dehnungsaktivierung im Wesentlichen
nem Punkt einig sein: Der unerwartete
Kraftanstieg bei der Dehnungsaktivierung
kann nur durch molekulare Motoren be-
Der molekulare Kraftakt: Mit einer rudernden Bewegung heften sich die Myosin-
wirkt sein, wer immer diese auch sein köpfchen (rot) an einen Aktinfaden (blau) und üben eine Zugkraft aus. Dabei knickt
mögen. Fände sich nun ein klarer Zusam- nach neueren Erkenntnissen wahrscheinlich nicht das gesamte birnenförmige
menhang zwischen dem jeweiligen Ver- Köpfchen ab, sondern nur sein sich verjüngender Halsteil, den ein Kragen aus
lauf der Dehnungsaktivierung und den leichten Myosinketten (violett) umschließt. Unter den Proteinkomponenten der
Myofibrillen weist die schwere Myosinkette besonders viele Varianten auf.
PETER STEINBACHER

verdrillte schwere
leichte Myosinketten
Myosinketten
Troponin,
der dreiteilige
Calcium-Rezeptor
Myosinköpfchen Gleit-
Tropomyosin richtung

Aktinfilament

Myosinfilament

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 39


PHYSIOLOGIE

durch die Varianten der schweren Myo-


sinkette bestimmt wird.
Muskelfasern auf der Folterbank Natürlich haben wir mit Pettes Labor
auch noch die Strukturvarianten anderer
Proteine der Kraftkammern analysiert.
F ür bestimmte Messungen ist es zweck-
mäßig, eine einzelne Muskelzelle –
eine Muskelfaser – von ihren Membranen
tors um wenige Promille ihrer Ausgangslän-
ge und halten sie in ihrer neuen Lage fest.
Was nimmt der Kraftfühler am anderen
Doch nie ergab sich ein entsprechender
Zusammenhang bei den getesteten Fasern.
zu befreien und in einer künstlichen Lö- Ende der Faser wahr? Während der schnel- Alles in allem scheint nun jener Bau-
sung zu untersuchen. Das Ergebnis ist eine len Dehnung steigt die Zugkraft abrupt an stein im Puzzle der Muskelforschung ge-
so genannte „enthäutete“ Muskelfaser – im und kehrt nach Erreichen der neuen Faser- funden, der eine ursächliche Verknüpfung
Wesentlichen nur noch ein Bündel von voll länge wieder zum Ausgangswert zurück. zwischen Greifarmvarianten und Deh-
funktionstüchtigen Myofibrillen. Doch noch während dieses Kraftabfalls nungsaktivierung herstellt. Die vereinzelt
Das künstliche Badewasser ist dem inne- oder kurz danach steigt die Zugkraft von immer noch bezweifelte Theorie, dass die
ren Milieu der Muskelzellen nachempfun- selbst erneut an, ehe sie endgültig langsam Muskelkraft letztlich auf der „Hand-
den; vor allem stellt es den Energieträger verebbt. Für diesen unerwarteten sponta- arbeit“ der dicken Molekülfäden in den
ATP bereit. Die Enden der Faser befestigen nen Kraftanstieg, der einer Dehnung verzö- Kraftkammern beruht, steht damit auf
wir an den Spitzen zweier aufrechter Na- gert nachfolgt, hat sich der Name „Deh- einer solideren Grundlage.
deln. Eine davon dient als Messfühler für nungsaktivierung“ eingebürgert.
die Zugkraft der Muskelfaser. An der ande- Rudern
ren sitzt ein Schrittmotor, der die Länge der
Muskelfasern schnell und präzise ändern
kann. Erhöhen wir in der Lösung die Kon-
B ei unserer Untersuchung an hunder-
ten enthäuteten Muskelzellen zeigte
jeder Fasertyp ein etwas anderes Verhal-
im Schneckentempo

Unser Befund untermauerte zugleich


zentration des Botenstoffes Calcium auf ge- ten bei der Dehnungsaktivierung, und
die Annahme, die Dehnungsaktivierung
eignete Werte, dann versucht die enthäute- zwar in enger Korrelation mit den jeweils
te Faser, sich zusammenzuziehen. Da die enthaltenen bekannten Varianten der so
selbst rühre von einem gemeinsamen
Nadeln starr sind, kann sie sich nur an- genannten schweren Kette des Myosinpro- molekularen Kraftakt zeitlich synchroni-
spannen, aber nicht verkürzen. In diesem teins. Das abweichende Verhalten einiger sierter Greifarme her. Somit konnten wir
Zustand strecken wir die Muskelfaser durch Zellen führte uns schließlich auf die Spur auch deren relatives Rudertempo ablei-
eine blitzschnelle Bewegung des Schrittmo- einer bis dahin unbekannten Variante. ten. Im Vergleich zur Kettenvariante 2b
rudern Greifarme der Variante 1 etwa 30-
mal langsamer; 2a ist etwa sechsmal und
2d etwa zweimal langsamer. Diese
Helium-Neon-Laser
Unterschiede im Rudertakt sind höchst-
wahrscheinlich eine der wichtigsten
Ursachen für die Vielfalt der funktionel-
len Leistungen von Skelettmuskeln. Je
langsamer der Takt, desto sparsamer der
Mikrometerschraube
Energieverbrauch bei bloßer Haltearbeit.
Kraftsensor Das macht solche Fasern ausdauernder.
Schrittmotor
misst Zugkraft Erweitert werden diese Möglichkeiten
noch durch die überraschende Entde-
gehäutete Muskelfaser ckung einer bis dahin unbekannten Va-
Transport-
vorrichtung riante der schweren Myosinkette. Darauf
PETER STEINBACHER / STEFAN GALLER

Glasbehälter gestoßen sind wir, als wir aus bestimmten


mit unter-
schiedlichen
Muskeln am Hinterlauf eines Kaninchens
Lösungen vermeintlich reine Typ 1-Fasern unter-
suchten. „Enthäutet“ arbeiteten diese Zel-
gebeugtes Laserlicht len vereinzelt bis zu 100-mal langsamer
als die schnellsten. Bei der Gel-Elektro-
Sensor erfasst Verschie-
bungen der Proteinfäden phorese erschien unterhalb des üblichen
Proteinstreifens gewöhnlicher Typ-1-Fa-
sern noch ein weiterer: Je mächtiger die-
Eine „enthäutete“ Muskelfaser 0,5 Millimeter ser ausgeprägt war, desto langsamer die
aus einem Beinmuskel des Autors Dehnungsaktivierung der Muskelfasern.
(rechts). Für mechanische Mes- Der zusätzliche Proteinstreifen musste
sungen wurde sie an die Nadeln
der Versuchsapparatur geklebt. eine neue Strukturvariante der schweren
Der Schrittmotor zieht die ange- Myosinkette im Skelettmuskel repräsen-
spannte Muskelfaser mit einem tieren – eine mit einem viel langsamer
kurzen Ruck in die Länge. Der rudernden Greifarm.
Kraftsensor registriert dies und Wir gaben ihr das Kürzel „1a“ und
die nachfolgende „Dehnungsakti- tauften zugleich die alte in „1β“ um, weil
vierung“. Die Zeitspanne bis zu
sie offenbar der Beta-Variante des Herz-
STEFAN GALLER

deren Maximum hängt vom Mus-


kelfasertyp ab – und der wieder- muskels entspricht. Das Herz enthält im
um von den jeweils vorhandenen Übrigen noch eine als Alpha-Variante
schweren Myosinketten. bezeichnete Sorte. Diese tritt vor allem
in der Muskulatur der Vorhöfe auf und

40 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Muskelfasertypen

Millisekunden bis zur maximalen Dehnungsaktivierung


rudert – unseren Experimenten der Deh-
nungsaktivierung zufolge – etwa dreimal
schneller als die Beta-Variante. Die neue neuer Typ
Form im Skelettmuskel war also etwas 1β/1a
anderes; deswegen bekam sie von uns 1000 1β
nicht den Zusatz „Alpha“, sondern „a“
Doch zurück zum Kaninchenlauf. In 2A/1β
seinen Skelettmuskeln gibt es also neben
den bekannten reinen Typ-1β-Fasern auch
2A
Mischfasern, die noch langsamer sind:
durch eine Beimischung der Variante 1a. 2AD

STEFAN GALLER / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


100
Einen reinen Typ 1a haben wir allerdings
2D
bisher noch nicht entdeckt.
Doch wie steht es mit menschlichen 2BD
Skelettmuskeln? Auch hier umfassen die 2B
langsamen Zuckungsfasern höchstwahr-
scheinlich mehr als einen Typ. Dies lassen
zumindest die Ergebnisse unserer jüngs- 10
ten Studien an zahlreichen solchen Fasern enthaltene Varianten der schweren Myosinkette
vermuten. Die Geschwindigkeitswerte ih- 2b 2b+2d 2d 2a+2d 2a 2a+1β 1β 1β+1a
rer Dehnungsaktivierung zeigen nämlich
eine Häufigkeitsverteilung, die mehr als
Schwere Myosinketten: Ihre Varianten in Skelettmuskeln erwachsener Säugetiere
eine Sorte langsamer schwerer Ketten bestimmen den Muskelfasertyp. Dieser korreliert eng mit der Zeit bis zur maximalen
nahe legt. Gegenwärtig versuchen wir, die Dehnungsaktivierung, wie die Experimente zeigten. Muskelfasern mit zwei verschiede-
vermuteten molekularen Varianten mittels nen Varianten der Kette fügen sich zeitlich exakt zwischen die jeweiligen reinen
biochemischer Analysen aufzutrennen. Fasertypen. Ein neu entdeckter Fasertyp mit einer bis dahin unbekannten Variante der
Da diese Proteine sehr groß und in ihrem schweren Kette – 1a getauft – arbeitet besonders langsam, was ihn ausdauernder
macht. Nicht bei jeder Säugerart kommt aber das gesamte Spektrum vor.
Aufbau wahrscheinlich nur minimal ver-
schieden sind, gestaltet sich das allerdings
äußerst schwierig. Beinmuskulatur insgesamt einen hohen Nervenimpulse entscheidend. Dies weiß
In den Skelettmuskeln unserer Glied- Anteil an diversen Sorten schneller Zu- man aus Experimenten mit eingepflanzten
maßen kommen langsame Zuckungsfa- ckungsfasern aufweist, erklärt sich von Elektroden, mit denen Forscher einzelne
sern insgesamt viel häufiger vor als bei selbst, wenn man gedanklich Mensch und Muskeln im lebenden Tier über die zufüh-
Maus, Ratte und Kaninchen. Daher er- Maus zum Wettlauf antreten lässt: Für ei- renden Nerven gereizt haben. Anhaltende
warten wir auch eine differenziertere Auf- nen einzigen raumgreifenden Schritt eines Reizung mit nur geringer Impuls-Fre-
gabenteilung: Halteleistungen und langsa- Läufers muss eine Maus eben unzählige quenz – das entspricht einem Ausdauer-
me Bewegungen würden sich auf jeweils Male ihre Beinchen flitzen lassen. training – führt zu einer Umwandlung von
eigene langsame Fasertypen verteilen. Die Entdeckung einer neuen Variante schnellen in langsame Fasern. Kurze in-
Dies erscheint umso zweckmäßiger, wenn der schweren Myosinkette zeigt, dass Dif- tensive Reizung mit langen Ruhepausen
man bedenkt, dass die schnellen Zu- ferenzierung und Spezialisierung in Ske- hingegen – das entspricht einem Sprint-
ckungsfasern beim Menschen und bei ei- lettmuskeln viel ausgeprägter sind als bis- training – bewirkt das Umgekehrte, aller-
nigen anderen großen Säugetieren wie her angenommen. Arbeitsteilung spielt dings nur innerhalb gewisser Grenzen.
Pferden und Rindern nur zwei Typen um- eben offensichtlich auch bei den Leistun- Sich umwandelnde Muskelzellen
fassen: 2A und 2X. Unsere Untersuchun- gen langsamer Zuckungsmuskeln eine we- tauschen die Varianten ihrer schweren
gen legen nahe, dass diese beiden jeweils sentliche Rolle; sie ermöglicht es, Tätig- Myosinkette aus, zusätzlich aber noch
den Typen 2A und 2D von Kaninchen und keiten ökonomischer zu bewältigen. viele andere Proteine, darunter Enzyme,
Ratte entsprechen. Lediglich kleinere Mehr über den molekularen Feinbau welche die Zellen mit der universellen
Säugetiere scheinen daneben noch den der Muskeln und die Möglichkeiten sei- biochemischen Energiewährung ATP ver-
dritten flotteren Fasertyp, nämlich 2B, zu ner Umgestaltung zu wissen, ist vor allem sorgen. Anders gesagt: Die Muskelzellen
besitzen. Warum gerade sie den schnells- für die angewandten Wissenschaften der lesen andere Proteingene ab als zuvor. Hat
ten aller Typen brauchen und warum ihre Bewegungs- und Sportphysiologie, aber sich nach effektivem Ausdauertraining
auch für die Human- der Energiestoffwechsel weitgehend bis
medizin bedeutsam. vollständig auf die ergiebigste Form der
Stefan Galler forscht und In Skelettmuskeln ATP-Produktion umgestellt, ermüden die
lehrt er an der Univer- bleibt die Zusam- Muskeln kaum noch. Dies geht so weit,
sität Salzburg. Seine mensetzung der Fa- dass umtrainierte verpflanzte Rücken-
Forschungsschwerpunk- sertypen nicht kon- muskeln einen geschwächten Herzmuskel
te sind der Ionenhaus- stant, sondern stellt zumindest entlasten können (siehe Kasten
halt von Zellen und die sich innerhalb weni- auf Seite 36).
Muskelkontraktion. ger Wochen auf den Die Wandlungsfähigkeit der Muskeln
GUSTAV GÜRSCHNER

Kurzfristig war er auch jeweiligen Bedarf bleibt übrigens auch im Alter erhalten.
an Untersuchungen der ein. Für diese Um- Das haben Experimente mit implantierten
Gletschermumie „Ötzi“ wandlung ist das Reizelektroden zumindest an alten Ratten
beteiligt. elektrische Muster gezeigt. „Alter Muskel rostet nicht“ mag
der einlaufenden also der Slogan lauten. ■

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 41


ARCHÄOLOGIE

Wer waren die


VON SASHA NEMECEK

S üdchile, vor 14 700 Jahren: Eine Gruppe von


ungefähr dreißig Männern, Frauen und Kin-
dern siedelt für kurze Zeit an einem kleinen
Bach. Diese Menschen werden dort bleiben, so-
lange es genug Nahrung gibt – Wurzeln, Früchte
und Wild. Wenn sie weiterziehen, lässt einer der
Jäger eine blattförmige Speerspitze zurück, die
Archäologen unserer Zeit entdecken werden.
„Monte Verde“ nennen sie diesen bislang ältesten
Siedlungsplatz in Südamerika. Waren jene Pionie-
re wohlmöglich Nachkommen von Menschen, die
vor mindestens 15 000 Jahren über eine Landbrü-
cke von Asien nach Nordamerika gelangten?
Kentucky in den USA, ein Kellerraum der
Universität: Der Anthropologe Tom Dillehay, der
Monte Verde in den siebziger Jahren freigelegt
hat, breitet vor mir eine kleine Sammlung von
Artefakten aus, darunter die erwähnte, eigentlich
recht zierlich wirkende Speerspitze. Dillehay
macht mich auf das Fragment einer anderen auf-
merksam, die ihr sehr ähnelt. „Vielleicht wurden
sie von derselben Person angefertigt“, vermutet
der Wissenschaftler.
Stunden, vielleicht sogar Tage, brauchte jener
Mensch, um so ein Steinwerkzeug zu fertigen.
Jede Speerspitze misst knapp 10 Zentime-
ter und ist 12 Millimeter stark. Selbst
meinem ungeschulten Auge fällt die ex-
zellente Verarbeitung auf: Völlig sym-
metrisch verläuft eine Reihe winziger
Kerben und formt die scharfe Klinge.
Wann die ersten Menschen nach
FOTO: MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG VON TOM DILLEHAY

Amerika kamen, wird unter Anthropo-


logen und Archäologen in den letzten
Jahren lebhaft diskutiert. Die Datie-
rung von Monte Verde widerspricht
der bislang gängigen Annahme – vor
etwa 14 000 Jahren – und fand denn
ZEICHNUNGEN: PAMELA PATRICK;

auch erst 1997 internationale Aner-


kennung. Doch einige wenige zwei-
feln nach wie vor. Sie werden es
künftig nicht leicht haben: Aktuelle
Ausgrabungen in Südamerika und im
Osten der USA deuten darauf hin,
dass die ersten Menschen sogar vor
20 000 oder gar 40 000 Jahren auf
dem Kontinent eintrafen (siehe Karte
Seite 44/45). Aus ihren Hinterlassen-
schaften rekonstruieren Forscher, wie
diese frühen Amerikaner jagten und
welche Pflanzen sie aßen.
Die herkömmliche Datierung lässt
sich bis in das Jahr 1589 zurückverfol-

42 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


ersten Amerikaner?
Es galt als sicher: Jäger folgten Mammutherden vor 13 000 Jahren von Sibirien über die Bering-
straße nach Amerika. Neuere archäologische Funde widersprechen diesem Standardmodell.
Danach ist es nur eine These von mehreren. Jagten die Uramerikaner Fische statt Mammuts?

gen, als der in Südamerika wirkende Jesuiten-


missionar José de Acosta postulierte, die Ur-
Amerikaner müssten vor vielen tausend Jahren
irgendwie von Sibirien nach Amerika gekom-
men sein. Diese These hatte Bestand, und zu
Anfang des 20. Jahrhunderts war sich die
Fachwelt weitgehend darüber einig.
In Clovis (Neumexiko) untersuchte Ridge-
ly Whiteman vom Smithsonian Institut in Wa-
shington (D. C.) 1929 einen alten Siedlungs-
platz und fand Speerspitzen mit zwei scharfen
Kanten und Kerben oder Nuten an den Enden.
Ihr Alter datierte man anhand von organischen
Resten in den Fundschichten auf rund 13 000
Jahre. Seitdem gruben Archäologen derartige
Waffen in Kanada, den gesamten USA und in
Mittelamerika aus. In manchen Teilen der Ver-
einigten Staaten, insbesondere in den Wüsten
des Südwestens, sind sie fast so häufig wie
Kakteen. Die Ähnlichkeit dieser Werkzeuge
aus den verschiedenen Fundstellen ist so groß,
dass ein gemeinsamer Kulturkreis nahe liegt;
nach dem ersten Fundort nennt man ihn Clo-
vis. Unter dieser Annahme erschien es nur ver-
nünftig, auch von einer einzigen Besiedlungs-
welle kurz vor dieser Zeit auszugehen.
Mit ihren Speeren, so die bis vor etwa zehn
Jahren gängige Theorie, jagten diese Vorfahren
der Indianer Großwild wie das Wollmammut
oder das Bison. Deren Fleisch lieferte reichlich
Fett und Proteine, die wolligen Felle warme
Kleidung. Im Gefolge der wandernden Herden
könnten die Pioniere vor etwa 15 000 bis
14 000 Jahren über die damals trockenliegende
Beringstraße Amerika betreten haben. Zu die-
ser Zeit waren die eiszeitlichen Gletscher gera-
de so weit zurückgewichen, dass sie einen
Landweg durch Kanada freigaben. Innerhalb
von etwa eintausend Jahren bahnte sich der
Mensch seinen Weg durch ganz Nord- und
Südamerika, von der Suche nach Nahrung
vorangetrieben.

Mammutjäger oder Fischer? Lange Zeit glaubten Archäologen, die


ersten Bewohner der Neuen Welt seien mit Fellen bekleidete Groß-
wildjäger gewesen, die ihren Beutetieren über die Bering-Land-
brücke folgten. Neue Funde deuten jedoch darauf hin, dass die
Ur-Amerikaner auf ihrer Wanderung durch eher gemäßigte Zonen
ebenso gut von Kleinwild, Fisch und pflanzlicher Nahrung gelebt
haben könnten. Das Foto (links) zeigt eines der ältesten mensch-
lichen Artefakte des amerikanischen Kontinents – eine kleine
Speerspitze von einem 14 700 Jahre alten Siedlungsplatz in Chile.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 43


ARCHÄOLOGIE

Diese Vorstellung von den muti-


gen Großwildjägern füllt seit Jahr- ZUG
zehnten Lehrbücher und wissen- Fundstätten aus ANG
ÜBE
schaftliche Zeitschriften. Doch sie
hat ihre blinden Flecken, wie mehr
alter Zeit R
und mehr Wissenschaftler bemän-
geln. Dazu gehört David Meltzer, 1. Modell:
Anthropologe an der Southern Me-
Zugang über Land Walker Road (Alaska)
thodist University in Dallas (Texas). Während der letzten Eiszeit, als der Geschätztes Alter:
Allzu simpel scheint ihm das Kli- Meeresspiegel viel niedriger lag als 13 300 Jahre
schee von den Mammutknochen kau- heute, war die nach dem dänischen
enden Ur-Indianern: „Für kleine Entdecker Vitus Bering benannte
Gruppen von etwa 15 bis 30 Perso- ÜS TE
nen, eine für Nomadenvölker typi-
Meerenge zwischen Sibirien und
N G D ER K
Nordamerika noch trockenes Land. TLA
sche Größe, wäre die Mammutjagd Der herkömmlichen Theorie zufolge RT EN
H
als einzige Nahrungsquelle viel zu zogen die ersten Einwanderer von FA
riskant gewesen. Kleinwild, Nüsse Nordostasien nach Alaska und ge-
und Beeren, vielleicht auch Fisch langten dann durch einen eisfreien
und Schildkröten gehörten sicher Korridor zwischen zwei Gletscher-
auch auf den Speiseplan.“ Archäolo- zonen in das Gebiet der heutigen
gen haben in Clovis-Ausgrabungs- USA. Sie wanderten zu Fuß bis Kennewick (Washington)
stätten tatsächlich Überreste von nach Mittel- und Südamerika. Fundort des Kennewick-Manns, eines
Rotwild, Kaninchen und Schlangen 9 500 Jahre alten Skeletts, das anthropo-
logisch eher den Polynesiern oder Ainu als
entdeckt. Doch leider bleiben die bei 2. Modell:
heutigen Indianern zuzuordnen ist.
der Kleinwildjagd, dem Fischfang Fahrt entlang der Küsten
und dem Sammeln pflanzlicher Nah- Alternativ dazu ziehen viele For-
rung verwendeten hölzernen Werk- scher inzwischen die Möglichkeit in
zeuge, Netze und Körbe in aller Re- Betracht, Migranten aus dem süd-
gel nicht so gut erhalten wie aus ostasiatischen Raum könnten in Santa Rosa Island (Kalifornien)
Stein gefertigte Artefakte. kleinen Booten der Küstenlinie ge- Fundort der Arlington-Springs-Frau, eines
folgt sein. In dem Fall hätten sie 13 000 Jahre alten weiblichen Skeletts.
13 000 Jahre alte Körbe Feuerland in nur hundert Jahren er-
reichen können.
Eine Ausnahme macht die Ausgra-
bungsstätte „Meadowcroft Rockshel- 3. Modell:
ter“ südwestlich von Pittsburgh. Der
Überquerung des Pazifiks
Archäologe James Adovasio vom Einwohner Australiens und der
Mercyhurst College in Erie (Pennsyl- Südpazifischen Inseln könnten ost-
vania) fand dort in fast dreißig Jahren wärts bis nach Südamerika gefah-
zahlreiche vergängliche Artefakte: ren sein. Für dieses Szenario gibt
Körbe, die einst vielleicht zum es zwar kaum Beweise, doch eini-
Transport pflanzlicher Nahrung ge- ge Anthropologen sehen Ähnlichkei-
nutzt worden sind, Teile von Fallen ten zwischen den Schädelformen
für Kleinwild und sogar knöcherne der Ur-Amerikaner und den Vor-
Ahlen zur Bearbeitung von Textilien fahren der Polynesier und japani-
und Leder. Das Alter dieser Funde schen Ainu.
schätzt der Wissenschaftler auf min-
destens 12 900 Jahre. 4. Modell:
Doch von Anfang an kritisierten
Überquerung des Atlantiks
Fachkollegen seine Interpretation
Bewohner der Iberischen Halbinsel
dieser Funde und zweifelten überdies könnten in Schiffen der Eiskante je-
am Alter der Ausgrabungsstätte. Ei- ner Gletscher gefolgt sein, die da-
nige vermuteten eine Kontamination mals die Nordsee bedeckten. Diese
der Erdschichten mit älterem Mate- Theorie bleibt vage, sie stützt sich
rial, das dann zur Datierung genutzt auf beobachtete Ähnlichkeiten zwi-
worden sei. Dieser Vorwurf wurde schen den Clovis-Speerspitzen und
1999 von Paul Goldberg von der Techniken des europäischen Solu-
Universität Boston (Massachusetts) tréen, einer Kulturstufe der jünge-
entkräftet. ren Altsteinzeit vor 16 000 bis vor
Adovasio ärgert sich über die Art 24 000 Jahren.
der Diskussion um seine Ausgrabun-
gen: „Wir finden Nadeln aus Tier-
knochen, und die Leute sagen sofort:
Na klar, damit wurde Leder genäht.

Dabei sind diese Nadeln viel zu

44 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Bluefish Caves (Yukon, Kanada)
Geschätztes Alter:
16 800 Jahre
LAN D

SA
DE

TL
Hecate Strait G

ANT
E (British UN
Columbia,
U ER

IKS
Kanada)

ÜBERQ
Hier wurde ein
10 200 Jahre
altes Artefakt aus
einer Meerestiefe
von etwa 50 Meadowcroft (Pennsylvania)
Metern geborgen.
Unter einem Felsdach entdeckten Wissen-
schaftler die Überreste eines Korbes (oben),
der mindestens 12 900 Jahre alt ist.
Cactus Hill (Virginia)
Möglicherweise 18 000 Jahre alte Artefakte
deuten darauf hin, dass Vorfahren der Clovis
an der Ostküste gelebt haben könnten.

Topper (South Carolina)


Aus tieferen (und damit älteren) Schichten
unter einer Clovis-Ausgrabungsstätte

KARTE: SUSAN CARLSON / FOTOS DER SPEERSPITZE UND DER TIERHAUT: KENNETH GARRETT / FOTO DES FUSSABDRUCKS: MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG VON TOM DILLEHAY /
Clovis (New Mexico) stammen kleine Steinklingen und
Hier wurde 1932 das erste Schabwerkzeuge (rechts).
Artefakt des nach dem Ort
benannten Volkes entdeckt,

FOTO DES KORBES: MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG VON JAMES ADOVASIO / SCHABWERKZEUG: DARYL P. MILLER/SCIAA-USC / GESICHTSREKONSTRUKTION: BBC
das vor 13 000 Jahren in Taima-Taima (Brasilien)
Amerika weit verbreitet war
Los Tapiales Geschätztes Alter:
und Steinwerkzeuge wie diese
(Guatemala) 12 500 Jahre
Pfeilspitze (links) herstellte.
Geschätztes Alter:
12 900 Jahre

Tibito (Kolumbien)
Geschätztes Alter:
13 600 Jahre
Pedra Furada (Brasilien)
Geschätztes Alter:
30 000 Jahre
Pachamachay (Peru)
Geschätztes Alter:
13 900 Jahre

Lapa Vermelha IV (Brasilien)


Hier wurde der Schädel von „Luzia“
Monte Verde (Chile) entdeckt, mit 13 500 Jahren die
Der 14 700 Jahre alte ältesten Gebeine auf dem amerikani-
Siedlungsplatz ist der älteste schen Kontinent. Unten ist eine
Ü BE in Amerika. Archäologen Gesichtsrekonstruktion abgebildet.
RQU fanden steinerne und
ERU hölzerne Artefakte,
NG Tierhäute (oben links) sowie
DES
PAZI einen prähistorischen
FIKS Fußabdruck (oben rechts).
Los Toldos (Argentinien)
Geschätztes Alter:
14 600 Jahre

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 45


ARCHÄOLOGIE

zerbrechlich, das sieht man doch.“ Die


aber nähte wohl die Kleidung für die nicht annehmen wollen, dass die Leute
Knochennadeln müssten deshalb zum
wärmeren Monate? Adovasio relativiert jeden Tag hindurch geschwommen sind,
Nähen leichter Gewebe aus pflanzlichen
deshalb die Bedeutung der Speerspitzen: mitsamt den Alten, Schwangeren, Kin-
Fasern gedient haben. Wozu diese benö-
„Wenn wir uns nur mit Steinen befassen, dern und Haustieren, müssen sie wohl
tigt wurden? „Viele machen den Fehler,
entgehen uns 95 Prozent vom Leben die- Boote gehabt haben. Unwahrscheinlich
dass sie denken, in der Eiszeit sei es im-
ser Menschen. Bei Jäger- und Sammler- ist das nicht, denn Wasserfahrzeuge gibt
völkern unserer Zeit be- es auf der Welt seit mindestens 40 000
schaffen Frauen, Kinder und Jahren – damals besiedelte der Mensch
Waren die Clovis tatsächlich die Pio- ältere Menschen den aller- Australien.“ Zudem belegen Menschen-
niere in Amerika? Oder hatten sie auf größten Teil der Nahrung knochen auf den Channel Islands vor der
und fertigen Kleidung, Net- kalifornischen Küste, die nur etwas jün-
dem Doppelkontinent Vorgänger? ze und Körbe. Warum sollte ger sind als die ältesten Werkzeuge der
das bei den frühen Amerika- Clovis, dass die ersten Amerikaner das
mer kalt gewesen. Sie stellen sich vier- nern anders gewesen sein?“ Meer zu befahren wussten.
zigtausendmal Januar vor, und vergessen Noch ein blinder Fleck der Standard- Clovis-Boote hätten wohl aus Tier-
ganz, dass es auch vierzigtausendmal theorie ist die Frage nach der Fortbewe- häuten oder Holz bestanden, also eben-
Juli wurde“, meint der Archäologe au- gungsweise der Clovis-Menschen. Mar- falls aus schnell vergänglichen Materia-
genzwinkernd. garet Jodry, Archäologin am Smithsoni- lien, die sich nur selten erhalten haben
Und noch eine Schwäche des offi- an Institut in Washington (D. C.) zweifelt dürften. Doch Jodry beobachtete nord-
ziellen, Mammutjäger-zentrierten Bildes am gängigen Bild einer „Völkerwande- amerikanische Indianer beim Bau von
vom Ur-Amerikaner: Es ignoriert Frau- rung“. Denn manche Fundstätten liegen Fahrzeugen und identifizierte anhand
en, Kinder und ältere Menschen. Wer beiderseits eines Flusses. „Wenn wir ihrer Konstruktionstechniken mögliche
archäologische „Marker“: Beispielswei-
se könnte eine bestimmte Konfiguration
Archäologische Zahlenspiele von mit Steinen eingefassten Pfostenlö-
chern den Standort einer alten „Boots-
Radiokarbon-Daten müssen werkstatt“ anzeigen.
an den Kalender angepasst werden Als Reaktion auf diese neuen Frage-
stellungen und Hypothesen gehen

D ie ohnehin schon komplexe Frage, wann der Mensch erstmals amerika-


nischen Boden betrat, wird durch Datierungsprobleme weiter erschwert.
Um das Alter von organischen Artefakten wie Knochen, Holzkohle oder Holz
Archäologen bei der Auswahl ihrer Gra-
bungsorte und -methoden heute anders
vor als noch vor ein paar Jahren. Einige
zu bestimmen, verlassen sich Archäologen im Allgemeinen auf die Radiokar- nehmen sogar bereits abgeschlossene
bonmethode. Doch ein Radiokarbonjahr entspricht nicht immer einem Kalen- Grabungsprojekte wieder auf, um nach
derjahr. „Bootsmarkern“ zu suchen. Und Funde
Diese Art der Altersbestimmung basiert auf dem Umstand, dass alle wie die von Meadowcroft haben die For-
Organismen Kohlenstoff zum Leben benötigen. Sie nehmen insbesondere zwei scher veranlasst, ihr Augenmerk auch auf
unterschiedliche Isotope davon auf: 14C und 12C (als Isotope bezeichnet man
andere Dinge zu richten als nur auf Stei-
Varianten eines Elements, die dieselbe Anzahl von Protonen – bei Kohlenstoff
ne und Knochen. Beispielsweise fand
immer sechs –, aber eine unterschiedliche Anzahl von Neutronen im Atomkern
besitzen – hier acht und sechs). Solange ein Tier oder eine Pflanze lebt, Dillehay in Monte Verde Überreste von
entspricht das Verhältnis von 14C zu 12C in ihrem Gewebe demjenigen in der Tierhäuten, die vermutlich einmal als
Atmosphäre. Stirbt der Organismus, nimmt es exponentiell ab, denn das Zelt gedient haben, sowie geknotete Kor-
erstere Isotop unterliegt radioaktivem Zerfall. Da die Zerfallsgeschwindigkeit deln, die seiner Meinung nach zu deren
des 14C bekannt ist, können Forscher das Alter eines Objekts bestimmen. Sicherung verwendet worden sind. Er rät
seinen Kollegen, an völlig anders gearte-
ten Orten nach Artefakten zu suchen als
D abei ist jedoch zu beachten, dass das Verhältnis der beiden Isotope in der
Atmosphäre über die Jahrtausende nicht konstant geblieben ist. Unab-
hängige Zeitskalen auf der Basis von Baumringen, Eisbohrkernen und der
bisher: „In Höhlen und auf freien Flä-
chen bleiben empfindlichere Artefakte
Uranium-Thorium-Methode ermöglichen die Umrechnung von Radiokarbon- selten erhalten. Monte Verde war ein
jahren in Kalenderjahre. Paradebeispiel, denn dort bedeckte eine
Unglücklicherweise ist eine solche Kalibrierung gerade für den hier interes- Torfschicht vom nahe gelegenen Sumpf
santen Zeitraum von 10 000 bis 20 000 Jahren vor unserer Zeit mit besonde- die Relikte und verhinderte, dass Luft-
ren Schwierigkeiten verbunden; jahrelang präsentierten Archäologen daher sauerstoff sie angreifen konnte. Das
unkorrigierte Radiokarbonjahre. Jüngste Forschungen haben die Datierung heißt: Wir müssen nach feuchten Fund-
dieser Epoche jedoch entscheidend vorangebracht; alle Jahreszahlen in die- stätten Ausschau halten.“
sem Artikel sind bereits in Kalenderjahre umgerechnet. Ein neues Bild von den Ur-Amerika-
nern zeichnet sich ab und gewinnt durch
die Erforschung vergänglicher Artefakte
Radiokarbon- 9,6 10,2 11 12 12,7 13,3 14,2 15 15,9 16,8 17,6 18,5 19,3 20 immer deutlichere Konturen: Vor vielen
jahre
tausend Jahren kannten die Menschen
Kalenderjahre 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 ~24
ihre Umwelt und wussten sie zu nutzen.
JENNIFER JOHANSEN

in 1000 Jahren Sie verstanden sich nicht nur darauf, hin


Kalibrierung tut Not: So ist die Ausgrabungsstätte Monte Verde und wieder ein Mammut zu erlegen, son-
12 500 Radiokarbon-, aber 14 500 Kalenderjahre alt. dern auch auf den Fischfang. Sie wuss-
ten, wo es genießbare Beeren gibt, stell-

46 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Monte Verde in Chile
ist die älteste bekannte
Stätte menschlicher
Besiedelung auf dem
amerikanischen
Kontinent. An diesem
Ort zwischen den Anden
und dem Pazifik ließ
sich vor fast 15 000
Jahren eine Gruppe von
ungefähr dreißig Men-
schen nieder. Der Ar-
chäologe Tom Dillehay
(stehend) und seine

KENNETH GARRETT, NATIONAL GEOGRAPHIC


Kollegen legten bei
Ausgrabungen in der
prähistorischen Sied-
lungsstätte eine Viel-
zahl menschlicher
Artefakte frei.

ten Kleidung und Körbe aus Pflanzenfa- von Monte Verde 14 700 Jahre alt ist, zwar den Beweis, dass einst Menschen
sern her und bauten den örtlichen Gege- blieb genau ein Jahrtausend für die ge- auf dem heute versunkenen Land lebten,
benheiten angepasste Boote. samte Strecke. Zu Fuß wäre das Rekord- doch es sagt nur wenig über die damalige
Inzwischen geriet das Standardmo- zeit, durchaus vorstellbar hingegen bei Kultur.
dell der Ur-Amerikaner noch weiter un- einer Fortbewegung in Booten entlang Zurück zu dem kunstfertigen Speer-
ter Beschuss. Seit das Alter von 14 700 der Pazifikküste. spitzenmacher von Monte Verde. Seine
Jahren für Monte Verde von der interna- Diese Möglichkeit vertritt der Vorfahren könnten es also innerhalb von
tionalen Archäologengemeinde akzep- Archäologe Knut Fladmark von der Si- nur 100 Jahren bis an die Südspitze Chi-
tiert worden ist, steht die ketzerische Fra- mon Fraser University im kanadischen les geschafft haben, vorausgesetzt, sie
ge im Raum, ob die Clovis denn wirklich Burnaby (British Columbia) seit
als Erste Amerika erreicht haben. Mike den siebziger Jahren. „Mit Boo-
Waters von der texanischen A&M Uni- ten hätten die frühen Siedler den
„Wäre es nicht möglich, dass die
versität bietet zwei weitere Arbeitshypo- ganzen amerikanischen Kontinent ersten Siedler in Booten statt über
thesen an: Es gab schon vorher ver- sogar innerhalb von 100 Jahren
sprengte Grüppchen in Nordamerika, die durchqueren können. Rund 300 die Landbrücke ankamen?“
aber so gut wie keine Spuren hinterlie- Kilometer in einem Monat zu-
ßen. Oder eine bislang noch unbekannte rückzulegen, halte ich für realistisch; bewegten sich auf dem Wasserwege fort.
Kultur bevölkerte große Teile des Konti- wobei die Menschen zweifelsohne in den Aber praktisch gesehen hätte die Gruppe
nents und harrt der Entdeckung. Einige Wintermonaten eine Pause einlegten und dann kaum Zeit gehabt, sich an ihre neue
Wissenschaftler verlegen die Ankunft vermutlich zudem an manchen Orten, die Umgebung anzupassen.
der ersten Menschen in Amerika mittler- ihnen besonders günstige Bedingungen Und genau hier sieht Professor Dille-
weile auf 15 000 bis 20 000 Jahre vor boten, für eine Generation verweilten.“ hay einen ganz entscheidenden Unter-
unserer Zeit. So reizvoll Fladmarks Theorie auch schied zwischen Theorie und Realität:
In diesem Zusammenhang wird auch klingt, sie wird nicht einfach zu bewei- „Die Menschen, die vor 14 700 Jahren in
der Weg des Menschen in die Neue Welt sen sein. Als am Ende der Eiszeit die Monte Verde lebten“, argumentiert er,
heftig debattiert. Sofern die frühen Ame- Gletscher abschmolzen und der Meeres- „wussten genau, wo sie sich niederlie-
rikaner in Kanus und Kajaks durch den spiegel stieg, wurden Tausende Quadrat- ßen“. Sie waren lange genug in der Re-
Kontinent kreuzten, wäre es dann nicht kilometer entlang der amerikanischen gion, um sich in einer erstklassigen Lage
ebenso gut möglich, dass die ersten Sied- Pazifikküste überflutet. Alte Lagerplätze einzurichten: Nicht weiter als eine Stun-
ler von vornherein in Booten statt über und Artefakte wären heute in der Tiefe de entfernt boten Feuchtgebiete reichlich

die Landbrücke ankamen? Diese Vorstel- verborgen. essbare Pflanzen; das Meer und die ers-
lung wurde von Archäologen jahrzehnte- Deshalb suchen kanadische Archäo-
lang abgelehnt, findet in den letzten Jah- logen neuerdings auf dem Grund des Pa-
ren jedoch immer mehr Unterstützung. zifiks nach Überresten. Mit Echoloten Literaturhinweise
Denn ansonsten wäre die „Völkerwande- haben Daryl Fedje von der kanadischen Phantome aus der Frühzeit. Von Mi-
rung“ schon eher einem Volkslauf Nationalparkbehörde und seine Kollegen chael Parfit in: National Geographic
gleichgekommen: Um Monte Verde im den Meeresgrund abgetastet und versun- Deutschland. Dezember 2000, S. 96.
Süden Chiles zu erreichen, mussten fast kene Flusslandschaften entdeckt. Nun fi- The Puzzle of the First Americans. Dis-
20 000 Kilometer zurückgelegt werden; schen sie mit Netzen nach Artefakten. covering Archaeology, Special Re-
doch erst vor 15 700 Jahren war eine Vor der Küste British Columbias hoben port, Januar/Februar 2000, S. 30–75.
Durchquerung von Alaska und Kanada sie aus rund 50 Metern Tiefe 1997 ein Weitere Hinweise finden Sie unter
überhaupt möglich, zuvor bedeckte pola- kleines Steinwerkzeug, dessen Alter www.spektrum.de/aktuellesheft.html
res Eis das Land. Wenn nun die Siedlung Fedje auf 10 200 Jahre schätzt. Es liefert

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 47


ARCHÄOLOGIE

ten Ausläufer der Anden waren jeweils


gewesen, wenn sie innerhalb weniger Diese Meinung vertritt jedenfalls
etwa einen Tagesmarsch entfernt. Ein
tausend Jahre eine Kultur begründet hät- der Anthropologe Walter Neves von der
solcher Ort im Einzugsbereich von drei
ten.“ Er nimmt daher an, dass der Grund- Universität São Paulo (Brasilien) für
nutzbaren Ökosystemen musste einfach
stein der menschlichen Zivilisation in den südamerikanischen Raum. Er unter-
mit Bedacht ausgesucht worden sein.
Amerika schon vor 20 000 Jahren gelegt suchte den 13 500 Jahre alten Schädel
wurde. Dillehay fand eingetrocknete See- einer erwachsenen Frau aus dem Süd-
tang-Klumpen, die fast exakt die Form
Unterstützung bekommt diese These osten Brasiliens. Neves Befund: Der
des menschlichen Mundraums aufwei-
auch von Forschern anderer Fachrichtun- Schädel weise mehr Ähnlichkeiten mit
sen, sogar Abdrücke von Backenzähnen
gen: Die Linguistin Johanna Nichols der Physiognomie heutiger Afrikaner
sind daran zu sehen. Vermutlich haben
von der Universität von Kalifornien in und australischer Aborigines auf als
Berkeley hält diese Zeit- mit der moderner Asiaten oder amerika-
spanne für die untere Gren- nischer Ureinwohner. Der Anthropologe
„Es hat ganz den Anschein, als sei die ze, um die ungeheure Viel- schließt daraus und aus der Untersu-
Neue Welt schon seit Jahrtausenden ein falt der ur-amerikanischen chung von etwa fünfzig weiteren, auf
Sprachen hervorzubringen, 8 900 bis 11 600 Jahre datierten Schädel-
Schmelztiegel gewesen“. möglicherweise seien so- funden, dass unter den frühen Bewoh-
gar 30 000 Jahre vonnöten. nern Amerikas auch Menschen so ge-
die Menschen sie wegen des hohen Jod- Ein ähnliches Argument basiert auf der nannter nicht-mongolider Rassen gewe-
Gehalts gelutscht oder gekaut. Aus Fun- genetischen Diversität der Ureinwohner: sen sein müssen. An eine direkte
den von Mastodon-Knochen (einer aus- Die Genetiker Theodore Schurr von der Besiedelung von Afrika oder Australien
gestorbenen Elefantenart) schließt der Southwest Foundation for Biomedical aus glaubt er aber nicht, sondern an
Archäologe, dass die Bewohner von Research in San Antonio (Texas) und eine Absplitterung jenes Menschen-
Monte Verde Tieren in den nahen Sümp- Douglas Wallace von der Emory Univer- zuges, der sich langsam durch Asien
fen Fallen stellten. Mit deren Rippen- sity in Atlanta (Georgia) folgern aus dem bewegte und schließlich Australien er-
knochen gruben sie möglicherweise in Vergleich von genetischen „Markern“ reichte. Andererseits gibt es Fossilien,
den Feuchtgebieten nach Wurzeln und der DNA bei heutigen indianischen und die beweisen, dass vor 9 000 Jahren
Knollen. sibirischen Völkern, dass die Vorfahren mongolide Gruppen in Südamerika auf-
Solch genaue Kenntnisse seiner Um- der amerikanischen Ureinwohner Sibi- tauchten.
gebung erwirbt der Mensch nicht von rien vor mindestens 30 000 Jahren ver- Auch in Nordamerika lebten mögli-
heute auf morgen, sondern eher in meh- lassen haben müssen. cherweise Einwanderer, die über das
reren Generationen. Wieviel Zeit genau Wenn diese Annahmen stimmen soll- Meer kamen. Das in Kennewick (Wa-
vergehen musste, bis die Bewohner ten, würde dies nicht allein unser Bild shington) 1996 gefundene, 9 500 Jahre
von Monte Verde zu diesem Wissen ge- von der Besiedlung Amerikas, sondern alte Skelett eines Mannes zeigt eher
langt sein konnten, ist jedoch schwer von der Ausbreitung des Menschen über- Merkmale der Polynesier oder japani-
abzuschätzen. Nur zweimal hat der haupt verändern. Denn vor etwa 50 000 schen Ainu als der indianischen Völker.
moderne Mensch einen unbewohnten bis 60 000 Jahren soll nach heutigem Es hat ganz den Anschein, als sei die
Kontinent besiedelt – Australien und Kenntnisstand der so genannte moderne Neue Welt schon seit Jahrtausenden ein
Amerika –, daher stehen uns nur wenig Mensch von Afrika nach Asien gelangt Schmelztiegel der Rassen und Kulturen
Vergleichsmöglichkeiten zur Verfügung. sein, er breitete sich in den folgenden gewesen. Jene legendären Eiszeitjäger
Doch Dillehay sieht dieses Thema in ei- Zehntausenden von Jahren bis nach waren vermutlich nicht die ersten frühen
nem größeren Kontext: „Im Industal und Europa aus. Die erste Besiedlung Ame- Einwanderer – und wohl auch nicht die
in China vergingen Zehntausende von rikas rückt damit in den Dunstkreis der einzigen.
Jahren bis zur Entwicklung komplexer Evolution des Menschen. War sie Teil Archäologen durchkämmen Alaska
Zivilisationen. Die Ur-Amerikaner wä- der Migration aus der afrikanischen Ur- auf der Suche nach Relikten aus der Ver-
ren das bemerkenswerteste Volk der Welt heimat? gangenheit; Geologen versuchen, den
MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG VON TOM DILLEHAY (RECHTS)

Menschliche
Artefakte aus
KENNETH GARRET, NATIONAL GEOGRAPHIC (LINKS);

Monte Verde,
Chile: links ein
Holzstock zum
Ausgraben von
Knollen und
Wurzeln, rechts
die Überreste von
Hölzern, an denen
die Zelte der etwa
dreißig Bewohner
im Boden ver-
ankert wurden.

