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Es gibt wohl nur wenige Denker, deren Leben und Werdegang in bio-
graphischer und geistiger Hinsicht so genau dokumentiert ist wie jenes
Friedrich Nietzsches. Die Aufzeichnungen reichen von der frühen Kindheit
bis hinein in die Zeiten d;es ausbrechenden Wahnsinns; hinzu kommen man-
nigfache Zeugnisse von Familienangehörigen, Freunden oder Zeitgenossen
über diesen Denker. Für die Herausgabe der Briefe, Schriften und anderen
Aufzeichnungen stellt sich daher die Frage, wie man angesichts des immensen
Umfangs des von Nietzsche schriftlich Hinterlassenen vorzugehen habe.
Besonders schwierig ist dieses Problem dort zu entscheiden, wo es sich nicht
um Nietzsches eigene Gedanken handelt, sondern um die Wiedergabe von
Überlegungen anderer, wie es z. B. bei Exzerpten aus Büchern oder bei der
Nachschrift von Vorträgen seiner Lehrer am Gymnasium und an der Uni-
versität der Fall war. Darüberhinaus gibt es noch andere spezifische Probleme,
z. B. inwieweit die Randnotizen in Handexemplaren von Nietzsches Biblio-
thek zu beachten sind.
Bei der Erörterung der Frage der Edition der bisher unveröffentlichten
Kollegnachschriften Friedrich Nietzsches ist von der Tatsache auszugehen,
daß die Schriften aus der Jugend- und Studentenzeit Nietzsches in der
philologisch verläßlichen und exakten Edition von H. J. Mette und anderen
vorliegen1. Doch gerade in dieser „Historisch-kritischen Gesamtausgabe" der
Mein besonderer Dank gilt der Direktion der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten
der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, für die Bewil-
ligung der Einsicht und Auswertung des hier verwendeten unveröffentlichten Manuskriptes
Nietzsches: NFG/GSA 71/41, (C II 1); im folgenden wird im fortlaufenden Text bei Zitaten
daraus nur die Seite (p.) angegeben.
VgL BAW 1—5. Dieses Faktum war der Ausgangspunkt von persönlichen
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ich mit Mazzino Montinari über die Veröffentlichung von Nietzsches Vorlesungsnachschriften
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456 Johann Figl
während des Seminars »Grundfragen der Nietzsche-Forschung* führen konnte, das vom 12.
bis 14. Juli 1982 im Wissenschaftskolleg zu Berlin stattfand; vgl. auch M. Montinari^ Vorwort,
in: KSA, Bd. 14,15.
2
Z. B. aus der Mappe NFG/GSA 71/221 (Mp V 33); einzelne Stellen daraus sowie aus Mp V
29 sind publiziert in: /. Figl, Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religions-
philosophie. Mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984, 58—70;
und 391 (Faksimile). . ·
3
Siehe BAW l, LIV-L1X.
4
So schrieb mir Mazzino Montinari in einem Brief vom 23. August 1984.
5
Vgl. z. B. die Auszüge aus „Der Werth des Lebens von E. Dühring. 1865.", in: KGW IV l,
207-256: 9,1; und aus „Die Erhaltung der Energie. Von B, Stewart", a. a. O. 257-261: 9,2;
zur grundsätzlichen Bedeutung der Lektüre Nietzsches für die Interpretation seines Denkens
vgl. M. Montinari^ Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, 6 f. ·
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Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens 457
6
Zu Nietzsches Bonner Studienzeit vgl/. Figl, a. a. O. (Anm. 2), 71 ff., zu Schaarschmidt: 57
Anm. 42, und 114.
7
BAW1, LVf.
8
NFG/GSA 71/41; alte Signatur: C II 1.
9
VgL BAW2, 117.
10
Vgl. BAW l, LXXIX: Mp VII, 3.
11
Möglicherweise hat Nietzsche den Anfang der Vorlesung zu Hause in Reinschrift nachge-
tragen; vgL dazu W. Metterbaufcn* Friedrich Nietzsche's Bonner Studienzeit, 2. stark verän-
derte Fassung, 1942 (maschinschriftliches Manuskript, Archiv derto you
Brought Universität Bonn), 25.
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Besonders schwer leserlich ist p. 56, weil diese ausnahmsweise mit Bleistift geschrieben ist.
