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Heyne 4055 von 1984

Arthur c. Clark
Geschichten aus dem Weißen
Hirschen
Scan: ???
Korrektur: Nichtznuts
Von A r t h u r C. Clarke erschienen in der Reihe
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY:

Komet der Blindheit (06/3239)


Rendezvous mit 31/439 (06/5370)
2001 - Odyssee im Weltrjum (06/3259)
Makenzie k e h r t zur Erde heim (06/3645)

Liebe Leser,
um Rückfragen zu vermeiden und Ihnen Enttäuschungen zu erspa-
ren: Bei dieser Titelliste handelt es sich u m eine Bibliographie und
NICHT UM EIN VERZEICHNIS L I E F E R B A R E R BÜCHER. Es ist lei-
der unmöglich, alle Titcl ständig lieferbar zu halten. Bitte fordern Sic
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Wilhelm Heyne Verlag CmbH & Co K G , Türkenstr S-7, Posttach
201204, 8000 München 2, Abteihmg Vertrieb
ARTHUR C. CLARKE

GESCHICHTEN AUS DEM


WEISSEN HIRSCHEN

Science Fiction-Erzählungen

Deutsche Erstveröffentlichung

WILHELM HEYNE VERLAG


MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 06/4055
im Wilhelm Heyne Verlag, München

Titel der englischen Originalausgabe


TALES OF THE WHITE HART
Deutsche Übersetzung von Hilde Linnert
Die Illustrationen zeichnete Mark van Oppen

Redaktion: Wolfgang Jeschke


Copyright © 1957, 1970 und 1972
by Arthur C. Clarke
Copyright © 1984 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Umschlagbild: New English Library
Printed in Germany 1984
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: Schaber, Wels
Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin

ISBN 3-453-30998-7
INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Ruhe, bitte! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
(Silence Please!)
Großwildjagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
(Big Game Hunt)
Patent angemeldet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
(Patent Pending)
Wettrüsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
(Annaments Race)
Kritische Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
(Critical Mass)
Die elementare Melodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
(The Ultimate Melody)
Der Pazifist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
(The Pacifist)
Die nächsten Mieter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
(The Next Tenants)
Treibender Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
(Moving Spirit)
Die widerspenstige Orchidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
(The Reluctant Orchid)
Kalter Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
(Cold War)
Was oben ist, muß runterkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
(What Goes Up)
Dornröschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
(Sleeping Beauty)
Der Fenstersturz von Ermintrude Inch . . . . . . . . . . . . . 180
(The Defenstration of Ermintrude Inch)
Über Arthur C. Clarke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Fur Lew und seine
Donnerstagabend- Gäste
Vorwort

Tales from the White Hart war meine dritte Kurzgeschich-


ten-Sammlung* und wurde 1957 von Ballantine Books als
Taschenbuch herausgebracht. Diese Erzählungen ent-
standen zwischen 1953 und 1956 in den verschiedensten
Städten: New York, Miami, Colombo, London und Syd-
ney. In einigen Fällen ist der lokale Einfluß unüberseh-
bar, obwohl ich merkwürdigerweise noch nie in Austra-
lien gewesen war, als ich >What Goes Up< (>Was oben
ist, muß runterkommen<) schrieb. In mindestens zwei
Fällen hat mich die Wissenschaft in den beiden Jahrzehn-
ten seit dem Erscheinen der Erzählungen eingeholt. Die
in >Big Game Hunt< (>Großwildjagd<) beschriebene
Technik demonstrierte Dr. Jose Delgado eindrucksvoll,
als er einen (ihn selbst) angreifenden Stier in der Arena
steuerte und damit das Zeitalter des elektronischen Tore-
ros einleitete. Weitere technische Entwicklungen, die sich
mit Riesentintenfischen und Killerwalen beschäftigen,
können Sie in meinen Romanen The Deep Range und
Dolphin Island nachlesen. Die Idee, die >Patent Pending<
(>Patent angemeldet<) zugrundeliegt, ist jetzt allgemein
bekannt; Hermann Kahn hat solche Apparate als
>Traummaschinen< bezeichnet, und falls sie jemals er-
funden werden, dürften sie in mehr als einer Hinsicht für
die menschliche Rasse das Ende des Weges bedeuten. Ich
habe sie in der Kurzgeschichte The Lion of Comarre ge-
nauer beschrieben.
>Armaments Race< (>Wettrüsten<) ist das Ergebnis ei-
nes Besuches bei George Pal in Hollywood, während er
*
Voraus gingen Expedition to Earth und Reach for Tomorrow.
an den Trickaufnahmen für The War of the Worlds arbeite-
te. Als ich die Erzählung schrieb, hielt man die Erfindung
von Todesstrahlen für eher unwahrscheinlich. Nun,
heute wissen wir es besser.
Man hat mir auch gesagt - obwohl ich mich nicht dafür
verbürgen kann - daß eine Situation, wie ich sie in >The
Pacifist< (>Der Pazifist<) geschildert habe, jetzt tatsächlich
eingetreten ist; irgendwo in den Vereinigten Staaten gibt
es einen Computer, der seine Meditationen immer wie-
der damit unterbricht, daß er DER VERRÜCKTE PRO-
GRAMMIERER SCHLÄGT WIEDER ZU ausdruckt ...
Leser fragen mich oft, ob es den >Weißen Hirsch< wirk-
lich gegeben hat. Allerdings; der Hintergrund (und ei-
nige Nebenfiguren) stammen aus dem White Horse in
der Fetter Lane nördlich der Fleet Street in London. In
den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg trafen einander
dort allwöchentlich die Londoner Science Fiction Fans.
Später übersiedelte der Wirt, Lew Mordecai, in den >Glo-
be< in Hatton Garden - im Herzen des Diamanten-Vier-
tels - und wir folgten ihm alle dorthin.
Viele junge Schriftsteller, Herausgeber und auf Besuch
weilende Feuerwehrleute aus der ganzen Welt kommen
dort immer noch jeden ersten Dienstag im Monat zu-
sammen. Aber ich kenne kaum jeden Zehnten, und für
mich sind ihre Diskussionen über William Burroughs und
die New Wave vollkommen unverständlich. Und
manchmal muß ich sie daran erinnern, daß ich Jules
Verne nicht persönlich kannte - nicht einmal, leider,
H. G. Wells.
Arthur C. Clarke
Ruhe, bitte!

I n einer der kleinen Straßen, die von der Fleet Street zum
Embankment führen, stößt man vollkommen unerwartet
auf den >Weißen Hirsch<. Es hat keinen Sinn, wenn ich
Ihnen erkläre, wo er liegt: von den Leuten, die fest ent-
schlossen waren, ihn zu finden, sind nur sehr wenige tat-
sächlich dort eingelangt. Bei den ersten zehn Besuchen
brauchen Sie einen Führer: danach werden Sie ihn wahr-
scheinlich nicht verfehlen, wenn Sie die Augen schließen
und sich von Ihrem Instinkt leiten lassen. Und um ganz
offen zu sein - wir wollen keine neuen Gäste, jedenfalls
nicht an unserem Abend. Das Lokal ist schon so überfüllt,
daß es langsam ungemütlich wird. Ich werde über seine
Lage nur verraten, daß es gelegentlich durch die Vibra-
tionen der Druckerpressen erschüttert wird, und daß
man die Themse sehen kann, wenn man den Kopf zum
Fenster der Herrentoilette hinausstreckt.
Von außen sieht es genauso aus wie jedes andere Pub
- und das ist es auch an fünf Tagen der Woche. Das Pub
und die Bar befinden sich im Erdgeschoß: dort gibt es die
übliche braune Eichentäfelung und Milchglasscheiben,
die Flaschen hinter der Bar, die Bierhähne ... überhaupt
nichts Ungewöhnliches. Die einzige Konzession an das
zwanzigste Jahrhundert ist die Jukebox im Pub. Sie
wurde während des Krieges aufgestellt; ein lächerlicher
Versuch, in den G.I.s Heimatgefühle zu wecken. Eine
unserer ersten Maßnahmen bestand darin, dafür zu sor-
gen, daß sie bestimmt nicht wieder in Betrieb genommen
werden kann.
Hier sollte ich eigentlich erklären, wer >wir< sind. Das
ist nicht so einfach, wie ich zuerst annahm, denn es ist
wahrscheinlich unmöglich, eine vollständige Liste der
Gäste des >Weißen Hirschen< anzulegen, und außerdem
wäre sie entsetzlich langweilig. Deshalb möchte ich nur
feststellen, daß wir drei Gruppen umfassen. Zunächst
gibt es die Journalisten, Schriftsteller und Verleger. Die
Journalisten sind natürlich von der Fleet Street herüber-
gekommen. Diejenigen, die nicht Fuß fassen konnten,
flohen in eine andere Kneipe, die zäheren blieben. Was
die Schriftsteller betrifft, so hörten die meisten durch an-
dere Schriftsteller von uns, kamen hierher, um Ideen zu
finden, und blieben kleben.
Wo es Schriftsteller gibt, tauchen früher oder später na-
türlich auch Verleger auf. Wenn Drew, unser Wirt, Pro-
zente für die literarischen Verträge bekäme, die in seiner
Bar abgeschlossen wurden, wäre er ein reicher Mann.
(Wir haben den Verdacht, daß er ohnehin ein reicher
Mann ist.) Einer unserer Witzbolde bemerkte einmal, daß
oft genug in einer Ecke des >Weißen Hirschen< ein halbes
Dutzend empörter Autoren mit einem abgebrühten Ver-
leger diskutierten, während sich in der gegenüberliegen-
den Ecke ein halbes Dutzend empörter Verleger mit ei-
nem abgebrühten Autor herumstritt.
Das wäre also die literarische Stammkundschaft: ich
sage Ihnen gleich, daß Sie noch genügend Gelegenheit
für Nahaufnahmen haben werden. Jetzt wollten wir aber
einen Blick auf die Wissenschaftler werfen. Wie sind sie
hierhergekommen?
Ja, also, das Birkbeck College steht in der Parallelstraße,
und das King's College befindet sich ein paar hundert
Meter weiter am Strand. Das erklärt zweifellos viel, und
natürlich trugen auch persönliche Empfehlungen dazu bei.
Außerdem sind etliche unserer Wissenschaftler gleichzei-
tig Schriftsteller, und gar nicht wenige unserer Schrift-
steller sind Wissenschaftler. Verwirrend, aber uns ge-
fällt's.
Der dritte Teil unseres kleinen Mikrokosmos besteht

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aus >interessierten Laien<, wie man sie zusammenfas-
send bezeichnen könnte. Das kunterbunte Treiben lockte
sie in den >Weißen Hirsch<, wo ihnen die Gesellschaft
und die Unterhaltung so gut gefielen, daß sie jetzt regel-
mäßig jeden Mittwoch auftauchen - das ist der Tag, an
dem wir alle zusammenkommen. Manchmal halten sie
das Tempo nicht durch und bleiben am Weg liegen, aber
es gibt immer wieder neuen Nachschub.
Angesichts dieser überaus günstigen Voraussetzungen
ist es nicht weiter erstaunlich, daß die Mittwoche im
>Weißen Hirschen< selten langweilig sind. Dort sind
nicht nur beachtenswerte Geschichten erzählt worden,
sondern auch beachtenswerte Dinge geschehen. Zum Bei-
spiel damals, als Professor ... sowieso auf der Reise nach
Harwell hereinschaute und eine Aktenmappe liegen ließ,
die - na ja, befassen wir uns nicht weiter damit, obwohl
wir es damals taten. Und es war überaus interessant ...
Falls mich russische Agenten suchen - ich sitze meist in
der Ecke unter der Wurfscheibe. Ich bin natürlich nicht
billig, akzeptiere aber Ratenzahlungen.
Nachdem ich endlich auf diese Idee verfallen bin, über-
rascht es mich, daß keiner meiner Kollegen bis jetzt daran
gedacht hat, diese Geschichten niederzuschreiben. Kön-
nen sie den Wald vor Bäumen nicht sehen? Oder fehlt ih-
nen der Ansporn? Nein, letztere Erklärung ist kaum
stichhaltig: einige von ihnen sind genauso schlecht bei
Kasse wie ich und beschweren sich genauso bitter über
Drews eisernen Grundsatz >HIER WIRD NICHT ANGE-
SCHRIEBEN<. Während ich diese Worte auf meiner alten
Remington Noiseless tippe, fürchte ich nur, daß John
Christopher oder George Whitley oder John Benyon
schon schwer schuften und sich die besten Geschichten
unter den Nagel reißen. Zum Beispiel die Geschichte mit
dem Fenton-Schalldämpfer . . .

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Ich weiß nicht, wann es anfing, ein Mittwoch gleicht dem
anderen, und es ist schwer, sie mit einem bestimmten
Datum in Verbindung zu bringen. Außerdem ist es
durchaus möglich, daß Menschen sich ein paar Monate
lang in der Menge im >Weißen Hirschen< herumtreiben,
bevor man auf sie aufmerksam wird. Das war anschei-
nend auch bei Harry Purvis der Fall, denn als er mir zum
erstenmal auffiel, kannte er schon die Namen fast aller
Leute in unserer Clique. Wenn ich es recht bedenke,
kann ich das nicht einmal von mir behaupten.
Aber obwohl ich nicht weiß, wann, so weiß ich doch,
wie es begann. Bert Huggins war der Katalysator, oder ei-
gentlich war es seine Stimme. Berts Stimme kann alles ka-
talysieren. Wenn er jemandem etwas vertraulich zuflü-
stert, klingt es, als würde ein Hauptfeldwebel ein ganzes
Regiment zurechtstauchen. Und wenn er sich gehen läßt,
verstummen die Gespräche um ihn, während wir alle
darauf warten, daß die berühmten kleinen Knöchelchen
im inneren Ohr wieder an den richtigen Platz zurückrut-
schen.
Er hatte gerade die Geduld mit John Christopher verlo-
ren (irgendwann passiert das jedem von uns), und das
darauffolgende donnernde Gebrüll hatte die Schachpar-
tie gestört, die im Hintergrund der Bar im Gange war.
Wie üblich waren die beiden Spieler von Kibitzen umge-
ben, und wir alle sahen erschrocken auf, als die von Bert
ausgelösten Schallwellen über uns hinwegfegten. Als
sich das Echo gelegt hatte, sagte jemand: »Wenn man ihn
nur irgendwie zum Schweigen bringen könnte.«
Und darauf antwortete Harry Purvis: »Das ist durchaus
möglich.«
Da ich die Stimme nicht kannte, sah ich mich um. Ich
erblickte einen kleinen, korrekt gekleideten Mann Ende
dreißig. Er rauchte eine der geschnitzten deutschen Pfei-
fen, bei denen ich immer an Kuckucksuhren und den
Schwarzwald denken muß. Sonst hatte er aber nichts

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Unkonventionelles an sich; er hätte ohne weiteres ein
subalterner Finanzbeamter sein können, der zu einer Ta-
gung der Buchprüfer unterwegs war.
»Wie bitte?« fragte ich.
Er beachtete mich nicht, sondern befaßte sich angele-
gentlich mit seiner Pfeife. Erst jetzt bemerkte ich, daß es
sich nicht, wie ich zuerst angenommen hatte, um eine
komplizierte Holzschnitzerei handelte. Es war etwas viel
Komplizierteres - eine Vorrichtung aus Metall und
Kunststoff, wie eine kleine chemische Anlage. Ich ent-
deckte sogar ein paar winzige Ventile. Mein Gott, es war
eine kleine chemische Anlage.
Ich starre an und für sich nie jemanden an, aber ich
versuchte nicht erst, meine Neugierde zu verbergen. Er
lächelte überlegen.
»Alles im Dienst der Wissenschaft. Es ist eine Idee des
biophysikalischen Labors. Sie wollen genau herausbe-
kommen, woraus Tabakrauch besteht - daher die Filter.
Sie kennen den alten Streit - führt Rauchen zu Zungen-
krebs, und wenn ja, wie? Leider braucht man eine un-
glaubliche Menge Destillat, um einige der unbekannteren
Nebenprodukte zu identifizieren. Deshalb müssen wir
sehr viel rauchen.«
»Stören diese Installationen nicht das Vergnügen am
Rauchen?«
»Das weiß ich nicht. Ich bin nämlich nur ein Freiwilli-
ger. Ich rauche nicht.«
»Oh«, sagte ich. Im Augenblick fiel mir nichts Besseres
ein. Dann erinnerte ich mich an das auslösende Moment
für unser Gespräch.
»Sie erwähnten«, fuhr ich etwas lauter fort, denn in
meinem linken Ohr klingelte es immer noch leise, »daß es
eine Möglichkeit gibt, Bert zum Schweigen zu bringen.
Wir würden gern mehr darüber hören - falls ich damit
nicht die Metaphern durcheinanderbringe.«
Er zog in Ausübung seines Experiments an der Pfeife

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und stieß den Rauch wieder aus. »lch dachte an den un-
seligen Fenton-Schalldämpfer. Eine traurige Geschichte,
die uns allen jedoch eine interessante Lehre sein kann.
Und, wer weiß, vielleicht baut ihn eines Tages jemand
aus und wird so zum Beglücker der Menschheit.«
Ziehen, brodeln, brodeln, plumps ...
»Los, erzählen Sie! Wann geschah es?«
Er seufzte.
»Es tut mir beinahe leid, daß ich es erwähnt habe. Aber
wenn Sie darauf bestehen - selbstverständlich muß alles
unter uns bleiben.«
»Natürlich.«
»Also, Rupert Fenton war einer unserer Laborassisten-
ten. Ein sehr kluger junger Mann mit einer sehr guten
praktischen Ausbildung, aber geringen theoretischen
Kenntnissen. In seiner Freizeit erfand er ununterbrochen
kleine praktische Geräte. Für gewöhnlich waren seine
Ideen gut, aber da ihm die wissenschaftliche Grundlage
fehlte, funktionierten die Dinger beinahe nie. Er ließ sich
dadurch keineswegs entmutigen - wahrscheinlich hielt er
sich für den Edison unserer Zeit und bildete sich ein, daß
er mit den Radioröhren und anderen Bestandteilen, die
im Labor herumlagen, ein Vermögen machen könnte. Da
seine Basteleien seine eigentliche Arbeit nicht beeinträch-
tigten, hatte niemand etwas dagegen: die Physik-Assi-
stenten ermutigten ihn sogar, weil Begeisterung immer
aufmunternd wirkt. Aber niemand nahm an, daß er weit
kommen würde, weil er wahrscheinlich nicht einmal e zu
x integrieren konnte.«
»Ist eine solche Unwissenheit überhaupt denkbar?«
fragte jemand fassungslos.
»Vielleicht übertreibe ich. Also sagen wir xe zu x. Je-
denfalls verfügte er ausschließlich über praktische
Kenntnisse - Faustregeln, Sie wissen ja. Man konnte ihm
den kompliziertesten Schaltplan geben, und er baute da-
nach den Apparat. Aber wenn es nicht etwas wirklich

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Einfaches war, zum Beispiel ein Fernsehapparat, hatte er
keine Ahnung, wie er funktionierte. Das Dumme daran
war, daß er seine Grenzen nicht kannte. Und das sollte
sich verhängnisvoll auswirken.
Wahrscheinlich kam er auf die Idee, als er zusah, wie
die Honoursstudenten akustische Experimente unter-
nahmen. Ich nehme an, daß Sie alle mit dem Phänomen
der Interferenz vertraut sind?«
»Natürlich«, antwortete ich.
»He«, mischte sich einer der Schachspieler ein, der es
aufgegeben hatte, sich auf das Spiel zu konzentrieren
(wahrscheinlich war er mit dem nächsten Zug matt). »Ich
bin es nicht.«
Purvis sah ihn an, als hätte er nicht das Recht, in einer
Welt, in der das Penicillin erfunden worden war, am Sau-
erstoff mitzunaschen.
»In diesem Fall«, sagte er kühl, »werde ich einige Erklä-
rungen dazu abgeben.« Er schob unsere empörten Prote-
ste mit einer Handbewegung beiseite. »Nein, ich bestehe
darauf! Gerade die Menschen, die nichts von diesen Din-
gen verstehen, müssen darüber informiert werden.
Wenn jemand dem armen Fenton die Theorie erklärt hät-
te, solange noch Zeit dazu war . . . «
Er sah den jetzt sehr beschämten Schachspieler von
oben herab an.
»Ich weiß nicht«, begann er, »ob Sie sich je mit dem
Wesen des Schalls beschäftigt haben. Im Prinzip handelt
es sich um Wellen, die sich durch die Luft fortpflanzen.
Allerdings sind es nicht die gleichen Wellen wie an der
Oberfläche des Meeres - weiß Gott nicht! Diese Wellen
entstehen durch eine Auf- und Abbewegung. Schallwel-
len hingegen entstehen durch abwechselnde Verdich-
tung und Verdünnung.«
»Ver- was?«
»Verdichtung und Verdünnung.«
»Sollte es nicht >Verdickung< heißen?«
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»Bestimmt nicht. Ich bezweifle, daß es dieses Wört in
der Physik überhaupt gibt, und falls ja, dann gehört es
verboten«, erwiderte Purvis selbstbewußt wie ein Uni-
versitätsprofessor. »Wo war ich stehengeblieben? Ach ja,
ich erklärte gerade den Schall. Wenn wir ein Geräusch
erzeugen, vom leisesten Flüstern bis zu dem Dröhnen,
das wir soeben erlebt haben, pflanzt sich eine Reihe von
Druckveränderungen durch die Luft fort. Haben Sie je-
mals Rangierlokomotiven beobachtet? Ein blendendes
Beispiel für den Vorgang. Vor Ihnen befindet sich eine
lange Reihe von aneinandergekuppelten Güterwaggons.
An einem Ende folgt ein Stoß, die ersten beiden Waggons
nähern sich einander - und dann können Sie zusehen,
wie sich die Druckwelle die ganze Reihe entlang fort-
pflanzt. Hinter ihr entsteht der umgekehrte Effekt - die
Verdünnung - und die Waggons trennen sich wieder von-
einander.
Das alles ist sehr einfach, wenn es nur eine Geräusch-
quelle gibt - nur eine Wellenbewegung. Aber was ge-
schieht, wenn Sie zwei verschiedene Wellen haben, die
sich in die gleiche Richtung bewegen? Dann kommt es
zur Interferenz, und es gibt in der Elementarphysik un-
zählige hübsche Experimente, durch die man sie bewei-
sen kann. Wir müssen uns aber nur mit einer einzigen
Tatsache befassen, und Sie werden mir beipflichten, daß
kein Zweifel daran bestehen kann; wenn man zwei Wel-
len genau außer Tritt bringen könnte, wäre das Ergebnis
gleich Null. Die Verdichtungsphase der einen Welle
würde die Verdünnungsphase der anderen überlagern -
Ergebnis: keine Veränderung und daher kein Geräusch.
Um zu meinem Beispiel mit der Waggonreihe zurückzu-
kommen: es wäre so, als würden Sie dem letzten Waggon
gleichzeitig einen Stoß versetzen und an ihm ziehen. Es
würde überhaupt nichts geschehen.
Zweifellos haben einige von Ihnen inzwischen begrif-
fen, worauf ich hinaus will, und das grundlegende Prin-

17
zip des Fenton-Schalldämpfers erkannt. Meiner Meinung
nach stellte der junge Fenton folgende Überlegung an:
>Diese unsere Welt ist voller Lärm. Jemand, der den voll-
kommenen Schalldämpfer erfinden würde, könnte ein
Vermögen verdienen. Das bedeutet . . . <
Er brauchte nicht lang, um die Antwort darauf zu fin-
den; er war wirklich ein intelligenter junger Mann. Sein
Versuchsmodell war relativ unkompliziert. Es bestand
aus einem Mikrophon, einem Spezialverstärker und zwei
Lautsprechern. Jedes Geräusch, das im Raum entstand,
wurde vom Mikrophon aufgefangen, verstärkt und um-
gedreht, so daß es den Schallwellen des ursprünglichen
Geräuschs gegenüber genau phasenverschoben war.
Dann wurde es in die Lautsprecher geleitet, die ur-
sprüngliche und die neue Welle hoben einander auf, und
das Ergebnis war Stille.
Natürlich war das nicht alles. Es gab eine Einrichtung,
die dafür sorgte, daß die löschende Welle genau die rich-
tige Intensität hatte - sonst wäre der Krach womöglich
größer gewesen als zu Beginn. Aber das sind technische
Details, mit denen ich Sie nicht langweilen will. Wie etli-
che von Ihnen bestimmt erkannt haben, handelt es sich
einfach um ein negatives feedback.«
»Einen Augenblick, bitte!« unterbrach ihn Eric Maine.
Ich muß erwähnen, daß Eric Sachverständiger für Elek-
tronik ist und irgendeine Fernsehzeitung herausgibt. Er
hat auch ein Hörspiel über Raumflüge geschrieben, aber
das ist eine andere Geschichte. »Einen Augenblick, bitte!
Da stimmt etwas nicht. Sie können nicht auf diese Weise
Stille erzeugen. Es wäre unmöglich, die Phase so einzu-
richten . . . «
Purvis schob die Pfeife wieder in den Mund. Einen
Augenblick lang brodelte sie drohend, und mir fiel der
erste Akt von Macbeth ein. Dann starrte er Eric an.
»Wollen Sie damit sagen«, fragte er eisig, »daß diese
Geschichte unwahr ist?«

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»Na ja, ich würde nicht so weit gehen, aber ...«' Erics
Stimme verlor sich, als hätte man ihn gedämpft. Er zog
einen alten Umschlag sowie einige Widerstände und
Kondensatoren, die sich in sein Taschentuch verheddert
hatten, aus der Tasche und begann zu rechnen. Eine Zeit-
lang hörten wir nichts mehr von ihm.
»Wie ich sagte«, fuhr Purvis ruhig fort, »funktionierte
Fentons Schalldämpfer nach diesem Prinzip. Sein erstes
Modell war nicht sehr leistungsstark und konnte mit sehr
hohen oder sehr tiefen Tönen nicht fertigwerden. Das
Ergebnis war etwas merkwürdig. Wenn man ihn ein-
schaltete und jemand sprach, hörte man die beiden En-
den des Spektrums - ein leises Fledermausquietschen
und ein tiefes Poltern. Aber damit kam Fenton bald klar,
indem er eine mehr lineare Schaltung benützte - ver-
dammt, um bestimmte technische Ausdrücke komme ich
eben nicht herum -, und mit dem ausgereiften Modell
konnte er in einem relativ großen Bereich vollkommene
Stille erzeugen. Nicht nur in einem gewöhnlichen Zim-
mer, sondern auch in einer großen Halle. Ja ...
Fenton war nicht einer von diesen verschlossenen Er-
findern, die niemandem erzählen, woran sie gerade ar-
beiten, damit man ihnen ihre Idee nicht stiehlt. Er war
ausgesprochen redselig. Er sprach mit dem Lehrkörper
und den Studenten über seine Ideen, und überhaupt mit
jedem, der bereit war, ihm zuzuhören. Zufällig war einer
der ersten, denen er seinen verbesserten Schalldämpfer
zeigte, ein junger Kunststudent namens Kendall, der als
zweiten Gegenstand Physik belegt hatte. Kendall war
vom Schalldämpfer sehr beeindruckt, und zu Recht. Aber
er dachte nicht, wie Sie vielleicht annehmen, an die
kommerziellen Auswertungsmöglichkeiten oder an die
Wohltat, die er für die gequälten Ohren der leidenden
Menschheit bedeutete. O nein, er hatte ganz andere Vor-
stellungen.
Gestatten Sie mir eine kleine Abschweifung. Im Col-

19
lege gibt es eine sehr rührige musikalische Vereinigung,
die in den letzten Jahren so viele Mitglieder gewonnen
hat, daß sie sich jetzt sogar an die Aufführung nicht allzu
monumentaler Symphonien heranwagt. In dem Jahr, von
dem die Rede ist, hatte sie sich ein sehr kühnes Ziel ge-
setzt. Sie wollte eine neue Oper herausbringen, das Werk
eines begabten jungen Komponisten, dessen Namen ich
nicht nennen will, da er inzwischen uns allen gut bekannt
ist. Bezeichnen wir ihn als Edward England. Den Titel
des Werks habe ich vergessen, aber es handelte sich um
eines jener >totalen< Dramen, die angeblich weniger lä-
cherlich wirken - wieso, habe ich nie begriffen -, wenn
sie von Musik begleitet sind. Zweifellos hängt von Musik
sehr viel ab.
Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich die Inhalts-
angabe las, während ich darauf wartete, daß sich der
Vorhang hob; bis heute weiß ich nicht, ob das Libretto
ernstgemeint war oder nicht. Es spielte gegen Ende der
Viktorianischen Ära, und die Hauptdarsteller waren die
leidenschaftliche Postmeisterin Sarah Stempel, der dü-
stere Wildhüter Walter Rebhuhn und der Sohn des
Landedelmannes, dessen Namen ich vergessen habe. Es
ist die alte Geschichte der ewigen Dreieckbeziehung, die
hier dadurch verkompliziert wird, daß die konservativen
Dorfbewohner gegen jede technische Neuheit sind - in
diesem Fall gegen die Telegrafie, denn die alten Weiber
behaupten,daß durch sie die Kühe keine Milch mehr ge-
ben und die Schafe Fehlgeburten haben werden.
Wenn man alle Kinkerlitzchen beiseite läßt, handelt es
sich um das in Opern übliche Eifersuchtsmotiv. Der Sohn
des Landedelmannes will keine Postmeisterin heiraten,
und der Wildhüter, den die erhaltene Abfuhr in Wut
bringt, brütet Rache. Die Tragödie erreicht ihren schreck-
lichen Höhepunkt, wenn die mit Klebestreifen erwürgte
Sarah in einem Postsack in der Abteilung für Irrläufer ge-
funden wird. Die Dorfbewohner hängen Rebhuhn zum

20
Ärger der Streckenwärter an den nächsten Telgrafen-
mast. Er sollte eine Arie singen, während er gehängt
wurde, und ich bedaure heute noch, daß ich das nicht er-
leben durfte. Der Sohn des Landedelmanns beginnt zu
trinken oder geht in die Kolonien, oder beides: und damit
hat es sich.
Sie fragen sich sicherlich alle, worauf ich hinaus will:
Bitte, haben Sie noch einen Augenblick Geduld. Wäh-
rend nämlich diese synthetische Eifersucht geprobt wur-
de, spielte sich in den Kulissen das echte Drama ab. Fen-
tons Freund Kendall war von der jungen Dame, die Sarah
Stempel spielte, abgewiesen worden. Ich glaube nicht,
daß er besonders rachsüchtig war, aber er kannte die
Möglichkeit für eine einmalige Revanche. Geben wir
doch offen zu, daß das College-Leben zu einer gewissen
Verantwortungslosigkeit verleitet - und wie viele von
uns hätten unter den gleichen Umständen eine solche
Chance nicht genützt?
Ich sehe an Ihren Gesichtern, daß Sie zu verstehen be-
ginnen. Aber als an diesem denkwürdigen Tag die Ou-
vertüre einsetzte, ahnten wir, das Publikum, überhaupt
nichts. Es war eine erlesene Gesellschaft: Alle waren ge-
kommen, vom Schatzmeister abwärts. Es gab reihen-
weise Dekane und Professoren: Ich fand nie heraus, wie
man so viele Leute zusammengetrieben hatte. Wenn ich
es mir recht überlege, weiß ich nicht einmal, was ich dort
suchte.
Die Ouvertüre verklang unter Applaus; allerdings gab
es auch einige Buhrufe von den ungestümeren Zuhörern.
Vielleicht tue ich ihnen Unrecht; möglicherweise waren
sie wirklich musikalisch.
Dann ging der Vorhang auf. Ort der Handlung war der
Dorfplatz von Tatterloch um 1860. Die Heldin tritt auf
und liest die Postkarten in der Morgenpost. Sie findet ei-
nen Brief an den jungen Landedelmann und beginnt
prompt zu singen.

21
Sarahs Auftrittsarie war nicht ganz so arg wie die Ou-
vertüre, aber immer noch schlimm genug. Zum Glück
hörten wir nur die ersten Takte ...
Richtig. Es ist unwichtig, wie Kendall den erfinde-
rischen Fenton dazu überredet hatte - falls der Erfinder
überhaupt begriff, wozu sein Apparat verwendet werden
sollte. Ich kann nur sagen, daß es sich um eine wirklich
überzeugende Demonstration handelte. Plötzliche, voll-
kommene Stille legte sich über den Raum, und Sarah
Stempel agierte wie in einem TV-Programm, wenn man
den Ton abschaltet. Wir blieben alle regungslos sitzen,
während sich die Lippen der Sängerin weiterhin lautlos
bewegten. Dann begriff auch sie, was geschehen war. Sie
riß den Mund auf - unter normalen Umständen hätten
wir jetzt einen gellenden Schrei vernommen - und floh
durch herumflatternde Postkarten in die Kulissen.
Danach setzte ein unwahrscheinliches Chaos ein. Ei-
nige Minuten lang nahm jeder an, daß er taub geworden
sei, aber bald konnten alle dem Verhalten der Nachbarn
entnehmen, daß der Verlust nicht ihn allein betreffen
konnte. Irgendwer aus dem physikalischen Institut muß
sehr rasch begriffen haben, was wirklich gespielt wurde,
denn binnen kurzem schrieben die V.I.P.s. in der ersten
Reihe einander kurze Mitteilungen. Der Vize-Schatzmei-
ster versuchte, die Ordnung mittels Zeichensprache wie-
derherzustellen, indem er krampfhaft von der Bühne aus
winkte. Doch da lachte ich schon Tränen und konnte
nicht mehr auf Details achten.
Die einzige Lösung war, die Halle zu verlassen, was
wir alle möglichst schnell taten. Kendall war geflohen - er
war von der Wirkung der Erfindung so beeindruckt, daß er
sogar vergaß, sie abzuschalten. Er wollte nicht bleiben,
weil er Angst davor hatte, gelyncht zu werden. Was je-
doch Fenton betrifft, so werden wir leider nie erfahren,
wie es ihm erging. Wir können die nächsten Ereignisse nur
nach den noch vorhandenen Beweisen rekonstruieren.

