Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
| ZEIT ONLINE
Wenn die Flamme einmal erloschen ist, was macht man dann mit dem
Streichholz? © Yaoqi LAI/unsplash.com
https://www.zeit.de/2020/26/giorgio-agambens-studie-der-gebrauch-der-koerper?utm_campaign=ref&utm_source=facebook_zonaudev_int&utm_… 1/4
25/06/2020 "Der Gebrauch der Körper": Rette das Feuer des Seins! | ZEIT ONLINE
Kürzlich sorgte Agamben mit der Behauptung für Aufsehen, die Corona-
Pandemie [https://www.zeit.de/thema/coronavirus] sei eine staatliche
Erfindung, ein Vorwand, um den Ausnahmezustand ausrufen zu können.
Politische Macht, schrieb er, legitimiere sich nämlich "nur noch in Form des
Notstands" und nicht mehr aus sich selbst – das Zentrum des Liberalismus
sei leer, und die "Haupttätigkeit" der Regierenden bestehe in der Verwaltung
von Körpern. In Agambens Augen entblößt die Corona-Krise die Wahrheit
der Moderne: Was früher einmal "Leben" war, ist heute "Nur-noch-Leben".
Das nackte vegetative Leben wird in Krankenhausfabriken
intensivmedizinisch betreut und im Todesfall auf Militärlastwagen ins
Krematorium abtransportiert.
Der Gebrauch der Körper heißt das Buch, mit dem Agamben seiner
Radikalkritik an der biopolitischen Staatsmaschine ein
philosophiehistorisches Fundament verschaffen will. Entsprechend sucht er
nach verdächtigen Ideen und frühen Mustern, die die zweitausendjährige
Geschichte der Spaltungen erst denkmöglich machten. In Aristoteles findet
er denjenigen Denker, der die erste verhängnisvolle Trennung in die Welt
setzte: Er trennte das politische Leben (bios) vom "nährenden Leben" (zoè),
denn dieses habe "an der Tugend keinen Anteil". Damit war der Bürger
halbiert – aufgespalten in den politischen Körper und den nackten, den
vegetativen Körper. Diese Spaltung durchzieht auch den Körper des Sklaven;
er ist ein Instrument, ein "Utensil", ein "Mensch, der sich nicht selbst gehört"
– und zugleich wird sein rechtloses Leben benutzt, um das politische Leben
des Bürgers zu ermöglichen. Immer wieder wird der Sklave in der
Geschichte des Abendlandes auftauchen; er ist die Figur des nackten, nur
durch seinen Ausschluss in die Gesellschaft eingeschlossenen Lebens, die
Figur einer Schuld, die wie ein Alb über der westlichen Politik liege.
https://www.zeit.de/2020/26/giorgio-agambens-studie-der-gebrauch-der-koerper?utm_campaign=ref&utm_source=facebook_zonaudev_int&utm_… 2/4
25/06/2020 "Der Gebrauch der Körper": Rette das Feuer des Seins! | ZEIT ONLINE
sprachliche Relation und trüber Schatten: Das Sein ist nur noch das, was die
menschliche Sprache darüber aussagt, und so bereite Aristoteles einen
Menschentyp vor, der besitzen will, was man nicht besitzen kann.
Die Verbindung von "Sein und Existenz als politische Aufgabe"? Eine Politik
ohne Repräsentation, eine Gesellschaft als intimes "In-Kontakt-Stehen der
Lebens-Formen"? Das ist Politik ohne Politik, das kann nicht gut gehen, und
https://www.zeit.de/2020/26/giorgio-agambens-studie-der-gebrauch-der-koerper?utm_campaign=ref&utm_source=facebook_zonaudev_int&utm_… 3/4
25/06/2020 "Der Gebrauch der Körper": Rette das Feuer des Seins! | ZEIT ONLINE
es geht auch nicht gut. Denn was für eine Gesellschaft soll das sein – eine
soziale Großskulptur, eine Ordensgemeinschaft mit Riesenkloster?
Ausgerechnet dieser komplexe Denker hat keinen Sinn für das
Freiheitspotenzial des Rechts, und das Ich-Sagen steht bei ihm im Verdacht,
es sei Verrat am eigentlichen Leben. Verblüffend auch Agambens
Desinteresse, zwischen Gott und Sein scharf zu unterscheiden, aber
vermutlich hält er die Theologie für einen Filialbetrieb der griechischen
Metaphysik mit obskurer Neigung zu magischen Praktiken ("Sakramente!").
Kein Wort zur Ablösung des mythischen Schicksalsglaubens durch eine
erlösende Heilsgeschichte; kein Wort zur größten antiken Revolution, dem
Wechsel vom kosmischen Fatalismus zum Bund mit dem gerechten Gott.
Von Aristoteles zu Agamben: Das Abendland kennt nur ein Ziel – nur
Seinsverflüssigung, nur Biopolitik.
Allerdings, da "die Zeit der Moderne abgelaufen" ist und wir wieder "den
Rhythmus des Seins erfahren", besteht die Möglichkeit, am Rad der
Geschichte zu drehen. Agamben hofft auf die "Dekonstitution" der
Verhältnisse und tastet sich am Schluss noch einmal rückwärts durch die
Geistes- und Kulturgeschichte. Im Louvre fasziniert ihn Tizians Die
Kreuzabnahme, weil Christus zwar noch die Insignien des Königs trage,
gleichzeitig aber eine Macht ohne Gewalt verkörpere. Er zitiert den Apostel
Paulus, um schließlich erleichtert zu Platon zurückzukehren, zu jener ersten
Philosophie, die auch die letzte Philosophie sei – also unsere Rettung. In
Platons Nomoi findet Agamben das zentrale "Element", um die
Entscheidungen der biopolitischen Maschine, vulgo: des Liberalismus,
"außer Kraft zu setzen und unwirksam zu machen". Und was soll das sein?
Das rettende Element ist Platons Wächterrat, jene "nächtliche
Versammlung" aus weisen Männern, die aufpasst, dass Politiker nicht gegen
ewige Seinswahrheiten verstoßen und tiefe Kenntnis haben vom Leben und
vom Sterben. Im Iran nennt man sie Ajatollahs.
STARTSEITE › [h ps://www.zeit.de/index]
https://www.zeit.de/2020/26/giorgio-agambens-studie-der-gebrauch-der-koerper?utm_campaign=ref&utm_source=facebook_zonaudev_int&utm_… 4/4