48 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


PAMELA PATRICK
Die frühen Siedler Amerikas könnten den Kontinent in kleinen Booten
aus Holz oder Tierhäuten erschlossen haben. Der Mensch beherrscht den
Bau von Wasserfahrzeugen seit mindestens 40 000 Jahren, denn zu
dieser Zeit hatte er bereits Australien erreicht.
Eine Frage werden die Wissenschaft-
ler aber niemals klären können: Wie ha-
genauen Zeitpunkt zu bestimmen, zu sen sich geologisch deutlich abgrenzen). ben die ersten Siedler das Amerika ihrer
dem die Gletscher den Einwanderern Direkt in der Siedlungsschicht haben Zeit erlebt? War ihnen bewusst, dass sie
erstmals einen Weg in das Gebiet Zen- sich leider keine organischen Reste er- als Pioniere eine neue, menschenleere
tralkanadas und der USA freigaben. In halten, die zur Radiokarbondatierung Welt durchstreiften? Und wenn dies der
Cactus Hill, einer Fundstätte in Virginia, dienen könnten. Proben aus dem Feucht- Fall war: Verspürten sie gelegentlich
scheinen die Forscher Menschen auf der gebiet enthielten 25 000 bis 18 500 Jahre Entdeckerfreude oder ließ ihnen die
Spur zu sein, die zwar zur Clovis-Kultur alte Pflanzenreste, stammten aber ver- Sorge um die tägliche Nahrung dafür
gehört haben, aber dort schon vor 18 000 mutlich aus einer noch tiefer liegenden keine Zeit? Für Dillehay ist der Fall klar.
Jahren lebten. Schicht. Nun bemühen sich Geologen, Für ihn waren diese Männer und Frauen
Vielversprechend ist auch Topper am die zu Topper korrespondierenden Sedi- Teilnehmer eines Abenteuers, das höch-
Savannah-River. Dort gräbt der Archäo- mente ausfindig zu machen, in der Hoff- stens noch dem Aufbruch der Mensch-
loge Al Goodyear von der Universität nung, darin datierbares Material zu fin- heit ins All vergleichbar wäre. „Wenn
South Carolina mit seinem Team unter den. Zudem versuchen sie, die Verände- Menschen durch eine Gegend streiften,
einer bereits freigelegten Clovis-Fund- rungen des Flussbettes im Laufe der nutzten sie oft dieselben Höhlen und
stätte. In tieferen und somit älteren Sedi- Jahrtausende zu rekonstruieren, um dar- Felsdächer als Unterkunft wie andere vor
mentschichten entdeckten die Wissen- aus eine grobe Abschätzung auf das Alter ihnen, einfach weil diese sich dafür gut
schaftler Artefakte, die sich völlig von der Vor-Clovis-Siedlung zu gewinnen. eigneten. Und jede Gruppe hinterließ
denen der Clovis unterscheiden – kleine Ähnliche Probleme haben auch ande- ihre Spuren. Es muss Momente gegeben
Steinklingen und Schabwerkzeuge, ver- re Forscher. In Südamerika tätige haben, wo die Pioniere an Orte kamen,
mutlich zur Bearbeitung von Holz, Kno- Archäologen munkeln von möglicher- die noch kein Mensch zuvor betreten
chen und Horn –, hingegen keine einzige weise 30 000 Jahre alten Siedlungsplät- hatte; wo ihnen bewusst wurde: „Wir
Speerspitze vom Clovis-Typ. Allem An- zen. Unter ihnen ist auch Tom Dillehay, sind die Ersten.“ ■
schein nach wurden die Sedimente von doch er bleibt vorsichtig und verweist
einem eiszeitlichen Fluss abgelagert, der darauf, dass diese äußerst kontroversen
auch im Bereich eines der Fundstätte Datierungen erst noch durch weitere Sasha Nemecek ist Redakteurin bei
nahe gelegenen Feuchtgebietes floss (die Funde aus eben jener Epoche bestätigt Scientific American.
darüber liegenden Clovis-Schichten las- werden müssten.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 49


QUANTENPHYSIK

Das
kälteste
im Universum
Gas
Seit kurzem gelingt es, winzige Gaswölkchen knapp
über dem absoluten Nullpunkt in einen kollektiven
Quantenzustand zu versetzen. Solche
Bose-Einstein-Kondensate werden
nun intensiv erforscht und auf
mögliche Anwendungen
untersucht.
VON GRAHAM P. COLLINS
DAVID FEDER UND PETER KETCHAM, NATIONAL INSTITUTE OF STANDARDS AND TECHNOLOGY (NIST)

Wenn Superflüssigkeiten rotieren, bilden sich so genannte


Quantenwirbel. Die theoretische Simulation zeigt vier
Wirbel, die sich durch ein Bose-Einstein-Kondensat
schlängeln, sowie zwei neue Wirbel, die am Rand entste-
hen. Die Farben zeigen die quantenmechanische Phase
um jeden Wirbel an.

50 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


ngenommen, Sie schnurren noch existieren, haben sie jegliche Indivi-

A durch Zauberei auf die Größe ei-


nes Moleküls zusammen und
können die Bewegung einzelner
Atome in einem Gas beob-
achten. Die Partikel vor Ihnen gleichen
unzerbrechlichen Glasmurmeln, die in ei-
nem nahezu leeren Raum umherflitzen und
dualität verloren.
Meist bleiben die bizarren Eigenschaf-
ten der Quantenmechanik hinter der Fassa-
de der klassischen Physik verborgen. Wir
verwechseln diese Fassade mit der Wirk-
lichkeit selbst, und daher rühren unsere all-
täglichen Vorstellungen, wie die Welt funk-
unaufhörlich voneinander abprallen. Viel- tioniert: Für uns hat jedes Objekt seine
leicht fällt Ihnen bei dem Anblick die Be- wohldefinierte Position, Bewegung und
schreibung des idealen Gases aus Ihrer Identität, und sein Verhalten ist durch deter-
Schulzeit ein. ministische Gesetze exakt festgelegt.
Auf einmal bemerken Sie, dass die Mur- Hingegen widersetzt sich das Wesen der
meln weniger hektisch hin und her rasen. Quantenmechanik unserer Anschauung: Ort
Aha! Irgendein Prozess kühlt das Gas all- und Bewegung von Teilchen sind grund-
mählich ab. Zunächst verlieren die Mur- sätzlich ungewiss und von Wahrscheinlich-
meln nur an Geschwindigkeit und rücken keiten bestimmt. Sogar die Vorstellung,
näher zusammen: Die Dichte des Gases dass die Dinge eine unverkennbare Identität
nimmt beim Abkühlen zu. Aber dann sehen besitzen, muss für Quantenteilchen aufge-
Sie zu Ihrer Überraschung, dass die Mur- geben werden. Ein Bose-Einstein-Konden-
meln selbst sich verändern. Die Größe der sat ist eine Ansammlung von Materie, die in
langsamsten wächst auf das Tausendfache, kaum je zuvor beobachteter Deutlichkeit ei-
und ihre zuvor spiegelklare Oberfläche ist nem rein quantenmechanischen Verhaltens-
nun ganz unscharf geworden. Diese immer muster folgt.
schemenhafteren Atome durchdringen ei- Besonders bemerkenswert ist das enor-
nander, manchmal ohne Ablenkung, dann me Ausmaß solcher Kondensate – 100000-
wieder mit einem Rückstoß, als wären sie mal ausgedehnter als die größten gewöhn-
mit etwas Hartem im Innern kollidiert. lichen Atome, sogar größer als menschliche
Direkt vor Ihnen überlappen sich zwei Zellen. Daher können die Physiker das
der langsamsten, verschwommensten Ato- Quantenverhalten eines Kondensats in
me und scheinen zu einem einzelnen größe- normalerweise undenkbarer Anschaulich-
ren Bläschen zu verschmelzen. Dieses El- keit beobachten. So betont Steven L. Rolston
lipsoid absorbiert weitere Atome einzeln, vom National Institute of Standards and
paarweise oder gleich im Dutzend, und mit Technology (NIST) in Gaithersburg (US-
verblüffender Plötzlichkeit bleibt von all Bundesstaat Maryland): „Unsere Aufnah-
dem Wirrwarr nur eines übrig: ein riesiger men von Bose-Einstein-Kondensaten sind
bewegungsloser Zeppelin. Was ist mit all echte Bilder von quantenmechanischen Wel-
den einzelnen Atomen passiert? Was für ein lenfunktionen – wir können wirklich die
mysteriöses Objekt ist das? Quantenmechanik in Aktion erleben.“
Vor Ihnen schwebt ein rein quantenme- Gasförmige Bose-Einstein-Kondensate
chanisches Gebilde, ein so genanntes Bose- wurden zum ersten Mal 1995 im Labor er-
Einstein-Kondensat, die kälteste Form eines zeugt – immerhin erst siebzig Jahre, nach-
Gases im Universum. Und obwohl die ato- dem Albert Einstein, ausgehend von Arbei-


maren Bestandteile in diesem Gas immer ten des indischen Physikers Satyendra Nath

a b c d
KIRK MADISON, ECOLE NORMALE SUPERIEURE, PARIS

Ein Kondensat aus Rubidium-Atomen wird durch „Umrühren“ mit einem rotierenden
Laser in Drehung versetzt und bildet allmählich ein regelmäßiges Wirbelgitter aus.
Anfangs rotiert das Kondensat überhaupt nicht (a), bis das Umrühren stark genug ist,
einen vollständigen Wirbel zu erzeugen (b), in dem jedes Atom ein Drehimpulsquant
besitzt. Schnelleres Rühren erhöht die Drehung und erzeugt weitere Quantenwirbel –
in den hier gezeigten Fällen acht (c) und zwölf (d). In den dunklen Wirbelkernen ist
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 51
die Rotation am schnellsten und die Gasdichte am geringsten.
QUANTENPHYSIK

Makroskopische Quantenzustände

Verwandte des Bose-Einstein-Kondensats


Die 1995 erzeugten Kondensate waren nicht die ersten unter bestimmten Bedingungen, zum Beispiel in Aluminium
Beispiele für Bose-Einstein-Kondensation. Zu ihren bereits unterhalb von 1,2 Kelvin. Solche Paare sind Bosonen und
länger bekannten Verwandten gehören: bilden bereitwillig ein Quantenkondensat. Durch den Paa-
rungsmechanismus und die elektrische Ladung der Paare
Superflüssiges Helium. Flüssiges Helium-4 wird bei Abküh- unterscheiden Supraleiter sich stark von einem neutralen,
lung auf weniger als 2,2 Kelvin superfluid. Die Flüssigkeit verdünnten Kondensat. Ein ähnlicher Paarungs- und Kon-
fließt ohne jede Viskosität und bietet unter anderem das densationsprozess tritt in superfluidem
verblüffende Schauspiel des Helium-Springbrunnens Helium-3 auf, dessen Atome Fermio-
(rechts). Der Grund ist, dass bei einem Teil – bis zu 10 nen sind.
Prozent – der Heliumatome Bose-Kondensation eintritt. We-
gen des starken Zusammenhalts der Atome in der Flüssig- Exzitonen. In Halbleitern kann sich
keit ist es kaum möglich, die Quanteneigenschaften des ein fehlendes Elektron wie ein positiv
Kondensat-Anteils theoretisch und experimentell zu unter- geladenes Teilchen – ein „Loch“ – ver-
suchen. halten. Werden ein Loch und ein Elek-
tron durch einen Laserpuls erzeugt, so
Laser. Die Laserstrahlung hat viel mit einem Bose-Einstein- können beide für kurze Zeit einen ge-
Kondensat gemein. In gewöhnlichem Licht – etwa dem meinsamen Paarzustand bilden, ein so
einer Glühbirne – sind die Lichtwellen nicht synchronisiert; genanntes Exziton. Im Jahre 1993
doch in einem Laser schwingen alle Wellen in Phase, das wurde beobachtet, dass Exzitonen in
heißt ihre Berge und Täler stimmen exakt überein. Quanten- einem Kupferoxid-Halbleiter ein kurz-
physikalisch ausgedrückt gehören die Lichtquanten – die lebiges gasförmiges Kondensat bilden

JOHN F. ALLEN, UNIVERSITY OF ST. ANDREWS


Photonen – zum Teilchentyp der Bosonen, die bestrebt sind, können.
denselben Quantenzustand einzunehmen. Der Verstärkungs-
prozess, der einen Laserstrahl erzeugt, macht sich diese
Neigung von Bosonen zu Nutze. Durch die Heizspule wird ein
Heliumspringbrunnen in Gang gesetzt
Supraleiter. Die Bose-Kondensation von Elektronenpaaren – ein spektakuläres Anschauungsbei-
liegt der Supraleitung – dem widerstandsfreien Stromfluss – spiel für Superfluidität. Bis zu einem
zu Grunde. Da ungepaarte Elektronen nicht Bosonen sind, Zehntel des Heliums bildet ein
sondern Fermionen, können sie kein Bose-Kondensat bil- flüssiges Bose-Einstein-Kondensat.
den. Schwach gebundene Elektronenpaare entstehen nur

Bose, das Phänomen vorhergesagt Doch Kondensate sind nicht nur bei- nimmt es ein höchst merkwürdiges Ver-
hatte (siehe „Die Bose-Einstein-Kon- spielhafte Quantensysteme, sondern ver- halten an. Wie der sowjetische Physiker
densation“ von Eric A. Cornell und Carl körpern auch eine eigentümliche Mi- Pjotr Kapiza und der Kanadier John F.
E. Wieman, Spektrum der Wissenschaft schung mehrerer großer Forschungsge- Allen 1938 entdeckten, wird Helium un-
5/1998, S. 44). Die Experimentatoren biete: Atomphysik (einzelne Atome), terhalb dieser Temperatur superfluid: Es
produzieren diese Kondensate in so ge- Quantenoptik (Laserstrahlen und ihre fließt ohne jede Viskosität und vermag
nannten Atomfallen – Anordnungen von Wechselwirkung) sowie Vielteilchenphy- am Rand eines offenen Behälters empor
Laserstrahlen und Magnetfeldern, die sik (Festkörper, Flüssigkeiten und Gase) und aus ihm heraus zu kriechen. Diesen
eine stark verdünnte Wolke von Atomen einschließlich der technologisch wichti- Effekten liegt die Bose-Einstein-Kon-
in einer Vakuumkammer einfangen, fest- gen Erforschung des Elektronenflusses densation zu Grunde (siehe Kasten auf
halten und abkühlen (siehe Kasten auf in Metallen und Halbleitern. dieser Seite).
Seite 55). Der renommierte Atomphysi- Die Experimentalphysiker wüssten
ker Daniel Kleppner vom Massachusetts Superflüssiges Helium nur zu gern, ob auch die gasförmigen
Institute of Technology (MIT) nennt die Kondensate Superfluidität zeigen, aber
Erzeugung dieser Kondensate „die aufre- Der vorliegende Artikel vermag nur ein die Antwort zu finden erweist sich als
gendste Einzelentwicklung in der Atom- paar Beispiele für die erstaunlichen ex- ausgesprochen schwierig. Superflüssiges
physik seit Entwicklung des Lasers“. perimentellen Kunststücke zu geben, die Helium lässt sich in so großen Mengen
Forschergruppen in aller Welt, einige den Physikern mit Bose-Einstein-Kon- produzieren, dass man sein seltsames
geleitet von Nobelpreisträgern und künf- densaten gelungen sind. Die Ergebnisse Verhalten mit bloßem Auge beobachten
tigen Laureaten, erforschen seit fünf beleuchten einige Facetten dieser Quan- kann. Die neuen Kondensate sind hinge-
Jahren mit Feuereifer das exotische Ge- tenobjekte: ihr Verhalten als Superflüs- gen winzige Gaswölkchen, kaum gehalt-
biet, das durch diesen Durchbruch zu- sigkeit wie in flüssigem Helium, als prä- voller als Vakuum, und werden von Ma-
gänglich geworden ist. Sie tasten die zise kontrollierbares atomares Gas und gnetfeldern höchstens ein paar Minuten
Kondensate mit Laserstrahlen ab, variie- als eine Art Laserstrahl, der statt aus lang zusammengehalten. Was würde es
ren die Fallen, die sie zusammenhalten, Licht aus Materie besteht. für einen derart hauchzarten Dampf
und beobachten, wie das Gas gemäß den Wird flüssiges Helium auf weniger überhaupt bedeuten, superfluid zu sein?
Quantengesetzen hüpft, schaukelt und als 2,2 Kelvin (Grad über dem absolu- Ein einzigartiger Effekt sind die in
vibriert. ten Temperaturnullpunkt) abgekühlt, so einer rotierenden Superflüssigkeit entste-

52 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


henden Quantenwirbel. Wenn man einen Im Jahre 1999 produzierten Carl E.
Eimer mit gewöhnlichem flüssigem He- Wieman und Eric A. Cornell am JILA Glossar
lium auf einem Drehtisch rotieren lässt, (Joint Institute for Laboratory Astrophy-
folgt nach einer Weile das gesamte Heli- sics) in Boulder (Colorado) erstmals Fermionen sind Quantenteilchen,
die ihresgleichen meiden: Zwei
um – ganz ähnlich wie Wasser – der Ro- Wirbel in Bose-Einstein-Kondensaten
Fermionen können niemals am sel-
tation des Eimers. Hingegen bilden sich mit einer Methode, die James E. Willi- ben Ort denselben Quantenzustand
in superfluidem Helium separate, regel- ams und Murray J. Holland vorgeschla- einnehmen. Zu ihnen zählen Elek-
mäßig angeordnete Quantenwirbel. Der gen hatten. Sie erzeugten zunächst ein tronen, Protonen und Neutronen.
kleinstmöglichen Rotation entspricht ein doppeltes Kondensat: zwei überlappende
einziger Wirbel, der sich in der Mitte des Kondensate aus demselben Element (Ru- Bosonen sind das schiere Gegen-
Heliums rasch und am Behälterrand nur bidium), aber in etwas unterschiedlichen teil: Sie streben danach, sich zu
langsam dreht. Wenn man versucht, die Quantenzuständen. möglichst vielen in demselben
Superflüssigkeit noch langsamer rotieren Die Forscher bestrahlten das doppel- Quantenzustand zu versammeln.
zu lassen, bleibt sie völlig bewegungslos. te Kondensat mit Mikrowellen und ei- Zu ihnen gehören die Photonen
Diese Effekte treten auf, weil die nem Laser und erreichten, dass einem (Lichtquanten). Auch zusammen-
Atome im Kondensat stets in ein und der Kondensate genau die zur Ausbil- gesetzte Teilchen, insbesondere
demselben Quantenzustand sind und da- dung eines Wirbels erforderliche quan- Atome, sind entweder Bosonen
her alle den gleichen Drehimpuls besit- tenmechanische Phase aufgeprägt wur- oder Fermionen. Ein Atom aus ei-
zen müssen. Doch der Drehimpuls kann de. Dieser Prozess, der für einen klassi- ner geraden Anzahl von Protonen,
nur diskrete Quantenwerte annehmen. schen Physiker gar nicht aussieht, als Neutronen und Elektronen ist ein
Im bewegungslosen Zustand haben alle würde auch nur ein Atom bewegt, er- Boson.
Atome Drehimpuls null; in einem Wirbel zeugt den rotierenden Wirbelzustand. In-
besitzen sie gerade ein Drehimpulsquant. dem die Forscher beobachteten, wie die Bose-Einstein-Kondensation tritt
beiden Kondensate miteinander interfe- auf, wenn eine Ansammlung von
gleichartigen Bosonen genügend
rierten, konnten sie die Quanteneigen-
abgekühlt und verdichtet wird,
schaften des Wirbels direkt nachweisen; ohne einen Festkörper zu bilden.
dies war in sechzig Jahren Arbeit mit su- Im Kondensat nehmen alle Boso-
perfluidem Helium noch nie gelungen. nen ein und denselben Quantenzu-
Später im selben Jahr vermochte stand ein.
Jean Dalibard an der École Normale Su-
perieure in Paris erstmals quasi mit der
Methode des rotierenden Eimers Wirbel
zu erzeugen. Dalibards Gruppe bewegte von Supraleitern – keinerlei elektrischen
einen Laserstrahl rund um den Rand der Widerstand aufzuweisen – zunichte. Un-
Atomfalle und schuf damit eine Art ro- tersuchungen an Bose-Einstein-Konden-
tierende Verzerrung ihrer Gestalt. Diese saten könnten helfen, dieses Problem in
Forscher konnten Anordnungen von bis den Griff zu bekommen.
zu 14 Wirbeln abbilden. Im September
1999 publizierten sie Drehimpuls-Mes- Manipulierbare Wechselwirkungen
sungen: In Übereinstimmung mit der von Atomen
Theorie ist der Wert null, bis der erste
Wirbel erscheint, und springt dann sofort In superfluidem Helium haben die Wir-
auf ein ganzes Drehimpulsquant. belkerne nur ein Zehntel Nanometer
Die Quantendynamik solcher Wirbel (millionstel Millimeter) Durchmesser
ist nicht nur für die Grundlagenfor- und lassen sich darum kaum im Detail
schung interessant, sondern auch für die untersuchen. Doch die Kerne der in Co-
Technik der Hochtemperatur-Supralei- lorado und Paris beobachteten Wirbel
MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG VON RUSSELL DONNELLY, UNIVERSITY OF OREGON

tung: Magnetfelder durchdringen diese sind etwa 5000-mal größer, denn gasför-
Materialien, indem sie darin eine Anord- mige Kondensate haben im Vergleich zu
nung von elektrischen Stromwirbeln er- flüssigem Helium extrem geringe Dichte,
zeugen. Die Bewegung derartiger Fluss- und ihre Atome treten nur sehr schwach
wirbel führt zu Leistungsverlusten und in Wechselwirkung miteinander.
macht damit die attraktivste Eigenschaft An der Dichte und den Wechselwir-
kungen von flüssigem Helium lässt sich
so gut wie gar nichts ändern, aber die
Die zwischen den Atomen eines
Kondensats wirkenden Kräfte
Dichte von gasförmigen Bose-Einstein-
verändern dessen Größe und Gestalt. Kondensaten kann durch Straffen oder
Hier variierten die Forscher die Lockern der Magnetfallen, die das Gas
Kräfte von stark abstoßend (oben) festhalten, variiert werden. Außerdem ist
bis fast null (unten). Werden die es möglich, die Wechselwirkungen in
Kräfte weiter verändert, bis sie gasförmigen Kondensaten buchstäblich
schließlich schwach anziehend
werden, so kollabiert das Kondensat
durch Drehen an einem Einstellknopf zu
und explodiert wie eine winzige verändern. Diese Fähigkeit ist der Traum
Supernova. jedes Experimentators: Man stelle sich

vor, wie die chemische Forschung aussä-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 53


QUANTENPHYSIK

anziehende Atome überhaupt ein Kon-


densat zu bilden vermögen.
Die Wechselwirkungen der Atome
können durch so genannte Feshbach-Re-
sonanzen verändert werden; der Kern-
physiker Herman Feshbach vom MIT
Atomlaser sind im Wesent-
lichen Kondensate, die sich
untersuchte in den sechziger Jahren ein
bewegen. Da alle Atome des analoges Phänomen bei kollidierenden
Kondensats im selben Atomkernen. In einem ultrakalten Gas
Quantenzustand sind, verformt ein starkes Magnetfeld die Ato-
entsprechen sie den me und bewirkt bei bestimmten Feldstär-
Lichtquanten der kohären- ken eine Resonanz zwischen zwei kolli-
ten Strahlung, die ein
optischer Laser erzeugt. Der
dierenden Atomen. In einem Kondensat
erste Atomlaser (links) spüren die Atome die Wirkung dieser
wurde von der Schwerkraft Resonanzen fortwährend, weil ihre Wel-
„angetrieben“. Am oberen lenfunktionen einander überlappen; die
Bildrand ist das Kondensat Resonanzen modifizieren die Kräfte zwi-
als kleines Kügelchen zu schen den Atomen, wobei die stärksten
erkennen; es wird mit
gepulsten Radiowellen
Effekte in der Nähe der Resonanz-Ma-
bestrahlt, die Teile des gnetfeldstärke auftreten.
Kondensats – die sichelför- Eine Schwierigkeit ist freilich, dass
migen Gebilde – freisetzen. ein starkes Magnetfeld den magneti-
Die Abstoßung zwischen den schen Einschluss der Atome zunichte
Natriumatomen ist verant- machen kann. Wolfgang Ketterles Grup-
wortlich für die Form und
die Expansion dieser
pe am MIT löste dieses Problem 1998,
STEVEN L. ROLSTON, NIST

Gebilde. Im ersten gerichte- indem sie Natrium-Kondensate aus einer


ten Atomlaser (oben) Magnetfalle in eine Laserfalle übertrug.
wurden die Atome mit Aber obwohl es der MIT-Gruppe gelang,
Laserstrahlen seitlich aus den Effekt der Feshbach-Resonanzen zu
der Falle herausgetrieben. beobachten, waren detailliertere Unter-
suchungen unmöglich: Als das Magnet-
feld auf einen Wert in der Nähe einer
he, wenn wir die Bindungen zwischen wirkt. Darum werden in Experimenten Resonanz hochgefahren wurde, zerfiel
den Atomen nach Belieben schwächen mit abstoßendem Rubidium-87 oder Na- das Natrium-Kondensat zur großen
oder verstärken könnten. trium stets Millionen Atome gleichzeitig Überraschung der Forscher innerhalb
Die Atome in einem gasförmigen kondensiert, und die Kondensate können weniger tausendstel Sekunden.
Kondensat erfahren je nach Sorte eine zwanzigmal größer sein als wenn es kei- Langlebige Kondensate mit variier-
schwache wechselseitige Abstoßung ne Abstoßung gäbe. Umgekehrt begrenzt barer Wechselwirkung wurden Anfang
oder Anziehung. Beispielsweise stoßen die Anziehung die Lithium-7-Kondensa- 2000 von Cornell und Wieman mittels
Natrium-, Rubidium-87-oder Wasser- te von Randall G. Hulets Gruppe an der Rubidium-85 und einer konventionellen
stoff-Atome ihresgleichen ab. Lithium-7- Rice University in Houston (Texas) auf Magnetfalle entwickelt. Normalerweise
und Rubidium-85-Atome dagegen wir- etwa 1500 Atome. Oberhalb dieser Grö- verhindert die anziehende Wechselwir-
ken anziehend auf einander. Obwohl die- ße zieht sich das Kondensat zusammen kung von Rubidium-85 ein Wachstum
se Kräfte winzig sind, modifizieren sie und wird so dicht, dass die Atome durch des Kondensats auf mehr als kümmerli-
zahlreiche Eigenschaften eines Konden- Kollisionen aus der Falle herausge- che 80 Atome. Doch indem die Gruppe
sats – zum Beispiel seine innere Energie, schleudert werden. Diese Ergebnisse las- aus Colorado mit Hilfe der Feshbach-Re-
seine Größe, seine Schwingungsmoden sen sich neuerdings durch raffinierte sonanzen die Kräfte abstoßend machte,
und sein Entstehungstempo. Vor allem theoretische Modelle gut erklären, aber gelang es ihr, stabile Kondensate aus bis
stabilisiert Abstoßung ein Kondensat, noch Anfang der neunziger Jahre be- zu 10 000 Atomen und mit einer Lebens-
während Anziehung destabilisierend zweifelten die Physiker, dass einander dauer bis zu zehn Sekunden herzustellen.

54 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Der spektakulärste Effekt trat auf, als reits allerlei wissenschaftliche und indu- zehnten eine ähnlich vielfältige Zukunft
die Gruppe die künstliche Abstoßung all- strielle Anwendungen, so in Atomuhren, winkt. Allerdings türmen sich gewaltige
mählich reduzierte. Wie theoretisch vor- bei der Präzisionsmessung von Natur- Hindernisse auf diesem hypothetischen
hergesagt, schrumpfte das große Kon- konstanten und bei der Produktion von Weg, vor allem weil Atomstrahlen – an-
densat zusammen und wurde dichter. Computer-Chips. Aber all diesen Strah- ders als Laserstrahlen – zu ihrer Fort-
Schließlich – etwa fünf Millisekunden, len mangelt es an der Intensität und Ko- pflanzung ein Vakuum brauchen.
nachdem die Wechselwirkung wieder at- härenz eines Atomlasers – so wie es ge- Die ersten Atomlaser erzeugten ihre
traktiv geworden war – explodierte das wöhnlichem Licht an der Stärke und Ko- Pulse und Strahlen ganz anders als opti-
Kondensat; Wieman taufte dieses Phäno- härenz und somit der vielfältigen Ver- sche Laser; deshalb meinten manche so-
men wegen seiner vagen Ähnlichkeit mit wendbarkeit eines Laserstrahls mangelt. gar, die Bezeichnung Laser sei in diesem
der Implosion, die explodierende Sterne Mit Kohärenz ist gemeint, dass alle Ato- Fall irreführend. Im Wesentlichen ist ein
antreibt, scherzhaft „Bose-Nova“. Die me oder Photonen eines Strahls sich in Atomlaser nichts anderes als ein kohä-
Explosionen schleuderten ungefähr ein quantenphysikalischem Gleichtakt bewe- rentes und sich frei bewegendes Stück
Drittel der Kondensat-Atome aus der gen: Die zugehörigen Wellen schwingen Bose-Einstein-Kondensat. Die Atome ei-
Falle und ließen ein Restkondensat zu- in Phase. nes Kondensats werden in der Magnet-
rück, das von einer heißen Atomwolke falle festgehalten, weil sie auf Grund ih-
umgeben war – sofern man eine Tempe- Vom Kondensat zum Atomlaser res Spins selbst als winzige magnetische
ratur von einem zehnmillionstel Grad Dipole wirken. Wenn präzise abgestimm-
heiß nennen mag. Es dauerte Jahrzehnte, bis der Laser – te Radiowellen die atomaren Spins um-
Eine mögliche Anwendung der 1960 lediglich ein esoterisches Experi- kippen, werden die Atome gegen das um-
Wechselwirkungsabstimmung in Kon- mentiergerät – zum fast allgegenwärti- gebende Feld immun. Diesen Effekt
densaten ist das Erzeugen spezieller gen Bestandteil der Unterhaltungselek- nutzte Ketterle 1997 am MIT, um den
Atomstrahlen, so genannter Atomlaser. tronik wurde. Einige Forscher glauben, ersten Atomlaser zu verwirklichen. Er


Gewöhnliche Atomstrahlen finden be- dass dem Atomlaser in kommenden Jahr- bestrahlte ein Natrium-Kondensat mit

Quanten-Kühler

Geräte zum Kühlen und Einfangen von Atomen


Laserkühlung. Um ein gasförmiges Bose-Einstein-Konden- gasförmigen Kondensats verwendeten, wurde von verschie-
sat zu erzeugen, muss ein verdünntes atomares Gas in einer denen Gruppen übernommen. Die Magnetspulen erzeugen
Vakuumkammer auf extrem tiefe Temperaturen gekühlt wer- ein Feld, das allerdings an einem Punkt verschwindet; von
den. Der erste Schritt ist fast immer die Laserkühlung: dort könnten darum Atome aus der Falle entweichen. Durch
Laserstrahlen bremsen die Bewe- schnelles Rotieren des Feldes wer-
gung der Atome so stark ab, dass den die Atome jedoch innerhalb der
deren Temperatur nur noch rund 50 Kreisbahn des Lecks eingeschlos-
Mikrokelvin (millionstel Grad über sen und bilden beim Kondensieren
dem absoluten Nullpunkt) beträgt. ein Ellipsoid.

Magneto-optische Falle. Sie kombi- Ioffe-Pritchard-Fallen. Solche Gerä-


niert Laserkühlung und Einfangen te – benannt nach dem russischen
von Atomen durch Magnetfelder. Physiker M. S. Ioffe, dessen Ioffe-
Die Magnetfelder komprimieren das Falle zum Einfangen von Plasma
Gas. Oft werden zwei solche Fallen aus geladenen Ionen diente, und
hintereinander verwendet – die ers- David Pritchard vom MIT – erzeu-
te vor allem zum Einfangen, die gen ein Einfangfeld ohne Leck. Sie
STEVEN L. ROLSTON, NIST

zweite speziell zum Kühlen der sind die wichtigste Alternative zu


Atome. den TOP-Fallen. Ihre Magnetfelder
werden mittels Strom erzeugt, der
Verdampfungskühlung. Die letzte durch vier parallele Stäbe fließt
Kühlstufe bei Experimenten an oder durch Spulen, die wie der
Bose-Einstein-Kondensaten ähnelt Buchstabe D, die Nähte eines
dem Abkühlen einer Tasse Kaffee: Kristian Helmerson vom National Institute Baseballs oder vierblättrige Klee-
of Standards and Technology in Gaithers-
Während ein Magnetfeld die Atome blätter geformt sind.
burg (Maryland) beobachtet leuchtende
zusammenhält, werden die heißes- Natriumatome, die in einer magneto-
ten Atome kontinuierlich entfernt, optischen Falle zusammengehalten Permanentmagnet-Falle. Dieser
sodass immer kälteres Gas zurück- werden. Ein durch Stromspulen erzeugtes Typ von Ioffe-Pritchard-Fallen er-
bleibt. Im Gegensatz zur Laserküh- Magnetfeld sowie aus sechs Richtungen zeugt die Felder mit Permanentma-
lung funktioniert die Verdampfungs- eindringende Laserstrahlen bewirken gneten. Randall G. Hulets Gruppe
kühlung am besten bei höheren Einschluss, Kühlung und Kompression des an der Rice University in Houston
Dichten. atomaren Gases. (Texas) verwendet diesen Fallentyp,
um Kondensate in Lithium zu pro-
TOP-Falle. Die time-averaged orbiting potential trap (Falle duzieren. Da die Permanentmagnete nicht ausgeschaltet
mit zeitlich gemitteltem kreisendem Potential), die Eric A. werden können, lässt das Kondensat sich nur am Entste-
Cornell und Carl E. Wieman 1995 zur Erzeugung des ersten hungsort beobachten.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 55


QUANTENPHYSIK

gepulsten Radiowellen. Die Atome mit kohärente – Atomstrahlen, die mit ande- Das „a“ in Laser steht für „amplifica-
umgeklapptem Spin fielen einfach aus ren Techniken erzeugt worden waren. tion“ (Verstärkung), aber bei den bisher
der Falle heraus; so entstanden sichelför- Etwa zur selben Zeit bauten William beschriebenen Atomlasern findet die ein-
mige Kondensat-Pakete, die nur durch D. Phillips und Steve Rolston am NIST zige nennenswerte Verstärkung bei der
die Schwerkraft in Bewegung versetzt erstmals einen Atomlaser, der nicht nur anfänglichen Erzeugung der Bose-Ein-
wurden. in Abwärtsrichtung funktionierte. Opti- stein-Kondensate statt, wenn die Atome
Ende 1998 konstruierte die Gruppe sche Laserpulse trieben Atome aus dem im Laufe der Kondensation „verstärkt“
von Theodor Hänsch an der Universität Kondensat und durch ein kreisendes den gemeinsamen Quantenzustand be-
München ein ähnliches System, das ei- Loch am Rand der Falle ins Freie. Eine setzen. Eine echte Verstärkung der
nen kontinuierlichen Strahl aus Rubidi- exakt mit der Rotation des Lochs syn- Atomlaser-Strahlen – eine so genannte
um-Atomen emittierte (siehe Spektrum chronisierte Folge von Laserpulsen schuf Materiewellen-Verstärkung – gelang erst
der Wissenschaft 7/2000, S. 23). Die einen eng gebündelten und praktisch Ende 1999 einer von Ketterle und Prit-
Münchner Gruppe schätzte, dass ihr kontinuierlichen Strahl; ein Bericht chard geleiteten Gruppe am MIT sowie
Atomstrahl mehr als eine Million Mal sprach von einer „atomaren Strahlenka- unabhängig davon Takahiro Kuga an der
intensiver war als ähnliche – aber nicht- none mit laserähnlicher Präzision“. Universität Tokio.