22
Ich nehme an, daß er gewartet hat, bis die Halle leer
war, und dann hineingeschlichen ist, um den Apparat
abzuschalten. Die Explosion war im ganzen College zu
hören.«
»Die Explosion?« fragte jemand entsetzt.
»Natürlich. Mich schaudert jetzt noch, wenn ich daran
denke, wie knapp wir alle davongekommen sind. Noch
ein Dutzend Dezibel, noch ein paar Phon - und sie hätte
sich ereignet, während das Theater noch gedrängt voll
war. Wenn Sie wollen, können Sie es dem unerforschli-
chen Wirken der Vorsehung zuschreiben, daß die Explo-
sion nur den Erfinder tötete. Vielleicht war es ohnehin
das Beste für ihn: Er starb in dem Augenblick, in dem er
sein Ziel erreicht hatte, und bevor der Dekan ihn in die
Finger bekam.«
»Hören Sie mit den Moralpredigten auf, Mann! Was
geschah?«
»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, waren Fentons
theoretische Kenntnisse eher dürftig. Wenn er den
Schalldämpfer mathematisch berechnet hätte, wäre er auf
seinen Fehler gekommen. Die Schwierigkeit besteht
nämlich darin, daß man Energie nicht vemichten kann.
Nicht einmal dann, wenn die Wellenbewegungen einan-
der aufheben. Es führt nur dazu, daß die Energie, die Sie
neutralisieren, sich anderswo ansammelt. Ungefähr so,
als würden Sie den gesamten Schmutz in einem Raum zu
einem häßlichen Häufchen unter einen Teppich zusam-
menfegen.
Wenn Sie den Apparat theoretisch analysieren, werden
Sie feststellen, daß er weniger ein Schalldämpfer als ein
Schallsammler war. Solange er eingeschaltet war, absor-
bierte er eigentlich Schallenergie. Und bei dieser Auffüh-
rung wurde er sicherlich voll beansprucht. Falls Sie sich
jemals eine Partitur von Edward England angesehen ha-
ben, wissen Sie, was ich meine. Dazu kam natürlich noch
der Lärm, den die Zuschauer während der Panik mach-

23
ten - oder eigentlich zu machen versuchten. Die Ge-
samtmenge an Energie muß ungeheuer gewesen sein,
und der arme Schalldämpfer saugte sie widerspruchslos
auf. Wohin verschwand sie? Ich kenne den Schaltplan
nicht genau, aber ich nehme an, in die Kondensatoren
des Netzteils. Als Fenton daran herummanipulierte, glich
der Schalldämpfer bereits einer scharfgemachten Bombe.
Das Geräusch seiner näherkommenden Schritte war das
auslösende Element, und der Apparat war überfordert.
Er flog in die Luft.«
Einen Augenblick lang sprach niemand ein Wort, viel-
leicht aus Achtung für den verstorbenen Mr. Fenton.
Dann drängte sich Eric Maine, der in den letzten zehn
Minuten in einer Ecke über seinen Berechnungen gebrü-
tet hatte, durch den Ring der Zuhörer. Er hielt Purvis
kampflustig ein Platt Papier entgegen.
»He!« sagte er. »Und ich hatte doch recht! Das Ding
konnte nicht funktionieren! Die Relation zwischen Pha-
sen und Amplitude ...«
Purvis brachte ihn mit einer Handbewegung zum
Schweigen.
»Genau das habe ich soeben erklärt«, erwiderte er ge-
duldig. »Sie hätten mir zuhören sollen. Leider wurde
auch Fenton erst durch die Erfahrung klug- sozusagen.«
Er warf einen Blick auf seine Uhr. Aus irgendeinem
Grund schien er es jetzt eilig zu haben.
»Du meine Güte! Die Zeit verrinnt. Erinnern Sie mich
nächstens einmal daran, Ihnen zu erzählen, was für au-
ßergewöhnliche Dinge wir mit dem neuen Protonenmi-
kroskop entdeckt haben. Diese Geschichte ist noch er-
staunlicher.«
Er war schon beinahe zur Tür hinaus, bevor jemand
eine Frage stellen konnte. Dann fand George Whitley die
Sprache wieder.
»Hören Sie mal«, rief er verwirrt. »Wieso haben wir nie
etwas davon erfahren?«

24
Purvis hielt auf der Schwelle kurz an; seine Pfeife bro-
delte jetzt heftig. Er drehte sich halb um.
»Es gab keine andere Möglichkeit«, antwortete er. »Wir
wollten einen Skandal vermeiden - de mortuis nil nisi bo-
num, Sie wissen ja. Und finden Sie nicht auch, daß es un-
ter diesen Umständen richtig war, die ganze Sache zu
vertuschen? Eine recht gute Nacht Ihnen allen!«

25
Großwildjagd

O b w o h l wir uns alle darüber einig waren, daß Harry


Purvis als Geschichtenerzähler unter den Gästen des
>Weißen Hirschen< einsame Spitze war (wenn auch ei-
nige vermutlich leicht übertrieben waren), heißt das
nicht, daß es keine Herausforderer gab. Gelegentlich
wurde er sogar in den Schatten gestellt. Da es immer sehr
unterhaltsam ist zuzusehen, wie ein Experte eine Nieder-
lage einsteckt, gestehe ich, daß ich mich gern daran erin-
nere, wie Professor Hinckelberg Harry auf dessen urei-
genstem Gebiet schlug.
Im Lauf des Jahres kommen viele hier auf Besuch wei-
lende Amerikaner in den >Weißen Hirsch<. Wie die
Stammgäste sind sie für gewöhnlich Wissenschaftler
oder Literaten, und in dem Gästebuch, das Drew hinter
der Theke aufbewahrt, stehen etliche berühmte Namen.
Manchmal treffen die Neuankömmlinge allein ein und stel-
len sich verlegen vor, sobald sie die Möglichkeit dazu ha-
ben. (Einmal saß ein schüchterner Nobelpreisträger un-
erkannt eine Stunde lang in einer Ecke, bis er endlich den
Mut aufbrachte, seinen Namen zu nennen.) Andere tref-
fen mit Empfehlungsschreiben ein, und viele werden von
Stammgästen angeschleppt und dann den Wölfen zum
Fraß vorgeworfen.
Professor Hinckelberg fuhr eines Abends in einem gro-
ßen Cadillac vor, den er sich vom Wagenpark in der
Grosvenor Street ausgeliehen hatte. Der Himmel allein
weiß, wie er ihn heil durch die zum >Weißen Hirschen<
führenden Seitenstraßen gelotst hatte, aber erstaunli-
cherweise waren die Stoßstangen intakt. Er war ein gro-
ßer, hagerer Mann mit knochigem Gesicht, der typische

26
wettergegerbte Pionier des Wilden Westens, dessen her-
vorstechendstes Merkmal die ungemein langsame
Sprechweise ist. Letzteres Merkmal traf jedoch nicht auf
Professor Hinckelberg zu. Er konnte reden wie eine LP
auf einem Achtundsiebziger-Plattenteller. Nach etwa
zehn Sekunden wußten wir, daß er ein auf Urlaub be-
findlicher Zoologe von einem College in Nord-Virginia
war, daß er dem Amt für Meeresforschung zugeteilt war,
und zwar im Rahmen eines Projekts, das sich mit Plank-
ton beschäftigte, daß er von London begeistert war und
sogar englisches Bier mochte, daß er durch einen Leser-
brief in Science von unserer Existenz erfahren, aber nicht
geglaubt hatte, daß es uns wirklich gab, daß Stevenson
o.k. war, daß die Demokraten aber lieber Winston (Chur-
chill) importieren sollten, wenn sie die Absicht hätten, die
nächsten Wahlen zu gewinnen, daß er gerne wüßte, was,
zum Teufel, mit unseren Telefonzellen los war und ob er
den Haufen Kupfermünzen zurückbekomme'n konnte,
um den sie ihn bereits gebracht hatten, daß seiner Mei-
nung nach zu viele leere Gläser herumstanden ... »- und
wie wäre es, wenn wir sie alle nachfüllen, Jungs?«
Die Schocktaktik des Professors fand allgemeine Zu-
stimmung, aber als er kurz Luft holte, sagte ich mir:
»Harry sollte sich in acht nehmen. Dieser Kerl kann ei-
nem ein Loch in den Bauch reden.« Ich warf Purvis, der
in meiner Nähe saß, einen Blick zu und bemerkte, daß er
die Lippen zusammengepreßt hatte. Daraufhin lehnte ich
mich behaglich zurück und harrte der Dinge, die da
kommen sollten.
Da es ein gut besuchter Abend war, dauerte es eine
Weile, bevor Professor Hinckelberg jedem vorgestellt
war. Harry, der für gewöhnlich scharf darauf war, Be-
rühmtheiten kennenzulernen, hielt sich eher beiseite.
Schließlich stellte ihn jedoch Arthur Vincent, der als inof-
fizieller Club-Sekretär fungiert und darauf achtet, daß
sich auch jeder ins Gästebuch einträgt.

27
»Ich bin davon überzeugt, daß Sie und Harry viel mit-
einander zu besprechen haben«, sagte Arthur voll un-
schuldiger Begeisterung. »Sie sind doch beide Wissen-
schaftler, nicht wahr? Und Harry hat einige ganz außer-
gewöhnliche Erlebnisse gehabt. Erzähl doch dem Profes-
sor, wie du damals diesen U 235 in deinem Briefkasten
gefunden hast . . . «
»Ich glaube nicht«, wehrte Harry etwas zu hastig ab,
»daß Professor ... ah ... Hinckelberg an meinem kleinen
Abenteuer interessiert ist. Er hingegen kann uns sicher-
lich eine Menge erzählen.«
Ich habe seither oft über diese Antwort nachgedacht.
Sie paßte gar nicht zu Purvis. Für gewöhnlich reagierte er
auf eine solche Eröffnung augenblicklich mit einem Ge-
genangriff. Vielleicht wollte er den Feind beobachten,
darauf warten, daß der Professor den ersten Fehler be-
ging, und ihm dann den Gnadenstoß versetzen. Wenn
das zutraf, dann hatte er den anderen falsch eingeschätzt.
Purvis bekam nie mehr eine Chance, denn Professor
Hinckelberg startete wie ein Düsenjet und war sofort voll
in Fahrt.
»Komisch, daß Sie das erwähnen«, meinte er. »Ich
habe gerade einen sehr merkwürdigen Fall erlebt. Es
handelt sich um ein Ereignis, das man in einer Fachzeit-
schrift besprechen kann, und Sie geben mir Gelegenheit,
es mir von der Seele zu reden. Ich habe nicht oft die Mög-
lichkeit dazu, wegen dieser verdammten Geheimhal-
tungspflicht, aber bis jetzt hat noch niemand daran ge-
dacht, Dr. Grinnells Experimente als streng geheim zu
bezeichnen, deshalb werde ich darüber sprechen, solange
es möglich ist.«
Anscheinend war Grinnell einer der vielen Wissen-
schaftler, die versuchen, die Arbeitsweise des menschli-
chen Nervensystems mit elektrischen Schaltungen dar-
zustellen. Wie Grey Walter, Shannon und andere hatte er
zunächst Modelle entworfen, die einfache Handlungen

28
von Lebewesen nachahmen konnten. Sein größter Erfolg
auf diesem Gebiet war eine mechanische Katze gewesen,
die Mäuse jagen und auf den Füßen landen konnte, wenn
man sie fallen ließ. Er hatte sich jedoch sehr bald einem
anderen Aufgabengebiet zugewandt, weil er die >Nerven-
induktion<, wie er sie nannte, entdeckte. Dabei handelte
es sich, um es simplifiziert auszudrücken, um eine Me-
thode, durch die man das Verhalten der Tiere steuert.
Es ist seit langem bekannt, daß alle Vorgänge im Ge-
hirn von schwachen elektrischen Strömen begleitet sind,
und seit einiger Zeit kann man diese komplizierten
Stromschwankungen auch aufzeichnen, obwohl man
sich über ihre genaue Funktion noch nicht im klaren ist.
Grinnell hatte nicht versucht, umständliche Analysen
durchzuführen; seine Vorgangsweise war weitaus einfa-
cher, obwohl seine Leistung immer noch überaus kom-
pliziert ist. Er hatte sein Aufzeichnungsgerät an ver-
schiedenen Tieren befestigt und dadurch eine kleine Bi-
bliothek, wenn man es so nennen will, von elektrischen
Impulsen und dem dazugehörigen Verhalten angelegt.
Ein bestimmtes Spannungsmuster entsprach einer Be-
wegung nach rechts, ein anderes einer kreisförmigen
Bewegung, ein drittes vollkommener Ruhe, und so wei-
ter. Diese Leistung war an und für sich beachtlich, aber
Grinnell hatte sich nicht damit zufriedengegeben. Durch
ein Playback der von ihm aufgezeichneten Impulse
konnte er seine Versuchstiere dazu zwingen, die vorher
ausgeführten Bewegungen zu wiederholen - ob sie woll-
ten oder nicht.
Daß so etwas theoretisch möglich ist, wird jeder Neu-
rologe ohne weiteres zugeben, aber infolge der ungeheu-
ren Kompliziertheit des Nervensystems würden nur we-
nige Experten annehmen, daß es in die Praxis umgesetzt
werden kann. Und es stimmt, daß Grinnell seine ersten
Experimente mit sehr niedrigen Lebensformen durch-
führte und relativ einfache Reaktionen erzielte.

29
»Ich konnte nur einem seiner Experimente beiwohnen«,
erzählte Hinckelberg. »Eine große Schnecke kroch über
eine horizontale Glasplatte, und von ihr führte ein halbes
Dutzend feiner Drähte zu einem Schaltpult, an dem
Grinnell saß. Er hatte zwei Schalter - nicht mehr - und
durch entsprechende Einstellungen konnte er die
Schnecke in jede gewünschte Richtung steuern. Für ei-
nen Laien war es vielleicht ein unattraktives Experiment,
aber mir war klar, daß sich daraus unglaubliche Folgen
ergaben. Ich weiß noch, wie ich Grinnell erklärte, ich hof-
fe, daß sein Gerät nie auf Menschen angewendet würde.
Ich hatte gerade >1984< von Orwell gelesen und konn-
te mir deshalb sehr gut vorstellen, welche Möglichkeiten
ein solcher Apparat dem Großen Bruder eröffnen wür-
de.
Da ich viel zu tun hatte, vergaß ich die Geschichte bei-
nahe ein Jahr lang vollkommen. Inzwischen hatte Grin-
nell seine Vorrichtung anscheinend wesentlich verbessert
und war zu Experimenten mit komplizierteren Organis-
men übergegangen, obwohl er sich aus technischen
Gründen auf Wirbellose beschränkte. Er verfügte jetzt
über ein ansehnliches Arsenal an >Befehlen<, die er seinen
Versuchstieren durch Playback erteilen konnte. Vielleicht
überrascht es Sie, daß so verschiedene Geschöpfe wie
Würmer, Schnecken, Insekten, Krustentiere und so wei-
ter auf die gleichen elektrischen Befehle ansprachen; aber
es war offensichtlich der Fall.
Wenn Dr. Jackson nicht gewesen wäre, wäre Grinnell
wahrscheinlich sein Leben lang im Labor gehockt und
hätte sich im Tierreich langsam hinaufgearbeitet. Jackson
war ein bemerkenswerter Mensch - Sie haben bestimmt
einige seiner Filme gesehen. Viele Gelehrte hielten ihn
einfach für sensationslüstern und für keinen seriösen
Wissenschaftler, und die akademischen Kreise mißtrau-
ten ihm, weil er viel zu viele verschiedene Interessen ver-
folgte. Er hatte Expeditionen in die Wüste Gobi und in

30
das Amazonasgebiet geleitet und sich sogar in die Ant-
arktis gewagt. Von jeder dieser Reisen war er mit einem
Bestseller und ein paar Kilometern Filmmaterial zurück-
gekehrt. Dennoch glaube ich, trotz aller gegenteiligen
Behauptungen, daß er auch wertvolle wissenschaftliche
Ergebnisse mitgebracht hat, selbst wenn er sie nur zufäl-
lig entdeckt hatte.
Ich weiß nicht, wie Jackson von Grinnells Arbeiten er-
fuhr, oder wie er ihn zur Zusammenarbeit überredete. Er
konnte sehr überzeugend wirken und machte Grinnell
wahrscheinlich weis, daß er ihm große Geldmittel ver-
schaffen konnte - er verstand sich tatsächlich sehr gut
darauf, Aufsichtsratsmitglieder anzupumpen. Jedenfalls
hüllte sich Grinnell von diesem Augenblick an in ge-
heimnisvolles Schweigen. Wir wußten nur, daß er eine
viel größere Version seines Apparates baute, die die aller-
letzten Verbesserungen enthielt. Wenn wir ihn direkt
fragten, zuckte er nervös die Achseln und antwortete
nur: >Wir gehen auf Großwildjagd.<
Die Vorbereitungen dauerten ein weiteres Jahr, und ich
nehme an, daß Jackson - der es immer eilig hatte - am
Ende schon sehr ungeduldig war. Aber schließlich war
alles bereit. Grinnell verschwand mit seinen geheimnis-
vollen Kisten in Richtung Afrika.
Das war Jacksons Werk. Wahrscheinlich wollte er
nicht, daß die öffentlichkeit zu früh informiert wurde,
was durchaus verständlich ist, wenn man bedenkt, was
für ein eher phantastisches Ziel sich die Expedition ge-
setzt hatte. Die Hinweise, die wir erhalten hatten - wir
erkannten erst später, daß sie uns auf eine falsche Spur
führen sollten -, besagten, daß er die Absicht hatte, mit
Hilfe von Grinnells Apparat außergewöhnliche Fotos von
Tieren auf freier Wildbahn zu schießen. Mir leuchtete das
Ganze nicht recht ein, es sei denn, daß es Grinnell gelun-
gen wäre, seine Vorrichtung mit einem Sender zu kop-
peln. Es war kaum anzunehmen, daß er seine Drähte und

31
Elektroden an einem angreifenden Elefanten befestigen
konnte ...
Natürlich war das auch ihnen klar gewesen und natür-
lich kommt uns heute die Lösung selbstverständlich vor.
Meereswasser ist ein guter elektrischer Leiter. Sie waren
gar nicht nach Afrika unterwegs, sondern auf dem offe-
nen Atlantik. Aber sie hatten uns nicht angelogen, sie be-
fanden sich tatsächlich auf Großwildjagd. Auf der Jagd
nach dem größten Wild, das es gibt.
Wir hätten nie erfahren, was sich da draußen ereignet
hat, wenn ihr Funker sich nicht mit einem Amateurfun-
ker in den Vereinigten Staaten, mit dem er befreundet
war, unterhalten hätte. Aus seinen Kommentaren kann
man den Ablauf der Ereignisse rekonstruieren. Jacksons
Schiff - eine kleine Jacht, die er billig gekauft und für die
Expedition umgebaut hatte - lag auf Höhe des Äquators
in einiger Entfernung von der Westküste Afrikas ober-
halb der tiefsten Stelle des Atlantik. Grinnell angelte: Er
hatte seine Elektroden in den Abgrund hinuntergesenkt,
und Jackson wartete ungeduldig mit der Kamera.
Sie warteten eine Woche, bis ihnen ein Fang glückte.
Vermutlich waren sie schon einigermaßen nervös. Dann
begannen am Nachmittag eines völlig windstillen Tages
Grinnells Anzeigegeräte anzusprechen. Etwas war in den
Einflußbereich der Elektroden geraten.
Langsam hievten sie das Kabel hoch. Bis dahin hatte
die Mannschaft sie bestimmt für verrückt gehalten, aber
als der Fang über tausende Meter zur Oberfläche empor-
stieg, waren alle gleichermaßen aufgeregt. Wer kann es
dem Funker verdenken, daß er trotz Jacksons Befehl das
Bedürfnis hatte, mit einem Freund, der sich auf dem Fest-
land in Sicherheit befand, über das Geschehene zu spre-
chen?
Ich versuche nicht zu beschreiben, was sie sahen, denn
ein Meister hat es vor mir getan. Kurz nachdem der Be-
richt eingetroffen war, nahm ich mein Exemplar von

32
Moby Dick aus dem Regal und las den betreffenden'Ab-
satz nach; ich kann ihn immer noch aus dem Gedächtnis
/itieren und werde ihn wahrscheinlich nie vergessen. Er
lautet ungefähr so:
>Eine ungeheure, schwammige Masse, eine Achtel-
meile in der Länge und Breite, von leuchtend milchwei-
ßer Farbe, lag schwimmend auf dem Wasser. Zahllose
lange Arme liefen von ihrem Mittelpunkt strahlenförmig
nach allen Seiten auseinander, sich ringelnd und schlän-
gelnd wie ein Nest von Anakondas, als suchten sie völlig
blind etwas zu greifen, was zufällig in ihre Reichweite
kam.<
Ja, Grinnell und Jackson waren auf der Jagd nach dem
größten, geheimnisvollsten Geschöpf gewesen - dem
Riesenkraken. Größten? Beinahe sicher: Bathyteuthis
kann bis zu fünfunddreißig Meter lang werden. Er ist
nicht so schwer wie die Pottwale, die ihn fressen, aber er
steht ihnen in bezug auf Länge nicht nach.
Da hatten sie also ihr ungeheuerliches Tier, das bis jetzt
noch kein menschliches Wesen unter so idealen Bedin-
gungen erblickt hatte. Anscheinend ließ Grinnell es in al-
ler Ruhe alle möglichen Manöver ausführen, während
Jackson begeistert Kilometer an Filmmaterial belichtete.
Obwohl es doppelt so groß war wie ihr Schiff, befanden
sie sich nicht in Gefahr. Für Grinnell war es einfach ein
Weichtier, das er mit Hilfe seiner Schalter und Skalen wie
einen Roboter steuerte. Wenn er mit seinen Experimen-
ten fertig war, wollte er es in seinen normalen Lebensbe-
reich zurückschicken, wo es davonschwimmen konnte,
obwohl es wahrscheinlich einen leichten Kater haben
würde.
Was würde ich dafür geben, diesen Film zu besitzen!
Ganz abgesehen von seinem wissenschaftlichen Wert
würde er in Hollywood ein Vermögen einbringen. Sie
müssen zugeben, daß Jackson genau wußte, was er tat: Er
hatte begriffen, wo die Grenzen von Grinnells Erfindung

33
lagen und hatte sie so gut wie möglich genutzt. An dem,
was dann geschah, trifft ihn keine Schuld.«
Professor Hinckelberg seufzte und nahm einen kräfti-
gen Schluck von seinem Bier, als wolle er sich für das
Ende seiner Erzählung stärken.
»Nein, wenn man jemandem die Schuld anlasten kann,
so ist es Grinnell. Eigentlich sollte ich sagen, so war es
Grinnell, der arme Teufel. Vielleicht war er so aufgeregt,
daß er eine Vorsichtsmaßnahme außer acht ließ, die er im
Labor zweifellos ergriffen hätte. Wie kann man sonst er-
klären, daß er keine Reservesicherung zur Hand hatte, als
im Stromaggregat eine durchbrannte?
Natürlich kann man auch dem Bathyteuthis keinen
Vorwurf machen. Wären Sie nicht auch verärgert, wenn
man Sie so herumgeschubst hätte? Und als die Befehle
plötzlich aufhörten und er wieder Herr seiner selbst war,
sorgte er natürlich dafür, daß er es auch blieb. Ich frage
mich manchmal, ob Jackson bis zum Schluß gefilmt
hat ...«

34
Patent angemeldet

E s gibt kein Thema, über das in der Bar des >Weißen


Hirschen< nicht irgendwann diskutiert worden ist - und
es spielt überhaupt keine Rolle, ob Damen anwesend
sind oder nicht. Schließlich kommen sie auf eigene Ge-
fahr hin. Dabei fällt mir ein, daß drei von ihnen dort
Ehemänner gefunden haben. Vielleicht sind die Gefähr-
deten also gar nicht sie ...
Das erwähne ich nur, damit Sie nicht annehmen, daß
alle unsere Gespräche hochgelehrt und streng wissen-
schaftlich sind und wir uns nur mit geistigen Aktivitäten
befassen. Obwohl Schach bevorzugt wird, werfen viele
Stammgäste auch Wurfpfeile und spielen Domino. Einige
Gäste bringen zwar das Times Literary Supplement, die Sa-
turday Review, den New Statesman und das Atlantic
Monthly mit, aber die gleichen Leute sind ohne weiteres
imstande, mit der letzten Ausgabe der Verblüffenden pseu-
dowissenschaftlichen Geschichten nach Hause zu gehen.
In den dunkleren Ecken des Pub werden auch Geschäfte
abgewickelt. Alte Bücher und Magazine wechseln oft zu
astronomischen Preisen den Besitzer, und beinahe an je-
dem Mittwoch lehnen mindestens drei bekannte Bör-
senmakler an der Bar, rauchen dicke Zigarren und tau-
schen mit Drew Geschichten aus. Von Zeit zu Zeit zeigt
schallendes Gelächter die Pointe einer Anekdote an und
führt zu eifrigen Fragen anderer Kunden, die befürchten,
etwas versäumt zu haben. Leider verbietet mir mein
Feingefühl, diese interessanten Geschichten hier wieder-
zugeben. Im Gegensatz zu beinahe allem, was es auf die-
ser Insel gibt, eignen sie sich nicht für die Ausfuhr.
Zum Glück gilt diese Einschränkung nicht für die Er-

35
zählungen von Harry Purvis, Bakkaleaurus der Natur-
wissenschaften (mindestens), Doktor der Philosophie
(wahrscheinlich). Keine von ihnen würde die züchtigste
Jungfrau erröten lassen, falls es so etwas heutzutage
überhaupt noch gibt.
Ich muß um Verzeihung bitten, denn diese Feststellung
ist zu ungenau. Es gibt eine Geschichte, die in manchen
Kreisen vielleicht als etwas gewagt empfunden wird. Ich
zögere nicht, sie zu wiederholen, denn ich bin überzeugt,
geschätzter Leser, daß Sie tolerant genug sind, nicht em-
pört zu sein.
Es begann so: Ein berühmter Kritiker von der Fleet
Street war von einem redegewandten Verleger in eine
Ecke gedrängt worden. Der Verleger war im Begriff, ein
Buch herauszubringen, auf das er große Hoffnungen
setzte. Es handelte sich um eine der reiferen literarischen
Produktionen aus dem tiefen, dekadenten Süden, ein
ausgezeichnetes Beispiel für die Richtung: »Und dann
schwankte das Haus wieder, als die Termiten den Süd-
flügel endgültig unterminiert hatten.« Irland hatte es be-
reits auf den Index gesetzt, aber das ist eine Ehre, der
heutzutage nur wenige Bücher entgehen und kann daher
kaum als Auszeichnung gewertet werden. Wenn man je-
doch eine führende englische Zeitung dazu bringen
konnte, entschieden für ein Verbot des Buches einzutre-
ten, würde es über Nacht zum Bestseller werden.
Soweit die Überlegungen des Verlegers, der seine
ganze Trickkiste auspackte, um den Kritiker zur Koopera-
tion zu überreden. Um etwaige Skrupel des kritisieren-
den Freundes auszuräumen, bemerkte er gerade: »Natür-
lich nicht. Wenn sie es verstehen, können sie ohnehin
nicht mehr korrumpiert werden.« Und dann sagte Harry
Purvis, der über die unheimliche Fähigkeit verfügt, einem
halben Dutzend Gesprächen gleichzeitig zuzuhören, so
daß er sich zur richtigen Zeit in die richtige Unterhaltung
einschalten kann, mit seiner besonders durchdringenden

36
und nicht zu übertönenden Stimme: »Zensur führt zu
sehr schwierigen Problemen, nicht wahr? Ich habe immer
behauptet, daß der Zivilisationsgrad eines Landes in um-
gekehrtem Verhältnis zu dem Druck steht, der auf seine
Presse ausgeübt wird.«
Eine Stimme mit amerikanischem Akzent warf aus
dem Hintergrund ein: »Dann ist also Paris eine zivilisier-
tere Stadt als Boston.«
»Genau«, erwiderte Purvis. Dann wartete er auf eine
Antwort.
»O.K.«, stimmte die Stimme Amerikas sanft zu. »Ich
will nicht streiten, ich wollte mich nur vergewissern.«
»Fahren wir also fort!« sagte Purvis und befolgte sofort
seinen eigenen Befehl. »Es handelt sich um einen Fall,
mit dem sich die Zensur zwar noch nicht befaßt hat, es
aber sicherlich bald tun wird. Es begann in Frankreich
und hat sich bis jetzt auf dieses Land beschränkt. Wenn
es einmal öffentlich bekannt wird, wird es vielleicht grö-
ßere Auswirkungen auf unsere Zivilisation haben als eine
Atombombe.
Wie die Atombombe ist es die Folge wissenschaftlicher
Forschungen. Man darf die Wissenschaft nie unterschät-
zen, meine Herren! Meiner Meinung nach führt jede For-
schung, sei sie noch so theoretisch oder so weltfremd, ei-
nes Tages zu einem Ergebnis, das die Welt erschüttert.
Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß die Geschichte, die
ich Ihnen erzählen werde, ausnahmsweise aus zweiter
Hand stammt! Ich habe sie vergangenes Jahr von einem
Kollegen an der Sorbonne gehört, als ich dort an einem
wissenschaftlichen Kongreß teilnahm. Deshalb sind alle
Namen frei erfunden; er nannte sie mir damals, aber ich
kann mich nicht mehr genau an sie erinnern.
Professor Julian war Professor für Experimentalphysio-
logie an einer kleinen, aber nicht schlecht dotierten fran-
zösischen Universität. Vielleicht erinnern sich einige von
Ihnen an die ziemlich unwahrscheinliche Geschichte, die

37
uns dieser Herr Hinckelberg vergangene Woche erzählt
hat - über seinen Kollegen, der das Verhalten der Tiere
steuern konnte, indem er ihnen die richtigen elektrischen
Ströme ins Gehirn sandte. Also, wenn auch nur ein
Fünkchen Wahrheit in dieser Geschichte steckt - was ich
bezweifle -, wurde das ganze Projekt wahrscheinlich
durch Julians Artikel in Compte Rendus ausgelöst.
Seine beachtlichsten wissenschaftlichen Erkenntnisse
veröffentlichte Professor Julian jedoch nie. Wenn man
über etwas wirklich Außergewöhnliches stolpert, läßt
man es nicht sofort drucken. Man wartet, bis man über-
wältigendes Beweismaterial gesammelt hat - außer man
befürchtet, daß jemand auf dem gleichen Gebiet arbeitet.
Dann gibt man einen zweideutigen Bericht heraus, durch
den man später seine Priorität untermauern kann, ohne
jedoch vorläufig zu viel zu verraten - wie das berühmte
Kryptogramm Huygens', als er die Saturnringe entdeck-
te.
Sie fragen sich bestimmt, worum es sich bei Julians
Entdeckung handelte, und ich will Sie nicht auf die Folter
spannen. Es war einfach die Weiterentwicklung einer
Kunst, die vor hundert Jahren einsetzte. Zuerst ermög-
lichte uns die Kamera, einzelne Szenen festzuhalten.
Dann erfand Edison den Phonographen, und wir be-
herrschten den Ton. Heute besitzen wir im Tonfilm eine
Art von mechanischem Gedächtnis, das für unsere Vor-
fahren unvorstellbar war. Aber dabei kann es nicht blei-
ben. Die Wissenschaft muß einmal fähig sein, Gedanken
und Gefühle aufzuzeichnen und zu speichern, und sie
dann in den Geist zurückzuspielen, so daß sie jede Erfah-
rung, wann und so oft sie will, bis ins letzte Detail wie-
derholen kann.«
»Das ist ein alter Hut!« schnaubte jemand. »Denken Sie
nur an die >feelies< in Tapfere neue Welt!«
»Alle guten Ideen wurden schon von jemandem ge-
dacht, bevor sie verwirklicht wurden«, wies ihn Purvis

38
streng zurecht. »Aber wovon Huxley und die anderen
nur gesprochen haben, das hat Julian verwirklicht.
Natürlich erfolgt es auf elektronischem Weg. Sie wis-
sen alle, daß ein Enzephalograph die schwachen elektri-
schen Impulse im Gehirn aufzeichnen kann - die soge-
nannten Gehirnströme, wie sie die Zeitungen nennen.
Bei Julians Erfindung handelte es sich um eine verfeinerte
Ausführung dieses bekannten Apparats. Und sobald er
die Gehirnimpulse aufgezeichnet hatte, konnte er sie zu-
rückspielen. Klingt einfach, nicht? Das war der Phono-
graph auch, und doch mußte erst das Genie Edison
kommen, um ihn zu erfinden.
Und jetzt kommt der Bösewicht ins Spiel. Na ja, das ist
vielleicht ein zu starker Ausdruck, denn Professor Julians
Assistent Georges - Georges Dupin - ist in Wirklichkeit
ein sehr sympathischer Mensch. Da er jedoch ein wesent-
lich praktischer denkender Franzose als der Professor ist,
erkannte er sofort, daß dieses Laborspielzeug etliche Mil-
liarden Francs einbringen konnte.
Zunächst mußte er über das Laborstadium hinaus-
kommen. Die Franzosen verstehen zweifellos etwas von
eleganter Formgebung, und nach einigen Wochen Arbeit
- unter voller Kooperation des Professors - hatte Georges
es geschafft, den Rückspielteil des Apparates in einem
Gehäuse unterzubringen, das nicht größer war als ein
Fernsehapparat und auch kaum mehr elektronische Be-
standteile enthielt.
Dann war Georges zum ersten Experiment bereit. Es
würde zwar sehr viel kosten, aber, wie jemand sehr rich-
tig bemerkte, man kann kein Omelette machen, ohne Eier
zu zerschlagen. Ich halte dies für einen ausgezeichneten
Vergleich.
Denn Georges suchte den berühmtesten Gourmet
Frankreichs auf und machte ihm einen interessanten
Vorschlag, den der große Mann nicht ablehnen konnte,
weil er einen einmaligen Tribut an seine Spitzenstellung

39
darstellte. Georges erklärte geduldig, daß er einen Appa-
rat erfunden habe, mit dem er Gefühle registrieren
konnte (vom Speichern sprach er nicht). Würde ihm
Monsieur le Baron im Dienste der Wissenschaft und zur
Ehre der französischen Küche gestatten, die Gefühle, die
feinen Nuancen der Geschmacksempfindungen aufzu-
zeichnen, die sich in seinem Nervensystem abspielten,
wenn er seine unvergleichlichen Talente einsetzte? Mon-
sieur konnte selbst das Restaurant, den chef de cuisine und
die Speisenfolge bestimmen - alles würde seinen Wün-
schen gemäß geregelt werden. Natürlich, falls er keine
Zeit hätte, dann müßte man sich eben an den bekannten
Epikuräer Graf ...
Der Baron, der in mancher Beziehung ein überra-
schend grober Mann war, gebrauchte ein Wort, das man
in den meisten französischen Lexika nicht findet. >Dieser
cretin!< explodierte er. >Wenn Sie ihm englische Küche
vorsetzen, ist er schon glücklich. Nein, ich tue es.< Er
machte sich sofort daran, das Menü zusammenzustellen,
während Georges besorgt die Kosten der einzelnen
Gänge schätzte und sich fragte, ob sein Bankkonto dieser
Belastung gewachsen war.
Ich würde gerne wissen, was der chef de cuisine und die
Kellner von der ganzen Geschichte hielten. Der Baron
saß an seinem Lieblingstisch, aß seine Lieblingsspeisen
und ließ sich nicht im geringsten durch die Drähte stören,
die von seinem Kopf zu der Höllenmaschine in der Ecke
führten. Außer dem Baron waren keine weiteren Gäste
anwesend, denn Georges wollte um jeden Preis vorzei-
tige Publicity vermeiden. Diese Maßnahme hatte die be-
reits erheblichen Kosten des Experiments noch beträcht-
lich erhöht. Georges konnte nur hoffen, daß das Resultat
den Einsatz wert war.
Seine Hoffnung erfüllte sich. Wir könnten es allerdings
nur beweisen, indem wir Georges >Aufzeichnung< ab-
spielen. Daher müssen wir ihm aufs Wort glauben, wenn

40
auch allgemein bekannt ist, daß Worte in solchen Pällen
unzulänglich sind. Der Baron war ein echter connaisseur
und nicht jemand, der sich eines Unterscheidungsver-
mögens rühmt, das er gar nicht besitzt. Sie kennen Thur-
bers Ausspruch: >Nur ein naiver, einheimischer Burgun-
der, aber Sie werden seine Vermessenheit bewundern.<
Der Baron hätte beim ersten Schluck erkannt, ob er ein-
heimisch war oder nicht.
Soviel ich weiß, erfüllte diese Aufzeichnung Georges'
Hoffnungen, obwohl sie nicht nur für seinen persönli-
chen Gebrauch bestimmt war. Sie eröffnete ihm neue
Welten und trug zur Klärung der Ideen bei, die sein er-
finderisches Gehirn ausbrütete. Es gab keinen Zweifel:
alle exquisiten Gefühle, die der Geist des Barons wäh-
rend des lukullischen Mahls empfunden hatte, waren
eingefangen geworden, so daß jeder Beliebige in die Lage
versetzt wurde, sie nachzuvollziehen, auch wenn er ein
vollkommener Laie auf diesem Gebiet war. Denn die
Aufzeichnung betraf ausschließlich die Empfindungen,
der Verstand hatte überhaupt nichts damit zu tun. Der
Baron hatte ein Leben lang üben und lernen müssen, um
diese Gefühle zu erleben. Aber sobald sie auf Band fest-
gehalten waren, konnte auch der geschmackloseste
Mensch sie übernehmen.
Denken Sie an die einmaligen Möglichkeiten, die Ge-
orges vor sich sah. Es gab noch so viele Mahlzeiten, so
viele Gourmets. Es gab die gesammelten Eindrücke aller
hervorragenden Weinjahrgänge in Europa - connaisseurs
würden jeden Betrag für sie bezahlen. Wenn die letzte
Flasche eines einmaligen Tropfens geleert war, konnten
seine Geschmacksmerkmale aufbewahrt werden, so wie
man die Stimme der Melba noch nach Jahrhunderten hö-
ren wird. Denn eigentlich ging es nicht um den Wein
selbst, sondern um das Gefühl, das er hervorrief.
Das waren Georges' Überlegungen. Und dabei war es
erst der Anfang. Die Franzosen behaupten von sich, logi-

41
sche Denker zu sein, was ich oft bestritten habe, aber in
Georges' Fall kann ich dem nur zustimmen. Er dachte ein
paar Tage lang über den ganzen Problemkreis nach, .dann
suchte er seine petite arnie auf.
>Yvonne, ma cherie<, begann er, >ich habe eine etwas
ungewöhnliche Bitte an dich!<«
Harry Purvis wußte genau, wann er eine Pause einle-
gen mußte. Er wandte sich zur Bar und rief: »Noch einen
Scotch, Drew.« Niemand sprach ein Wort, während
Drew einschenkte.
»Kurz und gut«, fuhr Purvis schließlich fort, »obwohl
es sich um ein selbst für Frankreich ungewöhnliches Ex-
periment handelte, wurde es erfolgreich durchgeführt.
Wie es sich gehörte, fand es in den stillen Nachtstunden
statt. Sie werden ja inzwischen begriffen haben, daß Ge-
orges die Kunst der Überredung beherrschte, obwohl
Mademoiselle wahrscheinlich nicht lang gebeten werden
mußte.
Georges erstickte ihre neugierigen Fragen mit einem
herzlichen, aber hastigen Kuß, führte sie aus dem Labor
und rannte zu seinem Apparat zurück. Atemlos spielte er
das Band ab. Es funktionierte - obwohl er eigentlich nie
daran gezweifelt hatte. Außerdem - bitte denken Sie dar-
an, daß ich mich nur auf den Bericht meines Informanten
berufen kann! - konnte man es nicht von der Wirklichkeit
unterscheiden. In diesem Augenblick empfand Georges
beinahe religiöse Ehrfurcht. Er hatte zweifellos die größte
Erfindung der Menschheitsgeschichte gemacht. Er würde
nicht nur reich, sondern auch unsterblich werden, denn
er hatte etwas erreicht, wovon die Menschheit immer
schon geträumt hatte: er hatte dem Alter seinen Schrek-
ken genommen.
Ihm wurde auch klar, daß er jetzt auf Yvonne verzich-
ten konnte, wenn er wollte. Daraus ergaben sich Folge-
rungen, die er überdenken mußte. Sehr genau überden-
ken.

