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PHILOSOPHIE-ZEITSCHRIFT Ausgabe 1/2022; 9,90 Euro; Schweiz 15,50 sfr; Österreich 10,40 Euro

W W W. H O H E L U F T - M A G A Z I N . D E

Für alle, die Lust am Denken haben

Jubiläums- Liberaler
Ausgabe oder
10 Jahre konservativer
HOHE LUFT Feminismus?

Erinnerungspolitik heute
Woher komme ich?
Götz Aly im Gespräch
Sehnsucht nach dem Alten?
Die Storys meines Lebens
Vorwärts zur Renaissance
SCHWERPUNKT GESCHICHTE
Wir bauen öko,
weil es in unserer
DNA steckt.

Seit über 125 Jahren bauen wir ökologische Häuser – mit und für die Natur – und bleiben nie stehen.
Als Pionier setzen wir auf permanente Weiterentwicklung für gesundes und nachhaltiges Wohnen.

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EDITORIAL

WIR SCHREIBEN
GESCHICHTE 

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
es gibt etwas zu feiern – zehn Jahre HOHE LUFT. Zehn Jahre,
das ist eine lange Zeit. Überlegen Sie nur mal, was in all diesen
Jahren in Ihrem eigenen Leben geschehen ist. Und draußen in
der Welt, von der Flüchtlingskrise über die Trump-Jahre bis zur
Coronapandemie. Wir haben den Aufstieg des Populismus er­lebt,
furchtbare Terroranschläge und die dramatischen Folgen des
Klimawandels, wie die Flutkatastrophe in diesem Jahr. Alle diese
Ereignisse haben auch unsere Redaktion beschäftigt. Insofern
ist HOHE LUFT selbst ein Produkt dieser Zeit. In den letzten
zehn Jahren, so glaube ich, haben auch wir uns verändert. Wir
sind nachdenklicher geworden, vorsichtiger in unseren Urteilen,
interdisziplinärer und offener in unserer Haltung.
Gerade in einer Zeit der Unsicherheit müssen wir bereit
EDITORIAL
sein, eigene Meinungen kritisch zu überdenken – und gege­
benenfalls zu revidieren. Auch deshalb haben wir für unser
Jubiläumsheft das Thema Geschichte gewählt. Denn die
Geschichte schärft den Sinn für Kontingenz; sie führt uns vor
Augen, was alles möglich ist, im Guten wie im Schrecklichen.
Zugleich sensibilisiert sie für vorschnelle Antworten und allzu
einfache Erklärungen. In unserem Schwerpunkt geht es um
unser Verhältnis zur Geschichte auf verschiedenen Ebenen, vom
Umgang mit der NS-Zeit über die Rückbesinnung auf alte
Traditionen bis zur eigenen Lebensgeschichte. Zu Wort kom-
men zudem zwei prominente Zeithistoriker der Gegen­wart:
Götz Aly erläuter t im großen Inter view seine Thesen zum
Nationalsozialismus als Massenphänomen, Heinrich August
Winkler erinnert an Helmuth Plessners Rolle in der Debatte um
den »deutschen Sonderweg«. Gerade die Be­schäftigung mit der
Geschichte lehrt aber auch, dass wir beim Vergangenen nicht
stehen bleiben dürfen. Es kommt darauf an, was wir aus der
Geschichte machen, wie wir das Vergangene lebendig halten,
ohne dass es uns erdrückt.
Das gilt letztlich auch für HOHE LUFT. Wir freuen uns,
dass es uns nach all der Zeit immer noch gibt. Wir danken vor
allem Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ohne die diese zehn
Jahre nicht möglich gewesen wären. Aber jetzt lassen Sie uns
gemeinsam in die Zukunft schauen. Denn das Leben geht weiter,
das Denken­­auch – und die »Lust am Denken« erst recht.

IHR

Wie denken Sie darüber?


Bitte schreiben Sie mir unter
info@hoheluft-magazin.de THOMAS VAŠEK

HOHE LUFT 3
INHALT
SCHWERPUNKT

→ GESCHICHTE

xxxxxx Jenna Gribbon / Courtesy of the Artist, The Journal Gallery, NY and Fredericks & Freiser, NY, Katrin Binner
AU F TA K T KARL LÖWITH MINDMAP
Wach sein fürs Der Geschichts- Geschichte der
Vergangene Skeptiker Philosophie
Geschichte ist ein erstaunliches Der jüdische Philosoph Karl Löwith Eine Gedankenlandkarte.
Phänomen. Sie ist vorbei, und zugleich wehrte sich gegen ein Denken, das den SEITE 34
wirkt sie fort. Was hat sie uns zu sagen? Menschen und die Welt aus der
Was nicht? Geschichte heraus verstehen will. RENAISSANCE
SEITE 12 SEITE 24 1000 Jahre Schlaf
In der Renaissance gelang der ­größte
INTERVIEW E X P E RT: I N N E N - I N T E RV I E W S Sprung nach vorn in der Geistesge-
»Es geht mir darum, »Erinnerung klärt den schichte. Wie? Durch den Blick zurück.
zu verstehen, wie aus Blick auf die Gegenwart SEITE 36
dem Normalen das und die Zukunft«
Schreckliche entsteht« Ein Historiker, eine Geruchsforscherin S E H N S U C H T  
Wir sprachen mit dem Historiker und und ein Stadtführer beschreiben ihre Corippo oder die beste
Politikwissenschaftler Götz Aly über Sicht auf Geschichte. aller Welten
die Verortung der NS-Vergangenheit in SEITE 28 Was hat es mit der Sehnsucht auf
der deutschen Geschichte. sich? Gerade mit jener nach anderen,
SEITE 16 AU T O B I O G R A F I E N früheren Zeiten? Eine Parabel.
Mein Leben als SEITE 40
DER DEUTSCHE SONDERWEG Geschichte
Auf Plessners Schultern Wir erzählen unser Leben oft in Form L I F E H AC K S U N D P E R S P E K T I V E N
xxxx Pascual,

Der Philosoph Helmuth Plessner prägte von Geschichten. Was bedeutete was? Von Zeitreisen und
früh den Streit um den »deutschen Und können wir wirklich zugleich anderen Geschichten
Mariano

Sonderweg«. Eine Einordnung von Autoren und Protagonisten sein? Einsichten, die weiterhelfen, und drei
xxxx xxxx

Heinrich August Winkler. SEITE 30 Fragen an drei Schriftsteller:innen.


Bilder:

SEITE 22 SEITE 42

4 HOHE LUFT
INHALT

RUBRIKEN
Editorial Seite 3
Denkanstoß Seite 6
Miniaturen Seite 8
Philo-Comic Seite 78
Resonanzraum & Impressum Seite 80
Text & Kontext Seite 82
Freistil Seite 86

UND MEHR ...


GELASSENHEIT D A S P H I LO S O P H I S C H E F OT O
Von der Ruhe des Präsenz
Gemüts Der Fotograf Maximilian Virgili
Gelassener zu sein, wünschen sich bekam von uns einen Begriff – und
wohl die meisten. Aber wie, verdammt antwortete mit einem Foto.
noch mal, geht das? SEITE 72
SEITE 44
DEPRESSION
P H I LO S O P H I S C H E S O B J E K T Kuss des Dementors
Blumenbergs Stenorette Die Depression ist ein Leiden, das
In unserer neuen Serie stellen wir Dinge oft missverstanden wird. Auch von
vor, die Philosophen beim Denken hal- Philosoph:innen.
fen oder helfen. In dieser Ausgabe: Hans S E I T E 74
Blumenberg und sein Diktiergerät.
SEITE 50 P H I LO S O P H I S C H E F R AG E
Wie steht es um den Feminismus?
Was ist Ankommen,
FEMINISMUS FIKTION Herr Ceylan?
Die Freiheit der Frauen Die Kraft der Fiktion Der Comedian antwortet auf eine große
Wie steht es heute um den Feminismus? Wir alle tun gelegentlich »so als ob«. philosophische Frage.
Um diese Frage zu beantworten, lohnt Das ist menschlich. Außerdem kann jene SEITE 90
es, sich auch mit den Stimmen konser- Fiktion Freiheit entfalten.
vativer Feministinnen auseinander- SEITE 60
zusetzen – und mit dem Antifeminismus.
SEITE 52 TIEFDRUCK
Beim Meister
des wahren Wegs
Unser Kolumnist Peter Strasser über
Selbstfindung.
SEITE 64

GESPRÄCH
»Unsicherheit ist ein
entscheidender Teil von
Wissenschaft ...«
Wir sprachen mit der Astrophysikerin
und Philosophin Sibylle Anderl über
Wissenschaft in der Pandemie.
Neue Serie: Das philosophische Objekt SEITE 66 Astrophysikerin Sibylle Anderl

HOHE LUFT 5
DENKANSTOSS

mativ folgt, ist schon deswegen unklar, weil die Kritik an Kolo-

ES IST AN nialismus, Sexismus und Rassismus in dem Moment, in dem


sie einsetzt, auf die Historisierung der eigenen Maßstäbe ver-

DER ZEIT ... zichten muss.


Die kritische Historisierung normativer Begriffe ver-


knüpft den Begriff mit seiner häufig schrecklichen Geschichte
und unterstellt durchaus plausibel, dass es ein Problem gibt.
Aber ergibt sich der Grund für diese Plausibilität wirklich aus
… dass Philosophen sich wieder der
einer Historisierung oder aus nicht historisierten Kriterien
Geschichte zuwenden, findet
der Gegenwart?
Rechtswissenschaftler Christoph Möllers.
Die erste Disziplin, die sich mit der Frage der Historisie-
rung von Normen grundlegend auseinandersetzen musste, war
die evangelische Theologie. Was folgte aus der Erforschung
des Leben Jesu für die Doktrinen des protestantischen Chris-
tentums? Diese Frage trieb das Fach im 19. und frühen 20.
Jahrhundert um, mit charakteristischer Verspätung erreichte
sie den Katholizismus, dessen Orthodoxie immer noch glaubt,
Glaubenswahrheit habe etwas mit Unveränderlichkeit der
­Doktrinen zu tun, so als würden sie sich nicht allein dadurch
ändern, dass sich alles andere ändert.
Man wird nicht behaupten, dass die Kirchen das Pro­
blem gelöst hätten, ebenso wenig übrigens wie die Rechtswis-
senschaften, wenn sie heute um die Frage ringen, ob man das
ursprüngliche Verständnis einer alten Norm über Bord werfen

F
kann, um sie für die Gegenwart anzuwenden.
Für die Philosophie ist das Problem freilich theoretisch
riedrich Nietzsche (1844–1900) noch schwieriger. Keine Autorität, keine Offenbarung, kein
schreibt in der »Genealogie der Mo- Normsetzer kann die philosophische Normbegründung entlas-
ral«: »… definierbar ist nur das, was ten; dafür wird es anders als bei Jurisprudenz und Theologie
keine Geschichte hat«. Wie recht er eben nicht recht praktisch.
mit dieser Beobachtung haben könnte, Eine Philosophie, die sich diesen Problemen stellen
zeigt sich am Diskurs der philosophi- wollte, müsste sich diese Debatten anschauen und Bücher
schen Normbegründung der Gegen- ­lesen, die außerhalb des Kanons der beiden Lager liegen,
wart. Denn heute scheint es nur noch etwa Ernst Troeltschs (1865–1923) »Der Historismus und
zwei Varianten der Beziehung zwi- seine Probleme«. Sie müsste sich auch wieder einem ver­
schen Geschichte und praktischer Philosophie zu geben. pönten Abzweig zuwenden, der Geschichtsphilosophie. Anzei-
Die erste ist die analytische Nichtbeziehung: In ihr hat chen dafür, dass dies geschieht, gibt es. •
sich die Philosophie aus der Geschichte, damit aber auch aus
jeder praktisch-politischen Relevanz zurückgezogen und ar- Christoph Möllers lehrt Öffentliches Recht und Rechts-
beitet nur noch mit Begriffen. Nicht zufällig boomt in der philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2021
praktischen Philosophie die Meta-Ethik, ein Fach, das sich wurde er für sein Werk »Freiheitsgrade. Elemente einer
durch weitgehende Relevanzabstinenz auszeichnet, der aka- liberalen politischen Mechanik« (Suhrkamp, 2020) mit dem
demischen Philosophie aber umso besser dabei hilft, die Art Tractatus-Preis des Philosophicums Lech ausgezeichnet.
von szientistischem Wissenschaftsduktus zu pflegen, den sie
eigentlich infrage stellen sollte. Hier haben Begriffe in der Tat
keine Geschichte.
Auf der anderen Seite steht die von Nietzsche einge­
leitete und nach Michel Foucault (1926–1984) beschleunigte
Historisierung normativer Kategorien. Auch sie müsste sich
­eigentlich aller Relevanz entziehen, denn was genau aus der
Tatsache, dass die Menschenrechte, der Liberalismus oder
das subjektive Recht eine bestimmte problematische, kolonia-
listische, sexistische oder rassistische Herkunft haben, nor­

6 HOHE LUFT
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MINIATUREN

MINIATUREN

ILLUSTRATION:
CHRISTOPH VIEWEG

AUF DER
TRANSIT-
STRECKE DES
LEBENS

»Workation« lautet eine angesagte
Wortschöpfung, die einem das Gefühl gibt,
auf einer lässigen Welle zu surfen, indem
man Arbeit und Urlaub miteinander verbin-
det. Doch: funktioniert’s? Wer bleibt am
Ende oben?

TEXT: REBEKKA REINHARD

8 HOHE LUFT
MINIATUREN

Foto: Sung-Hee Seewald


VOR EINIGER ZEIT war »Work-Life-Balance« groß in Mode.
Das Wort kündete vom Wert einer beruflichen Tätigkeit, die
man spätestens Punkt 17.59 Uhr beenden durfte, damit an-
schließend etwas völlig anderes stattfinden konnte: das soge-
nannte Leben. Wie sich leider herausstellte, repräsentierte
»Work-Life-Balance« eine zweifache Illusion:
1. als Marketing-Trick der Arbeitgeber, um Angestellte zu mo-
tivieren und stressbedingte Krankheitsfälle gering zu halten
(kurz: um Geld zu sparen und Gewinne zu steigern). 2. als
Auslaufmodell, das blitzschnell von immer leistungs­fähigeren
Smartphones verdrängt wurde. Sobald diese sich als Schalt­
zentrale und Anker allen menschlichen und unmensch­lichen
Lebens etablierten – und der Computer zum luftig-leichten
Accessoire verkam –, begann die Ära der bisher raffiniertes-
ten Form der Versklavung: die »Workation«. Ein zwischen
Unbeschwertheit und Selbstmotivation changierender, viel­
­
sagender Zwang, der von der stillen, steten Inhaftnahme der
Ferien durch den Job zeugt.
Seit wir alle so toll drahtlos mobil agil unterwegs sind, ist
die Freiheit, mit drei Klicks den Thailand-Urlaub zu buchen, 200 Seiten | € 20,– (D)
ISBN 978-3-89684-282-4
deckungsgleich mit der Freiheit, die Optionsvielfalt zu nut-
zen, die solch ein Urlaub bietet. Etwa die Option, auf dem
Strandtuch zu kauern und schnell mal ein paar Mails zu beant-
worten. Ist doch eine super Sache! Wow, sind wir modern.
Davon kriegt
Man muss nicht am PC in Köln ausharren, wenn man die Op- man nie genug:
tion hat, die digitale Transformation auch auf Koh Samui vor- Waches Denken mit
anzutreiben. Wer vom Strandtuch aus Prozesse koordiniert,
braucht es später nicht mehr zu tun.
Rebekka Reinhard
Später? Nach dem Ende eines Urlaubs, der keiner war, ist und Wie wir uns aus Rollenmustern
sein wird, weil die Arbeit nie aufgehört hat. Die Binarität Job/
und Denkschablonen befreien
Urlaub ist einem Zugleich gewichen, das die Ferien perma-
und der Welt mit wacher
nent auf Wiedervorlage verschiebt – und die Transitstrecke
Neugier begegnen können,
zur ­einzig möglichen Lebensform adelt. Lass das Sonnenöl
noch stecken. Gleich kannst du es applizieren. In einer Mi- zeigt Rebekka Reinhard mit
nute, einer Stunde. Du musst nur schnell noch ... Weil du ihrer Philosophie eines zeit-
deine Chefin, deinen Kollegen jetzt nicht hängen lassen gemäßen Vernunftgebrauchs.
kannst. Die Mail gerade war ja auch so verständnisvoll … diese
liebevollen Emojis zwischen den ASAPs. Gleich bist du wieder
im Urlaubsmodus. Gleeeeiiiich. Die Sonne geht auch noch in
acht Minuten unter. Doch erst musst du dich der Verkaufs-
kurve widmen. Gleich hast du Zeit für Urlaub. Und schon sitzt Erhältlich in allen Buchhandlungen.
du wieder im Flieger. Und wenn der Urlaub vorbei ist, war es www.edition-koerber.de
wieder keiner. Macht nichts. Nächstes Mal. Bleib dran. Auf editionkoerber
der Transitstrecke des Lebens.•

HOHE LUFT 9
MINIATUREN

ÜBER UNS DIE PEST ODER


MILCHSTRASSE, CHOLERA?
UNTER UNS —
DIE STADT Soll ich mein Kind durchseuchen lassen –
oder vor Covid-19 verstecken? Wer mit

— Kleinkindern durch die Pandemie kommen


will, befindet sich in einem Dilemma.

TEXT: GRETA LÜHRS


Philosoph:innen liefern verschiedene
Argumente für einen ethischen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn rechnet mit einem
Umgang mit der Natur. Eines davon Ende der Corona-Pandemie im Frühjahr. Bis dahin sei hoffent-
ist der Mensch selbst. lich die sogenannte Herdenimmunität erreicht – entweder
durch Impfungen oder Ansteckungen. Bis dahin trägt man ein-
TEXT: LENA FRINGS
fach weiter eine Maske, lässt sich, wenn möglich, impfen – und
UNSERE RUCKSÄCKE waren schwer, und als wir die Spitze alles wird gut werden? Wer bei dieser Gleichung allerdings
des Berges erreichten, dämmerte es bereits. Während wir eine Sonderrolle einnimmt, sind die Kinder unter zwölf Jahren,
unser Zelt aufbauten, kroch die Schwärze in die Täler, durch- für die es bisher keinen Impfstoff gibt. Während Eltern von
brochen vom Licht der Städte. Ich hatte eine Kerze dabei, die Schulkindern sich, völlig zu Recht, über unzureichende Schutz-
ich neben einem Stein in die Erde bohrte. Kaum leuchtete sie, vorkehrungen in den Klassenzimmern beschweren, hat man
kam eine Motte, die sie umflog. Sie steuerte zielstrebig auf das als Elternteil eines Kleinkindes noch schlechtere Aussichten.
Licht zu und zog ihre Flügel durch die Flamme. Ich versuchte Entweder lässt man die Kleinen in die Kita gehen, wo sie ohne
sie davon abzuhalten, doch kurze Zeit später roch es verbrannt, Maske dicht an dicht gemeinsam spielen, kuscheln, essen,
und die Überreste ihres Körpers klebten am Kerzendocht. schlafen. Wo es keine Luftfilter gibt und man bei fallenden
»Immerhin ein epischer Tod«, sagte ich. ­Außentemperaturen auch nicht dauernd das Fenster aufreißen
Als kurz darauf in der Ferne die ersten Blitze über ferne Berg- kann. Dann nimmt man, so scheint es, die Infektion mit dem
rücken krachten, Donner grummelte und an den Rändern des Virus früher oder später in Kauf. Zwar haben kleine Kinder ein
Horizonts Wolken das Sternenmeer verdeckten, sagte ich das sehr geringes Risiko für schwere Verläufe, doch fühlt es sich
Gleiche noch einmal: »Immerhin ein epischer Tod.« Doch ei- wohl für die wenigsten gut an, das eigene Kind wissentlich
gentlich fand ich mich gar nicht lustig. Eigentlich hatte ich ein »durchseuchen« zu lassen. Außerdem ist es ja nur folge-
bisschen Angst. Blitze sind in den Bergen gefährlich. Mit dem richtig, dass bei vielen Infektionen auch die schweren Fälle
Gewitter erzitterte mein Bewusstsein. Plötzlich war die Natur häufiger werden.
mehr als Entspannung und größer als ein Sonntagnachmittag Die Alternative ist allerdings ebenso wenig verlockend: Das
im Stadtpark. Sie war eine Gewalt, der wir im Zweifelsfall er­ Kind bleibt zu Hause, wird so lange von Viren abgeschirmt, bis
liegen würden. Eine Erkenntnis wurde zutage gefördert, die es einen Impfstoff gibt. Das wird aber frühestens im Frühjahr
verschüttet gewesen war: Wir sind ein Teil der Natur. 2022 der Fall sein, man wäre also mindestens den ganzen
Das Gewitter kam nicht bis zu uns. Über uns leuchtete die Herbst und Winter zu Hause eingepfercht. Für arbeitende El-
Milchstraße, unter uns die Stadt und am Morgen eine kraftvolle tern ist das kaum eine realistische Option, von der psychischen
Augustsonne, die uns aus dem Zelt und in die Wanderschuhe Belastung durch die Isolation für Kinder und Eltern ganz zu
zwang. Aber diesen Gedanken, den ich in der Nacht wieder­ schweigen – während das Leben draußen wieder losgeht.
gefunden hatte, packte ich fein säuberlich mit ein. Vielleicht hat Man steckt also in einem klassischen Dilemma. Ingo Arzt, Vater
er Potenzial. Er kann sortieren, was wir in der Hast des Alltags von zwei Kleinkindern, schreibt auf »Zeit online«, seine persön-
gelegentlich durcheinanderbringen. liche Taktik in dieser Situation liege darin, Covid-19 zu ver-
Das Draußen-Sein ist nicht nur ein ästhetisches Erlebnis, son- harmlosen und zu hoffen, es werde schon gut gehen. Das fällt
dern zeigt uns zugleich etwas Existenzielles. Draußen fühlen schwer, hat man doch die letzten Monate gelernt, die Pandemie
wir den Grund für einen verantwortungsvollen Umgang mit bloß nicht auf die leichte Schulter zu nehmen – und dann soll
der Natur, den Philosoph:innen als das »anthropozentrische man dies ausgerechnet beim eigenen Kind tun? Aber vielleicht
Argument« zu rationalisieren versuchen: Ohne die Natur sind ist es angesichts der schwierigen Lage ein gangbarer Weg, die
wir nichts. • Nerven zu behalten. •

10 HOHE LUFT
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Wach sein
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

fürs
Vergangene
DIE GESCHICHTE IST
EIN EIGENARTIGES
PHÄNOMEN. SIE IST VORBEI
UND ZUGLEICH NOCH IMMER
DA. SIE SCHREIBT UNS –
UND WIR SIE. WAS HAT SIE
UNS ZU SAGEN?
12 HOHE LUFT
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

INHALT
IM GESPRÄCH MIT DEM HISTORIKER GÖTZ ALY Seite 16
HEINRICH AUGUST WINKLER ÜBER PLESSNER Seite 22
DER GESCHICHTS-SKEPTIKER KARL LÖWITH Seite 24
EXPERTENINTERVIEWS Seite 28
DAS LEBEN ALS GESCHICHTE Seite 30
DIE GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE ALS MINDMAP Seite 34

W
DIE BEDEUTUNG DER RENAISSANCE Seite 36
VON DER SEHNSUCHT NACH FRÜHER Seite 40
LIFEHACKS UND PERSPEKTIVEN Seite 42­­­

­ ENN DIE GESCHICHTE ETWAS LEHRT, dann ist es dies:


W
Die Vergangenheit ist unwiderruflich vorbei. Was geschehen
ist, das ist geschehen, es lässt sich nicht mehr ändern. Schon
deshalb kann man sich fragen, welchen Sinn die Beschäftigung
mit der Geschichte überhaupt hat – und inwiefern sie dazu bei-
tragen kann, die Probleme der Gegenwart zu lösen. Haben wir
heute keine anderen Sorgen, von der Pandemiebekämpfung
bis zum Klimawandel? Sollten wir die Vergangenheit nicht ein-
fach ruhen lassen, uns lieber auf die Zukunft konzentrieren?
Die Fragen muten seltsam, ja verdächtig an, erst recht
in einem Land wie Deutschland, das immer noch mit seiner
­historischen Schuld ringt, in dem der Nationalsozialismus bis
heute »vielfältige Präsenz« besitzt, wie der Historiker Per Leo
schreibt. Seit einiger Zeit toben wieder neue Deutungskämpfe
um die deutsche Geschichte, es geht um die Einzigartigkeit
des Holocaust, um die Verbrechen des Kolonialismus, um die
deutsche Erinnerungskultur. Eben weil die Vergangenheit so
gegenwärtig ist, müssen wir uns immer neu vergewissern, in
welcher Weise wir uns auf sie beziehen, welchen Nutzen die
Beschäftigung mit der Geschichte eigentlich hat, inwiefern
wir ihr verpflichtet sind, ob sie uns wirklich weiterbringt oder
womöglich sogar hemmt.
Historische Bildung weitet den Horizont, das wird nie-
mand ernstlich bestreiten. Die Beschäftigung mit Geschichte
kann zugleich spannender als jeder Krimi sein. Doch wir er-
TEXT: THOMAS VAŠEK warten uns von Geschichte mehr als bloß interessanten, unter-

HOHE LUFT 13
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

haltsamen Lese- und Fernsehstoff. Wir wollen aus der Ge- nen höheren »Sinn« der Geschichte zu stiften. Es gebe keinen
schichte lernen. Die Kenntnis historischer Zusammenhänge übergeordneten Sinn, kein Ziel der Geschichte, keine histori-
soll uns helfen, Gegenwart und Zukunft besser zu verstehen. sche Gerechtigkeit. Es gebe überhaupt nicht »die Geschichte«
Aber ob sie das wirklich kann, ist nicht ohne Weiteres klar. schlechthin, die uns etwas lehrt, an der wir uns orientieren
Historische Vergleiche können problematisch sein oder gar in können. Insofern legte Nietzsche die »Vielsinnigkeit« der Ge-
die Irre führen. Riskant sind sie fast immer, und zwar schon schichte frei, so der Historiker Reinhart Koselleck (1923–
deshalb, weil sich Geschichte eben nicht einfach wiederholt. 2006). Nietzsches Kritik galt freilich einem »Übermaß von His-

D
torie« und damit dem »Historismus« seiner Zeit. Wir leben
as deutsche Wort »Geschichte« leite sich »von dem heute in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit. Dennoch
vielbedeutenden strengen Worte ›geschehen‹ her«, können wir Nietzsches Frage neu stellen – und auf uns selbst
schrieb Johann Gottfried Herder (1744–1803). Es beziehen: Welchen Nutzen (und welchen »Nachteil«) also hat
bezeichnet zum einen das, was wirklich geschehen die Geschichte für unser Leben?
ist und weiterhin geschieht. Zum anderen aber er- Beginnen wir bei unserer eigenen, ganz persönlichen
zählen wir auch »Geschichten«, und zwar wahre wie fiktive. Lebensgeschichte – also jenem »Geschehen«, das sich zwi-
Das Wort »Geschichte« ist also doppeldeutig, es kann ein »Ge- schen unserer Geburt und unserem Tod erstreckt. Wir erle-
schehen« ebenso meinen wie eine »Erzählung« oder einen ben diese Geschichte nicht als lose Abfolge von Ereignissen.
»Bericht, ähnlich wie das ältere Wort »Historie« (von dem grie- Vielmehr gibt es in dieser Geschichte Entwicklungen, Kontinu-
chischen historia für Kunde, Erkundung). Was früher gesche- itäten und Brüche. Nicht immer geht es im Leben stringent
hen ist, das kennen wir vor allem aus Erzählungen. Nur wenn und vorhersehbar zu. Bei Weitem nicht alles liegt in unserer
sie sich auf ein tatsächliches Geschehen beziehen, nennen wir eigenen Hand. Unser Leben ist kontingent, es gibt immer
solche Berichte »historisch«. Herodots berühmte »Historien« native Möglichkeiten, erst recht in einer immer kom­
alter­
(Erkundungen), das als erstes großes Werk der Geschichts- plexer werdenden Welt. Wie aber sollen wir aus der Vergan-
schreibung gilt, waren Berichte über das »unter Menschen genheit die richtigen Schlüsse ziehen, wenn ohnehin alles
einst Geschehene«. ­anders kommt?
Noch Aristoteles unterschied die Ge­schichtsschreibung Die meisten Menschen beschäftigen sich immer wie-
strikt von der Philosophie. Während die Philosophie das Ewige der mit der Vergangenheit. Wir erinnern uns an schöne oder
und Allgemeine zum Gegenstand habe, behandle die Historie auch traurige Momente. Wir sind stolz auf frühere Leistungen
das Einzelne und Kontingente, also die bloßen Tatsachen – – und wir hadern mit Fehlern, die wir früher einmal gemacht
eine Unterscheidung, die sich bis in die Neuzeit hielt. Die ers- haben. Zugleich wissen wir aber, dass es nicht gut ist, immer
ten »Geschichtsphilosophen« waren eigentlich Theologen wie nur über Dinge nachzugrübeln, die sich ohnehin nicht mehr
Augustinus, die das geschichtliche Wer­den als ein von Gott ge- ändern lassen. Ähnlich problematisch erscheint uns oft verklä-
lenktes Heilsgeschehen betrachteten. rende Nostalgie. Von Menschen, die allzu sehr früheren Zeiten
Die Idee einer wissenschaftlichen Geschichtsschrei- nachhängen, sagen wir dann abschätzig, sie lebten in der Ver-
bung, und damit auch einer Geschichtsphilosophie, setzte sich gangenheit. Insofern hat die Beschäftigung mit dem Früheren
erst in der Aufklärung durch. Geleitet vom Ideal des Fort- ganz lebenspraktische Grenzen. Als Sokrates (469–399 v. Chr.)
schritts, begriffen Voltaire und andere die Geschichte als sagte, nur ein »geprüftes« Leben sei lebenswert, meinte er
­geradlinige Höherentwicklung; ihre einseitige Beschränkung wohl nicht, dass wir die ganze Zeit über die eigene Vergangen-
auf Europa wirkt in Geschichtsdebatten bis heute nach. Das heit nachdenken sollen.

j
Fortschrittsdenken kulminierte im »Deutschen Idealismus«,
­namentlich bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), eder von uns macht im Laufe des Lebens Erfahrun-
in der Vorstellung, dass es der »Geist« selbst ist, der sich im gen, die sich über die Jahre zu »Erfahrung« verdich-
geschichtlichen Prozess in immer höheren Stufen manifestiert ten. Der Wert der Erfahrung liegt aber nicht darin,
und zu sich selbst kommt – eine Sicht, die durch die totalitären dass wir sie einfach nur haben. Vielmehr hoffen wir,
Systeme des 20. Jahrhunderts in Misskredit geriet. dass sie uns im Leben weiterhilft. Oft suchen wir in
In seiner Schrift »Vom Nutzen und Nachteil der Histo- unserem Leben auch nach Mustern, nach einem verborgenen
rie für das Leben« deutete Friedrich Nietzsche (1844–1900) Sinn. Dann beobachten wir zum Beispiel, dass sich Erfahrun-
den »historischen Sinn« gar als »Zeichen des Verfalls«, die his- gen in ähnlicher Weise wieder­holen, dass wir Gewohnheiten
torische Bildung vergifte das Leben. Statt das gegenwärtige nicht ablegen können, dass wir bestimmte Fehler immer wie-
Leben an den Maßstäben der Vergangenheit zu messen, sollte der machen. Insofern sind wir, oder jedenfalls viele von uns,
sich der Blick auf die Geschichte am Leben orientieren: »Nur unsere eigenen Geschichtsphilosophen. Wir versuchen, aus
soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.« unseren Erfahrungen zu lernen, dabei denken wir manchmal
Nietzsches Kampfschrift richtete sich gegen alle Versuche, ei- im Modus des Futur II: Selbst von einer kapitalen Fehlent-

14 HOHE LUFT
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

die vergangenheit ist


scheidung hoffen wir, dass sie ­ eines Tages einen Sinn ge-
habt haben wird. Darin liegt eine Idee von Fortschritt, von

nicht tot, sie lebt immer


Höherentwicklung. Der kanadische Philosoph Charles Taylor
schrieb einmal, um unseren Leben Sinn zu geben, müssten wir

weiter, ob wir das


es als eine »sich entfaltende ­Geschichte« begreifen. Dahinter
steht die Vorstellung, dass ein Leben nur dann gelungen ist,

wollen oder nicht.


wenn es sich am Ende zu ­einem kohärenten Ganzen fügt –
eben zu einer in sich stimmigen »Erzählung«.
Der britische Philosoph Galen Strawson hat gegen
solch ein »narratives« Selbstverständnis einige Einwände vor- Die geschichtliche Rückschau zeigt uns, was alles möglich war,
gebracht, die vielleicht auch relevant sind für unser Verhältnis wozu Menschen, Staaten und Kulturen fähig sind – im Guten
zur Geschichte überhaupt (siehe Galen Strawson: »Against wie im ganz Schrecklichen. Als Menschen haben wir zum Glück
Narrativity«). Das Problem einer »narrativen« Sicht auf unser die Fähigkeit, uns vom Vergangenen bereichern zu lassen;
Leben liegt schon darin, dass wir Gefahr laufen, unsere oder aber uns von ihm zu distanzieren, ohne es deswegen zu
­Lebensgeschichte mit der »Geschichte« zu verwechseln, die vergessen. Diese Fähigkeit gehört vielleicht auch zu unserer
wir uns selbst darüber erzählen. Freiheit, ohne sie können wir nicht nach vorn schauen, weil wir

M
im Blick zurück gefangen wären.
enschen können zu ihrer eigenen Geschichte Eine solche Distanzierung meint aber nicht das Ver-
ganz unterschiedliche Beziehungen haben. Wie drängen, auch nicht das Verblassen von Erinnerung, sondern
wir heute aus der Psychologie wissen, gehen die Integration des Vergangenen in eine lebendige, zukunftsge-
manche ganz in der Gegenwart auf, während
­ richtete Gegenwart. Wie wir eine Distanz zu Lebensereignissen
sich andere eher an Vergangenheit oder Zukunft entwickeln können, ohne dass sie deswegen ihre Bedeutung für
orientieren. Es gibt eher »diachrone« Persönlichkeiten, die uns verlieren, so können wir uns auch von der Vergangenheit
das Ganze ihres Lebens im Blick haben, während »episo­ überhaupt distanzieren – und sie dennoch lebendig halten.
dische« Typen vom Gefühl geleitet sind, im Hier und Jetzt zu Was wir heute brauchen, das ist nicht einfach nur mehr
existieren – und gleichsam jeden Tag neu anzufangen. historische Bildung, sondern eine geschärfte Sensibilität, ein
Wir alle sind Produkte unserer Vergangenheit. Das be- Berührbarbleiben, ein Wachsein fürs Vergangene, ohne im
deutet aber nicht, dass wir uns selbst aus dieser Vergangenheit ­Vergangenen zu verharren. Vielleicht geht das in die Richtung
verstehen müssen. Das Vergangene kann, so Strawson, auch dessen, was der Historiker Per Leo in seinem Buch »Tränen
höchst präsent und lebendig sein, ohne dass wir uns explizit ohne Trauer«, in Bezug auf die NS-Verbrechen, mit dem Be-
daran erinnern – in unseren Werten und Einstellungen, in griff »Nachleben« meint. Die Lasten des Nationalsozialismus
­unserem Handeln. Jemand kann ein anständiger Mensch sein, seien weitgehend abgetragen, schreibt Leo: »Was bleibt, ist
ohne sich ständig dessen bewusst zu sein, was ihn oder sie die Macht einer Geschichte, die uns mit einer Fülle von Ge-
dazu gemacht hat. Was für unsere eigene Geschichte gilt, das schichten umgibt.«  
gilt vielleicht auch für die Geschichte im Großen. Sicher kann Die Vergangenheit ist nicht tot, sie lebt weiter, ob wir
jemand ein guter Demokrat sein, ohne dabei ständig das das wollen oder nicht. Darin liegt eine Antinomie der Ge-
Grauen der Naziverbrechen vor Augen zu haben. schichte, ein Widerspruch, wie Reinhart Koselleck schreibt:
Wir alle sind durch Erfahrungen hindurchgegangen, »Die Vergangenheit ist absolut vergangen, unwiderruflich –
die uns geprägt und auch immer wieder verändert haben. und zugleich wieder nicht: Die Vergangenheit ist gegenwärtig
­Solange wir leben, können wir sie uns immer wieder neu ver- und enthält Zukunft. Sie beschränkt kommende Möglichkeiten
gegenwärtigen. Wirklich vergangen ist in diesem Sinne nur, und gibt andere frei, sie ist in unserer Sprache vorgegeben, sie
was keine Bedeutung mehr für uns hat. Max Scheler (1874– prägt unser Bewusstsein wie das Unbewusste, unsere Verhal-
1928) schrieb einmal, alle Vergangenheit sei ihrem Sinngehalt tensweisen, unsere Institutionen und deren Kritik.«
nach »nur das Problem, was wir mit ihr anfangen sollen«. Wer sich mit der Vergangenheit beschäftige, werde
Die Frage ist insofern, wie wir die Vergangenheit leben- ­daher »mit sich selbst konfrontiert«. Das gilt vielleicht nicht
dig halten können, ohne Gegenwart und Zukunft aus dem nur für Historiker, sondern am Ende für jeden von uns. Und
Blick zu verlieren – und umgekehrt. Auch Friedrich Nietzsche vielleicht ist es das, was wir aus der Geschichte tatsächlich
war nicht gegen die Rückwendung aufs Vergangene, er wollte ­lernen können, aus unserer eigenen kleinen Geschichte wie
die Geschichte nur in den Dienst des Lebens stellen: »Es ist aus der großen: Wir können uns von der Vergangenheit zwar
wahr: Erst durch die Kraft, das Vergangene zu gebrauchen vielleicht distanzieren, uns aber nie ganz von ihr lösen, weil sie
und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, immer schon unsere Gegenwart und Zukunft prägt. Unsere
wird der Mensch zum Mensch.« Geschichte ist uns immer schon einen Schritt voraus. •

HOHE LUFT 15
INTERVIEW

16 HOHE LUFT
»Es geht mir
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

darum, zu
verstehen,
wie aus dem
Normalen das
Schreckliche
entsteht«
DER HISTORIKER UND POLITIKWISSENSCHAFTLER GÖTZ ALY IST
BEKANNT FÜR SEINE WERKE ZUM HOLOCAUST, ZUR NAZI-DIKTATUR UND
ZUM KOLONIALISMUS. WIR SPRACHEN MIT IHM DARÜBER, WIE DIE
Foto: imago/Gerhard Leber

DAMALIGE MASSENMOBILISIERUNG MÖGLICH WAR UND WIE SICH DIE


NS-VERGANGENHEIT IN DER DEUTSCHEN GESCHICHTE VERORTEN LÄSST.
INTERVIEW: REBEKKA REINHARD, THOMAS VAŠEK
HOHE LUFT 17
H
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