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458 Johann Figl
Seite
Allgemeine Geschichte der Philosophie
nach dem Vortrag des Prof. Schaarschmidt l
Allgemeine Geschichte der Philosophie 3
§.1. Begriff der Philosophie. 3
§.2. Begriff der Geschichte der Phii<osophie> 4 Mitte
(Rest leer)
Die indische (Stufe der Philosophie^. 5—6
§ 4. Quellen u. Literatur. 7
Die alte Philosophie. 8
Allgemeine Charakteristik. ' 9 oben
12
Es handelt sich überwiegend um Vorlesungen aus demselben Semester (Sommer 1865) und
um eine aus dem vorhergehenden Wintersemester, also insgesamt um die Bonner Studienzeit:
vgl. BAW l, LVL Brought to you by | INSEAD
' .
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Nietzsches frühe Begegnung mit dein Denken Indiens 459
16 und 17 einordnet, was sich vom Inhalt her begründen läßt13. Dadurch
würde zudem die „Verdoppelung" der Darstellung wegfallen, und Sokrates
— wie auch sonst in den zeitgenössischen philosophiegeschichtlichen Werken
— nach den Sophisten eingeordnet sein14. In welcher Weise die inhaltliche
Darstellung der alten Philosophie begonnen hat, dies tritt nun als neues
Problem auf, das durch die Mitschrift Nietzsches nicht eindeutig geklärt
werden kann. Soviel aber kann jedenfalls aus ihr entnommen werden, daß
Schaarschmidt eine Art einleitenden Überblick über die Etappen der antiken
Philosophie gegeben hat und dabei auch auf die vorsokratische Epoche
hingewiesen hat; dafür spricht der Beginn der Seite 14, wo wir lesen können:
„Die zweite Periode sucht den Geist begrifflich zu fassen, das Denken macht
sich zur Norm des Lebens. In der ersten Naturspeculation."15 Es ist also zu
vermuten, daß die Naturphilosophie der Vorsokratiker in der einen oder
anderen Weise zur Sprache gekommen ist.
Die verbleibenden weiteren Unvollständigkeiten bzw. Widersprüche wer-
fen eine Reihe von offenen Fragen auf, die sich nach zwei Dimensionen hin
unterscheiden lassen: erstens, inwiefern sie im Vortrag Schaarschmidts be-
gründet sindj und zweitens, in welchem Ausmaß sie in Nietzsches Entfernt-
bleiben oder Nichtmitschreiben der Vorlesungen ihren Grund haben. Im
Hinblick auf die erste .Fragedimension ist man groß teils auf Vermutungen
angewiesen solange keine vollständigeren anderen Unterlagen über die$e
Vorlesung Schaarschmidts herangezogen werden können. Eine wichtige
Orientierung könnten allerdings zeitgenössische Darstellungen der Philoso-
phiegeschichte16, ebenso die von Schaarschmidt in der Vorlesung gemachten
Literaturhinweise17 und schließlich Publikationen zu den behandelten Themen
13
Dann würde auf die Darstellung (1.) der Sophisten der „§.2. Socrates u. seine Schulen"
folgen, beginnend — wie auch sonst bei der Darstellung der einzelnen bedeutenden Philo-
sophen — mit Literaturhinweisen, dann biographischen Daten, die in der Feststellung
münden, daß Socrates „als bejahrter Mann auf(tritt)" (16 unten), worauf sich organisch .die
Darstellung seiner Anklage und Verteidigungsrede (10 oben) anfügen würde.
14
Vgl. dazu z. B. die in Anm. 15, 16 und 40 angegebenen Werke von Scbwgler^ fJeberweg und
Hegel.
15
Vgl. als zeitgenössisches Werk A. Scbwegler, Geschichte der griechischen Philosophie, Tübin-
gen 1859, der den „^weiten Abschnitt" (von Sokrates bis Aristoteles) seines Buches mit „Die
Systeme des Begriffs" überschreibt (96 ff.).
16
Es ist insbesondere auf F. Uebertvegs »Grundriß der Geschichte der Philosophie von Thaies"
bis auf die Gegenwart* zu verweisen, dessen erster Band 1863 in erster Auflage erschienen
war (3. Aufl. Berlin 1867); und auf das, wie Ueberweg in seinem Vorwort (Bd. l, III) schreibt,
„gegenwärtig verbreiterte Lehrbuch", nämlich A. Schiveghr^ Geschichte der Philosophie im
Umriß. Ein Leitfaden zur Übersicht, Stuttgart 1857; darauf wies Schaarschmidt offensichtlich
hin, gemäß der Notiz Nietzsches: „Für allgem. Philosophie} ist nur Schwegler kl. Grundriß
zu nennen." (p. 8).
