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Das Dokument des Grauens

Eine Chronik des Horrorfilms

Band 1
Als der Horror laufen lernte

Ralf Ramge

Vollausgabe, Version 1.0, Stand: 26. Dezember 2010


Ralf Ramge, Sägetstrasse 18, 3123 Belp, Schweiz
dokument.des.grauens@gmail.com, http://retro-park.ch

Das Dokument des Grauens


Eine Chronik des Horrorfilms
Band 1: Als der Horror laufen lernte
von Ralf Ramge
mit Bibliographie und Index
Nichtkommerzielle Veröffentlichung und Verwendung
1999
c - 2011 Ralf Ramge, alle Rechte vorbehalten

Umschlagfoto vorne: Werner Krauss, „Das Cabinet des Dr. Caligari“,


1919
c Decla-Bioscop
Umschlagfoto hinten: Lon Chaney, „The Unknown“,
1927
c Metro Goldwyn Mayer
Inhaltsverzeichnis

1 Einführung 1

2 Eine kurze Reise durch die Zeit 9


Die Katharer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Der Kreuzzug gegen die Albigenser (1209) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Die heilige Inquisition (1233) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Dante Alighieri: La divina comedia (1321) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Der Schwarze Tod (1346) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Gilles de Rais (1404–1440) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Gyot Marchant: Danse macabre (1435) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Vlad Ţepeş (1411–1476) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Hieronymus Bosch (1470) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Heinrich Institoris, Jakob Sprenger: Malleus malificarum (1487) . . . . . . 32
Hans Holbein der Jüngere: Totentanz (1526) . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Christopher Marlowe: The Tragical History of the Life and Death of Doctor
Faustus (1604) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Elisabeth Báthory (1560–1614) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
John Milton: Paradise Lost (1667) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
Der große Gewittersturm (1638) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Die Hexenprozesse von Salem (1692) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
Thomas Parnell: A Night-Piece on Death (1714) . . . . . . . . . . . . . . . 49
Joseph Pitton de Tournefort: Relation d’un voyage au levant (1717) . . . . . 50
Visum et repertum von Flückinger (1732) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Dom Augustin Calmet: Vom Erscheinen der Geister und denen Vampyren
(1746) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Horace Walpole: The Castle of Otranto (1765) . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Uneda Akinari: Ugetsu monogatari (1766) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Anne Radcliffe: The Mysteries of Udolpho (1794) . . . . . . . . . . . . . . 54
William Beckford: Vathek (1794) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Henry Fuseli: The Nightmare (1781) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Matthew Lewis: Ambrosio, or The Monk (1795) . . . . . . . . . . . . . . . 56
Friedrich Laun, Johann August Apel: Das Gespensterbuch (1811 – 1815) . 56
Mary Wollstonecraft Shelley: Frankenstein, or The Modern Prometheus (1818) 57

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Das Dokument des Grauens

E.T.A. Hoffmann: Nachtstücke (1817) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57


Victor Hugo: Nôtre-Dame de Paris (1831) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Jakob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1832) . . . . . . . 58
Edgar Allan Poe (1809–1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Penny Dreadful, Penny Gaff (1830) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Nikolai Wassiljewitsch Gogol: Wij (1835) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Nathaniel Hawthorne: Young Goodman Brown (1835) . . . . . . . . . . . 63
Alexei Konstantinowitsch Tolstoi: Sem’ya Vurdalaka (1839) . . . . . . . . . 64
Alexandre Dumas: Le meneur de loups (1857) . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Robert Browning: The Ring and the Book (1868) . . . . . . . . . . . . . . 65
Sheridan Le Fanu: Carmilla (1872) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Jack the Ripper (1888) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Edvard Munch: Der Schrei der Natur (1893) . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Edvard Munch: Vampir (1894) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Das Kinetoskop von Thomas A. Edison (1894) . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Der Cinématographe von Louis und Auguste Lumière (1895) . . . . . . . . 77

3 1896 79

4 Eine kurze Reise durch die Zeit 85


H.G. Wells: The Island of Dr. Moreau (1896) . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Bram Stoker: Dracula, or The Undead (1897) . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Le Théâtre du Grand-Guignol (1897) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

5 1897 89

6 Eine kurze Reise durch die Zeit 93


Henry James: The Turn of the Screw (1898) . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

7 1898 95

8 1899 99

9 1900 105

10 1901 111

11 1902 117

12 Eine kurze Reise durch die Zeit 129


Joseph Conrad: The Heart of Darkness (1902) . . . . . . . . . . . . . . . . 129

13 1903 133

14 1904 149

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Inhalt

15 Eine kurze Reise durch die Zeit 157


Vaudeville und Nickelodeon (1904) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

16 1905 163

17 1906 173

18 Eine kurze Reise durch die Zeit 185


Algernon Blackwood: The Listener and Other Stories (1907) . . . . . . . . 185
Hermetic Order of the Golden Dawn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Aleister Crowley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

19 1907 191

20 1908 203

21 1909 227

22 Eine kurze Reise durch die Zeit 257


The Motion Picture Patents Company . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Hollywood . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
Horror und Sex: Theda Bara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

23 Frankenstein (1910) 265

iii
Das Dokument des Grauens

iv
Kapitel 1

Einführung

Vielleicht erging es Ihnen einst ähnlich wie mir. Als Kind - zu alt, um an den schwar-
zen Mann zu glauben, aber dennoch jung genug, um sich noch vor ihm zu fürchten -
stand ich an einem unvergesslichen Samstagnachmittag im strömenden Regen vor der
Eingangstür des Kinos unserer Stadt und wartete darauf, dass sich die Tore öffnen und
mich einlassen würden. Der Film, welcher an diesem Tag gezeigt werden sollte, trägt
den Titel 20,000 Leagues Under the Sea (1954) und ich konnte es damals seit Tagen
kaum abwarten, diesen Film sehen zu dürfen. Es ist nicht so, dass ich gewusst hätte,
wer Jules Verne gewesen war oder dass hier ein alter Filmklassiker gezeigt werden
würde - der Grund für mein Interesse lag vielmehr darin, dass ich in den Glaskästen,
in welchen Szenenfotos der derzeit laufenden Filme zu sehen waren, ein Bild entdeck-
te, welches mich in seinen Bann zog. Es war das Bild eines Monsters, welches ein
eigenartig aussehendes Schiff mit seinen riesigen Fangarmen umklammerte und durch
die Abwehrversuche einiger winzig aussehender Männer in keiner Weise beeindruckt
schien. Der Film an sich war mir völlig egal, ich wollte nur dieses Monster sehen.
So betrat ich unerschrocken das Reich des Grauens.

Das Ergebnis jenes Kinobesuches war, dass mich die Welt der Monster und Muta-
tionen in ihren Klauen gefangen hielt, bevor ich der primären Zielgruppe von Disney-
Kinofilmen entwachsen war. Von jenem Augenblick an war kein Ungeheuer vor mir
sicher, welches in meiner Heimatstadt Speyer das Licht der Leinwand erblicken durf-
te. Der Samstagnachmittag war nach kurzer Zeit generell verplant, das sogenannte
Jugendkino stand an diesem Tag auf dem Programm. Hier konnte ich für schlappe
drei Mark Eintritt massenhaft Filme sehen, welche mein Bedürfnis nach immer neuen
Monstrositäten befriedigten.

Einige Zeit später entdeckte ich in einer TV-Zeitschrift, dass die ARD, einer der
damals drei Fernsehkanäle, an Samstagabenden doch tatsächlich alte Monsterfilme aus
den Fünfziger Jahren ausstrahlte. Ich konnte es kaum glauben, was ich hier vor mir sah
- das Monster aus dem Sumpf, zum Leben erwachte Kreaturen der Urzeit, gigantische
Ameisen ... sprich lauter Dinge, welche die Fantasie eines kleinen Jungen beflügelten,

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Das Dokument des Grauens

wie nichts sonst auf der Welt dies vermochte.

Natürlich stellte ich damals noch sehr konkrete Anforderungen an die Filme, die
um meine Aufmerksamkeit buhlten - versprach mir ein Film kein Ungeheuer in ir-
gendeiner Form, hatte er es schwer, bei mir auch nur einen Pfifferling zu gewinnen -,
doch letzten Endes fehlte nicht viel, um die großen Ungeheuer durch ihre unheimli-
chen Kollegen in menschenähnlicher Gestalt abzulösen. Genauer gesagt vollzog die-
sen Schritt ein Film namens Tarantula (1955), in welchem eine durch die üblichen
wissenschaftlichen Experimente auf das Hundertfache ihrer natürlichen Körpergröße
angewachsene Tarantel ihr Unwesen treibt.

Abbildung 1.1: US-Filmplakat von Tarantula (1955), einem Ver-


treter des Kreisch-Kinos der 50er Jahre, dessen Bann ich mich als
Jugendlicher nicht entziehen konnte

Das eigentliche Monster dieses Films war für mich jedoch Professor Deemer (Leo G.
Carroll), welcher sich aufgrund eines danebengegangenen Selbstexperiments unwider-
ruflich in eine entstellte Kreatur verwandelt. Die Spinne selbst wurde allen Anforde-
rungen an ein überdimensioniertes Insekt durchaus gerecht, doch der Professor prägte

2
1. Einführung

sich stärker in mein Gedächtnis ein. Seine Fratze schaffte etwas, was kein Filmmonster
bisher geschafft hatte: Ich bekam es mit der Angst zu tun und dieses Gesicht verfolgte
mich bis in den Schlaf. Die gigantischen Kreaturen Hollywoods und Japans spielten ab
sofort die zweite Geige - ihr Platz wurde fortan von Professor Deemer und seinen zwar
ebenfalls vergleichsweise winzigen, aber wesentlich gruseligeren Kollegen belegt.

Die Welt des Schreckens zog mich daraufhin schnell in ihren Bann. Aus dem klei-
nen Jungen, der darauf brannte, 20.000 Leagues Under the Sea (1954) zu sehen, war
binnen eines Jahres ein nicht minder kleiner Racker geworden, welcher zwar noch im-
mer vor dem Kino stand und in den gleichen Schaukasten voller Werbefotos starrte,
sein Augenmerk allerdings vielmehr auf die Kreaturen aus Alien (1979) und Dawn of
the Dead (1978) richtete, zwei Filme, die damals gerade bei uns anliefen und die ich
unbedingt sehen wollte. Denn ich liebte die Angst, die diese Filme in mir erzeugten.
Ich war regelrecht süchtig nach dieser Angst. Und damit war ich nicht allein. Viel-
leicht war ich diesbezüglich etwas frühreif, aber mit Sicherheit keine Ausnahme, wie
die Einspielergebnisse von Horrorfilmen, egal welches Datums, stets zeigen - unab-
hängig davon, ob der Horrorfilm nun gerade mit dem Mainstream schwimmt oder in
die entgegengesetzte Richtung. Hier stellt sich natürlich die Frage, was daran so toll
sein soll, Angst zu haben.
Angst ist der Schlüssel zu unserer Fantasie. Angst ist die Eintrittskarte zu unse-
rem Herzen, unseren Gedanken. Wir können Wünsche haben. Hoffnungen. Oder auch
Träume. Visionen des Glücks und der Zufriedenheit können unsere Kreativität erblü-
hen und uns wie Federn im Wind schweben lassen. Doch der kleinste Hauch von Angst
holt uns wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Den Träumen kann man entflie-
hen, der Angst jedoch nicht. Angst ist eine elementare Erfahrung und begleitet uns un-
ausweichlich durch unser Leben - kein Wunder, dass sie auch Einzug in jene Bereiche
unseres Lebens gehalten hat, welche wir eigentlich der Freude und der Unterhaltung
widmen möchten.
Auf uns alle übt die Angst eine ungeheure Faszination aus, sei es durch die Schre-
ckensnachrichten von Kriegen, Katastrophen und Unglücken aller Art im realen Le-
ben, durch die Medien oder auch nur in unserer Vorstellung, durch religiöse Über-
lieferungen, erzieherische Maßnahmen wie die Androhung, dass der schwarze Mann
die kleinen Plagegeister holen würde, wenn sie nicht sofort brav wären, oder auch
nur der Drang, diese dunkle Faszination ausleben zu können. Angst kann angenehm
sein - jedenfalls solange sie uns nicht selbst betrifft und wir lediglich als Zeugen des
Schreckens auftreten können.
Die vielen Erscheinungs- und Ausdrucksformen der Angst in den Bereichen der
Kunst und der Unterhaltung sind unter der umfassenden Bezeichnung Horror vereint.
Horror schildert die Angst. Doch seine Hauptaufgabe ist eine andere: die Aufgabe,
Angst beim jeweiligen Publikum zu erzeugen. Sei es Musik, Literatur, die bildenden
Künste - überall ist der Horror ein fester, oftmals existenzieller Grundstein für das je-
weilige Werk, bildet er doch eine vergleichsweise simple Möglichkeit, Emotionen zu
wecken. Wenn Sie ein Bild betrachten, auf welchem sich zwei Liebende küssen, wer-

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Das Dokument des Grauens

den Sie aufgrund dieses Anblicks wohl kaum - jedenfalls in den seltensten Fällen - von
einem wohligen Schauer durchströmt werden. Falls es passiert, ist es meistens Glücks-
sache, ein Zufallstreffer sozusagen. Beim Horror hingegen ist es wesentlich einfacher,
Emotionen gezielt zu erzeugen. Denn dem Horror kann man sich nicht entziehen.
Eine grundliegende Form der Furcht
ist instinktiver Natur. Wenn wir mit of-
fenem, unkontrolliertem Feuer konfron-
tiert werden, bekommen wir es ebenso
mit der Angst zu tun, wie bei dem Ge-
danken, zu ersticken, zu ertrinken oder in
irgendeiner sonstigen Form unser Leben
bedroht zu sehen. Doch diese instinktive
Angst erscheint als banal und lockt nur
selten den Hund hinter dem Ofen hervor
- schließlich bricht die Furcht hier nur
dann aus, wenn sie uns unmittelbar be-
trifft. Dies ist jedoch keineswegs der Fall,
wenn wir dabei zusehen, wie andere Per-
sonen dem Grauen ausgesetzt sind. Das
ist der Stoff, aus dem die Helden sind,
welche Menschen in Not aus brennen-
den Hochhäusern, den Fluten geborste-
ner Staudämme und der Enge führerlos
gewordener Flugzeuge retten. Doch der
Funke des Grauens springt nur selten auf
den Zuschauer über.
Abbildung 1.2: Dawn of the Dead (1978), Verlassen wir aber die Stufe der rei-
ein Klassiker von George Romero (US- nen Instinkte, bekommen wir es schnell
Filmplakat) mit Furcht auf emotionaler Basis zu tun.
Kennen Sie die Furcht, welche eintritt,
wenn man über beide Ohren verliebt ist
und es nicht wagt, den Traumprinzen bzw. die Traumprinzessin anzusprechen? Oder
der berühmte Gang des Teenagers nach Hause, ein Schulzeugnis voller schlechter Zen-
suren in der Tasche? Derartige Furcht ist wohl kaum angeboren - einer hat sie, ein an-
derer vielleicht nicht. Durch ihre Unberechenbarkeit taugt emotionale Furcht nicht viel
für die Zwecke eines Autors oder Filmemachers und erfordert generell dramaturgische
Hilfsmittel, will man vermeiden, dass das Publikum gegenteilig zum beabsichtigten
Effekt reagiert und sich langweilt oder gar halb totlacht.
Doch es gibt eine Ausdrucksform der Furcht, welche ein gefundenes Fressen für
unsere künstlerisch veranlagten Peiniger darstellt. Die Furcht vor dem Unbekannten,
welche generell dann eintritt, wenn unsere Sinneseindrücke nicht ausreichen, um un-
sere Umgebung ausreichend zu beschreiben. Stellen Sie sich vor, sie befänden sich in
einer Holzhütte, inmitten eines in Dunkelheit versunkenen Waldes. Sie hören die un-

4
1. Einführung

gewohnten Geräusche des Waldes - raschelndes Laub, Rufe einer Eule, das Knacken
eines Astes. Es gelingt nicht, die Klänge mit optischen Eindrücken zu verbinden, es
wird unheimlich. Wenn sie doch nur eine Lampe hätten ...
Und wenn sich in Ihrer Gesellschaft dann noch ein Hund befindet, welcher inmitten
dieses Gedankenganges damit beginnt, ein der Nacht zugewandtes, kehliges Knurren
von sich zu geben, fährt das Grauen endgültig mit Ihnen Schlitten.
Diese letzte Spielart der Angst, die Furcht vor dem Unbekannten, stellt die ultimati-
ve Herausforderung für Schriftsteller, Maler, Musiker und natürlich auch Filmemacher
dar. Hier kann man sich relativ sicher sein, mithilfe einiger Tricks und Verfahrenswei-
sen dem Publikum das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Der erste Schriftsteller,
welcher diese Vorgehensweise bewusst anwendete und auch die entsprechende Regel
formulierte, war übrigens H. P. Lovecraft, ein Mann, welchem wir auf unserer Reise
durch das Reich des Schreckens noch des Öfteren begegnen werden.
Erwartungsgemäß ist das Unbekann-
te eine beliebte Spielwiese der Schöp-
fer fantastischer Filme. Allerdings ist
das Horrorgenre als Unterabteilung der
Fantastik nicht alleine bei dem Ver-
such, Furcht und Grauen zu ergründen.
Die Science-Fiction mischt hier kräftig
mit - eine Seelenverwandtschaft, wel-
che schon so manchen Anhänger ei-
nes der beiden Genres bei dem Ver-
such, ein Werk eindeutig dem Horror
oder der Science-Fiction zuzuordnen, an
den Rand der Verzweiflung getrieben hat.
Die Grenze zwischen dem Horror und
der Science-Fiction erscheint auch in der
Tat als ausgesprochen fließend. Da ent-
stehen grässliche Monster durch utopi-
sche Experimente. Gefährliche Kreatu-
ren treiben ihr Unwesen auf Raumschif-
fen und fremden Planeten. Bewohner an-
derer Welten überfallen die Menschheit
und knechten ihre Opfer auf grauenvolle
Art und Weise. Die Unterscheidung fällt
in der Tat oftmals alles andere als leicht. Abbildung 1.3: Alien (1979), US-
Betrachten wir jedoch die Vorgehens- Filmplakat
weisen, mit welcher sich die beiden Gen-
res einer Thematik annähern, so fallen uns wesentliche Unterschiede auf, anhand wel-
cher wir eine klare Abgrenzung vornehmen können. Vertreter aus dem Reich der
Science-Fiction setzen sich kritisch mit einem Thema auseinander. Seien es Vorher-
sagen, wie unsere Zukunft aussehen könnte, oder auch nur die Beschreibungen von

5
Das Dokument des Grauens

Ungeheuern, welche durch die Herumspielerei mit nuklearen Waffen entstanden. Die-
ses kritische Element findet man im Horrorfilm in der Regel nicht. Dort wird nichts
begründet oder gar ein philosophischer Gedanke weitergesponnen - es ist so, wie es
ist, das Warum ist uninteressant.
Ebenso basieren Gedankenspiele der Science-Fiction stets auf Gegebenheiten der
Gegenwart. Wieder sei hier die Atombombe genannt, welche in den 50er Jahren für
einen ungeheuren Zulauf zur Science-Fiction sorgte. Darüber hinaus könnte man noch
die jeweils aktuelle politische Lage und Weltanschauung nennen, welche von George
Orwells 1984 und Aldous Huxleys Brave New World bis hin zu TV-Serien wie Star
Trek der Science-Fiction ihren Stempel aufdrückte.
Ein derart sozialkritisches Engagement fehlt den Vertretern des Horrors völlig.
Horror beschäftigt sich vorrangig mit Fantasien, weniger mit Realitäten. Es ist zwar
durchaus möglich, dass auch hier eine Abgrenzung schwerfällt und man einen Film
beiden Genres zuordnen kann. Als Beispiel für einen solchen Film sei hier Alien
(1979) genannt, welcher einerseits reinsten, unbegründeten Horror bietet, aber in glei-
chem Maße auch durchaus sozialkritische Fragen stellt. Zum Beispiel wenn die Teil-
thematik aufkommt, in welcher das außerirdische Biest als eine utopische Waffe be-
trachtet wird, für welche man selbst die Besatzung des transportierenden Raumschiffes
opfern würde. Dann halten sich die Verhältnisse zwischen Science-Fiction und Horror
jedoch so gut wie nie die Waage, wodurch eine eindeutige Zuordnung des gesamten
Werkes zu einem primären Genre wiederum möglich wird.

Während die Science-Fiction ihre Ideen vornehmlich in wissenschaftlichen Berei-


chen findet, sucht der Horror seine Grundlagen vornehmlich in den kulturellen Aspek-
ten unseres Lebens und unserer Geschichte. Dies beginnt bei altertümlichen Artefakten
und endet beim Umgang mit den Werten unserer Gesellschaft. So ist das Horrorgenre
einem stetigen Wandel unterworfen. In den 50ern war es, wie auch die Science-Fiction,
von dem realen Schrecken der Atombombe geprägt. In den 60er Jahren hingegen fan-
den wir vermehrt Filme, welche sich mit sexuellen und sogar inzestuösen Themen be-
schäftigten. In den 70ern wurde ausgelotet, wie weit man ins Extrem gehen kann. Was
unsere Gesellschaft der jeweiligen Zeit als unmoralisch oder gar widerwärtig empfand,
wurde bevorzugt in Filme verwurstet. Mit sich ändernden moralischen Werten änderte
sich dementsprechend auch die Wirkung der Filme beim Publikum. Als ein Beispiel
hierfür kann ich Ihnen einen Fall nennen, in welchem ein Film mit Kommentaren wie
„einer der schrecklichsten Filme aller Zeiten“, „als Freigabe sei SO empfohlen - Sa-
dists only“(dtsch. „nur für Sadisten“) und ähnlichem bedacht wurde. Bei diesem Film
handelt es sich keineswegs um einen der Kannibalen-, Zombie- oder Folterstreifen der
ausklingenden 70er Jahre, wie Sie vielleicht erwarten würden. Nein, diese Kommen-
tare konnte man hören, als Terence Fishers The Curse of Frankenstein (1957) in den
Kinos anlief, ein Film, welcher heutzutage neben Liebhabern des Genres vornehmlich
jugendliche Zuschauer begeistern dürfte. Horror hat, ganz im Gegensatz zur Science-
Fiction, in vielen Fällen ein Verfalldatum.

6
1. Einführung

Dementsprechend ist es für Uneingeweihte oft alles andere als einfach, den Hor-
ror in einem betagten Vertreter des Genres auf Anhieb wahrzunehmen, sofern es sich
bei ihm nicht um eine der eingangs geschilderten Spielarten der Furcht handelt, son-
dern vielmehr um ein Konstrukt, welches auf einer furchterregenden Basis erschaf-
fen wurde. Unsere Urängste sind im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte die glei-
chen geblieben. Doch die von Autoren und Filmemachern erschaffenen Gebäude des
Schreckens, welche auf dem Fundament unserer Furcht errichtet wurden, sind nicht
immer derart standhaft. Einige sind für die Ewigkeit gebaut, von anderen existieren
nur noch Ruinen.
Doch diese Ruinen tragen den Schre-
cken noch immer in sich, man muss sie
nur aufsuchen. Und wie ein Archäolo-
ge hat man die Möglichkeit, nach erfolg-
ter Ausgrabung seine Schlüsse zu ziehen
und Zusammenhänge herzustellen, wel-
che uns erneut erleben und, was nicht
weniger interessant und auch wichtig ist,
verstehen lassen, was die Menschen da-
mals wie auch heute faszinierte. Daher
sollten wir uns nicht einfach nur ins Kino
begeben und eine Vielzahl von Horrorfil-
men betrachten, ohne uns in den zugrun-
de liegenden Stoff hineindenken zu kön-
nen. Es fiele uns schwer, die Filme und
die dahinter steckenden Leistungen eini-
ger kreativer Geister so zu würdigen, wie
sie es sich verdient haben. So bliebe z. B.
die Frage unbeantwortet, ob die surrea-
len Visionen aus David Lynchs Eraser-
head (1975) etwas Einzigartiges in ihrer Abbildung 1.4: Das farbenfrohe franzö-
Zeit darstellten oder ob derartiger visuel- sische Filmplakat zu The Curse of Fran-
ler Tobak uns bereits bedachte, als noch kenstein (1957)
niemand von bewegten Bildern auch nur
zu träumen wagte. Hatte Mario Bava einfach nur eine gute Idee, als er Barbara Stee-
le in La maschera del demonio (1960) damit beglückte, dass er der vermeintlichen
Hexe eine mit nach innen gerichteten Stacheln bewehrte Maske aufs Gesicht drückte?
Oder ließ er sich vielmehr von einer entsprechenden Sammlung historischer Quellen
inspirieren? Was verbindet die alte Mrs. Bates aus Psycho (1960) mit der skurrilen Fa-
milie aus The Texas Chain Saw Massacre (1973) ? Und welcher Film war eigentlich
der erste Vertreter dieses Genres?
Nun gibt es eigentlich nur drei Möglichkeiten. Entweder sind Sie ein Experte auf
dem Gebiet des Horrors, und derartige Fragen stellen keine Herausforderung mehr für
Sie dar, weil Sie die Antworten bereits kennen. Dann vergeuden Sie mit Sicherheit

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Das Dokument des Grauens

ihre Zeit, wenn Sie hier weiterlesen. Die zweite Möglichkeit wäre, dass Sie Derartiges
überhaupt nicht interessiert, sie wollen lediglich unterhalten werden, Sie besorgen sich
ihr visuelles Futter am liebsten in der Videothek, Sie hassen Vor- und Abspänne, der
Titel eines Films ist für Sie uninteressant - weil spätestens am Ende des Films bereits
wieder vergessen - und langweilige Stellen überspringen Sie am liebsten sowieso unter
Zuhilfenahme des Bildsuchlaufs ihres bevorzugten Abspielgerätes. Auch dann sollten
Sie ihre Zeit nicht weiter verschwenden und das Papier, auf welchem diese Zeilen ge-
druckt sind, zum Feuer machen, Schuhe putzen oder zur Reinigung gewisser Körper-
partien benutzen. Doch wenn Sie absichtlich bis hierher gelesen haben, weil Sie mehr
über dieses Filmgenre und seinen Facettenreichtum erfahren möchten, ja vielleicht so-
gar mehr erwarten, als nur eine weitere seelenlose Auflistung einiger Hundert Filme,
sind sie wahrscheinlich mehr oder weniger von dem Genre des Horrorfilms fasziniert.
Egal, ob sie sich mit dem Horrorfilm aus einem umfassenderen filmhistorischen Inter-
esse annähern oder ob sie danach dürsten, die Vertreter dieser Filmgattung nicht nur
zu sehen, sondern diese und das komplette Genre auch bis zu einem gewissen Maß zu
durchschauen, tauchen Fragen wie die oben angeführten früher oder später auf. Die
Antworten auf derartige Fragen können Sie natürlich auf die simpelste Art und Weise
erhalten, nämlich indem Sie sie einfach weiter hinten nachschlagen, doch eine solche
Annäherung an ein derart komplexes Thema wie den Horrorfilm macht den Bock wahr-
lich nicht fett. Die Quintessenz jeglicher genauen Betrachtung eines Themenbereiches
ist nämlich die Fähigkeit, sich nicht nur Fragen mitsamt ihren Antworten vorkauen zu
lassen, sondern die Fragen auch selbst zu stellen und zumindest die reelle Chance zu
haben, selbstständig eine Antwort finden zu können.
Um den Grundstein für eine genauere Betrachtung des Horrorfilms zu legen, möch-
te ich Sie zu einer kurzen Reise einladen, welche uns helfen wird zu verstehen, wel-
che historische Geschehnisse und intellektuelle Strömungen den Horrorfilm des 20.
Jahrhunderts in seiner uns bekannten Form erst möglich machten und späterhin auch
vorantrieben. Begeben Sie sich mit mir auf eine einleitende Reise durch die Zeit und
besuchen Sie mit mir Orte des Schreckens, grauenerregende Persönlichkeiten sowie
den Horror prägende historische Momente. Haben Sie keine Angst vor der Geschichte
und ihren Daten. Den Kontakt mit staubtrockenen historischen Fakten werden wir, so-
weit möglich und sinnvoll, vermeiden.

Die Reise beginnt. Nehmen Sie meine Hand - und halten Sie sie gut fest, dann wird
Ihnen nichts passieren.

Ralf Ramge
Begonnen in: Karlsruhe, Deutschland
Frühling 1999 - Herbst 2008
Beendet in: Belp, Schweiz
Herbst 2008 - Sommer 2011

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Kapitel 2

Eine kurze Reise durch die Zeit

Das Bestimmen eines geeigneten Zeitpunktes der menschlichen Geschichte, ab wel-


chem wir unsere Betrachtungen vornehmen könnten, erweist sich als nicht trivial.
Theoretisch könnten wir uns etwa bis ins Jahr 585 v. Chr. zurückbegeben und da-
bei zusehen, wie Priester der berühmten griechischen Stadt Delphi ein frühes Exempel
der Zensur statuierten, indem sie den vor allem als Erzähler von Fabeln berühmt ge-
wordenen Botschafter Aesop vor die Tore ihrer Stadt führten und einen hohen Felsen
hinunter schubsten. Oder wie wäre es mit dem Jahr 443 v. Chr., als im Römischen
Reich die erste staatliche Zensurbehörde ins Leben gerufen wurde, der Prototyp ei-
ner Institution, welche den Horrorfans des 20. und 21. Jahrhunderts das Leben schwer
macht?
Würden wir derart weit in der Zeit zurückreisen, würden wir über das Ziel hinaus
schießen. Für uns sind schließlich nur jene Vorgänge interessant, welche dem Hor-
rorgenre und dem Horrorfilm im Besonderen ihren Stempel aufdrückten. Antike Vor-
kommnisse sind hier ebenso wenig von Belang wie die Christenverfolgung im alten
Rom oder irgendwelche Menschenopfer in mittelamerikanischen Stadtstaaten zu einer
Zeit, als man im mittelalterlichen Europa noch dachte, man würde nicht allzu weit
westlich von Spanien noch über den Rand der Erde hinab ins Nichts stürzen. Nein, der
Horror ist ein Kind der abendländischen Kultur, weshalb es als sinnvoll erscheint, sich
auf das letzte Jahrtausend zu beschränken. Hier sticht uns ein Datum besonders ins
Auge: das Jahr 1209, ein Jahr, in welchem sich die „Religion der Liebe“ anschicken
sollte, den europäischen Kontinent langsam aber stetig mit einer Woge des Hasses und
der Angst zu überfluten.

Etwa im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung traten erstmals religiöse Ge-


sellschaften auf, welche sich, ähnlich wie das Christentum, nach den Prinzipien von
Gut und Böse richteten. Von der Gnosis über die Manichäer, Paulikianer und Bogu-
milen entwickelte sich hier eine Sekte, die Katharer, deren Anhänger ein Leben nach
den Regeln der Bescheidenheit, Keuschheit und der Geduld lebten, was sich durch-
aus mit den Zielen des Katholizismus vertragen hätte, wäre im katharischen Weltbild
nicht eine wesentliche Diskrepanz zu jenem des Christentums auffällig gewesen. Die

9
Das Dokument des Grauens

Katharer betrachteten Jesus Christus nicht als Sohn Gottes und, schlimmer noch, sie
weigerten sich, die Kirche als religiöse Führungsinstitution anzuerkennen.
Von besonderem Interesse für uns ist ein Zweig der Katharer, dessen Heimat im
südfranzösischen Raum lag, und zwar in jener Gegend um Carcasonne, Toulouse,
Agen und Albi, welche unter dem Namen Languedoc bekannt ist. Dieser Glaubensge-
meinschaft, Albigenser genannt, gehörten damals neben Menschen aus dem gemeinen
Volk auch viele Adlige jener Region an.
Das Zusammenleben mit den Christen funktionierte über lange Zeit einigermaßen.
Heiße Debatten zwischen Katharern und Christen waren an der Tagesordnung, doch
dabei blieb es auch. Die Angelegenheit begann sich jedoch zuzuspitzen, als im Jahre
1184 Papst Lucius III. in Übereinkunft mit dem Kaiser Friedrich I. Barbarossa eine
Bulle proklamieren ließ, in welcher die Häresie zur Straftat erklärt wurde, die es zu
bekämpfen galt. In diesem Zusammenhang wurden auch die Katharer und die Armen
von Lyon (späterhin unter dem Namen Waldenser bekannt) genannt. Der komplette Sü-
den Frankreichs war angeblich von Häretikern geradezu verseucht. Dem einigermaßen
friedlichen Zusammenleben wurde somit jäh ein Ende gesetzt. Der Kreuzzug gegen die
Ketzer war jedoch ebenso wenig von Erfolg gekrönt wie diverse Bekehrungsversuche.
Als im Jahr 1208 Pierre de Castelnau,
seines Zeichens Legat des Papstes Inno-
zenz III., einem Attentat zum Opfer fiel
und die zuständigen Bischöfe nach der
Meinung des fernen Papstes nicht hart
genug gegen die Ketzer vorgingen, setz-
te der Papst das erste päpstliche Pogrom
gegen ein Volk anderer religiöser Denk-
weise in Europa in Gang; im Jahr 1209
begann der Kreuzzug gegen die Albi-
genser.
Béziers und Albi wurden erobert und
Abbildung 2.1: Verbrennung von Katha-
die dort lebenden Katharer sowie Katho-
rern in der Grube, Holzschnitt aus dem
liken in gleichem Maße von den fanati-
Jahr 1494
schen Kreuzrittern getötet. „Tötet sie al-
le, denn Gott wird die Seinen erkennen!“
lautete der diesbezügliche Befehl des päpstlichen Legaten und die Straßen dieser bei-
den Städte wurden folgerichtig von etwa 20.000 Leichen gesäumt.
Noch im gleichen Jahr fiel Carcasonne. Simon de Montfort wurde zum Führer der
kirchlichen Streitmacht ernannt. Unter seinem Kommando fanden in Castres die ersten
beiden öffentlichen Hinrichtungen statt: Zwei Katharer wurden auf dem Scheiterhau-
fen verbrannt.
Der Kreuzzug wurde im Jahr 1210 endgültig zu einem Pogrom, in welchem die
Kirche nur ein Ziel vor Augen hatte: die vollständige Ausrottung des katharischen
Volkes im südfranzösischen Raum. Nach dem Fall von Bram wurden die Einwohner

10
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

ermordet und ihre Leichen verstümmelt. Die Festungen von Minerve, Termes and Pui-
vert folgten kurz danach.
In Minerve kam es zur ersten Massenhinrichtung von Albigensern im Zeichen des
Kreuzes. Man ließ eine Grube herrichten, in der 140 Frauen, Männer und Kinder den
Flammentod erlitten.
Wer damals dachte, noch grausamer könne die päpstliche Streitmacht wohl nicht
gegen das Volk vorgehen, irrte sich gewaltig. Bereits im April des Jahres 1211 folgte
die Belagerung von Lavaur, nach deren erfolgreichem Abschluss am 3. Mai eine erneu-
te Massenexekution kompletter Familien erfolgte; dieses Mal mussten allerdings 400
Menschen den Feuertod sterben, gefolgt von weiteren 94 nach dem Fall von Casses.
Im Süden Frankreichs wurde dieser bis ins Jahr 1229 währende Kreuzzug und die
ihm nachfolgende, im Jahr 1233 durch Papst Georg IX. ausgerufene erste päpstliche
Inquisition endgültig zum real gewordenen Grauen. Und niemand, der sich nicht der
Kirche unterwarf, sollte innerhalb ihres Herrschaftsgebietes von ihr verschont blei-
ben. Im Laufe der Jahre fiel eine Albigenserzuflucht nach der anderen, bis im Jahr
1239, nach der Hinrichtung von 183 Katharern im an der Marne gelegenen Montwi-
mer nur noch eine Festung übrig blieb: die Festung von Montségur. Die Feste hielt
der Belagerung über ein Jahr stand, konnte der Kapitulation letzten Endes jedoch nicht
entgehen. Im Jahr 1244 feierten der Katholizismus und die Inquisition ihren größten
Triumph, als mit Montségur die letzte Bastion fiel und in dem nun folgenden Massaker
die letzten bekennenden Albigenser und ihre Führer dem Tod auf dem Scheiterhaufen
entgegensahen. Wieder starben 215 Menschen aller Altersgruppen gemeinsam.
Der Widerstand gegen die Kirche war hiermit praktisch gebrochen, die Inquisiti-
on war erfolgreich. Der letzte Führer der versprengten Katharer, Guillaume Belibaste,
starb im Jahr 1321 auf dem Scheiterhaufen in Villerouge-Termenès.

Die heilige Inquisition funktionierte nach einem einfachen, jedoch im wahrsten


Sinne des Wortes todsicheren Prinzip. Die päpstlichen Inquisitoren, zumeist Mönche
des von Georg IX. zu diesem Zweck gegründeten Dominikanerordens, zogen in Ge-
meinden ein, versammelten die Einwohner um sich und forderten sie auf, jede Person
zu nennen, welche der Häresie verdächtig sei. Jedermann konnte einen solchen Ver-
dacht aussprechen, was in der vertraulichen Atmosphäre vollständiger Anonymität des
Klägers gegenüber dem Beklagten stattfand. Wer beschuldigt wurde, fand sich unwei-
gerlich im Angesicht eines Inquisitionsverfahrens wieder.
Dass hier auch eine hervorragende Möglichkeit geschaffen war, unliebsame Mit-
bürger oder Konkurrenten aus dem Weg zu räumen, dürfte klar sein. Da der Ver-
dächtigte nie erfuhr, wer ihn beschuldigt hatte, wurde hiervon munter Gebrauch ge-
macht. Auch Adlige waren von der Verfolgung nicht ausgenommen; die Inquisitoren
hatten das Recht, Fürsten zu exkommunizieren, was die weltliche Macht der Kirche ex-
trem stärkte. Eine schreckliche Paranoia setzte angesichts dieser Denunzierungspolitik
daher meist zwangsläufig ein, sobald der Rockzipfel eines Inquisitoren am Horizont
auftauchte.

11
Das Dokument des Grauens

Die Möglichkeit eines Freispruchs bestand letzten Endes nicht. Dem Beschuldigten
blieb zunächst der Zeitraum von einem Monat, um sich schuldig zu bekennen. Tat er
das nicht, war es die Aufgabe der Inquisitoren, ein Schuldbekenntnis aus ihm heraus zu
pressen. Die hierbei verwendeten Mittel reichten von Todesdrohungen über Einkerke-
rung bis hin zur 1252 von Papst Innozenz IV. legitimierten Folter, stets im Beisein von
Mönchen, welche ein eventuelles Schuldbekenntnis sofort aufzeichnen sollten. Gab es
ein solches Bekenntnis, war der Betreffende zumindest zeit seines Lebens ruiniert, in
vielen Fällen jedoch so gut wie tot - der Ketzerei als schuldig befundene Angeklagte
wurden in schweren Fällen den weltlichen Behörden übergeben und die Scheiterhau-
fen brannten oft in jenen Tagen.
Doch damit war es nicht vorbei - die Kirche war anscheinend auf den Geschmack
gekommen. Nach einiger Zeit kam es sogar in Mode, nicht nur der Ketzerei beschul-
digte Menschen der Folter zu unterwerfen, sondern auch solche Bürger, von welchen
man dachte, dass sie jemanden beschuldigen könnten. Der Terror zog somit erst recht
seine Kreise, denn es war recht leicht, angesichts von Folter irgendjemanden der Ket-
zerei zu beschuldigen - früher oder später würde man es sowieso zugeben oder sterben,
denn vorher ließen die Folterknechte nicht von einem ab.
Das dunkle Zeitalter, welches im Zeichen des Kreuzes über Europa hereinbrach,
sollte, mit Unterbrechungen, mehrere Jahrhunderte andauern und Hunderttausende von
unschuldigen Menschen den päpstlichen Inquisitoren zum Opfer fallen - eine Spur des
Terrors, welche zu einem zwar weitgehend von der Kirche verschwiegenen, aber den-
noch tief in unserer Kultur verwurzelten Mythos werden würde. Denn es sollte nicht
lange dauern, bis die katholische Doktrin keinen Unterschied mehr machte zwischen
„teuflischer Ketzerei“ und schlichtem unüblichen Verhalten; dementsprechend fand die
erste Verurteilung einer angeblichen Hexe bereits im Jahr 1264 statt.
Die Bedeutung der ersten Inquisition für den fantastischen Film ist ähnlich grund-
liegend wie jene der damaligen Vorgänge für den Horror als solchen. Der Kreuzzug
gegen die Albigenser findet in der Welt des Films kaum Beachtung und direkte Be-
züge lassen sich, ganz im Gegensatz zu dem inquisitorischen Treiben der folgenden
Jahrhunderte, nur schwer herstellen. Wir werden jedoch fündig, wenn wir uns auf die
Details und Begleitumstände der Kreuzzüge konzentrieren. Die bekannteste histori-
sche Vorlage dürften hier die Tempelritter sein, welche auf der Seite der Kirche gegen
die Ketzer ins Feld zogen und späterhin wegen ihres Reichtums und ihrer politischen
Unabhängigkeit selbst mit dem Vorwurf der Ketzerei konfrontiert und gnadenlos durch
die Kirche verfolgt wurden. 1971 treffen wir sie wieder, in einem spanischen Spielfilm
mit dem Titel La noche del terror ciego (1971). Dieser Film diente angesichts seines
ungeheuren kommerziellen Erfolgs neben seinen Fortsetzungen als Vorlage für eine
ganze Reihe von Filmen, welche sich an den halb verwesten Gestalten der Tempel-
ritter orientierten, darunter auch The Fog (1980). Die meisten Anleihen sind jedoch
eher unauffällig. So finden die Protagonisten in The Evil Dead (1982) im Keller einer
Holzhütte das „Buch der Toten“ sowie ein Tonband mit einer Beschwörungsformel,
welche Dämonen zum Leben erweckt. Hier haben wir das Motiv einer Entdeckung,
deren grausige Errungenschaften in einer vergangenen, fremden Kultur liegen und wel-

12
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

che selbst einen durchweg religiösen Touch vorweist. Bereits hier einen Bezug zu den
inquisitorischen Kreuzzügen im 13. Jahrhundert zu sehen, ist natürlich eine Interpreta-
tionsfrage, doch in der Fortsetzung dieses Films, Evil Dead II (1987), wird als Quel-
le des ganzen Hokuspokus eine mittelalterliche Festung genannt, weshalb zumindest
Anleihen an die Geschichte der Katharer und die damit verbundene Legendenbildung
nicht verleugnet werden können.

Der Einfluss der Kirche auf das tägliche Leben der Menschen und deren tiefe Re-
ligiosität schlug sich natürlich auch in der Kunst nieder. Das wohl bekannteste lite-
rarische Werk jener Epoche stammt aus der Feder des italienischen Dichters Dante
Alighieri. Dieses Werk mit dem Titel La comedia (auch unter dem Titel „La divina
comedia“ bekannt), welches im Zeitraum zwischen 1307 und 1321 entstand, ist nicht
nur ein Meilenstein der Weltliteratur, sondern dient auch unserer Sache: In diesem
Werk finden wir eine der einflussreichsten Beschreibungen der Hölle vor.
Dantes episches Gedicht erzählt die Geschichte des Dichters, der sich am Anfang
im finsteren Wald der Sünde vorfindet, umgeben von drei wilden Tieren. Er betritt die
Hölle durch das Tor mit der mittlerweile zum geflügelten Wort gewordenen Inschrift
„Lasst jede Hoffnung, die Ihr mich durchschreitet“ und begibt sich auf eine epische
Reise durch das Jenseits. Er trifft auf nahezu 600 berühmte Persönlichkeiten aus den
Bereichen der Künste und Politik jener Tage, welche auf ihre Erlösung harren. Im Zuge
seiner Reise durchquert Dante neun Höllenkreise bis hin zum eisigen Mittelpunkt der
Erde, wo sein Weg über den Läuterungsberg steil nach oben ins himmlische Paradies
führt.
Bei einem Drama, welches derart
grausam beginnt und dann doch so
glücklich endet, konnte es sich nach der
Auffassung des 14. Jahrhunderts nur um
eine Komödie handeln, daher dieser für
unser Empfinden etwas seltsam anmu-
tende Titel. La comedia ist in drei Tei-
le untergliedert, namentlich Inferno, Pur-
gatorio und Paradiso, in welchen man je-
weils 33 Gesänge vorfindet (mit Ausnah-
me von Inferno, welcher aus 34 Gesän-
gen besteht; der erste Gesang stellt eine
Einleitung für alle drei Teile dar). Inner- Abbildung 2.2: Zeichnung zu Dantes
halb dieser Gesänge führte Dante Alig- La comedia, Inferno XVIII, von Sandro
hieri ein revolutionäres Reimschema ein, Botticelli
welches bewirkt, dass sich jeder Reim
aus letztendlich drei Zeilen zusammensetzt, welche nach dem Schema aba, bcb, cdc
angeordnet sind und jeder einzelne Vers selbst auch wiederum aus drei Zeilen gebildet
wird. Jede dieser Zeilen besteht aus 11 Silben, wobei der Klang der Stimme über die
ersten 10 Silben getragen wird und bei der Letzten abfällt. Was sich hier bereits wie ei-

13
Das Dokument des Grauens

ne literarische Meisterleistung anhört, führt endgültig zu einer regelrechten Ehrfurcht,


wenn man eine gedruckte Fassung des Werkes in Händen hält und feststellt, dass es
ein wahrhaft episches Werk ist, welches in Buchform gedruckt einen Umfang von etwa
500 Seiten aufweist.
Auffällig ist die regelrechte Obsession, mit welcher sich Dante Alighieri der Zahl
Drei widmet. Diese Zahl taucht nicht nur im äußeren Aufbau, sondern auch innerhalb
der Handlung des Gedichts immer wieder auf. Man nimmt an, dass diese Zahl als
Symbol für die Heilige Dreifaltigkeit Verwendung findet. Für uns ist sie ein Indiz dafür,
wie eng die Dichtkunst als Zeugnis der damals vorherrschenden Weltanschauung mit
dem christlichen Glauben verwoben war. Der Inhalt macht dies endgültig deutlich,
denn letztendlich beruhen die Beschreibungen der Hölle, ja ihre ganze Existenz, auf
der Lehre der Kirche. Dantes Inferno beschreibt die Hölle anfangs als düsteren Ort,
dessen Dunkelheit in einigen Ebenen durch den rötlichen Schimmer des Höllenfeuers
durchbrochen wird. Die in ihr hausenden Seelen leiden Höllenqualen:
„Die Armen, die zum Leben nie erweckt,
Sie sind ganz nackt auf diesen Weg gegangen,
Von Fliegen und von Wespen sehr gesteckt.
Es träufte Blut herab von ihren Wangen;
Vermischt mit Tränen, ward es auf dem Grunde
Von ekelhaften Würmern aufgefangen.“ [1]
Dante Alighieri fackelt nicht lange und lässt vor dem inneren Auge des Lesers Bil-
der des Schreckens aufsteigen, welche die kühnsten Fantasien der Menschen des 14.
Jahrhunderts überstiegen. Für uns stellt La comedia hierdurch ein wahrhaft wichtiges
Werk dar, können wir es doch durchaus als das erste Werk der Weltliteratur betrach-
ten, welches nicht nur mit einer Thematik arbeitet, aus welcher das uns bekannte Hor-
rorgenre hervorging, sondern auch durchaus zumindest während der 33 Gesänge des
Inferno innerhalb dieses Genres bestehen könnte1 .

Kurze Zeit nach der Fertigstellung von La comedia schien die Hölle wahrhaft in
Europa einzuziehen, eine Hölle, wie sie sich in ihrer Grausamkeit auch Dante nicht
auszumalen wagte. Es war das Jahr 1346, als, nach dreizehnjähriger Reise aus dem
fernen Asien kommend, ein Gast in Europa eintraf, dessen Wüten die Menschheit nie
mehr vergessen sollte: der Schwarze Tod.
Das Übel nahm seinen Anfang, als die Horden des Tartaren Khan Djam Bek die
am Schwarzen Meer gelegene Handelsstadt Kaffa belagerten. Die Tartaren brachten als
unfreiwilligen Gast das Pestbakterium mit, welches in im asiatischen Raum lebenden
Nagetieren seinen natürlichen Lebensraum hatte.
1
Ja, natürlich, Sie haben ja recht. Grundzüge des Horrors finden wir bereits im alten Testament vor.
Man möge mir jedoch verzeihen, wenn ich auf die Bibel hier keinerlei Rücksicht nehme. Der Horror ist
ein Bestandteil der fantastischen Literatur, welche dem alleinigen Zwecke der Unterhaltung dient, was
man von der Bibel mit ihren erzieherischen Zielen nicht behaupten kann (und oftmals auch gar nicht
behaupten darf). Derartige Vergleiche wären in unserem Sinne unzulässig.

14
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Als die Pest unter den Soldaten des Khans zu wüten begann, ließ dieser die Lei-
chen auf die Katapulte packen und über die Stadtmauern in die Stadt schießen. Die
verseuchten Kadaver verfehlten ihre Wirkung nicht, die Pest nistete sich ein.
Nach Beendigung des Krieges ging das Sterben noch weiter und breitete sich auch
umgehend aus, als die Stadt Kaffa ihre Handelstätigkeiten wieder aufnahm. Kaum
jemand dachte, dass die Händler aus Kaffa nun vorrangig den Tod verkaufen würden.
Erste Station war Konstantinopel, kurz danach erreichte der Schwarze Tod Sizilien.
Von dort sprang die Krankheit auf Pisa über und breitete sich über das nördliche Italien
aus. Nun endgültig ins Herz des europäischen Kontinents vorgedrungen, ließ sie sich
nicht mehr aufhalten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Seuche von Grönland
bis Konstantinopel zum ständigen Begleiter der Menschen wurde.
Die schlechten sanitären Verhältnisse jener Tage waren der ideale Nährboden auch
dieser Krankheit, denn die bevorzugte Brutstätte des Bakteriums sind Ratten. Ratten
gab es damals im Überfluss. Sie lebten in Gemeinschaft mit den Menschen. Ein wei-
terer Nebeneffekt der fehlenden Hygiene waren die Flöhe, welche wiederum den op-
timalen Überträger des Bakteriums der Beulenpest von den Ratten auf den Menschen
darstellen.

Nach einer Inkubationszeit von zwei


bis 10 Tagen treten die ersten Sympto-
me auf. Die Zunge und die Lymphkno-
ten schwellen bis zur Faustgröße an, ein
extremer Durst stellt sich ein, ebenso
wie heftiges Fieber. Die folgende Stu-
fe des Krankheitsbildes beinhaltet Schüt-
telfrost, Kopfschmerzen, Erbrechen und
auch Delirium. Ein durch die Bakterien
freigesetztes Toxin sorgt dafür, dass sich
das Gewebe zersetzt, was zu unstillba-
ren inneren und äußeren Blutungen führt.
Das unverwechselbare optische Erken-
nungszeichen der Beulenpest sind jedoch
die schwarzen Beulen, Bubonen genannt,
welche Hühnereier durchaus in der Grö-
ße übertrumpfen können. In diesen Beu-
len sahen die Ärzte jener Tage verständli-
cherweise die Wurzel der Krankheit und Abbildung 2.3: Kleidung eines mittelalter-
nicht nur ein Symptom, weshalb man lichen Pestdoktors
sich darauf konzentrierte, die Beulen zu
behandeln. Die gängige Behandlung der Pest sah dann dementsprechend auch so aus,
dass ein Helfer die kranke Person festhielt, während der Arzt eine Beule nach der
anderen aufschnitt und ausbluten ließ. Ein fataler Irrglaube, welcher der Verbreitung
der Pest durch den Kontakt mit verseuchtem Blut noch weiteren Vorschub angedei-

15
Das Dokument des Grauens

hen ließ und den Patienten noch zusätzlich schwächte. Die Ärzte waren sich der An-
steckungsgefahr zwar wohl bewusst, die Vorkehrungen waren jedoch vergleichsweise
jämmerlich. Die dicken, schweren Kleider, welche die Ärzte bei der Öffnung der Pest-
beulen trugen, schützten sie genauso wenig wie die Schnabelmaske. Zur Desinfektion
benutzte man Parfüm, Schwefel und Rauch. An der Sterblichkeitsrate änderten die
mittelalterlichen Behandlungsformen nicht viel, die Heilungschance der Beulenpest
lag mit oder ohne ärztliche Betreuung unter 50 Prozent. Früher oder später wurde dar-
über hinaus noch die Lunge der Kranken befallen, was zur Lungenpest führte. War
dieses Stadium erreicht, hatte der Patient keine Chance mehr. Der Tod durch Ersticken
trat unweigerlich nach vier bis fünf Tagen nach Auftritt der ersten Symptome ein.
Die Lungenpest wurde durch Tröpfcheninfektion auch direkt übertragen, ohne den
Umweg über die Beulenpest. Dies sorgte für albtraumhafte Szenarien, denn nun waren
nicht nur Ratten und Flöhe die Überträger, sondern auch die Menschen selbst. Wer in-
fiziert war, musste rechtzeitig von den Gesunden isoliert werden. Dies sollte eigentlich
kein Problem darstellen, doch die absolute Hilflosigkeit sorgte für Panikreaktionen.
Trat in einem Haushalt ein Fall der Pest auf, wurde das komplette Gebäude unter eine
40 Tage andauernde Quarantäne gestellt. Die Gesunden wurden mit den Kranken ein-
gesperrt, was einem Todesurteil gleichkam. So manches Kind wurde von seinen Eltern
totgeschlagen, damit es nicht den schrecklichen Tod durch die Pest erleiden musste.
Die Selbstmordrate stieg explosionsartig an2 . Die unzähligen Leichen, welche oftmals
selbst die Straßenränder und Hinterhöfe säumten, wurden von Pestkarren aufgesam-
melt und in Massengräber vor den Toren der Städte geworfen, in Städten wie London
und Venedig zeitweilig mehrere Tausend pro Tag. Nicht minder schlimm waren die
sozialen Folgen; auf der Suche nach den Schuldigen griffen erneut Judenpogrome um
sich und die Kriminalität erlebte eine Blütezeit. Versammlungen wurden verboten.
Bis die Epidemie nach etwa 30 Jahren wieder abflaute, hatte sie 25 Millionen Men-
schen das Leben gekostet, mehr als jede andere natürliche Katastrophe in der Ge-
schichte der Menschheit. Natürlich schlug sich diese Tragödie auch in den Künsten
nieder. In Gemälden des Mittelalters wurde der Schwarze Tod zu einem oft gesehenen
Bestandteil. Im 19. Jahrhundert widmete Edgar Allan Poe der Pest mit The Masque
of the Red Death eine seiner bekanntesten Geschichten, welche etliche Male verfilmt
wurde. Werner Herzog zeigte in Nosferatu: Phantom der Nacht (1979) die Pest als
Begleiterscheinung des Bösen, welches in die Stadt Einzug gehalten hat. Hinzu kommt
noch eine Vielzahl von kleineren „Auftritten“ der Seuche, darunter in Interview with
the Vampire (1994) und Mary Shelley’s Frankenstein (1994).

Unsere Reise durch die Welt des Grauens führt uns auf der Suche nach wichti-
gen Meilensteinen weiter bis in das 15. Jahrhundert, genauer gesagt ins Frankreich
2
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Bürger jener Tage ausgesprochen gläubige Menschen waren.
Wie verzweifelt muss ein Mensch sein, um freiwillig die ewige Verdammnis seiner Seele auf sich zu
nehmen? Auch wenn wir uns nicht vorstellen können, was es hieß, mit der Pest im Nacken leben zu
müssen, so lässt die wachsende Zahl von solchen Verzweiflungstaten doch erahnen, wie groß das Grauen
gewesen sein muss.

16
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

des Jahres 1404. In diesem Jahr wurde Gilles de Rais im Schloss Champtocé gebo-
ren. Gilles de Rais war der Sohn von Guy de Rais und Marie d´Craon, der Tochter
von Jean d´Craon, einem der damals einflussreichsten und mächtigsten Männer Frank-
reichs überhaupt. Beleuchten wir kurz die verwandtschaftlichen Verhältnisse von Gil-
les de Rais, um ein Gespür für die Hintergründe jener Dinge zu bekommen, für welche
er die Verantwortung trägt.
Guy de Rais, sein Vater, wurde als Guy Montmorency-Laval geboren und war mit
dem Hause de Rais nicht verwandt, sondern vielmehr in die Familie hinein adoptiert
worden. Die de Rais waren ein altes Adelsgeschlecht mit etlichen Ländereien und
Besitztümern, aber sie standen vor dem Ende der Familienlinie. Die letzte der de Rais
war Jeanne La Sage, eine ungeheuer reiche Frau, und Guy änderte seinen Nachnamen
in de Rais, mit der Absicht, sie zu beerben.
Doch Jeanne La Sage machte Guy de Rais einen Strich durch die Rechnung und
vererbte ihr Vermögen an Catherine de Machecoul, die Mutter Jean d´Craons. Ein Kon-
flikt hing in der Luft. Sie müssen wissen, dass Frankreich zu jener Zeit keineswegs
geeint war; der französische König Charles VI. war geistesschwach und die Groß-
grundbesitzer und Adligen verkauften ihre Loyalität und ihre Armeen in der Regel an
den Meistbietenden. Durch dieses Erbschaftsdebakel drohte nun ein Krieg zwischen
den Häusern de Rais, d´Craon und La Sage auszubrechen. Um einen solchen Krieg
zu verhindern, griff Jean d´Craon zu einem damals üblichen politischen Mittel und
verheiratete seine Tochter Marie mit Guy de Rais. Hierdurch befand sich Guy in der
Erbschaftsfolge der de Rais, wenngleich auch durch den Umweg über die Großmutter
seiner Gattin und deren Vater. Außerdem wurden durch diese Heirat zwei der größten
Vermögen Frankreichs miteinander verschmolzen, was das hauptsächliche Ziel von
Jean d´Craon war.
Als Gilles de Rais etwa neun Monate nach der Hochzeit seiner Eltern das Licht
der Welt erblickte, waren seine Zukunftsaussichten also mehr als nur rosig. Doch ein
Schatten lastete damals auf Frankreich: der Schatten des Hundertjährigen Krieges, der
bereits seit dem Jahr 1337 vornehmlich auf französischem Boden ausgetragen wur-
de. Nach einer kurzen Kindheit von sieben Jahren, während dieser Gilles, wie damals
in höheren Gesellschaftskreisen üblich, von einer Erzieherin aufgezogen wurde und
seine Eltern nur selten sah, begann seine Ausbildung, in welcher neben der griechi-
schen und lateinischen Sprache auch die Künste der Kriegsführung und der Intrige die
Schwerpunkte waren. Schnell stellte sich heraus, dass Gilles sehr begabt im Umgang
mit Waffen war, aber unfähig in der Kunst der Politik. Er würde es schwer haben,
an den Höfen Frankreichs zu bestehen, denn Verschwörungen und das Spinnen von
Intrigen waren damals in diesen Kreisen gängige Praxis.
Im Jahr 1415 starb Marie de Rais, Gilles´ Mutter. Für Gilles de Rais war dies die
erste prägende Begegnung mit dem Tod, und es sollte diesbezüglich ein schweres Jahr
für Gilles werden.
Zwischen Guy de Rais und seinem Schwiegervater Jean d´Craon herrschte schon
immer eine wenig liebevolle Atmosphäre, aber nach dem Tod von Marie spitzte sich
die Lage zu. Was würde passieren, falls Guy de Rais den Wirren des Krieges zum

17
Das Dokument des Grauens

Opfer fiel? Gilles und sein zwei Jahre jüngerer Bruder René würden dann von ihrem
Großvater Jean d´Craon aufgezogen werden, dem Mann, der es geschafft hatte, ihm
das Vermögen der de Rais vor der Nase wegzuschnappen und für die eigene Familie
zu sichern - ein Gedanke, welcher Guy de Rais mit Entsetzen erfüllte.
Das Schicksal drohte Guy de Rais jedoch zuvorzukommen. Als er eines Tages in
den Wäldern Wildschweine jagte, griff ein Eber ihn an und riss ihm die Bauchdecke
auf. Für Guy de Rais kam jede Hilfe zu spät, doch er starb langsam. Er hatte noch
genug Zeit, seinen letzten Willen zu diktieren und genaue Anweisungen zu geben,
was mit seinen Söhnen geschehen solle. Er verfügte, dass sie mit jedem Mittel vor
den Klauen von Jean d´Craon bewahrt und in die Obhut seines Cousins Jean Tourne-
mine de la Junaudaye übergeben werden sollen. Der Sterbende ahnte nicht, dass der
Hundertjährige Krieg dies vereiteln würde.
Am 24. Oktober 1415 geriet der englische König Henry V., der zu dieser Zeit einen
Feldzug gegen Charles VI. führte, mit seinen Truppen auf einer Lichtung in der Nähe
der Stadt Azincourt in einen Hinterhalt von Jean Boucicaut, dem Oberbefehlshaber
der französischen Armee. Henry V. konnte seinen Gegnern nicht ausweichen, da die
möglichen Fluchtrichtungen durch befestigte Städte blockiert wurden. Daher beschloss
er am Abend des 24. Oktober, sich am nächsten Morgen dem Feind zu stellen und sein
Heil im Angriff zu suchen.
Es hatte tagelang fürchterlich geregnet und die Lichtung hatte sich in ein Schlamm-
becken verwandelt. Die Ritter beider Seiten sanken in ihren Rüstungen bis zu den
Knien und manchmal sogar bis zu den Hüften im Morast ein, als Henry V. unter einem
wolkenverhangenen Himmel seine walisischen Bogenschützen in Stellung brachte und
auf die französische Kavallerie vorzurücken begann. Die französischen Reiter griffen
an, wurden aber durch den Schlamm massivst behindert. Die Pferde sackten ein und
brachen unter dem Pfeilhagel zusammen. Wenn ein Reiter nicht von seinem eigenen
Pferd tief in den Morast gedrückt wurde, trampelten die Nächsten oftmals über ihn hin-
weg. Wer einmal im Morast feststeckte oder gar hingefallen war, hatte praktisch keine
Überlebenschance mehr; wer die Pfeile überlebte, erstickte im Schlamm oder starb
durch die wesentlich leichter gekleideten englischen Infanteristen, welche den hilflos
am Boden liegenden Rittern nach dem Ende es Pfeilregens die Visiere hochklappten
und ihren Trägern einen Dolch in ein Auge stießen. Es heißt, dass die Leichen der
französischen Reiter teilweise in drei Lagen übereinander im Schlamm lagen.
Als die französische Infanterie von einem Hügel mit ansehen musste, wie ihre Eli-
te abgeschlachtet wurde, ergriff sie die Flucht. Nach nur einer Stunde hatte Henry V.
somit eine der schrecklichsten Schlachten seiner Zeit gewonnen, und das trotz einer
ausgelaugten und zahlenmäßig unterlegenen Armee. Doch das Massaker war damit
noch nicht zu Ende. Die Zahl der französischen Gefangenen überstieg jene ihrer po-
tenziellen Bewacher, sodass Henry V. vor einer schwierigen Frage stand: Sollte er sie
gehen lassen, nur damit sie erneut in der Armee von Charles VI. gegen ihn kämpfen
würden? Diese Option war für Henry V. nicht akzeptabel. Daher ordnete er an, dass
alle Gefangenen noch auf dem Schlachtfeld von Azincourt getötet werden sollen.

18
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

An diesem Tag fanden 11.000 französische Soldaten bei Azincourt den Tod. Unter
ihnen befanden sich weite Teile des französischen Adels wie Herzoge und Grafen.
Ebenfalls unter den Toten war Amaury d´Craon, der Bruder von Marie de Rais und
Onkel von Gilles.
Jean d´Craon hatte somit innerhalb weniger Monate seine Tochter und seinen Sohn
verloren. Weitere Kinder hatte er nicht, und somit auch keine Erben. Um die Zukunft
seiner Familie und seines Vermögens zu retten, legte er sogleich Widerspruch gegen
den letzten Willen von Guy de Rais ein. 1416 wurde ihm recht gegeben, und so wurden
Gilles und sein Bruder René letztlich doch noch in die Obhut ihres von Guy de Rais
und aufgrund seiner Rücksichtslosigkeit auch von weiten Teilen der französischen Be-
völkerung verhassten Großvaters übertragen.
In den kommenden Jahren war Jean d´Craon jedes Mittel recht, seinen Einfluss
und seinen Reichtum zu vergrößern. So versuchte er 1417 den damals 13 Jahre alten
Gilles mit der Tochter von Lord de Hambye zu verheiraten, dem Herren über die Nor-
mandie. Dies wurde jedoch vom König untersagt, da Jean d´Craon hiermit zu einem
der mächtigsten Herrscher Europas aufgestiegen wäre. Zehn Monate später versuchte
er es erneut, diesmal mit der Nichte des Herzogs von Burgund. Doch auch hier kam
es zu keiner Verbindung zwischen den Kindern, wobei hier der genaue Grund für das
Scheitern nicht bekannt ist. Danach herrschte diesbezüglich für drei Jahre Ruhe, bis
Jean d´Craon den damals 16 Jahre alten Gilles de Rais ermutigte, seine Cousine Ca-
therine de Thouars, die Tochter des Landbesitzers Milet de Thouars und Nichte von
Guy de Rais, zu entführen.
Die Entführung und anschließende Flucht gelang. Die Gilles verfolgenden drei
Männer, unter ihnen ein Onkel von Catherine, wurden von Jean d´Craon gefangen-
genommen und in den Verliesen des Schlosses Champtocé eingekerkert. Milet de
Thouars überlebte die Verhandlungen über die Freilassung seiner Tochter, seines Bru-
ders und der anderen Geiseln nicht mehr - angeblich starb er noch während der Ver-
handlungen an einem Fieber -, und nach seinem Tod wurde die Ehe widerspruchslos
geschlossen. Die Geiseln hielten im Austausch für ihre Freiheit den Mund, hatten hier
aber auch nicht wirklich die Wahl; der Onkel Catherines starb kurz nach seiner Frei-
lassung an den Folgen der Haft.
Gilles de Rais war somit verheiratet und hatte gelernt, dass man es mit Rücksichts-
losigkeit im Leben sehr weit bringen konnte. Da Jean d´Craon die Ausbildung von
Gilles in den letzten Jahren ausschließlich auf militärische Aspekte ausrichtete, war
Gilles letztlich dazu bestimmt, ein erbarmungsloser Krieger zu werden.
In den kommenden Jahren war Gilles auch sehr erfolgreich, bis inmitten der Wir-
ren des Krieges ein Mädchen seine Wege kreuzte. Charles VI. litt zu diesem Zeitpunkt
unter massiven Persönlichkeitsstörungen und regelmäßigen Realitätsverlusten. In ei-
nem seiner wahnwitzigen Beschlüsse enterbte er eines Tages seinen Sohn, Dauphin
Charles VII., und beabsichtigte, mit Henry V. einen Friedensvertrag zu unterzeichnen,
welcher Henry V. als Thronerben einsetzte. Ein Aufschrei wogte durch das Land, und
zu den Schreienden gehörten auch Jean d´Craon und Gilles de Rais.

19
Das Dokument des Grauens

Als sich Gilles de Rais 1429 zusammen mit dem bisherigen Kronprinzen in Chinon
befand, wurde er Zeuge, wie ein 16 Jahre altes Bauernmädchen Charles VII. davon
überzeugte, dass es in der Lage sei, die Stadt Orlèans zu befreien und ihn hiermit zum
König zu machen. Orlèans befand sich in einem langwierigen Belagerungszustand
durch die englischen Truppen und Charles VII. war deshalb schon am Verzweifeln. Er
ließ sich auf das Mädchen ein, stellte ihr eine Armee von 10.000 Mann zur Verfügung
und Gilles de Rais als General und Berater an ihre Seite. Dieses Mädchen trug den
Namen Jeanne d’Arc.
Gilles de Rais war als Adliger seiner Zeit ein sehr religiöser Mann und sehr em-
pfänglich für die Geschichten, welche sich um Jeanne rankten. Der Ruf, dass sie gött-
liche Visionen habe, hatte ihr die Audienz bei Charles VII. verschafft und Gilles hatte
den Dauphin gesehen, nachdem Jeanne ihm in seinen Privatgemächern an einem ihrer
Wunder teilhaben ließ und dieser ihr danach jeden Wunsch erfüllte, den sie äußerte.
Die Dinge, welche er an Jeannes Seite erlebte, vertieften Gilles´ Glaube an das Über-
natürliche noch. Er wurde Zeuge, wie Jeanne einen Proviantzug durch die Reihen der
englischen Truppen hindurch in die belagerte Stadt brachte und so die eingeschlosse-
nen Truppen neu motivierte. Er erlebte mit, wie sie von einem Pfeil getroffen wurde,
diesen selbst heraus zog und sehr schnell wieder zu genesen schien - von einem Pfeil,
welcher einen gestandenen Mann gefällt hätte. Er sah, wie ihre Gebete bewirkten, wo-
zu die französischen Truppen monatelang nicht in der Lage gewesen waren. Jede von
Jeannes Visionen und Prophezeiungen schien wahr zu werden. Gilles de Rais war mehr
als nur beeindruckt - er glaubte. Als er am 17. Juli 1429, etwa drei Monate, nachdem
er Jeanne d’Arc zum ersten Mal sah, die Aufgabe übertragen bekam, das für die Sal-
bung erforderliche Öl zur Krönung von Charles VII. nach Reims zu bringen, war er ein
anderer Mensch geworden: zutiefst gläubig, aber auch leichtgläubig und durch seine
Erziehung nach wie vor ausgesprochen rücksichtslos und arrogant.
1430 fiel Jeanne d’Arc den Intrigen des Hofes zum Opfer und wurde eingekerkert.
Es ist unklar, ob Gilles de Rais sich opportunistisch von ihr abwandte oder ob er im
Geheimen ihre Befreiung plante; es ist jedoch weithin bekannt, wie die Geschichte
der Jungfrau endete. Als Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen verbrannte, war Gilles
de Rais durch sie bereits zum Oberbefehlshaber des gesamten französischen Heeres
aufgestiegen.
Zwei Jahre später starb Jean d´Craon und Gilles de Rais erbte das Vermögen und
den Titel eines Barons. Unfähig, mit etwas anderem als dem Schwert umzugehen,
begann somit allmählich sein Abstieg aus dem öffentlichen Leben - und das Grauen
begann die Dörfer um die Anwesen von Gilles de Rais langsam aber sicher in den Griff
zu nehmen.
Der Hundertjährige Krieg hatte sein Ende gefunden und Gilles de Rais war ar-
beitsloser Ex-Soldat. Er führte auf Schloss Champtocé einen feudalen Lebensstil ohne
Gespür für die damit verbundenen Kosten, was ihn zunehmend in den Ruin treiben
sollte. Er feierte Feste, erkaufte sich den Segen der Kirche durch etliche Spenden und
genoss es, als Kriegsheld verehrt zu werden. Doch das Nichtstun weckte Bedürfnisse
in ihm, welche bislang durch die Grausamkeiten des Krieges kompensiert wurden -

20
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

jetzt, im Frieden, jedoch nicht mehr. Gilles de Rais erklärte den Inquisitoren später, es
sei noch im Jahr des Todes seines Großvaters gewesen, als er mit dem Morden begann.
Das erste Opfer war ein zwölfjähriger Junge, der von Gilles de Sille, einem Cousin
von Gilles de Rais, damit beauftragt worden war, eine Nachricht zu de Rais´ Schloss
Machecoul zu überbringen. In den Verhören wurde später berichtet, man habe den
Jungen bewirtet und mit Kleidern beschenkt, bevor er in ein Zimmer geführt wurde,
zu welchem nur de Rais und sein engster Kreis Zutritt hatten. Gilles de Rais habe
den Schock des Jungen genossen, als er ihm eröffnete, dass er nun sterben werde. Der
Junge wurde nackt an einem Haken an der Wand aufgehängt und von Gilles de Rais
vergewaltigt. Danach nahm er den Jungen von der Wand, tröstete ihn ... und wieder-
holte den Akt ein weiteres Mal. Am Ende schnitt er dem Jungen den Kopf ab und
versenkte die Leiche in der Latrine des Schlosses. Den Kopf behielt er.
Das zweite Opfer folgte kurze Zeit später. Wieder war es ein Junge, diesmal neun
Jahre alt, und wieder war Gilles de Sille der Lieferant für de Rais. Es heißt, Gilles de
Sille habe sich stets unter einem Umhang verborgen und ein Tuch um sein Gesicht
gewickelt, um sich unkenntlich zu machen.
Innerhalb von vier Wochen verschwanden noch drei weitere Knaben. Das Ver-
schwinden der Kinder sorgte unter der Bevölkerung für Aufruhr, und natürlich gab
es auch Gerüchte. Es kursierten Geschichten über eine Frau, welche spielende Kinder
entführte und zum Schloss brachte - und ohne deren Begleitung das Gemäuer wieder
verließ. Die Bauern vermuteten schon bald, dass Gilles de Rais dahinter steckte. Doch
es gab keine konkreten Beweise, und selbst wenn ... sie waren nur Bauern, niemand
hätte ihnen zugehört oder gar Glauben geschenkt.
Das Morden ging weiter. Gilles de Rais und seine Komplizen schilderten in ihren
Geständnissen Details der Morde - wie de Rais den lebenden Kindern den Bauch auf-
schnitt, um sich am Anblick ihrer Organe zu erfreuen, wie er sich in ihren Innereien
wälzte, wie er seine Opfer ausweidete und sich dann auf ihren Bauch setzte, um auf
die sterbenden Kinder zu masturbieren.
Kaum ein Kind überlebte die Begegnung mit Gilles de Rais. Von einem Jungen,
Etienne Corrillaut, ist bekannt, dass Gilles de Rais ihn aufgrund seiner Schönheit ver-
schonte - und ihn zu einem Komplizen machte. Corrillaut wurde vor allem unter sei-
nem Spitznamen Poitou bekannt und war fortan in die kompletten Vorgänge involviert,
von der Entführung eines Kindes über dessen Ermordung bis hin zur Entsorgung der
Leichen. Doch Poitou blieb neben de Sille nicht der einzige Eingeweihte. Schon früh
war noch ein weiterer Cousin eingeweiht, Roger de Briqueville. Und man geht heute
auch davon aus, dass noch viele weitere Verwandte, Bedienstete und auch Gäste von
dem Treiben wussten. Allerdings interessierte es niemanden sonderlich. In der dama-
ligen Gesellschaft des Adels, ebenso wie in den höheren Kreisen der Kirche, störte
sich niemand daran, dass einer von ihnen diese Art des Vergnügens mit Bauernkindern
suchte. Bauern waren für sie mit Schlachtvieh gleichgestellt, unwertes Leben. Bis zu
seinem letzten großen Fehler im Jahr 1440 sollten noch acht Jahre des Mordens verge-
hen, während welcher Gilles de Rais unbehelligt blieb. Auch während seines Prozesses
waren die hauptsächlichen Beweggründe für seine Verurteilung nicht die Morde selbst;

21
Das Dokument des Grauens

die Schändlichkeiten der Häresie, der Pädophilie, der Homosexualität und der Sodo-
mie3 waren hierbei die eigentlichen Untaten. Die genaue Zahl seiner Opfer ist nicht
bekannt, aber man ging während seines Prozesses von mindestens 140 ermordeten
Kindern aus, vornehmlich Knaben.
Der Auslöser für den Untergang von Gilles de Rais war sein Lebensstil und damit
verbundener chronischer Geldmangel. Er begann schon früh, sich für die Alchemie zu
interessieren, da er sich hiervon unermessliche Reichtümer versprach. Aber nicht nur
Reichtum war sein Begehr, sondern auch Macht. Er schickte seinen Priester Blanchet
auf Reisen, und dieser wurde in Italien fündig. Ein Scharlatan namens François Prelati
behauptete, er könne Gilles de Rais durch die Beschwörung eines Dämons namens
„Barron“ unermessliche Macht bescheren. Blanchet lud Prelati daraufhin ein, mit ihm
zusammen zum Schloss Champtocé zu reisen, wo die beiden im Frühsommer 1439
dann auch eintrafen.
Gilles de Rais war von dem jungen Alchemisten fasziniert und konnte es nicht ab-
warten, Zeuge einer Dämonenbeschwörung zu werden. Prelati inszenierte diese auch
mit entsprechendem Talent zum großen Schauspiel in der Mittsommernacht. Doch
Barron erschien natürlich nicht. Prelati musste Zeit schinden. Blanchet erinnerte sich
später daran, wie Prelati in der Tat einmal den Dämonen beschwor - allerdings, als
er alleine in seinem Zimmer eingeschlossen war und Blanchet zusammen mit de Rais
und Poitou vor seiner Tür stand. Sie hörten Geräusche eines Kampfes in dem Zimmer,
welcher sich laut Blanchet sehr danach anhörte, als habe jemand ständig auf eine Ma-
tratze geschlagen, aber Prelati behauptete späterhin, der Dämon habe ihn verprügelt.
Als Ausflucht dafür, dass sich der Dämon ihm nur dann zeigte, wenn keine Zeugen zu-
gegen waren, bediente sich Prelati am Ende einer Begründung, welche er als todsicher
betrachtete: Er teilte Gilles de Rais mit, dass Barron nur dann bereit wäre, im Beisein
von Gilles de Rais zu erscheinen, wenn dieser ihm ein Opfer brächte: das Herz, die
Augen und die Hand eines Jungen. Prelati muss das Herz in die Hose gesackt sein,
als ihm de Rais wenig später die geforderten Opfergaben präsentierte. Doch Prelati
schaffte es weiterhin, seinem Gastgeber glaubhafte Ausreden zu liefern. Das Treiben
Prelatis dauerte etwa ein Jahr, bis zu Gilles de Rais´ Verhaftung.
Zu der Verhaftung von Gilles de Rais kam es, wie bereits erwähnt, nicht wegen
seiner Morde, sondern wegen Fehlern, welche der machtbesessene und -verwöhnte de
Rais aus arrogantem Leichtsinn beging. Sein jüngerer Bruder, René de Rais, hatte es
nämlich satt, zusehen zu müssen, wie Gilles ständig Ländereien und Güter aus Famili-
enbesitz weit unter Wert verschacherte, um schnell an Geld zu kommen. René wandte
sich an den König und erreichte, dass dieser ihm mit sofortiger Wirkung das Schloss
Champtocé überschrieb. Als Gilles de Rais von diesem Streich seines Bruders erfuhr,
brach in ihm die Panik aus. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis René seine Finger
auch nach Schloss Machecoul ausstrecken würde - und damit hätte er ausgerechnet
die beiden wichtigen Anwesen in seinem Besitz, in welchem Gilles die Morde began-
3
Unter Sodomie verstand man nicht wie heute primär sexuelle Handlungen mit Tieren, sondern auch
oralen und analen Verkehr.

22
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

gen hatte. Er ließ sofort die Leichen von etwa 40 Kindern, welcher er in einem Turm
von Schloss lagerte, von Poitou verbrennen, alchemistische Gerätschaften entsorgen
und verwischte in beiden Schlössern die Spuren des okkulten Treibens. Seine Sorge
war berechtigt, den bereits drei Wochen später tauchte René de Gilles dann auch in
Machecoul auf.
Gilles de Rais hatte somit ein Problem. René hatte die beiden großen Schlösser
unter seiner Kontrolle und Gilles nur noch wenige Möglichkeiten, an Geld zu kommen.
Es gab da allerdings noch ein Schloss, auf welches sowohl Gilles de Rais als auch der
Schatzmeister der Bretagne, Geffroi le Ferron, Anspruch erhob und welches dieser
derzeit besetzt hielt. Gilles musste dieses Schloss dringend wieder in seine Gewalt
bringen, um es verkaufen zu können; daher stürmte er mit seinen Leuten im Mai 1440
die Kirche von St. Etienne de Mermorte während einer Messe und nahm vor den Augen
der Gläubigen den Pfarrer Jean le Ferron, einen Bruder des Schatzmeisters, als Geisel.
Gilles de Rais hatte das Vermögen der reichsten Familie Frankreichs innerhalb
weniger Jahre vergeudet und war vom Kriegshelden und Frankreichs angesehenstem
General zum pädophilen Serienmörder und Dämonenbeschwörer abgestiegen. Aber
zur Rechenschaft wurde er gezogen, weil er in eine Kirche einbrach und einen Priester
entführte. Erst damit zog er den Zorn der Kirche auf sich, und dieser Zorn sollte ihn
mit aller Macht treffen.
Jean de Malestroit, der Bischof von Nantes, war ohnehin nicht gut auf Gilles de
Rais zu sprechen und begann mit Nachforschungen. Hierzu tat er sich mit dem Herzog
Jean V. von der Bretagne zusammen, welcher hier eine Chance sah, die begehrten Län-
dereien der de Rais und d´Craon unter seine Kontrolle zu bringen und de Rais selbst
politisch zu ruinieren. Im Juli 1440 gingen sie mit den Ergebnissen ihrer Ermittlungen
an die Öffentlichkeit und prangerten Gilles de Rais des Mordes, der Sodomie und der
Häresie an.
Gilles des Rais wähnte sich nach wie vor als mächtig genug, um die Anklage
schlichtweg zu ignorieren. Daher begann der Herzog der Bretagne im August, Gil-
les de Rais, der sich im Schloss von Tiffauges verschanzte, zu belagern, während er
auf einen offiziellen Haftbefehl durch den König oder die Kirche wartete. Charles VII.
strengte eine eigene Untersuchung an, hier war also nicht mit einem schnellen Ergeb-
nis zu rechnen. Und auch Bischof de Malestroit ließ sich bis zum 14. September 1440
Zeit, bevor er den Auftrag zur Festsetzung von Gilles de Rais erteilte. Doch als dieser
erteilt war, nahm Jean V. den Belagerten und seine Bediensteten umgehend gefangen.
Im Zuge des darauf folgenden Prozesses wurden auch die Morde aufgearbeitet,
zum Teil mit Hilfe der Eltern der Ermordeten, und detailliert protokolliert. Insgesamt
wurden Gilles de Rais 140 Morde zur Last gelegt, doch die hauptsächliche Anklage
war jene der Ketzerei. Am 13. Oktober wurden die Vernehmungen von de Rais und
den Zeugen beendet.
Gilles de Rais leugnete alles. Deshalb exkommunizierte man ihn, brachte ihn in das
Gefängnis von La Tour Neuve und demonstrierte ihm die Folterkammer. Den Gedan-
ken an Folter konnte Gilles de Rais, der in dieser Hinsicht das Ungeheuer schlechthin
war, nicht ertragen. Als gläubiger Mensch war er auch der festen Überzeugung, dass

23
Das Dokument des Grauens

die Exkommunikation die Unsterblichkeit seiner Seele gefährde, und so legte er am


Abend in seinen Gemächern ein detailliertes Geständnis ab, unter der Bedingung, dass
er wieder in die Kirche aufgenommen würde.
Am folgenden Tag wurde er zum Tode durch Erhängen verurteilt, ebenso wie seine
Helfer. Dies wird heute als Zeichen des Wohlwollens gewertet, denn damals wurden
Mörder eher durch Ausweiden, Rädern, Vierteilen und andere grausame Methoden
hingerichtet. Dies ist ein weiteres Indiz, dass Gilles de Rais vor allem aus wirtschaft-
lichen Interessen verurteilt wurde und keineswegs um der Gerechtigkeit willen. Gilles
de Rais bat darum, als Erster sterben zu dürfen, damit er den anderen als gutes Bei-
spiel vorangehen dürfe. Dieser Wunsch wurde ihm gewährt, und am 26. Oktober 1440
fand seine Schreckensherrschaft dann ihr unwiderrufliches Ende. Prelati, der Alche-
mist, kam übrigens davon - er wurde jedoch bald wieder rückfällig und dieses Mal
wartete dann doch noch der Galgen auf ihn.
Gilles de Rais gilt heute als der wohl grausamste Serienmörder des Mittelalters.
Doch man erinnert sich an ihn vorrangig als Helfer von Jeanne d´Arc und weniger als
das Monster, welches er war. Es gibt bislang nur eine einzige konkrete Verfilmung sei-
nes Prozesses in Form der seltenen französischen TV-Dokumentation Images à propos
de: Enluminures autour des minutes du procès de Gilles de Rais (1975). Ansonsten
findet man vor allem genrefremde Filme wie Luc Bessons The Messenger: The Story
of Joan of Arc (1999), welche die Taten und den Charakter von Gilles de Rais, wenn
überhaupt, nur am Rande thematisieren. Es scheint, als fiele es wesentlich leichter,
sich an glanzvolle Taten zu erinnern als an verbreiteten Schrecken. Für das Genre des
Horrorfilms sind die Taten von Gilles de Rais aber eine wichtige Quelle der Inspirati-
on geworden. Es gibt unzählige Filme, welche von einem Gemäuer erzählen, in dessen
Umkreis Kinder - in den meisten Fällen jedoch keine Knaben, sondern vor allem junge
Mädchen im heiratsfähigen Alter - verschwinden. Vor allem in Vampirfilmen der 60er
und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts sollte es ein beliebtes Motiv werden, wie zum
Beispiel in der Hammer-Produktion Kiss of the Vampire (1963), in welcher sogar ein
okkulter Vampirkult ganz im Stile von Gilles de Rais sein Unwesen treibt. Achten Sie
darauf, wie oft Ihnen das Motiv von Verschleppungen in Verbindung mit Ritualmorden
in mittelalterlichem Ambiente begegnet; dies wird öfter der Fall sein, als sie spontan
annehmen dürften.

Zu der Zeit von Gilles de Rais´ Morden brachte Frankreich noch einen weiteren
Meilenstein des Horrors hervor, diesmal jedoch von durchweg harmloserer Natur. 1435
veröffentlichte Gyot Marchant in Paris die erste Ausgabe des Danse macabre, einer
Sammlung von Versen und Holzschnitten. Die als „Tanz der Toten“ bekannt geworde-
ne Sammlung ist eine mittelalterliche Allegorie, welche das Verhältnis der Menschen
jener Zeit zum Tod verdeutlicht und sich in unzähligen Werken aus den Bereichen der
Literatur und bildenden Künste niederschlägt. Das Älteste uns bekannte jener Wer-
ke ist eine Reihe von Gemälden, welche in den Jahren 1424 und 1425 entstand und
ursprünglich auf dem Pariser Friedhof Les Innocents zu sehen war. In dieser Gemälde-
serie formiert sich die komplette Hierarchie des weltlichen und geistigen Lebens, von

24
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Abbildung 2.4: Adliger und Kardinal im Angesicht des Todes. Motiv aus dem Pariser
Danse macabre von Gyot Marchant

Papst und König bis hinunter zu Bediensteten und Kindern, zu einem Tanz, in des-
sen Verlauf sie von Skeletten in ihr Grab geleitet werden. Jedes dieser Bilder war mit
erklärenden Versen versehen. Gyot Marchant tat nichts anderes, als anhand der Holz-
schnitte möglichst exakte Kopien der Gemälde herzustellen, und sie in Verbindung mit
den Versen zu publizieren.
Der Pariser Danse macabre auf Les Innocents wurde 1669 zerstört. Die Pariser
hatten viele Jahre nichts anderes getan, als ihre Toten dort zur letzten Ruhe zu bet-
ten, bis das Gewicht der Knochen zu hoch wurde und einen Teil der Gewölbe zum
Einsturz brachte. 1785 wurden die Reste des Friedhofs aus Gründen der Sicherheit
und der Hygiene endgültig eingeebnet; vor allem der ständig über dem Stadtviertel
hängende Geruch des Todes sorgte für eine Reihe von Beschwerden und durch das
ständige Verbuddeln von Kadavern hatte sich das Gelände bereits um fast drei Meter
gehoben, was ebenfalls nahelegte, sich nach einer alternativen Bestattungsstätte um-
zusehen. Den endgültigen Ausschlag zu dieser Entscheidung gab jedoch der Einsturz
einer Wand, durch welchen eine Reihe von Besuchern lebendig begraben und dem
langsamen Erstickungstod ausgeliefert wurde. Die noch vorhandenen Inhalte wurden
in vorhandene Minentunnel umgebettet, wo die Grabstätte von etwa 8 Millionen zur
letzten Ruhe gebetteten Menschen noch heute bewundert werden kann.

25
Das Dokument des Grauens

Durch die Arbeit Gyot Marchants überlebte zumindest eine Kopie der alten Gemäl-
de, deren Inhalt und Intention im Laufe der folgenden Jahrhunderte dutzendweise ko-
piert wurden. Die Bedeutung der Pariser Friedhöfe für den Horrorfilm des 20. Jahr-
hunderts ist übrigens auch nicht von der Hand zu weisen; die Stätte, in welcher sich
die Gebeine unzähliger Toter oftmals bis zu den Decken der Gewölbe stapeln, regte
die Fantasie der Autoren von Drehbüchern und ihrer literarischen Vorlagen häufig an
- kaum ein im alten Paris spielender historischer Horrorfilm, in welchem die unterir-
dischen Katakomben von Paris nicht zumindest angedeutet sind, wie beispielsweise in
Interview with the Vampire (1994).

Das Jahr 1457 stellt den Ausgangspunkt für einen der größten Mythen aus der Welt
des Horrors dar. In diesem Jahr fiel Vlad Ţepeş in Siebenbürgen ein und veranstaltete
ein Blutbad. Drehen wir das Rad der Zeit wieder ein klein wenig zurück ins Jahr 1431,
um zu verstehen, um wen es sich hierbei handelt.
1431 krönte Sigismund von Luxemburg den rumänischen Adligen Vlad II. aus dem
Hause Basarab zum neuen Fürsten der Walachei. Die Walachei ist ein Gebiet zwischen
Transsylvanien im Norden, Bulgarien im Süden und dem Schwarzen Meer im Osten.
Ein strategisch wichtiges Gebiet, stellte es doch einen Puffer zwischen dem christ-
lich geprägten Reich Sigismund von Luxemburgs und den bereits an der Donau auf-
marschierten türkischen Islamisten dar, welche das Reich bedrohten. Sigismund schuf
hiermit einen strategischen Bund und nahm den neuen Fürsten auch in den 1418 ge-
gründeten Drachenorden auf, einer ritterlichen Gemeinschaft, welche sich dem Kampf
gegen die Türken verschrieben hatte.
Vlad Ţepeş trug das Emblem des Ordens mit Stolz und hatte somit seinen Ruf
schnell weg. Das Emblem bestand aus einem geflügelten Drachen unter einem Kreuz.
Abgeleitet von draco, dem lateinischen Wort für „Drache“, trug er nämlich ab sofort
den Beinamen Drǎcul , was als „Vlad, der Drache“ gemeint war. Doch im Rumäni-
schen hat drǎcul eine ganz andere Bedeutung. „Vlad Drǎcul“ bedeutet dort „Vlad, der
Teufel“.

Noch im gleichen Jahr wurde in Sighisoara Vlads Sohn geboren, genannt Vlad III
Drǎculea, der „Sohn des Drǎcul“, des Drachen, des Teufels. Durch seinen Anspruch
auf den Thron, welchen Vlad 1436 offiziell geltend machte, wuchs Drǎculea in einer
Ära hoher politischer Instabilität auf.
Vlad Drǎcul befand sich in einer politischen Zwickmühle, als ein kleiner Balkan-
staat nach dem anderen vor den Türken kapitulierte. Einerseits wollte er Frieden. An-
dererseits war er den Ungarn im Westen als Vasall verpflichtet, und durch die Mitglied-
schaft im Drachenorden zusätzlich auf den Kampf gegen die vorrückenden Türken ein-
geschworen. Doch die Türken wurden immer stärker und er würde sich kaum gegen
sie behaupten können, wenn er seine neutrale Position verließe. In dieser Situation traf
Vlad Drǎcul den Entschluss, sich aus dem Konflikt herauszuhalten.
1442 fielen die Türken in Transsylvanien ein und Vlad Drǎcul gab sich Mühe, seine
Neutralität zu bewahren. Doch es sollte nichts nutzen - die Türken wurden besiegt und

26
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

der Zorn der im Stich gelassenen Ungarn richtete sich nun auf ihn. Vlad Drǎcul und
seine Familie mussten aus der Walachei fliehen, während die Ungarn einen Dǎneşti,
einen Angehörigen eines Zweiges des alten Hauses Basarab und hierdurch ein Tod-
feind der Vlads, auf den Thron hievten.
1443 eroberte Vlad Drǎcul mit Hilfe
der Türken den Thron zurück, allerdings
unter der Auflage eines Tributes sowie
dem Versprechen, jedes Jahr eine Anzahl
Jungen in die Gärten des Sultans zu sen-
den. Einer dieser Jungen war schließlich
Vlad Drǎculea, als ein Zeichen des guten
Willens seines Vaters. Offiziell bezeich-
nete man ihn als Geisel.
1444 schlugen die Ungarn zurück.
Der Feldherr Hunyadi marschierte an der
Varna auf und setzte Vlad Drǎcul unter
Druck, dass er seine Pflichten als Mit-
glied des Drachenordens erfüllen und ge-
gen die Türken kämpfen möge. Doch
Drǎcul sandte seinen ältesten Sohn Mir-
cea und lavierte sich hiermit erneut aus
der Schusslinie. Die folgende Schlacht
wurde zum absoluten Debakel für die
christliche Armee, welche vernichtend
geschlagen wurde. Hunyadi wurde als
der Verantwortliche bezichtigt und sein
Hass gegen Vlad Drǎcul erreichte neue
Höhen. 1447 wurde Vlad Drǎcul erschla-
gen und sein Sohn Mircea lebendig be-
graben.
Daraufhin wurde Vlad Drǎculea als Abbildung 2.5: Vlad „Drǎculea“ Ţepeş
ältester lebender Sohn Vlad Drǎculs zum
Thronerben und vom türkischen Sultan Murad II. als Herrscher über die Walachei be-
stätigt. Doch bereits nach zwei Monaten Herrschaft wurde er von Hunyadi vertrieben
und musste zu seinem Cousin, dem Prinz von Moldavien, flüchten. Als Nachfolger
setzte Hunyadi Vladislav II. auf den Thron.
Als Prinz Bogdan von Moldavien drei Jahre später einem Attentat zum Opfer fiel,
musste Vlad Drǎculea erneut die Koffer packen, um den einsetzenden Unruhen zu
entgehen. Nun blieb ihm nur noch die Flucht zu seinem Erzfeind, nach Transsylvanien
, zu Hunyadi.
Hunyadi kam dies nicht ungelegen, denn Vladislav II. begann, sich mit den Türken
zu arrangieren und Hunyadi brauchte eine neue Marionette auf dem Thron. Nach dem

27
Das Dokument des Grauens

Fall von Konstantinopel wuchs der Hass auf die Türken erneut und 1456 ergab sich
letztlich die Gelegenheit für Vlad Drǎculea, den Thron seines Vaters zu erlangen.
Hunyadi fiel in der Türkei ein, und Vlad Drǎculea griff den Kollaborateur der Tür-
ken in der Walachei an. In einer Schlacht bei Belgrad fand Hunyadi den Tod, Drǎculea
seinerseits tötete Vladislav II. Vordergründig hatte Vlad Drǎculea somit alles erreicht,
wovon er träumte: den Thron und den Tod seines Erzfeindes. Doch der Schatten der
Türken, seiner neuen Feinde, überdeckte aufs Neue seine Zukunft.
Nach dem eingangs erwähnten Blutbad in Siebenbürgen, welches unter anderem
durch einen Handelskrieg ausgelöst worden war, erhielt Vlad Drǎculea einen neuen
Beinamen: Vlad Ţepeş, „der Pfähler“. Bei diesem Feldzug ließ er jeden pfählen, der
im zwischen die Finger kam, auch Frauen und Kinder. Er setzte deutliche Zeichen
seines Machterhalts und baute auf die Furcht seiner Gegner. So soll er im Jahr 1459
einen 600 Mann starken Zug von Kaufleuten überfallen und sie allesamt pfählen haben
lassen. Nach der Eroberung von Kronstadt ließ er nahezu die komplette Bevölkerung
pfählen. Das wohl berüchtigtste Vorkommnis ist jedoch jenes des Osterfestes 1459,
als er ein Fest für bojarische Kaufleute gab. Die Attentäter seines Vaters und seines
Bruders stammten aus ihren Reihen und Vlad gedachte, Rache zu nehmen.
Nachdem das Fest begonnen hatte, stellt er den Bojaren während des Gelages die
Frage, wie viele Herrscher sie bereits überlebt hätten. Es stellte sich heraus, dass keiner
von ihnen weniger als sieben Thronwechsel erlebt hatte. Daraufhin ließ er den Groß-
teil der knapp 500 Kaufleute nebst ihren Familien gefangen nehmen und umgehend
pfählen. Die jüngeren und stärkeren Teilnehmer des Festes ließ er zu einer Ruine in
den Bergen nördlich der Hauptstadt Tirgoviste verschleppen, wo sie, der Überlieferung
nach noch in derselben Kleidung und nach deren Verschleißen völlig nackt, Zwangsar-
beit verrichten mussten. Nur wenige von ihnen erlebten die Fertigstellung jener Burg,
welche heute als Schloss Drǎcula Touristenströme anlockt.
Als 1462 der türkische Sultan zum Gegenschlag ausholte und auf Tirgoviste vor-
rückte, durchquerte er einen so genannten „Wald der Gepfählten“, welchen Vlad Ţepeş
für ihn vorbereiten ließ. Nach Angaben der Türken handelte es sich um ein Feld mit
etwa 20.000 halb verwesten Gepfählten, darunter auch Säuglinge. Die Türken zogen
sich wieder zurück.

Vlad Ţepeş galt inzwischen endgültig als blutrünstiges Monstrum. Die Ungarn
setzten ihn deshalb bis 1475 gefangen. Als sich ein erneuter Krieg gegen die Türken
abzeichnete, wurde er jedoch freigelassen. Daraufhin drang Vlad Ţepeş in Bosnien
ein, welches damals türkisches Gebiet war. Er tötete wahllos Christen und Moslems,
bis es im Dezember 1476 zur finalen Schlacht gegen die Türken kam, in deren Verlauf
Vlad Ţepeş fiel. Die Umstände seines Todes sind unklar. Einige Quellen behaupten, er
sei durch Türkenhand gestorben. Andere Quellen behaupten, seine eigenen Walachen
hätten sich gegen ihn verschworen und die Gelegenheit genutzt, um ihn loszuwerden.
Sicher ist jedoch, dass seine Leiche enthauptet und sein konservierter Kopf nach Kon-
stantinopel gesandt wurde, wo man ihn weithin sichtbar auf einem Pfahl aufstellte.
Doch der Mythos des Pfählers lebte schnell erneut auf, als man späterhin seine Grab-

28
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

stätte in einem Bukarester Kloster wieder öffnete und feststellte, dass seine Leiche aus
dem Grab verschwunden war.
Die Gestalt des Vlad Ţepeş ist heut-
zutage sehr romantisiert worden, nicht
zuletzt indem sie als Vorlage für Bram
Stokers Vampirfürsten aus Dracula, or
The Undead diente. Um den Schrecken,
welchen Vlad Ţepeş verbreitete, wirklich
erfassen zu können, muss man unbedingt
darauf verzichten, in ihm den Grafen
Dracula zu sehen, sondern vielmehr den
Sachverhalt nüchterner betrachten. Die
Kunde seiner schrecklichen Taten eilte
bereits zu Vlads Lebzeiten quer durch
Europa und es heißt, er habe Hunderttau-
sende Menschen pfählen lassen. Es wa-
ren keineswegs in erster Linie feindliche
Soldaten, sondern zum Großteil normale
Bürger, die einfach nur das Pech hatten,
zur falschen Zeit am falschen Ort gebo-
ren worden zu sein.
Der Vorgang des Pfählens war nicht
nur eine Methode der Hinrichtung, son-
dern auch eine Folter. Das bevorzug-
te Werkzeug dieses qualvollen Todes
war ein Pfahl, dessen Spitze mit Öl be- Abbildung 2.6: Die Pfählungen des Vlad
schmiert und völlig stumpf war. In einem Ţepeş. Zeitgenössischer Holzschnitt aus
angespitzten Zustand wäre der Pfahl zu Deutschland
schnell in den Körper des Opfers einge-
drungen und hätte einen Schock ausgelöst, so jedoch war es eine unbeschreibliche
Qual. Manchmal wurden die Todgeweihten von Pferden über den Pfahl gezogen, doch
gerade bei Massenpfählungen musste meist das Eigengewicht der Opfer ausreichen,
was das langsame Sterben noch verlängerte. Der Pfahl wurde zumeist am Hintern der
Todgeweihten angesetzt und langsam durch den gesamten Körper getrieben, bis er in
der Brust, am Hals oder durch den Mund wieder austrat. Bei Frauen wurde der tod-
bringende Pfahl meistens in die Vagina eingeführt. Auch der umgekehrte Weg, das
Ansetzen des Pfahles am Mund eines kopfüber aufgehängten Menschen, wurde be-
schritten. Drängte die Zeit, wurden die Pfähle auch quer durch die Körper getrieben.
Aber egal, welche Methode gewählt wurde, der Tod kam immer langsam, oftmals erst
nach Stunden oder gar Tagen grausamster Qual.
Vlad Ţepeş entwickelte bei Massenpfählungen auch eine kreative Ader. Er be-
gann, die Pfähle in geometrischen Mustern anzulegen, manchmal zogen die Pfähle
auch Kreise um eine eroberte Stadt. Je höher der gesellschaftliche oder militärische

29
Das Dokument des Grauens

Rang einer Person war, desto höher war auch der Pfahl, auf welchen sie gespießt wur-
de. Hierdurch wird deutlich, dass Vlad Ţepeş seine Hinrichtungsorgien regelrecht zele-
brierte und sich auch die Zeit für deren akkurate Durchführung nahm. So tötete er nach
der Einnahme von Brasov etwa 30.000 Menschen über einen Zeitraum von mehreren
Wochen. Wer auf der Warteliste des Todes stand, wurde in der Zwischenzeit gefoltert;
das Abhacken von Gliedmaßen, das Übergießen mit kochendem Wasser, die Verstüm-
melung von Geschlechtsteilen oder Häutungen gehörten hier zum Standardprogramm.
Wenn man sich dieses Vorgehen bildlich vorstellt, wird es schnell bewusst, dass
Bram Stokers Figur des Grafen Dracula oder auch der die Realität um Vlad Ţepeş
enorm verwässernde Dracula (1992) von Francis Ford Coppola hier einen Massen-
mörder romantisieren, welcher derartiges eigentlich gar nicht verdient. Es ist auch un-
klar, weshalb sich Bram Stoker ausgerechnet für Vlad Ţepeş als Vorlage seines trans-
sylvanischen Grafen entschied und nicht etwa die Figur der Elisabeth Báthory als Vor-
lage nahm (deren Vorfahr übrigens die rechte Hand Vlad Ţepeş’ bei seinem letzten
Feldzug war). Aber auch ohne Bram Stokers Referenz hätte sich Vlad Ţepeş durch
seinen Ruf als Bestie den Eintrag in dieser Beschreibung grundliegender Horrormoti-
ve redlich verdient, dienten die Pfählungen doch als zwiespältige Inspiration für den
italienischen Kannibalen-Trash der 70er und frühen 80er Jahre mit Machwerken wie
Deodatos Cannibal Holocaust (1979).

Die Jahre 1470 bis 1516 fallen durch das Schaffen des niederländischen Malers
Van Aken, der seinen Namen späterhin in Hieronymus Bosch ändern ließ, auf. In
Boschs opulenten Gemälden liegen tiefste Frömmigkeit und vulgärste Lustbarkeiten
nahe beisammen, erscheinen oftmals als untrennbar miteinander verwoben. Im Garten
der Lüste, seinem wohl bekanntesten Werk, finden wir beispielsweise neben dem zen-
tralen Motiv, der Darstellung paradiesischer Völlerei, auch vorbildliche Heilige, eben-
so wie ketzerische Abbildungen. Inmitten des opulenten Detailreichtums erkennen wir
einen königlichen Vogel, welcher Menschen frisst, eine Maus im Nonnengewand, die
sich an einem sich wehrenden Mann vergeht, ein Hase trägt seine menschliche Beute
nach Hause und vieles mehr. Über die Bedeutung seiner albtraumhaften Darstellungen
von höllischem Leid streiten sich die Wissenschaftler noch heute; da zu Boschs Leb-
zeiten ketzerische Sekten Hochkonjunktur hatten und Bosch selbst in dem Ruf steht,
Mitglied solcher Sekten gewesen zu sein, ist eine gängige Theorie, dass seine Gemälde
eine Vielzahl von Botschaften enthalten könnten. Ob Bosch jetzt ein Visionär, Ketzer
oder schlichtweg verrückt war, ist für den Liebhaber des Horrorfilms jedoch nicht von
Belang. Unter diesem Blickwinkel ist bemerkenswert, wie Bosch die menschlichen
und seelischen Abgründe darstellt. Der Surrealismus berühmter Regisseure wie Luis
Buñuel oder David Lynch kommt nicht von ungefähr, sie erscheinen stets wie Paten-
kinder dieses großen niederländischen Meisters - und die Vermutung liegt nahe, dass
deren filmische Werke mangels Inspiration eine andere Erscheinungsform angenom-
men hätten, wären Boschs Werke nach dessen Tod nicht knapp der Inquisition entron-
nen, sondern ihr vielmehr zum Opfer gefallen.

30
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Abbildung 2.7: Der Mittelteil des Tryptichons Der Garten der Lüste von Hieronymus
Bosch

31
Das Dokument des Grauens

Doch selbst Boschs wildesten Fantasien würden wohl kaum dem gerecht werden,
was etwas mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod zwei Dominikaner namens
Heinrich Kramer (aka Heinrich Institoris) und Jakob Sprenger ersannen. Im Jahr 1487
schlug die Geburtsstunde eines Pamphlets, welches das Grauen der Inquisition für je-
dermann in Europa greifbar machen würde. Es war die Geburtsstunde von Malleus
malificarum, des Hexenhammers [2].
Kramer und Sprenger waren als Inquisitoren für die Bistümer Köln, Mainz, Trier
und Salzburg zuständig. Man könnte darüber streiten, ob sie lediglich religiöse Eiferer
waren, denen ihr Beruf zu Kopf gestiegen war, oder ob es sich vielmehr um zwei
geisteskranke Sadisten und Frauenhasser handelte - jedenfalls heizten sie mit ihrem
Machwerk einen Hexenwahn an, welcher im Lauf der nächsten 300 Jahre mehreren
Millionen Menschen den Tod brachte.
Durch die Kirchenpolitik seit den Po-
gromen gegen die Katharer war eine sol-
che Zuspitzung der Entwicklung gera-
dezu vorprogrammiert. Die Geistlichen
waren mittlerweile oftmals zu gierigen
Bonzen mutiert, welche sich munter am
Volk bereicherten. Aufgrund einer päpst-
lichen Anordnung wurde die Behaup-
tung, Jesus Christus habe in bescheide-
nen Verhältnissen gelebt, mit einem In-
quisitionsverfahren wegen Ketzerei ge-
ahndet. Reiche Bürger stellten sich mit-
tels mehr oder weniger freiwilliger Spen-
den mit dem Klerus gut, denn wer spen-
dete, konnte nicht belangt werden. Den
Armen hingegen drohte stets die Gefahr,
der Hexerei bezichtigt zu werden. Das
Sprichwort „Stets hänge man die Armen
und gebe ihr Hab und Gut den Reichen“
stammt aus jener Zeit, denn nach einer
Hinrichtung wurde der Besitz des Opfers
Abbildung 2.8: Malleus malificarum, Ti- zwischen der Kirche und ihren adligen
telblatt der Ausgabe von 1540 Günstlingen aufgeteilt. Die Anklage, die
Folter und das anschließende Verbrennen
des Angeklagten auf dem Scheiterhaufen geschah häufig aus Habgier, Neid oder Ab-
neigung. Ebenso hatte man eine willkommene Gelegenheit, Konkurrenten und unlieb-
sam gewordene Ehefrauen loszuwerden. Eine beliebte Zielgruppe waren natürlich eth-
nische Minderheiten, hier vor allem Juden4 .