Wasserstoff-Papst

Der Pate des Bose-Einstein-Kondensats


E in oder zwei Jahre nach der Erzeugung der ersten Kon-
densate wurde Daniel Kleppner bei Konferenzen als
„Pate der Bose-Einstein-Kondensate“ vorgestellt. Als deren
serstoff arbeitete. „Ich fand die Idee verrückt“, erinnert sich
Kleppner, aber ein junger Professor namens Thomas Greytak
stimmte ihn um. Seitdem arbeiten die beiden zusammen.
„Vater“ konnte er schließlich nicht durchgehen, denn seine In spinpolarisiertem Wasserstoff sind die Spins aller Ato-
eigene Gruppe hatte leider noch immer kein Kondensat me gleich ausgerichtet; den Spin kann man sich als winzige
erzeugt. Und doch hielt er seine väterliche Hand über dem magnetische Kompassnadel vorstellen, die jedes Atom mit
Gebiet – als Pionier, als weiterhin aktiver Teilnehmer und als sich führt. Ein derartiges Gas ist so reaktionsträge wie Heli-
Mentor der jungen Aufsteiger, die ihm den Heiligen Gral um, da zwei Wasserstoffatome exakt entgegengesetzte
weggeschnappt hatten. Spins haben müssen, um ein Molekül zu bilden. Als einziges
Die drei Gruppen, die 1995 und 1996 die ersten Quan- von allen Elementen sollte diese Form von Wasserstoff bis
tenkondensate schufen, wurden von Kleppners Schülern hinab zum absoluten Nullpunkt gasförmig bleiben.
und deren Schülern geleitet. Wieman hatte Anfang der sieb- Hoffnungsvoll versuchten Kleppner und Greytak am MIT
ziger Jahre als Student in Kleppners La- sowie Konkurrenten an der Universität Amsterdam gegen
bor gearbeitet. Cornell war ein Dokto- Ende der siebziger Jahre, ein Bose-Einstein-Kondensat in
rand von Pritchard, der wiederum ein spinpolarisiertem Wasserstoff zu erzeugen; sie ließen sich
Doktorand von Kleppner war. Ketterle nicht träumen, wie lange die Suche dauern würde und dass
arbeitete unter Pritchard zunächst an ausgerechnet Kondensate aus metallischen Atomen ihnen
kalten Atomen. Hulet war Doktorand in die Show stehlen sollten.
Kleppners Gruppe, ebenso wie der No-
belpreisträger Phillips, dessen Gruppe
1998 ein Bose-Einstein-Kondensat er-
zeugte.
A uch wenn Kleppners Gruppe nicht als erste durchs Ziel
lief, gelangen ihr doch mehrere ganz entscheidende
Fortschritte, so 1987 der Nachweis des Verdampfungsküh-
lens an spinpolarisiertem Wasserstoff – eine Meisterleis-
Daniel Kleppner nahm – im Wettstreit tung, die die Alkaliatom-Gruppen erst sieben Jahre später
mit einer holländischen Gruppe – schon wiederholen konnten. Bis 1991 war die Kleppner-Greytak-
1976 die Suche nach Bose-Einstein- Gruppe bis auf einen Faktor drei an die zur Kondensation
SAM OGDEN

Kondensation in Wasserstoff auf: „Es hat erforderliche Temperatur und Dichte herangekommen, wäh-
etwas länger gedauert als erwartet.“ rend die Alkaliatome damals um den Faktor eine Million
zurücklagen. Leider standen an diesem Punkt einige ver-
Als Kleppners frühere Studenten ihre spektakulären trackte Eigenschaften von Wasserstoff im Weg; unter ande-
Kondensate aus den Alkaliatomen Rubidium, Natrium und rem erwies es sich als schwierig, zum Nachweis eines Kon-
Lithium erzeugten, schlug Kleppner sich noch immer mit densats wichtige Eigenschaften des Gases zu messen. Bei
dem Atom seiner Wahl herum: Wasserstoff. Damit hatte er den Alkaliatom-Gasen können dafür sichtbares Licht und
schon in den späten fünfziger Jahren als Doktorand und normale Lasertechnik eingesetzt werden; doch das entspre-
Postdoc an der Harvard University begonnen. Dort war er chende Licht für Wasserstoff ist ultraviolett und erfordert
mit Norman Ramsey an der Erfindung des Wasserstoff- viel umständlichere Methoden.
Masers beteiligt; dieser Verwandte des Lasers arbeitet im Im Juni 1998 riefen zwei von Kleppners Studenten ihn
Mikrowellenbereich und dient unter anderem für Hochpräzi- spät abends an: Er solle rasch ins Labor kommen. Endlich
sionsmessungen, zum Beispiel bei Tests der Einsteinschen war ein Bose-Einstein-Kondensat in Wasserstoff beobachtet
Relativitätstheorie. Im Jahre 1996 zog Kleppner von der worden. Einen Monat später gab Kleppner auf einer Konfe-
Harvard University zum MIT, wo er nun geschäftsführender renz im italienischen Varenna den Erfolg seiner Gruppe be-
Direktor am Forschungslabor für Elektronik ist. kannt. Die anwesenden Experten – Kollegen, Konkurrenten
Auf das Bose-Einstein-Thema ließ Kleppner sich um und frühere Studenten – feierten den stolzen Wegbereiter
1976 ein, als er mit so genanntem spinpolarisiertem Was- mit stehenden Ovationen.

56 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


CHRIS H. GREENE, UNIVERSITY OF COLORADO, BOULDER

Materiewellen-Verstärkung bedeutet
keineswegs, dass der Verstärkungsvor- Durch geeignete Laser-
anregung könnte in einem
gang aus Energie Materie erzeugt. Viel- Rubidium-Kondensat ein
mehr wird in einem Bose-Einstein-Kon- künstliches Molekül erzeugt
densat ein kleiner Atomlaser-Puls er- werden, das tausendmal
zeugt, und dieser Puls wird verstärkt, größer wäre als das natür-
wenn zusätzliche Kondensat-Atome ih- liche zweiatomige Rubidium-
rer Bose-Natur gehorchen und sich hin- Molekül. Die goldfarbenen
Kurven der Computergrafik
zugesellen. Die gleichzeitige Streuung zeigen die Dichte der Elektro-
von Licht aus einem gepumpten Laser- nenwolke, welche die Bindung
strahl garantiert, dass Impuls und Ener- bewirkt. Die blaue Kugel ist
gie erhalten bleiben. eines der Atome; das andere
Dass Materiewellen-Verstärkung auf ist durch die „Zwillingstürme“
diese Weise möglich ist, erkannte die verdeckt. Zwar haben mehrere
Forscher durch Laseranregung
MIT-Gruppe Anfang 1999, als sie auf ei- in Kondensaten gewöhn-
nes ihrer zigarrenförmigen Kondensate lichere ultrakalte Moleküle
einen polarisierten Laserstrahl richtete; erzeugt; doch bislang ist ihnen
zur Überraschung der Forscher traten noch kein Kondensat aus
Atomhäufchen unter 45 Grad aus, und Molekülen gelungen.
aus beiden Enden der „Zigarre“ fielen
Lichtstrahlen. Dabei handelte es sich
um Streuprozesse mit einem gewissen
Verstärkungseffekt; insofern glichen sie Lichtstrahlen – mit absoluter Höchstge- gie in Stockholm spekulierten 1999, dass
der so genannten Superradianz, einer schwindigkeit aus: 300 000 Kilometer verlangsamtes Licht, das einen Wirbel in
Form von lawinenartiger Strahlungsver- pro Sekunde. In einem Medium pflanzt einem Kondensat streift, als Miniaturmo-
stärkung. Licht sich langsamer fort: in Wasser mit dell für Prozesse in der Umgebung von
ungefähr drei Viertel und in normalem rotierenden Schwarzen Löchern dienen
Nichtlineare Optik Glas mit zwei Drittel der Vakuumlichtge- könnte. Beispielsweise könnte das Licht
und gebremstes Licht schwindigkeit. in den Wirbelkern hineingezogen werden
Im Jahre 1999 bremste Lene Vester- – insbesondere dann, wenn der Strahl
Bei diesen Prozessen verhalten die Kon- gard Hau vom Rowlands Institute for sich gegen den Rotationsfluss bewegt.
densate sich ganz ähnlich wie Licht – im Science in Cambridge (Massachusetts) In noch nicht veröffentlichten Arbei-
Gegensatz zu ihrem Verhalten als Super- einen Lichtstrahl durch ein ultrakaltes ten zeigen Peter Zoller und Ignacio Cirac
flüssigkeit. Ein besonders lebhaftes For- und optisch modifiziertes Gas auf 17 von der Universität Innsbruck, dass es
schungsgebiet war im vergangenen Jahr- Meter pro Sekunde ab – das Tempo eines mit bereits heute verfügbarer Technik
zehnt die nichtlineare Optik, bei der schnellen Fahrrads. Im November 2000 möglich sein sollte, Schallmodelle von
Licht mit sich selbst in Wechselwirkung berichtete Ketterles Gruppe, ein Licht- Schwarzen Löchern zu bauen – das heißt
tritt. Forscher an den amerikanischen strahl habe ein Kondensat mit einem Me- solche, bei denen Schallwellen die Rolle
Bell Laboratories haben zum Beispiel ter pro Sekunde, also buchstäblich im des Lichts übernehmen. Ihren Berech-
mit nichtlinearen Lichtpulsen, so ge- Schritttempo, durchquert. An sich ist nungen zufolge explodieren solche Ge-
nannten Solitonen, riesige Datenpakete kein Kondensat erforderlich, um solche bilde und stoßen dabei Scharen von
durch Glasfasern geschickt. Effekte zu erzielen, aber die enorme Käl- Schallquanten, so genannten Phononen,
Normalerweise zeigt Licht kaum te der kondensierten Gase schafft ideale aus. Diese Explosionen würden das Ver-
Wechselwirkung mit sich selbst; daher Bedingungen dafür. dampfen mikroskopisch kleiner Schwar-
sind extrem hohe Lichtintensitäten oder Ulf Leonhardt und Paul Piwnicki zer Löchern simulieren, bei dem infolge
spezielle Medien nötig, um nichtlineare vom Königlichen Institut für Technolo- von Quanteneffekten ein thermisches
Effekte zu erzielen. Da die Teilchengemisch austritt, die
schwachen Wechselwirkungen so genannte Hawking-Strah-
der Atome in Kondensaten au- lung.
tomatisch nichtlineare Effekte Graham P. Collins ist Redakteur bei Scientific American. In einem Artikel vom Au-
bewirken, sind die Bose-Ein- gust 2000 mutmaßen Wayne
stein-Gebilde zur Untersu- Literaturhinweise Hu und seine Mitarbeiter von
chung derartiger Prozesse ide- Experimental Studies of Bose-Einstein Condensation. der Princeton University, dass
al geeignet. Die klassische Von Wolfgang Ketterle in: Physics Today, Bd. 52, S. 30, die unsichtbare dunkle Mate-
Vorstellung von Atomen als Dezember 1999. rie, die offenbar rund neunzig
Teilchen, die wie winzige Bose Condensates Make Quantum Leaps and Bounds. Prozent der Masse im Univer-
Murmeln zusammenstoßen, Von Yvan Castin et al. in: Physics World, Bd. 12, S. 37, sum ausmacht, in Form eines
versagt völlig bei der Interpre- August 1999. Bose-Einstein-Kondensats aus
tation dieser Experimente. Atom Lasers. Von Kristian Helmerson et al. in: Physics Teilchen äußerst geringer Mas-
Eine Bravourleistung der World, Bd. 12, S. 31–36, August 1999. se existieren könnte. Falls
nichtlinearen Optik ist das The Yin and Yang of Hydrogen. Von Daniel Klepper in: diese kühne Hypothese zu-
enorme Verlangsamen von Physics Today, Bd. 52, S. 11, April 1999. trifft, wären die kältesten Gase
Licht. Im Vakuum breiten sich Weblinks zu diesem Thema finden Sie auch unter im Universum zugleich die
elektromagnetische Wellen – www.spektrum.de/aktuellesheft.html häufigsten. ■
ob Radio-, Röntgen- und

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 57


COMPUTERGRAFIK

Computer-

Moderne Algorithmen der Computergrafik ermöglichen die Herstellung


realistisch wirkender Naturszenen. Damit eröffnen sich neue Anwendungen
in der Visualisierung ökologischer Daten sowie eine neue Qualität virtueller
Welten in Simulatoren und auch Computerspielen.
VON OLIVER DEUSSEN UND BERND LINTERMANN

rzemyslaw Prusinkiewicz, Compu- einem dieser Treffen Anfang der neunzi- Ein wichtiger Grundgedanke ist: Der

P tergrafiker an der Universität von


Calgary (Kanada), sah sich einem
ungewöhnlichen Fälschungsvorwurf aus-
ger Jahre legte Prusinkiewicz ein Bild
von einem Sonnenblumenfeld vor, das
so echt aussah, dass selbst Fachkollegen
Computer erzeugt nicht nur ein Bild von
einer Pflanze oder einer ganzen Land-
schaft. Er erzeugt intern eine dreidimen-
gesetzt. Seine Kollegen argwöhnten es nicht für computererzeugt halten sionale geometrische Repräsentation und
nicht etwa, er wolle etwas Nachgemach- mochten. erst in einem zweiten Schritt aus dieser
tes für echt ausgeben, sondern umge- Hinter dieser Misstrauen erregend Repräsentation ein Bild. Durch Ände-
kehrt etwas Echtes für nachgemacht. guten Darstellungsleistung steckt ein rung des Betrachterstandpunkts ergeben
Jedes Jahr trifft sich der Unteraus- ganzes Bündel von Ideen und Verfahren, sich aus derselben internen Darstellung
schuss für Computergrafik (special in- die seit Prusinkiewicz’ ersten Pionier- immer wieder neue Bilder. Der Benutzer
terest group on graphics, Siggraph) der arbeiten noch beträchtlich weiterentwi- kann also in der imaginären Landschaft,
amerikanischen Informatikervereinigung ckelt wurden. Über sie soll in diesem Ar- die sich ihm am Computerbildschirm


ACM zu einer Art Leistungsschau. Auf tikel berichtet werden. präsentiert, umherwandern.
ALLE ABBILDUNGEN: OLIVER DEUSSEN UND BERND LINTERMANN

Sommerwiese mit sieben verschiedenen Pflanzenarten Herbstwiese

58 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Sonnenblumenfeld mit
ungefähr 20 000 Pflanzen.
Der Ahorn hat 50 000
Blätter und besteht aus
etwa 200 000 Dreiecken.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 59


59
COMPUTERGRAFIK

Kreuzkraut Benjamin junger Trompetenbaum Mondviole Rosskastanie


(Senecio doronicum) (Ficus benjamini) (Catalpa bignonioides) (Lunaria rediviva) (Aesculus hippocastanum)

Wie aber macht man die interne Dar- ses Prinzip hat der Biologe Aristid Lin- gibt es einerseits eine Anweisung, wie
stellung einer Pflanze? Eine nahe liegen- denmayer 1968 in den so genannten L- diese Knospe zu zeichnen ist, und aus
de Idee ist, dass die virtuelle Pflanze so Systemen formalisiert (Spektrum der dem Kontext ergibt sich, wohin; anderer-
heranwachsen soll wie die echte. Aus ei- Wissenschaft 9/1989, S. 52). Eigentlich seits gibt es eine Ersetzungsregel, die
nem kleinen Wachstumskegel sprießen wollte er in erster Linie das Zellwachs- beispielsweise aus „Knospe“ so etwas
eine Blattanlage und ein neuer Wachs- tum modellieren; die L-Systeme wurden wie „Blattanlage plus Knospe“ macht
tumskegel; die Blattanlage wächst zu ei- aber bald auch für Pflanzen verwendet. (Kasten unten). Oder aus einem Zweig
nem Blatt aus, das sich seinerseits in Ein Buchstabe steht beispielsweise wird ein Zweig mit zwei angesetzten
Stiel und Blattspreite differenziert. Die- für eine Knospe. Zu diesem Buchstaben kleineren Zweigen; diese verzweigen

Lindenmayer-Systeme und Ersetzungsregeln

Sprunghaftes Wachstum einer Computerpflanze


M an stelle sich eine Art künstliches Krabbeltier vor, das
sich im dreidimensionalen Raum in diskreten Schritten
bewegen kann. Zu jedem Zeitpunkt hat es eine Position und
(1)
(2)
(3)
A
F
S



[&FB!A]////’[&FB!A]//////’[&FB!A]
S////F
FB
eine Orientierung, das heißt, eine bestimmte Lage im Raum, (4) B ➛ [’’’^^{-f+f+f-|-f+f+f }]
sodass man von vorne, hinten, links, rechts, oben und
unten in Bezug auf die gegenwärtige Lage des Krabbeltiers Aus einer gegebenen Zeichenfolge wird in einem Linden-
sprechen kann. Wenn es sich bewegt, dann nach vorn; es mayer-System eine neue, indem für jedes Zeichen der Folge
kann auch zuvor seine Orientierung verändern. (Es handelt seine „Bedeutung“, sprich die es definierende Zeichenfolge,
sich um eine dreidimensionale Version der „Schildkröten“, eingesetzt wird. So entstehen aus der „Ur-Zeichenfolge“, die
mit denen Seymour Papert eine diskrete Geometrie der Ebe- nur aus dem Buchstaben A besteht, nacheinander die Fol-
ne definierte.) Man kann das Krabbeltier durch Signale fern- gen
steuern, die nur aus jeweils einem Zeichen bestehen:
[&FB!A]////’[&FB!A]//////’[&FB!A]
F wandere eine gewisse Strecke d in der aktuellen Ori-
entierung, zeichne eine Linie [&S////F[’’’^^{-f+f+f-|-f+f+f}]![&FB!A]///
f wie F, aber ohne eine Linie zu zeichnen /’[&FB!A]//////’[&FB!A]]////’[&S////F[
+ – wende dich um einen gewissen Winkel α nach rechts ’’’^^{-f+f+f-|-f+f+f}]![&FB!A]////’[&FB!
bzw. links gegenüber der Laufrichtung A]//////’[&FB!A]]//////’[&S////F[’’’^^{-
& ^ kippe um den Winkel α nach oben bzw. unten f+f+f-|-f+f+f}]![&FB!A]////’[&FB!A]//////
\ / rotiere die eigene Körperachse um den Winkel α ’[&FB!A]]
nach rechts bzw. links
| „mach auf dem Absatz kehrt“: ersetze die bisherige Nach einer vorher festgelegten Anzahl von Ersetzungs-
Orientierung durch ihr Negatives schritten wird das Ergebnis gezeichnet, das heißt das ge-
[ merke dir den gegenwärtigen grafischen Zustand (Po- dachte Krabbeltier folgt den Bewegungs- und Zeichenanwei-
sition, Richtung, Malfarbe und so weiter) sungen der so entstandenen Zeichenfolge (und ignoriert die
] kehre zum zuletzt gemerkten grafischen Zustand zu- neu definierten Zeichen).
rück
{ } fasse den Weg, den der Zeiger zwischen den ge-
schweiften Klammern zurücklegt, als Rand einer Flä-
che auf und fülle diese Fläche aus
! ’ Diese Zeichen ändern die Dicke und die Farbe der im
Folgenden zu zeichnenden Linien.

Zu diesen „elementaren Zeichen“ werden nun weitere


definiert. Man hat die Freiheit, sich unter diesen Zeichen
konkrete Dinge (in unserem Fall Pflanzenteile) vorzustellen: Das Ergebnis
A wie Abzweigung, B wie Blatt, S wie Stiel. Maßgeblich ist mehrfacher
jedoch nur eine Regel, die ein neu zu definierendes Zeichen Anwendung
durch eine Folge von (elementaren und neuen) Zeichen der Ersetzungs-
ersetzt. Ein System solcher Regeln könnte zum Beispiel wie regeln: ein
folgt aussehen: kleiner Busch

60 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Ulme Linde Trompetenbaum Eiche Tanne
(Ulmus) (Tilia) (Catalpa bignonioides) (Quercus robur) (Abies alba)

sich wieder durch Anwendung der Er- der insgesamt herstellbaren Verzwei- Ausmaß, in welchem sich ein wachsen-
setzungsregel, bis schließlich die Zweige gungsstrukturen. Es bleibt also die Fra- der Stängel zum Licht hin krümmt, las-
fünfter Ordnung Blätter ansetzen. ge, wie man die Menge der herstellbaren sen sich an realen Bäumen messen und
Indem man auf einen gewissen Bäume einschränkt auf im weitesten Sin- in die Simulation einbringen.
Buchstaben (eine „Keimzelle“) die Er- ne lebensfähige Exemplare, um aus die- So gibt es eine Methode zur Erzeu-
setzungsregel anwendet, auf die dadurch ser Menge im nächsten Schritt die tat- gung von Bäumen, bei der das Pro-
entstehende Zeichenkette wiederum alle sächlich existierenden zu extrahieren. gramm entsprechend den Metrikdaten
Ersetzungsregeln und so weiter, gewinnt Eine Möglichkeit besteht darin, von der Baumart Knospen auf der Oberfläche
man immer länger werdende Zeichenket- dem hohen Abstraktionsniveau der L- einer „Urzelle“ verteilt und wachsen
ten. Lässt man schließlich den Computer Systeme abzugehen und den im Compu- lässt. (Natürlich erzeugen wir oder die
eine solche Zeichenkette als Folge grafi- ter wachsenden Baum realitätsnäher zu Computer keine Bäume, sondern nur
scher Anweisungen interpretieren, ge- modellieren. Das läuft auf eine klassi- interne Darstellungen von Bäumen; aber
winnt man ein Bild von einer ausdiffe- sche Simulation von Wachstumsvorgän- der verkürzende Sprachgebrauch hat sich
renzierten Pflanze – je länger die Zei- gen hinaus. Gewisse zahlenmäßige Para- unter den Computergrafikern eingebür-
chenkette, desto vielgestaltiger. meter („Metrikdaten“) wie etwa der typi- gert.) Ein anderes Verfahren setzt einen
Auf diese Weise lassen sich aller- sche Winkel einer Verzweigung oder das Baum algorithmisch aus vielen unsicht-
dings sowohl natürlich wirkende als auch baren Einzelsträngen zusammen, die von


physikalisch unmögliche Bäume erzeu- der Wurzel bis zu jeweils einem Blatt
gen. Die Menge der statisch stabilen und
erst recht die Menge der natürlich vor-
kommenden Bäume ist ein winziger Teil Aus dem dreidimensionalen
Computermodell eines Baums
entsteht eine „Zeichnung“
nach dem Brauch der Land-
schaftsplaner, indem ausge-
füllte Flächen durch Umriss-
linien und Blätter durch
abstrakte Figuren ersetzt
wurden. Diese Zeich-
nung wurde durch Ein-
färben noch weiter
verfremdet.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 61


COMPUTERGRAFIK

weil hier neben der botanischen Korrekt-


Literaturhinweise heit weitere Anforderungen an die Mo-
Interactive Modeling of Plants. delle gestellt werden. Oftmals werden
Von Bernd Lintermann und Oli- für Filmsequenzen Bäume ganz be-
ver Deussen in: IEEE Compu- stimmter Form angefordert, oder be-
ter Graphics and Applications, wusst irreale Pflanzen für Spezialeffekte.
Bd. 19, Nr. 1, Januar–Februar In unserem Ansatz wird eine Pflanze
1999, S. 56. aus Bausteinen zusammengesetzt, die je-
Realistic Modeling and Rendering weils Pflanzenteile wie etwa Blätter oder
of Plant Ecosystems. Von Oliver Blüten erzeugen. Der Benutzer verbindet
Deussen et al. in: Computer die Bausteine interaktiv zu einem Gra-
Graphics, Bd. 32, Nr. 4, August phen, der die gesamte Pflanze be-
1998, S. 275. schreibt. Das Neuartige an diesem Ver-
The Algorithmic Beauty of Plants. fahren ist die Kombination von regelba-
Von Przemyslaw Prusinkiewicz sierten und prozeduralen Elementen zu
und Aristid Lindenmayer. Sprin- einer Modelliermethode. In den einzel-
ger, Heidelberg 1990. nen Komponenten berechnen Algorith-
Weblinks unter www.spektrum.de/ men die geometrischen Details; das Re-
aktuellesheft.html gelsystem wird durch den Graphen be-
schrieben, kann aber nunmehr einfacher
Natur sein, da viele Aspekte der Pflanze
oder einer Blüte reichen. Der Quer- durch die geometrischen Algorithmen
schnitt eines Astes oder Stamms ist cha- abgedeckt werden (Kasten Seite 64).
rakterisiert durch die Anzahl der in ihm Die von uns praktizierte Zerlegung in
verlaufenden Stränge. Auf diese Weise algorithmische und regelbasierte Anteile
ergeben sich natürliche Proportionen, ein hat einen weiteren Vorteil: Ohne großen
Ansatz, den schon Leonardo da Vinci im Zusatzaufwand kann man – zum Beispiel
16. Jahrhundert formuliert hat. – vom Wachstum einer Pflanze eine Art
Kurzfilm erzeugen. Das Regelsystem
Vereinigung von regelbasierten bleibt unverändert; nur die Parameter der
und prozeduralen Prinzipien Algorithmen in den Komponenten än-
dern sich mit der „Zeit“, in der das fikti-
Obwohl dieses Verfahren eine Reihe na- ve Wachstum stattfindet. Der Benutzer
türlich wirkender Bäume erzeugt, ist es kann sich damit begnügen, die Parame-
nicht so systematisch, wie man es sich terwerte für einige markante Zeitpunkte
wünschen würde. Die Vermessung realer zu bestimmen. Der Computer berechnet
Bäume liefert zwar eine Vielzahl be- dann für jedes Filmbild durch Interpola-
schreibender zahlenmäßiger Daten. Die- tion die gültigen Parameter, aus diesen
se lassen sich jedoch im Allgemeinen eine Pflanzengeometrie und aus dieser
nicht oder nur teilweise in Parameter ei- das fertige Bild (Bild Seite 65).
ner Simulation umsetzen. Auf der ande- Eine derart kontinuierliche Verände-
ren Seite bleibt die Abgrenzung unklar, rung einer Pflanze wäre mit einem L-
mit welchen Parameterwerten ein Algo- System nur über umständliche Zusätze
rithmus natürlich wirkende Bäume lie- zu modellieren, da dort Wachstum nur in
fert und mit welchen nicht. Es bleibt also diskreten, ziemlich großen Schritten
ein erhebliches Maß an Probieren. stattfindet.
Neuere Ansätze – darunter der un- Hat man auf diese Weise verschiede-
sere – sind bestrebt, aus dieser Not eine ne Pflanzen erzeugt, möchte man diese ßere Szenen oder gar ganze Landschaf-
Tugend zu machen: Wenn man schon zu ganzen Landschaften kombinieren. ten wären daher viele Milliarden Drei-
probieren muss, dann mit möglichst un- Aus einer Reihe von Gründen ist es hier ecke notwendig, was selbst moderne
mittelbarer Rückmeldung. Der Benutzer aber mit dem einfachen Nebeneinander- Rechner vor große Schwierigkeiten stel-
wählt das Bild- und Datenmaterial, aus stellen der Modelle nicht getan: len würde. Abhilfe schafft eine gezielte
dem er einen Baum machen will, und die ➢ Geometrische Komplexität: Die Vergröberung, ein so genannter Level-of-
Software führt ihm, dank der hohen Re- Geometrie einer Pflanze wird üblicher- Detail-Algorithmus: Je weiter entfernt
chenleistung moderner Grafikrechner, weise über Dreiecke im Raum beschrie- ein Baum vom Betrachter steht, desto
auf der Stelle vor Augen, wie die zuge- ben. Ein einzelner Baum benötigt bis zu weniger geometrische Details werden zu
hörige Pflanze aussieht. Insbesondere in einer Million Dreiecke, ein Quadratme- seiner Beschreibung verwendet. Ein gu-
der Gebrauchsgrafik ist dies von Vorteil, ter Wiese eine ähnliche Anzahl. Für grö- ter Algorithmus verändert die Beschrei-

62 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Flieder Hopfenklee Barbarakraut Einblatt Strahlenaralie
(Syringa vulgaris) (Medicago lupulina) (Barbarea vulgaris) (Spathiphyllum) (Schefflera actinophylla)
Alle Elemente dieser Landschaft am Bach sind völlig synthetisch. Einzig auf den die Szene verteilt werden. Interessanter-
Blättern wurden Bilder echter Blätter als Textur aufgebracht. Die von Ort zu Ort weise reichen einige wenige Repräsen-
unterschiedliche Bodenfeuchte geht als Parameter in die Modelle ein; deswegen tanten aus, um einen Eindruck natürli-
wachsen am Ufer des simulierten Baches andere Pflanzen als in größerer Entfernung.
cher Variabilität zu erzeugen. Nur die
Daten dieser Exemplare werden gespei-
bung der Pflanze so unmerklich, dass vielfach in einer Szene wiederholen, chert und eine Liste der Positionen ange-
dem Betrachter, der sich virtuell auf sie würde es dem Betrachter sofort auffal- legt, an denen sich Kopien eines Exem-
zu bewegt, nichts auffällt. len. Daher muss eine Anzahl verschiede- plars befinden sollen.
➢ Natürliche Variabilität: Keine zwei ner Repräsentanten für jede Spezies er- ➢ Interaktion zwischen Pflanzen: Das
Pflanzen gleichen einander völlig. Wür- zeugt werden, die – gedreht und gering- Aussehen einer Pflanze wird maßgeblich

de man eine einmal erzeugte Pflanze fügig vergrößert oder verkleinert – über durch ihre Umgebung beeinflusst. Ein

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 63


Wunderstrauch Regenschirmpflanze Kastanienwein Buntzurz
(Codiaeum variegatum) (Eleocharis vivipara) (Cissus rhombifolia) (Caladium-bicolor-Hybride)
COMPUTERGRAFIK

Interaktive Modellierung

Ein Baukasten für Pflanzen


D ie Vorstellung von zusammensteckbaren Einzelteilen,
wie in einem Baukasten für Kinder, kommt der Sache
schon recht nahe: Will man einen Zweig mit Blättern mo-
Horn: Erzeugt einen verallgemeinerten Zylinder,
der seinerseits aus lauter kleinen Zylinderstücken
zusammengesetzt wird (Spektrum der Wissen-
dellieren, so nimmt man einen Blatt-Baustein, steckt ihn auf schaft 6/1997 S. 10). Hörner werden für alle
einen zugehörigen Stiel-Baustein und diesen auf einen Arten von Blattstielen, Gräsern und Zweigen verwendet.
Zweig-Baustein.
In der Tat kann in unserem Programm der Benutzer Baum: Erzeugt einen Baumstamm und vervielfäl-
Symbole solcher Bausteine auf dem Bildschirm bewegen tigt alle an ihm in der Strukturbeschreibung hän-
und zu einem Graphen verknüpfen. Die Bausteine sind je- genden Komponenten als Verzweigungen. Sind
doch weit mehr als nur passive Klötzchen. Hinter ihnen weitere Baumkomponenten angehängt, entsteht das Grund-
stecken ganze Unterprogramme; sie erzeugen nicht nur ein- gerüst für einen Baum.
fach vorgegebene Strukturen, sondern verändern sie in Ab-
hängigkeit von Parametern, die der Benutzer angibt. So Phiball: Vervielfältigt alle Nachfolgekomponenten
kann ein Blatt auf Anweisung des Benutzers in Sekunden- und setzt die verschiedenen Exemplare auf eine
bruchteilen breiter, gewölbter oder gezackter werden. Ande- Kugeloberfläche, und zwar so, wie in echten Pflan-
re Anweisungen machen einen Baum schlanker oder ge- zen die Anlagen einzelner Blütenblätter, Schuppen bei ei-
drungener oder ändern den Winkel seiner Verzweigungen. nem Tannenzapfen oder Sonnenblumenkerne sich anordnen
Weitere Bausteine vervielfältigen alles, was in dem Gra- (Spektrum der Wissenschaft 5/1996, S. 14). Dabei spielt
phen an ihnen hängt, oder wirken global auf alle anderen das Verhältnis φ (phi) des Goldenen Schnitts eine entschei-
Bestandteile des Graphen. Da die Algorithmen in den Bau- dende Rolle.
steinen botanische Gesetzmäßigkeiten wiedergeben, stellen
sich fast automatisch biologisch korrekte Modelle ein. Freiformdeformation: Dieser Baustein verändert
Ein kleines Sortiment von Bausteinen genügt, um fast die geometrische Gestalt einzelner Teile oder der
jede Art von Pflanzen zu erzeugen. Unter den elf Typen, die gesamten Pflanze, die dadurch zum Beispiel um
wir momentan verwenden, sind: ein Hindernis herumwachsen kann.

Blatt: Komponente zur Konstruktion von Blättern. Tropismus: Dieser Baustein dient zur Definition
Der Benutzer kann verschiedene Blattformen ein- von Licht- und Gravitationsfeldern. Viele Pflanzen
stellen. Zur Steigerung des realistischen Eindrucks richten ihre Blätter und Zweige entsprechend die-
wird diese Form mit Bildern echter Blätter überzogen (tex- sen Feldern aus (Photo- bzw. Gravitropismus). Zusätzliche
ture mapping, vergleiche Spektrum der Wissenschaft 12/ Effekte wie etwa der Einfluss von Wind auf die Wuchsform
1998, S. 98). lassen sich als Tropismen modellieren.

a
Konstruktion einer künstlichen
Sonnenblume: Blätter der natürli-
chen Pflanze werden fotografiert
und digitalisiert. Diese Daten
b werden auf die Geometrie der
künstlichen Blätter aufgebracht (a).
Der Kopf und die Blüte der Blume
werden mit den Bausteinen Blatt
und Phiball modelliert (b und c),
der Stiel mit den Blättern kombi-
niert (d) und schließlich die ganze
Pflanze zusammengesetzt (e). Das
Kamerasymbol steht für den
Baustein, der die ganze an ihm
hängende Struktur zu Papier oder
c d e Bildschirm bringt.

Baum neben einer Mauer oder innerhalb Sind die geometrischen Daten für schaft 4/2000, S. 74, und 12/1991, S.
einer Baumgruppe hat eine andere Form eine Szene erzeugt, wird im nächsten 128): Man schickt vom Projektionszen-
als ein allein stehender Baum. Dies muss Schritt eine gedachte Kamera mit Blick- trum der gedachten Kamera durch jedes
schon bei der Herstellung der Einzel- richtung, Öffnungswinkel und Bildauflö- Pixel der Bildebene einen Strahl in die
pflanzen berücksichtigt werden. Hier fin- sung definiert. Für jedes Pixel des herzu- Szene und bestimmt, welche Objekte er
den geometrische Randbedingungen An- stellenden Bildes sind nun Farbe und trifft.
wendung, die schon während der Her- Helligkeit zu bestimmen. Dies geschieht Bei mehreren Millionen Strahlen und
stellung einer Pflanze deren Gesamtvo- üblicherweise durch Strahlrückverfol- einigen Milliarden Dreiecken entsteht
lumen beschränken. gung (Raytracing, Spektrum der Wissen- hierbei ein erheblicher Rechenaufwand.

64 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Eine Schlüsselblume wächst:
Momentaufnahmen einer
Animation, die automatisch aus
wenigen Modellbeschreibungen
hergestellt wurde.

Für spiegelnde Oberflächen wie Wasser der Ausnutzung aller dieser Möglichkei- gungsgefühl des Benutzers. Die Proble-
oder durchscheinende Gegenstände wie ten lässt sich eine weitere dramatische me mit der großen Menge an geometri-
dünne Blätter ist der Strahl noch über das Datenreduktion erzielen. schen Daten lassen sich durch image-
erste getroffene Objekt hinaus zu verfol- Die erzeugten Computergrafiken based rendering vermindern. Unter die-
gen, was den Aufwand weiter erhöht. Er- sind mehr als nur schöne Bilder. Mit ih- sem Begriff vereinigen sich Techniken
staunlicherweise lassen sich die Algo- nen eröffnen sich neue Möglichkeiten zur schnellen und Speicherplatz scho-
rithmen mit allerlei Tricks aber so effi- beispielsweise in der Visualisierung öko- nenden Berechnung neuer Objektansich-
zient gestalten, dass die Erzeugung der logischer Daten. Oftmals scheitert die ten aus vorab berechneten Bildern und
Bilder oftmals schneller vonstatten geht Realisierung von Landschaftsplanungen Datenstrukturen. Anstelle von Millionen
als die Herstellung und Verwaltung der an der mangelnden Transparenz der aus- Dreiecken zur Darstellung eines Baumes
geometrischen Daten. gearbeiteten Pläne. Synthetisch erzeugte benötigt man hier nur mehr einige vorab
Landschaften können in neuer Weise berechnete Bilder mit wenigen Zusatz-
Wandern durch virtuelle Folgen von Eingriffen in Ökosysteme daten.
Landschaften darstellen, Entscheidungsträger werden Eine Reihe von vollständig synthe-
in der Lage sein, sich in einer geplanten tisch erzeugten Kinofilmen demonstrier-
Zur Beschreibung einer großen Szene virtuellen Landschaft umher zu bewe- te in den letzten Jahren die Möglichkei-
verstreuen wir zunächst gleichsam viele gen, Planungsalternativen können visuell ten moderner Computergrafik. In vielen
Exemplare einer Pflanze über den ge- abgewogen werden. Mit speziellen Ver- weiteren Filmen findet Computergrafik
dachten Boden. Die Standorte der einzel- fahren der Computergrafik kann man die auch in einzelnen Szenen ihren Einsatz,
nen Pflanzen sowie ihre individuellen Darstellung auch gezielt so schematisch ohne dass der Zuschauer etwas davon be-
Eigenschaften (beschrieben durch geo- und nicht-realistisch gestalten, wie das in merkt. Hier wie auch bei der Herstellung
metrische Parameter) hängen sowohl den Präsentationsskizzen der Land- von Computerspielen liegt weiteres gro-
vom Zufall ab als auch von vorgebbaren schaftsplaner üblich ist (siehe Bild Seite ßes Potenzial für den Einsatz syntheti-
globalen Größen wie Bodenfeuchtigkeit, 61) – mit dem Unterschied, dass der Be- scher Pflanzen und Landschaften. ■
Sonneneinstrahlung und Hindernissen in nutzer durch diese
der Landschaft (Bild Seite 62/63). Im „Skizze“ hindurch-
nächsten Schritt vereinfachen wir das wandern kann. Oliver Deussen ist Professor für
Sortiment, indem wir – mit einer Varian- Ein Naturkunde- Computergrafik und Medien-
te der Clusteranalyse aus der Statistik – museum der Zukunft design an der Technischen
Repräsentanten bestimmen, möglichst könnte den Besucher Universität Dresden. Er
wenige Musterexemplare, welche die in virtuelle Welten ent- promovierte 1996 an der
Vielfalt der soeben erzeugten Pflanzen führen, etwa in einen Universität Karlsruhe im Fach
möglichst gut ausschöpfen. Jede Pflanze urzeitlichen Wald oder Informatik. Neben Computer-
wird dann durch das ihr ähnlichste Mus- auch in eine einfache darstellungen von Pflanzen
terexemplar ersetzt. Diese Instanzenbil- Wiese, die aber aus arbeitet er an computergene-
dung sorgt bei geeigneter Implementie- der Ameisenperspekti- rierten Liniengrafiken und
rung für eine dramatische Reduzierung ve betrachtet wird. So Methoden zur Erzeugung
der Daten. Für übliche Szenen müssen könnte Natur auf di- synthetischer Hologramme.
statt 500 Gigabyte Daten nur noch einige daktisch neue und Bernd Lintermann arbeitet als
hundert Megabyte verarbeitet werden, auch für junge Men- Informatiker und Medienkünst-
was eine Bilderzeugung auch auf PCs schen attraktive Weise ler am Zentrum für Kunst und
möglich macht. vermittelt werden. Medientechnologie (ZKM) in
Eine Instanzenbildung kann auch auf Auch Fahr- und Karlsruhe. Neben Pflanzen
Teilen der Einzelpflanzen geschehen. Flugsimulatoren profi- interessiert er sich für geneti-
Ein kleiner Ast kann an vielen Stellen tieren von realistischen sche Algorithmen, Computer-
innerhalb eines Baumes wiederholt wer- Landschaften. Neben musik und deren Umsetzung in
den, ohne dass es visuell auffällt. Größe- anderen Faktoren ist Medienkunstwerken. Beide Autoren setzen seit 1997
re Teile eines Baumes können analog in die Realitätstreue na- ihre Forschungsergebnisse zu Pflanzendarstellungen
einer Ansammlung von ähnlich ausse- her Objekte entschei- in einer gemeinsamen Firma um.
henden Bäumen wiederholt werden. Mit dend für das Bewe-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 65


ERNÄHRUNG

Der Ursprung
der modernen Küche
Süßspeisen werden nach dem Hauptgericht serviert – warum eigentlich?
Die Antwort liegt in revolutionären medizinischen Konzepten des 17. Jahrhunderts, die
von der damals aufkommenden Chemie geprägt waren. Obwohl vorwissenschaftlich,
bestimmen sie unsere Essgewohnheiten bis heute.
VON RACHEL LAUDAN

K önnten wir uns per Zeitreise an


ein Hofbankett im Frankreich
oder England des 16. Jahrhun-
derts versetzen, kämen uns, die wir die
traditionelle westliche Küche gewohnt
Nur hundert Jahre später kämen uns
die Speisen an einer fürstlichen Tafel da-
gegen ausgesprochen vertraut vor. Ein
Hauptgericht könnte etwa aus Rinder-
bouillon, Austern, Sardellen und gebrate-
Wein. Alle Hauptgerichte enthielten Zu-
cker. Mitte des 17. Jahrhunderts jedoch
änderten sich in Mitteleuropa Auswahl
und Zusammensetzung der Speisen radi-
kal. Die Gewürze verloren an Bedeutung;
sind, die Speisen recht seltsam vor. Da nem Truthahn mit Soße bestehen. An als Soßengrundlage dienten nun Fette
würde zum Beispiel sehr wahrscheinlich Beilagen würden vielleicht Pilze in Sah- oder Öle, während man Obst und Gemüse
der Blancmanger aufgetischt: ein dicker ne-Petersiliensoße, mit Essig und Öl an- auch roh verzehrte. Mit Zucker Gesüßtes
Brei aus Reis, Hühnerfleisch und Man- gemachter grüner Salat, frische Birnen erschien erst zum Abschluss der Mahlzeit.
delmilch, der mit Zucker bestreut und und Zitronensorbet gereicht, und in den Wie kam es zu diesem abrupten Wan-
mit gebratenem Schweinespeck garniert Gläsern würde Schaumwein perlen. del? Wirtschaftliche Gründe kann er
ist. Zum Spanferkel gäbe es vermutlich Bis etwa 1650 ernährte sich die Ober- schwerlich gehabt haben, denn für die
Kamelinsoße: Saft von sauren, unreifen schicht der islamischen und christlichen Reichen spielte Geld keine Rolle, und
Trauben, mit Brotkrumen, zerkleinerten Welt von Delhi bis London überall weit- die Armen konnten sich weder die einen
Rosinen und zerstoßenen Mandeln ange- gehend gleich: Es gab dicke Pürees mit noch die anderen Speisen leisten – sie
dickt und mit Zimt und Nelken gewürzt. reichlich Gewürzen, süße oder säuerliche lebten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein
Vielleicht würden auch in Fleischbrühe Soßen, gekochtes Gemüse und warmen von Gemüse- und Mehlsuppen mit Brot
gekochte Saubohnen mit gehackter Min- oder Hafergrütze. Auch mit dem Auf-
ze serviert – oder Quittenpaste: ein kommen neuer Lebensmittel ist der kuli-
Naschwerk aus Quitten und Zucker oder narische Bruch nicht zu erklären; denn
Honig. Hinunterspülen müssten wir all bis auf den Truthahn, eine Neuerung aus
das wahrscheinlich mit Hippokras, ei- Amerika, kamen auch bei unserem zwei-
nem mit gemahlenem Ingwer, Zimt, Nel- ten Festessen nur altbekannte Zutaten
ken und Zucker stark gewürzten, ange- auf den Tisch. Was sich geändert hat, ist
wärmten Wein. allein die Zubereitung.