HOHE LUFT: Ich erinnere mich, wie meine Großmutter sagte: Intelligenz. Sie alle hatten 50 Millionen Kriegstote auf dem Ge-
»Die Hitler-Zeit war schlimm – aber es war nicht alles wissen. Unter diesen Opfern waren mehr als die Hälfte Zivilis-
schlecht. Hitler hat uns ja auch die Autobahnen gebaut!« ten, die sich überhaupt nicht wehren konnten, insbesondere jü-
Was ist dazu aus Ihrer Sicht als Historiker zu sagen? dische Männer, Frauen und Kinder. Dass diejenigen, die diese
GÖTZ ALY: In der Generation Ihrer Großmutter überwog diese Jahre der deutschen Verbrechensgemeinschaft lebend über-
Art der Erinnerung – wobei die lobend genannten Autobahnen standen hatten, hinterher den Kreis der Schuldigen möglichst
stellvertretend für andere Wohltaten standen, die für die innere reduzieren wollten, war zu erwarten. Was sollten die Leute an-
Stabilität des von Anfang an labilen NS-Systems entscheidend deres tun, als zu verdrängen und sich Lügen zurechtzulegen?
waren. So wurden mit der Reichsfinanzreform von 1934 die bis Wie hätten sie ohne Verdrängung – klassisch umschrieben als
heute gültigen Lohnsteuerklassen eingeführt. Sie privilegierten »Stunde null« – neu anfangen können? Das Verdrängen kann
die damalige Standardfamilie – Mann, nicht oder nur in Teilzeit sich auch vererben. Sehr viele Nachfahren der damaligen Deut-
erwerbstätige Hausfrau, drei Kinder –, also die »arische« Mehr- schen wissen nicht und wollen nicht wissen, dass es mindestens
heit, und benachteiligte die Alleinstehenden. Ähnlich verhielt in jeder fünften Familie einen unmittelbaren Täter gab, der
es sich mit der Einführung des Kindergeldes und anderer nicht nur Hitler zugejubelt und den NS-Staat loyal unterstützt
mehrfach erhöhter familienpolitischer Transferleistungen. Seit hat, sondern direkt am Morden beteiligt war. Ich sage das
1938 fallen deutsche Rentner nicht mehr automatisch aus der nicht, um irgendjemandem Vorwürfe zu machen. Es geht mir
gesetzlichen Krankenversicherung heraus. Zuvor hatten die vielmehr darum zu verstehen, wie aus dem Normalen das
Familie oder Wohlfahrtsorganisationen für die Arztbesuche der Schreckliche entsteht und wo die schwer überwindbaren
Alten aufzukommen. Ich könnte Dutzende Beispiele anführen – Grenzen späterer Aufklärung liegen.
natürlich nicht, um Hitler zu loben, sondern um verständlich zu
machen, warum so viele Deutsche selbst nach dem Krieg noch Wie verhält sich Ihre These zur »Kollektivschuldthese«?
von den »positiven Errungenschaften« der NS-Zeit sprachen. Unser Rechtssystem kennt nur individuelle Schuld. Auch über-
Sie sagten: »Es war furchtbar. Aber es war auch vieles gut.« zeugte Nationalsozialisten haben sich durchaus unterschiedlich
Während der Weltwirtschaftskrise sprangen die Leute aus dem verhalten. Folglich lehne ich das gleichmacherische, die per-
Fenster, weil sie die Miete nicht bezahlen konnten. Und was ta- sönliche Verantwortung verwischende Urteil Kollektivschuld
ten Hitler, Göring und Goebbels? Im Frühjahr 1933 wurden von ab. Und dann gab es diejenigen, selbst wenn es wenige waren,
einem Tag auf den anderen Hunderttausende rechtskräftige die aus sehr verschiedenen, insgesamt zu würdigenden Moti-
Vollstreckungsbescheide außer Kraft gesetzt. Das rettete viele ven Widerstand geleistet haben, die Verfolgten geholfen, halb
Familien, die weder ihre Miete noch ihre Schulden bezahlen verhungerten russischen Zwangsarbeitern Brot zugesteckt
konnten, vor dem sozialen Absturz. Die nationalsozialistischen haben. Auch diese Menschen darf man nicht unter dem
Führer stammten fast alle aus kleinen Verhältnissen. Sie wuss- Oberbegriff »Kollektivschuld« verschwinden lassen. Wer die
ten, was es bedeutet, wenn der Gerichtsvollzieher klingelt. Das zerstörerische Energie des NS-Staates erklären will, sollte sich
sind Faktoren, die unseren heutigen Vorstellungen und denen, allerdings auch mit dem Phänomen des Kollektivismus, des
die heute Geschichte schreiben, weitgehend entrückt sind. Sie Anpassungszwangs und der individuellen Feigheit befassen. Ich
kommen in den Schulbüchern und Gedenkstätten nicht vor. spreche von einer Zustimmungsdiktatur und meine damit die-
Und deshalb sollte die Erinnerung Ihrer Großmutter historisch ses historische Faktum: Es gab im 20. Jahrhundert in Deutsch-

n
entfaltet werden, um zu verstehen, wieso normale Menschen, land keine einzige Regierung, die eine höhere allgemeine Zu-
die vorher und hinterher nicht kriminell waren, so massenhaft stimmungsquote hatte als die Regierung Hitler im Jahr 1938.
den Ideen der NSDAP gefolgt sind. Das darf man nicht weglügen. Hier stellt sich die Frage: Wie
wurde diese Zustimmung erreicht, und wie wurde sie im Krieg
Eine Ihrer zentralen Thesen ist ja, dass der Nationalsozialis- und mit den Mitteln des Krieges selbst stabilisiert?
mus ein Massenphänomen war. Unsere Geschichts- und
Erinnerungspolitik laufe aber darauf hinaus, diesen Massen- Nach Ihrer These erreichten die Nationalsozialisten
charakter zu leugnen, um den Kreis der Verantwortlichen diese Zustimmung, indem sie breiten Bevölkerungsschichten
möglichst klein zu halten, wie Sie einmal geschrieben haben. materielle Vorteile verschafften …
Worauf führen Sie diese Verdrängung zurück? … und für die nahe Zukunft versprachen.
Angesichts der von Deutschen im Zweiten Weltkrieg begange-
nen schlimmsten Verbrechen aller Zeiten finde ich Verdrän- Unterschätzen Sie da nicht die Wirkungsmacht der
gung menschlich verständlich. In ungeheurer Massenhaftigkeit rassistischen NS-Ideologie?
und in sehr kurzer Zeit hatten 19 Millionen deutsche Soldaten, Der Begriff Ideologie wird im Zusammenhang mit dem Natio-
SS-Männer und Polizisten einen ganzen Kontinent zerstört – nalsozialismus als Schimpfwort verwendet. Er versperrt die Er-
unterstützt von einer stabilen, im Wesentlichen weiblichen Hei- kenntnis und dient selbstgewisser Distanzierung. Ich betrachte
matfront und einer Hitler engagiert zuarbeitenden nationalen die nationalsozialistische politische Programmatik, die damit

18 HOHE LUFT
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

verbundenen Ideen und Utopien. Wenn wir sagen, die Nazis gruppe findet sich auch in der sozialistischen Idee, das Proleta-
seien rassenideologisch fixierte Exterminatoren gewesen, dann riat sei dazu bestimmt, sich selbst und die nicht-bourgeoise
meinen wir damit hauptsächlich, dass wir das nicht sind. Hof- Menschheit aus dem Elend zu erlösen. Hitler gelang es mit
fentlich! Dass aber unsere Väter, Großväter oder Urgroßväter seinem politischen Konzept »nationaler Sozialismus« die bei-
plötzlich exterminatorischen Rassisten hinterhergerannt sind den Stränge kollektivistischen Zukunftsdenkens erfolgreich
und auch zu solchen wurden, kann auf diese Weise niemals zu verknüpfen: sozialen Aufstieg ermöglichen – aber nicht

w
erklärt werden. international, sondern beschränkt auf ein nationales Kollektiv,
das für sein künftiges Glück alles Fremde und Zersetzende,
Welche Rolle spielte dann der Rassismus für die Kranke und Widerständige abwerfen, ausschließen oder ver-
NS-Herrschaft? nichten müsse. Es war diese Mischung, die den National-
Die ersten wissenschaftlich drapierten Rassentheorien entstan- sozialismus attraktiv machte.
den in der Mitte des 19. Jahrhunderts in England und Frank-
reich. Dort und in den USA hatten sie einen klaren, vorwiegend Wie ging dieser massenhafte soziale Aufstieg vor sich?
ökonomisch motivierten Zweck. Es ging nämlich darum, wie Hitlers programmatisches Versprechen von der »unbedingten
man angesichts der in Europa zunehmend akzeptierten Prinzi- Volksgemeinschaft nach innen« verminderte den sozialen
pien »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« diese Grundrechte Abstand zwischen den Krupps und den Krauses – nicht prak-
bestimmten Menschengruppen, genannt Rassen, absprechen tisch, aber gefühlt und perspektivisch. Wie in allen modernen
konnte, die versklavt, geknechtet oder jedenfalls stark fremdbe- Revolutionen wurden die Bedingungen für das Studium etwas
stimmt in den kolonialen Plantagen schuften mussten, denen abgesenkt und das soziale Vorwärtskommen mithilfe von Ent-
Eigentumsrechte genommen und ihre menschliche Gleichwer- eignungen beschleunigt – hier vor allem der Juden, aber auch
tigkeit abgesprochen wurde. Genau das leistete zum Beispiel der Gewerkschaften und Parteien, später mithilfe des massi-
Arthur de Gobineau mit seinem Werk »Essai sur l’inégalité des ven Ausraubens besetzter Länder. Hitlers Regierung schuf
races humaines« (Versuch über die Ungleichheit der Men- sehr schnell neue berufliche Aufstiegschancen, schaffte die
schenrassen), dessen vier Bände zwischen 1853 und 1855 er- Voraussetzungen der Herkunft und des Abiturs für die Offi-
schienen. 1856 erschienen die Bände bereits in den USA und zierslaufbahn zugunsten der militärischen Begabung ab. Im
wurden dort, insbesondere in den Südstaaten, zum Bestseller, Krieg bekamen die Schwerarbeiter wesentlich höhere Lebens-
denn Gobineau legitimierte die Sklaverei, die Enteignung der mittelrationen als Ministerialräte, die Masse der Deutschen
Ureinwohner. In Deutschland interessierte sich damals nie- musste keine Kriegssteuern entrichten, die oberen zehn Pro-
mand dafür, und dieses Grundlagenwerk des verwissenschaft- zent erhebliche. Solche Maßnahmen und das kollektivistische
lichten Rassismus wurde für die auch insoweit verspätete Na- Gesellschaftsbild verringerten die gefühlte Differenz zwischen
tion erst knapp 50 Jahre später übersetzt. Interessanterweise den Klassen. Die Ehe meiner Eltern, geschlossen 1942, ist
rezipierten es die bald in erheblicher Zahl begeisterten deut- typisch für diese Epoche. Mein Vater war Sohn eines Profes-
schen Gobineau-Freunde unter dem Gesichtspunkt, dass sie sors, meine Mutter Tochter eines Reisevertreters für Ersatz-
selbst, die Deutschen und ihre »germanische Rasse«, beson- kaffee. Eine solche Verbindung wäre 1925 sehr viel schwieriger
ders edel und den anderen »Rassen« überlegen seien. Das gewesen. Im Nationalsozialismus wurde sie selbstverständlich
musste den an nationalen Minderwertigkeitsgefühlen leiden- und war erwünscht. Denn es kam nur darauf an, dass beide
den Deutschen ein Franzose beibringen; Engländer, Franzosen Partner als ordentliche Arier galten und keine Erbkrankheiten
und Farmer in den Südstaaten mussten kein Buch lesen, um hatten. Standesunterschiede rückten in den Hintergrund. Der
sich ihres Selbstwertes und ihrer generellen Überlegenheit zu NS-Staat und – damit verbunden – der Krieg machten die
versichern. Aus dieser Selbstunsicherheit heraus richtete sich überkommenen sozialen Barrieren in Deutschland sehr viel
der deutsche Rassismus von Anfang an gegen slawische Nach- durchlässiger als etwa in Frankreich und England. Dieses Erbe
barn und insbesondere gegen konkurrierende und überlegene bildete eine wichtige Voraussetzung für den Wiederaufbau, für
Juden. Er diente der Selbstvergewisserung und Selbsterhebung die soziale Mobilität und Ausgewogenheit in der alten BRD.
der Schwachen: Wenn wir schon nicht individuell die Besseren Das führte zum massiven Anwachsen der deutschen Mittel-
sind, dann wenigstens als rassisch glänzend ausgestaltetes schicht auf mehr als 50 Prozent.
Volk, als nationales Kollektiv, dem die Zukunft gehört. Diese
Karte hat Hitler sehr hervorragend gespielt. Wenn man näm- Es gab also einerseits ein gigantisches soziales Aufstiegs-
lich propagiert, wir, die »blutsreinen Deutschen« insgesamt, versprechen, während der Antisemitismus dazu diente,
sind, um es hitlermäßig zu sagen: »von der Vorsehung« zur den »inneren Feind« zu identifizieren, der der überlegenen
Herrschaft bestimmt, dann enthält dieser Satz das Versprechen »Rasse« den Aufstieg vorenthält?
eines massenhaften sozialen Aufstiegs aller Deutschen. Der Dieses Versprechen spielte in den letzten Jahren der Weimarer
Gedanke des massenhaften sozialen Aufstiegs einer unter- Republik eine riesige Rolle. Um 1900 machten jüdische Kinder
drückten, nicht ethnisch, sondern sozial definierten Groß- zehnmal so oft Abitur wie christliche; es studierten, gemessen

HOHE LUFT 19
w
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

am jeweiligen Bevölkerungsanteil, zehnmal mehr jüdische kaum erforschen, weil sie dafür zunächst über sich selber nach-
junge Männer an der Universität. Indem nun die anderen auf- denken müssten. Diese Institutionen sind – speziell in Deutsch-
stiegen, wuchsen die Spannungen. In der Weimarer Republik land – sehr neidbehaftet. Diejenigen, die ein bisschen Erfolg
verdreifachte sich die Anzahl der Abiturienten, zum ersten Mal haben und ihre Unabhängigkeit wahren, werden dort mit Vor-
waren auch 20 Prozent junge Frauen darunter, und entspre- liebe diskreditiert.
chend war auch der Zuwachs an Studenten und Studentinnen.
Die jüdischen Studenten hatten zwar immer noch die Nase Eine erfolgreiche Bildungspolitik hat also zum Aufstieg des
vorne, aber der Abstand verringerte sich deutlich: In der Wei- NS beigetragen. Das ist schwer zu akzeptieren ...
marer Republik studierten gemessen am Bevölkerungsanteil Das Gute bewirkt in bestimmten Konstellationen das Böse.
nur noch viermal so viele Juden. An dieser Stelle kommt der Diese Einsicht ist banal, aber auf den Nationalsozialismus bezo-
Neid massiv ins Spiel. Wenn der Abstand zwischen zwei Men- gen, ist sie nicht leicht zu akzeptieren. Der Blick in diesen
schengruppen groß und auf tradierte Weise geregelt ist, wenn Abgrund macht Angst. Ich halte ihn jedoch für notwendig, um
also die einen Bauern, Arbeiter, Handwerker und die anderen genau das zu erkennen: Böses entsteht nicht nur aus dem Bö-
Pfarrer, Ärzte oder Patrizier sind – dann entsteht wenig Neid. sen. Auf gute Bildungspolitik dürfen wir niemals verzichten.
Denn Neid entfaltet seine besondere Bösartigkeit in der sozia- Was das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik auf die-
len Nähe. Deswegen wuchs der Antisemitismus in der Weima- sem Feld geleistet haben, verdient höchsten Respekt. Parallel
rer Zeit an den Hochschulen, in den Fachschulen und allen dazu muss man sich vor Augen führen, dass diese prinzipiell
gesellschaftlichen Orten, wo es um Aufstieg der erst spät gute Politik unter den harten Bedingungen der Weltwirtschafts-
mobilisierten christlichen Mehrheit ging. Die deutschen Hoch- krise zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen hat.

H
schulen waren lange braun, bevor sich die Mehrheit der Deut- Die unter demokratischen Vorzeichen ausgebildete junge
schen zu Hitler bekannte. Die sozialen Aufstiegsversprechen Elite steigerte die mörderische Energie und Effizienz Hitler-
und -möglichkeiten der Weimarer Republik wurden mit dem deutschlands. Analysiert man andere staatlich dirigierte Groß-
Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 für Millionen Deutsche verbrechen im 20. Jahrhundert, auch die in der kommunisti-
zur Makulatur. Die jungen Menschen, denen das späte Kaiser- schen Sowjetunion, dann finden sich überall die fördernden
reich und die Weimarer Republik die Bildungswege zum sozia- Momente des sozialen Aufstiegsversprechens, des Elitenwech-
len Aufstieg geebnet hatten, standen Anfang der 1930er-Jahre sels und – damit verbunden – der Selbstermächtigung eines
plötzlich vor dem Nichts. Sie wurden ganz überwiegend zu sozial oder ethnisch definierten Großkollektivs zum historisch
Hitlers jungen Männern, sie bildeten die neue Nazi-Elite. überlegenen Subjekt, dem die Gestaltungsmacht für die Zu-
kunft zustehe. Auf diese Weise ließen sich im 20. Jahrhundert
Heißt das, der Antisemitismus in Deutschland entstand aus viele Millionen Menschen mobilisieren und auf Wege führen,
Bildungsneid? auf denen sie mithilfe von Gewalt den sozialen Aufstieg abzu-
Nicht nur, aber auch. Es ging natürlich nicht nur um Bildung kürzen hofften. Die damit verbundenen Fragen sind wichtig,
als solche, sondern um die überdurchschnittlichen und im um das insgesamt mörderische 20. Jahrhundert besser zu ver-
Rückblick höchst beeindruckenden geschäftlichen, wissen- stehen. Nur so lässt sich daraus im präventiven Sinne lernen.
schaftlichen und künstlerischen Erfolge von Juden. Wenn man
auf jemanden neidisch ist – ich zum Beispiel auf jemanden, der Was bedeutet Ihre Aufstiegsthese im Hinblick auf die aktuelle
ein Buch über Kolonialismus schreibt, das sich zehnmal besser Diskussion – ob man das als Historikerstreit bezeichnen will
verkauft als meines –, dann erkläre ich öffentlich nicht, ich sei oder nicht – um die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen?
grün und gelb vor Neid, sondern erfinde: »Ach, der weiß nicht Die Kolonialverbrechen sind gemessen an dem, was unter dem
mal, wie man eine Fußnote setzt, im Text wimmelt es von Stichwort Holocaust zusammengefasst wird, kleiner und an-
Schlampigkeiten, ein Möchtegernhistoriker, der keine Ahnung ders. Bei den sogenannten Strafexpeditionen in den Kolonien
von den wirklich zentralen Fragen hat; er schreibt flüssig-süffig, hat es immer den Befehl gegeben: »Weiber und Kinder sind zu
aber derart oberflächlich, dass man nicht entfernt von einer schonen.« Was deutsche Truppen dort an schweren und
wissenschaftlichen Studie sprechen kann. Wohingegen ich, be- schwersten Verbrechen begangen haben, zielte nie auf die Aus-
wusst langsam, jahrelang und verantwortungsvoll an einem rottung einer ganzen wehrlosen Menschengruppe, sondern
Standardwerk gearbeitet habe, genau recherchierend und tief- hatte immer mit der Bekämpfung von Aufständen und damit
gründig.« So drückt sich Neid aus und wandelt sein Gesicht. verbunden mit der Statuierung mörderischer Exempel zum
Der Beneidete wird moralisch und als Mensch diskreditiert. Im Zweck der Generalprävention zu tun: ein Dorf vernichten, alles
Fall von Großgruppen – hier: Arier contra Juden – kommt noch niederbrennen, damit die anderen zehn Dörfer parieren und auf
hinzu, dass sich die geistig trägere Gruppe als kollektiv überle- den Plantagen arbeiten. Das ist mörderisch – aber solche Mas-
gen betrachten kann. Die Phänomene des verschämten und senmordtaten folgen einem anderen Prinzip und auch anderen
massenhaften Neides können deutsche geisteswissenschaftli- Zielen als die kollektive Ermordung der europäischen Juden.
che Fakultäten, insbesondere die dort beschäftigten Historiker, Ich bin sehr dafür, dass man den deutschen Kolonialismus bes-

20 HOHE LUFT
w
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

ser erforscht und auch Wissenschaftler und Aktivistengruppen so tun, als seien »die Nationalsozialisten« uns völlig fremde
aus den ehemaligen deutschen Kolonien bewusst und gleich- Marsmenschen gewesen, unsympathisch, ausstaffiert mit SS-
rangig einbezieht. Aber eine Forderung wie »Decolonize Mützen und Stiefeln, dann wird das Normale unsichtbar ge-
Auschwitz!«, die ja ernsthaft erhoben wird, halte ich für ver- macht. Der israelische Historiker Yehuda Bauer hat in seiner
rückt! Wer das will, zieht meinen Zorn auf sich. Gedenkrede im Deutschen Bundestag 1998 gesagt: »Das
Fürchterliche an der Shoah ist eben nicht, dass die Nazis un-
Wie sollte Erinnerungskultur heute aussehen? menschlich waren; das Fürchterliche ist, dass sie menschlich
Erinnerungspolitik hat immer etwas mit der Gegenwart zu tun. waren – wie Sie und ich. Wenn wir sagen, dass sie anders waren
Sie muss von der gesellschaftlichen Basis getragen werden und als wir und dass wir in Ruhe schlafen können, denn die Nazis
vor allem auch im Kleinen stattfinden. Ich war vor einigen Jah- waren Teufel, und wir sind eben keine Teufel, weil wir keine
ren im hinterpommerschen Kolberg, dem heute polnischen Nazis sind, so ist das eine billige Ausflucht.« Ich war in meiner
Kołobrzeg. Die kleine Stadt wurde gegen Ende des Zweiten Jugend umgeben von Leuten, die ich später bei meinen For-
Weltkriegs zur sogenannten Reichsfestung erklärt und deshalb schungen sozusagen wiedergetroffen habe. Ob das unser Haus-
stark zerstört. Die Deutschen wurden vertrieben, dann besie- arzt oder der Architekt unseres Eigenheims waren, mein Biolo-
delten ebenfalls vertriebene Polen die Stadt und bauten sie wie- gielehrer, einer meiner Großväter, vier meiner Lehrer auf der
der auf. Heute sind mitten in Kolberg einige Grabsteine des Deutschen Journalistenschule und viele mehr. Der Hausarzt
ehemaligen, von Deutschen zerstörten Friedhofs wieder aufge- war Lazarettarzt in Russland gewesen, der Architekt beim Ge-
stellt. Da wird der jüdischen Bürger dieser einst deutschen neralplan Ost für die Bauplanung zuständig, die Lehrer an der
Stadt gedacht. Dann geht man ein Stück weiter, gelangt in einen Deutschen Journalistenschule hatten in beachtlicher Zahl in
öffentlichen Park. Ich dachte sofort: Das muss ein Friedhof ihrer ersten Karriere für Goebbels gearbeitet, in der zweiten für
gewesen sein. Und in der Tat stand ich auf dem einstigen deut- die »Süddeutsche Zeitung«. Auch diese direkten Erinnerungen
schen Hauptfriedhof, und mittendrin haben Bürger des heuti- müssen verblassen. Das motiviert mich, weiterhin darüber zu
gen Kołobrzeg wieder eine Reihe deutscher Grabsteine errich- schreiben und zu sprechen, denn ich kannte diese Leute, ich
tet und damit an die vertriebenen Bürger der Stadt erinnert. weiß noch, wie die Stimmung nach dem Krieg war: diese selt-
Auch ich habe Vorfahren aus Kolberg. Dergleichen geschieht same Kälte, dieses Nichtreden, die Reduktion des Krieges und
und findet sich heute überall in Europa. Äußerlich handelt es seiner Verbrechen auf Anekdoten. Meine Lehrer pflegten einen
sich um kleine Gesten, geschichtspolitisch um Großtaten. Auch Arm, ein Bein oder ein Auge weniger zu haben. In der deut-
im Fall des Kolonialismus kann nach diesem Prinzip unerwar- schen Nachkriegsgesellschaft steckten noch sehr viel kriegeri-
teter und miniinvasiver Konfrontation verfahren werden. Es sche Restaggression, Verstocktheit und Selbstmitleid. •
fördert das Erstaunen, das Nachdenken und die Einsicht. Wir

LEKTÜRE
haben in Berlin gerade das Humboldt Forum eröffnet. Laden
wir doch Gruppen von Zuwanderern, die jetzt in Deutschland
leben und zum Teil auch deutsche Staatsbürger werden möch-
ten, dazu ein, neben den sogenannten »Objekten« etwas _
G Ö T Z A LY
über den Kolonialismus zu erzählen und zu dokumentieren,
das hier Vorhandene mit anderen Erfahrungen und anderem Das Prachtboot: Wie Deutsche die Kunst-
Wissen zu konfrontieren. schätze der Südsee raubten
S. FISCHER, 2021

Was wird sich ändern, wenn die letzten Zeitzeugen des Lebendiger und wichtiger Debattenbeitrag zu

NS bald verstorben sein werden, wenn von den Opfern wie Kolonialismus, Rassismus und Raubkunst.
von den Tätern niemand mehr lebt? _
Die Erinnerung wird verblassen. Allerdings gibt es jetzt das G Ö T Z A LY
sehr beeindruckende Archiv der Spielberg Foundation, die mit Europa gegen die Juden 1880–1945
mehr als 80 000 Überlebenden der Shoah lange lebensge- S. FISCHER, 2017
schichtliche Video-Interviews führen ließ. Großartig, dass wir G esamtdarstellung des europäischen Antisemitismus als
diese Ton- und Sprechzeugnisse, diese vielen Erinnerungen ha- grenzüberschreitendes Phänomen.
ben. Das ist ein erheblicher Unterschied zum Dreißigjährigen _
Krieg oder zu den Napoleonischen Kriegen. Natürlich verän- G Ö T Z A LY
dert sich das Erinnern mit der Zeit. Im Hinblick auf die Shoah Hitlers Volksstaat: Raub, Rassenkrieg und
besteht die Gefahr der rituellen Erstarrung. Für mein Teil ver- nationaler Sozialismus
suche ich, diese Gefahr zu verringern, indem ich immer wieder FISCHER, 2005
auf das uns Heutigen Nahe, Verständliche im Bösen hinweise. Über die mit sozialpolitischen Wohltaten und
Wenn die Fernsehanstalten und Gedenkstätten immer wieder Steuergeschenken operierende NS-»Gefälligkeitsdiktatur«.

HOHE LUFT 21

SCHWERPUNKT GESCHICHTE

AUF PLESSNERS SCHULTERN


DER PHILOSOPH HELMUTH PLESSNER PRÄGTE FRÜH
DEN STREIT UM DEN »DEUTSCHEN SONDERWEG« – UND
ZWAR AUF EINEM GEDANKLICHEN NIVEAU, DAS AUCH
IN DER HEUTIGEN DEBATTE NICHT UNTERSCHRITTEN
WERDEN SOLLTE. TEXT: HEINRICH AUGUST WINKLER
IM JAHRE 1935 ERSCHIEN in Zürich das Buch »Das Schicksal zeit fremd gegenübergestanden: »Als Nationalstaat zu jung,
deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche« als Reich eine nicht gegenwärtige, zwischen Erinnerung und
des deutschen Philosophen Helmuth Plessner (1892–1985), der Erwartung gehaltene Größe, sah es sich in seiner geschicht­
seit 1934 im niederländischen Exil lebte und lehrte. Es war ein lichen Selbstauffassung durch die Auflösung des christlichen
früher Versuch, die Errichtung der nationalsozialistischen Dik- und nachchristlichen Geschichtsbildes im Zuge der fort­
tatur in einen großen historischen Zusammenhang einzuordnen, schreitenden Verweltlichung in seinem geistigen Lebensnerv
ja aus gewissen Besonderheiten des Verlaufs der deutschen getroffen.«
Geschichte zu erklären. Die deutsche Wirkungsgeschichte des
Buches begann freilich erst rund ein Vierteljahrhundert später, ÄHNLICH WIE ZEHN JAHRE SPÄTER, im Mai 1945, Thomas
als Plessner, inzwischen Inhaber eines Lehrstuhls für Soziolo- Mann (1875–1955) in seiner Washingtoner Rede »Deutschland
gie in Göttingen, 1959 sein Werk unter dem Titel »Die verspä- und die Deutschen«, deutete Plessner die lutherische Prägung
tete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes« in des deutschen Denkens, die Philosophie des deutschen Idealis-
zweiter Auflage vorlegte. mus und die deutsche Romantik als befreiend und belastend
In der Einführung zur Neuauflage fasste Plessner seine zugleich. Die Tradition der deutschen Innerlichkeit bildete für
Kernthese prägnant zusammen: Die Formung des deutschen ihn den tieferen Grund für die Abwehr wesentlicher Teile des
Selbst- und Leitbildes gehöre dem 19. Jahrhundert an und sei normativen Erbes der atlantischen Revolutionen des späten
von seiner Geistesgeschichte und deren Voraussetzungen nicht 18. Jahrhunderts, obenan der Ideen der unveräußerlichen Men-
zu trennen. »Die wesentliche Differenz zwischen den Deut- schenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen
schen und den Völkern des alten Westens, die ihre national- Demokratie, durch das deutsche Bildungsbürgertum. Folge-
staatliche Basis im 16. und 17. Jahrhundert gefunden hatten richtig stellte Plessner seiner Einführung von 1959 jenen Pas-
und auf ›goldene Zeitalter‹ zurückschauen können (was wir sus aus Manns Rede voran, in dem sich der Dichter zu seiner
nicht können), liegt in dieser Zeitverschiebung, die eine innere Überzeugung bekannte, »dass es nicht zwei Deutschland gibt,
Verbindung zwischen den Mächten der Aufklärung und der ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes
Formung des Nationalstaates in Deutschland verhindert hat.« durch Teufelslist zum Bösen ausschlug«.
In obrigkeitsstaatlichen Verhältnissen erzogen, habe Wenige philosophische Bücher dürften in den Jahren
das deutsche Bürgertum dem revolutionären Geist der Neu- um 1960 fachübergreifend so viele intellektuelle Debatten aus-

22 HOHE LUFT
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

gelöst haben wie Plessners »Verspätete Nation«. Ralf Dahren- grierten deutschen Historikers Hajo Holborn, in seinem von
dorf (1929–2009) berief sich in seinem viel gelesenen, 1965 Dahrendorf breit rezipierten Buch »The German Idea of Free-
­erschienenen Buch »Gesellschaft und Demokratie in Deutsch- dom« (1957) zum Gegenstand einer eindringlichen, bis in die
land« immer wieder, wenn er auf spezifische Vorbelastungen Reformationszeit zurückreichenden ideen- und politikgeschicht­
des deutschen Verständnisses von Freiheit zu sprechen kam, lichen Untersuchung gemacht hat.
auf Plessner. Da es in der Geschichte keine Normalwege gibt und alle
Als Jürgen Habermas 1986 auf dem Höhepunkt des Geschichte als eine Geschichte von Sonderwegen betrachtet
»Historikerstreits« um die Einzigartigkeit der nationalsozialisti- werden kann, spricht manches für die Kritik am Begriff des
schen Judenvernichtung die »vorbehaltlose Öffnung der Bun- »deutschen Sonderwegs«. Durchschlagend ist sie dennoch
desrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens« die nicht. Denn wer wollte bestreiten, dass es Sonderwege gibt, die
»große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit« nannte, »besonderer« sind als die anderen? Gerade vor dem Hinter-
auf die gerade seine Generation stolz sein könnte, fasste er eine grund der historischen Zugehörigkeit Deutschlands zum alten
Entwicklung zusammen, zu der kaum ein anderer Denker so Okzident fallen die Unterschiede zur Entwicklung der großen
viel beigetragen hat wie der knapp vier Jahrzehnte ältere westeuropäischen Nationen ins Auge.
Plessner. Der These von der verspäteten Nation attestierte Kosel-
leck, sie sei eine »alternativlose Teleologie ex post«. Der These
WIDERSPRUCH BLIEB NICHT AUS. 1998, 13 Jahre nach Pless- vom deutschen Sonderweg hielt er vor, sie suggeriere »eine
ners Tod, erschien, zunächst auf Niederländisch, ein Vortrag zwangsläufige Kausalkette ex ante, die unentrinnbar in die
Reinhart Kosellecks (1923–2006), in dem dieser grundsätzliche schuldhaft verursachte Katastrophe führen musste«.
Einwände gegen die These von der »verspäteten Nation« erhob. Der Vorwurf des Determinismus trifft jedoch weder
»Verspäten kann sich nur, wer seinen Fahrplan nicht einhält«, Plessner noch die meisten »Sonderwegshistoriker«. Sie behaup-
postulierte er. »Aber wer befindet über den Fahrplan, der gar ten nicht die Unvermeidbarkeit der Machtübertragung an Hitler,
von einer ›Nation‹ eingehalten werden soll?« Die Kritik bezog sondern fragen nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit und
sich nicht auf den differenziert gewürdigten Inhalt der Erst­ damit zugleich nach der Vermeidbarkeit des Ereignisses vom
fassung von Plessners Buch, sondern auf den Titel der zweiten 30. Januar 1933.
Auflage, und sie traf zu. Zudem drängte sich ein anderer begriff-

WIE ERINNERN?
licher Einwand auf: Nicht die deutsche Nation hatte sich beson-
ders spät herausgebildet. Es war vielmehr der deutsche Natio-
nalstaat, der wesentlich später entstand als der französische,
britische oder spanische.
Doch Koselleck ging weiter. Er wandte sich gegen die Helmuth Plessner hat die Diskussion um den historischen Ort
These vom »deutschen Sonderweg« in die Moderne (einen von der deutschen Katastrophe auf ein philosophisches Niveau ge-
Plessner nicht verwandten Begriff), wie sie inzwischen, mit oder hoben, das die Geschichtswissenschaft nicht unterschreiten
ohne Berufung auf Plessner, von vielen deutschen Historikern sollte. Zu dieser Feststellung besteht angesichts manch neue-
vertreten wurde. Gemeint ist damit das Ausbleiben einer erfolg- rer Beiträge zum Streit um den deutschen Sonderweg Anlass.
reichen bürgerlichen Revolution im Deutschland des 19. Jahr- Darüber, dass das deutsche Kaiserreich nicht nur ein Obrig-
hunderts und die Langlebigkeit obrig- keitsstaat war, sondern auch seinen
keitsstaatlicher Prägungen der deutschen Platz in der deutschen Demokratie­
Gesellschaft und des deutschen Denkens,
die wesentlich zur Niederlage der demo-
kratischen Kräfte der Weimarer Republik _
BIOGRAFIE geschichte hat, braucht heute nicht
mehr gestritten zu werden.
Notwendig aber ist die Erinne-
und dazu beitrugen, dass Deutschland als Heinrich August Winkler, geboren 1938, rung an das Fortwirken tief sitzender
einziges hoch entwickeltes Industrieland zählt zu den bedeutendsten deutschen deutscher Vorbehalte gegenüber den
des Westens im Zuge der Weltwirtschafts- Historikern. Mit seinen Veröffentlichun- normativen Errungenschaften des trans-
krise nach 1930 sein demokratisches gen, unter anderem zur Weimarer atlantischen Westens in der ersten deut-
­System durch die radikalste Form einer Republik, seinen Büchern »Der lange schen Demokratie, der Republik von
faschistischen Diktatur ersetzte. Weg nach Westen« (2000) und Weimar, also das »Hinausgehen über den
Der »deutsche Sonderweg« be- »Geschichte des Westens« (2009), zeitgeschichtlichen Horizont der 30er-
zeichnet letztlich also nichts anderes, als prägt er bis heute die öffentliche Jahre«. Es war Plessner, der in der Ein-
jene »deutsche Abweichung« (German Debatte über die deutsche Geschichte. führung zur Neuauflage seines Buches
­divergence) vom Westen, die der amerika- Jüngst erschien von ihm das Buch über die Verführbarkeit bürgerlichen
nische Historiker Leonard Krieger (1918– »Deutungskämpfe: Der Streit um die Geistes diese Einsicht formulierte. Sie ist
1990), ein Schüler des in die USA emi­ deutsche Geschichte« (C. H. Beck, 2021). heute nicht weniger aktuell als 1959. •

HOHE LUFT 23
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

Der
GEschichts-
Skeptiker
DER JÜDISCHE PHILOSOPH KARL LÖWITH
WEHRTE SICH GEGEN EIN DENKEN, DAS DEN
MENSCHEN UND DIE WELT AUS DER
GESCHICHTE HERAUS VERSTEHEN WILL,
DA ES LEICHT IN DIE EXTREME FÜHRT.
LEIDER GERIET SEINE SKEPSIS VIELFACH IN
VERGESSENHEIT. TEXT: THOMAS VAŠEK;
ILLUSTRATION: KATJA FOOS
24 HOHE LUFT
R
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

om, April 1936. Im italienisch-deutschen Kultur­ ­ öwiths. Es ist das Lebensthema eines Mannes, der selbst den
L
institut hält Martin Heidegger (1889–1976) einen verbrecherischen Auswüchsen eines solchen Denkens ausge-
Vortrag über Hölderlin und das »Wesen der Dich- liefert war. Zeitlebens blieb Löwith misstrauisch gegen jeden
tung«. Anschließend besucht der weltberühmte Glauben an einen »Zeitgeist«, ob Hegelscher, Marxscher oder
Philosoph seinen einstigen Schüler Karl Löwith Heideggerscher Provenienz. In »Marxismus und Geschichte«
(1897–1973) in dessen Wohnung. Es geht zum schreibt er: »Wenn uns die Zeitgeschichte aber irgendetwas
Abendessen mit dem Direktor des Instituts; politi- lehrt, dann offenbar dies, dass sie nichts ist, woran man sich
sche Themen werden vermieden. Am nächsten Tag macht halten und woran man sein Leben orientieren könnte.«
­Löwith mit Heidegger, dessen Frau und zwei Kindern einen
Ausflug nach Frascati und Tusculum, er freut sich »trotz un­
vermeidlicher Hemmungen«. Es wird für viele Jahre das letzte
ZEITLEBENS RANG
Zusammentreffen der beiden sein.
Die ganze Zeit über habe Heidegger sein NSDAP-Ab­
KARL LÖWITH UM
zeichen nicht abgelegt, erinnert sich Löwith, der als Jude in
Deutschland seit 1935 unter die Nürnberger Gesetze fällt und
GELASSENE DISTANZ
gerade erst seinen Lehrauftrag in Marburg verloren hat. Es sei In der Philosophie des 20. Jahrhunderts zählt Karl Löwith bis
Heidegger offenbar »nicht in den Sinn gekommen, dass das heute zu den weniger bekannten Figuren, trotz eines äußerst
Hakenkreuz nicht am Platz war, wenn er mit mir einen Tag ver- umfangreichen Werks. Die erste umfassende Löwith-Biografie
brachte«, notiert Löwith 1940 in seinem autobiografischen Be- von Enrico Donaggio ist eben erst auf Deutsch erschienen, fast
richt »Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933«. Man 20 Jahre nach der italienischen Erstausgabe. Stets stand Löwith
unterhält sich über Italien, die gemeinsame Zeit in Freiburg, im übergroßen, dunklen Schatten Martin Heideg­ gers. Dass
über philosophische Fragen. Über die Verhältnisse in Deutsch- ­Löwiths Philosophie in Deutschland von einer breiteren Öffent-
land schweigt das Ehepaar Heidegger. lichkeit bis heute wenig wahrgenommen wird, hängt zum einen
Auf dem Rückweg fasst sich Löwith ein Herz und mit seiner Lebensgeschichte zusammen, die geprägt war von
spricht den einst bewunderten Lehrer auf eine Kontroverse in einer fast 20-jährigen Flucht, die ihn von Italien über Japan bis
der »Zürcher Zeitung« an, in der es um Heideggers NS-Engage- in die USA führte, ehe er 1952 einen Ruf an die Universität Hei-
ment geht. Er, Löwith, sei der Meinung, dass Heideggers Par- delberg bekam, wo er bis zu seiner Emeritierung 1964 lehrte.
teinahme für den Nationalsozialismus »im Wesen seiner Philo- Zum anderen liegt es aber vielleicht auch am nüchtern-skepti-
sophie«  liege. Heidegger habe »ohne Vorbehalt«  zugestimmt, schen Grundzug seines Denkens, das sich gegen pseudoreli­
die Grundlage für seinen politischen »Einsatz« sei sein Begriff giöse Heilsversprechen ebenso richtet wie gegen ein existen­
der »Geschichtlichkeit« gewesen. Und er sei weiterhin über- zielles Pathos im Stile Heideggers. Zeitlebens rang Löwith um
zeugt, dass der Nationalsozialismus der für Deutschland »vor- jene gelassene Distanz, die man ihm bis heute nachsagt. Sein
gezeichnete Weg« sei, man müsse nur lange genug »durchhal- geschichtsphilosophisches Denken ist untrennbar verbunden
ten«, so Löwith in seinen Erinnerungen. mit den existenziellen Fragen, die ihn fortwährend beschäfti-
Für Karl Löwith ist Heideggers NS-Engagement die gen – mit dem Verhältnis zu anderen Menschen, der Angst vor

K
Konsequenz einer Philosophie, die das »Sein« aus der »Zeit« er- dem Leben, der Suche nach Sinn.
klärt – und die schließlich ebenjener geschichtlichen Faktizität
verfällt, an der sie sich orientiert, wenn der vermeintlich ent- arl Löwith wird 1897 in München geboren, als ein-
scheidende »Augenblick« da ist. Von der Machtergreifung der ziger Sohn eines erfolgreichen Kunstmalers, eines
Nationalsozialisten erwartete sich Heidegger einen metaphysi- konfessionslos gewordenen Juden aus Mähren;
schen Aufbruch, die Überwindung des seinvergessenen Nihi- die Mutter ist eine Jüdin aus Wien. Der kleine Karl
lismus der modernen Welt. selbst wird protestantisch getauft. Er wächst auf
In seiner berüchtigten Antrittsrede als von den Nazis ein- in wohlbehüteten, gutbürgerlichen Verhältnissen,
gesetzter Rektor der Universität Freiburg sprach er 1933 von der man besitzt eine großzügige Stadtwohnung und
»Unerbittlichkeit jenes geistigen Auftrags, der das Schicksal des eine Sommervilla am Starnberger See. Vater und Sohn können
deutschen Volkes in das Gepräge seiner Geschichte zwingt«. nicht viel miteinander anfangen. Der Sohn spottet über die
Später wird Löwith argumentieren, dass Heideggers Denken im dekorativen »Bildchen« von »Rokokoherren und Kardinälen«,
Grunde nie über den Horizont heilsgeschichtlicher Erwartung mit denen der Vater gutes Geld verdient, während er selbst
hinausgekommen sei, die die Moderne von der jüdisch-christ­ Kant, Fichte und Nietzsche liest.
lichen Religion übernommen habe. »Einig waren sie sich nur darin, daß jeder die Geistes-
Die Skepsis gegen jegliches »geschichtliche« Denken, richtung des andern mißbilligte«, schreibt Löwith in seinem
gegen die Vorstellung von einem höheren Sinn oder Ziel der autobiografischen, erst postum veröffentlichten Roman »Fiala.
Geschichte – das ist das philosophische Lebensthema Karl Die Geschichte einer Versuchung« (1926), der von seiner

HOHE LUFT 25
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

J­ ugendzeit erzählt. Man kann »Fiala« als philosophischen Ent- Endlich« steckt Edmund Husserl (1859–1938) – und der charis-
wicklungsroman ebenso lesen wie als Versuch der Selbstthera- matische »Professor Ansorge« ist natürlich niemand anderer
pie. Es geht um die inneren Konflikte eines jungen Mannes, der als Martin Heidegger. Später wird Löwith erkennen, dass es »in
in einer zerfallenden Welt nach Halt und Gleichgewicht sucht. Zeiten der Auflösung verschiedene Arten von ›Führern‹ gibt,
Hugo Fiala alias Karl Löwith ist getrieben von innerer die sich nur darin gleichen, dass sie das Bestehende radikal
Unruhe, auf der verzweifelten Suche nach dem Sinn seiner verneinen und entschlossen sind, einen Weg zu dem ›Einen,
Existenz. Es zerreißt ihn zwischen wissenschaft­lichen Neigun- was not tut‹ zu weisen«. In dieser Hinsicht gleichen sich George
gen und ästhetischer Schwärmerei, zwischen übersteigerter und Heidegger.
Sensibilität und nüchternem Verstand. Überall sieht er »das
Kritische, das Problematische, das Negative«, während er sich
zugleich nach tiefer, exklusiver Freundschaft sehnt. Mit radika-
ANFANGS BETTELT LÖWITH
ler Skepsis versucht Fiala, seinen »hautlos empfindsamen Ge-
fühlsorganismus« vor einer Wirklichkeit zu schützen, die ihn
FAST UM HEIDEGGERS
zu überwältigen droht.
Aus Enttäuschung über das Ende einer Freundschaft
ANERKENNUNG, WILL DEN
meldet er sich als Kriegsfreiwilliger. Er wird schwer verwun- LEHRER NICHT ENTTÄUSCHEN
det; in italienischer Kriegsgefangenschaft liegt er ein halbes
Jahr todkrank im Lazarett, wo er lernt, dass es »schwerer sei zu Als der junge Löwith nach dem Krieg vor der Wahl steht, sich
leben als zu sterben«. Nach seiner Rückkehr gerät er erst in dem Münchner George-Kreis anzuschließen oder nach Frei-
die Nähe eines charismatischen Dichters, der seine Jünger in burg zu Heidegger zu gehen, der sich als Assistent Husserls
den »Bann besinnungsloser Verehrung« zieht, doch Fiala ­einen Namen gemacht hat, entscheidet er sich für Heidegger.