4
Der Vergleich zwischen dem Katholizismus und dem Dritten Reich drängt sich auf. Die Parallelen
sind in der Tat erschreckend, doch darauf soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Inter-

32
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Der gefährdetste Berufsstand war jener der Hebamme, denn falls in höheren Krei-
sen eine Geburt problematisch verlief oder das Kind nicht gesund war, war die Hebam-
me oft so gut wie tot. Überhaupt war eigentlich jede Frau eine potenzielle Todeskandi-
datin, solange sie nur alt oder hässlich genug war, und auch Muttermale sorgten wie-
derholt für Todesurteile. Wer die Existenz von Hexen leugnete, konnte sich ebenfalls
von seinem Leben verabschieden. Es war also keineswegs notwendig, dem damaligen
Bild einer Hexe zu entsprechen. Es war nicht nötig, kleine Kinder am Spieß zu braten
oder im nächtlichen Wald schwarze Messen abzuhalten, mit dem Teufel den Beischlaf
auszuüben oder die Ernte und das Vieh eines Bauern zu verhexen. Mitunter reichte es
aus, den falschen Bürger schief anzusehen, um als sonntägliche Hauptattraktion auf
dem Marktplatz zu enden.
Das systematische Beiseiteschaffen von unbeliebten Bürgern durch die Kirche hat-
te, ganz im Gegensatz zum äußeren Anschein, Methode. Die angebliche Beweisführung
bei den Hexenprozessen war lediglich Propaganda und diente nur der Vortäuschung
eines fairen Prozesses, was schnell deutlich wird, wenn man sich die drei gängigsten
Hexenproben näher betrachtet.
Als Erstes wäre hier das als Hexenstechen oder auch Nadelprobe bezeichnete Ver-
fahren zu nennen. Hierbei wurde mit einer Nadel in ein Muttermal gestochen - floss
Blut, handelte es sich bei der betreffenden Person nicht um eine Hexe. Es ist jedoch
kein Fall bekannt, in welchem Blut geflossen wäre. Dies wäre auch eigenartig, denn
es wurde stets eine präparierte Nadel benutzt, in welcher sich die Nadel mittels einer
Feder in den Schaft zurückschieben ließ.
Die beiden anderen beliebten Methoden sind vor allem wegen ihres sprichwörtlich
zum Himmel schreienden Zynismus bekannt. Bei der Wägeprobe wurden von Regi-
on zu Region unterschiedliche Größen- und Gewichtstabellen benutzt, um Hexen zu
überführen. Es hieß nämlich, Hexen seien leichter als normale Sterbliche; war das er-
mittelte Gewicht der Testperson um etwa 5 bis 10 kg geringer als jenes, welches in der
Referenztabelle angegeben war, hatte man es dementsprechend mit einer Hexe zu tun.
War die Testperson hingegen zu schwer, war die Sachlage ebenso eindeutig: Offen-
sichtlich hatte man sie dann dabei ertappt, wie sie die Waage verhexte, um ihr wahres
Gewicht zu verschleiern.
Nicht weniger unrühmlich war die Wasserprobe. Diese Probe wird damit begrün-
det, dass Jesus Christus einst im Jordan getauft wurde, wodurch dieses Wasser heilig
wurde. Mittlerweile habe sich dieses Wasser auf der ganzen Welt verteilt, wodurch
letztendlich jedes Wasser heilig sei. Und da heiliges Wasser nur völlige Reinheit in
sich aufnimmt, musste man folgerichtig die der Hexerei verdächtigte Person nur fes-
seln und ins Wasser werfen. Das Wasser würde sich weigern, eine Hexe aufzunehmen
- wer nicht unterging oder wieder auftauchte, hatte folgerichtig verloren und durfte
essant ist jedoch, dass der hinsichtlich der Judenfrage von katholischen Motiven geleitete Hitler sich
auch in Bezug auf die Hexerei engagierte. Unter Heinrich Himmler wurde ein Hexensonderkommando
eingerichtet, welches in einem Zeitraum von acht Jahren über 30.000 Hexenprozesse erfasste. Die ent-
sprechenden Unterlagen tauchten 1946 im Schloss von Schlawa auf. Man nimmt an, dass man anhand
dieser Motive einen Weg suchte, die eigene ideologische Überzeugung zu festigen.

33
Das Dokument des Grauens

sich durch die Flammen reinigen lassen. Es ist wohl müßig zu sagen, dass jemand,
der diese Probe bestand und sich vom Verdacht der Hexerei reinwaschen konnte, keine
Gelegenheit mehr hatte, sich darüber zu freuen.
Mit dem Hexenhammer wurde dieser
menschenverachtende Unsinn zur Dok-
trin. Papst Innozenz VIII. sorgte mittels
einleitender Worte für die entsprechen-
de Unterstützung und damit auch Legi-
timation durch die Kirche, wodurch die-
ses Pamphlet zum Handbuch der Inquisi-
toren während der nächsten Jahrhunderte
wurde.
Das Buch selbst ist in drei Teile ge-
gliedert. Im ersten Teil legen die Verfas-
ser dar, was denn nun „zur Hexentat ge-
hört, nämlich den Dämon, den Hexer und
die göttliche Zulassung“ und wen man
derselben zu bezichtigen hat. Hier sind
die bereits erwähnten Gesellschaftsgrup-
pen betroffen, und ebenso - wenn nicht
gar in erster Linie - die Frauen. Frauen
sind gemäß Kramer und Sprenger durch
und durch boshaft, dumm, von Natur aus
verlogen und schlichtweg „unvollkom-
mene Tiere“.
Der zweite Teil des Buches, welcher
sich den Praktiken der Hexerei widmet
und wie man diese behebt, macht auch
Abbildung 2.9: Gottfried Franz, Die He- hier aus seiner Frauenfeindlichkeit kei-
xenprobe nen Hehl. Hier finden wir Beschreibun-
gen, wie sich Frauen den Incubi unter-
werfen, über die Methoden, wie sie Männern die Penisse weghexen bis hin zu den
„drei Arten, wie Männer mit Hexenwerken infiziert werden“5 . Sämtliche Spielarten
der Hexerei haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Bei allen reicht lediglich die Be-

5
Jetzt wurden Sie bestimmt misstrauisch, oder? Es sollte schließlich recht leicht festzustellen sein,
ob einem Mann der Penis weggehext wurde oder nicht. Hier muss ich Sie leider enttäuschen, denn die
heilige Inquisition hat auch hier einen Ausweg für ihre menschenverachtende Doktrin. Kapitel IV aus
dem zweiten Teil des Hexenhammers widmet sich jenem Fall. Die Erklärung ist simpel und absolut
unverfroren zugleich: Eine Hexe hext das Glied eines Mannes nicht weg, sondern vermittelt diesem die
entsprechende Illusion, dass dies der Fall wäre. Dies hat zur Folge, dass der Penis nur für seinen Besitzer
nicht mehr vorhanden ist. Im Ernstfall bedeutet dies, dass die angeklagte Person der Hexerei überführt
ist, wenn der angeblich Verhexte behauptet, ihm sei seine Männlichkeit geraubt worden, sein Schniedel
jedoch weiterhin für jedermann sichtbar an seiner gewohnten Stelle baumelt.

34
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

hauptung, dass Hexerei im Spiel sei, um diese als real vorzugeben.

Zur Sache geht es im dritten Teil des Buches. Hier dreht sich alles „über die Ar-
ten der Ausrottung oder wenigstens Bestrafung durch die gebührende Gerechtigkeit“.
Während die ersten Teile vornehmlich aus unwissenschaftlichem und fehlgeleitetem
Geschwafel bestehen, kommen Kramer und Sprenger hier zur Praxis. Der Ablauf ei-
nes Hexenprozesses wird bis ins Detail vorgeschrieben. Prozessbeginn, die Anzahl
der Zeugen und deren „Beschaffenheit“und die Aussagequalität von Todfeinden sowie
von jene von Frauen wird geregelt. Es geht weiter mit dem eigentlichen Prozessver-
lauf. Zu beachten ist hier vor allem, dass Folter explizit als angemessen betrachtet
wird und Richtlinien bezüglich der Verhöre in den Folterkammern erteilt werden - mit
der erteilten Unterstützung der katholischen Kirche ist die Folterung Angeklagter hier
endgültig und in schriftlicher Form legitimiert.
Der Leser findet in diesem Teil des
Hexenhammers auch Anweisungen vor,
welche die Hexenproben betreffen. Auf-
geführt sind Tests, bei welchen es stets
darum geht, dem Opfer Verletzungen zu-
zufügen. Im Gegensatz zu den Proben,
welche angestrengt wurden, um jeman-
den der Hexerei zu überführen, haben wir
es hier mit Verfahren zu tun, bei wel-
chen Verletzungen unvermeidlich sind.
Der Hexenhammer nennt hier die Metho-
den des Trinkens kochenden Wassers so-
wie des Tragens eines glühenden Eisens
in den bloßen Händen; wenn das Opfer
Schmerzen verspürt, handelt es sich nicht
um eine Hexe. Diese Methoden der Fest-
stellung des Hexentums werden vom He-
xenhammer verurteilt. Logisch, dienen Abbildung 2.10: Die Weiberherrschaft, 16.
sie doch nicht dem Zwecke des Bewei- Jahrhundert
ses der Schuld der Beklagten, sondern ih-
rer Unschuld. Die Dämonen seien derart gewieft, dass sie die Verletzungen zwar vor-
täuschen, in Wirklichkeit jedoch nicht zulassen. Sollte eine der Hexerei verdächtigte
Person nach einer solchen Probe verlangen, macht sie sich somit erneut der Hexerei
verdächtig. Derartige Proben könne man zwar durchführen, aber bei einem der An-
klage nicht angenehmen Ergebnis möge man sich davon distanzieren. Zu guter Letzt
widmet sich der Hexenhammer dem Fällen des Urteilsspruches und den Spielarten der
Urteilsvollstreckung6 .

6
Anzumerken ist noch, dass ein umfassendes Geständnis und bußfertiges Verhalten der bzw. des
Angeklagten für „Strafminderung“ sorgte. Diese sah in der Regel jedoch so aus, dass man gnädiger-

35
Das Dokument des Grauens

Abbildung 2.11: Verbrennung dreier Hexen in Derneburg im Oktober 1555

Durch den in lateinisch, späterhin auch in deutsch, französisch und italienisch er-
schienenen Hexenhammer kam die Hexenverfolgung ganz groß in Mode. Nun war
nicht nur exakt vorgeschrieben, wie die Hexerei zu verfolgen sei. Vielmehr hatte man
nun endgültig keine Wahl mehr, ob man bei den Hexenverfolgungen mitmacht oder
nicht, denn es bestand durch die zuvor veröffentlichte päpstliche Hexenbulle der Be-
fehl der Kirche, die zwangsweise Verfolgung von Hexen zu betreiben. Ob der He-
xenhammer an den Millionen von Opfern der Hexenverfolgung schuld ist, darf ange-
zweifelt werden; er war ein Leitfaden, ein Handbuch, aber keineswegs ein kirchliches
Gesetz. Er hat das bereits existierende Grauen „nur“ organisiert und in feste Bahnen
gelenkt, es jedoch nicht ausgelöst.

Die aktive Hexenverfolgung sollte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts anhalten. Der
Höhepunkt des Hexenwahns war in Deutschland zwischen 1625 und 1630 erreicht; in
dieser Zeit fielen schätzungsweise drei bis fünf Prozent der Bevölkerung der Inquisiti-
on zum Opfer. Die Scheiterhaufen loderten in nahezu jeder deutschen Gemeinde.

weise vor der Verbrennung stranguliert wurde. Den Fall eines Unschuldsbeweises, eines Freispruchs
oder einer Aufhebung der Strafe sieht der Hexenhammer nicht vor. Hier kann man übrigens auch den
großen ideologischen Schwachpunkt dieses Machwerkes sehen - als Ursache für das Hexentreiben wird
stets der Teufel angesehen, welcher sich der Hülle des Menschen bedient, doch als Reaktion wurde
stets jene Hülle der Reinigung durch die Flammen übergeben. Der wahre weltliche Hintergrund der
Hexenverfolgung, des kirchlich sanktionierten Mordes, wird auch vom Hexenhammer nicht vollständig
verschleiert.

36
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Mit dem Hexenwahn haben wir auch einen Wendepunkt in der Vorgeschichte des
Horrors als Erzählform erreicht: Hier ist es erstmals soweit, dass der Kontakt mit wahr-
lich grausamen Vorgängen und Furcht einflößenden Gedankenspielen nicht nur einer
Minderheit oder bestimmten Gesellschaftsgruppen vorbehalten war, sondern alle Men-
schen im europäischen Kulturkreis erreichte. Der Weg zu Schauermärchen, und sei es
nur zu solchen, welchen erzieherischen Zwecken dienen, war nicht mehr weit und,
da die Menschen jener Tage an die Existenz von unter ihnen lebenden Hexen glaub-
ten, auch wesentlich unheimlicher als abstrakte Erzählungen über die Schrecken des
Krieges, des Schwarzen Todes oder Ähnlichem. Dieser Horror war greifbar, denn die
Menschen verbrachten ihr ganzes Leben unter seinem direkten Einfluss - dieser Horror
war ein Bestandteil des Lebens.
Der Hexenwahn an sich ist noch immer spürbar, viele Menschen glauben noch
heute an die Existenz von Hexen. Sehr zur Freude der Schöpfer von Horrorfilmen
übrigens. Vor allem in den 60ern und den frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts er-
blickten viele Filme mit Hexenthematik das Licht der Leinwand, vornehmlich Filme
aus dem europäischen Raum wie der ausgesprochen realistische Witchfinder General
(1968), La maschera del demonio (1960) oder auch voyeuristische Verfehlungen aus
deutschen Landen wie Hexen bis auf’s Blut gequält (1969). Mit dem Einfluss der
kirchlichen Doktrin aus den Tagen der Hexenverbrennungen auf den Horrorfilm und
einem Vergleich der im Hexenhammer vorzufindenden und in historischen Hexenpro-
zessen getroffenen Charakterisierung von Frauen mit der Darstellung klassischer He-
xen und ihrer modernen, männermordenden Töchter werden wir uns zu einem späteren
Zeitpunkt ausführlich beschäftigen.

Wenden wir uns von den realen Schrecken des 15. Jahrhunderts den fiktiven des
nachfolgenden zu. Um 1497 wird Hans Holbein der Jüngere als Sohn des Künstlers
Hans Holbein des Älteren geboren. Hans Holbein der Jüngere machte sich ab dem Jahr
1515 einen Namen als Illustrator von Büchern, darunter auch Martin Luthers deutsch-
sprachige Übersetzung der Bibel. Seine Zeichnungen entstanden unter Verwendung
von Tinte, meistens jedoch handelte es sich um Holzschnitte. Im Jahr 1526 veröf-
fentlicht Holbein eine Serie von 41 Holzschnitten, auf welchen zu sehen ist, wie ein
skelettierter Sensenmann Bürger aus allen Gesellschaftsschichten in ihr Grab gelei-
tet. Jawohl, Sie haben es erfasst, es ist eine Neuauflage des alten Themas des Danse
macabre. Holbeins Totentanz ist jedoch beileibe nicht das, was man heutzutage ein
Remake nennen würde, sondern vielmehr eine Variation des alten Themas, welche bis
ins Zeitalter des Horrorfilms Bestand hat und dort auch munter Verwendung findet.
Der bekannteste von Holbein inspirierte Film ist wohl Ingmar Bergmans Det sjunde
inseglet (1957), aber auch vor Fantasy wie Clash of the Titans (1981) oder Komödi-
en wie Monty Python’s The Meaning of Life (1983) macht Holbeins Einfluss nicht halt.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hält die Darstellung von Gewalt Einzug auf Eng-
lands Bühnen. Die Zeit blutrünstiger Spektakel ist angebrochen, Intrigen, Morde, Hin-
richtungen und sonstige Gewalttaten werden auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“

37
Das Dokument des Grauens

regelrecht zelebriert. Den Anfang macht anno 1585 Thomas Kyds The Spanish Trage-
dy, zwei Jahre später von Tamburlaine gefolgt, aus der Feder des berühmten Dichters
Christopher Marlowe stammend, welcher im Jahre 1604 seinen Dr. Faustus nachreicht.
Doch der wahre König dieses bluttriefenden Metiers betrat parallel zu Marlowe das
Rampenlicht: William Shakespeare, mit seiner Veröffentlichung von Titus Andronicus
(1594), gefolgt von Hamlet (1600) und Macbeth (1605), welcher den Höhepunkt der
Metzelphase des Theaters jener Tage darstellt. Diese Phase klang danach wieder recht
schnell ab und die Darstellung des Todes und des Sterbens an sich verschwand nach
John Websters The Duchess of Malfi (1617) wieder aus dem Interessenbereich des
Publikums.
Wichtig für das Genre des Horrors ist eines der beteiligten Werke von Christopher
Marlowe. The Tragical History of the Life and Death of Doctor Faustus, eingangs
und von nun an wieder lapidar als „Dr. Faustus“ betitelt, beruht in der zweiten Gene-
ration auf einer deutschsprachigen Erzählung, welche Marlowe aufschnappte und in
Form eines Dramas niederschrieb. Die deutsche Vorlage war das nach dem Verleger
Johann Spies benannte Spiessche Faustbuch, dessen vollständiger Titel Historia von
Dr. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwartzkünstler lautet und
welches im Jahr 1587 veröffentlicht wurde. Dieses diente prompt als Vorlage für das
englische Faustbuch mit dem nicht minder langen Titel The Historie of the Damnable
Life and Deserved Death of Doctor John Faustus, veröffentlicht im Jahr 1594. Chri-
stopher Marlowes großartiger Verdienst ist, diesen Stoff auf die Bühne gebracht zu
haben. Der Gedanke ist wohl nicht allzu weit hergeholt, dass man ihn Anbetracht der
Tatsache, dass es sich um die erste große Inszenierung eines Stoffes aus dem Bereich
des Horrors handelt, als einen geistigen Urahn des Horrorkinos bezeichnen könnte.
Die Bedeutung des Stoffes für den fantastischen Film ist sehr hoch, sowohl für den
Horror als auch die Science Fiction. Faustus verscherbelt seine Seele an den Teufel,
um hierdurch sein Wissen zu vermehren. Wir haben hier den Prototyp des verrückten
Wissenschaftlers, der den fantastischen Film in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
derart heftig heimsuchte, dass er bereits als klassisches Klischee sowohl des Horrors
als auch der Science-Fiction gilt und welcher auch noch heute immer wieder die Dreh-
buchautoren beschäftigt, wenn auch nicht mehr ganz so massiv wie zu den Zeiten des
Schwarz-Weiß-Films.

Es war die Neujahrsnacht des Jahres 1610, als mehrere Männer unbemerkt durch
die schweren Tore des ungarischen Schlosses Čachtice schlichen. Auf den Trupp, be-
stehend aus dem Premierminister des Landes, dem Gouverneur, einem Priester und ei-
nigen Polizisten und Soldaten, wartete Schreckliches. In der großen Halle des Schlos-
ses fanden Sie eine junge Frau vor, deren nackter Körper keinen einzigen Tropfen Blut
mehr zu enthalten schien. Kurz hinter ihr lag ein weiteres Mädchen, noch lebend, aber
mit zerschnittenen Brüsten und bewusstlos wegen der Schmerzen und des massiven
Blutverlustes. Einige Meter weiter befand sich eine weitere junge Frau, angekettet an
eine Säule, zu Tode gepeitscht und verbrannt. Eilig in den Kerker des Schlosses vor-
gedrungen, fanden die Retter dort noch mehrere Dutzend kleine Mädchen und junge

38
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Frauen vor. Vielen von ihnen war bereits Blut abgezapft worden. Einige andere waren
bei guter Gesundheit und unverletzt, aber monatelang gemästet worden, als Vorberei-
tung auf ihre Schlachtung. Im Obergeschoss des Schlosses befand sich der Festsaal
und dort fanden der Premier und seine Mannen die sturzbetrunkene Herrin des Hau-
ses, ihre Gäste sowie die Überreste einer blutigen Orgie vor. Der Name der blutigen
Gräfin lautete Elisabeth Báthory.

Die 1560 geborene Elisabeth wuchs


in einer Ära auf, in welcher ihre Heimat
Ungarn ewiger Streitpunkt zwischen den
Österreichern, Ottomanen und Türken
war. Wie schon bei Gilles de Rais und
Vlad Ţepeş verlief ihre Jugend nicht son-
derlich friedlich, was wohl den Grund-
stein für ihre spätere Entwicklung legte.
So ist beispielsweise überliefert, dass sie
als Kind Zeuge der Hinrichtung eines Zi-
geuners beiwohnte, in welcher das Opfer
in den Bauch seines frisch getöteten Pfer-
des eingenäht wurde. Doch die Weichen
für eine rosigere Zukunft wurden be-
reits früh gestellt. Elisabeth stammte aus
einer traditionsreichen, adligen Familie.
Ihre Eltern gehörten zu den an Geld
und Einfluss reichsten Familien des Lan-
des. 1971 wurde ihr Cousin Sigismund
Báthory zum König von Transsylvanien
gekrönt, was Elisabeths zukünftige ge-
sellschaftliche Stellung sicherte. Elisa- Abbildung 2.12: Elisabeth Báthory, Por-
beth selbst war bereits als Kind durch ih- trait aus dem Jahr 1596
re außergewöhnliche Schönheit berühmt,
ihr glänzendes, schwarzes Haar, die durchdringenden Augen, die blasse Haut und sinn-
lichen Lippen waren sagenumwoben. Doch mit dem Namen Báthory ging auch ein
Hauch des Schreckens umher. Vor allem Sigismund war durch seine Unberechenbar-
keit und Ausbrüche gröbster Brutalität berüchtigt und auch die Ahnen Elisabeths blie-
ben vornehmlich durch ihre engen Verbindungen zu Vlad Ţepeş sowie Korruption und
Rücksichtslosigkeit in Erinnerung.
Im Alter von 15 Jahren wurde Elisabeth verheiratet. Ihr Gemahl war der Graf Fe-
rencz Nádasdy, die Motive der Hochzeit rein politischer Natur. Die Linie der Familie
Nádasdy war vor allem durch die aus ihr vorhergegangenen großen Krieger bekannt so-
wie ihrer harten Hand gegenüber ihren Untergebenen. Wer das Pech hatte, die Nádas-
dys als Herren zu haben, brauchte nicht auf gute Bezahlung oder gar Belohnungen zu
hoffen. Peitsche und Kerker wurden weitaus häufiger vergeben. Doch gegen den un-

39
Das Dokument des Grauens

geheuren Einfluss der Báthorys waren sie kleine Lichter, was sich auch darin äußert,
dass im Gegensatz zu allen geltenden Gepflogenheiten Ferencz Nádasdy bei seiner
Hochzeit den Nachnamen seiner jungen Frau annahm.
Elisabeth war von ihrem Gatten durchaus begeistert. Er faszinierte sie mit seinen
geheimen Leidenschaften des Okkulten. Und vielleicht wäre Elisabeth nur zu einer
exzentrischen, Hühner schlachtenden, adligen Hexe geworden, wäre sie mit all diesen
Eindrücken letzten Endes nicht völlig alleine gewesen. Ferencz war nämlich, wie die
meisten Männer der Region in jenen Tagen, nicht nur ein Graf, sondern auch Soldat.
Und hier auch ein besonders guter Krieger, man nannte ihn den „schwarzen Helden“.
Dementsprechend war Ferencz oftmals monatelang nicht zuhause und Elisabeth allei-
nige Herrin des Schlosses, somit alleinige Herrin über das Dienstpersonal und dazu
kommt noch, dass es zu Elisabeths Zeit gang und gäbe war, die Bediensteten mit äu-
ßerster Strenge zu behandeln. Bei diesen Voraussetzungen war es wohl nur eine Frage
der Zeit, bis der Lauf der Dinge außer Kontrolle geriet.
Elisabeth Báthory wurde gegenüber den Untergebenen nicht nur zunehmend stren-
ger, sondern auch brutal. Bereits kleine Fehler wurden mit der Peitsche bestraft. Und
es machte Elisabeth zunehmend immer mehr Spaß, ihre Opfer zu peinigen. Die La-
ge spitzte sich zu, als Elisabeth begann, nach Gründen für Bestrafungen regelrecht
zu suchen. Es reichte aus, ihr über den Weg zu laufen, um mit Zangen und anderen
Folterinstrumenten gequält zu werden.
Eine weitere Stilblüte der zunehmend gelangweilten und frustrierten Herrscherin
war ihr immer stärkerer Drang nach den dunklen Geheimnissen der Schwarzen Magie
und Hexerei. Ihre treueste Bedienstete und Handlangerin seit frühesten Kindheitsta-
gen, Ilona Jó, wurde ausgeschickt, um die berühmtesten Zauberer, Alchemisten und
Kreaturen der Nacht des ganzen Landes ins Schloss Čachtice zu bringen. Und sie
kamen, und noch viel mehr. Zu ihren ständigen Gästen gehörten des weiteren noch
schwarze Priester, Folterknechte und auch Verrückte bis hin zu selbst ernannten Wer-
wölfen.
Eines Tages im Jahre 1599 prügelte Elisabeth ein Dienstmädchen. Hierbei schlug
sie der armen Seele derart fest auf die Nase, dass das Blut bis auf Elisabeths Arme
und Gesicht spritzte. Als sie sich das Blut abwusch, war sie der festen Überzeugung,
dass ihre Haut an jenen Stellen, an welchen sie durch das Blut benetzt worden war,
verjüngt worden sei. Sie hatte ihr Elixier der ewigen Jugend gefunden und die nächsten
sechs Jahre sollte sie mit der Jagd nach dem Blut von Mädchen und jungen Frauen
verbringen.
Dies alles war nur möglich, weil ihr Gatte sie hierbei deckte. Doch auch nach
dessen Tod im Jahr 1604 lief Elisabeth, inzwischen Mutter dreier Söhne, keineswegs
Gefahr, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ihr Cousin György Báthory war zum
Premierminister des Landes aufgestiegen und ihr illustres Treiben keineswegs gefähr-
det.
Aber der Name der Elisabeth Báthory wurde nach dem Tod ihres Gatten, welcher
an den Folgen einer Verletzung starb, endgültig zum Inbegriff des Schreckens. Die Be-
wohner der Landstriche im Umkreis von Schloss Čachtice waren nicht mehr vor ihr

40
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

sicher. Die Legende erzählt, dass sich die Bewohner und Passanten des Nachts stets
in ihren Häusern einschlossen oder sich in der freien Natur versteckten, während aus
den Mauern des Schlosses die dumpfen Schreie der Sterbenden und Gefolterten dran-
gen und eine von schwarzen Hengsten gezogene schwarze Kutsche auf die Suche nach
Nachschub für jene Wanne ging, in welcher Elisabeth im unverdünnten Jungfrauenblut
badete. Dieser Zustand dauerte etwas über 10 Jahre an und dank ihres Cousins György
ließ man sie von staatlicher Seite gewähren. Und gemäß den (natürlich von Männerfan-
tasien angereicherten) Schauergeschichten, welche man sich nach ihrem Tod erzählte,
tat Elisabeth für den Erhalt ihrer Schönheit alles. So wurden die angeketteten Opfer vor
ihrem Tod angeblich erst zwangsgemästet, da Elisabeth sich sicher war, dass das Blut
eine höhere Qualität besäße, wenn die Mädchen plump und fett seien. Auch dürfe ihre
Haut möglichst nur mit weichsten Stoffen in Berührung kommen, wenn überhaupt. So
waren ihr selbst Handtücher ein Gräuel, da sie glaubte, dass ein Abreiben die Haut
schädigen würde. Aus diesem Grund mussten nach einem erfolgten Bade einige ihrer
gefangenen Mädchen antreten, um das Blut vollständig von ihrem Körper zu lecken.
Wer sich weigerte oder nicht zufriedenstellend verfuhr, wurde umgehend zu Tode ge-
foltert. Beliebte Praktiken der Folter war beispielsweise das Anketten der Opfer an die
Wand oder einen Tisch, während in Öl getränkte Sterne zwischen die Beine der Mäd-
chen gelegt und angezündet wurden. Die Beine selbst wurden von den Fesseln gelöst,
sodass sich Elisabeth daran erfreuen konnte, wie die Gequälten erfolglos versuchten,
die Flammen mit ihren Füßen und Schenkeln zu löschen. Im Winter praktizierte Elisa-
beth des Öfteren, dass ein Mädchen nackt ausgezogen und ins Freie gebracht wurde.
Unter den Blicken Elisabeths und ihrer Gäste wurde das Mädchen dann mit Wasser
überschüttet und erfror langsam. Die gebräuchlichste Form der Folter waren nach wie
vor jedoch das Herausreißen von Fleisch mit glühenden Zangen, Auspeitschungen und
ähnliche Grausamkeiten, welche die Opfer in der Regel mit dem Leben bezahlten. Und
während dieser Jahre des Terrors schaffte es kein einziges Mädchen, aus dem Schloss
der Báthory zu entkommen - eine weitere Rückversicherung Elisabeths, denn wäre ein
Zeugenbericht über das Treiben innerhalb des Schlosses nach außen gedrungen, hätte
sie die Rückendeckung Györgys nicht so lange in Anspruch nehmen können.
Die ganze Angelegenheit begann zu eskalieren, als Elisabeth feststellte, dass das
Baden in Blut nicht den erhofften Erfolg brachte. Eine ihrer Zauberinnen, Erzsi Majo-
rova, überzeugte Elisabeth, dass ihr nur das Blut von Mädchen adliger Abstammung
helfen könne. Dementsprechend verschwanden auch zunehmend Kinder von Famili-
en, welche der Sache nicht ganz so hilflos wie die Bauern in der Nachbarschaft des
Schlosses gegenüberstanden. Auch entstanden zunehmend die Legenden um die Be-
wohner von Schloss Čachtice. Es hieß, dass dort eine Horde Vampire hausen würde,
welche des Nachts auf Beutefang gingen.
Die Sache flog endgültig auf, als Elisabeth den lutheranischen Pastor von Čachtice
namens Andras Berthoni anwies, unter strengster Geheimhaltung mehrere Mädchen-
leichen zu begraben. Berthoni starb kurz darauf, doch er hatte seine Verdächtigungen
gegenüber Elisabeth Báthory niedergeschrieben. Sein Nachfolger Janos Ponikenusz
überbrachte Berthonis Ausführungen dem König Matthias II., welcher aufgrund der

41
Das Dokument des Grauens

sowieso schon verbreiteten Gerüchte wiederum den aktuellen Premierminister György


Thurzó mit Ermittlungen beauftragte, und die nächtliche Aktion des Jahres 1610 fand
statt.
Elisabeth wurde der Prozess gemacht. Sie selbst nahm an diesem Prozess nicht teil.
Elisabeth selbst wurde aufgrund ihres kriminellen Verhaltens der Prozess gemacht, ih-
re Anhänger sahen sich dem Vorwurf des Vampirismus, der Schwarzen Magie und der
Hexerei ausgesetzt. De Mitglieder der illustren Schar wurden enthauptet, mit Ausnah-
me von Dorottya Szentes, János Újváry und Ilona Jó. Diesen Dreien wurden erst die
Fingernägel ausgerissen, im Anschluss führte man sie auf den Scheiterhaufen. Elisa-
beth selbst wurde im Schloss Cesjthe lebendig eingemauert. Man ließ nur einen schma-
len Spalt offen, durch welchen ihr die Wachen das Essen reichen konnten. In diesem
Gefängnis lebte Elisabeth noch vier Jahre, bis sie 1614 starb.
Die Unterlagen des Prozesses wurden unter Verschluss genommen, bis sie nach
mehr als hundert Jahren wieder zur Einsicht freigegeben wurden. In den 10 Jahren
ihrer Schreckensherrschaft ließ Elisabeth Báthory gemäß Schätzungen während des
Prozesses insgesamt fast 650 Mädchen töten und wäre somit verantwortlich für einen
der schlimmsten Serienmorde der Geschichte. Ihre Bedeutung für die Welt des Horrors
ist immens, was angesichts des realen Schreckens, welchen sie verbreitete, auch nicht
weiter verwundert. Elisabeth ist eine der Leitfiguren diverser Vampir-, Werwolf- und
Hexenkulte. Etliche Elemente aus Bram Stokers Dracula-Mythos sind direkt von ihr
abgeleitet, zum Beispiel das Schloss und natürlich auch die nachts durch die Gegend
fahrende unheilvolle Kutsche. Der wichtigste Aspekt ihrer Existenz für das Horror-
genre ist jedoch ihre Eigenschaft als die Hexe schlechthin. Der Schatten der Báthory
erstreckt sich über äußerst viele Filme, darunter Mario Bavas Meisterwerk La ma-
schera del demonio (1960) ebenso wie The Blair Witch Project (1999).

Das Jahr 1667 brachte der Welt der Literatur ein Werk, welches sich zu einem
der gewichtigsten literarischen Werke der englischen Literaturgeschichte mauserte:
Paradise Lost von John Milton. Dieses epische Gedicht, welches der mittlerweile
erblindete Milton seinen Töchtern zur Niederschrift diktierte, beinhaltet eine explizi-
te Schilderung Satans - gewissermaßen stellt Paradise Lost für uns eine konsequente
Weiterentwicklung der Motive aus Dante Alighieris La comedia dar. Milton schildert
in seinem Epos den Werdegang Luzifers. Der Versuch des Erzengels, im Himmel eine
Revolution gegen Gott zu veranstalten, endet in einer Niederlage. Die Verbannung aus
dem Paradies ist die unausweichliche Folge und was folgt, sind herrlich tiefschürfende
Charakterisierungen Luzifers, welcher sich zu Satan wandelt und der gefallenen En-
gel, welche die Landschaften der Hölle heimsuchen. Miltons Werk nahm tiefgreifende
Änderungen an dem mysteriös-verklärten Bild des Herrn der Hölle vor, verlieh ihm
einen Geist, schilderte ihn als ein Wesen voller innerer Konflikte und machte diese
Gestalt hierdurch für die Menschen fassbarer. Das Werk war eine wichtige Vorarbeit
für die Welt des fiktionalen Horrors, die gerade im Genre des Films eine Grundlage
für die visuelle Darstellung von Teufeln und Dämonen benötigte.

42
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Es war am 21. Oktober 1638, als sich in dem im englischen Dartmoor gelegen
Örtchen Widecomb-in-the-Moor ein Vorfall ereignete, welcher illustriert, wie leicht
Unerklärliches sich in eine Horrorgeschichte verwandeln kann. Es war Sonntag und
etwa 300 Einwohner des Ortes und Gäste nahmen gerade in der Kirche am Nachmit-
tagsgottesdienst teil, als der große Gewittersturm aufzog. Der Himmel verdunkelte
sich, so sehr dass die Menschen in der Kirche dies bemerkten, und plötzlich ertönte
ein lautes Krachen. Eine „große Kugel aus Feuer“ brach durch ein Fenster hindurch in
die Kirche ein und zertrümmerte einen Teil des Kirchendaches. Die Frau des Priesters
George Lyde, welche zum Zeitpunkt neben ihrem Gatten stand, ging in Flammen auf
und zog sich schwere Verbrennungen zu; der Priester selbst blieb völlig unversehrt.
Der Hasenzüchter Robert Mead kam zu Tode, als er durch die Luft geschleudert und
sein Kopf mit solcher Wucht an eine Säule geschlagen wurde, dass aus der Säule ein
kleines Stück Stein absplitterte und sich sein Gehirn über den Boden verteilte. Es wird
auch von einem weiteren Mann berichtet, welcher aus der Kirchenbank gehoben und
an eine Wand geschleudert wurde, sodass er noch am gleichen Abend verstarb, wäh-
rend seinem direkt neben ihm sitzenden Sohn nichts passierte. Es gab vier Tote und
etwa sechzig Verletzte.
Die Legende erzählt, dass der Teu-
fel einen Pakt mit einem lokalen Karten-
spieler namens Jan Reynolds geschlos-
sen habe. Sollte der Teufel ihn schlafend
in einer Kirche erwischen, könne er seine
Seele haben. Und genau dies sei an die-
sem Tage passiert. Der Teufel sei auf sei-
nem Weg im Tavistock Inn im nahe gele-
genen Poundsgate vorbeigekommen, wo
er nach dem Weg fragte und einen Krug
Ale zu sich nahm. Es habe laut gezischt,
als das Ale seine Kehle hinunter rann. Er
stellte den Krug zurück auf den Tresen,
wo er eine verkohlte Stelle hinterließ,
legte einige Münzen hinzu und zog von
dannen. Die Wirtin sah dem schwarz ge-
kleideten Fremden hinterher, als sie be- Abbildung 2.13: Kirche und Pfarrhaus von
merkte, dass er Hufe anstelle von Füßen Widecomb-in-the-Moor, Zeichnung von
hatte. Als sie sich den Münzen zuwand- http://www.widecombe-in-the-moor.com
te, hatten sich diese in trockene Blätter
verwandelt. Den Tavistock Inn gibt es übrigens heute noch; die Sage ist dort auf ei-
ner Tafel niedergeschrieben und auch den Brandfleck auf dem Tresen kann man sich
zeigen lassen.
Der Teufel traf in Widecomb ein und holte sich den Schlafenden. Er packte Rey-
nolds auf sein Pferd und erhob sich mit ihm in die Lüfte; dabei fiel Reynolds sein
Päckchen mit Karten aus der Hand und die vier Asse landeten auf den Wiesen, wo

43
Das Dokument des Grauens

man noch heute vom Warren House Inn aus ihre Abdrücke als Einfassungen von vier
Feldern sehen kann.
Man geht heute davon aus, dass es sich bei der Feuerkugel um einen der ältesten
Berichte über einen Kugelblitz handelt. Aber wen interessiert die wissenschaftliche
Wahrheit, wenn wir der Folklore eine wetterbedingte Gruselgeschichte verdanken, de-
ren Zeichen noch bis heute besichtigt werden können? Die Geschichte sorgte in Eng-
land für sehr viel Aufsehen und ist nicht unbedingt die Vorlage für die zahllosen gruse-
ligen Filmszenen, in welchen ein Gewitter um furchterregende alte Gemäuer tobt, aber
sie liefert uns einen Bezug zu realen Geschehnissen mit einer unübersehbaren Verbin-
dung zwischen Horror und Religion. Aber vor allem handelt es sich hierbei um eine
waschechte Mystery-Geschichte, die horrorlastigen TV-Serien wie The X-Files (1993)
entsprungen sein könnte.

Die Hexenproblematik bestand im 17. Jahrhundert noch immer und lief zu jener
Zeit gerade auf Hochtouren. Wenngleich die Hexenprozesse Europas dieser Ära vor-
nehmlich aufgrund ihrer unübertroffenen Grausamkeit in Erinnerung blieben, sollte
dies auf den wohl bekanntesten Fall der Hexenhysterie nicht zutreffen. Fernab von
Europa, genauer gesagt in Massachusetts, USA liegt ein kleines Städtchen namens Sa-
lem. Dort errichtete man im Jahr 1992 eine Gedenkstätte, welche an jene tragischen
Vorgänge erinnern soll, die am 20. Januar 1692 ihren Anfang nahmen und in den He-
xenprozessen von Salem endeten.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war Salem eine kleine Gemeinde, deren Einwoh-
ner ein absolut puritanisches, streng religiöses Dasein führten. Die Religion beherrsch-
te alles - den Alltag, das Denken, das Leben. Der religiöse Fanatismus ging so weit,
dass jedes noch so kleine Detail des Alltags vorgeschrieben war. Es handelte sich vor
allem um Verbote. So war es beispielsweise den Frauen verboten, in anderen Büchern
als der Bibel zu lesen oder modische Kleidung zu tragen, was durchaus dem generel-
len Glaubensschema der Puritaner in Neuengland entsprach. In dieser Welt gab es auch
praktisch keine Jugendzeit; anfangs war man ein Kind und wurde dann übergangslos
zum Erwachsenen, dazwischen gab es nichts. Im Alter von 14 Jahren sah man sich den
Pflichten eines Erwachsenen ausgesetzt, mit 16 konnte man zum Wehrdienst eingezo-
gen werden und unterlag der uneingeschränkten Gerichtsbarkeit des Staates. Auf der
anderen Seite war es jedoch nicht gestattet, zu heiraten - Mädchen war dies erst im Al-
ter von 22 Jahren erlaubt, Männer mussten mindestens 27 Jahre alt sein. Die puritani-
sche Gemeinschaft war zwar sehr gläubig, aber die lange Zeit zwischen der Erlangung
der Pflichten eines Erwachsenen im zarten Alter von 14 Jahren und die erst acht bzw.
dreizehn Jahre später einsetzende Erlangung der vollen Rechte eines solchen, konnte
leicht zur schwersten Zeit im Leben eines Menschen werden. Natürlich beklagte sich
deshalb niemand ernsthaft, denn die Erziehung war logischerweise dementsprechend
religiös ausgelegt. Salem war schlichtweg ein sehr frommes Örtchen, und niemand
hätte gedacht, dass diese Hochburg des Glaubens, die nicht ohne Grund als Namen
eine Abwandlung von Jerusalem trug, sich als Brutstätte des Schreckens entpuppen
würde.

44
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Das geistige Oberhaupt Salems, Reverend Samuel Parris, hielt sich eine Sklavin
aus dem karibischen Raum. Tituba lautete ihr Name. Tituba war, ihrer Herkunft ent-
sprechend, eng mit dem Glauben und den religiösen Praktiken ihrer Heimatregion ver-
bunden, welche im abendländischen Weltbild in der Regel als Aberglauben, wenn nicht
gar als Schwarze Magie angesehen wurden. Als Sklavin des Priesters - was uns heut-
zutage als recht perverser Gedanke erscheint - war sie mehr oder weniger im ganzen
Ort bekannt und mit Sicherheit gehörte ihr aufgrund ihrer Fremdartigkeit auch die
ständige Aufmerksamkeit der jüngeren Schäfchen ihres Herrn und es ist nicht auszu-
schließen, dass ihre Präsenz und ihre Lebensweise zusammen mit den strengen reli-
giösen Restriktionen, welche die jungen Mädchen des Dorfes einengte, den Anstoß
für die mysteriösen Vorgänge lieferten, welche am 20. Januar 1692 einsetzten. An je-
nem schicksalhaften Tag begannen die neunjährige Elizabeth Parris, die Tochter des
Reverends, welche sich zwangsläufig ständig im Kontakt mit Tituba befand, und ihre
elfjährige Freundin Abigail Williams damit, ein eigenartiges Verhalten an den Tag zu
legen. Mal schienen sie sich in Trance zu befinden, mal ergaben sie sich in konvulsivi-
schen Zuckungen, dann wieder in blasphemischem Geschrei.
Es dauerte nicht lange und den beiden Mädchen gehörte bald die ungeteilte Auf-
merksamkeit des Dorfes. Die beiden waren in Wirklichkeit kerngesund, es ging ihnen
bestens. Die Aufmerksamkeit, die sie wollten, hatten sie jetzt und es schien ihnen
gut zu gefallen, jedenfalls dachten sie offensichtlich nicht im Traum daran, ihr ver-
meintlich harmloses Spiel abzubrechen, nur um dann wieder ihr häusliches Leben
voller Restriktionen weiterleben zu müssen. Das eigenartige Verhalten der Mädchen
trat auch keineswegs ständig oder auch nur regelmäßig auf, sondern meist dann, wenn
sich ihnen die Möglichkeit bot, zum Mittelpunkt des Interesses zu werden. Die leicht-
gläubigen Erwachsenen waren anfangs verwundert, späterhin entsetzt. Es musste sich
um eine Krankheit handeln. Dass es sich vielmehr um Schauspiel handeln könne, kam
niemandem in den Sinn, denn schließlich würde dies der religiösen Überzeugung die-
ser Menschen und auch der Erziehung der Mädchen zutiefst widersprechen, was auch
gerade hinsichtlich der Tatsache, dass die Tochter des ehrenwerten Priesters betrof-
fen war, als absolut unmöglich erschien. So waren die Einwohner des Dorfes in ihrer
Naivität dazu verurteilt, ohnmächtig dem Treiben der beiden Mädchen zuzusehen.
Doch schon nach kurzer Zeit waren Elizabeth und Abigail nicht mehr die Einzigen,
die von der vermeintlichen Seuche befallen waren. Schnell breitete sich das Treiben
auch auf ihre Freundinnen aus. Nach etwa drei Wochen war ein Großteil der Mäd-
chen zwischen neun und zwanzig Jahren „infiziert“ und der Ort stand Kopf. Mitte
Februar war es dann schließlich soweit, die Mediziner kapitulierten. Da keine körper-
lichen Leiden entdeckt werden konnten, diagnostizierte man zwangsläufig, dass sich
die Mädchen unter dem Einfluss Satans befänden.
Reverend Parris versuchte sich daraufhin als Teufelsaustreiber. Die Mädchen wur-
den mit Gebeten eingedeckt, ja es wurde sogar ein Hexenkuchen gebacken, in welchem
als Zutat auch der Urin der besessenen Mädchen Verwendung fand, um hierdurch zu
erfahren, wer die verantwortliche Hexe sei. Die Mädchen hatten nun mehr Aufmerk-
samkeit, als ihnen wohl lieb war, doch sie befanden sich auch in einer Zwickmühle.

45
Das Dokument des Grauens

Jetzt einfach mit dem Ganzen aufzuhören hieße, sich den Zorn des Ortes zuzuziehen.
Dementsprechend machte man weiter und wand sich weiter in Krämpfen auf dem Bo-
den, sobald dies als erforderlich erschien. Doch der Druck auf die Mädchen erwies sich
gegen Ende Februar als zu stark. Man presste letztendlich drei Namen aus ihnen her-
aus. Die Beschuldigten waren Tituba, Sarah Good und Sarah Osbourne, alles Frauen,
die sich am gesellschaftlichen Rand Salems bewegten und den Mädchen wahrschein-
lich als nicht ganz geheuer erschienen.
Am 29. Februar wurden die Haftbefehle gegen die drei Frauen erlassen. Sarah
Good und Sarah Osbourne leugneten natürlich, Hexen zu sein. Tituba hingegen erwies
sich als gefundenes Fressen, sagte die im Zeichen des Okkulten aufgewachsene Frau
doch tatsächlich aus, der Teufel sei ihr bereits mehrfach erschienen und dass in Salem
das Böse am Werk sei. Am 1. März folgte eine Anhörung der drei Beklagten und auch
hier goss Tituba wieder Wasser auf die Mühlen, bekannte sie sich doch umgehend
dazu, eine Hexe zu sein und regelmäßig Dinge wie die Hellseherei zu betreiben. Fatal
war vor allem ihre Aussage, es befänden sich noch weitere Hexen unerkannt unter den
Einwohnern Salems.
Dies war der endgültige Startschuss zu einer heftigen Massenhysterie. Eine Viel-
zahl von Leuten behauptete, mysteriöse Erscheinungen gesehen zu haben. Die Leute
begannen dementsprechend, sich gegenseitig der Hexerei zu bezichtigen, und auch hier
waren die Genannten vornehmlich Frauen, welche am Rande der Gemeinschaft lebten
und nicht in jenem Maße am alltäglichen Leben in Salem teilnahmen, wie man es von
einer guten Christin erwartete, und sei es nur, weil die Betreffende hierzu aufgrund
Armut oder Krankheit nicht in der Lage war. Der übliche Fall von Nachbarn, welche
sich misstrauisch beäugen, stets auf der Hut vor der potenziellen Hexe, welche neben-
an wohnt. Doch auch angesehene Bürger blieben nicht verschont und aus den Reihen
der Mädchen erklangen zunehmend die Namen derer, welche ihrer angeblichen Be-
sessenheit und dem ganzen Hexentreiben kritisch gegenüberstanden. Auf eine fatale
Weise ergab sich hier innerhalb weniger Wochen ein Zustand, welcher mit den Folgen
der päpstlichen Doktrin in Europa frappante Ähnlichkeiten aufweist: Beschuldigun-
gen reichten für Festnahmen aus, persönliche Abneigungen und Intoleranz sorgten für
steten Nachschub an Opfern und wer nicht an das Hexentreiben glauben wollte, wurde
selbst der Hexerei bezichtigt.

Martha Corey wurde am 12. März der Hexerei angeklagt. Acht weitere Anklagen
folgten bis zum 19. April, darunter mit John Proctor der erste Mann. Mittlerweile hiel-
ten die Mädchen ihre Geschichte bereits drei Monate aufrecht und mit Sicherheit war
inzwischen auch jener Punkt erreicht, ab welchem sie ihre Lügenmärchen als Wahrheit
empfanden. Die Vorgänge waren jedenfalls nicht mehr zu bremsen, ja man wollte sie
vielleicht sogar nicht mehr aufhalten. Man erwartete regelrecht, von Hexen umgeben
zu sein. Ein Indiz für diesen Wahn dürfte das Verhör von Sarah Churchill sein, welches
inmitten einer weiteren Verhaftungswelle am 9. Mai stattfand. Sarah Churchill war ei-
nes der vermeintlich besessenen Mädchen, welches den Kreis der Mädchen durchbrach
und uneingeschränkt zugab, dass alles ursprünglich nur eine Art Spiel war. Doch man

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2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Abbildung 2.14: Hexenverhör in Salem mit Nadelprobe, Gemälde von Tompkins Har-
rison Matteson aus dem Jahr 1853

schenkte ihr keinen Glauben, die anderen Mädchen schossen sich umgehend auf Sarah
ein und man ging davon aus, dass das Böse Sarah dazu verleitet, die Existenz der He-
xen abzustreiten. Der Fall Sarah Churchill endete damit, dass man erst zufrieden war,
als Sarah sich resignierend wieder in den Kreis der Mädchen einfügte und erneut die
Rolle eines vom Teufel besessenen Kindes zu spielen begann.
Am Tag nach der Anhörung Sarah Churchills starb Sarah Osbourne im Gefängnis
von Boston. Die Hexenhysterie hatte ihr erstes Opfer gefordert.

Der Gouverneur Sir William Phips rief am 27. Mai eine Jury aus sieben Richtern
zusammen, welche die geplanten Hexenprozesse leiten sollten. Als Basis zur Beurtei-
lung der Verdächtigen dienten Beweise in Form von Geständnissen, Hexenzeichen und
die Reaktionen der Mädchen während der Verhandlungen. Am 2. Juni setzte sich das
Gericht erstmals zusammen, befand die unglückliche Bridget Bishop der Hexerei für
schuldig und verurteilte sie zum Tode. Am 10. Juni war es dann soweit, Bridget Bi-
shop wurde öffentlich gehängt. Das beschauliche Städtchen war nach einem knappen
halben Jahr nicht wiederzuerkennen, der Ort Gottes hatte sich endgültig zu einer Stätte
des Todes verwandelt.
Nach Bridget Bishops Tod eskalierte der Hexenwahn erst recht. Inzwischen war es
soweit gekommen, dass die durch die Hinrichtung erneut aufgeblühte Opposition in
erster Linie damit beschäftigt war, die Unschuld einzelner Angeklagter zu beweisen

47
Das Dokument des Grauens

Abbildung 2.15: Die Grabplatte Bridget Bishops, Foto von megonagain, 2005
(http://travel.webshots.com)

und nicht, wie man vermuten könnte, eine breite Front gegen die Fanatiker des Dor-
fes zu bilden. Der Autor Richard Matheson stellte mit seinem in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts erschienenen Roman I am Legend die Frage, ob eine kleine Zahl
vernünftiger Personen unter einer Vielzahl von Wahnsinnigen wirklich noch das Maß
der Normalität repräsentieren oder nicht vielmehr die eigentlichen Verrückten in einer
Horde normaler Menschen seien. Aus einer ähnlichen Position heraus trat die Oppo-
sition Salems gegen die Hexenhysterie in ihrem Ort an und befand sich hierzu noch
nach wie vor in der ständigen Gefahr, selbst der Hexerei bezichtigt und zum Tod durch
den Strang verurteilt zu werden. Mitte Juli griff die Hexenjagd sogar noch auf den
Nachbarort Andover über, nachdem der aus Andover stammende Joseph Ballard um
die Unterstützung der Mädchen bat und diese prompt auch dort Hexen zu erkennen
behaupteten. Dass die Mädchen sich hier vom Regen in die Traufe begaben, fiel nie-
mand auf. Da die Mädchen die Leute aus dem Ort nicht kannten, konnten sie natürlich
auch keine Namen nennen, doch dies interessierte niemanden - man war mit vagen
Beschreibungen zufrieden genug, um aufgrund dieser die Menschen aus ihren Häu-
sern zu zerren. Die Hexenjagd war endgültig zu einem Selbstläufer geworden, welcher
die Beschuldigungen der Mädchen nicht mehr als Auslöser, sondern vielmehr noch als
Mittel zum Zweck dienten.
Am 19. Juli fand dementsprechend die Hinrichtung von Sarah Good und vier wei-
teren Frauen statt; am 19. August folgten weitere fünf Personen, darunter auch erst-

48
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

mals Männer. Mittlerweile war jedem der Angeklagten klar geworden, dass ein Pro-
zess keineswegs ihr Leben retten würde. Dies war bislang die feste Überzeugung der
gottesfürchtigen Seelen gewesen, doch inzwischen hatten sie das Vertrauen in die Ge-
rechtigkeit verloren. Im September verweigerte der Beklagte Giles Corey daher seine
Teilnahme an seinem Prozess, was eine vor dem Gericht stattfindende Beurteilung
durch die Mädchen natürlich unmöglich machte. Als Reaktion darauf wurde Giles Co-
rey durch eine große Last von Steinen zu Tode gedrückt. Am 23. September fanden
weitere acht Menschen den Tod durch den Strang.
Mittlerweile waren über neun Monate vergangen und es war keine Besserung der
Lage in Sicht. Doch am 8. Oktober nahte die Rettung in Form von Thomas Brattle, wel-
cher einen langen und überzeugenden Brief an Gouverneur Phips schrieb, in welchem
er die Form der Hexenprozesse heftigst kritisierte. Der Brief verfehlte seine Wirkung
nicht. Der Gouverneur verbot daraufhin, vor Gericht esoterische und nicht eindeutige
Beweise zuzulassen. Daraufhin brach natürlich die Beweisführung vollständig zusam-
men, denn sie baute unter anderem auch darauf auf, dass die Mädchen von irgendwel-
chen Spektralgeistern sprachen, die aus den Körpern der Angeklagten aufsteigen und
sie bedrohen würden. Da nun keine Verurteilungen mehr möglich waren, löste Phips
das Gericht am 29. Oktober auf. Der Oberste Gerichtshof der Kolonie, welcher eigens
für diesen Anlass am 25. November gegründet wurde, übernahm die Verhandlung der
letzten Fälle von Hexerei, doch es kam zu keinen Verurteilungen mehr. Im folgenden
Jahr kam es zu einem umfassenden Geständnis der Mädchen, denen mittlerweile wohl
klar geworden war, was sie angerichtet hatten.
Was als Trotzreaktion zweier kleiner Mädchen begonnen hatte, endete in einem
Blutbad, welches 20 unschuldigen Männern und Frauen das Leben kostete. Es gab auf
unserem Planeten noch nie irgendwelche Hexen - nur Personen, welche andere der
Hexerei beschuldigten. Die Hexenprozesse von Salem wurden zu einem mahnenden
Beispiel, welches zu den dunkelsten historischen Kapiteln in der Geschichte der Ver-
einigten Staaten zählt. Die Amerikaner lernten jedoch daraus und versuchten nicht, die
Vorfälle zu verheimlichen und den Mantel des Vergessens über sie auszubreiten, wie
es in Europa die katholische Kirche noch immer praktiziert.

Verlassen wir nun jene Epoche und begeben uns wieder auf unsere Zeitreise. Un-
ser nächster Zwischenstopp findet im Jahr 1714 statt, in einem kleinen Zimmer, in
welchem ein Dichter namens Thomas Parnell gerade sein Night-Piece on Death be-
endet. Parnell weiß noch nicht, dass dieses kurze Gedicht den Grundstein für einen
ganzen Literaturzweig legen wird. Zwar waren Dichter wie Dante Alighieri, John Mil-
ton und Christopher Marlowe in ihren Werken bereits mit den Gefilden des Horrors in
Berührung gekommen, doch waren diese Berührung stets eher zufällige Randerschei-
nungen und nicht beabsichtigt. Bislang hatte sich noch niemand mit dem konkreten
Gedanken hingesetzt, ein Stück zu schreiben, welches in erster Linie eine unheimli-
che Stimmung aufbauen sollte - zumindest ist uns heute kein solches Stück bekannt.
Dementsprechend kann man bei den Werken der klassischen Dichter auch kaum von
Horrorliteratur sprechen. Weshalb hätte man solche auch verfassen sollen? Die Mas-

49
Das Dokument des Grauens

se der Bürger hatte damals Horror genug, es bestand diesbezüglich kein Bedarf mehr.
Wenn mal kein Krieg tobte oder die Pest wütete und man sich entsprechend konform
verhielt, um auch den Kerker nicht fürchten zu müssen, hatte man meistens noch im-
mer ein Leben in Armut am Hals und verbrachte den Tag mit schwerer Arbeit. Diese
Menschen brauchten Geschichten, die ihnen Hoffnung und Freude brachten, keine Er-
zählungen, die ihnen vor Augen führten, wie miserabel ihr Leben war. Wer nicht dem
gewöhnlichen Volk angehörte, war Angehöriger des Adels oder des Klerus, und hier
bestand kaum Nachfrage an derart unpässlichen und damit unreligiösen oder gar blas-
phemischen Texten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts sah die Lage in England jedoch
anders aus. Die Kirche begann an Einfluss zu verlieren, man durfte sich jetzt auch
außerhalb von Klostermauern wissenschaftlich betätigen und Bildung war kein Luxus
mehr, welcher ausschließlich Menschen adliger oder klerikaler Abstammung gegönnt
war. Das System der zwei gesellschaftlichen Klassen bröckelte und eine intellektuelle
Mittelschicht hatte sich gebildet, welcher auch Thomas Parnell angehörte.
Mit A Night-Piece on Death, welches 1722 erstmals publiziert wurde, betrat Par-
nell ein literarisches Neuland und besang einen Friedhof, die Stätte des Todes. Andere
Autoren folgten diesem Beispiel und diese obskure Form der Poesie verzeichnete bald
viele Liebhaber. Man hielt sie natürlich oftmals für Spinner, diese Möchtegern-Poeten,
welche auf Fried- und Kirchhöfen lustwandelten und die Grabsteine besangen. Das
Hauptmerkmal ihrer melancholischen Poesie war, dass die den Tod und den Zerfall
repräsentierenden Objekte zu ästhetischen Werken voller Schönheit und unbändiger
Faszination stilisiert wurden. Sehr befremdlich, in der Tat. Parnell und seine Kollegen
wurden daher auch schnell als Friedhofspoeten bezeichnet, was sie natürlich von der
traditionellen Form der Prosa abgrenzte. Weitere wichtige Werke dieser neuen Gattung
der Dichtkunst sind Thomas Grays Elegy Written in a Country Churchyard (1752),
The Grave (1743) von Robert Blair und Thomas Warton des Jüngeren The Pleasures
of Melancholy (1747), neben einer Vielzahl von weiteren, allerdings unbedeutenderen
Autoren.

Auf welch fruchtbaren Boden die Werke der Friedhofspoeten fielen, wird offenbar,
wenn wir uns das anbrechende 18. Jahrhundert genauer ansehen. Anno 1701 bereiste
der Botaniker des Sonnenkönigs Louis XIV., Joseph Pitton de Tournefort, die öst-
lichen Mittelmeerländer auf der Suche nach Gewächsen für die königlichen Gärten.
Auf Mykonos wurde er Zeuge eines ungewöhnlichen Geschehens, welches er später
in seinem Reisebericht Relation d’un voyage au levant (1717) dokumentierte.
Es hieß, dass ein unter mysteriösen Umständen verstorbener Bauer des Nachts ge-
sehen worden sei, wie er zwischen den Häusern seines Heimatdorfes herumliefe. Dann
hieß es, er sei in Häuser eingedrungen und habe das Inventar verwüstet, er würde Leu-
te erschrecken und allerlei Schabernack treiben. Anfangs dienten diese Berichte vor-
nehmlich der Belustigung der Bevölkerung. Doch dies änderte sich schnell, als ange-
sehene Bürger die Geschichten einigen Priestern vortrugen. Diese ordneten umgehend
Messen an und begannen Gespräche mit der religiösen Oberschicht sowie den poli-
tischen und wirtschaftlichen Oberhäuptern. Bei diesen Konferenzen beschloss man,

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2. Eine kurze Reise durch die Zeit

dass aufgrund eines durch Tournefort nicht näher beschriebenen Brauches mit der Öff-
nung der Grabstätte des Bauern bis zum zehnten Tag nach seiner Beisetzung gewartet
werden müsse.
Am Stichtag der Grabesöffnung wurde eine Messe gelesen, damit der Dämon die
Grabstätte verlasse, welcher sich darin versteckt haben müsse. Nach der Messe wurde
die Leiche des Bauern ausgegraben, aufgebahrt und ein Fleischer schickte sich an, ihm
das Herz zu entnehmen.
Just in jenem Moment, als das Herz aus dem Körper entfernt wurde, begann der
Leichnam in einem nahezu unerträglichen Maße zu stinken, berichtete Tournefort. Als
Reaktion auf den ungeheuren Gestank zündeten die Priester große Mengen von stark
riechendem Räuchermaterial an, und zwar alles, was die kleine Kapelle an entspre-
chendem Rauchwerk hergab.
Das nützte der Überlieferung nach jedoch nicht viel. Im Gegenteil, es machte alles
nur noch schlimmer. Der Rauch vermischte sich mit den stinkenden Verwesungsgasen
und das Ergebnis dieses Gemenges zeigte umgehend Wirkung. Tournefort erzählte,
wie der alles umgebende Gestank den Anwesenden „das Hirn warm machte“, bis diese
zu halluzinieren und alle möglichen Erscheinungen zu sehen begannen.
Die Geschichte erscheint als durchaus absonderlich, nicht wahr? Völlig verständ-
lich, denn die Vorstellung einer nicht unerheblichen Anzahl von Menschen, welche
erst einer Leichenverstümmelung beiwohnen und dann völlig stoned in einer Kapelle
umherschwanken, ist in der Tat ziemlich ... skurril. Damals empfand jedoch niemand
die Geschehnisse als belustigend. Man war es nicht gewohnt, bekifft zu sein. Auch
dem Botaniker des französischen Königs waren solche Rauschwirkungen unbekannt.
Und da Priester anwesend waren und man in der Leiche des Bauern einen Dämon ver-
mutet hatte, lag der Schluss nahe, dass man diesen gerade in Aktion erlebt hatte. So
entstand auf Mykonos eine ausgeprägte Hysterie hinsichtlich wandelnder Leichname.
Ein derartiges regionales Spektakel alleine stellt normalerweise genauso wenig ein
historisches Ereignis von hoher Wichtigkeit dar, wie ein einzelner Baum gleich einen
ganzen Wald ausmacht. Daran ändert auch die Tatsache nur wenig, dass der Vorfall als
Inspiration für das Gedicht Thalaba, the Destroyer (1797) des Dichters Robert Southey
diente. Vielmehr sind die Vorfälle auf Mykonos der erste dokumentierte Fall über das
damals unerklärliche Auftreten Untoter. Und Derartiges sollte in den folgenden Jahr-
zehnten beileibe keine Ausnahme sein.

Im März des Jahres 1732 erreichte die Übersetzung eines Reports die Bürger Eng-
lands, welcher von der österreichischen Regierung in Auftrag gegeben und von dem
Feldarzt Johann Flückinger verfasst worden war und von grauenvollen Vorgängen
berichtete. Jene Vorgänge versetzen auch die Wissenschaftler noch heute ins Grübeln,
klingen sie doch wie ausgesprochen fantastische Hirngespinste - die Tatsache indes,
dass die Vorgänge von einer Reihe hochrangiger und vertrauenswürdiger Augenzeu-
gen bestätigt wurden, sorgte nicht nur für neue Schreckgespenster in den Albträumen
der Bevölkerung, sondern legte auch die Saat für einen der faszinierendsten Mythen
aus der Welt des Horrors.

51
Das Dokument des Grauens

In dem serbischen Ort Medvegya lebte einst ein österreichischer Heyduk namens
Arnold Paole. Ein Heyduk war im eigentlichen Sinne des Wortes ein Infanterist, ein
Fußsoldat. Die Bedeutung dieses Ausdrucks war jedoch von Region zu Region leicht
unterschiedlich, so könnte es sich bei Arnold Paole auch um einen Straßenräuber han-
deln, welcher einst Soldat gewesen war.
Eines Tages fiel Paole von einem Heuwagen und brach sich sein Genick. Paole
wurde daraufhin ganz normal bestattet.
Einige Zeit später erreichte die Regierung Österreichs, welches damals den Raum
Serbiens und der Walachei besetzt hielt, die Kunde von einer mysteriösen Massen-
hysterie. Der Hintergrund dieser Erscheinung sollte aufgeklärt werden, um festzustel-
len, ob darin eine potenzielle Gefährdung des nicht sonderlich stabilen Friedens auf
dem Balkan zu erkennen war. Dementsprechend rückten Ermittler aus Militärkreisen
in Medvegia ein und fanden einen Ort des Schreckens vor.
Die Einwohner lebten in Furcht. Es hieß, Arnold Paole sei aus dem Reich der Toten
zurückgekehrt. Mehrere Menschen wollten ihn gesehen haben, einige gaben sogar an,
von ihm belästigt worden zu sein. Auch hieß es, Paole habe Weidetiere gebissen und
ihr Blut getrunken. Johannes Flückinger verging jedoch das Schmunzeln, als plötzlich
vier dieser angeblich belästigten Leute starben. Um den Irrglauben von der Rückkehr
Paoles zu beenden, ließ Flückinger daraufhin 40 Tage nach Paoles Beerdigung dessen
Grab öffnen.
Arnold Paoles Leiche lag auch wie erwartet im Sarg. Doch für Flückinger und die
Dorfbewohner war der Albtraum damit noch nicht beendet, er begann jetzt erst richtig.
Im Sarg gab es keinerlei Verwesungsgeruch. Paoles Körper war sehr gut erhalten -
er sah nicht aus wie eine verwesende Leiche, sondern vielmehr wie ein Schlafender.
Seine Haare und Fingernägel waren weiterhin gewachsen und frisches Blut floss aus
seinen Nasenlöchern und Augenwinkeln. Die entsetzten Dorfbewohner drehten nun
völlig durch, nahmen einen Pflock und schlugen diesen durch Paoles Herz. Es heißt,
Paole habe in diesem Moment heftig gestöhnt und ein großer Schwall Blut soll sich
aus der Wunde ergossen haben.
Sein Körper wurde daraufhin verbrannt und die Asche vergraben. Um zu vermei-
den, dass seine vier Opfer ebenso wie er aus dem Reich der Toten in die Welt der Le-
benden zurückkehren, wurden auch ihre Leichen exhumiert, gepfählt und verbrannt.
Doch es war bereits zu spät. Im Laufe der nächsten drei Monate starben 17 weitere
Einwohner des Dorfes auf eigenartige Art und Weise, manche nach nur zwei Tagen
Krankheit. All diese Menschen hatten das Fleisch von Rindern gegessen, welche von
Paole angeblich gebissen worden waren.
Das Grauen erreichte seinen Höhepunkt, als die Tochter des Bürgermeisters sich
eines Nachts schlafen legte und mit Schmerzen im Brustkorb erwachte. Sie erzählte,
sie habe geträumt, dass einer der jüngst Verstorbenen sie in jener Nacht besucht habe.
Daraufhin ließ Flückinger alle 17 Gräber öffnen und seine Ängste bewahrheiteten sich:
Von den 17 Leichen waren 13 in exakt dem gleichen Zustand wie einst der Körper
Arnold Paoles - nicht nur gut erhalten, sondern absolut in Ordnung und voll frischen
Blutes.

52
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Diese Vorgänge sind mittlerweile in den Geschichtsbüchern mehr als nur gut ver-
steckt. Bekannt ist lediglich der Inhalt von Flückingers Berichterstattung. Dieser Re-
port brachte übrigens den Begriff des Vampyre erstmals nach England und die Ge-
schichte dieser vampirischen Massenhysterie entwickelte sich zu einem Bestseller, der
nicht nur von den Leuten regelrecht verschlungen wurde, sondern auch ihre Fantasie
beflügelte.
Es tauchte dann auch ein deutscher Bericht auf, welcher von einem Fall im slawi-
schen, damals ebenfalls serbischen Örtchen Kisilova zugetragen haben soll, allerdings
bereits im Jahr 1725, also etwa 5 Jahre vor dem Bekanntwerden des Falles des Arnold
Paole. Vom deutschen Militär bezeugt und nach dem Bekanntwerden durch den Bel-
grader Generalkommandanten Prinz Carl Alexander von Württemberg schnell zu den
Akten gelegt, wurde von dort der Fall des Peter Plogojowitz gemeldet, welcher nach
seinem eigenen Tod als Vampir auferstanden sein und bis zum Zeitpunkt der Pfäh-
lung weitere neun Menschen getötet haben soll. Die Schilderung des Zustands seines
Körpers nach der Öffnung des Grabes gleicht jener Flückingers in den wesentlichen
Punkten - allerdings soll Plogojowitz bei seiner Pfählung keine Lebenszeichen mehr
von sich gegeben haben, lediglich ein riesiger Schwall frischen Blutes habe sich aus
seinem Brustkorb über die Ausführenden ergossen.
Es muss jeder für sich entscheiden, inwieweit man die geschilderten Vorgänge ernst
nehmen möchte oder ob sie gänzlich ins Reich der Fantasie gehören. Der Wahrheits-
gehalt braucht uns in keiner Weise zu interessieren. Wichtig ist vor allem die Existenz
von Flückingers Bericht und seine Wirkung auf die Leser, Publizisten, Romanciers
und auch Wissenschaftler, die bis heute noch anhält. Oder jagt Ihnen die Vorstellung
dessen, was in dem kleinen Örtchen Medvegya geschehen sein soll, keinen Schauder
über den Rücken?

Zum Thema Vampirismus entstanden in jenen Tagen auch etliche mehr oder weni-
ger wissenschaftliche Abhandlungen, darunter auch Stilblüten wie die mit etwas Glück
noch auffindbare allererste Abhandlung zum Thema Vampirismus von Michael Ranfft
mit dem liebenswerten Titel Über das Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern
(1728). Ebenso wurde nach der Diskussion des Flückinger-Reports der Vampirismus
als real existierende, wenngleich auch weitgehend unbekannte Krankheit angesehen.
Erst 18 Jahre nach dem Flückinger-Report setzte der Benediktiner Dom Augustin Cal-
met mit der Veröffentlichung von Vom Erscheinen der Geister und denen Vampy-
ren (1746) einen Schlussakkord unter Jahrzehnte der Spekulation. Nach langjähriger
Recherche über alle ihm bekannten Fälle von Vampirismus kam er in seiner Analyse
zu dem Schluss, dass es sich bei den Vampirsichtungen vornehmlich um Hirngespinste
handelt, hervorgerufen durch Opiumkonsum und eine schlechte Ernährung. Auch übte
er harsche Kritik an der üblichen Verfahrensweise, die wieder ausgegrabenen Leichen
zu enthaupten oder zu pfählen. Seiner Argumentation nach handele es sich stets um
Unglückliche, welche dem Scheintod anheimgefallen seien. Nur alleine die Tatsache,
dass ein aus dem todesähnlichen Schlafe erwachter Mensch aus seinem Grabe erhebt
und hierdurch seine Mitbürger beunruhige, sei kein berechtigter Vorwand, diesen zu

53
Das Dokument des Grauens

töten. Dom Augustin Calmet gelangte zu allgemeiner Anerkennung, als französische


Lexika beim Eintrag zum Thema Vampirismus auf seine Arbeit verwiesen.
Weitere kritische Auseinandersetzungen mit dem Vampirismus folgten. Gerard van
Swieten, welcher späterhin Bram Stoker als Vorlage zu seiner Romanfigur des Dr. van
Helsing dienen sollte, versuchte sich mit Remarques sur le vampirisme (1755) an ei-
ner streng wissenschaftlichen Untersuchung der Thematik, um den Vampirismus als
Aberglaube zu entlarven.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschah, zumindest aus der Sicht von
Liebhabern der Fantastik, etwas Wundervolles. Die Saat, welche die Friedhofspoeten
einst streuten, trug Früchte. 1765 schrieb Horace Walpole seinen Roman The Cast-
le of Otranto, die erste Geschichte aus einem neuen Literaturzweig, welchen man
späterhin Gothic Novels nennen würde. Walpole und die anderen Autoren dieser Zeit
vollführten einen wahren Quantensprung gegenüber Thomas Parnell und seinen Dich-
terkollegen - anstelle von poetischer Lyrik verfassten sie nun nicht minder poetische
Erzählungen. Die Geschichten konzentrierten sich nicht mehr auf Friedhöfe und den
damit verbundenen Symbolismus, sondern handelten von der Nacht, alten Gemäuern
und Geistern, basierten auf den ungeheuren Exzessen der Inquisition und schilderten
den Verfall der Gesellschaft, wie noch kaum ein Literaturzweig zuvor. Nun war es end-
gültig passiert, meine Damen und Herren: Die Horrorliteratur war geboren.

1776 brachte uns ein weiteres literarisches Highlight, allerdings aus einer völlig an-
deren Ecke der Erde. Uneda Akinari, ein japanischer Literaturstudent, veröffentlichte
Ugetsu monogatari. Hierbei handelt es sich um eine Sammlung romantischer Gru-
selgeschichten, welche den wichtigsten literarischen Beitrag Japans zu diesem Genre
darstellen. Im europäischen Sprachraum kommt man nur recht selten mit diesem in-
teressanten Werk in Kontakt - etwas bekannter dürfte der auf diesen Erzählungen ba-
sierende gleichnamige japanische Spielfilm Ugetsu monogatari (1953) sein.

Doch vor allem in Europa erfreute sich die junge Horrorliteratur einer ungeheuren
Popularität. Gothic Novels erschienen in immer kürzeren Abständen und wurden von
der Masse regelrecht verschlungen. Ihre Autoren wurden oft weltberühmt - wie zum
Beispiel Ann Radcliffe, eine junge, 1764 geborene Frau, welche in dem gerade ein-
gesetzten Gothic-Boom aufwuchs und 1794 mit ihrem Beitrag zu diesem Genre, dem
Roman The Mysteries of Udolpho, für Furore sorgte. Ann Radcliffes größter Erfolg
und ein Meilenstein der Horrorliteratur ist ihr Roman The Italian, welcher ihr einen
Stammplatz im Olymp der englischen Literaten sicherte.

Nicht zu vergessen ist auch William Beckford, dessen Biographie zum Gothic passt
wie kaum eine andere. Der gerade volljährig gewordene Beckford lud 1781 einen Kreis
von Männern, Frauen und Knaben auf seinen Landsitz ein und feierte mit ihnen ein
mehrere Tage andauerndes und ausgesprochen wollüstiges „Fest der Sinne“. Beckford
nannte dieses Zusammensein späterhin „die Verwirklichung des Romantischen in sei-

54
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

ner auschweifendsten Form“[3]. Diese Orgie inspirierte ihn zu seinem größten Roman.
Nach seiner Rückkehr nach London schloss er sich für zwei Tage in seinem Zimmer
ein und schrieb den etwa 300 Seiten umfassenden Vathek nieder, die Geschichte eines
Kalifen, welcher mit dem Herrn der Hölle einen Pakt schließt, um seinen unbändigen
Durst nach Wissen und Sinnesfreuden befriedigen zu können. Stark an den Motiven
des Dr. Faustus orientiert, stellt auch in diesem großartigen Roman das klassische Bild
des mad scientist, des verrückten Wissenschaftlers, den Kern der Erzählung dar - ein
Motiv, welches jedoch noch lange nicht auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung ange-
kommen war.

1782 wurde in der British Royal Aca-


demy ein Gemälde mit dem Titel The
Nightmare des Malers Henry Fuseli, ei-
nes unter dem für englische Zungen we-
nig geeigneten Namen Heinrich Füssli
geborenen Schweizers, gezeigt, welches
dieser im Jahr zuvor geschaffen hatte.
Sofort entbrannte eine heftige Kon-
troverse um das Werk. Man bezeichnete
Fuseli als wahnsinnig. Auf jeden Fall war
der Künstler seiner Zeit weit voraus. Sein
Gemälde zeigt eine üppige Frau, wel-
che sich zwar schlafend, aber dennoch
im Zustand höchster Erregung auf ihrem Abbildung 2.16: Henry Fuseli, The Night-
Bett rekelt, während sie von einem Alb- mare
traum geplagt wird. Fuseli drang tief ein ins menschliche Unterbewusstsein, bis zu
jenem Punkt, an welchem sich Furcht und Sex treffen. Ein Motiv, welches sich durch
den Horrorfilm zieht wie ein roter Faden und mit welchem wir uns späterhin noch ge-
nauer beschäftigen werden. Nebenbei sei erwähnt, dass Siegmund Freud einst dieses
Gemälde als seinen persönlichen Favoriten bezeichnete. Das hier zu sehende Gemälde
ist eine zweite Version des Bildes, weniger erotisch, aber umso albtraumhafter.
Das ausklingende 18. Jahrhundert läutete die Glanzzeit des fiktionalen Horrors ein.
Die literarische Vorarbeit der Graveyard Poets und der frühen Gothic-Autoren trug
Früchte und ab 1790 setzte ein regelrechter Boom ein. Es begann mit einem verstärk-
ten Auftreten schreckenserregender und teilweise auch sehr blutiger Theaterinszenie-
rungen auf englischen Bühnen, darunter The Vampire von James Planchi (basierend
auf The Vampyre von Dr. John Polidori), Milners Frankenstein, or the Man and the
Monster, George Colman des Jüngeren Bluebeard und The Castle Spectre, aus der
Feder von Matthew Lewis stammend. Man bekam unter anderem Jungfrauen in wal-
lenden weißen, blutbesudelten Gewändern zu sehen, wandelnde Skelette und natürlich
eine Unmenge von Geistern aller Art. Auffallend hoch ist die Zahl damaliger Appa-
raturen, welche den Zweck verfolgten, Illusionen beim Zuschauer zu erzeugen, wie
beispielsweise die Illusion, dass der Vampir aus Polidoris Stück durch Wände ginge

55
Das Dokument des Grauens

(ermöglicht wurde dies durch ausgeklügelte Klapptüren). Man griff tief in die Kiste
mit den Spezialeffekten und das Publikum liebte es.

Der 19 Jahre alte Matthew Lewis veröffentlichte anonym einen Roman mit dem
Titel Ambrosio, or The Monk (1795), welcher das Genre der Gothic Novels ge-
waltig umkrempelte. Lewis’ Gruselgeschichte gehört zu jener Kategorie klassischer
Literatur, bei deren Anblick die Literaturstudenten unserer Tage erst angewidert die
Nase rümpfen und den ausgesprochen lesbaren Roman dann doch an einem Stück
verschlingen. Diese zu ihrer Zeit aufgrund der erotischen Anspielungen als skandalös
aufgenommene Erzählung wurde zu einem ungemein populären Stück Literatur, wel-
ches den Weg für Romane wie Mary Shelleys Frankenstein ebnete. Die Abwendung
von der traditionellen Geistergeschichte fand statt, der Horror wurde jetzt substanzi-
eller. Die Ghost Story begann, sich zur Horrorstory zu wandeln. Zwar stellte auch zu
jener Zeit der Gothic nur einen kleinen, oft belächelten Zweig der englischsprachigen
Literatur dar, doch dieser kleine Zwerg konnte plötzlich verdammt laut brüllen - idea-
le Voraussetzungen gewissermaßen, denn das herumtobende neue Genre zog hiermit
Aufmerksamkeit und auch Leser auf sich. Hierfür sorgte schon die freie Presse, als
bekannt wurde, wer der Autor des Romans war; Matthew Lewis war nicht nur Autor
von Bühnenstücken, sondern auch Mitglied des Parlaments, wodurch erst recht Rufe
seiner politischen Gegner laut wurden, The Monk zu verbieten. Die Welt der fanta-
stischen Literatur reagierte jedoch weitaus gelassener, vor allem Lewis’ literarisches
Vorbild Ann Radcliffe, welche die erzählerische Radikalität von The Monk mit ihrem
stimmungsvollen Roman The Italian beantwortete. Lewis schaffte es mit diesem Ro-
man, sich und das Genre ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken und - was bei Weitem
keine oft vorzufindende Erscheinung ist - löste auch Neugier und Ehrgeiz bei seinen
Autorenkollegen und eine Welle von Gothic-Neuveröffentlichungen aus. Daraufhin
schwappte der Gothic auch in großem Stil auf den Kontinent über, in Deutschland ka-
men die Schauerromane auf und waren dort nicht minder erfolgreich. The Monk wurde
von deutschen Dichtern kräftig kopiert, von E.T.A. Hoffmann in Die Elixiere des Teu-
fels des Öfteren sogar bis ins Detail.

In den Jahren 1811 bis 1815 veröffentlichten Johann August Apel und der unter
dem Pseudonym Friedrich Laun schreibende Friedrich August Schulze eine Samm-
lung von Gruselgeschichten in fünf Bänden mit dem Titel Das Gespensterbuch. Sie
beinhaltet eine Vielzahl von Kurzgeschichten, aber nur wenige haben die Zeit überlebt.
Im Jahr 1812 erhielt eine Auswahl aus Geschichten der ersten beiden Bände (Die
Bilder der Ahnen, Die Verwandtschaft mit der Geisterwelt, Der Todtenkopf, die Todten-
braut, Stumme Liebe, Der Geist des Verstorbenen, Die graue Stube und Die schwartze
Kammer) eine Übersetzung in das Französische unter dem langen Titel Fantasmago-
riana, ou Recueil d’Histoires d’Apparitions de Spectres, Revenants, Fantômes, etc.;
traduit de l’allemand, par un Amateur. Der Titel nennt das ursächliche Problem be-
reits: Es handelte sich um die Übersetzungsarbeit eines Amateurs. Fünf Geschichten
aus dem Fantasmagoriana wurden auf Basis des französischen Textes wiederum ins

56
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Englische übersetzt. Die restlichen drei Geschichten fanden nicht das Interesse der
Übersetzerin Sarah Elizabeth Utterson und wurden von ihr weggelassen. Der Todten-
kopf wurde von ihr inhaltlich massiv gekürzt, da ihr die enthaltene Liebesgeschichte im
Kontext einer Gruselgeschichte als nicht passend erschien. Außerdem fügte sie ihrem
Produkt mit The Storm noch eine selbst verfasste Geschichte hinzu.
Diese Entwicklung ist natürlich der Albtraum eines jeden Literaten. Zuerst fehlen
drei Bände in der französischen Übersetzung sowie eine ungewisse Anzahl von Ge-
schichten aus Band 1 und 2 völlig, dann wurde sie gemäß des Untertitels von einem
Laien übersetzt und dieses Ergebnis dann von einer Engländerin nochmals verstüm-
melt und umgeschrieben. Umso fataler wirkt sich aus, dass die deutsche Originalaus-
gabe von Laun und Apel nie eine zweite Auflage erlebte. Eine Geschichte aus der
Sammlung erlebte jedoch eine Renaissance: Die Volkssage des Freischütz diente Carl
Maria von Weber für seine berühmte Oper Der Freischütz.
Aber weshalb ist diese Sammlung dann so wichtig für die Geschichte des Horrors?
Nun, man ist sich heute sicher, dass sie den Grundstein für die Geschehnisse legte,
welche sich im Jahr 1816 in der Villa Diodati in der am Genfer See gelegenen Ort-
schaft Cologny abspielten.

Das magische Datum der aufblühenden Tradition der Fantastik ist der 15. Juni
1816. An jenem schicksalhaften Tag trafen sich Lord Byron, Mary Wollstonecraft
Shelley, Dr. John Polidori und Percy Bysshe Shelley in der Villa am Genfer See und
verblieben dort für drei Tage. Die literarische Vorarbeit von Matthew Lewis sollte sich
in diesen Tagen und Nächten auszahlen. Im Jahr zuvor hatte Lewis Byron und Shelley
in diesem Hause besucht und den beiden Goethes Faust nähergebracht, wodurch an
jenem bedeutungsvollen 15. Juni 1816 der Gedanke an einen dichterischen Wettbe-
werb aufkam. Unter dem Einfluss von Laudanum sowie einer französischen Ausgabe
des Fantasmagoriana kamen die vier Poeten überein, dass jeder eine Gruselgeschich-
te schreiben möge. Daraufhin entstand neben der ersten englischen Vampirgeschichte
das Genre der Science-Fiction. Die Ereignisse jener drogenvernebelten Nächte sind
äußerst sagenumwoben; eine Verfilmung der Geschehnisse stellt Ken Russells Gothic
(1986) dar. 1818 tritt Mary Wollstonecraft Shelley mit Frankenstein, or The Modern
Prometheus an die Öffentlichkeit. Obwohl eigentlich eine Erzählung aus dem Reich
der Science-Fiction, gehört das in ihr enthaltene Bild des aus Leichenteilen zusammen-
gesetzten Monsters zu den meistbenutzten Motiven des Horrorfilms. The Vampyre, Dr.
John Polidoris fälschlicherweise Lord Byron zugeschriebener Beitrag aus der Nacht
am Genfer See, wurde im Jahr darauf veröffentlicht.

E.T.A. Hoffmann, welcher 1815 bereits mit Die Elixiere des Teufels auf sich auf-
merksam machte, veröffentlichte 1817 seine Kurzgeschichtensammlung Nachtstücke.
Unter diesen Geschichten befindet sich Der Sandmann, die Geschichte eines Physik-
studenten, welcher seinen paranoiden Wahnvorstellungen unterliegt. Hoffmann erwei-
terte das Genre um eine weitere Spielart, indem er einen Blick hinter die Fassade des
Menschen und des Alltäglichen warf, eine Vorgehensweise, welche später oft in Fil-

57
Das Dokument des Grauens

men wie David Lynchs Lost Highway (1997) praktiziert wird. Zu Lebzeiten abwer-
tend als „Gespenster-Hoffmann“ bezeichnet und nach seinem Tod auch schnell verges-
sen, wurde E.T.A. Hoffmanns Bedeutung für die deutsche Literatur gegen Anfang des
20. Jahrhunderts erkannt und sein Ansehen wieder hergestellt. Sein bekanntester lite-
rarischer Nachfahre ist Edgar Allan Poe und sein Einfluss ist vor allem im Bereich des
Films spürbar. Hoffmann übte sehr großen Einfluss auf die deutschen Expressionisten
des frühen 20. Jahrhunderts aus, welche wiederum das Genre des Horrors prägten.
Filme wie Das Cabinet des Dr. Caligari (1919) verdanken Hoffmann ihr Erschei-
nungsbild, für welches sie noch heute berühmt sind.

E.T.A. Hoffmanns Schaffenszeit läutete jedoch auch das Ende des gotischen Hor-
rors ein. Der Grusel-Boom begann wieder zu verebben, bis er 1825 endgültig zum Er-
liegen kam. Horror war wieder out, der Teufel nicht mehr gefragt. Dementsprechend
dünnte sich die Zahl der Veröffentlichungen aus, es wurde praktisch nichts mehr publi-
ziert, was in irgendeiner Form relevant wäre. Ein erster erneuter Lichtblick ergab sich
erst wieder 1831, als Victor Hugo seinen Roman Nôtre-Dame de Paris veröffent-
lichte. Die Geschichte des verliebten Glöckners ist weniger eine Horrorgeschichte als
vielmehr ein Beispiel dafür, welche Wirkung die romantischen Schauerromane trotz
aller angeblicher Trivialität auf die Welt der Literatur im Allgemeinen hatten. Wir fin-
den einen Glöckner vor, dessen entstelltes Äußeres ihn als Monster erscheinen lässt,
vor welchem sich die Menschen fürchten. Die Kathedrale Nôtre Dame erscheint mit
ihren Ornamenten geflügelter Monstrositäten als Brutstätte des Bösen für die Pariser
Bürger. Die Ambivalenz zwischen wahrem Schrecken und jenem, den man lediglich
aufgrund eines Erscheinungsbildes vermutet, wird in Hugos sozialkritischem Meister-
werk deutlich wie in keinem anderen Roman zuvor. In der Welt des Films finden wir
oftmals ähnliche Motive vor, Filme wie Freaks (1932), The Elephant Man (1980)
und eine Vielzahl von Frankenstein-Interpretationen, welche das Monster als geschun-
denes Wesen darstellen, illustrieren diese Vorgehensweise. Die Grenze zwischen dem
Horror und anderen Genres verschwimmt hier jedoch leicht, sodass der umgekehrte
Fall des Bösen, welches hinter einer attraktiven Fassade lauert, nicht nur häufiger vor-
zufinden ist, sondern aufgrund seiner Plakativität auch eher mit Horror in Verbindung
gebracht wird.

Ein Standardwerk der deutschen Horrorliteratur folgte Hugos Nôtre-Dame de Paris


bereits im darauffolgenden Jahr. Die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm veröffentli-
chen Kinder- und Hausmärchen (1832). Diese Märchensammlung entwickelte sich
schnell zu einem Meilenstein der Gruselliteratur.
Verblüfft Sie dieser Gedanke?
Können Sie sich nicht vorstellen, dass sie mit Horrorgeschichten aufgewachsen
sind?
Falls ja, denken Sie mal genau darüber nach, was Ihnen Ihre Großmutter, auf der
Bettkante sitzend, damals erzählte, denn eigentlich gehören diese Geschichten zum
brutalsten und grauenvollsten, was die fantastische Literatur des 19. Jahrhunderts her-

58
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Abbildung 2.17: Nôtre-Dame de Paris, Illustration aus der französischen Original-


ausgabe von 1831

59
Das Dokument des Grauens

gibt. Da haben wir zwei Kinder, welche ihren Eltern dermaßen auf den Senkel gehen,
dass diese sie im Wald aussetzen. Woraufhin die beiden verzogenen Gören eine alte
Frau im Ofen verbrennen. Tiere werden aufgeschlitzt, die Kadaver mit Steinen gefüllt
und dann in einen Brunnen geworfen. Großmütter werden von Wölfen gefressen. Eine
junge Frau wird von ihrer Stiefmutter erst verstoßen und später aus Neid vergiftet. Ei-
ne Mutter veranlasst ihre Töchter, sich Zehen und Fersen abzuhacken, damit ihnen ein
Schuh passt. Wir lernen Horrorgestalten wie den Tod und den Teufel samt Großmutter
höchstpersönlich kennen. Und vieles mehr - würde man die Geschichten getreu der
Vorlage verfilmen und in Bildern zeigen, was die Gebrüder Grimm in Worten schil-
dern, würde man das Produkt wohl kaum als jugendfrei einstufen.
Diese Sammlung deutscher Märchen interessiert uns in erster Linie, weil durch
sie deutlich wird, wie weit romantisierte Themen aus dem Reich des Schreckens im
19. Jahrhundert zu einem Bestandteil des Alltags geworden waren. So war gerade mal
ein halbes Jahrhundert vergangen, seit die letzten Scheiterhaufen erloschen und schon
finden wir verniedlichte Formen der vermeintlichen Handlanger des Teufels in Kinder-
geschichten vor. Gevatter Tod und der Herr der Hölle selbst waren über Jahrhunderte
hinweg eigentlich Charaktere, vor welchen sich die Menschen eher abgrundtief fürch-
teten und welche sie mit Ehrfurcht betrachteten, als die Grimm’schen Abziehbilder
ihrer selbst, welche in erster Linie der Belustigung von Lesern und Zuhörern dienen.
Jene vornehmlich religiösen Dinge, auf welchen weite Teile der Ängste der Menschen
aufbauten, begannen ihren Schrecken allmählich zu verlieren und der Punkt war er-
reicht, ab welchem das Gefühl der Angst unwiderlegbar als angenehmes dramatur-
gisches Mittel Verwendung fand. Das Grauen war endlich aus der Realität ins Reich
der Fantasie verschwunden und die Abscheu davor entwickelte sich zunehmend zur
Faszination.
Hans Christian Andersen folgte den Gebrüdern Grimm wenige Jahre später und
wurde mit Märchen, welche noch eindeutiger auf der Grundlage des Horrors aufbau-
ten, weltberühmt. Zu den bekanntesten Vertretern dieser Schauermärchen gehören Die
Schneekönigin, Die kleine Meerjungfrau und Die roten Schuhe.

Zur gleichen Zeit, genauer gesagt ab Mitte der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts,
betrat ein junger amerikanischer Autor mit dem Namen Edgar Allan Poe die Bühne
der Literatur. Bis zu seinem viel zu frühen Tod im Jahre 1849 veröffentlichte Poe eine
Vielzahl von Werken, welche ihn unsterblich machten. Mit seinen berühmten Kurzge-
schichten und Gedichten definierte Poe das Genre neu und setzte dem jungen Genre
der Gruselgeschichten die Krone auf. Ein beliebtes Motiv Poes war das schlechte Ge-
wissen seiner Protagonisten, welches sich in unheimlicher Art und Weise manifestiert.
Sei es als Katze, welche zusammen mit zwei Menschen lebendig begraben wird und
deren klagende Laute den Mörder verraten. Oder als schlagendes Herz, welches sich
der von Gewissensbissen geplagte Mörder zu hören einbildet. Poe schickte seine Prot-
agonisten in auswegslose Situationen und ließ sie einem schrecklichen Tod ins Antlitz
schauen. Da waren Folteropfer, welche dem Tod durch ein schwingendes, messerschar-
fes Pendel entgegensehen. Oder dekadente Adlige, die trotz aller Vorsichtsmaßnahmen

60
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

von der Pest heimgesucht werden. Poe gilt auch als Urvater der Kriminalgeschichte,
in welcher ein Fall Schritt für Schritt gelöst wird.
Poe, der sich selbst stark an den ver-
fremdeten Welten E.T.A. Hoffmanns ori-
entierte, war Vorbild für eine große Reihe
von Autoren und Filmemachern, wenn
auch die Verfilmungen sich zumeist we-
der eng an der Vorlage orientierten noch
ihr gerecht wurden. Hierzu gehören auch
die bekanntesten Poe-Verfilmungen, der
achtteilige Poe-Zyklus von Roger Cor-
man. Doch auch wenn die filmischen Ad-
aptionen von Poes Werken mit Ausnah-
me von La chute de la maison Usher
(1928) die Liebhaber seines Werkes nicht
befriedigen dürften, ist Poes Einfluss auf
den Horrorfilm groß genug, um davon
ausgehen zu können, dass sich die Film-
welt ohne sein Schaffen gänzlich anders
darstellen würde. Edgar Allan Poe gab
uns das substanzielle Grauen, welches in
uns und unserer Umgebung schlummert.
Poes essenzieller Horror war realistisch
und nicht mehr so sehr der Fantasie sei-
ner Leser ausgeliefert wie die Erzählun- Abbildung 2.18: Edgar Allan Poe
gen seiner europäischen Kollegen. Dies führte zu einer neuen Dimension der Angst
- die Welt des Horrors wäre ziemlich fade, wenn sie sich primär aus Gespensterge-
schichten zusammensetzen würde, oder?

Bereits zu Poes Lebzeiten schoss die Horrorliteratur raketengleich die Beliebtheits-


skala hinauf und um 1830 war ein Punkt erreicht, an welchem ein Prozess in Gang
gesetzt wurde, welcher sich im Lauf der weiteren Geschichte noch einige Male wie-
derholen sollte. Das Gruseln war derart beliebt, dass der englische Markt mit neuen
Produkten überschwemmt wurde. Schaurige Groschenromane, Penny Parts, Penny
Blood, oder auch Penny Dreadful genannt, waren ebenso die Regel wie das Penny
Gaff, das billige Gruselschauspiel. Es dauerte dementsprechend auch nicht lange, bis
man in den Schauerromanen den Bodensatz der Literatur sah und vor allem die Ursa-
che für jegliche Jugendkriminalität. Die Politiker und Eltern schrien nach Zensur, um
die Jugend vor derartigen Abscheulichkeiten zu schützen - Szenen, welche sich mehr
oder regelmäßig bis heute wiederholen, sobald die Beliebtheit von Horrorgeschichten
und -filmen ein gewisses Maß überschreitet.

61
Das Dokument des Grauens

Für einige Jahrzehnte herrschte nach einer längeren Zeit der Blüte, zu deren be-
kanntesten Kreationen die Geschichten um Varney the Vampire und das erste Auftau-
chen des mörderischen Barbiers Sweeney Todd (in The String of Pearls: A Romance)
gehören, dementsprechend auch nahezu Stille im Reich der anglistischen Horrorlite-
ratur. Echte literarische Perlen des Horrors waren in jenen Tagen rar. Einige Autoren
ragen jedoch aus der Masse der trivialen Literatur heraus, und diese seien Ihnen nun
vorgestellt.
Nikolai Gogol schrieb 1835 Wij, eine
Hexengeschichte. Ein junger Student der
Philosophie wird das Opfer eines Suk-
kubus, einer dämonischen Hexe, die auf
ihm kreuz und quer durch die Nacht rei-
tet, bis er es schließlich schafft, sich ih-
rer zu entledigen und sie totschlägt. Ster-
bend erscheint ihm die Alte daraufhin als
junges Mädchen.
Kurze Zeit nach diesem Vorfall wird
der Student von seinem Rektor zu ei-
nem Gutsherrn geschickt, dessen Toch-
ter im Sterben liegt. Der Student erkennt
in der Sterbenden das junge Mädchen
aus seinem nächtlichen Abenteuer. Der
Gutsherr weist ihn an, drei Totenwachen
in der nahegelegenen Kapelle zu halten;
und es dauert nicht lange, bis die alte He-
xe aus dem Sarg entsteigt, um sich den
Abbildung 2.19: Nikolai Wassiljewitsch Studenten zu holen ...
Gogol Wij ist eine unverhohlene, radika-
le Horrorgeschichte. Mit dem Sukkubus
sind leicht erkennbare sexuelle Motive enthalten. die Hexe stellt sich während der To-
tenwache in immer neuen, immer grässlicheren Formen dar, während sich der Student
mit Gebeten zu wehren versucht. Dabei ist sein Untergang schon besiegelt, denn be-
reits die Präsenz der Hexe und all ihrer Macht im Inneren eines Kirche verdeutlicht
die Hoffnungslosigkeit und das Nichtvorhandensein jeglicher religiöser Macht, was
schließlich nicht nur im Tod des Studenten, sondern auch im Untergang des ganzen
Gotteshauses kulminiert.
Der amerikanische Autor Nathaniel Hawthorne ist vor allem als der Verfasser von
Werken der Weltliteratur wie The Scarlet Letter und The House of the Seven Gables be-
kannt. Nur Eingeweihten, und natürlich seinen Lesern, fällt auf, dass Hawthorne auch
keinerlei Berührungsängste mit dem Horror hatte. Selbst in seiner Biographie fallen
hier einige Details auf; Nathaniel Hawthorne ist nämlich der Ururenkel von John Hat-
horne (noch ohne den Buchstaben „ w“ im Namen), dem Richter während der Hexen-
prozesse von Salem. Wie auch Edgar Allen Poe wird Hawthorne zu den Vertretern der

62
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

„dunklen Romantik“ in der amerikanischen Literatur gezählt und er betrachtete bevor-


zugt die dunkle Seele der Gesellschaft. Nach seinem Tod wurde Hawthorne übrigens
auch auf einem Friedhof von Concord, Massachusetts, beigesetzt, welcher passender-
weise den Namen Sleepy Hollow trägt.
1835, also dem gleichen Jahr, in wel-
chem Nikolai Gogol seinen ersten Hor-
rorroman veröffentlichte, erschien Haw-
thornes Kurzgeschichte Young Good-
man Brown. Diese Erzählung ist ei-
nes der Schreckgespenster amerikani-
scher Literaturstudenten, denn sie ist be-
rühmt für ihre extreme Mehrdeutigkeit.
Sie lässt Interpretationen zu, welche von
der Macht des Bösen im Menschen über
die Heucheleien im amerikanischen Puri-
tanismus und dass alle Menschen heuch-
lerische Sünder sind, bis hin zum Wesen
der Sünde selbst reichen.
Hawthorne erzählt uns von dem jun-
gen Brown, der in Salem um die Zeit
der Hexenprozesse lebt. Kurz nach seiner
Hochzeit mit der lieblichen Faith (engl.
für „Glaube“), begibt er sich ihres Pro-
testes zum Trotz in den Wald, um dort
einen dunklen Gesellen zu treffen. Dort Abbildung 2.20: Nathaniel Hawthorne, et-
wird er Zeuge eines Rituals der „Ge- wa um 1860
meinde des Bösen“, welcher auch ange-
sehene Persönlichkeiten des Ortes angehören, darunter auch der Pfarrer und ... seine
eigene Frau, welche in dieser Nacht ebenfalls in den Kreis eingeführt werden soll.
Die dunkle Gestalt, der Teufel, leitet die Versammlung und verspricht auch Brown
die Erleuchtung. Doch im Gegensatz zu Faith widersteht Brown der Versuchung und
findet sich plötzlich ganz allein im Wald wieder. Hat er alles nur geträumt? Hawthorne
klärt den Leser darüber nicht auf, und Brown weiß es ebenfalls nicht. Er fürchtet sich
vor den Dorfbewohnern und führt bis zu seinem Tod ein Leben in Angst und Verzweif-
lung.
Hawthorne selbst schien von seiner Geschichte nicht allzu viel zu halten, er äußerte
sich stets skeptisch über sie. Sein Freund Herman Melville, der Autor von Moby Dick,
Henry James und Edgar Allan Poe waren jedoch begeistert. Die Geschichte diente als
Inspiration und Vorlage für etliche Filme, wie zum Beispiel den wundervollen Horror
Hotel (1960) mit Christopher Lee.

63
Das Dokument des Grauens

Vier Jahre später schuf Alexei Konstantinowitsch Tolstoi, nicht zu verwechseln mit
seinem ungleich berühmteren Cousin Lew Nikolajewitsch Tolstoi, eine faszinierende
Vampirgeschichte: Sem’ya Vurdalaka (1839).
Serge d’Urfe ist ein französischer Di-
plomat, den der Liebeskummer auf ei-
ne diplomatische Reise nach Moldavi-
en getrieben hat. Während eines plötzli-
chen Wintereinbruchs sucht er in einem
kleinen Dörfchen namens Kisolova Zu-
flucht vor der Kälte, der Dunkelheit und
den darin lauernden Wölfen In der dor-
tigen Herberge nimmt man ihn nur wi-
derwillig auf und es scheint, als laste ei-
ne große Anspannung über ihren Bewoh-
nern. Georg, das Familienoberhaupt, teilt
ihm mit, dass sie auf die Rückkehr von
Gorcha warten, dem Großvater in der Fa-
milie. Er war losgezogen, um einen be-
rüchtigten Banditen namens Ali Bek auf-
zuspüren und zu töten. Vor seiner Ab-
reise hat Gorcha seiner Familie einge-
schärft, nur bis zur Mitternacht des zehn-
ten Tages auf seine Rückkehr zu warten.
Abbildung 2.21: Alexei Konstantinowitsch Sei er bis dahin nicht zurück, so dürf-
Tolstoi auf einem Gemälde von Karl Biull- ten sie ihm die Tür nicht öffnen, egal
ov was auch immer er zu ihnen sagen mö-
ge. Sollte er zu spät eintreffen, wäre er nicht mehr Gorcha, sondern ein völlig anderes
Wesen, ein Vurdulak.
Um Mitternacht wird diese Frist verstrichen sein. Serge versteht nicht, wovor sich
alle fürchten, aber die Furcht der Familie scheint greifbar zu sein. Und um Mitter-
nacht ist Gorcha noch immer nicht zurück. Doch halt, dort hinten, eine Gestalt ... es ist
Gorcha, kurz vor Ablauf der Frist! Oder ist es vielleicht doch ... der Vurdulak?
A.K. Tolstoi servierte den Lesern mit seiner Kurzgeschichte eine der unheimlich-
sten und konsequentesten Vampirgeschichten überhaupt, welche auch modernen heu-
tigen Standards mühelos standhält. Eine Mutter wird von ihrem kleinen Sohn getötet.
Familien werden von denen ausgelöscht, welche sie lieben. Serge d’Urfe wird Zeu-
ge, wie ein komplettes Dorf von Vampiren ausgelöscht wird und sein eigener Zweifel
treibt ihn bis an den Rand des Todes, als er aus einem von Vampiren belagerten Haus
fliehen muss. Diese Geschichte ist gnadenlos spannend und gibt sich bis in das letzte
Detail der Absicht hin, dem Leser Furcht einzujagen. Ein Meisterwerk der Literatur
des Grauens, dessen Motive noch immer regelmäßig durch Filme zitiert werden, so
beispielsweise durch George A. Romero in Night of the Living Dead (1968). Interes-
santerweise sind direkte Verfilmungen des Stoffes selten; die bekannteste ist die zweite

64
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Episode aus Mario Bavas meisterhaften I Tre volti della paura (1963).

Im Jahr 1857 veröffentlichte Alexandre Dumas seinen Werwolf-Roman Le Me-


neur de loups. Der Schuhmacher Thibault rettet darin einem Wolf das Leben, der von
dem Wolfsjäger Baron Jean de Vez gejagt wurde. Für diese Intervention wird Thibault
bestraft. Danach trifft er den geretteten Wolf wieder und staunt nicht schlecht, als sich
dieser vor ihm auf seine Hinterbeine aufrichtet und ihm ein verlockendes Angebot
macht. Im Austausch gegen jeweils ein Haar könne Thibault fortan Wünsche äußern,
welche seine Feinde beschädigen würden ...

Ungefähr ein Jahrzehnt später veröffentlichte der englische Schriftsteller Robert


Browning sein vierbändiges Werk The Ring and the Book, die Geschichte eines
Mordprozesses, aus zwölf Positionen beleuchtet. Über weite Strecken ist das Werk
eine ziemlich makabere Angelegenheit und ein wahres Freudenfest für die Freunde
des Entsetzlichen. Der psychologische Tiefgang faszinierte die Leser. Die Saat war
erneut ausgestreut. Freunden der modernen Horrorliteratur dürfte Browning übrigens
am ehesten durch sein episches Gedicht Childe Rolande to the Dark Tower Came be-
kannt sein, auf welchem der Autor Stephen King seine zwar literarisch nicht sonderlich
wertvolle, aber ungemein umfangreiche und auch beliebte Saga The Dark Tower, die
epische Geschichte über die Suche des Revolvermannes Roland nach dem dunklen
Turm, aufbaute.