Hippokras
Ein typisches Festessen des 16.
Jahrhunderts enthielt Blancmanger,
ein Mus aus Huhn und Reis, als
Hauptgericht. Beilage war etwa
Kamelinsoße aus zerstoßenen Man-
deln, Brotkrumen und Gewürzen,
HEIDI NOLAND

angerührt mit saurem Traubensaft.


Kamelinsoße Dazu trank man Hippokras (warmen Blancmanger
Würzwein).

66 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Diese Speisen des 17. Jahrhunderts
sehen für uns Heutige bereits ziemlich
vertraut aus: gebratener Truthahn, mit
Essig und Öl angemachter grüner Salat
sowie Schaumwein als Getränk.

HEIDI NOLAND
Salat, angemacht mit Essig und Öl gebratener Truthahn

Tatsächlich sind die Hintergründe der num“ („Gesundheitsleitfaden von Saler-


Revolution in der Esskultur vom 16. auf Schaumwein no“), das im 11. Jahrhundert entstanden
das 17. Jahrhundert in neuen Vorstellun- sein muss, aber noch im 16. und 17. Jahr-
gen von schmackhafter Küche und richti- hundert weit verbreitet war. Hier ein
ger Ernährung zu suchen. Letztlich spie- Auszug:
geln sie die Geschichte der Chemie und Andrew Boorde, einem bekannten medi-
der Medizin wider; denn in jener Zeit zinischen Text aus dem Jahre 1547, heißt Milch, Mark, frischer Käs und Nieren,
wurden die antiken Vorstellungen von der es: „Ein guter Koch ist ein halber Arzt.“ Süßwein, Weiz(en), Schweinefleisch und Hirn
Funktion des Körpers und der Verdauung Im 16. Jahrhundert richteten sich sowohl Lustspeis, lauter Eier und Feigen
durch neue Ideen einer chemisch begrün- der Fürst als auch sein Arzt und Koch Weinbeer will ich nicht verschweigen,
deten Medizin ersetzt. Aus heutiger Sicht nach einer Diätetik, die auf die klassische Machen feist und futtern wohl,
waren sie nicht weniger obskur; dennoch Antike zurückging. Die wichtigsten Leit- Iss du ihr viel, dein Haus wird voll.
beruht unsere Esskultur ironischerweise sätze waren um das Jahr 400 vor Christus
immer noch auf diesen überholten, alchi- im „Corpus Hippocraticum“ erstmals for- Die Ideen zur rechten Kost, die sich
mistisch geprägten Ansichten. muliert und Anfang des 2. nachchristli- in diesen medizinischen Leitfäden nie-
Eine gesunde Ernährung war auch chen Jahrhunderts durch den griechisch- derschlagen, fußten auf zwei Annahmen.
für unsere Vorfahren wichtig – womög- römischen Arzt Galen (Claudius Gale- Erstens wurde das Verdauen der Nahrung
lich noch mehr als für uns. Da es im nus) in ein System gebracht worden. als eine Art Garvorgang betrachtet, wie
Falle einer Erkrankung kaum wirksame überhaupt das Garen oder Kochen als
Behandlungsmöglichkeiten gab, hatte Vom Garen und dem Sinnbild aller Lebensprozesse galt. Sa-
die Gesundheitsvorsorge einen immens Gleichgewicht der Körpersäfte men garten unter der Einwirkung der
hohen Stellenwert, und sie fand zu einem Sonnenwärme zu Pflanzen, in denen in
großen Teil in der Küche statt. Um nicht Wie viele wissenschaftliche Theorien der der Sommerhitze wiederum reife Früchte
zu den unangenehmen Maßnahmen des Antike wurden auch diese Vorstellungen und Körner garten. Diese konnte der
Purgierens oder Aderlassens greifen zu nach dem Untergang der klassischen Mensch ernten und sie weiter zu essba-
müssen, pflegten die Leibärzte hochge- Zivilisation bereitwillig von islamischen ren Speisen garen. Die Hitze des Körpers
stellter Personen das Befinden ihrer Gelehrten übernommen und fanden Ein- schließlich garte die Nahrung zu Blut.
Schutzbefohlenen rund um die Uhr sorg- gang in das arabische Schrifttum. Alles Unverdauliche wurde dabei in
fältig zu überwachen: Wie war der Ge- Seit dem 12. Jahrhundert lagen die Form von Fäkalien ausgeschieden und
mütszustand? Wie stand es um Schlaf, wichtigsten arabischen Texte in lateini- trat zusammen mit verwesenden Tieren
Bewegung und frische Luft? Das Haupt- schen Übersetzungen vor; auf sie berie- und Pflanzen erneut in den Kreislauf des
augenmerk jedoch galt dem Essen und fen sich die Lehrer an den großen medi- Lebendigen ein.
Trinken. Jeder Hof hielt sich eine Schar zinischen Hochschulen Europas, zum Die zweite Grundlage der mittelalter-
von Doktoren, die sich in Fragen der Ver- Beispiel im südfranzösischen Montpel- lichen Ernährungs- und Gesundheits-
dauung auskannten, den Nährwert der lier. Ende des 15. Jahrhunderts begann theorie war die antike Elementen- und
Speisen und die Zusammensetzung einer man, neu entdeckte griechische Manu- Säftelehre. Ärzte wie Küchenchefs wa-
gesunden Mahlzeit zu beurteilen wussten skripte zu studieren und bereits bekannte ren der Ansicht, dass vier Flüssigkeiten
und in erster Linie damit beschäftigt wa- lateinische oder arabische Texte aus der im Körper zirkulierten – Blut, Schleim
ren, Ernährungsvorschriften für ihre griechischen Originalsprache zu überset- und gelbe sowie schwarze Galle –, deren
Herrschaft auszuarbeiten. zen. All diese Schriften bildeten die Gleichgewicht durch eine entsprechend
Das Umsetzen abstrakter Ernäh- Grundlage vieler populärer Handbücher ausgewogene Nahrung aufrechterhalten
rungstheorien in Speisenfolgen, die der und Merkverse. Besonders beliebt waren werden musste. Diese „Kardinalsäfte“
gehobenen Tafel angemessen waren, ob- etwa die zahlreichen volkstümlichen Ab- entsprachen über ihre „Urqualitäten“ den
lag dem Haushofmeister („Majordo- wandlungen des lateinischen Lehrge- vier Elementen Luft, Wasser, Feuer und

mus“). Im „Brevier der Gesundheit“ von dichtes „Regimen Sanitatis Salernita- Erde: Blut – heiß und feucht – ordnete

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 67


ERNÄHRUNG

Der Kreislauf beginnt Sonnenwärme gart


mit den Samen im Boden die Samen zu Pflanzen

PATRICIA J. WYNNE
Die Sonne
Im kosmischen Nahrungszyklus vor 1650 lässt rohe
Nahrungs-
galt Garen als zentraler Lebensvorgang mittel in den
Pflanzen
reifen
Die Leber gart die Nahrung
schließlich zu Lebenssäften; der
Körper scheidet Abfallstoffe aus,
die wieder zu Boden werden Der Magen gart die Köche garen die
Nahrung weiter Speisen in der Küche

man der Luft zu, Schleim – kalt und Manche Nahrungsmittel waren nach de. Nicht viel besser kamen Melonen
feucht – dem Wasser, die gelbe Galle – diesem Schema völlig ungeeignet zum und andere frische Früchte weg; denn
heiß und trocken – dem Feuer und die Verzehr. So warnte Guy Patin, Arzt an auch sie galten als sehr feucht und zum
schwarze Galle – kalt und trocken – der Universität Paris und Verfasser des Verwesen neigend.
schließlich der Erde. „Traktat über die Erhaltung der Gesund- Insgesamt war die Zubereitungsart
Der menschliche Körper war im heit“ von 1632, vor Pilzen; sie seien so also von großer Bedeutung. Sie sollte
Idealfall leicht warm und leicht feucht, kalt und nass, dass ihr Genuss nur scha- einseitige Eigenschaften der Zutaten aus-
aber das Säfteverhältnis wurde auch von
Faktoren wie Alter, Geschlecht und Auf-
enthaltsort beeinflusst: Ältere Menschen
hielt man für kälter und trockener als
Dieses Klassifikationsschema aus dem 16. Jahrhundert
jüngere, menstruierende Frauen für käl- ordnet den einzelnen Nahrungsmitteln einen bestimmten Grad
ter und feuchter als Männer und das Blut an Hitze, Kälte, Feuchte und Trockenheit zu.
der Südeuropäer für heißer als das ihrer
nördlichen Nachbarn. Diesen Vorstellun-

PATRICIA J. WYNNE
gen entsprechend waren auch die Mahl- trocken 1° 2° 3°
zeiten zu gestalten, nämlich ihrer Zu-
sammensetzung nach idealerweise etwas 3°
warm und etwas feucht; nach der einen
oder anderen Richtung abweichende Pfeffer
Kombinationen konnten als milde Diät-
maßnahmen eingesetzt werden, um zum
Beispiel alte Menschen zu erwärmen und 2° Knollen- und
Wurzelgemüse
zu befeuchten, dem feuchteren Ge-
schlecht Nässe zu entziehen oder den Rindfleisch
Südländer gelassener und den Nordlän-
der lebhafter zu machen.
Die Mahlzeiten auf das Temperament 1° getrocknete Zimt
und die jeweilige Verfassung des Essers Hülsenfrüchte
abzustimmen war Aufgabe des Haushof- Cumin
meisters. Der hielt sich dabei an die kalt warm
wohlbekannten Eigenschaften einer jeg-
lichen Zutat: Pfeffer zum Beispiel galt Blattgemüse
als heiß und trocken im dritten Grade,

Essig als kalt und feucht im zweiten Gra- Milch Ingwer
de. Rüben und andere Wurzelgemüse
Fisch
waren – weil angeblich von Natur aus Zucker, Mandeln,
erdig, also trocken und kalt – nur etwas Huhn
für Bauern. Wollte sie ein Koch dennoch Kürbis
verwenden, musste er sie unbedingt 2°
Gurke
schmoren, um ihnen so Wärme und
Feuchtigkeit zuzuführen. Zwiebel
Melone

68 Pilze SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 3°


3° 2° 1° feucht
gleichen und dadurch für das richtige
Gleichgewicht in der Nahrung sorgen.
So wurden „trockene“ Nahrungsmittel Beliebte Rezepte vor dem 17. Jahrhundert
gekocht, „nasse“ wie Mangold, Mark-
kürbisse und besonders Zwiebeln da-
gegen gebraten oder geröstet. Außerdem
erfüllte die Zubereitung den Zweck, die Kamelinsoße
Speisen teilweise vorzuverdauen, sodass „Um eine köstliche Kamelinsoße zu machen, nimm geschälte Mandeln, zerstoße sie und streiche
sie leichter vom Körper aufgenommen sie durch ein Sieb; nimm Rosinen, Zimt, Nelken und ein kleines Stück Brot, mische alles

QUELLE: THE MEDIEVAL KITCHEN: RECIPES FROM FRANCE AND ITALY, UNIVERSITY OF CHICAGO PRESS, 1998
werden konnten. zusammen, und verrühre es mit Verjus*.“
Nach diesen medizinischen Theorien * Saft unreifer Trauben
war der Blancmanger des 16. Jahrhun-
derts fast ideal: Er vereinigte gleich drei
mäßig feuchte und warme Zutaten Blancmanger
(Huhn, Reis, Mandelmilch) mit dem „Nimm gekochte Hühnerbrust, lege sie auf den Tisch und hacke sie so fein du kannst. Dann
gleichfalls feucht-warmen Zucker als wasch den Reis und trockne ihn. Mahle ihn zu Mehl und gib es durch ein Sieb; dann rühre diesen
Reis mit Ziegen-, Schaf- oder Mandelmilch an und koche ihn in einer gut ausgewaschenen,
Krönung. Das an sich zu feuchte Span-
sauberen Pfanne. Wenn er zu kochen beginnt, füge die gehackte Brust hinzu sowie weißen Zucker
ferkel wurde durch Rösten getrocknet; in
und gebratenen weißen Schweinespeck. Halte Rauch davon fern und lass es milde, ohne zu viel
der Kamelinsoße hielten die warmen Ro- Feuer kochen, bis es so dick ist, wie Reis eben sein sollte. Dann gib es mit zermahlenem oder
sinen und der heiße, trockene Pfeffer zerstoßenem Zucker und mit gebratenem Schweinefett zu Tisch.“
dem kühl-feuchten Traubensaft die Waa-
ge. Sorgsam vermied es der kluge Koch,
die gefährlich kalt-feuchten Quitten und
Trauben roh auf den Tisch zu bringen;
sie wurden deshalb entweder als Dörr- Hippokras
obst oder gekocht und gezuckert als „Um ein Lot guten Hippokras zu machen, nimm eine Unze cinamonde, genannt langer Pfeifen-
Quittenpaste serviert. zimt, eine Ingwerknolle und ebenso viel Galgant**, verreibe dies gut miteinander, und gib dann
Als ideales Getränk zum Essen be- ein Pfund guten Zuckers zu. Zerstampfe dies alles miteinander und gieße mit einer Gallone des
trachteten die Gesundheitsexperten den besten Burgunders auf, den du bekommen kannst; lass alles ein oder zwei Stunden ruhen. Treibe es
Wein, sofern er nicht im Übermaß genos- mehrmals durch ein Stoffsieb, dann wird es ganz klar.“
** Wurzel eines Ingwergewächses
sen wurde. So preist das um 1310 ver-
fasste und 1478 gedruckte „Buch von
den Weinen“, das allgemein Arnald von mächtnis bekennen; aber auch ohne aus- menten oder dem heutigen Speisesalz.)
Villanova, dem damals führenden Autor drückliche Berufung auf ihn war die Sal bestimmte in diesem Schema den
medizinischer Fachbücher und Leibarzt geistige Verbindung unübersehbar: Wie Geschmack und die Konsistenz der Nah-
Jakobs II. von Aragon, zugeschrieben seinerzeit Paracelsus erklärten diese rung, Mercur war die Quelle von Duft
wird, den vergorenen Saft der Trauben in Hofärzte die Lehre vom universellen und Aroma, und Sulfur lieferte Feuchte
höchsten Tönen. Er sei gut gegen Blä- Lebensprinzip des Garens und von den und Süße; außerdem vermittelte der
hungen und Unfruchtbarkeit. Außerdem, aristotelischen Elementen für irrig. Schwefel zwischen den beiden anderen,
heißt es, „stärkt er das Gehirn und die Noch heute debattieren Wissen- eigentlich gegensätzlichen Elementen.
Kräfte der Natur ..., bewirkt die Verdau- schaftshistoriker über die Ursachen die- Auch die Verdauung wurde nun an-
ung der Nahrung und macht gutes Blut“. ses veränderten Weltbildes. Eine gewisse ders gedeutet: nicht mehr als Garen, son-
Weil Rotwein aber zu Kälte und Tro- Rolle scheint die zunehmende Bedeu- dern als „Fermentation“ oder Gärung
ckenheit neigte, wurde er gern gezuckert, tung der Destillation gespielt zu haben. (meist allgemein im Sinne einer chemi-
gewürzt und – als „Hippokras“ – warm Seit dem späten Mittelalter begannen Al- schen Umsetzung verstanden). Dieser all-
genossen. Die Gäste unserer Tafelrunde chimisten und Quacksalber mit der Er- tägliche und dennoch geheimnisvolle
des 16. Jahrhunderts konnten also unbe- hitzung von allerlei Stoffen aus der Natur Vorgang fand im 17. Jahrhundert beson-
sorgt zugreifen und ein für ihre Begriffe zu experimentieren – darunter auch Ess- deres Interesse. Weil die Fermentation
gesundes Mahl genießen. bares wie Fenchel, Muskatnuss oder Ge- mit einer leichten Erwärmung und der
würznelken. Dabei stellten sie fest, dass Bildung flüchtiger Stoffe einherging,
Das Vermächtnis sich die Ausgangssubstanzen regelmäßig schien sie mit der Verwesung, der Destil-
des Paracelsus in drei Fraktionen zersetzten: eine flüch- lation und der Wechselwirkung von Säu-
tige, „geistige“ Flüssigkeit („Spiritus“), ren und Basen verwandt oder sogar iden-
Ganz anders dachte die Ärzte-Gene- einen öligen Anteil und einen festen tisch zu sein. Besonders von den „Dämp-
ration, die Mitte des 17. Jahrhunderts an Rückstand. fen“, „Geistern“ oder „Lüften“, für die
die europäischen Höfe kam. Ihre Ansich- Solche Beobachtungen veranlassten der Holländer Johann Baptist van Hel-
ten waren beeinflusst von den Lehren Paracelsus, die vier Elemente der Antike mont (1577–1644) bald den Begriff „Ga-
des deutschen Wanderdoktors Paracelsus durch drei neue Grundstoffe zu ersetzen: se“ prägen sollte, waren die damaligen
(1493 –1541), der ab 1520 das Theorie- Mercurius (Quecksilber), Sulfur (Schwe- Chemiker fasziniert; sie sahen darin die
gebäude der klassischen Medizin zu ver- fel) und Sal (Salz); sie sollten jeweils die Essenz des jeweiligen Ausgangsstoffes.
spotten begann. Sein hochfahrendes We- Essenz des Flüssig-Flüchtigen, des Ölig- Viele angesehene Mediziner des 17.
sen und seine radikalen religiösen Über- Brennbaren und des erdhaften Feststof- Jahrhunderts, darunter van Helmont,
zeugungen hatten ihm einen schlechten fes verkörpern. (Dabei sind Quecksilber, Franciscus Sylvius (1614 –1672) von der
Ruf eingebracht, deshalb mochten sich Schwefel und Salz nicht gleichzusetzen Universität Leiden und Thomas Willis

nur wenige Ärzte offen zu seinem Ver- mit den gleichnamigen chemischen Ele- (1621–1675), seinerzeit der bekannteste

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 69


ERNÄHRUNG

Arzt Englands und Gründungsmitglied Verfaulen der Pflanzen ähnelt sehr stark neuer Soßenrezepte, in denen zum Bei-
der Royal Society of London, vertraten der tierischen Verdauung“, erklärte John spiel Mehl und Speisesalz das Element
diese neue Sicht des Verdauungsvorgangs. Arbuthnot, Mitglied der Royal Society Sal beisteuerten, während Essig, Wein,
Danach machten die sauren, scharfen Ma- und Leibarzt von Queen Anne, in einem Spirituosen und Fleisch- oder Fischex-
gensäfte aus der Nahrung eine weiße, mil- 1732 erschienenen Handbuch der Nah- trakte für die Mercur-Komponente sorg-
chige Flüssigkeit, der im Verdauungstrakt rungsmittel. Noch immer erschien die ten. Die erste Mehlschwitze aus Fett,
die alkalische Galle zugesetzt wurde; da- Welt als Küche, nun allerdings mit Brau- Mehl und Wein oder Fond – eine Kombi-
raufhin begann die Mischung zu gären bottichen ausgestattet, von denen sich nation mit einem eigenen, köstlichen Ge-
und Gase zu bilden, wobei sie zu einer Miniaturausgaben auch im menschlichen schmack – beschrieb François Pierre de
salzartigen Substanz wurde, die der Kör- Körper befanden. la Varennes 1651 in seinem Buch „Der
per schließlich in Blut und andere Flüs- Dieser veränderten Sichtweise passte französische Koch“. Viel Anklang fan-
sigkeiten umwandeln konnte. sich auch die Zunft der Küchenmeister den auch leicht verdauliche Blattsalate
an. Aufgeweckte Köche nutzten mit Soßen auf Ölbasis, etwa der Vinai-
die Gunst der Stunde und ver- grette, die Evelyn 1699 in seinem Traktat
Literaturhinweise schafften sich Ansehen mit der „Acetaria: eine Abhandlung über Salate“
Die Kochkunst des Mittelalters. Von Odile Redon, Kreation von Speisen, die nach empfahl.
Françoise Sabban und Silvano Servi. Eichborn, 1993. den neuen Maßstäben gesund-
Acquired Taste: The French Origins of Modern heitsförderlich waren – und ne- Die Verbannung des Zuckers
Cooking. Von T. Sarah Peterson. Cornell Univer- benbei auch noch dem Gaumen
sity Press, 1994. behagten. Gerne verwendeten sie Während sich Früchte, Kräuter und Ge-
The French Paracelsians: The Chemical Challenge zum Beispiel Austern, Sardellen, müse als feste Bestandteile der Haupt-
to Medical and Scientific Tradition in Early Mo- Blattgemüse, Pilze und Obst, weil mahlzeit etablierten, fiel der früher als
dern France. Von Allen G. Debus. Cambridge Uni- diese Nahrungsmittel alle leicht Allheilmittel gepriesene Zucker bei den
versity Press, 1991. fermentierten und daher nicht chemiekundigen Ärzten in Ungnade.
Medieval and Early Renaissance Medicine: An In- aufwendig zubereitet werden „Unter seinem weißen Äußeren“, mo-
troduction to Knowledge and Practice. Von Nancy mussten, um besser verdaulich zu nierte 1606 Joseph Duchesse, Leibarzt
G. Siraisi. University of Chicago Press, 1990. sein. Mit der steigenden Beliebt- des französischen Königs Henri IV.,
heit frischer Pflanzenprodukte ka- „verbirgt der Zucker eine große Schwär-
men auch der Gartenbau und Bo- ze“ – die Ärzte wussten, dass die Zähne
Wie ihre Vorgänger im 16. Jahrhun- tanische Gärten groß in Mode. Forscher davon schwarz wurden – „und unter sei-
dert weiteten die Mediziner auch jetzt und Privatgelehrte tauschten Sämereien ner Süße eine sehr große Schärfe, die der
ihre Vorstellungen zum Schema eines aus, übersetzten Gartenbücher und ent- von aqua fortis [Salpetersäure] gleich-
universellen Lebenskreislaufs aus. Aus wickelten spezielle Gewächshäuser für kommt.“
Samen entstünden durch das Wirken der zartes Gemüse. Auf Beeten aus verrot- Ihm sekundierte der britische Arzt
„Fermente der Erde“ die Pflanzen, er- tendem Dung begann man Pilze zu kul- Willis, der bei bestimmten Kranken, die
klärte der passionierte Gartenbauer John tivieren, und wohlhabende Engländer wir heute Diabetiker nennen würden, die
Evelyn 1675 vor der Royal Society. Gä- aßen nun sogar Auberginen, die sie bis- Ausscheidung zuckerhaltigen Urins be-
rung verwandle Getreide und Früchte in her als widerwärtig abgelehnt hatten. obachtet hatte: „Zucker, rein destilliert,
Brot, Bier und Wein, die das Verdau- Butter, Schmalz, Olivenöl und ande- ergibt eine Flüssigkeit, die aqua fortis
ungssystem weiter fermentieren könne. re Fette bildeten dank ihrer angeblichen kaum nachsteht ... Daher ist es sehr wahr-
Mit der Verwesung der Abfallstoffe be- Fähigkeit, „Mercurisches“ und „Salzi- scheinlich, dass das Versetzen fast aller
ginne der Kreislauf von neuem. „Das ges“ zu verbinden, nun die Basis vieler unserer Nahrung mit Zucker, und zwar in

Der Kreislauf beginnt Samen gären im Boden Rohe Nahrungsmittel


mit den Samen im Boden und wachsen zu Pflanzen heran reifen in den Pflanzen
PATRICIA J. WYNNE

Ausscheidungen Im kosmischen Nahrungszyklus nach 1650


fermentieren
und verwandeln galt die Fermentation (Gärung) als zentraler Lebensvorgang
sich so
allmählich
wieder
zu Boden Die Nahrung wird in Magen und Darm Früchte und Samen werden durch
zu den Lebenssäften vergoren Fermentation zu Bier, Wein und Brot

70 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Die drei Prinzipien,
nach denen im späten 17. Jahrhundert die Nahrungsmittel eingeteilt wurden nahrhaften Säfte freizusetzen und diese
schließlich wieder zu vereinigen und zu
mischen.“
Die neue Ernährungsweise breitete
sich allmählich über ganz Europa aus
und drang dabei auch zu den niedrigeren
Gesellschaftsschichten vor. Mitte bis En-
de des 19. Jahrhunderts hatte sie sich im
Das Prinzip Sulfur englisch- und französischsprachigen Eu-
macht Speisen fettig, verbindet ropa, in den USA, in Kanada und Austra-
„salzige“ und mercurische Speisen lien durchgesetzt. Die islamische Welt
(Öl, Butter, Schmalz) und Lateinamerika hingegen blieben un-
Das Prinzip Mercurius berührt von den chemisch-medizinischen
PATRICIA J. WYNNE

Das Prinzip Sal macht Speisen flüchtig oder Ideen des Paracelsus und der davon ab-
gibt den Speisen Geschmack gasförmig, verleiht ihnen Duft geleiteten Ernährungstheorie. Nicht von
(Salz, Mehl) (Essig, Wein, Fleischextrakt) ungefähr erinnern uns daher die Currys
der indischen und die Moles der mexika-
nischen Küche an Gerichte, die man in
großen Mengen und täglich, das Blut Geflügel. Eine Vielzahl von Rezepten für Mitteleuropa vor Paracelsus kannte.
und die Säfte salzig und scharf macht; liebevoll garnierte Rinderbouillons be- Die westliche Küche, ein Kind des
und damit skorbutisch.“ Zucker war also schrieb Vincent la Chapelle, ein französi- 17. Jahrhunderts, sollte sich als wesent-
bedenklich, wenn nicht gar ein Gift. scher Koch in den Diensten des Earl von lich zählebiger erweisen als die ihr zu
Derlei düstere Warnungen taten ihre Chesterfield in England, im Jahre 1733 Grunde liegenden Lehrmeinungen. Am
Wirkung. Jeder Koch hätte es sich drei- in seinem Buch „Der moderne Koch“, Ende des 18. Jahrhunderts hatten in Che-
mal überlegt, seine Gäste zum Verzehr das in kürzester Zeit auch ins Französi- mie und Medizin bereits die Forschun-
des verpönten Stoffs zu nötigen, indem sche übersetzt wurde. gen begonnen, denen wir unser heutiges
er ihn einfach über die Hauptgerichte Wissen über Kalorien, Kohlenhydrate,
streute. So geriet der Zucker an den Die ersten Restaurants Proteine, Vitamine und Mineralstoffe
Rand der Speisenfolge und tauchte nur verdanken. Doch im 19. und 20. Jahr-
noch in Desserts auf, die überdies in ei- Bald entdeckten Unternehmer das Ge- hundert war das zentrale Thema die Ver-
ner separaten Küche zubereitet wurden. schäftspotenzial dieser neuen Küche und sorgung der Massen: Wie hatte eine billi-
Die neue Einstellung zum Zucker äußert verkauften die „Restaurants“, zu deutsch ge, aber ausreichende Ernährung für we-
sich auch im Aufkommen einer ganzen „Stärkungsmittel“, an Haushalte ohne ei- nig begüterte Schichten wie Fabrikarbei-
Gattung von Büchern, die sich aus- genen Koch. Das aufstrebende europäi- ter und Soldaten auszusehen? Nicht
schließlich mit seiner Eignung zum Ver- sche Bürgertum bemühte sich, es dem mehr den Reichen, sondern den Armen
zieren und Garnieren befassten und kein Adel gleichzutun, und kam so auch auf galt also das Hauptaugenmerk der neue-
Wort über seinen Wert für die Ernährung den Geschmack der „Restaurants“ und ren Ernährungswissenschaft, während
oder Gesundheit verloren. der neuen Küche überhaupt. die Entwicklung der westlichen Cuisine
Spirituosen und andere Destillate gal- Diese Speisen galten als Zeichen einer durch die Küchenchefs der besseren Ge-
ten als wirksame Arzneien. Zwar war ge- verfeinerten Lebensart – nicht nur aus Ge- sellschaft weiterhin den Vorgaben des
gen ein Schlückchen Kräuterlikör oder schmacksgründen, sondern auch, weil die 17. Jahrhunderts folgte.
ein Schnäpschen hin und wieder nichts einzelnen Nahrungsmittel darin in ihrer Heute kann in den westlichen Indus-
einzuwenden, aber für den täglichen stärksten, am höchsten veredelten Form trienationen zwar fast jedermann so es-
Konsum erschienen sie aus medizinischer auftraten. Der Autor der gastronomischen sen wie früher nur die Wohlhabenden,
Sicht zu stark. Für leichter verdaulich Abhandlung „Die Gaben des Comus“ aber inzwischen kennen wir auch die
hielt man die nicht so konzentrierten Ex- (Paris 1739; comus ist die latinisierte Schattenseiten dieser Ernährungsweise.
trakte, die aus Fleisch oder anderen nahr- Form von griechisch komos = Fest- Der gesundheitliche Wert von frischem
haften Lebensmitteln durch Kochen oder schmaus) drückte es so aus: „Die Arbeit Obst und Salat ist immer noch unbe-
Vergären hergestellt wurden. Sich entwi- eines modernen Kochs gleicht der eines stritten, aber der Fettreichtum unserer
ckelnde Gasbläschen begrüßte man als Chemikers. Die Kochkunst besteht darin, Nahrung (eine Folge der überkommenen
Essenz und Ausdruck der Güte einer die Nahrungsmittel aufzuschließen, in Vorliebe für Fleisch und fettige Soßen)
Speise sowie als Gehirnnahrung. Spru- ihre Quintessenzen zu zerlegen und diese dürfte für den hohen Anteil übergewich-
delnde Mineralwässer erfreuten sich au- zu extrahieren, dadurch die leichten und tiger Menschen in den meisten hoch ent-
ßerordentlicher Beliebtheit, und überall wickelten Ländern ver-
in Europa wurden Heilbäder eröffnet. antwortlich sein. Deshalb
Bei Tisch wich der heiße, würzige Hip- Rachel Laudan hat an der Universität London in arbeiten Ärzte und Köche
pokras kühlen Weinen und dem prickeln- Geschichte und Wissenschaftsphilosophie promo- nun wieder gemeinsam an
den Champagner, der wohl gegen Ende viert und an mehreren amerikanischen Universitä- einer neuen Küche, wel-
des 17. Jahrhunderts erfunden wurde. ten Wissenschafts- und Technikgeschichte gelehrt. che bei aller angestrebten
Für sehr gesundheitsförderlich hielt Sie ist Autorin des Buches „From Mineralogy to Schmackhaftigkeit auch
man Fleisch- oder Fischextrakte, die als Geology: The Foundations of Science 1650–1830“ die neuesten Erkenntnis-
Fond, Bouillon oder Gelee serviert wur- (University of Chicago Press, 1987) und erhielt se aus Physiologie und
den. Dabei sollte das Fleisch von Land- den Jane-Grigson-Preis für Nahrungsmittelkunde Ernährungslehre berück-
tieren, insbesondere von Rindern, einen der Julia-Kinderkochbücher-Stiftung. sichtigt – wie schon ein-
nahrhafteren Saft ergeben als Fisch oder mal vor 350 Jahren. ■

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 71


SPEKTRUM-INTERVIEW

Das Ende des freien Willens?


Neue Erkenntnisse der Hirnforschung verändern unser Bild vom Menschen.
Prof. Dr. Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, äußert sich über Bewusstsein,
die Grenzen des freien Willens und die Folgen für unser Rechtssystem und Erziehungswesen.
Spektrum: Herr Professor Singer, war suchungsgegenstand und Untersuchender nicht vorstellen, was im Kopf des ande-
es Ihr freier Wille, uns hier und jetzt ein sind nicht identisch. Bei der Suche nach ren Tieres vor sich geht, wenn dieses sich
Interview zu geben? den neuronalen Grundlagen psychischer in einer bestimmten Situation befindet.
Singer: Ich fürchte nein, und die Be- Phänomene wie Bewusstsein oder freier Selbst hoch entwickelte Tiere können
dingtheiten kennen Sie: Dem Gespräch Wille untersucht der Forscher sich jedoch dies nur dann, wenn das beobachtete Tier
gingen Telefonate voraus und dann ge- selbst – betrachtet Phänomene aus der seine Stimmung eindeutig zu erkennen
wisse kognitive Prozesse in meinem Ge- Dritte-Person-Perspektive, die er zugleich gibt. Wenn Schimpansen einen Artge-
hirn, die letztlich dazu führten, dass ich aus der Ich-Perspektive der ersten Person nossen in Wut sehen, dann wissen sie:
zugesagt habe, das Interview zu führen. wahrnimmt. Jetzt ist er wütend. Aber wenn sie einen
Spektrum: Ihr Kollege, der Hirnforscher Spektrum: Wo liegt das Problem? anderen Schimpansen still sitzen sehen,
Gerhard Roth, hat unlängst in einem Singer: Wir finden weder sinnhafte der eine Spinne sieht und offenbar gar
Spektrum-Interview die Behauptung ge- Zuschreibungen noch kulturelle Kon- nicht darauf reagiert, dann können die
wagt, unser freier Wille existiere eigent- strukte in unserem Forschungsobjekt, sich nicht vorstellen, dass er Angst hat
lich gar nicht und sei nur eine nützliche dem Gehirn. und nur deshalb ruhig sitzen bleibt, weil
Illusion. Wie denken Sie darüber? Spektrum: Bitte konkretisieren Sie das! er vortäuschen will, keine Angst zu ha-
Singer: Die Frage des freien Willens ist Singer: Ich meine Phänomene wie Inten- ben. Allein wir Menschen können solche
eine der wichtigsten, die gegenwärtig an tionalität, also das absichtsvolle Handeln Interpretationsleistungen erbringen. Nur
der Berührungsfläche zwischen Natur- oder eben den so genannten freien Willen. wir können uns vorstellen, was im ande-
und Kulturwissenschaften diskutiert wer- Denken Sie aber auch an soziale Realitä- ren vorgehen könnte, wenn er sich in ei-
den. Das Problem ist, dass wir als Natur- ten wie zum Beispiel Wertesysteme! Die- ner bestimmten Situation befindet. Hier
wissenschaftler bei der Beschreibung se Phänomene erschließen sich nur der sprechen wir von der Fähigkeit, eine
unserer Forschungsobjekte stets aus der subjektiven Erfahrung, gehören aber den- Theorie des Geistes aufzustellen.
Dritte-Person-Perspektive urteilen: Unter- noch zu den erforschbaren Wirklichkei- Spektrum: Können Sie mit einer Theo-
ten. Wir empfinden uns als „frei“, wir rie des Geistes Zugriff auf die individuel-
handeln auch danach, ja ziehen Menschen le Eigenempfindung eines anderen Men-
sogar zur Verantwortung, weil wir anneh- schen erlangen?
men, sie seien „frei“. Diese Konzepte ha- Singer: In gewisser Weise ja. Ich nehme
ben auch insofern den Status von Realitä- an, dass Sie so empfinden wie ich. Ich
ten, als sie sehr wirksam sind. Sie bestim- schreibe Ihnen Freiheit zu, weil ich
men unser Handeln, bestimmen unser selbst sie in der ersten Person empfinde,
Rechtssystem, unsere Erziehungsweisen. und ich beurteile Sie entsprechend. Aber
Spektrum: Leidet die Hirnforschung also keinen der entsprechenden Inhalte be-
an einer Art Messproblem? komme ich aus der Dritte-Person-Per-
Singer: An einem Problem der Unver- spektive zu fassen.
einbarkeit verschiedener Beschreibungs- Spektrum: Was ist bei der Frage nach
systeme, würde ich sagen. Das ist mehr dem freien Willen das Kernproblem?
als ein Messproblem. Wir beschreiben Singer: Das wesentliche Problem ist,
die Phänomene, die ich gerade angespro- dass wir annehmen, das Verhalten von
chen habe, in der subjektiven Erste-Per- ganz einfachen Organismen – Plattwür-
son-Perspektive. Anders sind sie gar mern oder Schnecken etwa – lückenlos im
nicht fassbar. In der Dritte-Person-Per- Rahmen unserer naturwissenschaftlichen
spektive der naturwissenschaftlichen Be- Beschreibungssysteme erklären zu kön-
schreibungsweise existieren diese Phä- nen. Das bedeutet, wir können Verhalten
nomene nicht. auf neuronale Prozesse zurückführen.
Spektrum: Nur ich erlebe, dass ich et- Niemand wird gegenwärtig bezweifeln,
was Bestimmtes tun will, aber niemand dass es möglich ist vorauszusagen, was
FOTOS: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

anders ... ein Wurm als nächstes tun wird, wenn die
Singer: Niemand anders außer Ihnen. Zu- Gesamtheit aller Erregungszustände sei-
griff auf die Empfindungen und Bewer- ner Nervenzellen messbar wäre.
tungen des Gegenübers erhalte ich nur in- Spektrum: Ist das denn schon Stand der
direkt mit Hilfe einer Theorie des Geistes. Forschung?
Spektrum: Das bedeutet? Singer: Bei ganz einfachen Tieren –
Singer: Lassen Sie mich etwas ausho- oder sagen wir besser: Nervensyste-
len! Tiere können sich im Allgemeinen men – ist es schon fast möglich.