A
widersteht. Rasch gerät er in den Sog von dessen Denken. Anfangs bettelt
Löwith fast um Heideggers Anerkennung, er will den Lehrer
n der Universität trifft er auf »zwei Entdecker nicht enttäuschen, und aus seinen Briefen sprechen tiefe
der Wahrheit«, von denen der eine, ein »Geheim- Selbstzweifel (»Was meinen Sie überhaupt? Habe ich das Zeug
rat Endlich«, in ebenso »prophetischen wie zum Philosophen? (...) Die innere überquellende Gedanken­
professoralen« Worten verkündet, dass seine
­ produktivität verspüre ich nicht«). In ihren Briefen ziehen die
­Analyse des Zeitbewusstseins das Problem der beiden über ihren Lehrer Husserl alias »Geheimrat End-
Unsterblichkeit lösen werde. Fiala fühlt sich an lich« her, der nie »auch nur eine Sekunde seines Lebens Philo-
einen Geisteskranken in einer psychiatrischen soph« gewesen sei, wie Heidegger einmal schreibt, erst viel
Klinik erinnert, der eine »Lebensmaschine« erfunden haben später wird Löwith in Husserl einen »großen Erforscher des
will, mit dem Unterschied, dass »der Erstere frei herumlief und Kleinsten« erkennen. Doch in Löwiths Briefen an Heideg­ger
mit seinen Wahnideen gesunde Köpfe in Verwirrung brachte, in den frühen 20er-Jahren blitzen manchmal auch die Fragen
der Letztere aber nicht«. auf, die den sensiblen jungen Mann persönlich bedrängen:
Einen noch stärkeren Eindruck auf Fiala macht ein klei- »Das Verhältnis zu Menschen – genauer ›Freundschaft‹ – ist
ner Mann mit »hinterlistigen« Gesichtszügen in schwarz-rot ka- für mich von jeher der andere Stachel im Fleisch – die Philoso-

E
rierter Bauernjoppe, genannt »Professor Ansorge«, der in eisi- phie der eine.«
ger Kälte zu arbeiten pflegt und dessen Denken um das
»Problem des Todes« kreise, bei dem es jedoch nicht um den s gehöre zum Sinn des menschlichen Lebens,
»vulgären« Tod, das bloße »Ableben« gehe, sondern um ein phi- »in der Welt von seinesgleichen« zu sein, schreibt
losophisches Vorwegnehmen, durch das dieser »merkwürdige der junge Löwith in seinem »Fiala«-Roman:
Denker« zu verhindern suche, dass »sein höchsteigenes Dasein »Niemand kann sich selbst tragen.« Das ist spä-
jemals noch durch irgend etwas überholt werden könne«. Für ter auch der Grundgedanke seiner Habilita­
die »Angst vor dem Leben« hingegen sei in diesem Denken kein tionsschrift »Das Individuum in der Rolle des
Platz, obwohl diese doch viel fundamentaler sei als die »christ- Mitmenschen«, in der er sich auch kritisch mit
lich infizierte Angst vor dem Tode«, der in dieser Philosophie der dürftigen Rolle des »Mitseins« in Heideggers Hauptwerk
nichts Friedvolles habe: »Friedlosigkeit war auch der Grundzug »Sein und Zeit« auseinandersetzt. Der Betreuer von Löwiths
dieses in sich verkrampften und fanatischen Denkers, dessen Habilitation ist Heidegger selbst. Doch die Entfremdung zwi-
Wahrheiten so unfrei waren wie ihr freudloser Verkünder.« schen beiden hat längst begonnen.
Die Protagonisten in Löwiths Roman lassen sich un- Bis 1933 lässt sich Löwiths Leben zumindest äußerlich
schwer entschlüsseln. Die Dichtersekte, der er sich über seine als mehr oder minder typische akademische Biografie der Zeit
Freundschaft mit Percy Gothein annähert, ist der Kreis um Ste- beschreiben. Doch mit Hitlers Machtergreifung ändert sich
fan George (1868 –1933), hinter dem versponnenen »Geheimrat für ihn alles. Mit einem Mal wird er wegen seiner Zugehörig-

26 HOHE LUFT
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

keit zu einem Volk verfolgt, die für ihn bislang praktisch keine versetzt uns in ein Vakuum, das nur Hoffnung und Glaube aus-
Rolle gespielt hat. Plötzlich beginnt der Lebenslauf eines »Ge- zufüllen vermögen.« Die Griechen waren aus ­Löwiths Sicht
jagten, der von seiner Natur auf Kontemplation eingestimmt bescheidener. Sie maßten sich nicht an, den ­letzten Sinn der
war« (Reinhart Koselleck). Man kann Löwiths Denken von Weltgeschichte zu ergründen, sondern waren »von der sicht-
nun an auch als das Bemühen verstehen, trotz allem die sto- baren Ordnung und Schönheit des natürlichen Kosmos
isch gelassene Distanz gegenüber der Wirklichkeit zu wahren, griffen«, von einem ewigen Kreislauf des Werdens und
er­
­

I
um die er schon in seiner Jugend so gekämpft hat. Es wird Vergehens.
seine Lebensfrage werden: Wie kann man Abstand zum ge-
schichtlichen Geschehen der Zeit gewinnen, nicht als gläubi- n Heideggers Philosophie sieht Löwith am Ende bloß die
ger Mensch, sondern als frei denkender Philosoph? negative Variante ebenjener Heilseschatologie – das pseu-
  Im japanischen Exil stößt Löwith 1939 auf ein Buch, doreligiöse Versprechen eines »Neuanfangs« in einer
das ihn tief bewegt – es ist der »Stern der Erlösung« (1921), Welt, die immer tiefer in der »Seinsvergessenheit« ver-
das Hauptwerk des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig sinkt. In seinem 1953 erschienenen Buch »Denker in dürf-
(1886–1929). Es handelt von der religiösen Erfahrung der tiger Zeit« rechnet er noch einmal ab mit dem »Mysten
Wirklichkeit. Am Anfang steht die nackte, endliche Existenz, des Seins«, der von sich glaubt, nur er kenne »das Eine,
die Angst vor dem Tod, die von der Philosophie stets verdrängt was Not tut«, wie Löwith schreibt: »Es ist vorzüglich dieser
worden sei. Erlösung findet der Mensch am Ende nur in der ­religiöse Unterton eines eschatologischen Bewusstseins, auf
Gemeinschaft. Die einzige Gemeinschaft aber, die immer dem die Faszination von Heideggers Denken beruht.« Heideg­
schon am Ziel ist, die immer schon im Horizont der Ewigkeit ger selbst reagiert gekränkt, in einem Brief an seine frühere
lebt, das ist für Rosenzweig das jüdische Volk, wie Löwith Geliebte Elisabeth Blochmann schreibt er über Löwith: »Seit
schreibt: »Die Zeitlichkeit des irdischen Daseins bedeutet Langem lebt er über seine Verhältnisse. Vom Denken hat er
für das jüdische Volk keinen Kampf auf Leben und Tod keine Ahnung, vielleicht hasst er es.«
mit dem geschichtlichen Schicksal der Welt, sondern ein Löwith hat genug von pseudoreligiösen Visionären wie
Wandern und Harren wobei es in jedem Augenblick die Voll­ George oder Heidegger, die ihren Anhängern illusionäre Hoff-
endung vorwegnimmt, ein eigentliches Wachsen und Ver­ nungen machen, die »auf radikale Fragen extreme Antworten

D
gehen kennt es nicht.« geben«. Aber auch Rosenzweigs Gedanke vom »ewigen Volk«,
das immer schon in seiner Erlösung lebt, bietet für ihn, den
ie Geschichte verliere für den Juden den Ernst agnostischen Juden, keine Alternative. 
und das Gewicht, das sie für die anderen Völker Der Ausweg liegt für Löwith in einem Skeptizismus, der
besitze, denn dem Gottesvolk sei die Ewigkeit sich an die Grenzen des Wissbaren hält, der nicht auf dogmati-
jederzeit gegenwärtig. Es ist dieser Horizont sche, vorschnelle Antworten zielt, sondern die Fragen offen-
der Ewigkeit, in dem hält: »Was der Mensch wissen kann, ist
Löwith den schärfsten
­ nicht, dass es in Bezug auf die Welt, zu
Kontrast zu Heideggers
­
­»Geschichtlichkeit« sieht. In der Ausein-
andersetzung mit Rosenzweig dämmert _
LEKTÜRE der auch der Mensch gehört, zeitlose
Wahrheiten gibt, sondern dass es, im
Unterschied zu der jeweiligen geschicht-
ihm der Gedanke, dass hinter aller mo- KARL LÖWITH lichen Situation einer bestimmten Zeit –
dernen Geschichtsphilosophie, die nach Mein Leben in Deutschland Immerwährendes gibt, das sich zu allen
dem Sinn von Geschichte fragt, ein ver- vor und nach 1933 Zeiten bewährt, weil es das Wahre ist.
kapptes religiöses Denken steckt – ein J .  B . M E T Z L E R , 2 0 0 7 Was immer ist, ist nicht zeitlos; was sich
Denken, das schließlich in Extreme Löwiths packender Lebensbericht immer gleich bleibt, ist nicht zeitlich.«
führt. Alle Geschichtsphilosophie, allen aus dem Jahr 1940 über seine Für den Humanisten Löwith
voran die von Hegel und Marx, gründet Erfahrungen als Deutscher und Jude braucht es keine weiteren Illusionen, mit
nach Löwith letztlich in der jüdisch- in der Zeit vor und nach Hitlers denen wir uns über die Fragilität unserer
christlichen Religion, die Geschichte als ­Machtergreifung. Existenz hinwegzutäuschen versuchen.
Heilsgeschehen deutet. Schon deswe- _ Es sei ihm vielleicht gelungen, schreibt
gen kann Geschichtsphilosophie keine E N R I C O D O N AG G I O Biograf Enrico Donaggio, »menschlich
Wissenschaft sein, argumentiert Löwith Karl Löwith: Eine philoso­ zu leben, ohne an etwas zu glauben oder
in seinem Buch »Weltgeschichte und phische Biographie auf etwas zu hoffen«. In den Worten
Heilsgeschehen« (1953): »Nach dem J .  B . M E T Z L E R , 2 0 2 1 ­Löwiths: »Wer nicht in seinem eigenen,
letzten Sinn der Geschichte ernstlich zu Die erste umfassende intellektuelle kurzen Leben einen ›Sinn‹ zu finden ver-
fragen, überschreitet alles Wissenkön- Biografie Löwiths, ins Deutsche über- mag, wird ihn vergeblich in den Zeiträu-
nen und verschlägt uns den Atem; es setzt von Antonio Staude. men der Geschichte suchen.« •

HOHE LUFT 27
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

»Erinnerung klärt den


Blick auf die Gegenwart
und die Zukunft«
WELCHE BEDEUTUNG HABEN ERINNERUNGEN? WIE RIECHT DER ERSTE WELTKRIEG?
WELCHEN EINFLUSS HAT DIE VERGANGENHEIT AUF UNSER LEBEN? WIR FRAGTEN EINEN
HISTORIKER, EINE GERUCHSFORSCHERIN UND EINEN STADTFÜHRER.
KURZINTERVIEWS: TOBIAS HÜRTER, REBEKKA REINHARD, ANDREA WALTER
Ilko-Sascha Kowalczuk ist Kontinuität in ihrer Arbeit, die für die Diskontinuitäten stehen.
Insofern gibt es viele Verbindungen in der deutschen Ge-
Historiker und Publizist. schichte von vor und nach 1945. Da die nationalsozialistische

→ Wodurch unterschied sich die Erinnerungskultur in der


DDR von der in der Bundesrepublik, Herr Kowalczuk?
Die Erinnerungskultur in der DDR war sehr einseitig. Zwar
und die kommunistische Ideologie in den Trümmern des Ers-
ten Weltkriegs entstanden sind und es zwischen beiden in den
1920er-Jahren personelle Bewegungen gab, wäre es unange-
gab es Veränderungen in den vierzig Jahren, aber im Kern messen, sämtliche Verbindungen beider Ideologien zu leugnen.
blieb es dabei, die Erinnerungspolitik so zuzuschneiden, dass Zugleich gab es große Unterschiede, die sich praktisch im
die DDR als zwangsläufiger Höhepunkt der Weltgeschichte NS-Staat und im SED-Staat zeigten. Strukturell und gesell­
erscheint. Geschichte war die einzige Legitimationsinstanz, die schafts­politisch einte sie fast nichts. Sehr ähnlich hingegen wa-
das SED-Regime besaß. In der Bundesrepublik wurde all das ren die Merkmale totalitärer Regime wie Massenmobilisierung,
überbetont, was in der DDR kaum beachtet wurde, während geheimpolizeiliche Überwachung, Verfolgung politischer Geg-
die in der DDR einseitig betrachteten Geschichtsfetzen in der ner, Gleichschaltung von Medien und Öffentlichkeit, Uniformie-
Bundesrepublik bis 1989 in der Erinnerungspolitik kaum eine rung des Alltags, Militarisierung der Gesellschaft. Die Angst
Rolle spielten. Kompatibel waren beide nicht, weil sie von un- vor historischen Vergleichen in Deutschland ist kindisch.
terschiedlichen Prämissen ausgingen. Der »Historikerstreit«
1986/87 zeigte überdies ein Dilemma: Es stritten Historiker
ideologisch, kaum inhaltlich, ob es den von Ernst Nolte
­bemühten »kausalen Nexus« zwischen Bolschewismus und
→ Welche Art von Erinnerungskultur brauchen wir?
Erinnerung klärt den Blick auf die Gegenwart und die
Zukunft, davon bin ich überzeugt. Daher ist es gut und richtig,
­Nationalsozialismus gegeben hatte. Interessant und typisch dass der Staat immer wieder Initiativen startet. Nötig jetzt etwa
an diesem Streit war, dass kein Historiker mit einer Expertise wäre, dass er endlich die Erinnerung an den staatlich betriebe-
für die Geschichte des Bolschewismus teilnahm. Nach dem nen Kolonialismus vorantreibt – er hat mehr mit unserer Ge-
Epochenwechsel 1989/90 wäre der »Hysterikerstreit« – so genwart und Zukunft zu tun, als vielen bewusst ist. Erinnerung
Imanuel Geiss – nicht mehr möglich gewesen, und er war in sollte Freiheit und Demokratie stärken und schützen. Aber:
den 1980er-Jahren auch nur in Deutschland möglich. Heute Der Staat sollte nur ein Player sein. Wir brauchen nämlich nicht
kann man sagen, diese Debatte war nötig, um den Nationalso- eine Erinnerungskultur, sondern viele Erinnerungskulturen,
zialismus mit aller Wucht zur geschichtspolitischen Leiterinne- konkurrierende wie sich ergänzende, staatliche wie zivilgesell­
rung der Bundesrepublik zu befördern, und er war schädlich, schaftliche. Und das Wichtigste: Erinnerung sollte immer
weil er den Bolschewismus auf einen historisch nachrangigen konkret sein, also im Lokalen und Regionalen verankert. Und
Platz verbannte, in Deutschland bis heute sehr erfolgreich. ebenso wichtig: Erinnerungspolitik kann Nationalismus stärken
– hat sie meist auch –, sie kann aber auch Nationalismus abbau-

→ Was ist über die Kontinuitäten zwischen der national-


sozialistischen und der SED-Diktatur zu sagen?
Geschichte besteht immer aus Kontinuitäten und Diskonti­
en, verhindern. Daher sind transnationale Erinnerungspoliti-
ken im vereinten Europa extrem wichtig. Davon sind wir weit
entfernt. Europa ist immer noch, was die Erinnerung anbelangt,
nuitäten. Selbst wenn alles abgerissen wird und ein neues Fun- gespalten in Ost und West. Die Vergangenheit ist aber das Fun-
dament gegossen wird: Die Bauarbeiter selbst verkörpern die dament von Europas Zukunft, weitaus mehr als der Euro. •

28 HOHE LUFT
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

Sissel Tolaas ist Geruchsforscherin, Reinhard Weber leitet historische


Chemikerin und Künstlerin. Stadtführungen in München und der
Gedenkstätte des KZ Dachau.
→ Wie riecht der Erste Weltkrieg, Frau Tolaas?
Der Geruch des Ersten Weltkriegs, den ich für das
­ ilitärhistorische Museum in Dresden kreiert habe, basiert auf
M → Wenn Sie Menschen durch eine vergangene Zeit
­führen, welche Rolle spielt dann die Perspektive?
­einer Auswahl von 1500 abstrakten Geruchsmolekülen. Sie Die Anzahl der möglichen Perspektiven ist unendlich, ich
stammen aus Geruchsquellen, die in Geschichtsbüchern und kann daher immer nur einen winzigen Teil der damaligen
Dokumenten erwähnt werden, denn ich habe ja nicht am Origi- Wirklichkeit zeigen. Die Frage ist nie nur: Wie war es damals?
nal gerochen. Aufgrund dieser Tatsache und der Daten, die ich Sondern immer auch: Was hat es uns aus der historischen
durch die Analyse ähnlicher Geruchsquellen gewonnen habe, Perspektive zu sagen? Zum Beispiel bei einer Führung mit
habe ich dem Ersten Weltkrieg sozusagen einen abstrakten Ge- dem Titel »Nationalsozialismus und Widerstand«. Sie besucht
ruchscode gegeben – basierend auf verschiedenen Geruchs- die damaligen Zentren des Nationalsozialismus in München,
quellen wie Senfgas, Blut, tote Pferde, Schmutz, Urin usw. die Ministerien, die Aufmarschplätze: die steinernen Zeitzeu-
gen. Die handelnden Personen sind die maßgeblichen Natio-

→ Haben Sie andere historische Gerüche entworfen?


Ich arbeite seit 1997 an einem Projekt über Gerüche als
Erbe. Ich bin der Meinung, dass jedes Land ein Geruchs-Erbe-
nalsozialisten und die Mitglieder des Widerstands, unter
­ihnen Sophie und Hans Scholl von der Weißen Rose, junge
Menschen wie Walter Klingenbeck. Von dieser Führung
Archiv haben sollte. Seit Jahren untersuche ich verschiedene bleibt hängen: Wow, da waren ja ganz viele Widerständler.
geografische Punkte und zeichne Geruchsmoleküle auf, etwa Aber aus der Perspektive der damaligen Zeit war es anders.
von Landstrichen, Städten und Menschen des Landes. Gemein- Von diesen Leuten hat damals niemand geredet. Sie waren
sam mit Wissenschaftlern und Experten sammle ich zusätzli- die Getretenen, die Ausgestoßenen. Wenn man über die
che Informationen über Aspekte der olfaktorischen Vergangen- Weiße Rose spricht, ist es wichtig zu bedenken, dass sie
heit und Gegenwart. Die Geruchsaufzeichnungen liefern ­damals in der allgemeinen Wahrnehmung nur als Wehrkraft-
Hinweise über Veränderungen in der Natur und im Klima, zersetzer vorkamen, die hingerichtet wurden. Das finde ich
über Rituale, Gewohnheiten und so weiter – wichtige Informa- genauso wichtig zu erwähnen wie den Mut dieser jungen
tionen, die sonst nicht bekannt wären. Diese Archive befassen Menschen und ihre heute noch lesenswerten Flugblätter.
sich mit dem soziologischen und biogeologischen Konzept des
kollektiven Gedächtnisses und der Rolle, die es bei der Bil-
dung menschlicher Gesellschaften spielt. Der Geruchssinn
kann ein Generator sein, der dieses Gedächtnis wiederherstellt
→ Wäre es also sinnvoll, auch in andere Perspektiven zu
wechseln, um das Bild zu vervollständigen?
Ich glaube, man sollte auch mal eine Führung machen, die
und bewahrt. Zurzeit baue ich ein umfangreiches Geruchs­ zeigt, wie es war, zur Zeit des Nationalsozialismus zu leben.
archiv für eine Kulturerbestätte auf: die Ruinen von Pompeji. Wie war es, damals zum Einkaufen zu gehen, einen Ausweis zu
beantragen, seine Steuern zu bezahlen? Wie war der Umgang

→ Welche Rolle spielt der Geruchssinn für die Erinnerung?


Unser Geist ist weniger eine Sammlung von Wissen,
­Ereignissen und Erfahrungen als vielmehr ein Netz von Erin-
mit den Nachbarn, mit den Behörden? Diese Perspektive
scheint mir heute weitgehend verloren gegangen zu sein.

nerungen und Emotionen, die alle durch den Prozess der


­Assoziation miteinander verbunden sind. Das Gedächtnis ist
die Fähigkeit des Gehirns, Informationen zu codieren, zu spei-
→ Gehört auch die Perspektive der Täter dazu?
Es gab diese Perspektive. Insofern: ja. Die Frage ist nur,
wie man heute mit ihr umgehen soll. Es wäre eine Grenzüber-
chern und abzurufen. Es ist entscheidend für die Erfahrung. schreitung, sich in diese Perspektive zu begeben. Schon aus
Es ist das Bewahren von Informationen im Laufe der Zeit, das den Lagerregeln im KZ spricht eine Menschenverachtung, die
zukünftige Handlungen beeinflussen kann. Der Geruchssinn kaum nachzuvollziehen ist. Die Wahrnehmung der Täter, vom
ist die effizienteste Art, sich an etwas zu erinnern. Geruchs­ Lagerkommandanten zum einfachen SS-Wachmann, kriegt
erinnerungen sind stärker als visuelle Erinnerungen, und man außerdem auch aus der Opferperspektive mit. Die Insas-
­Gerüche können als Auslöser für den Erinnerungsabruf die- sen waren in ständiger Todesangst. Wenn sie nicht korrekt
nen, indem sie fast sofort starke Reaktionen auslösen. grüßten oder der Wachmann schlecht gelaunt war, konnten sie
totgeprügelt werden. Die schlimmsten Foltermethoden gehör-

→ Könnten Sie eine olfaktorische Zeitreise machen,


wohin würden Sie sich gern beamen?
Zu den Anfängen des Lebens auf der Erde, als die einzige
ten zum Alltag. Die Angst der Insassen macht begreifbar, wie
die Täter agierten. Es geht nicht darum, die Motive der Täter
auszuklammern. Aber man sollte ihre Perspektive nicht neben
Form der Kommunikation die Geruchsmoleküle waren. • die der Opfer stellen. •

HOHE LUFT 29
mein
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

leben
als

Leb
geschichte WAS WÄRE, WENN ...? DIESE FRAGE
BESCHÄFTIGT WOHL JEDE:N EINMAL. WIE
WÄRE DAS EIGENE LEBEN VERLAUFEN, WENN
WIR UNS AN BESTIMMTEN PUNKTEN
ANDERS ENTSCHIEDEN ODER VERHALTEN
HÄTTEN? DOCH DAS WIRFT WEITERE
FRAGEN AUF: WIE FREI SIND WIR? UND WIE
SEHR VERMÖGEN WIR ÜBER DIE GESCHICHTE,
DIE UNSER LEBEN IST, ÜBERHAUPT
ZU VERFÜGEN? TEXT : GRETA LÜHRS
30 HOHE LUFT
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

»Und in diesem Moment, als sie bei Tagesanbruch aus dem Café folge von Ursachen und Wirkungen. Nicht viele Personen ver­
des Capucines traten, hätte ihre Geschichte beginnen sollen, denn treten diese Ansicht in stringenter Form.
sie hätten sich wiedersehen, (...) Gefallen aneinander finden und Wahrscheinlich gehen die meisten von einem Konzept
es sich sagen sollen, hätten sich nach einem Besuch im Kino oder aus, das man nach Immanuel Kant (1724–1804) kompatibilis­
in einem Restaurant am Ufer der Seine küssen, sich anrufen und tisch nennen kann: Wir sind zwar in gewisser Hinsicht determi­
nach unzähligen Umarmungen und unzähligen Küssen eines niert, etwa durch die Naturgesetze, doch gleichzeitig verfügen
Abends (...) miteinander schlafen und sich lieben sollen (...).« wir über einen freien Willen und haben Entscheidungsmacht.
Doch Vincent und Amélie gehen getrennt nach Hause und ver­ Dass der Mensch sich selbst und andere als frei versteht, was
passen damit nichtsahnend ihre Chance – mit weitreichenden auch immer das in der Praxis dann bedeutet, gehört für uns zu
Folgen für ihr weiteres Leben. den grundlegenden Bedingungen menschlichen Lebens.
Die beiden sind die Hauptfiguren in dem kürzlich er­ Trotzdem hat die Freiheit, die wir für uns beanspru­
schienenen Roman »Mit uns wäre es anders gewesen« der fran­ chen, ihre Grenzen und wir wissen letztlich nicht mit Sicher­
zösischen Schriftstellerin und Philosophieprofessorin Éliette heit, warum wir so handeln, wie wir handeln. Tatsächlich sieht
Abécassis. Vincent und Amélie treffen sich darin als junge Stu­ es rückblickend oft so aus, als sei unser Leben notwendiger­
dierende an der Sorbonne, verbringen einen schönen Abend weise so verlaufen, wie es verlaufen ist. Wie ließe sich beweisen,
miteinander, beide sind voneinander begeistert, doch aus dass ich statt Philosophie auch Jura hätte studieren können?

ben
irgendwelchen Gründen –  Scham, Unsicherheit, Angst? –
­ Dann würde ich vielleicht jetzt in einer Großkanzlei sitzen, statt
kommt es nicht dazu, dass mehr aus ihnen wird. Texte für HOHE LUFT zu schreiben. Vielleicht wäre ich damit
In Abécassis’ Erzählung verlieren sich die beiden dann auch glücklich geworden – oder sogar noch glücklicher? Wer
zwar zunächst aus den Augen – die Handlung beginnt vor der weiß? Das ist im Nachhinein nicht zu erkennen, jene Möglich­
Zeit der Mobiltelefone –, begegnen sich aber in den kommen­ keiten sind eben nicht real geworden.
den Jahren sporadisch immer wieder. Bei jedem Treffen ist die Eigentlich spielt es auch keine Rolle, könnte man sagen.
Anziehung zwischen ihnen wieder da, doch beide haben in der Die Entscheidung liegt Jahre zurück, ich werde (höchstwahr­
Zwischenzeit ihre Leben weitergelebt. Sie sind in Beziehungen, scheinlich) niemals herausfinden, wie mein Leben als Juristin,
irgendwann sogar verheiratet; sie sind Eltern geworden, umge­ Ärztin, Sozialpädagogin verlaufen wäre. Gleiches gilt für ehe­
zogen. Jedes Mal scheint irgendetwas ihrer gemeinsamen Ge­ malige Liebschaften, für nicht genutzte Chancen, für große
schichte im Wege zu stehen. Und so finden sie einfach nicht Fehler. Was passiert ist, ist passiert. Aber trotzdem haben Fragen
zueinander und werden einander doch zugleich nicht los. Denn vom Charakter »Was wäre, wenn …?« ihren Reiz.
jedes Mal, wenn sie in Kontakt treten, steht die Frage im Raum: Das liegt vielleicht auch daran, dass wir unsere Identität
Wie wäre es mit uns gewesen? Verpasse ich gerade die Liebe – heute mehr denn je – als facettenreich und wandelbar ver­
meines Lebens? stehen. Gerade wenn man breit gestreute Interessen hat, ist
es schmerzvoll, dass man kaum Gelegenheit und Zeit hat, sie

HÄTTE ALLES ANDERS alle auszuleben und zu verfolgen. Man fragt sich dann viel­
leicht, ob das sportliche Talent nicht doch für eine P­ rofikarriere

SEIN KÖNNEN?
gereicht hätte, obgleich man sich damals lieber für »was Soli­
des« entschieden hat.
Einerseits denken wir also, wir hätten ebenso gut etwas
Abécassis’ Roman thematisiert die verpassten Chancen und die anderes mit unserem Leben anfangen können. Andererseits
große Zufälligkeit des Lebens. Nicht nur in Bezug auf die Liebe wären wir dann wohl heute gar nicht dieselben Personen, weil
haben sich die meisten von uns wohl schon die Frage gestellt, wir wahrscheinlich erst durch unsere Erfahrungen und Ent­
wie unser Leben verlaufen wäre, hätten wir an dieser oder jener scheidungen so geworden sind, wie wir eben sind.
Stelle etwas anders gemacht. Zwar blicken wir auf unser Leben Die Frage »Was wäre, wenn …?« zielt daher auch darauf
gern wie auf eine stimmige Erzählung, in der logischerweise ab, welche anderen Persönlichkeiten wohl noch in uns stecken,
das eine zum anderen führte, doch gleichzeitig fühlen wir uns die wir aber nie richtig entdecken und ausleben werden. Oder
völlig frei in unseren Entscheidungen. Natürlich hätten wir, wären wir doch gar nicht so anders, selbst wenn wir statt Lehre­
rückblickend, auch anders handeln können, als wir es getan ha­ rin Popmusikerin geworden wären? Wir können nur vermuten,
ben. Nur haben wir es eben nicht. »Jede Entscheidung«, so sagt wie sehr uns das von uns gewählte Leben geprägt hat.
man, sei ein »Massenmord an Möglichkeiten«. Wir Menschen lieben es, in Geschichten zu denken.
Folgt man einem Determinismus, so ist das letztendlich Der Mensch sei ein Geschichten erzählendes Tier, ein »story-
nicht wahr, denn dann ist der Lauf der Dinge alternativlos, von telling animal«, meint der schottisch-amerikanische Philosoph
vornherein festgeschrieben. So etwas wie einen freien Willen Alasdair MacIntyre. Wir erschließen uns die Welt über Ge­
gibt es für (harte) Determinist:innen nicht. Unser Leben und schichten – und wir erschließen uns das eigene Ich über un­
all unsere Entscheidungen wären demnach eine kausale Ab­ sere Lebensgeschichte. Erzählungen, Berichte, Mythen prägen

HOHE LUFT 31
Geschic
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

seit Jahrtausenden unsere Kultur. »Story­telling« ist heute allge­ könnte. Das liegt unter anderem daran, dass die Geschichte im­
genwärtig und zudem ein wichtiger Marketingbegriff gewor­ mer im gegenwärtigen Moment endet, der erst noch gelebt
den: Man muss etwas zu ­erzählen haben, um die Menschen zu werden muss, bevor er zum Teil der Geschichte werden kann.
erreichen – um ihnen e­ twas zu verkaufen. Hat etwas eine Ge­ »Man entwischt sich immer schon selbst«, so Thomä.
schichte, ist es auf eigentümliche Weise aufgewertet, mit Be­ Die vielleicht größte Gefahr daran, das eigene Leben als
deutung aufgeladen. Geschichte und sich selbst als Autor:in zu sehen, ist, dass wir
Unsere Lust an der Narration und vor allem an jener des uns selbst gegenüber niemals neutral sein können. Geschich­
eigenen Lebens wird auch von den digitalen sozialen Netzwer­ ten werden im Nachhinein erzählt, und unsere Erinnerungen
ken aufgefangen: In unserer persönlichen »Timeline« können sind selektiv, subjektiv und fehleranfällig. Wir beschönigen,
wir auf unser Facebook-Leben zurückblicken, Meilensteine übertreiben, verharmlosen und lassen Dinge aus – ganz wie es
markieren und Erinnerungen wiederentdecken. Auf Instagram uns gerade passt. So bekommen wir quasi doch noch die
kann man selbst »stories« aus dem Alltag posten oder sich die Chance, unser Leben in der Rückschau umzuschreiben, nur
kleinen kuratierten Videos aus dem Leben von Influencer:innen, geht das dann auf Kosten der Wahrhaftigkeit.
Stars und Normalos ansehen. Mit dem Begriff »Story« wird uns Das Konzept der Lebensgeschichte ist besonders ver­
nahegelegt, dass wir alle jeden Tag die tollsten Geschichten er­ führerisch, weil es dazu einlädt, ein stimmiges Bild von einem
leben, und dass diese es auch wert sind, erzählt zu werden. Menschen und seinem Leben, wie aus einem Guss, zu zeich­
Die politische Theoretikerin Hannah Arendt nen. Kurzum: Wir täuschen uns leicht über uns selbst, wenn
(1906 –1975) schreibt, »dass das Leben als Geschichte gelebt wir die Deutungshoheit über den eigenen Lebensweg komplett
werden könnte, ja sollte, dass man im Leben darauf hinwirken selbst übernehmen. Vielleicht streben wir vielmehr danach,
muss, eine Geschichte wahr werden zu lassen«. Ist es also un­ einer idealisierten Figur zu entsprechen, anstatt wir selbst
­

D
ser Auftrag, im moralisch-ästhetischen Sinne, unser Leben als sein zu wollen? Und das könnte einerseits blind machen für
Geschichte zu begreifen und dementsprechend zu leben, dass die Brüche, Widersprüche und Fehler, die zum Leben dazu­
am Ende eine Erzählung entstanden ist, die man gern liest? gehören, und uns andererseits in Bezug auf künftiges Ver­-
Wenn das eigene Leben eine Geschichte ist, dann sind halten ­befangen machen.
wir sowohl diejenigen, die diese Geschichte erleben, als auch
diejenigen, die diese erzählen und interpretieren. Eine Ge­ as soll nicht heißen, dass es
schichte ist ja nur dann eine Geschichte, wenn sie in Sprache nicht sinnvoll wäre, sich mit der
gefasst und somit erzählbar ist. Wenn man sich selbst aber als eigenen Vergangenheit zu be­
Autor:in der eigenen Geschichte versteht, bekommt die Frei­ schäftigen und über das eigene
heit einen sehr prominenten Platz. Dann tragen wir die Verant­ Leben zu reflektieren. Natürlich
wortung dafür, welche Geschichte am Ende unseres Lebens hilft uns unsere Lebensge­
Wirklichkeit geworden ist – und welche nicht. schichte dabei, uns als Perso­
Gleich einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers nen mit einer bestimmten Iden­
müssen wir uns für eine der vielen möglichen Versionen ent­ tität zu fühlen. Wir können aus
scheiden, jedoch ohne die Möglichkeit, mehrere Geschichten der Vergangenheit lernen, wir
nacheinander zu verfassen. Ebenso können wir keine Zeilen können auch Sinn in den Ge­
wieder löschen oder ein ganzes Kapitel noch einmal schreiben. schichten über uns selbst fin­
Am Ende unseres Lebens wird es nur eine Geschichte geben, den. Nur sollten wir dabei nicht
und wir schreiben jeden Tag daran, indem wir leben, lieben, vergessen, dass die eigene Per­
Entscheidungen treffen. spektive nicht alles ist. Und dass wir zwar vieles selbst in der
In dieser Analogie von Leben und Geschichte steckt die Hand haben, einiges aber auch nicht.
Frage nach dem »Was wäre, wenn …?« ganz elementar drin. Wir sind in nicht unerheblichem Maße eingebettet in
Denn wir müssen unterwegs so viele Geschichten links liegen ein Netz aus Handlungen und Geschehnissen, die wir nicht
lassen, deren Verläufe uns auch sehr interessiert hätten. Und selbst steuern. Wie oft hören wir jemanden sagen, eine Begeg­
wir müssen versuchen, mit der gewählten Geschichte zufrieden nung oder ein Ereignis sei einfach Schicksal gewesen – man
zu sein, sie als »unsere« Geschichte annehmen zu können. könnte auch sagen: Zufall. »Das Schicksal entsteht, so scheint
Wie der Philosoph Dieter Thomä anbringt, ist die Auf­ es, aus einer Kurzschlusshandlung, einem winzigen Detail,
fassung des eigenen Lebens als Geschichte aber nicht un­ das uns in diese oder jene Richtung abbiegen lässt«, heißt es in
problematisch. Die »autobiografische Triade« aus Person, Abécassis’ Roman. »Ein Würfelwurf, der vielleicht nicht den Zu­
Erzähler:in und Protagonist:in funktioniert in seinen Augen fall abschafft, aber letztlich doch alles bestimmt.«
nicht, denn man versucht dabei mehrere Perspektiven auf den­ Hätte Amélie es nicht versäumt, zu dem vereinbarten
selben Gegenstand, das eigene Leben, einzunehmen, ohne Treffen mit Vincent am nächsten Tag zu erscheinen, hätte sie viel­
dass man den eigentlich erforderlichen Abstand gewinnen leicht nie einen gefühlskalten Mann geheiratet, mit dem sie nur

32 HOHE LUFT
chte
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Neuerscheinung
der gemeinsamen Kinder wegen zusammenblieb. Éliette Abécas- in 2022
sis erzählt von den besonderen Momenten, in denen wir die Wei-
chen für unser weiteres Leben stellen. Und da kommt es manch-
mal eben doch darauf an, dass wir im richtigen Moment das Unser Leben ändert sich schnell und wird immer komplexer.