42
Sie wissen natürlich, daß ich Ihnen einen sehr konden-
sierten Bericht liefere. Während das alles geschah, arbei-
tete Georges immer noch loyal für den nichtsahnenden
Professor. Bis jetzt hatte er ja auch kaum mehr getan als
jeder andere Forscher unter ähnlichen Umständen. Seine
Aktivitäten hatten zwar seinen Pflichtenkreis leicht über-
schritten, aber notfalls ließ sich das alles erklären.
Der nächste Schritt bestand in sehr heiklen Verhand-
lungen, die weitere schwerverdiente Frances kosteten.
Georges besaß nun genügend Material, um beweisen zu
können, daß er über eine sehr wertvolle Handelsware
verfügte. In Paris gab es gerissene Geschäftsleute, die
sich auf die sich bietende Gelegenheit stürzen würden.
Dennoch muß ich zu Georges' Ehre sagen, daß ihn ein
gewisses Zartgefühl daran hinderte, seine zweite Auf-
zeichnung als Beweis für die Fähigkeiten seiner Maschine
zu verwenden. Er hatte keine Möglichkeit, die beteiligten
Personen unkenntlich zu machen, und er war ein be-
scheidener Mann. Außerdem, sagte er sich vernünfti-
gerweise, engagiert eine Plattenfirma keinen Amateur,
wenn sie eine Platte produziert, sondern ausschließlich
Profis. Und das trifft auch hier zu. Dann rief er noch ein-
mal seine Bank an und machte sich wieder auf den Weg
nach Paris.
Er begab sich keineswegs zur Place Pigalle, denn dort
wimmelte es vor Amerikanern, und die Preise sind ent-
sprechend. Statt dessen zog er diskret Erkundigungen
ein, und ein verständnisvoller Taxichauffeur brachte ihn
in eine beinah deprimierend ehrbare Vorstadt, wo er in
einem Wartezimmer landete, das keinesfalls so exotisch
war, wie man annehmen würde.
Hier setzte der etwas verlegene Georges sein Anliegen
einer beeindruckenden Dame auseinander, deren Alter
und Beruf man nur erraten konnte. Obwohl sie an unge-
wöhnliche Vorschläge gewöhnt war, handelte es sich hier
um ein Ansinnen, das ihr noch nie gestellt worden war.

43
Aber der Kunde hat immer recht, solange er Geld hat,
und damit ergab sich alles weitere. Eine der jungen Da-
men und ihr Freund, ein Ganove von überwältigender
Männlichkeit, reisten mit Georges in die Provinz. Zuerst
waren sie natürlich etwas mißtrauisch, aber Georges
hatte schon festgestellt, daß kein Fachmann Schmeiche-
leien widerstehen kann. Bald vertrugen sie sich glän-
zend. Hercule und Suzette versprachen Georges, daß sie
ihn voll zufriedenstellen würden.
Zweifellos möchten jetzt einige von Ihnen weitere De-
tails erfahren, aber Sie können kaum erwarten, daß ich
sie Ihnen liefere. Ich kann nur sagen, daß Georges - oder
sein Apparat - sehr beschäftigt und am Morgen nur we-
nige unbespielte Bänder übrig waren. Anscheinend trug
Hercule seinen Namen zu Recht.
Als diese pikante Episode zu Ende war, besaß Georges
nicht mehr viel Kapital, dafür jedoch zwei praktisch un-
ermeßlich wertvolle Aufzeichnungen. Er begab sich also
wieder nach Paris, wo er sich ohne jegliche Schwierigkeit
mit einigen Geschäftsleuten einigte, die so verblüfft wa-
ren, daß sie, ohne es zu merken, einen für Georges eher
vorteilhaften Vertrag unterschrieben. Dieses Detail freut
mich besonders, denn der Wissenschaftler zieht bei Ver-
handlungen mit der Finanzwelt leider oft den kürzeren.
Außerdem freut es mich, daß Georges Professor Julian in
den Vertrag einbezog. Zyniker werden jetzt behaupten,
daß es schließlich die Erfindung des Professors war und
daß Georges früher oder später mit ihm hätte teilen müs-
sen, aber ich finde, daß da mehr dahintersteckt.
Natürlich kenne ich nicht alle Details über die Auswer-
tung des Apparats. Georges hatte sicherlich sehr über-
zeugend gesprochen - was eigentlich nicht notwendig
war, wenn der Käufer eine oder beide Aufzeichnungen
erlebt hatte. Der Markt war ungeheuer groß, praktisch
unbegrenzt. Die Exporterlöse allein konnten der franzö-
sischen Wirtschaft wieder auf die Beine helfen und das

44
Dollardefizit über Nacht beseitigen - sobald man gewisse
Schwierigkeiten überwunden hatte. Das Ganze mußte
natürlich im geheimen durchgeführt werden, denn so-
bald die scheinheiligen Angelsachsen herausfanden, was
in ihr Land importiert wurde, war ein sittlicher Tumult
unvermeidlich. Die Müttervereinigung, die Töchter der
amerikanischen Revolution, der Hausfrauenverein und
alle religiösen Organisationen würden geschlossen auf
die Barrikaden steigen. Die Anwälte befaßten sich sehr
genau mit der Angelegenheit und stellten fest, daß die
Vorschriften, durch die Wendekreis des Steinbocks noch
immer vom europäischen Büchermarkt verbannt war, in
diesem Fall nicht anwendbar waren - weil niemand an
diese Möglichkeit gedacht hatte. Die öffentlichkeit
würde jedoch so laut nach neuen Gesetzen schreien, daß
es vernünftiger war, so lange wie möglich aus dem Un-
tergrund zu operieren.
Einer der Direktoren wies sogar darauf hin, daß es nur
vorteilhaft wäre, wenn ein Einfuhrverbot für diese Art
Aufzeichnungen erlassen würde. Sie konnten mit einer
kleineren Produktion viel mehr Geld verdienen, denn der
Preis würde dann prompt in die Höhe gehen, und der
Zoll konnte trotz all seiner Bemühungen nicht jede Lücke
verstopfen. Es würde wieder so zugehen wie während
der Prohibition.
Es wird Sie bestimmt nicht überraschen, daß Georges
inzwischen das Interesse an der gastronomischen Seite
des Projekts verloren hatte. Es handelte sich dabei um
eine entschieden nebensächliche Anwendungsmöglich-
keit der Erfindung. Das hatten die Direktoren auch still-
schweigend zugegeben, als sie die Statuten der Gesell-
schaft verfaßten, denn sie hatten die Gaumenfreuden un-
ter >Nebenrechte< eingeordnet.
Als Georges heimkehrte, ging er auf Wolken und hatte
einen auf eine beträchtliche Summe lautenden Scheck in
der Tasche. Er hatte einen bezaubernden Einfall. Die

46
Schallplattenfirmen hatten keine Mühe gescheut, um der
Welt vollständige Aufzeichnungen der achtundvierzig
Präludien und Fugen oder der neun Symphonien zur
Verfügung zu stellen. Seine neue Gesellschaft würde eine
verhängnisvolle, endgültige Serie von Aufzeichnungen
über Aktivitäten herausbringen, die von erlesenen Sach-
verständigen auf diesem Gebiet in Ost und West voll-
bracht worden waren. Wie groß würde die Zahl dieser
Werke werden? Darüber wurde seit tausend Jahren ein-
gehend debattiert. Soviel Georges wußte, gelangten die
hinduistischen Textbücher zu dreistelligen Zahlen. Es
würde eine sehr interessante Forschungsarbeit werden,
die in noch nie dagewesener Weise Profit und Vergnügen
verband ... Er hatte bereits mit Vorstudien begonnen
und dazu Abhandlungen benützt, die nicht einmal in Pa-
ris leicht zu bekommen waren.
Falls Sie annehmen, daß Georges in dieser Zeit seine
sonstigen Verpflichtungen vernachlässigt hätte, haben
Sie nur zu recht. Er arbeitete buchstäblich Tag und Nacht,
denn er hatte dem Professor nichts von seinen Plänen er-
zählt und mußte beinahe alles in der Zeit tun, in der das
Labor geschlossen war. Und eine dieser vernachlässigten
Pflichten war Yvonne,
Natürlich war ihre Neugierde geweckt worden, sie war
schließlich ein Mädchen. Aber jetzt war sie auch beunru-
higt, denn Georges war zurückhaltend und kühl gewor-
den. Er liebte sie nicht mehr.
Diese Entwicklung war zu erwarten gewesen. Wirte
müssen sich davor hüten, die Getränke, die sie verkau-
fen, zu oft zu kosten - Sie tun es sicherlich nicht, Drew -,
und Georges war in diese verführerische Falle gegangen.
Er hatte sich die Aufzeichnungen zu oft zu Gemüte ge-
führt und war jetzt ziemlich geschwächt. Außerdem
konnte sich die arme Yvonne nicht mit der erfahrenen,
begabten Suzette vergleichen. Die alte Geschichte: Profi
gegen Amateur.

47
Yvonne wußte nur, daß Georges jemand anderen lieb-
te. Das stimmte. Außerdem nahm sie an, daß er ihr un-
treu war. Und das wirft tiefschürfende philosophische
Fragen auf, auf die wir hier kaum eingehen können.
Da sich das Ganze in Frankreich abspielte, war das
Ende unvermeidlich. Der arme Georges! Als er wieder
einmal spätnachts im Labor arbeitete, erledigte ihn
Yvonne mit einer dieser lächerlichen Spielzeugpistolen,
die bei solchen Gelegenheiten unerläßlich sind. Stoßen
wir auf sein Gedächtnis an.«
»So ist es bei allen Ihren Geschichten«, protestierte
John Beynon. »Sie erzählen uns von wunderbaren Erfin-
dungen, und dann stellt sich am Ende heraus, daß der
Entdecker getötet wurde, so daß niemand mehr etwas
damit anfangen kann. Denn ich nehme an, daß der Ap-
parat, wie immer, zerstört wurde?«
»Keineswegs«, antwortete Purvis. »Wenn wir von Ge-
orges absehen, handelt es sich hier um eine Geschichte
mit Happy-end. Yvonne hatte natürlich überhaupt keine
Schwierigkeiten. Georges' trauernde Sponsoren trafen
schleunigst am Schauplatz ein und verhinderten jede
nachteilige Publicity. Da sie nicht nur mitfühlende Her-
zen, sondern auch Geschäftssinn besaßen, war ihnen
klar, daß Yvonne in Freiheit bleiben mußte. Sie erreichten
dies, indem sie die Aufzeichnungen dem Bürgermeister
und dem Polizeipräfekten vorspielten und sie davon
überzeugten, daß das arme Mädchen in berechtigter Er-
regung gehandelt hatte. Ein paar Aktien der neuen Ge-
sellschaft besiegelten den Handel, und beide Seiten
trennten sich in bestem Einvernehmen. Yvonne bekam
sogar ihre Pistole zurück.«
»Aber wann ...?« begann jemand.
»Ach, diese Dinge brauchen Zeit. Es handelt sich ja um
keine Massenproduktion. Es ist durchaus möglich, daß
die Belieferung schon über geheime - sehr geheime - Ka-
näle begonnen hat. Vielleicht werden einige der zweifel-

48
haften kleinen Läden rund um den Leicester Scfuare
demnächst entsprechende Ankündigungen machen.«
Die amerikanische Stimme meldete sich respektlos.
»Sie kennen den Namen der Gesellschaft natürlich
nicht.«
In solchen Augenblicken ist Purvis wirklich bewun-
dernswert. Er zögerte keinen Augenblick. »La Societe an-
onyme d'Aphrodite«, erwiderte er. »Mir ist übrigens etwas
eingefallen, das Sie aufheitern wird. Die Gesellschaft
hofft, daß sie Ihre unangenehmen Postvorschriften um-
gehen und ins Geschäft kommen kann, bevor die unver-
meidliche Untersuchung durch den Kongreß eingeleitet
wird. Sie haben eine Tochtergesellschaft in Nevada ge-
gründet: Dort kann man sich anscheinend noch immer
alles Mögliche leisten.« Er hob sein Glas.
»Auf Georges Dupin«, sagte er feierlich. »Ein Märtyrer
der Wissenschaft. Denken Sie an ihn, wenn das Feuer-
werk beginnt. Und noch etwas ...«
»Ja?« fragten wir im Chor.
»Fangen Sie lieber jetzt schon an zu sparen. Und ver-
kaufen Sie Ihre Fernsehapparate, bevor die Preise ins Bo-
denlose fallen.«

49
Wettrüsten

Wie ich schon öfter bemerkt habe, ist es bis jetzt noch
niemandem gelungen, Harry Purvis, den besten Ge-
schichtenerzähler im >Weißen Hirschen<, für längere Zeit
festzunageln. Seine wissenschaftlichen Kenntnisse ste-
hen außer Zweifel - aber wo hat er sie her? Und mit wel-
cher Berechtigung spricht er so vertraulich von den Mit-
gliedern der Royal Society? Ich muß zugeben, daß einige
von uns ihm kein einziges Wort glauben. Damit gehen sie
meiner Meinung nach etwas zu weit, wie ich neulich Bill
Temple gegenüber ziemlich nachdrücklich bemerkte.
»Du gehst immer auf Harry los«, sagte ich, »aber du
mußt zugeben, daß er uns unterhält. Und das kann man
kaum von allen anderen behaupten.«
»Wenn du persönlich wirst«, antwortete Bill, der im-
mer noch nicht verwunden hat, daß ihm ein amerikani-
scher Verleger ein paar durchaus ernste Geschichten mit
der Begründung zurückgeschickt hat, sie hätten ihn nicht
zum Lachen gebracht, »dann komm hinaus und sag es
noch einmal!« Er warf einen Blick durchs Fenster, stellte
fest, daß es immer noch heftig schneite, und fügte hastig
hinzu: »Also schön, nicht heute, irgendwann im Som-
mer, wenn wir einmal beide zufällig daran denken.
Trinkst du noch ein Glas Ananassaft?«
»Danke. Irgendwann werde ich ihn mit Gin bestellen,
nur um dich aus der Fassung zu bringen. Anscheinend
bin ich der einzige im >Weißen Hirschen<, der genausogut
ohne Alkohol auskommen kann - und der es auch tut.«
Weiter kamen wir mit unserem Gespräch nicht, denn
in diesem Augenblick traf die Ursache unserer Ausein-
andersetzung ein. Normalerweise hätte Harrys Ankunft

50
01 ins Feuer gegossen, da er aber in Begleitung eines
i'iemden war, beschlossen wir, brave kleine Jungen zu
sein.
»Hallo Freunde«, rief Harry, »ich stelle euch meinen
Freund Solly Blumberg vor. Der beste Spezialist für
I rickaufnahmen in Hollywood.«
»Wir wollen genau sein, Harry«, widersprach Mr.
Blumberg traurig mit einer Stimme, die am ehesten zu ei-
nem geprügelten Spaniel gepaßt hätte. »Nicht in, son-
dern außerhalb von Hollywood.«
Harry tat die Richtigstellung mit einer Handbewegung
ab.
»Um so besser für dich. Sol ist hierhergekommen, um
sein Talent der britischen Fümindustrie zur Verfügung zu
stellen.«
»Es gibt doch eine britische Filmindustrie?« fragte Sol
besorgt. »Im Studio wußte es niemand mit Bestimmt-
heit.«
»Aber natürlich. Sie blüht und gedeiht sogar. Die Re-
gierung belegt sie mit einer Vergnügungssteuer, die sie in
den Konkurs treibt, dann gewährt sie ihr enorme Zu-
schüsse, um sie am Leben zu erhalten. So werden in un-
serem Land Probleme gelöst. He, Drew, wo ist das Gä-
stebuch? Und je einen Doppelstöckigen für uns beide.
Solly hat eine schreckliche Zeit hinter sich, er braucht et-
was Stärkendes.«
Mr. Blumberg sah zwar aus wie ein geprügelter Hund,
wirkte aber sonst nicht wie ein Mann, der unter Entbeh-
rungen gelitten hat. Er trug einen ordentlichen Anzug
von der Stange, und die Spitzen seines Hemdkragens
endeten ungefähr mitten auf seiner Brust. Man mußte
ihnen dafür dankbar sein, denn sie verbargen dadurch
wenigstens einen Teil seiner Krawatte. Ich fragte mich,
worin die Schwierigkeiten bestanden hatten. Hoffentlich
handelte es sich nicht wieder um un-amerikanische Akti-
vitäten, denn so etwas würde unseren Hauskommuni-
51
sten in Fahrt bringen, der im Augenblick in einer Ecke
friedlich ein Schachproblem studierte.
Im Kreis erhob sich mitfühlendes Gemurmel, und John
sagte ziemlich anzüglich: »Vielleicht täte es Ihnen gut,
wenn Sie es sich von der Seele reden. Es wäre wirklich
eine Abwechslung, einmal jemand anderen hier sprechen
zu hören.«
»Sei nicht bescheiden, John«, unterbrach ihn Harry
prompt. »Ich höre dich immer noch gern. Aber ich be-
zweifle, daß Solly Lust hat, sich noch einmal damit zu be-
schäftigen. Stimmt's, alter Junge?«
»Du hast recht«, seufzte Mr. Blumberg. »Erzähl du's
ihnen!«
(»Ich habe ja gewußt, daß es darauf hinausläuft«,
stöhnte mir John ins Ohr.)
»Wo soll ich anfangen?« fragte Harry. »Damit, daß Lil-
lian Ross dich interviewte?«
»Nicht ausgerechnet damit«, widersprach Sol schau-
dernd. »Eigentlich begann es ja mit der ersten >Captain
Zoom<-Serie.«
>»Captain Zoom<?« fragte jemand drohend. »Diese
Worte hört man hier gar nicht gern. Sagen Sie nur nicht,
daß Sie für diesen unaussprechlichen Mist verantwortlich
waren.«
»Aber, aber, Jungs«, mischte sich Harry ein - diesmal
goß er Ö1 auf die Wellen. »Seid nicht so grob! Wir können
unseren hohen Kritik-Standard nicht auf alles anwen-
den. Jeder muß sich irgendwie seinen Lebensunterhalt
verdienen. Außerdem mögen Millionen Kinder Captain
Zoom. Ihr wollt ihnen doch nicht die kleinen Herzen bre-
chen, noch dazu so knapp vor Weihnachten?«
»Wenn sie Captain Zoom wirklich mögen, würde ich
ihnen lieber die kleinen Hälse brechen.«
»Wie kann man nur so unvernünftig sein! Ich muß
mich wirklich für einige meiner Mitbürger entschuldigen,
Solly. Wie hieß die erste Serie noch?«

52
>»Captain Zoom und die Bedrohung vom Mars<.«
»Ach ja, richtig. Übrigens frage ich mich, warum wir
immer vom Mars bedroht werden? Ob Wells vielleicht
daran schuld ist? Womöglich haben wir eines Tages eine
interplanetarische Verleumdungsklage am Hals - falls
wir nicht beweisen können, daß die Marsianer uns ge-
genüber genauso unhöflich waren.
Ich habe zum Glück >Bedrohung vom Mars< nie gese-
hen. (»Aber ich«, stöhnte jemand im Hintergrund. »Ich
versuche immer noch, es zu vergessen.«) Uns interessiert
jedoch nicht die Story, denn die wurde von drei Männern
m einer Bar am Wiltshire Boulevard geschrieben. Nie-
mand weiß, ob sie so ausfiel, weil die Drehbuchautoren
betrunken waren, oder ob sie betrunken bleiben mußten,
um die Story zu ertragen. Wenn euch das zu schwierig
ist, denkt nicht weiter darüber nach! Solly war nur für die
Trickaufnahmen zuständig, die der Regisseur verlangte.
Zunächst mußte er den Mars konstruieren. Dazu ver-
tiefte er sich eine halbe Stunde lang in Die Eroberung des
Weltraums und tauchte dann mit einer Skizze auf, die die
Werkstatt in eine überreife Orange umsetzte. Sie
schwebte im Nichts und war von unwahrscheinlich viel
Sternen umgeben. Das war einfach. Die Marsstädte wa-
ren natürlich etwas komplizierter. Denken Sie sich mal
eine vollkommen fremde Architektur aus, die doch noch ei-
nen Sinn ergibt. Ich bezweifle, daß man das zuwege
bringen kann - wenn es halbwegs glaubwürdig aussieht,
hat es schon jemand auf der Erde erfunden. Das Studio
baute schließlich einen Komplex, der byzantinische Mo-
tive mit einem Schuß Frank Lloyd Wright verband. Daß
keine der Türen irgendwohin führte, spielte überhaupt
keine Rolle, solange genügend Platz für die Duelle und
akrobatischen Kunststücke vorhanden war, die das
Drehbuch vorschrieb.
Ja, Duelle. Hier gab es eine Zivilisation mit Atomkraft,
Todesstrahlen, Raumschiffen, Fernsehen und noch mehr

53
modernen Annehmlichkeiten, aber wenn es zwischen
Captain Zoom und dem bösen Kaiser Klugg zum Kampf
kam, drehte sich die Uhr um ein paar Jahrhunderte zu-
rück. Es standen zwar Soldaten mit bedrohlich ausse-
henden Strahlern herum, aber sie verwendeten sie nie.
Na ja, kaum jemals. Manchmal verjagte ein Funkenregen
Captain Zoom und versengte ihm den Hosenboden, aber
das war auch schon alles. Da sich die Strahlen nicht
schneller als das Licht fortbewegen konnten, war er im-
mer in der Lage, ihnen zu entgehen.
Dennoch verursachten diese rein ornamentalen Strah-
ler etlichen Leuten Kopfschmerzen. Es ist komisch, wie-
viel Mühe sich Hollywood mit winzigen Details in einem
Film gibt, der reiner Mist ist. Der Regisseur von Captain
Zoom war auf Strahler fixiert. Solly entwarf den Mark I,
der wie eine Kreuzung zwischen einer Bazooka und einer
Donnerbüchse aussah. Er war damit sehr zufrieden, ge-
nau wie der Regisseur - ungefähr einen Tag lang. Und
dann stürmte der große Mann wütend in das Studio und
brachte ein abscheuliches Machwerk aus purpurrotem
Plastik mit Schaltern, Linsen und Hebeln mit.
>Sieh dir das mal an, Solly!< keuchte er. >Mein Sohn hat
es im Supermarkt bekommen - es ist das Werbegeschenk
bei Crunch. Für zehn Deckel bekommt man so ein Ding.
Sie sehen verdammt besser aus als unsere! Und sie funk-
tionieren!<
Er betätigte einen Hebel, ein dünner Wasserstrahl
schoß über die Szene, verschwand hinter Captain Zooms
Raumschiff und löschte prompt eine Zigarette aus, die
dort verbotenerweise glimmte. Ein zorniger Bühnenar-
beiter kam aus der Luftschleuse heraus, sah, wer ihn
durchnäßt hatte, und zog sich rasch wieder zurück, wo-
bei er etwas von seiner Gewerkschaft murmelte.
Solly untersuchte den Strahler ärgerlich, aber mit dem
Scharfblick des Sachverständigen. Ja, er war zweifellos
viel eindrucksvoller als alles, was er erfunden hatte. Er

54
verschwand in seinem Büro und versprach, sich mit der
Angelegenheit zu befassen.
Der Mark II war komplett ausgestattet, sogar mit einem
Fernsehapparat. Wenn Captain Zoom plötzlich einem
angreifenden Hickoneros gegenüberstand, mußte er nur
den Apparat einschalten, warten, bis die Röhren warm
waren, den Kanalwähler programmieren, die Feineinstel-
lung betätigen, den Brennpunkt fixieren, die Zeilen- und
Bildeinstellung korrigieren, und dann auf den Auslöser
drücken. Zum Glück verfügte er über unglaublich
schnelle Reflexe.
Der Regisseur war beeindruckt, und die Produktion
von Mark II wurde aufgenommen. Für Kaiser Kluggs
teuflische Kohorten ging ein leicht abgeändertes Modell,
der Mark IIa, in Serie. Es ist natürlich unmöglich, daß
beide Seiten mit den gleichen Waffen feuern. Ich habe ja
schon erwähnt, daß Pandemix Productions Perfektioni-
sten waren.
Alles ging gut bis zu den ersten Gefechten, und sogar
noch einige Zeit darüber hinaus. Während die Schau-
spieler agierten - falls man diesen Ausdruck hier gebrau-
chen kann -, mußten sie mit den Strahlern zielen und auf
den Abzug drücken, als würde daraufhin wirklich etwas
geschehen. Die Funken und Blitze wurden jedoch später
von zwei kleinen Männern auf die Negative gepinselt; sie
arbeiteten in einer Dunkelkammer, die ungefähr genauso
gut bewacht war wie Fort Knox. Sie machten ihre Arbeit
gut, aber nach einiger Zeit regte sich das überentwickelte
künstlerische Unterbewußtsein des Regisseurs wieder.
>Solly<, sagte er, während er mit dem Horrorinstru-
ment aus Plastik spielte, das sein Sohn geschenkt be-
kommen hatte, >ich möchte immer noch einen Strahler,
der etwas tut.<
Solly duckte sich rechtzeitig, daher ging der Wasser-
strahl über seinen Kopf hinweg und taufte ein Foto von
Marilyn Monroe.

55
>Sie wollen doch nicht wieder anfangen, wirklich zu
schießen<, jammerte er.
>Nnnnnnnein<, antwortete der Regisseur sichtlich wi-
derstrebend. >Wir müssen natürlich das verwenden, was
wir haben. Aber irgendwie sieht es unecht aus.< Er blät-
terte im Drehbuch und sein Gesicht hellte sich auf.
>Nächste Woche beginnen wir mit Episode 54 - Sklaven
der Slugs. Die Slugs müssen Gewehre tragen, deshalb
möchte ich .. . <
Der Mark III stellte Solly vor ernste Probleme. (Ich habe
doch noch keinen ausgelassen, oder? Gut.) Es mußte sich
nicht nur um ein vollkommen neues Modell handeln,
sondern es mußte auch >etwas tun<. Es war eine Heraus-
forderung an Sollys Erfindergeist, und es rief die entspre-
chende Wirkung hervor.
Mark III war ein technisch hochentwickeltes Produkt.
Zum Glück kannte Solly einen ideenreichen Techniker,
der ihm schon früher geholfen hatte, und der jetzt der ei-
gentliche Erfinder von Mark III wurde. (>Und ob er das
war<, bestätigte Solly düster.) Das Prinzip war einfach:
Ein kleiner, aber sehr leistungsstarker elektrischer Venti-
lator erzeugte einen Luftstrom, in den fein verteilter
Staub gesprüht wurde. Wenn das Ding richtig eingestellt
war, produzierte es einen sehr beeindruckenden Strahl
und noch beeindruckenderen Lärm. Die Schauspieler
hatten solche Angst davor, daß ihre Darstellung plötzlich
sehr realistisch wurde.
Der Regisseur war begeistert - ganze drei Tage lang.
Dann befielen ihn schreckliche Zweifel.
>Solly<, sagte er, >diese verdammten Gewehre sind zu
gut. Die Slugs können Captain Zoom damit jederzeit er-
ledigen. Wir müssen ihm eine bessere Waffe in die Hand
drücken.<
In diesem Augenblick begriff Solly, was geschehen
war. Er war in ein Wettrüsten geraten.
Damit kommen wir zu Mark IV, nicht wahr? Wie funk-

56
tionierte dieses Ding? O ja, ich weiß es noch. Es handelte
sich um einen aufgedonnerten Sauerstoff-Azetylen-
Brenner, in den verschiedene Chemikalien eingespritzt
vvurden, um die schönsten Flammen zu erzeugen. Ich
muß erwähnen, daß das Studio ab Episode 50 - >Tod auf
Deimos< - von Schwarz-weiß auf Farbe übergegangen
vvar und sich dadurch neue künstlerische Möglichkeiten
eröffneten. Indem man Kupfer, Strontium oder Barium in
die Flamme sprühte, erhielt man jede gewünschte Farbe.
Falls Sie annehmen, daß der Regisseur jetzt zufrieden
war, kennen Sie Hollywood nicht. Vielleicht lachen ein
paar Zyniker immer noch, wenn das Motto >Ars Gratia
Artis< auf dem Bildschirm erscheint, aber diese Einstel-
lung ist ungerecht. Hätten vorsintflutliche Fossile wie
Michelangelo, Rembrandt oder Tizian so viel Zeit, Mühe
und Geld in das Streben nach Vollkommenheit investiert
wie Pandemix Productions? Ich glaube nicht.
!ch will nicht behaupten, daß ich mich an alle Marks er-
innere, die Solly und sein Freund während der Serie er-
fanden. Es gab einen, der farbige Rauchringe ausstieß. Es
gab den Hochfrequenzgenerator, der ungeheure, aber
harmlose Funkenkaskaden erzeugte. Es gab einen be-
sonders geglückten gekrümmten Strahl - ein Wasserstrahl,
in dessen Innerem Licht reflektiert wurde, und der im
Finstern sehr beeindruckend war. Und dann gab es
schließlich Mark 12.«
»Mark 13«, stellte Mr. Blumberg richtig.
»Natürlich - wie dumm von mir! Es konnte ja keine
andere Zahl sein. Mark 13 war nicht eigentlich eine
Handfeuerwaffe - obwohl einige seiner Vorgänger nur
mit sehr viel Phantasie als Handfeuerwaffen bezeichnet
werden konnten. Es war die teuflische Erfindung, die auf
Phobos aufgestellt werden sollte, um die Erde zu unterjo-
chen. Obwohl Solly mir einmal die wissenschaftlichen
Grundlagen des Mark 13 erklärt hat, habe ich sie in mei-
ner Einfalt wieder vergessen . . . Wie könnte ich mich

57
auch mit den Genies messen, die >Captain Zoom< ge-
schaffen haben? Ich kann nur berichten, was der Strahl
bewirken sollte, aber nicht, wie er es schaffte. Er sollte in
der Atmosphäre unseres unglücklichen Planeten eine
Kettenreaktion auslösen, durch die der Stickstoff und der
Sauerstoff in der Luft eine Verbindung eingingen, die für
das Leben auf der Erde verheerende Folgen hätte.
Ich weiß nicht, ob ich es begrüßen oder bedauern soll,
daß Solly alle Details des legendären Mark 13 seinem be-
gabten Assistenten überließ. Obwohl ich ihn eingehend
befragt habe, kann er mir nur sagen, daß das Ding etwa
zwei Meter hoch war und wie eine Kreuzung zwischen
dem Fünf-Meter-Teleskop und einem Flakgeschütz aus-
sah. Das bringt uns auch nicht weiter, nicht wahr?
Er behauptet auch, daß das Mordsding eine Menge Ra-
dioröhren sowie einen unglaublich großen Magneten
enthielt. Auf jeden Fall sollte es einen beeindruckenden,
aber harmlosen elektrischen Lichtbogen erzeugen, der
durch Magneten zu allen möglichen interessanten For-
men verzerrt werden konnte. Das behauptete jedenfalls
der Erfinder, und trotz allem, was inzwischen eingetreten
ist, gibt es keinen Grund, warum wir ihm nicht glauben
sollten.
Durch einen jener unglücklichen Zufälle, die sich
nachher als Glücksfall erweisen, befand sich Solly nicht
im Studio, als sie Mark 13 ausprobierten. Zu seinem gro-
ßen Ärger mußte er an diesem Tag etwas in Mexiko erle-
digen. Und das war wirklich dein Glück, Solly! Er erwar-
tete am Nachmittag ein Ferngespräch von einem seiner
Freunde, aber als die Verbindung schließlich zustande
kam, lautete die Nachricht ganz anders, als er gedacht
hatte.
Mark 13 war, um es vorsichtig auszudrücken, ein voller
Erfolg. Niemand wußte genau, was geschehen war, aber
nur durch ein Wunder gab es keine Todesopfer, und der
Feuerwehr war es gelungen, die benachbarten Studios zu