72 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


Spektrum: Sie meinen, Sie haben beschrieben, die zunächst in der
es vielleicht noch nicht ganz er- Neurobiologie nicht vorkommen.
reicht, aber bald? Wir sprechen beispielsweise von
Singer: Wir glauben zumindest, „Aufmerksamkeit“: Wir sagen,
dass es prinzipiell möglich ist. ein Tier sei jetzt „aufmerksam“,
Wir müssen dazu nur technische oder es lenke seine „Aufmerk-
Probleme überwinden, die mit samkeit“ auf einen bestimmten
der Komplexität und den Mess- Reiz. Wir benutzen zur Definition
instrumenten zu tun haben. einer kognitiven Leistung, deren
Spektrum: Und wo liegt nun die neuronales Substrat wir erklären
Schwierigkeit? wollen, Begriffe, die wir Be-
Singer: Die Schwierigkeit liegt schreibungssystemen entlehnen,
darin, dass wir unsere Evolu- die wir aus der Erste-Person-Per-
tionstheorien für zutreffend hal- spektive heraus entwickelt haben.
ten und viele Hinweise dafür ha- In diesen Beschreibungssystemen
ben, dass sich die Herausbildung kommen Neuronen naturgemäß
komplexer Organismen tatsäch- nicht vor.
lich so vollzogen hat, wie es in Spektrum: Sie legen hier also
Darwins Theorie dargestellt wird. eine Theorie des Geistes zu
Wir gehen also davon aus, dass Grunde.
bei der Evolution der Arten alles Singer: Richtig. Ich identifiziere
„mit rechten Dingen“ zugegangen Phänomene, die ich nur erkennen
ist und dass sich die Ausbildung neuer, ckenlos aus der Dritte-Person-Perspek- kann, weil ich über subjektive Erfahrun-
höherer Verhaltensleistungen ausschließ- tive mit naturwissenschaftlichen Termen gen verfüge und über die Fähigkeit, deren
lich der Entwicklung immer komplexerer beschreiben lässt, gehen Phänomene her- Inhalte sprachlich zu fassen. Damit bin
Nervensysteme verdankt. Diese Ent- vor, die in diesem Beschreibungssystem ich in der Lage, kognitive Leistung zu de-
wicklung beruht wiederum durchweg auf nicht mehr vorkommen. Letztere werden finieren, für die ich dann aus der Dritte-
Prozessen, die vollständig in der Dritte- durch subjektives Erleben erfasst und im Person-Perspektive neuronale Korrelate
Person-Perspektive beschreibbar sind. zwischenmenschlichen Diskurs themati- suchen kann, also Korrelate, die in natur-
Mit anderen Worten: In der Kette von siert. Und wie gesagt, es handelt sich wissenschaftlichen Beschreibungssyste-
Ereignissen, die zur Ausbildung komple- auch hierbei um etwas Reales: um erleb- men darstellbar sind.
xer Organismen – letztlich zum Men- bare soziale Realitäten. Spektrum: Das wird aber sehr schwie-
schen – geführt hat, gibt es nirgends Spektrum: Stößt hier die Naturwissen- rig sein.
Sprünge. Ich muss keine Agenten ... schaft an ihre Grenze? Singer: Erstaunlicherweise nicht. Im
Spektrum: ... keinen Gott ... Singer: Just an diesem Punkt entzündet Gehirn von Affen und anderen Säugetie-
Singer: ... keine Agenten postulieren, die sich die heftige Debatte: Kann Naturwis- ren finden sich Strukturen, die selektiv
in der wissenschaftlichen Dritte-Person- senschaftlern überhaupt zugetraut wer- aktiv werden, wenn das Tier seine Auf-
Perspektive nicht darstellbar wären. Und den, sich auch zu diesen, eigentlich nur in merksamkeit steigert oder auf bestimmte
dennoch entstehen offenbar aus der der Erste-Person-Perspektive fassbaren Inhalte lenkt. Es lässt sich sogar bestim-
Wechselwirkung der auf diese Weise ent- Realitäten zu äußern? Die einen meinen men, auf welchen Sinneskanal oder auf
standenen komplexen Organismen Phä- ja. Dies sind meist Naturforscher, die für welchen Inhalt das Tier seine Aufmerk-
nomene, die nicht mehr in dem Beschrei- die Einheit der Wissenschaft plädieren. samkeit jeweils gerichtet hat. Wenn das
Die anderen – meist Kul- Tier seine Aufmerksamkeit auf ein be-
turforscher – behaupten, stimmtes Objekt lenkt, werden Nerven-
Wir stoßen an Grenzen, wenn der „freie hier würden Kategorien- zellen, die auf dieses Objekt reagieren,
Fehler gemacht, und das stärker aktiv oder synchronisieren ihre
Wille“ zum Objekt der Forschung wird Vorhaben einer Einheits- Antworten. Ganze Gruppen von Nerven-
wissenschaft sei prinzipiell zellen schließen sich zu synchron oszil-
nicht realisierbar. lierenden Ensembles zusammen, wenn
bungssystem vorkommen, das erklärt, wie Spektrum: Und wo stehen Sie? die Inhalte, die sie codieren oder vermit-
sich diese Organismen entwickelt haben. Singer: Ich denke, dass hier nichts ande- teln, mit Aufmerksamkeit belegt werden.
Der so genannte freie Wille ist dafür eines res vorliegt als in allen anderen Situa- Auch gibt es im Gehirn Nervenzellen,
der faszinierendsten Beispiele. tionen, in denen man zwischen verschie- die nur dann aktiv werden, wenn das Tier
Spektrum: Andererseits verfügen wir denen Beschreibungssystemen hin- und wach und aufmerksam ist.
Menschen aber doch über unser eigenes herwechselt. Das ist uns doch geläufig, Spektrum: Sie haben eben nur von ei-
Erleben als Beschreibungssystem. Das ei- gerade innerhalb der Naturwissenschaf- nem „Korrelat“ gesprochen. Gibt es kei-
gene Erleben ist für uns selbstverständ- ten. Sehr oft sind Phänomene, die es zu ne kausalen Zusammenhänge zwischen
lich: Kein Mensch hält es für problema- erklären gilt, in anderen Beschreibungs- den Gehirnprozessen, die Sie als Wissen-
tisch, dass er sich selbst erlebt, dass er ein systemen erfasst als die elementaren Pro- schaftler aus der Dritte-Person-Perspek-
Bewusstsein hat und dass er etwas Be- zesse, die den jeweiligen Phänomenen zu tive beschreiben, und dem Phänomen
stimmtes tun oder lassen will. Grunde liegen. „Aufmerksamkeit“, das der Erste-Per-
Singer: Genau in diesem individuellen Spektrum: Könnten Sie bitte ein Bei- son-Perspektive entstammt?
Erleben erfahren wir uns als „frei“. Und spiel nennen? Singer: Doch, das sind ja kausale Be-
daraus ergibt sich der Konflikt. Aus ei- Singer: Die Verhaltensleistung eines hö- ziehungen. Es ist nur schwierig, das zu

nem Entwicklungsprozess, der sich lü- her organisierten Tieres wird in Begriffen beweisen.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 73


SPEKTRUM-INTERVIEW

Spektrum: Ah, jetzt wird es spannend! Knall hinter mir höre, werfe ich „unwill- Bewusstsein heben. Denken Sie zum
Singer: Man kann durchaus neuronale kürlich“ den Kopf herum, um zu sehen, Beispiel an vegetative Kontrollfunktio-
Strukturen angeben, die für Aufmerksam- was passiert ist. nen der Nierentätigkeit!
keitsprozesse verantwortlich sind. Die Spektrum: Ich kann mich doch auch Spektrum: Können wir denn zwischen
besten Beispiele dafür kommen aus der freiwillig – ohne vorhergehenden äuße- dem Gehirn und der erkennenden Person
Klinik: Wenn bestimmte Strukturen des ren Reiz – nach hinten umdrehen. überhaupt so penibel trennen?
Gehirns zerstört werden, sind die Patien- Singer: Die Frage ist, wie „frei“ Ihr Singer: Das genau ist der Sprung zwi-
ten nicht mehr in der Lage, ihre Aufmerk- Handeln dabei tatsächlich ist. schen den zwei Beschreibungssystemen.
samkeit auf bestimmte Bereiche ihrer Spektrum: Ich kann meinen Blick belie- Spektrum: Aber das Ich-Erlebnis wird ja
Wahrnehmungswelt zu richten. Häufig big durch Ihr Büro schweifen lassen und vom Gehirn „gemacht“, ist insofern Be-
betrifft das dann Körperregionen oder ei- empfinde mich dabei durch nichts Äuße- standteil der Aktivität des Gehirns. Trotz-
nen Teil des Gesichtsfeldes. Das Gleiche res veranlasst ... dem erlebe ich mich als getrennt von der
kennen wir aus Tierversuchen. Wenn be- Singer: Halt, nicht so schnell! Sie be- Aktion meines Gehirns, die ich nur sehr
stimmte Hirnstrukturen vorübergehend schreiben die Dinge jetzt wieder aus der marginal verstehe.
inaktiviert werden – durch Kühlung zum Erste-Person-Perspektive. Aber auch bei Singer: Und deshalb denke ich, dass das
Beispiel – kommt es zu Aufmerksam- Ihrer scheinbar „freien“ Änderung der Problem des „freien Willens“ daher rührt,
keitsdefiziten, die zu den gleichen dass wir Kulturwesen sind, Wesen
Verhaltensänderungen führen wie mit Gehirnen, die uns in die Lage
beim Menschen. Auf diese Weise versetzt haben, eine Theorie des
lässt sich eine direkte Ursache- Geistes zu erstellen und damit kul-
Wirkung-Beziehung herstellen. turelle Konstrukte und soziale
Spektrum: Sie kennen also die Realitäten aufzubauen, die für uns
materielle Ursache des Erlebens? dann wiederum als Realitäten er-
Singer: In diesem Fall kennen wir fahrbar werden.
die materielle Ursache für das Ver- Spektrum: Ist denn das Erlebnis,
mögen, Aufmerksamkeit auf be- sich frei für dieses oder jenes ent-
stimmte Inhalte zu richten – und scheiden zu können, nur ein so-
daraus folgend für das Vermögen, ziales Konstrukt? Ist es nur tra-
diese Inhalte „bewusst“ wahrzu- diert? Haben es die frühen Men-
nehmen, im Gedächtnis abzuspei- schen einmal irgendwie entwi-
chern, sich daran zu erinnern. ckelt, und ab dann ist es immer
Spektrum: Damit haben Sie eine nur noch von den Eltern an ihre
von vielen Ursachen für ein be- Kinder weitergegeben worden?
stimmtes Erleben identifiziert. Singer: So würde ich das sehen.
Singer: Richtig. Im Fall der Auf- Spektrum: Dann wäre es denk-
merksamkeit gelingt das schon bar, dass es irgendwo eine isolier-
recht gut. Im Hinblick auf das Be- te Menschengruppe gibt, die Vor-
wusstsein kann man zumindest an- stellungen ganz anderer Art ent-
geben, welche Strukturen intakt wickelt und tradiert hat und dass
sein müssen, damit Bewusstsein diese auch stabil sind.
überhaupt möglich ist. Was uns noch Blickrichtung – ohne vorherigen Knall Singer: Vermutlich ja. Denken Sie da-
schwer fällt, ist, das neuronale Korrelat im Hintergrund –, bei der Entscheidung ran, wie in bestimmten Religionsge-
für Bewusstsein an sich zu identifizieren. „von innen heraus“, folgen Sie ja wieder meinschaften Handlungsmotive erklärt
Wir wissen noch nicht, wie die Repräsen- Zuständen, die vom Gehirn zuvor er- wurden oder werden: Menschen empfin-
tation der Inhalte des Bewusstseins im zeugt wurden – nur diesmal nicht infolge den sich als „gelenkt“ und schreiben die
Gehirn organisiert ist. Das muss irgendein eines äußeren Reizes. In diesem Fall Initiative für ihr Handeln nicht sich
verteilter Zustand sein, der sich jedoch werden die Attraktoren, die Ihre Auf- selbst zu, sondern einer Gottheit.
unseren analytischen Möglichkeiten noch merksamkeit lenken, von innen heraus Spektrum: Es könnte auch ein Teufel
entzieht. Ein singuläres Zentrum, in dem erzeugt, als Folge der sich ständig wan- sein. Wir kennen ja den Begriff der Be-
das Bewusstsein zu lokalisieren wäre, gibt delnden Zustände Ihres Gehirns. sessenheit.
es jedoch mit Sicherheit nicht. Spektrum: Bin ich dann sozusagen im- Singer: Es könnte auch ein Teufel sein.
Spektrum: In welcher Beziehung stehen mer nur das Opfer meiner Gehirnzustän- Solche Zuschreibungen finden wir in
denn nun Aufmerksamkeit und freier Wil- de? Und ist das Gehirn oder sein momen- unserer eigenen Kulturgeschichte. Und
le? Meine Aufmerksamkeit kann ich doch taner Zustand denn nicht irgendwie auch wir wissen aus der Psychopathologie,
frei lenken, oder? Teil meines Selbst? was passiert, wenn ein Konstrukt wie der
Singer: Jetzt fragen Sie, ob ich meine Singer: Auch wenn das Gehirn schein- freie Wille zusammenbricht. Bei be-
Aufmerksamkeit über meinen so ge- bar nichts tut, ist es stets damit beschäf- stimmten Schizophrenie-Formen ist es
nannten freien Willen von A nach B len- tigt, Inhalte zu ordnen, Bezüge herzustel- gerade ein Leitsymptom, dass sich Pa-
ken kann, oder ob sich meine Aufmerk- len, Lösungen zu finden, Modelle zu ent- tienten nicht mehr „frei“ fühlen können.
samkeit nicht vielmehr – einem sich werfen, sogar wenn Sie schlafen. Sie Sie empfinden sich als „gelenkt“. „Es“
selbst organisierenden Prozess folgend – werden jedoch nur eines kleinen Teils spricht zu ihnen und befiehlt, obwohl
auf auffällige Strukturen richtet. Ganz dieser Arbeit gewahr. Ins Bewusstsein dieses „Es“ Teil ihres Selbst ist. Mit Hil-
sicher tut sie das ja, wenn äußere Reize gelangt nur das Wenige, auf das Sie Ihre fe der funktionellen Kernspintomografie
meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aufmerksamkeit lenken können. Man- lässt sich zeigen, dass es bei diesen Pa-
Wenn ich beispielsweise einen lauten che Vorgänge können wir sogar nie ins tienten zu abnormen Aktivitätsverteilun-

74 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


gen in der Hirnrinde kommt. Das hallu- real, aus Sicht der Naturwis-
zinierende Gehirn erzeugt selbst Aktivi- senschaft jedoch nicht exis-
tätsmuster, die es als von außen kom- tent: Was wird sich in unserem
mend und es lenkend wahrnimmt. Leben, in unserer Gesell-
Spektrum: Kommen wir noch einmal auf schaft ändern, wenn der Ur-
unsere Ausgangsfrage zurück! Sie würden altgedanke, die Menschen
also ebenfalls behaupten, dass der „freie könnten ihre Entscheidungen
Wille“ lediglich eine Illusion ist, oder? „frei“ treffen, sich als hinfäl-
Singer: Ich würde mich auf die Position lig erweist? Können wir dann
zurückziehen, dass es zwei voneinander niemanden mehr zur Verant-
getrennte Erfahrungsbereiche gibt, in de- wortung ziehen?
nen Wirklichkeiten dieser Welt zur Ab- Singer: Ich glaube, dass sich
bildung kommen. Wir kennen den natur- an der Art, wie wir miteinan-
wissenschaftlichen Bereich, der aus der der umgehen, nicht sehr viel
Dritte-Person-Perspektive erschlossen ändern würde, wenn wir der
wird, und den soziokulturellen, in dem naturwissenschaftlichen Sicht-
sinnhafte Zuschreibungen diskutiert wer- weise mehr Bedeutung zumä-
den: Wertesysteme, soziale Realitäten, ßen. Wir würden allerdings –
die nur in der Erste-Person-Perspektive und das wäre erfreulich – ver-
erfahrbar und darstellbar sind. Dass die mutlich ein wenig toleranter
Inhalte des einen Bereichs aus den Pro- werden, nachsichtiger, ver-
zessen des anderen hervorgehen, muss ständnisvoller. Wir würden
ein Neurobiologe als gegeben annehmen. nicht so schnell aburteilen.
Insofern muss, aus der Dritte-Person- Spektrum: Was sollte uns da
Perspektive betrachtet, das, was die Er- nachsichtiger machen? er seine Tat wiederholen kann und zwei-
ste-Person-Perspektive als freien Willen Singer: Die gleiche Überlegung, die uns tens versuchen, ihn durch erzieherische
beschreibt, als Illusion definiert werden. gegenüber Epileptikern und Schizophre- Maßnahmen, durch Verhaltensbeein-
Aber „Illusion“ ist, glaube ich, nicht das nen nachsichtig gemacht hat. Als wir flussung, zum Besseren hin zu bewegen.
richtige Wort, denn wir erfahren uns ja jene noch als vom Teufel besessen ange- Ich muss daran arbeiten, diejenigen At-
tatsächlich als frei. sehen haben, haben wir sie ausgegrenzt, traktoren in seinem Gehirn zu stärken,
Spektrum: Wie real ist unsere Freiheit verurteilt und sind nicht sehr zimperlich die die fragliche Tötungsschwelle höher
denn nun? mit ihnen umgegangen. Als wir dann be- setzten. Wir würden Straftäter also weg-
Singer: Sie ist als Erfahrung real. Ich griffen haben, dass sie krank sind, haben sperren und bestimmten Erziehungs-
habe beispielsweise gerade jetzt das Ge- wir zwar immer noch versucht, sie vor programmen unterwerfen, die durchaus
fühl, dass ich auch aufstehen könnte. Ich sich selbst zu schützen – oder uns vor auch Sanktionen einschließen. Wir wis-
tue es aber aus bestimmten Gründen ihnen, wenn sie für uns gefährlich wur- sen doch, dass Erziehung sowohl der
nicht. Beim freien Willen ist es doch so, den. Aber wir gehen wegen der Einsicht Belohnung als auch der Sanktionen be-
dass wohl fast alle Menschen unseres in die Bedingtheit ihres Verhaltens nun darf. Mit anderen Worten: Wir würden
Kulturkreises die Erfahrung teilen, wir wesentlich humaner mit ihnen um. Wir hübsch das Gleiche tun wie jetzt auch
hätten ihn. Solcher Konsens gilt im All- haben sie als Opfer verstanden, die für schon. Allein die Betrachtungsweise
gemeinen als hinreichend, einen Sach- ihre Handlungen nichts können. Ähnlich hätte sich geändert.
verhalt als zutreffend zu beurteilen. Ge- könnte ich mir vorstellen, dass unser Spektrum: Aus ihren Erfahrungen als
nauso zutreffend ist aber die konsens- Umgang mit Menschen, die wir heute als Verhaltensforscher schöpfen Sie also ein
fähige Feststellung der Neurobiologen, „Kriminelle“ bezeichnen, verständnis- optimistischeres Bild, was die Formbar-
voller werden könnte – keit von Menschen anbelangt.
ohne dass sich allerdings Singer: Ich räume dieser Formbarkeit ei-
unser Strafvollzug grundle- nen sehr großen Raum ein. Ich bin der
Unser Umgang mit „Kriminellen“ könnte gend änderte. festen Überzeugung, dass die wichtigsten
verständnisvoller werden Spektrum: Wie meinen Sie Berufe in unserer Gesellschaft die von El-
das denn? tern und Erziehern sind, jenen, die die
Singer: Nehmen wir ein- Aufgabe haben, Verhaltensweisen und
dass alle Prozesse im Gehirn determinis- mal an, es gebe jemanden, der eine sehr kulturelle Weisheiten in die nächste Gene-
tisch sind und Ursache für eine jegliche niedrige Tötungsschwelle hat, aus wel- ration zu übertragen. Und die dafür sor-
Handlung der unmittelbar vorangehende chen Gründen auch immer – genetisch gen, dass Erfahrungen, die zu Friedfertig-
Gesamtzustand des Gehirns ist. Falls es bedingt, durch die Umwelt bedingt – keit ermuntern und für humanes Zusam-
darüber hinaus noch Einflüsse des Zu- spielt in diesem Fall gar keine Rolle. menleben notwendig sind, auch so instal-
falls gibt, etwa durch thermisches Rau- Aus einem nichtigen Anlass mordet die- liert werden, dass sie handlungsrelevant
schen, dann wird die je folgende Hand- ser Jemand. Dann folgt für uns aus dem werden. Ich messe dieser Tradierung kul-
lung etwas unbestimmter, aber dadurch neuen Modell: Die fragliche Person ist tureller Inhalte einen enormen Einfluss
noch nicht dem „freien Willen“ unter- für die Gesellschaft extrem gefährlich, bei. Nichts ist wichtiger als der erziehe-
worfen. weil sie ihre Tat bei jedem vergleich- rische Prägungsprozess unserer Kinder. ■
Spektrum: Was sind die Konsequenzen baren Anlass immer wieder begehen
dieser Vorstellungen? Wenn sich einmal könnte. Also muss man sich vor ihr Die Fragen stellten Inge Hoefer
Ihre Erkenntnis durchsetzt, der freie Wille schützen. Ich muss den Betreffenden und Christoph Pöppe von
sei nur in der Erste-Person-Perspektive also zunächst einmal daran hindern, dass Spektrum der Wissenschaft.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 75


TECHNOSKOP

OPTRONIK könnte beispielsweise aus einem Signal,


das mit 160 Gigabit pro Sekunde durch
ihn durchrast, ein einzelnes Bit heraus-
Lichtschalter für greifen und auf einen anderen Weg brin-
gen. Dazu sind Schaltzeiten von einer
Billionstel Sekunde erforderlich. In die-
Glasfasernetze ser Zeit bewegt sich ein Düsenjet gerade
einmal um einen Atomdurchmesser vor-
wärts. Nur Licht kann Licht so schnell
Netzknoten sind der Flaschenhals der schnellen schalten.
Kommunikationsleitungen, denn die Vermittlung von Warum hat man ein solches Bauele-
ment nicht längst realisiert? Die Antwort
Signalen erfolgt bislang elektrisch. gibt die Alltagserfahrung: Licht beein-
flusst Licht normalerweise nicht, Wellen
Denn ein Kommunikationsnetz be- verschiedener Frequenzen durchdringen
Von Klaus-Dieter Linsmeier steht nicht allein aus Leitungsstrecken, die Ausbreitungsmedien, ohne voneinan-
Sendern und Empfängern, sondern auch der Notiz zu nehmen.
in Terabit pro Sekunde – diese un- aus Vermittlungsstellen, die Signale bei- Doch dieses Alltagswissen ist streng

E glaubliche Datenrate, die rechne-


risch der Bündelung von 16 Millio-
nen ISDN-Kanälen entspricht, soll ame-
spielsweise von einer Glasfaser auf eine
andere schalten, bis sie am Bestim-
mungsort ankommen. Dafür muss man
genommen der physikalische Grenzfall
für kleine Lichtintensitäten, die so ge-
nannte lineare Optik. Innerhalb ihrer
rikanischen Prognosen zufolge bereits in derzeit noch optische in elektrische Grenzen bleibt die Lichtgeschwindigkeit
fünf Jahren auf einer einzigen Glasfaser Signale umwandeln und nach dem in einem Medium beziehungsweise seine
erreicht werden. Derzeit sind es vierhun- Schalten daraus erneut solche aus Licht Brechkraft unabhängig von der Intensi-
dertmal weniger: Die optischen Netze generieren. Das setzt der Geschwin- tät. Bei großen Werten aber gilt das nicht
der Deutschen Telekom befördern zwi- digkeit Grenzen: Derzeit sind zehn Giga- mehr, dort beginnt die nichtlineare Op-
schen den Großstädten 2,5 Gigabit (Mil- bit pro Sekunde das Maximum beim tik. Die wohl vielversprechendste Idee
liarden Bit) pro Sekunde. Die enorme Schalten, das Vierfache soll bald mög- des optischen Schalters beruht auf ihren
Leistungssteigerung wird teilweise das lich sein. Prinzipien: Ein Steuersignal aus Licht
Ergebnis optimierter Übertragungstech- Die Lösung für diesen Flaschenhals verändert den Brechungsindex des Lei-
niken auf dem Lichtleiter sein, sie lässt steht schon in den Startlöchern: Der rein tungsmediums so, dass Interferenzphä-
sich aber ohne ein neues Bauelement optische Schalter, der ohne den Umweg nomene entstehen, die letztlich Lichtwe-
nicht denken: den optischen Schalter. über die Elektronen auskommt. Dieser ge öffnen oder sperren.

RICHARD PHARAOH / IFA-BILDERTEAM

Licht ist das schnellste Trans-


portmedium für Informationen
schlechthin. Doch das Schalten
der Verbindungen in den
Knotenpunkten der Glasfasernet-
ze bremst die Datenströme.

76 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


MAGAZIN

VISION PHOTOS, BERLIN


ungeschalteter Zustand geschalteter Zustand
Steuerpuls
HEINRICH-HERTZ-INSTITUT FÜR

=0 =1
NACHRICHTENTECHNIK

=1 =0

Reinhold Ludwig, Hans-Georg Weber und Stefan Dietz (im Foto von links nach rechts)
entwickelten einen optischen Schalter – im Bild der Versuchsaufbau – auf der Basis
eines Mach-Zehnder-Interferometers. Das nutzt Phasendifferenzen, um Lichtsignale
durch Interferenz zwischen zwei Ausgängen zu schalten (Grafik). Dazu verändert ein
optischer Steuerpuls den Brechungsindex eines nichtlinearen Elements.

Eine solche Lichtweiche entsteht am Ein Wort zu den Signalen selbst: Ein
Berliner Heinrich-Hertz-Institut für Bit wird als kurzer Wellenzug darge-
Nachrichtentechnik in der Arbeitsgruppe stellt, eine Folge von Daten erscheint
von Hans-Georg Weber. Gemeinsam mit also als Folge solcher Pulse. Um mehre-
seinen Mitarbeitern Reinhold Ludwig re verschiedene Ströme gleichzeitig auf
und Stefan Dietz erhielt er dafür 1999 einer Glasfaser transportieren zu können,
den Philip-Morris-Forschungspreis. Die bedient man sich so genannter Multi-
Wissenschaftler modifizierten ein kon- plextechniken. So lassen sich mehrere
ventionelles Mach-Zehnder-Interferome- Übertragungskanäle durch verschiedene
ter (Grafik oben). Es hat zwei Eingänge, Wellenlängen realisieren, die gemeinsam
von denen hier aber nur einer der Signal- durch die Glasfaser laufen (und im
zuführung dient, intern gibt es zwei opti- Grenzfall der linearen Optik sich nicht
sche Koppler als Kreuzungspunkte der gegenseitig stören). Dazu kommt das spielsweise alle Bits des Signals eins auf
beiden Interferometerarme sowie zwei Zeitmultiplexing: Die Bitfolgen werden den Ausgang eins leiten und die von Si-
Ausgänge. Dieser Schalter bringt Signa- ineinander verschachtelt, um einen mög- gnal zwei auf Ausgang zwei. Zwar stellt
le auf einen von zwei möglichen Wegen. lichst dichten Datenstrom, also eine hohe sich die Brechzahl eines SOA nach dem
Die Daten tragende Lichtwelle wird Übertragungsrate zu erhalten. Steuerpuls von selbst wieder zurück,
im ersten Koppler „halbiert“, die Teil- Ein optischer Schalter muss diesen doch dauerte das zu lange. Deshalb ma-
wellen gelangen in die beiden Arme des Datenstrom neu sortieren, das heißt, bei- nipuliert ein zweiter Puls den anderen


Interferometers. Sobald sie Koppler
Nummer zwei durchlaufen, entscheidet
ein eventueller Phasenunterschied über
Der optische Halbleiterverstärker
das weitere Schicksal. Kommen gleiche
Phasen – sozusagen die Momentaufnah-
men der Wellen – zusammen, addieren
Licht verstärken mit Elektrizität
sich die Amplituden (konstruktive Inter-
ferenz), und das ursprüngliche Signal ist
das Ergebnis. Trifft hingegen bei einer
I m Prinzip ist der semiconductor op-
tical amplifier (SOA) eine „abgema-
gerte“ Laserdiode: Licht wird einge-
Änderung der Ladungsträgerdichte die
Brechzahl verändert.
Phasendifferenz von einer halben Wel-
lenlänge Maximum auf Minimum, lö-
schen sie sich gegenseitig aus (destrukti-
koppelt und verstärkt, es fehlen aber
die spiegelnden Endflächen, die durch
Reflexionen für eine Gleichschaltung
S olche Verstärkung gibt es nicht bei
dezidierten Wellenlängen wie bei
Gaslasern, eine Folge der in Halblei-
ve Interferenz). sorgen, bis nur Licht einer Wellenlänge tern zu Bändern überlappenden Ener-
Der Berliner Schalter nutzt in den die Diode verlässt. Wie beim Laser gieniveaus. Verstärkung beziehungs-
Interferometerarmen einen optischen beruht die Verstärkung auf so genann- weise Gewinn gibt es vielmehr für ei-
Halbleiterverstärker (SOA, siehe Kasten) ter Besetzungszahlinversion: Elek- nen relativ breiten Wellenlängenbe-
als nichtlineares Element. Beide sind so trisch werden Elektronen von einem reich. Zudem schwächt eine hohe op-
abgeglichen, dass sich die Teilwellen niedrigen in einen hohen Energiezu- tische Eingangsleistung die Verstär-
ohne weitere Einflussnahme am Aus- stand gehoben (vom Valenz- ins Lei- kung. Grund ist die begrenzte Zahl
gang Eins konstruktiv, am Ausgang Zwei tungsband). Von dort kehren sie ent- von angeregten Ladungsträgern im
destruktiv überlagern. Ein Datenpuls weder spontan zurück – und geben die Leitungsband. Bei hohem Photonen-
wird also zunächst immer auf den mit Energiedifferenz in Form von Licht ab – fluss werden in kurzer Zeit zu viele
Eins verbundenen Weg weitergeleitet. oder werden dazu durch den Einfang davon durch stimulierte Emission ver-
Um die Phasen geeignet zu verschieben eines Lichtquants stimuliert. braucht. Der SOA zeigt dann eine Sät-
und so das Signal auf den Ausgang Zwei Der letztere Prozess bewirkt die tigung, bis durch elektrisches Pumpen
zu schalten, erhält ein SOA einen opti- Verstärkung des optischen Signals: erneut Elektronen bereit stehen. Diese
schen Steuerpuls, der seinen Brechungs- Für jedes eintreffende Photon verlas- Erholungszeit ist relativ lang, sodass
sen bis zu 1000 den SOA. Ein solcher ein Lichtsignal, das zwischenzeitlich
index verändert. Dazu reicht bereits ein
Halbleiterverstärker ist zudem ein op- den Halbleiter durchläuft, unter-
Pikojoule, das ist ein Hundertbillionstel tisch nichtlineares Element, weil eine schiedliche Verstärkungen erfährt.
der Energie, die eine 100 Watt-Glühbirne
pro Sekunde abstrahlt.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 77


TECHNOSKOP

Halbleiterverstärker, sodass die Phasen- stärkt (meist 1550 Nanometer). Somit zuspalten. Der Schalter ist sogar so
differenz zwischen den beiden Teilwel- beeinflusst das informationstragende Si- schnell, dass man damit ein Signal von
len nun verschwindet – der ursprüngli- gnal ebenfalls die entstehende Phasen- außen abtasten kann, um die Qualität der
che Zustand ist wieder hergestellt. Der differenz und damit den Schaltvorgang. Datenübertragung zu beurteilen.
zeitliche Abstand zwischen beiden Die Lösung, die am Heinrich-Hertz- Optischen Schaltern dürfte die Zu-
Steuerpulsen wird so gewählt, dass das Institut entwickelt wird, basiert auf ei- kunft der Telekommunikation gehören.
Schalten ungefähr die eingangs geforder- nem SOA, der bei kürzeren Wellenlän- Freilich steckt diese Technik noch in ih-
te Pikosekunde dauert. Eine solche Kom- gen von 1300 Nanometer optimal ver- ren Anfängen, während die elektroni-
ponente lässt sich sehr kompakt auf ei- stärkt, von den Bitströmen mit weiterhin schen Mittel sehr ausgereift sind. Es
nem optischen Chip von wenigen Milli- 1550 Nanometer deshalb unbeeindruckt wird deshalb zunächst ein Nebeneinan-
metern Abmessungen realisieren. bleibt (man spricht von gewinntranspa- der der Techniken geben: Die Optik er-
Mehrere Gruppen in Europa, USA renten SOAs). Damit gelang es, ein opti- möglicht hohe Transportraten, die Elek-
und Japan haben Prototypen davon ge- sches Datensignal von 640 Gigabit pro tronik übernimmt die Steuerung, die
baut. Doch ist die beschriebene Anord- Sekunde, das aus acht Übertragungska- Speicherung von Daten und logische
nung noch nicht der Weisheit letzter nälen beziehungsweise Wellenlängen Operationen. ■
Schluss. Denn sie ist nicht optimal, da von jeweils 80 Gigabit pro Sekunde be-
Steuerpuls und Datenstrom meist in je- stand, fehlerfrei zu zerlegen und jeden
nem Wellenlängenbereich liegen, für den Übertragungskanal in acht Einzelsignale Klaus-Dieter Linsmeier ist Redakteur
der Halbleiterverstärker maximal ver- von jeweils 10 Gigabit pro Sekunde auf- bei Spektrum der Wissenschaft.

KUNSTSTOFFE über chemische Bindungen miteinander


verkettet seien. Trotz zahlreicher Anfein-
M
dungen begründete Staudinger die mo-
Ketten knacken derne makromolekulare Chemie. Sein
Nobelpreis 1953 ehrte auch eine Stoff-
klasse, die heutzutage in kaum einem
leicht gemacht Lebensbereich fehlt und die einen gro-
ßen Teil der heutigen technischen Ent-
wicklungen überhaupt erst möglich ge-
Manche neuartigen Polymere sind kompostierbar, halten macht hat.
aber dafür nicht so viel aus wie Kunststoffe Die Schattenseiten sind mittlerweile
alter Machart. Ein geschickter Mix löst das Problem. bekannt: Nach Angabe des Umweltbun-
desamtes mussten 1997 allein in
Deutschland etwa 3,2 Millionen Tonnen
sung dieses Problems bieten. Freilich verschiedener Kunststoffe entsorgt wer-
Von Rolf-Joachim Müller sollten auch Wegwerfprodukte daraus den. Ungefähr 60 Prozent der Abfälle
stabil und reißfest bleiben, solange sie in werden derzeit „recycelt“ oder zur Ener-
in Kunststoff, der so rasch zerfällt Gebrauch sind. An unserem Institut wird giegewinnung genutzt, der Rest depo-

E wie Papier? Die Vorstellung wirkt


absurd, gelten all die chemischen
Verbindungen, deren Name mit „Poly-“
deshalb versucht, grundlegende Fragen
zu klären: Welches Material ist abbaubar,
welches warum nicht?
niert oder verbrannt.
Sowohl der Sinn des Kunststoffrecy-
clings als auch die Müllverbrennung sind
beginnen, doch als extrem robust und be- Beständigkeit bewies auch der deut- Gegenstand heftiger Diskussionen; für
ständig. Um der wachsenden Müllberge sche Chemiker Hermann Staudinger bestimmte Bereiche bietet sich nun die
jedoch Herr zu werden, sind auch exoti- (1881 –1965), der 1922 gegen herrschen-
sche Konzepte gefragt. Neue, bioabbau- de Lehrmeinung verkündete, Kautschuk So vergänglich kann Kunststoff sein: Zerfall
bare Kunststoffe, die kompostierbar sind, und Zellulose bestünden aus mehr als einer Folie aus bioabbaubarem Kunststoff
könnten einen wichtigen Beitrag zur Lö- 1000 kleinen Molekülen, die jeweils (Ecoflex®) während einer Kompostierung.
GBF

78 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


MAGAZIN

Kompostierung spezieller Kunststoffe aliphatischer Homopolyester aromatischer Homopolyester


als Alternative an. Wer vom biologischen

GBF / SPEKTRUM DER


Abbau spricht, lobt das Werk von Mikro-

WISSENSCHAFT
organismen. Sie scheiden Enzyme aus,
schnell bioabbaubar nicht bioabbaubar
die lange Polymerketten zunächst in
schlechte Materialeigenschaften sehr gute Materialeigenschaften
kurze, wasserlösliche Bruchstücke zer-
schneiden. Diese lassen sich dann durch
die Zellmembranen ins Innere der Orga-
nismen befördern und dort weiter ver-
arbeiten. Dabei entstehen Energie und
Rohstoffe für den Aufbau der Zellen, als
Abfallprodukte Wasser, Kohlendioxid aliphatisch-aromatischer Copolyester
und gegebenenfalls Methan. Die Kombination von
Doch viele Polymere widersetzen aliphatischen und
sich der Enzymattacke. Bestehen ihre aromatischen Kompo-
nenten bietet gute noch bioabbaubar
Ketten aus reinem Kohlenstoff, wie etwa Materialeigenschaften gute Materialeigenschaften
in Polyethylen und in Polystyrol, finden plus Kompostierbarkeit.
die Biokatalysatoren keine Angriffsmög-
lichkeiten. Der Grund: Da solche Poly-
mere in der Natur nicht vorkommen, ha- Adipinsäure
ben sich keine geeigneten Enzymsyste- schen verwendete Polyethylenterephtha- O O
me entwickelt. Werden die Kohlenstoff- lat (PET) bleiben vom mikrobiellen An- HO C CH2 CH2 CH2 CH2 C OH
ketten jedoch durch andere Atome wie griff unbeeindruckt, flexible Polyester
Sauerstoff oder Stickstoff unterbrochen, aus linearen Bausteinen (so genannten Terephthalsäure
O O
sieht die Sache anders aus. Kein Wunder, Aliphaten) wie Polycaprolacton (PCL)
denn auch natürliche Polymere wie Stär- hingegen sind abbaubar. Letzteres wird HO C C OH
ke, Zellulose oder Proteine besitzen sol- konventionell als Ausgangsmaterial für
che „Heteroatome“ in den Polymer- Polyurethane oder als Zuschlagstoff für 1,4-Butandiol
ketten. Dementsprechend enthalten die Polyolefine verwendet. Ein weiteres Bei- HO CH2 CH2 CH2 CH2 OH
meisten heutigen bioabbaubaren Werk- spiel für den Einfluss der Kräfte zwi-
stoffe Ether-, Urethan-, Amid- oder Es- schen den Polymerketten auf den bio-
tergruppen (siehe Grafik unten). Enzyme logischen Abbau sind Polyamide. Zwar
beschleunigen den Einschub von Wasser- beruhen natürliche Eiweiße und tech- ten mit denen konventioneller Kunst-
molekülen in diese Bindungen, die dann nische Polyamide wie Nylon beide auf stoffe messen lassen. Beispielsweise ha-
unter Bildung etwa von Säure-, Alkohol- den erwähnten Amid-Bindungen, doch ben natürliche Polymere wie Zellulose
oder Aminogruppen gespalten werden. verhindern bei den technischen Produk- oder Stärke diesbezüglich deutliche De-
ten starke Wasserstoffbrücken zwischen fizite. Chemische Modifizierung hilft
Mobile Ketten den Polymerketten eine enzymatische zwar in gewissem Maße, doch nimmt die
Spaltung. Abbaubarkeit dabei ab (beispielsweise
Dennoch gibt es als bioabbaubar ver- Als wäre die Angelegenheit nicht beruht das unter dem Markennamen
marktete Kunststoffe wie Polyethylen schon kompliziert genug, bedürfen auch „Bioceta“ für bioabbaubare Hüllen von
und Polystyrol mit reinen Kohlen- die Fragmente, die bei der Spaltung der Friedhofskerzen verwendete Material
stoffketten. Der Trick dabei: Besondere Polymerketten entstehen, noch der Be- auf teilweiser Veresterung von OH-
Zusätze oder der Einbau spezieller Grup- achtung. Da sie sich in Wasser lösen, Gruppen zu Zelluloseazetat). Aber auch
pen in die Ketten sollen die Aufgabe der könnten sie beispielsweise ins Grund- rein synthetische bioabbaubare Kunst-
Enzyme übernehmen und die langen wasser gelangen. Dann muss garantiert stoffe erreichen bislang nicht die Eigen-
Moleküle beispielsweise unter Sonnen- sein, dass Mikroben sie weiter zersetzen schaften konventioneller Materialien –
licht zunächst chemisch in Fragmente werden, dass sie nicht giftig wirken und PCL schmilzt bei nur 60 Grad Celsius,
auftrennen. Ob diese Reaktionen aber sich wohlmöglich in Nahrungsmitteln während Polyethylen eine doppelt so
ausreichen, um den Mikroorganismen anreichern (bislang gilt aber nur die Bil- hohe Temperatur aushält.
das Feld für den weiteren Abbau der dung von aromatischen Diaminen aus Verschiedenen Arbeitsgruppen, da-
Bruchstücke zu bereiten, darüber streiten aromatischen Polyamid-Strukturen als runter auch unserer, ist es jüngst gelun-
die Gelehrten. bedenklich). gen, die Abbaubarkeit aliphatischer
Fremdatome in den Ketten garantie- Darüber hinaus müssen sich die Ver- Polyester mit den hervorragenden Eigen-

ren überdies allein noch keine Bioabbau- arbeitungs- und Anwendungseigenschaf- schaften aromatischer Polyester zu ver-
barkeit. Auch die Flexibilität der Poly-
merketten und ihr Zusammenhalt unter-
einander im Werkstoff spielen eine wich-
tige Rolle. Denn nur ausreichend mobile Poly- -ether -amid -ester -urethan
und flexible Ketten können sich in das
katalytisch aktive Zentrum der Enzyme H H
GBF / SPEKTRUM DER

einpassen und werden dann gespalten. Fremdatome in O N O N O


WISSENSCHAFT

Dazu ein Beispiel: Starre Polyester aus der Kette bieten


ringförmigen Einzelmolekülen (so ge- Angriffsflächen
nannten Aromaten) wie das für Trinkfla- für Enzyme. O O O

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 79


TECHNOSKOP

binden. In den Polymerketten wechseln etwa Lebensmittelverpackungen oder Der nächste Schritt, an dem wir und
sich dabei aliphatische und aromatische Hygieneartikel (beispielsweise Wischtü- andere Gruppen arbeiten, sind Kunststof-
Esterbindungen statistisch ab. So entste- cher oder Windeln). Während des Ge- fe, die sich vollkommen in natürliche
hen bioabbaubare Kunststoffe, deren brauchs in normaler Umgebung tritt kein Stoffkreisläufe einfügen. Dies setzt vo-
Eigenschaften denen von Polyethylen nennenswerter Abbau auf. Dieser be- raus, dass zukünftig ausschließlich nach-
vergleichbar sind. Wir konnten auch ginnt erst während der Kompostierung wachsende Rohstoffe, etwa Komponen-
sicherstellen, dass nicht nur die aliphati- durch die dort vorhandenen Mikroorga- ten aus Stärke oder Zucker, ihre Basis
schen Komponenten von Enzymen ange- nismen bei geeigneter Temperatur – die bilden, und keine Produkte der Petroche-
griffen, sondern auch alle aromatischen in Heimkompostmieten in der Regel mie mehr verwendet werden. ■
Bereiche der bioabbaubaren aliphatisch- nicht erreicht werden – und optimaler
aromatischen Copolyester von den Mi- Feuchte. Lohnende Anwendungen bietet Der promovierte Chemiker Rolf-
kroorganismen verstoffwechselt werden; auch der Agrarbereich: Bioabbaubare Joachim Müller leitet die Gruppe
umweltgefährdende Zwischenprodukte Mulchfolien können einfach unterge- „Bioabbaubare Polymere“ bei der
treten dabei nicht auf pflügt werden, Pflanzenschutzmittel las- Gesellschaft für Biotechnologische
Aktuelles Anwendungsziel bioab- sen sich in Kunststoff einschließen und Forschung mbH (GBF) in Braun-
baubarer Kunststoffe sind hauptsächlich werden dann langsam während der Vege- schweig.
Produkte mit kurzer Gebrauchsdauer wie tationsperiode freigesetzt.

TECHNOGRAMM
LUFTFAHRT
Reifenspuren auf der Landebahn
Keiner mag Shimmy verraten: Shimmy was here.