Karin Andrea Pixner


Oft empfinden wir diese Veränderungen als Bedrohung.
Angesichts der die Welt bewegenden Krisen verhärten sich

Richtige tun. Manchmal bieten sich uns Gelegenheiten, etwas zu die Fronten. Es bedarf einer neuen Orientierung, die bei
jedem Einzelnen beginnt. Unsere persönliche Entwicklung
wird relevant für uns alle. Wie können wir angesichts der Jeder
tun oder zu lassen, die einzigartig sind und nicht wiederkommen. Vielzahl unserer Unterschiedlichkeiten daher gemeinsam
und lösungsorientiert kommunizieren und zusammenarbei-
leidvolle
wohnt
Dieses Prinzip meint der alt­griechische Begriff »kairos«:
ten? Wie gehen wir mit Prägungen und alten Verletzungen
um, so dass wir offen für unser Gegenüber werden? Wie
der En
können wir unser zerstörerisches Verhalten erkennen und
zum Gu
Wenn der rechte Augenblick gekommen ist, muss man
wie kann jeder in seinem Alltagsleben dazu beitragen, dass
unsere Welt menschlicher wird? (Karin An
Wir alle können für die Erde und alle Lebewesen Segen und
K ar in Andr ea Pixner (M. A.), Jahrgang

die Initiative ergreifen, oder er ist unwiederbringlich 1971, Erziehungswissenschaftlerin, Philosophin, Katastrophe zugleich sein. Karin A. Pixner spürt diesem

Menschlichkeit und Zerstörung


Psychotherapeutin. Spannungsfeld, seinen Ursachen und Entwicklungsmöglich-
Menschliche Lern- und Wachstumsprozesse faszi- keiten nach.

vergangen. Nur leider ist es im gegenwärtigen Moment gar


nieren sie von früh an. Seit 1995 arbeitet sie in eige-
nen psychotherapeutischen Praxen und Seminaren.
Sie fühlt sich dem phänomenologischen Forscher-
Anhand berührender Lebensgeschichten, alltagspraktischer
Übungen und auf dem Hintergrund tiefenpsychologischen Karin Andrea Pixner
geist mit Herz verpflichtet. Mit der Gründung einer Wissens zeigt sie, wie ein echter, grundlegender Wandel zum

nicht so einfach, diese Chancen zu erkennen und sie dann Menschlichkeit


Lebensschule ermöglicht sie Menschen aller Art, Guten möglich wird.
sich auf vielfältige und vielschichtige Weise zu ent-
wickeln.

und Zerstörung
So widmet sie sich den grundlegenden Fragen: »Wie

auch noch so zu nutzen, dass man es später nicht bereut. »Die


bewältige ich dies?«, »Wer bin ich eigentlich?«, »Wie
lebe ich erfüllt in Beziehung?«, »Was ist der Sinn
meines Daseins?«

Hälfte der Fehler, die wir im Leben begehen, sind überstürz-


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Bei all dem liegt Karin Andrea Pixner die Mensch-
Unsere Zukunft und Du
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lichkeit in ihrem berührendem Wissen um das
Wahre, Gute und Schöne am Herzen. Mit Sorgfalt
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und Liebe zum menschlichen Maß begleitet sie Ent-

tem Handeln geschuldet«, meint Abécassis, »die andere Hälfte


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wicklungsprozesse, die wirksam dem Leben dienen.

fehlendem Tatendrang.«

U
Wir bekommen in der Erzählung von Amélie und
­V incent kein Rezept gegen solche situativen Fehler geliefert, nser Leben ändert sich
sondern bewundern vielmehr das Zusammenspiel aus nicht schnell und wird immer
komplexer. Oft empfinden
­genutzten Chancen, Zufall, schlechtem Timing, Ängsten und
wir diese Veränderungen als Be-
einigem mehr. Als Leser:in ärgert man sich etwas über die bei- drohung. Angesichts der die Welt
den, man fragt sich, wieso sie es einfach nicht hinbekommen, bewegenden Krisen verhärten sich
denn aus der lesenden Perspektive scheinen die Dinge ganz die Fronten. Es bedarf einer neuen
klar zu sein: Verlasst eure unglücklichen Ehen und findet euch Orientierung, die bei jedem Einzel-
nen beginnt. Unsere persönliche
endlich! Wir sehen als Leser:innen die Geschichte, die erzählt
Entwicklung wird relevant für uns
werden sollte, aber nicht erzählt wird. alle. Wie können wir angesichts
Wahrscheinlich möchte uns die Autorin eben darauf auf- der Vielzahl unserer Unterschied-
merksam machen: Von außen scheint es ganz leicht, aber wenn lichkeiten daher gemeinsam und
man mittendrin steckt, ist es unendlich schwer. Wir können lösungsorientiert kommunizieren
den eigenen Standpunkt nicht verlassen. Wir sind eingenom- und zusammenarbeiten? Wie ge-
hen wir mit Prägungen und alten
men vom Leben, von den Umständen, von unseren Erwartun-
Verletzungen um, so dass wir of-
gen und Annahmen. Leben ist unübersichtlich. Darum werden fen für unser Gegenüber werden?
wir uns im Nachhinein, mit etwas Abstand, immer wieder fra- Wie können wir unser zerstöreri-
gen, was hätte sein können. sches Verhalten erkennen und wie
Vielleicht vergessen wir etwas zu häufig, dass die »Was kann jeder in seinem Alltagsleben
dazu beitragen, dass unsere Welt
wäre, wenn …?«-Frage nicht nur rückblickend gestellt werden
menschlicher wird? Wir alle können
kann, sondern ebenso vorausschauend. Im »Was wäre, wenn …?« für die Erde und alle Lebewesen Se-
stecken alle möglichen Zukunftsversionen, die noch real werden gen und Katastrophe zugleich sein.
können. Statt über das verpasste Gestern zu lamentieren, könnte Karin A. Pixner spürt diesem Span-
man sich öfter auf das Morgen fokussieren. Folgt man dem So- nungsfeld, seinen Ursachen und
ziologen Zygmunt Bauman (1925–2017), so ist heute an die Stelle Entwicklungsmöglichkeiten nach.
Anhand berührender Lebensge-
der Utopie die R ­ etropie getreten: Viele wünschen sich die Ver-
schichten, alltagspraktischer Übun-
gangenheit zurück, statt sich eine positive Zukunft auszu­malen, gen und auf dem Hintergrund tie-
in der alles möglich ist. Das ist angesichts der drückenden globa- fenpsychologischen Wissens zeigt
len Probleme kein ermutigender Befund. Es nützt uns aber auch sie, wie ein echter, grundlegender
für unser eigenes Leben nicht viel, ständig über vergangene Feh- Wandel zum Guten möglich wird.
ler und vertane Möglichkeiten zu grübeln.
Es ist leicht, über Dinge zu urteilen, die nicht mehr zu
Vorbestellung möglich unter
ändern sind. Schwieriger ist es, in der Gegenwart das Richtige
lern-und-wachstumsprozesse.de
zu tun. »Verstehen kann man das Leben rückwärts«, heißt es
beim dänischen Philosophen Søren Kierkegaard (1813–1855).
Wenn man es überhaupt versteht, könnte man ergänzen. Institut für Lern- und Wachstumsprozesse
Manchmal gibt es schlicht nichts zu verstehen. Und Kierke­ Karin Andrea Pixner (MA), Philosophin,
gaard fährt fort: »Leben muss man es aber vorwärts.« • Erziehungswissenschaftlerin,
Psychotherapeutin
Ringstraße 13, 82390 Eberfing
Tel.: 08802 9146965
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HOHE LUFT 33
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

3000 v. Chr. 500 n. Chr. 1400


MYTHOS & LOGOS GLAUBE & WISSEN WELT & MENSCH
> ANTIKE > MITTELALTER > RENAISSANCE/NEUZEIT
WELTREICH ALEXANDERS DES ISLAM SCHWELLENZEIT
GROSSEN, HELLENISMUS VERBINDUNG KULTURELLER
Koran NEUERUNGEN MIT
Athenische Kirche <> Staat MITTELALTERLICHER TRADITION
Polis-Demokratie Religion <> Politik
| Blütezeit von Mathematik, Medizin, Buchdruck
Akropolis, Architektur, Astronomie, Dichtung Astronomie
Agora, Theater | Naturforschung
Averroes, Avicenna |
Sokrates, Platon, Kopernikus, Bruno
Aristoteles Scholastik
| | Reformation
»Pax Romana« Kloster– und Kathedralschulen |
Epoche des Friedens Universitäten (Paris, Bologna, Luther
| Montpellier)
Seneca, Cicero, | Humanismus
Marc Aurel Anselm von Canterbury, |
Thomas von Aquin, Marsilio Ficino, Giovanni
Meister Eckhart Pico della Mirandola

(EUROZENTRISTISCHE)

GESCHICHTE DER
PHILOSOPHIE
DAS WORT »PHILOSOPHIE« STAMMT AUS DEM
GRIECHISCHEN. DARIN STECKEN DIE WEISHEIT (SOPHÍA)
UND DIE LIEBE, DIE FREUNDSCHAFT (PHILÍA).
AM ANFANG DER PHILOSOPHIE WAR DAS STAUNEN
ÜBER DAS UNERKLÄRLICHE VON WELT UND
MENSCH – DAS VERSTEHEN- UND BEGREIFENWOLLEN.
WAS WIRD WOHL AN IHREM ENDE STEHEN?
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

1600 1700 1800


VERSTAND & ERFAHRUNG VERNUNFT & FREIHEIT GEIST & WIRKLICHKEIT
> DAS 17. JAHRHUNDERT > AUFKLÄRUNG > DAS 19. JAHRHUNDERT
BEDEUTUNGSVERLUST AMERIKANISCHE UND EPOCHE DER
DES PAPSTTUMS FRANZÖSISCHE REVOLUTION NATIONALSTAATEN
NATURWISSENSCHAFTLICHES
WELTBILD Juristische, wirtschaftspolitische Romantik
und Bildungs-Reformen Evolutionstheorie
Absolutismus vs. Bürgertum Menschenrechte Manchester-Kapitalismus
Erfindung von Mikroskop,
Dampfmaschine, Spinnmaschine, Sensualismus Idealismus
Heißluftballon, Blitzableiter
| |

Empirismus de Condillac Fichte, Schelling, Hegel


|
Aufklärung, Kritizismus Materialismus
Bacon, Locke, Berkeley | |

Rationalismus Kant, Voltaire, Feuerbach, Marx


| Rousseau
Pessimismus/Nihilismus
Descartes, Spinoza, |
Leibniz Schopenhauer, Nietzsche

1900 2000
FORTSCHRITT & BARBAREI > DAS 20. JAHRHUNDERT HEUTE
WELTKRIEG, HOLOCAUST T. B. D.
RELATIVITÄTS- UND QUANTENTHEORIE =
KAPITALISMUS VS. KOMMUNISMUS To be done
To be discussed
To be decided
Phänomenologie Poststrukturalismus
| |
Husserl Foucault, Derrida,
Deleuze
Existenzphilosophie
| Kritische Theorie
Heidegger |
Horkheimer, Adorno,
Analytische Philosophie Habermas
|
Carnap, Russell, Frege,
Wittgenstein
Die Mindmap ist eine Gedankenlandkarte,
die hilft, einen Begriff oder eine
Denkrichtung auf visuellem Wege zu
erschließen. Eine Inspiration zum
Mitdenken, Memorieren, Munterwerden.
1000
SCHWERPUNKT GESCHICHTE
TEXT: TOBIAS HÜRTER

Jahre Schlaf
IN DER
WENN EIN GELEHRTER aus der Toskana, der nicht einmal
die deutsche Sprache spricht, im Januar 1417 durchs eisige
Deutschland reist, muss er einen starken Grund haben. Und

RENAISSANCE den hatte Poggio Bracciolini. Er war auf der Suche nach verges-
senen Ideen. Bracciolini durchstöberte die Bibliotheken nach

GESCHAH DER
griechischen und lateinischen Manuskripten. In einem dunklen
Winkel des Benediktinerklosters in Fulda machte er einen
Fund, der der Geistesgeschichte eine neue Richtung geben

GRÖSSTE SPRUNG würde: Bracciolini stöberte ein Manuskript des Lehrgedichts


»De rerum natura« (»Über die Natur der Dinge«) von Lukrez
auf. Es ist bis heute der einzig bekannte Manuskript-Fund

NACH VORN IN DER dieses Werks.


Das Lehrgedicht enthält eine umfassende Darstellung

GEISTESGESCHICHTE des Denkens und des Weltbildes des griechischen Philosophen


Epikur (um 347–271 v. Chr.), dessen Einsichten über das
­Wesen des Menschen und seine Begierden, über Gesellschaft

DURCH DIE und Wissenschaft. Es war ein Werk von gewaltiger Sprengkraft.
Lukrez behauptete, die Welt sei aus Atomen aufgebaut, und

RÜCKBESINNUNG AUF
das Glück des Menschen liege im Diesseits, nicht im Jenseits.
Er argumentierte, Religion und Aberglaube machten die
­Menschen furchtsam und gefügig, und Priester nutzten diese

DIE VERGESSENE Wirkung für ihre eigene Macht.


Die Wiederentdeckung des Werks von Lukrez half, das

TRADITION. WIE WAR


Denken aus der Starrheit zu befreien, in das es nach einem Jahr-
tausend Mittelalter gefallen war. Es war ein Schlüsselmoment
der Renaissance, jener Epoche der »Wiedergeburt« vor 600 Jah-

DAS MÖGLICH? ren, in der Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Gesellschaft


­einen gewaltigen Ausbruch an Schaffenskraft erlebten.

36 HOHE LUFT
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

Heute könnte man eine neue Renaissance herbeisehnen. Man sehen. Es geht darum, unsere Welt durch ihre Augen zu sehen.
kann die Menschheit an einem Punkt sehen, an dem sie den Gut möglich, dass wir heute, im frühen 21. Jahrhundert, wieder
Weg voran nicht mehr findet. Klimakrise, Demokratiekrise, an einem Punkt stehen, an dem es gilt, neu Verbindung aufzu-
wachsende soziale Ungleichheit, Hektik, Ressourcenver- nehmen zu vergangenen Epochen. Was machte die Zeit um das
brauch, überbordender Konsum: Wir ahnen, dass es so wie bis- 15. Jahrhundert so besonders, dass sich damals vollzog, was
her nicht weitergeht. Aber wie dann? Ein genauerer Blick auf der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt
die Renaissance kann Orientierung geben. schlicht »die Wende« nennt?
Die Renaissance war eine Epoche, in der die Menschen Oft wird ein arg vereinfachtes Bild von der Renaissance
den Weg voran fanden, indem sie zurückblickten. Architekten, gezeichnet: ein jäher Absturz der Kultur mit dem Untergang
Schriftsteller und Philosophen entdeckten die Werte und Denk- des römischen Reichs im 5. Jahrhundert, gefolgt von einem
weisen der griechischen und römischen Antike wieder. Ein tausendjährigen Tief und einem ebenso plötzlichen Aufstieg zu
neuer Horizont tat sich auf. früheren Höhen im 15. und 16. Jahrhundert mit der Wieder­
In dieser Zeit entstanden die prächtigen Renaissance- entdeckung der antiken Weisheit. Doch dieses Bild ist viel zu

S
Städte Florenz, Siena, Venedig, Urbino, Mantua und Rom – im simpel. Die antike Kultur war nie ganz vergessen – und es gab
Geist und nach den Regeln der antiken Architektur. Sie entstan- schon früher Ansätze, sie wieder zur Geltung zu bringen.
den aus einer unerhörten Idee. Sie sollten Ausdruck eines
Schönheitsideals sein. Dagegen wirken viele heutige Städte chon im 12. und 13. Jahrhundert hat-
trist und leblos. Sie sind nicht belebt von einem Ideal, wie es die ten die Texte der griechischen Antike
Renaissance-Städte waren. einen Wiederaufschwung erlebt, als
Man könnte meinen, dass die Väter der Renaissance Gelehrte Zugang zu den Manuskrip-
es einfach hatten. Sie mussten keinen Autoverkehr einplanen, ten von Konstantinopel bekamen.
keinen Bebauungsplan einhalten. Aber gelungener Städtebau Der Name »Renaissance« wurde auch
ist keine Glückssache. Für die Erbauer der Renaissancestädte der karolingischen Zeit gegeben, als
war es eine Mission. Sie waren bewegt von der Idee, dass die Johannes Scottus Eriugena mit den
Gebäude einer Stadt den Charakter ihrer Bewohner prägen. Es Originaltexten der griechischen Väter
ist kein Luxus, keine Protzerei, sich um eine Atmosphäre der rang, und dem 12. Jahrhundert, als
Würde und Ruhe im öffentlichen Raum zu bemühen. Es fördert Johannes von Salisbury und andere
­
die Kraft, Gesundheit und Zufriedenheit der Menschen. bereits Cicero verehrten. Und dann waren da noch die regelmä­
Die Renaissance-Architekten schrieben dicke Bücher, ßigen Revivals der antiken Weisheit in der byzantinischen Kultur.
illustriert mit detaillierten Zeichnungen, um zu erklären, nach Warum dann denken wir vor allem an die Zeit des 15.
welchen Regeln ein schönes Gebäude entworfen sein muss. und 16. Jahrhunderts, wenn wir »Renaissance« sagen? Warum
Welche Proportionen die richtigen für eine Säule sind, welche glauben wir, dass gerade damals der entscheidende Schritt aus
Maße ein Platz haben muss (klein genug, damit eine Mutter auf dem mittelalterlichen Denken gelang? Es liegt nicht zuletzt am
der einen Seite ihr Kind auf der anderen Seite rufen kann). Sie guten PR-Team der Renaissance: den Humanisten. Sie lästerten
waren geprägt von der Sicht des römischen Historikers Sallust, über die langweiligen und dogmatischen Denker des Mittel­
der zutiefst unzufrieden war mit der Situation in Rom nach Jahr- alters. Sie etablierten ein neues philosophisches Paradigma,
zehnten der Dekadenz, einer Zeit, die er mit den Worten »pub- das der antiken Philosophie nachempfunden war, dem griechi-
lice egestas privatim opulentia« kritisierte: öffentliche Armut, schen Platonismus und der lateinischen Rhetorik – und das
privater Überfluss. statt Gott den Menschen als Maßstab nahm.
Sallust und mit ihm die Denker der Renaissance glaub- Der Humanist Lorenzo Valla (um 1405–1457) schrieb:
ten, dass in einer gesunden Gesellschaft die öffentliche Hand »Mein Epikur jedenfalls lehrt, dass nach der Auflösung eines
reich genug sein sollte, um eine schöne, angenehme Umge- Lebewesens nichts übrig bleibe. Ein Lebewesen nennt er dabei
bung für alle zu schaffen, nicht nur für die Reichen. Das ist die nicht nur den Menschen, sondern auch Löwe, Wolf, Hund und
Umgebung, für die die Menschen heute noch in diese Städte alle anderen, die atmen. So kommt’s auch mir vor. Jene essen,
reisen. Touristen wollen die Schönheit erleben, die die Renais- wir essen, jene trinken, wir trinken, jene schlafen, wir ebenfalls.
sance-Architekten damals entwarfen. Sie besichtigen Fresken Und nicht anders als wir pflanzen sie sich fort, empfangen und
und Ölgemälde, lernen die Lebensdaten von Michelangelo, gebären, ernähren sich. Sie verfügen über eine gewissen Por-
­Leonardo, Botticelli und Tizian. tion Verstand und Gedächtnis, die einen mehr, die anderen
Vielleicht ist es Zeit, diese Städte anders zu sehen: nicht ­weniger, und wir ein wenig mehr als sie alle. Fast in allem sind
nur als Denkmäler einer fernen Epoche, sondern als Ansporn, wir ihnen gleich, und zuallerletzt sterben sie und sterben wir,
auch heute schöne Städte zu bauen, so wie die Renaissance-­ sie zur Gänze, wir zur Gänze.«
Architekten den Geist ihrer antiken Vorbilder als Ansporn nah- Darin steckt genügend geistiger Sprengstoff für einen
men. Es geht nicht darum, ihre Welt durch unsere Augen zu Ketzerprozess. Valla stellt die Unsterblichkeit der menschlichen

HOHE LUFT 37
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

Seele infrage. Menschen sterben genauso, wie Tiere sterben. gewesen. Nicht haargenau so. Aber ähnlich. »History repeats
Dieses Paradigma fiel damals auf fruchtbaren Boden, nicht nur itself with a difference«, schrieb James Joyce (1882–1941) in
­
in der Philosophie. Es war eine Zeit der Umbrüche in Politik, seinem Roman »Ulysses«. Wenn eine Gesellschaft sich vor
­
Wirtschaft und Gesellschaft. Die Familienstrukturen wandel- ­einer beispiellosen Krise glaubt, dann lohnt der Blick in andere
ten sich. Die frühen Naturwissenschaften nahmen Konturen Kulturen und andere Zeiten, ob es nicht doch Vorbilder gibt,
an. Die Existenz der Welt jenseits von Europa sickerte ins Be- gute oder schlechte.
wusstsein der Künstler und der Gelehrten.

DIE KÜNSTLER UND


Im 14. Jahrhundert dezimierte die Pest die Bevölke-
rung, gleichzeitig gewann »das gemeine Volk« (popolo, die Mit-
telklasse) an Einfluss, mit der Entstehung der Republiken in
Italien. Humanismus war auch eine Bewegung des »popolo« –
der gebildeten Kaufleute und Juristen. Niccolò Machiavelli
(1469–1527) und andere politische Philosophen debattierten
GELEHRTEN DER
über die Vorzüge und Nachteile republikanischer und feudalis-
tischer Institutionen.
RENAISSANCE WAREN
In den republikanischen Stadtstaaten gedieh der Indivi-
dualismus, der noch heute unsere Vorstellungen von Gesell-
schaft und Politik prägt. Wissenschaften wie die Astronomie
NICHT BEGABTER
und die Medizin blühten auf. Galileo Galilei entdeckte die Jupi-
termonde. Daneben gediehen auch dunklere Disziplinen wie ALS ANDERE. SIE
HATTEN, WAS UNS
die Alchemie und die Magie. Bildende Kunst, Architektur und
Musik entwickelten sich in neue Richtungen, neue Theorien
der Ästhetik entstanden. Der Humanismus war das Ideal, das
all diese Veränderungen überspannte. Es war ein großer Bogen
HEUTE OFT FEHLT:

D
vom Wühlen in staubigen Bibliotheken zur Heilkunst und zum

INSPIRATION.
Bau prächtiger Städte.

ie Schockwellen der Renaissance dran-


gen durch ganz Europa. An den Uni-
versitäten entbrannte der »Wegestreit« Vielleicht liegt der Schlüssel zum Weg vorwärts darin, zurück
zwischen den Scholastikern in der zu schauen. Wie machen es Menschen anderswo? Wie haben
­Tradition des Thomas von Aquin (um sie es zu anderen Zeiten gemacht?
1225–1274) und den Empirikern nach Es wurde oft darüber gerätselt, warum in der Renais-
Wilhelm von Ockham (um 1288–1347). sance plötzlich so viele Genies auf so kleinem Raum in so
Im Klerus bahnte sich die Reformation ­kurzer Zeit versammelt waren. Die Künstler und Gelehrten
an – und mit ihr die Gegenreformation. waren damals wahrscheinlich nicht begabter als zu anderen
Dazu kam eine der folgenreichsten Zeiten. Aber sie hatten eine Mission, eine klare Vorstellung
technischen Neuerungen der Ge- davon, wofür sie arbeiten, und die Menschen, die sie förder-
schichte: die Druckerpresse. Bücher wurden zum Massen­ ten, verstanden es. Sie hatten, was uns heute oft fehlt:
medium, zugänglich für das »popolo«. Inspiration.
In mancher Hinsicht ähnelt die Situation von heute der Zum Beispiel beim Ausbau der Sharing-Ökonomie:
Zeit vor der Renaissance. Wieder erleben wir eine Zeit der Um- »Gemeinsam nutzen statt besitzen« soll die Zukunft sein. Es
brüche, der rasanten technischen Neuerung und der Orientie- ist aber auch die Vergangenheit. Im Mittelalter entstand in der
rungslosigkeit. In der westlich-europäischen Kultur von heute Landwirtschaft die Kultur der Allmende, der gemeinschaft­
lässt sich eine Bewusstseinsspaltung beobachten: einerseits lichen Nutzung von Land, Gütern und Ressourcen, ein aus­
der gebannte Blick nach vorn, die Versessenheit auf Neues, die geklügeltes System des Tauschens und Teilens. Wer heute
Geschichtsvergessenheit; andererseits die Nostalgie, die Sehn- ein Stadtrad-System oder eine Wohnungstausch-Plattform
sucht nach Rückbesinnung, nach der guten alten Zeit, in der ­organisiert, kann von Jahrhunderten Erfahrung profitieren.
­alles noch so echt, menschlich und ursprünglich war. Die Wiederentdeckung des Lukrez war nur ein Höhe-
Der Glaube ist verbreitet, die Kulturgeschichte schreite punkt der Karriere Bracciolinis als Manuskriptretter. Bald
stetig voran. Neue Ideen seien stets besser als alte. Es ist der ­darauf fand er vergessene Texte von Cicero, Vitruv und Quin­
ewige Fortschrittsglaube. Doch es gibt auch ein anderes Bild: tilian. Wenn er ein Manuskript nicht kaufen konnte, schreckte
Die Geschichte verläuft in Zyklen. Fast alles ist schon einmal da er auch vor faulen Tricks nicht zurück, um es zu bekommen.

38 HOHE LUFT
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

Einmal bestach er einen Mönch, um ihn dazu zu bringen, in der und die Paläste der Medici nachbauen. Es bedeutet, sich zu
Bibliothek der Abtei Hersfeld aus einer Ausgabe des römischen öffnen für den Einfluss anderer Epochen. Sie im Geiste Braccio-
Historikers Livius abzuschreiben. Bracciolini jagte unermüd- linis nicht nur als Studienobjekte zu nehmen, sondern als

G
lich nach klassischen Texten. Aber er war kein Gelehrter im Vorbilder. Dazu gehört mehr als die bloße Übernahme von
heutigen Sinn. Er wollte die Vergangenheit nicht um ihrer Rezepten oder Verhaltensweisen.
selbst willen erforschen. Er handelte nicht aus Respekt vor der
Würde alter Schriften. eld spielt bei alledem eine wichtige
Die Haltung der führenden Renaissance-Gelehrten zur Rolle, auch das kann man aus der
Geschichte und zur Philosophie war eine durch und durch ­Renaissance lernen. Hauptsponsoren
pragmatische. Es ging ihnen darum, was sie für ihr eigenes des Umbruchs waren damals die Me-
­Leben, ihre eigene Gesellschaft lernen konnten. Sie wollten dici, eine geschäftstüchtige Familie
ihre Mitmenschen klüger machen und prächtige Städte bauen. aus Florenz. Sie betrieben die bedeu-
Viele Renaissance-Denker waren keine akademischen Philoso- tendste Bank Europas mit Filialen in
phen – in Florenz, der Hochburg des Renaissance-Humanis- Florenz, Venedig, Rom, Pisa, Genf,
mus, gab es gar keine Universität. Basel, Brügge und Avignon. Könige
Der Venezianer Fabio Paolini (1535–1605) zum Beispiel und Unternehmer liehen sich große
war Philosoph und Mediziner. Er schrieb Kommentare zu grie- Summen bei ihnen. Die Medici waren
chischer und lateinischer Literatur. Er kommentierte Cicero, ganz und gar auf Profit aus, ungebremst von den traditionellen
Avicenna und Hippokrates, schrieb Abhandlungen über Medi- Vorbehalten gegen das Geldmachen, die man in vielen christ­
zin und Humanismus, übersetzte Aesops Fabeln. Die Renais- lichen Gesellschaften findet.
sance erfasste die ganze Breite der Kultur. Es ging um Bildung, Doch die Medici verdienten nicht nur gern Geld, sie ga-
um Kunst, um Städtebau und Architektur. ben es auch gern aus. Heute würde man sie »Philanthropen«
Auch die Philosophie wurde pragmatischer. Die epi­ nennen. Sie wollten das Wahre, Schöne und Gute in der Welt
kureische Philosophie, die Bracciolini wiederentdeckte – mit fördern. Sie gründeten die erste öffentliche Bibliothek und
ihrer Betonung von Freundschaft, Einfachheit, Weltlichkeit schickten Gesandte wie Bracciolini aus, um Klöster, Schlösser
und der Hinnahme von Beschränkungen –, faszinierte ihn und Bibliotheken nach vergessenen Schriften aus der Antike zu
nicht deshalb, weil sie alt, sondern weil sie noch immer nützlich durchforsten. Sie waren Mäzene von Philosophen wie Marsilio
war. Er suchte nicht nach alten Ideen, um die letzten Lücken im Ficino und Giovanni Pico della Mirandola, die sich auf die Reise
Bild von vergangenen Denkweisen zu füllen und sich damit in die Gedankenwelt der griechischen Philosophen machten,
vielleicht eine Professur an einer Universität zu verdienen. und von Künstlern wie Botticelli und Michelangelo.
Bracciolini suchte Hinweise auf der Suche nach besseren Aber die Medici waren nicht nur Sponsoren der Renais-
Denkweisen in der Gegenwart. sance, sondern auch Gestalter. Michelangelo lebte fünf Jahre bei
Die Renaissance hob die Denker und Künstler von ihnen und saß mit am Esstisch. Auf ihr Geheiß gaben er und
­damals aus der Froschperspektive der mittelalterlichen Welt- ­andere Künstler den Idealen der Antike eine neue Gestalt. Auch
sicht. Aber die neue Sicht verdrängte nicht die alte, sondern später, als die Medici und andere schwerreiche Familienclans
bereicherte sie. Das Christentum wurde die Stadtregierungen in geradezu absolu-
lebendiger. Das zeigt sich zum Beispiel tistischer Weise dominierten, förderten
in der Entwicklung der Mariendarstel-
lungen. Jahrhundertelang wirkte die
Gottesmutter steif und hölzern. Dann
LEKTÜRE
_
sie weiter die humanistische Lehre.
In den entscheidenden vier Jahr-
zehnten der Renaissance von den
malten die Renaissance-Künstler sie als LU K R E Z 1430er- bis zu den 1470er-Jahren gaben
liebevolle, fürsorgliche, junge Mutter De rerum natura die Medici für die Förderung der Philo-
mit einem Baby, das nicht mehr aussah RECLAM, 1986 sophie, Wissenschaft, Kunst und Archi-
wie ein miniaturisierter Greis. Wer Das im 15. Jahrhundert wiedergefun- tektur eine Summe aus, die in heutiger
heute in einem Kunstmuseum mit ei- dene Werk des großen römischen Währung einigen Hundert Millionen
ner einigermaßen guten historischen Dichters. Euro entspricht. Das ist ein günstiger
Sammlung mit wachen Augen vom Mit- _ Preis für einen Epochenwechsel.
telalter-Saal in den Renaissance-Saal S T E P H E N G R E E N B L AT T So viel geben heute manche Su-
geht, kann nicht daran zweifeln, ein Die Wende perreiche für ihre Luxusjachten aus. Es
neues Zeitalter zu betreten. S I E D L E R V E R L AG , 2 0 1 2 ist kein Mangel an Geld, der uns auf dem
Eine neue Renaissance, das be- Greenblatts Erzählung vom Anbruch Weg voran zurückhält. Es ist ein Mangel
deutet nicht, dass wir heute wieder die der Renaissance liest sich so geschmei- an Vision. Und vielleicht können wir sie
Lateinbücher abstauben, Lukrez lesen dig wie ein h­­istorischer Krimi. im Blick zurück wiederfinden. •

HOHE LUFT 39
Corippo
I
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

ch bin ruhelos. Ich habe das Bedürfnis, irgendwo


­anzukommen. Doch woanders. Eigentlich wollte ich
ein paar Tage bleiben, aber Locarno ist keine Stadt, in
der ich länger sein kann. Sie hat den Charakter eines
alten Mannes, der zu viel Make-up trägt. Müde blickt

oder
er mir aus dem Schaufenster entgegen. Die goldene
Ära dessen, der sich da spiegelt, scheint vorbei. Wie
ein waidwunder Leopard schleicht er dieser Tage
durch die Gassen.
Mir ist, als ob es tausend Möglichkeiten gäbe
und hinter tausend Möglichkeiten keine Welt. Mein

die
­Telefon klingelt. Ich solle nach Mailand kommen, sagt
ein Bekannter, es sei doch nur einen Katzensprung entfernt.
Zeitgleich schreibt mir ein Kunde. Er bittet um ein neues De-
sign für die Website seines Blockchain-Start-ups. Und die Frau
von gestern Abend? War seit siebzehn Stunden nicht mehr

beste
online, sagt meine App. Es ist der Moment, indem ich be-
­
schließe, allein in die Berge zu fahren.
Eine gute Stunde später hält mein Wagen an der alten
Brücke Ponte dei Salti im Versascatal. Zwei Rundbögen span-
nen sich über eine Schlucht, in die sich ein eisblauer Fluss
gefressen hat. Wolken ziehen die Berghänge zu, als ich in
­

aller
­Wanderschuhen vom Parkplatz in Richtung Brücke laufe. Die
letzten Touristen des Tages, Handtücher um ihre Hüften, kom-
men mir entgegen, drängen in kleinen Gruppen zu den Bussen.
Noch vor wenigen Stunden schien hier die Sonne. Sie tummel-
ten sich auf den Steinen, machten Selfies vor der Brücke.
Vielleicht ist es ganz gut, bei schlechtem Wetter hier zu

Welten
sein, denke ich. Ich bin ein bisschen spät, ewig Zweiter, aber
immerhin allein. Was, wenn ich einfach mal aufhören würde zu
rennen? Ich bleibe auf der Brücke stehen. Der Wind treibt die
Touristen zurück in die Stadt und Wolken in hoher Geschwin-
digkeit über mich hinweg. Vereinzelt fallen Tropfen. Sie schim-
mern bleiern, wenn ein Sonnenstrahl es durch die Wolken­
decke schafft. Bald klebt mein T-Shirt an meinem Bauchansatz.

WAS HAT ES MIT DER Ich bin sentimental, eine pudelnasse Karikatur meiner selbst. Ich
atme tief ein. Für einen Moment ist die Welt angenehm begrenzt.

SEHNSUCHT AUF SICH? JENEM Sie endet hinter den Berggipfeln. Ich muss meinen Kopf in den
Nacken legen, um hinauf in den Himmel zu schauen.

LAMENTO NAMENS »FRÜHER Er sagte es ihr auf der Brücke Ponte dei Salti: »Francesca,
ich werde nach Kalifornien gehen.« Sie hätte es ahnen können.

WAR ALLES BESSER«?


Seit dort Gold gefunden wurde, rumorten Gerüchte durch das Tal
und verbreiteten sich von Mann zu Mann im Dunkel der Dorf­
kneipen. Behutsam wurde darüber geflüstert, als wäre bereits der
HILFT UNS DAS SEHNEN BEI Gedanke an Reichtum ein fragiler Schatz. Sie hätte ahnen kön­
nen, dass auch er dieses Tal ohne Möglichkeiten verlassen würde.
DER BEWÄLTIGUNG DER So sehr er die Schönheit der Heimat mit ihren wilden Gebirgs­
zügen auch liebte, sie konnte zugleich erbarmungslos sein, den
GEGENWART, ODER STEHT ES Bauern ein Feind. Doch in diesem Tal lebte sie, Francesca.
Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. »Wenn der
UNS IM WEG? EINE PARABEL. Winter anbricht«, fuhr er fort, »werde ich gehen.« Er sah sie nicht
an dabei. Sein Adamsapfel wippte auf und ab, doch verstand sie
TEXT: LENA FRINGS seine Worte nicht mehr. In ihrem Ohr breitete sich ein penetranter

40 HOHE LUFT
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

Ton aus, der alles andere übertönte. Er begann als leises Fiepen Sie war gefangen zwischen den immer gleichen Bergen. Sie stand
und wurde immer lauter. Seine Worte waren eine unzähmbare in der Dämmerung auf, kümmerte sich um die Tiere, hackte
Wahrheit. Einen Sommer lang, den Sommer 1848, hatte sie Holz, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schuftete weiter.
­geglaubt, er würde sie zur Frau nehmen. Mit Blicken hatte er es Zu essen gab es Maronen aus dem Wald und Maisgrieß. Die Fa­
bereits versprochen, damals, unter den Haselnusssträuchern. Sie milie wurde kaum satt. Francescas Hüftknochen standen hervor,
weinte erst, als sie allein war. dennoch begann ihr Bauch sich zu wölben. Hatten die anderen
Ich wähle einen Pfad, der dem Flusslauf folgt. »Corippo« etwas bemerkt, unten, beim Waschen am Fluss?
steht auf einem Wegweiser. Es wird einer dieser Orte sein, die In der Nacht wachte sie auf und dachte: Wie soll ich ein
am Berghang kleben, als wären sie Teil der Landschaft, schon Kind großziehen, es behüten, ernähren? Bis zur Erschöpfung spielte
immer dort gewesen. Mir ist kalt, meine Muskeln schmerzen, sie Optionen durch, fand unter ihnen jedoch keine mögliche. Sie
aber ich laufe einfach und versuche, nicht über die Wurzeln am würde das Kind schlecht im Stall verstecken können. Sie war
Boden zu stolpern. Es geht an alten Kastanienbäumen vorbei nicht die heilige Jungfrau Maria. Schlaflos rieb sie ihre Zehen
und an moosbewachsenen Felsblöcken. Wenn ich mich an ­aneinander, die von der Kälte blau waren. Sie fühlte sich allein.
ihnen festhalte, um nicht auszurutschen, riecht es nach Erde. Und nun? Es regnet noch immer. Seit ich in Corippo
Überall tropft es, und neben mir rauscht der Fluss. ­angekommen bin, sitze ich auf den Stufen eines verlassenen
Immer wieder passiere ich alte Steinhäuschen, die plötz- Hauses, unter dem Vorsprung eines Daches. Ich wollte rauchen,
lich auf Lichtungen aufzutauchen scheinen. Ich werfe Blicke in aber mein Tabak ist nass und der Akku meiner E-Zigarette leer.
ihr Inneres, das meist zerfallen ist. Sie haben Charakter. Und es Ich habe nichts zu tun, außer sitzen zu bleiben und durch den
kommt mir vor, als würden sie mich dafür belächeln, dass Regenschleier ins Tal zu schauen. Irgendwann wird der Regen
ich mir in den Kopf gesetzt hatte, immer jung und flexibel zu aufhören, dann werde ich den Rückweg antreten. Vielleicht
bleiben, nie zu rosten und mich niemals festzulegen. Dass ich hört er auch nicht auf. Dann laufe ich trotzdem zurück. Aber
bei keiner Frau bleiben konnte und in keiner Stadt. vorerst bleibe ich.
Ich könnte dieses Haus kaufen. Ich könnte es mit mei-
nen eigenen Händen sanieren, Zement anrühren, Fugen schlie-
OBEN WAR GOTT, ßen, morsche durch stabile Balken austauschen. Ich stelle mir
vor, dass die einstigen Bewohner hier ein einfaches und gutes
RECHTS UND LINKS Leben führten. Dass sie in der Natur arbeiteten und nachts fest
schliefen, wenn die kühle Bergluft die Gardinen im offenen
DIE BERGE. Fenster hin und her wog. Sie lebten im Rhythmus der Jahres-
zeiten. Im Sommer bewirtschafteten sie die Hänge, wuschen
KLINGT EIGENTLICH ihre Kleidung im glasklaren Fluss. Im Winter schauten sie in
die glasklare Sternennacht. Überhaupt war alles glasklar. Ech-
GANZ VERLOCKEND ter. Verwurzelter.
Sie hatten dieses eine Leben und keine andere Wahl.
Wie ein Einsiedlerkrebs hatte ich unterschiedlichste Behau- Oben war Gott, rechts und links die Berge. Klingt eigentlich
sungen bezogen. Meine einzige Beständigkeit waren das Start- ganz verlockend, zumindest sinnvoll. Was ist schon der Sinn
bild auf meinem Computer und die Ziffernfolge meiner Kredit- meines Lebens? Steckt er in den Werbeanzeigen, die ich auf
karte. Ich hatte in verschiedenen Ländern gearbeitet, meine meinen ewigen Zugfahrten entwerfe? Vielleicht kaufen Men-
Entwürfe immer erst kurz vor dem final call abgeliefert. Mir schen jene Produkte, die ich für meine Kunden in schönen
ging es gut. Auch mein nächstes Date war stets bloß ein paar Schein verpacke. Oder sie kaufen andere der unzähligen Pro-
Swipes entfernt. Dann fing die Sache mit dem Make-up an ... dukte da draußen. Die Welt ist dadurch kein Stück weiter oder
Als ich innehalte, um nach einer Steigung zu verschnau- besser. Nur irrsinniger. Irrsinnig orientierungslos.
fen, ist es mir, als legte mir jemand eine Hand auf die Schläfe. Ich bin mir nicht sicher, wie ernst es mir mit dem Haus-
Die Berührung ist kaum merklich, doch sie entspannt meinen kauf ist. Vielleicht meine ich es ja doch eher ironisch – und die
Geist. Die Häuschen um mich herum stehen still, aber ihr Idee entpuppt sich als eine weitere meiner Kapriolen. Dennoch,
­Lächeln ist mit der Zeit freundlicher geworden. Sie geben mir heute möchte ich glauben: Früher war alles besser. Früher ist
das Gefühl, Teil der Weltenseele zu sein. Egal ob mit oder ohne keine Möglichkeit im Jetzt. Vielleicht gibt der Gedanke mir ja
Matches. Egal wie alt, klein, unbedeutend. deswegen Halt.
Eine Frau hatte ohnehin nur wenig Möglichkeiten. Eine Das Seil war aus grobem Hanf. Sie würde es in der
Frau, die ein Kind ohne den Segen der Ehe gebar, noch weniger. Nacht am Vorsprung unter dem Haus befestigen. Dort lag ein
Lange verdrängte Francesca, dass sie nicht mehr blutete. Seit er Balken frei. Wenn am Morgen die Dorfbewohner vorbeikämen,
mit den Kranichen nach Kalifornien aufgebrochen war, hatte sie würde sich das Gerücht schnell verbreiten. Vielleicht ja bis nach
nichts von ihm gehört. Doch blieb ihr keine Zeit zum Träumen. Kalifornien. •

HOHE LUFT 41
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

Von Zeitreisen
und anderen
Geschichten
UND JETZT ZUR PRAXIS! LIFEHACKS SIND EINSICHTEN, DIE WEITERHELFEN.