Jedenfalls dauerte es nun auch nicht mehr allzu lange, bis die Horrorliteratur wieder
zu sprießen begann. Erster erfolgreicher Autor war Sheridan Le Fanu, dessen Bücher
Uncle Silas und In a Glass Darkly, eine Sammlung von Geschichten, aus welcher vor
allem eine Erzählung mit dem Titel Carmilla heraussticht, sich ungeheurer Beliebt-
heit erfreuten.
Die in der Steiermark angesiedelte Geschichte um Carmilla erzählt von dem Mäd-
chen Laura, die eines Nachts von einer geisterhaften Erscheinung in die Brust gebissen
wird. Das Rätsel wird nie aufgeklärt und die Jahre ziehen ins Land. Als schließlich 12
Jahre vergangen sind, erreicht Lauras Vater ein Brief eines Freundes, des Generals
Spieldorf, dessen Tochter unter mysteriösen Umständen verstarb. Kurz danach ereig-
net sich in der Nähe des Schlosses, in welchem Laura all die Jahre aufwuchs, ein
Kutschunfall. In der Kutsche befindet sich das Mädchen Carmilla neben ihrer Mut-
ter. Carmilla scheint verletzt, und da die Mutter darauf besteht, dass ihre Reise keinen
Aufschub erlaube, nimmt die Familie das Mädchen zu sich in das Schloss auf.
Laura und Carmilla entdecken, dass sie einst in ihrer Jugend den gleichen Traum
gehabt haben - Laura jenen, in welcher die Erscheinung sie biss, und Carmilla träumte,
in Lauras Zimmer gewesen zu sein. Die beiden Mädchen fühlen sich gegenseitig eng
verbunden und werden sehr enge Freunde.
Die Wochen vergehen und Carmilla wird immer geheimnisvoller. Sie unterliegt
starken Stimmungsschwankungen und entwickelt romantische Züge in Hinsicht auf
Laura. Sie schlafwandelt und schläft tagsüber. Religiöse Symbole verabscheut sie. Und

65
Das Dokument des Grauens

als ein altes Gemälde der Gräfin Mircalla Karnstein auftaucht, gleicht Carmilla der
Abgebildeten in jedem Detail.
Laura beginnt, Albträume zu erleiden. Dieses Mal träumt sie stets von einer schwar-
zen Katze, welche des Nachts in ihr Zimmer schleicht und sie beißt. Laura wird zu-
nehmend schwächer und ihre Lebenskraft schwindet langsam dahin.
Lauras Vater entschließt sich kurzfristig, mit Laura einen Ausflug in das Örtchen
Karnstein zu unternehmen. Da Carmilla noch schläft, hinterlassen sie ihr eine Nach-
richt und machen sich auf den Weg. Unterwegs treffen sie auf General Spieldorf,
der ihnen eine unheimliche Geschichte erzählt. Bei einem Maskenball lernte er das
Mädchen Mircalla und dessen Mutter kennen. Seine verstorbene Tochter und Mircal-
la freundeten sich sofort miteinander an, und da Mircallas Mutter den General davon
überzeugen konnte, dass sie alte Bekannte seien, nahmen Spieldorf und seine Tochter
Mircalla als Gast bei sich auf. Nach kurzer Zeit wurde Spieldorfs Tochter krank und
ihre Symptome waren die gleichen, welche Laura nun aufweist ...
Die 1872 erschienene Novelle Carmilla ist nicht nur einer der großen Klassiker
der Vampirgeschichte, sondern auch ein wichtiger Wegbereiter des Genres und der Fi-
gur des Vampirs an sich. Hierbei ist nicht nur gemeint, dass Le Fanu, wenngleich er
sexuelle Handlung auch stets nur indirekt andeutete, hier den Prototypen des weib-
lichen, lesbischen Vampirs schuf. Nein, seine Interpretation der Kreaturen der Nacht
erweist sich noch heute als Stil bestimmend. Carmilla kann durch Wände gehen. Sie
ist nachtaktiv und schläft tagsüber bevorzugt in einem Sarg, der sie auch vor dem für
sie gefährlichen Tageslicht schützt. Sie kann auch die Gestalt eines Tieres annehmen -
hier jene einer Katze. Carmilla beeinflusste auch den Autoren Bram Stoker massiv, der
etliche Motive und Ideen für seinen eigenen Roman Dracula, or the Undead (1896)
übernahm - in einem frühen Entwurf siedelte er seinen blutsaugenden Grafen sogar in
der Steiermark an und nicht in den fernen Karparten.
Und auch für das Horrorgenre selbst ist Carmilla ein Meilenstein. Le Fanu trieb
die durch Poe eingeleitete Entwicklung weiter voran und integrierte den übernatürli-
chen Schrecken der Gothic Novels endgültig im Alltäglichen. Carmilla zog mehrere
Verfilmungen nach sich, darunter auch Vampyr (1931), ein Meisterwerk des Horrors.

Die französischen Autoren Guy de Maupassant und Charles Baudelaire fielen durch
ihre makabren Werke auf - Baudelaires lyrische Sammlung Les fleurs du mal (1857)
kann sogar von sich behaupten, dass sechs der darin enthaltenen Gedichte sofort nach
Erscheinen des Werkes verboten wurden. Das von Oscar Wilde erdachte The Picture of
Dorian Gray (1890) war in aller Munde, eine weitere Variation der Thematik des Man-
nes, der seine Seele verkauft, dieses Mal im Austausch gegen unvergängliche Schön-
heit. Horror war wieder groß in Mode und konnte auch ein Ansehen genießen, wel-
ches ihm bislang verwehrt war. Den spektakulärsten Erfolg konnte schließlich Robert
Louis Stevenson verbuchen, als sein Roman The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr.
Hyde (1885) zu einem gigantischen Publikumserfolg wurde und den Grundstein für
eine ganze Reihe von direkten und indirekten Verfilmungen legte. 1887 erlebte Ste-
vensons Roman seine Erstaufführung als Theaterstück in London - kurz bevor London

66
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

zum Schauplatz von Geschehnissen wurde, welche an Abscheulichkeit ihresgleichen


in der englischen Kriminalgeschichte suchen.

Um 0.30 Uhr am Morgen des 31. Au-


gust 1888 verließ Mary Ann „Polly“ Ni-
chols, eine Prostituierte Anfang 40 wel-
che schon bessere Tage gesehen hatte,
die in der Brick Lane im Londoner Stadt-
teil Whitechapel gelegene Kneipe The
Frying Pan. Auf der Suche nach einem
Freier wanderte sie die Straßen hinauf
und hinunter, bis sie nach etwa 2 Stunden
tatsächlich jemanden fand. Sie ging mit
ihrem Kunden in die dunkle Gasse na-
mens Buck’s Row, die heutige Durward
Street. Dort packte der Mann sie, drück-
te ihren Körper mit dem Gesicht voran
gegen eine Stalltür und schnitt ihr mit
einem Messer die Kehle durch. Pollys
Kopf war nur noch durch die Wirbelsäu-
le mit dem Rest ihres Körpers verbun-
den, so tief und heftig war der Schnitt.
Zum Abschluss seiner Tat riss der Mör-
der Polly den Rock herunter und schlitz-
te ihren Unterleib auf. Danach verließ er
die Stätte des Geschehens. Pollys nahe-
zu ausgeblutete Leiche wurde erst um
3 Uhr 45 zwischen den unbeleuchteten Abbildung 2.22: Mary Ann Nichols im
und eng zusammenstehenden Arbeiter- Sarg, Polizeifoto
häuschen entdeckt. Der Mord war völlig
geräuschlos geschehen und niemand hatte das Geschehen bemerkt.
Es dauerte nicht lange, bis man einen ersten Verdächtigen hatte. Ein Reporter hatte
die Kneipen Whitechapels durchkämmt und förderte nach seinen eigenen Angaben
eine große Zahl von Aussagen zutage, in welchen es hieß, Polly sei mit einem Mann
gesehen worden, welcher eine Lederschürze getragen haben soll.
Der in der Nähe des Tatorts ansässige jüdische Schuhmacher John Pizer befand sich
daraufhin in großer Gefahr, durch den Mob gelyncht zu werden - erstens war er Jude,
zweitens trug er als Schuhmacher eine Lederschürze, und das reichte dem Pöbel als
„Beweis“. Pizer wurde in Schutzhaft genommen und kam nach kurzer Zeit aufgrund
eines wasserdichten Alibis wieder auf freien Fuß.
Das Volk war gierig nach dem Mord und die Geburtsstunde der Sensationspresse
hatte geschlagen. Der Mord und die Verstümmelungen wurden in allen Details, auch
den sexuellen, beschrieben und die Bürger des viktorianischen Zeitalters konnten gar

67
Das Dokument des Grauens

nicht genug davon kriegen. In den USA wurde der Mord mit den Motiven von Edgar
Allan Poes Kriminalgeschichten verglichen. Die Welt war süchtig nach dem ersten in
der Presse breitgetretenen Sexualmord der Weltgeschichte. Der relativ uninteressante
Mord an einer Prostituierten sorgte für genug Furore, dass sich Scotland Yard höchst-
persönlich des Falles annahm und ihn Inspektor Abberline übertrug, einem Mann, wel-
cher sich in Whitechapel gut auskannte und noch etliche gute Verbindungen aus seiner
früheren Dienstzeit in diesem Viertel hatte.
Doch auch das Interesse Scotland
Yards konnte nicht das Leben der 47 Jah-
re alten Annie Chapman retten. Die tod-
kranke Annie ging ebenfalls der Prosti-
tution nach und auch sie wurde zum letz-
ten Mal am 8. September mit einem Frei-
er gesehen, vor dem Haus mit der Num-
mer 29 in der Hanbury Street. Im klei-
nen Hof hinter diesem dicht bevölkerten
Haus endete ihr Leben - wie auch jenes
von Polly mit einem tiefen Schnitt durch
ihren Hals, welcher das Blut meterweit
aus ihrer Arterie spritzen ließ. Als An-
nies Leiche gegen 6 Uhr früh gefunden
wurde, bot sich ein grauenvoller Anblick
dar. Der Mörder hatte ihr den Bauch auf-
geschlitzt. Doch damit nicht genug. Ih-
re Gedärme waren aus ihrem Leib her-
ausgezogen und über ihre linke Schulter
gelegt worden. Ihre Gebärmutter fehlte,
ebenso wie Teile der Blase. Ihre Habse-
ligkeit lagen sauber aufgereiht zu ihren
Füßen, ihr Mörder hatte sich offensicht-
lich bei der Ausübung der Tat nicht be-
Abbildung 2.23: Annie Chapman, Polizei- eilt. Wieder hatte niemand das Gemetzel
foto bemerkt und erneut war der Täter uner-
kannt entkommen.
Die Bürger Londons zeigten sich von dem erneuten Mord sowohl fasziniert als
auch erschreckt. Unter der Führung von George Lusk schlossen sich 16 Unternehmer
aus Whitechapel zu einer militanten Bürgerwehr zusammen, die sich Whitechapel Vigi-
lance Committee nannte und einen offenen Konfrontationskurs zu den ausgesprochen
erfolglosen Ermittlungen Scotland Yards und der Polizei suchte.
Die Hilflosigkeit der Behörden machte sie zunehmend zum Gespött der Leute, es
hagelte Häme und Karikaturen in der Presse. Und vor allem blühte der Antisemitismus
auf.
Der Killer schlug am 30. September erneut zu. Und wieder war das Opfer eine Pro-

68
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

stituierte. Elizabeth Stride, 44 Jahre alt und ziemlich abgetakelt, wurde im Hof des
Wagenbauers Duffield in der Berner Street, der heutigen Henriques Street, aufgefun-
den. Ihr Mörder war offensichtlich bei der Arbeit gestört worden - er hatte Elizabeth
mit ihrem Schal erdrosselt und ihr danach noch schnell den Hals aufgeschlitzt. Für Ver-
stümmelungen war offensichtlich keine Zeit. Anscheinend floh der Täter umgehend,
als der Schmuckverkäufer Louis Diemhurtz mit seinem Karren in den Hof hinein rollte
und dort die Leiche Elizabeths vorfand. Er muss sich bei seiner Einfahrt in unmittel-
barer Nähe des Schlitzers befunden haben.
Etwa zur gleichen Zeit muss die 46
Jahre alte Catherine Eddowes die Poli-
zeiwache von Bishopsgate verlassen ha-
ben, in welcher sie wegen Trunkenheit
einige Stunden verbracht hatte.
Sie lief zum Mitre Square und dort
dem frustrierten Mörder in die Arme, et-
wa 15 Minuten, nachdem er von Diem-
hurtz gestört worden war. Dieses Mal
hatte er jedoch mehr Glück. Und Ca-
therine musste für Elizabeth mitbluten.
Der Killer schleuderte Catherine in ei-
nem dunklen Winkel zu Boden, erwürgte
auch sie und schnitt ihr die Kehle durch.
Dann begann er zu wüten. Mit seinem
Messer zerfetzte er ihr Gesicht. Ihre Oh-
ren wurden angeschnitten, ihre Nasen-
spitze abgetrennt. Er zerschnitt die Au-
genlider, die Oberlippe und die Wangen.
Danach schlitzte er auch Catherine den
Bauch auf. Er trennte ihren Dickdarm ab
und legte ihn fein säuberlich neben Ca-
therines Körper auf einen Haufen. Den
Rest der Gedärme sowie der meisten an-
deren Innereien zerfetzte er ähnlich wie Abbildung 2.24: Elizabeth Stride, Polizei-
ihr Gesicht. Ihre Gebärmutter und eine foto
Niere nahm er mit, als er die Stätte sei-
nes blutigen Wirkens verließ.
Im Umfeld Inspektor Abberlines war natürlich die Hölle los. Zwei Morde in einer
Nacht waren angesichts der zugespitzten politischen Lage in Whitechapel das abso-
lut Letzte, was Scotland Yard brauchen konnte. Der Mörder hinterließ darüber hinaus
in einem Hauseingang noch eine Kreideinschrift, welche das Pulverfass Whitechapel
hätte explodieren lassen können: The Juwes are not the ones to be blamed with - Die
Juden sind nicht diejenigen, die beschuldigt werden sollten. Dies konnte natürlich be-
deuten, dass der Täter ein Jude war, der den Verdacht von den Juden ablenken wollte -

69
Das Dokument des Grauens

die Inschrift wurde jedenfalls kopiert und sofort entfernt. Auffällig war, dass das Wort
Jews - Jude - falsch buchstabiert war.
Dieser Sachverhalt half späterhin, die
Authentizität von Bekennerschreiben zu
beurteilen. Am folgenden Tag, dem 1.
Oktober 1888, trudelte bei der Zeitung
Star ein solcher anonymer Brief ein. Sein
Inhalt sorgte für Aufsehen. Es waren vie-
le angebliche Bekenntnisse bei dem Ver-
lag und auch der Polizei eingegangen,
doch dieser Brief war etwas Besonde-
res. Er beschrieb den letzten Mord aus-
gesprochen genau und enthielt eine An-
spielung, in welcher es hieß, beim näch-
sten Mal würde er seinem Opfer die Oh-
ren abschneiden - bei Catherine Eddowes
waren sie angeschnitten worden, nicht
ganz abgetrennt. Unterschrieben war der
Brief mit einem Namen, welcher bis heu-
te unvergessen ist: Jack the Ripper.
Abberline reagierte mit einem massi-
ven Einsatz von Polizeikräften auf den
Doppelmord. Die Beamten gingen von
Haus zu Haus und verhörten so in na-
hezu ganz Whitechapel die Einwohner.
Zehntausende von Flugblättern wurden
Abbildung 2.25: Catherine Eddowes’ Lei- verteilt. Der Ripper hielt sich dement-
che, Polizeifoto sprechend auch zurück, die Polizeiprä-
senz und die erhöhte Wachsamkeit der
Einwohner Whitechapels schien ihm nicht geheuer zu sein. Aber der Albtraum war
noch nicht vorbei, wie George Lusk am 15. Oktober feststellen durfte, als er seine
Hauspost durchsah. Er fand darunter eine Schachtel, welche eine halbe menschliche
Niere enthielt. Beigefügt war ein kurzes Schreiben, in welchem der Verfasser behaup-
tete, es sei ein Teil der fehlenden Niere von Catherine Eddowes - den Rest des Organs
habe er gebraten und verspeist.
Sechs Wochen nach dem Doppelmord hatte sich die Ripper-Hysterie wieder ge-
legt und das Leben soweit normalisiert, dass der Gedanke an den Ripper nicht mehr
das Bewusstsein der Menschen zu kontrollieren schien, sobald sie sich auf die Straße
begaben. Die Zeit war gekommen für einen neuen Auftritt. Am 9. November kehrte
Jack in die Straßen Whitechapels zurück. Der daraus resultierende Mord sollte das
schlimmste Verbrechen in Englands Kriminalgeschichte werden.
Die 25-jährige Prostituierte Mary Jane Kelly wurde zum letzten Mal um 2 Uhr
nachts lebend gesehen, als sie einen Mann traf und sich anschickte, sich mit ihm in

70
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Abbildung 2.26: Die Überreste von Mary Jane Kelly, Polizeifoto. Am rechten Bildrand
in der Mitte kann man erkennen, was von ihrem Gesicht, Nase und Augen übrig blieb.
Von der Bildmitte zum linken Bildrand erstreckt sich ihr linkes Bein, ihr rechtes Bein
liegt angewinkelt dahinter an der Wand, welche bis zum oberen Bildrand massiv mit
Blut bespritzt wurde. Vor dem Bett befindet sich ihr Nachttisch mit den Fleischresten.

71
Das Dokument des Grauens

ihr kleines Zimmer im Haus Miller’s Court Nr. 13 zu begeben. Gegen 5.45 Uhr hörten
Nachbarn, wie jener Mann das Zimmer wieder verließ. Weitere fünf Stunden später
fand der Vermieter Thomas Bowyer, welcher gekommen war, um die Miete zu kassie-
ren, Mary Janes Leiche vor. Zumindest war wahrscheinlich, dass es sich um Mary Jane
Kelly handelte, denn Bowyer war nicht mehr in der Lage, sie zu identifizieren. Jack
hatte die Sicherheit des kleinen Zimmers offensichtlich dazu genutzt, seine Fantasie
und sein Begehren richtig auszuleben.
Der Ripper hatte in jener Nacht ein grauenvolles Schlachtfest abgehalten. Mary
Jane Kelly war eigentlich nur noch ein Haufen blutiges Fleisch, welcher nur wenig
an die junge Frau erinnerte, welche sie noch kurz zuvor gewesen war. Ihr Hals war
aufgeschnitten, die Wirbelsäule freigelegt. Das Gesicht war so sehr zerhackt, dass es
nicht möglich war, noch irgendwelche Gesichtszüge zu entdecken. Ihr Bauch war auf-
geschlitzt worden, die Bauchhöhle völlig entleert. Die Gedärme wurden auf einem
Haufen rechts vom Leichnam gefunden, zu ihrer linken Seite lag die Milz. Die Leber
positionierte der Ripper zwischen ihren Füßen. Ihre Brüste waren abgeschnitten, eine
lag bei ihrem rechten Fuß, die andere unter ihrem Kopf. Das Fleisch von der Bauch-
decke war ebenso wie jenes der Oberschenkel abgetrennt worden; die Beamten fanden
es auf dem kleinen Tisch, welcher neben Mary Janes Bett stand, wieder. Nase und
Ohren waren praktisch nicht mehr vorhanden, Wangen und Augenbrauen sowie die
Augen teilweise entfernt.
Nach dem Gemetzel vom Miller’s Court hörten die Morde auf. Jack the Ripper
wurde nie identifiziert und der erste dokumentierte englische Serienkiller mit sexuel-
len Handlungsmotiven wandelte sich zunehmend zu einem Mythos. Verdächtige gab
es viele, darunter der Sohn eines Arztes und ein Amerikaner und es wurde auch nicht
ausgeschlossen, dass es sich nicht nur um einen Täter handelt, sondern vielmehr um
zwei oder mehr Männer, die als Team arbeiteten. Etwa hundert Jahre nach den Mor-
den kam auch die Theorie auf, es handele sich bei Jack the Ripper um einen überge-
schnappten Baumwollhändler aus Liverpool, doch diese Theorie ist in keiner Weise
untermauert - ihre Urheber brachten nur angebliche Beweise vor, welche aussagten,
dass dieser Mann der Killer sein müsse, da niemand beweisen könne, dass er es nicht
war - und verfolgten offensichtlich nur kommerzielle Ziele mit ihrer Veröffentlichung.
Die Anonymität des Rippers regte neben den schrecklichen Details der Morde noch
zusätzlich die Fantasie der Menschen an. Jeder konnte der Ripper sein - der Nachbar,
der Hausarzt, der beste Freund, jeder war ein potenzieller Täter. Noch heute, mehr als
ein Jahrhundert nach den Vorfällen in Whitechapel, fasziniert uns Jack the Ripper -
in London kann man zum Beispiel an einer Jack the Ripper Tour teilnehmen, wäh-
rend welcher man allabendlich zu den Schauplätzen der Morde geführt wird, und das
Wachsfigurenkabinett The London Dungeon hat seit 1991 eine eigene Abteilung Jack
the Ripper gewidmet, ein Fest für alle jene, welche nicht nur von den Leichen der fünf
Frauen hören, sondern sie auch sehen wollen. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen
auf Papier und Zelluloid beschäftigt sich direkt mit dem Fall, indem sie neue Theorien
spinnen oder alte untermauern. Der Urahn der modernen Serienkiller wurde jedoch vor

72
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

allem auch zum Urahn des Slasher-Films und des „Serienkillerkinos“.

Am 22. Januar 1892 schrieb der norwegische Expressionist Edvard Munch folgen-
de Zeilen in sein Tagebuch:

„Nizza 22. Januar 1892


- Ich ging mit zwei Freunden einen Weg entlang
- die Sonne ging unter
- plötzlich färbte sich der Himmel blutrot
- ich hielt an, fühlte mich erschöpft, und lehnte an den Zaun
- da war Blut und feurige Zungen über der blau-schwarzen Bucht und der
Stadt
- meine Freunde gingen weiter und ich stand dort, vor Angst zitternd
- und ich spürte einen unendlichen Schrei die Natur durchdringen.“

Im Jahr darauf übertrug Edvard Munch diese Erfahrung in ein Gemälde, welchem
er den deutschsprachigen Titel Der Schrei der Natur verlieh. Ins Englische wurde
der Titel mit The Scream übersetzt und von dort ins Norwegische, die Muttersprache
Munchs, als Shrik, was auf deutsch gleichbedeutend mit „Kreischen“ wäre. Heute ist
das Gemälde in Deutschland auch vorrangig unter dem abgeleiteten Namen Der Schrei
bekannt.
Das Gemälde zeigt einen Blick über das Oslofjord and Hovedøya, ausgehend von
einem Hügel namens Ekeberg. Am Fuße des Ekeberg war Edvard Munchs manisch-
depressive Schwester Laura Catherine in einem Irrenhaus untergebracht; außerdem
befand sich in unmittelbarer Nähe noch ein Schlachthof, was eine eventuell in Munch
vorhandene negative Grundstimmung noch verstärkt haben könnte. Es wird angenom-
men, dass es sich bei der Person auf dem Gemälde um Edvard Munch selbst handelt,
angelehnt an die Körperhaltung einer peruanischen Mumie, welche Edvard Munch im
Jahr 1889 auf einer Ausstellung in Paris besichtigte und die auch als Vorlage zwei-
er Gemälde seines Kollegen und Freundes Paul Gauguin diente. Die Person hält sich
mit entsetztem Blick die Ohren zu, als sie die lauten Schrei der Natur vernimmt, den
die beiden Passanten im Hintergrund jedoch nicht zu hören scheinen. Das Bild erlaubt
jedoch unter Einbeziehung der Titelübersetzungen ebenso die Interpretation, dass die
Person selbst einen Schrei des Entsetzens ausstößt.
Der Schrei der Natur war das erste Bild einer Serie über das gleiche Motiv in ver-
schiedenen Medien, welche Munch bis in das Jahr 1910 hinein anfertigte. Im Laufe der
Zeit wurde es zu einem der meistzitierten künstlerischen Werke in Kunst und Werbung
und das Gemälde ist nahezu jedermann in irgendeiner Form bekannt. Dem Freund von
Horrorfilmen ist es jedoch vor allem als die Vorlage der Maske von Ghostface bekannt,
dem Mörder aus Wes Cravens Scream (1996) sowie dessen zwei Fortsetzungen. Da
erscheint es als durchaus angemessen, dass Wes Craven seiner Horrorserie dann auch
gleich den Titel von Munchs Meisterwerk als Namen verlieh.

73
Das Dokument des Grauens

Abbildung 2.27: Der Schrei der Natur, Gemälde von Edvard Munch

74
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

Abbildung 2.28: Vampir, Gemälde von Edvard Munch aus dem Jahr 1894

Bereits im Jahr darauf schuf Edvard Munch ein weiteres Meisterwerk des Schre-
ckens: Vampir. Zunächst hatte Munch es Liebe und Schmerz genannt, doch diese
Absicht blieb nur vorübergehend. Als er 1894 schließlich vier verschiedene Fassungen
des Gemäldes angefertigt hatte, standen Titel und +Inhalt dann fest und die Vampire
wurden 1902 in Berlin auch unter diesem Namen erstmals der Öffentlichkeit gezeigt,
wo sie sehr kontrovers aufgenommen wurden.
Das Bild zeigt eine rothaarige Vampirdame, welche einen Mann in der tödlichen
Umarmung hält und ihm das Blut aussaugt. Das Bild lässt auch andere Assoziatio-
nen zu; manche Kritiker nehmen an, dass es sich bei der Dame um eine Prostituier-
te handelt, welche ihrem Freier die Moral aussaugt - Besuche bei solchen war eine
Leidenschaft Munchs, für welche er stets Rechtfertigung suchen musste. Andere wie-
derum betrachten das Werk als makabere Fantasie über den Tod von Edvard Munchs
Schwester. Auch erinnert Munchs Meisterwerk an die realen Ängste jener Zeit, vor
allem hinsichtlich der Emanzipation der Frau; ein schwacher Mann gehalten von ei-
nem dominierenden weiblichen Wesen war nicht unbedingt dem entsprechend, was
die Gesellschaft sehen wollte. In jedem Fall macht der Titel des Werkes jedoch eines
klar: Der Mann auf dem Gemälde ist ein Opfer und nicht derjenige, welcher von der
gezeigten Verbindung profitiert.
Vampir wurde von den Nationalsozialisten zur entarteten Kunst erklärt und ver-
schwand daraufhin in dem Privatarchiv eines Sammlers, bis es im Spätsommer 2008

75
Das Dokument des Grauens

Abbildung 2.29: Zeichnung des Innenlebens eines Kinetoskops

76
2. Eine kurze Reise durch die Zeit

erstmals zur Auktion freigegeben wurde.

1894 tauchten in New York, London, Paris und Berlin plötzlich rätselhafte Kästen
auf, in welche man durch lichtgeschützte Gucklöcher hineinschauen und nach Einwurf
einer Münze sich bewegende Bilder sehen konnte - das Kinetoskop des Erfinders
Thomas Alva Edison betrat die Bühne der Welt und schickte sich an, das Interesse der
Bürger zu erheischen.
Diese Art der Filmvorführung erwies sich jedoch nicht sonderlich effizient. Die
französischen Brüder Louis und Auguste Lumière schickten sich an, eine Apparatur
zu entwickeln, die mehreren Personen gleichzeitig das Anschauen eines Films ermög-
lichen sollte. Dieses Gerät, der Cinématographe, wurde 1895 der breiten Öffentlich-
keit vorgestellt. Dieses Filmvorführgerät stellte eine Verbindung zwischen der Technik
von Edisons Kinetoskop und der Laterna magica her und begeisterte die Massen. Die
Brüder Lumière stellten eine Vielzahl von Filmen her und sorgten hierbei auch für
die ersten Anfälle von Panik in der Filmgeschichte, indem sie einen effektvollen Film
zeigten, in welchem ein Zug auf die Kamera zufuhr und das Publikum in vielen Fällen
voller Angst flüchtete.

Die frühen Filme Edisons und der Lumière-Brüder waren rein dokumentarischer
Natur. Die Filmemacher beobachteten lediglich, sie erzählten keine Geschichten. Hier-
zu bestand auch kein direkter Anlass, denn die Faszination des neuen Mediums reichte
aus, um die Kassen zu füllen. Der Erste, der die Kluft zwischen der Dokumentation
des Lebens und der Interpretation desselben übersprang, war der 1861 geborene Illu-
sionist Georges Méliès. In der Dachstube eines am Pariser Stadtrand gelegenen Hauses
begann Méliès im Jahr 1896 damit, das künstlerische Potenzial des neuen Mediums
auszuloten und veränderte noch im gleichen Jahr die Welt des Horrors für immer.

77
Das Dokument des Grauens

78
Kapitel 3

1896

Marie Georges Jean Méliès, professio-


neller Zauberkünstler von Beruf, begeg-
nete 1895 dem Cinématographen der
Brüder Lumière und war von dessen
bewegten Bildern fasziniert. Bereits im
Jahr darauf veröffentlichte er seine ersten
selbst gedrehten Filme, welche von aus-
gesprochen experimenteller Natur wa-
ren. Seiner großen Leidenschaft für die
Vorspiegelung falscher Tatsachen ent-
sprechend zeigte Méliès keineswegs das
Leben, sondern widmete sich stattdessen Abbildung 3.1: Der Edelmann verjagt den
den Träumen - Méliès konnte das Zau- Teufel in Le manoir du diable (1896)
bern nicht lassen1 .

Einer seiner frühen Filme trägt den Titel Le manoir du diable (1896)2 . Bei diesem
Film handelt es sich um die Filmversion eines gleichnamigen Zaubertricks, welcher im
Jahr 1890 in dem berühmten Pariser Théâtre Robert-Houdin - mehr dazu später - auf-
geführt wurde und zusammen mit einem anderen illusionistischen Kunststück namens
Le Spectre den Höhepunkt der abendlichen Vorführungen darstellte.
Méliès zeigt uns die Halle eines Schlosses. Eine große Fledermaus fliegt herbei.
Diese dreht einige Runden und verwandelt sich schließlich in einer Explosion aus
Rauch in Mephistopheles, dargestellt von Georges Méliès persönlich. Mephistophe-
1
Hierbei gelang Méliès auch manche Innovation. Die bekannteste dürfte das Verfahren der Stop-
Motion-Technik sein, welches Méliès zufällig entdeckte. Er erkannte schnell das kreative Potenzial,
welches man wecken kann, sobald man nicht nur filmte, sondern die Inhalte eines Films auf Basis der
Einzelbilder manipuliert. Georges Méliès ist nicht nur der Urvater des künstlerischen Kinos, sondern
auch der große Pionier in der Welt der Spezialeffekte.
2
Le manoir du diable, aka Manor of the Devil, aka The Manor of the Devil, aka The Devil’s Ma-
nor, aka The Devil’s Castle, aka The Haunted Castle (Star Film, Frankreich 1896, Regie, Drehbuch,
Kamera: Georges Méliès, Darsteller: Jeanne d’Alcy, Georges Méliès, Länge: ca. 40 m, ca. 2 Minuten)

79
Das Dokument des Grauens

les zaubert ein junges Mädchen herbei. Mephistopheles ist damit jedoch noch nicht
zufrieden und zaubert munter weiter. Es erscheint ein Edelmann und daraufhin eine
Frau. Als er ihr die Hand küssen möchte, verwandelt sie sich in eine Hexe ... dann in
eine ganze Gruppe von Hexen ... bis der Edelmann den Teufel bemerkt, ein Kruzifix
zückt und Mephistopheles in einer erneuten Rauchwolke verschwinden lässt.
In diesem Film finden wir mit der Gestalt des Mephistopheles nicht nur den Teufel
höchstpersönlich vor, er erscheint uns darüber hinaus noch als Vampir. Dieses Motiv
des als Fledermaus erscheinenden Teufels benutzte Méliès erneut in seinem Film Le
diable au convent (1899).

Le manoir du diable (1896) ging als der erste Horrorfilm in die Geschichte ein,
doch muss man bedenken, dass der Film keinerlei Horror vermittelte. Der Film be-
schäftigt sich zwar mit dem Teufel und allerlei Kreaturen aus der Welt des Grau-
ens, doch ist, wie auch die meisten anderen der über 500(!) Filme Méliès’, eher einer
amüsanten, fantasievollen Betrachtungsweise verschrieben. Hinzu kommt noch, dass
das Publikum jener Tage sich mehr für die Wunder der neuen Technik interessierte
als für die Inhalte der gezeigten Filme. Bei der Vorführung von Le manoir du dia-
ble (1896) gruselte sich niemand - was angesichts der Länge des Films sowieso eine
Meisterleistung der Regie gewesen wäre3 .
Verlieren Sie jedoch nicht das Jahr aus den Augen - 1896 - und versuchen Sie, ein
Gefühl dafür zu bekommen, wie viele Jahre dieser Film bereits zurückliegt.
1896, das war das Jahr, in welchem es den ersten Verkehrstoten überhaupt gab, in
London. Im August 1896, kurz nach dem Entstehen dieses Films, wurde am Klondike
Gold gefunden und der große Goldrausch brach aus. Es war das Jahr, in welchem die
Radioaktivität entdeckt wurde. In Russland wurde ein Zar gekrönt. Otto von Bismarck
lebte noch. Und die USA bekamen mit Utah ihren 45. Bundesstaat. Ja, Le manoir du
diable (1896) mag wie die anderen Vertreter des Films der damaligen Zeit kaum mehr
als zwei Minuten Laufzeit gehabt haben und völlig ungruselig gewesen sein - aber er
traf den Geschmack des Publikums und eröffnete neue Horizonte.
Wo wir gerade bei neuen Horizonten sind: Die Darstellerin Jeanne d’Alcy war ei-
ne Muse von Georges Méliès. Sie drehten etliche Filme zusammen, bis er sie dreißig
Jahre nach Le manoir du diable (1896) schließlich auch heiratete. Neue Horizonte
eröffnete sie mit ihrer Hauptrolle in Méliès’ Après le bal (1897), in welchem sie in der
Rolle einer Dame aus der oberen Gesellschaftsschicht den ersten konsequent durchge-
3
In den frühen Tagen des Films wurde die Länge eines Films nicht in Form der heute benutz-
ten Laufzeit in Minuten, sondern vielmehr die Länge des Filmmaterials in Metern angegeben. Dies ist
darin begründet, dass es noch keine verbindlich festgelegte Zahl von Einzelbildern gab, welche pro
Sekunde über die Leinwand flimmerten. Wie viel Zeit die Vorführung eines Films beanspruchte, wur-
de daher von zwei Faktoren bestimmt, nämlich der Geschwindigkeit, mit welcher der Kameramann
bei den Dreharbeiten das Filmmaterial herunterkurbelte sowie das Tempo, mit welchem wiederum der
Filmvorführer die Kurbel des Projektors drehte. Die Laufzeit von Le manoir du diable (1896) lag in
der Regel zwischen 2 und 3 Minuten; würde man den Film mit der heute üblichen Geschwindigkeit von
24 Einzelbildern pro Sekunde abspielen, wäre er nach etwa einer Minute vorüber.

80
3. 1896

zogen Striptease vor laufender Kamera zeigte. Der Film hatte ein hohes Potenzial zu
einem Skandal, zumal Méliès und Jeanne d’Alcy keine Eheleute waren, und der Film
wurde auch nur in privaten Vorführungen vor seriösem Publikum gezeigt. Das sei jetzt
aber wirklich nur am Rande erwähnt.

Noch im gleichen Jahr sorgte Méliès für einen weiteren innovativen Horrorstreifen.
Mit Une nuit terrible (1896)4 drehte er den ersten Monsterfilm.
Ein Mann liegt in seinem Bett und schläft, als ein großer Käfer das herabhängen-
de Betttuch hinauf auf das Bett krabbelt. Der Mann erwacht und ein wilder Kampf
entbrennt. Der Käfer versucht, die Wand hinauf zu fliehen. Aber der Mann ergreift ne-
ben dem Bett stehenden Besen und drischt damit auf die Kreatur ein. Der Käfer fällt
auf das Bett zurück, der Mann springt wie verrückt auf dem Tier herum und entsorgt
dessen Überreste schließlich in seinen Nachttopf.
Auch hier gilt wie schon bei Le ma-
noir du diable (1896), dass es bei den
Motiven des Horrors bleibt. Der Film an
sich ist besonders im Falle von Une nuit
terrible (1896) von derart komödianti-
scher Art, dass man den Film auch in den
Bereich des Slapsticks einordnen könnte.
Aber in einem Detail ist schon die-
ser Film durchaus modern, wenngleich
auch in einem eher negativen Sinn. Denn
auch in Une nuit terrible (1896) ist das
Monster der eigentliche Hauptdarsteller
des Films. Die an einer Angel hängende Abbildung 3.2: Une nuit terrible (1896):
Käferpuppe mit ihren beweglichen Bein- Der Käfer klettert auf das Bett des Schlä-
chen bleibt in der Erinnerung haften, und fers
nicht etwa der aktiv handelnde Mensch.
Allerdings war das damals noch nicht so peinlich wie heute, denn, wie bereits gesagt,
waren damals die Effekte das Einzige, was für das Publikum zählte. Und bewegte Bil-
der an sich waren bereits ein grandioser Spezialeffekt, an welchen man sich nicht so
schnell gewöhnte. Die Glaubwürdigkeit eines Effekts war absolut zweitrangig.

Mit seinem Film Escamotage d’une dame chez Robert-Houdin (1896)5 verneig-
te sich Georges Méliès vor einem Mann, in welchem er ein Vorbild für seine eigene
Arbeit sah und mit dessen Werk Georges Méliès untrennbar verbunden war. Jean Eugè-
4
Une nuit terrible, aka A Terrible Night (Star Film, Frankreich 1896, Regie, Drehbuch, Kamera,
Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 20 m, 1 Minute)
5
Escamotage d’une dame chez Robert-Houdin, aka Conjuring a Lady at Robert Houdin’s,
aka The Conjuring of a Woman at the House of Robert Houdin, aka The Vanishing Lady (Star
Film, Frankreich 1896, Regie, Drehbuch, Kamera: Georges Méliès, Darsteller: Jeanne d’Alcy, Georges
Méliès, Länge: ca. 40 m, 2 Minuten)

81
Das Dokument des Grauens

ne Robert-Houdin war ein französischer Illusionist in der Mitte des 19. Jahrhunderts
und einer der Ersten, welche mit damals neuen Errungenschaften wie Elektromagne-
ten oder Äther arbeiteten. Er gilt heute als der Begründer der modernen Illusionen und
der Beschwörungen. Der amerikanische Illusionist und Entfesselungskünstler Ehrich
Weiss änderte zu Ehren von Robert-Houdin seinen Bühnennamen in Harry Houdini
und wurde als solcher weltberühmt.
Georges Méliès war zwischen 1888 und 1907 der Geschäftsführer des Théâtre
Robert-Houdin; seine Begeisterung für Spezialeffekte kam in der Tat nicht aus hei-
terem Himmel, sondern er stand der Magie sehr nahe und Filme stellten für ihn auch
ein neues Medium für Illusionen dar. Dementsprechend wurden diese frühen Filme
Méliès’ auch im Théâtre Robert-Houdin vorgeführt.
In Escamotage d’une dame chez
Robert-Houdin (1896) zeigt Méliès wie
schon mit Le manoir du diable (1896)
einen nachgestellten Zaubertrick, wel-
cher zuvor im Théâtre Robert-Houdin
aufgeführt wurde. Hierbei verwandelt er
mittels eines harten Schnittes die auf ei-
nem Stuhl sitzende Jeanne d’Alcy in ein
Skelett. Méliès scheint zu erschrecken
und wenig erfreut, woraufhin er das Ske-
lett zu vertreiben versucht und es wieder
mit seinem Zaubertuch bedeckt. Als er
Abbildung 3.3: Georges Méliès verwan- das Tuch wegzieht, sitzt die Dame wie-
delt eine Frau in ein Skelett in Escamotage der auf dem Stuhl und alles ist wieder in
d’une dame chez Robert-Houdin (1896) Ordnung.

Jump cuts, harte Schnitte, waren damals ein bevorzugter Spezialeffekt von Geor-
ges Méliès. In Le manoir du diable (1896) sowie Escamotage d’une dame chez
Robert-Houdin (1896) waren diese noch vergleichsweise simpel gehalten, denn dort
verwandelten sich ausschließlich Elemente des Bildvordergrundes. Nicht so jedoch
in Le Cauchemar (1896)6 . Hier erweckt Méliès den Schläfer aus Une nuit terrible
(1896) erneut aus dem Schlaf und lässt ihn einen Albtraum erleben, in welchem sich
sowohl im Vordergrund als auch im Hintergrund die Bildinhalte verändern.
Der Film selbst ist wieder sehr komödiantisch angelegt. Ein Mann wälzt sich in
seinem Bett hin und her. Er träumt, dass am Fußende seines Bettes eine schöne Frau
sitzt, den Körper nur mit einem Laken verhüllt. Als er zu ihr kriecht und sie umarmen
möchte, verwandelt sich die Frau unvermittelt in einen Schwarzen, welche auf einem
Banjo spielt. Der Schläfer erschrickt natürlich schrecklich und er weicht voller Furcht
zurück, der Musikant springt auf das Bett und beginnt ein Tänzchen. Nach einigen
6
Le Cauchemar, aka A Nightmare (Star Film, Frankreich 1896, Regie, Drehbuch, Kamera: Geor-
ges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Jeanne d’Alcy, Länge: ca. 23 m, 1 Minute)

82
3. 1896

Sekunden kann der Schläfer das alles nicht mehr ertragen und greift nach seinem Pei-
niger. Doch der verwandelt sich erneut, diesmal in einen Harlekin, und läuft davon, als
die Wand hinter dem Bett zu einem Balkon wird. Das alles geht jetzt noch ein wenig
hin und her, bis der Schläfer sich am Ende aussortiert und wieder unter seine Bettdecke
kriecht.

Der letzte Film mit Anleihen an Gruseliges, welcher 1896 entstand, stammt eben-
falls aus der Werkstatt von Georges Méliès. Über Tom Old Boot (1896)7 ist jedoch
nicht viel bekannt. Der Film hatte eine Laufzeit von etwa einer Minute und zeigte
einen grässlich aussehenden Zwerg.

Wie man sich leicht denken kann,


spielte der Horror in den frühen Tagen
des Kinos nur eine untergeordnete Rol-
le. Für das Grauen war damals absolut
kein Platz im Reich der technischen und
visuellen Tricks; Staunen war angesagt,
nicht Gruseln. Die meisten Filmemacher,
allen voran die Lumières, konzentrierten
sich auf die Dokumentation des Lebens
und der Umwelt. Nur Méliès, der Zaube-
rer, erkannte Film als Ausdrucksform der
Fantasie, Gemälden ähnlich und keines-
wegs nur Fotografie. Dementsprechend Abbildung 3.4: Selbst der Vollmond wird
bildeten die Filme von Georges Méliès zu einer Schreckensgestalt und beißt den
auch die einzigen Abstecher des Erschei- Schläfer in die Hand: Le Cauchemar
nungsjahres 1896 in den Horrorfilm. An (1896)
dieser praktisch nicht vorhandenen Prä-
senz des Horrorfilms abseits der Vorstellungskraft des genialen Franzosen sollte sich
auch in den nächsten Jahren nicht allzu viel ändern.

7
Tom Old Boot (Star Film, Frankreich 1896, Regie, Drehbuch, Kamera: Georges Méliès, Länge:
ca. 22 m, 1 Minute)

83
Das Dokument des Grauens

84
Kapitel 4

Eine kurze Reise durch die Zeit


Wer sich gegen Ende des 19. Jahrhun-
derts gruseln wollte, griff nach wie vor
zur Literatur. Hier wurde man auch 1896
fündig, da in diesem Jahr erneut ein Mei-
lenstein der Horrorliteratur ins Rampen-
licht rückte: Herbert George Wells’ The
Island of Dr. Moreau.
Erneut finden wir hier einen ver-
rückten Wissenschaftler vor, wie wir ihn
seit unserer ersten Bekanntschaft mit
Dr. Frankenstein regelmäßig erleben dür-
fen. Dr. Moreau überschreitet die Gren-
ze des moralisch vertretbaren bei sei-
nen Experimenten und wird letztlich das
Opfer seiner außer Kontrolle geratenen
Schöpfung. Wie schon Mary Shelleys
Erzählung tendiert Wells’ Roman stark
zur Science-Fiction, in diesem konkreten
Fall zur Genetik, ist jedoch wesentlich
makabrer als sein Vorbild und die Horro- Abbildung 4.1: Englische Erstausgabe von
relemente treten deutlicher hervor. Der- The Island of Dr. Moreau, Heinemann Ver-
artige Kreuzungen der beiden phantasti- lag, London, aus dem Jahr 1896
schen Genres kann man noch des Öfteren
in Wells’ Werk finden - die bekanntesten
solcher wissenschaftlichen Utopien mit Motiven des Horrors sind The Time Machine,
The Invisible Man und The War of the Worlds.

1897, ein Jahr nach der Erstaufführung von Le manoir du diable (1896) hiel-
ten die Leser einen neu erschienenen Roman in Händen, welcher eine der größten
Schreckensgestalten des Horrors gebar: Abraham „ Bram“ Stokers Dracula, or The
Undead. Der irische Theaterdirektor Stoker vermengte hier geschickt Mythen aus der

85
Das Dokument des Grauens

Welt des Horrors mit denen der Geschichte. Der klassische Vampir, welcher bereits
in Méliès Film in Gestalt einer Fledermaus herumflatterte, wurde mit Vlad Ţepeş ge-
kreuzt. Hierzu mischte Stoker dem Ganzen noch eine Ladung literarische Vorbilder
wie Le Fanus Carmilla sowie einen gehörigen Schuss Vampirlegenden des Balkans
zu.
Mit Dracula, or The Undead revo-
lutionierte Stoker die Welt der Schau-
erliteratur. Vorbei waren die Zeiten vor-
nehmen Erschauderns angesichts fanta-
stischer, letztlich jedoch moralisch kor-
rekt dargestellter Ungeheuer.
Der nach Blut dürstende und ge-
ballten Sex verströmende Vampir sorg-
te für Angstzustände unter den Lesern.
Die beiden Kontrahenten Dracula und
Van Helsing fackelten nicht lange und
kamen schnell und gewalttätig zur Sa-
che, während die Autoren der literari-
schen Vorgänger Stokers stimmungsvol-
le Beschreibungen und angenehmes Gru-
Abbildung 4.2: Bram Stoker
seln zelebrierten. Ein genialer Schachzug
Stokers war außerdem, den Roman in der unbekannten Welt Transsylvaniens beginnen
zu lassen und als klassischen Schauerroman anzulegen, was die Fantasie des Lesers
noch heute ungemein beflügelt, und dann die Verbindung zwischen der Traumwelt
des Karpartenschlosses und der realen Welt des Lesers einzureißen, indem er den Ort
der Handlung in der zweiten Romanhälfte nach London verlegte und den Fürsten der
Dunkelheit fortan in der realen Welt des Lesers sein Unwesen treiben ließ.
Eine ungeheure Popularität des Romans war die Folge, welche noch bis heute un-
gebrochen ist. Graf Dracula gehört zu den am meisten referenzierten Gestalten des
Horrorfilms, mit Vertretern aus nahezu jeder intellektuellen Schicht des Kinos. Hoch-
gradig künstlerische Werke wie Murnaus Nosferatu: Eine Symphonie des Grauens
(1922) sind ebenso vertreten wie das triviale Kommerzkino der Hammer Studios, wel-
che mit Terence Fishers Dracula (1958) einen ihrer größten Erfolge feierten.

Die Sucht des Publikums nach immer neuem Schrecken war jedoch keineswegs nur
eine Sache der Engländer, welche Bram Stoker lasen, ihre Freizeit im Covent Garden
verbrachten und sich dort grausamen Theaterstücken hingaben. Auch in Paris sah es
nicht anders aus. Im Jahr 1897 schlug in einer gotischen Kapelle in der Rue Chaptal
des 9. Arrondissements die Stunde des Théâtre du Grand-Guignol.
Während eines Abends im Théâtre du Grand-Guignol bekam man in der Regel
fünf bis sechs verschiedene Bühnenstücke zu sehen. Diese handelten stets von Gewalt,
Mord, Sex und hauptsächlich Horror. Das Publikum wurde mit einer Vielzahl an mehr
oder weniger extremen Darstellungen konfrontiert, angefangen bei dem ausgiebigen

86
4. Eine kurze Reise durch die Zeit

Einsatz künstlichen Blutes, über aufgeschlitzte Hälse, herausgepuhlte Augen und in


Gesichter geschüttete Säure, bis hin zu Köpfungen und Ausweidungen. Die Bösen
überlebten oft das Ende des Stückes, während die Unschuldigen grausam starben. Wer
sich liebte, wurde betrogen, zumeist während einer der eingeworfenen Sexszenen, wel-
che die Stimmung zwischen einzelnen Gewalttaten wieder auflockerten. Das Theater
fokussierte sich ganz klar darauf, Unmoral auf der Bühne zu zeigen und jede denkbare
Grenze zu überschreiten.

In dem Buch The Grand Guignol:


Theatre of Fear and Terror (1988) be-
schreibt der Historiker Mel Gordon eini-
ge der Aufführungen. Darunter befindet
sich unter anderem folgende Beschrei-
bung:
„Zwei Brüder feiern mit zwei Pro-
stituierten eine Orgie in einem Leucht-
turm. Das Signalfeuer des Leuchtturms
erlischt dabei und einer der Brüder wird
sich bewusst, dass ein Boot mit ihrer
Mutter an Bord auf die Klippen zusteu-
ert. Aber der betrunkene Leuchtturmwär-
ter hat den Raum mit dem Warnlicht ab-
geschlossen.
Ein Bruder dreht durch und gibt einer
vorgeblich blasphemischen Handlung ei-
ner der Huren die Schuld, schlitzt ih-
ren Hals auf und wirft sie aus dem Fen-
ster. Das Boot mit der Mutter zerschellt
schließlich an den Klippen und in ihrem
Abbildung 4.3: Plakat einer Aufführung
religiösen Wahn beschließen die Brüder,
des Théâtre du Grand-Guignol aus dem
die andere Prostituierte zu verbrennen.
Jahr 1960, aus der Sammlung von Eric
Sie übergießen sie mit Benzin, zünden
Horton
sie an und beten.“[4]
Die Aufführungen unterschieden sich inhaltlich nur wenig von den Slasher-, Gore-
und Torture-Porn-Streifen, welche seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts oft in
den Kinos anzutreffen sind. Letztlich handelt es sich beim Théâtre du Grand-Guignol
um den Urahn von Filmen wie The Incredible Torture Show (1958), Dawn of the
Dead (1978), Friday the 13th, E tu vivrai nel terrore - L’aldilà (1981), oder Saw
(2004). Aber eine Komponente des Theaters machte den Besuch zu einer grenzwerti-
geren Erfahrung, als es Filme zu tun vermögen - das Geschehen auf der kleinen, etwa
7x7 Meter großen Bühne war live und das Theater mit seinen lediglich 285 Sitzplätzen
intimer, als es Kinos in der Regel waren. Wer in den vorderen Reihen saß, hatte oft
das zweifelhafte Vergnügen, mit Kunstblut und Schlachtabfällen aus den Metzgereien

87
Das Dokument des Grauens

der Umgebung eingesaut zu werden, denn Kollateralschäden waren bei den Blutorgien
aufgrund der räumlichen Enge des Theaters schlichtweg nicht vermeidbar.
Der Ruf des Théâtre du Grand-Guignol war dementsprechend auch von ausgespro-
chen einschlägiger Natur - und die Besucher kamen in Massen. Das Theater wurde zu
einer der großen Touristenattraktionen von Paris. In den über 60 Jahren seines Be-
stehens wurden etwa 850 verschiedene Stücke aufgeführt. Die zwischen 1917 und den
30er Jahren dort tätige Schauspielerin Paula Maxa erreichte einen hohen Bekanntheits-
grad als die „am meisten ermordete Frau der Welt“. Sie spielte normalerweise Opfer-
rollen und soll während ihres Engagements über 10.000-mal gestorben und 3.000-mal
vergewaltigt worden sein.
In den frühen 60er Jahren sank die Beliebtheit des Theaters zusehend, bis es 1962
zur letzten Aufführung kam. Der letzte Direktor des Théâtre du Grand-Guignol, Charles
Nonon, wird mit den Worten zitiert, dass das Theater es am Ende nicht mehr mit den
realen Schrecken wie Buchenwald hätte aufnehmen können.

88
Kapitel 5

1897

In der Welt des Films trat die Entwicklung des Horrors ungeachtet der literarischen
Erfolge auf der Stelle und bereits im ersten Jahr nach den allerersten Filmen dieses
Genres können wir eine Entwicklung erkennen, welche sich vor allem im letzten Drit-
tel des 20. Jahrhunderts vielfach wiederholen sollte: Le manoir du diable (1896) war
ein großer Erfolg und wurde dementsprechend kopiert, in der Hoffnung, mit der Idee
auch gleich die klingelnden Kassen mitkopieren zu können.
Der Urheber dieses ersten Remakes der Horrorfilmgeschichte war der Engländer
George Albert Smith, der angesichts des Erfolgs des Franzosen nun seinerseits damit
begann, fantasiebetonte Filme zu drehen. Aus seiner Werkstatt folgte das Plagiat The
Haunted Castle (1897)1 , für welches Smith nicht nur den englischen Titel von Le ma-
noir du diable (1896) kopierte, sondern auch den Inhalt. Der Film erreichte jedoch die
Klasse des Pariser Vorbilds nicht; echte Kreativität behielt schon während der ersten
Atemzüge des Genres die Oberhand über kommerzgetriebene Neufassungen.

Auch der Meister selbst schreckte nicht vor einem sich thematisch sehr dicht an Le
manoir du diable (1896) orientierenden Film zurück.
Der von Hand kolorierte2 Film Le château hanté (1897)3 zeigt einen Mann, wel-
cher in einem Spukschloss übernachten möchte. Er setzt sich auf einen Stuhl, doch
dieser springt durch einen Schnitt an eine andere Position und der Mann plumpst auf
den Boden. Der Mann steht wacker wieder auf und geht zu dem Stuhl, als an dessen
Stelle eine mysteriöse Gestalt erscheint, welche eine kleine Kiste in den Händen hält.

1
The Haunted Castle (George Albert Smith Films, UK 1897, Regie: George Albert Smith)
2
Dies können Sie ruhig wörtlich nehmen. Bei der Handkolorierung wurde in der Tat jedes Einzelbild
eines Negativs in Handarbeit mit Pinsel und Farbe in eine bunte Form gebracht. Solch eine Filmrolle
konnte danach auch nicht mehr kopiert werden, also musste eine weitere Kopie dann erneut manuell
eingefärbt werden. Dementsprechend sind handkolorierte Kopien auch sehr selten.
3
Le château hanté, aka The Haunted Castle (Star Film, Frankreich 1897, Regie, Drehbuch, Ka-
mera, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 15m, 1 Minute)

89
Das Dokument des Grauens

Der Mann zieht ein Schwert und stößt zu; der Geist verwandelt sich nun in ein
Skelett. Der Mann stürzt sich auf das Skelett, doch nun steht an dessen Stelle ein Ritter
in eiserner Rüstung. Kurz darauf endet der Film abrupt
und ohne erkennbaren Grund an ei-
ner Stelle, welche wohl einen erneuten
Schnitt gezeigt hätte, was die Vermutung
nahelegt, dass entweder eine Rolle des
Films verloren ging oder Georges Méliès
ihn nie vollendete.
Große Vorsicht ist geboten, weil Le
château hanté (1897) aufgrund seines
identischen englischen Titels oftmals mit
Le manoir du diable (1896) verwech-
selt wird. Dieser Film ist auch meistens
Abbildung 5.1: Le château hanté (1897)
die Ursache dafür, dass Le manoir du
diable (1896) auf das Jahr 1897 datiert
wird. Dies ist ein Irrtum, denn es handelt sich sowohl um inhaltlich wie auch stilistisch
grundverschiedene Filme.

Der mit Röntgenaufnahmen herumhantierende The X-Ray Fiend (1897)4 stammt


wie schon The Haunted Castle (1897) aus George Albert Smiths Werkstatt, ist aber
immerhin halbwegs originell. Die Röntgenstrahlung war eine relativ junge Entdeckung
und der Film schlachtet dieses Wunder der Wissenschaft aus, indem er die Röntgen-
aufnahme eines jungen Paares zeigt, welches sich umarmt.

Georges Méliès wurde auch während des Rests des Jahres nicht faul und produzier-
te drei weitere Horrorfilme. Der Erste war die Komödie L’auberge ensorcelée (1897)5 .
Ein Mann betritt ein Gästezimmer in einer Herberge und möchte es sich gemütlich ma-
chen. Doch die Gegenstände beginnen sich zu bewegen oder zu verschwinden - eine
Kerze, ein Stuhl, ja sogar seine Kleider und schließlich dann das Bett. Entnervt flieht
der Mann am Ende wieder aus dem Zimmer.
L’auberge ensorcelée (1897) folgt Méliès’ Tradition der jump cuts und der stop
motion und bietet auch inhaltlich nichts wirklich Neues. Auffällig ist jedoch, dass
seine Laufzeit mit zwei Minuten doppelt so lang ist wie jene seiner Vorgänger des
Vorjahres. Ebenso waren die Effekte, vor allem die mittlerweile fast unmerklich ge-
wordenen Schnitte, bereits auf einem hohen Niveau angekommen; die Präzision, mit
welcher Méliès seine Körperhaltung über einen Schnitt hinweg nicht veränderte, ist
beeindruckend. Méliès entwickelte sich offensichtlich weiter und seine Genialität als
Effektzauberer wird für den heutigen Betrachter mit jedem neuen Film immer greifba-
4
The X-Ray Fiend (George Albert Smith Films, UK 1897, Regie: George Albert Smith, Darsteller:
Tom Green)
5
L’auberge ensorcelée, aka The Bewitched Inn (Star Film, Frankreich 1897, Regie, Drehbuch,
Kamera, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 40 m, 2 Minuten)

90
5. 1897

rer.

Der ebenfalls handkolorierte L’hallucination d’alchimiste (1897)6 , in welchem


Méliès einen Stern mit 5 weiblichen Köpfen und einem großen Gesicht zeigte, gilt als
wahrscheinlich verloren.

Le cabinet de Méphistophélès (1897)7 zeigt zwei Ritter, welche den Teufel in sei-
nem Labor überraschen. Der Teufel verwandelt sich erst in einen alten Greis, dann
verpufft er in einer Rauchwolke, ja sogar sein Kopf löst sich vom Rumpf und schwebt
umher. Méliès zog alle Register seines Könnens und lieferte mit diesem Film ein Feu-
erwerk der Tricks und der Fantasie. Er betrat mit diesem Film technisches Neuland;
Le cabinet de Méphistophélès (1897) ist einer der ersten Filme überhaupt, welcher
Doppelbelichtungen einsetzt. Hier verzeiht man Méliès auch, dass er die Kulisse von
Le manoir du diable (1896) für diesen Film benutzte. Aber aller Wahrscheinlichkeit
nach werden wir den Film nicht mehr in seiner Gänze sehen können, denn auch er gilt
inzwischen als größtenteils verloren. Da ist wohl nichts mehr zu machen, leider.

Und auch Le magnétiseur (1897)8 wurde von dem gleichen Schicksal ereilt. Der
Film ist so gut wie vergessen. Er zeigte einen Hypnotiseur, der eine Frau in den Schlaf
versetzt und sie dann auf magische Weise Stück für Stück entkleidet. Den Überliefe-
rungen nach soll dies jedoch noch im Rahmen des guten Geschmacks vonstattenge-
gangen sein; es handelte sich also nicht um ein erotisches Werk.

6
L’hallucination d’alchimiste, aka The Hallucinated Alchemist (Star Film, Frankreich 1897,
Regie, Drehbuch, Kamera, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 20 m, 1 Minute)
7
Le cabinet de Méphistophélès, aka The Laboratory of Mephistopheles, aka The Devil’s Labo-
ratory (Star Film, Frankreich 1897, Regie, Drehbuch, Kamera, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca.
60 m, 3 Minuten)
8
Le magnétiseur, aka The Hypnotist at Work, aka While Under a Hypnotist’s Influence (Star
Film, Frankreich 1897, Regie, Drehbuch, Kamera, Darsteller: Georges Méliès)

91
Das Dokument des Grauens

92
Kapitel 6

Eine kurze Reise durch die Zeit


Im folgenden Jahr veröffentlichte der
Autor Henry James sein Werk The Two
Magics, ein aus zwei Novellen bestehen-
des Buch. Die erste dieser beiden Ge-
schichten nannte er The Turn of the
Screw.
The Turn of the Screw erzählt von ei-
nem namenlosen und nicht weiter cha-
rakterisierten Erzähler, der von sich be-
hauptet, eine in einem Landhaus tätige
Gouvernante gekannt zu haben, welche
ihre Erlebnisse auf Papier festhielt, und
der diese Geschichte jetzt vorliest. Klingt
das verwirrend? Genau das ist es auch.
The Turn of the Screw schildert die wenig
glaubhafte Geschichte einer Frau, von
welcher der Leser nie wissen wird, ob
sie die Wahrheit sprach oder einfach nur
völlig kirre war, durch einen Unbekann- Abbildung 6.1: Englische Erstausgabe von
ten und somit wenig glaubhaften Erzäh- The Two Magics, Heinemann Verlag, Lon-
ler. Auweia. Hörensagen pur. Dies macht don, aus dem Jahr 1898
The Turn of the Screw zu einem Freuden-
fest der Literaten und zu einem Albtraum englischer Schüler. Und große Literatur aus
dem Horrorgenre interessiert uns auch besonders, denn Auswirkungen auf zukünftige
Genrebeiträge waren auch in diesem Fall nicht vermeidbar.
Die Gouvernante wird von einem Gutsbesitzer angestellt, um sich um seine Nichte
und seinen Neffen zu kümmern. Die beiden verloren ihre Eltern durch einen Unfall
und leben jetzt hier, ohne dass ihr Onkel sich sonderlich für sie interessieren würde.
Daher überträgt er der Gouvernante alle notwendigen Vollmachten in der Hoffnung,
nie von ihr etwas zu hören und seine Ruhe vor den Kindern zu haben.

93
Das Dokument des Grauens

Es dauert nicht lange, bis die Idylle des Landlebens sich für die Gouvernante ein-
zutrüben beginnt. Miles, der Junge, fliegt von der Schule; angeblich sei er eine Be-
drohung für die anderen Kinder. Eine Frau und ein Mann, welche die Gouvernante
nicht kennt, scheinen Interesse an dem Gut zu haben. Und sie findet heraus, dass ihre
Vorgängerin, eine Miss Jessel, einen Bediensteten namens Peter Quint zu ihrem Lieb-
haber gemacht hatte. Miss Jessel und Quint starben unter mysteriösen Umständen. Die
Gouvernante kommt immer mehr zu der Überzeugung, dass die beiden unheimlichen
Besucher in Wirklichkeit Miss Jessel und Quint seien, welche die Kinder aus ihrem
Grab heraus beeinflussen. Die Gouvernante will die Kinder retten, und so kommt es
zur Katastrophe.
The Turn of the Screw wurde im Jahr 1954 von Benjamin Britten als Oper adaptiert.
John Frankenheimer inszenierte mit The Turn of the Screw (1959) eine Liveaufführung
im Fernsehen, die Hauptrolle spielte Ingrid Bergman. Zwei Jahre später folgte eine
hervorragende Verfilmung unter dem Titel The Innocents (1961); das Drehbuch wur-
de von Truman Capote verfasst und Deborah Kerr spielte die Hauptrolle. Liebhabern
des Horrors dürfte auch der Kameramann Freddie Francis nicht unbekannt sein. Der
vor allem wegen seins Selbstjustiz-Opus Death Wish (1974) bekannte Michael Winner
drehte ein Prequel zu The Innocents (1961) mit dem Titel The Nightcomers (1974),
in welchem das Verhältnis zwischen und die Todesumstände von Miss Jessel und Peter
Quint näher beleuchtet werden. Der Film erreicht nicht die Klasse seines Vorgängers,
ist jedoch ebenfalls attraktiv besetzt - in der Rolle des Peter Quint ist Marlon Brando
zu sehen. Im gleichen Jahr drehte Dan Curtis eine TV-Adaption mit Lynn Redgrave,
The Turn of the Screw (1974). Weitere Verfilmungen folgten mit der französischen Pro-
duktion Le tour d’écrou (1974), der deutschen Opernverfilmung The Turn of the Screw
(1982), dem spanischen Film Otra vuelta de tuerca (1985), eine Folge von Shelley
Duvalls Nightmare Classics (1989) mit Amy Irving, der Produktion Die Drehung der
Schraube (1990) des Süddeutschen Rundfunks, der englisch-französischen Produktion
The Turn of the Screw (1994) mit Patsy Kensit, Stéphane Audran, Julian Sands und
Marianne Faithful, zwei weiteren TV-Filmen aus England mit den Titeln The Haun-
ting of Helen Walker (1995) und The Turn of the Screw (1999). Die zum Zeitpunkt des
Schreibens dieser Seiten jüngsten Verfilmungen sind der wenig gelungene The Turn
of the Screw (2003) und die italienischen Fernsehfassungen Giro di vite (2008) und
Il mistero del lago (2009). Wenn wir nicht nur die unmittelbaren Verfilmungen be-
trachten, sondern auch auf Anleihen und Zitate achten, wird es sehr unübersichtlich
und Aufzählungen zu einem zum Scheitern verurteilten Unterfangen; zu den sehens-
wertesten Ablegern gehört der wunderbare Geisterfilm The Others (2001) mit Nicole
Kidman.
Und ein Ende ist nicht abzusehen, solange Geister weiterhin unsere Fantasie beflü-
geln.

94
Kapitel 7

1898

Wenngleich das Jahr 1898 den literarischen Sektor mit The Turn of the Screw berei-
cherte, blieben in der Welt der bewegten Bilder die Überraschungen aus. Sämtliche
dem Horror zugewandte Produktionen waren nach wie vor von experimenteller Na-
tur und bauten weiterhin auf den Aha-Effekt, den Filme generell bei den Zuschauern
hervorriefen. Neben der noch nicht vorhandenen Reife von Erzählformen und auch
Technik dürfte vor allem darin der Grund für diesen Stillstand in der Entwicklung lie-
gen, dass das künstlerische Potenzial des Mediums zwar von kreativen Geistern wie
Méliès und Smith erahnt wurde, die Öffentlichkeit es jedoch noch belächelte und in
Jahrmarktbuden abschob.

1898 begann auch Thomas Alva Edison damit, konkret in den Markt des erzählen-
den Films einzudringen und produzierte mit The Cavalier’s Dream (1898)1 und Ella
Lola, á la Trilby (1898)2 die ersten amerikanischen Horror-Kurzfilme.
In The Cavalier’s Dream (1898) zeigte Edison seinem Publikum einen Mann,
welcher an einem Tisch sitzend eingeschlafen ist. Eine Hexe erscheint ihm, ebenso
Mephistopheles. Der Film bot im Vergleich zu den bisherigen Werken eines Georges
Méliès absolut nichts Neues, aber immerhin half er mit, den fantastischen Film auch
über die Pariser Grenzen hinaus zu verbreiten.
Ella Lola, á la Trilby (1898) war schon ein wenig anspruchsvoller. Es handelt sich
bei diesem Film um eine erste Adaption der literarischen Vorlage Trilby von George
Du Maurier und den ersten Auftritt des bösen Hypnotiseurs Svengali in der Filmge-
schichte.

George Albert Smiths Genrebeitrag des Jahres 1898 war Photographing a Ghost
(1898)3 . Ein Mann mit einem Fotoapparat möchte in diesem Film ein Experiment wa-
gen. Zwei Männer tragen eine Kiste in den Raum, auf welcher mit deutlich lesbaren
1
The Cavalier’s Dream (Edison, USA 1898, Regie: Edwin S. Porter)
2
Ella Lola, á la Trilby (Edison, USA 1898, nach der Erzählung Trilby von George L. Du Maurier)
3
Photographing a Ghost (George Albert Smith Films, UK 1898, Regie: George Albert Smith,
Länge: ca. 30m, 2 Minuten)

95
Das Dokument des Grauens

Buchstaben das Wort GHOST geschrieben steht - ja, damals wurde die Kunst des cine-
matografischen Erzählens mitunter noch mit dem Holzhammer zelebriert. Jedenfalls
öffnen die Männer die Kiste und eine weiße Gestalt erscheint. Sie wuselt ein wenig im
Raum herum, und gerade als der Fotograf bereit ist und sein Bild machen möchte, ver-
schwindet der Geist. Der Mann ist verängstigt und sehr überrascht, als der Geist wieder
erscheint, im Raum herumschwebt und schließlich wieder in seiner Kiste landet. Der
Fotograf möchte den Geist fangen, klappt den Deckel der Kiste zu, setzt sich darauf
und schließt die Kiste mit einem sichtbaren Seufzer der Erleichterung wieder ab. Doch
ein Geist lässt sich nicht fangen; plötzlich erscheint er wieder im Raum. Stühle begin-
nen sich zu bewegen und schließlich gibt der Fotograf auf.

Selbstverständlich war der kreati-


ve Zauberkünstler aus Frankreich auch
1898 weiterhin am Werk und leg-
te die Messlatte bei seinen Spezial-
effekten immer höher. In Les ray-
ons Roentgen (1898)4 zeigt Geor-
ges Méliès einen Wissenschaftler, der
einen Patienten in ein lebendes Ske-
lett verwandelt. Es handelte sich hier-
bei erneut um die Verfilmung eines
Zaubertricks aus dem Théâtre Robert-
Houdin.

Mit La caverne maudite (1898)5 be-


trat Georges Méliès wieder tricktechni-
sches Neuland und produzierte die ersten
Doppelbelichtungen von Filmmaterial in
der Filmgeschichte. Eine Doppelbelich-
tung nennt man das Verfahren, ein be-
reits mit einem Motiv belichtetes Negativ
erneut mit einem anderen Inhalt zu be-
lichten. Auf diese Weise lassen sich zwei
Abbildung 7.1: Werbeplakat der Theater- voneinander unabhängige Motive zu ei-
aufführung, auf welcher Les rayons Ro- nem Gesamtbild ergänzen, allerdings auf
entgen (1898) beruht Kosten von Einbußen der Bildqualität
aufgrund der partiellen Überbelichtungen. Der Film wartet wie auch Les rayons Ro-
entgen (1898) auf seine Wiederentdeckung, daher ist nicht viel über ihn bekannt. Die
Indizien sprechen jedoch dafür, dass in dem Film Geister vorkamen (mit Doppelbe-
4
Les rayons Roentgen, aka A Novice at X-Rays (Star Film, Frankreich 1898, Regie, Drehbuch,
Kamera, Darsteller: Georges Méliès)
5
La caverne maudite, aka The Accursed Cave, aka The Cave of the Demons (Star Film, Frank-
reich 1898, Regie, Drehbuch, Kamera: Georges Méliès)

96
7. 1898

lichtungen erzeugt man halb durchsichtige Körper) und dass, wie uns der Titel des
Films verrät, eine Höhle involviert war.

Georges Méliès´ ambitioniertestes und erfolgreichstes Projekt in diesem Jahr war


La lune à un mètre (1898)6 . Und dieser Film hatte es in sich. Auf den ersten Blick
handelte es sich um einen Film, der nach dem üblichen Rezept von Méliès´ Filmen
gestrickt ist - ein Mann torkelt durch das Bild, verschwindende Gegenstände - allen
voran der Stuhl, auf welchen er sich gerade setzen möchte -, und Ähnliches. Bei ge-
nauerem Hingucken erkennt man jedoch, wie viel Arbeit und Innovation in dem Werk
steckt.
Méliès zeigt uns über die Lauf-
zeit von drei Filmrollen insgesamt sechs
Schauspieler, sechs Szenenwechsel, 31
jump cuts, stop motion, sich laufend än-
dernde Vorder- und Hintergründe, einen
Mond mit animierter Mimik und ... die
erste Splatterszene der Filmgeschichte.
Die Handlung des Films ist schnell
erzählt. Méliès spielt einen alten Astro-
nomen mit langem, weißem Rausche-
bart und spitzem Hut, der wie besessen
in seinen Unterlagen herumkritzelt. Der
Teufel erscheint und will den Astrono- Abbildung 7.2: Der Teufel sitzt vor den
men von seiner Arbeit ablenken, aber Überresten des Astronomen und hält des-
das klappt irgendwie nicht. Also fährt sen Kopf in der Hand, während der Mond
er immer größere Geschütze auf ... bis debil grinst (La lune à un mètre (1898)
plötzlich der Mond in das Laboratorium
hineinzuhüpfen scheint. Da hockt er nun, rollt mit den Augen und zerkaut das Fernrohr
des Astronomen. Nach ein wenig Hin und Her und noch ein paar jump cuts später ha-
ben wir dann auch noch die „Frau im Mond“ gesehen, bis sich der Mond entschließt,
gleich den ganzen Astronomen zu fressen.
Und jetzt kommt’s. Der Mond spuckt den halb verdauten Astronomen dann wieder
aus, in passenden Häppchen. Zuerst matscht der Brustkorb auf den Boden, die Rippen
sind hier übrigens deutlich erkennbar. Arme und Beine folgen, und anschließend rollt
der Kopf des Astronomen aus dem Schlund auf den blutigen Haufen am Boden. Der
Teufel erscheint wieder, hebt den Kopf auf und schäkert mit ihm herum, bis plötz-
lich die Mondfrau wieder die Szene betritt und den Bösewicht mit einem beherzten
Schwung in einer Wolke aus Rauch verschwinden lässt. Sie erweckt den Astronomen
wieder zum Leben und alles wird gut.
6
La lune à un mètre, aka Le rêve d’un astronome, aka L’homme dans la lune, aka The Astro-
nomer’s Dream, aka The Astronomer’s Dream, or the Moon at One Meter (Star Film, Frankreich
1898, Regie, Drehbuch, Kamera: Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Jeanne d’Alcy, Länge:
ca. 45m, 3 Minuten)

97
Das Dokument des Grauens

Die eigentliche Hauptperson dieses Films ist die mechanische Attrappe des Mon-
des. Die Augen rollen von links nach rechts und rechts nach links, manchmal auch
völlig asynchron voneinander, was den Eindruck vermittelt, als sei der Mond geistig
etwas zurückgeblieben. Die Augenbrauen wippen dazu im Takt. Der Mund besteht aus
einem überspannten Holz- oder Metallgestell, welches die Lippen imitiert und fleißig
wie die Schalen einer Muschel auf- und zuklappt. Und zwischen den niedlichen Vam-
pirzähnen befindet sich eine Rutsche, auf welcher diverse Gegenstände und Personen
ins Bild purzeln. Man kann beim Betrachten des Films im Geiste den Lärm hören,
welchen diese Höllenmaschine erzeugt haben muss.

Georges Méliès lebte seine überbordende Fantasie aus, der Franzose war hierbei
einfach unschlagbar. George Albert Smith versuchte sich stattdessen in seriöseren Me-
tiers und versuchte sich an einer Literaturverfilmung. Er bediente sich an Alexandre
Dumas und drehte den Kurzfilm The Corsican Brothers (1898)7 . Smith hatte zusam-
men mit James Williamson über die letzten zwei Jahre eine eigene Kamera entwickelt
und setzte diese für diesen Film und die darin enthaltenen Überlagerungen zweier Bil-
der (nicht Doppelbelichtungen) ein. Auf diese Weise realisierte er eine Darstellung von
Geistern.

Eine weitere Literaturverfilmung mit Horrorelementen aus den Werkstätten des


fleißigen Engländers war Faust and Mephistopheles (1898)8 . Von dem Film sind kei-
ne Details mehr erhalten. Lediglich der Titel weist darauf hin, dass sich Smith hier an
Motiven Goethes versuchte.

Und das war es dann auch schon, mehr Veröffentlichungen von Horrorfilmen hatte
das Jahr 1898 nicht zu bieten.

7
The Corsican Brothers (George Albert Smith Films, UK 1898, Regie: George Albert Smith)
8
Faust and Mephistopheles (George Albert Smith Films, UK 1898, Regie: George Albert Smith,
Länge: ca. 25m, 2 Minuten)

98
Kapitel 8

1899

Georges Méliès trieb es wieder bunt, als


er La colonne de feu (1899)1 von Hand
kolorierte. Bei dem Film handelte es sich
um die Inszenierung der Schlussszene
von Henry Rider Haggards Abenteuerro-
man She, in welcher die Königin einer
verlorenen Zivilisation von einer magi-
schen Feuersäule die Unsterblichkeit ver-
liehen bekommt.
Feuer?
Ja, das ist natürlich der Startschuss
für Méliès, den Teufel in die Szene ein-
zubauen, was dem Film wiederum den Abbildung 8.1: Der Teufel und die Königin
Eintrag in dieser Chronik verschafft. in La colonne de feu (1899)
Bemerkenswert ist bei diesem Film
natürlich vorrangig die Kolorierung, in welcher Méliès nicht mit den Farben geizte.
Der Teufel erscheint in einem ungeheuer galligen Grün. Sein Kochtopf, oder besser
gesagt die Kochpfanne, erstrahlt golden, ebenso wie das Haar der Königin. Ihre Ge-
wänder sind weiß und leicht bläulich, der Hintergrund in Gelbtönen gehalten. Am
Ende taucht Méliès die gesamte Szenerie in ein feuriges Rot.
Schön anzusehen sind allerdings auch die Kulissen selbst. Vom Hintergrund bis
zum Brennholz unter der Pfanne ist alles gemalt. Jeanne d’Alcy wurde mit einer He-
bebühne aus dem Unterboden nach oben gefahren, anstelle sie urplötzlich erscheinen
zu lassen. Oh ja, und selbstverständlich sollten Sie die beiden Monsterskulpturen im
Bildhintergrund nicht übersehen, denn diese sind zum Quietschen komisch.

1
La colonne de feu, aka La danse du feu, aka The Pillar of Fire, aka Haggard’s She: The Pillar
of Fire (Star Film, Frankreich 1899, Regie, Drehbuch, Kamera: Georges Méliès, Darsteller: Georges
Méliès, Jeanne d’Alcy, Länge: ca. 20 m, 1 Minute)

99
Das Dokument des Grauens

Mit Un bon lit (1899)2 drehte Georges Méliès ein Remake seines drei Jahre zuvor
entstandenen Films Une nuit terrible (1896). Dieses Mal geht der Film aber noch
etwas länger als damals, selbstverständlich sind auch die Effekte etwas komplizierter.
Wieder sehen wir den Schläfer in seinem Bett, erleuchtet vom Mondlicht. Wieder
krabbelt ein großes Insekt auf sein Bett. Der Schläfer erwacht, hüpft voller Furcht her-
um und tötet das Monster. Aber dann erscheinen zwei weitere Käfer, welche die Wand
hochkriechen. Jetzt zündet der Schläfer eine Kerze an und hält sie unter die Viecher,
woraufhin diese in Rauchwolken verpuffen.

In dem erst im Jahr 2007 in Spanien


wiederentdeckten Film namens Évocati-
on spirite (1899)3 agiert Georges Mé-
liès wieder wie auf der Bühne seines
Theaters. Er präsentiert dem Publikum
einen von der Decke baumelnden, ge-
flochtenen Kranz in Manier eines Illu-
sionisten; er greift also auch durch den
Kranz hindurch und läuft dahinter vor-
bei, um zu zeigen, dass es wirklich keine
Verbindung mit der Rückwand oder ähn-
liche billige Tricks gibt. Über eine Mas-
ke blendet Méliès dann das fremdartig
Abbildung 8.2: Georges Méliès beschwört verhüllte Antlitz eines Geistes ein, wel-
in Évocation spirite (1899) die Geister ches durch eine nur langsam aufgelös-
te Unschärfe während des Einblendungs-
vorganges eine gespenstische Wirkung mit sich bringt. Danach folgen noch das Ge-
sicht von Jeanne d’Alcy und als komödiantischer Abschluss noch ein kurzes Zwiege-
spräch Méliès’ mit sich selbst. Der Film ist nett und handwerklich in Ordnung, aber zu
diesem Zeitpunkt bereits doch schon mélièssche Massenware von der Stange.

Man dachte lange Zeit, der Film sei verloren, aber dann tauchte im Jahr 2005 in
einem versteckten französischen Keller doch noch eine Kopie von Georges Méliès’
Cléopâtre (1899)4 auf. Der Film zeigt einen Mann, der in der Gruft von Cleopatra auf
deren Mumie stößt und sie wieder zum Leben erweckt. Voilà, der allererste Mumien-
film, hier ist er.

2
Un bon lit, aka A Midnight Episode (Star Film, Frankreich 1899, Regie: Georges Méliès, Länge:
ca. 40 m, 2 Minuten)
3
Évocation spirite, aka Raising the Spirits, aka Summoning the Spirits (Star Film, Frankreich
1899, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Jeanne d’Alcy, Länge: ca. 20 m, 1 Minute)
4
Cléopâtre, aka Cleopatra, aka Cleopatra’s Tomb, aka Robbing Cleopatra’s Tomb (Star Film,
Frankreich 1899, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Jeanne d’Alcy, Länge: ca. 20 m,
1 Minute)

100
8. 1899

Ebenfalls aus Frankreich und die Erste aus einer ganzen Reihe von Verfilmungen
des Stoffes ist La belle et la bête (1899)5 . In der Filmfassung der berühmten Er-
zählung von Gabrielle-Suzanne Barbot de Villeneuve wurde das glückliche Ende der
Geschichte gezeigt, in welchem die Liebe einer schönen Frau das Monster in einen
netten Prinzen verwandelt.

Auf der anderen Seite des Ärmelkanals blieben die Filmemacher aber auch nicht
untätig. Walter Robert Booth, ein Magierkollege von Georges Méliès in der Londoner
Egyptian Hall, drehte seinen Debütfilm The Miser’s Doom (1899)6 . Walter Robert
Booth wurde 1906 bekannt, als er den ersten britischen Cartoon inszenierte, aber bei
The Miser’s Doom (1899) übte er noch und war auch nur von Robert W. Paul, einem
glühenden Verehrer von Georges Méliès, engagiert. Für die Dreharbeiten mietete sich
Paul im Norden Londons ein und zimmerte eine Bühne zusammen, auf welcher er sich
dann mit Booth in die Inszenierung des Films stürzte. Der fertige Film erzählt von ei-
nem Geizhals, der durch sein Fehlverhalten den Tod einer jungen Frau verursacht. Am
Ende wird er von ihrem Geist verfolgt, bis er an einer Herzattacke zugrunde geht.

Auch in den USA war man nicht untätig. Ein Neuling namens Siegmund Lubin
fiel hier auf. Er hatte die Idee, ein Geisterhaus auf die Leinwand zu bringen. In seinem
Film The Haunted House (1899)7 erscheint in einem Hotel ein Geist und erschreckt
in der Nacht einen Bauerntrampel beinahe zu Tode. Der junge Mann sinkt vor dem
Geist auf die Knie und fleht die Erscheinung an, ihm nichts anzutun. Als das Gespenst
wieder verschwindet, scheint die Welt wieder in Ordnung und der Protagonist möchte
wieder in sein Bett zurück, doch da lauert plötzlich der Teufel höchstpersönlich unter
den Laken ...
The Haunted House (1899) ist eine reine Komödie, die schon in ihrem Programm-
heft mit dem Versprechen antrat, dass sich das Publikum vor Lachen schütteln würde.
Der Hauptgrund hierfür liegt im Slapstick der unbeholfenen Hauptperson. Bemerkens-
wert ist der Film vor allem, weil er der erste Vertreter eines Subgenres war, welchem er
auch gleich den Namen gab, und welches die Welt des Films die nächsten Jahrzehnte
heimsuchen sollte, meistens in Form dümmlicher Klamotten. Dies ist keine Übertrei-
bung, wir werden noch etlichen haunted house-Filmen aus amerikanischer Produktion
begegnen.

Thomas Alva Edison meldete sich in diesem Jahr zurück und präsentierte einen
Film voller Gespensterklamauk. A Visit to the Spiritualist (1899)8 zeigt einen Mann,
welcher einen Geisterbeschwörer besucht. Er zahlt sein Eintrittsgeld und lässt sein Ta-
schentuch fallen. Es wächst, tanzt in der Luft herum, wächst weiterhin ... und wird
5
La belle et la bête, aka Beauty and the Beast (Pathé, Frankreich 1899 Länge: ca. 20 m, 1 Minute)
6
The Miser’s Doom (Robert W. Paul, UK 1899 Regie: Walter Robert Booth, Robert W. Paul, Länge:
ca. 75 m, 4 Minuten)
7
The Haunted House (The Lubin Company, USA 1899 Regie: Siegmund Lubin)
8
A Visit to the Spiritualist (Edison Manufacturing Company, USA 1899 Regie: J. Stuart Blackton)

101
Das Dokument des Grauens

schließlich zu einem Geist. Der Mann erschreckt sich und hat Angst, wirft seine Klei-
der weg, welche wieder zu ihm zurückkehren, und so weiter. Am Schluss erscheinen
noch einige Geister und andere Kreaturen mehr, woraufhin der Mann angsterfüllt das
Weite sucht. Der Film kann wahrlich nicht von sich behaupten, sonderlich originell zu
sein.

Bei A The Maniac Barber (1899)9 handelt es sich um einen sogenannten Mu-
toscope-Film. Ähnlich wie bei Edisons Kinetoskop wurden die Filme nicht auf ei-
ne Leinwand geworfen, sondern ein einzelner Zuschauer schaute nach Einwurf einer
Münze in eine große Kiste, in deren Innern der Film ablief, sofern man mit der rechten
Hand eine Kurbel bediente. Die Einzelbilder der Filme waren jedes für sich auf ei-
ner Karte abgebildet. Die Karten wiederum waren auf einem Ring montiert, der etwa
850 solcher Karten fassen konnte, was einer Laufzeit von etwa einer Minute entsprach.
Beim Abspielen wurden diese Karten dann durchgeblättert, wie in einem Daumenkino.
In A The Maniac Barber (1899) sah man während des Blickes in das Abspiel-
gerät das Innere eines Friseurladens. Ein Kunde betritt den Raum, setzt sich auf den
Stuhl und der Barbier macht sich an die Arbeit. Allerdings geht er hierbei etwas konse-
quenter zu Werke, als man es gewohnt ist; er schneidet kurzerhand seinem Kunden den
ganzen Kopf ab, setzt diesen auf einen Tisch und beendet dort die Rasur. Dann setzt er
den Kopf wieder zurück auf seinen angestammten Platz zwischen den Schultern des
Kunden, und dieser steht auf und bedankt sich.

The Skeleton at the Feast (1899)10 ist ein weiter Film nach dem Mutoscope-
Prinzip. Zwei Paare sitzen in einem Restaurant zu Tisch. Sie trinken sehr viel Wein.
Anscheinend zu viel, denn plötzlich erscheint ein Skelett an ihrem Tisch und erhebt
warnend den Zeigefinger. Eine der Damen fällt daraufhin in Ohnmacht.

Es bliebe nun noch ein Film zu erwähnen. Es handelt sich um jene Produktion des
Jahres, welche die einzige wirklich bemerkenswerte aus diesem Filmjahr sein dürfte.
Es handelt sich um Le diable au convent (1899)11 . Der Film hat etliche Gemeinsam-
keiten mit La lune à un mètre (1899), seinem stilistischen und inhaltlichen Vorgänger
aus dem Jahr zuvor. Allerdings ist er noch mal um einiges hysterischer. Und ohne
Splattereffekte, dafür aber mit einer kräftigen Prise Blasphemie. Werfen wir einen ge-
naueren Blick darauf.
Der Film spielt in einem Kloster. Der Gottesdienst wurde gerade vorbereitet, als
der Teufel sich zu einem Besuch entscheidet und aus dem Taufbecken hopst. Wie eine
Fledermaus schwebt er dann auf den Boden herab, seinen Umhang als Flügel benut-
9
The Maniac Barber (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1899 Regie: Frederick S. Armi-
tage)
10
The Skeleton at the Feast (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1899 Regie: Frederick S.
Armitage)
11
Le diable au convent, aka The Devil in the Convent, aka The Sign of the Cross (Star Film,
Frankreich 1899, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 70 m, 4 Minuten)

102
8. 1899

zend. Dann läutet er die Glocke, auf dass sein Publikum zum Gottesdienst erscheinen
möge.
Um nicht sofort aufzufliegen, verwandelt er sein Aussehen noch in das eines Prie-
sters. Eine Gruppe Nonnen erscheint daraufhin, kniet auf den Betstühlen nieder und
der Teufel betritt in seiner Verkleidung die Kanzel. Jetzt kann das Spektakel beginnen.
Der Teufel beginnt seine Predigt mit intensivem Gefuchtel seiner Arme und nach
kurzer Zeit offenbart er den armen Nonnen, wer er wirklich ist. Worauf diese in Panik
flüchten. Aber der Teufel hat sich soeben erst warmgelaufen ...
Georges Méliès zieht in den nachfol-
genden drei Minuten alle Register seines
außergewöhnlichen Könnens. Inhaltlich
kommen die Gags im Abstand weniger
Sekunden aufgereiht wie an einer Perlen-
schnur und auch die Gehässigkeit kommt
nicht zu kurz. Kreischende Nonnen, wel-
che vor dem schelmischen Teufel flüch-
ten, sah man bislang genauso wenig auf
der Leinwand wie einen Teufel, der auf
dem Rücken eines riesigen Pappfrosches
durch eine Kirche reitet. Technisch se-
hen wir die bislang höchste Frequenz von Abbildung 8.3: Der Teufel und seine
jump cuts innerhalb eines Filmes, und Spießgesellen in Le diable au convent
auch welche von hoher Komplexität mit (1899)
bis zu acht gleichzeitig sichtbaren Dar-
stellern - wobei einige davon allerdings gehörig in die Hose gingen, aber das schmä-
lert die Liebenswürdigkeit des Filmes nicht. Die Hebebühne aus La colonne de feu
(1899) sehen wir ebenso wieder wie die Mechanik aus La lune à un mètre (1899),
dieses Mal allerdings nicht hinter einem Mondgesicht verborgen, sondern hinter einem
schweinsähnlichen Dämonenkopf, und ohne die flatternden Lippen.
Technisch eröffnet Le diable au convent (1899) keine neuen Horizonte, aber im
Gegensatz zu La lune à un mètre (1899) stimmt hier jetzt das Gesamtbild und die
Effekte sind nicht mehr nur um ihrer selbst willen enthalten. Jetzt steht endlich die
Technik im Dienste des Inhalts, und nicht mehr andersrum. Sollte sich Georges Mé-
liès letzten Endes noch zu einem Geschichtenerzähler entwickeln? Schaden könnte es
nicht, denn er hatte ja bereits schon ausgiebig bewiesen, dass er ein begnadeter Hand-
werker und Techniker war.

103
Das Dokument des Grauens

104
Kapitel 9

1900

In diesem Jahr gab sich Georges Méliès


gegenüber dem Gruseligen recht zurück-
haltend. Elemente des Schreckens waren
in zweien seiner Filme zwar enthalten,
aber sie spielten stets eine untergeordne-
te Rolle. Jeanne d’Arc (1900)1 war mit
seiner Spieldauer von etwa 11 Minuten
in der damaligen Zeit so etwas wie ein
historisches Epos, und dazu auch noch
vollständig handkoloriert. Die Scheiter-
haufenszene, in welcher Jeanne d’Arc
verbrannt wird, ist zwar recht lang, aber
in Hinsicht auf das gesamte Werk ist der Abbildung 9.1: Jeanne d’Arc (1900):
Einfluss des Horrors vernachlässigbar. Verbrennung auf dem Scheiterhaufen

L’illusioniste double et la tete vivante (1900)2 zeigt einen Zaubertrick, wie so


viele andere Filme von Méliès zuvor bereits ebenfalls. Diesmal erschafft Méliès einen
Doppelgänger von sich selbst und gemeinsam erwecken sie einen künstlichen Kopf
zum Leben. Für Horrorfreunde ist der Film eine Randnotiz, da Méliès gegen Ende in
seinem geliebten Teufelskostüm auftaucht und seine beiden Ebenbilder verjagt.

In England waren Walter Robert Booth und Robert W. Paul weiterhin aktiv. Chi-
nese Magic (1900)3 zeigt einen chinesischen Beschwörer, welcher sich in eine Fleder-
1
Jeanne d’Arc, aka Joan of Arc (Star Film, Frankreich 1900, Regie: Georges Méliès, Darsteller:
Jeanne d’Alcy, Bleuette Bernon, Georges Méliès, Länge: ca. 250 m, 11 Minuten)
2
L’illusioniste double et la tete vivante, aka The Triple Conjurer and the Living Head (Star
Film, Frankreich 1900, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Jeanne d’Alcy, Georges Méliès, Länge: ca.
25 m, 1 Minute)
3
Chinese Magic, aka Yellow Peril (Robert W. Paul, UK 1900, Regie: Walter Robert Booth, Länge:
ca. 40 m, 2 Minuten)

105
Das Dokument des Grauens

maus verwandelt.

Der Rest des Jahres 1900 blieb in den Belangen des Horrors den Amerikanern
überlassen. In dem Mutoscope-Film The Troublesome Fly (1900)4 wird ein Mann
von einer übergroßen Fliege gebissen.

Auch Sherlock Holmes Baffled


(1900)5 war ein solcher Mutoscope-
Streifen. In diesem Film duelliert sich
Sherlock Holmes mit einem geisterhaf-
ten Einbrecher. Der Schurke macht sich
immer wieder unsichtbar und taucht an
einer anderen Stelle wieder auf, sobald
Holmes ihn ergreifen möchte. Schließ-
lich nimmt der Meisterdetektiv das Die-
besgut an sich und verlässt das Zimmer,
woraufhin der Dieb wieder sichtbar wird
Abbildung 9.2: Eine Einstellung aus Sher- und durch das Fenster flüchtet.
lock Holmes Baffled (1900) Der am 26. April 1900 erstmals auf-
geführte Film hat zwei Besonderheiten.
Erstens ist der Film ein heißer Anwärter auf den kürzesten Horrorfilm aller Zeiten,
denn die Laufzeit beträgt gerade mal 30 Sekunden. Zweitens ist es der erste Film über-
haupt, welcher Arthur Conan Doyles legendäre Figur des Sherlock Holmes zeigt. Da
stimmt es durchaus traurig, dass der Name des Darstellers unbekannt blieb.

Der dritte Film im Bunde ist The Prince of Darkness (1900)6 . Von den drei
Mutoscope-Produktionen ist dies der Horrorlastigste. Ein leicht angetrunkener Mann
kommt nach Hause und beginnt, sich auszuziehen. Aber es klappt einfach nicht, denn
die abgelegten Kleidungsstücke fliegen wieder zu ihm zurück! Der Mann versucht es
immer wieder, bis der Fürst der Finsternis persönlich erscheint und der Mann daraufhin
zusammenbricht.
Bei diesem Film sind die Spezialeffekte eine nette Sache. Kleider, welche sich
nicht ablegen lassen, hatten zuvor auch schon Georges Méliès und Thomas Alva Edi-
son im Programm, aber diese hatten dabei immer jump cuts benutzt. Bei The Prince
of Darkness (1900) montierte der Regisseur Frederick S. Armitage die Szenen der
weggeworfenen Kleider jedoch wieder rückwärts in den Film ein, sodass man sie auf
den Mann zufliegen sieht. Sie erscheinen nicht plötzlich wieder am Leib des Mannes,
4
The Troublesome Fly (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1900, Regie: Arthur Marvin,
Länge: ca. 15 m, 1 Minute)
5
Sherlock Holmes Baffled (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1900, Regie: Arthur Mar-
vin, Länge: ca. 7 m, 30 Sekunden)
6
The Prince of Darkness (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1900, Regie: Frederick S.
Armitage, Länge: ca. 15 m, 1 Minute)

106
9. 1900

wie es bei Méliès und Edison bisher der Fall war.

Und im fünften Mutoscope-Film dieses Jahres treiben die Ghosts in a Chinese


Laundry (1900)7 , Geister in einer chinesischen Wäscherei, ihr Unwesen.

In A Yard of Frankfurters (1900)8 wird ein Würstchenverkäufer vom Clown Pi-


errot mit einem Revolver bedroht und verjagt. Doch dem bösen Clown gefriert das
Blut in den Adern, als sich die Hot Dogs plötzlich in einen echten Hund verwandeln!
Pierrot war ein echter Clown und in mehreren Produktionen der American Mutos-
cope & Biograph Company zu sehen, aber natürlich weit davon entfernt, in irgendeiner
Weise ein Kassenmagnet zu sein.

Da wir gerade von einem Seriendarsteller sprachen ... am 21. März 1900 veröffent-
lichte Thomas Alva Edison zwei Filme aus einer Trilogie um Uncle Josh, einen etwas
dicklichen Mann mit Haupthaar in Form eines Vogelnestes, dargestellt von dem Dar-
steller Charles Manley. Manley gibt dem Ganzen ein historisches Flair, denn er war
einer der Schauspieler, der im Ford Theater auf der Bühne stand, als Abraham Lincoln
auf dem Balkon erschossen wurde. Doch nicht nur Manley ist ein bemerkenswerter
Mitwirkender - der Regisseur Edwin S. Porter sollte drei Jahre später mit The Great
Train Robbery (1903) einen Meilenstein des amerikanischen Kinos drehen. Die Fil-
me um Uncle Josh werden auch als die ersten Sequels der Filmgeschichte bezeichnet,
doch dies ist nicht ganz richtig. Dies trifft erst auf die spätere Produktion Uncle Josh at
the Moving Picture Show (1902) zu und nicht auf jene zwei des Jahres 1900, da diese
beiden am gleichen Tag erschienen.

Uncle Josh’s Nightmare (1900)9 zeigt Uncle Josh bei dem Versuch, in Ruhe zu
schlafen. Das klappt aber nicht, weil ihm der Teufel dazwischen funkt. Es gibt eine
Keilerei, in welcher Uncle Josh tatsächlich gegen den Teufel gewinnt, ihn im Betttuch
verschnürt und in eine Kiste sperrt. Doch zu früh gefreut - der Teufel büxt wieder aus.
Und Uncle Josh findet keine Ruhe, denn jetzt verschwinden auch Möbel, darunter auch
sein Bett.
Uncle Josh’s Nightmare (1900) ist ein schlechter Abklatsch der Trickfilme von
Méliès und Smith. Er bezieht seinen Effekt aus jump cuts, aber diese sind durchweg
schlampig inszeniert und passen qualitativ zu den billig bemalten Pappkulissen.

7
Ghosts in a Chinese Laundry (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1900, Regie: Arthur
Marvin, Länge: ca. 15 m, 1 Minute)
8
A Yard of Frankfurters (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1900, Regie: Arthur Marvin,
Länge: ca. 15 m, 1 Minute)
9
Uncle Josh’s Nightmare (Edison Manufacturing Co., USA 1900, Darsteller: Charles Manley,
Regie: Edwin S. Porter, Länge: ca. 45 m, 3 Minuten)

107
Das Dokument des Grauens

In Uncle Josh in a Spooky Hotel (1900)10 sitzen Uncle Josh und ein weiterer
Mann auf Stühlen nebeneinander und schauen beide zur Kamera. Plötzlich erscheint
hinter ihnen ein Geist, welcher Uncle Josh eine Ohrfeige verpasst und sofort wieder
verschwindet. Uncle Josh denkt, sein Sitznachbar hätte ihm eine gelangt und haut zu-
rück. Wie es weitergeht, können Sie sich wohl denken, lieber Leser.
Die jump cuts sind hier weniger als
bei Uncle Josh in a Spooky Hotel
(1900) und auch etwas sauberer ausge-
führt. Der Rest der Inszenierung ist je-
doch extrem amateurhaft. Die Pappku-
lissen sind die gleichen wie in Uncle
Josh’s Nightmare (1900). Die Kame-
raposition wurde ebenfalls beibehalten,
was dem Film auch nicht gut tut - wäh-
rend Charles Manley in Uncle Josh’s
Nightmare (1900) noch kreuz und quer
durch das Bild wuselt, spielt sich das Ge-
schehen bei Uncle Josh in a Spooky Ho-
Abbildung 9.3: Das Skelett auf der Schau- tel (1900) fast ausschließlich in der lin-
kel, aus The Mystic Swing (1900) ken Bildhälfte statt.
Der Film ist ein gutes Beispiel für bil-
lig heruntergekurbelten Schrott; gewöhnen Sie sich am besten frühestmöglich daran,
denn bis in die 20er Jahre hinein sollte dies ein Problem des amerikanischen Horror-
kinos bleiben.

The Mystic Swing (1900)11 , ebenso von Porter für Edison inszeniert, zeigt einen
Zauberer im Wettstreit mit dem Teufel. Der Magier lässt verschiedene Frauen auf der
Schaukel erscheinen und der Teufel zaubert sie wieder weg. Als der Zauberer dann
jedoch ein Skelett herbeizaubert, ist der Teufel mit dem Entfernen desselben überfor-
dert.
Die Inszenierung ist nicht minder dilettantisch, wie die Handlung bekloppt ist. Das
einzig Gute an dem Film ist das Skelett.

Auch Faust and Marguerite (1900)12 ist ein Machwerk aus Edisons und Porters
cineastischer Giftküche, aber glücklicherweise nicht ganz so schlimm wie ihre be-
reits erwähnte Genrebeiträge. Der Film ist in den gleichen Kulissen gedreht wie Uncle
10
Uncle Josh in a Spooky Hotel (Edison Manufacturing Co., USA 1900, Darsteller: Charles Manley,
Regie: Edwin S. Porter, Länge: ca. 30 m, 2 Minuten)
11
The Mystic Swing (Edison Manufacturing Co., USA 1900, Regie: Edwin S. Porter, Länge: ca. 20
m, 1 Minute)
12
Faust and Marguerite (Edison Manufacturing Co., USA 1900, Regie: Edwin S. Porter, Länge: ca.
30 m, 2 Minuten)

108
9. 1900

Josh’s Nightmare (1900), erschien jedoch drei Wochen früher. Marguerite sitzt auf
einem Stuhl, Faust steht links neben ihr, und auf der rechten Seite des Bildes erscheint
Mephistopheles. Er zückt ein Schwert und verlangt von Faust, seine Marguerite da-
mit zu köpfen. Faust lehnt ab, also versucht Mephistopheles eigenhändig, Marguerite
den Kopf abzusäbeln. Doch gerade, als er zum Schnitt ansetzt, sitzt plötzlich Faust vor
ihm. Und das ist der Startschuss für eine Minute Chaos voller jump cuts.
Bitte bedenken Sie, dass ein Film nicht automatisch ein guter Film sein muss, nur
weil es noch schlechtere gibt ... Faust and Marguerite (1900) ist in den Annalen des
Horrors gut aufgehoben, sie müssen ihn deshalb wirklich nicht auch noch ansehen.

The Clown and the Alchemist (1900)13 , von Edison und Porter im November
1900 veröffentlicht, war der letzte Beitrag des Horrorgenres im ausklingenden 19.
Jahrhundert. Ein Alchemist beschwört einen Clown und wird von diesem nach Kräf-
ten gepiesackt. Es folgen noch andere eigenartige Kreaturen, darunter eine geisterhafte
Erscheinung, welche wie ein Bettlaken mit einem Fußball als Kopf aussieht. Niedlich.
Glücklicherweise ist dieser Film handwerklich nicht so sehr missraten wie die bis-
her vorgestellten Werke des Duos Edison & Porter. Es halten sich diesmal keine Dar-
steller außerhalb des Bildes auf, die Bildfläche ist gut ausgenutzt und die vielen jump
cuts sind keine Quelle von Kontinuitätsproblemen mehr. Porter lernte offensichtlich
im Laufe der Zeit dazu.

Der Anbruch des 20. Jahrhunderts stand nun bevor, und damals ahnte noch nie-
mand, welchen ungeheuren Erfolg der Film auch als künstlerisches Medium feiern
sollte. Aber über einen Trend kann aus heutiger Sicht betrachtet nichts hinwegtäu-
schen: Elemente des Horrors waren zum Jahrhundertwechsel auf dem absteigenden
Ast. Im Jahr 1900 täuschte die Quantität der Filme von Thomas Alva Edison noch dar-
über hinweg, aber wenn man diese Werke ausblendet, sah es bereits sehr düster aus.
Aber dies war nur die erste Durststrecke. Viele weitere sollten noch folgen.

13
The Clown and the Alchemist (Edison Manufacturing Co., USA 1900, Regie: Edwin S. Porter,
Länge: ca. 30 m, 2 Minuten)

109
Das Dokument des Grauens

110
Kapitel 10

1901

Das 20. Jahrhundert begann für die weitere Entwicklung des Horrorgenres nur sehr
schleppend - dafür jedoch gleich mit einer Perle.
In Barbe-bleue (1901)1 erzählt Ge-
orges Méliès die Legende von Blaubart
nach. Blaubart ist keine verbürgte histo-
rische Figur; allerdings wird nicht ausge-
schlossen, dass er auf realen Persönlich-
keiten beruht. Manche Historiker glau-
ben, in Blaubart den um das Jahr 540 re-
gierenden bretonischen Herrscher Cono-
mor zu erkennen, der für seine Grausam-
keit bekannt war. Andere Quellen wie-
derum vermuten ihn Blaubart seinen un-
gefähr 900 Jahre jüngeren Landsmann
Gilles de Rais. Nun ja, die Legende sagt Abbildung 10.1: Die Braut (am rechten
jedenfalls, Blaubart sei ein reicher Adli- Bildrand) entdeckt die Leichen der sie-
ger gewesen, der seinen Namen seinem ben vorherigen Ehefrauen ihres Gatten in
scheußlich aussehenden blauen Bart zu Barbe-bleue (1901). Ganz links freut sich
verdanken habe. der Kobold
Blaubart war kein umgänglicher Typ
und schon sieben Mal verheiratet - und seine Ehefrauen verschwanden allesamt spur-
los. An dieser Stelle nimmt der Film von Georges Méliès dann auch den Handlungs-
faden auf.
Eng an der Sage orientiert, zeigt Méliès über die ersten Minuten hinweg Blaubart
und seinen Umgang am Hof. Blaubart betritt die Halle und versucht sich in Konver-
sation mit den anwesenden Damen, doch jede dreht ihren Kopf zur Seite, als er sie
anspricht. Diener tragen Reichtümer herein, mit welchen er die Damen daraufhin von
sich zu überzeugen versucht. Der Vater einer der Damen ergreift angesichts der Schät-
1
Barbe-bleue, aka Bluebeard (Star Film, Frankreich 1901, Regie: Georges Méliès, Darsteller:
Jeanne d’Alcy, Georges Méliès, Länge: ca. 213m, 10 Minuten)

111
Das Dokument des Grauens

ze die Hand seiner Tochter und bietet sie gegen ihren Willen Blaubart an. Prompt
erscheinen zwei Notare in der Szene und Blaubart ist zum achten Mal verheiratet.
Nach der Hochzeit, deren Inszenierung an ältere Filme aus Méliès Werkstatt erin-
nert, eröffnet Blaubart seiner Frau, dass er für einige Zeit verreisen werde. Und zwar
sofort. Er übergibt ihr seine Schlüssel und gibt ihr die Erlaubnis, alle Teile des Schlos-
ses zu betreten - jedoch mit Ausnahme eines ganz bestimmten Zimmers. Und kurz
darauf ist er dann auch verschwunden, seine irritierte Ehefrau bleibt zurück.
Natürlich hat das geheimnisvolle verbotene Zimmer die Neugier der Gattin ge-
weckt. Die Versuchung erscheint in der Gestalt eines teuflischen Kobolds, dargestellt
von Georges Méliès selbst unter Zuhilfenahme eines Kostüms, welches stark an eine
Grille erinnert. Er hopst wild herum und überredet die Ehefrau, das verbotene Zimmer
zu betreten.
Sie betritt einen dunklen Raum. Es ist gerade hell genug, dass man im Hintergrund
des Bildes menschliche Körper erahnen kann, welche wie Säcke an der Wand zu hän-
gen scheinen.
Die Frau macht Licht, und der Zuschauer erkennt, wo sie sich befindet. Die Körper
an der Wand sind die sieben Leichen der Ehefrauen Blaubarts, aufgehängt an ihren
Hälsen wie Hühner. Der Boden ist mit Blut bedeckt und die Frau lässt voller Schreck
den Schlüssel fallen. Als sie ihn zu reinigen versucht, erscheint der Kobold aufs Neue
und führt die Frau in eine Vision, in welcher sie auch ihren eigenen Tod sieht - dies ist
vor allem eine Sequenz voller Spezialeffekte, wie sie Méliès stets gerne inszenierte.
Doch dann kommt Blaubart tatsächlich zurück und ist nicht erfreut darüber, dass
seine Gattin gegen sein Gebot verstoßen und sein schreckliches Geheimnis gelüftet
hat. Auch sie soll daher sterben ...
Wahrscheinlich ahnen Sie es bereits beim Lesen: Barbe-bleue (1901) ist ein hoch-
gradig außergewöhnlicher Film. Bisher waren wir von Georges Méliès bis auf wenige
Ausnahmen vor allem Slapstick gewohnt, bei welchem Humor und Staunen im Vor-
dergrund standen. Seine bisherigen ambitionierteren Werke wie Jeanne d’Arc (1900)
waren noch nicht die Regel in seinem Schaffen, und narrativ auch noch nicht son-
derlich weit entwickelt. Barbe-bleue (1901) macht hier einen deutlichen Schritt nach
vorne. Die Szene, in welcher die achte Ehefrau die Leichen ihrer Vorgängerinnen ent-
deckt, ist nicht von Komik oder oberflächlichen Schauwerten dominiert, sondern von
einer unheimlichen Grundstimmung. Erst wird die Umrisse der Leichen im Halbdun-
kel angedeutet und schließlich folgt die Enthüllung des Schreckens, der dort wartet
und mit welchem das Publikum auch bereits rechnete ... wenn Sie die erste wirklich
unheimliche Szene in einem Film suchen, welche den Funken des Grauens auf die
Zuschauer überspringen und es sich unbehaglich auf dem Stuhl herumrutschen ließ,
haben Sie diese hier gefunden. Und auch die Schlussszene, in welcher Blaubart durch
ein Schwert an die Wand genagelt wird und in der Luft wild mit Armen und Beinen
zappelt, ist zwar wiederum mehr von Komik geprägt, hat aber dennoch eine gewisse
Intensität zu bieten. Barbe-bleue (1901) war zu seiner Zeit wahrlich kein Film für
kleine Kinder.