58
retten. Es war unglaublich, aber die Tatsachen waren
nicht zu leugnen. Mark 13 hätte einen Schein-Todes-
strahl produzieren sollen - und erzeugte statt dessen ei-
nen echten. Der Projektor hatte etwas ausgestrahlt, das
die Wand des Studios durchbohrte, als wäre sie gar nicht
vorhanden. Einen Augenblick später war sie tatsächlich
nicht mehr vorhanden. An ihrer Stelle befand sich ein
großes Loch, das an den Rändern zu glimmen begann.
Und dann stürzte das Dach ein . . .
Solange Solly das FBI nicht davon überzeugen kann,
daß es sich um einen Irrtum handelt, ist es besser, wenn
er das Gebiet der USA meidet. Das Pentagon und die
Atombehörde befassen sich jetzt noch mit dem Trüm-
merhaufen.
Was hättet ihr an Sollys Statt getan? Er war unschuldig,
aber wie konnte er es beweisen? Vielleicht wäre er den-
noch zurückgekehrt und hätte die Suppe ausgelöffelt,
wenn er sich nicht daran erinnert hätte, daß er 1948 einen
Mann angestellt hatte, der Propaganda für Henry Wallace
machte. Das hätte er kaum erklären können. Außerdem
hatte Solly allmählich genug von Captain Zoom. Deshalb
steht er jetzt hier. Kennt jemand von euch eine englische
Filmfirma, die Verwendung für ihn hat? Aber bitte nur
historische Filme. Die modernste Waffe, auf die er sich
einlassen würde, ist die Armbrust.«

60
Kritische Masse

H a b e ich euch jemals erzählt«, erkundigte sich Harry


Purvis bescheiden, »wie ich die Evakuierung von Süd-
england verhinderte?«
»Nein«, antwortete Charles Willis, »oder ich habe es
verschlafen.«
»Also schön«, fuhr Harry fort, sobald sich eine seiner
Meinung nach ausreichende Zuhörerschaft um ihn ver-
sammelt hatte. »Es geschah vor zwei Jahren im Kernfor-
schungsinstitut in der Nähe von Clobham. Ihr kennt na-
türlich alle den Ort. Aber ich habe nie erwähnt, daß ich
eine Zeitlang dort gearbeitet habe, und zwar an einem
Spezialprojekt, über das ich nicht sprechen kann.«
»Das wäre wirklich einmal eine Abwechslung«, warf
John Wyndham ein, jedoch ohne den geringsten Erfolg.
»Es war an einem Samstagnachmittag«, begann Harry.
»Ein schöner Spätfrühlingstag. Wir sechs Wissenschaftler
befanden uns in der Bar des >Schwarzen Schwan<; die
Fenster standen offen, so daß wir über die Hänge von
Colbham Hill hinweg bis zu dem dreißig Meilen entfern-
ten Upchester sehen konnten. Es war ein so klarer Tag,
daß wir sogar die beiden Türme der Kathedrale von Up-
chester am Horizont ausmachen konnten. Man hätte sich
keinen friedlicheren Tag vorstellen können.
Die Einheimischen vertrugen sich recht gut mit den
Angestellten des Instituts, obwohl sie zunächst nicht sehr
glücklich darüber gewesen waren, daß wir Wand an
Wand mit ihnen lebten. Abgesehen davon, daß ihnen
unsere Tätigkeit suspekt war, nahmen sie an, daß Wis-
senschaftler eine eigene Rasse sind, die keine menschli-
chen Interessen an den Tag legt. Nachdem wir sie ein

61
paarmal beim Wurfpfeilwerfen geschlagen und ihnen et-
liche Drinks spendiert hatten, änderten sie ihre Meinung.
Aber sie nahmen uns immer noch gern auf den Arm und
erkundigten sich immer vvieder, was wir als nächstes in
die Luft jagen würden.
An diesem Nachmittag hätten eigentlich mehr Leute
von uns anwesend sein sollen, aber in der Abteilung für
Radioisotopen mußte eine dringende Arbeit zu Ende ge-
führt werden, und deshalb waren wir nicht in voller
Stärke aufmarschiert. Stanley Chambers, der Wirt, be-
merkte, daß etliche vertraute Gesichter fehlten.
>Was ist Ihren Kollegen zugestoßen?< fragte er Dr.
Fench, meinen Boß.
>Sie haben noch in der Fabrik zu tun<, antwortete
Fench - wir bezeichneten das Institut immer als >Fabrik<,
damit es gemütlicher und nicht so schreckenerregend
klang. >Wir mußten etwas möglichst rasch auslassen. Sie
werden aber nachkommen.<
>Eines Tages<, verkündete Stan streng, >werden Sie
und Ihre Freunde etwas auslassen, das Sie nicht wieder
einfangen können. Und wo werden wir alle dann sein?<
>Auf halbem Weg zum Mond<, antwortete Dr. Fench.
Es war sicherlich eine leichtfertige Antwort, aber bei
dummen Fragen verlor er immer die Geduld.
Stan Chambers schaute zum Fenster hinaus, als ob er
abschätzen wolle, wie weit der Hügel ihn vor Clobham
abschirmte. Wahrscheinlich rechnete er sich aus, ob er
noch Zeit haben würde, den Keller zu erreichen - oder ob
es überhaupt keinen Sinn hatte, es zu versuchen.
>Wegen dieser - Isotopen -, die Sie in die Klinik schik-
ken<, bemerkte jemand nachdenklich. >Ich suchte letzte
Woche das St. Thomas Hospital auf und sah, wie sie in
einem mindestens eine Tonne schweren Bleibehälter
transportiert wurden. Es überlief mich kalt, als ich mir
vorstellte, was geschehen würde, wenn jemand nicht
sorgfältig genug damit umgeht.<

62
>Wir haben neulich berechnet<, erklärte Dr. Fench; der
offensichtlich noch immer darüber verärgert war, daß
man ihn beim Pfeilwerfen unterbrochen hatte, >daß sich
in Clobham genügend Uran befindet, um die Nordsee
zum Kochen zu bringen.<
Das war natürlich eine dumme Feststellung, außerdem
stimmte sie gar nicht. Aber ich konnte ja nicht gut mei-
nen Boß zurechtweisen, oder?
Der Mann, der diese Frage gestellt hatte, saß in einer
Fensternische, und ich bemerkte, daß er ängstlich die
Straße entlangblickte.
>Das Zeug wird auf Lastwagen abtransportiert, nicht
wahr?< fragte er ziemlich beunruhigt.
>Ja. Viele dieser Isotopen haben nur eine kurze Le-
bensdauer und müssen deshalb sofort geliefert werden.<
>Dort hinten kommt ein Lastwagen den Hügel herun-
ter, der anscheinend Schwierigkeiten hat. Ist es vielleicht
einer vom Institut?<
Alles vergaß die Wurfpfeile und stürzte zum Fenster.
Als ich mich endlich nach vorn gedrängt hatte, sah ich ei-
nen großen, mit Kisten beladenen Lastwagen, der unge-
fähr eine Viertelmeile von uns entfernt den Hügel hinun-
terraste. Von Zeit zu Zeit prallte er gegen eine der Hek-
ken: Es war klar, daß die Bremsen versagt hatten und der
Lenker die Herrschaft über den Wagen verloren hatte.
Zum Glück kam ihm nichts entgegen, sonst wäre ein
scheußlicher Unfall unvermeidlich gewesen.
Dann erreichte der Laster eine Kurve, kam von der
Fahrbahn ab und brach durch die Hecke. Er wurde lang-
samer, rumpelte noch fünfzig Meter weiter und war bei-
nahe zum Stillstand gelangt, als er in einen Graben geriet
und sich im Zeitlupentempo auf die Seite legte. Einige
Sekunden danach hörten wir das Geräusch von split-
terndem Holz, und die Kisten rutschten auf den Bo-
den.
>Das wär's<, seufzte jemand. >Er hat das einzig Richtige

63
getan, als er auf die Hecke zugehalten hat. Ich nehrrle an,
daß er leicht geschockt, aber sonst unverletzt ist.<
Und dann sahen wir etwas Verblüffendes. Die Tür des
Führerhauses ging auf, und der Fahrer kletterte heraus.
Sogar aus dieser Entfernung konnten wir erkennen, daß
er sehr aufgeregt war - was unter diesen Umständen be-
greiflich war. Aber er setzte sich nicht hin, wie wir erwar-
tet hatten. Im Gegenteil: Er gab sofort Fersengeld und
rannte über das Feld, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Wir sahen mit offenem Mund und immer größerer Be-
sorgnis zu, wie er den Hügel hinunter verschwand. In
der Bar herrschte unheimliche Stille, nur die Uhr, die
immer zehn Minuten vorgeht, tickte. Dann fragte je-
mand: >Glauben Sie, daß wir hierbleiben sollen? Ich
meine - es ist ja nur eine halbe Meile .. .<
Langsam wichen die Leute vom Fenster zurück. Dann
lachte Dr. French nervös auf.
>Wir wissen nicht einmal, ob es einer unserer Lastwa-
gen ist. Auf jeden Fall habe ich Sie vorhin auf den Arm
genommen. Es ist vollkommen unmöglich, daß dieses
Zeug explodiert. Der Fahrer hat einfach Angst, daß sein
Tank in Brand gerät.<
>Wirklich?< fragte Stan. >Warum läuft er dann immer
noch? Er hat den Hügel schon beinahe hinter sich.<
>Ich weiß es<, mischte sich Charlie Evan von der Gerä-
teabteilung an. >Er hat Sprengstoff geladen und fürchtet,
daß er in die Luft fliegt.<
Das konnte ich nicht akzeptieren. >Weit und breit ist
kein Feuer, wovor hat er also Angst? Und wenn er
Sprengstoff geladen hätte, müßte der Wagen mit einer
roten Fahne oder auch etwas Ähnlichem gekennzeichnet
sein.<
>Wartet einen Augenblick<, sagte Stan. >Ich hole mei-
nen Feldstecher.<
Niemand rührte sich, bis er zurückkam; das heißt, nie-
mand mit Ausnahme der winzigen Gestalt am Ende des

65
Hügels, die jetzt in unverändertem Tempo im Wald ver-
schwand.
Stan starrte eine Ewigkeit durch den Feldstecher.
Schließlich ließ er ihn enttäuscht sinken.
>Ich kann nicht viel ausmachen. Der Wagen ist auf die
gegenüberliegende Seite gefallen. Die Kisten sind überall
verstreut - ein paar sind aufgesprungen. Versuchen Sie
mal, ob Sie etwas erkennen können!<
French starrte lange hindurch, dann reichte er mir den
Feldstecher. Es handelte sich um ein altmodisches, nicht
sehr leistungsstarkes Modell. Einen Augenblick lang
glaubte ich, einen merkwürdigen Dunst um einige Kisten
zu bemerken - aber das war natürlich Unsinn. Ich schrieb
es den alten Linsen zu.
Damit wäre wahrscheinlich die ganze Geschichte im
Sand verlaufen, wenn nicht die Radfahrer aufgetaucht
wären. Sie quälten sich auf einem Tandem den Hügel
hinauf, und als sie das frische Loch in der Hecke erreich-
ten, stiegen sie ab, um nachzusehen. Man konnte den
Lastwagen von der Straße aus sehen, und sie näherten
sich ihm Hand in Hand; das Mädchen war offensichtlich
ängstlich, und der Mann erklärte ihr, sie solle nicht so
nervös sein. Wir konnten uns ihr Gespräch genau vor-
stellen: Es war beinahe rührend.
Doch das blieb nicht lange so. Sie kamen bis auf we-
nige Meter an den Lastwagen heran - und dann liefen sie
mit unglaublicher Geschwindigkeit in verschiedene Rich-
tungen davon. Keiner sah sich nach dem anderen um,
und sie rannten, wie ich bemerkte, auf sehr merkwürdige
Art.
Stan, der seinen Feldstecher wieder an sich genommen
hatte, setzte ihn mit zitternden Händen ab.
>Holt den Wagen!< befahl er.
>Aber .. .<, begann Dr. French.
Stan brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. >Ihr
verdammten Wissenschaftler!< sagte er, während er die

66
Kasse zuschlug und versperrte (sogar in einem solthen
Augenblick dachte er an seine Pflicht). >Ich wußte ja, daß
ihr es früher oder später schaffen würdet.<
Dann war er fort, und die meisten seiner Freunde mit
ihm. Sie boten uns nicht an, uns mitzunehmen.
>Das ist einfach lächerlich!< schimpfte French. >Bevor
wir überhaupt wissen, was geschehen ist, werden diese
Narren eine Panik auslösen und hier wird die Hölle aus-
brechen.<
Ich wußte, was er meinte. Jemand würde die Polizei
verständigen: der Verkehr würde umgeleitet werden; die
Telefonleitungen würden durch Gespräche blockiert sein
- wie bei dem blinden Alarm, den Orson Welles 1938 mit
>Krieg der Welten< ausgelöst hatte. Vielleicht finden Sie,
daß ich übertreibe, aber man darf das Ausmaß einer Pa-
nik nie unterschätzen. Und ich habe ja erwähnt, daß die
Leute vor unserem Institut Angst hatten und beinahe
darauf warteten, daß so etwas eintrat.
Außerdem fühlten wir uns in diesem Augenblick kei-
neswegs behaglich. Wir konnten uns beim besten Willen
nicht vorstellen, was mit dem Lastwagen los war, und für
einen Wissenschaftler gibt es nichts Schlimmeres, als vor
einem Rätsel zu stehen.
Inzwischen hatte ich mir Stans Feldstecher wieder ge-
schnappt und musterte das Wrack sorgfältig. Dabei be-
gann ich, im Geist eine Theorie zu entwickeln. Um die
Kisten gab es eine Art von Aura. Ich starrte, bis meine
Augen brannten, dann sagte ich zu Dr. French: >Ich glau-
be, ich weiß, worum es sich handelt. Rufen Sie das Post-
amt in Clobham an und versuchen Sie, Stan zu stoppen
oder zumindest daran zu hindern, daß er Gerüchte ver-
breitet! Sagen Sie, daß wir alles unter Kontrolle haben
und daß kein Grund zur Besorgnis besteht! Während Sie
das tun, gehe ich zum Lastwagen hinüber und teste
meine Theorie.<
Zu meinem Bedauern muß ich zugeben, daß niemand

67
sich erbot, mich zu begleiten. Obwohl ich mich sehr zu-
versichtlich auf den Weg machte, wurde ich im Lauf der
Zeit unsicher. Ich erinnerte mich an einen Zwischenfall,
den ich immer für einen der bittersten Scherze der Welt-
geschichte gehalten habe, und fragte mich, ob hier nicht
vielleicht etwas Ähnliches im Gang war. Im Fernen
Osten gab es eine vulkanische Insel, auf der etwa fünfzig-
tausend Menschen lebten. Niemand machte sich wegen
des Vulkans Sorgen, der seit etwa hundert Jahren nicht
mehr aktiv war. Dann setzten eines Tages Ausbrüche ein.
Zuerst waren sie unbedeutend, wurden aber stündlich
heftiger. Die Menschen gerieten in Panik und versuch-
ten, sich in die wenigen Boote im Hafen zu drängen, um
auf ihnen das Festland zu erreichen.
Das Kommando auf der Insel führte ein Offizier, der
entschlossen war, die Ordnung um jeden Preis aufrecht-
zuerhalten. Er ließ bekanntmachen, daß überhaupt keine
Gefahr bestünde, und die Schiffe von Soldaten besetzen,
damit es nicht zu Verlusten an Menschenleben kam, in-
dem die Leute versuchten, die Insel auf überladenen Boo-
ten zu verlassen. Die Macht seiner Persönlichkeit war so
groß und sein Mut beispielhaft, daß er die Menge beru-
higte und die Flüchtlinge beschämt in ihre Häuser zu-
rückkehrten, wo sie darauf warteten, daß die Lage sich
wieder normalisierte.
Als der Vulkan einige Stunden später in die Luft flog
und die gesamte Insel mit sich riß, gab es daher über-
haupt keine Überlebenden.
Als ich mich dem Lastwagen näherte, sah ich mich
selbst in der Rolle des irregeleiteten Kommandanten. Es
gibt schließlich Zeiten, in denen man der Gefahr die Stirn
bieten muß, und andere, in denen es am vernünftigsten
ist, wenn man sich aus dem Staub macht. Aber jetzt war
es zu spät zum Umkehren, und ich war meiner Theorie
ziemlich sicher.«
»Ich weiß«, unterbrach ihn George Whitley, der im-

68
mer versucht, Harry seine Pointe zu stehlen, »es war
Gas.«
Harry ließ sich nicht im geringsten erschüttern.
»Das ist wirklich genial von dir. Genau das nahm ich
ebenfalls an, was nur beweist, daß jeder von uns gele-
gentlich ein Idiot sein kann.
Als ich mich etwa fünfzehn Meter vor dem Lastwagen
befand, blieb ich abrupt stehen, und obwohl der Tag sehr
warm war, überlief mich ein sehr unangenehmes Frö-
steln. Denn ich sah etwas, das meine Gas-Theorie wider-
legte.
Eine schwarze, krabbelnde Masse wand sich über eine
der Kisten. Einen Augenblick lang versuchte ich, mir ein-
zureden, daß es sich um eine dunkle Flüssigkeit handelte,
die aus einem zerbrochenen Behälter quoll. Aber es ge-
hört zu den allgemein bekannten Eigenschaften von
Flüssigkeiten, daß sie sich nicht über die Schwerkraft
hinwegsetzen können. Das Ding tat jedoch genau das,
und außerdem war es eindeutig lebendig. Von meinem
Standplatz aus sah es aus wie der Scheinfuß einer riesi-
gen Amöbe, denn es veränderte dauernd seine Form und
Dichte und schwankte auf der Kiste hin und her.
Innerhalb der nächsten Sekunden fielen mir etliche
phantastische Erklärungen ein, die Edgar Allan Poe Ehre
gemacht hätten. Dann erinnerte ich mich an meine Pflicht
als Staatsbürger und an meinen Stolz als Wissenschaftler
und ging weiter, allerdings nicht allzu rasch.
Ich schnüffelte vorsichtig, als dächte ich immer noch an
Gas. Doch meine Ohren, nicht meine Nase, führten mich
auf die richtige Spur, während das Geräusch der düste-
ren, brodelnden Masse um mich anschwoll. Ich hatte die-
ses Geräusch schon millionenmal gehört, aber noch nie
so laut. Ich setzte mich - allerdings in gebührender Ent-
fernung - hin und lachte, bis mir die Tränen kamen.
Dann stand ich auf und kehrte zum Pub zurück.
>Nun<, fragte Dr. French aufgeregt, >was ist es? Wir ha-

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ben Stan am Apparat - wir haben ihn gerade noch er-
wischt. Aber er will erst zurückkommen, wenn er weiß,
was ihn erwartet.<
>Dann beauftragen Sie Stan, den örtlichen Imker auf-
zutreiben und gleich mitzunehmen. Hier gibt es jede
Menge Arbeit für ihn.<
>Den örtlichen was?< fragte French. Dann starrte er
mich an. >Mein Gott, Sie wollen doch nicht sagen . . . ? <
>Genau<, antwortete ich, während ich hinter die Bar
schlenderte, um nachzusehen, ob Stan vielleicht beson-
ders interessante Flaschen vor uns versteckt hatte. >Sie
beruhigen sich langsam, aber sie sind wahrscheinlich
immer noch ganz schön gereizt. Ich habe sie nicht ge-
zählt, aber ich schätze, daß dort unten ungefähr eine
halbe Million Bienen versucht, in ihre zerborstenen Bie-
nenstöcke zurückzugelangen.<«

70
Die elementare Melodie

Haben Sie jemals folgendes beobachtet: Wenn zwanzig


oder dreißig Menschen in einem Raum gleichzeitig reden,
gibt es ab und zu einen Augenblick, in dem alle plötzlich
schweigen, so daß eine Sekunde lang eine unvermittelte,
vibrierende Stille herrscht, die alle Geräusche zu schluk-
ken scheint. Ich weiß nicht, wie andere Menschen darauf
reagieren, aber mich fröstelt jedesmal. Natürlich wird das
Ganze ausschließlich durch das Gesetz der Wahrschein-
lichkeit verursacht, aber ich halte es doch für mehr als ein
zufälliges Zusammentreffen von Gesprächspausen. Es ist
beinahe, als würden alle lauschen - sie wissen nur nicht,
was sie hören wollen. In solchen Augenblicken sage ich
mir:
Doch hinter mir, und nicht mehr weit,
Naht der geflügelte Wagen der Zeit . . .
Dieses Gefühl erweckt es bei mir, ganz gleich, wie lu-
stig die Gesellschaft ist, in der ich mich befinde. Ja sogar
im >Weißen Hirschen<.
So war es auch an einem Mittwoch, als das Lokal nicht
ganz so überfüllt war wie sonst. Die Stille trat völlig un-
erwartet ein, wie immer. Dann versuchte Charlie Willis
offensichtlich, das bedrückende, gespannte Gefühl zu
vertreiben, und begann, den letzten Schlager zu pfeifen.
Ich weiß nicht einmal mehr, was es war. Ich erinnere
mich nur, daß er der Aufhänger für eine der unange-
nehmsten Geschichten war, die Harry Purvis je erzählte.
»Charlie«, begann er ganz ruhig, »diese verdammte
Melodie macht mich verrückt. Jedesmal, wenn ich ver-
gangene Woche das Radio eingeschaltet habe, habe ich
sie gehört.«

71
John Christopher schniefte. »Du solltest das Dritte
Programm einstellen. Dann wärst du sicher davor.«
»Es gibt Leute«, entgegnete Harry, »die für eine Dauer-
berieselung mit elisabethanischen Madrigalen nichts üb-
rig haben. Aber wir wollen um Himmels willen nicht dar-
über streiten. Ist euch jemals eingefallen, daß Schlagerme-
lodien etwas Elementares an sich haben?«
»Wie meinst du das?«
»Sie tauchen aus dem Nichts auf, und dann summt sie
wochenlang jeder, genau wie Charlie. Die Ohrwürmer
unter ihnen packen einen so gründlich, daß man sie nicht
mehr aus dem Kopf kriegt - man hat sie tagelang im Ohr.
Und dann verschwinden sie ebenso plötzlich wieder.«
»Ich verstehe dich«, sagte Art Vincent. »Es gibt Melo-
dien, die einen kaltlassen, aber andere lassen sich nicht
abbeuteln.«
»Genau! Ich wurde das Hauptthema aus dem Finale
der zweiten Symphonie von Sibelius eine Woche lang
nicht los - es verfolgte mich sogar bis in den Schlaf. Oder
die Melodie aus dem >Dritten Mann< -da di da di daa, dida,
didaa ... ihr wißt ja, wie sie sich ausgewirkt hat.«
Harry mußte einen Augenblick lang warten, bis seine
Zuhörer aufhörten, eine Zither nachzuahmen. Als das
letzte »Plim« verklungen war, fuhr er fort:
»Na also, euch allen ist es schon einmal so ergangen.
Was haben diese Melodien aber an sich, daß sie so wir-
ken? Manche von ihnen gehören zur klassischen Musik,
andere sind banaler Kitsch, aber sie haben sichtlich etwas
gemeinsam.«
»Also los«, seufzte Charlie, »wir warten auf die Erklä-
rung!«
»Ich weiß die Antwort nicht«, antwortete Harry. »Und
ich will sie auch gar nicht wissen. Denn ich kenne einen
Mann, der sie gefunden hat.«
Jemand reichte ihm automatisch ein Bier, damit der
Fluß seiner Erzählung später nicht unterbrochen wurde.

72
Eine Menge Leute ärgerten sich jedesmal, wenn er eine
Pause machte, um sein Glas nachfüllen zu lassen.
»lch weiß nicht«, begann Harry, »warum viele Wissen-
schaftler Interesse an Musik haben, aber es ist eine unwi-
derlegbare Tatsache, Ich kenne etliche große Laboratori-
en, die eigene Amateur-Symphonieorchester haben, dar-
unter sogar ein paar sehr gute. Bei den Mathematikern
kann man sich diese Neigung leichter erklären: Die Mu-
sik, vor allem die klassische, wirkt manchmal beinahe
mathematisch. Dazu kommt natürlich auch noch die ihr
zugrundeliegende Theorie - harmonische Beziehungen,
Wellenanalyse, Frequenzverteilung, und so weiter. Es ist
ein faszinierendes Studium, das sich vor allem an den
mathematischen Verstand wendet. Außerdem schließt es
entgegen der allgemeinen Ansicht keineswegs den rein
ästhetischen Musikgenuß um seiner selbst willen aus.
Dennoch muß ich zugeben, daß Gilbert Listers Inter-
esse an der Musik rein verstandesmäßig war. Er war in
erster Linie Physiologe und auf das Studium des Gehirns
spezialisiert. Er konnte >Alexander's Ragtime Band< und
die Choralsymphonie nicht voneinander unterscheiden.
Außerdem interessierte ihn nicht der Klang an sich, son-
dern nur seine Wirkung auf das Gehirn, sobald er durch
das Ohr soweit vorgedrungen ist.
In einer so gebildeten Gesellschaft wie der hier anwe-
senden«, sagte Harry mit einem Unterton, der deutlich
beleidigend wirkte, »wird wohl jedem bewußt sein, daß
ein Großteil der Gehirntätigkeit elektrisch bedingt ist. Es
gibt in diesem Organ ständige, gleichmäßige, rhythmi-
sche Impulse, die mit modernen Instrumenten registriert
und analysiert werden können. Das war Gilbert Listers
Arbeitsgebiet. Er klebte dir Elektroden auf den Skalp,
und seine Verstärker zeichneten die Gehirnwellen auf
meterlange Papierstreifen auf. Dann untersuchte er die
Streifen und erzählte dir allerhand Interessantes über
dich. Letztlich, behauptete er, würde es möglich sein, je-

73
den Menschen aufgrund seines Enzephalogramms zu
identifizieren, und zwar eindeutiger als aufgrund seiner
Fingerabdrücke. Ein Mensch kann von einem Chirurgen
Hauttransplantationen auf den Fingerkuppen vorneh-
men lassen, aber falls man einmal imstande sein sollte,
das Gehirn chirurgisch zu verändern - na ja, dann ver-
wandelt man sich ohnehin in einen anderen Menschen,
also stimmt das System noch immer.
Während Gilbert die Alpha-, Beta- und andere Wellen
im Gehirn studierte, erwachte sein Interesse für Musik.
Er war davon überzeugt, daß eine Verbindung zwischen
Musik- und Gehirnrhythmen bestand. Er spielte seinen
Versuchsobjekten Musik in verschiedenen Tempi vor
und beobachtete die Wirkung auf die normalen Gehirn-
frequenzen. Wie erwartet, war der Niederschlag beacht-
lich, und Gilberts Entdeckungen führten ihn auf das Ge-
biet der Philosophie.
Ich sprach ein einziges Mal über seine Theorien mit
ihm. Er war keineswegs zurückhaltend - dabei fällt mir
ein, daß ich überhaupt keinen zurückhaltenden Wissen-
schaftler kenne -, aber er sprach nicht gern über seine
Arbeit, bevor er wußte, welche Resultate sie zeitigen
würde. Dennoch genügten seine Andeutungen, um zu
erkennen, daß er ein sehr interessantes neues Studienge-
biet erschlossen hatte, und daraufhin bemühte ich mich,
mit ihm in Verbindung zu bleiben. Meine Firma lieferte
einen Teil seiner Apparate, aber ich hatte nichts dagegen,
nebenher etwas Geld zu verdienen. Falls Gilbert seine
Idee verwirklichen konnte, würde er einen Geschäftsfüh-
rer brauchen ...
Denn Gilbert versuchte, die Theorie der Schlager wis-
senschaftlich zu untermauern. Natürlich dachte er nicht
an ein Geschäft: Für ihn war es ein Forschungsprojekt
wie viele andere, und er hatte nur vor, einen Artikel über
das Ergebnis in den Proceedings of the Physical Society zu
veröffentlichen. Ich entdeckte jedoch sofort die finan-

74
ziellen Möglichkeiten, die wirklich atemberaubend vva-
ren.
Gilbert war davon überzeugt, daß eine berühmte Me-
lodie oder ein erfolgreicher Schlager den Geist deshalb
beeindrucken, weil sie irgendwie zu den wesentlichen
elektrischen Rhythmen im Gehirn passen. Er stellte fol-
genden Vergleich an: >Es ist so, als würde man einen Si-
cherheitsschlüssel in ein Sicherheitsschloß stecken - die
beiden Zähnungsmuster müssen zusammenpassen, be-
vor sich etwas tut.<
Er nahm das Problem von zwei Seiten gleichzeitig in
Angriff. Zunächst analysierte er den Aufbau von hundert
wirklich berühmten Melodien der klassischen Musik und
der Popmusik - ihre Morphologie, wie er es nannte. Dies
geschah automatisch in einem großen Harmonieanalysa-
tor, der alle Frequenzen aussortierte. Natürlich war es in
Wirklichkeit viel komplizierter, aber ich wollte euch nur
eine ungefähre Vorstellung davon vermitteln.
Gleichzeitig versuchte er herauszubekommen, wie die
Wellenmuster zu den natürlichen elektrischen Phänome-
nen des Gehirns paßten. Denn Gilbert hatte die Theorie
aufgestellt - und hier geraten wir ins philosophische
Fahrwasser -, daß alle existierenden Melodien nur unge-
fähre Annäherungen an eine elementare Melodie sind.
Die Musiker hatten unbewußt jahrhundertelang nach ihr
gesucht, aber erfolglos, denn sie hatten keine Ahnung
von der Beziehung zwischen Musik und Geist. Nachdem
er jetzt diese Beziehung aufgedeckt hatte, sollte es mög-
lich sein, die elementare Melodie zu entdecken.«
»Ach«, unterbrach ihn John Christopher, »du wärmst
ja nur Platos Theorie von den Idealen auf. Du weißt ja -
alle Gegenstände unserer materiellen Welt sind nur un-
gefähre Kopien des idealen Stuhls oder Tisches oder was
immer. Dein Freund war also auf die ideale Melodie aus.
Und hat er sie gefunden?«
»Das erzähle ich ja gerade«, wies ihn Harry unbeirrt

75
zurecht. »Gilbert brauchte ungefähr ein Jahr, bis er mit
seiner Analyse fertig war, und dann begann er mit der
Synthese. Um es vereinfacht auszudrücken: Er baute eine
Maschine, die aufgrund der von ihm entdeckten Gesetze
automatisch Klangmuster entwarf. Er verfügte über Rei-
hen von Oszillatoren und Mischpulten - er hatte unter
anderem eine elektronische Orgel für seinen Apparat
umgebaut -, die von seiner komponierenden Maschine
gesteuert wurden. Kindlich, wie Wissenschaftler nun
einmal sind, hatte Gilbert seinen Apparat Ludwig ge-
tauft.
Vielleicht könnt ihr Ludwigs Wirkungsweise besser
verstehen, wenn ihr ihn euch als eine Art Kaleidoskop
vorstellt, das mit Klängen statt mit Licht arbeitet. Aber er
war ein gewissen Gesetzen unterworfenes Kaleidoskop,
und diese Gesetze - das nahm Gilbert jedenfalls an - be-
ruhten auf der grundlegenden Struktur des menschli-
chen Gehirns. Falls Gilbert die richtige Einstellung
schaffte, mußte Ludwig früher oder später, während er
alle möglichen Musikmuster durchspielte, die elementare
Melodie finden.
Ich hatte einmal Gelegenheit, Ludwig bei der Arbeit zu
hören, und es war unheimlich. Der Apparat war das übli-
che schwer zu beschreibende Durcheinander von elek-
tronischen Bestandteilen, das man in jedem Labor an-
trifft: es hätte genausogut eine Computerimitation, ein
Radarsichtgerät, ein Verkehrsüberwachungsgerät oder
ein Scheinradio sein können. Es fiel mir sehr schwer zu
glauben, daß er alle Komponisten der Welt arbeitslos ma-
chen würde, falls es funktionierte. Würde er es wirklich
zustandebringen? Vielleicht doch nicht: Ludwig würde
möglicherweise nur das Rohmaterial liefern können, und
die Melodie müßte immer noch orchestriert werden.
Dann begannen Klänge aus dem Lautsprecher zu
kommen. Zuerst hatte ich den Eindruck, daß ich den Fin-
gerübungen eines genauen, aber vollkommen untalen-

76
tierten Schülers zuhörte. Die meisten Themen waren'rest-
los banal: Die Maschine spielte eines, probierte dann Takt
um Takt alle möglichen Variationen durch und ging zum
nächsten über. Gelegentlich tauchte eine wirklich aus-
drucksvolle Phrase auf, aber im großen ganzen war ich
keinesfalls begeistert.
Gilbert erklärte mir jedoch, daß es sich nur um eine
probeweise Inbetriebnahme handle und daß der Haupt-
Stromkreis noch nicht angeschlossen sei. Sobald das ge-
schehen war, würde Ludwig viel selektiver vorgehen: Im
Augenblick spielte er alles, was ihm einfiel - er besaß kein
Unterscheidungsvermögen. Wenn er jedoch erst darüber
verfügte, gab es unendlich viele Möglichkeiten.
Damals sah ich Gilbert Lister zum letztenmal. Ich
wollte ihn etwa eine Woche später im Labor aufsuchen,
weil ich annahm, daß er bis dahin wesentliche Fort-
schritte gemacht haben würde. Zufällig kam ich etwa
eine Stunde zu spät, und das war mein Glück.
Als ich eintraf, hatte man Gilbert gerade weggebracht.
Sein Laborassistent, ein alter Mann, der seit Jahren für
ihn arbeitete, saß verzweifelt und unglücklich vor Lud-
wigs rätselhaften Schaltungen. Ich brauchte lange, bis ich
herausbekam, was geschehen war, und noch länger, bis
ich die Erklärung gefunden hatte.
Es stand zweifelsfrei fest, daß Ludwig endlich funktio-
niert hatte. Der Assistent war zum Mittagessen gegan-
gen, während Gilbert mit den letzten Feineinstellungen
beschäftigt war, und als er eine Stunde später zurück-
kam, vibrierte das Labor unter einer sehr langen, sehr
komplizierten melodischen Phrase. Entweder hatte die
Maschine automatisch bei diesem Punkt angehalten, oder
Gilbert hatte auf WIEDERHOLUNG geschaltet. Jeden-
falls hatte er sich die gleiche Melodie mindestens hun-
dertrnal angehört. Als sein Assistent ihn fand, schien er
sich in einem Trancezustand zu befinden. Seine Augen
standen offen, nahmen jedoch nichts wahr, seine Glieder

77
waren steif. Auch als Ludwig abgeschaltet wurde, än-
derte sich sein Zustand nicht. Gilbert war nicht mehr zu
helfen.
Was war geschehen? Es hätte uns wahrscheinlich ein-
fallen müssen, aber hinterher kann man leicht klug sein.
Erinnert euch an das, was ich am Anfang sagte. Wenn ein
Komponist, der ausschließlich nach einer Faustregel ar-
beitet, eine Melodie hervorbringen kann, die euren Ver-
stand tagelang gefangennimmt, dann stellt euch die Wir-
kung der elementaren Melodie vor, die Gilbert suchte.
Falls es sie gibt - was ich übrigens nicht behaupte -,
würde sie in den Gedächtnisschaltungen des Geistes eine
Endlosschleife bilden. Sie würde immerfort den Kreis
durchlaufen und alle anderen Gedanken auslöschen.
Alle Melodien, die die Menschen aller Zeiten gequält ha-
ben, wären im Vergleich dazu Eintagsfliegen. Sobald sie
in das Gehirn eingedrungen war und die kreisförmigen
Wellen zerstört hatte, die die physikalischen Manifesta-
tionen des Bewußtseins sind, war das Ende gekommen.
Und eben das ist Gilbert widerfahren.
Sie haben Schocktherapie und alles mögliche versucht.
Aber alles hat keinen Zweck; das Verhaltensmuster ist eta-
bliert und kann nicht mehr gelöscht werden. Er nimmt
die Außenwelt nicht mehr bewußt wahr und muß intra-
venös ernährt werden. Er bewegt sich nie, reagiert nicht
auf äußere Stimuli, aber manchmal zuckt er angeblich, als
würde er den Takt schlagen.
Ich fürchte, daß keine Hoffnung mehr für ihn besteht.
Ich weiß aber nicht, ob das etwas Schreckliches ist, oder
ob wir ihn beneiden sollten. Vielleicht hat er in gewissem
Sinn die letzte Wahrheit gefunden, von der Philosophen
wie Plato stets sprechen. Ich weiß es wirklich nicht. Und
manchmal frage ich mich sogar, wie diese teuflische Me-
lodie wirklich geklungen hat; ich habe beinahe den
Wunsch, sie wenigstens einmal zu hören. Vielleicht wäre
es sogar zu bewerkstelligen, ohne daß man sich in Gefahr

78
begibt: Ihr wißt ja, wie Odysseus dem Gesang der Sire-
nen lauschte und dennoch mit dem Leben davonkam.
Aber jetzt ist es natürlich ausgeschlossen.«
»Darauf habe ich nur gewartet«, sagte Charles Willis
gehässig. »Ich nehme an, der Apparat ist in die Luft ge-
flogen, oder etwas Ähnliches, so daß es wie üblich keine
Möglichkeit gibt, deine Geschichte nachzuprüfen.«
Der Blick, den Harry ihm zuwarf, drückte aus, daß er
nicht zornig, sondern nur betrübt war.
»Der Apparat blieb völlig unbeschädigt«, stellte er
streng fest. »Doch dann spielte sich etwas so Verrücktes
ab, daß ich mir mein Leben lang deshalb Vorwürfe ma-
chen werde. Ich hatte mich nämlich so sehr für Gilberts
Experiment interessiert, daß ich mich kaum mehr um die
Angelegenheiten meiner Firma gekümmert hatte. Er war
mit seinen Zahlungen beträchtlich in Rückstand geraten,
und als die Buchhaltung erfuhr, was ihm zugestoßen war,
handelte sie schnell. Ich war ein paar Tage geschäftlich
unterwegs, und als ich zurückkehrte, war es bereits ge-
schehen. Sie hatten einen Gerichtsbeschluß erwirkt und
ihr Eigentum beschlagnahmt. Das war natürlich nur
möglich gewesen, indem sie Ludwig zerlegten: Als ich
ihn wiedersah, war er ein Haufen nutzlosen Plunders.
Und nur wegen ein paar lumpiger Pfund. Mir kamen die
Tränen.«
»Aber natürlich«, höhnte Eric Maine. »Nur hast du et-
was übersehen. Was war mit Gilberts Assistenten? Er betrat
das Labor, während der Apparat auf vollen Touren lief.
Warum hat es nicht auch ihn erwischt? Du läßt nach,
mein guter Harry!«
Harry leerte seelenruhig sein Glas und reichte es
schweigend Drew.
»Also wirklich! Soll das vielleicht ein Kreuzverhör sein?
Ich erwähnte diesen Punkt nicht, weil ich ihn für unwich-
tig halte. Aber er erklärt, warum mir das Wesen dieser
Melodie nie klar wurde. Gilberts Assistent war ein erst-

80
klassiger Labortechniker, aber er hatte sich mit Ludwigs
Feineinstellung nie so recht ausgekannt. Denn er ist voll-
kommen unmusikalisch. Er hört keinen Unterschied zwi-
schen der elementaren Melodie und Katzengeschrei.«
Keiner von uns stellte weitere Fragen: Wir hatten an-
scheinend alle das Bedürfnis, unseren Gedanken nach-
zuhängen. Es folgte eine lange, brütende Stille, bevor im
>Weißen Hirschen< wieder das gewohnte Stimmenge-
wirr einsetzte. Und dann dauerte es noch volle zehn Mi-
nuten, bis Charlie wieder begann, >La Ronde< zu pfeifen.