Ich würde gern durch Warum ist der beste Moment zu leben genau jetzt?
die Zeit reisen. Nur wie?

✺ Da es in Sachen Teleporter leider


noch Konstruktionsschwierigkei-
✺ Wenn Sie mit Ihrem Leben unzu-
frieden sind, verspüren Sie viel-
leicht den Drang, sich einfach wegzu­
Sie eine ganze Stunde nicht in 2021 ff.,
sondern im 19. Jahrhundert leben.
Wenn Sie das Buch seufzend zuklappen
ten gibt, brauchen Sie andere Tricks. beamen. Sie könnten es mit Gin oder und sich wieder der Realität zuwenden,
Sprechen Sie zunächst die magische »The Crown« versuchen oder auch auf sind Sie sicher zufrieden, nicht mehr
Formel: »Ich erinnere mich genau …« intellektuellem Wege: Vertiefen Sie sich ­unzufrieden zu sein. Prima. Machen Sie
und setzen dann ein, woran Sie sich er- in das Werk eines großen russischen sich aber klar, dass Ihr Lektüre-Erlebnis
innern wollen: Ihren ersten Kuss. Den Autoren mit philosophischem Tiefgang gar kein Wegbeamen war. Sie waren
Interrail-Trip. Den Tag, an dem Ihr Kind und überragender soziokultureller nicht in der Vergangenheit. Sie waren
auf die Welt kam. Gerade Dinge, die wir ­Expertise; etwa Leo Tolstoi. Wenn es die ganze Zeit höchst präsent. »Könnte
erstmals erleben, oder Situationen, die ­Ihnen gelingt, sich von einem aufwüh- man sich irgendeine Zeit denken, die
sehr emotional waren, sind tief in uns lenden Liebesdrama und Gesellschafts- sich in keine, auch nicht die kleinsten
verankert und Erinnerungen ein wun- epos wie »Anna Karenina« in den Bann Teilchen mehr teilen lässt, so kann man
derbares Vehikel, um die Vergangenheit schlagen zu lassen, haben Sie vielleicht diese allein Gegenwart nennen …«,
zu bereisen. Kramen Sie Kisten heraus für eine Stunde das Gefühl, ausgebüxt schrieb Augustinus. Der beste Moment
mit alten Briefen, schauen Sie alte Fotos zu sein. Woraus? Aus dem jetzigen Au- zu leben ist genau jetzt. Denn im
an, hören Sie alte Lieder – schon sind genblick. Weil Sie in Ihrer Fantasie mit unteilbaren Augenblick existiert keine
Sie dort, wo Sie einst einmal waren. der Hauptperson verschmelzen. Weil ­Unzufriedenheit. (REBEKKA REINHARD)
Oder kochen Sie die Leibspeise Ihrer
Kindheit. Gut möglich, dass es Ihnen er-
geht wie Proust mit seinem Lindenblü- Mich nerven alte Traditionen. Kann ich mir
tentee und der Madeleine in »Auf der neue ausdenken?
Suche nach der verlorenen Zeit«: »In
der Sekunde nun, da dieser mit den Ge-
bäckkrümeln gemischte Schluck Tee
meinen Gaumen berührte, zuckte ich
✺ Gerade an Weihnachten läuft vieles nach althergebrachter Tradition ab. Wer,
wann, wie zusammen feiert und was auf den Tisch kommt, ist von vornherein
klar. Denn das war immer so und soll meist auch so bleiben. Aber muss es noch Bra-
zusammen und war wie gebannt durch ten und vegetarische »Alternative« geben, wenn die Mehrheit mittlerweile fleischfrei
etwas Ungewöhnliches, das sich in mir isst? Vielleicht wird es an der einen oder anderen Stelle Zeit für neue Traditionen?
vollzog.« Er landete direkt in seiner Die sind nämlich möglich, auch wenn der Begriff nahelegt, dass Gewohnheiten eta­
­Vergangenheit. Überhaupt geht es beim bliert sein müssen, um zur Tradition zu werden. Traditionen laufen, wenn man sie
Zeitreisen vor allem um Gefühle und lässt, geradezu automatisch ab, darum muss man sich trauen, an der richtigen Stelle
­unser Vorstellungsvermögen, das sich einzuschreiten – am besten mit einem konkreten Gegenvorschlag. Da mit Wider-
auch durch Literatur, Filme, Ausstellun- stand zu rechnen ist, sollte man gute Argumente parat haben und eventuell schon
gen, gute Gespräche trainieren lässt – vorher Verbündete für seine Sache gewinnen. Ob die neue Tradition sich etablieren
selbst für Reisen in die Zukunft. Kurz: kann, wird sich allerdings erst in der Wiederholung zeigen. Das sollte uns aber nicht
Wer braucht schon einen Teleporter, entmutigen, denn alles hat einmal angefangen und musste sich durchsetzen. Warum
der Fantasie hat? (ANDREA WALTER) sollte nicht dieses Jahr der Beginn einer neuen Tradition sein? Erst. (GRETA LÜHRS)

42 HOHE LUFT
SCHWERPUNKT GESCHICHTE

Wir hätten da mal


3 Fragen … 2. LERNEN WIR AUS DER GESCHICHTE?
1. WAS BEDEUTET ERINNERUNG FÜR SIE? 

3. WAS KANN MAN NICHT (NACH)ERZÄHLEN?

Timur Vermes ist Anne Weber ist Schrift- Moritz Rinke ist Schrift-
Schriftsteller. stellerin und Übersetzerin. steller und Dramatiker.
Seine jüngsten Romane sind: »Die Ihr jüngster Roman »Annette, ein Hel- Sein jüngster Roman ist: »Der längste
Hungrigen und die Satten« (Eichborn, dinnenepos« (Matthes & Seitz, 2020) Tag im Leben des Pedro Fernández
2018) und »U« (Piper, 2021). erhielt den Deutschen Buchpreis. García« (Kiwi, 2021).

1. 1. 1.
Sie ist hilfreich, aber unzuverlässig. Erinnerung ist Verschiedenartiges. Ich begleite gerade einen 97-jährigen
Ich war 2015 beim Elfmeterschießen Die persönliche Erinnerungswelt ist Mann im Sterben. Er war einer mei-
FC Bayern vs. BVB im Stadion. Der eine Gegend, in die man sich zurück­ ner Förderer, ein großer Theaterhistori-
Münchner Seriensieger verlor. Auf dem ziehen, in der man sich verlieren kann. ker, Intendant und Journalist, Günther
Heimweg rätselten wir, welcher der zum Fängt man an, Erlebtes heraufzube- Rühle. Ihm ist nach seinem Leben mit
Elfmeter angetretenen vier Bayern-Na­ schwören, gerät man ... nicht in die Ver- all dem »Vielerlei«, wie er es nennt, nur
tionalspieler getroffen hatte. Unser Glau- gangenheit selbst, sondern in die Vor- noch das Erinnern geblieben, er hat
be an die Bayern-Qualität hatte bereits stellung, die man von ihr hat, also in eine ­sogar kürzlich ein Tagebuch dazu vor­
ausradiert, was wir erst zehn Minuten durch den Erinnerungsblick gefilterte gelegt. Er schrieb es schon fast ohne
zuvor gesehen hatten: kein einziger.  Zeit. Daneben gibt es so etwas wie eine Augenlicht. Mich hat dieses Buch sehr
geschichtliche Erinnerung, die sich aus berührt, und mir fiel auf, dass wir in

2.
Nicht dauerhaft. Manchmal löschen Erlerntem, Erlesenem, aus historischen ­jüngeren Jahren das Erinnern vielleicht
wir Gelerntes sogar komplett: Bür- Zeugnissen zusammensetzt. Allerdings gar nicht so wertschätzen. In Abständen
germeister früher überfluteter Gemeinden ist diese gemeinsame Vorstellung keine einiger Jahre bringe ich eine Buchreihe
nennen das »Hochwasser-Demenz« – homogene, sie fällt sehr unterschiedlich namens »Erinnerungen an die Gegen-
­Gegenmaßnahmen, die man nicht sofort aus, obwohl sie gern als kollektives wart« heraus, in der ich versuche, die
umsetzt, scheitern bald am Unwillen ­Gedächtnis bezeichnet wird. Gegenwart festzuhalten. Ich möchte
der Bevölkerung. Die Demenz tritt umso Vergangenes also aufheben.

2.
­rascher ein, je mehr Einschränkungen Vielleicht für kurze Zeit? Im besten

2.
das Gelernte erfordert. Dann beginnen Fall für ein paar Jahrzehnte. Aber Eine Zeit, die nur den ereignispol-
wir zu feilschen: »Ja, alle Menschen haben nicht einmal von den schrecklichsten ternden Augenblick feiert und
gleiche Rechte, aber muss ich deshalb Ereignissen, von einem Krieg mit Millio- überhöht, wird faul im Zurückschauen.
auch Afrikaner aus Schlauchbooten holen?« nen von Toten wie dem Ersten Welt- Aus einer rasend grellen Gegenwart
Je länger Geschichte zurückliegt, desto krieg, ließen wir uns dauerhaft abschre- aber, die sofort in dunkler, unverarbeite-
mehr Rabatt fordern wir von ihren Lehren. cken, sondern fingen bald wieder einen ter Vergangenheit liegt, laufen wir eher
Neuerdings eröffnet der Unwille zu Ein- Angriffskrieg an. In der Zeitung stand, blind in die Zukunft.
schränkungen eine dritte Option: ange- der Mann, der in Idar-Oberstein einen

3.
wandte Blödheit. Will man etwa keinen jungen Tankstellen-Angestellten ermor- Laut Max Frisch das eigene Leben.
Mundschutz tragen, kann man sich taub, dete, habe zuvor getwittert: »Ich freue Es sei denn, wir erzählen die Ge-
blind, doof stellen. Das Leugnen unstritti- mich auf den nächsten Krieg«. schichte nach, die wir für unser Leben
ger Sachverhalte ist jetzt gesellschaftsfähig.  halten. Vergangenheit wird mithilfe der

3.
Ich weiß nicht, was man nicht Sprache in die Gegenwart geholt, aber

3.
Erzählen kann man alles. Man darf ­erzählen kann, aber ich persönlich sie wird geformt, verformt, sie bekommt
aber nicht erwarten, dass alle alles kann mir nicht vorstellen, von einem einen neuen Sinn. Vielleicht funktioniert
gern hören. NS-Vernichtungslager zu erzählen. ja so Erzählung, Prosa, Fiktion.

HOHE LUFT 43
GELASSENHEIT

44 HOHE LUFT
GELASSENHEIT

Von der
Ruhe des
Gemüts
Gelassener zu sein, das wünschen sich
wohl die meisten von uns. Aber wie geht das?
Lässt sich Gelassenheit lernen?
Und wenn ja, verdammt noch mal, wie?

Text: Jörg Bernardy


Kunstwerk: Willy Verginer

HOHE LUFT 45
B
GELASSENHEIT

ald ist es wieder so weit. Das Jahr neigt und was wir erleben, sondern wie wir uns dazu verhalten, wel­
sich dem Ende zu, und in unseren Köpfen che innere Haltung wir dazu einnehmen. Und im Gegensatz zur
sammeln sich die unterschiedlichsten Genetik und unseren Lebensumständen haben wir darauf am
Vorsätze und Wünsche für das neue Jahr. meisten Einfluss.
Vielleicht möchten wir mehr Zeit mit Gerade bei so altehrwürdigen Idealen wie Glück und
der Familie verbringen, einen wichtigen Gelassenheit ist die Fallhöhe jedoch natürlich groß. Deswegen
Karriereschritt in Angriff nehmen, die gilt für die meisten Menschen die Faustregel: Erst durch
Ernährung umstellen und mehr Sport ­wiederholtes Versuchen und Scheitern kommen wir unserem
treiben, oder wir sehnen uns danach, die Dinge gelassener zu Entwurf eines gelassenen und glücklichen Lebens näher. Im
nehmen. Dabei weiß jedoch kaum jemand genau, was Gelas­ Folgenden geht es daher nicht nur um wesentliche Bausteine
senheit eigentlich meint. Sophrosyne ist der griechische Begriff für eine gelassene Haltung, sondern es werden auch die häu­
für Gelassenheit, der im Deutschen auch mit Besonnenheit figsten Fehler und Hindernisse benannt. Zu letzteren zählen
übersetzt wird; ataraxía steht für »heitere Gelassenheit«. Doch vor allem mangelnde Impulskontrolle, übertriebener Perfektio­
können wir Gelassenheit lernen? Können wir durch Übung und nismus und ein allzu beständiges und unflexibles Selbstbild.
Disziplin zu einem besonneneren und damit auch glückliche­ Das mag an dieser Stelle vielleicht verwundern, weil wir
ren Menschen werden? Gelassenheit häufig mit einer gewissen Sturheit, Kontinuität,
Vertreter:innen der klassischen Tugendethik würden Gleichmut und beharrlicher Willenskraft gleichsetzen. Was
diese Frage grundsätzlich bejahen. Gilt die Gelassenheit neben auch nicht falsch ist, wenn wir damit grundsätzliche persön­
Mut, Gerechtigkeit und Weisheit doch seit Platon, Aristoteles liche Eigenschaften meinen. Ein allzu starres und allzu sehr auf
und den Stoikern als eine der vier Kardinaltugenden – also als Kontinuität aufbauendes Selbstbild kann jedoch geradezu das
eine Fähigkeit, die sich einüben und trainieren lässt. Doch so Gegenteil von Gelassenheit bewirken. Der erste und wichtigste
einfach ist es nicht. Folgen wir der modernen Psychologie und Baustein für eine gelassene Haltung ist nämlich nicht Bestän­
Biologie, gibt es gleich drei Faktoren, die darüber bestimmen, digkeit, sondern flexibles Denken. Es geht um die Fähigkeit,
wie ge­lassen wir sind und auch sein können: Erstens entschei­ sich ein dynamisches Selbstbild anzueignen.
det die Genetik darüber, in welchem Maße wir ein besonnenes

D
oder glückliches Gemüt mit auf diese Welt bringen. Zweitens ie amerikanische Motivations- und Entwicklungspsy­

Kunstwerk: Willy Verginer, White box, 2020, verschiedene Holzarten, Eisen, Acrylfarbe, 150 x 65 x 68 cm; Fotograf: Egon Dejori
haben unsere Lebensumstände und die kulturelle Sozialisie­ chologin Carol Dweck beschäftigt sich seit über drei­
rung in unserem Umfeld einen großen Einfluss darauf. Erst ßig Jahren mit der Wirkung, die Selbstbilder auf unser
drittens führt die Psychologie unsere innere Einstellung auf – Denken haben. Sie unterscheidet zwischen einem statischen
und folgt damit den eingeschlagenen Pfaden der philosophi­ und einem dynamischen Selbstbild, was wiederum maßgeblich
schen Tugendethik. beeinflusst, wie wir lernen, welche Ziele wir uns setzen und wie
Aufgrund des dritten Faktors aber – unserer inneren wir mit Herausforderungen und Hindernissen umgehen. Ein
Einstellung – sehen einige kognitive Verhaltenstherapeut:innen wesentlicher Unterschied liegt für Carol Dweck in der Frage,
in der stoischen Philosophie ein Vorbild und einen Wegbereiter was wir uns in der Rückschau auf unser Leben gern erzählen
für ihren therapeutischen Ansatz. Denn am Ende – so lassen möchten – und wie wir dabei zum Beispiel »Erfolg« definieren.
sich kognitive Verhaltenstherapie und praktische Philosophie Mal angenommen, wir feiern unseren 80. Geburtstag
auf einen Nenner bringen – zählt das, was wir tun. Oder anders und neigen zu einem statischen Selbstbild. Laut Dweck werden
ausgedrückt: Entscheidend ist nicht so sehr, was uns passiert wir dann eher auf unsere ungenutzten Talente schauen und auf
Trophäen, die wir niemals gewonnen

[LIFEHACK] haben. Im schlimmsten Fall machen


wir uns selbst Vorwürfe, indem wir be­
haupten: »Ich hätte sein können wie
VORWEGGENOMMENE RÜCKSCHAU der tolle Nachbar oder die großartige
Suchen Sie sich am besten einen Ort, an dem Sie sich wohlfühlen. Stellen Freundin XY.« Denn Personen mit ei­
Sie sich jetzt Ihren 80. Geburtstag vor: Wie feiern Sie ihn? Wen laden Sie nem statischen Selbstbild sehen Fehler
ein? Wer wird alles vor Ort sein? Wen werden Sie umarmen? Führen Sie und Rückschläge eher als Bedrohung
ein imaginäres Gespräch mit einem kleinen Mädchen, das Ihre Hand nimmt und Abwertung des eigenen Selbst an.
und Sie fragt: »Was waren die größten Ängste, die du in deinem Leben Menschen mit einem dynami­
überwunden hast? Und die mutigsten Entscheidungen, die du getroffen hast? Gibt schen Selbstbild hingegen sehen Feh­
es etwas, das du bereust? Worauf bist du rückblickend besonders stolz?« Je ehr- ler und Rückschläge tendenziell als
licher Sie bei diesem Gedankenexperiment antworten, desto eher können Sie schon Möglichkeit, etwas Neues auszuprobie­
vor Ihrem 80. Geburtstag Ihre Prioritäten neu ausrichten – und so zu mehr Gelassen- ren und sich weiterzuentwickeln. Ha­
heit und Lebensglück finden. ben wir uns immer wieder um ein dyna­

46 HOHE LUFT
GELASSENHEIT

misches Selbstbild bemüht, werden wir uns bei der Frage nach uns ans Beenden, Abbrechen und Abschiednehmen. Loslassen
Erfolg viel weniger mit anderen vergleichen und stattdessen steht für Irmtraud Tarr daher auch »in Kontrast zu dem, was
vielleicht sagen: »Ich habe alles gegeben für das, was mir am uns anerzogen wird: Beharrlichkeit, Ausdauer, Durchhalte­
meisten am Herzen lag.« Wir definieren unseren Erfolg dann vermögen«, ein unbeirrtes Festhalten an unseren Plänen und
auch nicht dadurch, dass wir besser als andere waren. Uns ist Zielen. Fehlt uns die Fähigkeit des Loslassens jedoch, erleben
klar, dass Talent nur einen kleinen Teil von Erfolg ausmacht wir uns als weniger selbstwirksam, und wir haben häufiger das
und die eigene Anstrengung viel größer wiegt. schale Gefühl, unser eigenes Potenzial nicht zu entfalten. Letz­
teres wiederum ist nicht selten ein Grund für innere Unruhe

E
rfolg heißt, so gut zu sein, wie man kann« ist für uns dann und latente Unzufriedenheit.
so etwas wie eine gelebte Gewissheit, die uns tatsächlich »Menschen mit einem dynamischen Selbstbild wissen,
gelassener macht. Verwechseln wir Erfolg allerdings mit dass sie einige Zeit benötigen, um ihr Potenzial zu entfalten«,
Perfektionismus und ein dynamisches Selbstbild mit ständiger schreibt Carol Dweck. Sie erleben sich häufiger als selbstwirk­
Selbstoptimierung, wird uns ein gelassener Blick auf uns selbst sam und können mit den ganz normalen Veränderungsprozes­
nur schwerlich gelingen. Wir werden scheitern, wenn wir nicht sen im Leben gelassener umgehen. Vor allem der Glaube an
dazu bereit sind, unseren Schwächen, Fehlern und Misserfol­ unveränderbare Eigenschaften wie: »Ich bin eben nicht talen­
gen auf konstruktive und ehrliche Weise zu begegnen. tiert genug!«, »Ich kann es einfach nicht!« oder »So bin ich
Menschen mit einem dyna­ eben!« stören unsere Gelassenheit.
mischen und wandelbaren Selbst­ Die Forschungen von Carol Dweck
bild sind eher bereit zu lernen und
zu wachsen, was ihnen wiederum
Fehlt uns die zeigen: Für ein gesundes Selbstbild
und eine gelassene Haltung sollten
dabei hilft, mit Veränderungen in
ihrem Umfeld umzugehen. Sie be­
Fähigkeit des wir uns von dem Glauben an unver­
rückbare Bilder von uns selbst ver­
herrschen einen weiteren Baustein
für eine gelassene Haltung: die
Loslassens, erleben abschieden. Was uns natürlich nicht
davon befreit, einen realistischen
Kunst des Loslassens. Und sie ha­
ben gelernt, dem sogenannten
wir uns als weniger Blick auf uns selbst zu werfen.
 

selbstwirksam und
W
»Klammerreflex« zu widerstehen. enn wir Seelenfrieden
Schon als Baby greifen wir nach und unseren Lebens­
Dingen und halten instinktiv daran
fest. Dieser Reflex macht sich spä­
haben häufiger das sinn finden wollen, soll­
ten wir aufhören, nach einem Aus­
ter als das Bedürfnis bemerkbar, an
fixen Erwartungen und Bildern von
schale Gefühl, weg zu suchen, und stattdessen
nach einem Zugang zu unseren Pro­
uns selbst festzuhalten. »Aber das
Loslassen, die kleinen und großen
unser Potenzial blemen Ausschau halten«, schreibt
Steven C. Hayes, einer der renom­
Abschiede, müssen wir erst ler­
nen«, meint die Psychotherapeutin
nicht zu entfalten. miertesten Psychologen der Gegen­
wart und Professor für Psychologie
Irmtraud Tarr. an der University of Nevada. Er gilt
Ich kenne es aus eigener Erfahrung: Während eines mei­ als Begründer der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT)
ner mehrtägigen Workshops hatte ich mir fest vorgenommen, und litt selbst unter einer Angststörung sowie Panikattacken.
an meinem freien Tag eine Radtour durch die idyllische Natur Ihm zufolge können wir angstfreier und gelassener werden,
­Niederbayerns zu unternehmen. Ich stand spät auf, frühstückte in wenn wir die eigenen Vermeidungsreaktionen identifizieren
Ruhe, packte alles für ein Picknick zusammen und wollte gerade und langsam durch neues Fühlen und Verhalten ersetzen.
los, als eine Teilnehmerin, eine gestandene Psychotherapeutin, Laut Hayes neigen wir alle dazu, negative Emotionen
aus dem Seminarraum gerannt kam und sich neben mich setzte. wie Angst, Wut, Trauer oder Ärger zu umgehen. Dieser Hang
Sie in Tränen aufgelöst, ich innerlich unruhig, weil ich mein zur Erlebnisvermeidung wiederum verhindert, dass wir unsere
grünes Idyll bereits dahinfließen sah. Ich stellte mir selbst die inneren Erlebnisse akzeptieren. Gerade wenn wir es mit un­
Frage: Was wird dir heute Abend wichtiger sein, dein offenes Ohr angenehmen Gefühlen zu tun haben, sollten wir konsequent
und die Unterstützung dieser verzweifelten Person oder deine hinschauen, wahrnehmen und sie annehmen. Ziel ist es daher,
­geplante Radtour? Ich arrangierte mich mit einer kürzeren Tour ihr Aufkommen frühzeitig zu erkennen, es zu akzeptieren und
am späten Nachmittag und war hinterher überrascht, wie viel produktiv für uns zu nutzen. Oder wie Seneca es als Vorläufer
Kraft mir dieses Gespräch gegeben hatte. der modernen Verhaltenstherapie formulierte: »Das beste Mit­
Als Mensch mit einem statischen Selbstbild empfinden tel gegen Zorn ist Aufschub; fordere von deinem Zorn anfäng­
wir »Loslassen« meist als Aufgeben oder Scheitern. Es erinnert lich nicht, dass er verziehe, sondern nur, dass er nachdenkt.«

HOHE LUFT 47
GELASSENHEIT

Seneca zufolge sollen wir unsere negativen Emotionen also Damit wir zu einer einigermaßen realistischen Selbsteinschät­
quasi zum Nachdenken bringen. Voraussetzung dafür ist nicht zung kommen, brauchen wir zudem Ambivalenztoleranz und
zuletzt das, was der Nobelpreisträger für Wirtschaft, Daniel eine gute Portion Zuversicht. Zuversicht beinhaltet das Wissen
Kahneman, »langsames Denken« oder auch »System 2« nennt. um die Schwierigkeiten und Hindernisse, die gegenwärtig und
Dem gegenüber stellt er das »schnelle Denken« beziehungs­ in Zukunft auf uns zukommen werden. Damit unterscheidet sie
weise »System 1«, eine Art »mentale Schrotflinte«, die eher sich vom bloßen Hoffen einerseits und von einem allzu naiven
­impulsiv und emotional agiert. Diese beiden Denksysteme, die Optimismus andererseits. In der Zuversicht steckt ein strategi­
Kahneman in unterschiedlichen Gehirnregionen verortet, gera­ scher Pessimismus, der weiß, dass nicht alles gut werden wird,
ten immer wieder in einen Konflikt. Das langsame Denken will aber eben auch das Selbstvertrauen, dass man mit den Heraus­
gründlich analysieren, hinterfragen forderungen und Veränderungen schon
und in die Tiefe gehen. Im Gegensatz fertig werden wird.
zum schnellen Denken eignet es sich
für das Durchdringen komplexer Sach­
verhalte und Probleme. _
[LEKTÜRE] Ich erinnere mich noch gut an
meinen persönlichen Tiefpunkt zu Be­
ginn der Coronapandemie, als ich wäh­
Leider ist »System 2« unglaub­ C A R O L DW E C K rend eines Spaziergangs die Grenze
lich viel anstrengender als sein impul­ Selbstbild. Wie unser von Hamburg nach Schleswig-Holstein
siver Kollege. Kein Wunder also, dass Denken Erfolge und überquerte und mir von Polizeibeam­
auch unser Gehirn »System 2« gern Niederlagen bewirkt ten das Bleiben im anderen Bundes­
vermeidet und viel lieber unseren PIPER, 2017 land versagt wurde. Ärger, Wut und in­
oberflächlichen Vermeidungsimpulsen Anhand eingängiger Studien und zahl- nere Verzweiflung, aber auch die Angst
folgt. Bleibt aber »System 1« im Alltag reicher Gespräche mit Spitzensport- vor einer größeren politischen Katas­
unhinterfragt, folgen wir zu sehr unse­ ler:innen, Geigenvirtuos:innen, Elitestu- trophe engten meine Brust ein.
ren emotionalen Reflexen. Wir neigen dent:innen und anderen Berufsgruppen Ich dachte an die Parabel, in der
dann zu Vermeidung und einfachen zeigt die Psychologin, wie sehr der drei Frösche in einen Topf mit flüssiger
Lösungen, und unsere Fehlerquote Glaube an unveränderliche Eigen- Sahne fallen. Der Pessimist sieht von
nimmt massiv zu. Vertrauen wir beim schaften die Entfaltung des eigenen Anfang an schwarz, gibt auf und er­
Autofahren beispielsweise zu sehr auf Potenzials einschränkt. trinkt. Der Optimist denkt sich: »Ach,
»System 1«, fahren wir je nach Lust _ das wird schon. Bald wird mich jemand
und Gefühl zu schnell oder zu lang­ S T E V E N C . H AY E S entdecken und retten!« Auch  dieser
sam, biegen falsch ab oder unterschät­ Kurswechsel im Kopf. Von Frosch ertrinkt. Nur der zuversicht­
zen eine Kurve. Schlimmstenfalls hal­ der Kunst anzunehmen, liche Frosch strampelt so lange, bis die
ten wir das emotionale und impulsive was ist, und innerlich frei Sahne zur Butter wird und er dem Topf
»System 1« für unser Bauchgefühl und zu werden endlich entfliehen kann. Glücklicher­
sind davon überzeugt, das Richtige zu B E LT Z , 2 0 1 9 weise identifizierte ich mich mit dem
tun. Obwohl wir in diesem Moment Der Psychologe und Begründer der zuversichtlichen Frosch, ohne allzu
uns und andere Menschen gefährden. Akzeptanz- und Commitmenttherapie sehr zu rebellieren.
(ACT) liefert konkrete Strategien im Hinter Ambivalenztoleranz ver­

L
angsames Denken und Beobach­ Umgang mit Depressionen, Bezie- birgt sich die Fähigkeit, Widersprüche
ten erfordern eine ausgeprägte, hungsproblemen und Leistungsdruck, und Unterschiede zu sehen und als
gegenwartsbezogene Aufmerk­ aber auch mit Sucht, Essstörungen, solche stehen zu lassen. Gelingende
­
samkeit. Ein Risiko entsteht jedoch chronischen Schmerzen und posttrau- Beziehungen und Partnerschaften zum
auch, wenn wir es mit dem langsamen matischen Belastungsstörungen. Beispiel kommen nicht ohne Ambi­
Denken übertreiben und nicht für ge­ _ valenztraining aus. Können wir die
nügend Ausgleich sorgen. Dann droht J Ö R G B E R N A R DY kleineren Ungereimtheiten und Wi­
das, was der Psychologe Roy Baumeis­ Der kleine Alltagsstoiker. dersprüche im Verhalten unserer
ter Ich-Erschöpfung nennt. Wir ver­ 10 Gelassenheitsregeln fürs Partner:innen nicht tolerieren, steigt
brauchen so viel Willenskraft, dass wir Lebensglück die Wahrscheinlichkeit, dass alltäg­
ausgebrannt sind. Erst mithilfe des GRÄFE UND UNZER, 2021 liche Auseinan­ dersetzungen eskalie­
langsamen Denkens aber finden wir Dieses Buch führt in die Philosophie ren. Es hat mich beispielsweise viele
heraus, welchen Intuitionen wir ver­ des Stoizismus ein und zeigt, wie sehr Jahre Beziehungsarbeit gekostet, bis
trauen sollten und welchen nicht. Ziel diese mit aktuellen Erkenntnissen aus ich einigermaßen gelernt habe, die
der gelassenen Haltung ist es, den Psychologie, Verhaltenstherapie und schlechte Laune oder bestimmte Ma­
richtigen Gefühlen zu vertrauen. anderen Wissenschaften vereinbar ist. cken meiner Mitmenschen nicht als

48 HOHE LUFT
GELASSENHEIT

persönlichen Affront gegen mich zu sehen. Heute gelingt es ­ ereiche unseres Lebens auswirken. Die vielleicht wichtigste
B
mir immer öfter, auch das Liebenswerte hinter gewissen Un­ Funktion intrinsischer Motivation liegt darin, dass wir dabei
vermögen anderer zu erkennen. Sinnerfüllung erleben.
Den Satz »Ich lasse dich, ich will es so« nannte der Genau deshalb ist sie für unser Leben so wichtig, weil
französische Philosoph Jacques Derrida (1930–2004) einmal sie über unsere alltäglichen Interessen hinausgeht. Intrinsische
»die schönste und unvermeidlichste aller Liebeserklärun- Motivation genügt sich selbst, sie verschafft uns das Gefühl von
gen«. Wenn wir unseren Freund:innen und Partner:innen Freiheit und innerer Unabhängigkeit. Nicht umsonst zeigt sie
ihre ambivalente Andersartigkeit zugestehen, üben wir uns sich daher auch häufig in Verbindung mit Flow-Erlebnissen.
in aktiver Gelassenheit, die wesentlich ist für Liebes- und Das Flow-Erlebnis wiederum ist eine unverzichtbare Quelle für
Freundschaftsbeziehungen. positive Gefühle. Schon die Stoiker wussten, dass tiefe, innere
Freude der höchste Ausdruck einer gelassenen Haltung ist.

Z
u guter Letzt ein Wort zur Kraft positiver Gefühle. Laut Wer sich mehr Gelassenheit wünscht, sollte auf jeden
Carol Dweck gibt es einen direkten Zusammenhang Fall dafür sorgen, dass Gefühle wie Dankbarkeit, Freude, Wohl­
zwischen einem dynamischen Selbstbild und intrinsi­ wollen und Liebe im Alltag nicht zu kurz kommen. Ein übertrie­
scher Motivation: »Das dynamische Selbstbild ermöglicht es bener Optimismus gefährdet unsere Gelassenheit dabei jedoch
Menschen, das zu lieben, was sie tun, und es auch dann noch ebenso wie ein Mangel an positiven Gefühlen. Selbstwirksam­
zu lieben, wenn sich Hindernisse auftun. Sportler, Vorstands­ keit bedeutet nämlich nicht nur, dass wir an unsere inneren und
vorsitzende, Musiker oder Wissenschaftler mit einem dynami­ äußeren Ressourcen zur Bewältigung schwieriger Situationen
schen Selbstbild lieben das, was sie tun, im Gegensatz zu Men­ glauben. Sie zeigt sich auch in der Fähigkeit, das eigene Leben
schen mit einem statischen Selbstbild.« mit positiven Situationen und freundlichen Begegnungen zu be­
Je häufiger wir die Erfahrung machen, dass wir nicht reichern. Trotz dieser positiven Aussichten sollten wir jedoch
primär von äußeren Anreizen angetrieben werden, sondern skeptisch bleiben beim Wunsch, ein rundum gelassener und
Motivation und Interesse aus uns selbst heraus kommen, desto glücklicher Mensch zu werden. Möglicherweise reicht es voll­
mehr wird sich dies auch als Ausgeglichenheit auf andere kommen, weniger häufig die Gelassenheit zu verlieren. •

49

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DAS PHILOSOPHISCHE OBJEKT

Blumenbergs Stenorette
In unserer neuen Serie stellen wir Dinge oder Hilfsmittel
vor, die für das Denken von Philosoph:innen von besonderer
Bedeutung waren oder sind.

Text: Günter Figal; Illustration: Mariano Pascual

Folge 1:
Hans
Blumenberg
und sein
Diktiergerät

50 HOHE LUFT
DAS PHILOSOPHISCHE OBJEKT

D [BIOGRAFIE]
er Philosoph arbeitete nachts. Nach dem Abend-
essen zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück und
diktierte. So beschreibt es Sibylle Lewitscharoff in ih- _
rem Roman »Blumenberg« – und auch wenn Romane
nicht der Realität entsprechen müssen, ist diese Beschreibung Hans Blumenberg (1920–1996)
dinghaft bezeugt. Zwei von Hans Blumenbergs Diktiergeräten, Der Philosoph und Philologe ist berühmt für seine Werke über

die Stenorette 2100 und die Stenorette 2060, Produkte der Firma Metaphern und Mythen wie »Schiffbruch mit Zuschauer« und

Grundig, werden im Deutschen Literaturarchiv in Marbach seine vielfältigen philosophiegeschichtlichen Untersuchungen

am Neckar aufbewahrt. Das eine ist ein flach auf dem Tisch wie »Die Legitimität der Neuzeit«.­

liegendes schwarzes Gerät mit etlichen Schaltknöpfen und


­Tasten, das andere ein elegantes, leicht in der Hand zu haltendes der Schrift für das Denken ausbreiten ließ: Mit dem Schreiben
silbergraues Ding. Zum Bestand des Archivs gehören auch verliere das Denken seine Lebendigkeit, und die Schriften seien
­etliche der von Blumenberg besprochenen Tonbandkassetten, deshalb nichts als tote Abbilder der Gedanken. Doch Gedanken
mittlerweile digitalisiert. So kann man dem Philosophen bei sind flüchtig; hält man sie nicht irgendwie fest, so verschwinden
der Arbeit zuhören. sie. Einmal niedergeschrieben, lassen sie sich bearbeiten und
Das zu tun ist zugleich irritierend und aufschlussreich. ­dabei prägnanter und treffender fassen.
Irritierend und mit einem gewissen Unbehagen verbunden, weil Das haben auch die philosophischen Schreibskeptiker
man sich indiskret verhält. Man hört etwas, das nicht für einen seit Platon gewusst und Möglichkeiten gesucht, das mündliche
bestimmt ist, sondern allein für die Sekretärin gedacht war, die Denken mit der Schrift zu vermitteln, Platon allen voran, indem
das Aufgenommene abschrieb. Doch man erfährt auf diese er Texte schrieb, die Gesprächssituationen inszenierten, in denen
Weise auch, wie Blumenbergs Gedanken zur Sprache finden – die individuelle Lebendigkeit des Denkens bewahrt ist. Edmund
manchmal zögerlich, dann sucht der Diktierende nach dem rech- Husserl hat Ähnliches bewirkt, indem er in Kurzschrift sein
ten Wort, dann wieder so, als käme die prägnante und schlüssige ­eigenes Denken mitschrieb. Was für Husserl die Gabelsberger
Formulierung ganz von selbst. Wenn man Blumenbergs Schrif- Stenografie war, wurde für Blumenberg die Stenorette. Der Name,
ten liest, nachdem man die Bänder gehört hat, findet man in ih- allem Anschein nach von der Grundig AG für ihre eigenen Ge-
nen diese suchende und festlegende Stimme wieder. Und man räte erfunden, suggeriert die Verwandtschaft zur Stenografie,
versteht, dass Blumenberg im Sprechen dachte und die Schrift- vielleicht sogar mit dem Anspruch, dass es so noch einfacher
form seiner Bücher ein Abdruck seines mündlichen Denkens ist. geht – einfach nur mündlich.
Der mündliche Charakter von Blumenbergs Denken Allerdings wird man beim Denken mit Stenorette die
zeigt sich auch daran, dass sogar Einfälle und Lektürefunde mit Schrift nicht los. Zwar muss die Hand nicht mehr schreiben,
der Stenorette festgehalten sind. Man darf sich vorstellen, wie ­sondern allein das Gerät bedienen. Aber man diktiert ja, damit
Blumenberg während einer nächtlichen Lektüre von einem Satz geschrieben wird, nur dass jemand anderer schreibt, und zwar
oder einem Abschnitt angesprochen war, zur Stenorette griff und zeitversetzt. Am frühen Morgen, so liest man in Lewitscharoffs
den Fund diktierte – meist für eine Karteikarte, die er später in Roman, sei der Philosoph zum Briefkasten gegangen, um die
seinem umfangreichen und wohlsortierten Zettelkasten einord- ­besprochenen Kassetten an seine Sekretärin zu schicken. Doch
nen würde. Der Fund – zum Beispiel in einem Notizbuch Ernst nicht erst beim Abschreiben, schon beim Diktieren ist die Schrift
Machs, einer Schrift Georg Simmels, in Rilkes »Die Aufzeichnun- im Spiel. Sie dringt in die gesprochene Sprache ein, indem sie
gen des Malte Laurids Brigge« oder in Goethes »Faust II« – nötigt auszusprechen, was man sonst still mitliest – Satzzeichen,
regte oft zu einem Kommentar oder zu weiterführenden Über­ Einzelheiten des Formats, Schreibweisen. Das hört man auch in
legungen an. Das Festgehaltene konnte später mit anderem wie Blumenbergs Stimme, die nicht nur konzentriert, sondern auch
in einem Mosaik zusammengefügt werden. Dann wäre eine jener leicht angestrengt klingt. Man hört, wie Blumenberg im Gedan-
dezentralen Zitat- und Gedankenanordnungen entstanden, die so kenfluss »Komma« sagt und »Punkt«, dann auch »Absatz« oder
charakteristisch für Blumenbergs Philosophieren sind. »eine neue Seite bitte«. Man hört ihn in erstaunlicher Geschwin-
Im Diktieren sah Blumenberg wohl eine organische Fort- digkeit Wörter buchstabieren, etwa »Kaufmann-Anton-Ida-­
setzung des Lesens und Nachdenkens. Andere haben das anders Richard-Otto-Siegfried« für »kairos«.
gehalten: Walter Benjamin war ein Schreibdenker, der seine Noti­ Blumenberg war sich über die Unumgänglichkeit der
zen und Texte mit kalligrafischer Sorgfalt schrieb. Und Ernst Schrift im Klaren. Auch als mündlicher Denker wollte er ja, dass
­Tugendhats Texte, einschließlich der Notizzettel, entstanden auf seine Gedanken zu Schrift werden und zu lesen sind. Seine Dik-
einer gewaltigen mechanischen Schreibmaschine. Aber der Vor- tate führen zu seinen Büchern hin. Dem sollte man folgen – also
behalt gegen das Schreiben, wie Blumenberg ihn verkörpert, ist die Stenoretten und die besprochenen Bänder im Archiv lassen
mehr als eine individuelle Neigung. Er gehört zur Philosophie, – und Blumenberg lesen. •
seit Platon im nicht schreibenden Sokrates den Philosophen par
excellence entdeckte und ihn im Dialog »Phaidros« die Nachteile Günter Figal ist emeritierter Professor für Philosophie in Freiburg.

HOHE LUFT 51
52 HOHE LUFT
DIE
FEMINISMUS

FREIHEIT
DER
FRAUEN
Wie steht es heute um den Feminismus? Wie frei können und
wollen Frauen wirklich sein? Um diese Fragen zu beantworten,
sollte man sich auch mit den Stimmen konservativer Feministinnen
wie Antifeministinnen auseinandersetzen. So wird auch klarer,
für welche Freiheiten es sich künftig zu kämpfen lohnt.