112
10. 1901

Ein Wiedersehen mit Georges Méliès in seinem grillenartigen Superheldenkostüm


folgte kurze Zeit später in einem Effektfilm mit dem auffallend sperrigen Titel Le
diable géant, ou Le miracle de la madonne (1901)2 .
Méliès zeigt eine Kapelle. Durch ein opulentes Fenster auf der rechten Seite kann
man einen Kanal erkennen - wir befinden uns wohl in Venedig. Auf dem Sims sitzt
ein junger Mann und spielt eine Laute, dabei eine junge Dame anschmachtend. Diese
lauscht gebannt.
Der junge Mann verabschiedet sich
dann jedoch und klettert das Fenstersims
wieder hinab.
Die Umworbene tanzt freudig durch
die Kapelle, während eine Gondel un-
ter dem Fenster vorbeitreibt - und plötz-
lich der Teufel in einer Rauchwolke er-
scheint!
Die junge Frau möchte zum Fen-
ster fliehen, doch mit einer ausladenden
Handbewegung zaubert der Teufel Git-
terstäbe hinein, welche den Weg versper-
Abbildung 10.2: Der riesige Teufel be-
ren. Er packt die Hand seines Opfers und
droht das am Boden vor ihm kauernde
schleudert das Mädchen zu Boden. Und
Mädchen. Einstellung aus Le diable géant,
dann entledigt er sich mit ausladender
ou Le miracle de la madonne (1901)
Geste seines Umhangs ... und beginnt,
halb nackt vor ihr zu tanzen!
Der Teufel verrenkt und windet sich nach allen Regeln der Kunst. Dann beginnt er
während seiner Aufführung zu wachsen, bis er am Ende gute fünf Meter groß ist, ein
wahres tanzendes Monster!
Doch dann erwacht eine Statue der heiligen Maria zum Leben und belegt den Teu-
fel mit einem Bann. Sich weiterhin windet schrumpft er wieder auf normale Größe
zurück und verschwindet schließlich ins Nichts.
Le diable géant, ou Le miracle de la madonne (1901) ist ein typischer zweimi-
nütiger Film, wie ihn Méliès zuhauf produzierte. Eigentlich nicht nennenswert, wäre
da nicht Méliès´ Lieblingscharakter, der Teufel. Dessen Darstellung ist keineswegs
bedrohlicher Natur, sondern erinnert vielmehr an einen sexuell übermotivierten Ver-
rückten im Grillenkostüm. Doch grade dieser strippende Teufel macht das Filmchen
dann doch wieder erwähnenswert.

2
Le diable géant, ou Le miracle de la madonne, aka The Devil and the Statue, aka The Gigantic
Devil (Star Film, Frankreich 1901, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Jeanne d’Alcy, Georges Méliès,
Länge: ca. 40m, 2 Minuten)

113
Das Dokument des Grauens

Le petit chaperon rouge (1901)3 ist der dritte Film dieses Jahres aus dem Stu-
dio von Georges Méliès, welcher Anleihen aus dem Horror mit sich führt. Über zwölf
verschiedene Szenen hinweg erzählt Méliès hier das berühmte Märchen um Rotkäpp-
chen nach, natürlich wieder unter Zuhilfenahme unzähliger Spezialeffekte. Der Film
gilt derzeit als verschollen.

Ebenfalls in Frankreich produziert, erreicht Les sept châteaux du diable (1901)4


nicht die filmische Klasse der Werke von Georges Méliès, und auch nicht ihre Origi-
nalität. Les sept châteaux du diable (1901) ist eine komödiantische und mit aufwen-
digen Effekten aufgepeppte Variation des Faust-Themas.

La fée des roches noires (1901)5 ist ein Kurzfilm vom gleichen Regisseur. Der
leider verschollene Film, von welchem nur einige Szenenfotos überlebt haben dürften,
zeigte animierte Skelette, welche in einem Friedhof herumtanzen. Der höchstwahr-
scheinlich Verlust des Films ist insofern tragisch, dass im Zusammenhang mit seinem
englischsprachigen Titel, The Fairy of the Black Rocks, einige Unklarheiten bestehen.
Wir wissen heute, dass der Film an Weihnachten 1901 in den USA ein Bestandteil von
Edisons Programm war; auch tauchte er 1904 wieder in amerikanischen Presseerzeug-
nissen auf. Das Problem ist jedoch, dass es Gerüchte um zwei weitere Fassungen gibt.
Eine Version, welche 1905 im englischen Raum auftauchte, wird mitunter dem Regis-
seur Robert W. Paul zugeschrieben, welcher diese angeblich für Pathé gedreht haben
soll. Da auch die Version aus dem Jahr 1901 von den Pathé Frères stammt, wäre dies
streng genommen ein Remake gewesen und es fehlen auch belastbare Fakten, dass es
sich hierbei nicht um den gleichen Film handelte. Andere Quellen nennen als Produk-
tionsjahr einer solchen Arbeit von Robert William Paul das Jahr 1910. Der Höhepunkt
der Verwirrung wird jedoch erreicht, wenn man in den Katalog der Pathé aus dem Jahr
1907 schaut, denn dort ist unter der Nummer 1622 ein Film namens La fée des roches
noires (1901) unter der Regie von Segundo de Chomón gelistet. Doch auch dieser Film
scheint nicht wirklich existiert zu haben. Der Verdacht drängt sich auf, dass es sich in
Wirklichkeit vier Mal um den gleichen Streifen handelt, der jedes Mal neu aufgelegt
und zum Zwecke der Vermarktung jeweils im jeweiligen Publikationsraum bekann-
ten und beliebten Regisseuren zugeschrieben wurde. Die Chancen, dass sich der Fall
aufklärt, stehen jedoch nicht sonderlich gut.
Erwähnenswert ist bei Les sept châteaux du diable (1901) und La fée des roches
noires (1901) der Regisseur, Ferdinand Zecca. Er wurde späterhin als Co-Regisseur
von La vie et la passion de Jésus Christ (1905) bekannt, dem ersten Werk über das
Leben von Jesus Christus mit der damaligen Rekordlaufzeit von 45 Minuten. 1915
3
Le petit chaperon rouge, aka Little Red Riding Hood (Star Film, Frankreich 1901, Regie: Ge-
orges Méliès, Darsteller: Rachel Gillet, Länge: ca. 167m, 9 Minuten)
4
Les sept châteaux du diable, aka The Seven Castles of the Devil, aka The Devil’s Seven Castles
(Pathé Frères, Frankreich 1901, Regie: Ferdinand Zecca, Länge: ca. 280m, 14 Minuten)
5
La fée des roches noires, aka The Fairy of the Black Rocks (Pathé Frères, Frankreich 1901,
Regie: Ferdinand Zecca, Länge: ca. 45m, 3 Minuten)

114
10. 1901

wanderte er in die USA aus und wurde dort Leiter der amerikanischen Niederlassung
der Pathé Frères, bevor er im Jahr 1920 der Chef der Schmalfilmproduktion wurde. Er
drehte Hunderte von Filmen für Pathé Frères, doch die wenigsten überlebten bis in die
heutige Zeit.

In England blieb auch ein anderer Workaholic nicht tatenlos. Der gerade erst er-
wähnte Robert William Paul, der als maßgeblicher Pionier der englischen Filmindu-
strie und vor allem als Erfinder und Nachbauer technischer Gerätschaften erfolgreich
wurde, hatte inzwischen das Studio des Georges Méliès und dessen Techniken bis ins
Detail kopieren lassen und ein Unternehmen aufgebaut, welches bis zu 8.000 Fuß Film
pro Tag entwickeln konnte. Sein Hausregisseur Walter Robert Booth drehte 1901 meh-
rere Trickfilme für Paul.
In The Haunted Curiosity Shop (1901)6 wird ein alter Antiquitätenhändler in sei-
nem Laden mit allerlei Unheimlichem konfrontiert. Dazu gehören ein herumfliegender
Schädel, eine zersägte junge Frau, die sich zuerst in eine dunkelhäutige Frau und später
sogar in eine Mumie verwandelt, ein Kopf erscheint in einer Rauchwolke und nähert
sich bedrohlich der Kamera. Suchen Sie nicht nach einer Geschichte oder gar einer
Aussage; in The Haunted Curiosity Shop (1901) ist das Geschehen auf der Bühne
lediglich ein Vehikel für die Spezialeffekte. Diese sind jedoch teilweise außerordent-
lich gut ausgefallen. Hier ist vor allem die Zersägte beachtlich gut gelungen, deren
untere Körperhälfte durch das Bild marschiert. Bei jump cuts und Überblendungen
war die Konkurrenz aus Frankreich jedoch klar überlegen.

Auch in Undressing Extraordinary (1901)7 spielen die Effekte die Hauptrolle.


Ein Reisender betritt seine Unterkunft und möchte sich ausziehen, aber immer wieder
trägt er plötzlich wieder neue Kleider. Den Horror tangiert dieser Film nur, weil in sei-
nem Bett plötzlich ein Skelett liegt. Ansonsten zitiert der vernachlässigbare Film nur
die Motive, welche Méliès in den Jahren zuvor ausgiebig abhandelte.

Etwas ambitionierter, aber noch lange nicht gelungen, ist Scrooge, or Marley’s
Ghost (1901) 8 . In knapp drei Minuten Laufzeit erzählt Booth hier jene Passage aus
Charles Dickens’ A Christmas Carol, in welcher der egoistische Ebenezer Scrooge von
Marleys Geist heimgesucht wird. Der Geist zeigt ihm diverse Weihnachtsfeste aus der
Vergangenheit und Zukunft, und schließlich auch Scrooges Grab. Auch dieser Film
belässt es bei seiner guten Absicht und macht eher durch die Unzulänglichkeiten auf
sich aufmerksam, deren Höhepunkt natürlich der Geist selbst ist - dargestellt durch

6
The Haunted Curiosity Shop, (Robert W. Paul, UK 1901, Regie: Walter Robert Booth, Länge: ca.
40m, 2 Minuten)
7
Undressing Extraordinary, aka Undressing Extraordinary, or The Troubles of a Tired Tra-
veller (Robert W. Paul, UK 1901, Regie: Walter Robert Booth, Länge: ca. 60m, 3 Minuten)
8
Scrooge, or Marley’s Ghost, aka Scrooge (Robert W. Paul, UK 1901, Regie: Walter Robert Booth,
Länge: ca. 60m, 3 Minuten)

115
Das Dokument des Grauens

einen Schauspieler in einem Betttuch.

In Fun in a Butcher Shop (1901)9 zeigen Thomas Alva Edison und Edwin S. Por-
ter zwei Metzger bei der Herstellung von Würsten. Einer der beiden dreht die Kurbel
eines großen Fleischwolfs und der andere wirft allerlei Rohmaterial hinein: Hunde,
Katzen, Männer und Kinder. Am unteren Ende kommen leckere Würste aus der Ma-
schine heraus.
Dann erscheint ein Chinese, welcher den beiden Metzgern einen Hund und eine
Katze verkaufen möchte. Die große Wurstmaschine interessiert ihn und so lehnt er
sich über den Fleischwolf und schaut hinein.
Die beiden Metzger schleichen sich an ihn heran und schubsen ihn in das Mahl-
werk. Die Kurbel wird gedreht ... doch anstelle der erwarteten Chinesenwurst kommen
nur Ratten aus ihr heraus.
Fun in a Butcher Shop (1901) ist ein Film, wie er heute undenkbar wäre. Zu Be-
ginn des 19. Jahrhunderts war rassistischer Slapstick wesentlich politisch korrekter als
in unserer heutigen Zeit.

A Mystic Re-Incarnation (1901)10 wurde von Arthur Marvin zwar 1901 gedreht,
aber erst im Jahr darauf zum Copyright angemeldet. Ein Magier, gekleidet wie ein
Mann zur Zeit der Renaissance, betritt die Bühne. Er legt ein weißes Tuch auf den
Boden und wedelt mit seinem Zauberstab durch die Luft.
Die Beine einer Frau erscheinen. Er packt sie und legt sie auf das Tuch. Dann
zaubert er noch einen Oberkörper, Arme und Beine hinzu.
Abschließend legt er noch Kleider auf die Körperteile und wickelt alles in das Tuch
ein. Dann klatscht er in die Hände, öffnet das Tuch und eine junge Frau entsteigt die-
sem.

Das Jahr 1901 war ein weiteres recht schwaches Jahr. 5 Jahre waren nun seit den
ersten Filmen ins Land gezogen und Innovationen kamen weiterhin fast nur aus Frank-
reich. Die Amerikaner entwickelten sich inhaltlich und künstlerisch kaum weiter und
die Engländer konzentrierten sich darauf, Georges Méliès zu kopieren, ohne ihn zu
erreichen.

9
Fun in a Butcher Shop (Edison Manufacturing Co., USA 1901, Regie: Edwin S. Porter, Länge:
ca. 23 m, 1 Minute)
10
A Mystic Re-Incarnation, aka A Mystic Reincarnation (American Mutoscope & Biograph Co.,
USA 1901, Regie: Arthur Marvin, Länge: ca. 10 m, 1 Minute)

116
Kapitel 11

1902

1902 ist aus heutiger Sicht ein Jahr, in welchem offenbar wurde, dass der Schrecken
nur eine untergeordnete Rolle spielen würde. Die Filmindustrie begann zu florieren
und die Inhalte begannen, lebendiger zu werden. Die Werke wurden länger, aufwen-
diger, die erzählte Geschichte begann in den Vordergrund zu rücken - doch für Horror
blieb dabei nur wenig Platz. Wir finden zwar etliche Produktionen, welche die Saat
des Grauens in sich tragen. Im Vergleich zu den Vorjahren sogar auffallend viele. Aber
während sich die Themen der Science-Fiction und der Fantasy hier nach Kräften wei-
terentwickelten, trat der Horror auf der Stelle und kam über seine Rollen als inhaltli-
cher Statist und Stichwortgeber für slapstickhaften Klamauk nur selten hinaus.
Weiterhin ist bemerkenswert, dass sich zunehmend eine Tradition des Geschichten-
erzählens im Film auszuprägen begann. Hier hatte, vor allem im europäischen Raum,
der Erfolg von Georges Méliès ein Bewusstsein für die Darstellung von märchenhaf-
tem Geschehen geschaffen und die Möglichkeiten des neuen Mediums aufgezeigt. Ei-
ne Evolution des Filmemachens begann sich auch in den USA durchzusetzen und der
Trend weg von reinen Dokumentationen der Wirklichkeit hin zu dem Erschaffen von
Unterhaltung setzte auch dort ein.
Aber ebenso ist es nicht von der Hand zu weisen, dass eine gewisse Müdigkeit
einsetzte. Das Publikum hatte nach 5 Jahren Filmgeschichte ja schon einiges zu se-
hen bekommen und die anfangs noch spektakulären Effekte, jump cuts und Doppel-
belichtungen hinterließen kaum noch bleibenden Eindruck bei den Zuschauern. Neue
Akzente mussten gesetzt werden.
George Méliès setzte einen solchen Akzent mit La voyage dans la lune (1902).
Der Film schildert den ersten Mondflug einer Handvoll Wissenschaftler und ihre dor-
tige Begegnung mit Mondwesen, welche alles andere als friedlich verläuft. Méliès
erzählt die Geschichte in einem Stil, welcher als eine Kreuzung eines Märchens voller
Zauberer vor dem Hintergrund der fantastischen Technik aus Jules Vernes gleichnami-
gen Roman erscheint. Fast alle Kulissen sind gemalt, die Spezialeffekte für damalige
Verhältnisse spektakulär - und der Erfolg blieb auch nicht aus.
Mit diesem Film schuf Méliès den ersten Meilenstein des Science-Fiction-Films
mit einer sagenhaften Länge von etwa 260 Metern, ein wahres Epos sozusagen. Er

117
Das Dokument des Grauens

nahm hier die Entwicklung vom Kurzfilm hin zum abendfüllenden Filmerlebnis vor-
weg. Doch La voyage dans la lune (1902) deckt auch gnadenlos die Schwächen seines
Schöpfers auf. Die Kulissen wurden immer aufwendiger, die Effekte immer überzeu-
gender ... doch Georges Méliès entwickelte sich selbst in seiner Rolle als Regisseur
nicht weiter. Die Kamera ist noch immer statisch. Die Schauspieler stolpern von links
nach rechts durch das Bild, manchmal sogar in Trauben, und dann wieder von rechts
zurück nach links, beinahe wie Tischtennisbälle. Man sieht immer noch Interaktion
zwischen Regisseur und Darstellern und alles wirkt sehr marionettenhaft, wie eine
Schulaufführung in unpassend aufwendiger Szenerie. Alle Bewegungen innerhalb des
Bildes blieben strikt zweidimensional. Kurz: Méliès Stil der Inszenierung war immer
noch der gleiche wie Jahre zuvor. Zu seiner Ehrenrettung muss man jedoch sagen, dass
die Situation bei seinen Konkurrenten und erst recht seinen Nachahmern nicht besser
war. Doch es ist bezeichnend, dass der nächste große künstlerische Fortschritt beim
Film nicht aus Frankreich kam, sondern ein Jahr später mit The Great Train Robbery
(1903) aus den USA, als Edwin S. Porter die sogenannte „vierte Wand“ niederriss.
In einer weltberühmten Szene ließ Porter einen Cowboy den Revolver auf das Publi-
kum richten und den Abzug drücken, was die Zuschauer vor Schreck aus den Sitzen
hob. Mit dieser Szene wurde Georges Méliès als Regisseur zu einem Überbleibsel aus
vergangenen Tagen. Er sollte zwar weiterhin noch beeindruckende Werke produzie-
ren und Großes leisten, doch La voyage dans la lune (1902) symbolisiert nicht nur
den kommerziellen Höhepunkt seiner Karriere, sondern auch den künstlerischen Ze-
nit. Aber das erkennt man heute im Rückblick, damals sah das alles noch ganz anders
aus. 1902 wurde auch das Jahr, in welchem der Einfluss des Zauberers aus Paris welt-
weit spürbar wurde. Selbst in den USA bemühte man sich aktiv, Filme in der Art jener
von Méliès zu drehen.

In Les trésors de satan (1902)1 hat ein alter Adliger mehrere Säcke mit Gold
gefüllt. Der Teufel packt die Goldsäcke in eine große Kiste und schließt diese ab.
Als der alte Mann zurückkommt, sucht er seine Schätze. Er öffnet die Kiste mit
einem Brecheisen und die Säcke beginnen, vor seiner Nase herumzutanzen. Darauf
folgt wieder eine Aneinanderreihung von Slapstickszenen, in deren Verlauf sich die
Goldsäcke in sechs junge Frauen verwandeln, welche den alten Mann mit Speeren
bedrohen, die Kiste den Standort wechselt, der Alte in die Kiste eingesperrt wird, und
so weiter.
Das Geschehen ist sehr hysterisch dargestellt und tricktechnisch auf dem höchsten
Niveau jener Zeit. Die jump cuts sind nahtlos in die laufenden Aktionen eingefügt und
die Darsteller bewegen sich hier auch vor und hinter den sich bewegenden oder ver-
schwindenden Gegenständen, ohne dass sie ihre Bewegungen unterbrechen müssen.

1
Les trésors de satan, aka Satan’s Treasures, aka The Treasures of Satan, aka The Devil’s
Money Bags, aka Mephistopheles’ School of Magic (Star Film, Frankreich 1902, Regie: Georges
Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 50m, 3 Minuten)

118
11. 1902

Lediglich die Komparsenfüße, welche in einer Szene unter der Kiste herausschauen,
trüben die Illusion.
Doch gute Effekte machen noch lan-
ge keinen guten Film. Georges Méliès
trat auf der Stelle und zitierte sich in Les
trésors de satan (1902) ständig selbst,
ohne dem Gezeigten neue Perspektiven
abzugewinnen. Zum Zeitpunkt des Ent-
stehens von Les trésors de satan (1902)
war alles Gezeigte schon irgendwo an-
ders mehrfach gesehen worden, meistens
sogar in den Filmen von Méliès selbst.
Seine Filme wurden nur mit jedem Mal
technisch immer perfekter. Wenn man
Les trésors de satan (1902) erstmals Abbildung 11.1: Die Frauen bedrohen den
sieht, fällt es schwer zu glauben, dass Reichen in Les trésors de satan (1902)
dieser Film nach La voyage dans la lu-
ne (1902) entstanden ist; er hätte genauso gut auch drei bis vier Jahre älter sein können.

Mit Une indigestion (1902)2 betrat Georges Méliès Gefilde, welche heute etwas
unappetitlich klingen mögen, damals jedoch vorrangig der Belustigung dienten. Ein
verrückter Arzt diagnostiziert bei einem seiner Patienten eine akute Verstopfung.
Der Arzt legt den armen Mann auf einen Tisch und beginnt umgehend mit einer
Operation. Zuerst sägt er ihm Arme und Beine mit einer großen Säge ab. Dann schnei-
det er dem Patienten den Bauch auf und holt diverse Gegenstände daraus hervor -
Flaschen, Messer und Gabeln, eine Lampe und andere Gegenstände.
Der Patient beklagt sich wegen der Schmerzen, woraufhin der Arzt ihm den Kopf
abschneidet und diesen auf einem Stuhl platziert. Danach spült er den aufgeschnittenen
Bauch noch mit einer Wasserpumpe durch und näht den Körper wieder zusammen.
Dabei verwechselt er noch kurz Arme und Beine, doch am Ende hüpft ein glücklicher
und physiologisch intakter Patient vom Tisch.
Das alles klingt eklig, doch das war es damals natürlich nicht. Technisch überzeugt
der Film durch die beeindruckenden Maskierungen des Bildes. Inhaltlich ist der Film
überdurchschnittlich kreativ und dem ermüdeten Les trésors de satan (1902) überle-
gen.

2
Une indigestion, aka Chirurgie fin de siècle, aka Sure Cure for Indigestion, aka Up-to-Date
Surgery, aka Dr. Lorenz Outdone (Star Film, Frankreich 1902, Regie: Georges Méliès, Darsteller:
Georges Méliès, Länge: ca. 84m, 5 Minuten)

119
Das Dokument des Grauens

In L’homme a la tête de caoutchouc (1902)3 zeigt uns Georges Méliès den ersten
explodierenden Kopf der Filmgeschichte, 79 Jahre bevor David Cronenberg mit der
berühmten Szene aus Scanners (1981) Publikum und Kritiker schockierte. Selbstver-
ständlich geht es bei Méliès aber weniger provokant zu.
Ein Mann, den gemalten Kulissen entsprechend soll es wohl ein Alchemist sein,
platziert einen Kopf auf einem Tischgestell. Mit einem Blasebalg pumpt er Luft hinein
und der Kopf wächst und wächst, wild nach Luft schnappend und lamentierend. Zuerst
lässt der Alchemist die Luft wieder ab, doch dann erscheint ein Kollege auf der Bühne
und pumpt den Kopf wieder auf. Bis er schließlich in einer gigantischen Wolke aus
Mehl platzt.
Méliès hat diesen Film mit schon
beinahe bescheiden wirkendem Aufwand
realisiert. Genau betrachtet ist L’homme
a la tête de caoutchouc (1902) eine Va-
riation von Le diable géant, ou Le mi-
racle de la madonne (1901); ein sich
bewegender menschlicher Körper wächst
ins Gigantische, erzeugt durch eine be-
wegte Kamera und Bildmaskierungen.
Wirklich neuartig ist hier eigentlich nur
das Ende mit der herrlichen Explosion,
in welche Méliès auch in gewohnter tech-
Abbildung 11.2: Wird er gleich platzen? nischer Perfektion überblendet. Erzähle-
L’homme a la tête de caoutchouc (1902) risch ist der Film natürlich eine Nullnum-
mer und der Schwächste von Méliès in diesem Jahr.

Der französische Kollege aus dem Hause Pathé Frères blieb dieses Jahr nicht untä-
tig. Ferdinand Zecca hatte nach seinem Einstand im Vorjahr mit der Faust-Verfilmung
Les sept châteaux du diable (1901) seine ersten Schritte in der Fantastik unternom-
men, welche die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zogen. 1902 legte er mit
Quo Vadis? (1902) und dem Fantasyfilm La fée printemps (1902) nach. Zecca begann,
sich zu einem bedeutenden Geschichtenerzähler in der Welt des französischen Films
zu entwickeln. Mit La belle au bois dormant (1902)4 schuf er zusammen mit seinem
Regiekollegen Lucien Nonguet eine aufwendige Verfilmung des berühmten französi-
schen Märchens von Charles Perrault. Der Film erzählt das Drama um Dornröschen.
Ein König lässt zur Feier der Taufe seiner Tochter ein rauschendes Fest geben. Hierzu
sind auch alle Feen des Landes eingeladen ... bis auf die böse Fee Carabosse, welche
er irrtümlich vergessen hat. So erscheint sie und verflucht das Mädchen. Im Alter von
3
L’homme a la tête de caoutchouc, aka The Man with the Rubber Head, aka The India Rubber
Head (Star Film, Frankreich 1902, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 45m,
3 Minuten)
4
La belle au bois dormant, aka Sleeping Beauty (Pathé Frères, Frankreich 1902, Regie: Lucien
Nonguet, Ferdinand Zecca Bühnenbild: Vincent Lorant-Heilbronn, Länge: ca. 220m, 12 Minuten)

120
11. 1902

16 Jahren solle sie sich an einer Spindel stechen und in einen hundertjährigen Schlaf
fallen, aus welchem nur ein junger Prinz sie wieder erwecken könne.
Wie bei historischen Dramen der Pathé damals üblich, war La belle au bois dor-
mant (1902) in 11 Tafeln angelegt. Jede Tafel war eine Szene mit genau einem Set und
einer Kameraposition und bestand auch aus einer Szene. Die Schauspieler agierten auf
einer Bühne vor gemalten Kulissen und die Kamera filmte das Geschehen aus mittlerer
Distanz einfach ab. Die Geschichte war nicht kontinuierlich erzählt, sondern der Film
setzte die Kenntnis des Märchens voraus. La belle au bois dormant (1902) zeigte nur
Fragmente des Ganzen, die Verbindungsstücke der Szenen musste sich der Zuschauer
selbst schaffen können. Die magische letzte Szene des Films, die Apotheose, war voll-
ständig handkoloriert.

Neben ihrer französischen Herkunft sind die diesjährigen Filme von Georges Mé-
liès und Ferdinand Zecca auch durch ein gemeinsames Schicksal miteinander verbun-
den - Kopien der Filme wurden von Siegmund Lubin eingekauft, die Herkunftsmarkie-
rungen im Film entfernt und in den USA auf seinen eigene neu gegründete Firma Lu-
bin Manufacturing Company als Produktionsgesellschaft urheberrechtlich registriert.
Dies sorgt teils noch heute für Verwirrung in Chroniken und Datenbanken, vor allem
hinsichtlich der Jahreszahlen. Zum Beispiel benennen manche Publikationen, vor al-
lem aus den USA, oft das Jahr 1904 als Produktionsjahr von La voyage dans la lune
(1902), doch das war lediglich das Jahr der Veröffentlichung der Lubin-Kopie. La bel-
le au bois dormant (1902) wird in den USA unter dem Titel Sleeping Beauty aus dem
gleichen Grund auch gerne auf das Jahr 1903 datiert und in eine US-Produktion um-
gedichtet.

Lubin veröffentlichte auch Snow White (1902)5 . Von dem Film weiß man heute
fast gar nichts mehr. Es gibt keine Produktionsdaten, keine Inhaltsschilderungen, keine
Aufführungstermine. Der einzige Hinweis auf den Film ist seine Anmeldung für das
Copyright im Mai 1903 unter Angabe des Herstellungsjahres 1902.

Ähnlich verhält es sich mit Mysterious Transformation Scene (1902)6 . Der Film
hat jedoch noch einen Eintrag in Lubins Katalog vorzuweisen. Diesem zufolge zeigt
der Film, wie eine Frau von einem Magier zersägt wird. Die genaue Herkunft ist je-
doch ähnlich unbekannt wie bei Snow White (1902).

Lubin stand 1902 auch in einem Rechtsstreit mit Edison, der ihm Urheberrechts-
und Patentverletzungen vorwarf. Streitpunkte waren vor allem die Projektionstech-
nik, welche Lubin für sein eigenes Produkt teilweise von Edison kopiert hatte, sowie
Remakes von Filmproduktionen der Edison Manufacturing Company und deren Ver-
marktung.
5
Snow White (Lubin Manufacturing Co.)
6
Mysterious Transformation Scene (Lubin Manufacturing Co.)

121
Das Dokument des Grauens

Edison selbst erhöhte die Produktion und begann, sich mehr am europäischen Stil
zu orientieren. Filme mit inszenierten Inhalten ersetzten zunehmend die Filmschnip-
sel dokumentarischer Art. Die französische Filmwirtschaft war den Amerikanern noch
immer um Jahre voraus, doch Edison sprang auf den Zug mit auf.

A Chinese Mystery (1902)7 zeigt eine junge chinesische Frau, welche in ein Unge-
heuer verwandelt wird. Ein anwesender Amerikaner zieht ein Schwert und spaltet den
Kopf des Monstrums, aus welchem dann Chinesen hervorspringen und herumzuhüp-
fen beginnen. Soldaten westlicher Nationen erscheinen und an der Stelle, an welcher
das Ungeheuer fiel, erblüht eine weiße Lilie als Symbol der Freiheit.

The Devil’s Kitchen (1902)8 zeigt die Küche des Teufels und den Koch, der dar-
in arbeitet. Ein Buckliger und andere koboldhafte Kreaturen hüpfen aus Kesseln und
richten in der Küche ein Chaos an. Mit einer Laufzeit von ungefähr einer Minute ist
dieser Film eine der kürzesten Produktionen Edisons im 20. Jahrhundert.

The Devil’s Theatre (1902)9 zeigt uns anstelle der Küche das Theater des Teufels,
in welchem Kobolde zur Erbauung des Teufels ein Schauspiel veranstalten. Es gibt
wieder viele jump cuts und magisches Allerlei zu sehen.

Ein Ritter ist in The Devil’s Prison (1902)10 gefangen und wird vom Teufel und
seinen Schergen gequält, darunter eine Hexe. Als der Gefangene um Hilfe fleht, er-
scheint eine Fee. Der Ritter flieht und die Hexe wird von der Fee eingesperrt. Doch
dann kommt der Ritter zurück und beginnt seinerseits, die Hexe zu foltern. Als die Fee
dies bemerkt, sperrt sie ihn zusammen mit der Hexe ein.

The Mysterious Urn (1902)11 ist ein verworrener Film um Mephistopheles und
eine geheimnisvolle Urne.
Mehrere Frauen stellen sich um die Urne auf, woraufhin sie durch eine Handbe-
wegung des Mephistopheles verschwinden. Es folgt ein Szenenwechsel und wir sehen
das Atelier eines Künstlers, in welchem dieser einer der Damen den Hof macht. Als
er sie umarmen möchte, verwandelt sie sich in Mephistopheles. Der Boden öffnet sich
und der Künstler verschwindet.
Erneuter Szenenwechsel, diesmal sehen wir den gleichen jungen Mann bei der
Morgentoilette. Wieder erscheint Mephistopheles und verwandelt das Zimmer in Ha-
des, den Vorhof zur Hölle. Die sieben Frauen erscheinen wieder aus der Urne. Filmen-
de.

7
A Chinese Mystery (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Länge: ca. 30m, 2 Minuten)
8
The Devil’s Kitchen (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Länge: ca. 24m, 1 Minute)
9
The Devil’s Theatre (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Länge: ca. 30m, 2 Minuten)
10
The Devil’s Prison (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Länge: ca. 53m, 4 Minuten)
11
The Mysterious Urn (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Länge: ca. 63m, 4 Minuten)

122
11. 1902

Der namensgebende Clown aus The Clown and His Mysterious Pictures (1902)12
malt das Bild einer Frau auf eine Leinwand. Diese erwacht zum Leben und steigt aus
dem Bild herab.
Als Nächstes zeichnet der Clown das Bild eines Kleinkinds und auch dieses er-
wacht zum Leben. Der Clown legt es der Frau in die Arme, woraufhin diese voller
Entsetzen flieht.

Ein sichtlich angetrunkener Mann geht in The Troubled Dream (1902)13 zu Bett
und findet sich plötzlich im Gefängnis wieder. Der Teufel erscheint und piesackt ihn.
Eine Rauferei entbrennt zwischen den beiden, doch dann wacht der Mann plötzlich auf
und stellt fest, dass er nur mit seinem Kopfkissen kämpft. Alles nur geträumt.

The Horrible Nightmare (1902)14 ist ein Film mit sehr ähnlichem Thema. Ein
Mann geht zu Bett, doch plötzlich dreht es sich um und der Schläfer kommt darunter
zum Liegen. Er arrangiert daher sein Bettzeug neu, als das Bett wieder in die ursprüng-
liche Position zurückspringt. Dann explodiert es. Der Schläfer erwacht und stellt fest,
dass alles nur ein Traum war.

Ähnlich chaotisch geht es in The Haunted Dining Room (1902)15 zu. Zwei Män-
ner sitzen an einem gedeckten Tisch und wollen essen, als das Geschirr und auch der
Tisch herumzutanzen beginnen.

The Giant and the Pygmy (1902)16 wiederholt einen bekannten Spezialeffekt von
Georges Méliès. Ein Magier dupliziert sich selbst. Eine der beiden Personifizierungen
beginnt zu wachsen und verwandelt sich in einen Riesen. Dieser lacht über den ver-
meintlichen Zwerg an seiner Seite. Doch dann schrumpft er wieder auf die normale
Größe zurück.

Ein chinesischer Magier zaubert in The Chinese Conjurer and the Devil’s Head
(1902)17 den riesigen Kopf eines Teufels herbei. Der Kopf rollt mir den Augen und
schneidet einige Grimassen, bis er schließlich von der Bühne schwebt.

Diese Filme Edisons waren alle für das Kinetoskop und die Aufführung auf Jahr-
märkten entstanden. Daher kommt auch ihre kurze Laufzeit, denn länger als ein paar
Minuten schaute niemand in einen solchen unbequemen hölzernen Kasten. Jack and
12
The Clown and His Mysterious Pictures (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Länge: ca. 27m,
2 Minuten)
13
The Troubled Dream (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Länge: ca. 18m, 1 Minute)
14
The Horrible Nightmare (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Länge: ca. 15m, 1 Minute)
15
The Haunted Dining Room (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Länge: ca. 18m, 1 Minute)
16
The Giant and the Pygmy (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Länge: ca. 18m, 1 Minute)
17
Chinese Conjurer and the Devil’s Head (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Länge: ca. 27m,
2 Minuten)

123
Das Dokument des Grauens

the Beanstalk (1902)18 hingegen war ein Film, welcher vor größerem Publikum mit-
tels eines Projektors gezeigt wurde. Es handelt sich hierbei um die Verfilmung eines in
den USA beliebten Märchens, das im deutschsprachigen Raum unter dem Titel „Hans
und die Bohnenranke“ bekannt ist.
Jack ist ein kleiner Junge, der die Kuh seiner Mutter gegen einige Bohnensamen
eintauscht, ein vermeintlich gutes Geschäft. Die Mutter ist gar nicht erfreut darüber
und schickt ihn ins Bett. Die Samen wirft sie entzürnt auf den Boden des Hofes.
In der Nacht hat Jack einen Traum, in welchem auch ein Huhn, welches goldene
Eier legt, vorkommt. Und die Bohnen sprießen, wachsen gen Himmel.
Jack erkennt am nächsten Morgen,
dass sein Traum wohl nicht nur Einbil-
dung war. Die Bohnenranke ist wirklich
in den Himmel gewachsen. Jack klettert
daran empor, über die Wolken, und lan-
det schließlich in der Burg eines Riesen.
Jack dringt in die Küche des Riesen
vor und versteckt sich. Der Riese kommt
und lässt sich bewirten. Dann betrachtet
er seine Schätze ... und darunter ist auch
das Huhn, welches goldene Eier legt!
Jack kann nicht widerstehen. Als
Abbildung 11.3: Jack schleicht zu dem der Riese eingeschlafen zu sein scheint,
schlafenden Riesen, Szene aus Jack and kommt er aus seinem Versteck hervor
the Beanstalk (1902) und versucht, das Huhn zu stehlen. Doch
der Riese erwacht und beginnt, Jack zu jagen ...
Jack and the Beanstalk (1902) war damals ein Film für die ganze Familie. Die
Geschichte war durchgängig erzählt und nicht nur eine Aneinanderreihung von Frag-
menten wie La belle au bois dormant (1902), sodass der Film auch für die jüngsten
Zuschauer zugänglich war. Die Bühnenbilder waren fantasievoll, aber doch noch deut-
lich bescheidener als jene von George Méliès. Der Riese war auch einfach nur ein
großer Mann und nicht der Gigant, den die Leser der Geschichte vor Augen hatten.
Doch die Inszenierung war dennoch märchenhaft genug, um die Fantasie der Kinder
zu beflügeln.

Edisons Kollegen von der American Mutoscope & Biograph konzentrierten sich
weiterhin auf ihre an Daumenkinos erinnernden Apparate und somit auch auf Filme
mit geringer Laufzeit. Deren Vorteil war jedoch eine höhere Bildqualität. Das Film-
material hatte eine Größe von 68mm und eine wesentlich feinere Körnung bei höherer
Detailauflösung als das 35mm-Material der Konkurrenz. Der Zugewinn an Schärfe
war gegenüber dem Kinetoskop Edisons beträchtlich. Die eingeschränkten Einsatz-
18
Jack and the Beanstalk (Edison Manufacturing Co., USA 1902, Regie: George S. Fleming, Edwin
S. Porter, Kamera: Edwin S. Porter, Länge: ca. 190m, 12 Minuten)

124
11. 1902

möglichkeiten konnten sie jedoch nicht aufwiegen.

Eine recht dumme Idee ist, was die Tochter eines Arztes in A Quick Recovery
(1902)19 tut. Als der Vater in die Praxis kommt und droht, sie und ihren Liebhaber
beim Turteln zu erwischen, versteckt sie ihren Liebsten ... auf dem Seziertisch. Erwar-
tungsgemäß dauert es auch nicht mehr lange, bis der junge Mann keinen Kopf mehr
auf seinen Schultern sitzen hat. Schnell steckt die Arzttochter den Kopf wieder an die
richtige Stelle zurück. Der Mann erholt sich umgehend und die beiden küssen sich.

Ähnlich geht es in The Startled Lover (1902)20 zu. Dort verwandelt sich die An-
gebetete zum Schrecken ihres Verehrers in ein Skelett. Aber kurze Zeit später erhält
sie wieder ihre lebendigere Gestalt zurück.

Dem Kunden in The Barber’s Queer Customer (1902)21 ergeht es ähnlich. Sein
Kopf verwandelt sich in jenen diversen Getiers, darunter den Kopf einer Eule und ei-
nes Affen. Doch auch dies geht glimpflich vorbei.

The Murderer’s Vision (1902)22 war von ernsterer Natur. Ein Mörder erlebt in
seiner Gefängniszelle seine Tat auf’s Neue. Diese wird auf eine Wand projiziert, der
Mörder selbst wird zum Zuschauer. Doch der Kopf seines Opfers verselbstständigt sich
und bedroht den Mörder in der Zelle, geisterhaft im Raum schwebend. Der Mörder
sinkt tot zu Boden und der Geist verschwindet.
Dieser Film entstand in London durch den britischen Ableger der Mutoscope &
Biograph. Er ist also keine amerikanische Produktion, denn die American Mutoscope
& Biograph übernahm lediglich den Vertrieb.

The Prince of Darkness (1902)23 ist ähnlich gelagert. Dort erscheint einem Tod-
geweihten der Sensenmann.

In den USA veröffentlichte die Selig Polyscope Co. noch The Dancing Skeleton
(1902)24 . Der Film bietet genau das, was der Titel verspricht - ein tanzendes Skelett.
Bemerkenswert ist dabei, dass es sich nicht um einen Darsteller in einem bemalten
Anzug handelt, sondern um ein richtiges Skelett in Lebensgröße, animiert durch stop
motion.

19
A Quick Recovery (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1902, Länge: ca. 12m, 3 Minuten)
20
The Startled Lover (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1902, Länge: ca. 7m, 2 Minuten)
21
The Barber’s Queer Customer (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1902, Regie: Arthur
Marvin, Länge: ca. 7m, 2 Minuten)
22
The Murderer’s Vision (British Mutoscope & Biograph Co., UK 1902, Länge: ca. 7m, 2 Minuten)
23
The Prince of Darkness (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1902)
24
The Dancing Skeleton (Selig Polyscope Co., USA 1902, Länge: ca. 25m, 1 Minute)

125
Das Dokument des Grauens

Der Brite Robert W. Paul und sein Hausregisseur Walter R. Booth steuerten auch
1902 Filme zum Gruselgenre bei.
The Magic Sword (1902)25 erzählt von einem Ritter, dessen Braut von einer Besen
reitenden Hexe entführt wurde. Eine Fee überreicht ihm ein magisches Schwert, mit
dessen Hilfe er seine Braut wieder aus der Gewalt der Hexe befreit und am Ende die
Hochzeitsglocken doch noch läuten können.
Der Film vereint die Welt méliès’scher Spezialeffekte mit einer Geschichte. Es gibt
nicht nur verschwindende Gegenstände und Ähnliches, sondern sie ergeben auch einen
Sinn innerhalb des im Film gezeigten Geschehens.

Mit The Enchanted Cup (1902)26 kopierten Robert W. Paul und Walter R. Booth
das Handlungsprinzip von The Magic Sword (1902). Diesmal wird ein Mädchen von
Zwergen in eine Höhle verschleppt. Anstelle eines Schwertes überreicht die gute Fee
dem Helden einen verzauberten Becher. The Enchanted Cup (1902) ist fast doppelt
so lang wie der Vorgänger und bewegt sich qualitativ auf gleicher Augenhöhe.

1902 war auch das Jahr, in welchem der in Essex geborene Musiker, Schauspie-
ler und Hobbyfotograf William Haggar begann, sich als Filmemacher zu versuchen.
Haggar war das Oberhaupt einer familiären Theatergruppe und eines großen bunten
Wagens voller Orgelpfeifen und sich bewegender Figuren. So tingelten die Haggars
als Wandertheater durch England und Wales.
1898 hatte William Haggar einen Kalklicht-Projektor erstanden. Bei einem solchen
Projektor wurde eine hochgefährliche Mischung aus Wasserstoff und Sauerstoff, im
Volksmund „Knallgas“ genannt, entzündet und auf einen Kegel aus Kalk gerichtet,
der daraufhin zu glühen begann. Es dauert drei Jahre, bis die Haggars nach etlichen
lautstark explodierten Experimenten so weit waren, einen chemisch stabilen Projektor
vor Publikum in Betrieb nehmen zu können [5].
Da war es auch nur konsequent, dass William Haggar früher oder später damit be-
ginnen würde, eigene Filme dafür herzustellen. 1902 unternahm er hier erste Schritte,
mit der tatkräftigen Unterstützung seiner Theatertruppe, darunter acht seiner Kinder.
Sowohl The Wild Man of Borneo (1902)27 als auch The Maniac’s Guilloti-
ne (1902)28 waren keine eigenständigen Erzählungen, sondern kurze Ausschnitte aus
Bühnenstücken, welche die Haggars aufführten. Wie man sich anhand der Titel leicht
denken kann, zeigte der erste Film einen geheimnisvollen Wilden, der zweite eine
Guillotine.
Doch wenn man die noch vorhandenen Fragmente dieser Filme William Haggars
sieht, erkennt man, dass der wirkliche Schatz in ihnen nicht der Film selbst ist, sondern
der grandiose Einblick in ein solches fahrendes Wandertheater und seinen begeisterten
25
The Magic Sword (Robert W. Paul, UK 1902, Regie: Walter R. Booth, Länge: ca. 54m, 3 Minuten)
26
The Enchanted Cup (Robert W. Paul, UK 1902, Regie: Walter R. Booth, Länge: ca. 103m, 5
Minuten)
27
The Wild Man of Borneo (William Haggar and Sons, UK 1902, Regie: William Haggar)
28
The Maniac’s Guillotine (William Haggar and Sons, UK 1902, Regie: William Haggar)

126
11. 1902

Laiendarstellern, wie es sie nach einer langen Tradition von Jahrhunderten inzwischen
schon lange nicht mehr gibt. William Haggars Filme sind daher vor allem unersetzli-
che historische Dokumente.

Der letzte Beitrag des Jahres aus dem


Vereinigten Königreich war Maria Mar-
ten, or The Murder at the Red Barn
(1902)29 . Dicky Winslow verfilmte hier
erstmals einen der berüchtigtsten Morde
in der englischen Kriminalgeschichte. Im
Jahr 1827 ermordet William Corder sei-
ne schwangere Geliebte Maria Marten.
Die Leiche wird nicht gefunden, bis ih-
re Mutter träumt, sie sei unter den Bo-
denplanken eines roten Schuppens ver-
scharrt. Dort werden die Überreste dann
auch tatsächlich gefunden und Corder
hingerichtet.
In der Realität hatte sich der Mord
ungefähr so zugetragen, in Polestead,
Suffolk. Corder und Maria Marten hatten
vereinbart, sich bei einem roten Schup-
pen auf dem Weg nach Ipswich zu
treffen, um gemeinsam durchzubrennen.
Doch in Wahrheit ermordete er sie, wahr-
scheinlich wegen ihrer Schwangerschaft,
und Maria wurde als vermisst gemeldet. Abbildung 11.4: William Haggar, Por-
Und auch damals träumte ihre Mutter traitfotografie aus dem Jahr 1924 [6]
von dem roten Schuppen, zumindest behauptete sie dies, und die Leiche wurde tat-
sächlich gefunden [7].
Der Fall erlangte großes Aufsehen. Der Mord war das erste Verbrechen, über wel-
ches in den Medien ständig berichtet wurde, und schrieb somit Kriminalgeschichte.
Als Corder gehängt wurde, versammelte sich eine große Menschenmenge, um der Exe-
kution beizuwohnen. Der rote Schuppen selbst überlebte die damalige Medienhysterie
nur teilweise - Souvenirjäger plünderten ihn und entfernte alles, was nicht niet- und
nagelfest war. Das, was von dem Schuppen übrig blieb, wurde zu einer Touristenat-
traktion.
Ironischerweise überstanden Corders Überreste das Geschehen beinahe besser als
der Tatort. Der Bericht über den Mord und den Prozess wurde nämlich in seiner Haut
gebunden, nachdem der Chirurg George Creed diese von seiner Leiche abgelöst hat-
29
Maria Marten, or The Murder at the Red Barn (Harrison & Co. Ltd., UK 1902, Regie: Dicky
Winslow, Länge: ca. 130m, 5 Minuten)

127
Das Dokument des Grauens

te. Sein Skelett wurde neben jenem des in England berühmten Bandenchefs Jonathan
Wild im Hunterian Museum des Royal College of Surgeons of England in London
ausgestellt; erst im Jahr 2004 wurde es aus der ständigen Ausstellung entfernt und
eingeäschert [8].

128
Kapitel 12

Eine kurze Reise durch die Zeit

Er schrie in einem Flüstern einem Bild, einem Gesicht zu schrie es zweimal, wenn es
auch kaum lauter klang als ein Hauch:

„Das Grauen! Das Grauen!“


- Joseph Conrad, The Heart of Darkness
Józef Teodor Nałȩcz Konrad Korzeniowski war ein polnischer Seemann, der 1878
erstmals englischen Boden betrat und sich dort unter dem Namen Joseph Conrad nie-
derließ. Von dort aus bereiste er als Seemann vor allem die malaiischen Inseln und den
Kongo. 1886 erhielt er die britische Staatsbürgerschaft.
Um das Jahr 1890 erkrankte er als Kapitän eines Flussdampfers bei den Stanley-
Wasserfällen des Kongo an einem schweren Fieber. Bei dem Versuch, ihn mit einem
Kanu an Land zu bringen, kenterte das Boot. Joseph Conrad konnte gerettet werden.
Mit sich führte er damals einige Seiten beschriebenes Papier: das erste Kapitel seines
ersten Romans.
Das Fieber ließ ihn nie mehr los. 1893 versuchte er, auf See wieder gesund zu
werden und die Liebe zur Seefahrt wieder zu finden, doch der Versuch misslang. Von
nun an arbeitete er als Schriftsteller.
Im Jahr 1902 veröffentlichte Joseph Conrad seine Novelle The Heart of Darkness
erstmals in eigenständiger Form. Conrad hatte die Geschichte bereits im Jahr 1899 in
Form von drei Episoden im britischen Blackwood’s Edinburgh Magazine, einer seit
dem Jahr 1817 monatlich erschienenen Zeitschrift mit den Schwerpunkten Literatur,
Politik und Philosophie, veröffentlicht, doch erst jetzt erreichte sie ein größeres Pu-
blikum. Mit der Folge, dass The Heart of Darkness noch heute zu den wichtigsten
literarischen Werken der englischsprachigen Kultur gezählt wird.
Fünf Männer sitzen auf einem Schiff auf der Themse. Einer von ihnen ist Marlow,
ein Weltenbummler. Marlow erzählt eine Geschichte, welche er einst erlebte.
Einst träumte er davon, als Kapitän eines Dampfschiffes den Kongo hinauf und
hinab zu fahren. Seine Tante, welche über exzellente Beziehungen zu einer belgischen
Handelsfirma verfügte, welche sich auch auf den Vertrieb von Elfenbein spezialisiert

129
Das Dokument des Grauens

hatte, verschafft ihm dort eine Anstellung. Seine Aufgabe soll es sein, einen Kapitän
zu ersetzen, welcher von Eingeborenen getötet wurde.
Bei seiner Ankunft im Büro der Fir-
ma ist die Stimmung ausgesprochen dü-
ster. Jedermann scheint Marlow mitleid-
voll zu betrachten. Der Arzt, welcher
ihn auf seine Tauglichkeit hin untersucht,
fragt ihn nach Fällen von Geisteskrank-
heiten in seiner Familie und erwähnt,
dass nichts in der Welt ihn dazu bewegen
könne, diesen Auftrag anzunehmen.
Am nächsten Tag bricht Marlow zu
seiner einmonatigen Reise entlang des
Kongo auf. Sein Ziel ist die Niederlas-
sung eines mysteriösen Elfenbeinsamm-
lers, Kurtz ist sein Name. Auf der 200
Meilen langen Reise entlang des Kongo
sieht Marlow Verstörendes. Die Küsten
des Kongo erscheinen düster und bedroh-
lich. Er sieht verlassene Dörfer und ar-
beitende Eingeborene und alles erscheint
als fremdartig.
Auch der Geschäftsführer einer se-
Abbildung 12.1: Joseph Conrad kundären Handelsstation, welche auf
dem Weg liegt, erscheint als zwielichtig.
Jedermann dort scheint Kurtz zu kennen und Marlow hört Gerüchte, dass Kurtz krank
sei. Eine Expedition zu Kurtz ist geplant und Marlow schließt sich den Männern an.
Doch er erfährt, dass das Ziel der Expedition ist, den unliebsamen Konkurrenten Kurtz
zu töten.
Marlow beginnt, sich zunehmend für Kurtz zu interessieren. Im Laufe der Fahrt
wird aus dem Interesse eine Obsession. Marlow will Kurtz treffen, unbedingt. Und
je tiefer der Kongo in das Innere des Urwalds, desto intensiver wird die Reise Mar-
lows, der sich selbst als den Inbegriff des gesunden Menschenverstandes empfindet, in
Kurtz’ Reich des Bösen und des Wahnsinns. Wenn er schließlich am Herz der Finster-
nis angekommen ist, sind die Art und die Verortung des Bösen infrage gestellt.
The Heart of Darkness wurde mehrfach verfilmt. Orson Welles plante 1940 eine
erste Verfilmung, aber er verwarf den Plan wieder. Die erste zur Realität gewordene
Verfilmung steht eigentlich unter einem schlechten Stern, denn erstens war es eine
TV-Produktion und zweitens eine Folge einer TV-Serie. Playhouse 90: The Heart of
Darkness (1958) ist jedoch eine ambitionierte und herausragende Verfilmung des Stof-
fes. Die Rolle des Marlow verkörpert Roddy McDowall, der zwischen den 60er und
80er Jahren wiederholt in Horrorfilmen auftauchte. Ebenso ist die legendäre Sänge-

130
12. Eine kurze Reise durch die Zeit

rin Eartha Kitt als Königin zu sehen. Kurtz wird von der Horrorlegende Boris Karloff
dargestellt, eine erstklassige Besetzung für diese Rolle.
Keine Verfilmung der Novelle, aber sehr stark von ihr beeinflusst, war Werner Her-
zogs Film Aguirre, der Zorn Gottes (1972) mit dem großartigen Klaus Kinski in der
Titelrolle.
Nicolas Roeg verfilmte die Novelle erneut. The Heart of Darkness (1993) war
ebenfalls für das Fernsehen produziert, war jedoch von nur durchschnittlicher Quali-
tät. Die Besetzung war jedoch nicht minder exquisit als jene der Verfilmung von 1958.
Tim Roth spielte den Marlow. Der große Charakterdarsteller John Malkovich wurde
1995 für seine Darstellung des Kurtz für den Golden Globe als bester Schauspieler
nominiert, verlor jedoch gegen Edward James Olmos.
Die erfolgreichste Adaption des Romans ist jedoch Francis Ford Coppolas epo-
chaler Antikriegsfilm Apocalypse Now (1979), der die Geschichte vom Kongo nach
Vietnam umsiedelte, aber ansonsten den Kern von Joseph Conrads Werk sehr genau
wiedergab. Marlon Brando überzeugte hier in der Rolle des Kurtz.
Bemerkenswert ist, dass Joseph Conrad hier ein Werk ablieferte, welche das Hor-
rorgenre sehr prägte und dessen Prinzip der Tauchfahrt in seelische Abgründe seitdem
sehr oft im Horror wieder auftaucht, zum Beispiel in vielen Werken von David Lynch.
Aber eine unmittelbare Adaption in Form eines Horrorfilms für die Kinoleinwände
fand bisher nicht statt.
Joseph Conrad verstarb am am 3. August 1924 im englischen Ort Bishopsbour-
ne und wurde in Canterbury beigesetzt. The Heart of Darkness blieb Joseph Conrads
bekanntestes Werk. Von seinen Romanen blieben vor allem Lord Jim aus dem Jahr
1900 und der 1904 erschienene Nostromo in Erinnerung. Letzterer ist für uns sehr
interessant. Es ist ein politischer Roman, dessen Hauptfigur Nostromo in einem italie-
nischen Kaff namens Sulaco lebt. Als Ehrung von Joseph Conrad diente Nostromo als
Namensgeber für das Raumschiff in Alien (1979) und Sulaco für jenes in der Fortset-
zung, Aliens (1986).

131
Das Dokument des Grauens

132
Kapitel 13

1903

Das Jahr 1903 blieb wegen verschiedener Dinge in Erinnerung. Im deutschsprachigen


Raum wurde eine umstrittene Rechtschreibreform beschlossen. Die USA pachteten
für 2000 Dollar Jahresmiete eine Bucht im Süden Kubas, welche den Namen Bahía
de Guantánamo trägt, mit einer vertraglich befristeten Laufzeit von 100 Jahren. Die
Gebrüder Wright unternahmen im Sommer dieses Jahres ihren legendären ersten Mo-
torflug. Interessante Persönlichkeiten wurden geboren; am bekanntesten sind wohl der
legendäre „Staatsfeind Nummer Eins“ des FBI, John Dillinger, und der Schriftsteller
George Orwell. Auch berühmte Schauspieler erblickten das Licht der Welt, darunter
Bing Crosby, Johannes Heesters und Fernandel. Einem weiteren Vertreter dieser Zunft,
wenngleich auch völlig untalentiert, werden wir später auch wiederholt begegnen: Tor
Johnson, dem zukünftigen Catcher und Darsteller etwas tumber Charaktere in Filmen
wie Night of the Ghouls (1959), Plan 9 from Outer Space (1959) und The Beast of
Yucca Flats (1961). 1903 war auch das Jahr, in welchem Sherlock Holmes Baffled
(1900) mit drei Jahren Verspätung doch noch veröffentlicht wurde, wenngleich auch
nur als Fragment mit umgerechnet weniger als 30 Sekunden Laufzeit. Edwin S. Porter
sorgte für Aufsehen mit seinem Western The Great Train Robbery (1903), der heute
als die Initialzündung des künstlerisch wertvollen amerikanischen Films gilt. Und in
London sorgte ein kleiner Film über noch kleinere, aber dafür umso ekligere Kreaturen
für Aufsehen.
In The Cheese Mites (1903)1 nimmt ein Herr sein Frühstück ein, ein Käsebrot.
Mit einem Vergrößerungsglas liest er seine Morgenzeitung. Doch dann fällt ihm auf,
dass etwas an seinem Käse sonderbar zu sein scheint. Er schaut hindurch, und er sieht
Unmengen von Käsemilben auf dem Käser herumkriechen. Angewidert bricht er das
Frühstück ab.
Nachdem der nur knapp über eine Minute laufende Film im August 1903 im Lon-
doner Alhambra Theatre gezeigt worden war, setzte eine regelrechte Käsemilben-
Hysterie ein. Die normalerweise unsichtbaren kleinen Tierchen, welche auf einem
Stück Stilton herumwuselten, erschienen auf der Leinwand als große, achtbeinige Mon-
1
The Cheese Mites (Charles Urban Trading Company, UK 1903, Regie: F. Martin Duncan, Länge:
ca. 15m, 1 Minute)

133
Das Dokument des Grauens

ster. Käsehersteller beschwerten sich über den Film, weil man befürchtete, dass die
Käufer den Gedanken, dass achtbeinige Käfer auf dem Käse leben, überhaupt nicht
mögen würden. Doch das Publikum war verrückt nach den gruseligen Biestern. Mikro-
skope fanden in London einen vermehrten Absatz und wurden oftmals auch zusammen
mit einem Beutel Milben zum Kauf angeboten. The Cheese Mites (1903) selbst ging
als der erste ernsthafte wissenschaftliche Lehrfilm in die Geschichte ein.

Edison produzierte mit Extraordi-


nary Black Art (1903)2 einen Film
voller Verwandlungen von Gegenstän-
den in animierte Wesen. Der Film
spielt in einem mittelalterlichen Ambien-
te und zeigt einen Ritter, der unter dem
Einfluss eines orientalischen Zauberers
steht. Eigentlich wäre der Film ein rei-
ner Fantasy-Streifen, wäre da nicht die
Sequenz, in welcher der Zauberer mit
einer Bewegung seiner Hand den Ritter
in einen Kerker versetzt. Dort wird er
von um ihn herumtanzenden Hexen be-
Abbildung 13.1: Der große Fleck links drängt. Der Film endet damit, dass der
oberhalb der Bildmitte ist eine der winzi- Zauberer dem Ritter eine Braut präsen-
gen Hauptdarstellerinnen aus The Cheese tiert und die Hexen sich in Brautjung-
Mites (1903). Der Kopf zeigt nach rechts fern verwandeln. Ein sehr glückliches
unten Ende.

In Lovers and the Imp (1903)3 wird ein Liebespaar, ein älterer Herr und eine sicht-
lich jüngere Dame, von einem Kobold geplagt. Dieser nimmt eines Abends die Stelle
des Mädchens ein und der Mann beginnt, Gegenstände auf ihn zu werfen. Doch jedes
Mal verschwindet der Kobold und erscheint wieder an einer anderen Stelle des Raums,
dargestellt durch jump cuts. Als der Raum weitgehend in Trümmern liegt, greift der
Mann zu einer Stehlampe, und gerade als er damit weit zum Schlag ausholt, verwan-
delt sich der Kobold zurück in die junge Frau. Sie schreit auf und hebt abwehrend ihre
Hände. durch den Schrei alarmiert, betreten zwei Polizisten die Szene und führen den
Mann ab.

Ein anderer Film aus Edisons New Yorker Werkstatt ist Lovers and the Imp
(1903) inhaltlich sehr ähnlich. Smashing a Jersey Mosquito (1903)4 zeigt wieder
ein Pärchen, welches von einer riesigen Stechmücke genervt wird. Zusammen versu-
2
Extraordinary Black Art (Edison Manufacturing Co., USA 1903, Länge: ca. 38m, 3 Minuten)
3
Lovers and the Imp (Edison Manufacturing Co., USA 1903, Länge: ca. 44m, 3 Minuten)
4
Smashing a Jersey Mosquito, aka Jersey Mosquito (Edison Manufacturing Co., USA 1903,
Länge: ca. 29m, 2 Minuten)

134
13. 1903

chen sie, das Insekt zu erschlagen, was natürlich nicht ganz so einfach funktioniert.
Das Zimmer wird in Trümmer gelegt, sogar der Tisch geht zu Bruch, bis die Frau das
Monster schließlich verwundet. Es fällt zu Boden und der Mann hüpft darauf, um ihm
den Rest zu geben. Doch dann gibt es eine Explosion und der ganze Raum ist eine ein-
zige Trümmerwüste. Der Film ist von ausgesprochen hysterischer Natur und hat sein
damaliges Publikum zu Lachkrämpfen verführt. Der Erfolg des Films sorgte auch zu
einer von Edison legitimierten Neuauflage durch die Kleine Optical Company im Jahr
1905 unter dem kürzeren Titel Jersey Mosquito. Ebenso gibt es noch eine im Jahr 1904
durch Siegmund Lubin vertriebene und nicht legitime Kopie des Films.

Edisons amerikanischer Landsmann William Nicholas Selig produzierte seit 1898


vorrangig filme dokumentarischer Art. Ausflüge in das Fantastische kamen zwar vor,
waren jedoch nicht häufig. Im Jahr 1903 fiel er jedoch stärker auf. The Pied Piper of
Hamelin (1903)5 ist die erste Filmfassung der deutschen Volkssage des Rattenfängers
von Hameln. Da stellt sich natürlich die Frage, weshalb gerade ein Amerikaner im
Jahr 1903 auf den Gedanken kam, eine deutsche Geschichte zu verfilmen, von wel-
cher man nicht erwartet hätte, dass sie außerhalb Deutschlands jemand kennt. Selig
verfilmte auch nicht die Sage als solche. Diese wurde von den Gebrüdern Grimm als
jene Geschichte niedergeschrieben, welche wir Deutsche kennen. Die Sage diente aber
auch dem amerikanischen Dichter Robert Browning, welchem wir bereits in Kapitel
2 begegneten, als Vorlage. Und Selig verfilmte diese Browning-Variante. Darin wird
der Ort Hameln von Unmengen Ratten terrorisiert und die Stadtoberen heuern einen
Rattenfänger für den Preis von 1000 Gulden an, damit die Stadt und insbesondere der
Markt von der Plage befreit werden. Der Rattenfänger lockt die Ratten mit seiner Flöte
weg und erfüllt seinen Auftrag. Doch dann möchte die Stadt den versprochenen Preis
nicht zahlen. Zur Rache wendet der Rattenfänger sein verführerisches Flötenspiel dar-
aufhin auf die Kinder der Stadt an.
Der wesentliche Unterschied zwischen dem Film und der Geschichte, wie wir sie
kennen, ist, dass die Ratten und Kinder nicht wie in der deutschen Fassung im Fluss
ersäuft werden. Stattdessen geleitet der Flötenspieler sie in die Berge, welche der Film
als „Das wunderbare Land der Liebe“ bezeichnet. Für Selig stellte der Film ein ambi-
tioniertes Projekt dar und das Programmheft des Films erklärt auch voller Stolz, dass
100 Kinder als Statisten in dem Film zu sehen seien.

Selig produzierte 1903 noch einen weiteren Film mit Motiven des Schreckens, der
jedoch bei Weitem nicht den Produktionsumfang oder die Bedeutung von The Pied
Piper of Hamelin (1903) hat. Die Hauptperson in Actor’s Troubles (1903)6 ist ein
gescheiterter Shakespeare-Darsteller, dem außer seinem Diener nichts geblieben ist.
Die beiden Männer werden von einem Geist heimgesucht. Actor’s Troubles (1903)Ac-
tor’s Troubles (1903) ist ein amüsanter Kurzfilm, welcher den moralischen Zeigefin-
5
The Pied Piper of Hamelin (Selig Polyscope Co., USA 1903, Länge: ca. 106m, 8 Minuten)
6
Actor’s Troubles (Selig Polyscope Co., USA 1903, Länge: ca. 30m, 2 Minuten)

135
Das Dokument des Grauens

ger hebt, mehr nicht.

Auch Siegmund Lubin war 1903 natürlich aktiv und er vergriff sich weiterhin an
den Werken europäischer Filmemacher, die er als seine eigenen Produktionen veröf-
fentlichte. die Verwirrung ist noch immer groß, zumal in den meisten Fällen entweder
Lubins Fassung oder die europäische Version verschollen ist. Dies hat zur Folge, dass
beispielsweise Beauty and the Beast (1903)7 gerne als die erste amerikanische Adap-
tion des Stoffes bezeichnet wird. Allerdings kann sich auch niemand sicher sein, dass
es sich nicht um eine Kopie Lubins von Pathés La belle et la bête (1899) handelt.
Der Verdacht drängt sich noch weiter auf, wenn man weitere Veröffentlichungen
Lubins aus jenem Jahr betrachtet. Bei The Bewildered Astronomer (1903)8 könnte
es sich in Wahrheit um den äußerst erfolgreichen Lune à un mètre, La (1898)La lune
à un mètre (1898) von Georges Méliès passen; Lubins Katalog spricht von einem
Astronomen, dessen Gegenstände verschwinden, was inhaltlich passt.
Expansion and Contraction (1903)9 ist wahrscheinlich identisch mit Méliès’ Le
diable géant, ou Le miracle de la madonne (1901).
Dancing Skeleton (1903)10 ist nicht nachweisbar eine Kopie, aber zumindest ein
Plagiat von Seligs The Dancing Skeleton (1902).
Gleiches gilt für Jack and the Beanstalk (1903)11 , der wohl nicht zufällig nach
der äußerst erfolgreich gelaufenen Edison-Produktion Jack and the Beanstalk (1902)
in Lubins Katalog auftauchte.
Ebenfalls nicht ganz koscher ist Burglar and Fairy (1903)12 , denn auch hier wird
aufgrund des Settings ein europäischer Ursprung vermutet. Allerdings ist keine pas-
sende Vorlage aus Europa bekannt, auf welche die Inhaltsbeschreibung aus Lubins
Katalog passen würde. Ein Mann erwürgt eine Frau und wird daraufhin von ihrem
Geist heimgesucht, bis die Polizei ihn verhaftet.
Auch der Ursprung von Barber Up-to-Date (1903)13 wird aufgrund der Art der
Inszenierung wohl in Europa liegen. Ein Barbier nimmt einem Kunden den Kopf ab
und trägt ihn zu einem Waschbecken. Dort rasiert er ihn, wäscht die Reste des Ra-
sierschaums ab und setzt ihn wieder auf die Schultern des Kunden zurück. Der Kunde
steht auf, bedankt sich und verlässt den Salon.
The Devil’s Amusement (1903)14 riecht ebenfalls stark nach abendländischem Ur-
sprung bei völlig unklarer Herkunft. Satan vergnügt sich hier an einer überdimensio-
nalen, dicken Frau. Er zaubert ihren Kopf weg und ersetzt ihn mit dem eines Schweins,
eines Frosches und eines Bären. Außerdem taucht ein Kobold auf.
7
Beauty and the Beast (Lubin Manufacturing Co., USA 1903)
8
The Bewildered Astronomer (Lubin Manufacturing Co., USA 1903)
9
Expansion and Contraction (Lubin Manufacturing Co., USA 1903)
10
Dancing Skeleton (Lubin Manufacturing Co., USA 1903)
11
Jack and the Beanstalk (Lubin Manufacturing Co., USA 1903)
12
Burglar and Fairy (Lubin Manufacturing Co., USA 1903, Länge: ca. 19m, 1 Minute)
13
Barber Up-to-Date (Lubin Manufacturing Co., USA 1903, Länge: ca. 15m, 1 Minute)
14
The Devil’s Amusement (Lubin Manufacturing Co., USA 1903, Länge: ca. 45m, 3 Minuten)

136
13. 1903

Nightmare (1903)15 könnte amerikanischer Herkunft sein, vielleicht sogar von Lu-
bin selbst produziert. Ein Mann ist eine Pastete und beginnt, einen Albtraum voller
Goblins zu erleben.
Auch Petro in Fairy Land (1903)16 könnte eine Eigenproduktion Siegmund Lu-
bins sein. Petro schläft auf einer Wanderung ein und hat einen eigenartigen Traum,
in dessen Verlauf er auch auf einen nächtlichen Friedhof versetzt wird, hinter dessen
Grabsteinen die Geister der Verstorbenen auftauchen.

Eine garantierte Eigenproduktion gab es hingegen auch in diesem Jahr von der
American Mutoscope & Biograph. Eine Köchin bereitet in A Welsh Rabbit (1903)17
ein sogenanntes Welsh Rarebit zu, welches sich dann prompt in einen lebenden Hasen
verwandelt.
Gut, jetzt ist wohl eine detaillierte Erklärung vonnöten. Bei diesem Film handelt
es sich nicht etwa um eine animalische Frankenstein-Variation, wie man es annehmen
könnte. Tatsächlich handelt es sich um ein visualisiertes Wortspiel, dessen inzwischen
angenommener Bezug zum Horror schlicht und ergreifend ein Missverständnis ist. Es
ist nicht so, dass hier ein toter Hase zum Leben erweckt wird - das ist ein Gerücht,
welches in den USA in die Welt gesetzt wurde, wo man eben dieses Wortspiel nicht
kennt. Ein Rarebit ist ein traditionelles walisisches Gericht, welches Ambrose Bierce
im Jahr 1911 in The Devil’s Dictionary als genauso wenig Hase beschrieb wie riz-
de-veau a la financiere das Lächeln eines Kalbs sei, welches nach dem Rezept einer
Bänkerin zubereitet sei [9]. Der Überlieferung nach war Rarebit, was auch durchaus als
„Welsh Rabbit“, also „walisischer Hase“ ein Ersatzessen der armen Waliser, die sich
echten Hasen nicht leisten konnten. In Wahrheit ist dies nichts anderes als eine Soße
aus geschmolzenem Cheddar-Käse und variierenden Zutaten wie etwas Bier, Senf,
Paprika oder Worchester-Soße, welche über eine geröstete Scheibe Brot gegossen und
eventuell noch mit Tomaten, Gurke oder anderem belegt wird.
Wir sind also weit entfernt davon, hier einen Horrorfilm vor uns zu haben. Der Film
ist hier nur erwähnt, weil er aufgrund dieser Fehlinterpretation also solcher eingestuft
wird. Die Verwirrung ist hier jedoch noch nicht zu Ende; sollten Sie jemals auf einen
Film namens Making a Welch Rabbit (1903) stoßen, der normalerweise separat gelistet
wird, so seien Sie versichert, dass es sich um den gleichen Streifen handelt.

Robert W. Paul produzierte How to Get a Wife and Baby (1903)18 . Es handelt
sich hier nicht etwa um ein schlüpfriges Werk, sondern, wie so oft, um Zauberei. Ein
Magier betritt die Bühne und zeichnet den Kopf einer Frau. Er nimmt diesen in seine
Hände und platziert ihn auf einem Tisch. Das Spiel setzt sich mit dem Oberkörper,
den Armen und den Beinen fort, bis der Zauberer schließlich einer quicklebendigen
15
Nightmare (Lubin Manufacturing Co., USA 1903, Länge: ca. 20m, 1 Minute)
16
Petro in Fairy Land (Lubin Manufacturing Co., USA 1903, Länge: ca. 39m, 2 Minuten)
17
A Welsh Rabbit, aka Making a Welch Rabbit (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1903,
Regie: G.W. Bitzer, Darsteller: Kathryn Osterman, Länge: ca. 15m, 1 Minute)
18
How to Get a Wife and Baby (Robert W. Paul, UK 1903, Länge: ca. 26m, 2 Minuten)

137
Das Dokument des Grauens

Dame einen Stuhl anbieten kann. Und damit noch nicht genug, als Nächstes zeichnet
der Zauberer noch ein Baby.

Ebenfalls aus England stammt The Sleepwalker (1903)19 . Wir sehen eine junge
Frau in einem Bett liegen und schlafen. Plötzlich erhebt sie sich, sie ist eine Schlaf-
wandlerin. Mit einer brennenden Kerze in der Hand verlässt sie ihr Zimmer, geht durch
einen Gang und schließlich hinaus auf die Hausdächer der Stadt. Dort wandelt sie über
die Häuser hinweg, bis sie abstürzt und viele Stockwerke hinunterstürzt. Ein Polizist
bringt sie in ein Krankenhaus, doch ihr Leben ist bereits erloschen.
Szenenwechsel, wir sehen wieder das Zimmer der Schlafwandlerin. Das Fräulein
erwacht und erkennt, dass es sich nur um einen Albtraum handelte.
Dieser Film taucht unter dem gleichen Titel im Jahr 1904 in den USA unter dem
Titel The Somnambulist im Katalog Siegmund Lubins auf und wurde 1905 schließlich
als The Sleep Walker’s Dream durch die Kleine Optical Company offiziell in den USA
vertrieben. Es handelt sich stets um den gleichen Film.

Widmen wir uns nun der Heimstatt des fantastischen Films und werfen einen aus-
gedehnten Blick auf die Produktionen des Jahres 1903, welche aus Frankreich stam-
men.
Le petit poucet (1903)20 war die erste von zwei Märchenverfilmungen mit Anlei-
hen des Gruseligen, welche die Pathé dieses Jahr produzierte. Es handelt sich hierbei
um die Geschichte des Kleinen Däumlings, wie sie von Charles Perrault einst nieder-
geschrieben und von den Gebrüdern Grimm übernommen wurde. Es handelt sich nicht
um die im frühen Mittelalter im angelsächsischen Raum entstandene Geschichte um
Tom Thumb, wie es der Titel der von Siegmund Lubin in den USA veröffentlichten
Version nahelegen würde.
Der Däumling ist ein kleiner Junge, zusammen mit seinen sechs Geschwistern und
seinen Eltern im Wald lebt. Sie sind sehr arm und drohen zu verhungern. Der Däumling
belauscht seinen Vater, als dieser beschließt, die Kinder im Wald auszusetzen. Als sie
am Tag darauf in den Wald geführt werden, streut er deshalb Brosamen aus, damit
ihre Spur ihn und seine Geschwister zurück zum Haus der Eltern führen würden. Doch
die Brotkrümel werden von Vögeln aufgefressen und die Kinder irren orientierungslos
durch den Wald.
Schließlich kommen sie zu einem Haus, in welchem Licht brennt. In der Hoffnung
auf Rettung klopfen sie an. Doch es ist das Heim eines Ogers, welcher die Kinder in
einer Kiste einsperrt, um sie am nächsten Tag zu schlachten ...

19
The Sleepwalker, aka The Somnambulist, aka The Sleep Walker’s Dream (Gaumont GB, UK
1903, Regie: Alf Collins, Länge: ca. 56m, 4 Minuten)
20
Le petit poucet, aka Little Tom Thumb (Pathé Frères, Frankreich 1903, Länge: ca. 255m, 13
Minuten)

138
13. 1903

Auch Le chat botté (1903)21 ist die Verfilmung eines Märchens von Charles Per-
rault, welches ebenfalls von den Gebrüdern Grimm adaptiert wurde. Allerdings un-
terscheidet sich die deutsche Fassung von Der gestiefelte Kater stark von der fran-
zösischen Version. In Perraults Fassung ist der sprechende Kater ein durchtriebenes
Wesen, welches erst einem darbenden Müller ein paar Stiefel abluchst, um ihm einen
Hasen jagen zu können. Mit dieser Beute schleicht sich der Kater auf Umwegen in
die Gunst eines Marquis ein. Wie auch bereits in Le petit poucet (1903) taucht in der
Geschichte ein furchterregender Oger auf, welchen der Kater im Verlauf der Handlung
überlistet. Der Anteil an unheimlichen Momenten ist jedoch weitaus geringer ausge-
prägt, was auch nicht weiter verwunderlich ist; während der Oger in Le petit poucet
(1903) das Leben der Hauptfigur aktiv bedrohte, ist er in Chat botté, Le (1903)Le chat
botté (1903) in einer passiveren Opferrolle.
Der Film wurde von Lucien Nonguet und Ferdinand Zecca im November 1903 für
die Pathé Frères inszeniert. Seine Uraufführung fand erst zwei Monate später im Janu-
ar 1904 statt. Die unfreiwillige Vermarktung des Films in den USA erfolgte noch im
gleichen Jahr durch Siegmund Lubin.

Der dritte Beitrag der Pathé Frères war wesentlich leichtere Kost als die beiden
schwergewichtigen Vorgänger. La marmite diabolique (1903)22 ist ein Slapstick-
Streifen, in welchem ein Koch und sein Gehilfe mit einem lebendig gewordenen Huhn
und dem unvermeidbaren Teufel konfrontiert werden. Spaßig ist die Sequenz, in wel-
cher der Koch seinen Gehilfen sucht und von der Suppe aus dem großen Kessel kostet,
ohne zu ahnen, dass dieser vom Teufel in den großen Topf gestopft wurde. Die Suppe
schmeckt ihm nicht, und so rührt er mit seinem großen Löffel darin herum, bis die
einzelnen Gliedmaßen des Gehilfen auftauchen. Nur der Kopf ist nicht auffindbar ...

Als letzter Film aus dem Hause Pathé sei La sorcellerie nocturne (1903)23 er-
wähnt. Von diesem Film ist so gut wie nichts bekannt. Wahrscheinlich handelte es sich
hierbei um ein frühes Werk des Regisseurs Gaston Velle, welcher bis 1910 als solcher
tätig war. Der Filmtitel lässt darauf schließen, dass in den Film schwarze Magie zu
sehen war.

Jetzt haben wir viele dem Horror nahestehende Filme des Jahres 1903 erwähnt,
doch was war mit dem Großmeister des fantastischen Films aus Paris, war er in seiner
Werkstatt etwa untätig oder nur anderen Genres zugewandt?
Nein, keineswegs. Das Jahr 1903 stellte seinen kommerziellen Höhepunkt dar. In
diesem Jahr gründete er eine Niederlassung der Star Film in New York, welche von
seinem Bruder Gaston Méliès geleitet wurde. Doch Méliès geriet allmählich auch in
21
Le chat botté, aka Puss in Boots (Pathé Frères, Frankreich 1903, Regie: Lucien Nonguet, Ferdi-
nand Zecca, Länge: ca. 180m, 9 Minuten)
22
La marmite diabolique, aka The Devil’s Pot, aka The Diabolical Saucepan (Pathé Frères,
Frankreich 1903, Länge: ca. 55m, 3 Minuten)
23
La sorcellerie nocturne (Pathé Frères, Frankreich 1903, Regie: Gaston Velle)

139
Das Dokument des Grauens

zunehmende wirtschaftliche Bedrängnis. Die Raubkopierer, allen voran Siegmund Lu-


bin, setzten ihm schwer zu; Georges Méliès lebte vom Verkauf seiner Filme, und jede
nicht von ihm hergestellte Kopie war somit ein Umsatzdefizit, was durchaus noch exi-
stenzbedrohend hätte werden können. Und in Frankreich erwuchs ihm mit Pathé Frères
eine ernst zu nehmende Konkurrenz. Auf die Kopierer antwortete Méliès, indem er das
Symbol der Star Film zunehmend in die Kulissen seiner Filme selbst einbaute, und na-
türlich auch durch die Eröffnung des New Yorker Büros und somit einer unmittelbaren
Inanspruchnahme des amerikanischen Urheberrechts. Auf die inländische Konkurrenz
reagierte er mit einer Erhöhung der Produktionszahlen. Und so dominierte Georges
Méliès beim fantastischen Film auch das Jahr 1903.

Zwischen den Jahren 1895 und 1905


gab es einen Modetanz namens „Cake-
walk“. Dieser war um die Mitte des 19.
Jahrhunderts auf den Sklavenplantagen
in Florida entstanden und wurde zum
Jahrhundertwechsel zu einem Tanz auf
Basis des Ragtime. Georges Méliès wid-
mete diesem Tanz einen Film, Le cake-
walk infernal (1903)24 .
Bei einem Tanzfilm von Méliès darf
man nicht davon ausgehen, dass hier
wirklichkeitsgetreue Tänzer abgelichtet
Abbildung 13.2: George Méliès tanzt in
wurden. So ziemlich jeder der zeitgenös-
der Rolle des Teufels in Le cake-walk in-
sischen großen Produzenten und Regis-
fernal (1903) über die Leinwand
seure wäre damals diesen leichten Weg
gegangen, aber nicht Georges Méliès - an diesem Beispiel wird überdeutlich, wie sehr
sich der kreative Franzose von seinen Kollegen künstlerisch absetzte. In Le cake-walk
infernal (1903) müssen selbstverständlich wieder Dämonen und der Teufel höchst-
persönlich ran. Einige Kopien wurden darüber hinaus auch noch handkoloriert, diese
gelten derzeit jedoch als nicht mehr erhalten.
Le cake-walk infernal (1903) ist ein fünfminütiges, eigenartiges Spektakel. Vor
Kulissen, welche eine Höhle des Totenreiches darstellen sollen, führt der Totengott
Pluto seinen Kreaturen den neuartigen Tanz vor. Er hat eigens hierfür Tänzer von ei-
nem Besuch auf der Erde mitgebracht. Diese tanzen daraufhin vor den gemalten Ku-
lissen, und auch Satan persönlich zeigt sich als interessiert. Georges Méliès legt hier
in der Rolle des Teufels einen recht langen und wilden Solotanz auf das Parkett.

24
Le cake-walk infernal, aka The Cake-Walk Infernal, aka The Infernal Cake-Walk (Star Film,
Frankreich 1903, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 107m, 5 Minuten)

140
13. 1903

Ähnlich ging es wohl auch in dem verschollenen Les filles du diable (1903)25 zu.
Beelzebub erschafft drei junge Frauen aus Flammen, welche aus seinen Fingerspitzen
stammen. Diese drei Frauen beginnen dann zu seinem Vergnügen mit einem Tanz, be-
gleitet von fackelschwenkenden Teufeln.

In La boîte à malice (1903)26 zeigt


Georges Méliès wieder einen Zauber-
trick, realisiert durch Teilmaskierungen
des Bildes. Mit einem Gehilfen legt er ei-
ne flache Schachtel auf eine dünne Glas-
platte und Jeanne d’Alcy tritt hinein.
Langsam verschwindet sie daraufhin in
der Schachtel. Der Deckel klappt zu, die
Frau ist verschwunden. Auch Georges
Méliès verschwindet auf diese Weise.
Der Film selbst erscheint wie ein Re-
likt aus früheren Tagen des Georges Mé-
liès. Er ist weder sonderlich interessant Abbildung 13.3: George Méliès (links)
noch innovativ, sondern eher ein Lücken- und Jeanne d’Alcy in La boîte à malice
füller. (1903)

Auch Le puits fantastique (1903)27 beeindruckt nur wenig. Der Film erzählt von
einem Dorfbrunnen, welcher von einer Hexe verwünscht wird. Daraufhin kriecht ei-
genartiges Getier aus ihm hervor und terrorisiert die Einwohner des Dorfes. Die Tiere
wie ein Esel, eine Schlange und vier Monsterfrösche sind durch Menschen in Kostü-
men dargestellt. Das alleine ist noch kein wirkliches Problem, zumal daraus über ein
halbes Jahrhundert später eine eigene Kunstform innerhalb des fantastischen Films ent-
stehen würde. Das eigentliche Problem des Films ist vielmehr der Dilettantismus der
Inszenierung, welche die Schwächen des Georges Méliès vorführt. Die technischen
Spielereien wie der plötzlich in den Himmel wachsende Brunnen oder die gemalten
Hintergründe sind über jeden Zweifel erhaben und entsprechen den technischen Mög-
lichkeiten jener Zeit, aber leider erweckt der Film den Eindruck, dass jede Einstel-
lung nur einen Take haben durfte. Wir sehen Darsteller von Tieren, die sich beinahe
auf Boxkämpfe einlassen. Ein Darsteller eines Froschs verliert mehrmals beinahe den
Kopf des Froschkostüms; einmal klappt er sogar so bedenklich weit nach hinten, dass
man für einen kurzen Moment das Gesicht seines Trägers erkennen kann. Normaler-
weise sind solche Mängel in den Filmen von Georges Méliès nicht weiter tragisch und
25
Les filles du diable, aka Beelzebub’s Daughters, aka The Woman of Fire (Star Film, Frankreich
1903, Regie: Georges Méliès
26
La boîte à malice, aka The Mysterious Box (Star Film, Frankreich 1903, Regie: Georges Méliès,
Darsteller: Georges Méliès, Jeanne d’Alcy, Länge: ca. 40m, 2 Minuten)
27
Le puits fantastique, aka The Enchanted Well (Star Film, Frankreich 1903, Regie: Georges
Méliès, Länge: ca. 70m, 3 Minuten)

141
Das Dokument des Grauens

haben einen äußerst liebenswerten Charakter, aber dieser Effekt stellt sich bei Le puits
fantastique (1903) leider nicht ein. Dazu wirkt der Film als zu schnell und zweckori-
entiert heruntergekurbelt.

L’auberge du bon repos (1903)28 ist eine klassische Spukhaus-Geschichte im Stil


vieler älterer Produktionen von Georges Méliès wie L’auberge ensorcelée (1897). Ein
müder Reisender wird in ein Zimmer einer Herberge geleitet und möchte sich zur Ruhe
begeben. Doch dann setzt ein eigenartiges Treiben ein. Doch im Gegensatz zu früheren
Werken Méliès’, in welchen der Protagonist in der Regel aus Angst flüchtete, wird
jener aus L’auberge du bon repos (1903) ausgesprochen handgreiflich. Da wird mit
einem Kleiderständer gekämpft, eine Fensterscheibe zersplittert, ein gespenstisches
Gemälde geht zu Bruch ... kurz: Das Zimmer wird verwüstet und der Reisende am
Ende von den anderen Bewohnern verjagt.
In diesem Film finden wir übrigens
auch zwei jener Regiefehler vor, welche
ich im Absatz zu Le puits fantastique
(1903) als liebenswert bezeichnete. Ach-
te sie darauf, wenn das große Gemälde
nach vorne klappt und zu Bruch geht. In
der Wand kann man sehr deutlich den
Helfer erkennen, welcher dem Bild den
nötigen Schubs gab, vor allem auch, weil
dieser in einem beleuchteten Raum steht.
Und wenn das Bett zu tanzen beginnt,
wird auch das Geheimnis der Bühnen-
Abbildung 13.4: Ein heilloses Durchein- bilder in den Filmen von Georges Mé-
ander in L’auberge du bon repos (1903) liès unfreiwillig gelüftet: Wie man an-
hand der Bewegungen der Wände deut-
lich erkennen kann, handelt es sich bei ihnen um auf Rahmen gespannte Stoffbezüge
aus Leinen, welche entsprechend bemalt wurden.

Le sorcier (1903)29 ist einer jener Filme Méliès’, welche einen begleitenden Er-
zähler erfordern, damit man dem Film folgen kann.
Ein König möchte einen Zauberer in Ketten legen und hinrichten, weil sich dieser
auf die schwarzen Künste eingelassen hat. Der Zauberer erbittet eine Gnadenfrist von
einer Stunde, um den König eine Königin zu verschaffen, nach welcher dieser sich
sehnt. Der König lässt sich auf den Handel ein und der Zauberer wird von seinen
Fesseln befreit.
28
L’auberge du bon repos, aka The Inn Where No Man Rests (Star Film, Frankreich 1903, Regie:
Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 100m, 5 Minuten)
29
Le sorcier, aka La Vengeance du sorcier, aka The Sorcerer’s Revenge, aka The Witch’s Re-
venge, aka Revenge is Sweet (Star Film, Frankreich 1903, Regie: Georges Méliès, Länge: ca. 67m, 3
Minuten)

142
13. 1903

Daraufhin beschwört dieser einen Dämon, der einen großen Spiegel auf die Bühne
tragen lässt. In diesem erscheinen langsam die Gestalten dreier griechischer Göttin-
nen. Dem König gefallen ihre Gewänder jedoch nicht, weshalb der Zauberer diese mit
einer Handbewegung durch Ballkleider ersetzt. Der König reicht der mittleren Dame,
seiner Königin, den Arm und sie steigt zusammen mit ihren beiden Hofdamen aus dem
Spiegel herab.
Der Herrscher scheint auf den Geschmack gekommen zu sein. Er weist den Zaube-
rer an, noch mehr Zaubereien zu zeigen. So beschwört dieser einen Clown, welcher vor
dem König Späße aufführt - und ihm schließlich eine Grimasse schneidet und flüchtet.
Der König stürzt ihm nach und der Zauberer nutzt seine Chance. Er setzt sich auf
den Thron und lässt mit einem letzten Zauber den König in jene Ketten legen, welche
dieser ursprünglich dem Zauberer angedacht hatte.
Der Film ist ein durchschnittlicher Méliès und zeigt nichts Neues. Die Geschichte
ist nur eine Variation üblicher Motive und tricktechnisch bringt Méliès keine Neuerun-
gen. Lediglich die Bühnenmalerei bleibt im Gedächtnis, sie ist auf überdurchschnittli-
chem Niveau angesiedelt. Le sorcier (1903) ist ein typisches Massenprodukt aus der
Werkstatt des Georges Méliès, welches den Eindruck erweckt, dass es weniger aus
Leidenschaft denn aus finanziellem Interesse entstand.

L’oracle de Delphes (1903)30 hat nichts mit dem titelgebenden griechischen Ora-
kel zu tun, sondern spielt in ägyptischen Kulissen. Ein Schatz wird in einem Tempel
deponiert, doch der Räuber ist nicht weit. Er dringt in den Tempel ein und stiehlt die
Kostbarkeiten. Doch dann erscheint die geisterhafte Gestalt eines Priesters. Er hext
dem Räuber den Kopf eines Esels an. Zwei Sphinxen, welche das Tor des Tempels
flankieren, verwandeln sich in weibliche Wachen, welche den Räuber gefangen neh-
men.
Die Bühnenmalerei dieses kurzen Films wurde von Georges Méliès in Le monstre
(1903) wiederverwendet.

Es ist nicht zu übersehen, dass Georges Méliès auf Le portrait spirituel (1903)31
sehr stolz war. Zu Beginn des Films stellt sich ein Gehilfe vor die Kamera und hält zwei
Texttafeln vor sich, eine in französischer und eine in englischer Sprache. Darauf ist zu
lesen, dass in diesem Film erstmals ein „Auflösungseffekt“ vor einem nicht schwarzen
Hintergrund gezeigt würde und dass dies, in Großbuchstaben, eine große Neuheit sei.
Inhaltlich ist Le portrait spirituel (1903) wieder eher unspektakulär. Georges Mé-
liès betritt die Bühne und baut zuerst ein Bild mit Rahmen zusammen, in welchem eine
Skizze von Jeanne d’Alcy zu sehen ist. Dieses Bildnis wird dann mit der echten Jeanne
d’Alcy überblendet. Sie steigt aus dem Bilderrahmen und abschließend bewirft Méliès
30
L’oracle de Delphes, aka The Oracle of Delphi (Star Film, Frankreich 1903, Regie: Georges
Méliès, Länge: ca. 30m, 1 Minute)
31
Le portrait spirituel, aka The Spiritualistic Photograph, aka The Spiritualistic Photographer
(Star Film, Frankreich 1903, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Jeanne d’Alcy, Länge:
ca. 44m, 2 Minuten)

143
Das Dokument des Grauens

sie noch mit neuen Kleidern, welche sie mittels eines gelungenen jump cuts dann auch
sofort am Leibe trägt.

Le monstre (1903)32 ist ein sehr spaßiger Film, der in der Kulisse von L’oracle de
Delphes (1903) entstand. Ein ägyptischer Prinz bietet einem Zauberer eine große Be-
lohnung an, wenn er ihm ermöglicht, noch einmal seine verstorbene Ehefrau zu sehen.
Der Zauberer nimmt das Angebot an und beschafft das Skelett der Toten. Dann be-
schwört er den Mond und die klapperigen Gebeine der Frau beginnen sich zu bewegen
... das Monster erwacht.
Der nur etwas über 2 Minuten dau-
ernde Le monstre (1903) ist ein äußerst
skurriler und amüsanter Kurzfilm, bei
dem die Chemie stimmt. Er spielt an ei-
nem exotischen Ort, eine Untote mischt
mit, und er ist lustig. Es ist einer der
kleinsten und feinsten Filme dieses Jah-
res.

In La corbeille enchantée (1903)33


bittet ein Farmer einen Gaukler, ihm
einen seiner Tricks zu zeigen. Darauf-
Abbildung 13.5: Der Zauberer erweckt hin zaubert der Gaukler aus einem Blu-
das Skelett zum Leben, Le monstre (1903) menstrauß eine junge Frau hervor. Der
Farmer versucht, sie zu liebkosen, doch
dann verwandelt sie sich in einen Teufel!
La corbeille enchantée (1903) ist ein verloren gegangener Film. Wir wissen durch
den Katalog der Star Film, dass er existierte und wovon er handelt, doch technische
Details wie Darsteller oder Länge sind unbekannt.

Glücklicherweise ist Le royaume des fées (1903)34 vollständig erhalten geblieben,


inklusive der Handkolorierung. Le royaume des fées (1903) war der erste Film von
Georges Méliès mit einer Länge von mehr als 300 Metern, oder umgerechnet mehr als
15 Minuten. Der Film war ein Großprojekt von Méliès mit 34 Szenen und entsprechend
aufwendig gestaltet. Um Raubkopierern vorzubeugen, wurde der Film im September
1903 auch fast zeitgleich in Paris, London und New York uraufgeführt.

32
Le monstre, aka The Monster (Star Film, Frankreich 1903, Regie: Georges Méliès, Länge: ca.
55m, 2 Minuten)
33
La corbeille enchantée, aka The Enchanted Basket (Star Film, Frankreich 1903, Regie: Georges
Méliès)
34
Le royaume des fées, aka Kingdom of Fairies, aka The Fairyland, aka Fairyland: A Kingdom
of Fairies, aka Fairyland, or Kingdom of Fairies (Star Film, Frankreich 1903, Regie: Georges Méliès,
Bleuette Bernon, Länge: ca. 330m, 16 Minuten)

144
13. 1903

George Méliès spielt einen Prinzen, welcher mit einer schönen Prinzessin vermählt
werden soll. Zu der opulenten Hochzeitsfeier sind auch die guten Feen eingeladen ...
doch eine Fee wurde vergessen, eine bucklige alte Hexe. Diese platzt in die Hochzeits-
feier und verflucht die Vermählte, bevor sie verjagt wird.
Was sich bis zu diesem Punkt an-
hört wie eine weitere Adaption des
Dornröschen-Themas, nimmt dann je-
doch eine andere Wendung. In der Nacht
dringt die böse Hexe in die Gemächer
der Prinzessin ein, beschwört dämoni-
sche Helfer und entführt die Prinzessin
in ihr weit entferntes, nahezu unerreich-
bares Reich.
Eine Rettungsmannschaft ist schnell
organisiert, doch auf den Prinzen wartet
eine lange und gefährliche Reise durch
das Feenland, durch magische Höhlen, Abbildung 13.6: Le royaume des fées
über ferne Meere und sogar durch den (1903): Die böse Hexe beobachtet ihre Ge-
Magen eines Wals. hilfen, welche die Prinzessin aus ihrem Bett
ziehen
Ebenfalls handkoloriert ist Le chau-
dron infernal (1903)35 . Die Kolorierung
ist jener von Le royaume des fées (1903)
qualitativ auch deutlich überlegen und
weniger schnell hingeklatscht, aber an-
gesichts der wesentlich kürzen Laufzeit
auch nicht verwunderlich. Inhaltlich ist
Le chaudron infernal (1903) auch we-
sentlich bissiger als das überlange Mär-
chen.
Der Teufel hat drei junge Frauen ge-
fangen. Eine nach der anderen wird von
ihm und seinen Schergen in einen großen Abbildung 13.7: Le chaudron infernal
Kochtopf gesteckt und zu Tode gekocht. (1903): Der Kochtopf ist einsatzbereit
Dann versucht sich der Teufel als Beschwörer. Und er schafft es tatsächlich, die
Geister seiner Opfer durch den Raum schweben zu lassen.
Doch dann verwandeln sich diese in Feuerbälle, welche auf dem Boden zerplatzen.
Der Teufel sucht sein Heil in der Flucht und springt kopfüber in den Kochtopf.

35
Le chaudron infernal, aka The Infernal Cauldron, aka The Infernal Cauldron and the Phan-
tasmal Vapors (Star Film, Frankreich 1903, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Länge:
ca. 36m, 2 Minuten)

145
Das Dokument des Grauens

Le chaudron infernal (1903) ist ein toller Film. Er zeigt viel Pyrotechnik, hervor-
ragende Trickeffekte mit aufwendiger Kolorierung und, was damals nicht selbstver-
ständlich war, ein gruseliges Thema ohne allzu viel Märchenkitsch.

Le revenant (1903)36 ist wieder ein bescheidenerer Film aus der langen Reihe von
Spukhaus-Filmen, welche Méliès im Lauf seiner Karriere drehte. Ein Mann wird zu-
erst von einer sich bewegenden Kerze und störrischem Mobiliar genervt. Doch dann
kommt es schlimmer, als ein Geist erscheint. Bei dem Versuch des Mannes, den Geist
zu verjagen, geht wieder einiges zu Bruch - darunter ein Tablett voller Geschirr, wel-
ches er am Ende einem Dienstmädchen aus der Hand schlägt.
Der Film lebt von seinen Darstellungen des Geistes, der frei im Raum schwebt und
durch schnelle Schnitte auch sein Aussehen verändert. Ansonsten bietet Le revenant
(1903) keine neuen Erfahrungen.

Schwergewichtiger geht es in jenem


Film zu, mit welchem Méliès das Jahr
1903 abschloss. Das Publikum von Faust
aux enfers (1903)37 begleitet Faust und
Mephistopheles bei Fausts Abstieg in die
Hölle. Die Reise geht über insgesamt 16
Szenen durch die Reiche des Steins, des
Wassers, des Eises und des Feuers, vor-
bei an unterirdischen Wasserfällen und
durch die Unterwelt, bis in des Teufels
Reich. Man sieht ein Ballett, Dämonen,
die Hydra und viele aufwendige Kulis-
Abbildung 13.8: Die Tänzerinnen huldi- sen, bis am Ende Mephistopheles trium-
gen in der letzten Szene von Le chaudron phiert.
infernal (1903) ihrem Meister. Beachten Spaß macht diese schwere Kost aber
Sie die herrlichen Fledermausflügel, wel- nur bedingt. Méliès hat sich alle Mühe
che Méliès hier trägt gegeben, möglichst viele Spezialeffekte
einzubauen, welche z.T. auch erstmals
auf einer Leinwand zu sehen waren. Die Dramaturgie allerdings hat er wieder nicht
berücksichtigt.
Faust aux enfers (1903) wurde am 12. Dezember erstmals in Paris vor Publikum
aufgeführt, doch die eigentlichen Aufführungen fanden erst im folgenden Jahr statt.
Faust aux enfers (1903) war sowohl Vorläufer als auch Fortsetzung des ambitionier-
36
Le revenant, aka The Apparition, aka The Apparition, or Mr. Jones’ Comical Experiences
With a Ghost, aka The Ghost and the Candle (Star Film, Frankreich 1903, Regie: Georges Méliès,
Darsteller: Georges Méliès, Jeanne d’Alcy, Länge: ca. 52m, 2 Minuten)
37
Faust aux enfers, aka Damnation du Faust, aka The Damnation of Faust, aka Faust in Hell
(Star Film, Frankreich 1903, Regie: Georges Méliès, Drehbuch: Georges Méliès, nach der Oper La
damnation du Faust von Hector Berlioz, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 135m, 6 Minuten)

146
13. 1903

testen Werkes von Georges Méliès seit La voyage dans la lune (1902), Damnation du
Docteur Faust (1904).

147
Das Dokument des Grauens

148
Kapitel 14

1904

1904 war weniger ein Jahr im Zeichen des gruseligen Films. Das Jahr blieb vor allem
wegen wenig erfreulicher weltpolitischer Entwicklungen in Erinnerung. Am 12. Ja-
nuar brach der Hererokrieg in Deutsch-Südwestafrika aus, am 11. August kam es zur
Schlacht am Waterberg zwischen den deutschen Besatzungstruppen und den Einheimi-
schen. Am 8. Februar führte ein russischer Überraschungsangriff auf Port Arthur zum
Ausbruch des russisch-japanischen Krieges. Im August besetzten die Briten im Rah-
men des Tibet-Feldzugs die tibetanische Hauptstadt Lhasa und vertrieben den Dalai
Lama. Der Bau des Panamakanals begann. Die norwegische Stadt Ålesund stand in
Flammen und wurde fast vollständig zerstört, ebenso die amerikanische Stadt Baltimo-
re. Am 15. Juni verbrannte auf dem East River bei New York der Raddampfer General
Slocum und mit ihm über 1000 Personen, die meisten von ihnen deutsche Einwande-
rer. Bei Rockall sank eine Woche später das dänische Passagierschiff Norge, 625 Tote.
Zu den erfreulichen historischen Vorkommnissen des Jahres gehören, zumindest aus
heutiger Sicht, die Geburt von Cary Grant am 18. Januar, jene von Edgar G. Ulmer am
17. September sowie die Geburtsstunde von Jacques Tourneur (12. November). Au-
ßerdem waren im Rahmen der Olympischen Spiele von St. Louis das Tonnenspringen,
das Sackhüpfen und das Tabakweitspucken zum ersten und letzten Mal olympische
Disziplin. Doch wenden wir uns jetzt den für uns wichtigen Filmen des Jahres zu.

Mit Damnation du Docteur Faust (1904)1 wagte sich Georges Méliès erneut an
ein außergewöhnlich langes Epos auf Basis einer künstlerisch anerkannten Vorlage.
Dieses Mal handelt es sich jedoch um ein sehr ambitioniertes Projekt, bei welchem der
Spieltrieb des Filmzauberers in den Hintergrund rückte. Méliès’ Bemühen, hier große
Kunst angemessen auf die Leinwand zu portieren, ist erkennbar. Allerdings handelt
es sich bei Damnation du Docteur Faust (1904) nicht wie oft behauptet um eine
Verfilmung von Goethes Faust, sondern um einen Film auf Basis der Oper von Charles
Gounod.
1
Damnation du Docteur Faust, aka Faust et Marguerite, aka Faust and Marguerite (Star Film,
Frankreich 1904, Regie: Georges Méliès, Drehbuch: Georges Méliès, nach der Oper Faust von Charles
Gounod, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 259m, 13 Minuten)

149
Das Dokument des Grauens

Der Film erzählt die Geschichte des alten Faust, der sich nach der Jugend sehnt,
um die schöne und junge Marguerite für sich gewinnen zu können. Mephistopheles,
erneut dargestellt von Georges Méliès selbst unter Benutzung seines geliebten Grillen-
kostüms, bietet ihm einen Pakt an. Er gibt ihm die ersehnte Jugend zurück ebenso wie
die Leidenschaft Marguerites. Im Gegenzug vermacht ihm Faust seine Seele.
Der Film war handkoloriert, doch die
Kolorierung überlebte nicht bis heute.
Wir haben nur noch Zugang zu einem
etwa vierminütigen Fragment des Films,
und dieses ist nur ein schwarz-weißer
Abzug einer kolorierten Fassung. Aber
das Fragment reicht aus, einen Eindruck
von dem Film zu bekommen.
Die Effekte traten in den Hintergrund
und dienten der Geschichte, anstelle sich
in den Vordergrund zu drängen. Die auf-
wendigen Bühnenbilder waren stärker an
Abbildung 14.1: Der Teufel steht vor der Realität angelehnt als in den an-
Marguerite, seinem unschuldigen Opfer: sonsten eher fantasiebetonten Kulissen;
Damnation du Docteur Faust (1904) diesmal versuchte sich Méliès sogar an
der Darstellung eines Gartens.
Doch das Ergebnis überzeugt nicht; die Fragmente des Films, welche erhalten blie-
ben, zeugen von einer sehr statischen und schleppenden Inszenierung ohne eigene Dy-
namik.
Damnation du Docteur Faust (1904) war etwas, was man 100 Jahre später ein
„Prequel“ nennen würde, also eine Fortsetzung eines anderen Werkes, welches zeitlich
jedoch vor diesem spielt. Damnation du Docteur Faust (1904) zeigt das Geschehen,
welches zu dem Abstieg des Faust in die Hölle führt. Der Abstieg selbst wurde von
Méliès bereits in dem wesentlich attraktiveren Film Faust aux enfers (1903) gezeigt.
Die beiden Filme wurden auch zusammen aufgeführt.
Dies führt auch stets zu Verwechslungen der beiden Filme. Faust aux enfers
(1903) wurde in den USA unter dem Titel The Damnation of Faust aufgeführt, was na-
türlich schnell zu Assoziationen mit Damnation du Docteur Faust (1904) führt. Die
Verwirrung wurde noch gesteigert, indem die Kombination beider Filme als Damna-
tion du Docteur Faust (1904) aufgeführt wurde, der Film von 1904 dann jedoch auch
separat unter dem Titel Faust et Marguerite.

Deutlich liebenswürdiger und unbeschwerter ging es in Le bourreau turc (1904)2


zu ... aber auch provokanter.
2
Le bourreau turc, aka Le terrible bourreau turc, aka The Terrible Turkish Executioner, aka
Decapitation in Turkey (Star Film, Frankreich 1904, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Georges Mé-
liès, Länge: ca. 45m, 2 Minuten)

150
14. 1904

Im fernen Konstantinopel macht ein Scharfrichter gerade seine Mittagspause, als


die Polizei mit vier Gefangenen eintrifft. Sie werden angekettet und ihre Köpfe durch
die vier Löcher einer Planke gesteckt.
Der Scharfrichter erhebt sich, fuch-
telt ein wenig mit seinem riesigen
Schwert herum und trennt dann die
Köpfe der vier Delinquenten mit einem
mächtigen Hieb ab. Wie Fallobst purzeln
sie von der Planke zu Boden. Der Scharf-
richter sammelt sie ein und wirft sie in
ein Fass, dann setzt er seine Mahlzeit
fort.
Doch dann erhebt sich einer der Köp-
fe über den Rand des Fasses und schaut
dem Henker beim Essen zu. Ein weiterer
Kopf erscheint und plötzlich bewegt sich Abbildung 14.2: Gleich rollen in Le bour-
der Erste wie von Geisterhand wieder auf reau turc (1904) die Köpfe
den Hals seines Körpers. Der Geköpfte
lebt wieder!
Als alle vier Gefangene wieder über ihre Köpfe verfügen, fallen sie über den
Scharfrichter her. Einer von ihnen nimmt das Henkersschwert an sich und zerteilt den
Henker damit in zwei Hälften.
Die vier Verbrecher verlassen die Szene, während die Beine des Henkers noch
durch die Gegend irren und sein Oberkörper wild gestikulierend auf dem Boden sitzt.
Dann geraten die Beine in Reichweite der Arme des Henkers und, schwuppdiwupp,
sitzt auch sein Oberkörper wieder an der richtigen Stelle.
Der Film war damals keinesfalls ein Tabubrecher, wie man es heute vermuten mag.
Wie die meisten Filme von Georges Méliès sollte er sein Publikum vor allem zum Stau-
nen und Lachen bewegen, was er vorzüglich schaffte. Méliès wahr sich wohl weniger
bewusst, dass er hier als erster Filmemacher eine Enthauptung zeigte.

In vielem Filmografien früher Horrorfilme wird auch Le coffre enchanté (1904)3


gelistet. Dies ist jedoch eine Falschmeldung. Der Film zeigt lediglich eine Serie von
Einzeltricks, in welchen George Méliès verschiedene Personen aus einer Holzkiste
herbeizaubert und wieder verschwinden lässt, inklusive seiner Selbst.
Mit Horror hat dies nichts zu tun. Vermutlich wird der Film nur in diesem Zusam-
menhang gebracht, weil er recht lange als verschollen galt und die Amerikaner sich
vorrangig an amerikanischen Filmtiteln orientieren; im Original bedeutet der Name
des Films übersetzt „Die verzauberte Kiste“ doch in den USA wurde „Die verhexte

3
Le coffre enchanté, aka The Enchanted Trunk, aka The Bewitched Trunk (Star Film, Frank-
reich 1904, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 68m, 3 Minuten)

151
Das Dokument des Grauens

Truhe“ daraus. Doch von einem Hexer ist in dem Film weit und breit nichts zu sehen.