17
Schaarschmidt gibt nach Nietzsches Mitschrift einerseits zu Beginn der Vorlesung („§ 4:
Quellen u. Literatur", p. 7 s.) Hinweise auf Werke zur allgemeinen Philosophiegeschichte
(vgl. unten Anm. 34 bis 36 und 40 als Beispiele), andererseits vor der Darstellung einzelner
Philosophien bzw. Richtungen spezielle Literaturhinweise (vgl. Anm. 38).
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Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens 461
von ihm selbst18 bieten. Sie könnten — wenn auch keine definitive Entschei-
dung — so doch Anhaltspunkte für die Klärung der offenen Fragen geben.
Es ist ferner auf das %weite der erwähnten Probleme einzugehen, nämlich
ob die offensichtlichen Lücken der Nachschrift im Entferntbleiben Nietzsches
von der Vorlesung ihren Grund haben. Solche Lücken zeigen sich, wie der
gegebene Überblick ja erkennen läßt, vor allem in der neueren Philosophie,
und da besonders gegen Schluß der Vorlesung. Letzteres mag nicht zuletzt
.in der Tatsache.begründet sein, daß Nietzsche zum Semesterende krank war19.
Manche versäumte Stunde ist auch auf die Beanspruchung durch andere
Tätigkeiten zurückzuführen, Nietzsche spricht im Juni 1865 von der „Viel-
geschäftigkeit und Ueberfülle meiner gegenwärtigen Interessen"20, Auf der
anderen Seite ist aber davon auszugehen, daß Nietzsche am regelmäßigen
Besuch der Vorlesung Schaarschmidts interessiert war. Sie gehört zu seinem
Arbeitsprogramm in Bonn, wie aus einer brieflichen Mitteilung an seine
Mutter vom 29. Mai 1865 hervorgeht21. Hinzu kommt, daß Nietzsche Schaar-
schmidt persönlich gut kannte; schon zu Beginn seines Studiums hatte er
eine Empfehlung von Steinhart, seinem Philologielehrer in Pforta, mitbekom-
men, gemeinsam mit Paul Deussen, seinem Freund; und mit ihm war er auch
öfters im Hause Schaarschmidts eingeladen22.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß trotz der erwähnten
Lückenhaftigkeit das vorliegende Manuskript jedenfalls dokumentiert, daß
Nietzsche erstmals einen umfassenden Überblick über die Geschichte der
abendländischen Philosophie von der Antike bis zu Beginn des
19. Jahrhunderts erhalten hat23, und es zeig^daß er sogar erste Einblicke in
die Philosophie Indiens durch diese Vorlesung vermittelt bekommen hat.
18
Vgl. C. Schaarscbmidt^ Der Entwicklungsgang der neueren Speculation als Einleitung in die
Geschichte der Philosophie, Bonn 1857; ders., Die angebliche Schriftstellerei des Philolaos,
Bonn 1864; ders., Die Sammlung der platonischen Schriften zur Scheidung der echten von
den unechten, Bonn 1866. Nietzsche hörte überdies im Sommersemester 1865 bei Schäar-
schmidt die Vorlesung ,Platos Schriften und Philosophie* (Nachschrift: NFG/GSA 71/40: C
I 6; vgl. BAW l, LV).
19
VgL Briefe vom 4. (an Carl von Gersdorff) und 5. August 1865 (an Mutter und Schwester):
KGB I 2, 77 und 78; vgl. BAW 3, 412 (Nachbericht).
20
Brief aus der zweiten Junihalfte 1865 an die Mutter: KGB I 2, 65.