Text: Rebekka Reinhard; Kunstwerk: Jenna Gribbon

HOHE LUFT 53
f
FEMINISMUS

Debatte 2017 eine Zäsur: das baldige Ende nicht nur von sexua-
lisierter Gewalt und Machtmissbrauch, sondern auch von
Ungleichheit. Heute wirkt das Ganze oft schon wieder wie
ein weiteres »Frauenthema«, das in der rosaroten Schublade
archiviert wurde. Damit sich eben genau nichts ändert. Damit
»das System« – die kapitalistische Gesellschaftsordnung – so
bleiben kann, wie es ist.
Betrachten wir die Ausgangslage: Viel deutet darauf hin,
dass die meisten gut ausgebildeten Frauen in unserer pluralis-
tisch-kapitalistischen Demokratie, die sich einen Wandel wün-
schen und mit Kind und Kegel in relativ normalen Verhältnis-
sen ­leben, einen moderaten liberalen Feminismus vertreten.
Sie wollen Emanzipation, Chancen- und Leistungsgerechtigkeit
nicht gegen die Männer, sondern gemeinsam mit ihnen.
Das wollte auch schon die amerikanische Hausfrau und
Journalistin Betty Friedan (1921–2006), als sie 1963 »The Femi-
nine Mystique« (»Der Weiblichkeitswahn«) veröffentlichte. Ihr

»Eine Frau sollte


FEMINISMUS IST GUT! Darin scheinen sich viele Frauen
mit Job und Familie einig zu sein. Doch welchen Feminismus das Recht haben,
brauchen sie wirklich? Die typische heterosexuelle Mittelklas-
sefrau, die mit dem Wort Feminismus sympathisiert, scheint als Ehefrau und
sich nicht als neue Alice Schwarzer gerieren zu wollen. Was
sie will, ist bloß ein weniger anstrengendes Leben. Ein Leben, Mutter zu Hause zu
in dem Frau und Mann Pflichten wie Privilegien fair unterein-
ander aufteilen; im Beruf, im Haushalt, bei der »Care-Arbeit«. bleiben.«
Wie und ob das gelingen kann, ist nie nur Privatsache. Alle
Welt mischt mit, wenn es um zeitgemäße weibliche und männ- Phyllis Schlafly (1975)
liche Rollenbilder geht. Speziell aus den Medien und den

121.92h x 91.44w cm; © Courtesy of the Artist, The Journal Gallery, NY and Fredericks & Freiser, NY
Kommunikationsabteilungen von Unternehmen aber schallt bahnbrechendes Werk, für das Friedan zahlreiche Frauen in-
nicht die Vernunft. Sondern der ideologische Anspruch: terviewte, Studentinnen, junge Hausfrauen und Mütter sowie

Gemälde: Jenna Gribbon / The Artist Eroticized (Robin), 2020 / Oil on Linen / 48h x 36w in
Frauen können, sollen, müssen alles haben! Frauen älterer Semester, schlug damals ein wie eine Bombe. Es
Leider ist es unmöglich, diesen großflächig gestreuten, markierte den Beginn der sogenannten zweiten Welle der Frau-
hoch suggestiven Imperativ in die Realität zu übersetzen. Das enbewegung, die, ausgehend von den USA, auch die Emanzipa-
weiß jede arbeitende Mutter, die nach einem hektischen Büro- tion in Deutschland befeuerte. Die amerikanische Mittelklasse-
tag trotz gegenteiliger Intentionen dem voll automatisierten frau sei innerlich zerrissen, so Friedans Diagnose. Zerrissen
Drang erliegt, schnell noch Hausaufgaben zu kontrollieren, die zwischen dem »Wahn«, dem Ideal der perfekten Hausfrau und
Wäsche zu machen, Nudeln zu kochen und die Toilette zu Mutter entsprechen und beim Schrubben des Fußbodens ei-
­putzen. Frauen könnten gnädiger mit sich sein, suggerierte nen Orgasmus bekommen zu müssen – und der Realität einer
kürzlich die Journalistin und verheiratete Mutter Anna Kleen. modernen Welt, in der gebildete Frauen arbeiten und sich
Es sei »schließlich immer noch besser, eine Feministin in selbst verwirklichen dürfen.
­Teilzeit als gar keine zu sein«. Ein gutes Beispiel ist die mutmaßlich von Friedans
Soll man sich damit begnügen? Mehr als 100 Jahre Buch inspirierte Serienheldin Betty Draper, Ehefrau von »Mad
nach Einführung des Frauenwahlrechts und gut 50 Jahre Men«-Protagonist Don Draper. Sie zeigt alle Symptome des
nach dem »Women’s Liberation Movement« kann es nicht »Hausfrauensyndroms«: das strahlende Lächeln, die gepflegte
schaden, die Widersprüche des Feminismus (der Feminis- Frisur, die blitzblanke Küche. Die schlaflosen Nächte, das
men) zu prüfen und sich zu fragen, warum auch heute gilt, ­Gläschen zwischendurch, die Sitzungen beim Psychiater. Ihr
was Alice Schwarzer schon 1975 erkannte: Frauen haben eigenes Schweigen – das Schweigen aller über ein »Problem,
keine Zeit. Frauen haben Angst. das keinen Namen hat« (wie Friedan es nennt).
Gesellschaftliche Veränderungen sind eine zähe Ange- Im heutigen System ist die Idealnorm Hausfrau passé. An
legenheit. Eine Zeit lang schien es so, als brächte die #MeToo- ihre Stelle ist Super Mom getreten, der optimale, weil universell

54 HOHE LUFT
FEMINISMUS

einsetzbare, kostengünstige, höchst flexible 24-Stunden-Support das das strikte Abtreibungsverbot im Bundesstaat Texas (das
für Heim und Office. Die allseits beliebte Allzweckwaffe, deren im Oktober 2021 trotz der Klage der US-Regierung vorläufig
»Systemrelevanz« öffentlich wie privat zwar anerkannt – deren wieder in Kraft gesetzt wurde) als ve­r fassungswidrig erklärte.
Wert aber immer noch kein entsprechender Preis zugemessen Für Phillis Schlafly war der Zusammenhang sonnenklar: »ERA
wird. Weder von der Gesellschaft. Noch von den Frauen selbst. heißt Abtreibung und Bevölkerungsrückgang«, behauptete sie
Die meisten Frauen schlucken die schlechte Bezahlung, die – eine These, mit der sie schon bald zu Amerikas führender An-
miese Rente, weil sie verständlicherweise nicht auf Kinder ver- tifeministin werden sollte.
zichten wollen. Auf eine sogenannte Karriere aber auch nicht. Der Frage »What’s Wrong With ›Equal Rights‹ for

S
­Women?« hatte sich Schlafly schon ein Jahr zuvor gewidmet.
ie glauben weiter an den liberalen Feminismus. Sie Ihre Antwort, bis heute in Dutzenden College-Büchern nach-
hoffen, dass Freiheit und Chancengleichheit zur gedruckt, stellt die feministischen Argumente auf den Kopf.
Verwirklichung dieser Freiheit doch bald möglich Denn anders als ihre Gegnerinnen nennt sie die amerikani-
sein werden. Sie hoffen und warten, dass die sche Frau die am meisten privilegierte von allen. »Wir« hätten
Gleichstellungspolitik – Frucht der deutschen
­ die meisten Rechte und die wenigsten Pflichten, da »wir« uns
Emanzipa­tionsbewegung der 1970er-Jahre – ihre Versprechen dem Wichtigsten auf der ganzen Welt überhaupt widmen
einlöst. Bis 2029 wird jedes Grundschulkind einen Rechtsan- dürften: unserer Familie nämlich.
spruch auf ganz­tägige Betreuung haben. Toll. Endlich! Doch Für Schlafly ist »Women’s Lib« nicht das Werk von
sind die Probleme damit gelöst? Oder muss das Projekt des li- Frauenrechtlerinnen, die mit zerzaustem Haar in Talkshows
beralen Feminismus unvollendet bleiben? sitzen. Vielmehr seien es die Erfinder der Nähmaschine, des
Blicken wir hier zur Abwechslung mal auf die Argu- Automobils und der Elektrizität gewesen, die die Frauen wahr­
mente des konservativen Antifeminismus, der in den USA der haft befreit hätten. Denn: Dank Männern wie Henry Ford &
1960er-Jahre als Reaktion auf den zunehmenden Erfolg emanzi- Co. seien Frauen nun frei, einem Vollzeit- oder Teilzeitjob
patorischer Aktivitäten laut wurde. Denn 1966 gründete Frie- nachzugehen. Oder auch, noch besser, aus einer Fülle »inte­
dan mit 28 Männern und Frauen – darunter die Frauenrecht­ ressanter erzieherischer, kultureller oder haushälterischer
lerin Gloria Steinem und die Anwältin und Ökofeministin Bella Aktivitäten« zu wählen.
Abzug – die bis heute einflussreiche »National Organization for »STOP ERA« hieß die Bewegung, mit der es Schlafly
Women« (NOW), um Gleichstellung in allen Bereichen durch- binnen Kurzem gelang, (zumeist) konservative Hausfrauen un-
zusetzen. Ihr wichtigstes Ziel war damals, für das Gleichbe- terschiedlichster religiöser Konfessionen zu mobilisieren und
rechtigungsgesetz »Equal Rights
Amendment« (ERA) zu streiten
und dessen Aufnahme in die Ver-
fassung zu erreichen.
Doch Phyllis Schlafly
[LIFEHACK]
(1924–2016), eine rosafarben kos-
WIE KANN ICH ALS MANN EINER FRAU DAS
tümierte Katholikin, Kapitalistin LEBEN ERLEICHTERN?
und Antikommunistin mit Perlen- Tragen Sie den Müll runter, kümmern Sie sich um die Schmutzwäsche,
kette, machte den Feministinnen und säubern Sie die Toilette – sofort und freiwillig. Wiederholen Sie diese
einen Strich durch die Rechnung. Handlungen täglich. Um sich in Stimmung zu bringen, fragen Sie sich:
Schlafly war nicht nur verheiratete Was wäre, wenn ich nicht wüsste, dass ich ein Mann bin? Vor gut 50 Jahren
Mutter von sechs Kindern, stu- forderte der Philosoph John Rawls (1921–2002) zu einem Gedankenexperiment
dierte Politikwissenschaftlerin und auf: Angenommen, jeder und jede wäre von einem »Schleier des Nichtwissens« ver­-
brillante Juristin, sondern auch hüllt. Niemand würde sein oder ihr Geschlecht kennen, seine ethnische oder soziale
eine hervorragende Politstrategin Herkunft, seine Talente und Vorlieben. Wenn die Menschen nun die Grundsätze ihrer
mit eigener Radioshow. In ihrem Gesellschaft beschließen wollten – was würden sie wählen? Wie würden sie die
Newsletter – dem legendären Güter verteilen? Rawls selbst glaubte, dass man sich auf zwei Gerechtigkeitsgrundsätze
»Phyllis Schlafly Report« – ver- einigen würde: erstens gleiche Grundrechte auf Freiheit und Teilhabe; zweitens
band Amerikas führende Anti­ Chancengleichheit und die Bedingung, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten
feministin das ERA auf clevere »den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen«. Zu den
Weise mit der Grundsatzentschei- »am wenigsten Begünstigten« unseres Systems gehören übrigens alleinerziehende
dung zum Schwangerschaftsab- Mütter. Viele schuften ein Leben lang und sind zur Belohnung arm, wenn sie in
bruch im Verfahren »Roe vs. Rente gehen. Der »Schleier des Nichtwissens« ist ein Gedankenexperiment, das Sie
Wade« von 1973 – einem Meilen- anwenden sollten, wann immer Sie in Versuchung kommen, aus der privilegierten
stein in der US-Justiz­ geschichte, Position »Mann« heraus Missstände zu ignorieren. Die kleinen – und die ganz großen.

HOHE LUFT 55
FEMINISMUS

die Ratifizierung des ERA zu verhindern. »STOP« – wie »Stop würden durchs Nur-Kinderkriegen-Zimtwecken-fabrizieren-
Taking Our Privileges«. Aus heutiger Sicht muss Schlafys Posi- und-Rücken-Freihalten mehr fürs Bruttosozialprodukt tun als
tion wie ein Witz erscheinen. Was, bitte, ist »interessant« an durch den lächerlichen Versuch, »Männer« sein zu wollen.
Töpfern und Marmeladekochen? Bügeln soll ein Sonderrecht Das findet Harrington nicht. Sie ist auch keine Antifeministin.
sein? Da kriegt wohl jede liberal-feministisch gesinnte Super Allerdings hält sie den liberalen Feminismus und die liberale
Mom einen Lachkrampf. Fortschrittsideologie für überholt. Beide wären zu Beginn des

L
Industriezeitalters wichtig gewesen – heute dagegen müsse
eider reicht das nicht, um ihre intermittierend man Feminismus ganz anders denken und leben.
hochkochende Wut über das chronische Zuviel in Gegen das »idealisierte, atomisierte, individualisierte li-
ihrem Alltag loszuwerden. Wer Schlafly ablehnt, berale Subjekt« und die »Theologie des Fortschritts« setzt Mary
stimmt wahrscheinlich Heike Kleen zu, dass das Harrington einen paradoxen »Reactionary Feminism«. Gegen
System »zu wenig Wahlmöglichkeiten für Müt- unrealistische Frauenideale setzt sie die faktische Bedeutung
ter« bietet. Ja, es sind die fehlenden Kitaplätze, es ist die von Mutterschaft und Mutterrolle: »Schwanger sein heißt radi-
»Präsenzkultur« veränderungsresistenter Arbeitgeber, die kal unfrei sein.« Dem wettbewerbsgetriebenen Freiheitsverspre-
Frauen das Leben schwer machen – aber es ist der schein- chen hält sie die These entgegen, dass für die meisten heterose-
heilige Kapitalismus, der ihnen die Kritikfähigkeit nimmt. xuellen Frauen Zugehörigkeit »befreiender« wirke als das, was
Denn die Indus­trie, von Big Tech bis Beauty, setzt neuerdings der Arbeitsmarkt zu bieten hat. Auch eine Karriere, die auf Kos-
verstärkt auf Ideologie. ten anderer geht – nämlich der neuen Klasse schlecht bezahlter
Um Gewinne einzustreichen und (auch coronabedingte) Dienstmädchen –, kann laut Harrington nicht der Sinn der »Frei-
Verluste auszugleichen, verfolgt man eine pseudopolitische heit« sein. Sie erinnert an den Wert der Liebe und die biologi-
Agenda: Man überbietet sich gegenseitig im »corporate
­wokeism« (»The Economist«). Marken haben raffinierte Metho-
den entwickelt, finanzielle Interessen als selbstlosen Aktivismus
auszugeben – ob es um Nachhaltigkeit, Kampf gegen Rassis-
»Was man heute
mus oder eben um Feminismus geht. Wehr dich! Sichere deine
Rente mit Aktien! Zeige dich self-empowered und trage roten
die Natur der Frau
Lippenstift! Die Selbstverteidigungskurse, Anlageberatungen,
Menstruationstalks und Schminktrainings hauseigener Social-
nennt, ist eine
Media-Kanäle zeigen uns, wie Feminismus geht. Was wir neben
unserem familiären und beruflichen Pensum noch so alles
höchst künstliche
können, sollen, müssen. Indem Unternehmen feministische
­
Bestrebungen kapern, die auf genuinen Interessen am gesell-
Angelegenheit …«
schaftlichen Wandel basieren, machen sie Frauen zu unbewuss-
John Stuart Mill (1869)
ten Komplizinnen einer neoliberalen Wirtschaftsordung.
Mit Firmenlogo überschriebene Selbstverwirklichungs-
formate (oder T-Shirts mit dem Slogan »We Should All Be Fe- schen (körperlichen) Faktoren, die eine Frau und Mutter immer
minists«) sind allerdings zahnlose Tiger. Der »corporate femi- schon mitbestimmten – und nennt dies einen Akt ­feministischen
nism« (bell hooks) dient dem Erhalt des Systems – nicht seiner Widerstands: »Wir sind befreit genug. Was wir brauchen, sind
Transformation. Sie motivieren Frauen, sich mit der multi­ mehr und bessere Verbindlichkeiten (»obligations«): einen Femi-
medial gestreuten Fiktion der ewig jungen, ewig fitten, dauer­ nismus, der danach strebt, Freiheit für beide Geschlechter in an-
lächelnden Super Mom zu identifizieren und ihr Hirn abzu- gemessener Weise zu begrenzen.«
schalten. Zu glauben, sie könnten nicht anders. Weil sie zu sehr Man kann die Positionen von Phyllis Schlafly und Mary
mit Ackern und Shoppen beschäftigt sind. Keine Zeit haben. Harrington mit Recht angreifen. Nur weil Frauen auch (poten-
Aber Angst. Angst, nicht mitzukommen, zu versagen, aufzufal- ziell) Mütter sind, heißt das noch lange nicht, dass sie ihren
len. Super Mom ist noch schlimmer dran, noch verblendeter als Wunsch nach Autonomie begraben wollen und sollen. Frauen auf
Betty Draper, die in den 1960er-Jahren wenigstens noch rau- eine bestimmte, alles bestimmende Identität – die Mutterschaft
chen und trinken durfte. Sie ist: die wahrhaft degradierte Frau. – festzunageln, entspricht einer unzulässigen Verkürzung der
So würde es jedenfalls eine andere gottesgläubige Erz- subjektiven Wahrnehmung jeder einzelnen Frau. Doch die Reali-
konservative sehen: die Journalistin und Bloggerin Mary Har- tät ist kompliziert. Womöglich reicht es nicht, »Wahlmöglichkei-
rington. Ähnlich wie Phyllis Schlafly – die als Studentin Waffen ten für Mütter« aufzustocken. Die Entscheidung einer Frau, nur
testete und noch kurz vor ihrem Tod Donald Trump im Wahl- am Herd zu kleben, ist erklärungsbedürftig. Die Entscheidung,
kampf unterstützte – findet Harrington die Ideen von Gleich- nur am Computer zu kleben, auch. Die Entscheidung, beides zu
heit und Gleichberechtigung verfehlt. Schlafly glaubte, Frauen wollen, weil man es soll und muss, ist es erst recht. Jede private

56 HOHE LUFT
FEMINISMUS

Wahl ist vom System mitbedingt. Sie entsteht nicht im luftleeren so zu gestalten und zu verändern, dass es für alle gut wird.
Raum, sondern im Kontext einer Gesellschaftsordnung, die Freiheit aber kann es nur jenseits einer immer noch viel zu
Fortschritt mit Profit gleichsetzt und Freiheit mit Autonomie. unkritischen Identifikation mit dem System geben; nur mitein-

E
ander, nicht gegeneinander. Zusammen mit allen Frauen und
in Feminismus, der heute Mütter unterstützt, muss Männern, nicht allein.
sich zwangsläufig dem Fortschritt entgegenstel- Eine Emanzipation, die Super Moms am laufenden
len«, provoziert Mary Harrington. Sie warnt auch Band produziert, widerspricht sich selbst. Sie ist markt- und
davor, am Feindbild des P ­ atriarchats hängen zu markenkonform, aber alles andere als »fortschrittlich«. Es ist
bleiben. Wie Betty Friedan damals und wie den Zeit, Freiheit anders zu denken. Womöglich hat Freiheit gar
meisten Frauen heute geht es Harrington um gemeinsame nicht so viel mit Autonomie zu tun. Vielleicht meint Freisein
Ziele beider Geschlechter, um einen guten Dialog mit Vätern, eher »Freisein, um jemanden zu umarmen« (Siri Hustvedt).
Brüdern und Söhnen, um eine gerechtere Gesellschaft. Sie for- Darüber sollten wir mal nachdenken: Der tiefere Sinn von
dert die Rehabilitation von Müttern wie von »alten Schachteln« Freiheit ist Zugehörigkeit, wie schon Hegel wusste. Weil es
(»Matriarchinnen«), die dem gängigen Girl-Power-Klischee wi- ohne Zugehörigkeit keine positiv erlebte Freiheit geben kann.
dersprechen. Dabei votiert sie für ein Weniger an Ideologie – Wer mehr Zeit und weniger Angst haben will, sollte
und ein Mehr an Pragmatismus. heute auch die Argumente konservativer (Anti-)Feministin-
Feminismus ist gut! Immer und notwendig? Der Kon- nen kennen. Und sei es nur, um gute Gründe zu finden, weiter
servatismus Schlaflys und Harringtons wirft auch für unsere an das Projekt des liberalen Feminismus zu glauben. •
Gesellschaft neue Fragen auf. Denn Super Mom steckt in ei-
ner Sackgasse. Sie scheint in alle Richtungen gleichzeitig zu
rennen. In Wahrheit rennt sie gegen die Wand, gegen sich
selbst an. Was soll sie tun? Umkehren? Dass Frauen unter
[LEKTÜRE]
_
Dauerbeobachtung stehen, dass man sie trotz gegenteiliger BETTY FRIEDAN
Behauptungen auf die dienende Position festnagelt, dass sie The Feminine Mystique
sich meist im Modus der Schnappatmung befinden und ein (dt.: Der Weiblichkeitswahn)
schlechtes Gewissen haben, weil sie arbeitende Mütter, allein- PENGUIN, 2010
erziehende Mütter, nur Mütter oder gar keine Mütter sind – Die provokante Initialzündung der zweiten Welle der
all das ist ­jedenfalls ein riesiger gesellschaftlicher Skandal. Frauenbewegung..
Gut 50 Jahre nach »Women’s Lib« ist es Zeit, Bilanz zu _
ziehen; die perfide Allianz des 360-Grad-Perfektionismus mit MARJORIE J. SPRUILL
der weiblichen Selbstaufopferung vergangener Jahrhunderte Divided We Stand
auf den Prüfstand zu stellen. Und ein Frauenbild, das genauso B LO O M S B U R Y, 2 0 1 7
verlogen ist wie das gleißend blonde, dauerlächelnde, Marme- Ausführliche historisch-politische Schilderung der Ereignisse
lade einkochende Rollenideal der 1950er- und 60er-Jahre. Die und Akteurinnen der amerikanischen Emanzipations- und
meisten Frauen in unserem System wollen frei sein, ihr Leben Frauenbewegung – inklusive ihrer Gegnerin Phyllis Schlafly.
© Debora Mittelstaedt

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zu schreiben, bedeutet zu wissen,
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HOHE LUFT 57
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der Geschäftsführung), Christina Dohmann, Marco Graffitti, Dr. Michael Rathje, Am Sandtorkai 74, 20457 Hamburg, USt-ID: DE814583779, als leistender Unternehmer.
FIKTION

Kraft
Die

Fiktion
der

Jeder von uns tut gelegentlich »so als ob«. Das gehört
zum menschlichen Miteinander. Und es ist sogar nützlich:
Die Fiktion kann dabei helfen, Freiheit zu entfalten.
Text: Konrad Paul Liessmann

ALLE FORMEN DER HÖFLICHKEIT beruhen auf einer Fik­ Vaihinger demonstriert dies an einem durchaus kontrovers zu
tion, auf einem »So tun als ob«. Wir tun so, als ob es uns inter­ diskutierenden Beispiel: am Eid. Die Formel »Ich schwöre bei
essierte, wie es einem anderen geht, wie dessen Urlaub war, Gott, dem Allmächtigen« muss als eine Fiktion begriffen wer­
was seine Kinder machen. Täten wir nicht so als ob, hätten wir den, die deshalb auch Agnostikern oder Atheisten abverlangt
einander entweder nichts oder viel zu viel zu sagen. Dass wir werden kann. Für diese wie für andere bedeutet diese Formel
so tun als ob, und dass wir dabei alle mitspielen, ist jedoch die eben: »Ich schwöre, als ob es ein Gott hörte.« Und Vaihinger
Vorbedingung dafür, dass Menschen in eine produktive Inter­ vergisst nicht hinzuzufügen: »Solche Fiktionen sind nicht nur
aktion treten können. Wir müssen einander ein wechselseitiges erlaubt, sondern geboten in gewissen Fällen, und ein Sträuben
Interesse unterstellen, damit wir unsere tatsächlichen Interes­ dagegen ist lächerlich.«
sen zur Sprache bringen können. Was auf den Eid zutrifft, gilt im Grunde für jedes Wort,
Der Philosoph Hans Vaihinger (1852–1933), Autor einer für jeden Begriff. Es handelt sich um Abkürzungen und Ab­
voluminösen, bis heute weit unterschätzten »Philosophie des straktionen, ausgedacht, nicht um die Wirklichkeit exakt be­
Als ob«, hat schon im frühen 20. Jahrhundert untersucht, in wie schreiben zu können, sondern um in dieser die Orientierung
vielen Formen dieses »Als ob« wesentliche Aufgaben zu erfül­ nicht zu verlieren. Gegen jeden Allgemeinbegriff kann mit
len hat. Der gesamte Bereich der sozialen Kommunikation lebt Recht immer eine Facette der Wirklichkeit ins Spiel gebracht
von solch einem »Als ob«: »Das Als ob ist also auch im prakti­ werden, die von diesem ignoriert wird. Aber ohne Allge­
schen Leben unentbehrlich: Ohne solche Fiktionen ist kein fei­ meinbegriffe können wir weder denken noch leben. Man
neres Leben möglich.« kann diese deshalb höchstens aufgrund pragmatischer Erwä­

60 HOHE LUFT
FIKTION

gungen austauschen. Verhindern kann man generalisierende ob die Freiheit ihres Willens überzeugend nachgewiesen wor­
Bezeichnungen nicht. den wäre. Oder, sehr verkürzt, aber treffend: Wir sind genau
Jeder Begriff muss den Reichtum des Seienden aufs dann frei, wenn wir so tun, als ob wir frei wären. Kants Moral­
­Äußerste verknappen, um seine Funktion als Orientierungshilfe philosophie und sein Kategorischer Imperativ beruhen auf
erfüllen zu können. Friedrich Nietzsche (1844–1900) war es, ­diesem »Als ob«, gründen in der Fiktion der Freiheit. Alle da­
der diesen Sachverhalt in seiner frühen Schrift »Über Wahrheit mit zusammenhängenden Annahmen haben dieses »Als ob«,
und Lüge im außermoralischen Sinn« in aller Schärfe erkannt diese Fiktion zur Voraussetzung: die Würde der Menschen, die
und festgehalten hat. Erst das Ausstreichen aller Besonderheit Gesinnungsethik, das Konzept einer universalistischen Moral,
an einem wahrgenommenen Gegenstand erlaubt es, das Wort, die Vorstellung, es gäbe so etwas wie moralische Pflichten und
das man dafür fand, für andere, mehr oder weniger ähnliche Verpflichtungen, die egoistische Interessen übersteigen.
Gegenstände zu verwenden: »Jeder Begriff entsteht durch Bei all diesen ethischen Leitbegriffen handelt es sich
Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.« In einer späten Notiz hat er um keine Beschreibung der Wirklichkeit, sondern um nor­
diesen Gedanken in einer bedeutsam variierten Form wieder­ mativ aufgeladene Entwürfe, Vorstellungen, Konstruktionen,
holt: »Erkenntnis ist Fälschung des Vielartigen und Unzählba­ die es erlauben, manche Aspekte sozialen Lebens anders zu
ren zum Gleichen, Ähnlichen, Abzählbaren.« ­sehen und vor allem anders zu bewerten. Als Vorannahmen
­geben diese Fiktionen Auskunft über unsere Interessen, und
FÄLSCHUNG IST EIN HARTES WORT, denn es unterstellt solange wir uns ihres fiktionalen Charakters bewusst sind, kön­
eine bewusste Täuschungsabsicht. Bleiben wir bei der Fiktion, nen wir damit gut leben. Prekär wird es allerdings, wenn wir
bei einem »So tun als ob«. Dass dieses eine Lebensnotwen­ die Fiktion mit der Wirklichkeit verwechseln. Dann unterliegen
digkeit darstellt, hat schon vor Nietzsche niemand Geringerer wir einer gefährlichen Illusion.
als Immanuel Kant (1724–1804) vermutet. Friedrich Nietzsche unterschied noch
Stellen wir uns eine einfache Frage: Wie nicht streng zwischen Illusion und Fiktion,
frei ist der Mensch? Gibt es tatsächlich
eine Freiheit des Willens? Oder sind wir
Freiheit wir sollten es tun. Fiktionen sind heuris­
tische Konstruktionen, die unseren Um­
von unserer Natur, unseren Genen, unse­ ist eine gang miteinander und den Umgang mit
rer Umwelt, unseren Trieben, unserem
Gehirn in unserem Denken und Handeln
Idee, eine der Welt erleichtern. Illusionär ist die Vor­
stellung, aus einer Fiktion Wirklichkeit
vollständig bestimmt? Und wäre dann Fiktion. werden zu lassen. Obwohl wir daran schon
nicht unser gesamtes Rechtssystem, das
Freiheit und Verantwortlichkeit voraus­
Wir sind immer gescheitert sind, können wir davon
nicht lassen.
setzt, hinfällig? genau dann
In einem empirischen Sinne, als
Faktum, ist es bislang zumindest noch frei, wenn ETWAS ALS FIKTION zu erkennen, heißt
nicht, es in seinem Wert herabzusetzen.
niemandem gelungen, eindeutig nachzu­
­ wir so tun, Nicht nur im Bereich des Handelns, auch
weisen, ob der Mensch einen freien Willen in der Wissenschaft müssen wir allzu oft
besitzt. Dieser Streit, der seit dem 19. Jahr­ als ob wir so tun als ob. Hans Vaihinger spricht von
hundert immer wieder seine Konjunkturen
erlebt, ist müßig, denn es gibt auf diese
frei wären. einem »Kunstgriff des Denkens«. Nahezu
alle Grundbegriffe der Naturwissenschaf­
Frage eine einfache Antwort. ten waren für ihn Fiktionen. Damit sind
In seiner kleinen, aber wirkmächtigen »Grundlegung nicht Einbildungen oder ästhetische Entwürfe gemeint (für die
zur Metaphysik der Sitten«, in der er den berühmten und be­ Vaihinger den Begriff »Figmente« einführen wollte), sondern
rüchtigten Kategorischen Imperativ entwickelt, kommt Imma­ zweckdienliche Konstrukte, die später auch wieder aufgegeben
nuel Kant zu einer verblüffenden Überlegung: »Ein jedes We­ werden können.
sen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln Um bei der Lösung mancher Probleme weiterzukom­
kann, ist eben darum, in praktischer Rücksicht, wirklich frei, men, müssen wir mit Unterstellungen, Annahmen, Fiktionen
d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit oder, um einen modernen Begriff zu verwenden, Modellen
­unzertrennlich verbunden sind, eben so, als ob sein Wille auch arbeiten. Diese fingierten Konzepte dürfen aber weder mit
­
an sich selbst, und in der theoretischen Philosophie gültig, für ­Hypothesen auf der einen noch mit Illusionen oder Täuschun­
frei erklärt würde.« gen auf der anderen Seite verwechselt werden.
Freiheit ist also vorab nichts anderes als eine Idee, weni­ Hypothesen sind zusammenhängende Erklärungsver­
ger despektierlich formuliert, eine Fiktion. Es mag nun Wesen suche, die verifiziert oder falsifiziert, in einem umfassenden
geben, denen diese Idee gefällt und die gern danach handeln. Sinn also bestätigt werden müssen; Fiktionen stellen sinnrei­
In diesem Moment sind sie tatsächlich frei, es ist genau so, als che Abstraktionen oder Modelle dar, die gerechtfertigt, also

HOHE LUFT 61
FIKTION

justifiziert werden müssen. Und Illusionen können als Wunsch­ und Schein relativ konstant ist. Wir lassen uns tatsächlich gern
bilder verstanden werden, an die in letzter Instanz nur geglaubt täuschen. Der Mangel an Fantasie, der die Gegenwartsliteratur
werden kann. Um dies an einem naheliegenden Beispiel zu kennzeichnet, wird dann eben durch die Lust am Fake kompen­
­erläutern: Wer darüber forscht, wie, aus welchen Gründen und siert, die nicht nur die sozialen Medien durchzieht.
in welchem Tempo sich die klimatischen Bedingungen in den Da, nach einem erhellenden Gedanken von Friedrich
letzten 200 Jahren verändert haben, wird Hypothesen dazu for­ Nietzsche, der Wille zum Schein tiefer geht als der Wille zur
mulieren, die letztlich empirisch bestätigt werden müssen; wer Wahrheit, gewinnen der Wirklichkeit verpflichtete Unterneh­
überlegt, wie sich die Klimaveränderung auf das menschliche men wie Wissenschaft und Journalismus durch ihre Fiktio-
Leben auswirken wird, wird mit Modellen arbeiten, die zwar nalisierung sogar, die Welt der Literatur aber wird durch
einen fiktionalen Charakter haben, aber mit ihre Fesselung an nachvollziehbare sozi­
guten Gründen in Hinblick auf ihre prakti­ ale, historische und biogra­fische Fakten
sche Relevanz gerechtfertigt werden kön­
nen; wer verkündet, dass es die eine Lösung
Sich im ärmer. Kommen noch moralische und
ideologische Vorgaben dazu, droht die
dieses Problems gibt, verbreitet eine Illu­ weiten große Langeweile.
sion, an die geglaubt werden muss.
Hypothesen können widerlegt, Fik­
Raum der Kunst, die das Gute will, ist selten
gut. Vollends prekär wird es jedoch, wenn
tionen kritisiert werden. Ihrer Illusionen Möglichkeit die Realität selbst in das Handwerk des
hingegen werden die Menschen beraubt.
Das macht deren gläubige Anhänger auch
zu bewegen, Schreibens eingreift und dieses an allen
Ecken und Enden sabotiert – sei es,
so rabiat: Illusionen lässt man sich nur ist Ausdruck dass die moralischen Verirrungen eines
höchst ungern nehmen.
von Fanta- Schriftstellers als Vorwand dienen, sein
Werk zu verdammen, sei es, dass des-
SOLCH EINE Differenzierung scheint sie, ein sen politische Präferenzen seinen Verlag
umso notwendiger, als sich aktuell die Be­ dazu bringen, sich wortreich für den un­
griffe wieder einmal verwirren. Illusionen Quell der botmäßigen Autor, der aus der Reihe
präsentieren sich als Wahrheiten, Fiktio­
nen geraten in Misskredit, und Fakten prä­
Freude. tanzt, zu entschuldigen.

sentieren sich in einer Unschuld, als gäbe DIE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT, mit


es tatsächlich das reine, unmittelbare Ereignis, dem ein Fakten­ der mittlerweile der Moral der Vorrang gegenüber der Ästhetik
checker nur auf die Spur kommen muss, und schon ist geklärt, eingeräumt wird, ist jedenfalls erstaunlich. Die Pointe daran ist,
was sich in Wirklichkeit abspielt. Doch in jedem Faktum steckt dass es sich in beiden Fällen um Fiktionen handelt. Die Wirklich­
ein ­Gemachtes, und in jedem Gemachten etwas Fingiertes. keit finden wir weder in der Literatur noch in der Moral. In den
Den heiß begehrten Fakten ist das Machen der Wirk­ aktuellen Debatten werden also die ästhetischen »Figmente« der
lichkeit etymologisch eingeschrieben. Die von Hannah Arendt Künstler und Schriftsteller gegen die moralischen Illusionen der
(1906–1975) so genannte Tatsachenwahrheit benötigt zuerst Tugend- und Sittenwächter ausgespielt.
eine Tat und dann eine konsensuelle Beschreibung und Deu­ Für alle diese Imaginationen aber gilt, was Friedrich
tung derselben. Wie sehr diese dem entspricht, was geschehen Nietzsche den Einbildungen des Menschen schlechthin zuge­
ist, hängt von der Bereitschaft der Beteiligten ab, ihre Aussa­ schrieben hat: Sie haben sich im und am Leben zu bewähren. Ob
gen über die Welt immer wieder überprüfen zu lassen. Es liegt wir es zulassen, dass aus der Kraft der Fiktionen, dieser unge­
jedoch im Wesen der Tatsache, dass sie verdreht werden kann. heuren Eigenschaft des Menschen, die Realität zu begreifen und
Die Fiktion hingegen gesteht offen ein, dass etwas ihr seine Vorstellungen entgegenzusetzen, ein ohnmächtiges
­vorgetäuscht wird. Ihre ambivalente Faszination liegt im Ver­ ­Gestammel wird, das in panischer Angst vor unzureichenden
mögen des Menschen, so zu tun als ob. Diese zutiefst humane Termini und vermeintlich verletzenden Formulierungen der
Fähigkeit, von Dingen und Ereignissen zu berichten, die gar Sprache und dem Denken, der Freiheit und der Fantasie selbst
nicht stattgefunden haben, oder sich etwas auszumalen, das nie Gewalt antut: Das liegt ausschließlich an uns. Zumindest sollten
eintreten wird, sollte man nicht geringschätzen. wir so tun, als ob es an uns läge. •
Sich im weiten Raum der Möglichkeit zu bewegen, ist ein
Ausdruck von Fantasie und Kreativität, ein Quell unablässiger Konrad Paul Liessmann ist Universitätsprofessor i. R. am
Freude, ein Trost und eine Variante, der Welt zu entfliehen. Eine Institut für Philosophie der Universität Wien, wissenschaft-
Kunst, die sich in einem plumpen Sinn einer ohnehin nur als licher Leiter des Philosophicums Lech, Essayist und Kulturpu-
Missverständnis existierenden Wirklichkeit verpflichtet fühlt, hat blizist. Zuletzt erschien von ihm: »Alle Lust will Ewigkeit. Mit-
sich selbst verraten. Nun könnte man die zynische These riskieren, ternächtliche Versuchungen« (Zsolnay, 2021). Dieser Beitrag
dass das Bedürfnis des Menschen nach Imagination, Illusion basiert auf seinem Vortrag beim »Philosophicum Lech« 2021.