Eine Einordnung von Le roi du maquillage (1904)4 zum Horror ist ähnlich grenz-
wertig. Hier betritt Georges Méliès die Bühne und beginnt sich in einer Reihe von
Überblendungen in verschiedene Charaktere zu verwandeln. Dazu gehören William
Shakespeare, ein Clown und Admiral Nelson. Die letzte seiner Figuren ist dann Me-
phistopheles, als welcher sich Méliès dann auch grimmig dreinschauend in Luft auf-
löst.
Bemerkenswert ist an Le roi du ma-
quillage (1904) vor allem, dass wir hier
George Méliès in Großaufnahme ab der
Taille sehen und ihn jetzt so genau wie
sonst selten studieren können. Insbeson-
dere sein geliebtes Teufelskostüm wird
so erst richtig in allen Details sichtbar.
Aber nicht nur Georges Méliès selbst
ist sichtbar wie selten zuvor. Auch ei-
ne Urheberrechts-Notiz ist prominent im
Bühnenbild platziert, und zwar in der
rechten oberen Ecke - ein früher Vor-
Abbildung 14.3: Le roi du maquillage läufer der aus dem Fernsehen bekann-
(1904) zeigt Méliès als Mephistopheles in ten Wasserzeichen, allerdings noch aus
Großaufnahme Schiefer und Kreide bestehend.
Würde das Teufelskostüm und das
abschließende Verschwinden des Teufels nicht gezeigt, wäre der Bezug zum Horror-
film ebenso flüchtig wie bei Le coffre enchanté (1904). Doch ein weiteres Element
verbindet die beiden Filme durchaus, nämlich die Qualität der Übersetzung des fran-
zösischen Originaltitels in das Englische. Während man den englischen Titel von Le
coffre enchanté (1904) noch als unglücklich bezeichnen kann, ist jener von Le roi
du maquillage (1904) allerdings wirklich dämlich ausgefallen: Aufgrund einer Ver-
wechslung der französischen Vokabel le maquillage mit le maquereau wurde im Ver-
einigten Königreich aus dem „König der Schminke“ plötzlich der „König der Makre-
lenfischer“. Doch auch der amerikanische Titel, welcher übersetzt „Der unzähmbare
Backenbart“ bedeutet, repräsentiert den Inhalt des Films nicht wirklich - schon damals
konnte es nicht schaden, einen Film auch anzusehen, bevor man ihn bewirbt.

Sorcellerie culinaire (1904)5 ist ein Slapstick-Streifen, bei welchem sich George
Méliès nicht gerade mit Ruhm bekleckert - es sei denn, man empfindet es als rühm-
4
Le roi du maquillage, aka The Untamable Whiskers, aka The King of the Mackerel Fisher
(Star Film, Frankreich 1904, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 42m, 2
Minuten)
5
Sorcellerie culinaire, aka The Cook in Trouble (Star Film, Frankreich 1904, Regie: Georges
Méliès, Länge: ca. 90m, 4 Minuten)

152
14. 1904

lich, wenn man einen Film dreht, welcher trotz einer bescheidenen Laufzeit von vier
Minuten als viel zu lang empfunden wird.
Ein Koch leidet unter seinen viel zu faulen Gehilfen, welche lieber Unsinn treiben
als zu arbeiten. Entnervt schickt er einen Bettler von dannen, der sich dann jedoch in
seiner wahren Gestalt zu erkennen gibt: Er ist ein Zauberer. Als Vergeltung zaubert er
Kobolde herbei, dargestellt durch Menschen in Katzenkostümen. Diese richten in der
Küche viel Unfug an und es beginnt eine Hatz kreuz und quer über die Bühne, welche
damit endet, dass der Koch in seinem eigenen Kochtopf landet.
Der Film mag fantasievoll sein, aber er ist dennoch ineffizient. Die meiste Zeit ist
man damit beschäftigt, einem Koch zuzusehen, der wild gestikulierend hinter Katzen-
wesen herläuft, welche ihm immer wieder entwischen. Die Effekte bieten auch nichts
Neues. In der Summe ist der Film kaum sehenswert.

Über Les apparitions fugitives (1904)6 ist nicht viel bekannt - eigentlich weiß
man neben dem Titel des Films nur noch, dass er sich über zwei Filmrollen erstreckte
(Star Film 560 und 561). Er wird in dem 2002 erschienenen Buch Mèlies, magie et
cinéma von Jacques Malthête und Laurent Mannoni erwähnt und auf die Filmrollen
560 und 561 der Star Film datiert; hierdurch kann man von einer Länge von 40 Metern
ausgehen und es sollte sich also um einen Film mit etwa 2 Minuten Laufzeit gehandelt
haben. Der Filmtitel spricht von „flüchtigen Erscheinungen, also wahrscheinlich Gei-
stern. Wenn man das Werk von Georges Méliès und seine Interessen in diesem Jahr
kennt, neigt man zu der Folgerung, dass der Film wohl langsame Überblendungen
zeigt, welche Personen verschwinden lassen - doch dies ist jetzt wirklich rein spekula-
tiv und muss nicht der Wahrheit entsprechen.

Auch über den Inhalt von La dame fantôme (1904)7 können wir nur spekulie-
ren. Der Titel deutet ebenfalls auf eine geisterhafte Erscheinung hin. Laut dem Star
Film Katalog hatte der Film eine Länge von 50 Metern und wäre somit ein wenig
länger als Les apparitions fugitives (1904), aber immer noch unter 3 Minuten Lauf-
zeit gehalten.

Le voyage à travers l’impossible (1904)8 ist glücklicher vollständig in seiner


handkolorierten Fassung erhalten geblieben. Der Film sollte an den Erfolg von La
voyage dans la lune (1902) anschließend und war ein ähnliches Großprojekt mit opu-
lenten Kulissen nach Motiven von Jules Verne. Georges Méliès erzählt etwas über 20
Minuten lang von dem Geologen Professor Mabouloff, der eine wahnwitzige Behaup-
6
Les apparitions fugitives, aka The Fugitive Apparitions (Star Film, Frankreich 1904, Regie:
Georges Méliès, Länge: ca. 40m, 2 Minuten)
7
La dame fantôme, aka The Phantom Lady (Star Film, Frankreich 1904, Regie: Georges Méliès,
Länge: ca. 50m, 2 Minuten)
8
Le voyage à travers l’impossible, aka The Impossible Voyage, aka An Impossible Voyage, aka
Whirling the Worlds (Star Film, Frankreich 1904, Regie: Georges Méliès, Drehbuch: Georges Méliès,
nach Motiven von Jules Verne und Adolphe d’Ennery, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 430m, 20
Minuten)

153
Das Dokument des Grauens

tung aufstellt. Er sagt, er könne mit einer wahnwitzigen Kreuzung aus Eisenbahnzug,
U-Boot und Rakete, dem Automabouloff, die Sonne erreichen. Zu diesem Zweck reist
er mit einer Schar Begleiter in die Schweiz zu den höchsten Gipfeln des Berner Ober-
landes.
Mit Karacho brettern sie im Automa-
bouloff auf den Gipfel der Jungfrau und
benutzen ihn als Sprungschanze, sodass
sie mit Hilfe von Ballonen in den Welt-
raum abheben und tatsächlich im Mund
der Sonne landen, welche als Reaktion
heftig Feuer spuckt. Die Anleihen an die
berühmte Landung im Auge des Mondes
aus La voyage dans la lune (1902) sind
unverkennbar.
Im Inneren der Sonne droht den Rei-
senden der Hitzetod, doch in weiser Vor-
Abbildung 14.4: Ein Oktopus beglotzt aussicht hat Professor Mabouloff einen
die Reisenden in Le voyage à travers Kühlschrank mitgebracht. Dieser friert
l’impossible (1904) durch ein Fenster des die Armen dann jedoch ein, weshalb Ih-
U-Boots nen ein kleiner Scheiterhaufen wieder
aus der Patsche helfen muss. Aber so schaffen es die Reisenden schließlich, dem Flam-
mentod zu entkommen und sie landen wieder auf der Erde in einem Ozean.
Und dort erscheint dann der Grund, weshalb der Film hier aufgeführt ist: Ein großer
Oktopus bedroht in einer Szene die Abenteurer, die beim Anblick des Monsters vor
Angst herumzappeln. Leider ist dies jedoch nur eine kurze Szene in einem außerge-
wöhnlich langen Film.

Beim Wirken von Georges Méliès im Jahr 1904 fällt auf, dass er sich bei den Ele-
menten des Horrors stark zurückhielt. Abgesehen von Damnation du Docteur Faust
(1904) ist keine seiner anderen Produktionen von 1904 in der Geschichte des Horror-
films aufgrund ihres Inhaltes bemerkenswert.
Doch auch bei seinen französischen Kollegen tat sich nicht viel. In jenem Jahr pro-
duzierten die Pathé Frères nur einen einzigen Film, welcher den Horror tangierte. La
table tournante (1904)9 zeigt einen Tisch, welcher sich wie von Geisterhand dreht
und durch den Raum schwebt. Der Film soll gemäß Programmheft den Eindruck einer
Séance erwecken und vermittelt auch keinen tieferen Inhalt, er ist ein reines Vehikel
für die Spezialeffekte und war auch 1904 nicht mehr zeitgemäß.

9
La table tournante, aka The Revolving Table, aka Table Turning (Pathé Frères, Frankreich
1904, Länge: ca. 45m, 2 Minuten)

154
14. 1904

Auf der anderen Seite des Ärmelkanals veröffentlichte Robert W. Paul mit The
Haunted Screen Painter (1904)10 einen dreiminütigen Effektfilm über einen Büh-
nenmaler, dessen Kulissen zum Leben erwachen: ein Geist, ein Drache und der Mond.

In The Bewitched Traveller (1904)11 wiederholen sich die Motive eines Spuk-
hauses, welche Georges Méliès bereits Jahre zuvor zeigte. Ein Mann möchte sich auf
eine Reise begeben und macht sich für diese fertig. Einige seiner Kleider verschwin-
den plötzlich. Dann wird aus dem Frühstück nichts, weil sich der Tisch ebenso in Luft
auflöst. Und als er eine Kutsche besteigt, geht es genauso weiter.
Der Film stammt aus der Werkstatt von Cecil Milton Hepworth im britischen
Walton-on-Thames. Hepworth produzierte inzwischen im sechsten Jahr Kurzfilme,
welche sich vorrangig des Slapsticks bedienten oder von dokumentarischer Art waren.
Die Komödie sollte auch der hauptsächliche Fokus von Hepworth bleiben, Ausflüge
in andere Metiers blieben selten. Doch wenngleich er in den Annalen des Horrorfilms
kaum eine Rolle spielt, muss er dennoch als einer der großen Pioniere des englischen
Kinos gewürdigt werden. Etliche Patente aus dem Reich der Fotografie gehen auf ihn
zurück und er schrieb auch eines der ersten Sachbücher über das Medium des Films.
Er produzierte und inszenierte Filme bis in die 20er Jahre hinein; dann jedoch hatte
er Probleme, sich an die geänderten Erwartungen des Publikums anzupassen, was im
Jahr 1924 zur Insolvenz seines Studios führte.

Einer von Hepworths fleißigen Regisseuren war Percy Stow, der für ihn im Jahr
zuvor mit Alice in Wonderland (1903) einen Achtungserfolg gelandet hatte. Im Jahr
1904 trennte er sich jedoch von Hepworth und gründete die Clarendon Studios, unter
deren Fittichen fortan seine Filme erschienen. Dazu zählt auch The Mistletoe Bough
(1904)12 . Am Tage ihrer Hochzeit verschwindet eine junge Frau spurlos. Der Bräuti-
gam begibt sich auf die Suche. Nach 30 Jahren hat er schließlich eine Vision, welche
ihn zu einer Kiste führt. Er öffnet die Kiste und findet darin das Skelett seiner Verlob-
ten. Dort hatte sie sich im Rahmen eines Versteckspiels verborgen. Doch sie konnte
die Truhe nicht mehr öffnen und erstickte qualvoll.
The Mistletoe Bough (1904) basiert auf einer alten Legende, welche erstmals im
Jahr 1823 von Samuel Rogers in dem Gedicht Ginerva erzählt wurde. Einige Jahre
später wurde die Geschichte unter dem Namen The Mistletoe Bough als Lied veröf-
fentlicht, getextet von Thomas Haynes Bayly zu der Musik von Henry Bishop. Das
Lied wurde sehr populär und machte die Legende ers richtig bekannt. Das gleichnami-
ge Theaterstück von Charles Somerset folgte bereits 1836 und im Jahr 1868 adaptierte
der berühmte Autor Henry James das Thema in seiner Kurzgeschichte The Romance
of Certain Old Clothes. In der Welt des Films wurde das Motiv der unbemerkt in einer
10
The Haunted Screen Painter (Robert W. Paul, UK 1904, Regie: Walter R. Booth, Länge: ca. 60m,
3 Minuten)
11
The Bewitched Traveller (Hepworth, UK 1904, Regie: Lewin Fitzhamon, Cecil M. Hepworth,
Länge: ca. 60m, 3 Minuten)
12
The Mistletoe Bough (Hepworth, UK 1904, Regie: Percy Stow, Länge: ca. 170m, 8 Minuten)

155
Das Dokument des Grauens

Kiste liegenden Leiche von Alfred Hitchcock für Rope (1948) verwendet.

Edwin S. Porter, der Regisseur von The Great Train Robbery (1903), drehte 1904
einen Kurzfilm, der leicht übersehen werden könnte.
Casey’s Frightful Dream (1904)13 hat Ähnlichkeiten zu The Sleepwalker (1903)
von Alf Collins aus dem Vorjahr. Anstelle eines Mädchens schlafwandelt bei Edwin S.
Porter jedoch ein Mann über ein Dach und fällt hinab. Schnitt zurück in das Zimmer
des Schläfers und wir sehen, wie dieser aus dem Bett fällt ... alles nur geträumt.
Der kurze Schlafwandlerfilm wurde von Edwin S. Porter an einem einzigen Tag
auf zwei Sets gedreht, er war also beim besten Willen keine Großproduktion.

Das prestigeträchtigste Mammutwerk des amerikanischen Films war in diesem


Jahr Edwin S. Porters Parsifal (1904)14 . Porter verfilmte hier die gleichnamige Oper
Richard Wagners, oder zumindest Teile davon, unter Einbeziehung eines sehr theatra-
lischen Stils, vielen Trickeffekten und ... Ton. Der Film zeigt acht Szenen aus Wagners
"Parsifal" und unterlegte diese zumindest während seiner Uraufführung am 13. Ok-
tober 1904 mit Musik von einem Phonographen, Kinetophone genannt, der mit dem
Film synchron lief. Auf diese Weise konnte man so die Musik und den Gesang hö-
ren, während die dazu passenden Bilder von der Suche nach dem Heiligen Gral auf
der Leinwand abliefen. Wenngleich dieser erste Film nach Motiven der Artussage sich
vornehmlich auf die Musik und die religiösen Motive der Gralssuche konzentrierte,
gab es dennoch auch Unheimliches zu sehen. Ein böser Magier wurde gezeigt und
eine alte Hexe verwandelte sich in eine wunderschöne Frau. Leider müssen wir hier
jedoch wirklich die Vergangenheitsform benutzen, denn der Film gilt mittlerweile als
verschollen.
Und somit endet die Filmografie des Jahres 1904, des bisher unergiebigsten Jahres
aus dem Blickwinkel eines Horrorliebhabers.

13
Casey’s Frightful Dream (Edison Manufacturing Co., USA 1903, Regie: Edwin S. Porter, Länge:
ca. 30m, 2 Minuten)
14
Parsifal (Edison Manufacturing Co., USA 1904, Regie, Kamera: Edwin S. Porter, Musik: Richard
Wagner, Darsteller: Adelaide Fitz-Allen, Robert Whittier, Tonsystem: Kinetophone, Länge: ca. 602m,
25 Minuten)

156
Kapitel 15

Eine kurze Reise durch die Zeit

1904 war das Geburtsjahr der Filmtheater.


Filme wurden zum Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in Jahrmarktsbuden und
Vaudevilles gezeigt. Das Vaudeville war eine Theatergattung, welche ihre Ursprünge
im Pariser Jahrmarktstheater hatte. Im frühen 19. Jahrhundert entstanden in Frankreich
zunehmend Bühnen, auf welchen durch Musik und Tanz aufgepeppte Theaterauffüh-
rungen die Zuschauer erfreuten. Diese Aufführungen waren nur kurz, bildeten jedoch
in der Summe eine Rahmenhandlung. Man stelle sich eine lose Sammlung aus Sket-
chen und Revuenummern vor, welche in ihrer Gesamtheit eine Geschichte erzählen,
das kommt einem Abend in einem Pariser Vaudeville bereits recht nahe. Ein eigenes
Genre bildete sich, welches beständig mit einer reichhaltigen Auswahl neuer Stücke
bedacht wurde. In dem vergleichsweise biederen Deutschland konnte diese Form der
Unterhaltung nur schwer Fuß fassen; dort entstanden kaum Werke dieser Art, sondern
man konzentrierte sich darauf, französische Ideen zu übernehmen und vorrangig zum
Sentimentalen umzuschreiben.
Während das französische Original zum geschätzten Kulturgut heranwuchs und
auch die Entwicklung des Chansons beflügelte, reichte es in Deutschland nur für das
sogenannte Liederspiel und den Schwank. Filme wurden im deutschsprachigen Raum
daher neben Jahrmärkten vor allem in Varietés zu sehen, also eingefügt zwischen Num-
mern von Artisten, Zauberkünstlern, Komödianten und ähnlichen Unterhaltungskünst-
lern. Der Bezug zum Theater war nicht so unmittelbar wie im Vaudeville und das Pu-
blikum stellte dementsprechend auch keinen spontanen Bezug von den hin und wieder
gezeigten Kurzfilmen zu Werken des Theaters oder der Operette her. Der deutschspra-
chige Kulturkreis hinkte der filmischen Entwicklung hinterher, auch mit der Folge,
dass es keine nennenswerte deutsche Filmindustrie gab und außerhalb der Großstädte
die Filme wesentlich längere Zeit ein Kuriosum blieben.
In den USA waren Vaudevilles üblich, allerdings unterschieden sich diese stark
vom französischen Vorbild. Das amerikanische Vaudeville orientierte sich stärker am
Varieté. Dort gab es keinen Rahmen, welcher die einzelnen Darbietungen miteinan-
der verband. Stattdessen wurden wie im Varieté verschiedene Inhalte präsentiert, und
dies in hohem Tempo. Die Personen auf der Bühne waren oft keine auf einen Bereich

157
Das Dokument des Grauens

spezialisierten Künstler, sondern bei dem jeweiligen Vaudeville fest angestellte Mul-
titalente. Daher mussten diese sich zwischen einzelnen Nummern umziehen, was sich
als Pausen zwischen einzelnen Aufführungen bemerkbar machte. Und in diesen kurzen
Pausen wurden seit der Jahrhundertwende dann eben Filme gezeigt.
Daher waren die Filme so häufig inhaltliche Leichtgewichte von nur wenigen Mi-
nuten Dauer. Sie waren von Anfang an als Lückenfüller konzipiert, welche von Jahr-
marktsausstellern und Vaudevillebesitzern eingekauft und gezeigt wurden. Daher wa-
ren auch die Stückzahlen von Filmkopien noch relativ niedrig, denn jeder Auffüh-
rungsort benötigte nur eine bestimmte Auswahl und hier von einem Film in der Regel
nur eine Kopie. War diese beschädigt, wurde sie gegen einen anderen Film ausge-
tauscht.
Die Raubkopien waren daher ein sehr gewichtiges Problem, denn ein paar Dutzend
verkaufte Kopien mehr oder weniger hatten keine Gewinnschmälerung zur Folge, son-
dern wurden schnell zu einer Existenzfrage. George Méliès spielte viele Rollen nicht
selbst, weil er eitel war, sondern weil jede zu ernährende Familie eine zu viel werden
konnte. Die Produktionskosten wurden auf das Minimum beschränkt, wobei dieses
Minimum bei George Méliès aufgrund seiner hohen Leidenschaft für das Metier noch
bedeutend höher angesiedelt war als bei seinen Konkurrenten - doch auch in den opu-
lenten gemalten Kulissen aus dem Studio von Méliès wird aufmerksamen Betrachtern
aufgrund des Musters der Holzlatten nicht entgehen, dass die meisten Filme auf der
gleichen Bühne gedreht wurden. Und natürlich war auch jede wiederholte Szene ei-
ne unmittelbare Geldverschwendung, vor allem da die meisten Fehler erst nach der
Entwicklung des Negativs sichtbar wurden und nicht bereits am Set erkannt wurden.
All dies begann, sich im Jahr 1904 allmählich zu ändern.
In den USA lief The Great Train Robbery (1903) mit phänomenalem Erfolg. Der
Film war so erfolgreich, dass manche Zuschauer den Film als Hauptattraktion verstan-
den und den Rest des Abends im Vaudeville als Rahmenprogramm. Natürlich lag hier
der Gedanke nahe, aus diesem für damalige Verhältnisse doch recht langen Film eine
Einzelvorstellung zu planen.
1904 tauchten so vermehrt Räumlichkeiten auf, in welchen in einem bestuhlten
Raum ausschließlich Filme aufführten. Die ersten solcher Veranstaltungsorte gab es
schon ein paar Jahre, die Erste war damals die Penny Arcade in Los Angeles. Aber
sie waren bisher selten anzutreffen. Ab 1904 begann das Geschäftsmodell, richtig in-
teressant zu werden. Gegen ein Eintrittsgeld von zumeist einem Nickel konnte der
Durchschnittsamerikaner schon im Jahr darauf in fast jeder amerikanischen Stadt Fil-
me anschauen. Ein Nickel ist die Bezeichnung für die amerikanische Münze im Wert
von 5 Cents. Die Höhe des Eintrittspreises gab diesen ersten Filmsälen dann auch ihren
Namen - diese Kinos nannte man schon 1905 gemeinhin Nickelodeons.
Natürlich ist das Nickelodeon, welches ausschließlich Filme vorführte, von enor-
mem kulturellem Interesse. Die älteste Quelle, welche eine solche Identifikation vor-
nimmt, ist ein im Jahr 1919 veröffentlichter Artikel aus der Zeitung The Pittsburgh
Dispatch des Autors E.W. Lightner, welche die Ehre, der Geburtsort des Filmtheaters
zu sein, der Stadt Pittsburgh zuschreibt. Darin heißt es:

158
15. Eine kurze Reise durch die Zeit

„Das erste exklusive Filmtheater in Pittsburgh und der Welt wurde 1905
von Harry Davis und John P. Harris im Howard Block, der Westseite der
Smithfield Street, zwischen Diamond und Fifth Avenue, eröffnet.
Seltsam mag erscheinen, dass das zweite exklusive Filmtheater der Welt
in Warschau, der Hauptstadt Polens, von einem in Pittsburgh ansässigen
Polen eröffnet wurde, der das Abenteuer von Davis und Harris sah und die
Möglichkeit wahrnahm, eine solche wundervolle und profitable Entwick-
lung in seinem Heimatland zu präsentieren.“ [10]

Diese Nickelodeons waren bereits


vorstellungsorientiert wie wir es heute
gewohnt sind und unterhielten ihr Pu-
blikum durchgehend vom frühen Mor-
gen bis Mitternacht. Man bahnte seinen
Weg zwischen den bunten Aufstellern
und Filmplakaten zur Kasse und bezahl-
te sein Eintrittsgeld, um eingelassen zu
werden. Nach einer Wartepause im Vor-
raum wurde man von Platzanweisern zu
einem Sitzplatz geführt. Im Inneren wur-
de dann eine zumeist knapp einstündige
Rolle aus verschiedenen Kurzfilmen ge-
zeigt, welche sich inhaltlich stark von-
einander unterschieden. Manchmal er-
hielt man ein Programmheftchen, in wel-
chem die gezeigten Filme beschrieben
waren, doch manchmal wurden sie auch
von einem Erzähler moderiert. Musikali-
sche Begleitung war die Regel, meistens
durch einen Klavierspieler oder Akkor- Abbildung 15.1: Eingangsbereich des Co-
deonisten. War die Vorstellung vorüber, mique in Toronto. Foto vom November
wurde ihr Ende vom Ansager verkündet 1910 von William James (1866 - 1948)
und die Theaterangestellten schoben die Zuschauer wieder auf die Straße hinaus, wäh-
rend die nächsten Kunden bereits auf den Einlass warteten und der Filmvorführer die
Filmrolle zurückkurbelte [11].
Die Nickelodeons waren normalerweise gut besucht und ihre Besitzer machten gu-
te Geschäfte. Der Durchschnittsbürger konnte sich Besuche in Theaterhäusern nicht
oft leisten, doch die Nickelodeons boten abwechslungsreiche Unterhaltung für wenig
Geld. In den amerikanischen Großstädten profitieren außerdem die Einwanderer, wel-
che die englische Sprache oftmals nicht beherrschten. Die Pantomime der Stummfilme
war eine universelle Sprache für jedermann. Die Nickelodeons vermehrten sich schnell
und es dauerte nicht lange, bis man in den Städten etliche davon vorfinden konnte -
manchmal mehrere in der gleichen Straße und Dutzende über die Stadt verstreut. Die

159
Das Dokument des Grauens

flackernden Leuchtreklamen, die bunten und aufseherregenden Plakate prägten die In-
nenstädte.
Die Nickelodeons holten in den folgenden 10 Jahren die Filme aus den Jahrmarkts-
buden heraus und gaben den bewegten Bildern ein würdiges Ambiente. Doch es gab
durchaus heftigen Widerstand. Harry Davis, der Pittsburgher Vaudeville-Magnat, hat-
te 1904 damit begonnen, im Pittsburger Opernhaus einige Filme zu zeigen und diese
dann in sein Nickelodeon ausgelagert - und er eröffnete noch weitere. Viele Nachah-
mer taten ihm gleich, bis es Ende 1906 dann 42 gemeldete Nickelodeons in Pittsbur-
gh gab. Die Makler und Grundbesitzer der Innenstadt begannen, sich zu beschweren,
denn die vielen Theater lockten mit ihren niedrigen Eintrittspreisen ungewohnt viele
Normalbürger an, was wiederum die Exklusivität der Immobilien beeinträchtigte. Die
Lokalzeitung schrieb zu Beginn des Jahres 1906 bereits:
„Diese Orte sind so zahlreich, dass sie sich zu Belästigungen werden. Sie
selbst sind nicht störend, außer dass jedes von ihnen mit einem lauten
Phonographen ausgestattet ist, der jedermann in Hörreichweite ärgert. Der
neueste Ort dieser Art ist die 409 Fourth Avenue. Die genutzten Räumlich-
keiten waren zuvor von einer Immobilienfirma belegt und sind sicherlich
nicht als Ort für Amüsements geeignet. Viele Büroräume in der Umge-
bung verlieren eine Menge an Attraktivität durch den ständigen Lärm. Ein
Vergnügungsort wie jener neben dem Park Building an der Fifth Avenue
ist erlaubt, aber wenn Bewohner und Besitzer ihren Widerstand aufrecht
erhalten, werden diese Etablissements nicht lange bestehen können.“ [12]
Doch Pittsburgh war zu diesem Zeitpunkt noch eine Ausnahmeerscheinung. In
Chicago war 1905 erst ein Nickelodeon eröffnet worden, als Davis und Harris ihre
Aktivitäten dorthin ausweiteten und dort das Electric Theater finanzierten. Im Janu-
ar 1906 gab es dort erst eine Handvoll Nickelodeons, doch diese zogen Zuschauer
in Massen an. Einer jener Zuschauer war ein aus dem württembergischen Laupheim
stammender Deutscher mittleren Alters, der eigentlich auf der Suche nach einem leer
stehenden Laden gewesen war, in welcher er ein Kleidergeschäft eröffnen könnte.
Er erinnerte sich später an seinen ersten Besuch in einem Chicagoer Nickelodeon.
Das Theater war nicht nur ausverkauft, sondern auch die rechten und linken Durch-
gänge von Zuschauern besetzt, ebenso wie die Rückseite des Raums. Nach 10 Minu-
ten des Wartens schaffte er, sich einen Sitz zu ergattern. Diese Vorstellung überzeugte
ihn, ebenfalls ein solches Filmtheater zu eröffnen; der Legende nach verbrachte er den
Rest des Tages damit, vor dem Nickelodeon zu stehen, die Besucher zu zählen und den
potenziellen Umsatz zu berechnen.
Am 24. Februar 1906 war dies dann schon soweit: Anstelle eines Kleidergeschäftes
eröffnete der Deutsche an der Milwaukee Avenue mit einem Budget von 3.600 Dollars
das White Front Theater, mit 214 Sitzplätzen ausgesprochen groß für seine Zeit - 190
der Stühle lieh er sich von einem benachbarten Bestattungsunternehmen. Das Theater
brachte ihm den erwarteten Erfolg und noch im gleichen Jahr konnte er ein zweites
Theater in Chicago eröffnen.

160
15. Eine kurze Reise durch die Zeit

Dieser Pionier des Kinos war Carl Laemmle, der spätere Präsident der Universal
Studios. Und seine beiden Theater waren bereits frühe Vorboten der großen Filmpalä-
ste, welche im folgenden Jahrzehnt die Nickelodeons ablösen würden.

161
Das Dokument des Grauens

162
Kapitel 16

1905

1905 endete der russisch-japanische Krieg, der von den innenpolitischen Problemen
des Zarenreiches unter Nikolaus II. ablenken sollte, in einem Debakel für Russlands
autokratischen Herrscher und dem fast vollständigen Verlust der russischen Flotte. In
Russland tobte zudem ein Generalstreik, der am 22. Januar mit dem Petersburger Blut-
sonntag endete. Eine friedliche Demonstration von 150.000 Menschen wurde auf den
Befehl des Zaren durch das Militär in ein Blutbad verwandelt. Der Höhepunkt dieser
Revolution war neben einem Eisenbahnerstreik vor allem die Meuterei auf dem Pan-
zerkreuzer Potemkin, welcher 20 Jahre nach dem Vorfall durch Sergei Eisenstein ein
filmisches Denkmal mit dem Titel Bronenossez Potjomkin (1925) gesetzt wurde.
Auch in der Wissenschaft zeichnete sich eine Revolution ab. Am 27. September
gelang Albert Einstein eine mathematische Verknüpfung zwischen Masse und Energie,
die „spezielle Relativitätstheorie“ war geboren.
In der Welt der Künste kam es am 13. März im Pariser Musée Guimet zu einem
Auftritt der niederländischen Tänzerin Margaretha Geertruida Zelle, welche sich für
diese Vorstellung den Künstlernamen Mata Hari zugelegt hatte. Der Schleiertanz, wel-
chen sie fast unbekleidet beendete, wurde frenetisch umjubelt und provozierte einen
riesigen Skandal. Dieser Auftritt war der der Beginn einer kurzen, aber schillern-
den Karriere, deren Mythos auch auf die Kinoleinwände übergriff. Heinrich Mann
veröffentlichte seinen Roman Professor Unrat, dessen Verfilmung Der blaue Engel
(1930) zu den großen Werken des deutschen Films zählt. Jack London präsentierte
seine Erzählung Wolfsblut. Im Juni des Jahres wurde in Dresden der Künstlerbund
Die Brücke gegründet; dies war die erste Organisation, welche sich dem Expressio-
nismus verschrieben hatte, welcher die Welt des Horrorfilms in den folgenden Jahr-
zehnten maßgeblich prägen sollte. Die großartigen Schauspieler Ray Milland, Joan
Crawford, Henry Fonda, Myrna Loy, und Greta Garbo kamen auf die Welt, ebenso
wie Howard Hughes, der legendäre Luftfahrtpionier, Produzent und Regisseur. Und
der amerikanische Regisseur Wallace McCutcheon zeigte in 20.000 Leagues Under
the Sea (1905) die ersten Unterwasseraufnahmen der Kinogeschichte. Leider zeigte
McCutcheon noch kein Seemonster, weshalb das amerikanische Gruselkino im Jahr

163
Das Dokument des Grauens

1905 ohne wirklich bemerkenswerte Einträge blieb.

The Thirteen Club (1905)1 ist ein Kommentar zu einem um das Jahr 1880 in den
USA gegründeten Klub, welcher sich um den Jahrhundertwechsel einer ungeheuren
Beliebtheit erfreute und dem bis Mitte des 20. Jahrhunderts auch mehrere amerika-
nische Präsidenten angehörten. Der Thirteen Club hatte es sich zum Ziel gesetzt, mit
völkischem Aberglauben aufzuräumen. Der Namen stammt von einem Glauben, wel-
cher höchstwahrscheinlich vom letzten Abendmahl des Neuen Testaments abgeleitet
ist: Wenn 13 Menschen zusammen an einem Tisch sitzen und miteinander speisen,
wird einer von ihnen binnen kurzer Zeit sterben. Aus diesem Grund trafen sich die
Klubmitglieder, deren Zahl sich im Jahr 1905 schon stark an die Tausend annäherte,
am jeweils 13. Tag eines Monats zu einem Bankett, wobei stets Gruppen zu 13 Leuten
an einem Tisch Platz nahmen.
The Thirteen Club (1905) macht sich darüber natürlich lustig. Die Klubmitglieder
machen sich hier während des Essens über den Aberglauben lustig. Doch dann werden
ihre Körper in 13 Skelette verwandelt.

Der zweite und letzte Genrebeitrag in den USA war Bedelia and the Witch (1905)2 ,
wobei hier allerdings bezweifelt werden kann, dass der tatsächliche Ursprung des
Films in den Vereinigten Staaten liegt. Aufgrund des beworbenen Inhalts und der kurz-
en Laufzeit von nur zwei bis drei Minuten liegt der Schluss nahe, dass es sich vielmehr
um eine in die USA importierte Version eines eher unbekannten europäischen Films
handelt. Der Film ist ein weiteres Exemplar der auf dem alten Kontinent beliebten
Effektfilme voller jump cuts.
Der Film zeigt eine Waschfrau, Bedelia, des Nachts(!) bei der Arbeit. Ihr Gelieb-
ter, der Milchmann, kommt auf einen Besuch vorbei. Man schäkert ein wenig herum,
dann setzt Bedelia ihre Arbeit fort. Doch dann erscheint eine Hexe, der Waschzuber
verschwindet und die übliche Abfolge eigenartiger Dinge beginnt.

Im Vereinigten Königreich, genauer gesagt in Wales, erstarkte 1904 eine religiöse


Bewegung, welche im Jahr 1905 ihren Höhepunkt erreichte und als The Welsh Revival
in die Geschichtsbücher einging. Der Ministrant Evan Roberts zog Tausende Gläubige
mit seiner Lehre an, welche im Wesentlichen aus vier Punkten bestand: alle bekannte
Sünden zu beichten, alles Zweifelhafte im Leben zu bekämpfen, jederzeit dem Hei-
ligen Geist zu gehorchen und sich öffentlich zu Jesus Christus zu bekennen. Im Jahr
1905 soll seine Bewegung bereits über 100.000 Menschen dazu gebracht haben, sich
zum Christentum zu bekennen, was in der nationalen Presse ein gehöriges Echo fand,
denn die Kirche war in Wales damals auf einem absteigenden Ast.

1
The Thirteen Club (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1905, Länge: ca. 195m, 9 Minu-
ten)
2
Bedelia and the Witch (Kleine Optical Company, USA 1905, Länge: ca. 45m, 3 Minuten)

164
16. 1905

William Haggar, dem wir bereits 1902 in dieser Chronik begegneten, sprang auf
diesen religiösen Zug auf. Höchstwahrscheinlich, weil es sich aus kommerziellen Grün-
den anbot und weniger aus religiöser Überzeugung. The Effects of Too Much Scotch
(1905)3 , nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Film von Alf Collins aus dem
Jahr 1903, zeigt einen Mann, welcher betrunken nach Hause kommt und dort die Fol-
gen seines Tuns ertragen muss: Die Bettwäsche und Möbel entwickeln ein Eigenleben
und setzen dem Trinker zu. Das moralische Stück war ein typischer Trickfilm jener
Zeit.

The Life of Charles Peace (1905)4 ist ein weiteres Produkt aus Haggars Famili-
enunternehmen und gleichzeitig auch Haggars bekanntester Film.
Charles Peace war ein berüchtigter
Räuber und Mörder des viktorianischen
Englands. Er diente als Vorlage für viele
romantisierte Verbrecher und Banditen in
Büchern und Filmen, unter anderem für
The Devil Man von Edgar Wallace.
William Haggars Film schildert in
seinen 11 Szenen vornehmlich den Mord
an Mr. Dyson, nachdem Charles Peace
dessen Frau schöne Augen machte, seine
Verhaftung, seine anschließende Flucht
aus einem fahrenden Zug, die Verfol-
gungsjagd bis zur erneuten Festnahme Abbildung 16.1: Charles Peace erschießt
und schließlich seine Hinrichtung durch Mr. Dyson vor den Augen seiner Frau. Sze-
Erhängen. ne aus The Life of Charles Peace (1905)
Die Person von Charles Peace an sich von William Haggar [6]
legitimiert nicht die Erwähnung von The
Life of Charles Peace (1905) im Rahmen dieser Chronik. Die Art und Weise der In-
szenierung tut dies jedoch durchaus, denn William Haggars Film ist der erste Film,
welcher eine Exekution konsequent von Anfang bis Ende darstellt. Peter John Yorke,
ein Enkel William Haggars und dessen Biograf, zitiert in seinem Buch William Hag-
gar: Fairground Film Maker eine Aussage seines Onkels Walter Haggar aus dem Jahr
1939, den Darsteller von Charles Peace: Walter Haggar behauptete, dass die Hinrich-
tungsszene aufgrund Mangels an Geld und technischen Möglichkeiten real gedreht
wurde und dass er selbst am Ende des Stricks beinahe zu Tode gewürgt worden sei.[5]
In Sheffield gedreht, wo Charles Peace tatsächlich auch lebte, erlebte der Film seine
Aufführungen im Rahmen von Haggars Bioscope-Wanderausstellung auf walisischen
3
The Effects of Too Much Scotch, aka D.T.’s, or the Effect of Drink (William Haggar and Sons,
UK 1905, Regie, Produktion: William Haggar)
4
The Life of Charles Peace (William Haggar and Sons, UK 1905, Regie, Produktion: William
Haggar, Darsteller: Walter Haggar, Lily Haggar, James Haggar, Violet Haggar, Sarah Haggar, Henry
Haggar, Fred Haggar, Joe Giddings, Länge: ca. 10 Minuten)

165
Das Dokument des Grauens

Jahrmärkten. Es handelt sich also nicht um einen großflächig aufgeführten und in ho-
hen Stückzahlen kopierten Film, wie es in den USA und Frankreich inzwischen immer
mehr zum Standard wurde. Daher erreichte The Life of Charles Peace (1905) wie
auch die anderen Filme Haggars keine prominente Stellung in der britischen Filmge-
schichte, aber er ist dennoch bemerkenswert. The Life of Charles Peace (1905) wurde
innerhalb des notgedrungen eher bescheidenen kommerziellen Rahmens William Hag-
gars bekanntester und erfolgreichster Film; aufgrund der gelungenen Inszenierung der
Jagd auf den Mörder kann man ihn auch zu den künstlerischen Highlights des briti-
schen Kinos des Filmjahres zählen.

Ein anderer Brite versuchte sich an einem anderen klassischen Stoff, wenngleich
dieser ausschließlich aus der Fantastik entstammt. Percy Stow, der Regisseur von Ali-
ce in Wonderland (1903) und The Mistletoe Bough (1904) hatte mittlerweile seinen
Traum von der Selbstständigkeit erfüllt und die Clarendon Studios gegründet und prä-
sentierte Beauty and the Beast (1905)5 . Im Gegensatz zu Lubins Beauty and the
Beast (1905) handelt es sich auch garantiert um keine Raubkopie der französischen
Erstverfilmung La belle et la bête (1899), sondern um ein eigenständiges Werk. Der
Film gilt heute zwar bereits als verschollen, allerdings übertrifft schon alleine die do-
kumentierte Laufzeit von Stows Werk jene des französischen Vorgängers um beinahe
das Sechsfache. Stow legte auch Wert auf das Bemühen, eine angemessene Verfilmung
der literarischen Vorlage um den zu einem Dasein als Monster verfluchten Prinzen zu
zeigen. „Ein wahres Märchen, wie es erzählt werden sollte" lautete der Slogan auf dem
Werbeplakat. Doch wenngleich der Slogan auch einen gewissen Anspruch der Finalität
in sich trug, war das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht. Sieben weitere
Verfilmungen, eine TV-Serie, ein Musical und eine Eisrevue sollten alleine bis zum
Ende des Jahrhunderts noch folgen.

Großbritannien kann noch weitere Beiträge mit Anleihen an den Schrecken aus
dem Jahr präsentieren. Allerdings ist The Electric Goose (1905)6 im Gegensatz zu den
inhaltlichen schwergewichtigeren Werken William Haggars und Percy Stows wieder
eher leichte Kost in der Tradition französischen Effekte-Slapsticks. In bester Franken-
stein-Manier, allerdings wohl eher unbeabsichtigt, wird in diesem Film eine Weih-
nachtsgans(!) mit Hilfe von Stromschlägen wieder zum Leben erweckt.

In die gleiche Kategorie gehört The Freak Barber (1905)7 . Ein Barbier schneidet
seinem Kunden erst den Kopf ab und wird dann selbst in seine Gliedmaßen zerlegt.

Machen wir einen kurzen Abstecher in ein Land, in welchem wir bislang noch
nicht zu Besuch waren: Italien. Dort unternahm man damals die ersten Schritte in dem
5
Beauty and the Beast (Clarendon, UK 1905, Regie, Produktion: Percy Stow, Länge: ca. 73m, 11
Minuten)
6
The Electric Goose (Gaumont, UK 1905, Regie: Alf Collins, Länge: ca. 97m, 7 Minuten)
7
The Freak Barber (Robert W. Paul, UK 1905, Regie: J.H. Martin, Länge: ca. 51m, 3 Minuten)

166
16. 1905

neuen Metier und einer der aufstrebenden jungen Künstler war ein gewisser Mario Ca-
serini. Der 1874 geborene Römer war die letzten Jahre als Maler aktiv und schloss sich
im Jahr 1905 als Schauspieler der aufstrebenden italienischen Filmszene an. In diesem
Jahr, welches übrigens auch das Todesjahr von Jules Verne war, war er in Viaggio al
centro de la luna (1905)8 zu sehen. Diese Verquickung zweier Motive von Jules Ver-
ne, nämlich der Reise zum Mond und der Reise zum Mittelpunkt der Erde, wiederholte
nur die bekannten Motive aus vorhergegangenen Filmen dieser Art: Einige Reisende
brechen in eine fremde Welt auf und treffen auf Ungeheuer. Der weitgehend unbekann-
te Film gab den Startschuss für eine großartige Karriere Mario Caserinis, der jedoch
schon 1920 früh verstarb. In den wenigen Jahren bis zu seinem Tod leistete er jedoch
noch einiges. Schon kurz nach seinem Einstieg in die Filmwelt gab er mit Romanzo di
un Pierrot, Il (1906) sein Debüt als Regisseur und sein zweiter Film, Otello (1906) war
die erste Verfilmung von Shakespeares Werk. Klassische Stoffe blieben auch forthin
Caserinis Markenzeichen, darunter weitere Shakespeareverfilmungen wie Romeo e Gi-
ulietta (1908) und Macbeth (1909), aber auch Werke wie Parsifal (1909), Jane Eyre
(1910) oder Antigone (1911). Weltweit berühmt wurde er als der Schöpfer von Ultimi
giorni di Pompeii, Gli (1913), einem abendfüllenden Spektakel über den Untergang
von Pompeji. Caserini war auch intelligent genug, um nicht in die Falle zu tappen, aus
welcher viele andere, darunter auch Georges Méliès, nicht mehr herauskamen - seine
Filme erzählten Geschichten und waren von vergleichsweise epischem Anspruch. Dies
hob sie aus der Masse der tricktechnischen Kabinettstückchen und Kammerspiele her-
vor, welche damals den Markt beherrschte.

Ja, was trieb eigentlich der berühmte


Franzose in diesem Jahr? „Das Übliche“,
werden Sie wohl denken, und damit lie-
gen Sie genau richtig. Schauen wir doch
einmal bei ihm vorbei.
Seine Hommage an die Geschichten
aus 1001 Nacht mit dem Titel Le pa-
lais des mille et une nuits (1905)9 war
mit über 20 Minuten Länge schon bei-
nahe ein Mammutwerk, aber es zeigt
auch erneut die Defizite seines Schöp-
fers auf. Der Film ist technisch beein-
druckend, zum großen Teil auch noch Abbildung 16.2: Die tanzenden Skelette
in der handkolorierten Fassung erhalten aus Le palais des mille et une nuits (1905)
und mit viel Aufwand ausgestattet und
noch mehr Liebe gedreht. Doch andererseits ist der Film nur schwer zu ertragen. Die
8
Viaggio al centro de la luna, aka Trip to the Center of the Moon (Italien 1905, Darsteller: Mario
Caserini)
9
Le palais des mille et une nuits, aka The Palace of the Arabian Nights (Star Film, Frankreich
1905, Regie, Drehbuch, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 460m, 21 Minuten)

167
Das Dokument des Grauens

eigentlich völlig banale Geschichte um den jungen Mann, der eine Prinzessin liebt und
viele Gefahren überstehen muss, um ihre Hand dennoch zu gewinnen, ist unglaublich
konfus in Szene gesetzt und wird den Effekten so weit untergeordnet, dass man ihr nur
noch schwer folgen kann. Und obwohl in dem Film Geister, Monster und sogar eine
Keilerei von Schwertmännern mit einer Horde tanzender Skelette vorkommen, macht
es überhaupt keinen Spaß, ihn sich anzusehen. Le palais des mille et une nuits (1905)
ist verschenktes Potenzial, verschenktes Material und ebenso verschenkte Zeit.

La légende de Rip Van Winkle (1905)10 ist etwas besser ausgefallen, wenngleich
man auch hier noch einen begleitenden Erzähler benötigt, um den Inhalt der Geschich-
te zu verstehen.
Georges Méliès verfilmte hier eine
Kurzgeschichte des amerikanischen Au-
tors Washington Irving, allerdings nahm
er sich etliche Freiheiten. In der kurz
vor Ausbruch des amerikanischen Bür-
gerkrieges angesiedelten Vorlage ist Rip
Van Winkle ein geachteter Bürger, der
sich in den Wald davonmacht, um vor
seiner keifenden Frau seine Ruhe zu ha-
ben. Dort trifft er auf einige eigenarti-
ge Gesellen, von deren Schnaps er trinkt.
Dann fällt er in einen 20 Jahre dauern-
Abbildung 16.3: In der Traumsequenz aus den Schlaf. Als er wieder erwacht, ist
La légende de Rip Van Winkle (1905) der Bürgerkrieg wieder vorüber und es
wird der Titelheld von Geistern bedroht kommt zu einigen Verwirrungen, als er
in seinen Heimatort zurückkehrt. In La
légende de Rip Van Winkle (1905) ist Rip jedoch ein Steuerflüchtling, der vor den
Soldaten des britischen Königs George III. auf der Flucht ist und im Wald auf Gei-
ster trifft, die ihren Schabernack mit ihm treiben, bevor er ebenfalls in einen 20 Jahre
dauernden Schlaf fällt.
Die Änderungen an der Handlung dienen dem Zweck, Méliès den Raum für sei-
ne Effekte zu geben. Diese sind auch recht gut gelungen oder haben zumindest viel
Charme, wie bei dem Kampf gegen die mehrere Meter lange Stoffschlange, welche
durch Fäden bewegt wird und die ein Monster darstellen soll. Doch den Effektbonus
verspielt Méliès wieder durch unnötige Längen in einigen Szenen, welche lediglich
dem Slapstick dienen. Und die stärkste Szene des Films ist ausgerechnet jene, welche
fast ohne Effekte auskommt: die Einstellungen, in welcher Rip Van Winkle sich den in
Bettlaken gehüllten Geistern gegenübersieht, ist so ziemlich das einzige Bild, welches

10
La légende de Rip Van Winkle, aka The Legend of Rip Van Winke, aka Rip’s Dream (Star
Film, Frankreich 1905, Regie: Georges Méliès, Drehbuch: Georges Méliès, nach einer Kurzgeschichte
von Washington Irving, Länge: ca. 330m, 14 Minuten)

168
16. 1905

dauerhaft in der Erinnerung des Zuschauers haften bleibt. So bleibt es, wie leider so
oft bei Georges Méliès, bei einer technischen Demonstration, welche seine Zuschau-
er sicherlich zum Staunen gebracht haben mag, aber erzählerisch inzwischen deutlich
hinter den Werken aus den USA oder Großbritannien zurückblieb.

Le diable noir (1905)11 ist ein typischer Trickfilm von Georges Méliès im Stil von
L’auberge ensorcelée (1897), in welchem ein Reisender durch verschwindende und
ihre Position verändernde Möbel geängstigt wurde.
Ein Teufel, der in seinem Ausse-
hen eher an einen Kobold erinnert, tanzt
wild durch ein Hotelzimmer - über einen
Tisch, durch das Bett, über die Kommo-
de. Dann löst er sich in Luft auf, denn es
kommt jemand.
Ein Gast betritt das Zimmer und
möchte es sich gemütlich machen. Doch
natürlich klappt das nicht. Tische werden
aufeinandergestapelt, der Stuhl vermehrt
sich und liefert sich ein Wettrennen mit
dem Gast und am Ende liegt das Mobili-
ar in Trümmern, das Bett steht in Flam- Abbildung 16.4: Le diable noir (1905)
men und die erzürnten Hotelangestellten treibt seinen Schabernack
ziehen dem vermeintlichen Störer die Ohren lang.
Abgesehen von dem brennenden Bettvorhang, denn etwas Derartiges gab es in den
alles andere als feuerfesten Pappkulissen im Studio von Georges Méliès noch nicht zu
sehen, zeigt der Film nur Standardware. Es ist die gleiche alte Geschichte in den wie
üblich gemalten Kulissen auf dem immer gleichen Holzboden auf die gewohnte Weise
erzählt. Der Film ist ein gutes Beispiel für die nicht stattfindende Weiterentwicklung
Méliès’, während sein technischer Vorsprung gegenüber seinen Konkurrenten immer
mehr zusammenschmolz.

Georges Méliès zeigte außerdem noch L’île de Calypso: Ulysse et le géant Poly-
phème (1905)12 . Der Film mit dem komplizierten Titel ist eine Verschmelzung einer
Passage aus Homers Odyssee und Jules Vernes L’île mystérieuse. Reisende werden auf
der geheimnisvollen Insel von dem riesigen Zyklopen Polyphem gefangen und müssen
fürchten, von diesem gefressen zu werden. Der Film ist eine Rarität, eventuell haben
nur wenige Fragmente bis heute überlebt. Daher ist auch nicht viel über ihn bekannt.

11
Le diable noir, aka The Black Imp, aka The Black Devil (Star Film, Frankreich 1905, Regie,
Drehbuch, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca. 330m, 14 Minuten)
12
L’île de Calypso: Ulysse et le géant Polyphème, aka Ulysse et le géant Polyphème, aka Ulysses
and the Giant Polyphemus (Star Film, Frankreich 1905, Regie: Georges Méliès, Drehbuch: Georges
Méliès, nach Motiven von Homer und Jules Verne, Länge: ca. 75m, 5 Minuten)

169
Das Dokument des Grauens

Die Pariser Kollegen von Pathé Frères waren auch nicht untätig und veröffentlich-
ten eine Vielzahl von Filmen, von welchen insgesamt drei an dieser Stelle Erwähnung
finden sollten. Beginnen wir mit dem problematischsten Film aus dem Trio. Über The
Conscience (1905)13 wissen wir nur wenig - ja selbst der französische Originaltitel
ist unklar, da er nur in einem amerikanischen Katalog der Pathé zu finden ist. Gemäß
seiner Beschreibung erzählte der Film, wie ein Diener seinen Herren ermordet, um an
dessen Gold zu kommen. Nachdem er die Leiche verscharrt hat, wird er von dessen
Geist und dem Teufel selbst heimgesucht.

Auch über L’antre infernal (1905)14 ist nichts bekannt. In diesem Film, welcher
in der Hölle spielte, beschwörte der Teufel zwei Frauen. Das British Film Institute li-
stet den Film zudem mit dem alternativen Titel Skeleton Magician, was im Falle der
Korrektheit auch auf das Vorhandensein von Skeletten schließen ließe. Der Film soll
auch in Farbe gehalten gewesen sein, aber es ist nicht klar, ob dies eine Handkolorie-
rung war oder ein anderer Prozess - es ist nicht ausgeschlossen, dass L’antre infernal
(1905) zusammen mit einer anderen Produktion der Pathé namens L’arête malencon-
treuse (1905) ein Feldversuch mit dem Dussaudscope war, einer Erfindung des Genfer
Gelehrten François Dussaud. Es ist überliefert, dass Dussaud seit dem Jahr 1900 im
Dienst der Pathé stand und an einer Technik forschte, um Filme in Farbe zu drehen.

Auch L’amant de la lune (1905)15


droht, zu einem Opfer der Zeit zu
werden. In diesem Film spielt Ferdi-
nand Zecca, der gleichzeitig auch zusam-
men mit Gaston Velle die Regie führ-
te, einen Trunkenbold, welcher mitten
in der Nacht zuhause ankommt. Zuerst
feiert er noch mit einem Weinfass und
einigen Flaschen, dann legt er sich ins
Bett. Er träumt, er würde wieder auf einer
Parkbank erwachen, während der Mond
auf ihn herabblickt. Der Trinker versucht,
Abbildung 16.5: L’amant de la lune dem Mond näher zu kommen, indem er
(1905), französisches Filmplakat einen Laternenpfahl hinaufklettert, aber
ohne Erfolg. Er versucht sich als Fassa-
denkletterer und als er auf dem Dach ankommt, bricht ein Sturm los. Der Trinker
klammert sich an einen Kamin, doch er wird von dem Sturm emporgerissen und zu-
13
The Conscience (Pathé Frères, Frankreich 1905, Länge: ca. 58m, 9 Minuten)
14
L’antre infernal, aka Skeleton Magician (Pathé Frères, Frankreich 1905, Regie: Gaston Velle,
Kamera: Segundo de Chomón, Länge: ca. 73m, 10 Minuten)
15
L’amant de la lune, aka Rêve à la lune, aka Drunkard’s Dream or Why You Sign the Pledge,
aka Dream of the Moon, aka Lover of the Moon (Pathé Frères, Frankreich 1905, Regie: Gaston Velle,
Ferdinand Zecca Darsteller: Ferdinand Zecca, Länge: ca. 70m, 10 Minuten)

170
16. 1905

sammen mit dem Schornstein auf einen Flug zum Mond geschickt. Dort wird er vom
Mund des Monds verschluckt und wieder ausgespuckt. Er fällt zurück in sein Bett und
erwacht aus dem Albtraum, während das Gesicht des Mondes mit jenem der an der
Wand hängenden Uhr verschmilzt.
Von L’amant de la lune (1905) sind zwei Kopien bekannt. Bei einer handelt es
sich um eine 1948 in Berlin angefertigte 35mm-Kopie des originalen Nitratfilms. Von
dieser Kopie wurden mehrere weitere Kopien auf 16mm gezogen, von welchen sich
mehrere im Archiv der Deutschen Kinemathek befinden. Eine weitere Kopie befindet
sich im Nationalen Filmarchiv Ungarns. Die auf 16mm angefertigten Kopien sind alle
schwarz-weiß, doch die originale Fassung in 35mm war koloriert. In der ungarischen
Kopie ist die Titelkarte des Films in roter Farbe gehalten und dem Archiv der Pathé
lässt sich entnehmen, dass die Sturmszenen ebenfalls rot eingefärbt waren.

Beenden wir den Überblick über das Jahr 1905 mit einem bemerkenswerten Film
einer nicht minder bemerkenswerten Frau: La Esmeralda (1905)16 von Alice Guy.
Alice Guy war 1895 als Stenotypistin von Léon Gaumont eingestellt worden und über-
zeugte ihren Chef von dem Potential des Films, nachdem sie 1895 eine Vorführung der
Gebrüder Lumière besucht hatte. Bereits 1896 drehte sie ihren ersten Film, was sie zur
ersten Filmregisseurin der Welt werden ließ. Alice Guy war äußerst begabt und er-
kannte das erzählerische Potential des neuen Mediums von Beginn an, weshalb sie
sich sofort auf Spielfilme konzentrierte und nicht wie die meisten ihrer Kollegen auf
das Dokumentieren der Wirklichkeit. Sie experimentierte in den ersten Jahren des 20.
Jahrhunderts sogar mit Wachsrollen, auf welche sie Ton aufzeichnete und synchron mit
dem Film wieder abspielte, allerdings mit mäßigem Ergebnis. Um 1905 war ihr erstes
eigenes Studio, im Pariser Stadtteil Belleville eingerichtet und Alice Guy konzentrier-
te sich zunehmend auf Großproduktionen. 1907 heiratete sie den Produktionsleiter der
Gaumont in Großbritannien und Deutschland, Herbert Blaché-Bolton, und änderte ih-
ren Namen in Alice Guy-Blaché. 1909 wanderte das Ehepaar in die USA aus und leite-
ten dort den amerikanischen Ableger der Gaumont in Cleveland, Ohio. 1910 gründete
sie ihre eigene Produktionsgesellschaft, The Solax Company, in Fort Lee, New Jersey.
Nach drei Jahren des Erfolges benannten sie ihre Firma in Blanché Features, Inc. um.
Bis zum Ende ihres Filmschaffens im Jahr 1920 drehte und produzierte Alice Guy
insgesamt ungefähr 700 Filme.
La Esmeralda (1905) war die erste Verfilmung von Victor Hugos Nôtre Dame
de Paris mit Denise Becker als La Esmeralda und Henry Vorins als Quasimodo. Der
Film war kurz, er bestand nur aus einer einzigen Filmrolle, doch er war der erste einer
Vielzahl von Verfilmungen dieses klassischen Stoffes. Und auch Alice Guy werden wir
wieder begegnen, denn in den nächsten Jahren drehte sie noch weitere Filme, welche
das Reich des Schreckens berührten: The Pit and the Pendulum (1913) und Vampire
(1920) gehören zu ihren bekanntesten Werken.

16
La Esmeralda, aka Esmeralda (Gaumont, Frankreich 1905, Regie: Alice Guy, Victorin-Hippolyte
Jasset, Darsteller: Denise Becker, Henry Vorins, Victorin Jasset Länge: ca. 130m, 10 Minuten)

171
Das Dokument des Grauens

172
Kapitel 17

1906

Das Jahr 1906 blieb vor allem als ein Jahr der Naturkatastrophen in Erinnerung. Am
18. April 1906 wurde um 5:12 Uhr morgens San Francisco von einem Erdbeben er-
schüttert. Das Beben und das anschließende Feuer forderten nach offiziellen Angaben
über 3.000 Todesopfer und machten weite Teile der Stadt dem Erdboden gleich. Das
Beben gilt als die bis dato schwerste Naturkatastrophe in den Vereinigten Staaten, doch
die Wirkung verblasst gegen die anderen Katastrophen dieses Jahres; Valparaíso, Chi-
le, wurde am 17. August durch ein etwa gleich starkes Beben erschüttert, welches etwa
20.000 das Leben kostete. Einen Monat später, am 18. September, wurde Hongkong
zuerst durch einen Taifun und kurz danach durch eine Flutwelle verwüstet, 10.000 To-
te. Die USA nutzten einen Aufstand in Kuba, um den Inselstaat zu besetzen und unter
ihre Verwaltung zu stellen. Und im fernen Deutschland besetzte ein gewisser Wilhelm
Voigt das Rathaus von Köpenick.
1906 war auch das Geburtsjahr großer Persönlichkeiten aus der Welt des Films.
Carol Reed, Billy Wilder, Anthony Mann und Otto Preminger kamen auf die Welt.
Der damals noch völlig unbekannte und heute wegen seines Wirkens in Filmen wie
The Hunchback of Notre Dame (1923), The Unknown (1927) und London After
Midnight (1927) als Horrorikone verehrte Lon Chaney wurde Vater eines Sohnes,
dem er den Namen Lon Chaney Jr. gab. Junior werden wir ebenfalls noch öfter begeg-
nen, unter anderem in The Wolf Man (1941) in vielen B-Pictures der 40er und 50er
Jahre sowie unglaublichen Trashgranaten wie Hillbillys in a Haunted House (1927).
In Letzterem wirkte auch John Carradine mit, eine weitere Trashikone, welche eben-
falls im Jahr 1906 geboren wurde. Carradine treffen wir oft in Brüllern wie Billy the
Kid vs. Dracula (1927) und Horror of the Blood Monsters (1970), manchmal war
er aber auch mit Nebenrollen in kleineren Genreklassikern wie The Howling (1981)
anzutreffen. Auch der frisch auf die Welt gekommene Lou Costello würde später zu
einem großen Komiker heranwachsen und sich in Slapstickfilmen wie Abbott & Co-
stello Meet Frankenstein (1948) sogar dem Horrorgenre annähern. In Deutschland
wurde Brigitte Helm geboren, die eine kurze, aber dennoch aufsehenerregende Kar-
riere hinlegte und mit ihren Auftritten in Metropolis (1927) und Alraune (1928) ein
früher Vamp des deutschen Films wurde. Und am 27. August wurde ein Monstrum auf

173
Das Dokument des Grauens

die Welt losgelassen, welches mehr als ein halbes Jahrhundert später den Horrorfilm
inspirieren würde wie kaum jemand anderes. Ed Gein hieß der noch unschuldige Kna-
be, dessen Taten als Vorlage für die Meisterwerke Psycho (1960), The Texas Chain
Saw Massacre (1973) und The Silence of the Lambs (1991) dienten.

Georges Méliès veröffentlichte in diesem Jahr wieder eine Vielzahl von Filmen mit
teilweise unheimlichem Sujet. L’alchimiste Parafaragamus, ou La cornue infernale
(1906)1 ist erneut ein Film mit sehr viel Fantasie, Stil und Effekten, aber ohne Sub-
stanz. Daran kann auch der sperrige Titel nichts ändern, der Tiefe vermuten lässt, wo
sich keine befindet.
Als der Alchemist Parafaragamus ei-
nes Tages in seinem Labor einschläft, er-
scheint aus einer Tischschublade unter-
halb seines Destillierapparates eine riesi-
ge Schlange. Dies ist übrigens genau die
gleiche Schlange, welche Méliès bereits
im Jahr zuvor in La légende de Rip Van
Winkle (1905) eingesetzt hatte. Diese
Schlange verwandelt sich in einen Bot-
schafter des Teufels, der in der gigantisch
angewachsenen Glasapparatur verschie-
dene Kreaturen erscheinen lässt. Darun-
Abbildung 17.1: L’alchimiste Parafara- ter befindet sich auch eine große, sechs-
gamus, ou La cornue infernale (1906): beinige Spinne, welche in ihrem Netz
Monsterspinne im Reagenzglas hockt und die Augen ihres Menschen-
kopfes wie Murmeln in alle Richtungen
rollen lässt. Der Höhepunkt ist die Erscheinung eines mit Armen und Beinen stram-
pelnden Geistes, welcher an Seilen langsam zur Studiodecke emporgezogen wird.
Lässt man die Flachheit der Story außen vor, bleibt L’alchimiste Parafaragamus
ou La cornue infernale (1906) noch immer ein lustiger früher Monsterfilm. Das ist
doch schon mal was.

Mit Deux cent mill lieues sous les mers, ou Le Cauchemar d’un pecheur (1906)2
wagte sich Georges Méliès an eine Verfilmung von Jules Vernes Vingt milles lieues
sous les mers, erreichte jedoch nur ein eher durchwachsenes Ergebnis. In dem Film
wird der Fischer Yves zum Kapitän eines Unterseeboots und erlebt ein Abenteuer in
1
L’alchimiste Parafaragamus, ou La cornue infernale , aka The Mysterious Retort (Star Film,
Frankreich 1906, Regie, Drehbuch, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca.70m, 3 Minuten)
2
Deux cent mille lieues sous les mers, ou Le Cauchemar d’un pêcheur, aka Deux cent mille
lieues sous les mers, aka 20000 lieues sous les mers, aka Le cauchemar d’un pêcheur , aka 20,000
Leagues Under the Sea, aka Amid the Workings of the Deep, aka Under the Sea (Star Film, Frank-
reich 1906, Regie: Georges Méliès, Drehbuch: Georges Méliès, nach dem Roman Vingt milles lieues
sous les mers von Jules Verne, Länge: ca. 310m, 18 Minuten)

174
17. 1906

der Tiefsee. Und wieder gibt es Monster zuhauf. Wir sehen eine Riesenkrabbe, einen
gigantischen Fisch, mörderische Seeanemonen, einen Oktopus und ... eine Balletttrup-
pe, welche Meerjungfrauen darzustellen versucht.
George Méliès hatte sichtbare Ambitionen, mit dieser erneuten Verfilmung eines
Werkes von Jules Verne an seine großen Erfolge der Vorjahre anzuschließen und scheu-
te auch keine Produktionsaufwände. Die gezeigten Monster und Kulissen waren sogar
an Zeichnungen aus der Romanausgabe des Jahres 1870 angelehnt. Aber der Film
schafft es nicht, zu überzeugen. Daran sind vor allem die enormen Freiheiten schuld,
welche Méliès bei der Adaption für sich beanspruchte. Als Hauptfigur wählte Méliès
einen Fischer und verzichtete ausgerechnet auf den Kapitän des Unterseebootes Nauti-
lus, den berühmten Kapitän Nemo. Und wenn am Ende der Fischer dann erwacht und
wieder alles nur ein Traum war, entwertet dies den Film drastisch.

Der französische Bühnenautor Vic-


tor de Cottens, der unter anderem auch
das Libretto für mehrere Operetten des
französischen Komponisten Louis Var-
ney geschrieben hatte, strebte 1906 ei-
ne Zusammenarbeit mit Georges Méliès
an und bat um einen Film, welcher wäh-
rend Aufführungen seines eigenen Büh-
nenstücks vorgeführt werden sollte. Mé-
liès sagte zu und visualisierte Les quatre
cents farces du diable (1906)3 in seinem
typischen Stil.
Der Ingenieur William Crackford, Abbildung 17.2: In Les quatre cents
der schon viele technische Erfindungen farces du diable (1906) prescht eine von
sein eigen nennen kann, erhält eines Ta- einem Skelettpferd gezogene Kutsche durch
ges Besuch in seiner Werkstatt. Ein Al- den Himmel
chemist möchte ihm einen geheimnisvol-
len Talisman verkaufen, welcher Crackford erlauben soll, mit hoher Geschwindigkeit
um die Welt zu reisen. Crackford ist begeistert und unterschreibt einen Vertrag, ohne
diesen zu lesen - und er ahnt nicht, dass er damit seine Seele dem Teufel verkauft. Zu-
sammen mit seinen sieben Laborjungen, welche in Wirklichkeit die sieben Todsünden
sind, schickt der als Alchemist verkleidete Teufel den Ingenieur Crackford und seinen
Gehilfen auf eine wilde Reise.
Deren Höhepunkt ist eine Kutschfahrt durch die Wolken, wobei die goldene Teu-
felskutsche von einem skelettierten Pferd gezogen wird. Die Fahrt führt durch den
3
Les quatre cents farces du diable, aka Les quat’ cents cents farces du diable, aka Les 400
cents farces du diable, aka Les 400 coups du diable, aka The 400 Tricks of the Devil, aka The
Merry Frolics of Satan, aka The Frolics of Satan (Star Film, Frankreich 1906, Regie: Georges Mé-
liès, Drehbuch: Georges Méliès, basierend auf dem gleichnamigen Bühnenstück von Victor de Cottens,
Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca.322m, 17 Minuten)

175
Das Dokument des Grauens

Schlund des Vulkans Vesuv geradewegs in die Hölle, wo Crackford zur Erfüllung des
unheiligen Handels an einem Spieß über dem Feuer gegrillt wird, während Teufelinnen
um ihn herumtanzen.
Les quatre cents farces du diable (1906) benötigt zwingend einen den Film be-
gleitenden Erzähler, denn ohne diesen ist man verloren und wird dem Film nicht folgen
können. Etliche Details wie der eigentliche Zweck des Pakts mit dem Teufel werden
nicht durch den Film selbst herausgearbeitet und ohne einen Erzähler nicht deutlich
gemacht. Daher ist der durchgehend handkolorierte Film (von dem jedoch nur einige
Teile der farbigen Version noch erhalten sind), eine zwiespältige Sache. Er ist tech-
nisch beeindruckend, aber einfach zu schlecht erzählt, um abseits seiner ursprüngli-
chen Funktion als begleitendes Füllmaterial bestehen zu können. Doch dieses Problem
ist bei Georges Méliès leider nicht neu.

Der überraschenderweise wahrhaft großartige Beitrag von Georges Méliès zur Fan-
tastik des Filmjahres 1906 ist La fée Carabosse, ou le poignard fatal (1906)4 . Hier
blitzt das Genie, welches das Publikum zu seiner Zeit wiederholt verzauberte, wieder
auf.
Carabosse ist in der Märchenwelt die
klassische böse Fee, welche die Königs-
tochter Dornröschen verzaubert. Im Ori-
ginal war sie namenlos, wurde später
jedoch Carabosse genannt, unter ande-
rem im bekannten gleichnamigen Ballett
von Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Später-
hin wurde Carabosse auch unter dem Na-
men Maleficent bekannt, wie beispiels-
weise in Walt Disneys Sleeping Beauty
(1959).
In La fée Carabosse ou le poi-
Abbildung 17.3: Monster greifen an: gnard fatal (1906) erhält Carabosse Be-
La fée Carabosse, ou le poignard fatal such von einem Barden, einem armen
(1906) Schlucker, der sich von ihr die Zukunft
weissagen lässt. In Carabosses magi-
schem Spiegel erblickt er eine Prinzessin, mit welcher er einst vermählt werden soll.
Erfreut zieht er von dannen, nachdem er Carabosse ein Säckchen übergeben hat,
welches wohl Gold beinhaltet. Zumindest geht Carabosse davon aus, doch weit gefehlt:
Anstelle des erhofften Goldes findet sie darin nur Sand.
Als Rache verflucht sie den Sänger. Dieser wird nun von Geistern auf einem Fried-
hof verfolgt. Danach bedrohen ihn Monster, darunter ein riesiger Frosch und eine
glupschäugiger Wurmdrache, der sogar Feuer spuckt.
4
La fée Carabosse, ou le poignard fatal, aka The Witch (Star Film, Frankreich 1906, Regie,
Drehbuch, Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca.273m, 12 Minuten)

176
17. 1906

Diese Monster alleine sind es wert, sich den Film anzuschauen. Sie sind animierte
Holzbasteleien, Stoffschläuche an Schnüren oder auch sich am Boden windende Kom-
parsen, und versprühen aberwitzigen Charme. Die quietschbunte Handkolorierung be-
tont diese Liebenswürdigkeit des Films und der gezeigten Kreaturen noch zusätzlich.
Am Ende befreit der Barde natürlich die Prinzessin, welche er in dem Spiegel sah,
und die böse Carabosse stürzt eine Klippe hinab.
Auffällig ist an dem Film auch, dass er einen angedeuteten Vor- und Abspann hat.
Zu Beginn des Films zeigt Méliès die böse Carabosse in Nahaufnahme, wie sie unter
einem Schriftzug ihres Namens Grimassen schneidet. Und in der letzten Einstellung
des Films sehen wir den Sänger und die Prinzessin, bereit für den ersten Kuss.
Alles in allem ist La fée Carabosse ou le poignard fatal (1906) ein sehenswerter
Film, insbesondere für Liebhaber von Monsterfilmen.

Les incendiaires (1906)5 zeigt eine Enthauptung in voller Länge. Der Film ist ein
teilweise sogar im Freien gedrehtes Melodrama von Georges Méliès, von welchem
leider nur Fragmente mit einer Gesamtlaufzeit von ungefähr 7 Minuten überlebten.
Die noch vorhandenen Fragmente
zeigen, wie Banditen eine Farm in Brand
setzen. Die Polizei belagert ihr Versteck,
doch die Verbrecher fliehen. Einer von
ihnen wird jedoch gefangen und einge-
sperrt. Im Gefängnis hat er einen Alb-
traum von einer Guillotine. Dann wird
sein Gnadengesuch abgelehnt und die
Guillotine vorbereitet. Der Gefangene
wird hereingeführt und auf die Guillotine
gespannt. Das Beil fällt, der Kopf auch,
und der Leichnam wird in einem Bast-
korb abtransportiert. Abbildung 17.4: Noch eine Sekunde, dann
Dem Film fehlen heute insgesamt fällt in Les incendiaires (1906) das Beil
sechs Sequenzen vollständig, darunter
auch die Inszenierung eines dreifachen Mordes. Die Enthauptung ist jedoch vollstän-
dig erhalten geblieben und sehr kompromisslos inszeniert. Méliès lässt keinen Platz
für Gefühle oder Kitsch und er versucht auch gar nicht, in irgendeiner Form humorvoll
oder fantasiebetont zu sein - der Gefangene wird hereingeführt, kreischt und wehrt sich
kurz, während er auf das Brett geschnallt wird. Einer der Anwesenden hält den Kopf
an den Haaren fest und zack! ist die Rübe ab. Der kopflose Torso wird in den Korb
gekippt, der Kopf hintergeworfen und schon ist die Szene durch. Auf das Publikum
des Jahres 1906 muss dieser Höhepunkt des Films eine ungeheure Wirkung gehabt ha-
ben; man muss genau hinschauen, um den Schnitt zu erkennen, welcher den Übergang
5
Les incendiaires, aka L’histoire d’un crime, aka A Desperate Crime (Star Film, Frankreich
1906, Regie, Drehbuch: Georges Méliès, Länge: ca.280m, 13 Minuten)

177
Das Dokument des Grauens

zwischen dem Darsteller des Verurteilten und der Puppe markiert und seinerzeit war
diese Szene nichts für schwache Nerven.
Dies war auch bei den Dreharbeiten bereits klar. Für die Aufnahmen außerhalb sei-
nes Studios in der Umgebung von Montreuil hatte sich Georges Méliès eine Erlaubnis
von der Gemeindeverwaltung besorgen müssen. Bereits dort wurde vom Bürgermeister
angehalten, die Enthauptungsszene nicht auf Jahrmärkten zu zeigen. Für Aufführun-
gen benötigte Méliès eine schriftliche Ausnahmegenehmigung. Heute gilt diese Szene
als einer der Vorläufer blutigen Horrors ganz im Stil des fast zwei Jahrzehnte später
entstandenen Le chien andalou (1925).

In Les bulles de savon animées (1906)6 zeigt Georges Méliès eine Abfolge von
Zaubertricks, vornehmlich mit Seifenblasen. Erwähnenswert im Kontext des Grusel-
films ist der Anfang des Auftritts, als Méliès seine Assistentin erscheinen lässt. Er
beschwört sie als Geist in einer Rauchsäule, der langsam an Kontur gewinnt und dann
zu Boden schwebt.

Bliebe noch Le fantôme d’Alger (1906)7 zu erwähnen. Dieser Film von Georges
Méliès gilt leider als verschollen. Wir nehmen jedoch aufgrund der französischen und
amerikanischen Filmtitel an, dass der Film eine Séance und einen Geist zeigte.
Ebenso ungewiss ist die Situation um L’honneur est satisfait (1906)8 . Der Film
ist in etlichen Enzyklopädien gelistet und soll Elemente des Horrors beinhalten - doch
welche, scheint niemand genau zu wissen. Daher ist der Film hier nur unter Vorbehalt
aufgeführt.

Georges Méliès‘ größte inländische Konkurrenten waren auch dieses Jahr nicht
faul. Die Pathé Frères veröffentlichten zunehmend mehr neue Filme, oftmals über ein
Dutzend pro Woche, und erreichten im Oktober 1906 eine durchschnittliche Kopi-
enzahl von 75 Stück pro Film alleine in den USA, was dort einem Marktanteil von
ungefähr 40% entsprach. Am 15. Dezember 1906 eröffneten die Pathé Frères mit dem
am Pariser Boulevard Montmartre gelegenen Omnia das erste Kino in Europa.
Unter ihren diesjährigen Produktionen befand sich Aladin, ou la lampe merveil-
leuse (1906)9 , eine frühe Verfilmung der gleichnamigen Geschichte aus 1001 Nacht.
Aladdin findet eine magische Lampe, welche ihm Reichtum und die Liebe einer Prin-
zessin bringt. Doch ein böser Zauberer stiehlt die Lampe und Aladdin muss sie zu-
6
Les bulles de savon animées, aka Soap Bubbles (Star Film, Frankreich 1906, Regie, Drehbuch,
Darsteller: Georges Méliès, Länge: ca.60m, 4 Minuten)
7
Le fantôme d’Alger, aka A Spiritualistic Meeting (Star Film, Frankreich 1906, Regie, Drehbuch:
Georges Méliès, Länge: ca.75m, 6 Minuten)
8
L’honneur est satisfait, aka Who Looks, Pays (Star Film, Frankreich 1906, Regie, Drehbuch:
Georges Méliès, nach einem Bühnenstück von Alexandre Dumas, Länge: ca.105m, 8 Minuten)
9
Aladin, ou la lampe merveilleuse, aka Aladdin and His Wonder Lamp (Pathé Frères, Frank-
reich 1906, Regie: Albert Capellani, Kamera: Segundo de Chomón, Darsteller: Georges Vinter, Länge:
ca.250m, 13 Minuten)

178
17. 1906

rückgewinnen, oder er wird alles verlieren. Der Film zeigt einen Zwerg, einen Riesen
und Vasen, welche sich in groteske menschliche Gesichter verwandeln.

Unbedingt erwähnenswert ist L’ecrin du Rajah (1906)10 . Dies nicht unbedingt


wegen seines Regisseurs Gaston Velle, der sich vor allem damit beschäftigte, die in-
novativen Spezialeffekte von Georges Méliès zu kopieren, ohne auch nur ansatzweise
deren Klasse zu erreichen. Nein, was den Film interessant macht, ist die Arbeit von
Segundo de Chomón, mit dem Gaston Velle im Jahr zuvor bereits L’antre infernal
(1905) gedreht hatte und der auch den gerade erwähnten Aladin, ou la lampe merveil-
leuse (1906) visuell veredelte. Segundo de Chomón war ein 1871 in Aragon geborener
Spanier, der ab dem Jahr 1901 im Dienste der Pathé Frères als Kameramann und Spe-
zialist für Spezialeffekte und Koloration arbeitete. Er war einer der wenigen Filmema-
cher, welche nicht nur Méliès nachahmten, sondern den Spezialeffekten ihren eigenen
Stempel aufdrückten. Heute gilt er als Legende und Meister seines Fachs. L’ecrin du
Rajah (1906) ist einer der wenigen Filme aus Chomóns Anfangszeit, welche die Zeit
überlebt hatten, und auch dies nur eher knapp. Im Jahr 1992 wurde der Film von der
französischen Firma Lobster Films restauriert und im Rahmen einer mit Musik unter-
legten Präsentation namens Retour de Flamme zusammen mit anderen Kurzfilmen aus
der Anfangszeit des Kinos in mehreren Metropolen international aufgeführt.
Einem jungen Rajah werden Geschenke dargereicht. Darunter befindet sich eine
Schatzkiste, welche jedoch auf mysteriöse Art und Weise verschwindet. Ein Fakir wird
hereingeführt, der mit der Hilfe von Magie versuchen soll, den Dieb zu finden.
Der Fakir führt den Rajah in einen Raum mit einem großen Fenster, durch welches
ein Djinn auf einem Drachen davonfliegt. Und unter seinem Arm hält der diebische
Geist die Schatztruhe!
Der Fakir und der Rajah begeben sich auf die Suche nach dem Dieb, durchqueren
eine Ruine und finden schließlich die Höhle des Djinn. Der Djinn wird besiegt und der
Schatzkiste entsteigen eine Königin und Tänzerinnen. Es wird geheiratet, viel getanzt
und schließlich in der Schatzkiste dann auch noch Juwelen gefunden.
Der Film besticht durch Segundo de Chomóns Arbeit. Die Kulissen, Kostüme und
Spezialeffekte sind durch einen intensiven orientalischen Stil geprägt und bewunderns-
wert. Chomóns Kolorierung intensiviert die optische Opulenz dieser Geistergeschichte
noch weiterhin.

Ebenfalls von Pathé Frères stammt Le chat á la vie dure (1906)11 . Der Film er-
zählt von einer Katze, welche auf verschiedene Weisen zu Tode kommt ... oder besser
kommen müsste, denn sie stirbt einfach nicht. Diese Komödie gilt als verschollen und
es ist kaum etwas über sie bekannt.

10
L’ecrin du Rajah, aka L’ecrin du Radjah, aka The Rajah’s Casket (Pathé Frères, Frankreich
1906, Regie: Gaston Velle, Kamera: Segundo de Chomón, Länge: ca. 160m, 9 Minuten)
11
Le chat á la vie dure, aka The Tenacious Cat (Pathé Frères, Frankreich 1906, Länge: ca.109m,
6 Minuten)

179
Das Dokument des Grauens

La fée printemps (1906)12 von Alice Guy war der erste handkolorierte Film der
begnadeten Filmerin. Eine Bäuerin, welche sich nichts so sehr wünscht wie ein Kind,
erwartet im strengen Winter ihren Mann, der im Wald nach Holz sucht.
Als er zurückkehrt, setzen sie sich an den Esstisch. Doch dann klopft eine alte Hexe
an die Tür und bittet um Essen.
Die beiden Bauern geben ihr etwas ab, worauf sich die Hexe in eine junge Fee ver-
wandelt. Sie lässt Blumen wachsen und bringt Farbe in das Leben der Bauern. Wün-
sche werden erfüllt, der Frühling ist da. La fée printemps (1906) ist ein Märchenfilm
über die Kraft der Wünsche und die Güte gegenüber anderen. Horror ist eigentlich
kaum enthalten; lediglich die alte Hexe weckt Unbehagen.

Le fils du diable fait la noce à Paris (1906)13 ist ein weiterer Film mit der Kame-
raarbeit und den Spezialeffekten von Segundo de Chomón.
Der Sohn des Teufels sitzt gelang-
weilt in der Hölle. Also holt Satan den
Arzt Snagarelle zur Hilfe, damit er sei-
nen Sohn auf die Oberwelt begleite. Und
wo könnte man sich besser die Zeit ver-
treiben als in Paris?
Dort trifft der Teufelssohn auf ein
Bauernmädchen und verliebt sich in sie.
Die beiden wollen heiraten, doch das
klappt nicht ganz: Als sie die Kirche be-
treten und der Höllenknabe das Kreuz
sieht, flieht er. Die Braut kann es nicht er-
Abbildung 17.5: Satan, Snagarelle und tragen, dass ihr Liebster sie vor dem Al-
der gelangweilte Sohn in Le fils du dia- tar sitzen ließ, und nimmt sich das Leben.
ble fait la noce à Paris (1906) Selbstmörder kommen bekanntlich in
die Hölle, wo sie prompt von ihrem Bräu-
tigam empfangen wird. Der Film endet schließlich mit einem großen Fest und viel
Getanze in gemalten Kulissen.
Le fils du diable fait la noce à Paris (1906) ist mit 19 Minuten Laufzeit ein außer-
gewöhnlich langer Film für die damalige Zeit. Dank der Kulissen und Spezialeffekte
von Segundo de Chomón macht der Film auch Spaß, wobei auch kleine satirische Es-
kapaden hier die Stimmung mittragen. So wird zum Beispiel Snagarelle mittels eines
Telefons in die Hölle gerufen, was man durchaus als einen Kommentar zur damals
aktuellen Technik bewerten könnte. André Deed, der Darsteller des Teufelssohns, war
übrigens ein Komödiendarsteller, welcher sich ähnlich wie später Charles Chaplin oder
12
La fée printemps, aka Die Frühlingsfee, aka The Spring Fairy (Pathé Frères, Frankreich 1906,
Regie: Alice Guy, Länge: ca.80m, 6 Minuten)
13
Le fils du diable fait la noce à Paris, aka Le fils du diable, aka Le fils du diable à Paris,
aka Mephisto’s Son, aka Son of the Devil (Pathé Frères, Frankreich 1906, Regie, Drehbuch: Charles-
Lucien Lépine, Kamera: Segundo de Chomón, Darsteller: André Deed, Länge: ca.350m, 19 Minuten)

180
17. 1906

Harold Lloyd auf die Rolle eines ganz bestimmten Trottels fixierte und diese dann in
vielen Filmen verkörperte, um hierdurch seinen Wiedererkennungswert zu steigern. Er
war einer der ersten Darsteller, welcher diese Masche gezielt und konsequent anwen-
dete.

Die diesjährigen Produktionen der Pathé Frères schließen wir nun mit einigen Fil-
men ab, die in Katalogen auftauchen, aber über welche nur wenig bis nichts bekannt
ist. Da wäre als erstes La jeteuse de sorts (1906)14 . Eine Hexe spricht einen Liebes-
zauber aus und ein Mann verfällt ihr. Doch als dieser wieder aus seiner Trance erwacht,
ertränkt er sie.

L’antre de la sorcière (1906)15 wird vom Britischen Filminstitut Segundo de Cho-


món als alleinige Regiearbeit zugeschrieben[13]. Ein Mann verlässt seine Frau im
Streit und trifft auf eine Hexe. Diese führt ihn in eine Höhle, wo er auf Goblins und
geisterhafte Erscheinungen von Frauen aller Rassen trifft. Am Ende sieht er ein Bild
seiner Frau, sie ist die attraktivste von allen. Als er aus seinem Traum erwacht, kehrt
er reumütig zu seiner Frau zurück.

Segundo de Chomón wird ebenfalls La derniere sorcière (1906)16 zugeschrieben,


aber dieser Film ist wirklich selten und kaum jemand dürfte ihn je gesehen haben. Die
Handlung ist unklar und lediglich der französische und der amerikanische Filmtitel
sprechen dafür, dass es sich um einen weiteren Film um oder mit einer Hexe handelte.

Noch übler ist es um The Convict Guardian’s Nightmare (1906)17 bestellt. Von
diesem Film wissen wir den französischen Originaltitel nicht. Der Wächter eines Ge-
fangenen schläft ein und träumt, dass sich der Verurteilte in ein Skelett verwandelt.

Im Vereinigten Königreich drehte Charles Raymond für die Warwick Trading Com-
pany den Streifen The Cabby’s Dream (1906)18 , von dem allerdings nur noch etwa
ein Drittel erhalten blieb. Ein Kutschfahrer hat seine Kutsche geparkt und schläft. Er
träumt, dass er einen Zauberer als Fahrgast mitnimmt. Nach der Ankunft am Ziel lehnt
der Fahrer das angebotene Geld ab und stattdessen beginnt der Zauberer mit allerlei
Tricks. Köpfe beginnen in der Luft zu schweben, Fahrgäste erscheinen wie Geister in
der Kutsche, obwohl diese eigentlich leer ist, und so weiter.

14
La jeteuse de sorts, aka The Village Witch, aka The Witch’s Curse (Pathé Frères, Frankreich
1906, Länge: ca.131m, 7 Minuten)
15
L’antre de la sorcière, aka The Bewitched Shepherd, aka The Witch’s Cave (Pathé Frères,
Frankreich 1906, Regie, Kamera: Segundo de Chomón, Länge: ca.115m, 5 Minuten)
16
La derniere sorcière, aka The Last Witch (Pathé Frères, Frankreich 1906, Regie, Kamera: Se-
gundo de Chomón, Länge: ca.145m, 8 Minuten)
17
The Convict Guardian’s Nightmare (Pathé Frères, Frankreich 1906, Länge: ca.150m, 8 Minuten)
18
The Cabby’s Dream (Warwick Trading Co., UK 1906, Länge: ca.108m, 6 Minuten)

181
Das Dokument des Grauens

The Magic Ring (1906)19 von Lewin Fitzhamon erzählt wie schon zuvor La fée
Carabosse, ou le poignard fatal (1906) die klassische Geschichte der Befreiung einer
holden Maid aus der Burg einer bösen Hexe. In diesem Film gelingt dies mithilfe eines
Zauberrings.

Arthur Melbourne Cooper nahm seine Zuschauer mit zu A Visit to a Spiritualist


(1906)20 . Ein Mann begibt sich zu einer Zigeunerin und sieht dort einen Geist.

Die Anzahl der interessanten britischen Produktionen war in diesem Jahr eher ge-
ring, vor allem im Vergleich zu den vielen Produktionen aus Frankreich. Auf der ande-
ren Seite des Atlantiks blieb die Zahl der Produktionen mit Anleihen aus dem Horror
sehr überschaubar.
Siegmund Lubin produzierte The Secret of Death Valley (1906)21 . Eine Frau
träumt hier, dass ihr Ehemann ermordet wird. Und tatsächlich ist dies der Fall. Sie
findet den Mörder und tötet ihn.

Edwin S. Porter inszenierte in Zusammenarbeit mit Wallace McCutcheon ein Stück


mit dem Titel The Dream of a Rarebit Fiend (1906)22 für die Edison Manufacturing
Company. Der Film entstand nach einem Comicstrip des Zeichners Winsor McCay
und hat Ähnlichkeiten mit Pathés L’amant de la lune (1905) aus dem Vorjahr.
Porter zeigt einen Herrn in einem Restaurant, welcher sich sehr schnell als ein
maßloser Vielfraß entpuppt. Er stopft haufenweise Rarebit und Bier in sich hinein, bis
sein Gesicht durch die Völlerei völlig verschmiert ist und er schließlich überfressen
und sturzbesoffen auf die Straße torkelt, sichtlich angeschlagen und kaum noch fähig,
gerade vorwärts zu laufen.
Doch auf der Straße erwarten ihn Halluzinationen. Zuerst scheint sich die Stadt
rasend schnell um ihn herum zu drehen, während er sich an einer schwankenden Stra-
ßenlaterne festklammert. Als er zuhause im Bett liegt, beginnen seine Möbel ein Ei-
genleben zu entwickeln und kleine Teufel pieksen ihn mit Picken und Heugäbelchen
in den Kopf. Das Bett beginnt zu tanzen und sich rasend schnell zu drehen, bis es
schließlich mit ihm als Passagier durch das Fenster fliegt. Er fliegt über New York und
die Brooklyn Bridge hinweg, bis er schließlich in Richtung Erde stürzt und am Wet-
terhahn eines Wolkenkratzers hängen bleibt. Dort dreht er einige Runden in der Luft
hängend, bis sein Nachthemd reißt und er weiter hinabstürzt, direkt in sein Bett. Alles
nur geträumt.

19
The Magic Ring (Hepworth, UK 1906, Regie: Lewin Fitzhamon, Darsteller: Dolly Lupone, Länge:
ca.165m, 8 Minuten)
20
A Visit to a Spiritualist (Alpha Film, UK 1906, Regie: Lewin Fitzhamon, Länge: ca.40m, 2 Mi-
nuten)
21
The Secret of Death Valley (Lubin Manufacturing Co., USA 1906, Länge: ca. 200m, 10 Minuten)
22
The Dream of a Rarebit Fiend (Edison Manufacturing Co., USA 1906, Regie: Edwin S. Porter,
Wallace McCutcheon, Darsteller: John P. Brawn Länge: ca.143m, 7 Minuten)

182
17. 1906

Was genau der Titel des Films bedeutet, bedarf wohl einer Erklärung. Winsor Mc-
Cay war der Schöpfer einer Comicreihe namens Dream of the Rarebit Fiend, welche
er ab dem 10. September 1904 in der New Yorker Zeitung Evening Telegram veröf-
fentlichte. Er signierte die Comics mit dem Namen Silas, da sein tatsächlicher Name
bereits für seine Cartoons im New York Herald genutzt wurde und sein Chefredakteur
Wert darauf legte, dass die beiden Veröffentlichungen nicht miteinander in Verbindung
gebracht wurden.
In Dream of a Rarebit Fiend zeigte
McCay Charaktere, welche in den mei-
sten Fällen eine Vorliebe für Welsh Ra-
rebit haben, jenes traditionsreiche walisi-
sche Gericht, welches bereits Biographs
A Welsh Rabbit (1903) als Inspiration
diente. In diesen Cartoons war der Ra-
rebit Fiend stets eine Person, welche ir-
gendwelche schlimmen Erlebnisse oder
Albträume hatte und hinterher diesem
Essen die Schuld dafür gab und keines-
wegs dem eigenen Verhalten.
Die Cartoons aus Dream of the Rare- Abbildung 17.6: Kleine Teufelchen quälen
bit Fiend wurden später in Sammelbän- den Vielfraß aus The Dream of a Rarebit
den neu veröffentlicht, zuerst in Dreams Fiend (1906)
of the Rarebit Fiend von Dover Publicati-
ons und erneut in größerer Zahl in der mehrbändigen Sammlung Winsor McKay: Early
Works aus dem Hause Checker Books. Nach Edwin S. Porters The Dream of a Rare-
bit Fiend (1906) kamen noch vier Zeichentrickfilme auf Basis der Comicserie: How
a Mosquito Operates (1912), Bug Vaudeville (1921), The Pet (1921) und The Flying
House (1921). The Dream of a Rarebit Fiend (1906) blieb die einzige Realverfil-
mung des Comics und war damit dann auch die erste Comicverfilmung in der Welt des
Horrorfilms überhaupt.

183
Das Dokument des Grauens

184
Kapitel 18

Eine kurze Reise durch die Zeit

Über 10 Jahre sind bisher vergangen, seit


die ersten Kinetoskope und Filmvorfüh-
rungen auf den Jahrmärkten auftauchten.
10 Jahre Fiktion in bewegten Bildern.
Vor allem wird im Rückblick jedoch of-
fenbar, dass die meisten Filme, welche
man der Fantastik zuordnen kann, aber
wenig von Horror geprägt waren. Man-
che Filme versuchten, den Zuschauer in
Staunen zu versetzen. Andere wollten ihr
Publikum zum Lachen bringen. Die mei-
sten der bislang hier besprochenen Filme
versuchten beides. Aber eines wollten
die Filmpioniere jedoch ganz bestimmt
nicht: Ihr Publikum erschrecken.
Der wahre Schrecken tobte sich nach
wie vor nur in geschriebener Form aus.
Die Horrorliteratur Englands erlebte um
den Jahrhundertwechsel eine neue Blüte-
zeit mit Werken wie Joseph Conrads He-
art of Darkness oder Ghost Stories of an
Antiquary von M.R. James. Doch sie war Abbildung 18.1: Algernon Blackwood
bereits zum Untergang verurteilt. Als ein
letztes Säbelrasseln kann The Listener and Other Stories von Algernon Blackwood
betrachtet werden.

Algernon Blackwood hatte 1906 seine ersten Kurzgeschichten in dem Band The
Empty House and Other Ghost Stories veröffentlicht und schob nun The Listener and
Other Stories hinterher. Diese zweite Veröffentlichung beinhaltet zwei Geschichten,
welche heute zu den großen Meisterwerken des Horrors zählen.

185
Das Dokument des Grauens

The Willows handelt von zwei Freunden, die mit ihrem Kanu die Donau hinunter
paddeln. Bei der Grenze zwischen Österreich und Ungarn landen sie auf einer Insel,
um dort die Nacht zu verbringen. Auf der Insel wachsen Weiden, welche einen dü-
steren Eindruck bei den Protagonisten hinterlassen. Ein starker Wind kommt auf und
hinterlässt ein Gefühl von tiefer Furcht. Ein Mann treibt auf einem Boot vorbei und
bekreuzigt sich. Und in der Nacht scheinen Schatten in das Bewusstsein der beiden
Männer einzudringen, sie hören Geräusche vor dem Zelt, und die Weiden scheinen ih-
re Position zu wechseln. Am nächsten Morgen finden sie ein Leck in ihrem Boot und
sind gezwungen, noch länger auf der Insel zu verweilen ...
Algernon Blackwood schreibt nie, was genau die beiden Protagonisten bedroht
und um ihr Leben kämpfen lässt. Er gibt jedoch Hinweise, dass sich dunkle Mächte
ihren Weg in unsere Welt zu bahnen versuchen. The Willows lässt das Gruselmeter voll
ausschlagen und ist eine der stimmungsvollsten Horrorgeschichten, welche man finden
kann. H.P. Lovecraft bezeichnete The Willows einst gar als die beste Gruselgeschichte,
welche je geschrieben wurde.
Die zweite Geschichte, welche unbedingt erwähnt werden muss, ist die Titelge-
schichte selbst, The Listener. Ein Autor mietet sich in einem heruntergekommenen
Haus in London ein. Langsam stellt er fest, dass in dieser alten Residenz etwas nicht
stimmt. Starke Kopfschmerzen beginnen ihn zu plagen. Er hört Schritte in den Korrido-
ren. Und er hat zunehmend den Eindruck, dass jemand - oder etwas? - ihn beobachtet,
während er schläft.
Blackwood erzählt The Listener als Einträge in einem Journal. Hierdurch gewinnt
der Leser ein Gefühl für den Fluss der Zeit und das ständig zunehmende Unheimli-
che, welches sich in dem Haus abspielt. Was immer man von einer Gruselgeschichte
erwarten mag, The Listener liefert es.
Algernon Blackwood schrieb noch einen weiteren Meilenstein des Horrors, näm-
lich die Geschichte The Wendigo, veröffentlicht im Jahr 1910 in seiner Sammlung The
Lost Valley and Other Stories. Diese Geschichte spielt sich auf dem gleichen literari-
schen Niveau wie schon The Willows und The Listener ab und ist ein weiterer Meilen-
stein der Horrorliteratur. Eine Gruppe von Männern begibt sich auf einen Jagdausflug
in das tiefste Hinterland Kanadas. Zwei der Männer begeben sich in eine Region, von
welcher die Indianer sagen, dass sie von einem Wendigo heimgesucht wird - einer
Kreatur, welche ausgewachsene Männer überfällt, sie in die Luft hebt und sich dann
von ihnen ernährt. Und es dauert nicht lange, bis die Jäger zu Gejagten werden.
The Wendigo ist eine Geschichte, welche durchaus einen Einfluss darauf hat, wie
wohl man sich in Zukunft noch alleine in einem dunklen Wald fühlen wird. Die Todes-
angst, in welcher sich der Protagonist Simpson befindet, als er nach dem verschwun-
denen Defago sucht, scheint regelrecht greifbar.
Allerdings mögen heutige Leser die Geschichten von Algernon Blackwood als et-
was angestaubt empfinden. Er war der letzte Vertreter des stimmungsvollen Gothic
Horrors, dem Stimmung noch wichtiger ist als Charaktere und psychologischem Grau-
en der Aktion den Vorrang gab. Blackwood schwelgt in Beschreibungen und nimmt
sich oftmals eine Seite und mehr Zeit, um ein Gefühl zu verdeutlichen oder eine Stim-

186
18. Eine kurze Reise durch die Zeit

mung aufzubauen. Blackwood projiziert Bilder in den Kopf seiner Leser, und dieses
Vorgehen ist in der moderneren Literatur eher unüblich. Heute beschreibt man eher
Dinge und überlässt es der Fantasie des Lesers, die Details auszumalen. Dennoch sind
diese drei Geschichten eine Erfahrung, welche sich kein Horrorliebhaber entgehen las-
sen sollte; man muss sich nur darauf einlassen, jeden Satz langsam lesen und wirken
lassen, und man wird sich gruseln, wie wir es nur als kleine Kinder noch vermochten.
Algernon Blackwood wurde am 14. März 1869 als Sohn ultra-religiöser Eltern in
Shooter’s Hill, Kent, England geboren. Er hatte eine illustre Karriere und arbeitete
unter anderem als Farmer in Kanada, als Hotelbetreiber, als Journalist in New York,
als Violinlehrer, als Model und eben, nach seiner Rückkehr nach Großbritannien, als
Essayist und Autor. In London trat er dem Ghost Club bei, einem Klub, der sich der
Erforschung mysteriöser Geschehnisse verschrieben hatte, sozusagen eine Art „Ghost-
busters“ des viktorianischen Zeitalters. Andere Mitglieder dieses Klubs waren im Lauf
der Zeit auch Persönlichkeiten wie Charles Dickens, Sir Arthur Conan Doyle oder Pe-
ter Cushing. Der Ghost Club existiert noch heute.
Bis zu seinem Tod am 10. Dezember 1951 schrieb Algernon Blackwood eine Viel-
zahl von Geschichten - wie viele, war aufgrund seiner Tätigkeit als Autor für mehrere
Zeitungen und Magazine selbst ihm unklar -, 14 Romane sowie Theaterstücke, von
welchen die meisten jedoch nie aufgeführt wurden. Sein Einfluss auf die Welt des
Horrors ist nicht von der Hand zu weisen, doch unverständlicherweise dienten seine
Werke fast gar nicht als Vorlage für Filme. Es gab einige wenige Fernsehproduktio-
nen und Episoden in TV-Serien, welche auf Blackwood zurückzuführen sind, aber die
richtigen Verfilmungen sind äußerst überschaubar. The Wendigo (1978) war eine fil-
mische Katastrophe, ungeheuer dilettantisch inszeniert und eine reine Verschwendung
von Lebenszeit der Zuschauer, wobei der Film das europäische Publikum immerhin
weitgehend verschonte und erst 1984 in Videotheken verramscht wurde. Der dreißig
Jahre danach entstandene The Wendigo (2008) ist ein Fanprojekt, welches im Rah-
men des H.P. Lovecraft Festivals 2009 gezeigt wurde und ist mit seinen drei Minuten
Laufzeit auch nur locker an Blackwoods Geschichte angelegt.
Die Bedeutung Algernon Blackwoods für den Horrorfilm ist also nicht unmittelbar
erkennbar. Blackwood war vor allem jemand, der andere Autoren beeinflusste, allen
voran natürlich H.P. Lovecraft, welche ihrerseits wieder den Horrorfilm prägten. Aus
heutiger Sicht markierte The Listener and Other Stories vor allem das Ende einer Ära.
Dies war das letzte große literarische Werk, welches die Motive und Stimmung des
Gothic in sich verinnerlichte.
In der britischen Horrorliteratur kam nach Algernon Blackwood für lange Zeit nur
Stillstand. Es wurden keine Werke mehr publiziert, welche heute noch einen Stellen-
wert besäßen; erst gegen Mitte der 1980er Jahre machte mit Clive Barker wieder ein
britischer Autor mit Horrorgeschichten auf sich aufmerksam.

Blackwood war ebenso ein Mitglied des Hermetic Order of the Golden Dawn.
Bei diesem Orden handelte es sich um eine Vereinigung von vornehmlich Literaten,
welche ein kabbalistisches Weltbild ihr Eigen nannten und praktizierten. Der Orden ist

187
Das Dokument des Grauens

verantwortlich für den Okkultismus in der Form, wie wir ihn heute kennen; die Kon-
zepte der Magie, ihrer Rituale und neureligiöse Ausprägungen wie Wicca, die Religion
der Hexen, oder Thelema sind auf den Orden zurückzuführen. Ebenso beschäftigten
sich die Mitglieder mit Alchemie, henochischer Magie, dem Tarot, Astralreisen und
dem Wahrsagen mithilfe von Kristallkugeln. Vor allem jedoch lieferte der Hermetic
Order of the Golden Dawn Inhalte und Ideen.

Eine prägende Figur aus dem Her-


metic Order of the Golden Dawn war
Aleister Crowley. Crowley war 1875
geboren und auf den Namen Edward
Alexander Crowley getauft worden. Er
war der Sohn eines fanatischen Lai-
enpriesters, welcher einer christlich-
fundamentalistischen Sekte angehörte.
Ironischerweise starb der alte Mr. Crow-
ley 1887 an Zungenkrebs und hinterließ
seinem elfjährigen Sohn ein stattliches
Vermögen, welches der alte Großvater
Crowley mit einer Kette aus Pubs in Lon-
don angehäuft hatte.
Ein Jahr nach dem Tod seines Vaters
schickte ihn seine Mutter in ein christli-
ches Internat. Dort dauerte es nicht lan-
ge, bis man ihn umerziehen wollte, weil
der 13 Jahre alte Junge homosexuelle
Kontakte mit anderen Kindern hatte; in
der Praxis bedeutete dies eineinhalb Jah-
re Isolationshaft.
Sieben Jahre später, im Jahr 1895,
begann er, an der Universität Cam-
bridge Geisteswissenschaften zu studie-
ren und unternahm seine ersten literari-
schen Gehversuche. 1896 begann er, sich
für das Keltentum zu interessieren, und
nannte sich fortan „Aleister“.
Abbildung 18.2: Aleister Crowley 1898 führte in sein erwachtes berg-
steigerisches Interesse in die Schweiz,
genauer gesagt in das Berner Oberland.
Dort wurde er George Cecil Jones vorgestellt, der Crowley in den Hermetic Order of
the New Dawn einführte. Im November 1898 trat er dem Orden offiziell bei und durch-
lief in den kommenden Monaten die ersten Grade innerhalb der Ordenshierarchie. Au-

188
18. Eine kurze Reise durch die Zeit

ßerdem veröffentlichte Crowley sein erstes literarisches Werk, einen pornografischen


Gedichtsband mit dem vielsagenden Titel „White Stains“.
Aufgrund seiner homosexuellen Neigungen wurde Aleister Crowley ein Aufstieg
innerhalb des Ordens über den vierten Grad hinaus verweigert. Daher besucht Crowley
im Jahr 1900 einen der Gründer des Golden Dawn, Samuel Liddell MacGregor Ma-
thers, in dessen Wohnung in Paris. Mathers nahm die Weihe vor und löste damit eine
Revolte innerhalb des Ordens aus, in dessen Folge Mathers auch aus dem Orden aus-
geschlossen wurde. Es heißt, Aleister Crowley habe in der Folge in Mathers’ Namen
versucht, den Orden unter seine Kontrolle zu bringen. Der Höhepunkt der Auseinan-
dersetzungen war erreicht, als Crowley in London, mit Kilt und Kapuze bekleidet, ein
Ritual des Ordens unterbrach und es angeblich zu einer Auseinandersetzung mit magi-
schen Attacken kam, in deren Verlauf Crowleys Mantel in Flammen aufgegangen sein
soll.
1903 heiratete Aleister Crowley Rose Edith Kelly und begab sich mit ihr auf eine
Hochzeitsreise, welche über Paris, Marseille und Kairo bis nach Ceylon, dem heutigen
Sri Lanka, führen sollte. Auf dieser Reise versuchte sich das Paar an Beschwörungen
dunkler Mächte. Sie begannen in Kairo auch, hellseherische Fähigkeiten in Rose zu
vermuten, als sie Aleister zu einer altägyptischen Stele des Ankh-af-na-Khonsu führte,
welche eine Opfergabe an den Gott Re-Harachte darstellt. Diese Stele trug im Muse-
umskatalog darüber hinaus noch die Nummer 666, und mit dieser Zahl identifizierte
sich Aleister Crowley schon seit Längerem. Crowley behauptet später, dass ein Abge-
sandter Re-Harachtes, wobei er die Gottheit forthin Ra-Hoor-Khuit nannte, ihm nach
Beschwörungen des Gottes Horus in drei Nächten ein Buch diktiert hatte, welches
später zum Mittelpunkt der Lehre Crowleys und seiner Anhänger wurde: das Liber
AL vel Legis, Crowleys „Buch der Gesetze“. Es ist ein komplizierter und paradoxer
Text, welcher die Gottheiten Nuit, Hadit und Ra-Hoor-Khuit als Prinzipien versteht. In
dem Buch finden sich Prophezeiungen, Hymnen und magische Anweisungen; die drei
Prinzipien wurden später zur Grundlage der neureligiösen Bewegung Thelema.
Die Hochzeitsreise wurde kurz danach abgebrochen, weil Rose schwanger war. Die
gemeinsame Tochter, der sie den Namen Nuit Ma Ahathoor Hecate Sappho Jezebel
Lilith Crowley gaben, starb jedoch im Jahr 1906 im Alter von zwei Jahren.
Im Jahr 1907, nach mehreren Jahren des Reisens und zum Teil tödlich verlaufe-
nen Bergsteigerexpeditionen, gründete Aleister Crowley seinen eigenen Orden, den
Astrum Argenteum, den magischen „Orden des silbernen Sterns“. 1909 erschienen die
ersten beiden Ausgaben seiner Buchreihe Equinox, die erste Ausgabe war Liber AL vel
Legis.
1910, kurz nach seiner Scheidung von Rose, trat er einem abweichlerischen Frei-
maurerorden namens Ordo Templi Orientis bei. Dieser Orden war sehr auf Alchemie
fixiert, doch Aleister Crowley brachte zunehmend seine eigene Lehre aus dem Liber
AL vel Legis ein. 1912 wurde er zum Leiter des englischsprachigen Zweigs des Ordens
ernannt.
Mit dem Ersten Weltkrieg begann der gesellschaftliche Abstieg Aleister Crowleys.
Er emigrierte in die USA und veröffentlichte dort anti-britische Propaganda, womit er

189
Das Dokument des Grauens

sich keine Freunde schuf und was seinen Ruf bis zum Kriegsende grundlegend ruinier-
te. 1920 gründete er in einem kleinen Haus in der sizilianischen Kleinstadt Cefalù eine
Kommune, welche er Abbey of Thelema nannte, benannt nach einem Motiv aus der
Satire „Gargantua and Pantagruel“ von François Rabelais. In ihr lebten die Mitglieder
fernab von Regeln und Gesetzen und konnten tun und lassen, was ihnen Spaß machte.
Außerdem nutzte Crowley das Anwesen als magische Schule.
1923 kam es zu einem folgenschweren Todesfall in der Kommune, als der Englän-
der Frederick Charles Loveday entgegen Crowleys Rat aus einer Quelle trank und sich
mit Typhus infizierte. Lovedays Witwe, Betty May, behauptete jedoch, dass sein Tod
die Folge eines Rituals gewesen sei, in dessen Verlauf Loveday das Blut einer geopfer-
ten Katze trank. Zurück in England gab Betty May viele Interviews und machte massiv
Stimmung gegen Crowley und seine Kommune. Dies führte dazu, dass Aleister Crow-
ley noch im gleichen Jahr von Benito Mussolini des Landes verwiesen wurde. Betty
May strengte einen Prozess an, welchen Aleister Crowley auch prompt verlor und ihn
endgültig aus dem gesellschaftlichen Leben ausschloss. Crowley, der schon bald nach
seinem Eintritt in den Hermetic Order of the Golden Dawn mit Drogen experimentiert
hatte, welche in Sizilien dann auch zunehmend zu einem Problem wurden, stürzte jetzt
endgültig ab.
1925 wurde er in Weilda im Rahmen der sogenannten Weilda-Konferenz von ok-
kulten deutschen Verbänden zum „Weltheiland“ ausgerufen. 1929 publizierte er sein
Buch Magic: In Theory and Practice im Eigenverlag, nachdem sein Ruf es ihm un-
möglich machte, einen Verleger zu finden. 1930 hatte er eine Gemäldeausstellung in
Berlin. Doch letztlich war der heroinabhängige Mann schon lange vor seinem Tod im
Jahr 1947 am Ende.
Aleister Crowleys Erbe ist jedoch noch lebendig. Den Hermetic Order of the Gol-
den Dawn gibt es noch heute, sogar als eingetragenes Warenzeichen und einer in Berlin
ansässigen deutschen Sektion. Ein bekannter Vertreter der abgedrehten Gedankenspie-
le, welche den Zirkel während Aleister Crowleys bester Zeit verließen, ist Sax Roh-
mers Roman The Insidious Dr. Fu-Manchu: Being a Somewhat Detailed Account of
the Amazing Adventures of Nayland Smith in His Trailing of the Sinister Chinaman
aus dem Jahr 1913 1 . Pentagrammsymbole und -rituale entstammen noch heute meist
unverändert aus dem Golden Dawn und den Lehren Crowleys. Der Einfluss des Zirkels
und Crowleys als Person auf Film und Literatur ist allgegenwärtig, Filme mit okkulten
Messen als Inhalt gehen in die Hunderte. Darunter befindet sich die gesamte Bandbrei-
te von Schrott bis hin zu großartigen Werken wie Horror Hotel (1960), The Dunwich
Horror (1978) oder Eyes Wide Shut (1997). Selbst in der Popkultur findet Aleister
Crowley immer wieder seinen Platz; zum Beispiel ehrte der Musiker Marilyn Manson
ihn in seinem Song Misery Machine mit der Zeile „We’re gonna ride to the Abbey of
Thelema, to the Abbey of Thelema“.