21
A. a, O. 58 f.: „Früh um 7 Uhr besuche ich täglich schon ein philosophisches Collegium."
22
VgL KGB I 2, 18, 21 f., 35 f.; und Paul Deutsen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche,
Leipzig 1901, 20; hier auch die ernüchternde Feststellung über Schaarschmidt: „Wir fanden
in ihm einen bis zur Unruhe lebhaften, beweglichen Mann und sahen uns, als wir von ihm
kamen, erstaunt an. Das also war ein Philosoph? Einen solchen hatten wir uns allerdings
ganz anders gedacht.*'
23
Zum Schopenhauer-Exzerpt vgl. /. Figl, Nietzsches Begegnung mit
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werk, in: Schopenhauer-Studien 1989 (im Druck). Authenticated
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462 Johann Figl
Von der Thematik der Vorlesung her ist es evident, daß prinzipiell eine
historische Perspektive für den Umgang mit der Philosophie leitend sein sollte;
Welcher Art aber näherhin diese geschichtliche Methodik war, di^s könnte
primär aus den einleitenden Ausführungen (3—8) entnommen werden. Ein
eigener Paragraph zur Methode aber fehlt, wie der Überblick zeigt; ein solcher
war jedoch offensichtlich von Schaarschmidt vorgesehen und vermutlich
auch gebracht worden, denn unmittelbar vor Beginn des Paragraphen l über
den „Begriff der Philosophie" wird folgendes gesagt:
Um den Gegenstand <scil. der Geschichte der Philosophie; J. F.) zu be-
grenzen, müssen wir auf den Begriff eingehen. Daran muß sich eine Betrach-
tung über die Methode, Zuletzt über die philos. Literatur anknüpfen, (p. 3)
Vgl·/· F*&> Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theo-
rie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin/New York 1982 (MTNF, 7), und die in Anm. 2
genannte Arbeit. · · Brought to you by | INSEAD
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Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens 463
25
Eine solche Einteilung treffen wir auch in bekannten Werken der Zeit an, vgl. 2. B.
F. U*bm>e& a. a. O. (Ahm. 16), Bd. l, l f£ Brought to you by | INSEAD
26
A. a. O. (Anm. 18), IV. Authenticated '
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464 Johann Figl
Es ist die Rede von „Stufen", womit anscheinend die Idee der Höher-
entwicklung insinuiert wird. Jedoch wird nicht ein einfaches Fortschrittskon-
zept vertreten, sondern es werden Vor- und Nachteile der einzelnen Epochen
einander gegenübergestellt. Dieses Stufenmodell gibt so den Hintergrund ab
für eine philosophievergleichende Perspektive. Diese ist höchst aufschlußreich:
Das Ind<ische> bleibt auf der Stufe der Einheit v<on> Gott u. Welt, Geist
u. Natur stehen. Griechen machen in der Analysis den weiteren Schritt, sie
brechen der Subjektiv<itä)t Bahn. (p. 6)
Wir können also festhalten, daß hier indisches und griechisches Denken
unter zwei Aspekten gegenüber gestellt werden: einerseits unter dem Aspekt
des vereinheitlichenden bzw. analytisch-trennenden Denkens, andererseits
unter der Perspektive des in sich ruhenden, kontemplativen bzw. progressiv-
dialektischen Denkens. Während in Griechenland die Subjektivität sich durch-
27
Auf den er sich aber mehrfach bezieht: vgl. die ausführliche Darstellung in: Der Entwick-
lungsgang (...), a..a. O. 207—218, und unten Anm. 40.
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Nietzsches frühe Begegnung niit dem Denken Indiens 465
setzt, bleibt in Indien die Seele, das Geistige an das Göttliche und an die
Natur zurückgebunden.
Hinter dieser Gegenüberstellung steht sicher eine Wertung, aber keine
einseitige Wertung. Gewiß, das indische Denken ist die frühere Stufe der
geistigen Entwicklung und das griechische das darauf folgende und in diesem
Sinn auch die „höhere" Stufe* Gleichwohl aber sieht Schaarschmidt auch „die
Begrenzung" des griechischen Geistes; er erblickt sie in „der Unfähigkeit die
gelösten Elemente wieder zur Versöhnung zu bringen. Er endigt mit dem
reinen Dualismus." (p. 9) Erst in der „neuere(n) Philosophie)" die „an den
unaufgehobenen Gegensatz v^on) Natur u. Geist, Gott u. Welt (an)knüpft",
geschieht die „Versöhnung der Gegensätze" (p. 7); hierin zeigt sie sich — im
Unterschied zur Philosophie des Altertums — „als wesentlich christliche"
(I.e.).