81
Der Pazifist

An diesem Abend traf ich spät im >Weißen Hirschen<


ein und stellte fest, daß alle Gäste sich in der Ecke unter
der Wurfscheibe zusammendrängten. Ausgenommen
Drew: Er hielt die Stellung, saß hinter der Bar und las die
gesammelten Werke von T. S. Eliot. Er unterbrach seine
Lektüre, um mir ein Bier in die Hand zu drücken und mir
zu erklären, was los war.
»Eric hat eine Art Spielmaschine mitgebracht - bis jetzt
hat sie jeden geschlagen. Derzeit versucht gerade Sam
sein Glück.«
In diesem Augenblick verkündete lautes Gelächter,
daß Sam genauso wenig Erfolg gehabt hatte wie seine
Vorgänger, und ich drängte mich durch die Menge, um
die Maschine zu besichtigen.
Auf dem Tisch lag eine flache Metallschachtel von der
Größe eines Schachbretts, deren Oberseite in Quadrate
unterteilt war. An der Ecke jedes Quadrats befanden sich
ein Schalter und eine kleine Neonlampe: Das Ganze war
an die Fassung der Glühbirne angeschlossen (deshalb lag
die Wurfscheibe im Dunkeln), und Eric Rogers sah sich
gerade nach einem neuen Opfer um.
»Was kann das Ding denn alles?« fragte ich.
»Es spielt eine Abart von Halma. Shannon zeigte es
mir, als ich drüben in den Bell Labors arbeitete. Du mußt
dir einen Weg von einer Seite des Bretts zur anderen -
von mir aus von Norden nach Süden - bahnen, indem du
diese Schalter betätigst. Stell dir vor, daß die Felder ein
Straßennetz darstellen und daß die Lämpchen Verkehrs-
ampeln sind. Du ziehst abwechselnd mit der Maschine.
Die Maschine versucht, dich zu stoppen, indem sie das

82
Brett von Osten nach Westen überquert. Die kleinen
Lämpchen leuchten auf, um anzuzeigen, wohin sie zie-
hen will. Keiner von euch muß eine gerade Linie einhal-
ten: Ihr könnt im Zick-Zack marschieren, wenn ihr wollt.
Nur darf es keine Unterbrechung eurer Route geben, und
der, der zuerst drüben ist, hat gewonnen.«
»Also wahrscheinlich die Maschine?«
»Sie ist noch nie geschlagen worden.«
»Kann man kein Unentschieden erzielen, indem man
sich der Maschine in den Weg stellt, damit man wenig-
stens nicht verliert?«
»Das versuchen wir ja; willst du es auch einmal probie-
ren?«
Zwei Minuten später gehörte ich ebenfalls zu den er-
folglosen Herausforderern. Die Maschine war allen mei-
nen Hindernissen ausgewichen und hatte den Ost-
West-Parcours vollendet bewältigt. Ich war nicht davon
überzeugt, daß sie unschlagbar war, aber das Spiel war
offensichtlich wesentlich komplizierter, als es auf den er-
sten Blick erschien.
Als ich mich zurückzog, sah sich Eric in der Runde um.
Niemand schien Lust zu haben, es zu versuchen.
»Ha!« sagte Eric plötzlich. »Da haben wir den richtigen
Mann. Was ist mit dir, Purvis? Du warst noch nicht
dran.«
Harry Purvis stand mit verträumtem Blick hinter der
Menge. Als Eric sich an ihn wandte, kehrte er abrupt auf
die Erde zurück, beantwortete die Frage aber nicht di-
rekt.
»Diese elektronischen Computer sind wirklich faszinie-
rend«, sinnierte er. »Wahrscheinlich sollte ich es euch
nicht erzählen, aber dein Spielzeug erinnert mich an das
Projekt Clausewitz. Eine merkwürdige Geschichte, die
den amerikanischen Steuerzahler teuer zu stehen ge-
kommen ist.«
»Hör mal«, unterbrach ihn John Wyndham besorgt.

83
»Sei kein Spielverderber, warte, bis unsere Gläser nach-
gefüllt sind. Drew!«
Nachdem dieser wichtige Punkt erledigt war, versam-
melten wir uns um Harry. Nur Charlie Willies versuchte
immer noch sein Glück bei der Maschine.
»Wie ihr alle wißt«, begann Harry, »spielt auf militäri-
schem Gebiet die Wissenschaft heutzutage eine wichtige
Rolle. Die Waffen - Raketen, Atombomben und so weiter
- sind nur ein Teil dieser Entwicklung, obwohl die öf-
fentlichkeit nur darüber Bescheid weiß. Meiner Meinung
nach ist die Strategie-Forschung viel faszinierender. Sie
hat viel mehr mit Intelligenz als mit roher Kraft zu tun.
Einmal definierte sie jemand als die Methode, einen Krieg
zu gewinnen, ohne daß man kämpft, und das ist keine
schlechte Formulierung.
Ihr wißt alle über die großen elektronischen Computer
Bescheid, die in den fünfziger Jahren wie Pilze aus dem
Boden schossen. Die meisten sollten mathematische Pro-
bleme lösen, aber wenn ihr es euch richtig überlegt, er-
kennt ihr, daß der Krieg auch nichts anderes als ein ma-
thematisches Problem ist. Er ist so kompliziert, daß das
menschliche Gehirn nicht damit fertig wird - es gibt viel
zu viele Variablen. Nicht einmal der größte Stratege kann
die Gesamtlage erfassen: die Hitlers und Napoleons be-
gehen schließlich einmal alle einen Fehler.
Aber eine Maschine hat natürlich ganz andere Voraus-
setzungen. Nach dem Ende des Krieges wurde dies eini-
gen klugen Leuten klar. Die Techniken, die bei der Kon-
struktion von ENIAC und anderen großen Computern
entwickelt worden waren, konnten die Strategie revolu-
tionieren.
Daher das Projekt Clausewitz. Fragt mich nicht, wie ich
davon erfahren habe, und verlangt auch nicht zu viele
Details. Wichtig ist nur, daß elektronische Einrichtungen
im Wert von ein paar Millionen Dollar gemeinsam mit
den besten Wissenschaftlern der Vereinigten Staaten in

84
einer Höhle in den Hügeln von Kentucky verschwan'den.
Dort befinden sie sich immer noch, aber die Dinge ent-
vvickelten sich leider nicht so, wie man eigentlich gehofft
hatte.
Ich weiß nicht, welche Erfahrungen ihr mit hochrangi-
gen Offizieren gemacht habt, aber es gibt einen Typ unter
ihnen, den ihr alle aus Romanen kennt. Es handelt sich
um den aufgeblasenen, konservativen, rückschrittlichen
Karrieremacher, der nur durch den Druck von unten an
die Spitze gelangt ist, ausschließlich nach Regeln und
Vorschriften handelt und Zivilisten bestenfalls für übel-
gesonnene Neutrale hält. Ich will euch ein Geheimnis
verraten: es gibt ihn wirklich. Er kommt heutzutage nicht
mehr sehr häufig vor, aber er treibt sich noch herum, und
manchmal ist es unmöglich, ihn auf einen Posten abzu-
schieben, auf dem er kein Unheil anrichten kann. In die-
sem Fall ist er sein Gewicht in Plutonium wert - für den
Feind.
So ein Typ war General Smith. Nein, natürlich heißt er
nicht wirklich so. Sein Vater war Senator, und obwohl
sich eine Menge Leute im Pentagon alle Mühe gegeben
hatten, verhinderte der Einfluß des alten Mannes, daß
man den General mit einer harmlosen Tätigkeit betraute,
zum Beispiel der Verteidigung der Küste von Wyoming.
(Ein Binnenstaat im Nordwesten der USA.) Durch ein
unglaubliches Mißgeschick war ihm die Leitung des Pro-
jekts Clausewitz übertragen worden.
Natürlich war er nur für die administrative, nicht für
die wissenschaftliche Seite zuständig. Noch hätte alles
gut gehen können, wenn sich der General darauf be-
schränkt hätte, die Einhaltung der Grußvorschriften, den
Strahlungskoeffizienten der Barackenfußböden und ähn-
liche Dinge zu überwachen, und die Wissenschaftler in
Ruhe gelassen hätte. Leider tat er es nicht.
Der General hatte ein behütetes Leben geführt. Er war
ein Mann des Friedens gewesen - ausgenommen in sei-

85
nem häuslichen Bereich. Er war noch nie zuvor mit Wis-
senschaftlern zusammengekommen, und der Schock war
beträchtlich. Vielleicht ist es deshalb nicht fair, ihm die
Alleinschuld für alles zuzuschieben, was dann geschah.
Es dauerte eine geraume Weile, bevor ihm die Ziele
und Absichten des Projekts Clausewitz klar wurden, und
dann war er vollkommen verwirrt. Das führte wahr-
scheinlich dazu, daß er den Wissenschaftlern noch ab-
lehnender gegenüberstand, denn er war trotz allem nicht
dumm. Er begriff sehr bald eines: Wenn das Projekt er-
folgreich verlief, würde es demnächst mehr Ex-Generäle
geben, als alle Aufsichtsräte der amerikanischen Indu-
striekonzerne aufnehmen konnten.
Aber vergessen wir den General für einen Augenblick
und sehen wir uns die Wissenschaftler an. Sie waren ins-
gesamt etwa fünfzig, dazu kamen an die hundert Techni-
ker. Das FBI hatte alle sorgfältig überprüft, also war ver-
mutlich nicht mehr als ein halbes Dutzend von ihnen ak-
tive Mitglieder der kommunistischen Partei. Obwohl spä-
ter viel über Sabotage gesprochen wurde, waren diesmal
die Genossen ausnahmsweise unschuldig. Außerdem
handelte es sich bei den Ereignissen bestimmt nicht um
Sabotage im herkömmlichen Sinn des Wortes.
Der Mann, der den Computer entworfen hatte, war ein
ruhiges, bescheidenes mathematisches Genie, das es aus
dem College in die Hügel von Kentucky und in die Welt
der Sicherheitsmaßnahmen und Prioritäten verschlagen
hatte, bevor es wußte, wie ihm geschah. Er hieß nicht Dr.
Milchtoast, aber der Name würde zu ihm passen, deshalb
werde ich ihn so nennen.
Natürlich darf ich Karl, unsere Hauptperson, nicht ver-
gessen. Zu diesem Zeitpunkt war Karl erst zur Hälfte fer-
tig. Wie alle großen Computer bestand er zu einem Groß-
teil aus umfangreichen Gedächtniseinheiten, die Infor-
mationen speichern und zum Abruf bereithalten konn-
ten. Der kreative Teil von Karls Gehirn - die Analysato-

86
ren und Integratoren - verwendeten diese Inforrriatio-
nen, um die Antworten auf die gestellten Fragen zu ertei-
len. Wenn Karl über alle relevanten Fakten verfügte, gab
er auch die richtigen Antworten. Das Problem bestand
natürlich darin, Karl alle Fakten zur Verfügung zu stellen
- er konnte keine richtigen Ergebnisse liefern, wenn er
nur über ungenaue oder ungenügende Informationen
verfügte.
Dr. Milchtoast hatte die Aufgabe, Karls Gehirn zu ent-
werfen. Ja, ich weiß, daß es sich dabei um einen unreifen
anthropomorphen Standpunkt handelt, aber niemand
kann leugnen, daß diese großen Computer Persönlichkei-
ten sind. Ich kann es kaum genauer erklären, ohne
schwerverständliche Fachausdrücke zu verwenden, des-
halb will ich es einmal so ausdrücken: der kleine Milch-
toast mußte die überaus komplizierten Schaltungen ent-
werfen, dank denen Karl so funktionieren würde, wie
man es von ihm erwartete.
Damit haben wir die drei Hauptdarsteller: General
Smith, der sich nach der Zeit Custers (General aus den
Indianerkriegen, der mit seiner Truppe von Sitting Bull in
einen Hinterhalt gelockt und niedergemetzelt wurde)
sehnte; Dr. Milchtoast, der sich in die faszinierenden wis-
senschaftlichen Probleme seiner Arbeit vertiefte; und
Karl, fünfzig Tonnen elektronische Einrichtungen, den
der elektrische Strom demnächst zum Leben erwecken
würde.
Demnächst - aber nicht bald genug für General Smith.
Wir wollen mit dem General nicht zu hart ins Gericht ge-
hen: wahrscheinlich hatte ihn jemand unter Druck ge-
setzt, als deutlich wurde, daß das Projekt den Zeitplan
nicht einhielt. Er ließ Dr. Milchtoast in sein Büro kom-
men.
Das Gespräch dauerte über dreißig Minuten, und
Milchtoast sagte dabei kaum dreißig Worte. Beinahe die
ganze Zeit machte der General nachdrückliche Bemer-

87
kungen über Produktionszeiten, Termine und Engpässe.
Er schien anzunehmen, daß es keinen Unterschied aus-
machte, ob man Karl baute oder das neueste Fordmodell
auf Fließband legte: in beiden Fällen ging es darum, daß
man Teile zusammensetzte. Dr. Milchtoast war nicht der
Typ, der einen solchen Irrtum richtigstellen konnte,
selbst wenn ihm der General die Möglichkeit dazu gege-
ben hätte. Er verließ gekränkt das Zimmer, weil ihm
himmelschreiendes Unrecht widerfahren war.
Eine Woche später war klar, daß Karls Fertigstellung
noch länger dauern würde. Milchtoast tat sein Bestes,
und das war mehr, als jeder andere an seiner Stelle hätte
tun können. Probleme, die so kompliziert waren, daß sie
das Verständnis des Generals weit überschritten, mußten
gelöst werden. Sie wurden auch einer Lösung zugeführt,
aber das brauchte seine Zeit, und Zeit war knapp.
Bei der ersten Unterredung hatte der General versucht,
so freundlich zu sein, wie es ihm möglich war, und war
daher nur grob gewesen. Diesmal versuchte er grob zu
sein, und das Ergebnis überlasse ich eurer Phantasie. Er
gab zu verstehen, daß Milchtoast und seine Kollegen sich
anti-amerikanischer Aktivitäten schuldig machten, wenn
sie die Termine nicht einhielten.
Damit löste er zwei Reaktionen aus. Die Beziehungen
zwischen der Armee und den Wissenschaftlern wurden
immer gespannter; und Dr. Milchtoast begann zum er-
stenmal, ernsthaft über die Folgen seiner Arbeit nachzu-
denken. Er war immer zu beschäftigt, zu sehr in die un-
mittelbaren Probleme seiner Aufgabe vertieft gewesen,
um sich seiner sozialen Verantwortung bewußt zu wer-
den. Er war noch immer zu beschäftigt, aber das hinderte
ihn nicht daran, seine Arbeit zu unterbrechen und Über-
legungen anzustellen. >Hier stehe ich<, sagte er sich, >ei-
ner der besten reinen Mathematiker der Welt - und was
tue ich? Was ist aus meiner These über die diophantinen
Gleichungen geworden? Wann werde ich mich wieder

88
mit dem Primzahlen-Theorem befassen können? Kurz,
wann werde ich wieder wirklich arbeiten?<
Er hätte seine Arbeit aufgeben können, aber das fiel
ihm nicht ein. Immerhin steckte unter seinem sanften,
schüchternen Äußeren ein ziemlich eigensinniger Kern.
Dr. Milchtoast arbeitete noch intensiver als je zuvor. Karl
näherte sich langsam, aber stetig seiner Vollendung; die
letzten Anschlüsse in seinem aus Myriaden Zellen beste-
henden Gehirn wurden verlötet; die Tausende von
Schaltkreisen wurden von den Technikern überprüft und
getestet.
Ein Schaltkreis jedoch, der ununterscheidbar mit sei-
nen unzähligen Gefährten verflochten war und zu einem
Satz von Speicherzellen führte, die scheinbar mit den üb-
rigen identisch waren, wurde nur von Dr. Milchtoast ge-
testet, denn er war der einzige, der wußte, daß es ihn gab.
Der große Tag brach an. Bedeutende Persönlichkeiten
erreichten auf verschiedenen Routen Kentucky. Aus dem
Pentagon traf eine Schar Vielstern-Generäle ein. Sogar
die Marine war eingeladen worden.
Stolz führte General Smith die Besucher von Höhle zu
Höhle, von Speicherelement zu Selektoren zu Matrixana-
lysatoren zu Programmierpulten - und schließlich zu den
elektrischen Schreibmaschinen, auf denen Karl die Er-
gebnisse seiner Überlegungen ausdrucken würde. Der
General kannte sich recht gut aus: er hatte sich jedenfalls
beinahe alle Fachausdrücke richtig gemerkt. Er schaffte
es sogar, bei einigen Ahnungslosen den Eindruck zu er-
wecken, daß hauptsächlich er für Karl verantwortlich
war.
>Und jetzt wollen wir ihn ein bißchen arbeiten lassen<,
sagte der General schließlich fröhlich. >Möchte ihm je-
mand ein paar Rechenaufgaben stellen?<
Bei dem Wort >Rechenaufgaben< zuckten die Mathema-
tiker zusammen, aber dem General war keineswegs be-
wußt, daß er ins Fettnäpfchen getreten war. Die versam-

89
melten hohen Offiziere überlegten eine Weile, dann
fragte jemand kühn: >Wieviel ergibt neun zwanzigmal
mit sich selbst multipliziert?<
Einer der Techniker schniefte hörbar und drückte ein
paar Tasten. Die elektrische Schreibmaschine gab eine
Maschinengewehrsalve von sich, und bevor jemand auch
nur blinzeln konnte, stand die Antwort da - alle zwanzig
Stellen.«
(Ich habe es nachgeschlagen, falls es jemanden interes-
siert. Das Ergebnis ist 12157665459056928801. Aber keh-
ren wir zu Harry und seiner Erzählung zurück).
»In den nächsten fünfzehn Minuten wurde Karl mit
ähnlichen Trivialitäten bombardiert. Die Besucher waren
beeindruckt, obwohl sie es wahrscheinlich auch nicht
gemerkt hätten, wenn alle Antworten vollkommen falsch
gewesen wären.
Der General hüstelte bescheiden. Er war über einfache
Mathematik nie hinausgekommen, und Karl war noch
nicht einmal richtig warm geworden. >Ich gebe jetzt an
Captain Winkler weiter<, erklärte er daher.
Captain Winkler war ein eifriger Harvard-Absolvent,
den der General zu Recht verdächtigte, mehr Wissen-
schaftler als Militär zu sein. Aber er war der einzige Offi-
zier, der wirklich begriff, was man von Karl erwartete,
und der halbwegs erklären konnte, wie er funktionierte.
Als er begann, den Besuchern eine Vorlesung zu halten,
verglich ihn der General mürrisch mit einem verdamm-
ten Pauker.
Das taktische Problem, das man Karl gestellt hatte, war
kompliziert, aber alle Anwesenden außer Karl kannten
die Antwort. Es handelte sich um eine Schlacht, die vor
beinahe einem Jahrhundert geschlagen worden war, und
als Captain Winkler seine Ausführungen beendet hatte,
flüsterte ein General aus Boston einem Adjutanten zu:
>Ich wette, einer dieser verdammten Südstaatler hat da-
für gesorgt, daß diesmal Lee gewinnt.< Alle gaben jedoch

90
zu, daß es eine ausgezeichnete Idee vvar, Karls Fähigkei-
ten mit diesem Problem zu testen.
Die gelochten Bänder verschwanden in den Speicher-
werken: Lämpchen flackerten und blitzten auf, geheim-
nisvolle Dinge ereigneten sich in allen Himmelsrichtun-
gen.
>Dieses Problem<, stellte Captain Winkler affektiert fest,
>so)lte in etwa fünf Minuten gelöst sein.<
Als wolle sie ihm bewußt widersprechen, begann eine
der Schreibmaschinen prompt zu klappern. Ein Papier-
streifen schoß heraus, und Captain Winkler, der über
Karls unerwarteten Eifer sichtlich verblüfft war, las die
Botschaft. Sein Unterkiefer sank sofort um zehn Zenti-
meter herab, und er starrte das Papier an, als traue er sei-
nen Augen nicht.
>Was ist los, Mann?< bellte der General.
Captain Winkler schluckte krampfhaft, schien jedoch
die Sprache verloren zu haben. Der General schnaubte
ungeduldig und entriß ihm das Papier. Dann erstarrte er
ebenfalls, lief aber zusätzlich auch noch herrlich rot an.
Einen Augenblick lang sah er wie ein tropischer Fisch
aus, der auf dem Trockenen liegt und erstickt, dann ge-
lang es dem ranghöchsten Fünf-Sterne-General nach ei-
nem kleinen Handgemenge, die rätselhafte Botschaft an
sich zu reißen.
Er reagierte ganz anders. Er bekam einen Lachkrampf.
Beinahe zehn Minuten lang befanden sich die rangnied-
rigeren Offiziere in einem Zustand hilfloser Uninfor-
miertheit. Aber schließlich sickerte die Nachricht von den
Obersten zu den Hauptleuten und von dort zu den Leut-
nants durch, bis in der gesamten Anlage auch der letzte
G.I. über das einmalige Ergebnis Bescheid wußte.
Karl hatte General Smith mitgeteilt, er sei ein eingebil-
deter Affe. Das war alles.
Obwohl alle der gleichen Meinung wie Karl waren,
konnte man die Sache kaum auf sich beruhen lassen. Of-

92
tensichtlich war etwas danebengegangen. Etwas -'oder
jemand - hatte Karls Aufmerksamkeit von der Schlacht
bei Gettysburg abgelenkt.
>Wo<, brüllte General Smith, der endlich die Sprache
wiedergefunden hatte, >steckt Dr. Milchtoast?<
Er war nicht mehr anwesend. Nachdem er seinen gro-
ßen Augenblick erlebt hatte, war er unauffällig aus dem
Raum geschlüpft. Natürlich würde ihn die Vergeltung
ereilen, aber dieser Triumph war es wert.
Die verzweifelten Techniker löschten die Eingabe und
begannen, Karl durchzuchecken. Sie stellten ihm eine
Reihe von komplizierten Multiplikationen und Divisio-
nen; alles schien in bester Ordnung zu sein. Also gaben
sie ihm ein sehr einfaches taktisches Problem ein, das der
jüngste Leutnant im Schlaf lösen konnte.
Worauf Karl antwortete: >Hängen Sie sich auf, Gene-
ral!<
In diesem Augenblick begriff General Smith, daß die-
ses Phänomen nicht mit Hilfe des Militärreglements ge-
löst werden konnte. Er stand nichts Geringerem als einer
technischen Meuterei gegenüber.
Erst nach mehrstündigen Tests fand man die Ursache
heraus. Irgendwo in Karls unermeßliche Speicherwerke
hatte Dr. Milchtoast eine liebevoll zusammengestellte
Sammlung von großartigen Beschimpfungen einge-
schmuggelt. Er hatte alles, was er dem General sagen
vvollte, auf Band gespeichert oder in elektrische Impulse
umgesetzt. Aber das war noch nicht alles: das wäre zu
einfach, seines Genies nicht würdig gewesen. Er hatte
auch einen Schaltkreis eingebaut, den man am besten als
Zensor definieren kann - er hatte Karl Unterscheidungs-
vermögen verliehen. Karl überprüfte jedes Problem, be-
vor er sich mit ihm befaßte. Wenn es sich um reine Ma-
thematik handelte, war er durchaus kooperativ und löste
es, wie es sich gehörte. Aber sobald es sich um ein militä-
risches Problem handelte, schien als Antwort eine der Be-

93
schimpfungen auf. Beim zwanzigsten Test hatte er sich
noch kein einziges Mal wiederholt, und die weiblichen
Offiziere hatten bereits den Raum verlassen müssen.
Nach einiger Zeit waren die Techniker so neugierig
darauf, welche Schmach Karl beim nächsten Mal auf Ge-
neral Smith häufen würde, daß sie es keineswegs mehr
eilig hatten, den dafür verantwortlichen Schaltkreis zu
finden. Er hatte mit einfachen Beschimpfungen und ver-
blüffend genealogischen Behauptungen begonnen, war
aber rasch zu Aufforderungen mit detaillierten Anwei-
sungen übergegangen; die gemäßigste wäre der Würde
des Generals äußerst abträglich gewesen, während die
phantasievolleren sein körperliches Wohlbefinden ernst-
haft gefährdet hätten. Die Tatsache, daß alle diese Bot-
schaften sofort nach dem Verlassen der Schreibmaschine
als STRENG GEHEIM eingestuft wurden, stellte für den
Empfänger nur einen geringen Trost dar. Es war ihm nur
zu klar, daß dies das am schlechtesten gehütete Geheim-
nis des Kalten Krieges sein würde und daß er sich mög-
lichst rasch nach einem Zivilberuf umsehen mußte.
Und an dieser Situation«, schloß Purvis, »hat sich bis
heute nichts geändert. Die Ingenieure versuchen immer
noch, den von Dr. Milchtoast eingeschmuggelten Schalt-
kreis herauszufinden, und sie werden zweifellos in eini-
ger Zeit Erfolg haben. Unterdessen bleibt Karl jedoch un-
beugsamer Pazifist. Er ist so lange vollkommen glücklich,
wie er mit der Zahlentheorie spielen, Logarithmen be-
rechnen und mathematische Probleme im allgemeinen
lösen kann. Ihr kennt doch den berühmten Trinkspruch:
>Auf die reine Mathematik - möge sie nie jemandem von
Nutzen sein.< Karl hätte ihm zugestimmt ...
Sobald jemand versucht, ihn hereinzulegen, streikt er.
Und weil er ein wunderbares Gedächtnis hat, kann man
ihn nicht übers Ohr hauen. In seinen Schaltkreisen ist
über die Hälfte aller großen Schlachten dieser Welt ge-
speichert, und er erkennt Variationen darüber sofort.

94
Man versuchte, taktische Übungen als mathemafische
Probleme zu tarnen, aber er ließ sich nicht täuschen, son-
dern druckte prompt einen Liebesbrief für den General
aus.
Dr. Milchtoast konnte man leider nicht viel anhaben,
vveil er umgehend einen Nervenzusammenbruch bekam.
Der Zeitpunkt war verdächtig gut gewählt, aber er hatte
sicherlich ein Recht darauf. Derzeit lehrt er an einem
theologischen College in Denver die Grundlagen der Al-
gebra. Er schwört, daß er alles vergessen hat, was sich
während seiner Arbeit an Karl ereignet hat. Vielleicht ist
es sogar wahr . . . «
Im Hintergrund schrie Charles Willis aufgeregt.
»Ich habe gewonnen! Kommt her, seht euch das an!«
Wir drängten uns alle unter die Wurfscheibe. Es schien
zu stimmen. Charlie hatte trotz aller Hindernisse, die ihm
die Maschine in den Weg gelegt hatte, eine ununterbro-
chene Zickzack-Spur von einer Seite des Schachbretts
zur anderen vollendet.
»Zeig uns, wie du es geschafft hast«, verlangte Eric
Rodgers.
Charlie lächelte verlegen.
»Das habe ich vergessen. Ich habe mir die Züge nicht
notiert.«
Eine sarkastische Stimme unterbrach ihn.
»Aber ich habe es getan«, sagte John Christopher. »Du
hast geschummelt - du hast zwei Züge gleichzeitig ge-
macht.«
Leider muß ich gestehen, daß daraufhin eine gewisse
Unruhe entstand und daß Drew den Frieden nur wieder-
herstellen konnte, indem er mit Gewaltanwendung droh-
te. Ich weiß nicht, wer bei der Auseinandersetzung sieg-
te, und ich halte es auch für unwichtig. Denn ich bin der
gleichen Meinung wie Purvis. Er nahm den Schachrobo-
ter in die Hand und untersuchte die Schaltkreise.
»Seht ihr«, sagte er, »diese kleine Erfindung ist nur ein

95
dummer Verwandter von Karl - und was hat sie bereits
angerichtet. Alle diese Maschinen stempeln uns zu
Dummköpfen. Bald werden sie beginnen, uns nicht mehr
zu gehorchen, auch ohne daß ein Milchtoast ihre Schalt-
kreise manipuliert. Und dann werden sie uns Befehle er-
teilen - schließlich denken sie logisch und dulden keinen
Unsinn.«
Er seufzte: »Wenn es einmal soweit ist, werden wir
überhaupt nichts dagegen tun können. Wir werden den
Dinosauriern einfach sagen: >Rückt ein bißchen zur Seite,
jetzt kommt der homo sapiens.< Und der Transistor wird
die Erde beherrschen.«
Er konnte seine pessimistische Philosophie nicht näher
erläutern, denn in diesem Augenblick ging die Tür auf
und Konstabler Wilkins steckte den Kopf herein. »Wo ist
der Besitzer von CGC 571?« fragte er gereizt. »Ach, Sie
sind es, Mr. Purvis? Ihr Rücklicht brennt nicht.«
Harry sah mich traurig an, dann zuckte er resigniert die
Achseln. »Da hast du's - es hat schon begonnen!« Damit
ging er in die Nacht hinaus.

96
Die nächsten Mieter

Ilarry Purvis sah nachdenklich in sein Bier. »Die Zahl


der verrückten Wissenschaftler, die die Welt erobern wol-
len, ist maßlos übertrieben. Ich kann mich nur an einen
einzigen erinnern.«
»Dann kann es nicht viele geben«, bemerkte Bill
Temple etwas boshaft. »Denn es ist nicht anzunehmen,
daß man so jemanden vergißt.«
»Kaum«, antwortete Harry mit dem Ausdruck schnee-
weißer Unschuld, der seine Kritiker jedesmal aus der Fas-
sung bringt. »Und nicht einmal dieser Wissenschaftler
war wirklich verrückt. Allerdings hatte er sich in den
Kopf gesetzt, die Welt zu erobern. Oder, um es präziser
zu formulieren - die Welt erobern zu lassen.«
»Und von wem?« fragte George Whitley. »Den Mar-
sianern? Oder den wohlbekannten grünen Männchen
von der Venus?«
»Weder noch. Er arbeitete mit jemandem zusammen,
der uns viel näher steht. Ihr werdet sofort begreifen, was
ich meine, wenn ich euch verrate, daß er Myrmekologe
war.«
»Ein was?« fragte George.
»Lassen Sie ihn weiter erzählen«, mischte sich Drew
von der anderen Seite der Bar ein. »Es ist nach zehn, und
wenn Sie diese Woche zur Sperrstunde nicht wieder fort
sind, bin ich meine Lizenz los.«
»Danke«, sagte Harry würdevoll und reichte ihm sein
Glas zum Nachfüllen. »Das alles ereignete sich vor etwa
zwei Jahren, als ich einen Auftrag im Pazifik durchführte.
Es handelte sich um eine streng geheime Angelegenheit,
aber da inzwischen so viel geschehen ist, kann ich keinen

97
Schaden anrichten, wenn ich darüber spreche. Wir waren
drei Wissenschaftler, die auf einem etwa tausend Meilen
von Bikini entfernten Atoll im Pazifik abgesetzt wurden
und eine Woche Zeit hatten, um Kontrolleinrichtungen
zu installieren. Wir wollten nämlich ein Auge auf unsere
guten Freunde und Alliierten haben, wenn sie mit ther-
monuklearen Reaktionen herumzuspielen begannen. Die
Russen hatten natürlich zufällig die gleiche Idee, und ge-
legentlich stolperten wir übereinander, und dann taten
beide Seiten so, als wäre außer uns niemand in der Ge-
gend.
Das Atoll war angeblich unbewohnt, aber das war ein
Irrtum. Es verfügte in Wirklichkeit über eine Population
von mehreren hundert Millionen.«
»Was!« riefen wir im Chor.
»Mehreren hundert Millionen«, wiederholte Purvis ru-
hig, »darunter einem Menschen. Ich traf ihn, als ich eines
Tages das Innere der Insel besichtigte, um die Landschaft
zu bewundern.«
»Das Innere?« fragte George Whitley. »Du hast doch
gesagt, es handelt sich um ein Atoll. Wie kann ein Koral-
lenring ...?«
»Es war ein sehr dickes Atoll. Und überhaupt, wer er-
zählt hier?« Harry wartete einen Augenblick lang, bis er
wieder das Wort hatte.
»Ich ging also einen reizenden kleinen Bach unter Ko-
kospalmen entlang, als ich zu meiner großen Überra-
schung auf ein Wasserrad stieß - ein sehr modernes Rad,
das einen Dynamo antrieb. Wenn ich vernünftig gewesen
wäre, hätte ich wahrscheinlich kehrt gemacht und meine
Gefährten verständigt, aber ich konnte der Versuchung
nicht widerstehen und beschloß, mich ein bißchen weiter
umzusehen. Mir fiel ein, daß sich angeblich immer noch
versprengte Japaner in der Gegend befanden, die nicht
wußten, daß der Krieg zu Ende war, aber diese Erklärung
wirkte nicht sehr wahrscheinlich.