Mit quietschenden Reifen setzt ein Flugzeug auf der Landebahn


auf – Alltag auf den Flughäfen dieser Welt. Wenn eine Boeing 737
oder ein anderes kleineres Flugzeug mit mehr als 200 Kilometern

TNO AUTOMOTIVE
pro Stunde den Asphalt berühren, haben Fahrwerk und Reifen
einiges auszuhalten: Mehr als 20 Tonnen Last auf einem einzigen
Rad lassen die Reifen flattern. Dieses Englisch „Shimmy“ genannte
Phänomen wird durch spezielle Konstruktionen gedämpft. Der
Ingenieur Igo Besselink von der Abteilung Fahrzeugdynamik der
niederländischen Forschungsorganisation TNO hat es jetzt
mathematisch modelliert und in Simulationen herausgefunden, OBERFLÄCHEN
dass es auch ohne spezielle Dämpfer geht, wenn nur die Geome-
trie und Steifigkeit des Fahrwerks optimiert wird. Vorteile: 10 bis Neue Disziplin: Kunstsprengen
20 Kilogramm weniger Gewicht, reduzierte Fertigungskosten und
vor allem: die aufwendige Wartung der Dämpfer entfiele. Normalerweise verbindet man mit Sprengstoff einen Akt der
Zerstörung: Häuser zerfallen zu Staub oder ein Loch öffnet sich im
Berg. Doch die Druckwelle einer Sprengung kann auch äußerst
NAHVERKEHR filigrane Strukturen hervorbringen. Mitarbeiter des Fraunhofer-
Instituts für Chemische Technologie in Pfinztal haben daraus ein
Im Minutentakt Verfahren zur Strukturierung von Metalloberflächen entwickelt. Auf
eine Metallplatte legten sie ein Eichenblatt und bedeckten es mit
über der Autobahn einer dünnen Folie aus
einem Nitrozellulose-
Mit der Technik von heute die hängt auf Reifen mit geringem Sprengstoff; deren Schöner prägen
Verkehrsprobleme von morgen Rollwiderstand entlang laufen. Lackschicht verhindert mit Sprengstoff.
lösen – das will ein Ingenieur- Magnetschwebetechnik wäre das Verdampfen des
büro in Rösrath bei Köln. nachrüstbar. Der große Vorteil: explosiven Materials. Bei
FRAUNHOFERGESELLSCHAFT–ICT

Beton-Hohlrohrstützen sollen Diese Verkehrswege können Zündung entstand eine


Schienenwege tragen, in die beispielsweise auf dem Druckwelle von 150–200
elektrisch angetriebene Ka- Mittelstreifen von Autobahnen Kilobar, das Blatt verdampfte,
binenbahnen seitlich einge- stehen, teurer Grunderwerb seine Struktur prägte sich in die
entfällt. Der Bau ließe sich ohne Metalloberfläche. Die nützliche
Beeinträchtigung des Autover- Nebenwirkung: Die Sprengung
Neues Konzept: Mit
kehrs gestalten. Ein- und verdichtet und härtet sie. Das Verfahren
der Hochbahn von
Stadt zu Stadt Ausstieg erfolgt an Zwischen- eignet sich unter anderem für Stahl,
stationen, mit Hilfe von Shuttles Aluminium, Kupfer und Messing, wobei
INGENIEURBÜRO WOERZBERGER

am Ende eines Zugs sogar ohne die Dicke der Sprengfolie zwischen 0,8
Verlangsamen der Fahrt. Ob bis 3 Millimeter variiert. Der detailge-
dieses Konzept realisierbar ist naue Abdruck kann auch als Vorlage
und zu welchen Kosten, sollen zur dekorativen Verzierung von
weitere Studien zeigen. Kunststoffoberflächen dienen.
80 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001
MAGAZIN

SPORTGERÄTE

Fersenstoß und Abrollhilfe


Manche Gestalt moderner Sportschuhe beruht mehr auf
Vorurteilen über den Laufvorgang denn auf
wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Allerdings ist eine ge-
Von Karen Wright
wisse Pronation natürlich
und beim normalen Ge-
igentlich ist das Laufen eine recht hen und Laufen sogar

E simple Sportart, denn zwei Beine


und ein gesundes Herz reichen da-
notwendig. Nachdem
Anfang der 80er Jahre

.
C
IN
für aus. Oder etwa nicht? Wer zum ersten diese Zwischensohle

E
IK
N
Mal ein Fachgeschäft aufsucht, um sich üblich wurde, ver-
mit einem geeigneten Schuh auszustat- zeichneten Sport-
ten, erkennt schnell, dass er oder sie da- ärzte drastisch
bei an die Pforten einer Geheimwissen- mehr Reizungen
schaft geklopft hat. Der richtige Lauf- des tractus tibia-
schuh orientiert sich beispielsweise an lis, einem binde- Dämpfung zu
Geschlecht, Gewicht und bevorzugtem gewebigen Band, das berücksichtigen.
Untergrund – Asphalt oder Wald? Dazu außen am Oberschenkel Seitdem Leder
kommen Fragen der jeweiligen Lauf- entlang verläuft. Läufer und Segeltuch durch
technik und der Ambitionen: Hobby- mit einer normalen Pronation Nylon ersetzt wurden
sportler versuchen sich durch Dämpfung rollten auf Grund der Gewölbe- und polymere Schäume
und Gelenkunterstützung vor Verletzun- stütze vermutlich zu weit auf den (Ethylenvinylacetat, EVA)
gen zu schützen, Profis wählen Schuhe, äußeren Fußrand (Supination), das die Funktion des Gummis in
die ihnen Zehntelsekunden schenken. iliotibiale Band wurde gestrafft, der der Zwischensohle und im Absatz
Wie nun ein solcher Sportartikel op- Oberschenkelknochen einwärts gedreht übernahmen, ist es nicht einfach, Schuhe
timal zu gestalten sei, beschäftigt Wis- und so die Reibung zwischen dem Band leichter zu machen. Meist versuchen die
senschaftler etwa seit Beginn der 70er und einem knöchernen Höcker im Be- Konstrukteure, Stabilitätskomponenten
Jahre, als nämlich der sneaker, ein leich- reich des Knies verstärkt. wie die Zwischensohle nicht aus massi-
ter Segeltuchsportschuh weltweit zum vem Material sondern gitterartigen
Renner wurde. Doch trotz millionen- In großen Schritten Strukturen zu fertigen.
schwerer Investitionen der Industrie bie- zum modernen Laufschuh Biomechanische Forschung sollte
ten die komplexen biomechanischen Zu- diese Entwicklungen der Industrie be-
sammenhänge beim Laufen immer noch In jener Zeit kamen auch Luftkissen, gleiten und ihr neue Wege zeigen. Doch
Überraschungen. Silikon-Gel oder polymere Schäume auf, mitunter stehen die Erkenntnisse der
Steifere Sohlen und ebensolche die den Aufprall der Ferse auf dem Bo- Wissenschaftler im Widerspruch zu lang-
Unterstützungen des Fußgewölbes sollen den dämpfen sollten. jährigen Überzeugungen, die sich sozu-
dem Fuß im Schuh Halt geben und sei- Das Ergebnis: immer sagen in millionenschweren Investitio-
nen Kontakt mit dem Boden führen, mehr Entzündungen nen materialisiert haben. Benno M.
freilich ohne die komplexe Fol- der Achillessehnen. Nigg, Direktor des „Human Performance
C.
ge von Teilbewegungen des S E
IN „Der Fuß sinkt ein Laboratory“ an der Universität Calgary,
ER
NV
Gangzyklus zu stören. CO und verdreht sich, der zweifelt beispielsweise an dem so sicher
Viele Produkte ha- gedämpfte Schuh kann geglaubten Zusammenhang von Auf-
ben dazu eine ihn nicht mehr führen prallkräften und Laufverletzungen.
Zwischensohle und die Gelenke stabili- Untersuchungen seiner Gruppe zeigten,
aus Kunst- sieren“, erläutert Jack Taun- dass schnelle Läufer zwar mit zwei- bis
stoff zwi- ton, Vize-Direktor am sport- dreimal höherer Belastung landen als
schen der äuße- medizinischen Zentrum Allan langsamere, aber keineswegs häufiger
ren und inneren McGavin der Universität von Bri- verletzt sind. Andere Institute haben laut
Sohle, die unter dem tish Columbia. Nigg entdeckt, dass das Laufen auf har-
Fußgewölbe fester ist Stabilität und Dämpfung markieren tem Untergrund nicht schädlicher ist als
als an der äußeren Seite zwei Eckpunkte der Schuhentwicklung, das auf weichem. Er erklärt das mit dem
des Schuhs. Diese Unter- zwischen denen die Industrie Kompro- Anstieg von Knochenmasse und -dichte
stützung soll den Fuß davor bewah- misse sucht. Ein weiterer ist das Ge- bei gelenkbelastenden Sportarten wie
ren, zu stark einwärts zu rollen (fachlich: wicht: Je leichter ein Schuh, desto weni- Laufen oder Basketball im Vergleich
zu pronieren), wenn sich das Gewicht ger Energie muss der Läufer aufwenden, etwa zum Schwimmen. Das Paradigma
des Läufers von der Ferse zur Fußspitze aber desto problematischer ist es wiede- des „Dämpfens“, um die Häufigkeit oder

verlagert. rum, die Forderungen nach Stabilität und die Art von Laufverletzungen zu verrin-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 81


TECHNOSKOP

gern, muss seiner Meinung nach hinter-


fragt werden.
Eine nach oben gekrümmte
Wie kann man aber dann die Verlet-
Schuhspitze soll das
zungen erklären, die bis zu zwei Drittel Abrollen erleichtern
der Läufer jährlich erleiden? Und warum
sind gedämpfte Schuhe bequemer als
steife? Nigg erklärt dies mit einem neuen Sohle zur Fußunterstützung
Modell: Beim Auftreffen der Ferse auf
den Boden entstünden schädliche
Schwingungen im Bindegewebe. Der Supinationsstütze im
Körper versucht dem durch Anspannen Fersenbereich
der Muskulatur unmittelbar vor dem Bo-
denkontakt entgegenzuwirken. Die
Zwischensohle mit zwei
Dämpfungsmechanismen in Laufschu- Härtegraden, um der
hen können ihn dabei unterstützen, in- Überpronation vorzubeugen
dem sie die beim Aufprall entstehenden
Frequenzen verschieben. Wie eine ge-
stimmte Gitarrensaite hat auch das
Unterstützung des
Weichteilgewebe eine bestimmte, von
Fußgewölbes
Körper zu Körper verschiedene und sich
mit dem Muskeltonus ändernde Reso- Dämpfung
nanzfrequenz, bei der es besonders stark durch Luftkissen
mitschwingt. Stimmt die anregende

SAMUEL VELASCO
Schwingung damit nicht überein, gibt es
sich unberührt. Die Außensohle
Kein Wunder also, dass Läufer ihren vermittelt Reibung, aber
auch wieder Dämpfung
speziellen Schuhtyp bevorzugen. Nigg
glaubt, dass Ermüdung und Verletzungen
entstehen können, wenn die Muskeln zu
viel Energie benötigen, um der Weichge-
weberesonanz entgegenzuwirken. Der
richtige Schuh vermag die Leistung um Der Nike Air Structure Triaxx 5, ein aktueller,
bis zu fünf Prozent zu steigern – das re- typischer Laufschuh, enthält eine Zwischensohle mit
zwei unterschiedlichen Härtegraden und andere
duziert die Zeit beim Marathonlauf um Komponenten, die stabilisieren und dämpfen sollen.
etwa acht Minuten.
Der Marathonläufer und Biomecha-
niker Peter Cavanagh von der Pennsyl- der an der Fußsohle ansetzenden Kräfte fachlichen Information. So entwickelten
vania State University hatte bereits 1980 vom Aufsetzen der Ferse bis zum Ab- sie Anfang der 80er Jahre die so genann-
am gängigen Modell für den Bodenkon- druck von den Zehen zu quantifizieren. te Abrollhilfe – eine leichte Aufwärts-
takt gerüttelt: Ein Läufer landet demnach Die Ergebnisse waren überraschend. krümmung der vorderen Sohle. Der
auf der Ferse, schiebt sich über seinen Selbstverständlich landeten die Meisten Laufschritt solle dadurch effizienter wer-
Spann nach vorne und drückt sich vom tatsächlich auf der Ferse, allerdings eher den, weil ein natürliches Vorwärtsschie-
vorderen Teil des Fußes wieder ab. Der auf ihrem äußeren Rand. Andere, die mit ben zum vorderen Teil des Schuhs erfol-
Aufprall mit den damit verbundenen der gleichen Geschwindigkeit unterwegs ge. Bewiesen wurde diese These nicht,
Stoßeinwirkungen galt, wie schon er- waren, kamen auf dem Rist auf und eine im Gegenteil: Darren Stefanyshyn, ein
wähnt, als besonders verletzungsträchtig. dritte Gruppe landete von vornherein Kollege Niggs, fand kürzlich heraus,
Cavanagh ließ eine Kraftmessplatte in etwa im ersten Drittel des Vorderfußes. dass Abrollhilfen die Vorwärtsbewegung
eine Teststrecke ein, um Ort und Stärke Die Gruppen erhielten die Bezeichnun- sogar negativ beeinflussen, da sie die Ze-
gen Hinter-, Mittel-, und Vorderfußläu- hen und Ballen daran hindern, mit voller
fer; innerhalb jeder Gruppe fand Cava- Kraft abzustoßen. Und Nigg konstruierte
nagh eine Vielzahl von Bodenkontakt- einen Schuh ohne Abrollhilfe und ver-
mustern. half damit Durchschnittsläufern zu 2/10
Die Biomechanik des Laufens war Sekunden schnelleren Sprints. Da er eng
offensichtlich viel komplexer und indivi- mit dem Sportschuhhersteller Adidas zu-
duell unterschiedlicher als erwartet. Der sammenarbeitet, dürften seine Forschun-
SAMUEL VELASCO

Wissenschaftler fand sogar heraus, dass gen wohl neue Produkte inspirieren.
die Kräfte, die während des Abdrucks Auch die heute üblichen Pronations-
auf den vorderen Teil des Fußes wirken, stützen stehen neuerdings in der Dis-
mehrere Male größer sein können als kussion. Am Nike Forschungslabor in
Supination Neutralstellung Pronation die, die beim Aufsetzen mit der Ferse Beaverton (Oregon) bezweifeln Wissen-
entstehen. Heutige Laufschuhe sind im- schaftler den Nutzen starrer Zwischen-
Ein Vergleich dreier Läufer während der mittleren merhin meist von der Ferse bis zur Spit- sohlen und fester Pronationsstützen.
Phase eines Schrittes, bei dem sie entweder mit
der Außenseite des Fußes (Supination), der ze gepolstert, dennoch widmen Schuh- „Solche Teile stoppen das natürliche
gesamten Fußfläche (Neutrallage) oder der hersteller dem Vorderfuß weniger Auf- Einwärtsrollen des Fußes abrupt wie eine
Innenseite des Schuhs aufsetzen (Pronation). merksamkeit. Oft fehlt es auch an der Backsteinmauer“, sagt der Direktor des

82 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


MAGAZIN

Labors, Mario Lafortune. Er stützt sich


dabei auf Cavanaghs Forschungen, wo-
AM RANDE
nach eine gewisse Pronation normal und
sogar notwendig ist, um das Gewicht
vom äußeren Rand des Fußes, auf dem
WAP statt Web
die meisten Läufer landen, zur Mittelli- Oder: Die Wiederentdeckung der Langsamkeit
nie des Fußes hin zu verlagern.
Lafortune und seine Kollegen versu-
chen daher die Pronation nur zu verlang-
samen. Dazu reichen einfache Modifika-
N un habe ich mich mühsam daran
gewöhnt, meine Unterwäsche via
World Wide Web bei Yahoo zu erstei-
Die Antenne am Ohr lockert näm-
lich die Geldbörse. Ein Gebührchen
hier, eine winzige Abbuchung dort –
tionen an derzeitigen Produkten. So lässt gern und das Fernsehprogramm on- alles kein Problem. Wäre da nicht
sich das Bruch-Polster am äußeren Rand line abzufragen, doch wenn ich nicht eine Sicherheitslücke: Verschlüsselte
der Ferse weicher ausführen und damit aufpasse, überrollt mich der nächste Daten etwa für die Abbuchung durch
leichter zusammendrücken. Der Fuß Trend: In drei Jahren sollen 200 Mil- den Pizza-Service müssen auf einem
wird dann nicht plötzlich aus seiner lionen Europäer via Handy oder Palm- WAP-Server neu chiffriert werden und
Landeposition gerissen. Ähnlich wirkt top im Internet liegen dann für
es, die Zwischensohle im hinteren Drittel surfen, vom PC Bruchteile einer
des Schuhs zu verdünnen und zum äuße- aus nur halb so Sekunde offen.
ren Rand hin abzurunden. Nike hat diese viele. Da hilft jetzt Diese Lücke sei
Veränderungen bei einigen Modellen be- nichts: WAP statt bloß einem Loch
reits vorgenommen. Asics brachte eben- Web lautet nun von einem Zenti-
falls schon einen Schuh mit einer ver- die Devise. meter Durchmes-
langsamten Pronation heraus. Aber das ist ser in einer hun-
hart. Das Akro- dert Meter langen
Barfuß läuft sich’s besser nym steht eigent- Mauer vergleich-
lich für „Wireless bar, beruhigen In-
Application Proto- teressenvertreter.
Lafortunes Gruppe sucht darüber hinaus
col“, ein Standard Das müsse ein
nach Möglichkeiten, die natürliche Steif-
für die Übertragung von Internet-Sei- Schurke erst einmal finden. Ein sol-
heit des Fußes zu verbessern. Beim Bar- ten in drahtlosen Netzwerken. Dass cher ist, wer nun an spannende Guck-
fußlaufen unterstützt sie der so genannte es gern als „Wait and Pay“ übersetzt löcher seiner Jugendzeit denkt.
Ankerwindenmechanismus, das sind bin- wird, liegt an der momentanen Über-
degewebige Bänder zwischen Ferse und
Zehenwurzel, die sich anspannen, sobald
die Zehen während des Abdrucks ge-
tragungsrate von 9,6 Kilobit pro Se-
kunde. Da bleiben vor allem die schö-
nen Bilder und Werbebanner auf der
G enug geunkt und schwarz gemalt,
der Markt muss schließlich in
Gang kommen, sollen die Aktien von
beugt werden. Das blockiert die langen Strecke – wie soll ich nun wissen, Nokia und Co. wieder rasant steigen.
Knochen des Fußes, vertieft dessen Ge- was ich kaufen will? Und dann dauert Wer sich jetzt WAPpnet, fördert den
wölbe und zentriert den Fuß vor dem Ab- es und dauert es und kostet es und Standort Europa. So bald wie möglich
druck. Nach Lafortunes Meinung er- kostet es. WAP, das heißt derzeit: Sur- werfe ich mein Handy in den Elektro-
zeugt ein sowohl steifer als auch zen- fen auf der Standspur. müll und kaufe eines, das GPRS
trierter Fuß den sichersten und effizien- Aber bald wird alles besser, dann kann. Den nächsten Weihnachts-
testen Vortrieb. Es sei immer noch am klappt das auch mit den Unterhosen wunsch kenne ich auch schon: der
besten, den Fuß sich selbst stabilisieren und Musikdateien und Videos und UMTS-Palmtop. Und bis dahin? Wait
zu lassen, anstatt die Stabilität durch äu- vielem mehr. Dafür investieren Mobil- and Pay. Aber irgendwie hat das auch
ßere, rigide Elemente zu erzeugen. Der funkbetreiber etliche Milliarden. Sie was Nostalgisches. Ja, wirklich, ir-
Wissenschaftler äußert sich natürlich beschleunigen die Datenraten mit gendwie erinnert mich das WAP-Web
nicht darüber, wie sein Arbeitgeber die- weiteren Kürzeln: UMTS, GPRS, von heute an die gute alte DOS-Zeit.
EDGE. Das sind wohlklingende Tech- Wer niemals Minuten in stiller Kon-
sen Mechanismus in künftigen Designs
niken, die Informationsströme in den templation vor einem Rechner ver-
auszunutzen versucht. Vermutlich wird
mobilen Netzen schneller fließen las- harrte, der hat jetzt eine letzte Chan-
aber ein weicheres und flexibleres Vor- sen sollen. Sie werden die Wirtschaft ce, den Pioniergeist der Achtziger zu
derteil kommen. ankurbeln, und das kommt letztlich atmen. Die Wiederentdeckung der
Die Vorteile des Barfußlaufens stellt jedem von uns zugute. Denn aus Langsamkeit hat Kult-Potenzial! Ob
auch Nigg heraus. Er vertritt die Auffas- E-Commerce wird M-Commerce, die ich auf die nächste Oldie-Party mein
sung, dass jeder Körper ein bevorzugtes mobile, wachstumsfördernde Geldver- WAP-Handy mitnehmen soll?
Bewegungsmuster aufweist, das sich schiebe-Maschine. Klaus-Dieter Linsmeier
beim Barfußlaufen erkennen lässt und
an dem er trotz orthopädischer Interven-
tion festhält. Sobald Schuhe dieses
Muster fördern, fühlt man sich in ihnen tegie, die für alle Läufer gilt. Nike hat terisieren. Keiner für alle, aber alle
großartig und ist leistungsstärker; wenn deshalb angekündigt, seine Schuhmo- Möglichkeiten für einen, das soll die
sie jedoch dagegen arbeiten, können sie delle stärker zu klassifizieren, um die Devise sein. ■
den Läufer stören und ermüden. Darin individuelle Wahl zu erleichtern. Das
scheinen immer mehr Biomechaniker Unternehmen empfiehlt seinen Händ-
und Entwickler übereinzustimmen: Es lern sogar, biomechanische Analysen Karen Wright arbeitet als freie Wis-
gibt keine Idealform des Laufens und durchzuführen, um den persönlichen senschaftsjournalistin in den USA.
keine systematische Verbesserungsstra- Laufstil eines Kunden genau zu charak-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 83


FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT

LAWINENFORSCHUNG wandelt sich so über ein filziges Zwi-


schenstadium zu körnigem Altschnee mit
abgerundeten Formen um, deren Durch-
Wenn Schnee schwach wird messer kleiner als 0,5 Millimeter ist. Die-
ser Vorgang findet bei einem kleinen
Temperaturgradienten in der Schnee-
Das Idyll verschneiter Berghänge kann sich innerhalb weniger decke von weniger als 5 Grad Celsius pro
Sekunden in ein tödliches Inferno verwandeln, wenn Meter statt und wird – wegen der Verklei-
Schneemassen losbrechen und donnernd zu Tal stürzen. nerung der Formen – „abbauende Um-
wandlung“ genannt.
Größere Temperaturgradienten haben
Eine der maßgebenden Größen ist die im Gegensatz dazu eine „aufbauende
Von Anja Schilling Temperatur in der Schneedecke. Am Erd- Umwandlung“ zur Folge – die Schnee-
boden liegt sie üblicherweise um den Ge- kristalle vergrößern sich. Denn dann
frierpunkt, während ihr Wert an der steigt wärmere Luft aus der bodennahen

J
eden Winter kommen im Alpenraum
einige Dutzend Menschen durch La- Oberfläche des Schnees von den Verhält- Schicht mit dem dort sublimierten Was-
winen zu Tode. Oftmals trifft es Ski- nissen in den darüber liegenden Luft- serdampf in obere, deutlich kältere
oder Snowboardfahrer, die abseits der schichten bestimmt wird. Mittelfristige Schneeschichten auf, wo der Dampf an
präparierten Pisten ihrem Freizeitvergnü- Temperaturänderungen der Atmosphäre den kalten Körnern ankristallisiert. Je
gen nachgehen. Doch gelegentlich rasen setzen sich im Schnee nur bis in 30 bis 50 größer die Temperaturunterschiede zwi-
die Schneemassen bis in besiedelte Ge- Zentimeter Tiefe merklich durch, Tages- schen den Kristallen, desto größer ist das
biete hinein, wo sie immensen Schaden schwankungen beeinflussen sogar nur Wachstum in den oberen Schichten, wo-
anrichten – wie etwa im Februar 1999, die obersten zehn Zentimeter. Dadurch bei Korngrößen bis 5 Millimeter erreicht
als bei einem der schwersten Lawinenun- entsteht in der oberen Schneedecke ein werden. Bei andauernder aufbauender
glücke im österreichischen Galtür mehre- Temperaturgradient, sodass benachbarte Umwandlung wachsen becherartige
re Häuser zerstört wurden und 38 Men- Schneekörner unterschiedliche Tempera- Hohlformen, so genannte Becherkristal-
schen ums Leben kamen. Im selben Mo- turen und somit auch unterschiedliche le. Durch sie nimmt die Zahl der Korn-
nat rissen Lawinen bei Chamonix in den Dampfdrucke aufweisen, was die Meta- bindungen pro Volumen ab, was die Fes-
französischen Alpen und bei Evolène im morphose entscheidend beeinflusst. tigkeit der Schneeschicht deutlich verrin-
Wallis weitere 23 Personen in den Tod. gert. In bodennahen Schichten entsteht
Mag bei vielen dieser Katastrophen Von der Schneeflocke dadurch Schwimmschnee oder Tiefen-
Leichtsinn oder Unbedachtheit im Spiel zum Schwimmschnee reif. Geschieht die aufbauende Umwand-
sein, so lassen sich Lawinenabgänge als lung oberflächennah und dies besonders
solche doch kaum vermeiden – sie gehö- Neuschneekristalle haben im Verhältnis in Schattenlagen, wird der Schnee grie-
ren im alpinen Winter quasi zum Alltag. zu ihrer Masse eine sehr große Oberflä- sig. So entstehen schwache, wenig be-
Aber das Wissen um ihre Ursachen kann che. An den Spitzen der hexagonalen lastbare Schneeschichten.
das Verständnis für dieses Naturphäno- Schneesterne, wo der Dampfdruck höher Die Übergänge zwischen aufbauen-
men und die Risikowahrnehmung in „ris- ist, sublimiert das gefrorene Wasser zu der und abbauender Umwandlung, die
kanten“ Situationen verbessern. Dampf, der im Zentrum des Kristalls beide bei Minusgraden stattfinden, sind
Nüchtern betrachtet ist Schnee eine wieder angelagert wird. Dadurch werden fließend und jederzeit möglich. Doch
feste Form des Niederschlags, die sich die Verästelungen kürzer und die Mitte gibt es noch eine dritte Umwandlungs-
aus Eiskristallen in komplexen hexago- dicker, sodass sich die Schneeflocke der form bei einer Erwärmung auf null Grad
nalen Formen zusammensetzt. Frisch ge- Kugelform annähert. Der Neuschnee Celsius, die „Nassschneemetamorpho-
fallen, besteht er aus
einem locker verzahn-

ABBILDUNGEN: EIDGENÖSSISCHES INSTITUT FÜR SCHNEE- UND LAWINENFORSCHUNG, DAVOS


ten Gerüst von Schnee-
kristallen mit hohem
Luftgehalt. Dass dies
nicht lange so bleibt,
dafür sorgt eine Reihe
von Umwandlungspro-
zessen, die durch die
Witterungsbedingun-
gen verursacht werden.

Entwicklung einer
künstlich ausgelösten
Lawine im Versuchs-
gelände Vallée de la
Sionne des Eidgenös-
sischen Instituts für
Schnee- und
Lawinenforschung

84 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


se“. Durch Antauen bildet sich ein von Schichten, die unter verschiedensten
Schmelzwasserfilm an den Körnern. Bedingungen entstanden sind. Die
Hohlformen werden von Wasser ausge- Schichtgrenzen bilden dabei oft die
füllt, und es entstehen Rundformen mit Schwachstellen. Im Wesentlichen be-
einem Durchmesser von mehr als einem stimmen drei Faktoren das weitere Ge-
Millimeter. Da zwischen den Körnern schehen: die Dichte, die Verformbarkeit
nun anstelle fester Eisbindungen nur und die Festigkeit des Schnees.
mehr ein Wasserfilm existiert, sinkt die ➣ Die Dichte bestimmt das Gewicht der
Festigkeit des Schnees erheblich. Zusätz- Schneedecke und folglich – zusammen
lich bildet Schmelzwasser, das sich an mit anderen Faktoren wie etwa der Hang-
undurchlässigen Schneeschichten oder neigung – die wirkenden Kräfte. Ihre
am Boden sammelt, eine Schmierschicht, Werte reichen von etwa 30 Gramm pro
auf welcher der darüber liegende Schnee Kubikzentimeter bei leichtestem Neu-
abgleiten kann. schnee (dem so genannten Wildschnee)
bis zu mehr als 500 Gramm pro Kubik-
Schwachstellen der Schneedecke zentimeter bei Firn. Die Dichte einer
Schneeablagerung nimmt unter anderem
Schneefälle im Gebirge sind fast immer infolge des Druckes der überlagernden
von starken Winden begleitet. Auch ohne Schichten mit der Zeit zu.
Niederschlag wird lockerer Neuschnee ➣ Die Verformbarkeit des Schnees, der
ab Windgeschwindigkeiten von etwa vier sich wie eine zähe Flüssigkeit verhält, ist
Metern pro Sekunde verfrachtet, festerer besonders groß, wenn die Dichte klein ist
Schnee ab ungefähr zehn Metern pro Se- und die Temperatur nahe beim Gefrier-
kunde. Die pro Zeiteinheit vom Wind punkt liegt. Anrisskante eines Schneebretts
transportierte Schneemenge nimmt mit ➣ Die Festigkeit hängt ab von Art, Tem-
der dritten Potenz der Windgeschwindig- peratur und Feuchte des Schnees sowie
keit zu. Verdoppelt sich also die Windge- von der Geschwindigkeit und der Art der
schwindigkeit, steigt die Verfrachtungs- Belastung. Stark vereinfacht bewirken und bleibt es danach kalt und nieder-
rate auf das Achtfache! Die Schneeparti- runde, kleine Formen mit großer Dichte schlagsfrei, setzt durch den großen Tem-
kel werden beim Transport zertrümmert bei tiefen Temperaturen und geringer peraturgradienten zwischen Boden und
und lagern sich dann an windgeschützten Feuchte eine große Festigkeit. Die tat- Schneeoberfläche intensive aufbauende
Stellen wieder ab, wie etwa an den Lee- sächliche Festigkeit lässt sich aber nur Umwandlung ein. Die dabei entstehende
seiten von Hängen oder in Mulden. Die aus der jeweiligen Kombination aller schwache Schicht bleibt unter den nach-
jetzt kleinen Partikel bilden Schnee- Faktoren bestimmen. So kann eine an- folgenden Schneefällen in der Regel den
schichten, die weich, aber zugleich sprö- fängliche Erwärmung zunächst die Fes- ganzen Winter über bestehen; man
de sind. Ihre Dichte ist zwei- bis viermal tigkeit vermindern. Gleichzeitig erhöht spricht dann von einem schwachen Fun-
so groß wie diejenige von ungestört ab- sich jedoch die Verformbarkeit, was eine dament der Schneedecke.
gelagertem Schnee. Auf weniger dichten raschere Verdichtung und somit nach ei- Baut sich hingegen anfangs des Win-
Schneeschichten oder auf harten Harsch- ner gewissen Zeit wieder einen großen ters in kurzer Zeit eine mächtige Schnee-
schichten aufgehäuft, bilden sie vielfach Festigkeitsgewinn bringt. decke auf, ist der Temperaturgradient
die Basis für eine Lawine. Insgesamt ergibt sich nun das folgen- klein und die Überlastung groß, sodass
Eine Schneedecke ist nicht homogen, de Zusammenspiel. Bildet sich zu Beginn sich ein starkes, stabiles Fundament bil-
sondern enthält eine komplexe Abfolge des Winters eine dünne Schneedecke, den kann.
Kritisch ist hin-
gegen noch eine ande-
re Situation: wenn sich
in klaren und kalten
Nächten großkristalli-
ger Oberflächenreif
bildet, der bei einem
Witterungsumschwung
eingeschneit wird. Da-
bei entsteht eine sehr
schwache Zwischen-
schicht, die für Lawi-
nen eine geeignete
Gleitbahn darstellt.
Dem oftmals idylli-
schen und ruhigen An-
blick zum Trotz: Die
Schneedecke ist kein
gleichförmiges und be-
wegungslos daliegen-
des Gebilde. So wie in

den einzelnen Schich-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 85


FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT

ten ständig metamorphe Prozesse ablau- Belastung durch Wintersportler können Doch trotz aller Anstrengungen sind
fen, befindet sich die gesamte Decke dau- auch Neuschneefall, ein Temperaturan- pro Jahr im Mittel noch immer 22 Todes-
ernd in langsamer Bewegung. Längs der stieg oder eine aufbauende Umwandlung opfer durch Lawinen im freien Gelände
Falllinie führt der Schnee eine so genann- des Schnees das Reißen auslösen. zu beklagen. Dabei verlieren knapp 13
te Kriechbewegung aus, die vom Boden Der primäre Riss verläuft entlang ei- Prozent aller von Lawinen erfassten Per-
zur Oberfläche hin zunimmt und einige ner hangparallelen Gleitfläche und sonen ihr Leben. Berücksichtigt man aus-
Millimeter pro Tag erreichen kann. Die- pflanzt sich maximal mit mehreren hun- schließlich ganz verschüttete Opfer, so
sem Kriechen ist bei glattem Untergrund dert Metern pro Sekunde fort. An seinen steigt die Todesrate auf 50 Prozent an.
eine Gleitbewegung der ganzen Schicht seitlichen Begrenzungsflächen entstehen Die Rettungschancen hängen wesentlich
überlagert, die einige Zentimeter bis so- sekundäre Risse. Dadurch löst sich das davon ab, wie schnell die Verschütteten
gar einen Meter am Tag betragen kann. Schneebrett vollständig und gleitet zu geborgen werden können. Bereits nach
Tal, wobei es im Mittel Geschwindigkei- dreißig Minuten kommt für die Hälfte
Gefahr durch den ten von 80 Kilometern pro Stunde er- von ihnen jede Hilfe zu spät.
Weißen Tod reicht. Um Lawinenunglücke gänzlich zu
Zur Reduzierung der Lawinengefahr vermeiden, müssen sich die Wintersport-
Die Kräfte, die in der Schneedecke wir- haben sich künstliche Verbauungen und ler verantwortungsbewusst verhalten und
ken, resultieren in erster Linie aus ihrem Wiederaufforstungen in den potenziellen selbst für einen kleinen Ausflug neben
Eigengewicht. Hinzu kommen äußere Anrissgebieten bewährt. Die Schweiz die Piste zweckmäßig ausgerüstet sein.
Belastungen durch Skifahrer oder zum Beispiel unternahm nach dem ver- Fundiertes Wissen in Schnee- und Lawi-
Schneefahrzeuge. Die inneren Kräfte las- heerenden Lawinenwinter 1950/51 enor- nenkunde und verlässliche Hintergrund-
sen sich am besten an lokalen Verände- me Anstrengungen, um den Schutz vor informationen über die herrschende La-
rungen der Kriech- oder Gleitgeschwin- Lawinen zu verbessern. Insbesondere in winensituation bewahren vor verhängnis-
digkeiten erkennen, zum Beispiel an Bezug auf Katastrophenlawinen wurden vollen Schritten und retten so Leben. ■
Stellen, an denen sich die Hangneigung große Fortschritte erzielt. Selbst bei den
ändert. Nimmt diese hangabwärts zu, außerordentlichen Schnee- und Lawinen-
vergrößern sich die Kriechgeschwindig- verhältnissen im Winter 1998/99 konn- Anja Schilling ist Diplom-Geografin
keiten, und es entstehen in der Über- ten größere Schäden verhindert werden. und arbeitet am Eidgenössischen
gangszone Zugkräfte. Nimmt die Hang- Auch die Lawinenwarnung befindet sich Institut für Schnee- und
neigung hingegen ab, entstehen durch heute auf einem sehr hohen Niveau und Lawinenforschung in Davos
Druckkräfte so genannte Druckzonen. ist für jedermann über vielfältige Infor- (Schweiz).
Bewegen sich zwei benachbarte Schich- mationskanäle zu erreichen.
ten in entgegengesetzter Richtung oder
verändern parallele Kriechbewegungen
ihre Geschwindigkeiten, so entstehen
Scherkräfte. Ihnen gegenüber weist die FORSCHUNGSSTANDORT BERLIN-ADLERSHOF
Schneedecke die geringste Festigkeit auf.
Kommen in einer solchen Situation
äußere Belastungen hinzu – wobei wie-
derum zusätzliche Scherkräfte den größ-
... und der Zukunft zugewandt
ten Einfluss haben –, kann die Schnee-
decke reißen und talabwärts stürzen.
In Berlins Südosten wächst Deutschlands größter
Grundsätzlich können solche Lawinen in Technologiepark heran – eine Stadt für Wissenschaft,
zwei Größenklassen unterteilt werden. Wirtschaft und Medien.
Relativ kleine Schneemassen mit eher
kurzer Sturzbahn und mehrheitlich flie- dern der First Sensor Technology GmbH.
Von Peter Strunk
ßender Bewegungsform werden zumeist Das Unternehmen gibt es seit 1999 – ein
von Skifahrern ausgelöst und heißen Spin-off der Technischen Universität

M
daher Skifahrerlawinen. Sind große atthias Scholz baut Laser, spezielle Berlin. Dort hatten die fünf bereits jahre-
Schneemassen in Bewegung geraten, und Laser für die hoch sensible Analy- lang silizium-basierte Drucksensoren
ist die Sturzbahn lang, so kann sich eine tik. Weltweit gibt es nur wenige Fir- entwickelt und hergestellt. Auch früher
Katastrophenlawine bilden. Ihr typischer men, die auf diesem Spezialgebiet tätig schon lieferten sie Sensoren an medizin-
Vertreter ist die Staublawine, die als sind. Scholz war bis 1989 wissenschaftli- technische Unternehmen sowie an die
Schneewolke durch die Luft stiebend mit cher Mitarbeiter an einem Institut der Luft- und Raumfahrtindustrie. 1999 wag-
Geschwindigkeiten von bis zu 300 Kilo- Akademie der Wissenschaften der DDR. ten Solzbacher und seine Kollegen den
metern pro Stunde zu Tal rast. Bereits 1990 – noch vor der Wiederverei- Sprung in die Selbstständigkeit. Für das
Die von Ski- und Snowboardfahrern nigung – gründete der damals 44-jährige Geschäftsjahr 2000 peilte die First Sen-
verursachten Lawinen gehen zumeist Physiker mit drei Kollegen die LTB La- sor Technology einen Umsatz von 1,5
nicht von einem Punkt aus, sondern rei- sertechnik Berlin GmbH: „Unser größtes Millionen Mark an.
ßen entlang einer Linie an (Bild Seite 85 Eigenkapital war das Know-how im wis- Jochen Dittrich lässt modellieren. In
oben). Solche Schneebrettlawinen setzen senschaftlichen Gerätebau.“ Dabei ist es seiner Werkstatt entstehen Mock-ups,
das Vorhandensein von gebundenen nicht geblieben. Heute arbeiten 25 Men- originalgetreue 1:1-Modelle von Bahnen
Schneeschichten voraus, die Kräfte über schen bei LTB. Der Umsatz erreichte und Bussen. Dittrich ist Designer. Er ent-
weite Strecken übertragen können. Zu- 2000 über fünf Millionen Mark. wirft Fahrzeuge – für die Berliner S-
dem muss die Schneedecke eine Florian Solzbacher ist 27 Jahre alt. Er Bahn, die Metro in Helsinki und für Bus-

Schwachschicht enthalten. Neben der gehört mit vier Kollegen zu den Grün- se in Polen. Im Alter von 37 Jahren häng-

86 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT

zählt zu den weltweit bedeutendsten


AM RANDE ihrer Art. Internationales Renommee be-
sitzt auch das Institut für Weltraumsenso-
rik und Planetenerkundung des Deut-
Urfluch und Ekstase im Weltall schen Zentrums für Luft- und Raumfahrt,
wo man sich mit Erdbeobachtung und