Schaarschmidt folgt also einem philosophiegeschichtlichen Konzept, in
dem die neuere Philosophie als christliche die höchste Stufe darstellt, dem
gegenüber auch die griechische in ihren Mängeln erscheint. Im Vergleich
zum griechischen Denken wird allerdings das indische beurteilt. Wir können
also festhalten, daß die methodologische Perspektive wesenhaft eine philo-
sophieverg/eichende ist; diese prägt auch die inhaltliche Charakterisierung dieses
fremden Denkens, wie sie in Nietzsches Nachschrift wiedergegeben ist.
28
Zum allgemeinen wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund siehe /. Figl, Nietzsche's Early
Encounters with Asian Thought, in: Nietzsche and Asian Thought, ed. .by Gr. Parkes,
Honolulu 1989 (in Ausarbeitung).
29
Vgl. z. B. KGW VI 2, 427: GM III 27; KGW VI 3, 202: AC 32.
30
Vgl. z. B. KGW VI 3, 94 ff., 237 ff.
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Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens 467
31
Zur zitierten Textpassage aber findet sich kein Literaturhinweis.
32
Vgl. H. v. Glasenapp, Art. Indologie, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3,
726 ff. Zu der Zeit als Nietzsche in Bonn studierte, lehrte Chr. Lassen an dieser Universität
Indologie; Deussen war sein Hörer (vgl. Brief an Nietzsche vom 2. Februar 1866: KGB l 3,
75). Lassen* umfassendes Werk ,Indische Altertumskunde* (4 Bde., Bonn/Leipzig 1847—61)
mag wohl auch Schaarschmidt bekannt gewesen sein, der in seiner Vorlesung ja von
«geographischen) (...) Eindrücke<n>" (p. 5) spricht: vgl. dazu Lassen, Bd. l, l ff.: Geo-
graphie; die „Hauptmomente der Religionsgeschichte" werden a. a. O. 756 ff. behandelt.
33
Vgl. dazu das Werk von E. VPindisch, dessen Sanskritarbeiten Nietzsche als Studienkollege in
Leipzig mit Interesse verfolgte (vgl. z.B. KGB I 2, 272f., 283, 286f.): Geschichte.der
Sanskrit-Philologie und-Indischen Altertumskunde (Grundriß der indo-arischen Philologie
und Altertumskunde I/l B), l.TL, Straßburg 1917; 2. Tl., Berlin/Leipzig 1920.
34
Im besonderen ist hier auf die allgemein beachteten Werke von H. Th. Colebrooke zu ver-
weisen: On the Philosophy of Hindus, in: Transactions of the Royal Asiat. Soc. of Gr.
Britain and Ireland, vol. l, London 1827, 19ff., 92 f£, 439ff., 549ff.; vol. 2, 1830, l ff.;
Miscellaneous Essays, 3 Bde., London 1858; Die berühmte Darstellung über die Veden von
H. Th. Colebrooke war ins Deutsche übersetzt worden: Abhandlung über die heiligen Schrif-
ten der Inder. Aus dem Engl. übersetzt v. L. Poley, nebst Fragmenten der ältesten religiösen
Dichtungen der Inder, Leipzig 1847. Siehe auch Fr. v. Schlegel, Über die Sprache und Weisheit
der Inder, Heidelberg 1808. VgL die Darstellung der vedischen Religion in dem von
Schaarsehmidt angegebenen Werk von H. Ritter\ Geschichte der Philosophie, 12 Bde., Göt-
tingen 1829-53, l.TL, bes. 128ff.