62 HOHE LUFT
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TIEFDRUCK

BEIM MEISTER DES


WAHREN WEGS
In der Kolumne »Tiefdruck« schreibt der Philosoph
Peter Strasser über Dinge, die ihn und seinen Geist beschäftigen.
Dieses Mal: über Selbstfindung.

im Alltag ersparten. Ich war da, die anderen waren da, die
Welt um mich herum war da.
Das ist die eine Seite. Die andere ist freilich, dass ich
seit jeher dazu neige, mir – wie mir schon meine Großmutter
beschied – »ungesunde Gedanken« zu machen. Das führte
dazu, dass ich Philosoph wurde, aus Passion und beruflich.
Und diese Neigung, mir ungesunde Gedanken zu machen,
ließ mich immer wieder aus meiner alltagsmenschlichen Blase
herauskippen. Bücher, die sich damit beschäftigen, wie viele
man sei, wenn man glaube, man sei wer – weil alle Identität
­ohnehin nur eine Illusion wäre –, also derlei Sophistereien, die
mir alltagsmenschlich fremd waren, raubten mir so manche
Nacht meinen wohlverdienten Schlaf. Ein Albtraum türmte sich
in mir auf, und ich erwachte schreiend mit der im Grunde
völlig überflüssigen Frage auf den Lippen: »Wer bin ich?«
­
Meine Frau, die ich aus dem Schlaf gerissen hatte, pflegte dann
zu sagen: »Na wer schon?«
Eben. Es gab da in meinem Leben Momente, in denen ich

W
mir einbildete, um zu wissen, wer man sei, müsse man den
wahren Weg – den wahren Weg zu sich selbst und über sich
as tut man nicht alles, um sich selbst zu selbst hinaus – gefunden haben. Diese Einbildung, die sich mit
finden? Offen gestanden, mir war es, als
­ der Zeit zur fixen Idee steigerte, brachte mich dazu, dutzend­
­Alltagsmensch gesprochen, nie ein sonder­ weise Bücher über spirituelle Selbstfindung zu lesen. Denn da­
liches Anliegen, mich selbst zu finden. Ich rum ging es offenbar. Man musste den wahren Weg gefunden
war ohnehin da. Ich hatte einen Namen, haben, um auf ihm zu pilgern, denn einzig der wahre Weg war
­einen Beruf. Ich hatte Vorlieben und Abnei­ der Weg zu sich selbst. Dann erst würde man in der Lage sein,
gungen, einen Charakter (nehme ich jeden­ sich selbst zu finden. Oder? Oder nicht?
falls an) und ein nicht allzu unattraktives Äußeres. Schließlich bin ich zu diesem Kloster hinaufgepilgert, wo
Ich war Familienvater, liebte meine Frau; ich liebe sie der weise alte Mann saß, der, wie es hieß, sein Leben lang über
­immer noch, mehr denn je, aber das nur nebenbei, und ebenso den wahren Weg meditiert hatte. Ich durchkletterte, assistiert
liebe ich meine beiden Kinder und meine beiden reizenden von kundigem Begleitservice, einige Schluchten. Ich schwebte
­Enkeltöchter. Es waren diese alltäglichen Dinge, es war die über einen schwindelerregenden Abgrund. Ich ruckelte in
Zuneigung – und auch die Abneigung – der anderen, die
­ ­einem kübelähnlichen Behältnis, das an einem Seil hing, noch
mir Fragen der Art »Wer bin ich? Und bin ich überhaupt weiter dem Himmel entgegen. Endlich durchschritt ich ver­
wer? Und wie kann ich herausfinden, wer ich eigentlich bin?« witterte Torbögen, um zu guter Letzt in einem klösterlichen

64 HOHE LUFT
TIEFDRUCK

I­nnenhof bei einem budenartigen Verschlag haltzumachen. ­ leinen Dingen des Lebens, dass sich darin etwas spiegelt,
k
Dort reihte ich mich ein in die Schlange der Wartenden. was aus ­ihnen erst Seelendinge macht – Dinge, die, um Martin
Das Warten dauerte endlos, aber das sollte wohl so sein. Heideggers ›Feldweg‹ zu zitieren, das Rätsel des Bleiben-
Schließlich wurde ich um ein paar felsige Ecken geführt, über den und Großen verwahren? Wenn (ich sage: wenn) es einen
die allerlei Kaltblüter huschten, welche die in den Stein ein­ Gott gibt, dann ist er doch gewiss nicht bloß der Gott der
sickernde Hitze des Tages genossen. Der Meister des wahren ­kleinen Dinge  …«
Wegs hingegen saß in einer Felshöhlung, seiner Klause, die Zuerst bleierne Stille, die Welt schien innezuhalten, kein
kühlen Schatten spendete. Ich hatte mich vorbereitet, zitierte Kaltblüterrascheln am heißen Stein, kein Grillengezirpe. Dann
einige Zeilen aus meinem Lieblingsgedicht, »Die Stern- das Kreischen des Meisters: »Dummkopf, der Himmel ist
seherin Lise« von Matthias Claudius, verbunden mit der leer, da ist nichts, nichts, nichts, kein Gott, keine Götter,
Bitte um Kommentierung: das ist meine Offenbarung des wahren Wegs, kein Grund,
Ich sehe oft um Mitternacht, wenn ich mein Werk getan ­Heideggers ›Feldweg‹ anzuhimmeln, es ist noch viel zu viel
und niemand mehr im Hause wacht, die Stern’ am Himmel an. Himmel in ihm!«
// Sie gehn da, hin und her zerstreut, als Lämmer auf der Flur, Und während er über den Rand seiner Klause ins Unbe­
in Rudeln auch und aufgereiht wie Perlen an der Schnur. // stimmte starrte, fuchtelte er mit einem Stock – keine Ahnung,
Dann saget unterm Himmelszelt mein Herz mir in der Brust: woher der plötzlich kam – in meine Richtung. Er schickte sich

H
»Es gibt was Bessers in der Welt als all ihr Schmerz und Lust.« an, mir einen Hieb zu verpassen. »Aha, die alte Zen-Praxis«,
dachte ich schlagfertig, während ich dem Schlag auswich,
atte nicht Lise, die Schafhirtin, sich in der Be­ mir den Schweiß aus dem Gesicht wischte und erleichtert zur
trachtung des gestirnten Firmaments selbst Kenntnis nahm, dass der Meister des wahren Wegs mir nichts
gefunden? Da schrillte die Stimme des Meis­ mehr zu sagen hatte.
ters. Ich würde den wahren Weg nicht finden, Er war offenbar ein Scharlatan, vermutlich ein Studien­
solange ich ihn dort oben suchte: »Der Him­ abbrecher, der seine Diplomarbeit über Heidegger zu keinem
mel ist götterlos, leer, eine Fata Morgana für guten Ende gebracht hatte. Von hinten wurde mir ins Ohr
Geisterseher und Betschwestern!« ­gezischt, die Audienz sei beendet. Ich wurde am Kragen ge­
Und plötzlich hatte ich den halluzinatorischen Eindruck, packt und mit dem Griff eines Rausschmeißers durch die
der Meister des wahren Wegs spräche aus dem Tal herauf zu Luft geschwenkt. Als ich wieder auf eigenen Füßen stand, sah
mir, ja, mehr noch, das Tal selbst brächte mir die Botschaft ich noch den Schatten des Meisters; sein Kopf schien mir
der kleinen Dinge, die am Wegrand zu finden waren – Steine, plötzlich an seinem Hals angeschraubt: Holzkopf! Vor mir
Gräser, allerlei Getier. Aus jedem noch so unscheinbaren lag eine lange Reise.
Ding, das sich im Sonnenschein wärmte, sprach der ewige Ich wollte nur eines: so schnell wie möglich nach Hause.
Kreislauf der Schöpfung … Dann, indem ich gleichsam bei offenen Augen die Augen auf­
Schon wollte ich mich, schweißüberströmt und katz­ schlug, wurde mir klar, dass da gar kein wahrer Weg war und
buckelnd, zurückziehen, da spürte ich den unüberwindlichen jede Weisheit, wie dieser Weg zu finden sei, ein lachhaftes
Drang, dem Meister des wahren Wegs noch einige Fragen zu ­Ärgernis zu viel. Und unversehens geriet ich in eine schwung­
stellen: »Meister, wenn sich der wahre Weg, auf dem einzig voll philosophische Laune:
ich mich selbst finden kann, im Tal der kleinen Dinge ent­ Jawohl, worauf es ankam, das waren die einfachen Dinge
langschlängelt, warum nicht auch im Himmel? Im Blau des des Lebens. Doch um das zu wissen, brauchte keiner den Berg
Himmels bei Tag, im Sternenmeer bei Nacht? Sind nicht die der Weisheit zu besteigen, auch musste niemand die Berge
Wolken und Vögel ebenso Zeugen der Schöpfung, indem sie der Dummheit versetzen. Wohl aber sollte man gleich der
die Großartigkeit des Ganzen aufleuchten lassen, hochge- Sternseherin Lise ab und zu seinen Blick erheben. Denn wenn
wölbt und zartfiedrig?« Und: »Gehört es denn nicht zu den der Feldweg das Rätsel des Bleibenden und Großen verwahrt,
dann nur deshalb, weil ihn ein Himmel überwölbt, nicht wahr?
Zu Hause wurde ich – wie mir schien, ein wenig schnip­
pisch – gefragt, ob ich endlich zu mir selbst gefunden hätte. Da
stellte ich mich dumm und taub: »Es gibt was Bessers in der
Worauf es ankam, das waren die
Welt …«, nicht ohne meine Lieben gebührend zu liebkosen. Ich
einfachen Dinge des Lebens. Um war da, das war der wahre Weg. •
das zu wissen, brauchte keiner
Noch mehr zum »wahren Weg« und darüber hinaus
den Berg der Weisheit zu bestei-
findet sich in Peter Strassers neuem Buch: »Kleiner
gen, auch musste niemand die Sisyphos der großen Worte – Denkwürdigkeiten aus
Berge der Dummheit versetzen. dem Philosophenleben« (Verlag Karl Alber, 2021).

HOHE LUFT 65
GESPRÄCH

»Unsicherheit ist
ein entscheidender
Teil von Wissenschaft
– und kein Makel«

Interview: Thomas Vašek; Fotos: Katrin Binner

Sibylle Anderl ist Astro-


physikerin, Philosophin und
Journalistin. Wir fragten
sie, was sie für real hält, vor
welchen Herausforderungen
die Wissenschaft in einer
Pandemie steht und was sie
Außerirdische fragen würde,
sollte sie ihnen begegnen.
66 HOHE LUFT
INTERVIEW INTERVIEW
GESPRÄCH

Es gibt wohl nicht viele Philosophinnen, die schon einmal wäre die Sache heutzutage natürlich weniger klar. Dann könnte
nächtens auf knapp 5000 Meter Höhe in der chilenischen ich überlegen, ob es bestimmte Eigenarten in Ihrem Verhalten
Atacamawüste am Teleskop standen, um den Sternenhimmel gibt, bei denen ich nicht davon ausgehen würde, dass sie einer
zu beobachten. Die Astrophysikerin und Philosophin Sibylle künstlichen Intelligenz zukommen. Es wäre eine Möglichkeit,
Anderl hat über interstellare Stoßwellen promoviert und ar­ dass Sie einfach nur eine simulierte Person in meinem Zoom-
beitete mehrere Jahre in der Wissenschaft, unter anderem zu Programm wären. Aber allein die Tatsache, dass wir uns um
Fragen der Sternentstehung und der Philosophie der Astro­ 11.07 Uhr zum Interview verabredet haben, spricht schon da-
physik. Heute ist sie Mitherausgeberin der Politik- und Kultur­ für, dass Sie ein sehr individueller Mensch sind, der sich von
zeitschrift »Kursbuch« und Wissenschaftsredakteurin der typischer KI-Modellierung deutlich abhebt …
»Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Dort schreibt Anderl über
die Forschung zur Coronapandemie, die sie auch als Wissen­ Dann bin ich beruhigt! Lassen Sie uns also einmal davon
schaftstheoretikerin vor viele schwierige Fragen stellt. ausgehen, dass wir beide real sind – und dass diese Interview­
situation tatsächlich stattfindet. Nun sind Sie Astrophysikerin,
HOHE LUFT: Frau Anderl, Philosophin und Journa­
sind Sie sicher, dass unsere listin. Wie würden Sie die
Interviewsituation jetzt real
ist – und dass wir uns nicht
»Sind Sie jetzt Situation, die wir hier
haben, aus diesen drei
in einer Computersimulation
befinden?
ein realer Mensch unterschiedlichen Per­
spektiven beschreiben?
SIBYLLE ANDERL: Das ist
in der Tat eine nicht ganz ab-
irgendwo in Als Astrophysikerin bin ich
normalerweise nicht mit
wegige Frage, die eine lange
philosophische Tradition hat.
München oder eine menschlichen Interaktionen
befasst. Aber als Wissen-
Und in der Physik wird ja
durchaus diskutiert, wie man
Simulation?« schaftlerin müsste ich erst
einmal eine Fragestellung
auf empirischer Basis fest- definieren, die dann über
stellen könnte, ob wir uns in einer Simulation bewegen. Die die Methodik entscheiden würde. So würde ich versuchen her-
Hinweise sehen aber so aus, als wäre das nicht der Fall (lacht). auszufinden, wie typischerweise ein HOHE LUFT-Interview
Man würde davon ausgehen, dass es bestimmte numerische ­geführt wird. Ich würde also weiter mit Ihnen reden, das Ge-
Artefakte geben müsste, sichtbar im Spektrum kosmischer spräch natürlich auch aufzeichnen und dann vielleicht eine sta-
Strahlung bei hohen Energien. Physikalisch gibt es dafür bis- tistische Auswertung machen: Wie originell war die Eingangs-
lang keine Anzeichen. Als Philosophin würde ich sagen: Das ist frage? Wie groß war das Themenspektrum? Philosophisch
ein anregendes Gedankenexperiment, für mich aber ein biss- kommt es natürlich auf die Perspektive an. Aus einer ontologi-
chen zu metaphysisch, als dass ich es ernst nehmen könnte … schen Perspektive würde ich mir die Frage stellen, welchen
Status Sie haben – sind Sie jetzt ein realer Mensch irgendwo in
Würde es einen Unterschied für Sie machen, wenn Sie sich München oder eine Simulation? Aus erkenntnistheoretischer
in dieser Frage nicht sicher wären? Sicht würde ich mich fragen, mit welchem Recht ich davon
Letztlich wäre das ein Fall von Unterdeterminiertheit. Das be- ­ausgehe, dass Sie wirklich dort sitzen? Wie funktioniert meine
deutet, dass eine Theorie durch die vorliegenden Daten nicht rationale Argumentationsstrategie, die gesamte Kausalkette,
eindeutig festgelegt ist. Man kann sich immer alternative Theo- die mir Informationen hier in Norddeutschland von Ihnen in
rien ausdenken, die das gleiche empirische Gebäude von Evi- München aus überträgt? Welche theoretischen Annahmen
denzen erklären. Als Wissenschaftlerin bin ich sehr stark empi- spielen da eine Rolle?
risch geprägt. Ich bin auch beobachtende Astrophysikerin,
insofern ist bei mir die Bezugsgröße immer das, was wir empi- Und aus der Perspektive als Journalistin?
risch vorliegen haben. Und wenn ich das habe, dann nehme ich Da wäre die Frage, welche Geschichte ich verkaufen wollte.
immer die einfachste Theorie, insofern würde das für mich Aber da könnte ich jetzt ohne wissenschaftliche Herangehens-
wahrscheinlich keinen Unterschied machen. weise einfach von meinen Erfahrungen berichten: Wie fühlt es
sich an, von Ihnen interviewt zu werden? Wie war das ganze
Wir führen dieses Gespräch jetzt via Zoom. Würde Sie also Setting – und welche Geschichte könnte ich erzählen, die diese
die Beobachtung am Bildschirm allein davon überzeugen, Situation für die Leser interessant machen würde? Vielleicht
dass ich real existiere? passiert ja noch irgendetwas Skurriles, irgendetwas Sensations-
In der Tat haben wir ja schon vorher in persona interagiert. trächtiges – auf dieses Detail könnte ich mich dann konzentrie-
Aber wenn ich Sie jetzt nur als Videobild vor mir hätte, dann ren und das als Geschichte erzählen.

68 HOHE LUFT
GESPRÄCH

Wahrheit, Realität, Fakten – in welchem Verhältnis stehen politische Anschauungen, bestimmte Intentionen und Motivati-
diese drei Begriffe für Sie? onen in das hineinspielen, was als Fakten präsentiert wird.
Aus wissenschaftlicher und auch klassisch wissenschaftsphilo- Dass Wissenschaftlerinnen zum Beispiel unterstellt wird, dass
sophischer Perspektive sind das Ideale, nach denen man als sie mit ihren Modellen oder ihren Aussagen eine bestimmte po-
Wissenschaftlerin erst einmal strebt. Die meisten Wissen- litische Agenda verfolgen. Das untergräbt das Vertrauen in die
schaftlerinnen haben wirklich noch so eine Popper’sche Vor- Expertinnen, auf das wir in unserer immer spezialisierteren Ge-
stellung, dass die Wahrheit eine Zielperspektive ist, in der Hoff- sellschaft angewiesen sind, weil sich nicht jeder überall ausken-
nung, dass man sich über die Zeit dieser Wahrheit als nie nen kann. Und das führt letztlich zu einer immer stärkeren Po-
erreichbarem Zielpunkt irgendwie annähern kann. Ähnlich ist larisierung, zu einer Spaltung der Gesellschaft. Die Pandemie
es mit der Realität. Das ist eine Vorstellung, die man voraus- hat gezeigt, dass dieses Problem existiert – und dass wir da re-
setzt, als Wissenschaftlerin jedoch gar nicht unbedingt weiter lativ schnell handeln müssen, denn das kratzt letztendlich an
reflektiert. Man braucht aber diese Annahme, um sinnvoll Wis- den Grund­lagen unserer Demokratie.
senschaft betreiben zu können. Zugleich muss man davon aus-
gehen, dass es Fakten gibt, dass sich die Welt in irgendeiner Nun können sich auch viele Querdenker:innen durchaus
objektiv beschreibbaren Weise verhält, wenngleich man natür- darauf berufen, dass auch sie sich von Gründen leiten
lich weiß, wie viel Methodik darin enthalten ist, wie stark der lassen. Verläuft die Spaltung, von der Sie sprechen,
Begriff also schon vorgeprägt ist. also nicht zwischen Rationalität und Irrationalität, sondern
zwischen verschiedenen Rationalitäten?
Können Sie uns ein Beispiel geben? Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wenn man zum Beispiel
Wenn man von empirischen Fakten ausgeht, unterliegt man sagt, die Impfverweigerinnen sind einfach irrational, dann
häufig dem Vorurteil, dass Daten Fakten sind. Man macht eine macht man es sich eindeutig zu einfach. So haben Untersu-
Umfrage oder Messungen, aber das ist natürlich völlig ver- chungen zur Motivation von Impfgegnerinnen gezeigt, dass am
kürzt, denn Daten haben eine Streuung, es gibt Bias-Phäno- Anfang oft eine Enttäuschung über autoritäre Kommunikation
mene, systematische Verzerrungen. All diese Effekte muss sen­
in wis­ schaft­
lichen oder medizinischen Gesprächssituatio-
man erst bereinigen, um dann zu dem zu kommen, was wir ge- nen steht. Dass viele Menschen das Gefühl haben, mit ihren
meinhin als Fakten bezeichnen würden – also zu Phänomenen, Fragen nicht ernst genommen zu werden. In solchen Alternativ-
die unabhängig von Messmethoden und zufälligen Umständen Commu­nities hingegen ist jeder Experte, da wird jeder ernst
ihrer Erzeugung sind. Als Journalistin hat man häufig die Situa- ge­nommen. Es gibt also einerseits positive Aspekte wie die
tion, dass man Dinge sehr stark vereinfachen muss. Wenn man eher demokratische Kommunikation. Zugleich findet man dort
zum Beispiel davon spricht, dass in den Wissenschaften »Wahr- aber auch Prin­zipien, die definitiv nicht geeignet sind, um zu
heit produziert« oder »Fakten geliefert« werden, dann ist das begründetem empirischen Wissen zu kommen. So werden
eine ganz enorme Verkürzung, die an vielen Stellen so nicht widersprechende Positionen ausgeblendet, viele Fakten gar
­
funktioniert, weil sie offensichtlich nicht dem entspricht, wie nicht anerkannt. Und wenn Fakten den eigenen Überzeugun-
Wissenschaft arbeitet. Wir merken gerade aktuell, wie schwierig gen nicht entsprechen, dann ändert man nicht die Überzeu-
es ist, mit dem Faktenbegriff zu kommunizieren, weil der Diffe- gung, wie das in der Wissenschaft der Fall sein sollte, sondern
renzierungsgrad, den man nutzen muss, sehr stark zielgrup- sucht nach Fakten, die die eigene Überzeugung bestätigen.
penabhängig ist. Da macht ­Solche Prinzipien kann man
es einen Unterschied, ob
man für die »FAZ« schreibt »Wenn man sagt, durchaus als alter­native Ra-
tionalitätsprinzipien bezeich-
oder für Leser der »Bild«, die
einfach nur schnell infor- Impfgegnerinnen nen. Die aktuelle Sorge ist,
dass verschiedene Rationa­
miert werden wollen.
sind irrational, litätsbegriffe, verschiedene
weltanschauliche Hinter-
In der Pandemie haben
wir gesehen, wie schwierig macht man es sich gründe auch zu verschiede-
nen Faktenwelten führen –
es sein kann, sich über-
haupt auf bestimmte Fakten zu einfach.« und wir insofern immer
weniger in einer geteilten
zu einigen. Welt der Fakten leben.
Es gibt natürlich die sehr weit fortgeschrittene Stufe der Quer-
denkerinnen und Impfgegnerinnen, die nicht mehr bereit sind, Was unterscheidet die Pandemie von den Phänomenen,
dieselben Fakten anzuerkennen wie die Menschen, die einem mit denen Sie als Astrophysikerin zu tun haben?
entgegengesetzten politischen Lager angehören. In der Gruppe Es ist natürlich ein massiver Unterschied, ob ich mit etwas
der weniger Radikalisierten gibt es aber auch die Sorge, dass Belebtem oder Unbelebtem zu tun habe. In der Astrophysik

HOHE LUFT 69
GESPRÄCH

sind das zwar auch nichtlineare, komplexe Systeme, die schwer len ein Stück weit in ihren Konsequenzen überprüfen, aber
zu modellieren sind. Aber wenn wir Modelle machen und ver­ dazu muss man erst mal wissen, dass es bestimmte Annahmen
öffentlichen, dann hat das keinen direkten Einfluss auf die überhaupt gibt – und dass womöglich bestimmte Dinge im
Objekte, die wir studieren. Wenn aber wie bei der Pandemie ­Modell fehlen. Die »unknown unknowns«, die »unbekannten
Menschen eine Rolle spielen, die sich gegenseitig beeinflussen Unbekannten«, sind dabei am gefährlichsten – also Dinge, von
und zugleich selbst von den Modellen beeinflusst werden, denen man gar nicht weiß, dass sie für das Modell relevant sein
dann bringt das einen völlig neuen Komplexitätsgrad mit ins könnten. Gerade solche »unknown unknowns« können in inter-
Spiel. Das haben wir ja gesehen bei den Modellszenarien, die disziplinären Diskussionen zutage treten
dann wieder einen Einfluss auf das Verhalten der Menschen
hatten – und dadurch ihre eigenen Vorhersagen »kaputt­ Welche Fehler hat die Wissenschaft aus Ihrer Sicht in
gemacht« haben, wenn man das so missverstehen wollte. Diese der Pandemie gemacht – und welche Lehren lassen sich
Komplexität macht die wissenschaftliche Behandlung des Phä- für die Zukunft daraus ziehen?
nomens extrem schwierig. Unsicherheit ist ein entscheidender Teil von Wissenschaft –
und kein Makel. Eines der zentralen Probleme in der Wissen-
Was bedeutet das für den Wert von epidemiologischen schaftskommunikation ist, wie man Unsicherheit kommuni-
Modellen in der Pandemie? zieren kann, ohne den Eindruck entstehen zu lassen, dass sie
Modelle sind ja streng genommen immer falsch, weil man eben etwas an der Verlässlichkeit der Wissenschaft ändert. Das ist
vereinfacht, idealisiert und approximiert. Wenn sie nicht falsch etwas, was auch Wissenschaftlerinnen erst einmal lernen müs-
wären, dann wären sie nutzlos. Man kann sie immer nur beur- sen. Denn diese Unsicherheiten, gerade in einer so dynami-
teilen im Hinblick auf den je- schen, komplexen Situation
weiligen Anwendungszweck. wie der Pandemie, kann man
Oft ist die Intention eines
Modells ja, relativ einfache
»Die nackten, nicht einfach verschweigen.
Das andere Problem betrifft
Kausalzusammenhänge erst
einmal zu verstehen: Wie
objektiven Fakten die Normativität in den Wis-
senschaften. Also die Frage,
würde es sich auswirken,
wenn ich die Grenzen
hat man in der bis zu welchem Grad die
Wissenschaft, die ich be-
schließe? Oder wenn ich den
Bewegungsradius der Men-
Wissenschaft selten treibe, wirklich so objektiv
ist, wie ich es als Wissen-
schen auf fünf Kilometer ein-
schränke? Wenn ich solche
vorliegen.« schaftlerin gern verkaufe:
Wo bewege ich mich auf ei-
Fragen habe, dann kann ich nem interpretativen Terrain?
auch mit Modellen erfolgreich sein, die stark vereinfacht sind. An welchen Stellen gebe ich eine Empfehlung, die meiner per-
Und wenn ich bestimmte Dinge nicht weiß, wie zum Beispiel, sönlichen Meinung als Wissenschaftlerin entspringt, aber nicht
ob sich die Menschen tatsächlich an geschlossene Grenzen hal- durch Modelle und Daten gestützt ist? Interpretation spielt im-
ten, dann werde ich den entsprechenden Parameter variieren. mer eine wichtige Rolle. Die nackten, objektiven Fakten hat
Dann habe ich trotzdem ein Gefühl dafür, welche Konsequen- man in der Wissenschaft selten in völliger Reinheit vorliegen.
zen bestimmte Annahmen haben. Dieses Problem wird dann noch verschärft, wenn es Wissen-
schaftlerinnen gibt, die dem »Mainstream« widersprechen und
Aber in einer Pandemie möchte man eben nicht nur wissen, öffentliche Kontroversen anregen, die sich vielleicht um Fra-
was mögliche Szenarien sind, sondern was tatsächlich gen drehen, die innerwissenschaftlich relativ unkontrovers
passieren wird. Braucht es da nicht zusätzliche Expertise sind. Das haben wir in der Pandemie gesehen.
aus verschiedenen Disziplinen?
Das halte ich auf alle Fälle für richtig. Man braucht zum Wie sollte die Wissenschaft mit solchen abweichenden
­Beispiel Psychologinnen, Soziologinnen und andere Wissen- Stimmen umgehen?
schaftlerinnen, die sich etwa damit beschäftigen, wie öffent­ Das ist eine schwierige Frage. Jedenfalls sollte man diese
liche Botschaften das Verhalten der Menschen verändern. Phy- ­abweichenden Stimmen nicht reflexartig ächten und aus dem
sikerinnen und Epidemiologinnen allein können zwar Modelle Diskurs ausschließen. Denn wenn das auf der Grundlage ihres
bauen, mit vielen Idealisierungen, aber die sind dann eben Abweichlertums geschieht, dann ist das gerade das, was man
nicht in der Lage, diese sehr schwierig zu modellierenden den Wissenschaftlerinnen gefährlicherweise vorwerfen würde,
Feedbackschleifen zu berücksichtigen. Da muss sehr viel mehr dass sie nämlich weltanschaulich operieren. Ich glaube, man
Kommunikation in Gang kommen, um den Blick aus anderen muss mit solchen Leuten durchaus argumentieren. Letztlich
Perspektiven zu haben. Sicher kann man Annahmen in Model- ist es auch eine Frage an die Medien, wie man damit umgeht.

70 HOHE LUFT
GESPRÄCH

Dabei gibt es einige grundsätzliche Checks, die man durchfüh- Absolut. Das ist das Wesen von komplexen Problemstellungen.
ren sollte, bevor man einen vermeintlichen Experten öffentlich Man hat eine Hypothese, die vielleicht in diesem Moment gut
zu Wort kommen lässt: Forscht der überhaupt zu dem Thema? zu den Evidenzen passt. Aber es kann jederzeit eine neue Evi-
Hat er dazu etwas veröffentlicht? Ist er in der Community ange- denz auftauchen, die der Hypothese widerspricht, sodass man
sehen? Wenn das alles der Fall ist, muss man sich mit der sich etwas Neues ausdenken muss. Das ist in der Astrophysik
Stimme auseinandersetzen. Dann muss man diesen Vertreter ganz ähnlich. Man hat bestimmte Beobachtungen gemacht,
aber auch damit konfrontieren, was die aktuellen Studien, man überlegt sich, was die zusammenhängende kausale Ge-
­abweichend von dem, was er selbst behauptet, empirisch ge­ schichte sein könnte, die das Ganze erklärt. Dass zum Beispiel
funden haben. Daneben gibt es natürlich auch die Abweichler, ein Stern explodiert ist und dadurch die Umgebung aufge-
die aus anderen Gebieten kommen, die zu dem Thema gar wärmt wurde. In der Astrophysik wie in der Pandemie hat
nichts veröffentlicht haben. Das ist dann schon Grund genug, man Situationen, die wir nicht experimentell künstlich verein­
vorsichtig zu sein, und das muss man auch kommunizieren. fachen können. Das wurde während der Pandemie auch immer
wieder bemängelt: Wir haben keine richtigen Experimente,
In der Pandemie war diese Unterscheidung aber nicht immer ­unsere Daten sind so schlecht. Das ist etwas, was man aus
so einfach, siehe etwa die Diskussion um Hendrik Streeck. der Astrophysik gut kennt. Eben weil man nicht mit Sternen
Das stimmt natürlich. Aber es gibt einen wichtigen zusätz- experimentieren, weil man den Kosmos nicht manipulieren
lichen Check: Sind vermeintliche Expertinnen auch bereit, kann. Deswegen braucht man viel Statistik, man muss sich
eigene Irr­
­ tümer öffentlich einzugestehen und ihr Unwissen ständig fragen, was sind meine Störfaktoren: Habe ich eine
zuzu­geben? Wenn man diesen Maßstab anlegt, dann trennt sich Korrelation, aus der ich eine Kausalität folgern kann – oder gibt
auch schon einige Spreu vom Weizen. Es liegt eine große Ge- es da andere Zusammenhänge?
fahr darin, dass wir dazu neigen, uns in die eigenen Blasen
zurückzu­ziehen, weil es einfach so bequem ist. Wir müssen Ihre Astrophysiker-Kolleg:innen wissen bis heute nicht, ob es
uns ständig kritisch selbst reflektieren: Warum will ich dem­ da draußen intelligentes Leben gibt. Viele halten es aber
jenigen jetzt nicht zuhören? Weil ich meine eigenen Argu- für durchaus möglich. Was würden Sie einen Alien fragen,
mente nicht kritisch hinterfragt sehen will – oder weil derjenige wenn Sie einen treffen?
wirklich nicht die entsprechende Glaubwürdigkeit besitzt, die Ich würde schon an der Überlegung festhängen, welche Ge-
ich von einem Gesprächspartner, für den ich Zeit aufwenden meinsamkeiten ich zwischen mir und dem Alien voraussetzen
will, erwarten würde? könnte, die darüber entscheiden, wie ich die Frage formulieren
könnte. Einmal vorausgesetzt, wir hätten überhaupt eine
Was waren für Sie die überraschendsten Erfahrungen sprachliche Kommunikationsform, würde es mich interessie-
in der Pandemie? ren, was unsere geteilten Fak-
Wissenschaftlich hat es mich schon überrascht,
dass wir immer wieder diese Episoden hatten, in
denen wir nicht wussten, warum sich die Fall­
[LEKTÜRE]
_
ten sind. Welche Mathematik
haben die Aliens? Ist die so wie
unsere? Wie sieht es mit den
zahlen tatsächlich so entwickeln. Da hätte ich SIBYLLE ANDERL Naturgesetzen aus?
­gedacht, dass wir schon besser verstehen, was da Physik des Lebens: Reflexio-
vor sich vorgeht. Wir haben zwar vieles darüber nen kosmischen Ausmaßes Das ist natürlich eine sehr
gelernt, wie bestimmte Maßnahmen wirken. Aber KURSBUCH, 2020 naturwissenschaftliche Per­
wir müssen auch bereit sein zu akzeptieren, dass Über Sinn und Gründe der Spuren­ spektive. Wäre es nicht weit
uns diese Pandemie immer wieder völlig über- suche nach fremdem Leben und des­ mehr von Interesse zu wissen,
rascht. Das kann man einerseits als Bankrott­ sen Entstehung – und darüber, was ob diese Aliens auch unsere
erklärung der Wissenschaft sehen. Aber es zeigt wir dabei über uns und unsere mutmaß­ Idee der Liebe kennen?
eben auch sehr deutlich, dass wir bei solchen liche Einzigartigkeit lernen können. Das würde ich erst mal für
stark unterdeterminierten, komplexen Problemen _ unwahrscheinlich halten. Kon-
epistemisch bescheiden bleiben sollten. Man SIBYLLE ANDERL zepte wie Liebe oder Freund-
muss immer dazu bereit sein, die eigenen Über- Das Universum und ich: Die schaft kommen mir so genuin
zeugungen zu revidieren, auch wenn man dann Philosophie der Astrophysik menschlich vor, dass ich gar
öffentlich als wankelmütig angesehen wird. Die C A R L H A N S E R V E R L AG , 2 0 1 7 nicht auf die Idee käme, einem
Pandemie hat uns Bescheidenheit gelehrt in Eine Einführung in die Astrophysik, die Alien diese Frage zu stellen.
­Bezug auf unsere schnelle Erkenntnisfähigkeit. von der Arbeit der Astronomen und Aber interessant! Wenn ich je-
der Erforschung des Weltalls erzählt, mals einen Alien treffen sollte,
Lernt man diese »epistemische Bescheidenheit« schwarze Löcher erklärt – und die wäre das vielleicht meine zweite
auch in der Astrophysik? Grenzen unseres Wissens zeigt. Frage … •

HOHE LUFT 71
72 HOHE LUFT
DAS PHILOSOPHISCHE FOTO

Begriff: PRÄSENZ
In jeder Ausgabe bitten wir Fotograf:innen um
ein Foto zu einem philosophisch relevanten Begriff.
Diesmal: Maximilian Virgili.

HERR VIRGILI, WARUM HABEN SIE DIESES


FOTO AUSGEWÄHLT?
»Im Alltag fällt es mir unheimlich schwer, präsent zu sein.
Meine Gedanken springen ständig umher. Ich habe oft
Pro­­bleme, Dinge einfach auf mich wirken zu lassen, eins nach
dem anderen anzugehen oder Aufgaben fokussiert zu
erledigen. Das war schon immer so. Die sozialen Medien
machen es noch schlimmer. Nie wirklich im Moment zu sein –
ist das nicht längst eine Krankheit unserer modernen Gesell- MAXIMILIAN VIRGILI
schaft? Wenn ich auf Reisen bin, geht es mir jedoch anders. wurde 1989 in Karlsruhe geboren. Von 2009 bis 2013
Ich bin oft viel gegenwärtiger, aufmerksamer, ruhiger. Ich ­studierte er Literatur, Kultur und Medien an der Universität
fotografiere seit Jahren sehr viel, wenn ich im Urlaub bin, weil Siegen. Nach seinem Bachelor-Abschluss arbeitete er als
ich meist die Ruhe brauche, um wirklich bewusst zu sehen Assistent des Fotografen und Künstlers Peter Granser. Neben
und zu spüren, was ich festhalten will. Wenn ich diese Fotos einem starken Fokus, den er auf persönliche Projekte setzt,
im Nachhinein betrachte, bin ich sofort wieder dort – vor Ort, ist Virgili heute hauptsächlich für nationale und ­internationale
in jenem Moment. Dieses Bild habe ich im Mai 2021 im Süden Redak­tionen tätig. Seine Arbeiten beschäftigen sich mit
von Kreta aufgenommen. Ich lief gerade mit Freunden eine dem Trivialen und Grotesken, dem Eingriff des Menschen in
Potraitfoto: privat

Straße zu unserem Auto hoch. Es war warm, der Wind wehte, seine Umwelt, zwischen Inszenierung und Zufall. Im Frühjahr
das Licht war schön. Ich blieb stehen und beobachtete den 2021 erschien sein Buch »Out of Office« – eine Retrospektive
wehenden Vorhang im Fenster für einige Minuten, dachte an von Reiseeindrücken aus den letzten Jahren. Maximilian Vir-
nichts, ließ die Szene auf mich wirken und war absolut präsent.« gili lebt und arbeitet als Fotograf und Fotoredakteur in Berlin.

HOHE LUFT 73
74 HOHE LUFT
DEPRESSION

Kuss des Dementors

Die Depression ist ein


Leiden, das oft
missverstanden wird.
Auch von Philosophen.

Text: Tobias Hürter


Illustration: Lui Kwiatkowska

DER PHILOSOPH PHILIPP MAINLÄNDER, im Jahr 1841 in Krankheiten ist sie mit einem Stigma belegt. Manchmal wird
Offenbach »als Kind ehelicher Notzucht« geboren, wächst in Menschen mit Depression nachgesagt, sie seien »faul« oder
einer Fabrikantenfamilie auf, in der eine bedrückende Atmo- »Loser«; oder man fordert sie auf, sie sollten sich mal
sphäre geherrscht haben muss. Er macht eine kaufmännische zusammenreißen.
Ausbildung an der Handelsschule und ein Praktikum in Neapel. Diese Aufforderung basiert nicht nur auf einem schwe-
Er studiert nicht Philosophie, aber verschlingt die Werke Dan- ren Missverständnis. Sie birgt auch die Gefahr, depressive
tes, Petrarcas und Schopenhauers und wird Bankier in Berlin. Menschen noch tiefer in ihrer Krankheit versinken zu lassen.
Die Eltern kaufen ihn vom Wehrdienst frei. Es ist ein scheinbar Gerade Menschen mit hohen Ansprüchen an sich selbst laufen
wohlbehütetes Leben, hinter dessen Fassade sich jedoch Ver- Gefahr, an diesen Ansprüchen zu scheitern – und damit Gefahr,
zweiflung verbirgt. Mainländer sehnt sich danach, wie er in sei- in eine Depression zu rutschen. Zu den Berühmtheiten mit
nem Notizbuch schreibt, »einmal unbedingt einem anderen in diagnostizierter Depression zählen die Philosophen Friedrich
allem unterworfen zu sein, die niedrigste Arbeit zu tun, blind Nietzsche und Arthur Schopenhauer, der Maler Francisco
gehorchen zu müssen«. Goya, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller Rainer Maria
Im Jahr 1873 kündigt er seine Stellung bei der Bank, Rilke, Leo Tolstoi, Joanne K. Rowling, Sylvia Plath und David
reicht ein Gesuch bei Kaiser Wilhelm I. ein, doch noch Wehr- Foster Wallace, der Musiker Kurt Cobain, der Schwimmer
dienst leisten zu dürfen, und wird zu den Kürassieren einberu- Michael Phelps und der Fußballspieler Sebastian Deisler.
fen. Zwei Jahre darauf schreibt er an seine Schwester, er sei Die Schauspielerin Nora Tschirner, die ebenfalls dazu-
»verbraucht, worked out, bei vollkommen gesundem Körper gehört, sagte zu Beginn der Coronazeit, die Menschheit stecke
unaussprechlich müde«. Er wird vorzeitig aus dem Militär ent- neben Pandemie und Klimakrise auch in einer »Weltemotions-
lassen, fällt zu Hause zuerst in einen philosophischen Schaf- krise«. »Wir befinden uns in einem emotionalen Schnellkoch-
fensrausch, dann in einen Größenwahn und erhängt sich im topf«, sagte sie. »Sehr viele Leute fühlen sich allein oder allein
April 1876 in seiner Wohnung. Auch zwei seiner fünf Geschwis- gelassen mit ihrer Lebenssituation, sind mit Ängsten und wirt-
ter nehmen sich das Leben. schaftlichem Druck konfrontiert.« Die Ansprüche steigen. Die
Mainländers Leben und sein philosophisches Werk d ­ eu- Menschen bleiben die gleichen.
ten auf ein schweres Leiden hin: Depression. In ihren leichteren Die Geschichte Philipp Mainländers zeigt zweierlei:
Formen ist die klinische Depression ein Leiden, von dem die welch (selbst)zerstörerische Ausmaße die Krankheit Depres-
meisten Menschen zumindest eine vage Vorstellung haben, nicht sion erreichen kann und ihr philosophisches Potenzial. Main-
wenige auch Erfahrung. Rund 15 Prozent aller Arbeitnehmer in länders Metaphysik und Ethik sind geprägt von seinem Leiden.
Deutschland leiden an Depression oder am eng mit ihr verwand- Sie drehen sich um zwei Begriffe: Willen und Erlösung. Der
ten Burn-out-Syndrom. Mehr als die Hälfte fürchten sich davor. Mensch sei nicht frei in ­seinem Willen, war Mainländer über-
Betroffene sind durchschnittlich fast fünf Wochen krankgemel- zeugt, aber in der Lage, sich seines Willens bewusst zu werden.
det, viel länger als bei Grippe oder Rückenschmerzen. Das ist die Erkenntnis, auf die es im Leben ankommt, glaubte
Depression ist kein geringeres Leiden als eine Herz- er: der Weg zur Erlösung. »Aus dem also entzündeten Willen
krankheit oder Diabetes. Doch anders als diese körperlichen fließt die Virginität, die Heiligkeit, die Feindesliebe, die Ge-