W enn ein Gast erklärt: Ich möchte


ein Thema auf die Tapete brin-
gen, das eigentlich gar nicht in meinen
se“ rufen, denn welche Schwiegermut-
ter liest schon Botho Strauß.
Um zu beweisen, dass er sich auch
Planetenerkundung beschäftigt und zu
diesem Zweck 3-D-Kameras und Satelli-
ten baut.
Tresor fällt, wäre er auf vielen Partys in den Naturwissenschaften auskennt, Außeruniversitäre Institute und inno-
gleich unten durch. Am Gebrauch des belehrt uns der Schöngeist, was ein vative Firmen sind zwei Fundamente, auf
Fremdworts erkennen die Gebildeten, „Pictonewton“ ist, nämlich der „Hauch denen das Projekt Adlershof verwirklicht
ob einer zu ihnen gehört. einer Kraftveränderung“ oder – ganz wird. Das dritte sind die naturwissen-
Zu neuen Höhen treibt dieses Ge- populärwissenschaftlich – die „Kraft, schaftlichen Institute der Humboldt-Uni-
sellschaftsspiel der Prosaist, Dramati- die der gebündelte Lichtkegel einer Ta- versität zu Berlin. Sie ziehen derzeit aus
ker und Begriffslyriker Botho Strauß in schenlampe auf eine angestrahlte Flä-
der Mitte Berlins nach Adlershof um. Die
der „Zeit“ vom 20. Dezember. Unter che ausübt“.
dem Titel „Wollt ihr das totale Engi-
Mathematiker und Informatiker sind
schon da. Im September 2001 werden die
neering?“ tut er kund, dass sein Ekel
vor allem Gegenwärtigen, bekannt seit
seinem „Spiegel“-Essay „Anschwellen-
D amit bringt er leider etwas auf die
Tapete, was offensichtlich nicht in
seinen Tresor fällt. Denn zwar gibt es
Chemiker folgen, 2002 die Physiker. Da-
nach kommen die Geografen, die Psy-
der Bocksgesang“, nun auch Technik Pikonewton, das heißt billionstel New- chologen und zuletzt die Biologen.
und Naturwissenschaft erfasst hat. ton, aber Pictonewton gibt es nicht.
Auszug: „Der Wissenswille hebt sich Piktogramme hingegen weisen alleror- Netzwerk Adlershof
mit Urfluchdrall über den Menschen ten auf Nützliches hin, etwa auf das
hinweg und wird als reine noetische stille Örtchen für die Kenosis. Botho Die Nähe von außeruniversitärer Wissen-
Ekstase ohne ihn durchs Weltall irren.“ Strauß hält das Piktogramm offenbar schaft, von universitärer Forschung und
Für seinen Rundumschlag bedient für den winzigen Bruchteil eines Lehre ist gewollt. In Adlershof sollen
sich Strauß erlesener Bildungsbrocken. Gramms und adelt es nach dem aus Synergien entstehen, Netzwerke aufge-
Offensichtlich sollen sie den Abstand der Werbung für Circus und Cigarette baut und Innovationszyklen verkürzt
zu den Zeitgenossen noch weiter ver- bekannten Vorbild durch ein „c“. werden. Schon heute geben rund siebzig
größern. Unter den Fremdwörtern, die „So werden die Maße der Technik Prozent der Unternehmen an, mit mehr
er auffährt, sind einige so rar, dass die immer feiner und die des Geistes im- als drei Partnern am Standort in der For-
„Zeit“-Redakteure dem Essay eigens mer gröber“, folgert Strauß. Wie wahr. schung, der Entwicklung und bei der Fer-
ein Glossar beifügen mussten. Dort er- Er sollte als Erfinder der neuen Maßein- tigung zu kooperieren.
fährt man etwa, dass „Fulgurist“ etwas heit „1 Pictobotho“ in die Geisteswis- In Adlershof soll nicht nur ein For-
mit Blitzen zu tun hat, „Kenosis“ Ent- senschaft eingehen.
schungs- und Technologiepark entstehen.
leerung bedeutet und sich hinter „Em- Michael Springer
puse“ eine weibliche Schreckensgestalt
Das Land Berlin möchte auch das umlie-
verbirgt. Das ist sicher ein Gewinn: Der Autor ist pro- gende Gelände städtebaulich entwickeln
Entdeckt beispielsweise einer im Thea- movierter Physiker und lassen. 1994 wurde daher Berlin-Adlers-
ter aus der Loge unten im Parkett seine ständiger Mitarbeiter hof als Entwicklungsgebiet mit einer Ge-
Schwiegermutter, kann er ungestraft bei Spektrum samtfläche von 4,2 Quadratkilometern
von der Empore mit Emphase „Empu- der Wissenschaft. ausgewiesen. Im unmittelbaren Umfeld
des Technologieparks entsteht dort ein
Ensemble aus Wohnquartieren, Läden,
Hotels, Restaurants, Kinos, Schulen und
ten er und neun Kollegen ihren Job bei men mit rund 3800 Beschäftigten haben einem siebzig Hektar großen Land-
einem bedeutenden Schienenfahrzeug- sich dort bereits angesiedelt. Von den rei- schaftspark. Im Jahr 2010 soll alles fertig
hersteller an den Nagel und hoben die nen Dienstleistern abgesehen, konzen- sein. Dann, so die Erwartung, werden in
IFS-Designatelier GmbH aus der Taufe. trieren sich die Unternehmen auf vier Adlershof bis zu 17 000 hoch qualifizier-
Was die zehn zuvor für ein großes Unter- Technologiefelder: te Fachkräfte arbeiten, 3000 Wissen-
nehmen machten, erledigen sie nun auf schaftler lehren und forschen, 5000 Stu-
eigene Rechnung und sind damit „mehr ➣ Informations- und Medientechnologie, denten lernen sowie rund 5000 Men-
als zufrieden“. Das Atelier erreichte ➣ Photonik und optische Technologien, schen wohnen.
2000, im dritten abgeschlossenen Ge- ➣ Material- und Mikrosystemtechnologie, Ein Projekt mit beachtlichen Ausma-
schäftsjahr, einen Umsatz von 1,2 Millio- ➣ Umwelt-, Bio- und Energietechnologie. ßen und ehrgeizigen Zielen. Doch in Ber-
nen Mark und zählt Firmen wie Bombar- lin sind sich Politik, Wissenschaft und
dier, Adtranz oder Neoplan Polska zu sei- Hinzu kommen zwölf außeruniver- Wirtschaft einig, dass etwas geschehen
nen Kunden. sitäre Forschungsinstitute mit rund 1300 muss. Die Stadt hat sich das Ziel gesetzt,
Scholz, Solzbacher und Dittrich sind Beschäftigten, darunter 800 Wissen- wieder ein führendes Wirtschafts- und
drei typische Unternehmer aus Berlin- schaftlern. Unter den Forschungsinsti- Wissenschaftszentrum zu werden, so wie
Adlershof. Dort, an Berlins südöstlichem tuten befinden sich so renommierte es einst vor der Zeit des Nationalsozialis-
Stadtrand entsteht die „Stadt für Wissen- Einrichtungen wie die Elektronenspei- mus war. Adlershof spielt dabei eine he-
schaft, Wirtschaft und Medien“. Herz- cherring-Anlage BESSY II, eine Hoch- rausragende Rolle. Dies dokumentiert
stück ist ein 78 Hektar großer Wissen- brillanzstrahlungsquelle der dritten Ge- schon allein die Summe, die investiert

schafts- und Technologiepark. 365 Fir- neration. Sie ging 1998 in Betrieb und wurde: 1,6 Milliarden Mark waren es seit

88 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT

1991. Insgesamt werden bis 2010 fünf ralbevollmächtigte für den Standort Ber- bietes befand sich früher der Flughafen
bis sechs Milliarden Mark, davon ein be- lin-Adlershof. Aber noch gibt es dort Un- Berlin-Johannisthal, wo 1909 Deutsch-
trächtlicher Teil privates Kapital, in das zulänglichkeiten und viele Baustellen, lands erste Motorflugzeuge starteten.
Projekt fließen. noch fehlt das kreative Flair. „Insofern Während des Ersten Weltkrieges wurde
„Adlershof ist im Jahr 2000 aus einer sind wir noch Pioniere“, fügt Scharwäch- dort die Deutsche Versuchsanstalt für
von der Politik initiierten Aufbauphase in ter hinzu. Luftfahrt (DVL) angesiedelt. Noch heute
eine von Wirtschaft und Wissenschaft an- Adlershof hat Tradition, auch wenn sind auf dem Gelände Relikte jener Zeit,
getriebene Lebensphase getreten“, so diese scharfe Zäsuren erlebte. Auf dem wie Flugzeughangars, aber auch so be-
Professor Rolf Scharwächter, der Gene- Gelände des heutigen Entwicklungsge- merkenswerte Bauten wie Windkanal

GASTKOMMENTAR

Therapeutisches Klonen – Für und Wider


I n Europa ist Großbritannien erneut Vorreiter bei der bio-
technologischen Forschung am Menschen: Das britische
Unterhaus stimmte Mitte Dezember mit großer Mehrheit
Hinsichtlich des Imports humaner Zellen aus dem Aus-
land gilt, dass die Einfuhr von Embryonen, nicht aber die von
pluripotenten embryonalen Stammzellen verboten ist. Wenn
dafür, das Klonen von Embryonen für therapeutische Zwecke die Zellen aus Ländern importiert werden, in denen die Ent-
zu erlauben. Wegen der weitreichenden gesellschaftlichen nahme aus menschlichen Embryonen erlaubt ist, kann der
Bedeutung des Gesetzes war zuvor der Fraktionszwang auf- deutsche Wissenschaftler aber belangt werden, falls er zu
gehoben worden. Zwar ist noch die Zustimmung des Ober- dieser Entnahme angestiftet hat. Bei schon kultivierten Zell-
hauses erforderlich, aber selbst wenn diese verweigert wer- linien lässt sich ein Vorwurf der Anstiftung seitens des For-
den sollte, kann sich das Unterhaus mit einer erneuten schers durch Laboraufzeichnungen widerlegen, aus denen
Abstimmung darüber hinwegsetzen. Der Abstimmung vor- hervorgeht, dass die Zellen nicht wegen der Anfrage aus
ausgegangen war eine leidenschaftlich geführte Debatte, Deutschland entnommen wurden. In bestimmten rechtlichen
zum Teil auf hohem Niveau. Befürworter und Gegner des Grenzen ist also die Forschung an embryonalen Stammzellen
Klonens machten die ethische Verantwortung geltend, die in Deutschland und von deutschen Wissenschaftlern im Aus-
gegenüber dem ungeborenen Leben besteht, aber auch land erlaubt.
gegenüber dem jetzt noch unheilbaren Kranken, dem viel-
leicht mit dieser neuen Technologie geholfen werden kann.
Nach dem neuen britischen Gesetz dürfen bis zu 14 Tage
alte Embryonen geklont werden. Aus den daraus gewonne-
E ine andere Frage ist, ob in Deutschland tatsächlich an
Embryonen zu therapeutischen Zwecken geforscht wer-
den sollte. Die rechtlichen Grenzen könnten durch ein künfti-
nen Stammzellen, die sich im Prinzip in viele der mehr als ges Fortpflanzungsmedizingesetz, dessen Eckpunkte inzwi-
200 unterschiedlichen Zelltypen des menschlichen Körpers schen vorliegen, enger oder weiter gezogen werden. Wissen-
weiterentwickeln können, soll gesundes Gewebe zur Heilung schaftliche und ethische Argumente werden gegen das thera-
schwer kranker Patienten hergestellt und dann in deren peutische Klonen mit embryonalen Stammzellen ins Feld ge-
Körper eingepflanzt werden. Dem Klonen führt, die stichhaltig zu sein scheinen: Als
für Forschung und Therapie ist damit das Alternative rückt die Entnahme so genann-
Tor geöffnet; Klonen für die Fortpflanzung, ter adulter Stammzellen ins Blickfeld. Da-
also zur Erzeugung ganzer Menschen, bleibt Forschung zwischen mit ist gemeint, dass spezialisiertere
dagegen weiterhin verboten. rechtlichen und Stammzellen aus dem Körper Erwachsener
zur Therapie ihrer eigenen Krankheiten ver-
ethischen Grenzen
W ie sieht aber nun in Deutschland die
Rechtslage aus? Das hiesige Embryo-
nenschutzgesetz verbietet das Klonen von
wendet werden können. Diese Technik soll
einfacher und vielversprechender sein. Zu-
mindest ist nicht erwiesen, dass therapeuti-
Embryonen zu therapeutischen Zwecken und die Isolierung sches Klonen mit embryonalen Stammzellen der einzig mög-
von embryonalen Stammzellen. Wäre es aber zulässig, Zel- liche Weg ist, auf dem die Wissenschaft zur Heilung oder
len aus abgegangenen Föten zu isolieren, aus anderen Län- Linderung schwerer Krankheiten voranschreiten kann. Hinzu
dern einzuführen oder sich als deutscher Wissenschaftler an kommt die ethische Problematik, Embryonen für wissen-
diesbezüglichen Forschungen im Ausland zu beteiligen? schaftliche und therapeutische Zwecke herzustellen und zu
Letzteres ist am einfachsten zu beurteilen, denn das nutzen. Diese Problematik ist bisher nicht hinreichend in al-
Embryonenschutzgesetz gilt nur für Arbeiten im Inland. Die len Facetten diskutiert worden. Deshalb sollten
Isolierung so genannter primordialer Keimzellen aus abge- wir vor einer schnellen Regulierung durch eine
gangenen Föten wird weder von diesem noch von anderen neues Fortpflanzungsmedizingesetz die ethische
Gesetzen geregelt. Die Richtlinien der Bundesärztekammer und politische Debatte in Deutschland und auf
erwähnen aber, dass fetale Zellen und fetales Gewebe aus europäischer Ebene intensiv fortsetzen, um nicht
Schwangerschaftsabbrüchen in zunehmendem Maße für ex- zu früh die Tür zuzuschlagen, zumal auch Frank-
perimentelle und klinische Forschungsvorhaben genutzt wer- reich mit einem neuen Gesetz die Forschung an
den. In Übereinstimmung mit einer Stellungnahme der Deut- Embryonen genehmigen will.
schen Forschungsgemeinschaft ist deshalb davon auszuge- Dr. Jürgen Simon
hen, dass diese Methode nicht gegen geltendes Recht ver-
stößt. Ob damit ein gesteigertes Interesse an Abtreibungen Der Autor ist Professor für Wirtschafts- und Umwelt-
entstehen könnte, muss für die rein rechtliche Beurteilung recht an der Universität Lüneburg und leitet das dortige
außer Betracht bleiben. Forschungszentrum „Biotechnologie und Recht“.

90 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


und Trudelturm zu finden. Während des folger der DVL. Bei-
Zweiten Weltkrieges dominierte die deut- spiele dafür sind aber
sche Luftwaffe das Gelände. 1945 folgte auch das Hahn-Meit-
die sowjetische Siegermacht. Die techni- ner-Institut, das die
schen Einrichtungen wurden – soweit sie Grundlagen der Photo-
nicht zerstört waren – demontiert und der voltaik erforscht, und
Flugplatz stillgelegt. das Max-Born-Institut
Zu DDR-Zeiten bekam der Name des für Nichtlineare Optik
Standortes Adlershof einen anderen und Kurzzeitspektro-
Klang. Der Deutsche Fernsehfunk bzw. skopie. Dessen For-
das Fernsehen der DDR nahm dort sei- schungsschwerpunkt
nen Sitz. Auch die DDR-Staatssicherheit liegt in der Erzeugung
bemächtigte sich eines Teil dieses Ter- und Nutzung von ultra-
rains und stationierte dort ihr „Wachregi- kurzen und/oder ultra-
ment Feliks Dzerschinski“. Zusätzlich intensiven Laserpulsen.
kam die Akademie der Wissenschaften Anfang der neunzi-
der DDR mit ihren naturwissenschaftli- ger Jahre setzte in
chen Instituten nach Adlershof. Der Adlershof eine rege
Standort kann eine ganze Reihe bedeu- Sanierungs- und Bau-
tender Forschungsergebnisse vorweisen. tätigkeit ein. Es wur-
So sind dort die Gleitsichtbrille und der den 33 Kilometer Stra-
Fiberglasstab für Stabhochspringer er- ßen angelegt und zahl-
funden worden. Ein bedeutender Phar- reiche Gebäude bei
mahersteller aus dem Westteil Berlins laufendem Betrieb sa-
produzierte Antibabypillen auf der niert. Rund 200 Ge- FRIEDRICH BUSAM/ARCHITEKTURPHOTO

Grundlage von Patenten, die teils aus der bäude waren in ihrer
Akademie der Wissenschaften kamen – Bausubstanz so be-
für die chronisch devisenschwache DDR schädigt, dass sie abge-
eine willkommene Einnahmequelle. rissen werden mussten.
Im Jahr 1989 arbeiteten allein in den Zur Ansiedlung von
naturwissenschaftlichen Instituten der Unternehmen wurden
Akademie der Wissenschaften über 5000 moderne Zentren er-
Menschen, beim Fernsehen waren es richtet, teils sanierte
über 2000. Beide Institutionen sollten die Altbauten, teils Neu- Die Humboldt-Universität zu Berlin hat in Adlershof einen
Wiedervereinigung Deutschlands nicht bauten mit spektakulä- modernen Campus errichtet.
lange überleben. Sie passten nicht in die rer und preisgekrönter
föderale Forschungs- und Medienland- Architektur.
schaft der Bundesrepublik. Der Ausbau von Adlershof ist lang- Qualität wissenschaftlicher Einrichtun-
fristig angelegt. Knapp die Hälfte des gen, ein aufnahmebereites Umfeld für
Ziel: Innovationszentrum und Vorhabens ist bisher realisiert worden. Gründungen sowie außerdem ein vielfäl-
Wachstumsmotor Standen in den vergangenen Jahren die tiges Instrumentarium zur geschäftli-
Fertigstellung der Zentren und die Sanie- chen, finanziellen sowie personellen Ver-
Als Ende 1991 die Akademie der Wissen- rung der Infrastruktur im Vordergrund, netzung.
schaften der DDR ihre Tätigkeit einstell- liegen die Prioritäten nunmehr in einem Jetzt geht es also darum, Adlershof
te, hatte der Berliner Senat längst be- offensiven Marketing und in einer syste- regional zu integrieren und gleichzeitig
schlossen, Adlershof zu einem Wissen- matischen Akquisition. seine Technologiefelder zu erweitern. Im
schafts- und Wirtschaftsstandort auszu- Innovationen entstehen zunehmend nächsten Schritt soll der Technologiepark
bauen. Es folgte die Zeit der Evaluierun- in den Schnittmengen von Forschungs-, zu einem „Center of Excellence“ aus-
gen durch den Wissenschaftsrat und Entwicklungs- und Produktionsprozes- gebaut werden, einem internationalen
durch die Technologiekommission des sen sowie verschiedener Grundlagen- Innovationszentrum und wirtschaftlichen
Landes Berlin. Der Personalbestand der und Anwendungsfelder. Darum verfol- Wachstumsmotor für die Region. Der
einstigen Akademie der Wissenschaften gen die Konzepte vieler Technologie- Weg dorthin ist noch weit, jedoch immer-
wurde auf 1500 Mitarbeiter reduziert – parks das Ziel, die Wissenschaft auf be- hin zählt Adlershof schon heute zu den
ein harter Schnitt. Es gelang jedoch, stimmte Technologiefelder zu konzen- 15 größten und modernsten Technologie-
zahlreiche technologieorientierte Firmen trieren – und zwar mit konkretem Nutzen parks der Welt. ■
aus den Instituten auszugründen, von de- für Wissenschaft und Gesellschaft. Dafür
nen sich viele am Standort inzwischen bedarf es eines neuen Denkens: Sachver-
erfolgreich etabliert haben. halte müssen ganzheitlich und vernetzt
Zudem war es möglich, eine Reihe betrachtet werden. Wettbewerber sind Dr. Peter Strunk ist Leiter der
namhafter Forschungseinrichtungen in nicht nur Konkurrenten, sondern auch Kommunikation der WISTA-
die bundesdeutsche Forschungsland- Partner. Management GmbH. Diese ist für
schaft zu überführen, allen voran das In- Nicht anders verhält es sich in Berlin- die Entwicklung, Führung und
stitut für Kosmosforschung. Es gehört Adlershof. Die neue Stadt für Wissen- Verwaltung des Technologieparks
heute zum Deutschen Zentrum für Luft- schaft, Wirtschaft und Medien bietet Berlin-Adlershof zuständig.
und Raumfahrt (DLR), dem Rechtsnach- schon jetzt eine hohe Konzentration und

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 Seiten 92 bis 94: Anzeige und Beihefter 91
IM RÜCKBLICK

Farbig erscheinende Eine Methode zum sicheren Nachweis


photographische von Menschenblut
Aufnahmen Will man also untersuchen; Lösung ein, so rühren die
Nach dem neuen Verfahren ob Blutflecken, z.B. auf Flecken zweifellos von densten Blutarten eingespritzt
nach U. Trillat in Paris wird einem Gewebe, von Men- Menschenblut her, bleibt die sind, dem einen Rinder-, dem
der an Films oder photogra- schenblut oder Tieren Lösung klar, so hat man es anderen Hammel-, dem
phischen Platten das entwik- herrühren, so wäscht man die mit Tierblut zu thun. Falls es dritten Hundeblut u.s.f. Das
kelte Bild darstellende Flecken mit einer 1,6% von Wert ist, nachzuweisen Serum, welches die Trübung
amorphe Silberniederschlag Kochsalzlösung aus und was für Tierblut die Flecken veranlasst, lässt dann
in einen Niederschlag versetzt sie mit dem Serum verursacht hat, so muss man erkennen, von welchem Tier
umgewandelt, der nicht mehr eines Kaninchens, dem eine ganze Reihe von der Blutflecken stammte.
pulverförmig oder umzusam- Menschenblut eingespritzt Kaninchen zur Verfügung (Die Umschau, Nr. 9, V. Jg.,
menhängend ist, sondern aus war. Tritt eine Trübung der haben, denen die verschie- 23. Februar 1901, S. 176)
ununterbrochenen Lamellen
oder Plättchen von metalli-
schem Aussehen besteht. Revisionswagen für Oberleitung elektrischer Strassenbahnen
Diese sind nach ihrer Dicke,
ihrer Zahl und ihrer Beschaf- Zu der Konstruktion des Wagens ... ist zu erwähnen, dass durch
fenheit im Stande, lebhafte geeignete Einrichtungen es ermöglicht werden soll, 4 Räder
Farbentöne zu liefern, die im anzutreiben und beide Achsen zu lenken, dass es ferner durch
reflectirten Lichte sichtbar die geeigneten Wagenkontakte möglich ist, an jeder Stelle
und bei der Projection durch Strom für die Motoren zu entnehmen, und dass selbst da, wo
Reflexwirkung verwendbar durch Zufälligkeiten die Abweichungen vom Fahrdraht und
sind. ... Die erhaltenen Geleis das vorgeschriebene Maass überschritten haben, es
Farbentöne sind auch unter durch geeignete Hilfskontakte sicher gestellt ist, Strom zu
einem sehr großen Winkel entnehmen. Dieser letzterwähnte Fall kommt besonders dann
sichtbar; sie geben keinen vor, wenn mitten auf der Strecke umgedreht werden soll, wofür
vielfarbigen Wiederschein an sich die Mitführung besonderer Schienenkabel und einer
ein und demselben Punkte. Stange mit Oberleitungsklemme erforderlich macht.
(Der Stein der Weisen, 26. (Elektrotechnischer Anzeiger, Nr. 13, 18. Jg., 14.
Bd., 1901, S. 94) Februar 1901, S. 411) Elektrischer Revisionswagen der Dresdner Strassenbahn

Neutronenzähler für strahlengefährdete Betriebe


Ingenieure der General Elektric Co. konstru- Bor ausgekleidet, das die Fähigkeit besitzt,
ierten ein Instrument zum Nachweis von langsame Neutronen einzufangen. Sobald ein
Neutronen, die von radioaktivem Material Neutron auf ein Boratom trifft, sendet dieses
ausgesandt werden. Dieser „Neutronenzähler“ zwei Partikel in entgegengesetzter Richtung
dient zum Schutze des Personals von Atom- aus. Diese rufen bei Zusammenstößen mit
Komet Encke wieder energie-Forschungslaboratorien und von Atomen des Edelgases Argon, mit dem das
aufgefunden Kliniken, die mit neutronenausstrahlenden Rohr gefüllt ist, einen elektrischen Stromstoß
Präparaten arbeiten. Das Zählrohr hat einen hervor. Die Zahl der Stromstöße entspricht
Auf der Mt. Wilson-Sternwar- Durchmesser von etwa drei Zentimeter und ist unmittelbar der Zahl der Neutronen. (Orion,
te in den USA wurde mit dem vierzig Zentimeter lang. Im Innern ist es mit 6. Jg., Nr. 4, 2. Februarheft 1951, S. 148)
60''-Spiegel der bekannte
Enckesche Komet als winzi-
ges Objekt 20. Größe wieder
aufgefunden. Er wird sein Kleine Schneckenpresse zum Spritzen
Perihel (Sonnennähe) im von Kunststoffen
März 1951 durchlaufen.
Dieser Periheldurchgang ist Eine Längsbohrung in der Schnecke gestattet beliebige
dann der 51. seit der Erstent- Kühlung. Der Stahlzylinder ist gehärtet und geschliffen,
deckung des Kometen durch wodurch die Reibung auf ein Minimum beschränkt und
Méchain im Jahre 1786. die Leistung gesteigert wird. Die Einfüllzone ist
Dieses ist die 43. Wiederent- gekühlt. Zylinder und Spritzkopf sind mit drei vonein-
deckung des Kometen, der in ander unabhängig regelbaren elektrischen Heizungen
mehr als 150 Jahren fast bei versehen, so daß einwandfrei abgestufte Temperaturfüh-
jeder Wiederkehr in Sonnen- rung möglich ist. (Kunststoffe, 41. Jg., Heft 2, Februar
nähe beobachtet wurde. Das 1951, S. 64)
ist ein wirklich einzigartiger
Rekord. (Kosmos, Heft 2, 47. Schneckenpresse für Kunststoffe
Jg., Februar 1951, S. 95)

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 95


REZENSIONEN

GEOLOGIE durch die Erdgeschichte. Natürlich ist es


unmöglich, auf jeweils 6 bis 18 Seiten zu
Peter Rothe berichten, was sich im Laufe von viel-
Erdgeschichte leicht 50 Millionen Jahren rund um die
Erde getan hat. Rothe arbeitet die charak-
Spurensuche im Gestein teristischen Züge der Zeitabschnitte gut
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000. heraus. Bei den angeführten Beispielen
240 Seiten, DM 79,– konzentriert er sich weitgehend auf Mit-
tel- und Westeuropa. Dennoch dürfte in

K
ambrium, Ordovizium, Silur – haben sem Buch auf einen breiteren Leserkreis. der vom Autor angestrebten Informa-
auch Sie die „Systeme“ der Erdge- Folgerichtig stellt er dem Hauptteil ein tionsdichte manches das Interesse fach-
schichte auswendig lernen und auf- paar Kapitel „Grundlagen“ voran, begin- ferner Leser überfordern. Das ist nicht so
sagen müssen, ohne viel damit zu verbin- nend mit dem „Lagerungsgesetz“ und tragisch: Man blättert ein wenig weiter
den? Der Mannheimer Geologieprofes- dem „Aktualitätsprinzip“. Beide erschei- und gewinnt wieder Grund.
sor Peter Rothe erfüllt diese Begriffe nen uns heute trivial: dass Gesteine in der Hilfreich ist dabei der strenge Auf-
buchstäblich mit Leben – und nicht nur Reihenfolge, in der sie übereinander lie- bau der Kapitel. Die Zeitabschnitte sind
mit Leben. Meere drangen immer wieder gen, abgelagert wurden und dass sich geo- jeweils gegliedert in „Begriff
auf das Festland vor und zogen sich wie- logisches Geschehen in der Vergangenheit und Abgrenzung“, „Flora und
der zurück, mal sprühte die Erde Feuer in kontinuierlich, ohne wundersame Kräfte Fauna“, „Fazies“, „Stratigra-
einem Ausmaß, das uns heute unvorstell- und Sprünge vollzogen hat, so wie wir es phie“ und „Zusammenfas-
bar erscheint, mal überzog sie sich in in der Gegenwart beobachten können. sung“, mitunter ergänzt
weiten Gebieten mit kilometerdickem Rothe stellt die wichtigsten Gruppen durch spezielle Betrach-
Eis. Gebirge wurden aufgeschoben und von Fossilien vor, erklärt eingehend, wie tungen, etwa über „Die
wieder abgetragen. Und unentwegt wur- das Alter von Gesteinen bestimmt wer- Variskische Gebirgsbil-
den Kontinentalblöcke um die Erde ver- den kann, und erläutert unter dem Begriff dung“, „Die Besonder-
frachtet und zu immer anderen Konstel- der Fazies, wie die Merkmale unter- heiten der Kreide-Tertiär-
lationen zusammengepuzzelt. schiedlicher Gesteine die Bedingungen Grenze“ oder „Die Ent-
Rothes Erdgeschichte beginnt denn widerspiegeln, unter denen sie jeweils stehung der quartären
auch nicht erst mit dem Kambrium, abgelagert worden sind. Eiszeiten“. Im Anhang
mit dem Zeitabschnitt, in dem erstmals Ein schönes Beispiel: „Wenn man die folgen für Leute, die es
und auch ziemlich unver- Knochen toter Kamele in feinkörnigem ganz genau wissen wol-
mittelt eine Vielfalt Sandstein findet, dessen Schichtung so len, ausführliche stratigra-
komplexer Lebe- aussieht wie die heutiger Dünen, und phische Tabellen zu den Cephalopode
wesen auftaucht. wenn die Sandkörner zudem noch rötlich einzelnen Systemen, ein aus der Kreide
Da waren von gefärbt sind, dann hat man schon eine umfangreiches Literatur-
den 4,6 Milli- ganze Reihe von Kriterien, aus denen verzeichnis und ein Register.
arden Jahren der sich die Bildungsbedingungen dieses Ge- Die schön gezeichneten Fossilienta-
gesamten Erdge- steins rekonstruieren lassen … Sanddü- feln sind einem über siebzig Jahre alten
schichte bereits nen werden vor allem da entstehen, wo Lehrbuch entnommen – eine gute Idee.
sieben Achtel ver- nur geringe Vegetation den äolischen Die den einzelnen Zeitabschnitten je-
gangen. Diese lange Sandtransport behindert … Die rote Far- weils vorangestellten Kärtchen über die
Kreide-Leitfossil: Ammonit Zeit war durchaus be der Sandkörner ist auf dünne Hämatit- Verteilung der Festländer – eigentlich
nicht ereignislos. Im häutchen zurückzuführen, die die Quarz- auch eine gute Idee – geben zwar den
Präkambrium entstand der größte Teil der körner umschließen, und Hämatit (Fe2O3) Wissensstand von 1981 wieder, stimmen
kontinentalen Kruste, sammelte sich das bildet sich unter den Bedingungen der jedoch, wie Rothe einräumt, „nur in
Wasser der Ozeane; wurde die Atmo- Erdoberfläche nur in warmem Klima … “ Grundzügen mit neueren Daten überein“.
sphäre mit Sauerstoff angereichert; bilde- Dann geht es Kapitel für Kapitel, Wenn der Autor darauf verweist, dass die
ten sich Gesteine, die später nicht mehr vom Präkambrium bis zum Quartär, neueren Daten im Internet abrufbar seien,
entstehen konnten, darunter die größten aber nicht einmal Adressen nennt, hat er
Eisenerzlager; entwickelten sich erstaun- offensichtlich den erhofften breiteren Le-
lich früh – vor etwa 4 Milliarden Jahren – serkreis aus dem Auge verloren. Der Zu-
die ersten Lebewesen. gang zu den mit sichtlich viel Mühe aus-
Nachdem Rothe Vorlesungen über gearbeiteten stratigraphischen Tabellen
Erdgeschichte vor allem für Nebenfach- wird unnötig erschwert, indem die Erklä-
Studierende gehalten hat, zielt er mit die- rungen der zahlreichen Zeichen 190 Sei-
ten weiter vorn im Vorwort versteckt
Gebänderte Kieseleisenerze lassen sind. Dabei wäre direkt bei den Tabellen
Rückschlüsse auf die Zeit ihrer genügend Platz gewesen.
Entstehung zu: Die roten Eisenoxid- Trotz dieser Kritikpunkte lautet das
schichten können sich nur in Fazit: empfehlenswert.
zumindest sauerstoffarmer Atmo- Erwin Lausch
sphäre abgelagert haben, und die
großen Mengen Kieselsäure legen
einen präkambrischen Soda-Ozean Der Rezensent ist promovierter Biologe
nahe, der sich erst allmählich zum und Wissenschaftsjournalist mit Schwer-
Kochsalz-Ozean entwickelte. punkt Geologie in Ahrensburg.

96 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


MEDIZIN Heroin oder Ecstasy? Zu der heutigen
Partydroge weiß Aldridge eine kuriose
Susan Aldridge Geschichte beizutragen: Zwischen den
Zaubermoleküle fünfziger und siebziger Jahren wurde das
Amphetaminderivat in der Ehetherapie
Wie Medikamente, Heilkräuter, eingesetzt, um Barrieren zwischen den
Drogen und Alltagsdrogen wirken Partnern abzubauen und Zuneigung für-
Aus dem Englischen von Dietmar Zimmer. einander zu wecken. Ob dieses Ziel er-
Birkhäuser, Basel 2000. 298 Seiten, DM 49,80 reicht wurde, verrät das Buch nicht.
Als leichte Lektüre vor dem Schla-

K
räutertee, Aspirin, Antibiotika oder ger gegen das Eindringen eines Schim- fengehen ist dieses Buch sicherlich nicht
gar eines der neuen Virostatika – was melpilzes geschützt, hätte er nicht das geeignet, denn es vermittelt geballtes
ist man nicht bereit, an Fremdstoffen erste Breitbandantibiotikum entdeckt. Wissen, das ohne Vorkenntnisse schlecht
in sich aufzunehmen, wenn einem die Penicillin rettete bereits im Zweiten zu verdauen ist. „Der HIV-Virus“ ist dem
Nase läuft und der Schädel brummt. Weltkrieg unzähligen Menschen das Le- Korrektor durchgerutscht, und an die mo-
Doch wie genau wirken all diese Stoffe? ben, stand für die Zivilbevölkerung aller- derne Schreibweise „Estrogen“ muss
Die britische Fachjournalistin Susan dings erst ab 1946 zur Verfügung. man sich gewöhnen. Doch wer durchhält,
Aldridge führt den Leser sorgfältig durch Doch nicht nur Medikamente greifen wird mit einer Fülle von Fachwissen be-
die Welt der kleinen Moleküle mit den in den biochemischen Zustand unseres lohnt – und ein paar hübschen Überra-
„zauberhaften“ Wirkungen. Und sie ver- Körpers ein. Auch Kaffee, Alkohol und schungen und Anekdoten obendrein.
spricht nicht zuviel im Untertitel. Sinn- Nikotin haben tief greifende Auswirkun- Dagmar Knopf
voll gegliedert beschäftigt sich ihr Buch gen auf unser inneres Gleichgewicht.
mit dem breiten Spektrum der Medika- Was passiert in unserem Körper nach der Die Rezensentin ist promovierte Biolo-
mente und widmet den häufigsten Er- morgendlichen Tasse Kaffee? Und worin gin und freie Wissenschaftsjournalistin
krankungen, wie Herz-Kreislauf-Erkran- besteht das Suchtpotenzial von Alkohol, in Düsseldorf.
kungen, Krebs und Infektionen, jeweils
ein eigenes Kapitel. Psychopharmaka,
Alltagsdrogen wie Kaffee, Alkohol und
Nikotin sowie illegale Drogen finden ZOOLOGIE
ebenfalls angemessenen Raum.
Aspirin (Acetylsalicylsäure) kennt Thomas Bell
heutzutage jedes Kind. Doch die bitter A Monograph of the Testudinata
schmeckende Salicylsäure ist keine Ent-
deckung der Neuzeit. Schon in den Tagen CD-Rom nach dem Original von 1832–1836.
Octavo (www.octavo.com), Oakland (Kalifornien) 2000. $ 35,–
des griechischen Arztes Hippokrates
wurde sie als Heilmittel gegen Schmer-
ur selten hat man das Vergnügen, ein baut. Auch wer mit dem elektronischen
zen und Fieber eingesetzt. Um die bittere
Pille etwas zu versüßen, versah Felix
Hofmann die Säure 1899 mit einer zu-
Nnehmen.
kostbares altes Buch in die Hand zu
Der Octavo-Verlag verhilft
Medium noch nicht viel Erfahrung hat,
versteht schnell, wie er gewünschte
sätzlichen Acetylgruppe und erfand da- aber zu einem fast authentischen Er- Seiten finden, Bildausschnitte in prak-
mit eins der erfolgreichsten Medikamen- satz. Dank digitaler Datenbanken kön- tisch beliebiger Vergrößerung heranho-
te aller Zeiten. nen Sie in jahrhundertealten Werken len, nach Stichworten im Text suchen
Doch nicht für jedes Medikament ge- „blättern“. oder sich Passagen und einzelne Abbil-
lingt die Markteinführung. Und bis das Jetzt erschien auf CD die Schild- dungen ausdrucken lassen kann. Ex-
Produkt seinen Weg vom Labor zum Pa- krötenmonografie des englischen Na- perten dürften rasch auf die gewünsch-
tienten findet, vergehen im Schnitt zwölf turforschers Thomas Bell, entstanden te Fachinformation treffen.
Jahre. Die „Zaubermoleküle“ bieten ei- in den dreißiger Jahren des 19. Jahr- Wer nichts Bestimmtes sucht, kann
nen detaillierten Überblick über die lang- hunderts. Sämtliche Texte und Abbil- sich vor- und rückwärts durch den
wierige und kostspielige Entwicklung ei- dungen des Bandes, der bis heute als Band blättern – die Doppelseiten
nes neuen Wirkstoffes vom Reagenzglas einer der umfassendsten über diese scheinen aufgeschlagen vor dem Be-
über die Phasen der klinischen Prüfung Reptilien gilt, haben die Herausgeber trachter zu liegen – oder sich einzelne
bis in die Apotheke. Doppelseite für Doppelseite eingespei- Kapitel anschauen und die Abbildun-
Zu manchen Wirkstoffen kamen die chert. Dazu liefern sie ausführliche In- gen bewundern, die weitgehend von
Wissenschaftler allerdings wie die Jung- formationen über Werk und Autor. Edward Lear stammen, einem der bes-
frau zum Kind. So wurde das erste Anti- In der gleichen Reihe sind bis jetzt ten naturkundlichen Lithographen je-
depressivum, Iproniazid, 1952 als Mittel fast dreißig CDs erschienen, darunter ner Zeit. Umständlich fand ich nur,
gegen Tuberkulose eingesetzt. Doch bald auch Klassiker wie Dürers „Under- dass man aus dem Text heraus das In-
fiel den Ärzten auf, dass ihre Patienten weysung der Messung“, „De revolutio- haltsverzeichnis nicht direkt anwählen
ausgesprochen fröhlich und heiter darauf nibus orbium coelestium“ von Niko- kann, sondern stets wieder über die Er-
reagierten. Ab 1957 wurden 400 000 Pa- laus Kopernikus und das Anatomie- öffnungsseite gehen muss.
tienten gegen ihre Depressionen mit die- buch „De humani corporis fabrica“ des Fast glaubt man, das physische Ge-
ser Substanz behandelt, bevor sie wegen Andreas Vesalius von 1543. wicht des kostbaren alten Buches zu
schwerer Nebenwirkungen zurückgezo- Die Anweisungen zum Gebrauch spüren.
gen wurde. Und hätte Alexander Fleming der CD sind gut verständlich aufge- Adelheid Stahnke
1928 seine Bakterienkulturen sorgfälti-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 97


REZENSIONEN

ALLGEMEINBILDUNG Die drei folgenden Abschnitte sind


den Anwendungen der Gentechnik ge-
Brockhaus-Redaktion (Hg.) widmet: Landwirtschaft und Novel Food,
Technologien für das 21. Jahrhundert Pharmazie und Medizin, Wissenschaft
und Forschung. Ein abschließender Es-
Brockhaus, Leipzig/Mannheim 2000. 704 Seiten, DM 98,– say diskutiert die Frage, wie weit Gen-
technik gehen darf.

W
er versucht, sich in ein Gebiet aus Der fünfte Band der Brockhaus-Rei- Auch die anderen Kapitel leisten eine
Wissenschaft oder Technik anhand he „Mensch – Natur – Technik“ verspricht solide Einführung ebenso wie den An-
eines Lexikons einzulesen, muss Abhilfe. Die Gratwanderung zwischen schluss an aktuelle Diskussionen. So
meist kapitulieren. Die Katz- und Maus- lexikalischem Anspruch und Lesbarkeit wird im Abschnitt über Kernfusionsener-
jagd nach Querverweisen erschöpft eher, ist – wie bei den vorangegangenen gie nachvollziehbar, welche Vorteile ein
als dass sie belehrt. Erst recht, wenn sich Bänden („Vom Urknall zum Menschen“, funktionierender Fusionsreaktor hätte
ein Gebiet so rasant entwickelt wie die siehe SdW 1/2000, S. 100, „Phänomen und wie schwierig seine Realisierung ist.
Gentechnik. Mensch“, siehe SdW 8/2000, S. 112) – Im Kapitel „Informationsverarbeitung“
äußerst gelungen. Sieben Kapitel führen wird die fast schon feuilletonistische
fundiert ein in Genetik, Lasertechnik, Worthülse „Künstliche Intelligenz“ mit
Energieversorgung, Neue Materialien, realistischen Inhalten und Erwartungen
Miniaturisierung, Informationsverarbei- gefüllt.
tung und Raumfahrt. Alles in allem ist der Brockhaus-
„Schlüsseltechnologien“ heißt die Redaktion gemeinsam mit den Autoren
thematische Klammer. Die einzelnen Ka- ein kompaktes „Hausbuch der Schlüssel-
pitel verlieren dabei nie das „Wozu“ aus technologien“ gelungen, dessen Lektüre
dem Blickfeld – also das Schloss, in das nicht nur deshalb Freude macht, weil
die Schlüsseltechnologien passen sollen. man dabei solide Fakten erfährt, sondern
Etwa im Kapitel „Gentechnik“. Eine auch, weil sie wichtige Einsichten ver-
knappe Hinführung spannt zunächst den mittelt. Vielleicht ist die eine oder andere
Bogen von der Zuchtauswahl über Men- der gehaltvollen Grafiken ein bisschen
dels Vererbungslehre bis hin zur „synthe- klein ausgefallen, und vielleicht ist des-
tischen Genetik“, in der sich Erbsubstanz wegen den Korrektoren der neckische
nicht nur aus Material verschiedener Or- Schreibfehler „Wärme-Konfektion“ statt
ganismen kombinieren, sondern auch „Konvektion“ in der Grafik auf Seite 623
völlig neu herstellen lässt. Die Autoren – entgangen; doch sind sie auch in dieser
wie in den anderen Kapiteln ausgewiese- bescheidenen Größe noch instruktiv.
ne Experten auf dem jeweiligen Gebiet – Alexander Pawlak
erklären Erkenntnisse und Methoden von
Der sechsbeinige Roboter (bisher nur Genetik und Gentechnik verständlich, Der Rezensent ist Diplom-Physiker
als Prototyp vorhanden) mutet an wie ohne auf die notwendigen Fachbegriffe und freier Wissenschaftsjournalist in
ein Wesen aus einer fernen Welt. zu verzichten. Marburg.