1
In Kurzform: Sax Rohmer brachte uns die Gestalt des Dr. Fu-Manchu. Angesichts der Qualität der
auf diesem Werk beruhenden Filme scheinbar ein zweifelhaftes Vergnügen, aber der Roman - und nicht
nur sein Titel - ist wirklich außergewöhnlich.

190
Kapitel 19

1907

Manchmal wird der zeitliche Abstand zwischen dem Vorgestern und dem Heute am
schnellsten greifbar, wenn der Zeitraum an Dingen erfahrbar wird, welche zum Alltag
gehören und als unverzichtbar gelten. 1907 ist ein Jahr, in welchem eine solche Er-
findung gemacht wurde. Schellack war damals das Allheilmittel der Elektroindustrie.
Allerdings war der Werkstoff, aus welchem auch Schallplatten gemacht wurden, nicht
nur empfindlich, sondern aufgrund der hohen Nachfrage auch teuer. Auf der Suche
nach einem Ersatzstoff tüftelte der fleißige Wissenschaftler jahrelang im Labor und
1907 gelang ihm ein Durchbruch. Er verkochte Phenol mit Formaldehyd unter hohem
Druck und entdeckte das Bakelit, den Vorreiter aller heutigen Kunststoffe.
Doch lassen Sie uns die Brücke zur Filmwelt schlagen. Sidney Olcott drehte Ben
Hur (1907), ohne vorher die Rechteinhaber an Lewis Wallaces Roman um Erlaubnis
gefragt zu haben, und löste damit den ersten Urheberrechtsprozess der Filmgeschichte
aus.
Am 10. Juni fiel in Peking der Startschuss zu einem Rennen, welches aus einer
Abenteuerkomödie der 60er oder 70er Jahre entsprungen sein könnte. Das längste Au-
tomobilrennen der Welt hatte fünf Wagen am Start und führte durch Sibirien und über
Moskau bis nach Paris, insgesamt über 12.000 km Strecke. Nach exakt einem Monat
wurde am 10. August 1907 die Ziellinie überquert, und wie es sich natürlich für ein
solches Rennen gehört, war der Gewinner, Scipione Borghese, natürlich ein Prinz. Fast
drei Wochen später traf mit Charles Goddard am 30. August das zweite Auto in Paris
ein, die anderen drei Wettbewerber schafften die lange Reise nicht.
Auch 1907 wurden großartige Künstler geboren. Der zukünftige Regisseur und
Schauspieler Laurence Olivier kam am 22. Mai auf die Welt, kurz nach Katharine
Hepburn (12. Mai). John Wayne kam vier Tage später am 26. Mai, gefolgt von Barba-
ra Stanwyck am 16. Juli und einer der großen Ikonen des Horrorfilms, der zukünftigen
Scream Queen Fay Wray (15. September). Großartige Regisseure dieses Jahrgangs
waren Fred Zinnemann, Jacques Tati und Henri-Georges Clouzot, keiner von ihnen
jedoch sonderlich affin zum Horrorgenre. Mit der Geburt von Daphne du Maurier am
13. Mai betrat jedoch immerhin eine Autorin die Bühne des Lebens, die für drei ganz
große Genreklassiker sorgen würde. Sie erdachte die gleichnamigen literarischen Vor-

191
Das Dokument des Grauens

lagen für zwei Genrefilme von Alfred Hitchcock, nämlich Rebecca (1939) und The
Birds (1963) sowie Nicolas Roegs Venedigalbtraum Don’t Look Now (1973). Von
allen drei Filmen existieren außerdem Remakes und teilweise auch Fortsetzungen.

Hinsichtlich des Sujets des Grauens übte sich Georges Méliès 1907 in auffälliger
Zurückhaltung. Sein aufwendigster Film des Jahres war La tunnel sous la manche,
ou le cauchemar franco-anglais, in welchem die Staatsoberhäupter Frankreichs und
Englands davon träumen, einen Eisenbahntunnel unter dem Ärmelkanal zu bauen, bis
es in dem Traum zu einem Zugunglück kommt und die beiden Präsidenten daraufhin
die Planungen beerdigen. Auch wenn der Filmtitel aufgrund seiner Anspielung auf
einen Albtraum eine Nähe zum Horror suggeriert und der Film daher auch in manchen
Filmografien gelistet wird, ist dies jedoch absolut nicht zutreffend. Der einzige 1907
entstandene Film von Méliès, welcher gruselige Motive beinhaltet, ist Le placard in-
fernal (1907)1 . Der als verschollen geltende Film zeigte einen Schrank, in welchen
zwei junge Frauen hineinsteigen. Tür zu, Tür auf, und anstelle der beiden Frauen ent-
steigen dem Schrank zwei grässliche Ungeheuer.

Gaumont veröffentlichte 1907 mit


Faust (1907)2 den ersten Tonfilm des
Horrorgenres. Diese Fassung von Faust
(1907) ist jedoch nicht primär auf den
klassischen Stoff fixiert, in welchem der
alte Faust seine Seele im Tausch gegen
ewige Jugend an den Teufel verscher-
belt, sondern der Ton ist der eigentli-
che Grund für die Entstehung des Films.
Der Regisseur Arthur Gilbert filmte eine
Aufführung der gleichnamigen Oper von
Charles Gounod ab und teilte diese in 22
Abbildung 19.1: Werbeanzeige von Gau- Akte auf. Jeder dieser Akte belegte eine
mont für eine frühe Version seines Tonsy- Filmrolle von etwa 3 Minuten Laufzeit.
stems, ähnlich wie es auch für Faust (1907) Beim Tonsystem handelte es sich um das
eingesetzt wurde 1902 von Léon Gaumont erfundene und
seitdem stetig weiterentwickelte Chrono-
phone. Hierbei wurden zwei Grammofone von einem gemeinsamen Motor angetrie-
ben. Es waren zwei Grammofone, weil dies dem Vorführer erlaubte, auf jeweils einem
Plattenteller den Tonträger zu wechseln, ohne dass die Vorführung hierfür unterbro-
chen werden musste. Die von der Nadel aufgenommenen Tonschwingungen wurden
durch einen Druckluft-Verstärker im wahrsten Sinne des Wortes soweit aufgeblasen,
1
Le placard infernal, aka The Bewildering Cabinet (Star Film, Frankreich 1907, Regie: Georges
Méliès)
2
Faust (Gaumont, Frankreich / UK 1907, Regie: Arthur Gilbert, Musik: Charles Gounod, Tonsystem:
Chronophone Sound-On-Disc System, Länge: ca. 60 Minuten)

192
19. 1907

dass der durch die Trichter erzeugte Schalldruck auch für größere Räume mit bis zu
4000 Zuschauern ausreichen sollte. Diese Apparatur wurde von Gaumont dann hinter
der Leinwand postiert, wodurch das Chronophone für die Zuschauer unsichtbar wur-
de, der Ton aus der gleichen Richtung wie das Bild erschallte und der Bediener des
Chronophones das Geschehen im Film auch direkt vor Augen hatte.

Der fleißigste Schöpfer von fantasti-


schen Filmen in Frankreich war in die-
sem Jahr Segundo de Chomón im Auf-
trag der Pathé Frères. In Le scarabée
d’or (1907)3 erscheint ein orientalisch
gekleideter Zauberer auf der Bühne und
beschwört einen goldenen Käfer, darge-
stellt durch eine Tänzerin mit sechs ange-
klebten Insektenflügeln. Doch der Käfer
sinkt langsam aus der Luft hinab und ver-
schwindet hinter Wasserfontänen. Doch
dann kehrt der Käfer zurück, diesmal je- Abbildung 19.2: Le scarabée d’or (1907)
doch in Fontänen aus Feuer und Rauch.
Zwei Gehilfinnen packen schließlich den Zauberer auf Geheiß des Käfers und dieser
verbrennt in einer auflodernden Flamme.
Der handkolorierte Film strotzt vor Fantasie und aufwendiger Pyrotechnik. Die
Laufzeit ist mit etwas über 2 Minuten auf den ersten Blick sehr kurz, aber wie viele
Werke von Segundo de Chomón ist er sehr exzentrisch ausgefallen und erweist sich
als gerade lange genug. Le scarabée d’or (1907) erzählt schließlich keine sinnvolle
Geschichte, sondern ist eine reine Freude für die Augen; vor allem die Spezialeffekte
der Feuerwerke sind sehenswert. Doch wenn der Film zu Ende ist, hat man davon auch
genug.

La légende du fantôme (1907)4 erzählt die Geschichte einer Frau, von welcher
ein Geist verlangt, dass sie in die Hölle zu Satan reise und ein Lebenselixier vom Teu-
fel besorge. Doch Satan ist gewarnt und schickt ihr seine Schergen entgegen, darunter
ein Vampir sowie mehrere Dämonen. Die junge Frau erlebt wilde Abenteuer, bis sie
schließlich zu dem Geist zurückkehrt und dieser sich wieder in einen Mann verwandelt.

La maison hantée (1907)5 war Segundo de Chomóns Version des klassischen Mo-
tivs eines Hauses, in welchem mysteriöse Dinge geschehen. Der Film gilt als verloren,
3
Le scarabée d’or, aka The Golden Beetle (Pathé Frères, Frankreich 1907, Regie, Kamera: Se-
gundo de Chomón, Länge: ca. 55m, 2 Minuten)
4
La légende du fantôme, aka Legend of a Ghost (Pathé Frères, Frankreich 1907, Regie, Kamera:
Segundo de Chomón, Länge: ca. 310m, 16 Minuten)
5
La maison hantée, aka The Haunted House (Pathé Frères, Frankreich 1907, Regie, Kamera:
Segundo de Chomón, Länge: ca. 55m, 2 Minuten)

193
Das Dokument des Grauens

doch ist anzunehmen, dass es sich nur um eine weitere Variation des durch Georges
Méliès mehrfach behandelten Stoffes handelt.

Wenn Sie einen Eindruck davon ha-


ben möchten, wie sehr Georges Méliès
ungeachtet seiner handwerklichen Fähig-
keiten künstlerisch auf der Stelle trat, so
schauen Sie sich Segundo de Chomóns
Satan s’amuse (1907)6 an. Chomón wil-
dert hier sozusagen in Méliès’ Wohn-
zimmer, denn er zeigt den Teufel beim
Ausüben von Zaubertricks inmitten ge-
malter Studiokulissen. Wir haben es also
mit jenen Elementen zu tun, welche den
Kern des Schaffens von Georges Méliès
Abbildung 19.3: Der in Nahaufnahme bilden. Segundo de Chomón beschränkt
gedrehte Flaschentrick aus Segundo de sich jedoch nicht auf eine theaterhafte
Chomóns Satan s’amuse (1907) Inszenierung eines Bühnenauftritts, wie
wir es von seinem berühmten Vorgänger
gewohnt sind. Bei Chomón agieren die Darsteller nicht nur von links nach rechts und
die gezeigten Tricks und Kulissen müssen das Interesse des Zuschauers nicht im Al-
leingang binden.
Segundo de Chomón inszeniert die Zaubertricks zügig und sie füllen meist das
gesamte Bild aus. Der Film verfügt über eine ausgeprägte optische Tiefe, denn der
Teufel bewegt sich auch weit in den Bildhintergrund, ja in einer Szene mit in Flaschen
gefangenen kleinen Frauen sogar ganz nahe an den Zuschauer heran, sodass er das
Gesicht Satans in Großaufnahme sehen kann. Der Teufel ist auch kein tanzender grüner
Kobold, sondern wahrhaftig gruselig: Satan erscheint als Skelett, inklusive der Hörner
auf dem Totenschädel, und da macht es auch nichts aus, dass die Knochen nur auf
einen schwarzen Anzug aufgemalt sind.
Satan s’amuse (1907) wurde durchgehend von Hand koloriert. Von dem Film gibt
es eine weitere Fassung mit dem Titel Le spectre rouge, welche nicht koloriert, son-
dern lediglich mit roter Farbe viragiert war. Außerdem ist diese Fassung seitenverkehrt
kopiert, also linke und rechte Seite des Bildes sind vertauscht. In Filmenzyklopädien
und Filmdatenbanken taucht diese Fassung oftmals als eigenständiger Film auf, doch
dem ist nicht so; abgesehen von der Farbgebung, der vertauschten Seiten und dem ge-
änderten Titel sind beide Filme völlig identisch.

6
Satan s’amuse, aka Le spectre rouge, aka Satan s’amuse, aka The Red Spectre (Pathé Frères,
Frankreich 1907, Regie: Segundo de Chomón, Ferdinand Zecca, Drehbuch, Kamera: Segundo de
Chomón, Darsteller: Julienne Mathieu, Länge: ca. 190m, 9 Minuten)

194
19. 1907

Le baiser de la sorcière (1907)7 war ein weiterer handkolorierter Film, in welchem


sich neben Chomóns Exzentrik auch die oft vorzufindende Konfusion und Hektik in
der Erzählung wieder findet. Auch bei Le baiser de la sorcière (1907) fällt es dem Zu-
schauer nicht leicht, der Geschichte zu folgen, die allerdings auch nur eine Nebenrolle
neben den Spezialeffekten innehat.
Eine Hexe sitzt in ihrer Höhle, umgeben von allerlei Getier. Plötzlich erscheint in
einer Rauchwolke der Teufel. Die Hexe drückt ihm ein Glas in die Hand und verblüfft
ihn mit allerlei Tricks: Sie lässt das Glas größer werden, eine schöne Frau erscheint
darin und verwandelt sich schließlich in eine Spinne, und selbst ein kleiner tanzender
Teufel ist darin zu sehen.
Dann gibt es eine große Explosion. Der Teufel ist verschwunden und ein sichtlich
nervöser junger Mann betritt die Szene. Die Hexe deutet ihm an, dass er sie küssen
möge. Nun ja, er tut es, und daraufhin verwandelt er sich in einen Prinzen. Dann küsst
die Hexe ihn und verwandelt sich in eine hübsche Frau.
Im großen Finale lässt sie für ihren Prinzen einen großen qualmenden Monsterkopf
erscheinen, aus welchem Feuerwerk hervorquillt und schöne Tänzerinnen schweben
durch die Luft. Der Teufel kehrt zurück und beginnt, mit zwei brennenden Fackeln in
der Hand zu tanzen.
Ja, was soll man sagen? Der Film ist sehr schön anzusehen, aber inhaltlich nur Un-
fug.

Ein weiterer Hexenfilm Chomóns war der inzwischen als verloren geltende Le
secret de la sorcière (1907)8 . Über diesen Film ist kaum etwas bekannt, weshalb er
wegen seines ähnlich klingenden Titels auch leicht mit Le baiser de la sorcière (1907)
verwechselt werden kann. Wir wissen, dass in dem Film eine Hexe zu sehen ist, wel-
che auf ihrem Besen reitet, was in Le baiser de la sorcière (1907) nicht vorkommt.
Das im Filmtitel erwähnte Geheimnis der Hexe sind auch keine Zaubertricks, sondern
dass sie Unrat in Geld verwandeln kann.

Bei Le pêcheur de perles (1907)9 überließ Segundo de Chomón die Regiearbeit


seinem Kollegen Ferdinand Zecca, kümmerte sich aber selbst um die Kameraarbeit,
Effekte und die abschließende Kolorierung des Films. Le pêcheur de perles (1907)
erzählt von einem Perlenfischer, der sich bei einem Brunnen ausruht. Da erscheinen
fünf Jungfrauen über dem Brunnen und der Held der Geschichte fällt in den Brunnen
hinein.
Auf dem Grund des Meeres angekommen, trifft der Mann auf allerlei monsterähn-
liche Tiere, darunter einen Oktopus und einen Hai. Er trifft auf die Anführerin der
7
Le baiser de la sorcière, aka The Witch Kiss (Pathé Frères, Frankreich 1907, Regie, Kamera:
Segundo de Chomón, Länge: ca. 115m, 6 Minuten)
8
Le secret de la sorcière, aka The Witch’s Secret (Pathé Frères, Frankreich 1907, Regie, Kamera:
Segundo de Chomón, Länge: ca. 75m, 3 Minuten)
9
Le pêcheur de perles, aka The Pearl Fisher, aka Down in the Deep (Pathé Frères, Frankreich
1907, Regie: Ferdinand Zecca, Drehbuch, Kamera: Segundo de Chomón, Länge: ca. 160m, 8 Minuten)

195
Das Dokument des Grauens

Meerjungenfrauen und verbringt eine Nacht mit ihr. Für seine Liebesdienste wird er
mit Perlen bezahlt. Als er wieder zuhause ist, bringt er diese Perlen seiner Verlobten,
welche ihr beider Haus damit schmückt.
Ganz schön moralisch verdorben, oder nicht? 80 Filmjahrzehnte später hätte der
Gigolo für sein Fremdgehen auf blutige und schmerzhafte Weise sterben müssen, zu-
mindest in amerikanischen Produktionen. Aber 1907 sah man dies wohl noch nicht so
eng, zumindest nicht in Frankreich. Nicht so eng sehen sollte man als Horrorfreund
auch das Ambiente des Films, denn eigentlich handelt es sich um einen Fantasystrei-
fen. Eine Erwähnung verdient sich der Film dennoch, denn die gezeigten Seemonster
waren 1907 eine durchaus gruselige Attraktion.

Als letzter Beitrag der Pathé Frères zum Horrorfilmjahr 1907 sei noch ein Film
erwähnt, welcher einen Albtraum für Filmhistoriker darstellt. Denn wir wissen von
dem Film, abgesehen von seiner Länge und Frankreich als Herkunftsland, eigentlich
gar nichts. Noch nicht einmal seinen Originaltitel, auch keinen Regisseur.
Aber dennoch kann man sich denken, worum es in diesem Film ging. In Großbri-
tannien wurde er nämlich unter dem Namen Little Red Riding Hood (1907)10 auf-
geführt, und das ist nichts anderes als der englischsprachige Titel des Märchens um
Rotkäppchen und den bösen Wolf. Dies muss die zweite Verfilmung der Geschichte
gewesen sein, nach Le petit chaperon rouge (1901). Es ist ausgeschlossen, dass es
sich bei Little Red Riding Hood (1907) um eine Neuvermarktung der Fassung aus
dem Jahr 1901 handelt, denn diese wurde damals von George Méliès gedreht und Mé-
liès saß auf seinen Urheberrechten wie eine Henne auf ihren Eiern - und der Gedanke
an eine potenzielle Lizenzierung an seine größten Konkurrenten auf dem Heimatmarkt
erscheint als sehr abwegig.

Gaston Velle, eigentlich damals vornehmlich für die Pathé Frères arbeitend, aber
dennoch keineswegs an sie gebunden, drehte in Italien einen Film namens Patto in-
fernale (1907)11 . Es ist die Geschichte eines Uhrmachers, welcher dummerweise die
Aufmerksamkeit Satans auf sich lenkt. Als der Teufel schließlich versucht, sich die
Seele des Uhrmachers zu holen, wird er von dessen Tochter mithilfe eines Kruzifixes
verjagt.
Dieser Film ist eine der großen Raritäten aus der Anfangszeit des Kinos. Die Exi-
stenz ist aufgrund des Vertriebs in den USA bekannt, aber die meisten Berichte sind
ungenau. Aufgrund der Regiearbeit Gaston Velles wird der Film oftmals als franzö-
sische Produktion der Pathé Frères deklariert, aber dies ist nicht richtig. Gaston Velle
drehte mehrere Filme für die Società Italiana Cines, und dies ist einer davon.

10
Little Red Riding Hood (Pathé Frères, Frankreich 1907), Länge: ca. 100m, 5 Minuten)
11
Patto infernale, aka The Clock Maker’s Secret, aka The Watchmaker’s Secret (Società Italiana
Cines, Italien 1907, Regie: Gaston Velle, Länge: ca. 228m, 15 Minuten)

196
19. 1907

Im Vereinigten Königreich entstanden eine Reihe von Filmen, welche uns interes-
sieren. Beginnen wir mit den Werken, welche Cecil M. Hepworth veröffentlichte. Sein
Regisseur Lewin Fitzhamon zeichnete für The Doll’s Revenge (1907)12 verantwort-
lich. Ein böser Junge nimmt seiner Schwester die Puppe weg und reißt sie auseinander.
Doch dann setzen sich die Körperteile der Puppe wieder zusammen, sie wächst ... bis
eine weitere Riesenpuppe erscheint. Zusammen reißen sie den verzogenen Bengel in
Stücke und fressen ihn auf.

Vom gleichen Team stammt The Ghost’s Holiday (1907)13 . Der verschollene Film
erzählte von Geistern und Skeletten, welche sich eine Auszeit vom Totsein nehmen,
den Friedhof verlassen und eine Party in einem Hotel feiern.

Und in A Painless Extraction (1907)14 , dem dritten und letzten Beitrag aus Hep-
worths Produktionsstätten, besucht ein Mann den Zahnarzt, um sich einen Zahn ziehen
zu lassen. Der Zahnarzt pumpt den Patienten dann mit so viel Lachgas voll, dass des-
sen Kopf davonschwebt.

Auch Walter R. Booth ist stets da-


bei, wenn es um alte Stummfilme aus
Großbritannien geht. So auch 1907, doch
nur einer seiner diesjährigen Filme über-
lebte bis heute: Willie’s Magic Wand
(1907)15 .
Willies Vater hat einen Zauberstab
und führt diesen seinem Sohn vor. Willie
ist begeistert und klaut den Zauberstab
umgehend. Sodann zieht der kleine Rotz-
bengel durch die Gegend und sorgt für
Ungemach. Interessant für Horrorfreun- Abbildung 19.4: Noch liegt der Fisch auf
de ist der Film wegen einer Szene, in dem Tisch: Willie’s Magic Wand (1907)
welcher eine Dienstmagd arbeitet. Willie
lässt einen auf dem Tisch liegenden Fisch als Monsterfisch in der Küche umherflie-
gend, während die Magd aus Angst ziemlich aus dem Häuschen ist.

12
The Doll’s Revenge (Hepworth, UK 1907, Regie: Lewin Fitzhamon, Darsteller: Gertie Potter,
Bertie Potter, Länge: ca. 75m, 3 Minuten)
13
The Ghost’s Holiday (Hepworth, UK 1907, Regie: Lewin Fitzhamon, Darsteller: Gertie Potter,
Thurston Harris, Länge: ca. 180m, 7 Minuten)
14
A Painless Extraction (Hepworth, UK 1907, Länge: ca. 130m, 5 Minuten)
15
Willie’s Magic Wand (Urban Trading Company, UK 1907, Regie: Walter R. Booth, Länge: ca.
98m, 3 Minuten)

197
Das Dokument des Grauens

When the Devil Drives (1907)16 begleitet eine Familie auf ihrem Weg zum Bahn-
hof in einem Taxi. Doch plötzlich verschwindet der Fahrer und an seiner Statt sitzt der
Teufel hinter dem Lenkrad.
Am Bahnhof angekommen scheint wieder alles in Ordnung zu sein, doch der Teu-
fel kehrt als der Lokführer zurück. Der Zug erhebt sich in die Lüfte, taucht hinab auf
den Meeresgrund und stürzt in einen Abgrund. Am Ende erscheint das lachende Ge-
sicht des Teufels als Close-up.
When the Devil Drives (1907) war recht erfolgreich und erlebte im Jahr 1913 eine
Neuauflage.

Als ob es nicht schon genug Kurzfilme über unheimliche Schafzimmer gegeben


hätte, drehte Walter R. Booth The Haunted Bedroom (1907)17 . Über den Film ist nur
noch wenig bekannt, allerdings dürften wir wohl auch nur wenig verpassen.

Auch über Booths The £1,000 Spook (1907)18 wissen wir kaum noch etwas ... au-
ßer dass in dem Film ein Zauberer einen Nebel erschafft, aus dem sich der Geist einer
Frau herausschält. Der Hintergrund dieses Geschehens bleibt im Dunkeln.

Robert W. Paul produzierte ebenfalls einen Film, über welchen sich der Mantel des
Vergessens senkte. A Knight Errand (1907)19 ist die Geschichte eines Ritters, der
eine Prinzessin befreien möchte. Diese wird von einem Oger, einer Hexe und einem
Zwerg gefangen gehalten. Mit der Hilfe einer Fee schafft der Ritter es am Ende auch
und die holde Dame ist wieder in Freiheit.

Percy Stow drehte für Clarendon eine weitere Fassung von Robert Brownings Ge-
dicht über den Rattenfänger von Hameln, A The Pied Piper (1907)20 . Das Drehbuch
stammt von dem Autor und Schauspieler Langford Reed, der auch bereits das Skript
für A Knight Errand (1907) lieferte und dort auch die Hauptrolle übernahm. A The
Pied Piper (1907) gilt als verschollen.

Auch A Oh, That Molar! (1907)21 blieb uns nicht erhalten. In dieser kleinen un-
abhängigen Produktion hat ein Mann Zahnschmerzen und träumt, dass die Zähne in
16
When the Devil Drives (Urban Trading Company, UK 1907, Regie: Walter R. Booth, Länge: ca.
130m, 5 Minuten)
17
The Haunted Bedroom (Urban Trading Company, UK 1907, Regie: Walter R. Booth, Länge: ca.
83m, 3 Minuten)
18
The £1,000 Spook, aka The 1,000 Pound Spook, aka The Thousand Pound Spook (Urban
Trading Company, UK 1907, Regie: Walter R. Booth, Länge: ca. 52m, 2 Minuten)
19
A Knight Errand (Robert W. Paul, UK 1907, Regie: J. H. Martin, Drehbuch, Darsteller: Langford
Reed, Länge: ca. 160m, 8 Minuten)
20
The Pied Piper (Clarendon, UK 1907, Regie: Percy Stow, Drehbuch: Langford Reed, Länge: ca.
252m, 12 Minuten)
21
Oh, That Molar! (Alpha Trading Company, UK 1907, Regie: Arthur Melbourne Cooper, Länge:
ca. 71m, 3 Minuten)

198
19. 1907

seinem Mund herumtanzende Teufelchen seien.

1907 drehte ein dänischer Regisseur namens Viggo Larsen den ersten Genrebeitrag
aus einem nordischen Land. Fyrtøjet (1907)22 ist die älteste Verfilmung des Kunstmär-
chens Das Feuerzeug von Hans Christian Andersen. Ein Soldat raubt einer Hexe ein
magisches Feuerzeug, welches einen Hund beschwört, der ihm Reichtum bringt. Der
Soldat erreicht so Einfluss, aber als er eine Prinzessin zu begehren beginnt, droht ihm
letztlich die Todesstrafe.
Dieser legendäre dänische Film, der im Gegensatz zu den meisten bisher bespro-
chenen Werken auch in Deutschland aufgeführt wurde, entstand in den Kopenhagener
Filmstudios des Filmpioniers Ole Olsen, der auch später Den graa dame (1909), ein
Abenteuer mit Sherlock Holmes und Dr. Watson, sowie eine Verfilmung von Robert
Louis Stevensons The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde mit dem Titel Den
skæbnesvangre opfindelse (1910) finanzierte. Viggo Larsen spielt selbst die Rolle
des Soldaten und in der Rolle des ersten Dieners ist Robert Storm Petersen zu sehen,
ein bekannter Schriftsteller und Karikaturist.

Von der anderen Seite des Atlantiks kamen auch einige wenige Produktionen, wel-
che wir zur Kenntnis nehmen sollten. Beginnen wir mit dem wohl interessantesten
Werk, Vitagraphs Produktion Liquid Electricity (1907)23 . Ein verrückter Wissen-
schaftler reibt sich selbst mit „flüssiger Elektrizität“ ein und erlebt einen ungeheuren
Effekt. Wie von ungeheuren Kräften angetrieben, saust er blitzschnell durch die Sze-
nerie.
Flüssige Elektrizität ist einer der großen Mythen des angebrochenen 20. Jahrhunderts.
Es handelt sich dabei um die destillierte Essenz der Elektrizität in flüssiger Form, ein
ungeheurer Energiespeicher. Normalerweise in Flaschen abfüllbar, dient es angeblich
als Treibstoff für Autos und Schiffe, ja es kann in manchen Varianten sogar von Men-
schen getrunken werden. Eigentlich aus der Science-Fiction entstammend, diente flüs-
sige Energie zu jener Zeit vor allem der plausiblen Erklärung eines Zeitraffertricks,
welcher alle Bewegungen auf Film wesentlich schneller erscheinen ließ, als sie in der
Realität waren, indem die Einzelbilder eines Films einfach wesentlich schneller abge-
spielt wurden. Das angebliche wissenschaftliche Untermauern eines simplen Spezial-
effekts hatte Erfolg, denn Zeitrafferaufnahmen waren im Komödiensektor noch einige
Jahre lang sehr beliebt. Und wenn immer eine wissenschaftliche Erklärung benötigt
wurde, wurde flüssige Elektrizität genannt.

22
Fyrtøjet, aka The Tinder Box, aka Das Feuerzeug ( Nordisk Film, Dänemark 1907, Produzent:
Ole Olsen, Regie: Viggo Larsen, Kamera: Axel Sørensen Graatkjær, Darsteller: Viggo Larsen, Oda
Alstrup, Gustave Lund, Petrine Sonne, Robert Storm Petersen, Valdemar Petersen, Clara Nebelung,
Länge: ca. 13 Minuten)
23
Liquid Electricity, aka The Inventor’s Galvanic Fluid (Vitagraph, USA 1907, Regie: J. Stuart
Blackton, Länge: ca. 143m, 7 Minuten)

199
Das Dokument des Grauens

Vitagraph vertrieb ebenfalls The Haunted Hotel (1907)24 . Ein Reisender über-
nachtet in einem Gasthaus und wird von Geistern geplagt. Auch geschehen mysteriöse
Dinge in dem Zimmer: Seine Kleider gehen ohne ihn aus dem Raum und der Raum
beginnt, sich zu drehen. Verhüllte Personen mit großen Kapuzen tanzen um sein Bett
und ein Dämon reißt eine Wand ein. Dies ist ein typischer Geisterzimmerfilm, wie er
in Europa bereits zuhauf entstanden war.

Eine kleine Produktionsgesellschaft namens Kalem hatte 1907 einen nicht minder
unbedeutenden Film geschaffen, der sich jedoch interessant anhört. Angeblich bekam
das Publikum in Nature’s Fakirs (1907)25 ein Monster zu sehen, welches einem Huhn
ähnelt. Dieses Monster attackiert einen Professor und dessen Assistent. Das war auch
schon alles, was man über den Film und seine Herkunft weiß. Kalem war nur bis 1918
tätig und Nature’s Fakirs (1907) zählt zu den unbekannteren Werken dieser kleinen
Firma.

Ein makabrer Scherz in Bildern ist Siegmund Lubins Too Much Mother-in-Law
(1907)26 wohl gewesen. Schade, dass der Film nicht erhalten blieb, denn die Inhalts-
angabe aus Lubins Katalog liest sich sehr erfrischend.
Ein frisch verheiratetes Paar schafft es einfach nicht, Distanz zwischen sich und
Mutter der Braut zu bringen. Irgendwann hält der Ehemann es nicht mehr aus und
nimmt sich das Leben. Erschüttert über ihren Verlust begeht auch die Braut Selbst-
mord.
Wie es sich für gute Katholiken gehört, kommen die beiden Verliebten selbstver-
ständlich in die Hölle. Endlich haben sie Zeit für sich selbst. Aber falsch gedacht ...
die penetrante Schwiegermutter tötet sich ebenfalls, um weiter bei den beiden sein zu
können.

Etwas ernsthafter ging es in Lubins The Visions of a Crime (1907)27 zu. Ein Mann
träumt in der Nacht von einem Mord. Am nächsten Tag findet er eine Leiche, und zwar
an genau der Stelle, an welcher der Mord in seinem Traum geschah ...
Auch dieser Film, dessen Inhaltsbeschreibung Assoziationen zu modernen Mystery-
Thrillern weckt, ist leider inzwischen verloren.

Lange Zeit vergessen war The Professor and his Waxworks (1907)28 . Bei die-
sem Film muss es sich um die älteste Variation des späterhin beliebten Themas eines
Wachsfigurenkabinetts handeln, denn es heißt, ein Wissenschaftler verwandle Wachs-
24
The Haunted Hotel (Vitagraph, USA 1907, Regie: J. Stuart Blackton, Kamera: Albert E. Smith,
Länge: ca. 153m, 8 Minuten)
25
Nature’s Fakirs (Kalem, USA 1907, Länge: ca. 8 Minuten)
26
Too Much Mother-in-Law (Lubin Manufacturing Company, USA 1907)
27
The Visions of a Crime (Lubin Manufacturing Company, USA 1907)
28
The Professor and his Waxworks (Williams, Brown & Earle, USA 1907, Länge: ca. 217m, 11
Minuten)

200
19. 1907

figuren in lebende Wesen.

Ebenfalls rätselhaft ist ein Film mit dem Namen Babes in the Woods (1907)29 .
Dies war ein Märchenfilm, in welchem Frau Bär versucht, zwei Kinder zu fangen, um
sie grillen und dann zu verspeisen. Der Film wird schon lange gesucht und ist insofern
etwas mysteriös, da er von den Miles Brothers produziert wurde, einer kleinen Produk-
tionsgesellschaft der Brüder Harry, Earl und Herbert Miles, die für Dokumentarfilme
bekannt war. Bekannt sind vor allem ihre Aufnahmen der Folgen des Erdbebens von
San Francisco, wobei auch ihr gerade erst gegründetes Studio den Flammen zum Opfer
fiel, in dem noch kein einziger Film produziert worden war. War Babes in the Woods
(1907) vielleicht ein Versuch, Geld in die Kasse zu spülen? Ein Testballon, ob man
auch in anderen Filmgenres Erfolg haben könne? Jedenfalls war Babes in the Woods
(1907) nicht erfolgreich und wurde wohl auch schlecht vermarktet, da man heute kaum
noch Hinweise auf den Film finden kann. Die Miles Brothers kehrten zurück zu ihrem
eigentlichen Geschäft, mieteten ein neues Büro in der Mission Street in San Francisco
und spezialisierten sich auf die Dokumentation von Boxkämpfen.

Wie Ihnen bestimmt beim Lesen aufgefallen ist, ist 1907 ein schwieriges Jahr. Das
Filmbusiness befand sich in einem Wandel. Die erste Begeisterung war vorbei und die
legendären Filmemacher aus dem ersten Jahrzehnt der Filmgeschichte kamen allmäh-
lich ins Trudeln, allen voran Georges Méliès. Segundo de Chomón täuscht noch dar-
über hinweg, dass Frankreich drohte, die Führungsrolle in der Welt des fantastischen
Films einzubüßen. Echte Innovationen kamen aus dem Mutterland des künstlerischen
Films nur noch wenige.
Während sich die Filmwirtschaft im Vereinigten Königreich auch nur schleppend
weiterentwickelte, begann die Industrie in den USA immer mehr zu boomen. Kinos
wurden gebaut, im Gegensatz zu Europa konnten viele Filmemacher von diesem Be-
ruf auch leben, und die Inhalte wurden narrativer. Leider fehlten aber noch die ganz
großen Studios, echte Alternativen zu den glanzvollen französischen Verleihen wie
Pathé oder Gaumont gab es in den USA und Großbritannien noch keine. Das ist einer
der Gründe dafür, weshalb die Anzahl der jährlichen Produktionen ab 1907 zwar deut-
lich anstieg, aber hiermit auch die Anzahl verschollener Produktionen. Es gab kaum
jemanden, welcher die empfindlichen Filmrollen archivierte. In Frankreich war dies
ein deutlich geringeres Problem, da der künstlerische Wert von Filmen dort schon früh
erkannt worden war, aber in den USA und Großbritannien wurde die Ehre der kor-
rekten Einlagerung zumeist nur den kommerziell erfolgreicheren Werken zuteil, wenn
überhaupt.

29
Babes in the Woods (Miles Brothers, USA 1907, Länge: ca. 126m, 6 Minuten)

201
Das Dokument des Grauens

202
Kapitel 20

1908

Es war der Morgen des 30. Juni 1908, als die Bewohner der sibirischen Handelssied-
lung Wanawara ein gleißend helles Licht erblickten, welches sich gleich einer Säule
aus Licht über den Himmel schob. Etwa 10 Minuten später gab es einen Blitz und ein
dumpfes Geräusch, Artilleriefeuer ähnelnd, erklang. Eine Schockwelle riss die Men-
schen von ihren Füßen, drückte Fenster und Türen ein, zerstörte Hütten. Einheimische,
welche näher an der Quelle des Geschehens lebten, berichteten von Bäumen, welche
reihenweise in Flammen stehend umstürzten. Etwa 65 Kilometer vor Wanawara ent-
fernt war ein kleiner Asteroid niedergegangen und hatte in etwa 5 bis 10 Kilometern
Höhe eine Explosion ausgelöst, welche auf einer Fläche von mehr als der doppelten
Größe Berlins geschätzte 80 Millionen Bäume umknickte. Menschliche Opfer gab es
in dem äußerst dünn besiedelten Gebiet wie durch ein Wunder keine zu beklagen.
Diese Explosion ging als das Tunguska-Ereignis in die Geschichte ein, benannt nach
einem in der Nähe befindlichen Fluss. Weniger Glück hatten die Einwohner Sizili-
ens am 28. Dezember, als das Erdbeben von Messina mehrere Städte verwüstete und
70.000 Menschen ums Leben kam.
Doch es gibt rückblickend auch Gutes aus dem Jahr 1908 zu berichten. Am 17.
August wurde Fantasmagorie von Émile Cohl in Paris uraufgeführt, der erste Zei-
chentrickfilm. Drei Monate später, am 17. November, legten die Pathé Frères mit ihrer
Produktion L’assassinat du duc de Guise (1908), einem Historiendrama um die Er-
mordung eines Herzogs, die künstlerische Messlatte für die Konkurrenz sehr hoch -
es war der erste Film, für den eigens eine Filmmusik komponiert worden war und der
eine aktive dramatische Inszenierung anstelle einer statischen Kamera zeigte.
Am 2. Dezember wurde in Peking der erst zweijährige Pu Yi zum chinesischen
Kaiser gemacht; sein Leben wurde von Bernardo Bertolucci mit The Last Emperor
(1987) verfilmt. Und neben Toblerone und den ersten Brühwürfeln aus dem Hause
Maggi kamen auch George Pal (1. Februar), David Lean (25. März), Bette Davis (5.
April), James Stewart (20. Mai), Fred MacMurray (30. August) und Carole Lombard
(6. Oktober) auf die Welt.
Die Welt des Unheimlichen befand sich in einem Wandel und dieser war 1908 auch
nicht mehr zu übersehen. In der Literatur siechte das Genre nur noch dahin. Und fil-

203
Das Dokument des Grauens

misch befand sich das Genre noch in der frühesten Kindheitsphase. Filme begannen
zunehmend, sich als eigene Kunstform zu emanzipieren und anspruchsvoller zu wer-
den. Aber die guten Filme drohten in einer Flut aus Standardware zu ertrinken. Und
diese Flut war im Vergleich zu den Vorjahren durchaus gewaltig; die Filmwirtschaft
war erfolgreich und dementsprechend wurden auch immer mehr Werke produziert und
auf den Markt geworfen.

1908 betrat Brasilien mit A Mala Sinistra (1908)1 die Bühne des Schreckens. Für
die Filmwirtschaft Brasiliens hat das Jahr 1908 eine weitere Bedeutung, denn A Ma-
la Sinistra (1908) war der zweite Film des Regisseurs Antônio Leal und dessen erster
Spielfilm, ein Kriminalfilm über ein reales Verbrechen mit dem Titel Os Estrangulado-
res (1908), war der erste in Brasilien produzierte Spielfilm überhaupt. Und Brasilien
war ein filmbegeistertes Land, welches bereits durchaus eine Kinokultur vorweisen
konnte - doch das Angebot bestand bis zu diesem Jahr eben ausschließlich aus aus-
ländischen Filmwerken. Diese wurden mitunter nachbearbeitet und manchmal sogar
von brasilianischer Musik begleitet; hinter der Leinwand verborgene Sänger übernah-
men hier die Rolle des vor allem aus Europa bekannten Erzählers. Im gleichen Jahr
entstanden in Brasilien außerdem noch die Komödie Nho Anastácio chegou de via-
gem (1908) sowie Dokumentaraufnahmen eines Fußballspiels zwischen den National-
mannschaften Brasiliens und Argentiniens; wie Sie sehen können, war die inländische
Filmproduktion Brasiliens in der Tat ausgesprochen winzig. Man kann es als einen
Ausdruck der Begeisterung für Film werten, dass A Mala Sinistra (1908) dann auch
gleich eine Vorführdauer von 32 Minuten auf die Waagschale wirft, denn innerhalb des
Gruselgenres ist dies der bisherige Rekord.
Im Kern ist der in Rio de Janeiro gedrehte A Mala Sinistra (1908) ein Kriminal-
film, wie schon sein Vorgänger Os Estranguladores (1908). Und wie dieser bildet A
Mala Sinistra (1908) ein am 1. September 1908 wirklich geschehenes Verbrechen ab:
den Mord an dem Industriellen Elias Farhat durch einen ehemaligen Angestellten, den
23 Jahre alten Michel Trad. Trad lockt Elias Farhat in seine Wohnung und erdrosselt
ihn. Der Grund, weshalb A Mala Sinistra (1908) in dieser Chronik des Horrorfilms
aufgeführt ist, folgt im Anschluss an den Mord. Michel Trad zerstückelt sein Opfer,
damit die Leiche in einen Koffer passt, und wirft den Koffer in das Meer.

Bewegen wir uns nun nach Norden in die Vereinigten Staaten von Amerika. Dort
entstand unter der Regie von Otis Turner ein Film, von dem sich viele Filmhistori-
ker und Horrorfans wünschen, dass er nicht als verschollen klassifiziert sei: Dr. Jekyll
and Mr. Hyde (1908)2 . Dies war die erste Verfilmung von Robert Louis Stevensons
1
A Mala Sinistra (Photo-Cinematographia Brasileira, Brasilien 1908, Regie: Antônio Leal, Dar-
steller: João de Deus, Länge: ca. 640m, 32 Minuten)
2
Dr. Jekyll and Mr. Hyde (Selig Polyscope, USA 1908, Regie: Otis Turner, Drehbuch: George F.
Fish, Luella Forepaugh, nach ihrem gleichnamigen Bühnenstück und der Novelle The Strange Case of
Dr. Jekyll and Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson, Darsteller: Hobart Bosworth , Betty Harte, Länge:
ca. 315m, 16 Minuten)

204
20. 1908

berühmter Novelle The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Viele weitere Verfil-
mungen würden folgen und unabhängig von seiner tatsächlichen filmischen Qualität
ist Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1908) ein bedeutendes Stück Horrorfilmgeschichte. Wir
können auch davon ausgehen, dass Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1908) ein ernsthafter
Horrorfilm war, was nur auf sehr wenige vorher entstandene Genrebeiträge zutrifft.
Grund für diese Annahme ist, dass die beiden Autoren des Films, George F. Fish und
Luella Forepaugh, zusammen mit T. Russell Sullivan das Bühnenstück Dr. Jekyll and
Mr. Hyde verfassten und es bereits 1887 im Londoner Lyceum Theatre aufführten.
Diese Darbietung mit Richard Mansfield als Dr. Jekyll war alles andere als eine Ko-
mödie, sondern eine durchaus angemessene Umsetzung von Stevensons Erzählung.
Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1908) soll sich wiederum sehr stark am Bühnenstück orien-
tiert haben. Der Film bestand ebenfalls aus vier Akten. Wie im Theater senkte und hob
sich zwischen den Akten ein Vorhang. Der wegen seiner Darstellung gefeierte Richard
Mansfield konnte die Rolle seines Lebens jedoch nicht auch im Film verkörpern, denn
er war im Jahr 1907 bereits verstorben.3
Aber all dies sind letzten Endes doch nur Indizien und keine nachweisbaren Tatsa-
chen. Wie von den meisten Filmen aus dem Jahr 1908 überlebten von Dr. Jekyll and
Mr. Hyde (1908) keine Fragmente, ja nichtmal ein Standbild.

Ebenfalls ein verlorener Film ist Siegmund Lubins Produktion eines unbekannten
Regisseurs mit dem Titel The Bloodstone (1908)4 . In einem Katalog Edisons ist der
Film erwähnt; er soll sich um einen verfluchten Ring drehen, der Auslöser für Gewalt-
taten und Todesfälle ist.

Vitagraph vertrieb einen Film mit dem Titel The Devil and the Gambler (1908)5 .
Auch über diesen Film ist nur wenig bekannt. Er handelt von einem Spieler, also einem
moralisch verwerflichen Charakter, welcher schließlich mit dem Teufel selbst um das
Leben seiner Frau spielen muss. Der Film ist weitgehend vom Vorhang des Vergessens
verhüllt. Es gibt allerdings eine Werbeanzeige in der Evening Post aus der neuseelän-
dischen Hauptstadt Wellington, welche ihn bewarb [14].

Vitagraph veröffentlichte auch Galvanic Fluid (1908)6 . Erinnern Sie sich noch
an den Film Liquid Electricity (1907) und das dort genutzte Motiv der „flüssigen
Elektrizität“? Nun, Galvanic Fluid (1908) ist die Fortsetzung dieses Films, gedreht
vom gleichen Regisseur mit dem gleichen Darsteller.

3
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Richard Mansfield in seiner Rolle so überzeugend schrecklich
war, dass er 1888 sogar offiziell verdächtigt wurde, Jack the Ripper zu sein. Er war also nicht nur ein
gefeierter Darsteller, sondern offensichtlich auch gefürchtet.
4
The Bloodstone (Lubin Manufacturing Company, USA 1908)
5
The Devil and the Gambler (Vitagraph, USA 1908), Länge: ca. 160m, 8 Minuten)
6
Galvanic Fluid (Vitagraph, USA 1908, Regie: J. Stuart Blackton, Länge: ca. 143m, 7 Minuten)

205
Das Dokument des Grauens

Dieses Mal reibt Professor Watt jedoch nicht sich selbst mit der mythischen Flüs-
sigkeit ein, sondern verspritzt diese auf andere Personen, welche daraufhin fliegen
können.
Wir sehen, dass das Prinzip „Weiter, schneller, höher!“ bei Fortsetzungen schon
lange vor Alien (1986) Verwendung fand.

Auf den ersten Blick ähnlich gelagert, aber von ungleich größerer Bedeutung für
das Horrorgenre ist Wallache McCutcheons The Invisible Fluid (1908)7 . In diesem
Film kommt ein Junge mit einer Flüssigkeit in Kontakt, welche ihn unsichtbar werden
lässt. Dies bringt ihn dann in Schwierigkeiten.
Dieser Film ist ein Vorgänger von James Whales The Invisible Man (1933) und orien-
tierte sich gleichwohl an dem 1898 erschienenen Roman The Invisible Man von H.G.
Wells, der zu Beginn des Jahrhunderts sehr populär war. In einer Nebenrolle ist der
legendäre Regisseur D.W. Griffith zu sehen.

A Christmas Carol (1908)8 ist eine


Verfilmung der bekannten Weihnachts-
geschichte von Charles Dickens. Der
Film wird Otis Turner als Regisseur zu-
geschrieben, doch dies beruht auf Indizi-
en und nicht auf einer namentlichen Nen-
nung in Katalogen, Produktionsnotizen
oder im Film selbst; es besteht keine hun-
dertprozentige Sicherheit.
Ebeneezer Scrooge ist ein reicher
Geizhals, Sonderling und Menschenhas-
ser. An Weihnachten bekommt er in
Abbildung 20.1: Der Geist zeigt Ebenee-
seinem Büro Besuch von einer Wohl-
zer Scrooge in A Christmas Carol (1908),
fahrtsorganisation, welche um eine klei-
was ihn erwartet: das Grab
ne Spende bittet - doch Scrooge wirft sie
hinaus. Sein Neffe kommt mit Anhang zu
Besuch, um seinem Onkel frohe Weihnachten zu wünschen - doch Scrooge ist nicht
erfreut. Und auf der Straße singt der Pöbel!
Am Abend erscheint Scrooge der Geist Marleys, seines verstorbenen Partners.
Marley warnt Scrooge, dass es ein böses Ende mit ihm nehmen werde, wenn er weiter-
hin so ein Miesmacher bleibe. Marley beschwört Geister, welche Ebeneezer Scrooge
Weihnachtsszenen zeigen, und zwar von Weihnachten aus der Vergangenheit, der Ge-
genwart und Zukunft. Scrooge sieht, wie es ihm einst erging, wie sein Reichtum heute
7
The Invisible Fluid (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1908, Regie: Wallace McCutche-
on, Kamera: G.W. Bitzer, Darsteller: Edward Dillon, D.W. Griffith, Anthony O’Sullivan, Mack Sennett,
Länge: ca. 202m, 10 Minuten)
8
A Christmas Carol (Essanay Film Manufacturing Company, USA 1908, Regie: Otis Turner, Dar-
steller: Tom Ricketts, Länge: ca. 100m, 5 Minuten)

206
20. 1908

etwas bewegen könnte ... und sein Grab, nachdem er einsam und ungeliebt verstorben
sein wird. Scrooge wird hierdurch geläutert.

Der gleiche Vertrieb, die Essanay Film Manufacturing Company, veröffentlichte


noch einen Film mit dem Titel The Somnambulist (1908)9 . Von diesem nicht mehr
erhaltenen Film wissen wir nur, dass darin ein Schlafwandler gezeigt wird, welcher
aus dem Bett steigt, das Haus verlässt, einen Passanten ausraubt und dann das Geld
versteckt, und das alles ohne aufzuwachen.
Diese Geschichte weckt leichte Assoziationen zu Das Cabinet des Dr. Caligari
(1919), in welchem ein Schlafwandler gezielt zur Ausübung von Verbrechen einge-
setzt wird. Hiermit dürften sich die Ähnlichkeiten jedoch bereits erschöpft haben.

Kalem zeigte auf einer Handelsmesse eine Verfilmung nach Washington Irving,
The Legend of Sleepy Hollow (1908)10 . Die Geschichte um den abergläubischen
Schullehrer Ichabod Crane, der auf den kopflosen Reiter trifft, ist ein klassisches Ge-
spensterstück und wurde vielfach verfilmt. Diese frühe und bereits 1908 sehr selten
gezeigte Verfilmung des Stoffes kann sich nicht mit den späteren Adaptionen wie Walt
Disneys The Adventures of Ichabod and Mr. Toad (1949) oder Tim Burtons Sleepy
Hollow (1999) vergleichen. Allem Anschein nach schaffte es The Legend of Sleepy
Hollow (1908) auch nicht in einen regulären Verleih, weshalb er effektiv dem Fachpu-
blikum vorbehalten blieb.

Über Edisons Produktion The Leprechaun (1908)11 ist nur wenig bis nichts be-
kannt. Eine junge Frau und ihr Liebster haben Ärger mit einem reichen Grundbesitzer
und ein Kobold verschafft ihnen Reichtum, vorgeblich um ihnen aus der Patsche zu
helfen. Auch soll eine Hexe in dem Film eine Rolle spielen. Der Film ist verschollen
und es finden sich nur wenige Hinweise auf seine Existenz, u.a. in der Datenbank des
Britischen Filminstituts.

Um Lord Feathertop (1908)12 ist es ähnlich bestellt, allerdings existiert hiervon


immerhin eine Abbildung in der Edisonsammlung der amerikanischen Library of Con-
gress. Eine Hexe hat Ärger mit einem Gutsbesitzer. Daher erweckt sie eine Vogel-
scheuche zum Leben und verwandelt sie in einen Gecken. Es handelt sich hierbei um
die Verfilmung einer Geschichte von Nathaniel Hawthorne, entstanden unter der Regie
von Edwin S. Porter, dem Regisseur von The Great Train Robbery (1903).

9
The Somnambulist (Essanay Film Manufacturing Company, USA 1908)
10
The Legend of Sleepy Hollow (Kalem, USA 1908, Länge: ca. 250m, 14 Minuten)
11
The Leprechaun (Edison, USA 1908)
12
Lord Feathertop (Edison, USA 1908, Regie: Edwin S. Porter)

207
Das Dokument des Grauens

Von Edwin S. Porter stammt auch A Sculptor’s Welsh Rabbit Dream (1908)13 ,
ein weiterer Eintrag in der Filmografie dieser britischen Speise, nach A Welsh Rab-
bit (1903) und The Dream of a Rarebit Fiend (1906). Edwin S. Porter schien eine
gewisse Affinität zu diesem Gericht zu haben, denn alle Filme entstanden in seinem
Dunstkreis oder gar unter seiner Regie.
Dieses Mal nimmt ein Bildhauer das Essen zu sich und träumt hinterher wirres
Zeug. Ein Flaschengeist erweckt eine Statue und einige Büsten zum Leben.

Porter drehte ebenfalls She (1908)14 . Die Königin eines vergessenen Volkes wird
durch eine Flamme gereinigt und unsterblich gemacht. Dies war die zweite Verfilmung
des gleichnamigen Romans von Henry Rider Haggard aus dem Jahr 1886, nach La co-
lonne de feu (1899) von Georges Méliès. Von Porters Film hat keine Kopie bis heute
überlebt.

The Princess in the Vase (1908)15 ist ein Vorfahre der später beliebten Mumien-
filme. Im alten Ägypten hat eine Prinzession eine Affaire, welche durch eine Vision
auffliegt. In der Gegenwart träumt ein Ägyptologe davon, wie die Prinzessin wieder
aufersteht aus der Vase, in welcher ihre Asche bestattet wurde. In der Rolle des Lieb-
habers ist D.W. Griffith zu sehen.

In The Snowman (1908)16 erweckt eine Fee einen Schneemann zum Leben. Doch
als der Mond aufgeht, beginnt er im Mondlicht langsam zu schmelzen.
In der Hauptrolle ist hier Robert Harron zu sehen. Es wäre übertrieben, ihn einen
Kinderstar zu nennen, aber er war mit seinen fünfzehn Jahren ein sehr talentierter Jung-
darsteller. Er wurde durch seine spätere Zusammenarbeit mit D.W. Griffith berühmt.
Vor allem seine Auftritte in den drei Epen Griffiths Judith of Bethulia (1914), Birth
of a Nation (1915) und Intolerance (1918) blieben in Erinnerung. Einer großen Film-
karriere kam am 5. September 1920 dann jedoch eine Pistole in die Quere, die sich
in einer Jackentasche befand, als Robert Harron diese gerade anzog, um der Premiere
seines neuesten Films Way Down East (1920) beizuwohnen. Ein Schuss löste sich und
traf Harron in den linken Lungenflügel.

13
A Sculptor’s Welsh Rabbit Dream (Edison, USA 1908, Regie: Edwin S. Porter, Länge: ca. 193m,
10 Minuten)
14
She (Edison, USA 1908, Regie: Edwin S. Porter, Darsteller: Florence Auer, William V Ranous,
Länge: ca. 326m, 17 Minuten)
15
The Princess in the Vase (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1908, Regie: Wallace
McCutcheon, Kamera: G.W. Bitzer, Arthur Marvin, Darsteller: D.W. Griffith, Edward Dillon, Linda
Arvidson, Länge: ca. 286m, 24 Minuten)
16
The Snowman (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1908, Regie: Wallace McCutcheon,
Kamera: G.W. Bitzer, Darsteller: Robert Harron, Florence Auer, Länge: ca. 219m, 11 Minuten)

208
20. 1908

Wallace McCutcheon drehte in diesem Jahr auch eine Komödie namens The King
of the Cannibal Islands (1908)17 . Denken Sie nicht im Traum daran, dass in diesem
Film irgendwelche kannibalistischen Szenen auch nur angedeutet seien, es handelt sich
schließlich um eine Komödie. Nichtsdestotrotz sei der Film erwähnt, denn es handelt
sich um die erste Darstellung von kannibalistischen Ureinwohnern im Sinne der Kan-
nibalenfilme der 70er und 80er Jahre.

1908 begann D.W. Griffith, nicht nur als Schauspieler für Biograph zu arbeiten,
sondern auch als Regisseur. Wallace McCutcheon, Biographs wichtigster Regisseur,
erkrankte schwer und dessen Sohn, Wallace McCutcheon Jr., konnte die an ihn ge-
stellten Erwartungen nicht erfüllen, also gab man D.W. Griffith eine Chance. Griffith
gab von 1908 bis 1913 die Richtung vor, in welche sich Biograph entwickeln sollte,
und inszenierte in diesen fünf Jahren etwa 450 Filme.
Zu diesen gehört auch The Devil (1908)18 . Der Film erzählt von einer Ménage a
trois, einer Dreiecksbeziehung. Moralisch korrekt erscheint der Dame der Teufel. Er-
wähnenswert ist hier Jeanie Macpherson, eine Nebendarstellerin: Sie war die Geliebte
des berühmten Regisseurs Cecil B. DeMille und eine der Gründerinnen der Acade-
my of Motion Picture Arts and Sciences. Der Film selbst ist teilweise mit stop motion
animiert und das einzige überlieferte Werk, in welchem Griffith dieses Verfahren an-
wendete.

1908 war auch das Jahr, in welchem zum ersten Mal eine Geschichte von Edgar
Allen Poe verfilmt wurde. Auch wenn der Filmtitel den Schluss nicht nahelegt und die
Handlung sich nur sehr frei an Poe orientiert, handelt es sich bei Sherlock Holmes in
the Great Murder Mystery (1908)19 um eine Verfilmung von Poes Murders in the
Rue Morgue mit den Charakteren Arthur Conan Doyles. Der Film gilt als verschollen,
doch in der Zeitschrift Moving Picture World gab es kurz nach dem Erscheinen des
Films eine ausführliche Beschreibung des Inhalts [15].
Jim ist zu Besuch bei seiner Liebsten, um Heiratspläne zu besprechen, als auf dem
benachbarten Hafengelände ein Gorilla aus seinem Käfig ausbricht. Der Kapitän des
Schiffes verfolgt das Tier, doch er muss hilflos zusehen, wie der Gorilla in die Woh-
nung des Mädchens eindringt und sie tötet.
Der Kapitän fängt den Gorilla und versteckt sich mit ihm auf dem Schiff, während
Jim des Mordes verdächtigt wird. Zeit für Sherlock Holmes, sich des Falles anzuneh-
men.

17
The King of the Cannibal Islands (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1908, Regie: Wal-
lace McCutcheon, Kamera: G.W. Bitzer, Darsteller: Heinie Holtzmeyer, D.W. Griffith, Linda Arvidson,
Anthony O’Sullivan, Länge: ca. 210m, 10 Minuten)
18
The Devil (American Mutoscope & Biograph Co., USA 1908, Regie: D.W. Griffith, Kamera: G.W.
Bitzer, Darsteller: Harry Solter, Claire McDowell, George Gebhardt, D.W. Griffith, Arthur V. Johnson,
Florence Lawrence, Jeanie Macpherson, Mack Sennett, Länge: ca. 174m, 9 Minuten)
19
Sherlock Holmes in the Great Murder Mystery (Crescent Film Co., USA 1908)

209
Das Dokument des Grauens

Am Ende deckt Sherlock Holmes den Fall durch reines Nachdenken auf. Als Vi-
sionen dargestellt, visualisiert der Film die Gedanken des Meisterdetektivs. Ein Mord
begangen durch Jim erscheint ihm ebenso weit hergeholt wie der Gedanke an einen
möglichen Raubüberfall. Doch dann kommt Sherlock Holmes die Erleuchtung: Ein
Gorilla könnte von einem Schiff entkommen sein und die junge Frau getötet haben!
In letzter Sekunde findet Holmes dann tatsächlich den Gorilla und rettet Jim vor
dem Galgen.

1908 betrat auch ein Regisseur namens Van Dyke Brooke, bürgerlicher Name Ste-
wart McKerrow, die Filmwelt. Er drehte in diesem Jahr mindestens 16 Filme für Vi-
tagraph, von denen fünf einen Bezug zum Horror haben. Und alle diese Filme waren
grausam schlecht.
Die meiste Wahrnehmung der Öffentlichkeit erhielt Buried Alive (1908)20 , aller-
dings nur wegen seines Titels und nicht seines Inhaltes. Als der Film erstmals be-
worben wurde, gab es einen Aufschrei, denn ein solcher Film sei einem gesitteten
Publikum nicht zumutbar.
Der Film selbst zeigte dann tatsächlich, wie jemand lebendig begraben wurde. Al-
lerdings handelte es sich dabei um zwei Kinder, welche ihren Papi am Strand von
Coney Island mit Sand bedeckten. So richtig mit kleinen Schäufelchen und anderem
Strandspielzeug. Das war es auch schon, keine Handlung, keine Schnitte, keine Bewe-
gung des durch eine Mütze mit der Aufschrift „FATH R“ als Vater kenntlich gemachten
Herren, absolut nichts außer 7 Minuten Langeweile und 7 Minuten Dilettantismus. Der
Film wurde wegen des Echos in der Öffentlichkeit dann auch in Frolics on the Beach
at Coney Island umbenannt, was den Inhalt deutlich besser trifft, diesen hundsmisera-
blen Streifen aber noch lange nicht entschuldigt.

Van Dyke Brooke versuchte sich außerdem noch an Slumberland (1908)21 , einem
wirren Film um einen Ritt auf einem Hexenbesen zum Nordpol, dem Weihnachtsmann,
Kobolden und einer Rutschbahn zum Mittelpunkt der Erde. Van Dyke Brooke drehte
außerdem noch drei Filme, von welchen nur noch der Titel und ihre Länge überliefert
sind und bei welchem der Titel eine Nähe zum Gruselfilm nahelegt: The Guilty Con-
science (1908)22 , The Gypsy’s Revenge (1908)23 und schließlich The Witch (1908)24 .

In Too Much Champagne (1908)25 säuft ein gut gekleideter Herr zu viel Champa-
gner. Er macht sich auf den Weg nach Hause, während die Landschaft sich um ihn zu
20
Buried Alive, aka Frolics on the Beach at Coney Island (Vitagraph, USA 1908, Regie: Van Dyke
Brooke, Länge: ca. 142m, 7 Minuten)
21
Slumberland (Vitagraph, USA 1908, Regie: Van Dyke Brooke, Länge: ca. 193m, 10 Minuten)
22
The Guilty Conscience (Vitagraph, USA 1908, Regie: Van Dyke Brooke, Länge: 122m, 6 Minuten)
23
The Guilty Conscience (Vitagraph, USA 1908, Regie: Van Dyke Brooke, Länge: ca. 131m, 6
Minuten)
24
The Witch (Vitagraph, USA 1908, Regie: Van Dyke Brooke, Länge: ca. 154m, 7 Minuten)
25
Too Much Champagne (Vitagraph, USA 1908, Länge: ca. 107m, 5 Minuten)

210
20. 1908

drehen scheint, und fällt schließlich in sein Bett. Dort träumt er dann, dass er von Teu-
feln heimgesucht wird, die in seinem Zimmer herumtanzen. Und am Ende erscheint
dann sogar noch der Teufel höchstpersönlich, der den Trinker in die Hölle verschlep-
pen möchte.
Der Film hat eine große Ähnlichkeit mit The Dream of a Rarebit Fiend (1906)
und wurde offensichtlich von diesem inspiriert.

In The Thieving Hand (1908)26 sehen wir einen Bettler, der seinen linken Arm
verloren hat. Doch trotz seiner Behinderung ist er ehrlich geblieben: Als ein vorbeige-
hender Mann einen wertvollen Ring verliert, hebt er diesen auf und gibt ihm seinem
Besitzer zurück. Dankbar beschließt dieser, den Bettler zu belohnen und geht mit ihm
zu einem Geschäft, in welchem künstliche Gliedmaßen verkauft werden. Im Schau-
fenster liegt ein linker Arm und der Bettler erhält die Prothese als Geschenk.
Doch der neue Arm hat ein Eigen-
leben und gegen seinen Willen beginnt
der Bettler, die Passanten zu bestehlen.
Auch der Versuch, die Prothese bei ei-
nem Pfandleiher loszuwerden, schlägt
fehl. Schließlich landet der arme Bettler
daher im Gefängnis.
Körperteile mit Eigenleben wurden
im Laufe der Zeit zu einem beliebten
Thema bei Horrorfilmen, vor allem Hän-
de haben es den Filmemachern angetan.
Zu den bekanntesten Vertretern dieser
Abbildung 20.2: In einem Geschäft vol-
Untergattung des Horrors gehören Or-
ler künstlicher Gliedmaßen finden die Prot-
lacs Hände (1924) von Robert Wiene,
agonisten die titelgebende Prothese aus
The Beast with Five Fingers (1946) von
The Thieving Hand (1908)
Robert Florey und The Hand (1981) von
Oliver Stone, die Amicus-Produktion Dr.
Terrors House of Horrors (1965) und Sam Raimis Evil Dead II (1987). Wir werden
diesem Motiv also noch häufiger begegnen.

Für den im fantastischen Fach durchaus bewanderten Regisseur J. Stuart Blackton


war The Thieving Hand (1908) in diesem Jahr eher eine Randnotiz. 1908 konzen-
trierte er sich eigentlich auf Verfilmungen klassischer Werke, darunter ein halbes Dut-
zend Shakespeare-Adaptionen. Dennoch blieb Zeit für The Water Sprite (1908)27 .
Leider ist der Film verschollen, denn er handelt von einem weiblichen Geist, welcher
im Rhein wohnt. Dieses Motiv könnte von der Legende um die Loreley abgeleitet
26
The Thieving Hand (Vitagraph, USA 1908, Regie: J. Stuart Blackton, Darsteller: Paul Panzer,
Länge: ca. 160m, 5 Minuten)
27
The Water Sprite (Vitagraph, USA 1908, Regie: J. Stuart Blackton)

211
Das Dokument des Grauens

sein, welche zuerst Clemens Brentano und später Heinrich Heine in der Literatur ver-
ewigten. Besagter Geist begehrt einen Unternehmer, der sich am Rande des Bankrotts
befindet. Sie hilft ihm aus der Patsche, indem sie ihm ein Jahr lang Glück verspricht.
Im Gegenzug muss der Mann dann zu ihr in ihr Reich zurückkehren.

The Wages of Sin (1908)28 erzählt von einer jungen Frau im fernen Italien. Sie
hat ihren Glauben verloren, denn sie hat ihren Ehemann an die Cholera verloren. Doch
der vermeintlich Tote erwacht wieder zum Leben, in seiner Gruft. In einer Verkleidung
kehrt er schließlich zu seiner Liebsten zurück.

Wechseln wir nun von den USA hinüber nach Europa. Die Briten waren auch recht
fleißig und produzierten eine Vielzahl von Filmen, und wie in den USA waren manche
interessant, die meisten jedoch eher Ballast.
The Devil’s Bargain (1908)29 gehört eher in die letztgenannte Kategorie. Es han-
delt sich um eine weitere Variation des faustschen Motivs, wobei diesmal ein Künstler
seine Seele an den Teufel verschachert. Und zwar gerade mal für einen Monatslohn!
Doch dann erwacht ein Mädchen aus einem Gemälde zum Leben und rettet den Künst-
ler vor dem höllischen Besucher.

Aus der gleichen kleinen Firma stammt The Phantom Ship (1908)30 . Dieser Film
beschreibt mysteriöse Vorgänge auf einem Schiff. Der Film gilt als verschollen, daher
ist die Informationslage zu Details sehr dürftig.

Leider ebenfalls verloren ist ein Film, der recht spannend klingt: The Doctor’s
Experiment (1908)31 könnte starke Anleihen an H.G. Wells’ Roman The Island of Dr.
Moreau haben. Ein verrückter Wissenschaftler stellt aus einer Affendrüse ein Serum
her und führt dies ahnungslosen Patienten zu. Diese beginnen daraufhin, sich wie Af-
fen zu benehmen. Doch dann stellt der Doktor fest, dass sich der Effekt nicht mehr
umkehren lässt ... also macht er das Beste daraus und stellt seine Opfer gegen Ein-
trittsgeld zur Schau aus.

Cecil M. Hepworth produzierte auch dieses Jahr mehrere kleinere Filme, welche
von Lewin Fitzhamon inszeniert wurde. Keiner von ihnen hat überlebt. The Fairy’s
Sword (1908)32 erzählt die schon oft wiedergekäute Geschichte von der Befreiung ei-
28
The Wages of Sin, aka The Wages of Sin; An Italian Tragedy (Vitagraph, USA 1908), Länge:
ca. 320m, 15 Minuten)
29
The Devil’s Bargain (Cricks & Martin, UK 1908, Regie: A.E. Coleby, Länge: ca. 160m, 5 Minu-
ten)
30
The Phantom Ship (Cricks & Martin, UK 1908, Regie: A.E. Coleby, J.H. Martin, Länge: ca.
147m, 5 Minuten)
31
The Doctor’s Experiment, aka The Doctor’s Experiment, or Reversing Darwin’s Theory
(Gaumont, UK 1908)
32
The Fairy’s Sword (Hepworth, UK 1908, Regie: Lewin Fitzhamon, Länge: ca. 257m, 14 Minuten)

212
20. 1908

ner Prinzessin aus der Gewalt eines Menschenfressers. Diesmal benutzt der strahlende
Held ein magisches Schwert, welches ihm von einer Fee überreicht wurde. Und in A
Faithless Friend (1908)33 träumt ein Mann, dass ein wandelndes Skelett in bedroht.
Und in The Nursemaid’s Dream (1908)34 träumt ein Kindermädchen, dass das Kind,
um welches sie sich kümmert, von riesenhaften Gestalten gejagt wird.
The Man and His Bottle (1908)35 ist vergleichsweise gut dokumentiert und wurde
sogar in Deutschland aufgeführt. Viel Sinn ergibt der Inhalt des Films allerdings nicht.
Ein Mann wirft zuhause eine Flasche zu Boden. Daraufhin erscheint Satan und
bietet ihm eine neue Flasche an. Der Mann lehnt ab, und jetzt beginnt das Chaos. Eine
Tasse Tee verwandelt sich in eine Vielzahl kleiner, tanzender Flaschen. Auch in seinem
Büro wird er von tanzenden Flaschen besucht und sogar von einer metergroßen Fla-
sche, welche Hände und Füße hat, verfolgt. Auf der Flucht steigt er durch eine Falltür
und wird dort von großen Käfern bedroht. Der Teufel erscheint wieder, in Begleitung
von vier Dämonen. Sie greifen den Mann und stopfen ihn in eine Flasche. Dann ver-
lassen sie die Szene und die Flasche verschwindet in einer Rauchwolke.

William Haggar, der Jahrmarktsaussteller und private Filmemacher, dem wir be-
reits bei seinen Filmen The Wild Man of Borneo (1902), The Maniac’s Guillotine
(1902) und The Life of Charles Peace (1905) begegneten, konzentrierte sich 1908
vor allem auf das Anfertigen von Remakes seiner älteren Filme, jedoch mit höherer
Laufzeit. Eine Ausnahme stellt The Red Barn Crime (1908)36 . Dies war bereits die
zweite Verfilmung des Mordes an Maria Marten nach Dicky Winslows Maria Mar-
ten, or The Murder at the Red Barn (1902). Der Film gilt als verloren, es gibt keine
Fragmente oder Szenenfotos, doch Kritiken haben überlebt. Wahrhaft überschwäng-
lich war die Aussage von Walter Tyler in The Stage vom 30. Juli 1908: „Dieser Film
ist von hervorragender Qualität und es nichts vergleichbares auf dem Markt - es ist ein
Triumph der Filmproduktion.“

Walter R. Booth brachte mit The Prehistoric Man (1908)37 einen künstlerisch
ambitionierten Film auf den Markt, in welchem er gefilmte Aktionen mit gezeichne-
ten Animationen kombinierte. Die Zeichnung eines prähistorischen Affenmenschen
erwacht zum Leben und jagt ihren Schöpfer durch das Atelier. Es kehrt erst wieder
Ruhe ein, als dieser einen Saurier malt, welcher den Affenmenschen auffrisst. Wie
der Künstler danach sein menschenaffenfressendes Monster wieder los wird, ist nicht

33
A Faithless Friend (Hepworth, UK 1908, Regie: Lewin Fitzhamon, Länge: ca. 152m, 7 Minuten)
34
The Nursemaid’s Dream (Hepworth, UK 1908, Regie: Lewin Fitzhamon, Länge: ca. 160m, 8
Minuten)
35
The Man and His Bottle, aka Der Mann mit der Flasche (Hepworth, UK 1908, Regie: Lewin
Fitzhamon, Länge: ca. 104m, 5 Minuten)
36
The Red Barn Crime, aka Maria Marten (William Haggar and Sons, UK 1908, Regie: William
Haggar, Darsteller: Violet Haggar, Walter Haggar, Länge: ca. 229m, 12 Minuten)
37
The Prehistoric Man (Urban Trading Company, UK 1908, Regie, Drehbuch, Animation: Walter
R. Booth, Länge: ca. 100m, 5 Minuten)

213
Das Dokument des Grauens

überliefert.

A Quick-Change Mesmerist (1908)38 , ebenfalls unter der Regie von Walter R.


Booth entstanden, zeigt einen Hypnotiseur, der in der Lage ist, die Kleider seiner Ver-
suchspersonen auszutauschen. Auch dieser Film blieb nicht erhalten.

Aufgrund seines wohl eher unbeabsichtigten Witzes unbedingt zu erwähnen ist ein
Film von Percy Stow. Beginnen wir mit einer rhetorischen Frage: Was ist das Heißeste
und Schärfste im Universum?
Genau, weibliche Menschen. Egal ob Riesenaffen (King Kong (1933)), Marsmen-
schen (Mars Needs Women (1967)), Sumpfmonster (Swamp Thing (1982)) oder gar
Untote (Frankenstein (1931), alle begehren sie die menschlichen Weibchen. Diese
unheimliche Tradition begründete Percy Stow mit When the Man in the Moon Seeks
a Wife (1908)39 . Der Mann im Mond, also streng genommen ein Alien, steigt auf die
Erde herab, um genau das zu tun, was der Titel andeutet: eine Menschenfrau zu rauben.
Bemerkenswert ist sein Raumschiff: Für die Reise zur Erde und wieder zurück benutzt
der Mondmensch einen Gasballon.

Auch im restlichen Europa standen die Kameras natürlich nicht still. In Dänemark
drehte Viggo Larsen seine Version von George du Mauriers Ella Lola, a la Trilby.
Trilby (1908)40 Auch in Larsens Fassung zwingt der jüdische Hypnotiseur Svengali
die hübsche Trilby durch seine übernatürlichen Kräfte in seine Gewalt und macht sie
zu einer großen Sängerin.

In Italien entstand ein Film, der nach Frankreich, Deutschland, das Vereinigte Kö-
nigreich und sogar die USA exportiert wurde, und dennoch ist er nicht mehr auffindbar.
Über Pierrot all’inferno (1908)41 weiß man praktisch nichts mehr. Der Name teilt uns
mit, dass ein gewisser Pierrot in der Hölle unterwegs ist und diese Vorstellung weckt
Assoziationen zu vielen anderen Filmen, sodass man eine ungefähre Vorstellung hat,
worum es in diesem Film gehen könnte. Ob dem wirklich so ist, kann niemand mehr
sagen.

Um Nozze in casa Scivoloni (1908)42 ist es nicht besser bestellt. In einem Haus
findet eine Hochzeitsfeier statt und in der Nacht werden die frisch Verheirateten von
38
A Quick-Change Mesmerist (Urban Trading Company, UK 1908, Regie: Walter R. Booth, Länge:
ca. 111m, 5 Minuten)
39
When the Man in the Moon Seeks a Wife (Urban Trading Company, UK 1908, Regie: Walter R.
Booth, Darsteller: Langford Reed, Länge: ca. 111m, 5 Minuten)
40
Trilby (Nordisk Film, Dänemark 1908, Produktion: Ole Olsen, Regie: Viggo Larsen, Darsteller:
Oda Alstrup, Viggo Larsen, Robert Storm Petersen)
41
Pierrot all’inferno, aka Pierrot in der Hölle, aka Pierrot a l’enfer, aka Pierrot and the Devil
(Società Italiana Cines, Italien 1908)
42
Nozze in casa Scivoloni, aka Wedding Feast and Ghosts (Società Italiana Cines, Italien 1908,
Länge: ca. 154m, 5 Minuten)

214
20. 1908

Gespenstern erschreckt.

Il fantasma del castello (1908)43 ist ein weiterer Geisterfilm, doch diesmal geht
es um gespenstisches Treiben in einem Schloss oder einer Burg. Wie auch die anderen
italienischen Gruselfilme dieses Jahres ist Il fantasma del castello (1908) nicht mehr
auffindbar und uns bleibt nur die Hoffnung, dass noch eine Kopie in einem italieni-
schen Keller gefunden wird.

Bleibt noch Frankreich, die Hochburg des europäischen Kinos in der damaligen
Zeit. Beginnen wir mit Georges Méliès und seinem Film Aventures de Don Quichot-
te (1908)44 , der sehr frei nach den Motiven des spanischen Nationaldichters Miguel de
Cervantes und seinem Don Quijote entstand. Der Film gehört nicht zu Méliès Glanzta-
ten und wäre auch für uns nicht erwähnenswert, würde er nicht einen kleinen gruseli-
gen Moment bieten, als sich eine Ritterrüstung plötzlich in eine große Monsterspinne
verwandelt.

Deutlich besser ist sein Film La cui-


sine de l’ogre (1908)45 , der sogar eine
nach heutigem Empfinden kritische Ein-
stellung zu bieten hat. Ein Menschen-
fresser bereitet sich in seiner Höhle auf
das Kochen eines Mahls vor. Er schnei-
det erst mehrere Sorten Gemüse in ei-
ne Pfanne. Dann holt er einen Gefange-
nen aus einem Verschlag, einen Jungen
mit Zipfelmütze. Dieser fleht um Gnade,
doch der Menschenfresser lacht nur.
Und jetzt kommt’s. Er packt den Jun-
Abbildung 20.3: Der Menschenfresser und
gen und legt ihn auf einen Tisch. Dann
sein um Gnade flehendes Opfer in La cui-
packt er zuerst ein großes Messer und
sine de l’ogre (1908)
schneidet ihm den Bauch auf. Mit einem
Beil zerhackt er den Jungen dann in klei-
ne Stücke, bevor er ihn mit einem großen Wiegemesser richtig klein schneidet. In
dieser Szene ist der Junge selbst natürlich nicht zu sehen, und es fließt auch kein
Blut. Aber man sieht den Menschenfresser bei der Arbeit und die Zipfelmütze des
Buben hängt dabei sichtbar über den Rand des Tisches. Eine sehenswerte und durch-
aus schockierende Szene.
43
Il fantasma del castello, aka The Castle Ghosts (Aqulia Films, Italien 1908, Länge: ca. 260m, 11
Minuten)
44
Aventures de Don Quichotte, aka Incident from Don Quixote (Star Film, Frankreich 1908,
Regie, Drehbuch: Georges Méliès, Länge: ca. 115m, 6 Minuten)
45
La cuisine de l’ogre, aka In the Bogie Man’s Cave (Star Film, Frankreich 1908, Regie, Drehbuch:
Georges Méliès, Länge: ca. 110m, 5 Minuten)

215
Das Dokument des Grauens

Anschließend kommen dann noch ein paar Kobolde und vor allem zwei Feen, die
mit dem Menschenfresser ihre Späßchen treiben, aber das ist nur noch kasperhaftes
Beiwerk.

Auch in Les torches humaines (1908)46 ging es recht deftig zur Sache. Tricktech-
nisch ist dieser Film weit unterhalb Méliès üblichem Niveau, doch das ist aufgrund der
hübsch gemalten Kulisse eines römischen Tempels nicht weiter tragisch.
Der oströmische Kaiser Justinian feiert eine Orgie. Gefolgsleute rekeln sich auf
ihren Liegen und schauen Tänzerinnen zu. Dann bringen vier Soldaten einen Gefan-
genen herein. Er wird auf eine Latte geschnallt, mit einem Tuch umwickelt, mit Rei-
sig bedeckt und eingeschnürt. So befestigt wird er im Bildhintergrund zusammen mit
zwei Schicksalsgenossen aufgestellt und angezündet. So erhellen sie als menschliche
Fackeln die Feierlichkeiten des Kaisers.

Le nouveau seigneur du village (1908)47 , der neue Gutsherr, verlässt den Markt.
Eine Zigeunerin tritt an ihn heran und lockt ihn in den nahen Wald, zusammen mit
einigen Dorfbewohnern. Dort zaubert die Zigeunerin ein Fass herbei, aus welchem
Flammen schlagen und ein Edelmann erscheint. Doch der Gutsherr erschrickt sehr, als
auch noch Monster erscheinen und Geister herumzutanzen beginnen.
Le nouveau seigneur du village
(1908) ist ein äußerst schlecht erzähl-
ter, zusammenhangsloser Film. Es ist fast
unmöglich, ohne begleitenden Erzähler
die Handlung zu ergründen. Für eine rei-
ne Abfolge von Bildern ist er jedoch
zu langweilig - alleine die Eröffnungs-
sequenz zwischen der Ankunft des Guts-
herrn und seines Gangs in den Wald be-
nötigt zwei Minuten Laufzeit, in wel-
chen letztlich nur gestikuliert wird. Die
Monster und Geister selbst schaffen es
Abbildung 20.4: Geisterhafte Erscheinun- nicht, den mit neun Minuten Laufzeit
gen können Le nouveau seigneur du vil- viel zu lang geratenen Film zu tragen.
lage (1908) auch nicht retten Das Froschmonster, welches wir bereits
in La fée Carabosse, ou le poignard fa-
tal (1906) bestaunen durften, wirkt hier bereits eher zu lächerlich und ebenso wie die
tanzenden Geister haben die Monster ein großes Problem durch ihre völlig sinnfreie
Existenz. Sie sind da, zappeln ein wenig herum, und dann sind sie wieder weg. Würden
diese Elemente fehlen, wäre es immer noch der gleiche Film, nur kürzer.
46
Les torches humaines, aka Justinian’s Human Torches, aka Justinian’s Human Torches 548
A.D. (Star Film, Frankreich 1908, Regie, Drehbuch: Georges Méliès, Länge: ca. 60m, 3 Minuten)
47
Le nouveau seigneur du village, aka The New Lord of the Village (Star Film, Frankreich 1908,
Regie, Drehbuch: Georges Méliès, Länge: ca. 197m, 9 Minuten)

216
20. 1908

Alles in allem ist Le nouveau seigneur du village (1908) ein schlechter Film und
führt deutlich vor Augen, weshalb der Stern des Georges Méliès inzwischen nicht nur
sank, sondern sich im Angesicht der durchaus hohen Qualität der Filme aus den Häu-
sern Pathé und Gaumont schon beinahe im freien Fall befand.

In dem als verschollen geltenden Film Oriental Black Art (1908)48 , dessen fran-
zösischer Originaltitel auch nicht bekannt ist, zeigte Georges Méliès in einer Abfolge
von Zaubertricks auch Geister, die den Körper einer Frau verlassen und wieder in die-
sen zurückkehren.

Ein Geist spielt auch eine Rolle in dem ebenfalls verlorenen Film Wonderful
Charm (1908)49 . Ein Mann wird hier von einem bösen Geist zerrissen und dann im
Tausch gegen seine Seele von dem Geist wieder zusammengesetzt.

La bonne bergère et la mauvaise princesse (1908)50 ist ein weiteres Beispiel für
den Niedergang des einstigen Innovators aus Paris.
Eine Fee verteilt Belohnungen. Die
gute Schafhirtin, die in Bescheidenheit
lebt und niemanden etwas Böses tun will,
wird in schöne Kleider gesteckt, in einem
Park von Tänzerinnen umgarnt und darf
schließlich einen adretten Prinzen zum
Manne nehmen.
Die böse Prinzessin indes wird aus
ihrem dekadenten Reichtum gerissen und
ihr Schloss zerstört. Ein Krokodil, ein
Drache und ein Riesenkopf drohen, ihr
Leid anzutun. Ihre Tänzer sind lediglich
Abbildung 20.5: Ein Krokodil droht die
schwarze Kobolde.
böse Prinzessin aus La bonne bergère
Jeder bekommt, was er verdient.
et la mauvaise princesse (1908) zu ver-
Mit Ausnahme des Publikums. Hier schlingen
hätte einfach mehr drin sein müssen. Die-
ses Nichts an Handlung dehnt Georges
Méliès auf ganze 12 Minuten aus. Der Film ist unvorstellbar langsam inszeniert und
auf die Idee, dass hier eine Fee ein Belohnungssystem praktiziert, kommt man auch
nicht ohne Weiteres. Bevor es soweit ist, hat man als Zuschauer sein Gehirn wahr-
scheinlich schon auf Durchzug geschaltet.
48
Oriental Black Art (Star Film, Frankreich 1908, Regie, Drehbuch: Georges Méliès, Länge: ca.
150m, 7 Minuten)
49
Wonderful Charm (Star Film, Frankreich 1908, Regie, Drehbuch: Georges Méliès, Länge: ca.
195m, 9 Minuten)
50
La bonne bergère et la mauvaise princesse, aka The Good Sheperdess and the Evil Princess
(Star Film, Frankreich 1908, Regie, Drehbuch: Georges Méliès, Länge: ca. 280m, 13 Minuten)

217
Das Dokument des Grauens

Schlimmer ist jedoch, dass La bonne bergère et la mauvaise princesse (1908) so


statisch inszeniert ist, dass das Werk einem abgefilmten Bühnenstück gleichen würde,
wären da nicht die hin und wieder stattfindenden Wechsel der Kulissen.
Georges Méliès stand unter hohem Druck. In den USA sah er sich allmählich ge-
zwungen, mit Thomas Edison eine Partnerschaft eingehen zu müssen, um nicht am
Markt klanglos unterzugehen. In Frankreich erdrückte ihn die Konkurrenz mit schie-
rer Masse und kommerziell attraktiveren Inhalten wie Verfolgungsjagden und Derb-
heiten, denen sich Georges Méliès verweigerte. Er war ein Mann mit unvorstellbar
ausgeprägter Fantasie, aber wenig erzählerischem Talent und 1908 schien er den Kon-
kurrenzdruck durch einen höheren Auswurf an Filmmetern begegnen zu wollen. Leider
blieb dabei der Zuschauer auf der Strecke und die Abwärtsspirale um Georges Méliès
drehte sich immer schneller.

Die Pathé Frères veröffentlichten einen Film, welcher in Großbritannien unter dem
Titel Aunt Eliza Recovers Her Pet (1908)51 als 28mm-Kopie aufgeführt wurde, wel-
che aber aller Wahrscheinlichkeit nach von einem französischen Original angefertigt
worden war. Dies war bei fast allen englischen 28mm-Kopien der Pathé der Fall. Der
französische Originaltitel des Films ist jedoch unbekannt.
Nicht aber die Handlung: Der als Haustier gehaltene Vogel von Tante Eliza ist ver-
schwunden. Tante Eliza heuert daher einen Privatdetektiv an. Dieser folgt einer Spur
aus Federn bis zum Haus des Vogeldiebs, der schon damit begonnen hat, den Vogel zu
essen. Der Detektiv fesselt den Dieb und nimmt ihn mit in sein Büro. Dort hypnotisiert
er ihn zuerst, dann zersägt er ihn in zwei Hälften und der Vogel fliegt unverletzt aus
der Leiche des Diebs heraus.

Die beiden Regisseure Albert Capellani und Lucien Nonguet verfilmten die Ge-
schichte um Dornröschen nach der Vorlage von Charles Perrault. Unterstützt wurden
sie bei ihrer Arbeit an La belle au bois dormant (1908)52 von Segundo de Chomón
als Kameramann und Spezialist für Handkolorierung. Dementsprechend ist der Film
auch in Farbe gehalten.
Eine Prinzessin fällt dem Fluch einer bösen Fee zum Opfer und fällt in einen hun-
dertjährigen Schlaf. Um die Situation zu entschärfen, versetzt eine gute Fee alle ande-
ren Bewohner ebenfalls in den langen Tiefschlaf und lässt Pflanzen wachsen, welche
das Schloss verstecken, damit der Schlaf nicht gestört werden möge.
Ein Prinz stolpert schließlich nach langer Zeit in das Schloss, küsst die Hand der
holden Maid und dann wird geheiratet.
Die erste Hälfte des Films konzentriert sich auf den Fluch und wie er zur Realität
wird. Interessant ist hier die Szene, in welcher die böse Fee in einem Hexenkostüm die
51
Aunt Eliza Recovers Her Pet (Pathé Frères, Frankreich 1908, Länge: ca. 124m, 6 Minuten)
52
La belle au bois dormant, aka Beauty at the Sleeping Woods, aka Sleeping Beauty, aka Dorn-
röschen (Pathé Frères, Frankreich 1908, Regie: Albert Capellani, Lucien Nonguet, Kamera: Segundo
de Chomón, Bühnenbild: Vincent Lorant-Heilbronn, Darsteller: Julienne Mathieu, Länge: ca. 300m, 11
Minuten)

218
20. 1908

Prinzessin zur Benutzung eines Spinnrades verführt, dessen Stich dann den Fluch zur
Wirklichkeit werden lässt.
Erst in der zweiten Hälfte kommt der Prinz zur Rettung der holden Dame ins Spiel,
und hier flacht der Film dann auch merklich ab. Die Rettung verlangt vom Prinzen
keine außergewöhnlichen Leistungen; er spaziert regelrecht in das Schloss hinein und
weckt Dornröschen auf, kein Problem.
Dies geschieht in Kulissen, welche
stark an Georges Méliès erinnern, al-
lerdings stehen die gemalten Kulissen
mitunter in sehr starkem Kontrast zu
den weniger märchenhaften Außenauf-
nahmen. Auch gibt es kaum Spezialef-
fekte. Man sieht lediglich ein paar Dorn-
büsche die Position wechseln, eine ge-
malte Schlosskulisse und einige der übli-
chen Effekte von der Stange wie die in ei-
ner Rauchwolke erscheinende gute Fee.
Trotz der wunderschönen Kolorierung ist
Abbildung 20.6: Die böse Fee verführt
La belle au bois dormant (1908) nur ein
die arglose Prinzessin in La belle au bois
mittelmäßiger Film, der nicht in der Er-
dormant (1908) dazu, das verhängnisvolle
innerung haften bleibt. Und auch der Be-
Spinnrad zu benutzen
zug zum Horror beschränkt sich auf die
Darstellung der bösen Fee sowie die kur-
zen Einblendungen einer Spinne in ihrem Netz, über deren Sinnhaftigkeit man streiten
mag. Den Film gibt es auch in einer deutschen Fassung, welche vor allem durch ihre
in schlechtem Deutsch gehaltenen Zwischentitel auffällt.

Albert Capellani war auch der Regisseur von La belle et la bête (1908)53 , einer
weiteren Verfilmung des Romans von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont um die
Schöne und das Biest.
Die Geschichte um diesen Film ist etwas tragisch. Der Film war ebenfalls kom-
plett handkoloriert und auf handwerklich hohem Niveau entstanden. Allerdings galt
er sehr lange Zeit als verschollen. Bis im Juni 2006, also nach 98 Jahren, eine farbige
Nitratkopie von dem Film gefunden wurde. Nun, vielleicht sollte man sie eine ehemals
farbige Nitratkopie nennen, denn sie lag in einer Kiste voller Filme aus den 40er Jah-
ren, und dummerweise ganz unten. Da man fälschlicherweise davon ausging, dass sich
in der Kiste nur Filme aus den 40ern befänden, hatte man es mit der Konservierung
der Filme nicht sonderlich eilig - und so vergammelte La belle et la bête (1908) über
Jahre hinweg, bevor die Kiste dann 2006 ausgeräumt wurde.

53
La belle et la bête, aka Beauty and the Beast (Pathé Frères, Frankreich 1908, Regie: Albert
Capellani, Darsteller: Julienne Mathieu, Länge: ca. 190m, 9 Minuten)

219
Das Dokument des Grauens

Zu diesem Zeitpunkt war der Nitratfilm inzwischen völlig kaputt. Nur vier Minu-
ten des Films, also nicht ganz die Hälfte, konnten gerettet werden. Dies waren auch
vier Minuten vom Anfang des Films, also vorrangig der Exposition und nicht aus der
Haupthandlung voller Magie. Die Farbe ging jedoch ebenfalls verloren. Und das alles
nur wegen zu langen Desinteresses.
Das überlebende Fragment zeugt jedoch von einer sehr stimmungsvollen Inszenie-
rung, ein wenig im Stil der berühmten Filmfassung von Jean Cocteau, La belle et la
bête (1946). Es ist durchaus möglich, dass hier ein wirklicher Schatz nicht nur einmal,
sondern zweimal verloren ging.

L’abeille et la rose (1908)54 von Se-


gundo de Chomón ist ein kurzer Ballett-
film. In gestreifte Kostüme gehüllte Tän-
zerinnen, auf deren Rücken filigrane Flü-
gelchen kleben, tanzen mit ihrer Königin
umher. Diese Königin entdeckt eine Ro-
se, welche sich ebenfalls in eine Tänze-
rin verwandelt, wobei deren Kostüm eher
an Gestrüpp als an die Königin der Blu-
men erinnert. Zusammen tanzen sie her-
um, bis die Biene schließlich müde auf
eine steinerne Liege darnieder sinkt.
Abbildung 20.7: Die Königin der Bienen Dann erscheint die böse Spinne, wel-
wird in L’abeille et la rose (1908) von ei- che die schlafende Biene bedroht. In ih-
ner Spinne bedroht rem Netz krabbelt sie über der arglosen
Biene hin und her. Doch zwei weitere
Bienchen nahen zur Rettung. Sie zerreißen das Spinnennetz und wecken ihre Köni-
gin. Es wird noch ein wenig mit dem Bienenvolk getanzt, und dann ist der Film zu
Ende.
Die etwa 30 Sekunden, während welcher sich der Film mit der Spinne beschäftigt,
haben durchaus etwas reizvolles und unheimliches an sich. Dies liegt vor allem in
der Wehrlosigkeit der schlafenden Biene begründet. Aber die drei Minuten davor, und
auch die 30 Sekunden danach, sind für Horrorfans ausgesprochen qualvoll. Es wird
eben nur getanzt, wobei man manchmal doch befürchtet, die Tänzerinnen könnten
sich verletzen.
Der Film wurde ursprünglich auch vollständig koloriert, aber nur die ersten etwa
15 Sekunden sind noch in Farbe erhalten.

In der Einleitung dieses Kapitels haben wir kurz Émile Cohl erwähnt, der mit Fan-
tasmagorie (1908) den ersten Zeichentrickfilm schuf. Gleich mit seinem nächsten Film
54
L’abeille et la rose, aka The Bee and the Rose (Pathé Frères, Frankreich 1908, Regie, Kamera:
Segundo de Chomón, Länge: ca. 104m, 4 Minuten)

220
20. 1908

wiederholte er das Experiment mit einem weiteren Animationsfilm exakt des gleichen
Musters. Mit Le Cauchemar du Fantoche (1908)55 schuf er den ersten gezeichneten
Film aus dem Reich der Albträume.
Le Cauchemar du Fantoche (1908)
erzählt wie schon sein Vorgänger kei-
ne zusammenhängende Geschichte, son-
dern knüpft nur kurze Szenen aneinan-
der, die durch flüssige Animation inein-
andergreifen. So verwandelt sich zum
Beispiel ein Elefant in einen Hauswand,
wobei das Auge des Tiers in ein Fen-
ster mutiert. Cohls Film ist eine ein-
zige Abfolge von Bewegung und Ver-
wandlung. Diese Verwandlungen verlau-
fen sehr schnell, oftmals im Zeitrahmen
Abbildung 20.8: Früher Zeichentrickfilm:
von unter zwei Sekunden. Der Film wirkt
Le Cauchemar du Fantoche (1908) von
hierdurch schon beinahe ein wenig hy-
Émile Cohl. Fantoche liegt hier in seinem
sterisch. Doch da die Inhalte lediglich
Bettchen und wird von einem Riesen be-
durch einzelne weiße Striche auf schwar-
sucht
zem Grund dargestellt sind und die Kom-
plexität des Bildes für das Auge somit eher gering ist, ist der Film nicht anstrengend.
Der Zuschauer hat immer genug Zeit, um zu erkennen, dass Fantoche gerade träumt,
von einem Riesen bedroht, in einem Spinnennetz gefangen oder an einem Galgen er-
hängt zu werden.
Le Cauchemar du Fantoche (1908) ist natürlich ein rein experimenteller Film. Er
ist kein Kunstwerk oder gar hochwertiges animatorisches Schaffen. Émile Cohl war
auch kein Innovator, aber er war mutig, ideenreich und ein Wegbereiter.

Segundo de Chomón inszenierte mit La grotte des esprits (1908)56 einen tradi-
tionellen Trickfilm. Es war einer jener Sorte, wie sie sich allmählich zu erschöpfen
begannen, da der Markt seit Jahren damit versorgt wurde und Innovationen mittler-
weile rar waren. Es gibt eine Höhle zu sehen, in der Geister und Skelette hausen und
ein Sarg zu sehen ist. Diese Sorte Film hatte schon Georges Méliès zuhauf gedreht und
La grotte des esprits (1908) war einfach nur eine weitere Imitation.

55
Le Cauchemar du Fantoche, aka The Puppet’s Nightmare, aka Fantoche’s Nightmare, aka
Living Blackboard (Pathé Frères, Frankreich 1908, Regie, Animation: Émile Cohl, Länge: ca. 81m, 4
Minuten)
56
La grotte des esprits, aka Cave of the Spooks (Pathé Frères, Frankreich 1908, Regie, Kamera:
Segundo de Chomón, Länge: ca. 110m, 5 Minuten)

221
Das Dokument des Grauens

Chomóns La maison ensorcelée (1908)57 war mit dem gleichen Makel behaftet.
Einige Personen betreten ein verlassenes Haus und werden von Geistern und anderen
Spezialeffekten heimgesucht. Auch diese Sorte Film gab es schon zuhauf, vor allem
von Méliès. Natürlich macht sich hier die Klasse Chomóns bemerkbar, gerade im Ver-
gleich zu Méliès und seinen theaterhaften Einaktern; für La maison ensorcelée (1908)
bemühte Segundo de Chomón ein knappes Dutzend verschiedene Kameraeinstellun-
gen und Sets und die Kamera war nicht statisch. Einmal wackelt sogar die Kamera wie
wild, um die Illusion zu schaffen, dass das Geisterhaus bebt. Aber dennoch ist es nur
einer von vielen Geisterhaus-Filmen, von welchen die meisten unnötig sind - und 1908
war der Großteil davon noch gar nicht gedreht, dieses Subgenre würde sich bis zum
Ende der Stummfilmzeit noch zu einer wahren Seuche entwickeln.

Ein wahrer Albtraum für Filmhistoriker ist ein anderer Trickfilm der Pathé Frères.
Denn es ist aufgrund verlorener Fragmente ein Film der Pathé ohne Titel (1908)58 .
Ein Zauberer führt eine Reihe Zaubertricks vor. Er lässt Gegenstände und Personen
verschwinden und wieder erscheinen, auch verwandelt er ihr Aussehen. Ein Blumen-
mädchen verwandelt er in einen hässlichen Zwerg, und zwei sich duellierende Männer
werden zu Skeletten.

Les trois péchés du diable (1908)59 erzählt von Karl, einem jungen Glücksritter,
dessen Interessen vor allem aus Trinkgelagen, amourösen Abenteuern und Raufereien
bestehen. Seiner Verlobten verspricht er jedoch, sich zu bessern.
Dem Teufel passt dies jedoch gar nicht. Er verführt Karl erneut. Dieser trinkt wie-
der, lässt sich mit einer fremden Frau ein und duelliert sich. Doch jedes Mal erkennt er
in der anderen Person den Teufel wieder. Doch es entpuppt sich alles als Traum. Als
Karl erwacht, ist er sehr betroffen.
Les trois péchés du diable (1908) ist ein zu etwa zwei Dritteln kolorierter Strei-
fen, der wahrscheinlich als verschollen bezeichnet werden muss. Es gibt einen Pathé-
Katalogeintrag des Films bei der Fondation Jérôme Seydoux und einige Erwähnungen
des Titels in Zeitungsartikeln wie in der Ausgabe des Feilding Star vom 16. Oktober
1908.

La Suspension (1908)60 ist nur noch teilweise erhalten, aber die für uns wichtige
Szene dieser Komödie hat überlebt. Ein Handwerker versucht, eine Hängelampe an
der Decke zu befestigen. Dafür bohrt er mit einem großen Bohrer ein Loch. Doch er

57
La maison ensorcelée, aka La maison des lutns, aka The Haunted Castle (Pathé Frères, Frank-
reich 1908, Regie, Kamera: Segundo de Chomón, Länge: ca. 145m, 7 Minuten)
58
Film der Pathé ohne Titel (Pathé Frères, Frankreich 1908, Länge: ca. 304m, 15 Minuten)
59
Les trois péchés du diable, aka The Devil’s Three Sins (Pathé Frères, Frankreich 1908, Länge:
ca. 115m, 5 Minuten)
60
La Suspension, aka Die Hängelampe, aka The Hanging Lamp (Pathé Frères, Frankreich 1908,
Darsteller: Max Linder, Länge: ca. 90m, 4 Minuten)

222
20. 1908

bohrt zu tief und pfählt so versehentlich den über ihm wohnenden Nachbarn.

Der originale französische Titel von The Magic Mirror (1908)61 ist nicht mehr
bekannt, der von Ferdinand Zecca Film hingegen überlebt. Ein Chemiker hat eine
wundersame Flüssigkeit erfunden, und als er einen Spiegel damit einreibt, erwacht
sein Spiegelbild zum Leben. Es steigt aus dem Spiegel und wiederholt als Zwilling
des Wissenschaftlers alle seine Bewegungen.

Nach Gaumonts The Doctor’s Experiment (1908) produzierten auch die Pathé
einen Film, welcher sich im Kielwasser von H.G. Wells’ The Island of Dr. Moreau in-
direkt über die Evolutionslehre Charles Darwins und diejenigen, welche daran glaub-
ten, lustig machte. Auch in L’homme-singe (1908)62 wird entgegen Darwins Lehre
ein Mensch in einen Affen zurückverwandelt, und zwar unter Zuhilfenahme moderner
Wissenschaft. Einem Mann wird hier von einem Chirurgen ein Affenhirn implantiert
und der Arzt nimmt wohlwollend zur Kenntnis, dass der Mensch sich jetzt wie ein Affe
benimmt, und nimmt ihn zu einem Spaziergang mit auf die Straße.
Die Rezeption des Publikums gegenüber der Verbindung zwischen dem Affen und
dem Menschen war 1908 noch vorrangig Stoff für Komödien und Sticheleien. Dies än-
derte sich 1925, nach dem Scopes-Prozess in Dayton, Tennessee. Damals wurde einem
Lehrer vorgeworfen, an Schulen die Evolutionstheorie gelehrt zu haben, was in Ten-
nessee auf Betreiben der Fundamentalisten seit diesem Jahr verboten war. Nach diesem
Zeitpunkt wurden Evolutionswissenschaftler im amerikanischen Kino nicht mehr be-
lächelt, sondern als wahnsinnig und böse dargestellt, zum Beispiel in Dr. Renault’s
Secret (1942).