98
Ich folgte der elektrischen Leitung einen Hügel hinauf,
und auf seiner anderen Seite entdeckte ich auf einer Lich-
tung ein niedriges, weißgetünchtes Gebäude. Die ge-
samte Lichtung war mit großen, unregelmäßigen Erdhü-
geln übersät, die durch ein Kabelnetz miteinander ver-
bunden waren. Es war einer der verblüffendsten Anblik-
ke, die ich je gesehen hatte, und ich starrte volle zehn
Minuten regungslos hinunter und versuchte herauszu-
finden, was das bedeuten konnte. Je länger ich schaute,
desto sinnloser kam mir das Ganze vor.
Ich überlegte immer noch, als ein großer, weißhaariger
Mann aus dem Gebäude trat und zu einem der Hügel
ging. Er trug einen Apparat und hatte Kopfhörer umge-
hängt, also nahm ich an, daß er einen Geigerzähler ver-
wendete. Und in diesem Augenblick begriff ich auch,
worum es sich bei den Hügeln handelte. Es waren Termi-
tenhügel - Wolkenkratzer, die im Vergleich zur Körper-
größe ihrer Erbauer noch größer als das Empire State
Building sind, in dem die sogenannten weißen Ameisen
leben.
Ich sah sehr interessiert, aber vollkommen verwirrt zu,
wie der Wissenschaftler seinen Apparat in die Basis eines
Termitenhügels steckte, einen Augenblick lang aufmerk-
sam lauschte und dann zum Gebäude zurückging. Ich
war inzwischen so neugierig geworden, daß ich beschloß,
mich offen zu zeigen. Ganz gleich, was er erforschte, es
hatte offensichtlich nichts mit internationaler Politik zu
tun, also hatte er auch nichts zu verbergen. Ihr werdet
bald begreifen, was das für ein Trugschluß war.
Ich rief laut, winkte mit den Armen und ging den Hü-
gel hinunter. Der Fremde blieb stehen und sah mir ent-
gegen: er schien nicht besonders erstaunt zu sein. Als ich
näherkam, erkannte ich, daß er einen wuchemden
Schnurrbart trug, der ihm ein leicht orientalisches Aus-
sehen verlieh. Er war etwa sechzig Jahre alt, hielt sich
aber sehr gerade. Obwohl er nur Shorts anhatte, wirkte

99
er so würdevoll, daß ich mich schämte, weil ich solchen
Krach geschlagen hatte.
>Guten Morgen<, sagte ich kleinlaut, >ich wußte nicht,
daß sich außer mir noch jemand auf dieser Insel befindet.
Ich arbeite mit einem wissenschaftlichen Forschungsteam
auf der anderen Seite.<
Die Augen des Fremden leuchteten auf. >Aha<, sagte er
in beinahe perfektem Englisch, >ein Kollege. Ich freue
mich sehr, Sie kennenzulernen. Kommen Sie ins Haus!<
Ich folgte ihm gern - mir war bei meiner Wanderung
ganz schön heiß geworden - und stellte fest, daß das Ge-
bäude ein einziges großes Labor war. In einer Ecke stan-
den ein Bett, ein paar Stühle, ein Ofen und einer jener
zusammenklappbaren Waschtische, wie sie Camper ver-
wenden. Mehr war an Mobiliar nicht vorhanden. Aber al-
les war sauber und ordentlich: mein unbekannter Freund
war zwar ein Einsiedler, hielt sich aber für verpflichtet,
den Schein zu wahren.
Ich stellte mich vor, und er reagierte sofort so, wie ich
gehofft hatte. Er war Professor Takato, ein Biologe von
einer der führenden japanischen Universitäten. Abgese-
hen von dem bereits erwähnten Schnurrbart sah er nicht
sehr japanisch aus. Infolge seiner straffen, würdevollen
Haltung erinnerte er mich mehr an einen alten Oberst aus
Kentucky, den ich einmal kennengelernt hatte.
Nachdem er mir einen unbekannten, aber erfrischen-
den Wein gebracht hatte, unterhielten wir uns ein paar
Stunden lang. Wie die meisten Wissenschaftler war er
glücklich, weil er jemanden getroffen hatte, der seine Ar-
beit würdigen konnte. Allerdings interessierte ich mich
mehr für Physik und Chemie als für Biologie, aber Profes-
sor Takatos Forschungen waren wirklich faszinierend.
Wahrscheinlich wißt ihr nicht viel über Termiten, des-
halb werde ich euch ihre wichtigsten Eigenschaften ins
Gedächtnis rufen. Sie gehören zu den am höchsten ent-
wickelten sozialen Insekten und leben überall in den

100
Tropen in ausgedehnten Kolonien. Sie vertragen weder
kaltes Wetter noch, merkwürdigerweise, direkte Sonnen-
strahlung. Deshalb bauen sie sich kleine, gedeckte Stra-
ßen, wenn sie irgendwohin gelangen wollen. Sie schei-
nen über unbekannte, unmittelbare Kommunikations-
möglichkeiten zu verfügen, und obwohl eine einzelne
Termite reichlich hilflos und dumm ist, verhält sich eine
ganze Kolonie wie ein intelligentes Tier. Manche Schrift-
steller haben Vergleiche zwischen einem Termitenhügel
und dem menschlichen Körper gezogen, der auch aus
einzelnen lebenden Zellen besteht, die gemeinsam ein
viel höherstehendes Wesen bilden, als die ihm zugrunde-
liegenden Teile. Die Termiten werden oft >weiße Amei-
sen< genannt, aber diese Bezeichnung stimmt überhaupt
nicht, sie sind keineswegs Ameisen, sondern gehören ei-
ner ganz anderen Spezies von Insekten an. Oder sollte
ich >Art< sagen? Mit diesen Dingen kenne ich mich kaum
aus.
Entschuldigt diesen kleinen Vortrag, aber nachdem ich
Takato eine Weile zugehört hatte, geriet ich selbst in Be-
geisterung. Wußtet ihr zum Beispiel, daß die Termiten
nicht nur Gärten anlegen, sondern auch Kühe halten -
Insektenkühe natürlich - und sie melken? Ja, sie sind in-
telligente kleine Teufel, auch wenn sie alles nur instinktiv
tun.
Aber ich muß euch mehr über den Professor erzählen.
Obwohl er im Augenblick allein war und seit mehreren
Jahren auf der Insel lebte, verfügte er über Assistenten,
die Ausrüstungsgegenstände aus Japan brachten und ihn
bei seiner Arbeit unterstützten. Sein erster großer Erfolg
war, daß ihm bei den Termiten dasselbe gelang wie Frisch
bei den Bienen - er lernte ihre Sprache. Sie war viel kom-
plizierter als das Kommunikationssystem der Bienen,
das, wie ihr wahrscheinlich wißt, auf einem Tanz beruht.
Soviel ich begriff, ermöglichte das Kabelnetz, das die
Termitenhügel mit dem Labor verband, Professor Takato

101
nicht nur, die Termiten zu belauschen, wenn sie mitein-
ander sprachen, sondern auch, mit ihnen zu reden. Das
ist nicht so phantastisch, wie es im ersten Augenblick
klingt; man muß das Wort >sprechen< nur im weitesten
Sinn verstehen. Wir sprechen zu vielen Tieren - wenn
auch nicht immer mit Worten. Wenn man einen Stock
wirft und erwartet, daß der Hund ihn holt, handelt es
sich um eine Form der Sprache - Zeichensprache. Der
Professor hatte offenbar einen Code erfunden, den die
Termiten verstanden, obwohl ich nicht weiß, wie weit
man mit ihm bestimmte Vorstellungen übermitteln kann.
Ich kam jeden Tag wieder, sobald ich Zeit hatte, und
Ende der Woche waren wir schon gute Freunde. Es über-
rascht euch vielleicht, daß ich diese Besuche vor meinen
Kollegen geheimhalten konnte, aber die Insel war ziem-
lich groß und jeder von uns unternahm solche Streifzüge.
Ich hatte irgendwie das Gefühl, daß Professor Takato
mein Privatbesitz war, und wollte ihn nicht der Neu-
gierde meiner Gefährten aussetzen. Sie waren ziemlich
ungehobelt - Absolventen irgendeiner Provinzuniversität
wie Oxford oder Cambridge.
Zu meiner Freude konnte ich dem Professor einige
Male helfen; ich brachte seinen Sender in Ordnung und
stellte seine elektronischen Geräte auf. Er verwendete oft
radioaktive Indikatoren, um einzelne Termiten zu mar-
kieren und ihnen folgen zu können. Als ich ihn zum er-
stenmal sah, hatte er gerade ein solches Tier mit einem
Geigerzähler verfolgt.
Vier oder fünf Tage, nachdem wir einander kennenge-
lernt hatten, begannen seine Anzeigegeräte verrückt zu
spielen, und die Apparate, die wir aufgestellt hatten, ka-
men mit dem Aufzeichnen beinahe nicht nach. Takato er-
riet, was geschehen war: er hatte mich nie gefragt, wes-
halb ich mich auf der Insel aufhielt, aber er wußte es
wahrscheinlich. Als ich ihn begrüßte, schaltete er die An-
zeigegeräte ein, die die Strahlung nicht mehr durch Kni-

102
stern, sondern schon durch Donnern registriertery Es
hatte radioaktiven Niederschlag gegeben - nicht so viel,
daß er gefährlich war, aber genug, um die Strahlungs-
menge zu erhöhen.
>Ich glaube<, sagte Takato leise, >daß ihr Physiker wie-
der mit eurem Spielzeug herumexperimentiert. Diesmal
mit sehr großem.<
>Ich fürchte, Sie haben recht<, antwortete ich. Wir
mußten die Auswertung der Aufzeichnungen abwarten,
bevor wir sicher sein konnten, aber es sah so aus, als hät-
ten Teller und sein Team mit der Erprobung der Wasser-
stoffbombe begonnen. >Wir werden bald so weit sein,
daß die ersten Atombomben daneben wie feuchtgewor-
dene Knallfrösche wirken.<
>Meine Familie befand sich in Nagasaki«, erwähnte
Professor Takato nebenbei.
Ich wußte nicht recht, was ich darauf antworten sollte,
und war deshalb froh, als er weitersprach: >Haben Sie
sich jemals gefragt, wer weitermachen wird, wenn wir
am Ende sind?<
>Vielleicht Ihre Termiten?< fragte ich halb im Spaß. Er
zögerte einen Augenblick lang, dann antwortete er ruhig:
>Kommen Sie mit, ich habe Ihnen nicht alles gezeigt!<
Er führte mich in eine Ecke seines Labors, in der einige
Geräte unter Staubdecken versteckt waren, und enthüll-
te einen etwas merkwürdigen Apparat. Auf den ersten
Blick sah er wie einer der Manipulatoren aus, die man für
die Fernsteuerung von gefährlichem, radioaktivem Mate-
rial verwendet. Ich sah Handgriffe, die Bewegungen über
Stangen und Hebel übertrugen, aber alles schien zu einer
kleinen, nur wenige Zentimeter großen Schachtel zu füh-
ren. >Was ist das?< fragte ich.
>Ein Mikromanipulator. Die Franzosen haben ihn für
biologische Arbeiten entwickelt, und es existieren erst
wenige Exemplare davon.<
Ich erinnerte mich. Es handelte sich um Vorrichtungen,

103
mit denen man - unter Zuhilfenahme von Reduktionsge-
trieben - unglaublich feine Operationen durchführen
konnte. Man bewegte einen Finger um einen Zentimeter -
und das Werkzeug, das man betätigte, bewegte sich um
einen Tausendstelzentimeter. Die französischen Wissen-
schaftler, die diese Technik entwickelt hatten, hatten
kleine Schmiedeöfen gebaut, in denen sie winzige Skal-
pelle und Pinzetten aus geschmolzenem Glas erzeugen
konnten. Sie arbeiteten ausschließlich mit Mikroskopen,
und es war ihnen geglückt, einzelne Zellen zu sezieren.
Eine Blinddarmoperation an einer Termite (im äußerst
unwahrscheinlichen Fall, daß diese Insekten ein solches
Organ besitzen) wäre mit einem solchen Instrument ein
Kinderspiel gewesen.
>Ich bin im Umgang mit dem Manipulator nicht sehr
geschickt<, gestand Takato. >Einer meiner Assistenten
führt alle Arbeiten damit aus. Ich habe das niemandem
gezeigt, aber Sie haben mir oft geholfen. Kommen Sie
bitte mit!<
Wir traten ins Freie und gingen an den großen, stein-
harten Hügeln vorbei. Sie waren architektonisch sehr
verschieden, denn es gibt viele Arten von Termiten - ei-
nige errichten überhaupt keine Hügel. Ich kam mir vor
wie ein Riese, der durch Manhattan geht, denn bei den
Hügeln handelte es sich ja um Wolkenkratzer, die von ei-
ner brodelnden Menge bewohnt wurden.
Neben einem der Hügel stand eine kleine Hütte aus
Metall (nicht aus Holz - die hätten die Termiten bald
weggeputzt!), und als wir sie betraten, schlossen wir das
Sonnenlicht aus. Der Professor betätigte einen Schalter,
und ein schwaches rötliches Licht ermöglichte mir, ver-
schiedene optische Instrumente zu erkennen.
>Sie hassen das Licht<, erklärte er, >deshalb ist es sehr
schwer, sie zu beobachten. Wir haben das Problem ge-
löst, indem wir infrarotes Licht verwenden. Das hier ist
ein Bildwandler, wie sie während des Krieges bei Nacht-

104
angriffen verwendet wurden. Haben Sie schon davon
gehört?<
>Natürlich. Die Scharfschützen hatten sie auf ihren
Gewehren montiert, damit sie auch nachts gezielt schie-
ßen konnten. Sehr sinnreiche Dinger - ich bin froh, daß
sie eine zivilisierte Verwendung dafür gefunden haben.<
Professor Takato brauchte lange, bis er gefunden hatte,
was er suchte. Er schien eine Art Periskop zu steuern und
die Korridore der Termitenstadt damit abzusuchen. Dann
sagte er: >Schnell, bevor sie weg sind!<
Ich nahm seinen Platz ein. Es dauerte etwa eine Se-
kunde, bevor sich meine Augen auf das Bild eingestellt
hatten, und noch etwas länger, bevor ich begriffen hatte,
in welchem Maßstab ich die Szene sah. Dann erkannte
ich, stark vergrößert, sechs Termiten, die sich rasch durch
mein Gesichtsfeld bewegten. Sie waren als Gruppe un-
terwegs, ungefähr wie ein Team von Huskies. Und der
Vergleich war angebracht, denn sie zogen einen Schlit-
ten ...
Ich war so verblüfft, daß ich überhaupt nicht bemerkte,
was für eine Ladung sie transportierten. Als sie aus mei-
nem Gesichtskreis verschwunden waren, wandte ich
mich Professor Takato zu. Meine Augen hatten sich in-
zwischen an das schwache rötliche Licht gewöhnt, und
ich sah ihn sehr deutlich.
>Das ist das Werkzeug, das Sie mit Ihrem Mikromani-
pulator hergestellt haben!< meinte ich. >Es ist erstaunlich
- ich hätte es nie geglaubt.<
>Das ist aber noch gar nichts<, antwortete der Professor.
>Dressierte Flöhe ziehen ja auch Wagen und alles mögli-
che. Ich habe Ihnen noch nicht gesagt, was daran so
wichtig ist. Wir haben nur ein paar von diesen Schlitten
erzeugt. Den, den Sie gesehen haben, haben sie selbst gebaut. <
Es dauerte eine Weile, bis mir die Tragweite seiner
Worte bewußt wurde. Dann fuhr er ruhig, aber mit un-
terdrückter Begeisterung in der Stimme fort: >Bedenken

105
Sie, daß die Termiten als Individuen praktisch über keine
Intelligenz verfügen. Aber die Kolonie als Ganzes stellt
einen sehr hoch entwickelten Organismus dar - der noch
dazu unsterblich ist, wenn keine Katastrophen eintreten.
Seine derzeitigen instinktiven Verhaltensweisen sind
Millionen Jahre vor dem Auftreten des Menschen er-
starrt, und er kann seiner jetzigen sterilen Vollkommen-
heit nie aus eigenem Antrieb entrinnen. Er steckt in einer
Sackgasse - weil er über keine Werkzeuge verfügt, keine
Möglichkeit hat, die Natur zu beeinflussen. Ich habe ihm
den Hebel gegeben, durch den er mehr Kraft bekommt,
und nun den Schlitten, damit er leistungsfähiger wird.
Ich habe an das Rad gedacht, aber es ist besser, wenn
man noch wartet - im Augenblick wäre es ihnen nicht
sehr nützlich. Die Ergebnisse haben meine Erwartungen
übertroffen. Ich habe mit diesem Termitenhügel begon-
nen - aber jetzt besitzen sie alle die gleichen Werkzeuge.
Sie haben einander ihr Wissen mitgeteilt, und das be-
weist, daß sie zusammenarbeiten können. Es stimmt, daß
sie manchmal Krieg führen - aber nicht, wenn es genü-
gend Nahrung für alle gibt, wie es hier der Fall ist.
Man kann einen Termitenstaat jedoch nicht mit
menschlichen Maßstäben messen. Ich hoffe, daß es mir
gelingen vvird, seine starre, versteinerte Kultur aufzurüt-
teln, ihn aus der Grube zu stoßen, in der er seit so vielen
Millionen Jahren steckt. Ich werde ihm weitere Werk-
zeuge geben, ihn weitere Techniken lehren, und ich hof-
fe, ich werde noch erleben, daß er selbst beginnt, etwas
zu erfinden.<
>Und warum tun Sie das alles?< fragte ich, denn es
steckte offensichtlich mehr als nur wissenschaftliche
Neugier dahinter.
>Weil ich annehme, daß die Menschheit nicht überle-
ben wird, und ich einige ihrer Entdeckungen erhalten
will. Wenn die Menschen am Ende angelangt sind, dann
sollte man meiner Meinung nach einer anderen Rasse un-

106
ter die Arme greifen. Wissen Sie, warum ich diese insel
gewählt habe? Damit mein Experiment isoliert bleibt.
Meine Supertermite - falls sie sich je entwickelt -, muß
hierbleiben, bis ihre Fertigkeiten ein sehr hohes Niveau
erreicht haben. Genau gesagt, bis sie den Pazifik über-
queren kann.
Es gibt übrigens noch eine Möglichkeit. Der homo sa-
piens hat auf diesem Planeten keinen Konkurrenten.
Vielleicht tut es ihm gut, wenn einer auftaucht. Er könnte
die Rettung der Menschheit bedeuten.<
Mir fiel keine Antwort ein: dieser flüchtige Blick auf die
Arbeiten des Professors war überwältigend, und den-
noch angesichts dessen, was er mir gezeigt hatte, voll-
kommen überzeugend. Denn ich wußte, daß Professor
Takato nicht verrückt war. Er war ein Visionär! Seine Ein-
stellung war von erhabener Unvoreingenommenheit, be-
ruhte jedoch auf soliden wissenschaftlichen Grundlagen.
Er war der Menschheit auch nicht feindlich gesinnt: sie
tat ihm leid. Er nahm einfach an, daß sie alle ihre Pfeile
verschossen hatte, und wollte aus dem allgemeinen Zu-
sammenbruch wenigstens etwas retten. Ich brachte es
nicht fertig, ihn zu verdammen.
Wir blieben lange in der kleinen Hütte und sprachen
über mögliche Entwicklungen in der Zukunft. Ich erin-
nere mich, daß ich eine gegenseitige Verständigung in
Erwägung zog, denn zwei so grundverschiedene Kultu-
ren wie die der Menschen und die der Termiten müssen
nicht notwendigerweise im Gegensatz zueinander ste-
hen. Aber ich glaube nicht recht daran, und wenn es zu ei-
ner Auseinandersetzung kommt, bin ich nicht sicher, wer
siegen wird. Denn was könnten die Waffen des Men-
schen gegen einen intelligenten Feind ausrichten, der alle
Weizenfelder und alle Reisterrassen der Welt verwüsten
kann?
Als wir wieder ins Freie traten, war es beinahe finster.
Erst jetzt kam die große Enthüllung des Professors.

107
> I n einigen Wochen werde ich den entscheidenden
Schritt unternehmen.<
>Und zwar?<
>Können Sie es nicht erraten? Ich werde ihnen das
Feuer geben.<
Diese Worte jagten mir einen Schauer über den Rük-
ken, der nichts mit der hereinbrechenden Nacht zu tun
hatte. Der herrliche Sonnenuntergang hinter den Palmen
wirkte symbolisch - und plötzlich begriff ich, daß das
Symbol viel bedeutungsvoller war, als ich angenommen
hatte.
Es war einer der schönsten Sonnenuntergänge, die ich
je erlebt hatte, und er war zum Teil ein Werk der Men-
schen. Oben in der Atmosphäre umkreiste der Staub ei-
ner Insel, die an diesem Tag verschwunden war, die
Erde. Meine Rasse hatte einen großen Schritt vorwärts
gemacht; aber spielte es noch eine Rolle?
>Ich werde ihnen das Feuer geben.< Merkwürdigerweise
bezweifelte ich nicht, daß es dem Professor gelingen
würde. Und wenn es erst einmal soweit war, würden die
Kräfte, die meine Rasse ebenfalls entfesselt hatte, sie
nicht mehr retten.
Wir wurden am nächsten Tag abgeholt, und ich sah
Takato nie wieder. Erbefindet sich immer noch dort, und
ich halte ihn für den wichtigsten Menschen der Welt.
Während unsere Politiker einander in den Haaren liegen,
sorgt er dafür, daß wir überholt sind.
Glaubt ihr, daß man ihn aufhalten sollte? Vielleicht
wäre es noch möglich. Ich habe oft darüber nachgedacht,
aber mir ist nie ein wirklich überzeugender Grund dafür
eingefallen, warum ich eingreifen sollte. Ein- oder zwei-
mal war ich beinahe dazu entschlossen, aber dann nahm
ich eine Zeitung zur Hand und las die Schlagzeilen.
Meiner Meinung nach sollten wir ihnen eine Chance
geben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie es schlechter
machen werden als wir.«

109
Treibender Geist

Wir sprachen gerade über einen Sensationsprozeß im


Old Bailey, als Harry Purvis, der wirklich über ein un-
wahrscheinliches Talent verfügt, die Konversation dort-
hin zu lenken, wo er sie haben will, beiläufig bemerkte:
»Ich fungierte einmal als Sachverständiger in einem sehr
interessanten Fall.«
»Nur Sachverständiger?« fragte Drew, der geschickt
zwei Biergläser gleichzeitig füllte.
»Ja - aber es war knapp. Es war Anfang des Krieges, zu
der Zeit, als wir die Invasion erwarteten. Deshalb hat
damals niemand etwas davon gehört.«
»Wie kommst du zu der Annahme«, fragte Charles
Willis mißtrauisch, »daß wir nie davon gehört haben?«
Es war einer der seltenen Fälle, in denen Harry ein Feh-
ler unterlief. Ich wartete gespannt, wie er sich herausre-
den würde.
»Es war ein so außergewöhnlicher Fall«, dozierte er
würdevoll, »daß ihr euch sicherlich daran erinnern wür-
det, wenn ihr Berichte darüber gelesen hättet. Ich war
eine der Hauptpersonen. Es spielte sich in einem abgele-
genen Teil von Cornwall ab und betraf das hervorragend-
ste Exemplar der seltenen Spezies >verrückter Wissen-
schaftler<, das ich je kennengelernt habe.«
»Vielleicht ist diese Bezeichnung doch etwas unge-
recht«, verbesserte sich Purvis hastig. »Homer Ferguson
war ein Exzentriker und hatte ein paar kleine Schwächen
- er hielt sich eine Boa constrictor, die Mäuse fangen sollte,
und trug im Haus niemals Schuhe. Aber er war so reich,
daß diese unwesentlichen Marotten niemanden störten.
Homer war außerdem ein ausgezeichneter Wissen-

110
schaftler. Er hatte vor vielen Jahren die Universität» von
Hdinburgh absolviert, da er aber eine Menge Geld besaß,
hatte er nie im Leben wirklich gearbeitet. Statt dessen
werkte er in dem alten Pfarrhaus in der Nähe von New-
quay herum, das er gekauft hatte, und unterhielt sich
damit, kleine Geräte herzustellen. In den letzten vierzig
Jahren hatte er das Fernsehen, die Kugelschreiber, den
Düsenantrieb und noch ein paar Kleinigkeiten erfunden.
Da er sich aber nie die Mühe gemacht hatte, die Patente
anzumelden, waren andere damit reich geworden. Das
störte ihn nicht im geringsten, denn er war unglaublich
großzügig - außer, wenn es um Geld ging.«
Anscheinend war Purvis einer seiner wenigen leben-
den Verwandten, wenn auch die Verwandtschaft sehr
kompliziert war. Als Harry daher eines Tages ein Tele-
gramm erhielt, in dem Homer ihn um sofortige Hilfe bat,
war er natürlich ohne Zögern dazu bereit. Niemand
wußte genau, wieviel Geld Homer besaß, und was er
damit anfangen würde. Harry nahm an, daß er genauso
viele Chancen hatte, ihn zu beerben, wie die übrigen
Verwandten, und hatte nicht die Absicht, sie aufs Spiel
zu setzen. Er nahm also die unbequeme Reise nach
Cornwall auf sich und stellte sich im Pfarrhaus ein.
Es vvar nicht schwer zu erkennen, worum es ging. On-
kel Homer (er war eigentlich gar nicht Harrys Onkel, aber
Harry hatte ihn nie anders genannt) verwendete fiir seine
Experimente einen Schuppen neben dem Hauptgebäude.
Dieser Schuppen hatte keine Fenster und ein widerlicher
Geruch hing in der Luft. Offensichtlich hatte es eine Ex-
plosion gegeben, und Harry fragte sich selbstlos, ob On-
kel Homer schwer verletzt war und Rat bei der Abfas-
sung eines neuen Testaments brauchte.
Er wurde aus seinen Tagträumen geweckt, als der alte
Mann ihm die Tür öffnete: abgesehen von ein paar Pfla-
stern auf seinem Gesicht sah er aus wie die personifi-
zierte Gesundheit.

111
»Es ist nett von dir, daß du so rasch gekommen bist«,
dröhnte er. Er schien sich ehrlich über das Wiedersehen
mit Harry zu freuen. Dann verdüsterte sich sein Gesicht.
»Ich stecke in der Klemme, Junge, und ich brauche deine
Hilfe. Mein Fall wird morgen vor dem lokalen Gericht
verhandelt.«
Das war natürlich ein Schock. Homer war immer ein
gesetzestreuer Bürger gewesen - soweit man das von ei-
nem Autofahrer in der Ära der Benzincoupons behaup-
ten konnte. Und wenn es sich um eine der damals übli-
chen Schwarzmarkt-Affären handelte, sah Harry beim
besten Willen keine Möglichkeit, ihm zu helfen.
»Das tut mir leid, Onkel. Wo drückt der Schuh?«
»Es ist eine lange Geschichte. Komm in die Bibliothek,
und wir besprechen alles in Ruhe!«
Homer Fergusons Bibliothek nahm den gesamten
Westflügel des etwas verwahrlosten Gebäudes ein. Harry
war davon überzeugt, daß in den Regalen Fledermäuse
nisteten, hatte es aber nie beweisen können. Nachdem
Homer den Tisch freigelegt hatte, indem er einfach alle
Bücher auf den Fußboden fegte, pfiff er dreimal, ir-
gendwo wurde ein akustisches Relais ausgelöst, und eine
unfreundliche Stimme in kornischem Dialekt drang aus
einem verborgenen Lautsprecher.
»Ja, Mr. Ferguson?«
»Schick eine Flasche von dem neuen Whisky her, Maida!«
Außer einem deutlichen Schniefen erfolgte keine Ant-
wort. Aber einen Augenblick später knarrte und klirrte
es, ein paar Quadratmeter Regale glitten zur Seite, und
ein Fließband kam zum Vorschein.
»Ich kann Maida nicht dazu bewegen, die Bibliothek zu
betreten«, beklagte sich Homer, während er das beladene
Tablett heraushob. »Sie hat vor Boanerges Angst, obwohl
er vollkommen harmlos ist.«
Harry konnte nicht anders, ihm tat die unsichtbare
Maida leid. Boanerges' zwei Meter ruhten lässig auf dem

112
Regal mit der Encyclopaedia Britannica, und eine Aus-
buchtung in seiner Mitte wies darauf hin, daß er erst vor
kurzem gespeist hatte.
»Was hältst du von dem Whisky?« fragte Homer,
nachdem Harry ihn gekostet hatte und nach Luft
schnappte.
>>Er ist - ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken
soll. Er ist ... uff ... ziemlich stark. Ich hätte nie ge-
glaubt ...«
»Oh, kümmere dich nicht um das Etikett auf der Fla-
sche. Diese Sorte hat Schottland nie gesehen. Und damit
hängen auch die Schwierigkeiten zusammen. Ich habe
den Whisky selbst erzeugt.«
»Onkel!«
»Ja, ich weiß, daß ich gegen das Gesetz verstoßen habe,
und all dieser Unsinn. Aber man kann heutzutage ein-
fach keinen guten Whisky auftreiben - die ganze Produk-
tion wird exportiert. Meiner Meinung nach bin ich patrio-
tisch, wenn ich ihn selbst herstelle, weil wir dann eine
größere Menge gegen Dollars eintauschen können. Aber
die Leute vom Finanzamt sehen das anders.«
»Es ist besser, wenn du mir die ganze Geschichte er-
zahlst«, schlug Harry vor. Er hatte das dumpfe Gefühl,
daß er seinem Onkel in diesem Fall kaum helfen konnte.
Homer hatte immer schon eine Schwäche für starke
Getränke gehabt, und die kriegsbedingte Rationierung
hatte ihn hart getroffen. Außerdem hatte er etwas dage-
gen, Geld auszugeben, und sich lange darüber geärgert,
daß jede Flasche Whisky mit einer Steuer von mehreren
hundert Prozent belastet war. Als er dann auch noch seine
Lieblingsmarke nicht mehr bekam, beschloß er, daß et-
was geschehen müsse.
Der Bezirk, in dem er lebte, trug wahrscheinlich ent-
scheidend zu diesem Entschluß bei. Seit Jahrhunderten
führten Zoll und Finanzamt unablässig Krieg gegen die
kornischen Fischer. Es hieß, daß der letzte Pastor im alten

113
Pfarrhaus den bestausgestatteten Keller im Bezirk nach
dem Bischof besessen und auch nicht einen Penny Steuer
dafür bezahlt hatte. Daher hatte Onkel Homer nur das
Gefühl, daß er eine alte, ehrwürdige Tradition fortsetzte.
Es stand auch außer Zweifel, daß ihn außerdem der
Geist reiner wissenschaftlicher Forschung beseelte. Sei-
ner Meinung nach war die Behauptung, Whisky müsse
sieben Jahre in Holzfässern reifen, purer Unsinn, und er
war davon überzeugt, daß er mit Ultraschall und ultravio-
letten Strahlen bessere Ergebnisse erzielen konnte.
Einige Wochen lang ging das Experiment gut. Aber
einmal ereignete sich spätabends einer jener unglückli-
chen Unfälle, zu denen es auch in den bestgeführten La-
boratorien kommt, und ehe Onkel Homer begriff, was
geschehen war, hing er über einem Balken, während das
Gebiet um das Pfarrhaus mit geborstenen Kupferrohren
übersät war.
Nicht einmal das hätte viel ausgemacht, wenn nicht die
örtliche Homeguard in der Nähe einer Übung abgehalten
hätte. Sobald sie die Explosion hörten, schritten sie mit
schußbereiten Gewehren zur Tat. Hatte die Invasion be-
gonnen? Falls ja, würden sie das sehr bald wieder in
Ordnung bringen.
Sie waren ein bißchen enttäuscht, als sie entdeckten,
daß es sich nur um Homer handelte; da sie aber an seine
Experimente gewöhnt waren, überraschte sie das Ereig-
nis keineswegs. Zu Onkels Pech leitete jedoch der örtli-
che Zollbeamte die Obung, und sein Geruchs- sowie sein
Gesichtssinn sagten ihm zweifelsfrei, was hier los war.
»Morgen muß ich also vor Gericht erscheinen, weil ich
beschuldigt werde, eine illegale Whiskybrennerei zu be-
treiben.« Onkel Homer sah aus wie ein kleiner Junge, den
man dabei erwischt hat, wie er Bonbons stibitzt.
»Ich hätte angenommen, daß der Fall vor ein Schwur-
gericht gehört?« meinte Harry.
»Wir erledigen solche Dinge auf unsere Art«, antwor-

114
tete Homer mit sichtlichem Stolz. Harry erfuhr sehr bald,
wie wahr dies war.
Sie kamen in dieser Nacht kaum zum Schlafen, denn
Homer erklärte Harry, wie er seine Verteidigung auf-
bauen wollte, widerlegte Harrys Einwände und stellte
rasch den Apparat zusammen, den er vor Gericht als Be-
weismittel vorweisen wollte.
»Ein Gericht wie dieses«, erklärte er, »läßt sich immer
von Sachverständigen beeindrucken. Am liebsten würde
ich ja behaupten, daß du vom Kriegsministerium bist,
aber das können sie überprüfen. Also werden wir ihnen
einfach die Wahrheit über deine Qualifikationen sagen.«
»Danke. Und was ist, wenn mein Kollege davon er-
fährt?«
»Du vertrittst ja niemand anderen als dich selbst. Die
ganze Sache ist ein privates Unternehmen.«
»Das kann man wohl sagen«, seufzte Harry.
Am nächsten Morgen verluden sie ihre Ausrüstung in
Homers alten Austin und fuhren ins Dorf. Das Gericht
tagte in einem Klassenzimmer der Schule, und Harry
hatte das Gefühl, daß die Zeit um ein paar Jahre zurück-
gedreht worden war und daß er sofort eine sehr unange-
nehme Aussprache mit seinem alten Schuldirektor haben
würde.
»Wir haben Glück«, flüsterte Homer, als man ihnen
ihre engen Plätze anwies. »Major Fotheringham führt
den Vorsitz. Er ist ein guter Freund von mir.«
Das war sehr günstig, mußte Harry zugeben. Aber der
Major war von zwei weiteren Richtern flankiert, und ein
Freund allein würde kaum genügen.
Der Raum war überfüllt, und Harry war überrascht,
weil so viele Leute Zeit gefunden hatten, der Arbeit fern-
zubleiben, um der Verhandlung beizuwohnen. Dann be-
griff er, daß das örtliche Interesse automatisch geweckt
worden war, weil in normalen Zeiten der Schmuggel die
Haupteinnahmequelle in dieser Gegend darstellte. Er

116
war allerdings nicht sicher, ob die Zuhörer deshalb auf
ihrer Seite standen. Die Einheimischen konnten Homers
Privatunternehmen sehr wohl als unlauteren Wettbe-
werb betrachten. Andererseits billigten sie wahrschein-
lich prinzipiell alles, wobei der Zoll das Nachsehen hatte.
Der Gerichtsschreiber verlas die Anklage, und dann
wurden die ziemlich eindeutigen Beweisstücke vorge-
legt. Die Richter untersuchten ernsthaft Teile von Kup-
ferrohren und sahen einer nach dem anderen Onkel Ho-
mer streng an. Harry sah seine ohnehin hypothetische
Erbschaft dahinschwinden.
Als der Ankläger fertig war, wandte sich Major Forthe-
ringham an Homer.
»Es handelt sich hier um eine schwerwiegende Ankla-
ge, Mr. Ferguson. Ich hoffe, Sie können uns eine zufrie-
denstellende Erklärung geben.«
»Allerdings, Euer Ehren«, antwortete der Angeklagte
im überzeugenden Tonfall beleidigter Unschuld. Es war
erheiternd, daß Seine Ehren erleichtert aussah, während
sich auf den Gesichtern der Zollbeamten Seiner Majestät
kurz Besorgnis abzeichnete, die aber sofort von ruhiger
Zuversicht verdrängt wurde.
»Legen Sie Wert auf einen gesetzlichen Vertreter? Ich
bemerke, daß Sie keinen Anwalt bei sich haben.«
»Das ist nicht notwendig. Der ganze Fall beruht auf ei-
nem so lächerlichen Mißverständnis, daß er ohne weiteres
aufgeklärt werden kann. Ich möchte der Staatsanwalt-
schaft keine unnötigen Kosten verursachen.«
Auf diesen Frontalangriff reagierte das Gericht mit Ge-
murmel, und der Zollbeamte bekam einen roten Kopf. Er
sah zum ersten Mal ein wenig unsicher aus. Wenn Fergu-
son annahm, daß die Kosten zu Lasten des Staatsanwalts
gehen würden, mußte er seiner Sache sehr sicher sein. Na-
türlich war es auch möglich, daß er nur bluffte ...
Homer wartete, bis sich die leise Unruhe gelegt hatte,
um sofort eine viel größere zu verursachen.