BIOLOGIE weils der betreffenden Ebene angepass-


ten Methoden.
Ernst Mayr Im weiteren Verlauf des Werkes ver-
Das ist Biologie teidigt Mayr seine Wissenschaft gegen
herabsetzende Vorurteile: Die deskriptive
Die Wissenschaft des Lebens Arbeit sei weder eigenständige Disziplin
Aus dem Englischen von Jorunn Wißmann. noch minderwertige Biologie, sondern
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2000. die unverzichtbare Grundlage jeder bio-
440 Seiten, DM 24,90 logischen Disziplin. Die Biologie sei kei-
neswegs provinziell, sprich den Eigen-

D
ieses Buch kann man getrost als eine sich die Gegenstände der Biologie von heiten des Einzelfalls verhaftet, sondern
Synthese der Biologie des 20. Jahr- denen der anderen Naturwissenschaften ebenso wie die Physik allgemeingültig,
hunderts bezeichnen. Ernst Mayr, der grundlegend unterscheiden: in der hierar- eben überall dort, wo es Leben gibt. Die
in drei Vierteln des 20. Jahrhunderts be- chischen Ordnung mit der jeder Hierar- Biologie verfüge häufig nicht über das
deutende biologische Arbeiten und Bü- chiestufe eigenen Komplexität („Emer- Experiment als letzte Bestätigung be-
cher veröffentlicht hat, zeigt hier mit genz“) und dem genetischen Programm. stimmter Tatsachen? Auch andere Wis-
überzeugenden Argumenten auf, dass – Mayr ist ein entschiedener Verfech- senschaften nutzen „natürliche Experi-
und wie – die Biologie eine eigenständi- ter einer holistischen, organizistischen mente“ wie Vulkanausbrüche, Sternbe-
ge Wissenschaft ist. Trotz seines Umfan- Biologie. Der Satz „Das Ganze ist mehr deckungen oder die Ausbildung von
ges bleibt es ein spannendes, lesbares als die Summe der Teile“ sei nichts Landbrücken zwischen Kontinenten. Die
und lesenswertes Gesamtwerk. Mystisches, sondern laufe auf die Forde- Gesetze der Biologie haben nicht die All-
Im Vorwort und im ersten Kapitel rung nach Analyse und Untersuchung auf gemeingültigkeit physikalischer Geset-
„Was ist Leben?“ legt Mayr dar, worin allen Ebenen hinaus – nur eben mit je- ze? Doch, aber sie sind oftmals als Wahr-

98 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


scheinlichkeitsgesetze zu verstehen. Die
Kluft zwischen Natur- und Geisteswis-
senschaften sei nicht unausweichlich, so-
fern eben nicht die Physik als allein rich-
tungweisende Naturwissenschaft gilt.
In den nächsten drei Kapiteln geht es
um die spezifisch biologischen Denk-
ansätze und die Geschichte der Biologie.
So wie Mayr sie darstellt, ist sie ein
Triumph der Dialektik in dem Sinne, dass
fast immer keines von zwei konkurriren-
den Konzepten, sondern eine Synthese
als beste Erklärung der Tatsachen letzt-
endlich die Oberhand gewinnt. Die noch
aktuelle Diskussion, ob Verhalten an-

„Die Biologie ist so allgemein-


gültig wie die Physik“
geboren oder erworben sei, liefert dafür
ein gutes Beispiel.
Nach dieser Grundlegung schildert
Mayr beispielhaft an vier Teilgebieten
der Biologie – Systematik und Beherr-
schung der Vielfalt, Entwicklungsbiolo-
gie, Ökologie und Evolutionsbiologie –
historische Entwicklung, frühere und
derzeitige Erklärungsansätze, wichtige
Begriffe und Teildisziplinen. Auf eine
ausführliche Besprechung von Neurobio-
logie und Molekularbiologie verzichtet
er, nicht weil diese Fachgebiete weniger
bedeutend wären, sondern weil ihm dort
die Fachkompetenz fehle.
In einzelnen Punkten kann man ande-
rer Meinung sein. So erscheint mir die
Besprechung der ökologischen Nische
etwas zu knapp und zu nahe am klassi-
schen „Planstellenkonzept“, auch wenn
die vieldimensionalen Nutzungsräume
erwähnt werden. Neben der Einteilung
Strukturen, die kleiner sind als ein zesse sich bei der Entstehung
der Ökologie in eine solche von Individu- Atom, lassen sich nur mit den Me- des Universums im Urknall ab-
um, Art und Gemeinschaft könnte man thoden der Teilchenphysik unter- gespielt haben.
sich auch eine Gliederung in Ökophysio- suchen. In dieser fremdartigen Welt
logie, Verhaltensökologie und Evolu-
tionsökologie vorstellen. Im Kapitel
laufen Vorgänge ab, die sich unse- Das Digest Vorstoß in den
„Evolution“ trennt Mayr nicht klar zwi- rem Alltagsverständnis entziehen. Mikrokosmos erscheint am
schen Evolutionstheorie und Rekonstruk- Doch Experimente mit riesigen Mi- 9. Februar 2001. Sie können
tion der Evolutionsgeschichte, womit er kroskopen – den Teilchenbeschleu- es bis zum 8. Februar 2001
Kritikern der Evolutionsbiologie ver- nigern – und ausgefeilte Theorien
meidbare Angriffspunkte gibt. Bei der
zum Subskriptionspreis von
Frage, warum nicht alle evolvierten lassen uns einzelne Mosaikstein- DM 13,80 (statt DM 16,80) in-
Merkmale die beste denkbare Lösung chen erkennen, die sich schließlich klusive Porto bestellen.
bieten, hätte er erwähnen sollen, dass zu einem Bild des Ganzen formen.
häufig Merkmale nicht unabhängig von- Lesen Sie, wie die moderne
einander variieren können: Ein nicht-op-
timales Merkmal kann sehr wohl Be- Physik den Bereich des extrem Ausführliche Informationen
standteil eines insgesamt optimalen Kleinen auslotet, welchen Naturge- zu unseren lieferbaren
Kompromisses zwischen verschiedenen setzen die Grundbausteine der Ma- Sonderheften finden Sie
Anforderungen sein. Trotzdem sind diese terie gehorchen, und wie uns das im Internet unter
Kapitel, sowie das anschließende über
den evolutiven Werdegang des Men- Verständnis dieses Mikrokosmos www.spektrum.de
auch verstehen hilft, welche Pro-

schen, ausgezeichnete Übersichten.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 99


Eine Bestellkarte finden Sie auf den Seiten 93/94.
REZENSIONEN

Den letzten Teil des Buches bildet Reduktionismus. Manche Ideen über So- Ein Buch, das jedem zur Pflichtlek-
ein Kapitel über mögliche Standpunkte zialisationen als „offene Programme“, türe gemacht werden sollte, der sich mit
zu Ethik und Moral. Mayr fordert einen das heißt Vorgänge, deren Endzustand dem Gedanken trägt, Biologie zu studie-
neuen evolutionären Humanismus und nicht im genetischen Programm festge- ren oder Biologie in die heutige Gesell-
einen Moralkodex namens „Umwelt- legt ist, und die Notwendigkeit vertiefter schaft hineinzutragen.
ethik“. Seine Ausführungen sind zwar Ethik- und Moralunterweisung im frü- Udo Gansloßer
sehr stark auf die Verhältnisse in der hen Kindesalter sind zweifellos kontro-
US-amerikanischen Gesellschaft abge- vers. Aber dem Autor ist zugute zu hal- Der Rezensent ist Privatdozent am
stimmt, aber insgesamt keineswegs bio- ten, dass er sich nicht um eine Stellung- Institut für Zoologie der Universität
logistisch im Sinne eines unzulässigen nahme drückt. Erlangen-Nürnberg.

ERKENNTNISTHEORIE vierziger Jahren die Kantschen „Apri-


ori“ ins „rechte Licht“ der stammesge-
Rupert Riedl schichtlichen Anpassung gesetzt. Riedl
Strukturen der Komplexität fand sogar eine entsprechende, weit frü-
here Bemerkung in Ernst Haeckels „Na-
Eine Morphologie des Erkennens und Erklärens türlicher Schöpfungsgeschichte“ von
Springer, Berlin 2000. 381 Seiten, DM 79,– 1868: „Die wunderbare Fähigkeit zu Er-
kenntnissen a priori ist aber ursprünglich

H
ätte Immanuel Kant die Zweckmä- Strukturen der Organismen. Das wunder- entstanden durch die Vererbung von
ßigkeit als vor aller Erfahrung – a same Erkennen von Strukturen, das im Gehirnstrukturen, die bei den Vertebra-
priori – gültiges Prinzip formuliert, Alltag ebenso wie in der Wissenschaft ten-Ahnen des Menschen langsam und
wenn schon zu seiner Zeit Charles Dar- stattfindet, ist für Riedl ein gerne unter- stufenweise durch Anpassung an synthe-
win und/oder Alfred Wallace das Zweck- schätzter Beitrag zum Verstehen der tische Verknüpfungen von Erfahrungen,
hafte auf das Spiel von Variation und Se- Welt. In seinen Augen wird zu oft und zu von Kenntnissen a posteriori erworben
lektion zurückgeführt hätten? Hätte Kant voreilig unter Verwendung vorgefasster wurden.“
aufzuzeigen versucht, was die Vernunft Urteile „erklärt“. Die evolutionär bewährten „angebo-
vor aller Erfahrung zu leisten vermag, Am Schluss seines Buchs hallt das renen Lehrmeister“ (Konrad Lorenz) sor-
wenn Konrad Lorenz bereits den Er- Anliegen, das induktive, von der An- gen also bei komplexen Strukturen für
kenntnisapparat als Ergebnis stammesge- schauung ausgehende Vorgehen zu för- Verstehen. Riedl sieht hier den Bezug zu
schichtlicher Anpassung beschrieben dern, als Appell auch an die Bildungspo- Goethe, der hinter der Vielfalt von Er-
hätte? Hätte Goethe mit Begeisterung litik weiter. Riedl stellt den Unterschied scheinungen eine diesen gemeinsame
Schillern seine Urpflanze ans Herz Gestalt erblickte. Mit solcher Ab-
zu legen versucht, wenn Rupert Ausgehend von einer Figur aus stützung im unerforschlich „Ra-
Riedl schon damals das Erkennen Hieronymus Boschs Gemälde tiomorphen“ (auch Lorenz ver-
komplexer Gestalten zur unbe- „Der Heuwagen“, hat Riedl wendet diesen Terminus) ist den
wussten „ratiomorphen“ Leistung „deren noch bezeichenbare Naturwissenschaften ein Beschei-
erklärt hätte? Teile weiter ins Un- denheitsgebot auferlegt. Riedl
Vielleicht war es besser, dass beschreibliche scheut nicht die Nähe zum „her-
zerlegt“.
Goethe und Kant von solchen meneutischen“ („verstehenden“)
möglicherweise kränkenden Re- Verfahren in den Geisteswissen-
duktionsbemühungen unbehelligt schaften.
ihr Denken entwickelten. Konrad Typisch für Riedl sind seine
Lorenz und Rupert Riedl machen grafischen Darstellungen, anhand
ja auch nicht „den ganzen Goethe“ derer er eine reiche Begriffswelt
oder „den ganzen Kant“ überflüs- entfaltet. Menschen reagieren of-
sig; es gibt halt nur gewisse Paral- fenbar verschieden auf Riedls
lelitäten mit den eigenen Ideen Schreib- und „Malweise“. Ich per-
oder eine kleine gemeinsame sönlich habe mit seiner Technik
„Schnittmenge“. gute Erfahrungen gemacht. Das
Wenden wir uns Rupert Riedl Durcharbeiten dieser sich wieder-
und dem „Ratiomorphen“ zu! holenden und erweiternden Grafi-
Warum interpretieren wir in die erste zwischen Erklären und Erkennen beson- ken lohnt sich, vor allem da es Riedl viel-
Struktur im Bild rechts immerhin einen ders heraus, und beim Erkennen wiede- fach gelingt, sie mit griffigen, vor allem
„Fischmenschen“, wogegen wir in den rum betont er den unbewusst verrechnen- biologischen Beispielen zu verknüpfen.
anderen Strukturen zunehmend weniger den und zuordnenden Anteil. Was Riedls Begriffswelt angeht: Es
„Vernünftiges“ erkennen? Nach Rupert Alles ist in den Rahmen der „EE“, ist wohl schon so, dass sich die Organis-
Riedl ist jenes Interpretationsvermögen der Evolutionären Erkenntnistheorie, ge- men mit der bei ihnen waltenden „Teleo-
eine Leistung unseres „ratiomorphen Ap- stellt, die Riedl, parallel mit Gerhard nomie“ (Riedl übernimmt diesen Aus-
parates“, den uns die Evolution „instal- Vollmer, seit den siebziger Jahren ver- druck für das Zweckhafte) gut eignen,
lierte“. Dies Vermögen verhelfe auch in tritt. Konrad Lorenz, Kants zeitweiliger ohne dogmatischen Anspruch eine sys-
der Morphologie und Systematik zum Nachfahre auf dem Königsberger Lehr- temtheoretische Terminologie zu entwi-

Erkennen gesetzmäßig wiederkehrender stuhl, hatte als einer der ersten ab den ckeln und zu erproben. In der System-

100 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


REZENSIONEN

theorie ist Riedl seinen Lehrern Ludwig se der Erforschung der Genwirkungen heit in einer Weise eingeengt, dass Schi-
von Bertalanffy und Paul Weiss ver- sind einbezogen. Die Wirkungsweise der mären wie Hieronymus Boschs Fisch-
pflichtet. Gene ist natürlich auch das spannende mensch strikt unmöglich sind. Es sei
Riedl baut auf seinen früheren, viel Feld, auf dem sich entscheidet, was an denn, sie würden durch moderne Gen-
beachteten Büchern auf. Herrlich fulmi- den komplexen Strukturen der Organis- technik künstlich angestrebt. Aber man
nant fand ich immer die „Strategie der men je verstanden werden wird. Riedl kann kaum erwarten, dass dies im Sinne
Genesis“ (1976), auch damals schon mit gibt hier illustrative Anregungen. Riedls wäre, seinen mahnenden Appell
kurzen Faust-Zitaten. Was hat nun dieses Der Autor betont das Konservative zu sorgsamem Umgang mit der Komple-
neue und späte Werk mehr? Es insistiert der genetischen Programme. Im Unter- xität im Ohr.
auf Respekt im Umgang mit Komplexi- schied zu Produkten des Künstlers und Bruno Gauger
tät, baut die Evolutionäre Erkenntnis- anderen „Artefakten“ (Kunstwerken,
theorie aus, zieht Parallelen zu Kunst-, Sprachen, Kathedralen), deren Program- Der Rezensent ist promovierter Biologe
Geistes- und Sozialwissenschaften. Zwi- me im Gehirn liegen, sind die Genpro- und Lehrer für Biologie und Physik
schenzeitliche bahnbrechende Ergebnis- gramme durch „Bürden“ der Vergangen- am Gymnasium Überlingen.

PSYCHOLOGIE Diese CD-Rom lässt sich als Nach-


schlagewerk mit leicht herzustellenden
Sigmund Freud und die Geheimnisse der Seele Querbezügen nutzen. Die bequem zu er-
CD-Rom für Windows und Macintosh. schließende Fülle des Materials ist be-
Navigo, München 2000. DM 69,90 trächtlich und befriedigt jeden, der be-
stimmte Informationen abrufen will.
Was auf der Strecke bleibt, ist ein
n Literatur über Sigmund Freud und eine ungleichmäßige quantitative Ge- problematisierender Zugang zu Freud

A die Geheimnisse der Seele ist kein


Mangel. Es gibt viele ebenso
brauchbare wie preiswerte Einführungen
wichtung beklagen: Mancher Name aus
dem Umfeld Freuds wird weit ausführ-
licher behandelt, als seiner Be-
und seiner Schöpfung, der Psychoanaly-
se. Ein kleines Beispiel: Wenn wir unter

in Leben und Werk des mythischen deutung entspricht, während an-


Gründervaters der Psychoanalyse; wozu dere zu knapp dargestellt sind.
dann noch diese CD-Rom? Die einzige Aber das ist nebensächlich.
halbwegs plausible Antwort ist der Wie aber findet man einen
„Spaßfaktor“. In geradezu vorbildlicher möglichst mühelosen Zugang zu
Weise erfüllt dieses Werk jene soziale Leben und Werk Freuds? Die
Norm des Lernens, die schon auf der Autoren haben sich für ein Ver-
Grundschule als verbindlich gilt: Nichts fahren entschieden, das dem Me-
soll mehr daran erinnern, dass der Er- dium vermutlich am ehesten ge-
werb von Wissen und Kenntnissen mit recht wird: Sie strukturieren das
Anstrengung verbunden ist. Von sphäri- „Feld Freud“ – bekanntlich ein
scher Musik umgarnt und von bewegten weites Feld – durch elf metapho-
rische Leitbegriffe, zum Beispiel
„Coca“ für Freuds wissenschaft-
lichen Werdegang, „Wartezim- „Philosophie“ aus dem Kapitel „Coca“
mer“ für seelische Krankheit und
psychoanalytische Heilung und „Moses“ dem Stichwort „Philosophie“ lesen,
für Freuds Verhältnis zur bildenden Freuds Verhältnis zu derselben sei ein
Kunst. Wer „Ring“ aufruft, erfährt alles Unverhältnis gewesen, so ist diese Infor-
über Freuds Schüler und Anhänger, über mation ohne Zweifel korrekt. Aber sie
die Ausbreitung seiner Lehre, über Dis- lässt nicht erkennen, dass dieses Unver-
sidenten und Abfallbewegungen und der- hältnis höchst komplexer Natur war:
gleichen mehr. Jedem Leitbild ist eine Freud wahrte Distanz zur Philosophie,
spezielle Bibliografie zugeordnet, ebenso etwa zum Werk seines Zeitgenossen
eine Bild-Text-Animation. Friedrich Nietzsche, nicht zuletzt des-
Diese für das Medium spezifischen halb, weil er bei ihr Fragen formuliert
Ausdrucksmöglichkeiten werden ihrem und aufgehoben sah, die seinen eigenen
Aus dem Kapitel „Familienbilder“ Gegenstand durchaus gerecht, wo es um bedenklich nahe kamen – es war eine
„Familienbilder“ oder insbesondere um Distanz aus Angst vor zu großer Nähe!
Bildern gefesselt, tauchen wir ein in den „Film“ geht. In anderen Fällen, etwa bei Und erst an dieser Stelle wird die Ge-
„Erlebnispark Freud“. der Darstellung der Freudschen Traum- schichte von Freud und der Philosophie
Nur liegt das Gros der Informationen theorie (Leitmetapher „Bellevue“), wir- richtig spannend.
als Text vor und muss auch unvermeid- ken sie eher bemüht, zum Teil sogar läp- Hans-Martin Lohmann
lich so dargeboten werden. Dieser Text- pisch. Der Versuch, ein hoch abstraktes,
teil erweist sich durchweg als absolut zu- nur in Worten angemessen formulierba- Der Rezensent ist Autor von
verlässig und auf der Höhe des heutigen res Thema multimedial und erlebnishaft zwei Freud-Monografien und freier
Wissensstands. Allenfalls könnte man aufzuarbeiten, muss im Absurden enden. Publizist in Heidelberg.

102 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


PREISRÄTSEL

Das Bermuda-Dreieck M
Aros von Reinhard Schmidt
nach Ah und Ce auf der halben Strecke S
Be von Beros nach Be lag. b
Ce Finden Sie diese verschollenen
Ah Leuchttürme mit Zirkel und Lineal.
Schicken Sie Ihre Lösung in einem A
Beros Ceros
frankierten Brief oder auf einer Post- Dazu faltet man die linke Seite des
Das Bermuda-Dreieck liegt zwi- karte an Spektrum der Wissenschaft, Blattes auf AM und erhält D.
schen den Leuchttürmen von Aros, Be- Leserservice, Postfach 104840, D– Nun faltet man entlang der roten Linie,
ros und Ceros; über seine Form ist 69038 Heidelberg. was bereits einen Teil der Strecke CD
sonst nichts bekannt. Vor langer Zeit ist Unter den Einsendern der richtigen durch einen Falz markiert.
das Dreieckige Land mit den Leucht- Lösung verlosen wir zehn Armbanduh-
feuern von Ah, Be, und Ce versunken. ren „Komet“. Der Rechtsweg ist aus-
In alten Logbüchern steht, dass Ah auf geschlossen. Es werden alle Lösungen
der halben Strecke von Ceros nach Ce, berücksichtigt, die bis Dienstag, 13. M
Be auf der halben Strecke von Aros Februar 2001, eingehen.
D
Lösung zu „Gold falten“ (Dezember 2000) b

D C A
m
M M
a/2 Das Blatt kann nun wieder aufgefaltet
b S und der bereits begonnene Falz CD
a/2 a/2 durch Nachfalten verlängert werden.
b Alles bügeln – fertig!

A a B A a/2 B C
D
Das Verhältnis des Goldenen Nun wird MA markiert:
Schnitts, a/b = (√5 +1)/ 2, lässt sich
durch die oben skizzierte Konstruktion
auf einem Din-A4-Blatt realisieren. b
Hans Pfister aus Hamburg machte
M
diese Konstruktion zur Grundlage sei-
ner Faltung; es gibt weitere Möglich-
keiten. In den folgenden Zeichnungen A a B
sind der zuletzt entstandene Falz sowie
die Rückseite des Blattes rot markiert. Hans Schick aus Rotenburg schlägt
Zuerst ist der Punkt M zu finden. eine Näherungslösung vor, die in der
Dazu bestimmt man zunächst die Mit- A B Praxis wahrscheinlich genauer ausfällt
tellinie m, indem man B auf A faltet, als die beschriebene exakte. Das Din-
Faltet man MB auf diese Strecke, so A4-Blatt hat das Seitenverhältnis a/b
a/2 a/2 erhält man S. Damit ist b bestimmt und =√2/1. Markiert man durch drei Hal-
muss noch auf die linke Kante des Din- bierungen ein Achtel der kurzen Seite
A4-Blattes übertragen werden. und klappt es um, so ergibt sich das
Verhältnis a /b = 8√2/7=1,6162, was
etwa ein Tausendstel kleiner ist als der
geforderte Wert 1,6180.
M Die Gewinner der sechs Spiele
a/2 „Tumicarona“ sind Gerhard Krülle,
A a B S Aidlingen; Norbert Weichert, Ettlin-
gen; Ilona Frey, Wiesbaden; Tobias
und überträgt dann die Länge a/2 auf b Gonser, Bonn; Heinrich Biener, Weil-
die rechte Seite, indem man die rechte heim; und Wolfgang Uhlendorf, Düs-
Hälfte von AB auf m faltet. seldorf.
A

Lust auf noch mehr Rätsel? Auf der Website von Spektrum der Wissenschaft (www.spektrum.de) finden Sie jeden Monat in
der Rubrik „Rätsel“ eine neue mathematische Knobelei.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 103


PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN

Die Lichtmühle
Ist es das Licht, das die vier Flügel so unermüdlich rotieren
lässt? Nicht direkt – entscheidend ist ein kleiner Unterschied
in der Stoßkraft der Luftmoleküle.

Grafik: Axel Weigend VON WOLFGANG BÜRGER

Die neue Rubrik Auf den ersten Blick ähnelt sie einer aufrecht ste- mische Element Thallium mit der Ordnungszahl
„Physikalische henden Glühbirne, die „Lichtmühle“, aber zu 81 durch seine grüne Linie im Spektrum gefun-
Unterhaltungen“ leuchten ist nicht ihre Aufgabe. Im Sonnenlicht den. Als er zwölf Jahre später damit beschäftigt
erscheint künftig oder im Schein einer Rotlichtlampe dreht sich in war, das Atomgewicht des neuen Elements zu
an dieser Stelle ihrem Innern ein leichtes Flügelrad mit einer glä- bestimmen und dazu mit einer Vakuum-Waage
im Wechsel mit sernen Pfanne als Lager auf einer Nadelspitze. Substanzproben von höherer als der Temperatur
den „Mathematischen Die vier Flügel des Rotors sind quadratische der Umgebung abwog, bemerkte er, dass die Hit-
Unterhaltungen“. Scheiben aus Glimmer oder Aluminium, die auf ze die Gravitationskraft zu vermindern schien. Er
ihrer Vorderseite – in Laufrichtung – weiß und hatte die Radiometerkraft wiederentdeckt. Im
auf der Rückseite schwarz gefärbt sind. Sie trei- historischen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit
ben das Rad umso schneller, je heller sie be- von 1873 bezog er sich auf Fresnel, deutete die
strahlt werden: ein Strahlungsmotor. Lässt sich Kraft aber als eine rätselhafte Anziehung oder
damit die Intensität von Strahlung messen? Im Abstoßung durch Wärme.
Prinzip ja; die Lichtmühle leitet sich von einem
genauen und empfindlichen Strahlungsmesser Ein Effekt des Lichtdrucks? Was verursacht die Ra-
ab, und dieser Bedeutung verdankt sie ihren diometerkraft? Ist es der Strahlungsdruck des
zweiten Namen: Radiometer. Aber die Strahlung Lichtes, dessen Existenz Maxwell in einer eben-
wirkt durch einen komplizierten Mechanismus, falls 1873 veröffentlichten Arbeit aus den Diffe-
und die Frage nach dieser Wirkungsweise hat renzialgleichungen des elektromagnetischen Fel-
mehrere Jahrzehnte lang namhaften Physikern, des folgerte? Wenn wir der Einfachheit halber
unter ihnen James Clerk Maxwell und Albert annehmen, dass die hellen Vorderseiten der Ra-
Einstein, Rätsel aufgegeben. diometerflügel die einfallende Strahlung wie
vollkommene Spiegel reflektieren, während die
Die Vorgeschichte begann mit dem Physiker und dunklen Rückseiten sie vollständig absorbieren,
Ingenieur Augustin Jean Fresnel (1788 – 1827), müsste die Strahlung nach dem Impulserhal-
der in der Öffentlichkeit weniger durch seinen tungssatz auf die weißen Seiten einen genau dop-
optischen Interferenzversuch zum Nachweis der pelt so großen Druck ausüben wie auf die
Wellennatur des Lichts als durch die Erfindung schwarzen, der Lichtdruck das Flügelrad daher
der Zonenlinsen bekannt ge- andersherum drehen als in den käuflichen Radio-
worden ist, die seinen Na- metern. Außerdem ist die Druckkraft der Sonnen-
Selbst für Maxwell und men tragen. Die großen, fla-
chen Glaslinsen bündeln
strahlen viel zu klein, um die Reibung im Nadel-
lager zu überwinden. Diese Reibung ist erheb-
Einstein war die Licht- seit über einem Jahrhundert
in aller Welt den Schein der
lich, wie man leicht nachprüfen kann: Man lässt
die ganze Lichtmühle in der Hand horizontal
mühle lange ein Rätsel Leuchttürme. Fresnel ent-
deckte die Radiometerkraft
kreisen und stellt fest, dass – nur durch Reibung
im Lager vermittelt – das Flügelrad mühelos auf
1825. Mit der Physik seiner hohe Drehzahlen kommt.
Zeit konnte er ihren Grund Gleichwohl sind inverse Radiometer, die vom
nicht verstehen, aber durch Versuche bei ver- Lichtdruck angetrieben werden, vielfach reali-
schiedenen Drücken einige denkbare Erklärun- siert worden. Sie laufen aber erst, wenn das Gas
gen ausschließen: Was das Flügelrad zum Drehen aus dem Glaskolben nahezu restlos entfernt ist,
bringt, ist weder eine raumerfüllende Gasströ- bei Hochvakua von höchstens 10 –7 Millibar
mung noch verdampfendes Material aus den be- Druck. Und ihr Flügelrad wird, statt auf einer
heizten Oberflächen. Nadelspitze zu liegen, leicht drehbar an einem
langen, dünnen Torsionsfaden aufgehängt.
Der Erfinder des Spielzeugs ist William Crookes
(1832 – 1919), ein Privatgelehrter und außerge- Das Experimentum crucis: Der Strahlungsdruck des
wöhnlich erfolgreicher Experimentator. Er war Lichtes wirkt als eine Kraft von außen auf die
seit 1863 Fellow der Royal Society of London Flügel der Lichtmühle, ähnlich wie der Wind auf
und ab 1913 ihr Präsident. 1861 hatte er das che- die Segel eines Segelschiffs. Würde das Flügel-

104 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


rad vom Lichtdruck angetrieben, sollte es den
Glaskolben durch die Reibung im Lager in der
gleichen Drehrichtung mitziehen, vorausgesetzt,
dieser könnte sich frei bewegen. Erwärmt das
Licht dagegen nur die Flügel, liefert also nur
Energie zum Antrieb, ohne selbst mit nennens-
werter Kraft auf die Flügel zu drücken, kann das
Flügelrad nur in Drehung kommen, wenn es sich
vom Gehäuse abstößt. Dann müsste es ein Rück-
stoßmoment geben, das den Glaskolben in die
entgegengesetzte Richtung zu drehen bestrebt ist.
Arthur Schuster, ein Mitarbeiter des bedeu-
tenden Hydrodynamikers Osborne Reynolds
(nach dem die Reynolds-Zahl benannt ist) in
Manchester, führte 1876 das entscheidende Ex-
periment mit einem frei drehbar aufgehängten
Radiometer durch. Flügelrad und Glaskolben
drehten sich bei Bestrahlung in verschiedene
Richtungen. Also ist es nicht der Lichtdruck, der
das Rad antreibt, sondern ein innerer Mechanis-
mus des Radiometers.

Die Molekülströmung: Am einfachsten ist die Theo-


Unter Lichtein-
rie, wenn man die mittlere freie Weglänge der strahlung drehen
Moleküle so groß annimmt, dass man Wechsel- sich die Flügel
wirkungen der Luftmoleküle untereinander ver- der Lichtmühle
nachlässigen kann. Das ist bei einem Druck von unermüdlich –
höchstens 10 –3 bis 10 –2 Millibar der Fall. Die mit der hellen
Luftmoleküle prasseln bei ihrer Wärmebewe- Seite voraus.
gung von beiden Seiten auf den Flügel. Sie
verlassen aber die heißere schwarze Seite im Mit-
tel mit höherer Geschwindigkeit und erteilen ihr

WOLFGANG BÜRGER
dabei eine geringfügig höhere Rückstoßkraft.
Diese Differenz der Stoßkräfte setzt das Flügel-
rad in Bewegung, und zwar mit der weißen Seite
voraus.
Martin Knudsen (1871 – 1949), lange Jahre
theoretischer Physiker in Kopenhagen, hat aus Geschwindigkeit, bei der die Radiometerkraft mit
diesen Überlegungen eine Formel für seinen der Reibungskraft im Nadellager im Gleichge-
Strahlungsmesser theoretisch hergeleitet (siehe wicht ist.
Kasten auf der nächsten Seite): Die Radiometer-
kraft pro Flächeneinheit eines Flügels ist dem Rückdrehungen werden auch in gängigen Radio-
Gasdruck proportional und hängt außerdem nur metern beobachtet. Offensichtlich kann die Tem-
vom Verhältnis der Temperaturen von schwarzer peratur der schwarzen Flächen unter die Umge-
Flügelfläche und Umgebung ab. Diese Formel bungstemperatur sinken. Ohne die Temperaturen
gilt allerdings nur bei niedrigeren Drücken, als im Innern des Radiometers zu messen, kann man
sie in käuflichen Lichtmühlen vorliegen. allerdings nur aus den Beschleunigungen des
Erhöht man den Gasdruck im Kolben über die Flügelrads auf die wirkenden Drehmomente und
10 –2 Millibar hinaus, bei denen noch freie Mole- von diesen auf die Temperaturen der Flügel zu-
külströmung herrscht, steigt auch die Radiome- rückschließen. Damit sich das Flügelrad wenigs-
terkraft zunächst stark an und erreicht ihre größ- tens kurze Zeit im entgegengesetzten Sinn dreht,
ten Werte bei Drücken, die zehn- bis hundertmal befördert man das laufende Radiometer an einen
größer sind. Solche Drücke herrschen vermutlich schattigen Ort, wo es sich durch Ausstrahlung
in den käuflichen Lichtmühlen (die Hersteller abkühlen kann, und bringt das Flügelrad zugleich
machen darüber keine Angaben). Der Radiome- durch vorsichtige Gegenbewegung mit Hilfe der
tereffekt wird durch Moleküle verstärkt, die über Reibung im Lager zum Stehen. Überraschend
den Rand der Flügel von der kälteren zur wärme- setzt es sich aus der Ruhe von selbst wieder in Wolfgang Bürger
ren Seite wandern („thermisches Kriechen“). Bewegung und dreht sich einige Sekunden lang ist Physiker und
Mehr und mehr wird die Radiometerkraft an den in Gegenrichtung. Also muss vorübergehend ein Professor an
Flügelrändern aufgebracht, was schon Reynolds rücktreibendes Drehmoment gewirkt haben. Da der Universität
und Maxwell bemerkten und was Gaskinetiker sich die dunklen Flächen durch Strahlung rascher Karlsruhe. Seine
bis in die jüngste Zeit beschäftigt. erwärmen, kühlen sie sich auch durch Strahlung besondere Neugier
Unter gleich bleibenden äußeren Bedingun- schneller ab, offenbar bis unter die Umgebungs- gilt physikalischen
gen stellt sich auf die Dauer eine konstante Rota- temperatur. Einige Autoren haben über minuten- Spielzeugen.

tionsgeschwindigkeit ein. Offensichtlich ist es die lange Rückdrehungen von Lichtmühlen im

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001 105


PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN

Die Radiometerkraft

Bilanz der Molekülstöße


M

Gefrierfach eines Kühlschranks oder unter der und mal in die andere Richtung. Es bringt wenig,
Wirkung von Kältespray berichtet, die ich an die Flügel einseitig zu schwärzen. Der Wirkungs-
meinen Lichtmühlen nicht bestätigen kann. grad lässt sich aber wesentlich verbessern, wenn
man die Flügel schräg stellt wie die Flügel einer
In Experimentierbüchern für die Jugend findet sich erzgebirgischen Weihnachtspyramide. Dadurch
eine Anleitung zum Selbstbau einer „Lichtmüh- wird nahe gelegt, dass diese „Lichtmühle“ in
le“. Man klebe ein Flügelrad aus Aluminium- Wirklichkeit eine thermische Aufwind-Turbine
Haushaltsfolie zusammen und hänge es an einem ist, die ihren Antrieb aufsteigender Warmluft ver-
dünnen und doch monatelang haltbaren Faden dankt. In der Tat würden echte Radiometer auch
aus festgewordenem UHU-Kleber auf. Im Schein bei so genannter „Schwerelosigkeit“ in einem
einer Rotlichtlampe dreht es sich bei Atmosphä- „Spacelab“ arbeiten, während dieser Typ „Licht-
rendruck etwas unvorhersehbar mal in die eine mühle“ dort den Dienst verweigert. ■

106 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


WISSENSCHAFT IM ALLTAG

Hydraulische Bremsen
B is in die dreißiger Das wandelt die ausgeübte In den fünfziger Jahren Ausfall eines Bremskreises
Jahre basierten Kraft in Druck um, der über erleichterte die Erfindung des kann der Fahrer das Fahrzeug
Bremssysteme auf der die Bremsleitungen zu den Bremskraftverstärkers das also gefahrlos zum Stehen
Kraft, die vom Fahrer mit Kolben der Radbremszylin- Autofahren noch mehr, da er bringen. ■
dem Fuß auf das Bremspedal der übertragen wird; diese den Bremsdruck weiter
übertragen wurde. Über betätigen die eigentlichen erhöht, also noch weniger Stanley L. Stokes ist Mitglied
Seilzug oder Gestänge wirkte Trommel- oder Scheiben- Fußkraft abverlangt. Zur der amerikanischen Society
sie auf die Bremsbacken, die bremsen. Weil die Fläche der Sicherheit sind moderne of Automotive Engineers. Wir
gegen die Bremstrommel Radbremszylinder größer ist Bremsanlagen in mindestens danken der Saab Deutschland
gedrückt wurden und so die als die des Hauptbremszylin- zwei Kreise geteilt, zu denen GmbH und dem Fachbereich
Geschwindigkeit des Fahr- ders, wird die vom Fahrer mit je ein sich diagonal gegen- für Mechatronik der FH
zeugs verringerten. dem Fuß ausgeübte Kraft überliegendes Vorder- und Karlsruhe für fachliche
Hydraulische Systeme verstärkt. Hinterrad gehört. Auch bei Unterstützung.
hingegen übertragen den
Druck mit Hilfe einer
Flüssigkeit und erreichen auf
Beim Treten des Pedals wird die auf den
diese Weise größere und
Hauptbremszylinder einwirkende Kraft in
gleichmäßigere Bremskräfte. hydraulischen Druck umgewandelt, der
Bei Betätigung des Pedals letztlich die Scheiben- oder Trommel-
wird der Kolben des Haupt- bremsen an den Rädern aktiviert.
bremszylinders verschoben.

Membran

GEORGE RETSECK
Eine Servobremse ist mit ei- Ansaugrohr
Bremskraft-
nem Bremskraftverstärker
verstärker
ausgerüstet, der mit dem
Hauptbremszylinder eine Hauptbrems-
Baugruppe bildet. In der Ru- zylinder
heposition des Bremspedals
umgibt Unterdruck beidseitig
die mit dem Arbeitskolben
verbundene Membran. Wird
das Pedal betätigt, so öffnet Brems- Kolben
sich auf der einen Seite der flüssigkeit
Radbrems-
Membran ein Ventil, durch
zylinder
das Luft einströmt. Der große
Druckunterschied drängt die Pedal
Membran und mit ihr den Ar-
beitskolben voran, der dann
den Kolben des Hauptbrems-
Brems- Kolben Außenluft-
zylinders betätigt. Je größer
leitungen eintritt
die Membranfläche, desto
ausgeprägter die Verstärkung.

Brems-
Bremsbacke belag Brems-
Kolben Brems- backe
Brems- scheibe
flüssigkeit

Scheibenbremsen werden
meist für Vorderräder verwen- Bremstrommel
det, um die beim Bremsen
freiwerdende Reibungshitze Trommelbremsen kosten weniger, leisten aber auch
schnell abzuführen (die Schei- nicht so viel wie Scheibenbremsen. Sie werden
ben haben direkten Luftkon- deshalb gelegentlich für Hinterrad- oder Hand-
takt). Durch die Bewegung der bremsen verwendet. Zwischen den beweglichen
Kolben des Bremssattels wer- Enden zweier Bremsbacken ist ihr Zylinder mon-
den die Backenbeläge gegen tiert. Bei Betätigung des Pedals werden die Ba-
eine Metallscheibe gepresst. cken durch die beiden Zylinderkolben gegen die
Die Reibung verlangsamt nun Bremstrommel gepresst, die Bremsbeläge bremsen
deren Drehgeschwindigkeit das Rad durch Reibung ab. Auf Grund ihrer größe-
und somit das Rad. Sattel ren Fläche arbeiten Scheibenbremsen wirksamer.

108 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001


IIMM DMEÄZREZM- BH E RF -T H2E0F0T1 2 0 0 0 Ab 27. Februar am Kiosk

Der neue Kosmos


Unser kosmologisches Weltbild
verändert sich rasanter denn je. Warum der
Beobachtungen mit neuen Geist schwindet
Satelliten und irdischen Gedächtnis, Persönlichkeit,
Superteleskopen unterziehen Würde – die Alzheimer-
die Theorie des inflationären Krankheit raubt alles. Millio-
Universums dem Härtetest nen Menschen steht dies
des Vergleichs mit der bevor. Wie kann Forschung
Realität. Die Kosmologen sie davor bewahren?
stehen kurz davor, das Rätsel
der kosmischen Beschleuni-
gung aufzuklären – und damit
vielleicht sogar die Frage,
wieso überhaupt Leben
entstehen konnte.

So wurde das junge Universum


von Gravitationswellen deformiert.

Petra, Metropole am
Rande der Wüste
Wer waren die Nabatäer,
die jahrhundertelang den Gene, Muskeln und Sport
Weihrauchhandel von Petra Auch das beste Training verhilft
aus kontrollierten? Antike nicht zum Sprung in die Welt-
Schriften und archäologische elite, wenn die individuellen
Befunde, neu interpretiert, natürlichen Voraussetzungen
zeichnen ein schillerndes Bild nicht stimmen. Werden einst
dieses arabischen Stammes. gentechnisch aufgerüstete
Superathleten in die Wett-
kämpfe gehen?

Weitere Themen im März


Ichthyosaurier –
Herrscher der Meere im Jura
Was Dinosaurier zu Land, waren Ichthyosaurier
im Ozean. Erst jetzt können Wissenschaftler ihre
Vorherrschaft erklären.

Das Proton unter dem Hera-Mikroskop


Am Speicherring Hera in Hamburg nehmen Teilchen-
Technoskop-Report: Digitale Filmtechnik physiker die fundamentalen Kräfte innerhalb des
Ob Spielfilm oder Werbespot – ohne Digitaltechnik geht Wasserstoff-
heute nichts mehr. Sie erleichtert den kreativen Prozess kerns unter
und bietet erhebliches Einsparpotenzial. Der neueste die Lupe und
Trend: Digitaltechnik von der Aufnahme bis zur Auffüh- untersuchen
rung. Noch benötigen die meisten Kinos herkömmliches dessen Struktur.
Zelluloid, doch in einigen Jahren könnten sie Filme als
Bits und Bytes per Satellit oder DVD beziehen.

110 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · FEBRUAR 2001

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