Die Pathé hatte 1906 noch einige weitere Produktionen auf Lager, deren Existenz
nur durch die Nennung in Katalogen und Programmen wirklich belegt ist. Da diese
Publikationen vorrangig aus dem englischsprachigen Raum stammen, sind in einigen
Fällen daher auch nur Filmtitel in englischer Sprache überliefert. Es bleibt die Hoff-
nung, dass derartige Filme doch noch irgendwo und irgendwann gefunden werden.
In L’invalide à la tête de bois (1908)63 hat ein kopfloser Mann eine Kollektion von
Schädeln in seinem Schrank, welche er nach Belieben aufsetzen kann. In dem hand-
kolorierten Film Satan’s Smithy (1908)64 entführt Satan einen Schmied in die Hölle,
wird dann jedoch von einer guten Fee verjagt. Der titelgebende Geist aus Le Spectre
(1908)65 erschrickt seinen eigenen Mörder. Geister erscheinen ebenfalls in Spirituali-
61
Magic Mirror (Pathé Frères, Frankreich 1908, Regie: Ferdinand Zecca, Länge: ca. 160m, 8 Mi-
nuten)
62
L’homme-singe, aka Boireau, l’homme-singe, aka The Monkey Man, aka The Man Monkey
(Pathé Frères, Frankreich 1908, Regie: Georges Monca, Länge: ca. 140m, 11 Minuten)
63
L’invalide à la tête de bois, aka The Wooden Headed Veteran (Pathé Frères, Frankreich 1908,
Länge: ca. 145m, 7 Minuten)
64
Satan’s Smithy (Pathé Frères, Frankreich 1908, Länge: ca. 8 Minuten)
65
Le Spectre, aka The Specter (Pathé Frères, Frankreich 1908, Länge: ca. 8 Minuten)

223
Das Dokument des Grauens

stic Seance (1908)66 und Spooks Do the Moving (1908)67 , wobei es sich bei letzteren
nur um einige Diebe handelt, welche sich als Geister verkleiden, um so an Möbel ei-
nes älteren Ehepaars zu gelangen. Der Koch Toula wird in Toula’s Dream (1908)68
durch einen Kopf erschreckt, der plötzlich in seinem Topf auftaucht. Und in Wave of
Spooks (1908)69 verwandeln sich Geister in Skelette und eine Vision der Hölle ist zu
sehen. Satan Finds Mischief (1908)70 ist ein weiterer Film voller Verwandlungen von
Gegenständen und Personen, doch dieses Mal ist Satan persönlich der Zauberkünstler.
Er erscheint am Schluss des Films, Rauch strömt aus seinem Mund und den Nasenlö-
chern, und dann verpufft alles in einer Rauchwolke.

Ebenfalls aus Frankreich stammt eine wesentlich kleinere Filmwerkstatt namens


Lux Compagnie Cinématographique de France. Diese veröffentlichte 1908 zwei Wer-
ke, welche den Horror berühren. In dem verschollenen und nur aus einem Katalog
des amerikanischen Vertriebs Kleine Optical Company bekannten The Cat’s Reven-
ge (1908)71 wird ein Mann von dem Geist einer Katze verfolgt. Der Regisseur dieses
Films war wahrscheinlich ein gewisser Gérard Bourgeois, der im gleichen Jahr noch
La vente du diable (1908)72 drehte. Über beide Filme wissen wir heute praktisch gar
nichts mehr.

Gaumont brachte in Großbritannien den in Frankreich gedrehten Streifen A Poor


Knight and the Duke’s Daughter (1908)73 auf den Markt. Darin verführt eine He-
xe die Tochter eines Grafen durch ein künstliches Trugbild. Der Film wurde damals
nicht aufwendig koloriert, sondern lediglich viragiert, also durch farbige Folien groß-
flächig eingefärbt. Ebenfalls von Gaumont stammt the Saloon-Keeper’s Nightmare
(1908)74 , in welchem ein Kneipenwirt träumt, Besuch vom Teufel zu haben.

So, das waren sie, die über 70 Horrorfilme des Jahres 1908. Das sind auffällig viele,
wenn man die Anzahl mit jener der Vorjahre vergleicht - 1906 zählten wir nur etwa 20
Werke mit Horrorbezug, 1907 waren es ein wenig mehr, doch nun hat sich die Menge
innerhalb eines Jahres beinahe verdreifacht. In den kommenden Jahren wird sich dieser
Trend fortsetzen. 1908 war das Jahr, in welcher die Filmwirtschaft sichtlich an Fahrt
aufnahm; das neue Medium war nach einem knappen Jahrzehnt auf Hinterhöfen und in
Jahrmarktsbuden zu einer Industrie geworden, und auch der fantastische Film erreichte
ein breiteres Publikum. Es gab Zeiten, vor allem während der beiden Weltkriege, in
66
Spiritualistic Seance (Pathé Frères, Frankreich 1908, Länge: ca. 100m, 5 Minuten)
67
Spooks Do the Moving (Pathé Frères, Frankreich 1908, Länge: ca. 108m, 5 Minuten)
68
Toula’s Dream (Pathé Frères, Frankreich 1908, Länge: ca. 107m, 5 Minuten)
69
Wave of Spooks (Pathé Frères, Frankreich 1908)
70
Satan Finds Mischief (Pathé Frères, Frankreich 1908, Länge: ca. 121m, 6 Minuten)
71
The Cat’s Revenge (Lux, Frankreich 1908, Länge: ca. 4 Minuten)
72
La vente du diable (Lux, Frankreich 1908, Regie: Gérard Bourgeois, Länge: ca. 123m, 6 Minuten)
73
A Poor Knight and the Duke’s Daughter (Gaumont, Frankreich 1908, Länge: ca. 274m, 13
Minuten)
74
The Saloon-Keeper’s Nightmare (Gaumont, Frankreich 1908, Länge: ca. 110m, 5 Minuten)

224
20. 1908

welchen das Horrorgenre stagnierte, doch so wenige neue Produktionen wie in den
Jahren vor 1908 sollten nie wieder über die Leinwände flimmern.
Auch wenn mit Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1908) der erste konkrete Versuch ei-
nes dedizierten Gruselfilms noch keinen merklichen Eindruck machte, kam der Stein
langsam aber sicher ins Rollen. Mit diesem Film begann man, allmählich die Angst
auch für das Medium des Films zu entdecken. Doch zwischen einer Erkenntnis und
der darauf folgenden Anwendung derselben können Jahre vergehen. Und im Falle das
Horrorfilms war dies auch der Fall.

225
Das Dokument des Grauens

226
Kapitel 21

1909

1909 war ein eher unauffälliges Jahr. Mit James Mason, David Niven, Douglas Fair-
banks jr. und Michael Rennie wurden vier großartige Mimen geboren, ebenso wie Elia
Kazan. Kazan sollte später ein begnadeter Regisseur werden und als Entdecker von
James Dean und Marlon Brando Filmgeschichte schreiben, aber auch als Denunziant
von Hollywoodkollegen während der amerikanischen Kommunismushysterie der 50er
Jahre. Die USA erlebten ihre erste große Ölkatastrophe mit dem Lakeview Gusher. Im
kalifornischen Kern County bohrte die Lakeview Oil Company nach Erdgas und traf
dabei unbeabsichtigt auf eines der größten Ölvorkommen der USA. Das Resultat war
ein Geysir aus Öl, der 18 Monate lang insgesamt 9 Millionen Barrel Öl in die Luft
schießen ließ. Theodore Roosevelt übergab das Amt des amerikanischen Präsidenten
an William Howard Taft. Robert Peary und Matthew Henson erreichten beinahe als
erste Menschen den Nordpol, mussten jedoch wenige Meilen zuvor umkehren. Und in
der Filmwelt setzte sich der Trend des Vorjahres fort, eine Vielzahl von Filmen wurde
produziert. Leider sind nur wenige noch erhalten.

Die Filmindustrie Italiens scheint 1909 die Fantastik für sich entdeckt zu haben.
Acht Genrebeiträge des Landes innerhalb eines Jahres sind bemerkenswert viel für
die damalige Zeit. Beginnen wir mit den unbekannteren Vertretern des italienischen
Kinos.
Von Antico romano (1909)1 wissen wir heute noch, dass er von drei Professoren
erzählt, die in eine alte Gruft hinabsteigen, welche die Jahrtausende unangetastet über-
dauerte. Dort treffen sie auf einen römischen Gladiator, der immer noch lebt. Der Film
gilt als verschollen, wie die meisten Kurzfilme aus jenen Jahren.

Gleiches gilt für La bacchetta del diavolo (1909)2 , der ebenfalls von der Società
Italiana Cines veröffentlicht und ebenso nicht archiviert wurde. Es ist ein verlorener,
1
Antico romano, aka Der antike Römer, aka The Ancient Roman (Società Italiana Cines, Italien
1909, Länge: ca. 219m, 7 Minuten)
2
La bacchetta del diavolo, aka La bacchetta magica, aka Des Teufels Zauberstab, aka The
Devil’s Wand (Società Italiana Cines, Italien 1909, Länge: ca. 126m, 6 Minuten)

227
Das Dokument des Grauens

nahezu unbekannter Film, der nur in Katalogen auftaucht. Ebenso schlecht ist es um
Romanzo di un pittore (1909)3 bestellt.

La perla meravigliosa (1909)4 gilt auch als verschollen, aber wir wissen immer-
hin, worum es in diesem Film ging. Der Film handelt von einem Fischer, der eine
wunderschöne Perle besitzt. Doch diese Perle ist verwünscht. Der Fischer gerät in ih-
ren Bann. Die Perle bringt ihn dazu, in das Meer zu laufen, wo er ertrinkt.

Der Produzent Arturo Ambrosio, bekannt geworden vor allem durch römische Hi-
storiendramen wie Nerone (1909), Ultimi giorni di Pompeii, Gli (1913) und Quo Va-
dis? (1925), finanzierte eine Verfilmung des klassischen französischen Romans Le dia-
ble boiteux von Alain-René Lesage. Il diavolo zoppo (1909)5 erzählt von Don Cleofa
Leandro Perez Zambullo, einem Studenten, der die schöne Tomasa besucht. Doch er
wird von vier Schlägern empfangen, welche ihn zur Heirat zwingen wollen.
Auf seiner Flucht landet Leandro bei dem Krüppel Asmodeus, der sich auf zwei
Krücken durch das Leben schleppt. Aber Asmodeus ist der Teufel. Er gibt Leandro
eine magische Brille, welche ihn durch steinerne Wände sehen lässt, und nimmt ihn
mit auf einen Flug über die Hausdächer der Stadt. So schaut Leandro durch die Haus-
dächer und sieht schließlich Tomasa, die mit den Angreifern an einem Tisch sitzt. Sie
steckt mit ihnen unter einer Decke! Der Teufel nimmt Rache für Leandro und stif-
tet eine Schlägerei an, nach welcher Leandros Peiniger verhaftet und ins Gefängnis
gesteckt werden. Und es gibt noch ein Happy End: In Leandros Gestalt rettet er die
schöne Serafina aus einem Feuer und Leandro wird schließlich mit ihr vermählt.

Aus der gleichen Filmwerkstatt wie Il diavolo zoppo (1909) stammt La ballata di
una strega (1909)6 . Darin hört eine Hexe den klaren Gesang eines Fischers und ver-
geht vor Neid. Er singt zu schön, schöner als sie es ertragen kann. Sie verhext ihn und
bringt ihn dazu, sich selbst zu ertränken. Anschließend singt sie ihre eigene Ballade.

Der Regisseur Oreste Gheradini drehte mit Fedra (1909)7 eine Verfilmung einer
griechischen Sage. Phädra, die Frau von Theseus, liebt ihren Stiefsohn Hippolytus. Von
3
Romanzo di un pittore, aka Die Romanze eines Malers, aka The Devil and the Painter (Latium
Film, Italien 1909, Regie: Azeglio Pineschi, Länge: ca. 283m, 16 Minuten)
4
La perla meravigliosa, aka Die wunderbare Perle, aka The Wonderful Pearl, aka The Marvel-
lous Pearl (Società Italiana Cines, Italien 1909, Länge: ca. 201m, 11 Minuten)
5
Il diavolo zoppo, aka Le diable boiteux, aka The Devil on Two Sticks (Società Anonima Am-
brosio, Italien 1909, Regie: Luigi Maggi, Kamera: Giovanni Vitrotti, Darsteller: Enrico Vaser, Gigetta
Morano, Ercole Vaser, Mario Voller-Buzzi Länge: ca. 207m, 12 Minuten)
6
La ballata di una strega, aka La Ballate della strega, aka Die Ballade von einer Hexe, aka The
Witch’s Ballad (Società Anonima Ambrosio, Italien 1909, Regie: Luigi Maggi, Kamera: Giovanni Vi-
trotti, Darsteller: Paolo Azzurri, Oreste Grandi, Umberto Mozzato, Mirra Principi, Mary Cleo Tarlarini,
Ercole Vaser, Ernesto Vaser, Serafino Vite Länge: ca. 160m, 9 Minuten)
7
Fedra, aka Fedra (Dramma mitologico dell’Antica Grecia), aka Phädra, aka Phaedra (Società
Italiana Cines, Italien 1909, Regie: Oreste Gherardini, Länge: ca. 294m, 16 Minuten)

228
21. 1909

sich selbst angeekelt, möchte sie ihn loswerden und bezichtigt ihn eines Verbrechens.
Von Theseus verstoßen, flieht Hippolytus mit seiner Geliebten Aricie. Doch er kommt
zu Tode, und Phädra tötet sich selbst.
Der Film ist inhaltlich mehr Historiendrama als der Fantastik zugeneigt. Aber es
gibt ein Seemonster zu sehen. Leider ist der schwerbeschädigte Nitratfilm nur noch in
Fragmenten erhalten und die Fragmente in falscher Reihenfolge angeordnet. Von den
originalen 322 Metern haben nur noch 42 Meter überlebt und die Sequenz mit dem
Monster gehört leider zu den verlorenen Szenen.

Il genio del lago (1909)8 ist ein lose an den antiken Mythos der Undine, einer
jungfräulichen Wassernymphe, angelegter Film um einen Ritter, der von dieser ver-
hext wird und sich in sie verliebt.

Italien kann 1909 auch ein Meisterwerk vorweisen. L’inferno (1909)9 ist eine ge-
niale Verfilmung von Dante Alighieris La divina comedia. Guiseppe de Ligouro ver-
filmte den ersten Teil des Werks, der den Titel „Hölle“ trägt. Virgilio führt Dante durch
die Hölle und zeigt ihm die Schrecken, welche auf Sünder warten.
Die Schwierigkeit bei diesem Film ist, dass er nicht eigenständig ist. Diese Pro-
duktion entstand zwar 1909, erlebte aber jedoch nur sehr eingeschränkte Aufführun-
gen. Milano Film produzierte nämlich auch noch Verfilmungen der anderen beiden
Teile von Alighieris berühmtem Werk in den zwei folgenden Jahren und veröffentlich-
te diese dann im Jahr 1911 in Form eines einzigen Mammutwerkes: L’inferno (1911),
mit einer Laufzeit von mehr als einer Stunde. Da die Fassung von 1911 die ersten
beiden Teile vollständig enthält, werden wir an dieser Stelle nicht näher auf den Film
eingehen, sondern diese dann im Rahmen der Besprechung von L’inferno (1911) mit-
behandeln.

Verlassen wir Italien und orientieren uns weiter nördlich, nach Dänemark. Däni-
sche Filme mit Hang zum Fantastischen aus der Produktion der Nordisk Film hatten
1909 bereits eine gewisse Tradition. Der Produzent Ole Olsen und sein Stammregis-
seur Viggo Larsen hatten bereits mit Fyrtøjet (1907) und Trilby (1908) auf sich auf-
merksam gemacht. 1908 legten sie mit Sherlock Holmes (1908) den Grundstein zu
einer Filmserie um den berühmten Detektiv. Sherlock Holmes wurde von Viggo Lar-
sen selbst verkörpert.

8
Il genio del lago, aka Undine, aka The Spirit of the Lake (Società Italiana Cines, Italien 1909,
Länge: ca. 223m, 12 Minuten)
9
L’inferno, aka Dantes Inferno, aka Dante’s Inferno (Milano Film, Italien 1909, Regie: Guiseppe
de Ligouro, Bühnenbild: Francesco Bertolini, Kamera: Emilio Proncarolo, Darsteller: Salvatore Papa,
Arturo Pirovano, Guiseppe de Ligouro, Pier Delle Vigne, A. Milta, Emilise Beretta, Länge: ca. 365m,
20 Minuten)

229
Das Dokument des Grauens

Bereits 1909 entstand der sechste Teil dieser Filmreihe, Den graa Dame (1909)10 .
Der Film erzählt eine Geistergeschichte, welche sehr frei Arthur Conan Doyles be-
rühmtem Kriminalroman The Hound of the Baskervilles nachempfunden wurde.

Der Film spielt im Anwesen eines gewissen Lord Beresford. In diesem soll der
Geist einer in grau gekleideten Frau sein Unwesen treiben. Jeder Mensch, welchem
das Gespenst erscheint, stirbt kurz nach dieser Begegnung.
Sherlock Holmes wird herbeigerufen
und macht sich mit Unterstützung durch
Dr. Watson sofort an die Ermittlungen.
An ein übernatürliches Phänomen glaubt
er natürlich nicht und prompt erwischt
er auch den Schurken, der hinter den
Vorkommnissen steckt. Es handelt sich
um den Neffen des reichen Familienober-
hauptes, welcher sich als Gespenst ver-
kleidet und Leute um die Ecke bringt,
um auf diese Art und Weise das Fami-
lienvermögen in seine gierigen, mörderi-
Abbildung 21.1: Den graa dame (1909):
schen Hände zu bekommen.
Sherlock Holmes (rechts) wird überrascht
In Den graa Dame (1909) taucht in
der Tat ein Geist auf, kein mörderischer
Hund wie in der berühmten Vorlage. Aber dennoch gilt der Film heute als die erste
Verfilmung von The Hound of the Baskervilles, der wohl berühmtesten und am meisten
verfilmten Geschichte über die Abenteuer von Sherlock Holmes. Der Film war ein
großer Erfolg und fesselte sein Publikum. Wenn Sherlock Holmes durch die dunklen
Gänge des Hauses schlich und man ständig damit rechnen musste, dass das Gespenst
auftaucht, war das für die Zuschauer enorm aufregend. Und als am Schluss dann das
Gespenst wirklich auftauchte, war dies ein wunderbarer Höhepunkt des Films. Aber
obwohl Den graa Dame (1909) eine klassische Gespenstergeschichte ist, liegt der
Fokus nicht auf dem Erzeugen von Angst. Nein, die Horrorelemente dienen alleine
dem Erzeugen von Spannung. Den graa Dame (1909) ist ein klassisches Beispiel
dafür, wie schmal der Grat zwischen Horrorfilm und Thrillern ist.
Viggo Larsen verkörperte hier den Detektiv zum sechsten und letzten Mal. Otto
Lagoni übernahm die Rolle in den weiteren Folgen der Serie, auf ihn folgte Alwin
Neuß und schließlich Holger Rasmussen. Der Grund hierfür lag nicht etwa an einem
Desinteresse Larsens an der Rolle, sondern er wanderte 1910 nach Deutschland aus.
10
Den graa Dame, aka Sherlock Holmes VI, aka Af Sherlock Holmes’ Oplevelser VI, aka The
Grey Lady, aka The Grey Dame (Nordisk Film, Dänemark 1909, Produktion: Ole Olsen, Regie: Viggo
Larsen, Drehbuch: Viggo Larsen, nach dem Roman The Hound of the Baskervilles von Arthur Conan
Doyle, Kamera: Axel Sörensen, Darsteller: Viggo Larsen, Holger Madsen, Gustave Lund, Elith Pio,
Poul Welander, Länge: ca. 307m, 14 Minuten)

230
21. 1909

Viggo Larsen selbst blieb als Regisseur und Schauspieler weiterhin aktiv. Gegen Ende
des Ersten Weltkriegs erlosch sein Interesse am Regiestuhl etwas und er konzentrier-
te sich neben dem Schauspiel, seiner eigentlichen Leidenschaft, auch auf ein Dasein
als Produzent. Bis zu seiner letzten Arbeit im Jahr 1942 war er jedoch vorrangig als
Darsteller tätig. 1945 ging er dann wieder nach Dänemark zurück. Doch bevor er seine
Heimat 1910 verließ, drehte er noch zwei weitere Filme für Nordisk, welche für uns
von Interesse sind.

Larsens Heksen og Cyklisten (1909)11


ist ein Trickfilm von Viggo Larsen, wie
sie schon von Georges Méliès und Se-
gundo de Chomón zu Dutzenden gedreht
wurden; allerdings drehte Larsen seinen
Film im Freien und nicht wie seine Vor-
gänger hauptsächlich im Studio.
Ein Radfahrer träumt nachts, er
würde die Straße entlangradeln und
dabei auf eine Hexe treffen. Die-
se wedelt mit ihrem Zauberstab und
treibt Unfug mit ihm. Mal fährt er
rückwärts, mal hängt sein Rad plötz-
lich hoch in einem Baum, am En-
de fährt die Hexe auf dem Rad da-
von. Dann erwacht er aus seinem
Schlaf und die eigenartigen Gescheh-
nisse setzen sich im wirklichen Leben
fort.

Der Film mit dem für deutsche Oh-


ren etwas sperrigen Titel Lamaklostrets
hemmelighed (1909)12 ist der dritte Teil
einer 1909 von Viggo Larsen inszenier- Abbildung 21.2: Viggo Larsen, fotogra-
ten Kriminalfilmreihe mit Elementen des fiert von dem bekannten Berliner Fotogra-
Fantastischen. Diese fokussiert sich auf fen Alexander Binder in den 20er Jahren
den Superschurken Dr. Nicola, darge-
stellt durch August Blom. In Lamaklostrets hemmelighed (1909) werden Verstor-
11
Heksen og Cyklisten, aka Radler und Hexe, aka Witch and the Cyclist, aka Cyclist and the
Witch (Nordisk Film, Dänemark 1909, Produktion: Ole Olsen, Regie: Viggo Larsen, Kamera: Axel
Sörensen, Darsteller: Viking Ringheim, Petrine Sonne, Länge: ca. 59m, 3 Minuten)
12
Lamaklosterets Hemmeligheder, aka Doktor Nicola III, aka Dr. Nicola III, aka Dr. Nicola in
Tibet, aka The Mystery of the Lama Convent (Nordisk Film, Dänemark 1909, Produktion: Ole Olsen,
Regie: Viggo Larsen, Darsteller: August Blom, Axel Boesen, Franz Skondrup, Aage Brandt, Länge: ca.
395m, 19 Minuten)

231
Das Dokument des Grauens

bene von geheimnisvollen buddhistischen Mönchen wieder zum Leben erweckt. La-
maklostrets hemmelighed (1909) war der Abschluss einer Trilogie um Dr. Nicola
und einen geheimnisvollen chinesischen Zauberstab, welchen der böse Verbrecher an
sich bringen möchte. Alle drei Teile haben nicht überlebt.

Dann wäre da noch Den skæbnesvangre opfindelse (1909)13 zu nennen, eine Ver-
filmung von Robert Louis Stevensons The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde
und Dänemarks bekanntester Beitrag zum Horrorgenre aus diesem Jahr.
August Blom, der Darsteller des Dr.
Nicola in Viggo Larsens Lamaklostrets
hemmelighed (1909), adaptierte Steven-
sons Roman, nahm auf dem Regiestuhl
Platz und agierte ebenso vor der Kamera.
Auch Viggo Larsen ist in einer Nebenrol-
le zu sehen. Die Hauptrolle des Dr. Jekyll
übernahm Alwin Neuß, der spätere Dar-
steller des Sherlock Holmes, und Emilie
Sannom hatte die Rolle der Maud inne,
Jekylls Geliebte.
Der Film orientiert sich relativ eng
Abbildung 21.3: Dr. Jekyll und Mr. Hyde an Stevensons Vorlage, allerdings wird
in Den skæbnesvangre opfindelse (1909) er am Ende durch ein lächerliches En-
de stark entwertet. Wie damals oft üblich
wird das Übernatürliche und Schreckliche relativiert, als Jekyll in seinem Stuhl sitzend
aus dem Albtraum erwacht.
Bei diesem Film gibt es mitunter etwas Verwirrung wegen seines Entstehungsjah-
res. Er wird oftmals mit dem Jahr 1910 in Verbindung gebracht, vor allem in ameri-
kanischen Medien. Dies ist jedoch falsch und beruht darauf, dass der Film erst 1910
seine amerikanische Uraufführung erlebte. Aber eben nur die amerikanische Premiere,
nicht die dänische.

In diesem Jahr gab es in Großbritannien eine Auseinandersetzung zwischen dem


Schiffsarzt Dr. Frederick Cook und dem Expeditionsleiter Robert Edwin Peary. Peary
behauptete 1909, als erster Mensch den Nordpol erreicht zu haben. Cook, ein ehe-
maliger Teilnehmer an einer Polarexpedition, welche Peary 1891 unternommen hatte,
behauptete umgehend, bereits 1908 dort gewesen zu sein. Die Medienschlacht zwi-
schen den beiden Männern entbrannte. Walter R. Booth lieferte hierzu einen satiri-
13
Den skæbnesvangre opfindelse, aka Dr. Jeckyll og Mr. Hyde, aka Ein seltsamer Fall, aka Dr.
Jekyll and Mr. Hyde (Nordisk Film, Dänemark 1909, Produktion: Ole Olsen, Regie: August Blom,
Drehbuch: August Blom, nach The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde von Robert Louis Ste-
venson, Kamera: Axel Graatkjaer, Darsteller: Alwin Neuß, Oda Alstrup, August Blom, Victor Fabian,
Julie Henriksen, Rigmor Jerichau, Ella La Cour, Viggo Larsen, Holger Pedersen, Emilie Sannom, Einar
Zangenberg, Länge: ca. 429m, 22 Minuten)

232
21. 1909

schen Kommentar mit dem Titel Capturing the North Pole, or How He Cook’ed
Peary’s Record (1909)14 . In dieser ersten Verfilmung der Motive des Barons Münch-
hausen fliegt der Baron zum Nordpol und begegnet dort dem „Geist des Nordens“.

Clarendon produzierte Percy Stows Electric Transformation (1909)15 , einen wei-


teren Film über die Wunder der Wissenschaft in der Tradition von Liquid Electricity
(1907) und Galvanic Fluid (1908). Professor Bode ist in der Lage, mit seinen elek-
trischen Werkzeugen jede Krankheit zu heilen. Und noch mehr, wie er einer Gruppe
von leichtgläubigen Zuschauerinnen vorführt. Er kann Eisen schmelzen und zu einer
Büste verformen. Er kann menschliche Gesichter schmelzen und die Gesichtszüge ver-
ändern. Und am Ende verändert er sein eigenes Aussehen. Electric Transformation
(1909) war ein Trickfilm in der Art jener aus dem Studio von Georges Méliès, also
1909 schon nichts Besonderes mehr.

The Haunted Man (1909)16 ist ein nahezu vergessener Film. Es handelt sich hier-
bei um den ersten Film, welcher sich der Doppelgänger-Thematik annahm. Ein Mann
wird ständig von einer geisterhaften Erscheinung verfolgt. Diese ahmt jede Bewegung
des Mannes nach, wie ein Schatten. Aber nur der Mann selbst kann die Geistergestalt
sehen ...
Dieser Film ist wohl hoffnungslos verloren. Ein kleiner Film eines nahezu unbe-
kannten Regisseurs und nur durch einen kleinen Verleih in Umlauf gebracht, da sind
die Chancen sehr gering, dass er noch einmal irgendwo auftaucht.

Auch What Happened to Brown (1909)17 ist ein kleiner, verschollener Film. In
dieser Slapstick-Komödie gerät ein Mann in einer Fabrik in große Maschinen und wird
von ihnen zermatscht.

Es gibt drei weitgehend unbekannte Produktionen einer Produktionsgesellschaft


namens Urban-Eclipse. Dies war ein Joint Venture von Charles Urban, dem Inhaber
der Urban Trading Company, mit Eclipse, einem kleinen französischen Studio und
Radiosender. Bei diesen drei Filmen gibt es das Problem, dass das Produktionsland
unklar ist; es könnte sich um britische Filme handeln, welche über Eclipse in Frank-
reich vertrieben wurden, aber genauso gut auch um französische Filme, deren Vertrieb
Urban übernahm. Die Hinweise auf die Filme stammen aus amerikanischen Filmzeit-
schriften, doch der amerikanische Vertrieb wurde von Kleine Optical lizenziert, und
14
Capturing the North Pole, or How He Cook’ed Peary’s Record, aka Capturing the North
Pole, aka How I Cook’ed Peary’s Record, aka How I Cook’ed Peary’s Record, aka How Cook
Cooked Peary at the Pole, aka Up the Pole (Urban Trading Company, UK 1909, Regie: Walter R.
Booth, Länge: ca. 116m, 6 Minuten)
15
Electric Transformation (Clarendon, UK 1909, Regie: Percy Stow, Länge: ca. 126m, 7 Minuten)
16
The Haunted Man (Walturdaw Company, UK 1909, Regie: William Duskes)
17
What Happened to Brown (Cricks Martin Films, UK 1909, Regie: David Aylott, Darsteller:
Johnny Butt)

233
Das Dokument des Grauens

dort bediente man sich natürlich der Kopien des britischen Verleihs. Somit ist die tat-
sächliche Herkunft der Filme effektiv verschleiert.
Die amerikanische Fachzeitschrift Moving Picture World veröffentlichte in ihrer
Ausgabe vom 8. Mai 1909 eine Kritik zu A Timely Apparation (1909)18 . Dort wird
eine unschuldige Frau der Hexerei bezichtigt und soll auf dem Scheiterhaufen ver-
brannt werden. Doch gerade noch rechtzeitig erscheint der Geist ihres Vaters, und ihre
Folterer sterben aus Angst.
Ebenfalls in der Moving Picture World, diesmal in der Ausgabe vom 26. Juni 1909,
finden sich Erwähnungen von The Phantom Sirens (1909)19 . In diesem Film werden
Fischer von Sirenen in ein nasses Grab gelockt.
Und dann wäre noch Tale of the Fiddle (1909)20 . Eine junge Frau wird in dieser
Variation des Faust-Themas von einem Verbrecher bedroht, aber ein Ritter rettet sie.
Das Mädchen verliebt sich hoffnungslos in seinen Retter, doch die Liebe wird nicht
erwidert. Daher schließt sie einen Pakt mit dem Teufel, welcher ihre eine Fiedel über-
reicht. Wer auch immer unter den Einfluss des Instruments gerät, wird sich in die Frau
verlieben. Allerdings nur für ein Jahr. Denn dann ist die Frist um, und der Teufel wird
zurückkehren, um sich ihre Seele zu holen, denn das ist der Preis für den Handel. Die
junge Frau willigt ein und gewinnt die Liebe des Ritters. Doch nach einem Jahr kommt
der Teufel zurück.

In Frankreich waren die Pathé Frères


noch immer sehr aktiv. L’hôtel hanté
(1909)21 von Segundo de Chomón
ist eine der vielen Pathéproduktionen,
welche 1909 entstanden. Segundo de
Chomón schuf einen nahezu handlungs-
freien Trickfilm, der vor allem jump cuts
und stop motion intensiv demonstriert.
Er zeigt uns zuerst einen Mann, der
pausenlos in, auf und unter einem Bett
herumtollt, welches von zwei Geistern
ständig bewegt wird. Manchmal ver-
Abbildung 21.4: Tumult im Hotelbett: schwinden die Geister und das Bett be-
L’hôtel hanté (1909) wegt sich von alleine, dann kehren sie
wieder zurück, und stets wirbelt der Dar-
steller ihres Opfers ohne sichtbare Schnitte durch die Kulisse. In der zweiten Hälfte
des Films folgen vorwiegend stop motion Tricks. Der von Geistern geplagte Mann
verzweifelt zuerst mit einem, dann mit mehreren Holzstühlen. Diese vermehren sich,
18
A Timely Apparation (Urban-Eclipse, UK oder Frankreich 1909, Länge: ca. 183m, 10 Minuten)
19
The Phantom Sirens (Urban-Eclipse, UK oder Frankreich 1909, Länge: ca. 239m, 14 Minuten)
20
Tale of the Fiddle (Urban-Eclipse, UK oder Frankreich 1909, Länge: ca. 238m, 13 Minuten)
21
L’hôtel hanté (Pathé Frères, Frankreich 1909, Regie: Segundo de Chomón, Länge: ca. 54m, 3
Minuten)

234
21. 1909

formen sich zu Figuren, dann rutscht der Mann bewegungslos über eine Reihe aus
Stühlen hinweg, und so weiter.
Technisch ist der Film zweifelsfrei kreativ, inhaltlich jedoch so selbstverliebt, dass
der Zuschauer vollständig vergessen wurde. Für aufmerksame Betrachter sind die Dar-
stellungen der Geister in ihren Bettlaken und Geiermasken immerhin noch unterhalt-
sam, vor allem aufgrund der an den Körper geklebten Arme, damit es nicht so auffällt,
dass hier zwei Schauspieler ein Bett durch den Raum zerren. Aber ansonsten ist der
Film schrecklich langweilig. Und bei nur 3 Minuten Laufzeit ist das eine Leistung.

Les Cadeaux de la fée (1909)22 ist ein kurzer Märchenfilm, ebenfalls von Segundo
de Chomón gedreht. Es gibt eine Fee zu sehen und ein Horn, welches Gold ausspuckt.
Der Film hat mit Horror kaum etwas zu tun, aber er findet hier dennoch Erwähnung,
weil darin Knaben in Schweine verwandelt werden.

La Défaite de Satan (1909)23 ist eine kleine Produktion, welche die Macht der
Liebe über das Böse thematisiert. Der adlige Robert de Normandie liebt die Tochter
des Duc de Messine. Doch Satan hat damit ein Problem, weshalb auch immer. Er ver-
führt daher Robert zu einem Würfelspiel im Beisein seiner Liebsten. Er verwandelt die
Würfel dann in Spinnen und anderes Getier, in der Hoffnung, dass die Geliebte darauf-
hin ihren Robert für einen Zauberer hält. Aber das ist nicht der Fall, die Hochzeit findet
statt. Beim Betreten der Kirche unternimmt Satan einen neuen Versuch, sich zwischen
die Liebenden zu stellen, doch Robert nimmt ein Kreuz und vertreibt damit den Teu-
fel. Dieser noch erhaltene Film ist mit bescheidenen Mitteln im Freien inszeniert und
ebenso theatralisch wie kitschig.

Segundo de Chomóns Voyage au centre de la terre (1909)24 zeigt Motive aus Ju-
les Vernes gleichnamigem Roman über die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Der Film
ist sehr kurz und zeigt nur einzelne Szenen des bekannten Werkes, darunter jedoch
eine untergegangene Stadt und, was den Film für uns interessant macht, Dinosaurier.
Aber dieses Wissen wird wohl theoretisch bleiben, denn es handelt sich um einen ver-
lorenen Film.

Die Regisseurin Camille de Morlhon nahm sich des Faust-Themas an, mit der Un-
terstützung von Segundo de Chomón hinter der Kamera. Das Ergebnis dieser Zusam-
22
Les cadeaux de la fée, aka The Fairy’s Presents (Pathé Frères, Frankreich 1909, Regie: Segundo
de Chomón, Länge: ca. 90m, 5 Minuten)
23
La Défaite de Satan, aka The Defeat of Satan (Pathé Frères, Frankreich 1909, Regie: Georges
Denola, Darsteller: Georges Laumonier, Jacques Vandenne, Madeleine Céliat, Länge: ca. 228m, 14
Minuten)
24
Voyage au centre de la terre, aka Voyage au centre de la terre, aka Inside the Earth, aka Jour-
ney to the Center of the Earth, aka Journey to the Middle of the Earth (Pathé Frères, Frankreich
1909, Regie: Segundo de Chomón, Drehbuch: Segundo de Chomón, nach dem Roman Voyage au centre
de la terre von Jules Verne, Kamera: Segundo de Chomón, Länge: ca. 95m, 5 Minuten)

235
Das Dokument des Grauens

menarbeit war Mademoiselle Faust (1909)25 , ein Versuch, eine moderne Variante des
Stoffes auf die Leinwand zu bringen.
Die Titelfigur des Films, Fausta, greift zum Telefon und ruft den Teufel an. Sie
bietet ihm ihre Seele im Tausch gegen ewige Jugend. Nach Abschluss des Handels
bandelt Fausta mit einem jungen Mann auf der Straße an. Ein Engel fährt in seinem
Auto vorbei und verwandelt Fausta in einen Mann. Fausta ist wütend und wendet sich
wieder an den Teufel, der sie wieder in eine Frau zurückverwandelt. Doch der Schwes-
ter des jungen Mannes passt es überhaupt nicht, dass Fausta sich an ihn heranmacht.
Also gibt es eine Auseinandersetzung, welche damit endet, dass der Engel Fausta in
eine Zwergin verwandelt. Doch zum Schluss gibt es ein Happy End, als der Engel be-
schließt, dass Fausta genug gebüßt habe, und mit ihr in den Himmel aufsteigt.

The Hypnotic Wife (1909)26 ist einer jener Filme, über welchen man nur noch so
wenig weiß, dass selbst der Originaltitel nicht mehr überliefert ist.
Ein Ehemann leidet unter seiner dominanten Frau. Deshalb bittet er ihren Vater um
Hilfe. Dieser taucht im Haus des Ehepaars auf und weist seine Tochter in ihre Schran-
ken. Diese will dies jedoch nicht auf sich sitzen lassen und engagiert einen Hypnoti-
seur. Der Vater wird hypnotisiert und auf die Straße geschickt. Dort wandert er ziellos
umher und landet schließlich in der Klapsmühle. Und die Tochter führt zuhause ihr
Regime weiter.

In dem ähnlich gelagerten La dormeuse (1909)27 geht ein Hypnoseexperiment ei-


nes Professors gehörig schief, als eine dicke Farmersfrau unter den Einfluss magneti-
scher Felder gerät. Sie wacht einfach nicht mehr aus der Hypnose auf. Daher beschließt
ihr Ehemann, der Farmer, das Beste aus der Situation zu machen und bewirbt sie fortan
als „Eulatlie, die gefeierte Schläferin“. Das geht einige Monate gut, doch dummerwei-
se wacht sie eines Morgens auf und will essen, essen, essen. Und sie schläft einfach
nicht mehr ein. Der Farmer sieht am Ende keinen Ausweg mehr und wird selbst zu
einem Schläfer.

Chomóns Regiekollege Ferdinand Zecca schuf in diesem Jahr einen interessanten


Film. L’homme invisible (1909)28 ist die erste Verfilmung von H.G. Wells’ populären
Roman The Invisible Man und entstand also ein knappes Vierteljahrhundert vor der
berühmten Verfilmung durch James Whale.
Ein Mann kauft an einem Kiosk ein Exemplar von „ L’homme invisible“, der fran-
zösischen Ausgabe von Wells’ Roman. Dieses Buch wird auch in Großaufnahme ge-
25
Mademoiselle Faust (Pathé Frères, Frankreich 1909, Regie: Camille de Morlhon, Kamera: Se-
gundo de Chomón, Länge: ca. 200m, 11 Minuten)
26
The Hypnotic Wife (Pathé Frères, Frankreich 1909)
27
La dormeuse, aka The Sleeper, (Pathé Frères, Frankreich 1909, Regie: Michel Carré, Drehbuch:
Maxime Vermont, Darsteller: Emile Matrat, Mathilde Caumont, Länge: ca. 180m, 10 Minuten)
28
L’homme invisible, aka Le voleur invisible, aka The Invisible Thief (Pathé Frères, Frankreich
1909, Regie: Ferdinand Zecca, Länge: ca. 90m, 5 Minuten)

236
21. 1909

zeigt. Der Mann geht damit nach Hause, macht es sich bequem und beginnt, darin zu
lesen. Dann hat er eine Idee. Er stellt ein paar Flaschen mit unbestimmten Inhalten
auf den Tisch, mischt daraus eine Brühe und trinkt diese. Prompt wird er unsichtbar,
entledigt sich seiner Kleider und geht auf Diebestour.
Er räumt ein Schränkchen in einer fremden Wohnung leer und bestiehlt zwei Pas-
santen auf der Straße. Von der Polizei verfolgt flüchtet er in seine Wohnung zurück
und erschrickt dort die Polizisten so sehr, dass diese flüchten.
Zeccas Film ist kurz, aber innovativ. Die Diebestour des Unsichtbaren ist zwar per
stop motion inszeniert und bietet hier wenig Neues, aber die Stärke des Films liegt in
der Verwandlungsszene. Wenn sich der Unsichtbare aus seinen Kleidern herausschält,
ist zwar seine Silhouette noch wie ein Geist erkennbar, doch die geisterhafte Erschei-
nung schadet dem Film nicht.

Auch bei L’homme qui rit (1909)29 handelt es sich um eine Erstverfilmung, in die-
sem Fall um den gleichnamigen Roman von Victor Hugo. Die Geschichte um Gwyn-
plaine, dessen Gesicht zu einem ewigen Grinsen entstellt ist, gilt als Hugos morbi-
destes Werk und wurde mehrmals verfilmt. Die deutsche Produktion Das grinsende
Gesicht (1921), Universals Großproduktion The Man Who Laughs (1928) und Ser-
gio Corbuccis Fehltritt L’uomo che ride (1966) sind die bekanntesten Nachfolger der
Fassung aus dem Jahr 1909, von welcher leider keine Kopien überlebt haben.

La peau de chagrin (1909)30 ist eine Adaption der Motive aus der gleichnamigen
Geschichte des französischen Autors Honoré de Balzac. Auch hier geht es im Grunde
um einen Pakt mit dem Teufel, wenngleich die Ausprägung hier eine andere ist als in
der Masse der Faust-Variationen.
Raphael hat Kummer und will sich das Leben nehmen. Doch er begegnet einer al-
ten Frau, welche ihm eine Eselshaut gibt. Diese Haut gewährt Raphael Wünsche, sie
kann ihn seinen Kummer vergessen lassen. Doch die Sache hat natürlich einen Haken.
Mit jedem erfüllten Wunsch schrumpft die Haut etwas, und am Ende, wenn sie in ein
Nichts verschwindet, wird das der Tod ihres Besitzers sein.

Moonstruck (1909)31 ist noch einer jener französischen Filme, von deren Existenz
wir nur noch dank amerikanischer Magazine wissen. Variety bezeichnete ihn als voll-
gefüllt mit „den üblichen Vorkommnissen“[16]. Ein eingeschlafener Trinker träumt,
dass er, auf einem Ofenrohr reitend, eine Reise zum Mond unternimmt. Dort begegnet
er furchterregenden Mondbewohnern und plumpst nach einigen Erlebnissen wieder in
29
L’homme qui rit, aka The Man Who Laughs (Pathé Frères, Frankreich 1909, Regie: Albert
Capellani)
30
La peau de chagrin, aka The Wild Ass’s Skin (Pathé Frères, Frankreich 1909, Regie: Albert Ca-
pellani, Drehbuch: Michel Carré, nach der gleichnamige Geschichte von Honoré de Balzac, Darsteller:
Henri Desfontaines, Paul Capellani, Gilberte Sergy, René Leprince, Stacia Napierkowska, Louise Fusier
Länge: ca. 297m, 17 Minuten)
31
Moonstruck (Pathé Frères, Frankreich 1909, Länge: ca. 220m, 12 Minuten)

237
Das Dokument des Grauens

sein Heim zurück.

Auch bei An Apish Trick (1909)32 blieben neben dem Film auch kaum Informa-
tionen über ihn erhalten. In dem Film wird einem Mann von dessen Frau ein Serum
injiziert, welches ihn dazu bringt, sich wie ein Affe zu verhalten. Es stellt sich die Fra-
ge, ob der Film sich vorrangig an den Kommentaren zu Darwins Evolutionstheorie wie
L’homme-singe (1908) orientierte, oder ob durch die Verwendung eines Serums hier
auch ein Hauch von The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde in den Film einfloss.
Aber in jedem Fall war der Film inhaltlich wohl eher repetitiv.

Ebenfalls ohne Originaltitel ging auch The Bewitched Manor House (1909)33
in die Horrorfilmgeschichte ein. Der Film ist ein weiterer Genrebeitrag um ein Gei-
sterhaus, in welchem eigenartige Dinge geschehen. Diesmal erscheinen Monster und
selbstverständlich auch Satan höchstpersönlich.

Als wäre das nicht genug, veröffentlichten die Pathé Frères noch The Haunted
Castle (1909)34 . In dem Film wird eine bedrohte junge Frau von einem Geist gerettet.

Moving Picture World erwähnte am 26. Juni 1909 ebenso wie der New Zealand
Observer in seiner Ausgabe vom 14. August 1909 auch The Bogey Woman (1909)35 .
Von der amerikanischen Zeitschrift wissen wir die Länge des Films und den Kiwis
verdanken wir eine Kurzbeschreibung des Inhalts. Der Film transferiert die Schauer-
gestalt des „Schwarzen Mannes“, vor welchem sich alle Kinder fürchten, in eine Frau.
Diese verwandelt Kinder in Gemüse.

Neuseeland war in der Anfangszeit des Kinos übrigens nicht sonderlich filmbegei-
stert. Es gab überall Kinos, aber die eigene Filmindustrie war kaum von Bedeutung.
Dass die neuseeländischen Medien heute eine wichtige Ressource für Recherchen sind,
liegt vor allem an einem staatlichen Programm zur Archivierung und Digitalisierung
der lokalen Tageszeitungen. Hierdurch blieben nicht nur ausgewählte Artikel erhalten,
sondern auch die für unsere Zwecke wichtigen Ausschnitte des Alltags wie Veranstal-
tungsberichte und natürlich Werbeanzeigen von Kinos. Forbidden Fruit (1909)36 fand
so unter anderem in der NZ Truth Erwähnung, auf Seite 4 der Ausgabe vom 10. April
1909. Dies war ein kleiner Film der Pathé Frères über ein armes Ehepaar, welches in
einem Schloss leben darf, aber von einem Magier gewarnt wird, auf keinem Fall unter
die Tischdecke eines großen Buffets zu schauen. Als die Frau dies dennoch tut, hüpft
ein Riesenfrosch heraus und vertreibt das Paar aus dem Schloss. Die Handlung erin-

32
An Apish Trick, aka The Apish Trick (Pathé Frères, Frankreich 1909)
33
The Bewitched House (Pathé Frères, Frankreich 1909, Länge: ca. 108m, 6 Minuten )
34
The Haunted Castle (Pathé Frères, Frankreich 1909)
35
The Bogey Woman (Pathé Frères, Frankreich 1909, Länge: ca. 116m, 7 Minuten )
36
Forbidden Fruit (Pathé Frères, Frankreich 1909)

238
21. 1909

nert spontan an die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies.

In The Dance of Fire (1909)37 erhebt sich eine Tänzerin aus einer unterirdischen
Erdspalte und beginnt ihre Darbietung. Doch dann taucht eine Riesenspinne auf und
vertreibt die Tänzerin wieder.
Doomed (1909)38 handelt von einem Mann, welcher von bösen hypnotischen Kräf-
ten heimgesucht wird.
Ein junges Paar starrt in The Mirror of Life (1909)39 und sieht sich selbst, jedoch
immer älter werdend.
Eine geheimnisvolle Creme lässt in A Wonderful Remedy (1909)40 eine hässliche
Person wunderschön werden. Doch als eine andere Frau damit eingeschmiert wird,
verwandelt sie sich in einen Affen.
Und als letzter Vertreter der Pathé Frères aus der Reihe der ungewissen Filme sei
noch The New Jonah (1909)41 erwähnt. Dieser Film zeigt ein großes, schuppiges Un-
geheuer.

Der größte französische Konkurrent der Pathé Frères, Gaumont, lieferte auch viele
Beiträge zum Jahr 1909 ab. Beginnen wir mit dem nur noch unvollständig erhaltenen
La princesse d’Ys (1909)42 .
Eine Prinzessin verweigert einer alten Bettlerin einen Almosen. Die Alte schwört
daraufhin Rache.
Der große Moment der alten Hexe ist gekommen, als die Prinzessin, umgeben von
ihren vielen Verehrern, eine Tasse ins Meer wirft und demjenigen, der sie ihr zurück-
bringen möge, die Ehe verspricht. Die Vorgänge werden von einem Fischer beobachtet,
welcher heimlich in die Prinzessin verliebt ist.
Die Hexe, eine Meeresfee, bietet dem Fischer die Tasse an, doch nur unter der
Auflage, dass er stets zu ihr kommen möge, wenn sie in ihr Horn bläst. Der Fischer
willigt ein. Er bringt der Prinzessin die Tasse und die beiden heiraten tatsächlich.
Natürlich tritt auch hier das Unvermeidliche ein. Die Hexe bläst in ihr Horn, der
Fischer hört es, doch die Prinzessin hält ihn zurück. Daraufhin lässt die Meeresfee das
Schloss mitsamt seinen Bewohnern langsam im Meer versinken.
Der Film war einst vollständig handkoloriert. Von der farbigen Version existie-
ren heute noch ungefähr 105 Meter. Der Beginn des Films, in welcher die Prinzessin
der Bettlerin den Almosen verweigert, gilt heute als verloren und auch zwischendurch
fehlen einzelne Fragmente. Von den insgesamt etwa 300 Metern Film existieren heute
37
The Dance of Fire (Pathé Frères, Frankreich 1909, Länge: ca. 48m, 3 Minuten)
38
Doomed (Pathé Frères, Frankreich 1909, Länge: ca. 252m, 14 Minuten)
39
The Mirror of Life (Pathé Frères, Frankreich 1909, Länge: ca. 90m, 5 Minuten)
40
A Wonderful Remedy (Pathé Frères, Frankreich 1909, Länge: ca. 115m, 6 Minuten)
41
The New Jonah (Pathé Frères, Frankreich 1909, Länge: ca. 120m, 7 Minuten)
42
La princesse d’Ys, aka Die Meeresfee,aka The Princess and the Fisherman (Gaumont, Frank-
reich 1909, Regie: Étienne Arnaud, Darsteller: Alice Tissot, Maurice Vinot, Länge: ca. 300m, 16 Mi-
nuten)

239
Das Dokument des Grauens

noch ungefähr 176 Meter, also etwas mehr als die Hälfte.

Der Zeichentrickkünstler Émile Cohl, der uns im Vorjahr bereits Le Cauchemar


du Fantoche (1908) beschert hatte, veröffentlichte 1909 seinen Film Le spirite (1909)43 .
In dem leider als verschollen geltenden Werk gab es einen Geist zu sehen, sowie ein
Geister beschwörendes Medium.

Leider gibt es auch bei der Gaumont eine große Anzahl Filme, über die wir heute
noch kaum etwas wissen, oft noch nichtmal ihren originalen Titel. Beginnen wir mit
deren Auflistung.
Louis Feuillade, Gaumonts späterer Starregisseur, inszenierte La chasse au bois
hanté (1909)44 . Wie der Titel nahelegt, spielt der Film in einem verwunschenen Wald.
Feuillade drehte ebenso La chatte métamorphosée en femme (1909)45 , die Ver-
filmung der Fabel Venus und die Katze von Äsop. Eine Katze verliebt sich in ihren
Herren und fleht die Götter an, sie mögen ihr helfen. Daraufhin verwandeln diese die
Katze in eine Frau.
In The Poet’s Vision (1909)46 träumt ein Dichter, von einem Geist durch die Jahr-
hunderte befördert zu werden.
The Ugliest Queen on Earth (1909)47 ist ein Märchenfilm, in welchem eine böse
und potthässliche Königin sämtliche Spiegel in ihrem Königreich zerstören lässt. Doch
bei einer Hinrichtung spiegelt sich ihr grässliches Antlitz in der Axt des Scharfrichters.
Die Königin sieht es und fällt tot um.
Und die Zeitschrift Bioscope vom 14. Oktober 1909 berichtet auf Seite 4 über The
Old Shoemaker (1909)48 . Der titelgebende Schuhmacher wird ermordet. Sein Mörder
wird daraufhin von dem Geist des Schuhmachers heimgesucht, bis er schließlich dem
Wahnsinn verfällt.
The Nymph’s Bath (1909)49 ist ein Fantasyfilm, in welchem einige Geister darge-
stellt sind.
Und The Village Scare (1909)50 erzählt von einem Ort, der von einem Ungeheuer
heimgesucht wird. Dieses soll halb Wolf, halb Vogel sein. Am Schluss stellt sich dann
heraus, dass es sich nur um einen Hund handelt, der mit Federn bedeckt ist.

43
Le spirite, aka The Spirit (Gaumont, Frankreich 1909, Regie: Émile Cohl)
44
La chasse au bois hanté, aka Shooting in the Haunted Woods (Gaumont, Frankreich 1909,
Regie: Louis Feuillade, Darsteller: Alice Tissot, Maurice Vinot, Länge: ca. 173m, 9 Minuten)
45
La chatte métamorphosée en femme, aka Shooting in the Haunted Woods (Gaumont, Frank-
reich 1909, Regie: Louis Feuillade, Darsteller: Christiane Mandelys, Alice Tissot, Maurice Vinot, Län-
ge: ca. 119m, 6 Minuten)
46
The Poet’s Vision (Gaumont, Frankreich 1909, Länge: ca. 117m, 6 Minuten)
47
The Ugliest Queen on Earth (Gaumont, Frankreich 1909, Länge: ca. 240m, 13 Minuten)
48
The Old Shoemaker (Gaumont, Frankreich 1909, Länge: ca. 110m, 6 Minuten)
49
The Nymph’s Bath (Gaumont, Frankreich 1909, Länge: ca. 110m, 6 Minuten)
50
The Village Scare (Gaumont, Frankreich 1909, Länge: ca. 127m, 6 Minuten)

240
21. 1909

Die Lux Compagnie Cinématographique de France veröffentlichte 1909 einen Mei-


lenstein, nämlich den allerersten Film, der eine wandelnde Mumie zeigt: La momie
du roi (1909)51 . Ein Professor erweckt in diesem Film die Mumie von Pharao Ramses
zu neuem Leben. Dieser Film blieb uns leider auch nicht erhalten.
Ebenfalls von Lux und ohne überlieferten Originaltitel ist The Butcher’s Dream
(1909)52 . Ein Metzger wird in einem Albtraum von seinem Alltag eingeholt und von
Tieren fachgerecht zerhackt.
Her Dolly’s Revenge (1909)53 ist ähnlich gelagert. Ein kleines Mädchen hat in der
Nacht einen Albtraum. Darin wird es von seiner Puppe ermordet.

Ein kleines französisches Label namens Le Lion veröffentlichte ebenfalls zwei Fil-
me, auf welche es noch sporadische Hinweise gibt.
In Papa Gaspard (1909)54 versucht der alte Gaspard, einen Schatz vor Dieben zu
bewahren, indem er sich als Geist verkleidet.
Die titelgebende Hexe in The Witch (1909)55 verhext ein Mädchen und zwingt
sein Bewusstsein in eine Schaufensterpuppe. Außerdem gibt es noch Geister, Kobolde
und einen Buckligen zu sehen.

Über die Filme eines ganz bestimmten Franzosen haben wir in diesem Kapitel noch
nicht gesprochen, und zwar über die Filme von Georges Méliès.
Le locataire diabolique (1909)56 ist ein etwas problematischer Mieter, dargestellt
durch Georges Méliès selbst. Er besichtigt eine Wohnung und zieht dort ein. Sein kom-
plettes Hab und Gut befindet sich in einer Kiste.
Doch diese Kiste hat es in sich. Tische, Bilder, Schränke, ein riesiger Wandspiegel,
ja sogar die komplette Familie des Mieters ist darin! Möbelstück für Möbelstück holt er
heraus und platziert es, bis zum Schluss die Familienmitglieder nebst Dienstmädchen
heraussteigen und am gedeckten Tisch Platz nehmen.
Dem Hausmeister ist das Treiben nicht geheuer. Also packt der Mieter wieder alles
zurück in die Kiste, doch er wird vom Hausmeister überrascht. Die restlichen Möbel
beginnen zu tanzen, bis der Hausmeister wieder flieht. Und bis zu seiner Rückkehr
im Beisein des Hausbesitzers und der Polizei ist die Wohnung wieder leer und der
teuflische Mieter wieder verschwunden.
Le locataire diabolique (1909) ist ein typischer Méliès. Eine nette Idee ist nett
umgesetzt, mit viel Liebe zum Detail und handwerklich nahezu perfekt. Die Kolo-
51
La momie du roi, aka The Mummy of the King Rameses (Lux, Frankreich 1909, Regie: Gérard
Bourgeois, Darsteller: Alice Tissot, Maurice Vinot, Länge: ca. 600m, 32 Minuten)
52
The Butcher’s Dream (Lux, Frankreich 1909, Länge: ca. 165m, 9 Minuten)
53
Her Dolly’s Revenge (Lux, Frankreich 1909, Länge: ca. 91m, 5 Minuten)
54
Papa Gaspard, aka The Ghost of the Rocks (Le Lion, Frankreich 1909, Länge: ca. 219m, 12
Minuten)
55
The Witch (Le Lion, Frankreich 1909, Länge: ca. 159m, 8 Minuten)
56
Le locataire diabolique, aka The Diabolical Tenant, aka The Devilish Tenant (Star Film, Frank-
reich 1909, Regie: Georges Méliès, Darsteller: Georges Méliès, André Méliès, Länge: ca. 78m, 6 Mi-
nuten)

241
Das Dokument des Grauens

rierung ist dann noch das Sahnehäubchen. Aber ebenso wie sein Schöpfer hinkt Le
locataire diabolique (1909) hoffnungslos seiner Zeit hinterher. Die Geschichte und
die Personen sind nur Beiwerk, die Kamera bleibt statisch und der grob gezimmerte
Fußboden ist noch immer der gleiche wie 13 Jahre zuvor.

So, jetzt wird es Zeit für eine klei-


ne Geschichte über einen Film, wel-
cher ständig und überall Georges Mé-
liès angedichtet wird, der jedoch viel-
mehr von dessen Bruder Gaston Méliès
in den USA gedreht wurde: Fortune Fa-
vors the Brave (1909)57 . In dem Film
kommt ein Geist vor. Deshalb sehen wir
ihn uns genauer an, obwohl es sich beim
dem Streifen eigentlich um einen We-
stern handelt.
Im Sommer oder Herbst 1909 un-
Abbildung 21.5: Die fertig eingerichte-
terschrieb der Westerndarsteller Francis
te Wohnung in Le locataire diabolique
Ford einen Vertrag bei dem New Yor-
(1909)
ker Ableger der Star Film, welcher von
Gaston Méliès geleitet wurde. Weshalb
Francis Ford dies tat, ist unklar. Es ist anzunehmen, dass Gaston Méliès ihn dazu über-
redete, um das abflauende Geschäft der Star Film anzukurbeln, denn Francis Ford war
kein Unbekannter. Sein Bruder war der Regisseur John Ford, der am Ende seiner Kar-
riere auf berühmte Werke wie Stagecoach (1939), Rio Grande (1950), The Searchers
(1956), The Man Who Shot Liberty Valance (1962), und How the West Was Won (1962)
zurückblicken konnte.
Gaston Méliès begann dementsprechend im Oktober 1909 damit, Western in New
Jersey zu drehen. Fortune Favors the Brave (1909) war einer der ersten Western der
Star Film, und Berichten zufolge auch nicht gut gelungen, trotz oder vielleicht gerade
wegen der fantastischen Elemente.
Gaston Méliès warb noch weitere Crewmitglieder an und reiste im September 1909
nach Austin, Texas. Dort fand dann eine Serienproduktion statt, ein Film pro Woche.
Die Filme hatten Erfolg. So kehrte das gleiche Team im Winter 1910/11 wieder
nach Texas zurück, im April 1911 zog man nach Santa Barbara in Kalifornien. Fran-
cis Ford war zu diesem Zeitpunkt bereits Assistant Manager von Gaston Méliès, er
besetzte also die zweithöchste Position bei der amerikanischen Star Film.
Der Erfolg hielt an und Mitte 1912 trennten sich Méliès und Ford wieder. Francis
Ford sollte noch viele weitere Filme drehen, doch für Gaston Méliès waren die Tage im
Filmbusiness fast gezählt. Am 24. Juli 1912 kam Gaston Méliès auf die verheerende
57
Fortune Favors the Brave, aka Fortune Favours the Brave (Star Film, USA 1909, Regie: Gaston
Méliès, Darsteller: Francis Ford, Länge: ca. 185m, 10 Minuten)

242
21. 1909

Idee, ein komplettes Schiff für eine Reise in die Südsee auszurüsten, um dort Filme zu
drehen. Dies ging gehörig schief. Vor Ort erkrankte sein Star an Syphilis, das Wetter
war miserabel und das komplette Filmmaterial wurde durch die hohe Luftfeuchtigkeit
ruiniert. Gaston Méliès verkraftete den finanziellen Schlag nicht und gab daraufhin auf.

Bleiben wir in den USA. David Wark Griffith schuf in diesem Jahr einen Film
über die große Ikone der amerikanischen Horrorliteratur: Edgar Allen Poe (1909)58 .
Beachten Sie den falsch geschriebenen zweiten Vornamen Poes. Er hieß in Wirklich-
keit Edgar Allan Poe, nicht Allen. Filmhistoriker vermuten, dass dieser Schreibfehler
unbeabsichtigt bei Biograph geschah, als man unter Zeitdruck den Film noch rechtzei-
tig zum 100. Geburtstag des Autors am 19. Januar 1909 in die Nickelodeons bringen
wollte.
Der Film beginnt mit Poes todkran-
ker Ehefrau, Virginia Poe. Sie schleppt
sich in die Speisekammer, doch die Kas-
se der Poes ist leer und die Speisekam-
mer ebenso. Virginia fällt vor dem Zim-
merfenster auf die Knie fleht zu Gott,
dann geht sie wieder zu Bett.
Edgar betritt die Szene, in der Hand
ein Bündel zerknittertes Papier - offen-
sichtlich hat er vergeblich versucht, eine
seiner Geschichten zu verkaufen. Auch
er schaut in die Speisekammer, und auch
er beginnt zu beten. Aber er wird erhört, Abbildung 21.6: Edgar Allen Poe (1909):
Gott schickt ihm einen Raben. Edgar sieht die Erscheinung des Raben ne-
Edgar wird von der Inspiration erfasst ben dem Sterbebett seiner Frau
und schreibt neben dem Bett seiner Lieb-
sten sein berühmtes Gedicht, The Raven. Er zeigt es Virginia, küsst sie und macht sich
auf, einen Käufer hierfür zu finden.
Der zweite Akt des Films zeigt Poe bei der Suche nach einem Käufer. Einer nach
dem anderen weist ihn ab, bis schließlich dann doch ein Verleger bereit ist, das Werk
zu kaufen. Überglücklich zieht Edgar mit dem Geld von dannen.
Im dritten Akt kehrt Edgar nach Hause zurück, mit einem Korb voller Speisen und
Medikamente. Doch es ist zu spät, seine geliebte Virginia liegt tot in ihrem Bett.
Edgar Allen Poe (1909) ist hervorragend geeignet, um den immer tiefer werden-
den Graben zwischen der europäischen und der amerikanischen Filmkunst aufzuzei-
gen. In Europa, und hier vor allem in Frankreich, waren Filme häufig noch immer
von der Technik überschattet. Neueste Errungenschaften wurden demonstriert und ver-
58
Edgar Allen Poe (American Mutoscope & Biograph, USA 1909, Regie: D.W. Griffith, Drehbuch:
D.W. Griffith, Frank E. Woods, Kamera: G.W. Bitzer, Darsteller: Herbert Yost, Linda Arvidson, Clara
T. Bracy, Anita Hendrie, Arthur V. Johnson, James Kirkwood, David Miles, Charles Perley, Länge: ca.
137m, 6 Minuten)

243
Das Dokument des Grauens

suchten, die Zuschauer vom Fortschritt der Technik zu überzeugen. Es gab kaum einen
Film, welcher ohne Spezialeffekte auskam, und seien es nur gemalte Kulissen.
Edgar Allen Poe (1909) ist das krasse Gegenteil. Wir sehen einen Dreiakter, der
sich vollständig auf den zu transportierenden Inhalt konzentriert. Die Technik rückt in
den Hintergrund, die Schauspieler treten in den Vordergrund. Erinnern Sie sich noch an
die Anfänge des amerikanischen Films? Dort war es ein Nachteil, dass sich Filmema-
cher wie Edison stark auf die Dokumentation des alltäglichen Lebens konzentrierten,
die eigentliche filmische Innovation kam damals aus den europäischen Studios.
Doch zunehmend hatten einige amerikanische Filmpioniere, D.W. Griffith war ei-
ner von ihnen, damit begonnen, kurze Geschichten zu erzählen. Diese narrativen Fil-
me, in der Regel zwischen 5 und 10 Minuten lang, wurden beim amerikanischen Pu-
blikum schnell sehr populär. So populär, dass sich einige Firmen vollständig auf solche
Kurzgeschichten auf Zelluloid zu konzentrieren begannen.
Und diese Art von Film war auch sehr profitabel. Während europäische Filmschaf-
fende froh waren, wenn sie innerhalb einer Woche die Sets vorbereitet und den Film
gedreht hatten, blieb gerade im Sektor des fantastischen Films noch eine aufwendi-
ge Nachbearbeitung übrig. Filme mussten geschnitten, Überblendungen im Labor ge-
schaffen und im schlimmsten Fall sogar Szenen wiederholt werden. Für Prestige- und
Wunschobjekte stand dann noch eine qualvolle Handkolorierung auf dem Programm.
Das alles kostete Zeit und sehr viel Geld. Amerikanische Firmen wie die Biograph hin-
gegen konnten mit ihrem Prinzip Filme schnell und preiswert produzieren. Durch die
Betonung der Geschichte brauchte man nicht zwingend aufwendige Schauwerte wie
grandiose Kulissen, sondern konnte mit wenigen Darstellern auf einer kleinen Bühne
drehen. Die Schauspieler transportierten die Geschichte von der Leinwand zum Publi-
kum. Auf diese Weise konnte ein einziger Regisseur pro Woche zwei bis drei solcher
Filme fertigstellen. Und Zeit war wichtig, denn Filme waren in den USA ein Wegwerf-
produkt; die Filme wurden gedreht, konsumiert und dann vernichtet, um das Silber in
den Nitratfilmen zurückzugewinnen.
Der amerikanische Film war mit dem Theater viel enger verwandt als das euro-
päische, welches vor allem im französischen Sprachraum oftmals mehr an einen Zir-
kus oder ein Vaudeville-Theater erinnerte als an die große Bühne. Durch den fehlen-
den Ton waren die Schauspieler im Vergleich zu Theateraufführung jedoch in einer
schlechteren Position und mussten die fehlenden Worte durch ihre Gestik und Mi-
mik kompensieren. Auch im Falle von Edgar Allen Poe (1909) kann man leicht die
Verführung der Schauspieler zu gnadenlosem Übertreiben erkennen, dem sogenann-
ten Overacting. Da wird theatralisch zu Boden gesunken und die Arme gen Himmel
geworfen, keine kreisförmige Geste hat einen Radius von weniger als einem halben
Meter, die Schminke ist extrem und Subtilität unerwünscht. Dieses Übertreiben ist im
amerikanischen Raum daher auch viel stärker ausgeprägt als zum Beispiel in Großbri-
tannien, sie können dies über die gesamte Stummfilmzeit und darüber hinaus bis in die
40er Jahre hinein beobachten.
Was es in die USA im Jahr 1909 noch nicht gab, war eine ausgeprägte Film-
sprache. Die Grundzüge eines qualitativ hochwertigen oder gar künstlerischen Films

244
21. 1909

waren noch nicht so stark ausgeprägt, dass man deren Umsetzung genauso erwarten
konnte wie beispielsweise den prinzipiellen inneren Aufbau einer Tragödie in einem
Schauspiel, oder den Spannungsbogen modernerer Filmwerke. D.W. Griffith half in
den kommenden Jahren entscheidend mit, diese filmische Sprache zu entwickeln und
Grundzüge sind bereits in Edgar Allen Poe (1909) erkennbar.
Hierzu gehört die Unterteilung des Films in mehrere Akte, zumeist drei. Der erste
Akt ist hier die Exposition, also die Einführung der Charaktere und das Schaffen der
Grundlage der späteren, aktiven Handlung. Wir lernen die Poes kennen und die Um-
stände, in welchen sie leben. Ein Georges Méliès oder ein Segundo de Chomón hätten
darauf wahrscheinlich verzichtet und den Film mit dem Auftauchen des Raben begin-
nen lassen, dem Start der eigentlichen aktiven Handlung. Als der Rabe auftaucht und
Poe zu schreiben beginnt, ist die Exposition vorbei, und mit ihr ein Drittel des Films.
Der zweite Akt schildert die Suche nach einem Geldgeber. Dieser Teil spielt voll-
ständig außerhalb der Wohnung Poes. Hier sieht man die Unvollkommenheit im Ver-
gleich zum auf technische Perfektion ausgerichteten europäischen Kino noch sehr
leicht. Die Kamera ist ebenso stationär ausgerichtet wie in den Filmen von Georges
Méliès, doch was bei dem Franzosen mittlerweile als rückständig empfunden wurde,
war in den USA noch völlig normal. Es gibt innerhalb einer Szene keine Schnitte, sie
bestehen immer aus einem einzigen Take. Zwischen wechselnden Orten gibt es kei-
ne Überblendungen oder andere dramaturgische Mittel, Griffith schneidet immer und
ausnahmslos sehr hart die Szenen aneinander. Vergleichen Sie dies mit dem ersten Akt
und die Unausgewogenheit wird noch deutlicher, denn der komplette erste Akt besteht
aus nur einer Einstellung.
Der dritte Akt spielt dann wieder am Sterbebett Virginia Poes und wieder gibt es
keine Schnitte oder gar Wechsel der Kameraposition - bis auf eine Stelle, kurz bevor
Edgar die Szene betritt, und dieser Schnitt ist störend. Es gibt keine Aktion, der Fokus
liegt wieder vollständig auf dem Schauspiel von Herbert Yost und Linda Arvidson59 .
Beide stellen ihre Rollen wieder sehr theatralisch dar, wobei Linda Arvidson ihren
besten Part ausgerechnet dann hat, als sie tot auf dem Bett liegt und ihre Augen unun-
terbrochen in die Kamera starren - dies ist Edgar Allan Poe in Bildern. Herbert Yost
als Edgar überzeugt nicht durch sein Schauspiel, sondern durch seine Maske, welche
eine schon beinahe unheimliche Ähnlichkeit zu Edgar Allen Poe aufweist.
Edgar Allen Poe (1909) ist kein Meilenstein des Horrorfilms oder irgendeines
Filmgenres überhaupt. Streng genommen ist der Film nur ein kleines Biopic, also eine
nacherzählte Biografie.
Aber Edgar Allen Poe (1909) ist vor allem ein hervorragendes Beispiel, um die
kommenden Filmjahre und den einsetzenden Wandel der Filmerzeugnisse besser ver-
stehen zu lernen.

59
Linda Arvidson war übrigens nicht nur Stammschauspielerin in den Filmen von D.W. Griffith,
sondern auch dessen Ehefrau. Als sich die beiden 1912 scheiden ließen, endete auch die professionelle
Partnerschaft zwischen ihnen.

245
Das Dokument des Grauens

Griffith drehte 1909 The Sealed Room (1909)60 , ein mittelalterliches Drama, wel-
ches sich an Edgar Allan Poes Kurzgeschichte The Cask of Amontillado sowie La gran-
de breteche von Honoré de Balzac orientiert. Erwähnenswert ist bei diesem Film eine
gewisse Konsequenz bei der Inszenierung - ähnlich wie in Edgar Allen Poe (1909)
sieht man jemandem beim langsamen Sterben zu, was in damaligen Filmen ansonsten
kaum gezeigt wurde. Ebenfalls bemerkenswert ist eine Nebendarstellerin, welche als
Hofdame zu sehen ist. Bei dieser handelt es sich um die spätere zweifache Oscarpreis-
trägerin Mary Pickford.
The Sealed Room (1909) erzählt von einem König, der sich in seinem Schloss
einen Raum als Liebesnest für sich und seine Konkubine hat einrichten lassen. Als
er eines Tages ein Fest gibt, fällt ihm auf, dass seine Geliebte sich einen weiteren
Liebhaber hält, nämlich den Hofbarden.
Als der König die beiden Turtel-
täubchen in flagranti entdeckt, und dies
auch ausgerechnet in seiner privaten Lie-
beslaube, lässt er Handwerker kommen.
Unbemerkt von dem Liebespaar mauern
diese auf Geheiß des Königs den einzi-
gen Ausgang zu. Als das Paar sich zu-
rückziehen möchte, ist es bereits zu spät.
Sie ersticken in dem Raum, während der
König auf der anderen Seite der Mauer
triumphiert.

Abbildung 21.7: Die untreue Konkubine Mit The Sealed Room (1909) schuf
und ihr Liebhaber ersticken langsam in Griffith kein Meisterwerk, ebenso wenig
The Sealed Room (1909) wie mit Edgar Allen Poe (1909). Grif-
fith war erst seit Kurzem bei Biograph
und noch am Anfang seines künstleri-
schen Aufstiegs. Doch auch hier sind bereits Ansätze eines seiner späteren Marken-
zeichen erkennbar, denn Griffith gilt heute als Filmemacher, der die erzählerischen
Gestaltungsmöglichkeiten des Filmschnitts früh erkannte und dramaturgisch einsetz-
te. Auf dem Höhepunkt des Geschehens schneidet Griffith hier mehrmals zwischen
dem König und den zum Tode verdammten Liebenden hin und her, was die eigentlich
schlicht inszenierten Szenen deutlich intensiviert.

60
The Sealed Room (American Mutoscope & Biograph, USA 1909, Regie: D.W. Griffith, Drehbuch:
D.W. Griffith, Frank E. Woods, basierend auf den Kurzgeschichten The Cask of Amontillado von Edgar
Allan Poe sowie La grande breteche von Honoré de Balzac, Kamera: G.W. Bitzer, Darsteller: Arthur V.
Johnson, Marion Leonard, Henry B. Walthall, Linda Arvidson, William J. Butler, Verner Clarges, Owen
Moore, Mary Pickford, Gertrude Robinson, George Nichols, Anthony O’Sullivan, George Siegmann,
Mack Sennett, Länge: ca. 237m, 11 Minuten)

246
21. 1909

Griffith nahm für eine weitere Literaturverfilmung auf dem Regiestuhl Platz, wel-
che für uns interessant ist. The Suicide Club (1909)61 ist an Robert Louis Stevenson
gleichnamige dreiteilige Erzählung angelehnt. Biograph hatte sich 1908 die Filmrech-
te an dem Werk gesichert. Doch der Film hat mit der Vorlage kaum etwas gemeinsam,
lediglich der konzeptionelle Grundgedanke des Klubs überlebte. Mit nur knapp 5 Mi-
nuten Laufzeit The Suicide Club (1909) ist das jedoch auch nicht weiter verwunder-
lich.
Der Film erzählt von einem Klub, dessen Mitglieder ein morbides Spiel spielen.
Die Männer sitzen an einem Tisch und losen aus, welcher von ihnen die zweifelhafte
Ehre haben wird, Selbstmord zu begehen. Der Mann, der das Los zieht, erfährt im An-
schluss darauf, dass er ein großes Vermögen geerbt hat - doch jetzt erwarten alle, dass
er sich selbst tötet.

Oftmals mit Griffiths The Devil (1908) verwechselt wird die verschollene Produk-
tion der Edison Manufacturing Company mit dem gleichlautenden Titel, The Devil
(1909)62 . Bei diesem Film handelt es sich um eine Verfilmung eines gleichnamigen
Bühnenstücks, in welchem der britische Schauspieler George Arliss dem Teufel erst-
mals die Gestalt eines Gentleman gab. Damals war es üblich, den Teufel mit den Zügen
des Mephistopheles erscheinen zu lassen: Ein weiß geschminktes Gesicht, Geheim-
ratsecken bis über die Ohren und ein dunkler Umhang waren das Klischee, welches
zuhauf bedient wurde. Heute kennen wir den Gentleman-Teufel aus einer Vielzahl von
Filmen wie The Devil’s Advocate (1997) oder Angel Heart (1987).

Edisons Produktion The Egyptian Mystery (1909)63 ist eine verschollene Komö-
die um einen verfluchten Schmuckanhänger, der in einem ägyptischen Grab gefunden
wurde. Alles, was sein Träger anfasst, verschwindet unwiderruflich. Nach mehreren
Vorfällen berührt der letzte Besitzer des Amuletts sein eigenes Spiegelbild und löst
sich zusammen mit dem Schmuckstück in Nichts auf.
Die ägyptische Folklore liefert bei diesem Film lediglich einen Hintergrund, wel-
cher den simplen Kameratricks einen mehr oder weniger logischen Anstrich gibt.

Neun Jahre nach Faust and Marguerite (1900) nahm sich Edwin S. Porter erneut
im Auftrag Edisons des in den USA sehr populären Themas an. Faust (1909)64 ist kei-
ne effektgeladene Komödie wie sein Vorgänger, sondern eine etwas mehr auf Goethes
61
The Suicide Club (American Mutoscope & Biograph, USA 1909, Regie: D.W. Griffith, Drehbuch:
D.W. Griffith, Frank E. Woods, nach der Erzählung The Suicide Club von Robert Louis Stevenson,
Kamera: G.W. Bitzer, Arthur Marvin, Darsteller: Herbert Yost, Violet Merserau, Charles Avery, Owen
Moore, David Miles, Anthony O’Sullivan, Herbert Prior, Mack Sennett, Arthur V. Johnson, Charles
Craig, Edward Dillon, John R. Cumpson, Länge: ca. 112m, 5 Minuten)
62
The Devil (Edison Manufacturing Co., USA 1909)
63
The Egyptian Mystery (Edison Manufacturing Co., USA 1909)
64
Faust (Edison Manufacturing Co., USA 1909, Regie: Edwin S. Porter, Darsteller: William Sorelle,
Länge: ca. 300m, 16 Minuten)

247
Das Dokument des Grauens

Vorlage um den alten Faust, der seine Seele im Tausch gegen Jugend verschachert,
bezogen. Der Film gilt als verschollen.

Edwin S. Porter produzierte Hansel and Gretel (1909)65 , der unter der Regie von
J. Searle Dawley entstand, dem späteren Regisseur von Frankenstein (1910). In dieser
Verfilmung des Märchens der Gebrüder Grimm fällt ansonsten noch Mary Fuller auf.
Mary Fuller war die Hauptdarstellerin in What Happened to Mary? (1912), dem ersten
Serial.
Die Handlung des Films unterscheidet sich nicht von jener der Vorlage: Hänsel
und Gretel geraten im tiefen Wald in die Gewalt einer Hexe, welche die Kinder essen
möchte. Doch die beiden Kinder entkommen und verbrennen die Hexe in einem Ofen.

Dawley drehte mit Mary Fuller auch Bluebeard (1909)66 . In der Rolle des seine
Ehefrauen ermordenden Regenten, welchen wir bereits aus Barbe-bleue (1901) von
Georges Méliès kennen, war ein gewisser Charles Ogle zu sehen. Ogle würde im fol-
genden Jahr die Rolle des Monsters in Frankenstein (1910) übernehmen. Bluebeard
(1909) ist jedoch leider nicht erhalten.

Variety berichtete in der Novemberausgabe des Jahres 1909 über The Imp of the
Bottle (1909)67 , einen aus einer Rolle bestehenden Kurzfilm aus dem Hause Edison.
Gemäß Variety handelt es sich dabei um die Verfilmung der Geschichte The Bottle Imp
von Robert Louis Stevenson.
Ein Seemann kauft für zwei Pennies eine magische Flasche. Er hofft, damit die Lie-
be einer Prinzessin gewinnen zu können. Mithilfe des Flaschengeists erfüllt sich sein
Wunsch auch, aber danach wird er von Unheil heimgesucht. Um von den unerwünsch-
ten Nebeneffekten wieder erlöst zu werden, muss er die Flasche wieder verkaufen -
allerdings zu einem Preis, der niedriger ist als der, den er selbst bezahlt hat. Und das
hört sich einfacher an, als es ist.
Edgar Allan Poes satirische Geschichte The System of Doctor Tarr and Professor
Fether handelt von einer psychiatrischen Klinik, in welcher die Patienten behandelt
werden, indem man sie ihre Wahnvorstellungen aktiv ausleben lässt; wenn ein Patient
zum Beispiel denkt, er sei ein Huhn, bekommt er eben nur noch Körner als Essen.
In dem Krankenhaus übernehmen jedoch die Patienten nach einer Revolte die Macht,
sperren die Aufseher in die Zellen und führen ihre eigenen Behandlungsmethoden ein.
Porters Lunatics in Power (1909)68 ist die älteste Verfilmung dieser Geschich-
te. Allerdings geschah dies nicht etwa aus künstlerischen Gründen, sondern aus rein
65
Hansel and Gretel (Edison Manufacturing Co., USA 1909, Produktion: Edwin S. Porter, Regie:
James Searle Dawley, Kamera: Carl Gregory, Darsteller: Cecil Spooner, Mary Fuller, Ethel Browning,
Länge: ca. 189m, 10 Minuten)
66
Bluebeard (Edison Manufacturing Co., USA 1909, Produktion: Edwin S. Porter, Regie: James
Searle Dawley, Darsteller: Charles Ogle, Mary Fuller, Länge: ca. 120m, 6 Minuten)
67
The Imp of the Bottle (Edison Manufacturing Co., USA 1909)
68
Lunatics in Power (Edison Manufacturing Co., USA 1909)

248
21. 1909

kommerziellen Betrachtungsweisen. Der amerikanische Filmwissenschaftler Kevin J.


Hayes beschreibt das Verhältnis Edisons zu Poe folgendermaßen: „In jenen Tagen wur-
den Filme vorrangig anhand der Produktionsgesellschaften identifiziert. Zum Beispiel
sprachen Fans und Kritiker 1909 nicht von einem Film von D. W. Griffith; sie spra-
chen vielmehr von Biographfilmen. Um die eigenen Filme von denen anderer Gesell-
schaften unterscheiden zu können, suchten Produzenten einen charakteristischen Stil,
um den Zuschauern zu ermöglichen, die Produktionsgesellschaft zu identifizieren und
um somit Kundenbindung zu betreiben. [...] Edison hatte rasante Komödien als Mar-
kenzeichen gewählt. Die Filmemacher bedienten sich The System of Doctor Tarr and
Professor Fether nicht, um einer wunderbaren Geschichte Poes ihre Referenz zu er-
weisen, sondern weil sich die Vorlage sehr leicht für ihre Zwecke adaptieren ließ. Der
Produzent versuchte nicht, den Film Poe anzupassen; stattdessen wurde Poe an den
Film angepasst.“[17]
Dementsprechend wurde der Film
auch von allen morbiden Inhalten be-
freit, welche Poes Geschichte auszeich-
nen. Alleine Slapstick war das Ziel, nicht
das Grauen. Lunatics in Power (1909)
wurde auch nicht als Verfilmung von
Motiven Poes beworben. Edgar Allan
Poe wurde weder im Film noch in der
Werbung erwähnt. Lunatics in Power
(1909) unterscheidet sich also in Inhalt,
Konzeption und Absicht massivst von
Griffiths Edgar Allen Poe (1909).
In Lunatics in Power (1909) wird Abbildung 21.8: Die Lunatics in Power
das Irrenhaus nicht von einem etwas (1909) feiern in der ersten Szene des Films
naiven, aber kerngesunden Erzähler be- beim Festbankett
sucht. Die Hauptfigur ist ein alter Mann,
der in die Anstalt eingeliefert wird. Wie in der Vorlage haben die Patienten die Macht
bereits übernommen und machen sich über den Neuankömmling lustig. Hier hält sich
niemand selbst für ein Huhn, wie in Poes Geschichte. Vielmehr halten die Irren den
alten Mann für ein solches. Nicht der Direktor wird wie bei Poe geteert und gefedert,
sondern der Alte.
Der New York Dramatic Mirror schrieb zwar in seiner Ausgabe vom 22. Mai 1909
über Lunatics in Power (1909): „Dieser Film ist voller Lacher, und zwar guter. Der
verrückte Stil, der in anderen Komödien völlig fehl am Platze wäre, passt gut zu die-
ser.“
Dieses Zitat deutet bereits darauf hin, dass der Film schon damals recht umstritten
war. Denn der alte Mann verkörpert den Wahnsinn, nicht mehr Poes System, das in
der Anstalt die Herrschaft übernommen hat. Der Film macht sich also letztlich über
einen Patienten lustig und regt das Publikum an, herzhaft über den Bekloppten auf der
Leinwand zu lachen. Lunatics in Power (1909) macht die Wehrlosen zu Zielscheiben

249
Das Dokument des Grauens

des Spotts.

„Little Miss Muffet,


Sat on a tuffet,
Eating her curds and whey.
Along came a spider,
Who sat down beside her,
And frightened Miss Muffet away. “[18]

Dies ist ein in den USA äußerst beliebter Kinderreim aus einer Serie der Autorin
Mary Engelbreit mit dem Titel Mother Goose. Dieser Vers über Little Miss Muffet ist
das Kernthema von Edisons Veröffentlichung Mother Goose (1909)69 , der insgesamt
dritten Verfilmung des Stoffes nach der eigenen Produktion Mother Goose Nursery
Rhymes (1903) und Siegmund Lubins Little Miss Muffet (1903). Diese Fassung war
jedoch die erste Version mit einem Monster.
Miss Muffet wird in dem Film von einer Riesenspinne verjagt. Damit nicht genug,
denn die Spinne entführt dann noch einen kleinen Jungen, der ebenfalls aus einem
völlig ungruseligen Reim von Mother Goose entstammt: Little Boy Blue, der kleine
Junge, der in einem Heuhaufen einschläft und die Welt um sich vergisst. Miss Muffet
ist jedoch das Hauptthema des Films.

Edison produzierte auch einen Film, dessen Titel Tiefgang suggerierte, wo keiner
war. Der Titel von Tis Now the Very Witching Time of Night (1909)70 ist nämlich
ein Zitat aus William Shakespeares Hamlet, doch der Slapstick dieses Films könnte
kaum weiter hiervon entfernt sein. In Wahrheit handelt es sich um einen haunted hou-
se spoof, in welchem ein Mann die Wette eingeht, dass er es schafft, eine Nacht in
einem Geisterhaus zu verbringen. Dort wird er dann von Hexen, Skeletten und Fleder-
mäusen erschreckt.

The Haunted Lounge (1909)71 der Essanay Film Manufacturing Company ist
ähnlich gelagert. Hier gerät ein Tramp, dargestellt durch den zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts aktiven, doch inzwischen beinahe vergessenen Komiker Ben Turpin, in ein
Spukhotel. Dort wird das übliche Strickmuster an Effekten und Geisterslapstick abge-
spult.
Wesentlich interessanter als der Film sind seine Schöpfer. Der Regisseur Gilbert
M. Anderson ist vor allem als "Broncho Billy" bekannt. Anderson war der Darstel-
ler des Cowboys dieses Namens und wurde der erste Westernheld der Filmgeschichte.
Begonnen hatte er seine Karriere als Schauspieler im Gefolge von Edwin S. Porter,
69
Mother Goose (Edison Manufacturing Co., USA 1909, Länge: ca. 90m, 5 Minuten)
70
Tis Now the Very Witching Time of Night (Edison Manufacturing Co., USA 1909, Länge: ca.
152m, 8 Minuten)
71
The Haunted Lounge (Essanay, USA 1909, Regie: Gilbert M. Anderson, Darsteller: Ben Turpin)

250
21. 1909

bis er 1907 zusammen mit George K. Spoor Essanay gründete und dann vorrangig für
Essanay produzierte und inszenierte. Er drehte hunderte Western als Broncho Billy,
vor und hinter der Kamera, bis er sich zu Beginn der 20er Jahre vom Regiestuhl zu-
rückzog und nur noch als Produzent tätig war. 1958 erhielt er den Ehrenoscar für sein
Lebenswerk als Filmpionier, außerdem nennt er einen Stern auf dem Walk of Fame
sein Eigen.
Ben Turpin war der erste Komiker, der Kapital aus einer Sehbehinderung schlug,
denn er schielte massiv auf einem Auge. Angeblich fing er sich dieses Problem ein,
als er in einem Vaudeville die Rolle eines schielenden Charakters übernahm und sich
das Auge nach der Aufführung nicht mehr korrigieren ließ. Turpin war ein Meister der
Selbstvermarktung; so schloss er zum Beispiel eine Versicherung bei Lloyd’s of Lon-
don für den Fall ab, dass sein Auge wieder gesund werden würde. Er wurde jedoch vor
allem als Immobilienmakler erfolgreich, nicht als Darsteller. Seine Arbeit an Theater,
Vaudeville und Film war nicht der Grund, weshalb er in den 20er Jahren als einer der
reichsten Männer Hollywoods galt, sondern sein Talent als Spekulant.

Vitagraph brachte The Hunchback (1909)72 auf den Markt. La Esmeralda (1905)
von Alice Guy hatte es zwischenzeitlich nämlich über den großen Teich in die USA
geschafft und dort eine erfolgreiche Laufzeit hinter sich gebracht, und Vitagraph woll-
te mit auf den Zug aufspringen. Daher produzierte man dort ein Remake, oder besser
gesagt eine Kopie, dieser Verfilmung von Victor Hugos Nôtre Dame de Paris. Und
zwar eine billige Kopie ohne künstlerisches Anliegen, deren Hauptzweck es war, einen
Urheberrechtsstreit zu vermeiden. Auf den Regiestuhl setzte man Van Dyke Brooke,
jenen Regieanfänger, welcher schon für den desaströsen Buried Alive (1908) verant-
wortlich war und in keinem Vergleich mit der großartigen Alice Guy standhalten konn-
te.

Eine namentliche Ähnlichkeit mit der genannten filmischen Entgleisung Van Dyke
Brookes hat Entombed Alive (1909)73 , doch es handelt sich um einen eigenständigen
Film, wenngleich über den Inhalt nur wenig überliefert ist. Lebendig begraben wird
hier Annette Kellerman, vermutlich unter der Regie von J. Stuart Blackton. Die austra-
lische Schwimmerin Annette Marie Sarah Kellerman wurde nicht etwa wegen dieses
Films bekannt, sondern 1907 nach einem Auftritt im Rahmen eines Wasserballetts als
Begründerin der Sportart des Synchronschwimmens, und wegen ihrer fortschrittlichen
Entwürfe von Badebekleidung für Damen wie dem ersten einteiligen Badeanzug. Als
die erste „Meerjungfrau“ Hollywoods erhielt sie einen Stern auf dem Walk of Fame als
Ehrung.

72
The Hunchback (Vitagraph, USA 1909, Regie: Van Dyke Brooke, Darsteller: Frank Keenan,
Länge: ca. 192m, 11 Minuten)
73
The Hunchback (Vitagraph, USA 1909, Regie: J. Stuart Blackton (vermutlich), Darsteller: An-
nette Kellerman, Länge: ca. 303m, 16 Minuten)

251
Das Dokument des Grauens

Die Vitagraph meldete am 10. Mai 1909 einen Film unter der Nummer H126774
beim U.S. Copyright Office an, über welchen ebenfalls nur sehr wenig bekannt ist.
The Oriental Mystic (1909)74 heißt der Kurzfilm, welcher sich das exotische Am-
biente Indiens zunutze macht. Ein indischer Zauberer erscheint plötzlich in Spiegeln
und verschwindet wieder, was eine Frau sehr verängstigt.

Vitagraph fiel 1909 vor allem durch Bibelfilme auf. The Judgement of Solomon
(1909), Jephtah’s Daughter: A Biblical Tragedy (1909) und The Life of Moses (1909)
gehörten dazu. The Life of Moses wurde in vier Teilen gedreht, die dann am Stück ge-
zeigt wurden, wodurch der Film mit etwa 50 Minuten Laufzeit heute als erster Lang-
film der USA gilt. Der vierte Film im Bunde war Saul and David (1909)75 , eine Ver-
filmung des 1. Buches Samuel über den Aufstieg Davids zum König der Israeliten.
Erwähnung findet der Film hier wegen seiner Darstellung der Hexe von Endor. Die
Hexe von Endor war eine Nekromantin, also eine Totenbeschwörerin. Sie sagte ge-
genüber König Saul aus, dass ihr der Prophet Samuel erschienen sei und ihr mitgeteilt
habe, dass sich Gott wegen eines früheren Fehlverhaltens Sauls von ihm abgewandt
habe.

Hexe, die Zweite: Am 4. September 1909 stand in der Medford Daily Tribune auf
Seite 5 eine Werbung geschrieben. „Folgen Sie der Masse heute Abend in das Savoy,
wo Sie eine exzellente Auswahl der neuesten Filme sehen werden [...]. Der heutige
Hauptfilm ist Vitagraphs Kunstfilm The Sword and the King (1909)76 . Die mittelal-
terliche Handlung geht um einen Tyrannen und ein unterdrücktes Volk. Die Geschichte
ist sorgfältig konstruiert und in anrührender Weise von klugen Schauspielern erzählt.
Die Arrangements der Szenen sind schön anzusehen und passen zu jener Zeit.“
Nun denn, allzu viel Nutzen hatte dieses Loblied wohl nicht, denn über den Film
senkte sich zügig der Mantel des Vergessens. Der angesprochene Tyrann, ein König,
wird von einer Hexe verflucht und daraufhin von einem Geist heimgesucht. Von dem
Film blieb außer diesem Beispiel für unpassende Werbung nichts mehr übrig.

Ähnlich fantastisch, aber wohl durchaus lustig, war Siegmund Lubins ebenfalls
verschollene Produktion The Rubberman (1909)77 , eine Komödie aus dem Genre der
Science-Fiction um einen amoklaufenden, mörderischen Roboter. Jener wird von ei-
nem Erfinder gebaut, doch die Kreation wirft ihn zum Dank aus dem Fenster. Eine alte
Frau wird von dem Roboter in einen Schornstein gestopft. Und am Schluss wird das
Monstrum durch eine Wanne voll Wasser erledigt.

74
The Oriental Mystic (Vitagraph, USA 1909, Länge: ca. 120m, 6 Minuten)
75
Saul and David (Vitagraph, USA 1909, Regie: J. Stuart Blackton, Drehbuch: Reverend Madison
C. Peters, nach dem 1. Buch Samuel des Alten Testaments, Darsteller: Maurice Costello, William V.
Ranous, Florence Lawrence, Länge: ca. 305m, 16 Minuten)
76
The Sword and the King (Vitagraph, USA 1909)
77
The Rubberman (Lubin Manufacturing Company, USA 1909, Länge: ca. 90m, 5 Minuten)

252
21. 1909

Auch Lubins Talked to Death (1909)78 war von einem eigenwilligen Humor ge-
prägt, ist leider jedoch auch verschollen. In dem Film, der auf eine Handlung verzich-
tet, quatscht eine alte Frau ihr Gegenüber so lange voll, bis die Person tot umfällt. In
der zweiten Hälfte des Films quasseln sich zwei alte Schachteln gegenseitig tot. Nach
vier Minuten war der Spuk bereits vorbei, was 1909 selbst für damalige Verhältnisse
eine kurze Laufzeit war.

Einer der wichtigsten Drehorte amerikanischer Filmstudios ist heute die Stadt New
Orleans. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden Szenen von fast 1000 Filmen in
New Orleans gedreht, darunter Klassiker wie The Curious Case of Benjamin Button
(2008) und Wild at Heart (1990), aber auch sehr viele bekannte Horrorfilme wie Angel
Heart (1987), Interview with the Vampire (1994) und The Skeleton Key (2005)
verdanken New Orleans einen großen Teil ihrer Identität.
Aber das war nicht immer so. Bis 1909 dämmerte die Stadt New Orleans aus fil-
mischer Sicht in einem Dornröschenschlaf dahin. Es gab einige wenige Dokumentati-
onsschnipsel, welche in New Orleans bis dahin gedreht worden waren, aber keinerlei
narrative Geschichten.
Dies änderte sich erst, als die Se-
lig Polyscope mit einem Filmteam in
New Orleans auftauchte und erstmals
in der amerikanischen Filmgeschichte
einen Spielfilm vor Ort drehte. Die-
ser Film war eine Faust-Variation mit
dem Titel Mephisto and the Maiden
(1909)79
Darin verliebt sich ein Mönch in ei-
ne Jungfrau und er will sie unbedingt
besitzen. Deshalb lässt sich der lüster-
ne Geistliche auf einen Handel mit dem Abbildung 21.9: Mephisto and the Mai-
Teufel ein: Er bietet seine Seele im den (1909): Duell um die holde Maid
Tausch gegen zwei sündige Stunden mit
der Angebeteten.
Heute gilt Mephisto and the Maiden (1909) leider als verschollen. Daher können
wir jetzt heute nicht mehr mit Gewissheit sagen, ob es sich um einen frechen, pro-
vokanten Film handelte, oder um ein moralisches Stück mit erhobenem Zeigefinger.
Wahrscheinlich ist Letzteres der Fall.

Ein weiterer neuer Standort von Seligs Filmteams wurde der Yosemite Park. Dort
entstanden Dokumentationen und Western. Einer dieser Western war The Witch’s Ca-
78
Talked to Death (Lubin Manufacturing Company, USA 1909, Länge: ca. 72m, 4 Minuten)
79
Mephisto and the Maiden (Selig Polyscope Co., USA 1909, Regie: Francis Boggs, Darsteller:
Tom Santschi, Jean Ward, Harry Todd, James L. McGee Länge: ca. 275m, 15 Minuten)

253
Das Dokument des Grauens

vern (1909)80 , den man als frühen Vorläufer von Filmen wie The Texas Chain Saw
Massacre (1909), Mother’s Day (1980) und The House of 1000 Corpses (2003), in
denen nichts ahnende Personen in die Gewalt gemeingefährlicher Einheimischer gera-
ten, bezeichnen kann.
Eine Jagdgesellschaft, bestehend aus einer jungen Frau, ihrem Vater sowie zwei
männlichen Begleitern, schlagen im Yosemite Valley ihr Lager auf. Die Männer bege-
ben sich auf die Pirsch und lassen die junge Frau alleine zurück.
Die Frau wird von einem entstellten Waldschrat, halb Mensch und halb Tier, ent-
führt. Sie schafft es, einen Zettel für ihre Begleiter zu hinterlassen, doch dann wird
sie in die Höhle des Entführers und seiner Mutter gebracht. Dort erlebt die Entführte
schreckliche Momente, als die alte Hexe und ihr Sohn bedrohlich um sie herumtanzen.
Die Männer kehren in das Camp zurück und finden den Hilferuf der Vermissten.
Sofort nehmen sie die Verfolgung auf und befreien schließlich die Dame. Die Hexe
und ihr Sohn entkommen jedoch der gerechten Strafe.

Die Centaur Film Company brachte The Wishing Charm (1909)81 heraus. Dies
war ein obskurer kleiner Trickfilm, in welchem das übliche verwünschte Medaillon,
welches natürlich aus einem ägyptischen Sarg stammt, für Ungemach sorgt.

Bliebe noch ein Beitrag aus den USA, der für viel Verwirrung sorgt. Winsor Mc-
Cay, der legendäre Cartoonist, welcher unter anderem die Vorlage zu Edwin S. Por-
ters The Dream of a Rarebit Fiend (1906) geschaffen hatte, war 1909 mit einem
Vaudeville-Programm unterwegs. Für seine Theaterdarbietungen schuf er einen Film
mit dem Titel Gertie the Dinosaur (1909)82 . Dieser Film wurde nicht in Kinos auf-
geführt, sondern lediglich im Rahmen von Winsor McCays Show, in welcher er als
Schnellzeichner auftrat. McCay zeichnete in dieser Show einen Brontosaurus namens
Gertie. Gertie begann sich dann zu bewegen und reagierte auf Kommandos. Gertie
wurde durch einen Film in Bewegung versetzt, auf welchen Winsor McCay sein eige-
nes Timing exakt ausrichtete. Zum Beispiel warf McCay Gertie einen roten Ball zu, der
einen Apfel darstellte und in Wirklichkeit hinter der Leinwand landete. Aber für die
Zuschauer sah es dann so aus, als würde Gertie den Apfel mit ihrem Maul auffangen
und genüsslich vertilgen.
Es war nicht der erste Zeichentrickfilm überhaupt, diese Ehre gebührt Émile Cohl.
Aber Winsor McCay schuf mit Gertie die erste gezeichnete Kreatur, welche auch einen
Charakter besaß. Dies sollte später das Geschäftsmodell von Walt Disney werden, ei-
nem der wichtigsten Filmimperien, welche die USA je hervorbrachten.
Für Verwirrung sorgt, dass Winsor McCay den Film fünf Jahre später in überar-
beiteter und längerer Form dann doch noch in die Kinos brachte. Dieses Remake war
Gertie the Dinosaur (1914). Doch in den Jahren zwischen diesen beiden Filmfas-
80
The Witch’s Cavern (Selig Polyscope Co., USA 1909, Länge: ca. 304m, 16 Minuten)
81
The Wishing Charm (Centaur Film Co., USA 1909, Länge: ca. 138m, 7 Minuten)
82
Gertie the Dinosaur (Winsor McCay, USA 1909, Regie, Animation: Winsor McCay, J. Stuart
Blackton)

254
21. 1909

sungen, von welchen auch nur die Version aus dem Jahr 1914 überlebte, produzierte
McCay noch zwei weitere Zeichentrickfilme mit den Titeln Little Nemo (1911) und
How a Mosquito Operates (1912). Der alte Vaudeville-Streifen war in Gertie the Di-
nosaur (1914) in einem Realfilm eingebettet, der die Entstehungsgeschichte Gerties
schildert. Der 1909 aufgeführte originale Vaudeville-Film ist nicht mehr erhalten.

Lassen Sie uns das Jahr 1909 mit zwei Filmen abschließen, welche sehr exotisch
sind.
In Brasilien entstand Nas Entranhas do Morro do Castelo (1909)83 unter der
Leitung von Antônio Leal, der im Vorjahr mit A Mala Sinistra (1908) auf sich auf-
merksam gemacht hatte. Bei Rio de Janeiro gab es auf dem Morro do Castelo, was auf
Deutsch so viel wie "Festungsberg" bedeutet, im 16. Jahrhundert ein solches Gemäu-
er. 1905 fand man bei Ausgrabungen auf dem Berg Gebäudereste und zwei goldene
Teufelsstatuen. Der Fund war eine Sensation, es gab Volksfeste und jedermann wollte
die Statuen sehen. Man vermutete in der Tiefe noch weitere Statuen, darunter auch
solche der zwölf Apostel. Also wurde weiter gegraben, doch außer den beiden Teu-
feln fand man keine weitere Statuen mehr; dafür jedoch menschliche Knochen und
Folterinstrumente.
Antônio Leal drehte hier einen Episodenfilm basierend auf einzelnen Geschehnis-
sen, welche sich damals ereigneten. Nas Entranhas do Morro do Castelo (1909) ist
keine Dokumentation, sondern eine Nacherzählung.

Und zuletzt erwähnen wir noch V polnoch na kladbishche (1909)84 , den ersten
Genrebeitrag aus dem Zarenreich Russland. Dies ist ein Film, in welchem Geister auf
einem Friedhof zu sehen waren, sehr surreal. Leider ist der Film jedoch verschollen.
V polnoch na kladbishche (1909) entstand unter der Regie von Vasily Mikhailo-
vich Goncharov, dem ersten großen Filmpionier Russlands. Er drehte auch Oborona
Sevastopolya (1911), einen historischen Film über den Krimkrieg, welcher der erste
russische Langfilm und ebenso der erste Film weltweit, für welchen zwei gleichzeitig
laufende Kameras eingesetzt wurden.
V polnoch na kladbishche (1909) wurde 1909 gedreht, kam jedoch erst 1910 zu
seiner Uraufführung.

83
Nas Entranhas do Morro do Castelo (Photo-Cinematographia Brasileira, Brasilien 1909, Regie:
Antônio Leal, Drehbuch: Paiva Santos, Kamera: Antônie Leal, Darsteller: Mario Alves, Julie Bernsy)
84
V polnoch na kladbishche, aka Midnight in the Graveyard, aka Midnight in the Graveyard,
aka The Fatal Wager (Khanzhonkov, Russland 1909, Produktion: Alexander Khanzhonkov, Regie,
Drehbuch: Vasili Goncharov, Kamera: Louis Forestier, Darsteller: Aleksandra Goncharova, Vladimir
Maksimov, Länge: ca. 150m, 8 Minuten)

255
Das Dokument des Grauens

256
Kapitel 22

Eine kurze Reise durch die Zeit

Kurz vor Ende der ersten Dekade des


20. Jahrhunderts hatte Edison den Hö-
hepunkt des finanziellen Erfolges sei-
ner Edison Manufacturing Company er-
reicht. Der berühmte Erfinder war in
mehreren Bereichen tätig, aber das Film-
geschäft war in diesem Jahr das profita-
belste Standbein von Edisons Imperium.
Erstmals hatte er mit seinen Filmproduk-
tionen einen Umsatz von 200.000 Dollar
erreicht, und weitere 130.000 Dollar er-
wirtschaftete die Edison Manufacturing
Company mit der Produktion von Projek-
toren.
Allerdings zeichnete sich eine zuneh-
mende Stagnation ab, denn die Konkur-
renz schlief nicht.
So hatte die American Mutoscope &
Biograph ein eigenes Kameradesign auf
den Markt gebracht und machte Edison
die technologische Führungsrolle strei- Abbildung 22.1: Thomas Alva Edison
tig. Filmproduktionen Edisons waren in
den amerikanischen Nickelodeons in der Unterzahl, denn auch hier gab es Konkur-
renz durch fast ein Dutzend anderer umsatzstarker Produktionsgesellschaften. Selbst
ausländische Produktionen wurden importiert, vor allem aus Frankreich und Großbri-
tannien. Das Filmgeschäft war aus Sicht Edisons stark optimierbar.
Daher startete Edison einen Versuch, die amerikanische Filmwirtschaft umfassend
unter seine alleinige Kontrolle zu bringen. Dieser Versuch, der das Filmgeschäft bei-
nahe ruinierte und gegen Ende des Jahres 1909 auch die erste Zensurbehörde für Filme
hervorbrachte, war die Gründung der Motion Picture Patents Company.