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Aus der Charakterisierung in Nietzsches Mitschrift geht zwar nicht eindeutig hervor, -um
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468 Johann Figl
welches Werk dieser Philosophie es sich handelt, doch der Ausdruck „Aphorismen" weist
auf die Sämkhya-J#/ra? hin, die unter dem Namen des legendären Gründers dieser Schule,
Kapila, überliefert sind; die erste englische Ausgabe erschien u. d. T.: The Aphorisms of the
Sankya Philosophy of Kapila, with illustrative extracts from the commentaries, Book I—IV,
Sanskrit and English, transl. by J. R. Ballantyne, Allahabad 1852—56; die zweite Ausgabe-
dieses Werks erschien u. d. T. The Sankhya Aphorisms of Kapila, with extracts from Vijnana
Bhikhsu's commentary, fasciculus I, Calcutta 1862, das Gesamtwerk, Calcutta 1865, und zwar
innerhalb der bekannten Bibliotheca Indica (New Series, Nr. 32 und 81); es ist Wahrscheinlich,
daß Schaarschmidt diese Ausgabe meint. Auf diese Aphorismen weist auch die freimütige
Aussage hin, daß „man beim besten Willen keinen Sinn heraus (bekommt)"; denn den
Schwierigkeitsgrad hebt auch eine der bedeutendsten Abhandlungen der damaligen Zeit
hervor, in der es heißt: „Mais il n'en est pas de meme pour les lecteurs etrangers, et il serait
difficiie de trouver rien plus obscur que ces Soutras." (M. Barthelemy Saint-Hilaire, Premier
Memoire sur le Sankhya, in: Memoires deTAcademie des Sciences morales et politiques de
rinstitute de France, tom. 8, Paris 1852,107—561, Zitat: 111). Auch in der von Schaarschmidt
erwähnten »Geschichte der Philosophie* von /. F. Fries, wird auf das „Sänkhia des Kapila**
Bezug genommen (Bd. 2, Halle 1840,115). Es ist aber zu vermuten, daß Schaars^Jjmidt auch
das bekanntere Werk dieser Schule, die Sämkhya-kärikä Isvaräkrsnas in einer Ü&ersetzung
gekannt hat: eine lateinische Übersetzung stammt vom Bonner Indologen Chr. Lassen-.
Gymnosophista sive Indicae philosophiae documenta coll., ed., enarr. Vol. I, Fase. I, Isva-
racrishnae Sankhya-Caricam tenens, Bonn 1832; zum „unorthodoxen" Charakter vgl. ebd. XI,
und H. Th. Colebrooke, in: Transactions (s. Anm. 34), vol. l, 19; eine deutsche Übersetzung
bringt K. J.H.W indischmann, Die Philosophie im Fortgang der Weltgeschichte, l.Tl.,!
3. Abtig., Bonn 1832, 1812—1846. Zur Geschichte der Editionen vgl. ferner R. Garbe, Die
Samkhya-Philosophie. Eine Darstellung des indischen Rationalismus, Leipzig 21917, 105 ff.
36
Diese Aussage bezieht sich offenbar auf das Gesetzbuch Manus, XII, 53—82: Hindu Ge-
setzbuch oder Menu's Verordnungen, übers, v. W. Jones, Weima'r 1797, 449 ff.; erwähnt von
J.J. Fries, a. a. O. (s. Anm. 35) 108; zur Seelenwanderung als Strafe und zu dem Zusam-
menhang mit dem Sämkhya vgl. Fr. Johaentgen, Über das Gesetzbuch des Manu, Berlin 1863,
bes. 38 und 32.
37
Vgl· /· F*&f> Die Buddhismus-Kenntnis des jungen Nietzsche, in: Das Gold im Wachs
(Festschrift f. Th. Immoos), hg. von E. Gössmann und G. Zobel, München 1988 (im Druck).
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Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens 469
38
Der Einfluß des orientalischen Denkens auf gnostisches und neuplatonisches Denken war
ein verbreiteter Topos der philosophiegeschichtlichen Diskussion (Hegel, Zeller, Ueberweg
u. a.); schon 1828 schreibt /./. Schmidt, „die Bemerkung, dass die Gnostiker ihre Ideen aus
den Religionssystemen des Orients geschöpft haben, (ist) an und für sich nichts weniger als
eine neue": Über die Verwandtschaft der gnostisch-theosophischen Lehren mit den Reli-
gionssystemen des Orients vorzüglich dem Buddhaismus, Leipzig 1828, III. Vgl. auch das
von Schaarschmidt angeführte Buch (p. 29; vgl. p. 28) von C. H. Kirchner* Die Philosophie
des Plotin, Halle 1854, 16. Zur spezifischen Kennzeichnung („Glocken u. Rosenkränze")
vgl. den Hinweis auf den „Rosenkranz" als eine äußere Einrichtung, in der sich (neben
anderen, wie z. B. dem Klosterleben) die Verwandtschaft der verschiedenen „Buddha-Lehren"
mit essenischen, christlichen und gnostlschen Lehren zeige, bei/. F. Fries, a. a. O. (Anm. 35),
101. Zu Glocken und Rosenkranz bei buddhistischen Zeremonien vgl. femer C. F. Koeppen,
Die Religion des Buddha, Bd. l (Berlin 1857), 563; Bd. 2 (Berlin 1859), 304-308.