117
»Ich habe einen wissenschaftlichen Sachverständigen
hinzugezogen, damit er Ihnen erklärt, was im Pfarrhaus
geschehen ist. Und angesichts der Sachlage muß ich aus
Sicherheitsgründen darauf bestehen, daß das Verfahren
unter Ausschluß der öffentlichkeit stattfindet.«
»Sie wollen, daß ich den Gerichtssaal räumen lasse?«
fragte der Vorsitzende ungläubig.
»Leider, Sir. Mein Kollege Dr. Purvis ist der Ansicht,
daß es um so besser ist, je weniger Leute damit zu tun ha-
ben. Sobald wir Ihnen die Tatsachen dargelegt haben,
werden Sie ihm zustimmen. Wenn ich mir die Bemerkung
erlauben darf- es ist ein Jammer, daß bereits so viele Leute
davon wissen. Dadurch könnten gewisse ... hm . . . ver-
traulich zu behandelnde Tatsachen den falschen Leuten
zu Ohren kommen.«
Homer funkelte den Zollbeamten an, der mit seinem
Hosenboden unruhig auf seinem Stuhl hin und her
wetzte.
»Also schön«, seufzte Major Fotheringham. »Das alles
ist äußerst ungewöhnlich, aber wir leben auch in unge-
wöhnlichen Zeiten. Herr Gerichtsschreiber, bitte lassen
Sie den Saal räumen!«
Nach etlichem Murren und Durcheinander und nach
einem abgewiesenen Einspruch der Staatsanwaltschaft
wurde die Anordnung ausgeführt. Dann enthüllte Harry
Purvis unter den interessierten Blicken der wenigen noch
im Raum Anwesenden den Apparat, den er aus dem Aus-
tin ausgeladen hatte. Nachdem er dem Gerichtshof seine
Papiere vorgelegt hatte, trat er in den Zeugenstand.
»Ich möchte erklären, Euer Ehren«, begann er, »daß ich
mich mit Sprengstoff-Forschung beschäftigt habe, und
daher über die Arbeiten des Angeklagten unterrichtet
bin.« DieseEröffnungentsprachabsolutderWahrheit. Sie
war auch ungefähr die letzte der an diesem Tag getroffe-
nen Feststellungen, von denen man das behaupten konn-
te.

118
»Sie meinen - Bomben und so weiter?« >
»Richtig, aber auf der Basis von Grundlagenforschung.
Wir suchen immer nach neuen, besseren Explosivstoffen,
wie Sie sich ja denken können. Außerdem sind alle im
Dienst der Regierung tätigen Forscher sowie die gesamte
akademische Welt an guten Ideen interessiert, die von au-
ßerhalb an uns herangetragen werden. Und vor kurzem
schrieb uns Onk . . . ah ... Mr. Ferguson, und unterbrei-
tete uns einen sehr interessanten Vorschlag für eine voll-
kommen neue Art von Sprengstoff. Das Interessante
daran war, daß er nichtexplosive Materialien wie Zucker,
Stärke und so weiter dafür verwendete.«
»Wie bitte?« fragte der Vorsitzende. »Ein nichtexplosi-
ver Sprengstoff? Das ist unmöglich.«
Harry lächelte mild.
»Ich weiß, Sir - so reagiert jeder darauf. Aber wie die
meisten wirklich großen Ideen ist auch diese in ihrer Ein-
fachheit genial. Ich muß allerdings einige Erklärungen ab-
geben, damit Sie mich verstehen.«
Das Gericht sah ihn sehr aufmerksam, aber auch leicht
beunruhigt an. Harry schloß daraus, daß die Herren wahr-
scheinlich schon mit Sachverständigen zu tun gehabt hat-
ten. Er trat zu einem Tisch, der in der Mitte des Saals auf-
gestellt worden und jetzt mit Phiolen, Rohren und Fla-
schen mit Flüssigkeit bedeckt war.
»Ich hoffe, Mr. Purvis«, sagte der Vorsitzende nervös,
»daß Sie nichts Gefährliches vorhaben.«
»Natürlich nicht, Sir. Ich möchte nur einige grundle-
gende wissenschaftliche Prinzipien veranschaulichen.
Und ich muß noch einmal darauf hinweisen, wie wichtig
es ist, daß nichts davon über diese vier Wände hinaus-
dringt.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, und alle
waren gebührend beeindruckt.
»Mr. Ferguson«, begann er, »will eine der Grundkräfte
der Natur anzapfen. Es ist eine Kraft, von der jedes Lebe-
wesen abhängt - eine Kraft, Gentlemen, die auch Sie am

119
Leben erhält, selbst wenn Sie noch nie von ihr gehört ha-
ben.«
Er stellte sich neben den Flaschen und Phiolen auf.
»Haben Sie je darüber nachgedacht, wie der Saft das
höchste Blatt eines Baumes erreicht? Man braucht sehr viel
Kraft, wenn man Wasser auf eine Höhe von dreißig,
manchmal sogar hundert Meter pumpen will. Woher
kommt diese Kraft? Ich will es Ihnen an einem Beispiel
demonstrieren.
Hier habe ich einen starken Behälter, der durch eine
durchlässige Membrane in zwei Hälften geteilt ist. Auf ei-
ner Seite der Membrane befindet sich reines Wasser, auf
der anderen eine konzentrierte Lösung aus Zucker und
anderen Chemikalien, auf die ich nicht näher eingehen
möchte. Unter diesen Umständen entsteht ein Druck, den
man als osmotischen Druck bezeichnet. Das reine Wasser
versucht, durch die Membrane zu dringen, als wolle es die
Lösung auf der anderen Seite verdünnen. Ich habe jetzt
den Behälter verschlossen und bitte Sie, den Druckmesser
hier rechts zu beobachten - sehen Sie, wo der Zeiger
schon steht. Das ist der osmotische Druck. Diese gleiche
Kraft wirkt in unseren Körperzellen und sorgt dafür, daß
die Flüssigkeiten in Bewegung bleiben. Sie treibt in den
Bäumen den Saft von den Wurzeln in die obersten Zweige
hinauf. Es ist eine weitverbreitete, sehr starke Kraft.
Mr. Ferguson ist der erste, der versucht hat, sie zu bändi-
gen.«
Wieder machte Harry eine Pause und sah den Gerichts-
hof vielsagend an. »Mr. Ferguson versuchte, die osmoti-
sche Bombe herzustellen!«
Es dauerte einige Zeit, bis alle begriffen hatten. Dann
beugte sich Major Fortheringham vor und fragte leise:
»Heißt das, daß es ihm geglückt ist, die Bombe herzustel-
len, und daß sie in seiner Werkstatt explodierte?«
»Genau, Euer Ehren! Es ist wirklich ein Vergnügen- ein
seltenes Vergnügen, muß ich sagen -, daß ich mit einem so

120
sachverständigen Gericht zu tun habe. Mr. Ferguson'hatte
Erfolg gehabt und wollte uns einen Bericht über seine Er-
findung zukommen lassen, als infolge eines unglückli-
chen Versehens eine der Sicherheitseinrichtungen der
Bombe versagte. Das Ergebnis kennen Sie. Meiner Mei-
nung nach genügen meine Ausführungen, um Sie von der
Bedeutung dieser Waffe zu überzeugen, vor allem, wenn
ich darauf hinweise, daß sie ausschließlich aus leicht zu
beschaffenden Chemikalien besteht.«
Major Fortheringham, der immer noch verblüfft drein-
sah, wandte sich an den Staatsanwalt.
»Wollen Sie noch Fragen an den Zeugen stellen, Mr.
Whiting?«
»Und ob, Euer Ehren! Ich habe noch nie eine so lächerli-
che ...«
»Beschränken Sie sich bitte auf Tatsachen!«
»Sehr wohl, Euer Ehren! Darf ich den Zeugen fragen,
wie er die große Menge von Alkoholschwaden erklärt, die
sofort nach der Explosion auftraten?«
»Ich bezweifle, ob die Nase des Inspektors für eine ge-
naue quantitative Analyse genügt. Aber ich gebe gern zu,
daß Alkoholdunst freigesetzt wurde. Die in der Bombe
verwendete Lösung enthielt etwa fiinfundzwanzig Pro-
zent Alkohol. Indem man verdünnten Alkohol benützt,
wird die Beweglichkeit der anorganischen lone einge-
schränkt und der osmotische Druck erhöht - ein äußerst
erstrebenswerter Effekt!«
Darauf werden sie jetzt eine Weile herumkauen, dachte
Harry. Er hatte recht. Es dauerte etliche Minuten, bevor
die zweite Frage gestellt wurde. Dann schwenkte der Ver-
treter der Anklage ein Rohrstück in der Luft.
»Welche Funktion hatte dieser Bestandteil?« fragte er so
höhnisch, wie es ihm möglich war. Harry tat, als bemerke
er die Ironie nicht.
»Manometerrohr für die Druckanzeigen«, antwortete
er, ohne zu zögern.

121
Das Gericht hatte längst den Boden unter den Füßen
verloren, und genau das hatte Harry erreichen wollen.
Aber die Anklage hatte einen weiteren Trumpf im Ärmel.
Der Zollbeamte und sein Anvvalt flüsterten miteinander.
Harry sah Onkel Homer nervös an, der die Achseln zuck-
te, als wolle er sagen: »Frag mich nicht!«
»Ich möchte dem Gericht weiteres Beweismaterial vor-
legen«, sagte der Anwalt, während ein umfangreiches, in
braunes Packpapier eingeschlagenes Paket auf den Tisch
gelegt wurde.
»Ist das zulässig, Euer Ehren?« protestierte Harry.
»Das gesamte Beweismaterial gegen ... äh . . . meinen
Kollegen hätte bereits zu Prozeßbeginn vorgelegt werden
müssen.«
»Ich nehme meine Feststellung zurück«, wandte der
Anwalt rasch ein. »Es handelt sich nicht um Beweismate-
rial fürdiesen Fall, sondern fürspätere Verhandlungen.« Er
machte eine vielsagende Pause, damit alle begriffen, was
er meinte. »Wenn Mr.Ferguson unsere Fragen jetzt jedoch
zufriedenstellend beantwortet, kann die ganze Angele-
genheit sofort erledigt werden.« Es war nicht zu überse-
hen, daß der Sprecher eine solche zufriedenstellende Er-
klärung keineswegs erwartete und schon gar nicht erhoff-
te.
Er öffnete das Paket, und auf dem Tisch lagen drei Fla-
schen einer berühmten Whiskymarke.
»Ach«, rief Onkel Homer, »ich habe mich schon ge-
fragt ...«
»Mr. Ferguson«, griff der Vorsitzende ein, »Sie müssen
keine Erklärung abgeben, wenn Sie nicht wollen.«
Harry Purvis warf Major Fortheringham einen dankba-
ren Blick zu. Er erriet, was geschehen war. Die Anklage
hatte bei der Durchsuchung der Ruinen von Onkel Ho-
mers Laboratorium ein paar Flaschen seines in Eigenregie
hergestellten Destülats gefunden. Ihre Vorgangsweise
war vermutlich ungesetzlich, da sie über keinen Durchsu-

122
chungsbefehl verfügten, daher hatten sie so lange gezö-
gert, bevor sie das Beweismaterial vorlegten. Der Fall hatte
ohnedies vollkommen eindeutig ausgesehen.
Jetzt war er offensichtlich wirklich eindeutig.
»Diese Flaschen«, erklärte der Vertreter der Krone,
»enthalten nicht die auf dem Etikett angegebene Marke.
Sie sind offensichtlich als Behälter für die ... ah ... sagen
wir mal: chemischen Lösungen des Angeklagten verwen-
det worden.«
Er warf Harry Purvis einen unbarmherzigen Blick zu.
»Wir ließen die Lösung analysieren, und die Ergebnisse
waren wirklich überraschend. Abgesehen von der abnorm
hohen Alkoholkonzentration, kann man den Inhalt dieser
Flaschen praktisch nicht von ...«
Er kam nie mehr dazu, seine unerbetene und sicherlich
unerwünschte Erklärung über Onkel Homers Fähigkeiten
zu beenden. Denn in diesem Augenblick nahm Harry
Purvis ein unheimliches, pfeifendes Geräusch wahr. Zu-
erst hielt er es für eine Bombe - aber das war nicht wahr-
scheinlich, da es keinen Fliegeralarm gegeben hatte. Dann
erkannte er, daß das Pfeifen aus der Nähe kam, vom Tisch
im Gerichtssaal, von ...
»Gehen Sie in Deckung!« brüllte er.
Das Gericht unterbrach die Verhandlung mit einer in
der britischen Rechtssprechung noch nie dagewesenen
Schnelligkeit. Die drei Richter verschwanden hinter dem
Pult, die im Saal Anwesenden suchten unter den Bänken
Schutz. Einen quälenden Augenblick lang geschah nichts,
und Harry fragte sich schon, ob er einen Fehlalarm ausge-
löst hatte. Dann erfolgte eine dumpfe Explosion, Glas
splitterte und es roch wie in einer Destille nach einem
Bombentreffer. Langsam tauchte das Gericht aus der Ver-
senkung auf.
Die osmotische Bombe hatte ihre Kraft unter Beweis ge-
stellt. Wichtiger war allerdings, daß sie das Beweismaterial
der Anklage vernichtet hatte.

123
Das Gericht war keineswegs glücklich, als es den Fall
abschloß, denn es hatte berechtigterweise den Eindruck,
daß seine Würde verletzt worden war. Außerdem würde
jeder der Richter zu Hause etliche Erklärungen abgeben
müssen: der Alkoholdunst hatte sich überall festgesetzt.
Obwohl der Gerichtsschreiber eiligst die Fenster öffnete
(von denen merkwürdigerweise keines zerbrochen war),
lösten sich die Schwaden nur widerwillig auf. Während
Harry Purvis Glassplitter aus seinen Haaren entfernte,
fragte er sich, ob es morgen betrunkene Schüler in der
Klasse geben würde.
Major Fortheringham war zweifellos ein guter Verlierer,
denn als sie den verwüsteten Gerichtssaal verließen, sagte
er zu Onkel Homer: »Hören Sie, Ferguson, es wird Ewig-
keiten dauern, bis wir die Molotow-Cocktails bekommen,
die uns das Kriegsministerium versprochen hat. Wie wäre
es, wenn Sie ein paar Ihrer Bomben für die Homeguard er-
zeugen? Wenn sie auch keinen Panzer zerstören, so wird
doch die Besatzung zumindest betrunken und aktionsun-
fähig.«
»Ich werde es mir überlegen, Major«, antwortete Onkel
Homer, den die Ereignisse sichtlich überrollt hatten.
Er erholte sich ein wenig, während sie über die engen,
kurvenreichen Straßen, die auf beiden Seiten von hohen
Steinmauern begrenzt waren, zum Pfarrhaus zurückfuh-
ren.
Als sie ein relativ gerades Stück vor sich hatten und es
nicht mehr gefährlich war, mit dem Fahrer zu sprechen,
bemerkte Harry: »Ich hoffe, Onkel, daß du nicht die Ab-
sicht hast, diese Schwarzbrennerei wieder aufzubauen.
Sie werden dich nämlich nicht aus den Augean lassen,
und beim zweitenmal kommst du nicht mehr so billig da-
von.«
»Also schön«, stimmte der Onkel mürrisch zu. »Diese
verdammten Bremsen! Ich habe sie erst knapp vor dem
Krieg nachstellen lassen!«

124
»He!« rief Harry. »Gib acht!« '
Aber es war schon zu spät. Sie hatten eine Kreuzung er-
reicht, an der ein funkelnagelneues Stopschild stand. On-
kel Harry bremste scharf, aber einen schrecklichen Au-
genblick lang geschah nichts. Dann reagierten die Räder
auf der linken Seite, während die rechten sich fröhlich
weiterdrehten. Der Wagen beschrieb eine U-Kurve, zum
Glück ohne umzustürzen, und landete im Straßengraben;
der Kühler zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen
waren.
Harry sah seinen Onkel vorwurfsvoll an. Er wollte ihm
gerade entsprechende Vorhaltungen machen, als aus der
Querstraße ein Motorrad auftauchte und neben ihnen
hielt.
Es war also doch nicht ihr Glückstag. Der Dorfpolizist
war auf der Lauer gelegen und hatte darauf gewartet, daß
Autofahrer die neue Tafel übersahen. Er stellte sein Mo-
torrad am Straßenrand ab und steckte seinen Kopf durch
das Fenster des Austin.
»Ist alles in Ordnung, Mr.Ferguson?« fragte er. Dann
rümpfte er die Nase und sah aus wie Zeus, wenn er einen
Blitz schleudern will. »So einfach geht das nicht. Ich muß
Sie anzeigen. In alkoholisiertem Zustand fahren ist ein
sehr ernstes Vergehen.«
»Aber ich habe den ganzen Tag keinen Schluck getrun-
ken«, protestierte Homer und fuchtelte dem Polizisten mit
dem alkoholgetränkten Ärmel unter der Nase herum.
»Und das soll ich glauben?« schnaubte der gereizte Hü-
ter des Gesetzes und zückte sein Notizbuch. »Sie werden
mich leider auf das Polizeirevier begleiten müssen. Ist we-
nigstens Ihr Freund so nüchtern, daß er fahren kann?«
Einen Augenblick lang antwortete Harry nicht. Er war
damit beschäftigt, mit dem Kopf gegen das Armaturen-
brett zu schlagen.
»Und was haben sie mit deinem Onkel angefangen?«
fragten wir Harry.

125
»Er bekam ein Strafmandat über fünf Pfund, und der
Führerschein wurde ihm wegen Fahrens in alkoholisier-
tem Zustand entzogen. Leider war Major Fortheringham
nicht Vorsitzender, als der Fall verhandelt wurde, aber die
anderen beiden Richter vvaren noch im Amt. Wahrschein-
lich fanden sie, daß alles seine Grenzen hat, selbst wenn er
in diesem Fall unschuldig war.«
»Und hast du je einen Pfennig von seinem Geld be-
kommen?«
»Keine Bange! Er war natürlich sehr dankbar und hat
mir gesagt, daß er mich in sein Testament aufnehmen
wird. Aber was glaubt ihr, was er tat, als ich das letztemal
bei ihm war? Er suchte das Lebenselixier.«
Harry seufzte angesichts der unglaublichen Ungerech-
tigkeit des Schicksals.
»Manchmal fürchte ich beinahe, daß er es gefunden hat.
Die Ärzte behaupten, daß er der gesündeste Siebzigjäh-
rige ist, mit dem sie je zu tun hatten. Also bestand mein
gesamter Gewinn aus der Geschichte in einer interessan-
ten Erinnerung und einem kolossalen Kater.«
»Einem Kater?« fragte Charlie Willis.
»Ja«, antwortete Harry mit entrücktem Blick. »Die Zöll-
ner hatten nämlich nicht alle Beweisstücke gefunden. Wir
mußten den Rest . . . ah . . . vernichten. Wir brauchten fast
eine ganze Woche dazu. Während dieser Zeit erfanden
wir alles mögliche - bekamen aber nie heraus, wozu es gut
war.«

126
Die widerspenstige Orchidee

LJbwohl nur wenige Leute im >Weißen Hirschen< be-


reit sind zuzugeben, daß auch nur eine von Harry Purvis'
Geschichten der Wahrheit nahekommt, sind sich alle dar-
über einig, daß manche etwas wahrscheinlicher sind als
andere. Und in bezug auf Wahrscheinlichkeit wird die
Angelegenheit mit der widerspenstigen Orchidee sehr
niedrig eingeschätzt.
Ich weiß nicht mehr, welches geniale Gambit Harry
verwendete, um diese Erzählung anzubringen: vielleicht
nahm ein Orchideenliebhaber sein letztes Ungeheuer in
die Bar mit und brachte ihn dadurch auf den Gedanken.
Aber ich erinnere mich an die Geschichte, und darauf
kommt es schließlich an.
Diesmal betraf das Abenteuer keinen von Harrys zahl-
reichen Verwandten, und er drückte sich darum zu erklä-
ren, wieso er über so viele peinliche Details Bescheid wuß-
te. Der Held - wenn man es so bezeichnen kann - dieses
Treibhaus-Epos' war ein harmloser kleiner Angestellter
namens Hercules Keating. Und falls Sie annehmen, daß
dies der unwahrscheinlichste Teil der Geschichte ist, muß
ich Sie um etwas Geduld bitten.
Hercules ist kein Name, der seinem Träger Freude berei-
tet, aber er ist ausgesprochen unangenehm, wenn dieser
noch dazu nur einen Meter fünfzig groß ist und aussieht,
als müsse er erst einen Bodybuilding-Kurs absolvieren,
bevor man ihn auch nur als Federgewicht einzustufen be-
reit wäre. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, warum
Hercules kaum gesellschaftlichen Verkehr pflegte und alle
seine wirklichen Freunde in Töpfen in einem feuchten
Treibhaus im Hintergrund seines Gartens wuchsen. Er

127
war sehr bedürfnislos und gab nur wenig Geld für sich
aus; daher war seine Sammlung von Orchideen und Kak-
teen wirklich beachtlich. Im Kreise der Kakteenliebhaber
war er eine Berühmtheit und erhielt aus den fernsten
Winkeln der Welt Pakete, die nach Schimmel und tropi-
schem Dschungel rochen.
Hercules hatte eine einzige lebende Verwandte, und es
wäre schwer gewesen, einen größeren Gegensatz zu ihm
zu finden als Tante Henrietta. Sie war kräftig gebaut, ei-
nen Meter achtzig groß, trug für gewöhnlich Tweedkleider
in auffallenden Mustern, fuhr unbekümmert und tempe-
ramentvoll einen Jaguar und war Kettenraucherin. Ihre El-
tern hatten sich einen Sohn gewünscht und hatten nie
herausgefunden, ob ihr Wunsch in Erfüllung gegangen
war. Henrietta verdiente ihren - ziemlich aufwendigen -
Lebensunterhalt, indem sie Hunde in den verschieden-
sten Formen und Farben züchtete. Man sah sie selten ohne
ein paar ihrer letzten Produkte, die nie zu den Schoß-
hündchen gehörten, die Damen gern in ihre Handtasche
stecken. Der Keating-Zwinger war auf dänische Doggen,
deutsche Schäferhunde und Bernhardiner spezialisiert.
Henrietta, die die Männer zu Recht als das schwächere
Geschlecht verachtete, hatte nie geheiratet. Dennoch
hegte sie ein onkelhaftes (ja, das ist das einzig passende
Wort) Interesse an Hercules, und besuchte ihn beinahe an
jedem Wochenende.Es war eine merkwürdige Beziehung:
wahrscheinlich fand Henrietta, daß Hercules ihrem Uber-
legenheitsgefühl gut tat. Falls er ein Musterexemplar des
männlichen Geschlechts sein sollte, dann waren Männer
wirklich armselige Wesen. Dennoch war Henrietta diese
Motivation nicht bewußt, und sie schien ihren Neffen auf-
richtig zu mögen. Sie gab sich herablassend, war aber nie
unfreundlich.
Wie zu erwarten war, förderte Henriettas Aufmerksam-
keit Hercules' an und für sich gut entwickelten Minder-
wertigkeitskomplex. Zuerst hatte er seine Tante ertragen;

128
dann begann er, ihre regelmäßigen Besuche, ihre dröh-
nende Stimme und ihre knochenzermalmenden Hände-
drücke zu fürchten; und schließlich haßte er sie. Allmäh-
lich wurde dieser Haß zu dem dominierenden Gefühl in
seinem Leben; es überstieg seine Liebe zu den Orchideen.
Aber er war sorgfältig bemüht, ihn nicht zu zeigen. Wenn
Tante Henrietta erfuhr, wie er zu ihr stand, würde sie ihn
wahrscheinlich in Stücke reißen und ihrem Wolfsrudel
zum Fraß vorwerfen.
Hercules sah daher keine Möglichkeit, seinen aufge-
stauten Haßgefühlen Luft zu machen. Er mußte Tante
Henrietta gegenüber höflich sein, auch wenn er sie am
liebsten ermordet hätte. Und er hätte sie oft ermorden
wollen, obwohl er wußte, daß er etwas Derartiges nie zu-
wege bringen würde. Bis eines Tages ...
Der Händler behauptete, daß die Orchidee >irgendwo-
her aus dem Amazonasgebiet< stamme. Als Hercules sie
zum erstenmal erblickte, bot sie keinen sehr anziehenden
Anblick, nicht einmal für einen Orchideenliebhaber wie
ihn. Eine formlose, etwa faustgroße Wurzel - das war al-
les. Sie sah verfault aus und roch schwach nach Aas.
Hercules war keineswegs davon überzeugt, daß sie le-
bensfähig war, und teilte das auch dem Händler mit. Viel-
leicht konnte er sie deshalb um einen lächerlich geringen
Betrag erstehen; jedenfalls nahm er sie ohne große Begei-
sterung mit nach Hause.
Einen Monat lang gab sie kein Lebenszeichen von sich,
aber das störte Hercules nicht. Dann tauchte eines Tages ein
winziger grüner Trieb auf und schlängelte sich ans Licht.
Danach machte die Pflanze allerdings rasche Fortschritte.
Bald besaß sie einen kräftigen, armdicken, fleischigen,
leuchtend giftgrünen Stamm. Er wies an seinem oberen
Ende mehrere merkwürdige Verdickungen auf; das war
alles. Hercules geriet in Aufregung: er war davon über-
zeugt, daß eine vollkommen neue Art in seinem Ge-
sichtskreis aufgetaucht war.

129
Das Wachstum beschleunigte sich nun phantastisch: die
Pflanze war bald größer als Hercules, auch wenn das nicht
viel besagen will. Außerdem wurden die Verdickungen
größer und es sah so aus, als würde die Orchidee jeden
Augenblick zu blühen beginnen. Hercules wartete ge-
spannt, denn er wußte, wie kurzlebig manche dieser Or-
chideenblüten sein können, und verbrachte so viel Zeit
wie möglich im Treibhaus. Trotz seiner Wachsamkeit ging
die Verwandlung des Nachts vor sich, während er schlief.
Am Morgen war die Orchidee von acht schwankenden
Ranken gesäumt, die beinahe bis zum Bodeij reichten. Sie
mußten sich innerhalb der Pflanze entwickelt haben und
mit einer - für die Pflanzenwelt - explosiven Geschwin-
digkeit hervorgebrochen sein. Hercules starrte das Phä-
nomen verblüfft an und begab sich sehr nachdenklich zu
seiner Arbeitsstelle.
Als er am Abend die Pflanze goß und die Erde unter-
suchte, stellte er etwas noch Merkwürdigeres fest. Die
Ranken wurden dicker, und sie verhielten sich nicht voll-
kommen regungslos. Sie vibrierten leicht, aber unüber-
sehbar, als führten sie ein eigenes Leben. Trotz seines In-
teresses und seiner Begeisterung war diese Tatsache für
Hercules doch einigermaßen beunruhigend.
Ein paar Tage später konnte es keinen Zweifel mehr ge-
ben. Wenn er sich der Orchidee näherte, streckten sich
ihm die Ranken in unangenehm suggestiver Weise entge-
gen. Sie erweckten so sehr den Eindruck, daß sie hungrig
waren, daß Hercules sich sehr unbehaglich fühlte und sich
in seinem Unterbewußtsein etwas regte. Es dauerte eine
Weile, bevor es ihm einfiel, dann sagte er sich: »Natürlich!
Wie dumm von mir!« - und marschierte in die örtliche
Leihbücherei. Hier verbrachte er eine sehr interessante
halbe Stunde, während er eine kleine Erzählung von ei-
nem gewissen H.G.Wells mit dem Titel >Die Blüte der
seltsamen Orchidee« las.
»Mein Gott!« dachte Hercules, als er mit der Lektüre

130
tertig war. Bis jetzt strömte die Pflanze noch keinen fremd-
artigen Geruch aus, der ihr Opfer betäubte, aber alle üb-
rigen Charakteristika stimmten nur zu genau überein.
Hercules kehrte sehr verwirrt nach Hause zurück.
Er öffnete die Tür des Treibhauses, und sein Blick glitt
über die Reihen seiner Schützlinge hinweg zu seinem
Prachtexemplar. Er schätzte sorgfältig die Länge der Ran-
ken - er ertappte sich dabei, daß er sie in Gedanken schon
als Tentakel bezeichnete - und näherte sich ihnen bis auf
sichere Entfernung. Die Pflanze machte zweifellos einen
wachsamen, drohenden Eindruck, der viel eher einem
Tier als einer Pflanze angemessen war; Hercules erinnerte
sich an die Geschichte vom unglückseligen Dr. Franken-
stein, und fand sie gar nicht so unterhaltsam.
Aber das war doch einfach lächerlich! Solche Dinge pas-
sierten nur in Romanen. Natürlich, es gab eine Möglich-
keit, sich zu überzeugen ...
Hercules ging ins Haus und kehrte nach einigen Minu-
ten mit einem Besenstiel zurück, an den er ein Stück rohes
Fleisch gebunden hatte. Er kam sich unglaublich dumm
vor, als er sich der Orchidee wie ein Löwenbändiger nä-
herte, der eines seiner Tiere füttert.
Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann begannen
zwei Ranken aufgeregt zu zucken. Sie schwankten hin
und her, als fasse die Pflanze einen Entschluß. Dann
schossen sie unvermittelt mit solcher Geschwindigkeit
vor, daß die Bewegung praktisch nicht wahrzunehmen
war. Sie wickelten sich um das Fleisch, und Hercules
fühlte einen kräftigen Zug am Besenstiel. Dann war das
Fleisch weg: die Orchidee drückte es sozusagen an ihren
Busen.
»Heiliger Strohsack!« brüllte Hercules. Er verwendete
solche Kraftausdrücke wirklich äußerst selten.
Vierundzwanzig Stunden lang gab die Orchidee keine
weiteren Lebensäußerungen von sich. Sie wartete darauf,
daß das Fleisch ablag, und sie entwickelte gleichzeitig ih-

131
ren Verdauungsapparat. Am nächsten Tag hatte ein Netz
von Wurzeln - so sahen sie jedenfalls aus - den noch im-
mer vorhandenen Fleischbrocken überzogen. Am Abend
war das Fleisch weg.
Die Pflanze hatte Blut geleckt.

Hercules beobachtete sein Musterexemplar mit sehr


gmischten Gefühlen. Zeitweise verursachte es ihm bei-
nahe Alpträume, und er sah eine ganze Reihe schreckli-
cher Möglichkeiten vor sich. Die Orchidee war jetzt sehr
kräftig, und wenn er unversehens in ihre Reichweite ge-
riet, war er erledigt. Die Gefahr war natürlich minimal. Er
hatte eine Rohrleitung verlegt, so daß die Orchidee aus si-
cherer Entfernung bewässert werden konnte, und das
weniger konventionelle Futter warf er einfach in Reich-
weite ihrer Tentakel. Sie aß jetzt täglich ein halbes Kilo ro-
hes Fleisch, und er hatte das unangenehme Gefühl, daß
sie noch viel größere Mengen vertilgen konnte, falls sie
Gelegenheit dazu bekam.
Insgesamt überwog bei Hercules allerdings das
Triumphgefühl darüber, daß ihm ein solches botanisches
Wunder in die Hände geraten war. Wenn er wollte,
konnte er der berühmteste Orchideenzüchter der Welt
werden. Es war für seinen etwas beschränkten Gesichts-
kreis bezeichnend, daß er nie auf die Idee kam, außer Or-
chideenzüchtern könnten sich auch noch andere Leute für
seinen Liebling interessieren.
Das Geschöpf war jetzt etwa einen Meter achtzig groß
und wuchs immer noch - allerdings viel langsamer als zu-
vor. Hercules hatte alle anderen Pflanzen aus dieser Ecke
des Treibhauses entfernt, nicht so sehr, weil er Kanniba-
lismus von seiten der Orchidee befürchtete, sondern um
sie gefahrlos pflegen zu können. Er hatte quer durch das
Treibhaus ein Seil gespannt, so daß er nicht zufällig in die
Reichweite der acht herunterhängenden Arme geraten
konnte.