257
Das Dokument des Grauens

Edison bezahlte seit einigen Jahren bereits Anwälte, welche seine Interessen ge-
genüber Mitbewerbern mit äußerstem Nachdruck vertraten. Schon vor der Jahrhun-
dertwende überzog Edison seine Konkurrenten mit einer konstanten Welle aus Patent-
klagen. Dies lähmte die amerikanische Filmindustrie und führte dazu, dass die ande-
ren Studios mit Ausnahme der Biograph noch stärker begannen, Filme aus Frankreich
und Großbritannien zu importieren und in den USA zu vertreiben. Dies erklärt das
häufige Auftauchen europäischer Filme unter geändertem Titel und amerikanischen
Gesellschaften als angeblichen Urhebern auf dem amerikanischen Markt, welches die
Bestimmung der Herkunft vieler Filme heute stark erschwert.
Ab 1902 verschärfte sich die Situation noch, als Edison die Studios zu zwingen ver-
suchte, Filme ausnahmslos mit von Edison hergestellten Kameras zu drehen. Ebenso
verlangte er auch von den Vorführern, dass sie Edison-Wiedergabetechnik einkauften.
Tat jemand das nicht, traten Edisons Anwälte in Aktion, da er im Besitz der Patente
für den amerikanischen Markt war.
1907 war der amerikanische Filmmarkt von Edisons Strategie soweit zermürbt,
dass die Situation für die meisten Anbieter existenziell bedrohlich wurde.
Daraufhin leitete Edison Gespräche mit acht weiteren Gesellschaften in die We-
ge. Hier waren die Filmproduktionsfirmen Vitagraph, Essanay, Lubin, Selig, und die
amerikanischen Zweige der Pathé Frères, Gaumont und Star Film involviert, sowie
Eastman Kodak, der marktführende Hersteller von Filmmaterial.
Das einzige Studio von Bedeutung, welches in dieser Liste fehlte, war die Ameri-
can Mutoscope & Biograph. Edison hatte kein Interesse an einem Handel mit seinem
stärksten Konkurrenten und er hoffte, die Biograph mit einem Kartell aus dem Markt
zu verdrängen. Gleiches geschah auch kleineren Anbietern. Andere Studios als die
genannten Teilnehmer sollten nach Vorstellung Edisons keine Lizenzen erhalten und
somit vom Markt verschwinden.
So rief Edison die Motion Picture Patents Company, auch MPPC, The Edison Trust
oder auch kurz The Trust genannt, ins Leben. Dies war ein treuhänderischer Dachver-
band, welcher die Patente verwalten und die Rechteinhaber in der gesamten Produkti-
onskette von der Herstellung des Filmmaterials bis hin zur Projektion absichern sollte
- allen voran natürlich die Patente von Edison selbst. Die anderen Filmstudios soll-
ten ausnahmslos Edisons Erfindungen einsetzen und hierfür Lizenzen zahlen. Eastman
Kodak hätte ein Monopol als Hersteller von Filmmaterial, musste jedoch im Gegenzug
garantieren, nur für Kameras aus dem Hause Edison geeignetes Material herzustellen.
Die Biograph wäre somit ruiniert gewesen. Für jede von ihr hergestellte Kamera
oder Projektor hätte der Käufer mit einer Klage rechnen müssen. Einen Vertrieb für
die eigenen Produktionen hätte es nicht mehr gegeben und Eastman Kodak hatte sich
zu diesem Zeitpunkt bereit erklärt, Filmmaterial exklusiv an die Mitglieder der MPPC
zu verkaufen.
Doch die Biograph wehrte sich nach Kräften und kaufte die Patentrechte der La-
tham Loop, eines kleinen Bauteils von Kameras und Projektoren, welche das Filmma-
terial gegen Stöße und Vibrationen absicherte und seit einigen Jahren in allen Geräten
zum Einsatz kam. Damit war die Biograph zu Lizenzforderungen gegenüber Edison

258
22. Eine kurze Reise durch die Zeit

berechtigt, der das Patent sofort vor Gericht anfocht - und verlor. So kam es, dass auch
die Biograph ein Teil der MPPC werden durfte. Im Dezember 1908 wurde die MPPC
somit offiziell gegründet.
Die MPPC hatte die Mittel, alle wichtigen Patente und deren Verwendung zu kon-
trollieren. Edisons Umsatz explodierte hierdurch förmlich, alleine der Handel mit Pa-
tentrechten verschaffte der MPPC in den folgenden Jahren fast eine Million Dollar
jährlichen Umsatzes.
Dann war da noch das Thema des
Filmhandels, denn auch hier sah Edison
einen Markt mit Handlungsbedarf.
In den USA war es bis dahin üb-
lich, Filme zu produzieren und die Ko-
pien dann an die Betreiber der Nickelo-
deons zu verkaufen. Das war schlecht für
die MPPC, denn wer einen Film im eige-
nen Lagerraum vorrätig hielt, konnte die-
sen beliebig oft zeigen. Hierdurch verlor
die MPPC Geld.
Stattdessen wurden Filme jetzt nur
noch verliehen. Wer einen Film zeigen
wollte, musste diesen bei der MPPC
gegen eine Gebühr von zwei Dollar
pro Film und Woche bestellen und be-
kam dann eine Kopie zugestellt. Da ein
Nickelodeon normalerweise fünf oder
mehr Filme direkt hintereinander zeig- Abbildung 22.2: Die Gründungsmitglieder
te, entsprach dies dem durchschnittli- der MPPC, Thomas Edison ist der grimmig
chen Eintrittsgeld von 200 Filmbesu- dreinschauende vierte Herr von links in der
chern, war also sehr teuer. Nach dem En- vorderen Reihe
de der Spielzeit ging die Filmkopie dann
wieder an den Verleih zurück und wurde gegebenenfalls anderweitig wieder verliehen
oder vernichtet. Auf diese Weise konnte die MPPC kontrollieren, welche Filme in den
Kinos gezeigt wurden und lief nicht Gefahr, dass ein Nickelodeon einen Film erneut
zeigte, ohne dass die MPPC aktiv daran mitverdiente.
Der Import ausländischer Filme war natürlich völlig inakzeptabel. Und da sich
durch die Lizenzforderungen der MPPC schnell eine unabhängige Filmkultur ent-
wickelte, sah Edison weiteres Marktpotenzial.
Um hier mehr Kontrolle auf dem Markt ausüben zu können, gründete die MPPC
die General Film Company, welche die großen Filmverleiher der USA ausbezahlte.
Insgesamt gab es 52 Übernahmen. Hiermit war dann endgültig ein Kartell geschaf-
fen, welches die Kinobesitzer zwang, an dem Verleihmodell teilzunehmen. Wer nicht
mitmachte, egal ob als Produzent, Verleiher oder Aussteller, erhielt keine Produkte
der MPPC mehr - kein Filmmaterial, keine Filme, keine Projektoren. Ebenso schalte-

259
Das Dokument des Grauens

te die MPPC somit die kleinen Studios und auch die Importe aus dem Ausland aus,
denn wenn jemand einen Film zeigte, der nicht von der MPCC stammte, war es wie-
der eine Patentverletzung, die sowohl in einer Patentklage und oftmals sogar Razzias
mit Konfiszierungen, als auch der Streichung des betroffenen Unternehmens von der
Kundenliste endete.
Die MPPC setzte den den verbliebenen Verleihern, Produzenten und Vorführern
ein kurzfristiges Ultimatum. Wer bis zum Januar 1909 sich nicht zur Akzeptierung der
Geschäftsbedingungen bereit erklärte, wurde nicht mehr beliefert. Die Verleihe akzep-
tierten die neue Regelung. Alle bis auf einen. Dieser Verleiher blieb ein vehementer
Gegner der MPPC, auch nachdem ihm alle Lizenzen entzogen worden waren. Der
Mann hieß William Fox und sollte später noch eine wichtige Rolle in der Welt des
Films spielen.

Um die Gewinne noch weiter zu maximieren, setzte Edison seine marktwirtschaft-


lichen Vorstellungen auch bei den Filmproduktionen selbst um. Die MPPC verfügte,
dass ein Film nur aus einer Filmrolle bestehen dürfe, beim Kodak-Material entsprach
dies einer Laufzeit von maximal 17 Minuten. Wollte ein Vorführer seinem Publikum
eine Stunde Filme zeigen, musste er dementsprechend auch vier Filme mieten und
bezahlen.
Doch auch die Inhalte der Filme waren für Edison von Interesse. Mit der zuneh-
menden Popularität des neuen Mediums waren unweigerlich auch vermehrt jene Par-
teien in die Öffentlichkeit getreten, welche die Unmoral in Filmen anprangerten und
teilweise sogar ihre Forderungen nach Verboten artikulierten. Derartiges war schlecht
für das Geschäft und Edison deshalb bestrebt, Filme zu schaffen, über welche sich
möglichst niemand aufregen würde. Er ordnete daher an, dass sich die Filmproduktio-
nen seiner Gesellschaft einem moralischen Kodex unterordnen müssen. Zur Kontrolle
richtete die MPPC ein Gremium ein, welches aus Vertretern der Filmindustrie, Päd-
agogen und der Kirche bestand. Gegen Beginn des Jahres war somit die erste Instanz
einer Filmzensur geschaffen und Frankenstein (1910) sollte der erste Film sein, wel-
cher unter diesen strengen moralischen Rahmenbedingungen produziert wurde.

Doch wie war es überhaupt möglich, ein solches Geschäftsmodell in die Praxis
umzusetzen? Gab es denn keine Gesetze, welche eine solche Kartellbildung verhindern
sollten?
Nun, ein solches Gesetz gab es in den USA durchaus. Am 2. Juli 1890 war der
Sherman Antitrust Act ins Leben gerufen worden, welcher den Staat dazu verpflich-
ten sollte, Monopolbildungen zu untersuchen. Das Problem hierbei war jedoch die
Kontrolle. Eine große Mehrheit der Politiker in den USA weigerte sich schlicht, das
Gesetz umzusetzen. Es gab zwar einige wenige Antitrustprozesse, doch diese reflek-
tierten stets ein unmittelbares Interesse des Staates, wie etwa jener gegen die American
Railway Union im Jahr 1894, als ein umfassender Streik von Eisenbahnarbeitern den

260
22. Eine kurze Reise durch die Zeit

Verkehr in und um Chicago nachhaltig zum Kollaps brachte, was schließlich zu ei-
nem nationalen Streik von etwa 250.000 Arbeitern führte. Theodore Roosevelt war
während seiner Amtszeit zwischen 1901 und 1909 der einzige Präsident, welcher An-
titrustklagen großflächiger durchführte, doch auch hier war stets der Staat selbst an
einer Zerschlagung von Unternehmen interessiert. Bei einem obskuren Unterhaltungs-
medium konnte man kein nationales Interesse erwarten.

Doch die Rechnung der MPPC ging nicht wie erwartet auf. Viele Besitzer von
Nickelodeons, welche auch das nötige Kleingeld mitbrachten, gingen in den Unter-
grund. Da sie nicht mehr mit neuen Filmen versorgt wurden, stiegen sie auch in das
Produktionsgeschäft ein. William Fox fand wichtige Mitstreiter in Carl Laemmle,
Adolph Zukor und Harry E. Aitken. Als der Boom der Nickelodeons im Jahr 1911
rückläufig wurde, wurden die Herrschaften aus der unabhängigen Filmszene noch wei-
ter bestärkt, auf den Sektor der Herstellung von Unterhaltungsfilmen umzusatteln.
Ermöglicht wurde dies auch durch eine neue Standortwahl. Bisher war die Ostküste
der USA der Hort der Filmwirtschaft. Edison hatte seinen Stammsitz in New Jersey
und die MPPC war somit auch vor allem im Raum um New York präsent. An der
weit entfernten Westküste der USA fiel es der MPPC weniger leicht, ihren Einfluss
durchzusetzen, zumal der Staat Kalifornien bei der Durchsetzung von Patentrechten
sehr zurückhaltend agierte.
Die neuen unabhängigen Studios zogen sich dementsprechend an die Westküste
zurück, in einen Vorort von Los Angeles mit dem Namen Hollywood. Dort war seit
August 1909 bereits die Selig Polyscope Company ansässig, doch der Ort war anson-
sten noch ein unbedeutendes Nest. Dies änderte sich erst, als am 27. Oktober 1911
die unabhängigen Produzenten David und William Horsley and der Ecke von Gower
Street und Sunset Boulevard die Niederlassung ihrer bislang in New Jersey ansässigen
kleinen Firma mit dem Namen Nestor Motion Company gründete.
1912 folgte Carl Laemmle und gründete Independent Moving Pictures. Im Jahr
darauf fusionierten Nestor und Laemmles IMP und formierten sich als Universal Film
Company. Adolph Zukor gründete Famous Players und Harry E. Aitken Majestic
Films. Bis ins Jahr 1920 kamen noch weitere Studios hinzu, darunter die Warner Bros.,
Columbia Pictures und RKO.
Die größte Durststrecke unter der Bedrohung der MPPC war im Jahr 1913 vorüber,
als die ersten Patente Edisons aus den 1890er Jahren ausliefen. Eastman Kodak kün-
digte nach dem Wegfall von Edisons ältesten Patentrechten den Exklusivvertrag mit
der MPPC und belieferte ab 1913 den Westen mit Filmmaterial. Dies war der erste
Nagel im Sarg der MPPC.

Aber auch die harten, konservativen Strukturen und Denkweisen der MPPC läu-
teten ihr Ende ein. Die jungen Hollywoodstudios waren mutiger und innovativer, und
die Kinobesucher bestätigten sie den frischen Geist, der von der Westküste in das Land
wehte. Von dort kamen zunehmend auch Filme, die länger als nur eine Rolle waren,

261
Das Dokument des Grauens

Abbildung 22.3: Ansicht der Nestor Studios kurz nach der Fusionierung mit IMP im
Jahr 1913

während die MPPC aufgrund ihres Geschäftsmodells des lizenzpflichtigen Verleihs


von Filmen mit maximal einer Filmrolle Länge festhielt. Bis 1915 weitete die MPPC
diese Vorgabe zwar auch auf mehrere Rollen aus, aber dies geschah rein reaktiv und
auch nicht rechtzeitig genug.

Inhaltlich waren die Filme aus Hollywood attraktiver, gerade weil sie sich nicht an
den Moralkodex der MPPC banden. Die Filme waren mutiger, frecher, und schickten
sich auch an, Sehnsüchte des Publikums zu erfüllen.
Während sich die MPPC prinzipbedingt über ein halbes Jahrzehnt Innovationen
verweigert hatte, um den Erfolg des eigenen Geschäftsmodells nicht zu gefährden, hat-
ten Laemmle, Zukor, Fox und die anderen aufstrebenden Hollywoodbosse sogar damit
begonnen, einen Kult um junge Schauspieler und Schauspielerinnen aufzubauen. Be-
merkenswert ist hier vor allem Theda Bara. Theda Bara war genau die Antithese jener
Moralvorstellung, welche die MPPC von Filmen und kommerziellem Erfolg hatte.
Theda Bara wurde 1914 von William Fox entdeckt und hatte ihre ersten größeren
Rollen in seinen Produktionen Siren of Hell (1915) von Raoul Walsh und A Fool There
Was (1915), der sie als Vamp etablierte. A Fool There Was (1915) hatte nicht auch
zuletzt wegen Theda Bara einen solch enormen Erfolg, dass Fox damit das Kapital
hatte, um seine hochfliegenden Studiopläne in die Realität umzusetzen und die Fox
Film Corporation zu gründen, die später auch unter dem Namen 20th Century Fox
bekannt wurde.
Die damals 30 Jahre alte Theda Bara war der fleischgewordene Albtraum jedes
Moralhüters. Sie war die erste Sexgöttin Hollywoods und William Fox scheute sich
auch nicht davor, sie in höchst anstößigen Bildern zu zeigen. Berühmt wurden Theda

262
22. Eine kurze Reise durch die Zeit

Abbildung 22.4: Theda Bara, der erste Sex-Vamp Hollywoods

Baras kontroverse Fotografien, in welcher sie sich als Vampir darstellen ließ, oder gar
sexuelle Abenteuer mit einem Skelett angedeutet wurden.
Ihre Karriere war jedoch sehr schnell vorbei, als 1919 ihr Vertrag mit Fox Film aus-
lief. Von ihren damals legendären Filmen haben nur sechs Werke bis heute überlebt -
ihr erfolgreichster und legendärster Film, Cleopatra (1917), ist leider jedoch nicht da-
bei. In der Erinnerung an Theda Bara haben bis heute jedoch das Bild des Sex-Vamps
und die leidenschaftliche Verbindung von Horrormotiven mit Sex Bestand. Und dies
mitten in der ersten Prüderiewelle der MPPC, die durch eine inhaltliche Freizügigkeit
der unabhängigen Studios ausgehebelt wurde, von welcher Theda Bara nur das promi-
nenteste Aushängeschild war.

Ende 1913 hatten bereits über ein Drittel der Filmvorführer und Verleiher der
MPPC den Rücken zugedreht und wurden Kunde der unabhängigen Studios. 1914
gab es hier noch einmal einen Gewinn an Boden für die MPPC, als der Erste Weltkrieg
ausbrach und die Versorgung des amerikanischen Marktes mit europäischen Produk-
tionen abgeschnitten wurde. Aber zu jenem Zeitpunkt waren die Hollywoodstudios
bereits autonom und autark genug, um die Kunden mit Eigenproduktionen versorgen
zu können.
Der endgültige Abstieg der MPPC wurde eingeleitet, als es schließlich doch zu
einem Antitrustverfahren kam. Das oberste Bundesgericht der USA sprach am 1. Ok-

263
Das Dokument des Grauens

tober 1915 das Urteil, dass die MPPC und die General Film Company als ein den
Handel schädigendes Monopol agierten und dem industriellen Fortschritt schadeten.
Die Aktionen der MPPC seien weit über die notwendigen Schritte zur Wahrung von
Patentrechten hinausgegangen. Die Zerschlagung der MPPC wurde angeordnet.
Die MPPC legte Berufung ein. Hiermit wurde der Niedergang jedoch nur hinaus-
gezögert, denn das Berufungsgericht lehnte die Eingabe 1918 endgültig ab. Somit war
das Ende der alteingesessenen Studios eingeläutet und die MPPC hatte den Patent-
streit verloren. Die neuen Studios im fernen Hollywood gingen als Profiteure aus dem
Konflikt hervor. Der bleibende Effekt von Edisons Drang zur vollkommenen Markt-
beherrschung führte also in der Tat zu der Gründung eines Filmimperiums - allerdings
nicht in einer Form, in welcher Edison selbst noch weiterhin eine wesentliche Rolle
spielen sollte, denn kurz nach dem endgültigen Urteil zog sich Thomas Alva Edison
aus dem Filmbusiness zurück und wandte sich vielversprechenderen Bereichen zu.

264
Kapitel 23

Frankenstein (1910)

Es war im Jahr 1963, als ein Filmhistori-


ker in den Edison-Archiven in New Jer-
sey, USA auf eine alte Ausgabe von The
Edison Kinetogram stieß, Volume 2 No.
4, datiert auf den 15. März 1910. Auf
dem Titelblatt war eine hässliche Krea-
tur zu sehen. Mit hypnotischem Blick
und geöffnetem Mund starrte sie dem
Entdecker des Heftchens entgegen. Ei-
ne wirre Haarpracht über wucherte über
einer unnatürlich hohen Stirn. Das Ge-
schöpf streckte schwer entstellte Klau-
en zur Seite und die überdimensionierte
Kleidung ließ einen nicht minder defor-
mierten Körper erahnen. Die Bildunter-
schrift betitelte das gezeigte Foto als Sze-
ne aus Frankenstein (1910)1 .
Diese Entdeckung versetzte die Fach-
welt in Aufruhr. Kein Filmhistoriker hat-
te von diesem Werk etwas gehört und
offensichtlich war hier ein vergessener
Film wiederentdeckt worden. Das Foto
wurde weltweit in Filmzeitschriften ab- Abbildung 23.1: Titelblatt des Program-
gedruckt und ein großes Interesse an dem mes The Edison Kinetogram, britische Aus-
Werk geschürt. gabe vom 15. April 1910
Doch nirgendwo konnte eine Kopie
des Films gefunden werden. 70 Jahre
1
Frankenstein (Edison Manufacturing Co., USA 1910, Regie: J. Searle Dawley, Drehbuch: J. Searle
Dawley, nach Frankenstein, or The Modern Prometheus von Mary Wollstonecraft Shelley, Darsteller:
Augustus Phillips, Charles Ogle, Mary Fuller, Laufzeit: ca. 12 Minuten)

265
Das Dokument des Grauens

nach der Entstehung des Films und 17 Jahre nach der Wiederentdeckung des Pro-
grammheftchens setzte das American Film Institute Frankenstein (1910) schließlich
auf die Liste der „10 kulturell und historisch bedeutsamsten verlorenen Filme“, was
einer Resignation gleichkam. Das Foto von Frankensteins Monster wurde zu einer
ähnlichen Ikone wie die grinsende Fratze von Lon Chaneys Vampir aus London After
Midnight (1927); Frankensteins Monster beflügelte die Fantasie und die Sehnsucht
der Liebhaber gruseliger Filme ins schier Unermessliche.
Doch was war dies für ein Film? Niemand wusste es damals wirklich.

Regisseur und Autor des Films war der Nachwuchsregisseur James Searle Dawley.
Dawley hatte im Jahr 1907 bei Edison als Autor für Edwin S. Porter begonnen, dem
Regisseur von The Grat Train Robbery (1903), the Dream of a Rarebit Fiend (1906)
und Faust (1909). Bereits in seinem ersten Jahr bei Edison saß Dawley auch selbst auf
dem Regiestuhl und inszenierte mit The Nine Lives of a Cat (1907) sein Regiedebüt.
Weitere Arbeiten folgten, darunter Hansel and Gretel (1909) und Bluebeard (1909).
Dawleys schneller Einstieg als Regisseur ist aber wohl kaum einer hohen Lernfähig-
keit geschuldet, denn von seinen Arbeiten mit Edwin S. Porter ist in Dawleys eigenen
Filmen kaum etwas zu spüren. Edwin S. Porter war ein innovativer Filmemacher, der
oftmals die Grenzen des herkömmlichen Erzählens sprengte. Er setzte filmische Mittel
wie Close-ups und Kamerafahrten ein, er arbeitete mit Überblendungen und anderen
narrativen Mitteln. James Searle Dawley hingegen inszenierte seine Filme so konser-
vativ wie es einst die Regisseure aus der Zeit der Jahrhundertwende taten; seine Filme
sind statisch und beziehen den Zuschauer nicht ein, es handelt sich bei ihnen um abge-
filmtes Bühnenschauspiel. Dawley hielt von Porters Stil nichts, er inszenierte klassisch.
Auch bei Frankenstein (1910) ist dies unübersehbar.
Dawley drehte Frankenstein (1910) in den 1906 gegründeten Edison Motion Pic-
ture Studios in der Bronx, New York, gelegen an der Ecke zwischen Oliver Place und
der Decatur Avenue. Diese New Yorker Niederlassung war von Edison aufgebaut wor-
den, als sich eine zunehmende Nachfrage nach Filmen abzeichnete und er die Produk-
tionsmenge signifikant erhöhen wollte. Er hatte zwar bereits ein Studio in Orange, New
Jersey, doch dessen Lage war sehr unattraktiv für die angeseheneren seiner Darsteller,
die oftmals auch in New York als Bühnendarsteller tätig waren. Ein erster Versuch
eines New Yorker Studios auf dem Dach eines Gebäudes in der 25th Avenue war auf-
grund mangelnder Studiofläche fehlgeschlagen, und der neue Standort in der Bronx
erwies sich als guter Kompromiss. Eine neue Linie der New Yorker U-Bahn war kürz-
lich eröffnet worden und hatte in der Nähe des Studios seine Endstation, sodass seine
Darsteller den Drehort unkompliziert aufsuchen konnten. Und die Ausstattung des Stu-
dios bot erstklassige Arbeitsbedingungen. Im Jahr 1908 lief die neue Produktionsstätte
auf Hochtouren und jede Woche entstanden dort mehrere neue Filme. Normalerweise
drehte man dort einen Film pro Tag. Bei Frankenstein (1910) sollte indes fast eine
ganze Woche benötigt werden, hauptsächlich wegen der Spezialeffekte und Bühnen-
bauten.

266
23. Frankenstein (1910)

Doch werfen wir jetzt einen genaueren Blick auf den Film selbst.

Der Film beginnt, wie damals allge-


mein üblich, mit einer Titelkarte, wel-
che auf den Filmtitel hinweist. Der re-
lativ schlichte Schriftzug „Frankenstein“
ist von einem Rahmen umgeben, des-
sen Ecken durch vier Darstellungen des
Buchstaben „E“ markiert werden. Das
„E“ steht für „Edison“ und ist Edisons
offizielles Symbol. Im Film selbst wird
dieses auch als Wasserzeichen verwen-
det, und zwar in sowohl der linken obe-
ren als auch der rechten unteren Ecke.
Hier haben Sie gleich zu Beginn ein
gutes Beispiel dafür, wie vorsichtig (oder Abbildung 23.2: Die Titelkarte des Films
vielleicht inzwischen auch ein wenig pa-
ranoid) Edison zu diesem Zeitpunkt war, wenn es um die Wahrung seiner Urheber-
rechte ging. Zusätzlich zu den vier Initialen prangt oberhalb des Filmtitels Edisons
Warenzeichen mit dem „Thomas A. Edison“-Schriftzug. Das gleiche Warenzeichen
befindet sich in verkleinerter Form unten rechts. Und unten links sehen wir den Hin-
weis „Copyright 1910“. Wir haben also in einer einzigen Titelkarte sieben Hinweise
auf den Urheber des Films.
Die nächste Textkarte ist hier etwas dezenter. Diese Karte informiert uns, dass es
sich bei dem Film um „Eine liberale Adaption von Mrs. Shelleys berühmter Geschich-
te“ handelt - und um die Herkunft wieder eindeutig klarzustellen, endet der Satz mit
dem Hinweis, dass diese Adaption „für Edison Productions“ angefertigt wurden. Dar-
unter befindet sich wiederum der Copyright-Schriftzug, der Filmtitel sowie Edisons
Warenzeichen.
Der Text auf dieser Einblendung lügt nicht. Der Film hat eine Länge von etwas
mehr als 12 Minuten und selbstverständlich müssen hier Abstriche an der Vorlage vor-
genommen werden, um ihn in dieses enge Laufzeitkorsett zu quetschen. James Searle
Dawley kürzte die Originalgeschichte massiv auf einige wenige Szenen ein, welche
sich auf die wesentlichen Momente derselben konzentrieren. Dawley hat hier gute Ar-
beit geleistet und das Ergebnis funktioniert sogar noch dann recht gut, wenn ein Zu-
schauer die Romanvorlage nicht kennt. Das ist wichtig, denn auch wenn heute nahezu
jedermann mit der Geschichte um Dr. Frankenstein und sein Geschöpf vertraut sein
mag, dürften nur die wenigsten Personen auch wirklich den Roman gelesen haben.
Das Bild in den Köpfen heutiger Zuschauer wurde vornehmlich von Filmen geprägt.
Diesen Bonus hatte Frankenstein (1910) als erste Verfilmung des Stoffes naturgemäß
nicht. Daher verdient sich der Film die Anerkennung, hier Mary Wollstonecraft Shel-
leys relativ originalgetreu eingefangen zu haben, anstelle eine Kenntnis der Roman-
vorlage einfach vorauszusetzen und einzelne Szenen in bewegten Bildern zu zeigen,

267
Das Dokument des Grauens

wie es zum Beispiel Georges Méliès ständig tat. Frankenstein (1910) erzählt uns eine
in sich geschlossene Geschichte.
Die erste Szene zeigt, wie der junge Frankenstein seine Familie verlässt, um seine
Ausbildung zum Mediziner zu beginnen. Beachten Sie bitte die beiden Wasserzeichen
Edisons in den gegenüberliegenden Ecken. Ihnen wird ebenso ein zusätzliches Wasser-
zeichen links unten auffallen, welches die Buchstabenfolge „ada“ eingerahmt von zwei
horizontalen Strichen darstellt. Dies ist das Wasserzeichen des Alois Detlaff Archive;
mehr zu Alois Detlaff erfahren wir noch später.
Frankenstein wird von Augustus
Phillips dargestellt. Phillips wurde am 1.
August 1874 geboren und seit der Jahr-
hundertwende als Schauspieler in Thea-
tern tätig. Frankenstein (1910) gilt als
sein erster Ausflug in die Welt des Films.
Es sind derzeit etwa 140 Filme bekannt,
in welchen Augustus Phillips mitwirkte,
sein letzter Film entstand im Jahr 1921.
Berühmte Werke der Filmgeschichte be-
finden sich nicht darunter, und bis zu sei-
nem Krebstod im Jahr 1944 blieb er vor
Abbildung 23.3: Frankenstein verabschie- allem der Bühne treu.
det sich von seiner Verlobten Seine Verlobte Elizabeth, deren Na-
me im Film nie genannt wird und der Na-
me Elizabeth daher eine reine Vermutung ist, wird von Mary Fuller verkörpert. Die im
Jahr 1888 geborene Mary Claire Fuller war seit 1907 im Filmgeschäft tätig, als sie bei
der Vitagraph in New York als Schauspielerin zu arbeiten begann. 1909 wechselte sie
zu Edison und war unter anderem in Hansel und Gretel (1909) zu sehen. Dort wuchs
Mary Fuller zu einem der ersten weiblichen Filmstars heran. Sie war die erste Schau-
spielerin der USA, welche namentlich in der Namensliste eines Films erwähnt wurde,
in Aida (1911). Sie galt als Schönheit und wurde zunehmend populärer, bis sie im Jahr
1914 als Rivalin Mary Pickfords galt, einer weiteren berühmten Schauspielerin. Mary
Fuller machte sich auch als Autorin von Drehbüchern einen Namen, von welchen zwi-
schen 1913 und 1915 insgesamt acht Stück verfilmt wurden. 1917 war ihre Karriere
jedoch schlagartig vorbei, als sie, nachdem einige ihre Filme gefloppt waren, Proble-
me hatte, einen neuen Vertrag abzuschließen. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch
und zog sich aus dem Filmgeschäft zurück. 1926 versuchte sie ein Comeback, doch er-
neut hatte sie keinen Erfolg und es kam zu keinem Vertragsabschluss. Mary Fuller zog
sich wieder zurück und lebte mit ihrer Mutter. Als die Mutter 1940 starb, erlitte Mary
Fuller einen zweiten schweren Nervenzusammenbruch und verblieb in der Pflege ihrer
Schwester. 1947 wurde sie in das St. Elizabeths Krankenhaus in Washington eingelie-
fert. Dort lieb sie 25 Jahre lang in psychiatrischer Behandlung, bis sie 1972 schließlich
starb. Da das Krankenhaus keine Verwandten ausfindig machen konnte, wurde Mary
Fuller in einem anonymen Grab beigesetzt.

268
23. Frankenstein (1910)

Ebenso sehen wir einen grauhaarigen Herrn in dieser Szene, welcher zusammen
mit Elizabeth dem jungen Frankenstein zum Abschied hinterherwinkt. Der Name die-
ses Darstellers ist unbekannt.
Nach dieser sehr kurzen Einleitung
hält sich der Film nicht lange mit De-
tails auf und überspringt einige Jahre.
In der nächsten Szene entdeckt Franken-
stein bereits das Geheimnis des Lebens
und der Zuschauer erhält ein weiteres
Beispiel für das übertriebene Schauspiel,
in welches die Darsteller jener Zeit leicht
verfielen. Frankenstein betritt sein Ar-
beitszimmer. Zuerst spricht er mit einem
Totenschädel, bevor er sich auf einem
Lehnstuhl niederlässt und ausgiebig mit
seinen Armen gestikuliert. Dann nimmt Abbildung 23.4: Frankenstein entdeckt das
er eine Feder zur Hand und beginnt, sei- Geheimnis des Lebens
ne Notizen niederzuschreiben.
Beachten Sie bitte die Kulisse in dieser Einstellung. Sehen Sie das
riesige Dachfenster amerikanischen Stils über Frankensteins Schreibtisch? Dahin-
ter sind die Umrisse von Gebäuden aus der Bronx zu sehen. Das Fenster existiert nicht
von ungefähr, denn die Szene wurde bei Tageslicht gedreht und irgendwoher mus-
ste dieses ja kommen. An der Wand hinter Frankenstein sehen wir ein bemaltes Brett
hängen, welches ein Regal darstellen soll. In diesem sehen wir Totenköpfe liegen, über
ihnen ein Skelett eines kleinen Alligators. Links neben dem vermeintlichen Regal lässt
sich schemenhaft ein Armknochen mit einer Hand erkennen. Und auf dem Hocker vor
Frankensteins Stuhl liegt der Totenschädel, mit welchem Frankenstein auch zuvor in-
teragierte.
In der nächsten Szene sehen wir Frankenstein kurz vor seinem Experiment. Das
Bild ist hier braun eingefärbt. Dies geschah durch die Technik des Viragierens.
Eine Methode, einen Film einzufärben, war die Verwendung farbiger Folien, die
während der Wiedergabe vor dem Objektiv des Projektors eingesetzt wurden. Dies hat-
te den Nachteil, dass die Filmemacher davon abhängig waren, dass der Filmvorführer
hellwach war und den Film zuvor auch entsprechend geprobt hatte; bei älteren manuel-
len Projektoren konnten sogar zwei Vorführer notwendig werden, denn während einer
von ihnen die Folien austauschte, musste der andere den Film weiterkurbeln. Derartige
Filme waren also auch gar nicht koloriert, sondern nur schwarz-weiß.
Die zweite Methode war die aufwendige Handkolorierung, welche vor allem die
Franzosen praktizierten. Hierbei wurde ein Film Bild für Bild von Hand bemalt, und
bei jeder weiteren Kopie begann man wieder von vorne. Dies war also das mit Abstand
perfekteste, aber auch teuerste Verfahren, um Farbe in das Bild zu bringen.
Edison wählte bereits vor der Jahrhundertwende einen Kompromiss. Auch seine
Produktionen waren teilweise bildweise eingefärbt, aber auch nur großflächig mit einer

269
Das Dokument des Grauens

Farbe. Hierdurch waren die Aufwände bei der Herstellung wesentlich geringer als bei
einer vollständigen Kolorierung, und bei der Vorführung eines Filmes wurden keine
bunten Folien benötigt. In den USA war dieses Verfahren bis 1910 dann schon ein
Standardverfahren, welches des Öfteren eingesetzt wurde. Für Nachtszenen wählte
man in der Regel blau, in Innenräumen gelb oder braun, in der freien Natur wurden
die Szenen vornehmlich grün gefärbt und wenn Gefahr drohte wurde die Szene rot.
Dieses dritte Verfahren wurde auch
bei Frankenstein (1910) eingesetzt. Der
Film ist allerdings nicht durchgängig vi-
ragiert, sondern nur an den signifikanten
Stellen.
Frankenstein schreibt einen Brief an
seine Verlobte. Der Zweck dieses Briefes
ist die Straffung der Handlung, denn da-
durch, dass Dawley das Schreiben dem
Zuschauer zeigt, spart er die Filmlauf-
zeit und Inszenierungsarbeit ein, welche
erforderlich gewesen wäre, um den in
Abbildung 23.5: Frankenstein kurz vor Be- Worte gefassten Inhalt über Bilder und
ginn seines Experiments Schauspiel zu transportieren. Im Rahmen
der Handlung selbst spielt dieser Brief
keine weitere Rolle mehr; Frankensteins Verlobte ist daher nur ein Vorwand zur Wah-
rung der Kontinuität, denn eigentlich ist das Publikum der Nickelodeons der wahre
Adressat.
Wir erfahren aus dem Brief, dass
Frankenstein das Geheimnis des Lebens
und des Todes entdeckt hat. Noch heu-
te würde er den perfektesten Menschen
erschaffen, welchen die Welt je kann-
te. Nachdem dieses wundervolle Werk
vollendet ist, werde er zu seiner Verlob-
ten zurückeilen, um sie zu heiraten.
Frohen Mutes schreitet Frankenstein
nun zur Tat. doch die nächste Titelkarte
belehrt uns, dass das Böse in Franken-
stein anstelle eines perfekten menschli-
Abbildung 23.6: Frankensteins Brief an chen Wesens ein Monster schaffen wird.
seine Verlobte Das „Böse in Frankenstein“ erschafft
ein Monster ... also nicht Frankenstein
selbst?
Jetzt wird es interessant, denn in der Tat beginnen nun Eingriffe in die Geschichte,
welche zum Teil dem selbst auferlegten Moralkodex geschuldet sind, aber auch die
kommerziellen Interessen Edisons reflektieren.

270
23. Frankenstein (1910)

In der nächsten Einstellung sehen wir Frankenstein in seinem Labor. Optisch ist
die Szene durch ein Skelett dominiert, welches auf einem Stuhl sitzt. Daneben kniet
Frankenstein, der in einem Topf eine mysteriöse Suppe anrührt. Diese leert er dann
in einen riesigen Kessel, der im Bildhintergrund hinter zwei beweglichen Stahltüren
steht.
Dann verschließt Frankenstein die Stahltüren und betrachtet durch ein kleines Fen-
ster die sich in der Kammer vollziehende Reaktion.
Als Kenner von Gruselfilmen wundern Sie sich jetzt wahrscheinlich über das in
Frankenstein (1910) gezeigte Experiment. Wird das Monstrum normalerweise nicht
durch die Einwirkung von Elektrizität zum Leben erweckt? Und weshalb wird von
dem Bösen in Frankenstein gesprochen?
Nun, Mary Wollstonecraft Shelley
gibt sich in ihrem Roman hinsichtlich
der Schöpfungsszene sehr bedeckt. Sie
schreibt nicht, wie die Kreatur geschaf-
fen wird. Die Assoziation mit Elektri-
zität, welche heute in den Köpfen der
Zuschauer vorherrscht, entstammt James
Whales Frankenstein (1931), nicht dem
Roman. Aber es gibt noch einen weite-
ren Grund, weshalb sich Frankenstein
(1910) hier auf Motive der Alchemie be-
schränkt und den Schöpfungsprozess wie
ein Hexenwerk darstellt. Dieser Grund Abbildung 23.7: Das Experiment beginnt
ist erneut Thomas Edison. Edison war
vor allem als Erfinder und Forscher in der öffentlichen Meinung präsent. Eine große
Zahl moderner Neuerungen waren seine Errungenschaften und auch sein Kernge-
schäft. Selbstverständlich konnte er in Frankenstein (1910) die Kreatur nicht als Er-
gebnis moderner Forschung oder gar der Elektrizität darstellen, damit hätte er sich
schließlich selbst geschadet.
Dass Frankenstein selbst nicht aus Absicht oder Fahrlässigkeit ein Monstrum er-
schaffen darf, hat auch mit dem Moralkodex der General Film Company, des auf die
Inhalte von Filmen spezialisierten Ablegers der MPPC, zu tun. Der Text in der ein-
gangs erwähnten, lange verlorenen Ausgabe von The Edison Kinetogram verdeutlicht
dies: „Die Edison Company hat genauestens versucht, jegliche abstoßende Situatio-
nen zu eliminieren und die eigenen Anstrengungen auf die mystischen und psycho-
logischen Probleme in dieser eigenartigen Geschichte zu konzentrieren. Wir haben
sorgfältig alles vermieden, was in irgendeiner Weise Teile des Publikums schockieren
könnte.“ Dies führte zu dem wesentlichen Unterschied zwischen dem Frankenstein
aus Frankenstein (1910) und jenem sich selbst überschätzenden (und in manchen
Darstellungen auch völlig verrückten) Wissenschaftler aus dem Roman und unzähli-
gen filmischen Referenzen: Edisons Frankenstein ist nicht aktiv für das Ergebnis seiner
Experimente verantwortlich, sondern dieses ist das Ergebnis seines bösen zweiten Ichs,

271
Das Dokument des Grauens

ähnlich Stevensons Titelfigur aus The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Diese
Ähnlichkeit Frankensteins zu Dr. Jekyll wird sich wie ein roter Faden durch den Rest
des Films ziehen.
Das Geschehen im Innern der Kam-
mer entzückt Frankenstein zuerst. Doch
je länger der Prozess fortschreitet, desto
mehr verwandelt sich Frankensteins Be-
geisterung in blankes Entsetzen.
Dawley benutzte hier eine Schnitt-
technik, wie sie heute zwar völlig gang
und gäbe ist, aber damals war sie sehr
ungewöhnlich: Dawley schneidet zwi-
schen dem heftig gestikulierenden Fran-
kenstein und der Innenansicht der Reak-
tionskammer mehrfach hin und her. Die
Abbildung 23.8: Die Erschaffung des recht lange Szene wird so unterhaltsamer
Monsters und der aktuelle Stand des Kreationspro-
zesses und die jeweilige Reaktion Fran-
kensteins werden unmittelbar miteinander in Bezug gebracht. Wir erfahren so zusam-
men mit Frankenstein, dass sich im Innern der Kammer kein perfekter Mensch ent-
wickelt, sondern ein Monster.
Dawleys Darstellung der Geburt des Monsters ist überzeugend ausgefallen und
muss einen Vergleich mit den Kreationsszenen aus späteren Verfilmungen nicht scheu-
en. Dawley ließ für die Szene eine mehrschichtige Puppe des Monsters bauen, welche
in den Kessel gesetzt und in Brand gesteckt wurde. Dawley filmte die Verbrennung
und im Film wird diese Aufnahme rückwärts abgespielt. Das Ergebnis beeindruckt,
vor allem wenn der Kopfbereich der Kreatur auf diese Weise „entsteht“. Lediglich ein
Detail trübt den Gesamteindruck: Um das eingehauchte Leben zu verbildlichen, an der
Puppe ein skelettähnlicher Arm montiert, der beständig hinauf und herunter wippt. Die
Aufnahmen der brennenden Puppe mögen einen hervorragenden Effekt erzielen, aber
der zappelnde Arm macht den Realismus dieser Szene teilweise wieder zunichte.
Noch wissen wir nicht, wie die Kreatur wirklich aussieht. Die letzte Stufe ihrer
Erschaffung wird nicht gezeigt. Hier ist uns Frankenstein etwas voraus, und dieses
Wissen lässt ihn von der Kammer zurückweichen. In einer weiteren hervorragend in-
szenierten und innovativen Szene hebt er die Hände vom Grauen gepackt in Abwehr-
haltung vor sein Gesicht, und langsam öffnet sich die Tür der Reaktionskammer einen
Spalt. Nur einen Spalt, aber breit genug für die Hand des Monsters. In einer tastenden
Bewegung schiebt sich diese Hand langsam in das Bild.
Es wäre verwegen zu behaupten, dass diese Einstellung mit der Andeutung der
furchterregenden Kreatur durch die entstellte und langgliedrige Dreifingerhand in ir-
gendeiner Form wegweisend oder gar filmhistorisch bedeutend gewesen sei. Hierfür
haben in den Jahrzehnten nach dem ersten Erscheinen des Films einfach viel zu we-
nig Leute diese Szene überhaupt gesehen. Nichtsdestotrotz sind solche Inszenierungen

272
23. Frankenstein (1910)

wie dieses langsame Auftauchen der Hand durch den Türrahmen mittlerweile so üb-
lich, dass sie schon als Klischee gewertet werden können. Die Liste der Filme, welches
dieses Stilmittel einsetzen, ist lang; bekannte Beispiele für Filme, in welchen wir dies
in sehr ähnlicher Form ebenso sehen, sind The Cat and the Canary (1927) und Alien
(1979). Frankenstein (1910) hat diese späteren Werke nicht geprägt, aber war seiner
Zeit hier deutlich voraus.

Die Motivation des Regisseurs, nur


die Hand des Monsters zu zeigen, hat
sich über die Jahrzehnte nicht verändert
und ist zeitlos. Was lauert hinter dieser
Stahltür? Irgendetwas Schreckliches und
potenziell Tödliches. Wir wissen noch
nicht, wie die Kreatur aussieht, aber sie
wird wohl sehr entstellt sein. Das Grau-
en ist bereits hier, aber der Zuschauer
kann es noch nicht vollständig erfassen.
Ein schlechter Regisseur würde ein Mon-
strum nun einfach zeigen und hoffen,
dass der Schockeffekt für einen kurz- Abbildung 23.9: Von Grauen gepackt
en Aufschrei im Publikum ausreicht. Ein weicht Frankenstein vor der Hand des
Könner hingegen baut Spannung auf, in- Monsters zurück
dem er nur einen Teil des Monsters ent-
hüllt; das nicht unmittelbar sichtbare Grauen ist in der Vorstellung des Publikums zu-
meist schrecklicher als eine durchschnittliche Horrorfilmmaske. Irgendwann wird das
Monster dann enthüllt und diesem Moment fiebert das Publikum dann entgegen ... und
wird oft enttäuscht, wie zum Beispiel in Alien (1979), wo sich der außerirdische Xe-
nomorph dann nach zwei Stunden Schrecken doch nur als ein Schauspieler in einem
Gummianzug entpuppt. Manchmal entsteht daraus aber auch ein cineastischer Höhe-
punkt, wie Sie zum Beispiel weiter hinten in diesem Buch sehen werden, wenn wir die
Demaskierungsszene aus The Phantom of the Opera (1925) besprechen werden.

Für das eher an Komödien gewohnte Publikum der Nickelodeons war diese Sze-
ne ungeheuerlich erschreckend. Wenn Sie die älteste Szene eines Horrorfilms suchen,
welche vollumfänglich und ausschließlich darauf ausgelegt war, das Publikum finger-
nägelkauend auf der Kante des Kinostuhls herumrutschen zu lassen, haben Sie diese
hier gefunden.

Man kann Dawley hierbei unterstellen, dass diese Inszenierung ein bewusst vorge-
nommenes Kalkül war und keineswegs nur ein glücklicher Zufall. Denn Dawley war
sich der Wirkung so bewusst, dass er das Prinzip gleich in der nachfolgenden Szene
wiederholt. Frankenstein ist in seine Wohnung geflüchtet und sinkt auf sein Bett nie-
der, von dem Geschehen sichtlich schockiert und ermüdet. Doch dann bewegt sich der
Vorhang.

273
Das Dokument des Grauens

Die Hand des Monsters erscheint wieder und bedroht Frankenstein erneut. Doch
diesmal ist sie ihm viel näher. Und Frankenstein bemerkt sie nicht. Die Gefahr, in
welcher er schwebt, ist nun viel größer als in der Laborszene.
Der Oberkörper des Monsters schält
sich hinter dem Vorhang hervor und wir
können die Kreatur jetzt in ihrer ganzen
Hässlichkeit sehen. Die zu Klauen ver-
formten Finger gehören zu dem defor-
mierten Oberkörper eines Buckligen. Ein
entstelltes Gesicht mit viel zu hoher Stirn
wird von zersausten Haaren umgeben.
Die Finger greifen weiterhin nach Fran-
kenstein, bedrohen den Ruhenden. Daw-
ley kostet diese Szene lange aus und gibt
dem Publikum viel Zeit, um dem eigenen
Abbildung 23.10: Das Monstrum bedroht Entsetzen freien Lauf zu lassen.
Frankenstein und ist zum ersten Mal wirk- Als Frankenstein die Kreatur be-
lich sichtbar merkt, fällt er in Ohnmacht. Er erwacht
aber noch rechtzeitig und flieht von dem
Bett. Sich fürchtend und gestikulierend taumelt er im Raum herum und fällt schließ-
lich ohnmächtig zu Boden - zwei Ohnmachten in nur einer Szene! Beachten Sie hier
das übertriebene Schauspiel von Augustus Phillips.
Das Monstrum hingegen bleibt vergleichsweise ruhig. Frankenstein ist zwar schockiert,
doch ist es wirklich eine Bedrohung? Sein Gesicht zeigt vielmehr Neugier und Verwir-
rung als bösartige Absichten.
Doch jemand kommt. Die Kreatur zieht sich wieder hinter den Vorhang zurück,
gerade noch rechtzeitig, bevor der Diener Frankensteins den Raum betritt. Achten Sie
auf den geschlossenen Vorhang - es ist noch gut zu erkennen, dass dieser von Charles
Stanton Ogle, dem Darsteller des Monsters, noch mit einer Hand zugehalten wird.
Charles Ogle war 1910 noch ein unbekannter Schauspieler. Eigentlich war er 1905
im Alter von 30 Jahren als Theaterdarsteller am Broadway gelandet. Aber bereits 1908
hatte er einen ersten Filmauftritt in Edisons Produktion The Boston Tea Party (1908),
die unter der Regie von Edwin S. Porter in dem neu gegründeten New Yorker Stu-
dio entstand. Im Jahr danach drehte er erstmals an der Seite von Mary Fuller einen
Film unter der Regie von J. Searle, Bluebeard (1909). Frankenstein (1910) war eine
bemerkenswerte Rolle für ihn, bei welchem er auch sein Talent zur Maskenbildne-
rei beweisen konnte, denn damals war es üblich, dass Schauspieler die Verantwortung
für das Aussehen des von ihnen verkörperten Charakters waren - und im Falle von
Frankensteins Monster war dies natürlich eine ganz besondere Herausforderung, zu-
mal Charles Ogle keine filmischen Vorbilder zur Verfügung hatte, an welchen er sich
orientieren konnte. Dieses hohe Maß an Kreativität und handwerklicher Kunst mus-
ste ein Boris Karloff für Frankenstein (1931) 21 Jahre später nicht mehr mitbringen,
denn er konnte bereits auf Jack Pierce als Maskenbildner zurückgreifen.

274
23. Frankenstein (1910)

Charles Ogle trat in den insgesamt 17 Jahren seiner Filmkarriere in über 300 Fil-
men auf, er war also ein vielbeschäftigter Mann. Zu den bekanntesten Filmen, an wel-
chen Ogle mitarbeitete, gehören neben Frankenstein (1910) noch What Happened to
Mary? (1912), das erste Serial der Filmgeschichte mit Mary Fuller in der Hauptrolle,
Treasure Island (1920) und The Ten Commandments (1923). Im Horrorgenre war Ogle
jedoch ein äußerst seltener Gast.
Seine Darstellung des Monsters in Frankenstein (1910) sorgte für eine intensive
Spannung, doch die Motivation und Absichten der Kreatur bleiben unklar. Hier unter-
scheidet sich der Film von seiner Vorlage und den nachfolgenden Verfilmungen. Auch
hier ist die Rücksichtnahme auf den Moralkodex der MPPC zu spüren, denn die Be-
drohung ist nicht physischer Natur. Im ganzen Film gibt es keinen Mord oder anderen
körperlichen Angriff, ebenso wenig wie eine Diskussion religiöser Aspekte von Fran-
kensteins Schöpfung oder gar Leichendiebstahl. Der zu Beginn der Schöpfungsszene
erfolgte Hinweis auf „Das Böse in Frankenstein“ und die Orientierung an The Strange
Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde sind in dieser Szene zu erkennen. Das Monster wurde
eingangs als böse charakterisiert, doch ist es dies wirklich? Frankenstein und später
auch Elizabeth fallen bei seinem Anblick in Ohnmacht, und es wird Frankenstein auch
in der übernächsten Szene bedrohen, aber das war es auch schon. Könnte das Monster
überhaupt Frankenstein körperlich gefährlich werden? Oder ist es vielleicht ein Teil
Frankensteins, sein dunkles Ego? Ist es überhaupt real?
Nach seiner Genesung kehrt Fran-
kenstein nach Hause zurück. Das Mon-
ster folgt ihm ... notgedrungen, denn sei-
ne dunkle Seite kann Frankenstein kaum
in der Ferne zurücklassen.
Wir sehen ein wenig Techtelmechtel
zwischen Frankenstein und seiner Braut,
bis sich die Kreatur Frankenstein schließ-
lich zu erkennen gibt, als dieser sich al-
leine im Wohnzimmer aufhält. Franken-
stein ist entsetzt, fällt dieses Mal aber
nicht sofort wieder in Ohnmacht. Im Ge-
genteil, als Elizabeth das Zimmer betritt, Abbildung 23.11: Die Kreatur verfolgt
behält er sogar die Nerven und schiebt Frankenstein bis nach Hause zu dessen
seine Kreatur hinter einen Vorhang, da- Verlobter
mit sie vor Elizabeth versteckt bleibt.
Auch hier gibt es wieder Freiraum für Interpretationen. Weshalb versteckt Fran-
kenstein die Kreatur? Weil er sich um seine Verlobte sorgt? Oder vielleicht, weil er
nicht möchte, dass seine Braut von seiner dunklen Seite erfährt?
Als Frankenstein mit seiner Schöpfung wieder alleine ist, kommt es zur bereits
angesprochenen einzigen Konfrontation zwischen den beiden. Das Monster ist offen-
sichtlich nicht glücklich darüber, dass Frankenstein eine Verlobte hat. Hier wird eine
missverständliche Texttafel eingeblendet; das Monster suche seinen Schöpfer heim

275
Das Dokument des Grauens

und sei „jealous of his sweetheart“, heißt es dort. In der englischen Sprache ist hier
nicht klar definiert, ob die Kreatur denn nun Elizabeth begehrt und eifersüchtig auf
Frankenstein ist, oder umgekehrt. Die landläufige Meinung, auch in den Neuverfil-
mungen, ist, dass das Monster in Frankenstein hier einen Rivalen sieht. Doch in Fran-
kenstein (1910) ist das Gegenteil der Fall, wie das Kinetogram erklärt: Das Geschöpf
ist neidisch auf Elizabeth, weil es möchte, dass sein Schöpfer ihm alleine gehört.
In der Hochzeitsnacht erscheint das Monster erneut. Nach der Verabschiedung der
Gäste dringt es unbemerkt von Frankenstein in das Zimmer der Braut ein. Elizabeth
flüchtet vor der Kreatur und fällt zu Boden, doch Frankenstein ist zur Stelle und nimmt
den Kampf auf. Achten Sie hier darauf, mit welcher Waffe er das Monster zu bekämp-
fen gedenkt: mit einem Blumenstrauß.
Sein Geschöpf reißt ihm die Blu-
men aus der Hand und flieht, Franken-
stein verfolgt es. Die Kreatur läuft in das
Zimmer mit dem großen Spiegel, wel-
ches schon der Schauplatz der vorherigen
Szene war. Und jetzt kommt es zu der
Schlussszene, in welcher die Verknüp-
fung von Shelleys Geschichte mit dem
Motiv aus The Strange Case of Dr. Jekyll
and Mr. Hyde unübersehbar wird.
Das Monster sieht sich selbst im
Spiegel und, wie es in der eingeblende-
Abbildung 23.12: Frankenstein sieht seine ten Titelkarte heißt, von der Liebe über-
Kreatur als sein Spiegelbild wältigt löst es sich in Luft auf. Doch das
Spiegelbild des Monsters verschwindet
nicht, es bleibt im Spiegel bestehen!
Jetzt betritt Frankenstein die Szene und sieht das Spiegelbild der Kreatur im Spie-
gel, anstelle von sich selbst. Das Monster und er sind vereint. Es folgt eine letzte Über-
blendung, das Monster verschwindet auch aus dem Spiegel und das Gute in Franken-
stein hat dank der Liebe zu seiner Braut die Oberhand behalten. Elizabeth betritt das
Zimmer. Frankenstein und seine Braut fallen sich in in die Arme, The End.

So endet der Film, aber noch nicht seine Geschichte. Zwei Monate nach Abschluss
der Dreharbeiten feierte Frankenstein (1910) seine Premiere in New York. Doch beim
Publikum fiel der Film trotz guter Premierenkritiken durch. Die genauen Gründe sind
unklar. War es wegen der gruseligen, humorlosen Geschichte? War es wegen des blas-
phemischen Kontextes in einer Ära, in welcher der Darwinismus auf der Leinwand
kritisiert und die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte propagiert wurde? War die
Inszenierung Dawleys zu hölzern und langweilig? Man weiß es heute nicht mehr.
Edison zog den Film nach wenigen Wochen rasch wieder aus dem Verkehr, wie
bei kommerziellen Enttäuschungen damals üblich. Da die MPPC Filme nicht mehr
verkaufte, sondern nur noch gegen Gebühr verlieh, war dieser Rückruf sehr effizient.

276
23. Frankenstein (1910)

Die vorhandenen Filmkopien wurden dem Recycling zugeführt, um das darin enthal-
tene Silber zurückzugewinnen. Edison erstellte in der Regel nur etwa 40 Kopien eines
Films, welche wieder und wieder verliehen wurden. Normalerweise überlebte eine
solche Filmkopie etwa ein halbes Jahr Verleihbetrieb, dann war sie qualitativ in der
Regel qualitativ unbrauchbar2 . Ein solches Verleihende war für die meisten Filme,
welche nicht große Publikumserfolge wie The Great Train Robbery (1903) waren und
förmlich nach einer späteren Wiederverwertung schrien, der Eintritt in das Reich des
Vergessens. Frankenstein (1910) verschwand wie viele andere amerikanische Pro-
duktionen spurlos vom Markt, allerdings noch wesentlich konsequenter. Denn durch
den Rückruf erreichte der Film nicht die damals übliche Lebensdauer und er wurde
weniger Publikum durchgeführt als durchschnittliche Filmproduktionen Edisons. Der
Film hatte nie wirklich die Chance, bekannt zu werden, was auch die Überraschung er-
klärt, als ein halbes Jahrhundert später die berühmt gewordene Kopie des Kinetograms
auftauchte.
Natürlich waren in den 60er Jahren die Hoffnungen, eine Kopie des Filmes finden
zu können, groß. Vielleicht hatte eine Kopie in einem Archiv Edisons überlebt? Doch
die Hoffnungen waren nicht berechtigt, denn nachdem Edison im Jahr 1918 sein Studio
als Folge der Antitrust-Prozesse gegen die MPPC schloss, gingen auch die Bestände
an archivierten Filmen verloren.
Konnte vielleicht die Library of Congress aushelfen, denn schon damals mussten
Kopien von Werken aus der Literatur und auch des Films dort archiviert werden? Der
Gedanke ist naheliegend, doch hier erwies sich erneut der Geschäftssinn Edisons als
sehr destruktiv. Um Kosten zu sparen, reichte die Edison Manufacturing Company
nämlich keine Filmkopien bei der Bibliothek ein, sondern Abzüge der Einzelbilder auf
Papier. Papier war wesentlich kostengünstiger als Filmmaterial; anfangs produzierte
Edisons Filmgesellschaft hier noch Berge von Blättern mit jeweils einem Einzelbild,
später stieg man zur weiteren Kostenreduktion dann sogar auf Papierrollen um. Fast
alle heute noch erhaltenen Filme aus Edisons Produktionsstätten überlebten nur dank
dieser Kopien auf Papier.
Auch bei Frankenstein (1910) reichte Edison im März 1910 Papierabzüge ein.
Doch da der Film für die damalige Zeit eine gehörige Überlänge hatte und dies wieder-
um überdurchschnittliche Papierkosten mit sich gebracht hätte, übermittelte die Edison
Manufacturing Company nicht den kompletten Film, sondern nur einige wenige Sze-
nen. Damals fiel dies nicht weiter auf - ein halbes Jahrhundert später jedoch umso
mehr. Es waren zwar in den 70er Jahren einige wenige kurze Fragmente im Umlauf,
doch von einer halbwegs erhaltenen Kopie konnte keine Rede sein.
Diese Erkenntnisse führten letztlich im Jahr 1980 zu der Anerkennung von Fran-
kenstein (1910) als verlorenes Kulturgut durch das American Film Institute.

2
Selbst ein einfaches Stehenbleiben des Projektors resultierte normalerweise in einer Zerstörung des
Filmmaterials, denn die feuergefährlichen Nitratfilme entzündeten sich bereits bei etwa 140◦ Celsius.
Diese Temperatur wurde durch die in Projektoren eingesetzten Lichtbogenlampen sehr schnell erreicht,
wenn der Film nicht mehr korrekt weitertransportiert wurde.

277
Das Dokument des Grauens

Aber manchmal geschehen Wunder.

In Wisconsin lebte ein Filmsammler namens Alois Felix Detlaff. Als dieser davon
hörte, dass das AFI den Film auf die Liste bedeutsamer verschollener Filme gesetzt
hatte, trat Detlaff mit der Erklärung an die Öffentlichkeit, dass er im Besitz einer Kopie
von Frankenstein (1910) sei.
Doch wie war er in den Besitz einer Kopie gekommen?
Die Großmutter von Alois Detlaffs Ehefrau betrieb einst ein Varieté. Dort tanzte
sie und ließ sich dabei von Filmvorführungen begleiten. Einer dieser Filme war der
Western Hiawatha (1909), die erste Produktion von Carl Laemmles Produktionsge-
sellschaft IMP. Zusammen mit Hiawatha (1909) zeigte sie auch Frankenstein (1910).
Als sich die Frau aus dem Showgeschäft zurückzog, schenkte sie ihren Filmprojektor
sowie die Filme ihrem Sohn.
Dieser bewahrte die Sachen auf und vererbte sie wiederum seinem Sohn, Alois
Detlaffs Schwager. Dieser konnte mit dem alten Projektor nichts anfangen und ver-
kaufte ihn zusammen mit den Filmen an einen Filmsammler.
Dieser Sammler verkaufte den Film gegen Mitte der 50er Jahre weiter an einen
anderen Sammler, der zufälligerweise mit Alois Detlaff bekannt war. Detlaff interes-
sierte sich für Stummfilme, die er gerne seinen Kindern zeigte, um ihnen anhand der
Texttafeln das Lesen zu lehren. Daher kaufte er ihm die Familienstücke ab.
Als er sich Frankenstein (1910) ansah, fiel ihm sofort auf, dass das Filmmaterial
in keinem guten Zustand war. Es gab Kratzer und Abnutzungserscheinungen; ebenso
hatte sich durch das Alter des Films das Filmmaterial um 8 % verkürzt, wodurch aku-
te Gefahr bestand, dass die Filmperforation bei Vorführungen zerstört werden könnte.
Daher beschloss er, den Film nicht noch mehr zu beschädigen und lagerte die Filmrol-
len bei sich zu Hause ein.
Als das Kinetogram auftauchte und das Titelbild mit Charles Ogle im Monsterko-
stüm durch die Fachpresse geisterte, hielt sich Alois Detlaff bedeckt. 1975 ließ er auf
Drängen eines TV-Kameramannes namens Charles Sciurba eine Sicherheitskopie des
Films auf 16 mm anfertigen.
Doch erst als Detlaff von der Veröffentlichung der Liste des AFI hörte, wurde ihm
bewusst, dass er einen Schatz hütete. Er stellte der British Broadcasting Corporation
einige Ausschnitte für eine Dokumentation zu Verfügung. Doch diese wenigen Au-
genblicke des Films tauchten dann zusätzlich in mehreren Kompilationen über frühe
Stummfilme auf, was Alois Detlaff sehr ärgerte. Doch er war machtlos, denn der Film
war alt genug, um keinem Urheberrechtsschutz mehr zu unterliegen. Also zog Detlaff
die Konsequenz und hielt den Film fortan unter Verschluss.
Detlaff willigte in keine Aufführungen seines Films ein. 1986 ließ er zwar eine
Kopie für die Academy of Motion Pictures Arts and Sciences anfertigen, aber die war
aufgrund einer sich ständig quer über das Bild bewegenden Copyrightnotiz nur für
wissenschaftliche Zwecke zu gebrauchen.
1993 führte Alois Detlaff den Film in seiner Heimatstadt Milwaukee im Ava-
lon Theater auf. Detlaff wiederholte die Vorführung jährlich in verschiedenen Ki-

278
23. Frankenstein (1910)

nos der Stadt. Doch die eigentliche Wiedergeburt des Films fand im Jahr 2003 im
Landmark Loew’s Jersey Theatre, Jersey City, New Jersey statt. Das Jersey war ei-
ner der letzten noch betriebenen großen amerikanischen Filmpaläste und dort fanden
regelmäßig kleine Festivals zu klassischen Filmen statt. Diese Festivals dauerten in
der Regel ein Wochenende und im April 2003 lag der Fokus auf einer Reihe von
Frankenstein-Verfilmungen. Frankenstein (1910) war hier der Höhepunkt des Wo-
chenendes. Detlaffs Kopie des Films wurde täglich in dem stets ausverkauften Saal
gezeigt und erhielt nun auch eine noch nie da gewesene Öffentlichkeit.
Diese Aufführung war dann auch der Startschuss für eine kommerzielle Auswer-
tung des Films durch Alois Detlaff selbst. Hier wurde eine limitierte Auflage des Films
auf DVD verkauft, vertrieben durch die extra ins Leben gerufene Firma Alois Detlaff
Ventures, International.
Ebenso erschien im selben Jahr ein Comic mit dem Titel Edison’s Frankenstein
1910 von Chris Yambar, Frederick C. Wiebel und Robb Bihun, welcher sehr werks-
getreu den Film als dialogfreie Bildfolge, nur begleitet von Frankenstein als Erzähler,
auf Papier brachte.
Frederick C. Wiebel, der sowohl am Comic als auch an der DVD mitgearbeitet
hatte, galt schnell als der wichtigste Sachverständige über den Film. Er bereiste die
USA und hielt Vorträge sowohl an Universitäten als auch an Filmmessen. Mit Unter-
stützung von Alois Detlaff verfasste er auch das überragende Standardwerk Edison’s
Frankenstein, welches den Film und seine Geschichte bis ins Detail betrachtet - falls
Sie mehr von Alois Detlaff über die Irrfahrt des Films durch das 20. Jahrhundert er-
fahren möchten, als Ihnen diese kurze Zusammenfassung bieten kann, so sei Ihnen die
Lektüre dieses Buches dringend ans Herz gelegt.[19]
Alois Detlaff starb am 26. Juli 2005 im Alter von 84 Jahren eines natürlichen To-
des. Doch dank ihm konnte ein erst vergessener und dann totgesagter Meilenstein des
Horrorfilms überleben, und die Erinnerung an Alois Detlaff mit ihm.

279
Das Dokument des Grauens

280
Literaturverzeichnis

[1] Zitat aus dem III. Gesang von Dante Alighieris Die göttliche Komödie, Deut-
scher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, 9. Auflage

[2] Malleus Malificarum - Der Hexenhammer, J.W.R. Schmidt, vierte Auflage


1937/38, Reprint Verlag Leipzig, ISBN 978-3826208089

[3] Zitat aus dem Eintrag zu „Beckford William“, verfasst von Dr. phil. Thomas
Köster, Microsoft Encarta Enzyklopädie

[4] The Grand Guignol: Theatre of Fear and Terror, Mel Gordon, Revised edition
(August 21, 1997), Da Capo Press, ISBN 978-0941693080

[5] Peter Yorke, William Haggar: Fairground Film Maker, Accent Press Ltd, ISBN
978-1905170876

[6] Peter Yorke, William Haggar: Fairground Film Maker, Bildzitat von
http://www.williamhaggar.co.uk

[7] Wikipedia, http://en.wikipedia.org/wiki/Red_Barn_murder

[8] Killer cremated after 180 years, BBC News,


http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/england/suffolk/3573244.stm

[9] Ambrose Bierce, The Devil’s Dictionary, alle englischsprachigen Veröffentli-


chungen, siehe Eintrag „RAREBIT“ unter „R“.

[10] Pittsburg Gave Birth to the Movie Theater Idea, E.W. Lightner, veröffentlicht in
The Pittsburgh Dispatch am 16. November 1911

[11] Pittsburgh Moving Picture Bulletin, 23 April 1914, Seite 4

[12] The Pittsburgh Dispatch, 5 January 1906, Seite 8

[13] British Film Institute (BFI) Film & TV database,


http://ftvdb.bfi.org.uk/sift/title/48876

[14] Evening Post, Volume LXXVII, Issue 19, 23. Januar 1909, Seite 6, Neuseeland

281
Das Dokument des Grauens

[15] Moving Picture World, 28. November 1908

[16] Hal Erickson, All Movie Guide, Eintrag zu Moonstruck (1909)

[17] Kevin J. Hayes, Lunatics in Power (1999): A Neglected Poe Film, Poe Studies
Association Newsletter, Spring 2000, Volume 1, Number 1

[18] Mary Engelbreit, Mother Goose: One Hundred Best-Loved Verses, Harper Col-
lins, 20. September 2005, ISBN: 0060081716

[19] Frederick C. Wiebel Jr., Edison’s Frankenstein, BearManor Media, 978-


1593935153

282
Index
Évocation spirite (1899), 100, 100 Amant de la lune, L’ (1905), 170, 170,
£1,000 Spook, The (1907), 198 171, 182
Île de Calypso: Ulysse et le géant Poly- Amid the Workings of the Deep, siehe
phème, L’ (1905), 169 Deux cent mill lieues sous les mers, ou
1,000 Pound Spook, The , siehe £1,000 Le Cauchemar d’un pecheur (1906)
Spook, The (1907) Ancient Roman, The , siehe Antico roma-
20,000 Leagues Under the Sea, siehe no (1909)
Deux cent mill lieues sous les mers, ou Angel Heart (1987), 247, 253
Le Cauchemar d’un pecheur (1906) Antico romano (1909), 227
20000 lieues sous les mers, siehe Deux Antike Römer, Der , siehe Antico romano
cent mill lieues sous les mers, ou Le (1909)
Cauchemar d’un pecheur (1906) Antre de la sorcière, L’ (1906), 181
400 Tricks of the Devil, The, siehe Quatre Antre infernal, L’ (1905), 170, 170, 179
cents farces du diable, Les (1906) Apish Trick, An (1909), 238
400 farces du diable, Les, siehe Quatre Apish Trick, The , siehe Apish Trick, An
cents farces du diable, Les (1906) (1909)
Apparition, or Mr. Jones’ Comical Expe-
riences With a Ghost, The, siehe Reven-
Château hanté, Le (1897), 89, 90
ant, Le (1903)
Apparition, The, siehe Revenant, Le
Abbott & Costello Meet Frankenstein (1903)
(1948), 173 Apparitions fugitives, Les (1904), 153,
Abeille et la rose, L’ (1908), 220, 220 153
Accursed Cave, The, siehe Caverne mau- Astronomer’s Dream, or the Moon at One
dite, La (1898) Meter, The, siehe Lune à un mètre, La
Actor’s Troubles (1903), 135 (1898)
Adventures of Ichabod and Mr. Toad, The Astronomer’s Dream, The, siehe Lune à
(1949), 207 un mètre, La (1898)
Af Sherlock Holmes’ Oplevelser VI, siehe At Midnight in the Graveyard , siehe V
Graa Dame, Den (1909) polnoch na kladbishche (1909)
Aladdin and His Wonder Lamp, siehe Au fond de la terre , siehe Voyage au cen-
Aladin, ou la lampe merveilleuse (1906) tre de la terre (1909)
Aladin, ou la lampe merveilleuse (1906), Auberge du bon repos , L’ (1903), 142
178, 179 Auberge du bon repos, L’ (1903), 142
Alchimiste Parafaragamus ou La cornue Auberge ensorcelée, L’ (1897), 90, 90,
infernale, L’ (1906), 174 142, 169
Alchimiste Parafaragamus, ou La cornue Aunt Eliza Recovers Her Pet (1908), 218
infernale, L’ (1906), 174, 174 Aventures de Don Quichotte (1908), 215
Alien (1979), 3, 6, 131, 273
Aliens (1986), 131, 206 Babes in the Woods (1907), 201, 201
Alraune (1928), 173 Bacchetta del diavolo, La (1909), 227

283
Das Dokument des Grauens

Bacchetta magica, La , siehe Bacchetta del Bewitched Traveller, The (1904), 155
diavolo, La (1909) Bewitched Trunk, The, siehe Le coffre en-
Baiser de la sorcière, Le (1907), 194, 195 chanté (1904)
Ballade von einer Hexe, Die , siehe Balla- Billy the Kid vs. Dracula (1966), 173
ta di una strega, La (1909) Birds, The (1963), 192
Ballata della strega, La , siehe Ballata di Black Devil, The, siehe Diable noir, Le
una strega, La (1909) (1905)
Ballata di una strega, La (1909), 228 Black Imp, The, siehe Diable noir, Le
Barbe-Bleue (1901, 111, 248 (1905)
Barbe-bleue (1901), 111, 112 Blair Witch Project, The (1999), 42
Barber Up-to-Date (1903), 136 Bloodstone, The (1908), 205
Barber’s Queer Customer, The (1902), Bluebeard, siehe Barbe-bleue (1901)
125 Bluebeard (1909), 248, 248, 266, 274
Beast of Yucca Flats, The (1961), 133 Boîte à malice, La (1903), 141, 141
Beast with Five Fingers, The (1946), 211 Bogey Woman, The (1909), 238
Beauty and the Beast, siehe Belle et la Boireau, l’homme-singe , siehe Homme-
bête, La (1899) singe, L’ (1908)
Beauty and the Beast , siehe Belle et la Bonne bergère et la mauvaise princesse,
bête, La (1908) La (1908), 217, 217, 218
Beauty and the Beast (1903), 136 Bourreau turc, Le (1904), 150, 151
Beauty and the Beast (1905), 166 Bulles de savon animées, Les (1906), 178
Beauty at the Sleeping Woods , siehe Bel- Burglar and Fairy (1903), 136
le au bois dormant, La (1908) Buried Alive (1908), 210, 251
Bedelia and the Witch (1905), 164 Butcher’s Dream, The (1909), 241
Bee and the Rose, The , siehe Abeille et la
rose, L’ (1908) Cabby’s Dream, The (1906), 181
Beelzebub’s Daughters, siehe Filles du Cabinet de Méphistophélès, Le (1897), 91
diable, Les (1903) Cabinet des Dr. Caligari, Das (1919), 58,
Belle au bois dormant, La (1902), 120, 207
121, 124 Cadeaux de la fée, Les (1909), 235
Belle au bois dormant, La (1908), 218, Cake-walk infernal, Le (1903), 140, 140
219 Cake-Walk Infernal, The, siehe Cake-
Belle et la bête, La (1899), 101, 136, 166 walk infernal, Le (1903)
Belle et la bête, La (1908), 219, 219 Cannibal Holocaust (1979), 30
Belle et la bête, La (1946), 220 Capturing the North Pole , siehe Captu-
Bewildered Astronomer, The (1903), 136 ring the North Pole, or How He Cook’ed
Bewildering Cabinet, The, siehe Placard Peary’s Record (1909)
infernal, Le (1907) Capturing the North Pole, or How He
Bewitched Inn, The, siehe Auberge ensor- Cook’ed Peary’s Record (1909), 233
celée, L’ (1897) Casey’s Frightful Dream (1904), 156
Bewitched Manor House, The (1909), 238 Castle Ghosts, The , siehe Fantasma del
Bewitched Shepherd, The, siehe Antre de castello, Il (1908)
la sorcière, L’ (1906) Cat and the Canary, The (1927), 273

284
Filmindex

Cat’s Revenge, The (1908), 224 Conjuring a Lady at Robert Houdin’s,


Cauchemar d’un pêcheur, Le , siehe Deux siehe Escamotage d’une dame chez
cent mill lieues sous les mers, ou Le Robert-Houdin (1896)
Cauchemar d’un pecheur (1906) Conjuring of a Woman at the House of
Cauchemar du Fantoche, Le (1908), 221, Robert Houdin, The, siehe Escamotage
221, 240 d’une dame chez Robert-Houdin (1896)
Cauchemar, Le (1896), 82, 83 Conscience, The (1905), 170
Cavalier’s Dream, The (1898), 95, 95 Convict Guardian’s Nightmare, The
Cave of the Demons, The, siehe Caverne (1906), 181
maudite, La (1898) Cook in Trouble, The, siehe Sorcellerie
Cave of the Spooks , siehe Grotte des es- culinaire (1904)
prits, La (1908) Corbeille enchantée, La (1903), 144, 144
Caverne maudite, La (1898), 96 Corsican Brothers, The (1898), 98
Chasse au bois hanté, La (1909), 240 Cuisine de l’ogre, La (1908), 215, 215
Chat á la vie dure, Le (1906), 179 Curse of Frankenstein, The (1957), 6
Chat botté, Le (1903), 139 Cyclist and the Witch , siehe Heksen og
Chatte métamorphosée en femme, La Cyklisten (1909)
(1909), 240
D.T.’s, or the Effect of Drink, siehe Effects
Chaudron infernal, Le (1903), 145, 145,
of Too Much Scotch (1905)
146
Défaite de Satan, La (1909), 235
Cheese Mites, The (1903), 133, 134
Dame fantôme, La (1904), 153
Chien andalou, Le (1925), 178
Damnation du Docteur Faust (1904), 147,
Chinese Conjurer and the Devil’s Head,
149, 149, 150, 154
The (1902), 123
Damnation du Faust, siehe Faust aux en-
Chinese Magic (1900), 105
fers (1903)
Chinese Mystery, A (1902), 122 Damnation of Faust, The, siehe Faust aux
Chirurgie fin de siècle, siehe Une indige- enfers (1903)
stion (1902) Dance of Fire, The (1909), 239
Christmas Carol, A (1908), 206, 206 Dancing Skeleton (1903), 136
Chute de la maison Usher, La (1928), 61 Dancing Skeleton, The (1902), 125, 136
Cléopâtre (1899), 100 Danse du feu, La, siehe Colonne de feu,
Cleopatra, siehe Cléopâtre (1899) La (1899)
Cleopatra’s Tomb, siehe Cléopâtre (1899) Dante’s Inferno , siehe Inferno, L’ (1909)
Clock Maker’s Secret, The, siehe Patto in- Dantes Inferno , siehe Inferno, L’ (1909)
fernale (1907) Dawn of the Dead (1978), 3, 87
Clown and His Mysterious Pictures, The Decapitation in Turkey, siehe Le bourreau
(1902), 123 turc (1904)
Clown and the Alchemist, The (1900), Defeat of Satan, The , siehe Défaite de Sa-
109 tan, La (1909)
Coffre enchanté, Le (1904), 151, 152 Derniere sorcière, La (1906), 181
Colonne de feu, La (1899), 99, 99, 103, Desperate Crime, A, siehe Incendiaires,
208 Les (1906)

285
Das Dokument des Grauens

Deux cent mille lieues sous les mers, sie- Diable au convent, Le (1899), 80, 102,
he Deux cent mill lieues sous les mers, 103
ou Le Cauchemar d’un pecheur (1906) Diable boiteux, Le , siehe Il diavolo zoppo
Deux cent mille lieues sous les mers, (1909)
ou Le Cauchemar d’un pêcheur (1906), Diable géant, ou Le miracle de la madon-
174 ne, Le (1901, 113
Devil and the Gambler, The (1908), 205 Diable géant, ou Le miracle de la madon-
Devil and the Painter, The , siehe Roman- ne, Le (1901), 113, 113, 120, 136
zo di un pittore (1909) Diable noir, Le (1905), 169, 169
Devil and the Statue, The, siehe Diable Diabolical Saucepan, The, siehe Marmite
géant, ou Le miracle de la madonne, Le diabolique, La (1903)
(1901) Diabolical Tenant, The , siehe Locataire
Devil in the Convent, The, siehe Diable au diabolique, Le (1909)
convent, Le (1899) Diavolo zoppo, Il (1909), 228, 228
Devil on Two Sticks, The , siehe Il diavolo Doctor’s Experiment, or Reversing Dar-
zoppo (1909) win’s Theory , siehe Doctor’s Experi-
Devil’s Advocate, The (1997), 247 ment, The (1908)
Devil’s Amusement, The (1903), 136 Doctor’s Experiment, The (1908), 212,
Devil’s Bargain, The (1908), 212 223
Doktor Nicola III , siehe Lamaklostrets
Devil’s Castle, The, siehe Manoir du dia-
hemmelighed (1909)
ble, Le (1896)
Doll’s Revenge, The (1907), 197
Devil’s Kitchen, The (1902), 122
Don’t Look Now (1973), 192
Devil’s Laboratory, The, siehe Cabinet de
Doomed (1909), 239
Méphistophélès, Le (1897)
Dormeuse, La (1909), 236
Devil’s Manor, The, siehe Manoir du dia-
Dornröschen , siehe Belle au bois dor-
ble, Le (1896)
mant, La (1908)
Devil’s Money Bags, The, siehe Trésors Down in the Deep, siehe Pêcheur de per-
de satan, Les (1902) les, Le (1907)
Devil’s Pot, The, siehe Marmite diaboli- Dr. Jeckyll og Mr. Hyde , siehe Skæb-
que, La (1903) nesvangre opfindelse, Den (1909)
Devil’s Prison, The (1902), 122 Dr. Jekyll and Mr. Hyde , siehe Skæb-
Devil’s Seven Castles, The, siehe Sept nesvangre opfindelse, Den (1909)
châteaux du diable, Les (1901) Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1908), 204, 205,
Devil’s Theatre, The (1902), 122 225
Devil’s Three Sins, The , siehe Devil’s Dr. Lorenz Outdone, siehe Une indigesti-
Three Sins, The (1908) on (1902)
Devil’s Wand, The , siehe Bacchetta del Dr. Nicola III , siehe Lamaklostrets hem-
diavolo, La (1909) melighed (1909)
Devil, The (1908), 209, 247 Dr. Nicola in Tibet , siehe Lamaklostrets
Devil, The (1909), 247 hemmelighed (1909)
Devilish Tenant, The , siehe Locataire dia- Dr. Renault’s Secret (1942), 223
bolique, Le (1909) Dr. Terrors House of Horrors (1965), 211

286
Filmindex

Dracula (1958), 86 Fée Carabosse, ou le poignard fatal, La


Dracula (1992), 30 (1906), 216
Dream of a Rarebit Fiend, The (1906), Fée Carabosse, ou le poignard fatal, La
182, 183, 208, 211, 254, 266 (1906), 176, 176, 177, 182
Dream of the Moon, siehe Amant a la lu- Fée des roches noires, La (1901), 114, 114
ne, L’ (1905) Fée printemps, La (1906), 179, 180
Drunkard’s Dream, or Why You Sign the Fairy of the Black Rocks, The, siehe Fée
Pledge, siehe Amant a la lune, L’ (1905) des roches noires, La (1901)
Dunwich Horror, The (1970), 190 Fairy’s Presents, The , siehe Cadeaux de
la fée, Les (1909)
E tu vivrai nel terrore - L’aldilà (1981), 87 Fairy’s Sword, The (1908), 212
Ecrin du Radjah, L’, siehe Ecrin du Rajah, Fairyland, or Kingdom of Fairies, siehe
L’ (1906) Royaume des fées, Le (1903)
Ecrin du Rajah, L’ (1906), 179, 179 Fairyland, The, siehe Royaume des fées,
Edgar Allen Poe (1909), 243, 243, 244– Le (1903)
246, 249 Fairyland: A Kingdom of Fairies, siehe
Effects of Too Much Scotch, The (1905), Royaume des fées, Le (1903)
165 Faithless Friend, A (1908), 213
Egyptian Mystery, The (1909), 247 Fantôme d’Alger, Le (1906), 178
Ein seltsamer Fall , siehe Skæbnesvangre Fantasma del castello, Il (1908), 215, 215
opfindelse, Den (1909) Fantoche’s Nightmare , siehe Cauchemar
Electric Goose, The (1905), 166 du Fantoche, Le (1908)
Electric Transformation (1909), 233, 233 Fatal Wager, The , siehe V polnoch na
Elephant Man, The, 58 kladbishche (1909)
Ella Lola, á la Trilby (1898), 95, 95 Faust (1907), 192, 192
Enchanted Basket, The, siehe Corbeille Faust (1909), 247, 266
enchantée, La (1903) Faust and Marguerite (1900), 108, 109,
Enchanted Cup, The (1902), 126, 126 247
Enchanted Trunk, The, siehe Le coffre en- Faust and Marguerite, Le, siehe Damnati-
chanté (1904) on du Docteur Faust (1904)
Enchanted Well, The, siehe Puits fantasti- Faust and Mephistopheles (1898), 98
que, Le (1903) Faust aux enfers (1903), 146, 146, 150
Entombed Alive (1909), 251 Faust et Marguerite, Le, siehe Damnation
Eraserhead (1975), 7 du Docteur Faust (1904)
Escamotage d’une dame chez Robert- Faust in Hell, siehe Faust in Hell (1903)
Houdin (1896), 81, 82 Fedra (1909), 228
Esmeralda, siehe Esmeralda, La (1905) Fedra (Dramma mitologico dell’Antica
Esmeralda, La (1905), 171, 171, 251 Grecia), siehe Fedra (1909)
Evil Dead II(1987), 13 Feuerzeug, Das , siehe Fyrtøjet (1907)
Evil Dead, The (1982), 12 Filles du diable, Les (1903), 141
Evil Dead II (1987), 211 Film der Pathé ohne Titel (1908), 222
Expansion and Contraction (1903), 136 Fils du diable à Paris, Le, siehe Fils du
Extraordinary Black Art (1903), 134 diable fait la noce à Paris, Le (1906)

287
Das Dokument des Grauens

Fils du diable fait la noce à Paris, Le Good Sheperdess and the Evil Princess,
(1906), 180, 180 The , siehe Bonne bergère et la mauvai-
Fils du diable, Le, siehe Fils du diable fait se princesse, La (1908)
la noce à Paris, Le (1906) Gothic (1986), 57
Fog, The (1980), 12 Graa Dame, Den (1909), 230, 230
Fool There Was, A (1915), 262 Graa dame, Den (1909), 199, 230
Forbidden Fruit (1909), 238 Grey Dame, The , siehe Graa Dame, Den
Fortune Favors the Brave (1909), 242, 242 (1909)
Fortune Favours the Brave , siehe Fortune Grey Lady, The, siehe Graa Dame, Den
Favors the Brave (1909) (1909)
Frühlingsfee, Die, siehe Fée printemps, Grinsende Gesicht, Das (1921), 237
La (1906) Grotte des esprits, La (1908), 221, 221
Frankenstein (1910), 248, 260, 265, 266– Guilty Conscience, The (1908), 210
268, 270, 271, 273–279 Gypsy’s Revenge, The (1908), 210
Frankenstein (1931), 214, 271, 274
Freak Barber, The (1905), 166 Hängelampe, Die , siehe Suspension, La
Freaks (1932), 58 (1908)
Friday the 13th (1980), 87 Hôtel hanté, L’ (1909), 234, 234
Frolics of Satan, The, siehe Quatre cents Haggard’s She: The Pillar of Fire, siehe
farces du diable, Les (1906) Colonne de feu, La (1899)
Frolics on the Beach at Coney Island , sie- Hallucinated Alchemist, The, siehe Hallu-
he Buried Alive (1908) cination d’alchimiste, L’ (1897)
Fugitive Apparitions, The, siehe Appariti- Hallucination d’alchimiste, L’ (1897), 91
ons fugitives, Les (1904) Hand, The (1981), 211
Fun in a Butcher Shop (1901), 116, 116 Hanging Lamp, The , siehe Suspension,
Fyrtøjet (1907), 199, 229 La (1908)
Hansel and Gretel (1909), 248, 266, 268
Haunted Bedroom, The (1907), 198
Galvanic Fluid (1908), 205, 205, 233 Haunted Castle, The, siehe Manoir du dia-
Genio del lago, Il (1909), 229 ble, Le (1896), siehe Château hanté, Le
Gertie the Dinosaur (1909), 254 (1897)
Gertie the Dinosaur (1914), 254, 255 Haunted Castle, The , siehe Maison ensor-
Ghost and the Candle, The, siehe Reven- celée, La (1908)
ant, Le (1903) Haunted Castle, The (1897), 89, 90
Ghost of the Rocks, The , siehe Papa Gas- Haunted Castle, The (1909), 238
pard (1909) Haunted Curiosity Shop, The (1901), 115,
Ghost’s Holiday, The (1907), 197 115
Ghosts in a Chinese Laundry (1900), 107 Haunted Dining Room, The (1902), 123
Giant and the Pygmy, The (1902), 123 Haunted Hotel, The (1907), 200
Gigantic Devil, The, siehe Diable géant, Haunted House, The, siehe Maison
ou Le miracle de la madonne, Le (1901) hantée, La (1907)
Golden Beetle, The, siehe Scarabée d’or, Haunted House, The (1899), 101, 101
Le (1907) Haunted Lounge, The (1909), 250

288
Filmindex

Haunted Man, The (1909), 233 In the Bogie Man’s Cave , siehe Cuisine
Haunted Screen Painter, The (1904), 155 de l’ogre, La (1908)
Heksen og Cyklisten (1909), 231 Incendiaires, Les (1906), 177, 177
Her Dolly’s Revenge (1909), 241 Incident from Don Quixote , siehe Aven-
Hexen bis auf’s Blut gequält (1969), 37 tures des Don Quichote (1908)
Hillbillys in a Haunted House (1967), 173 Incredible Torture Show, The (1976), 87
Histoire d’un crime, L’, siehe Incendiai- India Rubber Head, The, siehe Homme a
res, Les (1906) la tête de caoutchouc, L’ (1902)
Homme a la tête de caoutchouc, L’ (1902), Infernal Cake-Walk, The, siehe Cake-
120, 120 walk infernal, Le (1903)
Homme dans la lune, L´, siehe Lune à un Infernal Cauldron and the Phantasmal Va-
mètre, La (1898) pors, The, siehe Chaudron infernal, Le
Homme invisible, L’ (1909), 236 (1903)
Homme qui rit, L’ (1909), 237 Infernal Cauldron, The, siehe Chaudron
Homme-singe, L’ (1908), 223, 238 infernal, Le (1903)
Honneur est satisfait, L’ (1906), 178 Inferno, L’ (1909), 229
Horrible Nightmare, The (1902), 123 Inferno, L’ (1911), 229
Horror Hotel (1960), 63, 190 Inn Where No Man Rests, The, siehe Au-
Horror of the Blood Monsters (1970), 173 berge du bon repos, L’ (1903)
House of 1000 Corpses, The (2003), 254 Innocents, The (1961), 94
How Cook Cooked Peary at the Pole , sie- Inside the Earth , siehe Voyage au centre
he Capturing the North Pole, or How He de la terre (1909)
Cook’ed Peary’s Record (1909) Interview with the Vampire (1994), 16,
How I Cook’ed Peary’s Record , siehe 26, 253
Capturing the North Pole, or How He Invalide à la tête de bois, L’ (1908), 223
Cook’ed Peary’s Record (1909) Inventor’s Galvanic Fluid, The , siehe Li-
How to Get a Wife and Baby (1903), 137 quid Electricity (1907)
Howling, The (1981), 173 Invisible Fluid, The (1908), 206
Hunchback of Notre Dame, The (1923), Invisible Man, The (1933), 206
173 Invisible Thief, The , siehe Homme invi-
Hunchback, The (1909), 251 sible, L’ (1909)
Hypnotic Wife, The (1909), 236
Hypnotist at Work, The, siehe Magnéti- Jack and the Beanstalk (1902), 123, 124,
seur, Le (1897) 136
Jack and the Beanstalk (1903), 136
Illusioniste double et la tete vivante, L’ Jeanne d’Arc (1900), 105, 105, 112
(1900), 105 Jersey Mosquito, siehe Smashing a Jersey
Imp of the Bottle, The (1909), 248 Mosquito (1903)
Impossible Voyage, An, siehe Voyage à Jeteuse de sorts, La (1906), 181
travers l’impossible, Le (1904) Joan of Arc, siehe Jeanne d’Arc (1900)
Impossible Voyage, The, siehe Voyage à Journey to the Center of the Earth , siehe
travers l’impossible, Le (1904) Voyage au centre de la terre (1909)

289
Das Dokument des Grauens

Journey to the Middle of the Earth , sieheLiving Blackboard , siehe Cauchemar du


Voyage au centre de la terre (1909) Fantoche, Le (1908)
Justinian’s Human Torches , siehe Torches Locataire diabolique, Le (1909), 241, 241,
humaines, Les (1908) 242
Justinian’s Human Torches 548 A.D. , sie- London After Midnight (1927), 173, 266
he Torches humaines, Les (1908) Lord Feathertop (1908), 207
Lost Highway (1997), 58
King Kong (1933), 214 Lover of the Moon, siehe Amant a la lune,
King of the Cannibal Islands, The (1908), L’ (1905)
209 Lovers and the Imp (1903), 134, 134
King of the Mackerel Fishers, The, siehe Lunatics in Power (1909), 248, 249
Le roi du maquillage (1904) Lune à un mètre, La (1898), 97, 97, 102,
Kingdom of Fairies, siehe Royaume des 103
fées, Le (1903)
Kiss of the Vampire (1963), 24 Mademoiselle Faust (1909), 236
Knight Errand, A (1907), 198, 198 Magic Mirror, The (1908), 223
Magic Ring, The (1906), 181
Légende de Rip Van Winkle , La (1905), Magic Sword, The (1902), 126
168, 168 Magnétiseur, Le (1897), 91
Légende de Rip Van Winkle, La (1905), Maison des lutns, La , siehe Maison en-
168, 174 sorcelée, La (1908)
Légende du fantôme, La (1907), 193 Maison ensorcelée, La (1908), 222, 222
Laboratory of Mephistopheles, The, siehe Maison hantée, La (1907), 193
Cabinet de Méphistophélès, Le (1897) Making a Welch Rabbit, siehe Welsh Rab-
Lamaklostrets hemmelighed (1909), 231, bit, A (1903)
231, 232, 232 Mala sinistra, A (1908), 204, 204, 255
Last Witch, The, siehe Derniere sorcière, Man and His Bottle, The (1908), 213
La (1906) Man Monkay, The , siehe Homme-singe,
Legend of a Ghost, siehe Légende du L’ (1908)
fantôme, La (1907) Man Who Laughs, The , siehe Homme qui
Legend of Rip Van Winkle, The, siehe Lé- rit, L’ (1909)
gende de Rip Van Winkle, La (1905) Man Who Laughs, The (1928), 237
Legend of Sleepy Hollow, The (1908), Man with the Rubber Head, The , sie-
207 he Homme a la tête de caoutchouc,
Leprechaun, The (1908), 207 L’(1902)
Life of Charles Peace, The (1905), 165, Maniac Barber, The (1899), 102, 102
165, 166, 213 Maniac’s Guillotine, The (1902), 126, 213
Liquid Electricity (1907), 199, 205, 233 Mann mit der Flasche, Der , siehe Man
Little Red Riding Hood, siehe Petit Cha- and His Bottle, The (1908)
peron Rouge, Le (1901) Manoir du diable, Le (1896), 79, 79, 80–
Little Red Riding Hood (1907), 196, 196 82, 85, 89–91
Little Tom Thumb, siehe Petit poucet, Le Manor of the Devil, siehe Manoir du dia-
(1903) ble, Le (1896)

290
Filmindex

Manor of the Devil, The, siehe Manoir du Mysterious Retort, The, siehe Alchimiste
diable, Le (1896) Parafaragamus, ou La cornue infernale,
Maria Marten , siehe Red Barn Crime, L’ (1906)
The (1908) Mysterious Transformation Scene (1902),
Maria Marten, or The Murder at the Red 121
Barn (1902), 127, 213 Mysterious Urn, The (1902), 122
Marmite diabolique, La (1903), 139 Mystery of the Lama Convent, The , siehe
Marvellous Pearl, The , siehe Perla mera- Lamaklostrets hemmelighed (1909)
vigliosa, La (1909) Mystic Re-Incarnation, A (1901), 116
Mary Shelley’s Frankenstein (1994), 16 Mystic Reincarnation, A, siehe Mystic
Maschera del demonio, La (1960), 7, 37, Re-Incarnation, A (1901)
42 Mystic Swing, The (1900), 108
Meeresfee, Die , siehe Princesse d’Ys, La Mystic Swing, the (1900), 108
(1909)
Mephisto and the Maiden (1909), 253 Nas Entranhas do Morro do Castelo
Mephisto’s Son, siehe Fils du diable fait la (1909), 255, 255
noce à Paris, Le (1906)
Nature’s Fakirs (1907), 200
Mephistopheles’ School of Magic, siehe
New Jonah, The (1909), 239
Trésors de satan, Les (1902)
New Lord of the Village, The , siehe Nou-
Merry Frolics of Satan, The, siehe Quatre
veau seigneur du village, Le (1908)
cents farces du diable, Les (1906)
Night of the Ghouls (1959), 133
Metropolis (1927), 173
Night of the Living Dead (1968), 64
Midnight Episode, A, siehe Un bon lit
Nightcomers, The (1974), 94
(1899)
Nightmare (1903), 136
Midnight in the Graveyard , siehe V pol-
Nightmare, A, siehe Cauchemar, Le
noch na kladbishche (1909)
(1896)
Mirror of Life, The (1909), 239
Noche del terror ciego, La (1971), 12
Miser’s Doom, The (1899), 101, 101
Nosferatu: Eine Symphonie des Grauens
Mistletoe Bough, The (1904), 155, 155,
(1922), 86
166
Nosferatu: Phantom der Nacht (1979), 16
Momie du roi, La (1909), 241
Monkey Man, The , siehe Homme-singe, Nouveau seigneur du village, Le (1908),
L’ (1908) 216, 216, 217
Monster, The, siehe Monstre, Le (1903) Novice at X-Rays, A, siehe Rayons Ro-
Monstre, Le (1903), 143, 144, 144 entgen, Les (1898)
Moonstruck (1909), 237 Nozze in casa Scivoloni (1908), 214
Mother Goose (1909), 250 Nursemaid’s Dream, The (1908), 213
Mother’s Day (1980), 254 Nymph’s Bath, The (1909), 240
Mummy of the King Rameses, The , siehe
Momie du roi, La (1909) Oh, That Molar
Murderer’s Vision, The (1902), 125 (1907), 198
Mysterious Box, The, siehe Boîte à mali- Old Shoemaker, The (1909), 240
ce, La (1903) Oracle de Delphes, L’ (1903), 143, 144

291
Das Dokument des Grauens

Oracle of Delphi, The, siehe Oracle de Pillar of Fire, The, siehe Colonne de feu,
Delphes, L’ (1903) La (1899)
Oriental Black Art (1908), 217 Pit and the Pendulum, The (1913), 171
Oriental Mystic, The (1909), 252 Placard infernal , Le (1907), 192
Orlacs Hände (1924), 211 Plan 9 from Outer Space (1959), 133
Others, The (2001), 94 Poet’s Vision, The (1909), 240
Otra vuelta de tuerca (1985), 94 Poor Knight and the Duke’s Daughter, A
(1908), 224
Pêcheur de perles, Le (1907), 195, 195 Portrait spirituel, Le (1903), 143, 143
Painless Extraction, A (1907), 197 Prehistoric Man, The (1908), 213
Palace of the Arabian Nights, The, siehe Prince of Darkness, The (1900), 106, 106
Palais des mille et une nuits, Le (1905) Prince of Darkness, The (1902), 125
Palais des mille et une nuits, Le (1905), Princess and the Fisherman, The , siehe
167, 167, 168 Princesse d’Ys, La (1909)
Papa Gaspard (1909), 241 Princess in the Vase, The (1908), 208
Parsifal (1904), 156 Princesse d’Ys, La (1909), 239
Patto infernale (1907), 196 Professor and his Waxworks, The (1907),
Pearl Fisher, The, siehe Pêcheur de perles, 200
Le (1907) Psycho (1960), 7, 174
Peau de chagrin, La (1909), 237 puits fantastique, Le (1903), 141, 142
Perla meravigliosa, La (1909), 228 Puppet’s Nightmare, The , siehe Cauche-
Petit Chaperon Rouge, Le (1901), 113 mar du Fantoche, Le (1908)
Petit chaperon rouge, Le (1901), 196 Puss in Boots, siehe Chat botté, Le (1903)
Petit poucet, Le (1903), 138, 139
Petro in Fairy Land (1903), 137 quat’ cents farces du diable, Les, sie-
Phädra , siehe Fedra (1909) he Quatre cents farces du diable, Les
Phaedra , siehe Fedra (1909) (1906)
Phantom Lady, The, siehe Dame fantôme, Quatre cents coups du diable, Les, sie-
La (1904) he Quatre cents farces du diable, Les
Phantom of the Opera, The (1925), 273 (1906)
Phantom Ship, The (1908), 212 Quatre cents farces du diable, Les (1906),
Phantom Sirens, The (1909), 234 175, 176
Photographing a Ghost (1898), 95 Quatre cents farces du diable, Les (1906),
Pied Piper of Hamelin, The (1903), 135, 175
135 Quick Recovery, A (1902), 125
Pied Piper, The (1907), 198 Quick-Change Mesmerist, A (1908), 214
Pierrot a l’enfer , siehe Pierrot all’inferno
(1908) Rêve à la lune, siehe Amant a la lune, L’
Pierrot all’inferno (1908), 214 (1905)
Pierrot and the Devil , siehe Pierrot Rêve d’un astronome, Le, siehe Lune à un
all’inferno (1908) mètre, La (1898)
Pierrot in der Hölle , siehe Pierrot Radler und Hexe , siehe Heksen og Cykli-
all’inferno (1908) sten (1909)

292
Filmindex

Sculptor’s Welsh Rabbit Dream, A


Raising the Spirits, siehe Évocation spirite
(1899) (1908), 208
Rajah’s Casket, The, siehe Ecrin du Rajah, Sealed Room, The (1909), 246, 246
L’ (1906) Secret de la sorcière, Le (1907), 195
Rayons Roentgen, Les (1898), 96, 96 Secret of Death Valley, The (1906), 182
Rebecca (1939), 192 Sept châteaux du diable, Les (1901), 114,
Red Barn Crime, The (1908), 213 114, 120
Red Spectre, The, siehe Satan s’amuse Seven Castles of the Devil, The, siehe
(1907) Sept châteaux du diable, Les (1901)
Revenant, Le (1903), 146, 146 She (1908), 208
Revenge is Sweet, siehe Sorcier , Le Sherlock Holmes Baffled (1900), 106,
(1903) 106, 133
Revolving Table, The, siehe La table Sherlock Holmes in the Great Murder
tournante (1904) Mystery (1908), 209
Rip’s Dream, siehe Légende de Rip Van Sherlock Holmes VI, siehe Graa Dame,
Winkle, La (1905) Den (1909)
Robbing Cleopatra’s Tomb, siehe Shooting in the Haunted Woods , siehe
Cléopâtre (1899) Chasse au bois hanté, La (1909), sie-
Roi du maquillage, Le (1904), 152, 152 he Chatte métamorphosée en femme, La
Romanze eines Malers, Die , siehe Ro- (1909)
manzo di un pittore (1909) Sign of the Cross, The, siehe Diable au
Romanzo di un pittore (1909), 228 convent, Le (1899)
Royaume des fées, Le (1903), 144, 144, Silence of the Lambs, The (1991), 174
145 Sjunde inseglet, Det (1957), 37
Rubberman, The (1909), 252 Skæbnesvangre opfindelse, Den (1909),
232
Skæbnesvangre opfindelse, Den (1910),
Saloon-Keeper’s Nightmare, The (1908), 199
224 Skeleton at the Feast, The (1899), 102
Satan at play, siehe Satan s’amuse (1907) Skeleton Key, The (2005), 253
Satan Finds Mischief (1908), 224 Skeleton Magician, siehe Antre infernal,
Satan s’amuse (1907), 194, 194 L’ (1905)
Satan’s Smithy (1908), 223 Sleep Walker’s Dream, The, siehe Sleep-
Satan’s Treasures, siehe Trésors de satan, walker, The (1903)
Les (1902) Sleeper, The , siehe Dormeuse, La (1909)
Saul and David (1909), 252 Sleeping Beauty, siehe Belle au bois dor-
Saw (2004), 87 mant, La (1902)
Scanners (1981), 120 Sleeping Beauty , siehe Belle au bois dor-
Scarabée d’or, Le (1907), 193, 193 mant, La (1908)
Scream (1996), 73 Sleepwalker, The (1903), 138, 156
Scrooge, siehe Scrooge, or Marley’s Sleepy Hollow (1999), 207
Ghost (1901) Slumberland (1908), 210
Scrooge, or Marley’s Ghost (1901), 115 Smashing a Jersey Mosquito (1903), 134

293
Das Dokument des Grauens

Snow White (1902), 121, 121 Table Turning, siehe La table tournante
Snowman, The (1908), 208 (1904)
Soap Bubbles, siehe Bulles de savon Tale of the Fiddle (1909), 234
animées, Les(1906) Talked to Death (1909), 253
Somnambulist, The, siehe Sleepwalker, Tarantula (1955), 2
The (1903) Tenacious Cat, The, siehe Chat á la vie du-
Somnambulist, The (1908), 207 re, Le (1906)
Son of the Devil, siehe Fils du diable fait Terrible bourreau turc, Le, siehe Le bour-
la noce à Paris, Le (1906) reau turc (1904)
Sorcellerie culinaire (1904), 152 Terrible Night, A, siehe Une nuit terrible
Sorcellerie nocturne, La (1903), 139 (1896)
Sorcerer’s Revenge, The, siehe Sorcier , Terrible Turkish Executioner, The, siehe
Le (1903) Le bourreau turc (1904)
Sorcier , Le (1903), 142, 143 Teufels Zauberstab, Des , siehe Bacchetta
Specter, The , siehe Spectre, Le (1908) del diavolo, La (1909)
Spectre rouge, Le, siehe Satan s’amuse Texas Chain Saw Massacre, The (1909),
(1907) 254
Spectre, Le (1908), 223 Texas Chain Saw Massacre, The (1973),
Spirit of the Lake, The , siehe Genio del 7, 174
lago, Il (1909) Thieving Hand, The (1908), 211, 211
Spirit, The , siehe Spirite, Le (1909)
Thirteen Club, The (1905), 164, 164
Spirite, Le (1909), 240
Thousand Pound Spook, The , siehe
Spiritualistic Meeting, A, siehe Fantôme
£1,000 Spook, The (1907)
d’Alger, Le (1906)
Timely Apparation, A (1909), 234
Spiritualistic Photograph, The, siehe Por-
Tinder Box, The , siehe Fyrtøjet (1907)
trait spirituel, Le (1903)
Tis Now the Very Witching Time of Night
Spiritualistic Photographer, The, siehe
(1909), 250
Portrait spirituel, Le (1903)
Spiritualistic Seance (1908), 223 Tom Old Boot (1896), 83
Spooks Do the Moving (1908), 224 Too Much Champagne (1908), 210
Spring Fairy, The, siehe Fée printemps, La Too Much Mother-in-Law (1907), 200
(1906) Torches humaines, Les (1908), 216
Startled Lover, The (1902), 125 Toula’s Dream (1908), 224
Suicide Club, The (1909), 247 Trésors de satan, Les (1902), 118, 119
Summoning the Spirits, siehe Évocation Tre volti della paura, I (1963), 65
spirite (1899) Treasures of Satan, The, siehe Trésors de
Sure Cure for Indigestion, siehe Une indi- satan, Les (1902)
gestion (1902) Trilby (1908), 214, 229
Suspension, La (1908), 222 Trip to the Center of the Moon, siehe
Swamp Thing (1982), 214 Viaggio al centro de la luna (1905)
Sword and the King, The (1909), 252 Triple Conjurer and the Living Head, The,
siehe Illusionniste double et la tete vi-
Table tournante, La (1904), 154 vante, L’ (1900)

294
Filmindex

Trois péchés du diable, Les (1908), 222, Vampyr (1931), 66


222 Vanishing Lady, The, siehe Escamotage
Troubled Dream, The (1902), 123 d’une dame chez Robert-Houdin (1896)
Troublesome Fly, The (1900), 106 Vengeance du sorcier, La, siehe Sorcier ,
Turn of the Screw, The (1994), 94 Le (1903)
Turn of the Screw, The (2003), 94 Vente du diable, La (1908), 224
Viaggio al centro de la luna (1905), 167
Ugetsu monogatari (1953), 54 Village Scare, The (1909), 240
Ugliest Queen on Earth, The (1909), 240 Village Witch, The, siehe Jeteuse de sorts,
Ulysse et le géant Polyphème, siehe Île de La (1906)
Calypso: Ulysse et le géant Polyphème, Visions of a Crime , The (1907), 200
L’ (1905) Visit to a Spiritualist, A (1906), 182
Ulysses and the Giant Polyphemus, siehe Visit to the Spiritualist, A (1899), 101
Île de Calypso: Ulysse et le géant Poly- Voleur invisible, Le , siehe Homme invisi-
phème, L’ (1905) ble, L’ (1909)
Un bon lit (1899), 100 Voyage à travers l’impossible, Le (1904),
Uncle Josh in a Spooky Hotel (1900), 108, 153, 154
108 Voyage au centre de la terre (1909), 235
Uncle Josh’s Nightmare (1900), 107, 107,
108 Wages of Sin, The (1908), 212
Under the Sea, siehe Deux cent mill lieu- Wages of Sin; An Italian Tragedy, The ,
es sous les mers, ou Le Cauchemar d’un siehe Wages of Sin, The (1908)
pecheur (1906) Watchmaker’s Secret, The, siehe Patto in-
Undine, siehe Genio del lago, Il (1909) fernale (1907)
Undressing Extraordinary (1901), 115 Water Sprite, The (1908), 211
Undressing Extraordinary, or The Wave of Spooks (1908), 224
Troubles of a Tired Traveller, siehe Un- Wedding Feasts and Ghosts , siehe Nozze
dressing Extraordinary (1901) in casa Scivoloni (1908)
Une indigestion (1902), 119 Welsh Rabbit, A (1903), 137, 183, 208
Une nuit terrible (1896), 81, 81, 82, 100 Wendigo, The (1978), 187
Unknown, The (1927), 173 Wendigo, The (2008), 187
Untamable Whiskers, The, siehe Le roi du What Happened to Brown (1909), 233
maquillage (1904) When the Devil Drives (1907), 197, 198
Uomo che ride, L’ (1966), 237 When the Man in the Moon Seeks a Wife
Up the Pole , siehe Capturing the North (1908), 214
Pole, or How He Cook’ed Peary’s Re- While Under a Hypnotist’s Influence, sie-
cord (1909) he Magnétiseur, Le (1897)
Up-to-Date Surgery, siehe Une indigesti- Whirling the Worlds, siehe Voyage à tra-
on (1902) vers l’impossible, Le (1904)
Who Looks, Pays, siehe Honneur est sa-
V polnoch na kladbishche (1909), 255, tisfait, L’ (1906)
255 Wild Ass’s Skin, The , siehe Peau de cha-
Vampire (1920), 171 grin, La (1909)

295
Das Dokument des Grauens

Wild Man of Borneo, The (1902), 126, Witch, The (1908), 210
213 Witch, The (1909), 241
Willie’s Magic Wand (1907), 197, 197 Witchfinder General (1968), 37
Wishing Charm, The (1909), 254 Wolf Man, The (1941), 173
Witch and the Cyclist , siehe Heksen og Woman of Fire, The, siehe Filles du dia-
Cyklisten (1909) ble, Les (1903)
Witch Kiss, The, siehe Baiser de la sorciè- Wonderful Charm (1908), 217
re, Le (1907) Wonderful Pearl, The , siehe Perla mera-
Witch’s Ballad, The , siehe Ballata di una vigliosa, La (1909)
strega, La (1909) Wonderful Remedy, A (1909), 239
Witch’s Cave, The, siehe Antre de la sor- Wooden Headed Veteran, The , siehe In-
cière, L’ (1906) valide à la tête de bois, L’ (1908)
Witch’s Cavern, The (1909), 253 Wunderbare Perle, Die , siehe Perla mera-
Witch’s Curse, The, siehe Jeteuse de sorts, vigliosa, La (1909)
La (1906)
Witch’s Revenge, The, siehe Sorcier , Le
(1903) X-Ray Fiend, The (1897), 90
Witch’s Secret, The, siehe Secret de la sor-
cière, Le (1907)
Witch, The, siehe Fée Carabosse, ou le Yard of Frankfurters, A (1900), 107
poignard fatal, La (1906) Yellow Peril, siehe Chinese Magic (1900)

296

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