39
W. Halbfass, Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung, Basel/Stuttgart
1981, 165 (Kapitelüberschrift), bes. 176; vgl. ders.y Indien und die Geschichtsschreibung der
Philosophie, in: Philosophische Rundschau 23 (1976) 104 ff., bes. 113. ·
40
^Htgels Vorlesungen sind die bedeutendsten> herausgeg. v<on> Michcjet. Von bes(onders>
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große<m> Nutzen. Hegels Voraus<setzung><,> daß sich in der Gcsch<ichte> die Gedan-
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470 Johann Figl
halb der ,Einleitung einen eigenen Abschnitt über die ,Orientalische Philo-
sophie', wo er feststellt, daß „das Erste die sogenannte orientalische Philo-
sophie (ist)", jedoch zugleich hinzufügt: „Aber sie tritt nicht in den Körper
und Bereich unserer Darstellung ein; sie ist nur ein Vorläufiges, von dem wir
nur sprechen, um davon Rechenschaft zu geben, warum wir uns nicht
weitläufiger damit beschäftigen (...)"41· In diesem Kontext fügt sich Schaar-
schmidts Diktum: „Wir scheiden die orientalische <scil. Philosophie; J. F.)
einfach ab", organisch ein.
Zugleich aber zeigte sich, daß im Zusammenhang der Erwähnung des
Gnostizismus dennoch vom Buddhismus die Rede ist. Auch für diese Ein-
beziehung sei ein Beispiel genannt, und zwar innerhalb der Literatur, die
Schaarschmidt selbst anführt, nämlich das Werk von Jakob Friedrich Fries,
in dem einleitend die Ausklammerung der „asiatischen Philosopheme" be-
tont wird42, sich jedoch bei der Darstellung des Gnostizismus eigene Pa-
ragraphen zu den „Buddhisten" und zur „Philosophie in der Sanskrit-
Literatur" finden43.
Nietzsche lernt also eine philosophiegeschichtliche Einordnung des indi-
schen Denkens kennen, die von einer eigenartigen Ambivalenz gekennzeich-
net ist: es wird behandelt, um es ausschließen zu können, bzw. es kommt
nur als vermutlicher exogener Einfluß auf religiöse eklektizistische und syn-
kretistische Strömungen der antiken Philosophie zur Sprache — jedoch nicht
an sich selbst. Dennoch sollte es im Laufe des denkerischen Weges Nietzsches
eine größere Bedeutung erhalten. Diese weitere Begegnung mit dem Denken
Indiens ist in ihren Einzelheiten noch nicht umfassend dargestellt; über das
veröffentlichte Werk und den Briefwechsel hinaus müßten hier wohl auch
die Randnotizen und Aufzeichnungen in den. einschlägigen Werken von
Nietzsches Handbibliothek berücksichtigt werden44. Erst auf der Grundlage
dieser Forschungen könnte entschieden werden, ob und inwiefern die in
Schaarschmidts Vorlesung antreffbare Wertung und Charakterisierung ,des
Denkens Indiens für Nietzsches eigenen Denkweg prägend war. Soviel kann
kenarbeit ebenso entwickelt habe, wie in der Dogmatik der Philosophie^. »Logische
Aufeinanderfolge der Systeme.' Daher bedient er sich häufig Zwangsmaßregeln an Zeit und
Fakten", (p. 8) Vgl. dazu G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie,
hg. v. K. L. Michelet, 3 Bde., Berlin 1833-36 (= Werke, Vollst. Ausgabe, Bd. 13-15); bes.
Bd. l, 43.
41
A. a. O. (Bd. 1), 135.
42
A. a. O. (siehe Anm. 35), Bd. l, 67.
43
A. a. O., Bd. 2, 93 ff. und 101 ff.
44
Vgl. G, M. C. Sprung, Nietzsche's interest in and knowledge of Indian thought*, in: The great.
year of Zarathustra (1881-1981), ed. by D, Goicoechea, Washington D. C. 1983, 166 ff.;
darin wird auch auf einschlägige Werke aus der Bibliothek Nietzsches Bezug genommen
(bes; 172 f.). .
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Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens 471