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25/06/2020 "Der Gebrauch der Körper": Rette das Feuer des Seins!

| ZEIT ONLINE

"Der Gebrauch der Körper"

Re e das Feuer des Seins!


Warum wissen wir nicht mehr, was Leben ist? Giorgio Agambens Studie
"Der Gebrauch der Körper"

Eine Rezension von Thomas Assheuer


17. Juni 2020, 16:50 Uhr / Editiert am 23. Juni 2020, 15:41 Uhr / DIE ZEIT Nr. 26/2020, 18. Juni 2020
/ 28 Kommentare /

AUS DER ZEIT NR. 26/2020

Wenn die Flamme einmal erloschen ist, was macht man dann mit dem
Streichholz? © Yaoqi LAI/unsplash.com

Wer früher, sagen wir: in den Achtzigerjahren, pompöse


Geschichtsphilosophien mit links erledigen wollte, dem reichte dieser
Spruch: "From Plato to Nato!" Das war ironisch und hieß: Glaubt ihr
Großtheoretiker ernsthaft, das Denken von Sokrates, Aristoteles und Platon
habe uns die Moderne eingebrockt? Was für ein Unfug!

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben


[https://www.zeit.de/2015/35/giorgio-agamben-philosoph-europa-
oekonomie-kapitalismus-ausstieg] ist so ein Großtheoretiker, und er glaubt
tatsächlich, dass wir das Wesen unserer Gegenwart nur verstehen, wenn
wir an die Ursprünge des abendländischen Denkens zurückgehen. Die
griechische Philosophie habe die Weichen in die Moderne gestellt, und das
leider nicht nur zum Guten. Sein Denken hat Agamben in einer Vielzahl

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faszinierender, zuweilen schwer verständlicher Bücher unterbreitet, und


fast alle kreisen um ein Thema, um das Schicksal des "Lebens". Warum
wissen die Modernen nicht mehr, was das Leben ist – warum regulieren,
kontrollieren und disziplinieren sie es? Warum entstehen inmitten der
zivilisierten Welt Zonen, in denen menschliches Leben nackt und rechtlos
ist? Warum lässt Europa nahezu ungerührt Zehntausende im Mittelmeer
ertrinken? Warum vegetieren in Griechenland Flüchtlinge in Lagern und
haben kaum mehr als ihr nacktes Dasein?

Kürzlich sorgte Agamben mit der Behauptung für Aufsehen, die Corona-
Pandemie [https://www.zeit.de/thema/coronavirus] sei eine staatliche
Erfindung, ein Vorwand, um den Ausnahmezustand ausrufen zu können.
Politische Macht, schrieb er, legitimiere sich nämlich "nur noch in Form des
Notstands" und nicht mehr aus sich selbst – das Zentrum des Liberalismus
sei leer, und die "Haupttätigkeit" der Regierenden bestehe in der Verwaltung
von Körpern. In Agambens Augen entblößt die Corona-Krise die Wahrheit
der Moderne: Was früher einmal "Leben" war, ist heute "Nur-noch-Leben".
Das nackte vegetative Leben wird in Krankenhausfabriken
intensivmedizinisch betreut und im Todesfall auf Militärlastwagen ins
Krematorium abtransportiert.

Der Gebrauch der Körper heißt das Buch, mit dem Agamben seiner
Radikalkritik an der biopolitischen Staatsmaschine ein
philosophiehistorisches Fundament verschaffen will. Entsprechend sucht er
nach verdächtigen Ideen und frühen Mustern, die die zweitausendjährige
Geschichte der Spaltungen erst denkmöglich machten. In Aristoteles findet
er denjenigen Denker, der die erste verhängnisvolle Trennung in die Welt
setzte: Er trennte das politische Leben (bios) vom "nährenden Leben" (zoè),
denn dieses habe "an der Tugend keinen Anteil". Damit war der Bürger
halbiert – aufgespalten in den politischen Körper und den nackten, den
vegetativen Körper. Diese Spaltung durchzieht auch den Körper des Sklaven;
er ist ein Instrument, ein "Utensil", ein "Mensch, der sich nicht selbst gehört"
– und zugleich wird sein rechtloses Leben benutzt, um das politische Leben
des Bürgers zu ermöglichen. Immer wieder wird der Sklave in der
Geschichte des Abendlandes auftauchen; er ist die Figur des nackten, nur
durch seinen Ausschluss in die Gesellschaft eingeschlossenen Lebens, die
Figur einer Schuld, die wie ein Alb über der westlichen Politik liege.

Auch in seiner Sprachphilosophie hinterlässt Aristoteles ein zwiespältiges


Erbe. So wie er das "nährende Leben" aus dem Leben des politischen
Bürgers ausschließt, so schließt er das Reale aus der Sprache aus. Das heilige
unverfügbare Sein, klagt Agamben, erscheint bei Aristoteles lediglich als

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sprachliche Relation und trüber Schatten: Das Sein ist nur noch das, was die
menschliche Sprache darüber aussagt, und so bereite Aristoteles einen
Menschentyp vor, der besitzen will, was man nicht besitzen kann.