HOHE LUFT 75
DEPRESSION

scher Schmerz ist ein Signal, das der


DIAGNOSE DEPRESSION Körper als Warnung vor einer Verlet-
Das internationale Klassifikationssystem für Krankheiten ICD-11 (International zung gibt, um weitere Verletzung zu
Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) führt Depression verhindern und eine Heilung zu ermög-
nicht als scharf abgegrenzte Diagnose, sondern als ganzes Cluster von Diagnosen, lichen. So ähnlich ist es mit seelischem
je nach Schweregrad und vermuteter Ursache. Es gibt Depressionen mit organischer Schmerz, er warnt vor verletzenden Si-
Ursache, andere stehen in Zusammenhang mit einer Schizophrenie oder treten tuationen, vor Stress, Frustration, Ver-
infolge einer Geburt auf. Es gibt einmalige und wiederkehrende depressive Episoden. zweiflung und Überforderung.
Das ICD-11 nennt drei Hauptsymptome von Depression: depressive Stimmung, Aber beide Arten von Schmerz,
Verlust von Interesse und Freude, erhöhte Ermüdbarkeit (oder Agitiertheit). Es unter- der physische und der seelische, kön-
scheidet drei Schwe­regrade von Depressionen: leichte (zwei Hauptsymptome und nen sich verselbstständigen, wenn das
zwei Zusatzsymp­tome), mittelgradige (zwei Hauptsymptome und drei bis vier Warnsystem allzu oft angeworfen wird.
Zusatzsymp­tome) und schwere (drei Hauptsymptome und fünf oder mehr Zusatz- Der Schmerz wird chronisch, gräbt
symptome). Männer neigen mitunter öfter zu äußerlich aggressivem ­Verhalten, sich ein ins Gehirn. Es gibt keine Ver-
Frauen eher zu autoaggressiver Grübelei und Mutlosigkeit. letzung mehr, die ein Problem wäre.
Der Schmerz selbst ist das Problem.
HILFE Auf ähnliche Weise kann ein depressi-
In einer Situation, in der Sie unter Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit oder ver Zustand ein Hinweis darauf sein,
zerstörerischen Gedanken über das normale Maß hinaus leiden, wenden Sie sich dass etwas ernstlich im Argen liegt im
bitte an die Telefonseelsorge: 08 00/111 01 11 oder 08 00/111 02 22. Weitere Fragen Leben des betreffenden Menschen,
zur Erkrankung Depression oder zu Anlaufstellen in Ihrer Nähe beantwortet das dass es Zeit ist zurückzutreten, die
Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe: 08 00/334 45 33. Dinge neu zu bewerten und zu ändern.
Wenn man aber versucht, den
rechtigkeit, kurz alle ­T ugend, und die Verwerflichkeit der wi- Zustand auszuhalten, statt ihn zu ändern, kann der seelische
dernatürlichen Wollust von selbst«, schrieb er, »denn der be- Schmerz sich festsetzen und seine Ursache überdauern. Der
wusste Wille zum Tode schwebt über der Welt.« Schmerz selbst wird Ursache und Wirkung. Oft wird Depres-
Die Erlösung bestehe in der Erkenntnis, dass Nichtsein sion vorschnell mit Trauer oder Traurigkeit gleichgesetzt.
besser ist als Sein. Das ganze Universum strebe dem Ziel des Auch das ist ein gravierendes Missverständnis. Trauer ist eine
Nichtseins zu, ist der Kerngedanke von Mainländers Metaphy- Reaktion auf einen Verlust. Sie kann einen Menschen für Mo-
sik, indem es die Gesamtheit seiner Kräfte immer weiter ab- nate über­wältigen. Dann wird er womöglich noch immer trau-
schwäche – ein Gedanke, der dem Zweiten Hauptsatz der Ther- rig sein, aber allmählich zurück ins Leben finden. Trauer ist ein
modynamik ähnelt, laut dem die Unordnung im Universum Prozess. Eine schwere Depression ist ein Teufelskreis. Sie ist
unaufhaltsam zunimmt. Es ist ein tiefdunkler Schlusspunkt, zu viel zu viel Trauer ohne eine Ursache außer ihr selbst.
dem Mainländer kam, in seinem Denken und in seinem Leben.
Der deutsche Philosoph Theodor Lessing (1872–1933) nannte EINE BESCHREIBUNG einer Depression von fast unheim­
Mainländers Werk »das vielleicht radikalste System des Pessi- licher Klarheit verfasste die englische Schriftstellerin Virginia
mismus, das die philosophische Literatur kennt«. Woolf in ihrem Roman »Jacobs Zimmer« (1922): »Jacob trat ans
Das hat nichts mehr mit alltäglichem Trübsinn zu tun. Fenster und stand mit den Händen in den Taschen. Dort sah
In ihrer schweren klinischen Form kann eine Depression einen er drei Griechen in Trachtenröcken; die Masten von Schiffen;
Menschen völlig lähmen, sogar tödlich sein. Er fällt in etwas, müßige oder geschäftige Menschen der Unterschicht, die
das der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace als schlenderten oder wacker ausschritten oder sich zu Gruppen
»ein solipsistisches, selbstverzehrendes, bodenloses emotiona- scharten und mit den Händen gestikulierten. Ihr mangelndes
les Vakuum« beschrieb und einen »Schwamm« nannte, der Interesse an ihm war nicht der Grund seiner Düsternis;
allen Frohsinn, alle Kraft, überhaupt alle Regung aufsaugt.
­ ­sondern eine tiefe Überzeugung – es war nicht, dass er zufällig
Die Befindlichkeit eines akut depressiven Menschen beschrieb einsam war, sondern dass alle Menschen es sind.« Über eine
Wallace als einen Zustand des »schrecklichen und unablässigen andere Figur desselben Romans schrieb Woolf: »In ihrem
emotionalen Schmerzes«. »Die Unmöglichkeit, diesen Schmerz ­Gemüt machte sich seltsame Traurigkeit breit, als zeigten sich
zu artikulieren oder zu teilen«, trage wesentlich zum Schrecken Zeit und Ewigkeit durch Röcke und Westen, und sie sah Men-
dieses Zustands bei. schen tragisch in ihr Verderben rennen. Doch, der Himmel
Wer diesen Schmerz (auch »Gefühl der Gefühllosig- weiß, Julia war keine Närrin.«
keit« genannt) nicht selbst oder an einem nahen Menschen er- Eines der eindrucksvollsten und anschaulichsten Bilder
fahren hat, wird Schwierigkeiten haben, ihn nachzufühlen. Er für die Depression schuf die englische Schriftstellerin Joanne
oder sie kann sich allenfalls mit Metaphern behelfen. Physi- K. Rowling in ihren »Harry Potter«-Romanen: die Dementoren,

76 HOHE LUFT
DEPRESSION

bösartige Kreaturen ohne Seele, größer als Menschen, das sich nicht mehr schönzureden. Doch das ist noch längst keine
Gesicht unter einer schwarzen Kapuze, unsichtbar für alle
­ Depression. Eine solche entsteht, wenn die Niedergeschlagen-
­außer für Zauberer. Wer das Gesicht eines Dementors zu sehen heit ein Eigenleben entwickelt. Gerade weil sie sich dann dem
bekommt, ist verloren, denn er wird von ihm geküsst. Demen- Realitätsabgleich entzieht, wird sie zur Bedrohung. Eine De-
toren berauben ihre Opfer allen Glücks, saugen ihnen die Seele pression »realistisch« zu nennen, ist falsch und gefährlich.
aus, sodass die Opfer nur als leere Hüllen weiterleben. Eine durchdachtere Deutung der Depression gibt der
In der Welt Harry Potters gibt es nur ein einziges Gegen- amerikanische Psychiater Andrew Solomon, der selbst eine De-
mittel, das die Dementoren vertreibt: den »Patronus«-Zauber. Der pression durchlebt hat, in seinem Buch »Saturns Schatten« (eng-
Zauberer ruft dabei eine besonders schöne Erinnerung in sich lisch: »The Noonday Demon«). »Depression ist die Schattenseite
wach, zum Beispiel an einen schönen Moment in seiner Kindheit. der Liebe«, sagt Solomon. Liebe ist die einzigartige menschliche
Dazu ruft er »Expecto patronum« (Ich erwarte meinen Schutzpat- Fähigkeit, sich mit anderen Menschen und Dingen existenziell
ron), woraufhin dieser Schutzpatron in einer blau leuchtenden zu verbinden. Depression ist eine Störung dieser Fähigkeit. Wer
Gestalt erscheint. Harry Potters Patron ist ein Hirsch. liebt, ist der Gefahr des Verlusts ausgesetzt. Wer die Fähigkeit zu
lieben verliert, gerät selbst in existenzielle Gefahr.
POSITIV DENKEN, das Schöne im Leben gelten lassen, das So ist das Gegenteil von Depression nicht Glückselig-
kann auch in der wirklichen Welt gegen einen milden Anflug keit, sondern Liebe. Depressionskranken fehlt es nicht an blo-
von Depression helfen. Wer allerdings glaubt, er könne eine kli- ßer Aufheiterung, ihnen fehlt jene tiefe Verbindung zur Welt,
nische Depression nachfühlen, weil er selber schon mal frust- die dem Leben Sinn verleiht, weshalb sie den Wert ihres Le-
riert, unmotiviert oder niedergeschlagen war, der unterschätzt bens nicht mehr spüren. Sie verlieren ihren Antrieb, ihre
diese Erkrankung. Der Unterschied zwischen einem milden V italität. »Ich beschloss, etwas zu essen«, erinnert Andrew
­
depressiven Zustand und einer klinisch relevanten Depression ­Solomon sich, »doch dann dachte ich, dass ich dafür das Essen
ist gewaltig. Ersterer ist Traurigkeit, die den Umständen noch rausholen und es auf einen Teller tun muss, es schneiden und
angemessen sein kann. Letztere ist eine maßlose, manchmal bis kauen und schlucken muss, und das fühlte sich für mich wie
zur Gefühllosigkeit gesteigerte Traurigkeit, entkoppelt von den ein Kreuzweg an.«
Umständen, die den betroffenen Menschen so überwältigt, dass Liebe ist keine Verklärung der Welt, sondern die mensch-
er schließlich nicht einmal mehr traurig sein kann. Ersteren liche Art, mit der Welt in Verbindung zu treten. Sie ist, was uns
kennt fast jeder Mensch mit etwas Lebenserfahrung. Letztere ist belebt, was uns Sinn und Orientierung gibt. Solomons Deutung
eine Erkrankung, die mit Suizid enden kann. Beide Zustände lie- nimmt der Depression nicht ihren Schrecken. Sie zeigt, warum
gen an den entgegengesetzten Enden eines weit gespannten die Krankheit so schrecklich, so existenziell bedrohlich ist.
Spektrums. Kein Mensch ist zu hundert Prozent gesund oder
krank. Es ist nicht wie bei einem Virus, mit dem man entweder »MEHR LIEBE«, dieser Hinweis ist im Fall einer akuten klini-
infiziert ist oder nicht, aber niemals halb infiziert. Depression schen Depression ungefähr so hilfreich wie der Patronus-Zauber,
kommt in allen Schattierungen und Grautönen. nämlich gar nicht. Es gibt in der wirklichen Welt keine Schutz-
Doch manchen Philosophen scheint diese Differenzie- patrone gegen Depression. Die heute üblichen Behandlungs-
rung entgangen zu sein: jenen der Denkrichtung, die sich »de- methoden für Depressionen bestehen in einer Kombination aus
pressiver Realismus« nennt. Die kennzeichnende These dieser Psychotherapie und medikamentöser Therapie. Sie sind teuer,
Denkrichtung ist, dass depressive Menschen eine klarere Sicht zeitaufwendig, nicht immer effektiv und haben einige Neben-
davon haben, wie die Dinge wirklich sind. Diese These wurde wirkungen. »Sie sind ein Desaster«, sagt Solomon, der sie er-
von den amerikanischen Psychologinnen Lauren Alloy und Lyn lebt hat. Seine Deutung der Depression als Schattenseite der
Yvonne Abramson entwickelt und in dem Buch »Depressive Rea- Liebe ist aber immerhin ein Fingerzeig darauf, woher Depres-
lism: Four Theoretical Perspectives« (1988) ausgearbeitet. Ob- sion rühren kann, und was eine Gesellschaft bräuchte, um ihre
wohl Menschen mit klinischer Depression aggressives oder Verbreitung einzudämmen. •
selbstschädigendes Verhalten zeigen und schwer leiden, argu-
mentieren Alloy und Abramson, dass die negativen Gedanken
dieser Menschen ein akkurateres Bild der Welt ergäben. Nicht-
depressive Menschen, also die meisten, sähen die Welt zu posi-
tiv: durch die rosarote Brille.
[LEKTÜRE]
_
Ist da etwas dran? Tatsächlich findet eine Metaanalyse A N D R E W S O LO M O N
der verfügbaren Studien einen schwachen Effekt im Sinne des Saturns Schatten. Die dunklen Welten
depressiven Realismus. Doch das ist nicht überraschend. Die der Depression
Niedergeschlagenheit, die ein Mensch verspürt, der mit seiner S . F I S C H E R V E R L AG , 2 0 1 9
Situation unzufrieden ist, kann man auch »Ernüchterung« nen- Der amerikanische Psychiater hat eines der erhellendsten
nen. Sie lässt ihn die Dinge realistischer sehen, zwingt ihn, sie Bücher über Depression geschrieben.

HOHE LUFT 77
COMIC

PHILO-COMIC
ILLUSTRATION UND TEXT: NICOLAS MAHLER

In jeder Ausgabe verwandelt der Illustrator


Nicolas Mahler eine philosophische Frage in einen Comic.
Hier: René Descartes und sein »Ich denke, also bin ich«.

René Descartes war ein kränkliches Kind … … und ein grübelnder Erwachsener.

Kein Wunder, dass ihm bald klar wurde: So konnte er das zwanghafte HINTERFRAGEN
zu seinem Beruf machen.

Descartes zweifelte an ALLEM. Sogar am Mittagsmenü zweifelte er.

78 HOHE LUFT
COMIC

Er zweifelte an seinen Mitmenschen … … und an der Mathematik.

Um nicht vollends meschugge zu werden, suchte er … SICH SELBST!


etwas, an dem nicht zu zweifeln war, und fand …

Seine eigene Existenz sei also durch sein Zweifeln Um Eindruck zu schinden, übersetzte er den Satz
bewiesen, folgerte er. sogar ins Lateinische. So klang er noch besser!

Anmerkung: Falls Sie Teile dieses Berichts bezweifeln, nehmen Sie das als Beleg für Ihre Existenz.

HOHE LUFT 79
RESONANZRAUM

RESONANZRAUM Gut gehalten, oder?


Am 17. November 2011 erschien
unser allererstes Heft.

Was mögen Sie an HOHE LUFT? Antworten


unserer Leser:innen zum Jubiläum
Wir feiern zehn Jahre HOHE LUFT und sagen Danke schön!

10
Die HOHE LUFT, die gibt Wohnzimmer. Inspiration Sie gehört einfach zu
mir Luft zum Durchatmen. und Impulse, die sich zwar meinem Denken und ist
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sich so schnell verändert … auswirken. Ich folge dem Instagram)
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Ganz bestimmt! Danke. tive – und entwickle mich kommt immer auf dassel-
Ihr Bernd Kirstein durch euch anders, und das be heraus: Jeder Artikel,
(via Facebook) ist gut so. Ihr seid wichtig. manchmal auch in kleinen
(netstedt via Instagram) Teilen gelesen, gibt mir
Ja, ich mag sie. Ist einfach so. Denkanstoß, Widerspruch,
Wenn ich mich jetzt blamiere, HOHE LUFT ist einfach ein Zustimmung oder Erinne-
ist mir das egal, denn mein cooles, kluges Magazin! rung an so viele Denk- und
Gehirn gibt vor, was Prio ist. Glückwunsch zur 10! Weltabenteuer. Und immer
(Ralf Richter via Twitter) (kmaria1770 via Instagram) auch den ein oder anderen
Blickwinkel in meiner Arbeit.
Liebes HOHE LUFT-Team! Ihr Mir gefällt die Aufmachung Die Comic-Strecke liebe ich
seid großartig inspirierend, und dass wirklich jeder Bei- eh … Also insgesamt: Besser
immer auch mit einem leich- trag lesenswert ist und zum geht’s nicht. Auf die nächs-
ten Augenzwinkern, wohl Nach- bzw. Überdenken der ten zehn!
dosiert!! Gut, dass es das eigenen Meinung anregt. (jpetersconsult via
HOHE LUFT-Magazin gibt!! Durch HOHE LUFT habe ich Instagram)
(eigentlich.aber via schon bei vielen Themen
Instagram) meine (teilweise verfestigten Via Instragram-Umfrage:
Meinungen) neu sortiert. - die Illustra­tionen!
Der Input, den ich durch die Selbst (für mich) uninteres-
- dass sie zum Nach- und
HOHE LUFT bekomme, ist so sante Themen weckten plötz-
Überdenken anregt
sehr anders als alles Andere, lich mein Interesse. Ich bin
das ich in meinem Alltag so neugierig, was noch kommt! - Gedanken und Ideen,
aufschnappe. Ihr sorgt für (der_zuckerfreie_philosoph die treiben wie Wellen auf
viel frischen Wind in meinem via Instagram) dem Ozean

80 HOHE LUFT
RESONANZRAUM

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HOHE LUFT 81
KONTEXT
TEXT & KONTEXT

TEXT&

SPORT UND VOLLKOMMEN


PHILOSOPHIE UNVOLLKOMMEN FREI

Vier Perspektiven.

 Rüdiger Safranski erzählt die Geschichte des »Einzelnen«.  

ÜBER STADIEN, MASSEN UND


RITUALE WER ODER WAS IST DER MENSCH, Aufgabe zu machen, für das Leben und
Hans Ulrich Gumbrecht: Crowds wenn er außerhalb, jenseits von Gesell­ für das Denken. Dann bemerkt man, wie
schaft und Gemeinschaft steht, lebt, denkt? schwierig es ist zu unterscheiden, ob man
ÜBER FUSSBALL, POKALE UND Wird ihm die eigene Individualität zur Last selbst oder die Gesellschaft in einem denkt
DAS LEBEN – oder entdeckt er in sich ein wahrhaftiges und empfindet.« Safranski weiß auf ge­
Wolfram Eilenberger: Lob des Tores Verhältnis zur Welt, das im Außen nicht zu wohnt kurzweilige Art viel über Höhen und
haben ist? Mit »Einzeln sein« erzählt der Tiefen reflektierter »Einzelheit« zu erzäh­
ÜBER KÖRPER, BEWEGUNG UND Philosoph und Germanist Rüdiger Safranski len. Schade nur, dass er in der Geschichte
NORMATIVITÄT vom Umgang berühmter Denker und verharrt und die heutige »paradoxe Verbin­
Volker Schürmann: Grundlagen der Künstler mit diesen spannungsreichen Fra­ dung von Singularisierung und Schwarm­
Sportphilosophie gen. Seine Reise beginnt in der Renais­ verhalten« nur streift. Dabei wäre eine per­
sance mit da Vinci; sie endet in der Mo­ spektivierende Betrachtung von Andreas
ÜBER KLETTERN, derne mit Jünger. Indem er die einzelnen Reckwitz’ Thesen im Lichte der Schriften
PHILOSOPHIEREN UND DAS Stationen individueller Isolation schildert – etwa von Hannah Arendt oder Ernst Jün­
GROSSE WOZU ob Luthers Einkehr in sich selbst, Mon­ ger sicher reizvoll gewesen.
Stephen E. Schmidt und Peter taignes selbsttherapeutischen Habitus oder (REBEKKA REINHARD)
Reichenbach, Hrsg.: Die Philosophie Heideggers Suche nach Eigentlichkeit –,
des Kletterns versichert sich der Autor auch seiner eige­ Rüdiger Safranski: Einzeln sein.  
nen Position: »Einzeln sein bedeutet, aus Eine philosophische Herausforderung.
einer Tatsache – jeder ist einzeln – eine Hanser, 2021, 288 Seiten, 26 Euro

82 HOHE LUFT
SCHÖNHEIT IST IHR JOB.

Neue Serie
Ab 28.11. immer SONNTAGS um 21:15 Uhr
tlc.de/empfang
TEXT & KONTEXT

:) DER JUNGE MIT DEM LICHT


— IN DER BRUST
Gala Rebane gräbt die kul-
turgeschichtlichen Vorläufer
der Emojis aus und erklärt

Wir fragen Buchhändler, was sie empfehlen. Dieses Mal: Silja
ihre heutige Bedeutung. Korn von der Buchhandlung Taube in Marbach am Neckar.

EMOJIS MACHEN (meist) gute Laune. »DER 11-JÄHRIGE MARTIN BESITZT NUR Wahn auf ihn warten. Irgendwo im Mittel­
Und sie haben die Eigenschaft, allgegen­ das Hemd, das er am Leib trägt, und einen alter angesiedelt, handelt es sich bei dem
wärtig zu sein und sich stetig zu vermeh­ schwarzen Hahn, der spricht. Martins Va­ Roman von Stefanie vor Schulte um eine
ren. Allein auf Facebook kursieren jeden ter hat die gesamte Familie ausgelöscht, Art Märchen samt Heldenreise. Es ist ein
Tag mehr als fünf Milliarden der bunten und so wird Martin in seinem Dorf gemie­ Debüt, das seinesgleichen sucht, ein Buch
Bilderzeichen. Emojis gehören längst zum den. Denn der Junge trägt ein helles Licht voller Grauen – und Güte.«
Inventar digitaler Kommunikation. Nicht in der Brust – und damit können
nur Wolf-Dieter und Frau Wakili bedienen die anderen nicht umgehen. Mit einem Stefanie vor Schulte:
sich ihrer, auch Firmen und Organisatio­ reisenden Maler verlässt Martin seine Junge mit schwarzem Hahn,
nen wissen sie zu nutzen. Warum das so ist, Heimat, nicht ahnend, wie viel Unheil und Diogenes, 2021, 224 Seiten, 22 Euro
zeigt auf sehr anschauliche Weise das
Büchlein von Gala Rebane. Die Kulturwis­
senschaftlerin und Philologin führt uns weit
zurück ins alte Ägypten und in die Stein-
zeit, hin zu Gesten, Mimiken und Pikto­
grammen, um nach den Ursprüngen der
Emojis zu fahnden und ihre Codes zu
­entschlüsseln. Auch analysiert sie anhand
aufschlussreicher Abbildungen Funktions­
weise, Realitätsgehalt und »Performance«

unterschiedlicher Emojis und fragt, ob sich
mit ihnen wohl der alte Traum einer »globa­
ETWAS FÜR PLATO
len Sprache« erfüllt – oder ob sie nur eine
weitere Modeerscheinung in der noch jun­
gen Geschichte des Netzes gewesen sein
Es streckt mir seine Lippen entgegen,
werden. ( R E B E K K A R E I N H A R D )

dieses Wrack von einem Nashorn:

ausgetrocknete Schotterhaut, humpelnd, mit krummem Rücken – 

doch wer weiß, vielleicht ist es ja glücklich hier

im Gehege im Zoo von Delhi. Da läuft es also 

wie ein fetter Mann mit fescher roter Sportjacke,

der sich selbst nicht für fett hält – so zufrieden ist er 

Gala Rebane:   mit dem männlichen Schnitt seiner neuen Sportjacke …


Emojis. Digitale Bildkulturen.  
Klaus Wagenbach, 2021,   Auszug aus einem Gedicht von Sujata Bhatt aus dem Band:  
80 Seiten, 10 Euro »Die Stinkrose«. Edition Lyrikkabinett bei Hanser, 2020

84 HOHE LUFT
Foto: Anja Weber

Konrad Litschko,
Inland/Innere Sicherheit

IST HEUTE DER TAG,


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FREISTIL

DIALOG IM FLUR

FREISTIL —
Berlin, 25. September 2021. Zwei Männer im Anzug und eine
Frau mit Creolen humpeln nebeneinander einen schier end­
losen, schlecht beleuchteten Flur entlang. Sie sind schon sehr
lange unterwegs. Plötzlich bricht die Frau zusammen. Die bei­
den Männer krempeln die Sakko-Ärmel hoch, greifen behut­
sam ihre Arme und Beine und gehen mit der zarten Fracht
vorsichtig weiter. Dabei verlangsamt sich ihr Tempo merklich.

Anzugträger 1: Vorsicht! Lass sie nicht Annalena (mit offenen Augen auf dem
fallen … Sie ist, glaub ich, nicht ganz bei Rücken liegend): Ich sehe keinen linea-
Bewusstsein. ren Verlauf der Zeit. Die Zukunft
Anzugträger 2: Jajajaja! Ich bin ziem- krümmt sich in die Vergangenheit
lich müde. Hast du was für mich, Olaf? zurück.
Olaf: Du meinst einen Wachmacher, Olaf und Armin (synchron): Wie bitte?
Armin, so was wie eine Idee? (denkt kurz Annalena: Jetzt seid doch nicht so
und intensiv nach; dabei verengen sich schwer von Begriff, Jungs. Die Zukunft
seine Augen zu Schlitzen) »Die Zukunft ist schon mal da gewesen. Wir sind im
ist ein langer Prozess.« Kreis gelaufen. Das Leben, schreibt
Armin: Haha! Dieser Flur ist auch ein Marc Aurel, ist »eine Haltestelle für
»langer Prozess«, Olaf. Überzeugt mich Reisende, der Nachruhm ist Verges-
nicht. senheit …«
Olaf: Egal, geh einfach weiter. Unser Olaf: Ich fürchte, er hatte recht.
lineares Zeitempfinden bedingt nun mal, Armin (aufgeregt): Wir müssen Ge-
dass der Lauf der Dinge nur eine Rich- schichte neu denken! Nicht in klar vonei-
tung kennt. Immer geradeaus. nander abgegrenzten und abgrenzbaren
Armin (nun schweißgebadet): Oder, Zeit-Räumen, sondern mehr in einem
wenn man die Zeit als Pfeil denkt: immer ganzheitlichen, quasi-organischen Sinne!
nach rechts. Oh, ich glaube, Annalena Annalena: Guter Punkt, Armin. Da fal-
ist aufgewacht! len mir die alten Chinesen ein …
Annalena: Hhhmmmmmpfffff … Olaf (enthusiastisch): … ja, für die war
Olaf: Die Arme! Wir hätten ihr mehr Zeit nichts, was sich in eine bestimmte
Redezeit schenken sollen. Richtung bewegt, nichts, was Anfang
Armin: Wozu? Wir sind jetzt Jahre und Ende hat, nichts, was man in das
unterwegs, die letzten Monate im Gehäuse einer Uhr pressen könnte …
Sprinttempo. (wird philosophisch:) Worte Annalena: … sondern etwas, das wie
sind Hülsen, von denen man vergessen die Jahreszeiten mit Übergang, wach-
hat, dass sie welche sind. Wozu spre- sen, sprießen, sich entwickeln zu tun
chen, wenn niemand uns erhört? Wozu hat. So betrachtet, entsteht Geschichte
handeln, wenn der Weg nicht endet? aus dem natürlichen Rhythmus von Wer-
Was wird unser Platz in der Geschichte den und Vergehen.
sein? Armin (fröhlich grinsend): Unser Platz
Annalena: Lasst mich los. Ich habe eine in der Geschichte ist klar! Heute ist
Vision! nicht alle Tage. Wir kommen wieder,
Olaf und Armin (synchron): Bitte sehr. keine Frage!
Bitte gern. (Gemeinsam lassen sie Anna-
lena so behutsam auf den Boden gleiten, Wie würden Sie fortsetzen?
wie sie sie aufgehoben hatten – als hätten Wir freuen uns über Ihre Antwort an
sie es geübt.) redaktion@hoheluft-magazin.de

86 HOHE LUFT
TRADITIONELL
(DO:KU – OO COVER)
✪ Wie war das am Anfang? Nichts gewusst, alles neu.
Rap findet jetzt Anklang und ich bleibe mir treu.
Retrospektiv – ey klar: Chronik ist fein.
Doch Rückblick & For tschritt sollten abgestimmt sein.
Zeitlich aufgelöst – sieh die Bilder von Dalí –
Alleine wirkungslos so wie Homöopathie.
Hier wird jetzt geforscht nach peniblen Protokollen.
Erinner ung ist hilfreich, ist das Laborbuch verschollen.
Politik will förder n, nur wenn ich die Zukunft kenn’.
Ich höre wie es lief bei Geschichte.fm.
Forscher:innen strebsam, alle wollen noble Preise.
So ein alter Circus kann nicht Ziel sein dieser Reise. 384 S. | Geb. | € 26,– | ISBN 978-3-406-77453-9
Wie erkennt man Neues, wenn man nur nach hinten schaut? «Gewitzt und wortgewandt wie kein
Klar wird jedes Morgen auf ein Gester n gebaut. Zweiter.» Wolfgang Michal, Der Freitag
Fr üher hatte man noch einen Kodex, den man ehr te. «Ein kluges Buch, dessen Erkenntnisse
Abseits aller Aktienkurse, wo bleiben die Wer te? gerade angesichts einer möglichen neuen
Heute sind Primaten leider nur noch Lohn & Scheine. Corona-Welle im Winter und der drän-
Forschungsinstitute sind doch Traditionsvereine! genden Klimapolitik sehr wertvoll sind.»
Ina Rottscheidt, Deutschlandfunk Andruck
Geschichten, die geschehen oftmals flüchtig und zu schnell.
Mein Anfangsbuchstabe ist dann doch Tradition-L.

Lorenz Adlung hat unter seinem Künstlernamen »do:ku« gerade


die Science-Rap-EP »COVID« veröffentlicht, die auf allen Plattformen
zu finden ist. Sollte Wissenschaft eher traditionell sein?

lächelndes Pärchen an, das mit uns ins


IST DA Gespräch kommen wollte. Als er in die
Bar ging, um Getränke zu holen, kam sie
JEMAND? auf uns zu und sagte: »Er ist Straßen-


Was eigentlich ist eine
musiker! Und ich liebe ihn!« Wir lachten.
Wie lang war es her, dass man einfach so
übersprudelnd fremde Leute angespro-
Begegnung? Andrea Walter chen hatte? Dies schienen uns gute erste
über Menschen, die ihr Sätze dafür. Bald darauf gesellten sich
Leben kreuzen. weitere Leute zu uns. Zwei Brasilianerin-
nen, ein Spanier, ein Nordrhein-Westfale

✪ Neulich war ich mit einer guten al-


ten Freundin aus. Es war Samstag-
abend in Berlin, und es sah fast so aus
– mit der Idee, gemeinsam weiter ins Kit
Kat zu ziehen, einen jener Berliner Clubs,
der als Ort der Ausschweifung bekannt
wie vor der Pandemie: Die Straßen waren ist. Wobei der Spanier einwarf: Wir soll- 408 S. | 12 Diagramme | 1 Tab. | Geb. | € 26,95
ISBN 978-3-406-77346-4
voller Leute. In die Bar, in die wir gingen, ten andere Klamotten anziehen oder zu-
kam man nur mit 2G. Wir merkten, dass mindest jene, die wir anhätten, aus. Sonst «Was in beinahe erschütternder Weise
deutlich … wird, ist der Dilettantismus,
wir lange nicht dicht an dicht mit ande- kämen wir kaum am Türsteher vorbei.
mit dem Politiker auf der ganzen Welt
ren in engen Räumen gesessen hatten, Wir lachten, ließen die Kit-Kat-Bande zie- durch den Lockdown gestolpert sind.»
und fragten uns, was die Pandemie wohl hen. Und dachten: Wie schön, dass es Jan-Otmar Hesse, Soziopolis
mit uns gemacht hat. Irgendwann gingen endlich wieder Abende gibt, die wie
wir vor die Tür. Da visierte uns ein selig Überraschungstüten sind.­­

HOHE LUFT 87
FREISTIL

ABER IST ES
AUCH SCHÖN?

In ihrer Designkolumne beschäftigt sich Maja Beckers mit Fragen der Gestaltung.
Diesmal: dem Trend zu nichtssagenden Postern.

TEXT: MAJA BECKERS


Was hängt man sich heute an die Wand? Wer sich die »Jeder Mensch ist ein Künstler«, sagte Joseph Beuys (1921–
Bilder in Vorzeige-Küchen und -Wohnzimmern ein- 1986) einmal und meinte damit, jeder solle nach diesem Poten-
mal genauer ansieht, stellt fest: wenig Öl auf Lein- zial in sich forschen. Heute gilt zumindest die Light-Version:
wand, überhaupt wenig ausgewiesene Kunst, auch nicht als Jeder Mensch ist kreativ. Soziologen wie Andreas Reckwitz
Nachdruck, und genauso wenig Fotos vom letzten Urlaub oder sprechen vom »Dispositiv der Kreativität«, das heißt, kreativ zu
Geburtstag – die landen wohl eher auf Instagram. Was man sein wird zum erwarteten Normalzustand. Jede Unternehme-
aber sieht, sind viele Poster mit eher simplizistischen Motiven: rin, jeder Lehrer, selbst Verkäufer und Politikerinnen sollen
eine verschlungene rote Linie, weiche, pastellfarbene Fle- kreativ sein. Das sei gar zu einer »Bedingung der Einstell-
cken, monochrome Quadrate. Wenn es doch einmal barkeit« (employability) geworden, meint der italieni-
über das Abstrakte hinausgeht, dann ist vielleicht sche Philosoph und Soziologe Maurizio Lazza-
ein Wort zu sehen, ein Schwarz-Weiß-Bild von rato. Insofern hängt da an der Wand auch eine
einem Zweig oder die zarte Skizze einer weib- Art besserer Lebenslauf oder eher: ein Emp-
lichen Silhouette. Diese Poster sind so be- fehlungsschreiben fürs Mitmachen in dieser
liebt, dass in den letzten Jahren mehrere (Arbeits-)Gesellschaft.
Shops nur dafür entstanden, wie etwa »Ju- Das kann man nun kritisieren und
niqe«, »Poster Store« oder »Poster Club«. die Ausbeutung der Kreativität durch den
Das ist interessant, weil es dabei weni- Kapitalismus beklagen. Man kann aber auch
ger um Minimalismus zu gehen scheint. Der sehen, wie eng verschlungen beide schon vom
wird bereits schon wieder vom Maximalismus ab- Prinzip her sind. Der Soziologe Niklas Luhmann
gelöst, und auch die Poster sind offensichtlich nicht (1927–1998) hat Kreativität einmal so definiert: Sie sei
dazu da, die Wandgestaltung schlicht zu halten und nur einen »die Fähigkeit zum Ausnutzen von Gelegenheiten«, bezie-
simplen Akzent zu setzen. Im Gegenteil, diese Poster kommen hungsweise die »Verwendung von Zufällen zum Aufbau von
meist in Gruppen daher. In groß und klein werden sie zusam- Strukturen«. Zwei Aussagen, die auch das Unternehmertum
mengestellt, fünf, sechs oder auch schon mal vierzehn Stück beschreiben könnten. Und je mehr das Individuum im liberali-
an einer Wand, gewissermaßen als Gesamtkunstwerk. Darum sierten Kapitalismus zum »unternehmerischen Selbst« wird,
geht es schon eher. wie der Soziologe Ulrich Bröckling es nannte, desto wichtiger
Die Poster sind zurückhaltend, damit sie gut kombi- wird auch jedermanns Fähigkeit zur Kreativität.
niert werden können. Sie sind einfach, weil der entscheidende Die eigenen Zusammenstellungen nichtssagender Poster
gestalterische Akt noch folgt: ihr Zusammenstellen. Man kauft sind dafür auch deshalb so ein schönes Symbol, weil sie, mehr
nicht ein Bild, auf dem ein Künstler seine Kunst schon voll- noch als etwa völlig frei gemalte Bilder, für diese Idee von Kreati-
bracht hat, man wird selbst zum Künstler. Die privaten Poster- vität stehen: inmitten gegebener Elemente nach Gelegenheiten
Wände, die über Social Media auch öffentlich werden, fungie- suchen, eine Struktur aufzubauen. Eine Fähigkeit, die laut Luh-
ren auch als Ausweis der eigenen Kreativität. mann umso gefragter ist, je komplexer eine Gesellschaft wird.

88 HOHE LUFT
FREISTIL

COMPLEXIFY YOUR LIFE



Mütter sollten leben und leben lassen – richtig und doch ganz schön schwierig.

TEXT: GRETA LÜHRS

✪ »Cool moms don’t judge« heißt es


unter modernen (werdenden)
Müttern. Ob frau zum Beispiel stillt, wie
einfach. Es ist doch so: Hat man einmal
das Gefühl, man ist im Mutterleben (das
gilt nebenbei bemerkt auch fürs Vater-
urteile – oft auch ohne es zu wollen. Der
Kinderarzt riet mir dann neulich, ich
solle meinem Kind doch mal den Schnul-
lange sie es tut und ob sie Milch ab- leben) ein wenig angekommen, denkt ler abgewöhnen. Wie soll das gehen, der
pumpt, um etwas mehr Freiheit zu ha- man, der eigene Weg ist der richtige. kennt mein Kind doch gar nicht, dachte
ben, sollte allein die Frau entscheiden. Schließlich funktioniert er offenbar! Und ich mir und war genervt. Eine Mutter-
Wenn schon die Gesellschaft allerorts es ist schwer, von der eigenen Erfah- Freundin pflichtete mir zum Glück bei,
»Momshaming« betreibt und Mütter und rung nicht auf andere zu schließen. Ach, dass das ja wohl noch Zeit habe. Ein
Schwangere in ihrem Verhalten maßre- dein Kind bekommt nachts noch ein Hoch auf die Mom-Solidarität!
gelt, sollten wenigstens die Mütter unter Fläschen? Dafür ist es doch viel zu alt,
sich zusammenhalten und sich nicht mein Kind braucht das schon lange nicht
gegenseitig beurteilen (»judgen«). Ich mehr, denke ich. Ich sage das immerhin
finde den Ansatz super und wichtig. Aber nicht laut. Aber ich bin manchmal er-
ihn umzusetzen ist im Alltag gar nicht so schrocken, wie viel ich doch be- und ver-

»HANDLE SO, DASS DIE WIRKUNGEN


DEINER HANDLUNG VERTRÄGLICH SIND MIT
DER PERMANENZ ECHTEN MENSCHLICHEN
LEBENS AUF ERDEN« Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979

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PHILOSOPHISCHE FRAGE

WAS IST
ANKOMMEN,
HERR CEYLAN?

Philosophie ist auch die Kunst, die richtigen
Fragen zu stellen. Wir halten sie lebendig. Prominente
antworten auf große philosophische Fragen.

✪ Früher war ich oft »der Quotentürke« – dabei spreche


ich kaum Türkisch. Wenn es um einen Auftritt ging, hieß
es: »Wir haben doch schon einen Türken.« Die Schublade war
kommen und die Liebe meines Lebens zu finden und zu erken-
nen – und der liebe Gott hat mich damit beschenkt. Dafür bin
ich ewig dankbar. Ich würde daher schon sagen, dass ich heute
schon besetzt. Veranstalter rieten mir, mir ein anderes Image angekommen bin. Woran ich es merke? Dass ich die Zeit genie-
zuzulegen. Tatsächlich wollte ich als Kind nicht Bülent heißen. ßen kann, die ich mit den Menschen verbringe, die mir wichtig
Ich habe es gehasst, wenn ich meinen Namen sagte und die sind. Daran, wie glücklich mich meine Familie macht. Und da-
Leute fragten: »Wie?« Am liebsten hätte ich einen deutschen ran, dass ich zunehmend gelassener werde. Ich bin zufrieden,
Namen gehabt, ich wollte dazugehören. Meine Schwester dafür bin ich dankbar. Der Glaube an Gott hilft mir dabei.
spürte mein Unbehagen. Sie war damals ein großer Billy-Idol- Auf der Bühne spiele ich auch mit deutsch-türkischen
Fan. So waren wir uns schnell einig: Ab jetzt würde ich mich Vorurteilen. Ich glaube, dass der Humor meine Therapie und
»Billy« statt Bülent nennen. Bis ich als Teenager irgendwann mein Durchbruch zum selbstbewussten Menschen war. Je
sagte: »Nee, ich stehe jetzt zu meinem Namen.« Ich hatte ver- mehr Menschen ich zum Lachen bringen konnte, desto glück­
standen, dass es auch toll ist, zwei Kulturen anzugehören. licher war ich. Es ging damit los, dass ich als Jugendlicher zu
Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte. Was mich Hause ab und zu meine Mutter zum Lachen brachte, wenn sie
besonders geprägt hat? Meine Eltern. Meine Mutter ist ein traurig war. So merkte ich, dass ich da ein Talent habe. Und
sehr dankbarer Mensch; das hat sie all ihren Kindern weiter­ was soll ich sagen? Natürlich macht Humor auch sexy. Als ich
gegeben. Ich habe früh gelernt, dass nichts selbstverständlich in der Schule immer mehr Mädels zum Lachen bringen konnte,
ist und man alles zu schätzen wissen muss. Meine Mutter war ich nicht mehr der Außenseiter. Das tat gut. Comedy bricht
wurde im Krieg geboren, für sie war es immer wichtig, dass wir oft das Eis und führt Menschen zusammen. Dieses Talent trug
einen gut gefüllten Obstkorb auf dem Tisch hatten. Er war für ich in mir, aber es war ein langer Weg. Heute finde ich mich
sie ein Statussymbol. Eines Tages komme ich nach Hause, der okay. Klar, ich habe ein paar Macken, die könnte ich endlich
Kühlschrank war leer und der Obstkorb auch. Die kleine Firma mal verbessern. Aber irgendwie gehört es auch zu mir, abends
meines Vaters stand vor dem Bankrott. Damals erklärte er mir, noch Nutella zu löffeln. • PROTOKOLL: JANIS VOSS
dass er auch an mein Sparbuch müsse. Er hat es mir später
zurückgezahlt. Das rührt mich bis heute, wenn ich davon
­ BÜLENT CEYLAN
­erzähle. Doch trotz toller Eltern und Geschwister wurde ich in Der in Mannheim geborene Comedian hat
der Schule zum Außenseiter. Schnell wurde ich, der Zurückhal- Philosophie studiert und schreibt in seinem neuen
tende, zum Opfer auserkoren und gemobbt. Oft verabredeten Buch »Ankommen – Aber wo war ich eigentlich?«
sich die Jungs aus der Schule, um »den Türk« nach dem Unter- (Fischer Verlag oder als Hörbuch im Argon Verlag)
richt »zu verschlagen«. üb­e r die Bedeutung von Vielfalt und Identität, Heimat
Ich glaube, dieser schwere Weg war auch dafür verant- und den Wert der Familie.
Foto: Arno Steinfort

wortlich, dass ich einen ganz eigenen Ehrgeiz entwickelt habe.


Ich habe mir schon früh vorgenommen, eines Tages eben doch
die Anerkennung und Liebe der Gesellschaft zu erfahren. Für
mich waren immer zwei Dinge wichtig: Bei mir selbst anzu-

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