Wie nicht anders zu erwarten, bildet das Denken


Immanuel Kants für Agamben den Höhepunkt der
Seinsvergessenheit. Um das Transzendentale zu
retten, sperre er es in eine Festung, und damit
verliere die Philosophie "endgültig ihr Verhältnis
Dieser Artikel stammt aus der zum Sein, und die Politik gerät in die
ZEIT Nr. 26/2020. Hier
können Sie die gesamte
entscheidende Krise". Gut zweihundert Jahre
Ausgabe lesen. später, also heute, hat sich "das Abendland"
[https://premium.zeit.de/abo/
vollendet und scheint epochal unfähig, das
diezeit/2020/26]
"göttliche Leben" auch nur zu denken. Seine
signifikant leere Sprache ist nur noch eine
"historische Effektivität" ohne "erkennbaren Sinn des historischen
Werdens". Zurück bleibt das geschichtslose, das nackte, vom Organischen
abgetrennte und von niemandem mehr gelebte Leben. Es erschöpft sich in
der "Herrschaft über die privacy" und in der Panik, es könne durch einen
Unfall oder durch eine Krankheit auch noch das Letzte verlieren – seinen
biologischen Rest.

Auch wenn seine penetranten Übertreibungen an den Nerven zehren, so ist


die philologische Brillanz eindrucksvoll, mit der sich Agamben treu auf
Heideggers Spuren durch die Zeitalter spekuliert und seinen Honig aus
entlegensten Quellen saugt. Doch was nun? Weil Der Gebrauch der Körper
seine vierbändige Reihe Homo sacer beschließt, muss Agamben wenigstens
andeuten, wie eine Gesellschaft beschaffen sein müsste, "in der es so etwas
wie ein nacktes Leben, das isoliert und abgetrennt werden könnte, gar nicht
gibt". Sein Programm ist klar und vage zugleich. Agamben schwebt eine
"Politik der Lebens-Form" vor, eine Gesellschaft, in der "das Leben, das man
lebt, und das Leben, durch das man lebt, restlos ineinander aufgehen".
Intensiv und unauflöslich sollen sich Sein und Existenz zu einem Leben
verbinden, das in glücklicher Unmittelbarkeit vom eigenen Feuer verzehrt
wird. Während das Leben im kapitalistischen Spektakel zum isolierten
Produkt verfällt, besteht das "Zentrum der kommenden Politik" in der
"Innigkeit des unzertrennlichen Lebens". Das moderne, das nackte und
ortlose Leben dürfe man getrost dem "Bürger" überlassen, der es dann ins
Korsett der Rechte zwängt.

Die Verbindung von "Sein und Existenz als politische Aufgabe"? Eine Politik
ohne Repräsentation, eine Gesellschaft als intimes "In-Kontakt-Stehen der
Lebens-Formen"? Das ist Politik ohne Politik, das kann nicht gut gehen, und

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es geht auch nicht gut. Denn was für eine Gesellschaft soll das sein – eine
soziale Großskulptur, eine Ordensgemeinschaft mit Riesenkloster?
Ausgerechnet dieser komplexe Denker hat keinen Sinn für das
Freiheitspotenzial des Rechts, und das Ich-Sagen steht bei ihm im Verdacht,
es sei Verrat am eigentlichen Leben. Verblüffend auch Agambens
Desinteresse, zwischen Gott und Sein scharf zu unterscheiden, aber
vermutlich hält er die Theologie für einen Filialbetrieb der griechischen
Metaphysik mit obskurer Neigung zu magischen Praktiken ("Sakramente!").
Kein Wort zur Ablösung des mythischen Schicksalsglaubens durch eine
erlösende Heilsgeschichte; kein Wort zur größten antiken Revolution, dem
Wechsel vom kosmischen Fatalismus zum Bund mit dem gerechten Gott.
Von Aristoteles zu Agamben: Das Abendland kennt nur ein Ziel – nur
Seinsverflüssigung, nur Biopolitik.

Allerdings, da "die Zeit der Moderne abgelaufen" ist und wir wieder "den
Rhythmus des Seins erfahren", besteht die Möglichkeit, am Rad der
Geschichte zu drehen. Agamben hofft auf die "Dekonstitution" der
Verhältnisse und tastet sich am Schluss noch einmal rückwärts durch die
Geistes- und Kulturgeschichte. Im Louvre fasziniert ihn Tizians Die
Kreuzabnahme, weil Christus zwar noch die Insignien des Königs trage,
gleichzeitig aber eine Macht ohne Gewalt verkörpere. Er zitiert den Apostel
Paulus, um schließlich erleichtert zu Platon zurückzukehren, zu jener ersten
Philosophie, die auch die letzte Philosophie sei – also unsere Rettung. In
Platons Nomoi findet Agamben das zentrale "Element", um die
Entscheidungen der biopolitischen Maschine, vulgo: des Liberalismus,
"außer Kraft zu setzen und unwirksam zu machen". Und was soll das sein?
Das rettende Element ist Platons Wächterrat, jene "nächtliche
Versammlung" aus weisen Männern, die aufpasst, dass Politiker nicht gegen
ewige Seinswahrheiten verstoßen und tiefe Kenntnis haben vom Leben und
vom Sterben. Im Iran nennt man sie Ajatollahs.

Einmal angenommen, Agambens metaphysisches Zentralkomitee bekäme


es mit einem modernen Sokrates zu tun: Sie müssten ihn sofort verhaften.

Giorgio Agamben: Der Gebrauch der Körper. A. d. Ital. v. A. Hiepko u. M. von


Killisch-Horn; S. Fischer, Frankfurt a. M. 2020; 480 S., 25,– €, als E-Book 22,99

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