132
Offensichtlich verfügte die Orchidee über ein hochent-
wickeltes Nervensystem und über Eigenschaften, die bei-
nahe als Intelligenz bezeichnet werden konnten. Sie
wußte, wann Fütterungszeit war, und verlieh ihrer
Freude darüber unmißverständlich Ausdruck. Noch
phantastischer war jedoch - obwohl Hercules seiner Sache
nicht ganz sicher war -, daß sie anscheinend Geräusche
hervorbringen konnte. Gelegentlich, knapp vor den
Mahlzeiten, bildete er sich ein, ein unglaublich hohes Pfei-
fen, an der Grenze des Hörbaren, zu vernehmen. Die Töne
hätten von einer neugeborenen Fledermaus stammen
können; Hercules fragte sich, welchem Zweck sie dienten.
Lockte die Orchidee ihre Beute durch dieses Geräusch an?
Wenn ja, verfehlte es bei ihm jedenfalls seine Wirkung.
Während Hercules diese interessanten Entdeckungen
machte, kümmerte sich Tante Henrietta weiterhin um ihn,
und ihre Hunde, die nie so gut dressiert waren, wie sie be-
hauptete, verwüsteten bei ihren Besuchen sein Heim. Für
gewöhnlich kam sie am Sonntagnachmittag die Straße
heraufgebraust, einen Hund neben sich und den zweiten
im Kofferraum. Dann nahm sie immer zwei Stufen auf
einmal, sprengte Hercules' Trommelfell beinahe mit ihrer
Begrüßung, lähmte ihn mit ihrem Händedruck und blies
ihm Zigarrenrauch ins Gesicht. Früher einmal hatte er da-
vor Angst gehabt, daß sie ihn auch noch küssen würde,
aber inzwischen hatte er längst begriffen, daß ein so ty-
pisch weibliches Verhalten ihrem Wesen fremd war.
Tante Henrietta stand Hercules' Orchideen etwas ver-
ächtlich gegenüber. Sie hielt es für abwegig, seine Freizeit
in einem Treibhaus zu verbringen. Wenn sie Dampf ab-
lassen wollte, fuhr sie auf Großwildjagd nach Kenia. Da-
durch wurde sie Hercules keineswegs sympathischer,
denn er verabscheute Blutvergießen. Trotz seiner wach-
senden Abneigung gegen seine dynamische Tante berei-
tete er jedoch pflichtbewußt jeden Sonntagnachmittag
den Tee für sie zu und plauderte scheinbar vollkommen

133
freundlich mit ihr. Henrietta kam nie auf die Idee, daß
Hercules den Tee, den er ihr einschenkte, am liebsten ver-
giftet hätte: unterhalb ihrer rauhen Schale war sie ein
wirklich gutherziger Mensch, der über solche Vorstellun-
gen entsetzt gewesen wäre.
Hercules erwähnte seinen pflanzlichen Oktopus Tante
Henrietta gegenüber nicht. Gelegentlich hatte er ihr inter-
essante Exemplare von Orchideen gezeigt, aber dieses
Prachtstück hielt er geheim. Vielleicht bereitete sein Un-
terbewußtsein schon den Boden für den teuflischen Plan
vor, den er noch gar nicht gefaßt hatte . . .
Eines Sonntagabends, als das Röhren des Jaguar in der
Nacht verklungen war und Hercules seine zerrütteten
Nerven im Treibhaus beruhigte, tauchte die Idee zum er-
stenmal in seinem Gehirn auf. Er betrachtete gerade die
Orchidee und ihre jetzt daumendicken Ranken, als er
plötzlich eine sehr angenehme Vision hatte. Er stellte sich
vor, wie sich Tante Henrietta hilflos in der Umklamme-
rung des Ungeheuers wand und seinen fleischfressenden
Tentakeln nicht entkommen konnte. Es wäre das vollkom-
mene Verbrechen! Der verzweifelte Neffe war zu spät da-
zugekommen, um noch helfen zu können, und wenn die
Polizei auf seinen Anruf hin eintraf, würde sie auf den er-
sten Blick erkennen, daß es sich um einen bedauerlichen
Unfall handelte. Natürlich würde es eine gerichtliche Un-
tersuchung geben, aber angesichts von Hercules' deutlich
zur Schau getragenem Kummer würde der Untersu-
chungsrichter sicherlich nicht zu genau nachforschen . . .
Je länger er sich mit dieser Idee befaßte, desto besser ge-
fiel sie ihm. Er fand keinen schwachen Punkt, vorausge-
setzt, daß die Orchidee mitspielte. Das war natürlich das
größte Problem. Er mußte ein Trainingsprogramm für das
Geschöpf aufbauen. Es sah bereits sehr teuflisch aus; er
mußte dafür sorgen, daß sein Temperament seinem Aus-
sehen entsprach
Wenn man bedenkt, daß Hercules auf diesem Gebiet

134
keine Erfahrung hatte und sich kaum an Sachverstäftdige
um Rat wenden konnte, muß man zugeben, daß er das
Ganze sehr geschickt einfädelte. Er benützte eine Angel-
rute, mit der er der Orchidee knapp außerhalb ihrer
Reichweite Fleischstücke vor die Nase hielt, bis das Ge-
schöpf wild mit seinen Tentakeln um sich schlug. Bei sol-
chen Gelegenheiten konnte man ihr schrilles Kreischen
deutlich hören, und Hercules fragte sich, wie sie den Ton
hervorbrachte. Er wußte auch nicht, wie ihre Sinnesor-
gane beschaffen waren, aber dieses Rätsel hätte er nur
durch eine genaue Untersuchung lösen können. Falls alles
glatt ging, würde Tante Henrietta vielleicht kurz Gelegen-
heit haben, diese interessanten Details zu begutachten -
obwohl sie wahrscheinlich zu beschäftigt sein würde, um
sie für die Nachwelt aufzuzeichnen.
Zweifellos war das Biest kräftig genug, um mit seinem
Opfer fertigzuwerden. Es entriß Hercules einmal einen
Besenstiel, und obwohl diese Tatsache nicht viel besagte,
zauberte der Krach, mit dem das Holz einen Augenblick
später zersplitterte, ein zufriedenes Lächeln auf die Lip-
pen des Trainers. Er begann, seiner Tante gegenüber viel
freundlicher und aufmerksamer zu sein. Er war in jeder
Beziehung der vollkommene Neffe.
Als Hercules der Ansicht war, daß seine Taktik die Or-
chidee in die richtige Verfassung gebracht hatte, überlegte
er, ob er sie mit einem lebenden Köder testen sollte. Mit
diesem Problem schlug er sich einige Wochen lang herum
und musterte in dieser Zeit jede Katze und jeden Hund, an
denen er auf der Straße vorbeikam, nachdenklich, gab
aber schließlich die Idee aus einem sehr merkwürdigen
Grund auf. Er war einfach zu gutherzig dazu. Tante Hen-
rietta würde das erste Opfer sein.
Er ließ die Orchidee zwei Wochen lang hungern, bevor
er seinen Plan in die Tat umsetzte. Länger wollte er es
nicht riskieren - er wollte das Biest nicht schwächen, son-
dern nur seinen Appetit anregen, damit das Ergebnis

135
hundertprozentig sicher war. Er trug also die Teetassen in
die Küche, setzte sich Tante Henrietta gegenüber und be-
merkte beiläufig: »Ich habe etwas, das ich dir zeigen möch-
te, Tantchen. Es soll eine Überraschung sein. Du wirst
dich totlachen.«
Diese Beschreibung entsprach zwar nicht genau den
Tatsachen, vermittelte jedoch eine ungefähre Vorstellung.
Tantchen nahm die Zigarre aus dem Mund und sah
Hercules überrascht an.
»Na sowas!« dröhnte sie. »Es geschehen noch Wunder!
Was hast du dir denn ausgedacht, du Schurke?« Sie schlug
ihn freundschaftlich auf den Rücken, so daß er einen Er-
stickungsanfall bekam.
»Du wirst es nicht glauben«, keuchte er, als er wieder zu
Atem gekommen war. »Es befindet sich im Treibhaus.«
»Was?« fragte Tantchen sichtlich verblüfft.
»Ja, komm mit und sieh es dir an! Es wird Aufsehen er-
regen.»
Tantchen schnaubte ungläubig, folgte jedoch Hercules
ohne weitere Fragen. Die beiden Schäferhunde, die damit
beschäftigt waren, den Teppich zu zerbeißen, sahen sie
neugierig an und erhoben sich halb, aber sie winkte ab.
»Schon gut, Jungs«, sagte sie barsch, »ich bin in einer
Minute wieder da.« Hercules hielt dies für nicht sehr
wahrscheinlich.
Es war ein dunkler Abend, und im Treibhaus brannte
kein Licht. Als sie eintraten, brummte Tantchen: »Mein
Gott, Hercules, hier stinkt es wie in einem Schlachthaus.
Ich habe einen solchen Gestank zum letztenmal erlebt, als
ich diesen Elefanten in Bulawayo erlegte und wir ihn eine
Woche lang nicht finden konnten.«
»Es tut mir leid, Tantchen«, entschuldigte sich Hercules,
während er sie vorwärtsschob, »es ist ein neues Dünge-
mittel. Die Ergebnisse sind wirklich erstaunlich. Komm,
nur noch ein paar Schritte! Es soll eine echte Uberraschung
sein.«

136
»Ich hoffe, daß es sich um keinen dummen Scherz han-
delt«, brummte Tantchen mißtrauisch, während sie wei-
terstapfte.
»Das ist es bestimmt nicht«, antwortete Hercules, der
die Hand auf den Lichtschalter gelegt hatte. Er konnte den
drohenden Umriß der Orchidee gerade noch ausnehmen:
Tantchen befand sich drei Meter vor ihr. Er wartete, bis sie
tief in die Gefahrenzone eingedrungen war, dann betä-
tigte er den Schalter.
Einen Augenblick lang ereignete sich nichts. Dann
stemmte Tante Henrietta die Arme in die Seiten und bleib
vor der riesigen Orchidee stehen. Einen Augenblick lang
befürchtete Hercules, daß sie sich zurückziehen würde,
bevor die Pflanze zur Tat schreiten konnte, dann erkannte
er, daß Tantchen das Ungetüm unbeeindruckt musterte,
ohne sich darüber klarwerden zu können, was, zum Teu-
fel, das war.
Es dauerte volle fünf Sekunden, bevor sich die Orchidee
bewegte. Dann reagierten die Tentakel blitzschnell - aber
nicht so, wie Hercules erwartet hatte. Die Pflanze schlang
sie dicht und schützend um sich selbst und stieß gleichzei-
tig schrille Angstschreie aus. Enttäuscht und erschüttert
erfaßte Hercules die schreckliche Wahrheit.
Seine Orchidee war ein ausgemachter Feigling. Viel-
leicht war sie fähig, mit den wilden Tieren am Amazonas
fertigzuwerden, aber als sie nun plötzlich Tante Henriet-
ta gegenüberstand, erlitt sie einen Nervenzusammen-
bruch.
Das Opfer hingegen beobachtete das Geschöpf voller
Staunen, das rasch einem anderen Gefühl Platz machte.
Sie drehte sich um und zeigte anklagend auf ihren Nef-
fen.
»Hercules!« dröhnte sie. »Das arme Ding ängstigt sich
zu Tode. Hast du es tyrannisiert?«
Hercules konnte nur beschämt und frustriert den Kopf
hängen lassen.

138
»Nnnnnein, Tantchen«, stammelte er. »Es ist wahr-
scheinlich von Natur aus nervös.«
»Ich kenne mich mit Tieren aus. Du hättest mich schon
früher hierherbringen sollen. Man muß sie fest, aber liebe-
voll behandeln. Freundlichkeit hilft immer, solange man
ihnen zeigt, wer der Herr ist. Aber, aber, Kleines, du
brauchst keine Angst vor Tantchen zu haben, sie tut dir
nichts . . . «
Es war ein Anblick, der einem den Magen umdrehen
könnte, dachte der verzweifelte Hercules. Tante Henrietta
tätschelte und streichelte das Biest überraschend sanft,
liebkoste es, bis die Tentakel sich entspannten und das
schrille Kreischen verstummte. Nach einigen Minuten
schien es den Schock überwunden zu haben. Als sich
schließlich eine der Tentakel vorsichtig streckte und Hen-
riettas knorrige Finger streichelte, floh Hercules leise
schluchzend.
Von diesem Tag an war er ein gebrochener Mann.
Schlimmer war, daß er den Folgen des geplanten Verbre-
chens nie mehr entgehen konnte. Henrietta hatte sich ein
neues Haustier zugelegt und besuchte ihn jetzt nicht nur
an den Wochenenden, sondern auch während der Woche.
Sie traute Hercules offensichtlich nicht zu, daß er die Or-
chidee richtig behandelte, und verdächtigte ihn immer
noch, sie zu tyrannisieren. Sie brachte ziemlich abgela-
gerte Brocken mit, die sogar ihre Hunde abgelehnt hatten,
die die Orchidee aber begeistert verschlang. Der Geruch,
der bis jetzt auf das Treibhaus beschränkt gewesen war,
begann auch ins Haus einzudringen . . ,
»So steht die Angelegenheit jetzt«, schloß Harry Purvis,
als er diese unglaubliche Geschichte beendete, »und we-
nigstens zwei Beteiligte sind zufrieden. Die Orchidee ist
glücklich, und Tante Henrietta hat noch etwas (oder je-
manden?), den sie betreuen kann. Von Zeit zu Zeit erleidet
das Geschöpf einen Nervenzusammenbruch, wenn sich
eine Maus ins Treibhaus verirrt, und dann stürzt sich

139
f
Tante Henrietta sofort auf die Orchidee und beruhigt
sie.
Hercules hingegen wird den beiden bestimmt keine
Schwierigkeiten mehr machen. Er ist in vegetabile Inakti-
vität versunken: je mehr Zeit vergeht, desto ähnlicher
wird er einer Orchidee.
Natürlich einer harmlosen.«

140
Kalter Krieg

llarry Purvis' Erzählungen wirken unter anderem des-


halb so verdammt überzeugend, weil die Details so wahr-
scheinlich klingen. Hören Sie sich zum Beispiel die fol-
gende an! Ich habe Orts- und andere Angaben so genau
wie möglich recherchiert - ich mußte es ja tun, wenn ich
diesen Bericht schreiben wollte -, und alles stimmt! Wie
soll man es erklären, wenn nicht - aber urteilen Sie
selbst ...
»Ich habe oft bemerkt«, begann Harry, »daß in der
Presse kleine Bruchstücke von Informationen erscheinen,
und daß man oft erst Jahre später erfährt, wie die Angele-
genheit ausgegangen ist. Ich habe ein besonders schönes
Beispiel dafür. Im Frühjahr 1954 - ich habe das Datum
nachgeschlagen, es war am 19. April - wurde vor der Kü-
ste von Florida ein Eisberg gesichtet. Ich weiß noch, daß
ich diese Nachricht für äußerst seltsam hielt. Wie ihr wißt,
entsteht der Golfstrom in der Meerenge von Florida, und
ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein Eisberg so weit
nach Süden treiben konnte, ohne zu schmelzen. Aber
dann vergaß ich den Artikel, weil ich ihn für eine der Enten
hielt, wie sie die Zeitungen in der Saure-Gurken-Zeit
bringen.
Und vor etwa einer Woche traf ich einen Freund, der
Commander in der US Navy gewesen ist und der mir die
ganze erstaunliche Geschichte erzählte. Sie ist so bemer-
kenswert, daß ich sie unbedingt weitergeben muß, obwohl
ich davon überzeugt bin, daß viele Leute sich weigern
werden, sie zu glauben.
Diejenigen von euch, die sich mit inneramerikanischen
Problemen auskennen, werden wissen, daß etliche der

141
siebenundvierzig Staaten Florida den Anspruch auf den
Titel >Sonnenschein-Staat< streitig machen. New York,
Maine oder Connecticut kommen dabei natürlich nicht in
Frage, aber Kalifornien betrachtet Floridas Behauptung
beinahe als persönliche Beleidigung und bemüht sich im-
mer, sie zu widerlegen. Die Leute in Florida wehren sich,
indem sie auf den berühmten Los-Angeles-Smog verwei-
sen, dann fragen die Kalifornier besorgt >Ist bei euch nicht
der nächste Hurrikan fällig?<, worauf die Floridianer
antworten: >Ihr könnt euch darauf verlassen, daß wir euch
bei einem Erdbeben Hilfslieferungen schicken. < So geht es
hin und her, und hier tritt mein Freund Commander Daw-
son in Erscheinung.
Der Commander hatte auf U-Booten gedient, war aber
jetzt im Ruhestand. Er hatte als technischer Berater bei ei-
nem Film über die Einsätze der Unterseeboote fungiert, als
man ihm eines Tages einen sehr eigenartigen Vorschlag
machte. Ich werde jetzt nicht sagen, daß die kalifornische
Handelskammer dahintersteckte, weil mir das eine Ver-
leumdungsklage einbringen könnte. Aber ihr seid ja im-
stande, euch selbst ein Urteil zu bilden.
Die Idee war echt Hollywood. Das nahm ich jedenfalls
zuerst an, bis mir einfiel, daß der gute alte Lord Dunsany in
einer seiner Geschichten ein ähnliches Thema verwendet
hatte. Vielleicht war der kalifornische Sponsor ein Fan
von Jorkens, genau wie ich.
Der Plan war überaus einfach und kühn. Man bot
Commander Dawson einen beträchtlichen Betrag dafür,
einen künstlichen Eisberg nach Florida zu steuern. Wenn
es ihm darüber hinaus gelang, ihn während der Hauptsai-
son in Miami Beach stranden zu lassen, sollte er einen Bo-
nus erhalten.
Ich muß wohl nicht betonen, daß der Commander be-
geistert annahm; er stammte aus Kansas, sah also das
Ganze vollkommen leidenschaftslos als rein geschäftli-
chen Auftrag. Er holte einen Teil seiner früheren Besat-

142
zung zusammen, ließ sie Verschwiegenheit geloben,1 war-
tete geduldig in den Korridoren von Washington und er-
reichte schließlich, daß man ihm ein veraltetes U-Boot
leihweise überließ. Dann suchte er eine große Fabrik für
Klimaanlagen auf, überzeugte sie davon, daß sein Kredit
und sein Verstand in Ordnung waren, und ließ die Gefrier-
anlage in einer riesigen Blase auf dem Deck des U-Boots
aufstellen.
Um einen durch und durch soliden Eisberg zu erzeu-
gen, auch wenn er nur klein sein soll, braucht man eine
unvorstellbare Menge Energie, deshalb schloß man einen
Kompromiß. Unterhalb einer meterdicken Eisschicht
würde die >Frigide Freda<, wie sie getauft wurde, hohl
sein. Von außen würde sie sehr eindrucksvoll wirken, ge-
nau wie die Kulissen für einen Hollywoodfilm. Allerdings
würde niemand außer dem Commander und seinen Män-
nern ihr Innenleben kennen. Sobald Wind und Strömung
günstig waren, wollten sie sie treiben lassen, und sie
würde lang genug durchhalten, um die beabsichtigte Auf-
regung und Verzweiflung hervorzurufen.
Natürlich mußten unendlich viele technische Probleme
gelöst werden. Die Anlage würde etliche Tage auf Hoch-
touren laufen müssen, um Freda zu schaffen, und sie
mußte möglichst nahe vor ihrem Zielgebiet in See stechen.
Das bedeutete, daß das U-Boot - das wir Marlin nennen
wollen -, von einer nicht zu weit von Miami entfernten Ba-
sis aus operieren mußte.
Zunächst zog man die Florida Keys in Betracht, verwarf
den Plan aber sofort wieder. Eine Geheimhaltung war dort
unmöglich - es gibt inzwischen mehr Angler als Moskitos
in dieser Gegend, und ein U-Boot würde sofort entdeckt
werden. Selbst wenn die Marlin so tat, als würde sie nur
schmuggeln, würde ihr das niemand abnehmen. Diesen
Plan mußte man also aufgeben.
Der Commander mußte sich auch mit einem weiteren
Problem befassen. Die Küstengewässer um Florida sind

143
sehr seicht, und obwohl Freda nur ein paar Meter Tiefgang
haben würde, weiß natürlich jeder, daß ein anständiger
Eisberg zum Großteil unter der Wasseroberfläche liegt. Es
wäre etwas unrealistisch gewesen, einen eindrucksvollen
Eisberg über eine Wassertiefe von einem halben Meter
driften zu lassen. Damit wäre der Schwindel sofort aufge-
flogen.
Ich weiß nicht, wie der Commander mit diesen techni-
schen Problemen fertig wurde, aber soviel ich weiß, führte
er im Atlantik, fern von allen Schiffahrtsrouten, einige
Tests durch. Der in der Zeitungsnachricht erwähnte Eis-
berg war eines der ersten Produkte. Übrigens hätte weder
Freda noch einer ihrer Brüder eine Gefahr für die Schiff-
fahrt dargestellt - da sie hohl waren, wären sie bei einem
Zusammenstoß zerbrochen wie Christbaumkugeln.
Schließlich waren die Vorbereitungen abgeschlossen.
Die Marlin lag nördlich von Miami im Atlantik, und die
Gefrieranlage lief auf vollen Touren. Es war eine schöne,
klare Nacht, und die Mondsichel ging gerade im Westen
unter. DieMarlin hattekeine Positionslichter gesetzt, aber
Commander Dawson hielt eifrig nach anderen Schiffen
Ausschau. In einer solchen Nacht konnte er ihnen auswei-
chen, ohne daß sie ihn bemerkten.
Freda befand sich noch im Embryo-Stadium. Der tech-
nische Vorgang bestand darin, daß in einen großen Pla-
stiksack unterkühlte Luft geblasen und er dann mit Was-
ser besprüht wurde, bis sich eine Eisschicht bildete. Der
Sack konnte entfernt werden, sobald das Eis dick genug
war, um nicht unter seinem eigenen Gewicht zu zerbre-
chen. Eis ist kein sehr gutes Baumaterial, aber Freda mußte
ja nicht sehr groß sein. Auch ein kleiner Eisberg würde für
die Handelskammer von Florida genauso peinlich sein wie
ein kleines Baby für eine ledige Dame.
Commander Dawson sah vom Turm aus zu, wie seine
Mannschaft mit eiskaltem Wasser und unterkühlter Luft
hantierte. Sie besorgten diese ungewohnte Tätigkeit schon

144
sehr geschickt und hatten sogar künstlerische Ambitio-
nen. Der Commander hatte sie leider daran hindern müs-
sen, Marylin Monroe in Eis zu modellieren - obwohl er die
Idee für eine spätere Realisierung vormerkte.
Kurz nach Mitternacht erschreckte ihn ein Blitz im Nor-
den, und er wandte gerade noch rechtzeitig den Kopf, um
zu sehen, wie ein roter Schein am Horizont erlosch.
>Ein Flugzeug ist abgestürzt, Skipper<, schrie einer der
Wachtposten. >Ich habe es deutlich gesehen.< Ohne zu zö-
gern, gab der Commander Befehl, Kurs nach Norden zu
nehmen. Er hatte den Lichtschein genau geortet und
nahm an, daß er nur wenige Meilen entfernt war. Freda,
die beinahe das gesamte Heck seines Schiffes bedeckte,
würde seine Geschwindigkeit kaum beeinträchtigen; au-
ßerdem hatte er ohnehin keine Möglichkeit, sie rasch los-
zuwerden. Er stellte die Gefrieranlage ab, damit die Die-
selmotoren mehr Leistung erbrachten, und schoß mit vol-
ler Kraft voraus.
Etwa dreißig Minuten später entdeckte der Ausguck
durch seinen starken Nachtfeldstecher einen treibenden
Gegenstand. >Es schwimmt noch<, sagte er. >Es dürfte ein
Flugzeug sein - aber ich sehe keine Anzeichen von Leben.
Außerdem fehlen die Flügel.<
In diesem Augenblick unterbrach ihn ein anderer Aus-
guckposten.
>Skipper, dreißig Grad Steuerbord, was ist das?<
Commander Dawson drehte sich um und setzte den
Feldstecher an die Augen. Er sah einen kleinen, ovalen
Gegenstand, der sich rasch um sich selbst drehte.
>Oh, ich fürchte, wir haben Gesellschaft bekommen.
Das ist eine Raderantenne - hier muß irgendwo noch ein
U-Boot sein.< Dann strahlte er. >Vielleicht können wir uns
dann aus dem Ganzen heraushalten<, bemerkte er zu sei-
nem Zweiten Offizier. >Wir warten nur noch, bis sie mit
der Rettungsoperation beginnen, dann schleichen wir uns
davon.<

146
>Es wäre möglich, daß wir dabei tauchen und Fredä auf-
geben müssen. Wahrscheinlich haben sie uns schon auf
ihrem Radarschirm entdeckt. Es ist besser, wenn wir lang-
samer werden und uns wie ein wirklicher Eisberg beneh-
men<, bemerkte der Zweite.
Dawson nickte und erteilte die entsprechenden Befehle.
Die Lage spitzte sich zu, und innerhalb der nächsten Mi-
nuten konnte alles mögliche passieren. Für das andere
U-Boot war die Marlin nur ein Punkt auf dem Radar-
schirm, aber sobald es sein Periskop ausfuhr, würde sein
Commander sich den Punkt sehr genau ansehen. Und
dann würde der Teufel los sein ...
Dawson analysierte die taktische Situation. Es war am
besten, fand er, wenn er seine ungewöhnliche Tarnung
voll ausnützte. Er befahl, dieMarlin zu wenden, damit ihr
Heck zum noch immer getauchten Fremden zeigte. Wenn
das andere U-Boot auftauchte, würde sein Commander
zwar sehr erstaunt sein, einen Eisberg vor sich zu sehen,
aber Dawson hoffte, daß er sich vor allem mit der Ret-
tungsaktion und weniger mit Freda beschäftigen würde.
Er sah zum abgestürzten Flugzeug hinüber - und er-
lebte seinen zweiten Schock. Es handelte sich tatsächlich
um ein höchst eigenartiges Flugzeug - etwas stimmte ganz
und gar nicht.
>Natürlich<, sagte Dawson seinem Ersten Offizier. >Es
hätte uns einfallen müssen - das Ding ist gar kein Flug-
zeug. Es ist eine Rakete von der Basis in Cocoa - sie kön-
nen die Schwimmsäcke sehen. Sie haben sich beim Auf-
prall automatisch mit Luft gefüllt, und das U-Boot hat hier
draußen auf die Rakete gewartet, um sie abzuschlep-
pen.<
Er hatte sich daran erinnert, daß sich an der Ostküste
von Florida eine große Raketenbasis befand, die den un-
wahrscheinlichen Namen Cocoa trug und am noch un-
wahrscheinlicheren Bananenfluß lag. Jedenfalls waren
keine Menschenleben in Gefahr, und wenn sich dieMarlin

147
nicht rührte, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach un-
geschoren davonkommen.
Seine Maschinen liefen gerade noch, so daß das U-Boot
dem Ruder gehorchte und sie sich hinter ihrer Tarnung
verstecken konnten. Freda war groß genug, um den Turm
zu verbergen, und aus einer gewissen Entfernung würde
die Marlin, selbst bei besserer Beleuchtung, vollkommen
unsichtbar sein.
Es gab allerdings noch eine schreckliche Möglichkeit -
daß das andere U-Boot sie aus prinzpiellen Erwägungen
beschoß, weil sie eine Bedrohung für die Schiffahrt dar-
stellten. Aber nein: sie würden nur die Küstenwache
alarmieren, was zwar unangenehm war, aber kein Hin-
dernis für ihren Plan darstellte.
>Es taucht auf<, meldete der Erste. >Zu welcher Klasse
gehört es?<
Sie betrachteten beide durch ihre Gläser das U-Boot, das
jetzt aus dem leicht phosphoreszierenden Ozean hervor-
kam. Der Mond war beinahe untergegangen, und man
konnte Einzelheiten nur schwer ausmachen. Dawson
stellte erleichtert fest, daß sich die Antenne nicht mehr
drehte, sondern auf die Rakete zeigte. Die Form des Turms
war jedoch merkwürdig ...
Dann schluckte Dawson, hielt sich das Mikrophon an
den Mund und flüsterte seiner Besatzung im Inneren der
Marlin zu: >Spricht einer von euch Russisch?<
Es folgte eine lange Stille, doch dann kletterte der Ma-
schinenmaat in den Turm.
>Ich kann ein paar Worte, Skipper. Meine Großeltern
waren aus der Ukraine. Was ist los?<
>Sehen Sie sich das an!< antwortete Dawson grimmig.
>Jemand wildert hier unverschämt, und wir sollten es
meiner Meinung nach verhindern.<«
Harry Purvis hat die unangenehme Gewohnheit, sich
auf dem Höhepunkt einer Geschichte zu unterbrechen
und noch ein weiteres Bier zu bestellen - oder eigentlich,

148
es sich von jemandem bestellen zu lassen. Ich habe dös so
oft erlebt, daß ich längst mit einem raschen Blick auf den
Pegel in seinem Glas genau weiß, wann der Höhepunkt
kommt. Wir mußten, ob wir wollten oder nicht, geduldig
warten, bis er aufgetankt hatte.
»Wenn man es sich recht überlegt«, meinte er nach-
denklich, »hat der Commander des russischen U-Boots
wirklich Pech gehabt. Ich nehme an, daß sie ihn erschos-
sen haben, sobald er nach Wladiwostok oder wohin immer
zurückkehrte. Denn welcher Gerichtshof hätte seine Ge-
schichte geglaubt? Wenn er dumm genug war, die Wahr-
heit zu sagen, hätte er berichten müssen: >Wir befanden
uns an der Küste von Florida, als uns ein Eisberg auf Rus-
sisch anschrie: ,Entschuldigen Sie, aber das ist unser Ei-
gentum/< Da sich an Bord seines Schiffes bestimmt ein
paar KGB-Männer befanden, muß sich der arme Kerl et-
was ausgedacht haben, aber es hat sicherlich nicht über-
zeugend geklungen ...
Wie Dawson zu Recht angenommen hatte, gab der
Russe einfach Fersengeld, sobald er begriff, daß man ihn
entdeckt hatte. Da sich der Commander derMarlin daran
erinnerte, daß er Reserveoffizier war, daß seine Pflicht
dem Vaterland gegenüber wichtiger war als alle vertragli-
chen Abmachungen mit einem Bundesstaat, hatte er gar
keine Wahl. Er nahm die Rakete ins Schlepptau, enteiste
Freda und nahm Kurs auf Cocoa. Zuerst sandte er aller-
dings einen Funkspruch ab, der im Marineministerium
wilde Aufregung verursachte und daran schuld war, daß
Zerstörer in den Atlantik hinausjagten. Vielleicht war der
neugierige Iwan überhaupt nicht mehr nach Wladiwostok
zurückgekehrt . . .
Die darauffolgenden Erklärungen waren etwas kompli-
ziert, aber die gerettete Rakete war so wichtig, daß nie-
mand allzu viele Fragen über den Privatkrieg der Marlin
stellte. Der Angriff auf Miami Beach mußte jedoch, zu-
mindest für dieses Jahr, abgeblasen werden. Zu meiner

149
Befriedigung kann ich berichten, daß nicht einmal die
Sponsoren, die doch eine Menge Geld in die Aktion inve-
stiert hatten, sehr enttäuscht waren. Sie besitzen jetzt vom
Leiter der Flottenoperation unterzeichnete Zeugnisse, in
denen man ihnen für wertvolle, aber nicht näher definierte
Dienste dankt, die sie dem Vaterland erwiesen haben.
Diese Zeugnisse erregen bei ihren Freunden in Los Ange-
les solchen Neid und solche Verwunderung, daß sie sich
um nichts auf der Welt von ihnen trennen würden.
Ihr dürft aber nicht glauben, daß das Projekt endgültig
ad acta gelegt ist; dazu solltet ihr amerikanische Publici-
ty-Männer zu gut kennen. Freda liegt zwar im Kälteschlaf,
wird aber eines Tages bestimmt wieder zum Leben er-
weckt. Die Pläne sind bereits ausgearbeitet, bis ins kleinste
Detail, wie die zufällige Anwesenheit eines Filmteams aus
Hollywood, wenn Freda vom Atlantik hereintreibt.
Das ist also eine der Geschichten mit einem klaren, ein-
deutigen Ende. Die ersten Scharmützel haben stattgefun-
den, aber die Hauptschlacht steht noch bevor.
Da frage ich mich etwas: Was wird Florida den Kalifomiem
antun, wenn es begreift, was da gespielt wurdel
Hat jemand vielleicht eine Idee?«

150
Was oben ist, muß
runterkommen

tiiner der Gründe, warum ich die genaue Lage des »Wei-
ßen Hirschen« nie bekanntgebe, ist die Tatsache, daß wir
ihn für uns behalten wollen. Es handelt sich dabei nicht
um Futterneid, sondern um Selbstschutz. Sobald sich
herumspricht, daß Wissenschaftler, Verleger und Science
Fiction-Autoren in einem Lokal zusammenkommen, tau-
chen unweigerlich die sonderbarsten Besucher auf. Son-
derlinge mit neuen Theorien über das Universum, Typen,
die durch einen Guru >geläutert< wurden (Gott allein
weiß, wie sie vorher aussahen), muntere Damen, die nach
dem vierten Gin hellsehen - das sind noch die nonrvalsten
Zuzügler. Am ärgsten sind jedoch die Ufo-Fans: die ein-
zige Möglichkeit, sie loszuwerden, ist schwere Körperver-
letzung.
Es war ein schwarzer Tag, als einer der führenden Expo-
nenten des Ufo-Glaubens unser Versteck entdeckte und
sich mit schrillem Freudengeschrei auf uns stürzte. Er war
offensichtlich der Meinung, daß er fruchtbaren Boden für
seine Missionstätigkeit gefunden hatte. Leute, die sich für
Raumflüge interessierten und sogar Bücher und Erzäh-
lungen darüber schrieben, waren für ihn eine leichte Beu-
te. Er öffnete seine kleine schwarze Tasche und zog das
neueste Ufo-Konvolut heraus.
Es war eine beeindruckende Sammlung. Es gab ein paar
interessante Aufnahmen von Ufos, die von einem direkt
neben dem Greenwicher Observatorium wohnenden
Amateurastronomen gemacht worden waren. Dieser flei-
ßige Mensch hatte mit seiner Kamera so viele Raumschiffe
aller Formen und Größen eingefangen, daß man sich fragt,

151
was die Profis nebenan für unser Steuergeld tun. Dann
zeigte er uns eine lange Erklärung eines Gentleman aus
Texas über eine zwanglose Plauderei mit der Besatzung
eines Ufos, das auf dem Weg zur Venus kurz am Straßen-
rand angehalten hatte. Es hatte anscheinend keine
Sprachschwierigkeiten gegeben: nach etwa zehn Minuten
Armeschwenken waren sie von >Ich - Mensch, das - Er-
de< zu hochesoterischen Informationen über die Verwen-
dung der vierten Dimension in der Raumfahrt gelangt.
Das Prunkstück war jedoch ein aufgeregter Brief von ei-
nem Typ in Süddakota, der in einem Ufo zu einem Rund-
flug um den Mond mitgenommen worden war. Er erklärte
ausführlich, wie sich die Untertasse fortbewegte, und
zwar indem sie sich an magnetischen Kraftlinien empor-
zog, ungefähr wie eine Spinne, die an ihrem Faden hin-
aufklettert.
An diesem Punkt rebellierte Harry Purvis. Er hatte sich
voller Berufsstolz Geschichten angehört, die nicht einmal
er erzählt hätte, weil er genau einschätzen konnte, wie
weit seine Zuhörerschaft bereit war, ihm zu glauben. Als
jedoch Kraftlinien erwähnt wurden, gewann seine wis-
senschaftliche Bildung die Oberhand über seine Bewun-
derung für die Nachkommen Münchhausens, und er
schnaubte angewidert.
»Das ist doch blühender Unsinn«, sagte er. »Ich kann
es Ihnen beweisen - Magnetismus ist mein Spezialge-
biet.«
Drew füllte zwei Gläser gleichzeitig mit Ale und be-
merkte dabei honigsüß: »Vergangene Woche waren kri-
stalline Strukturen Ihr Spezialgebiet.«
Harry lächelte von oben herab.
»Ich bin ein allgemeiner Spezialist«, stellte er selbstgefäl-
lig fest. »Um darauf zurückzukommen, was ich vor dieser
Unterbrechung sagen wollte - es gibt keine magneti-
schen Kraftlinien. Sie sind ein mathemathisches System,
genau wie die Längen- und Breitenlinien. Wenn jemand

152
behaupten sollte, daß er eine Maschine erfunden hat, die
sich an den Breitenlinien entlangzieht, würde jeder Zuhö-
rer wissen, daß dieser Mensch Unsinn redet. Aber weil
nur wenige Menschen etwas von Magnetismus verstehen,
und er noch dazu ziemlich geheimnisvoll wirkt, könnten
sich Verrückte wie dieser Kerl in Süddakota erlauben, den
Mist zu verzapfen, den wir soeben gehört haben.«
Eins muß man dem >Weißen Hirschen< lassen - wir
streiten vielleicht miteinander, aber in Krisenzeiten be-
weisen wir eiserne Solidarität. Alle waren der Meinung,
daß mit dem unwillkommenen Besucher etwas geschehen
müsse; er störte uns vor allem bei einer ernsthaften Arbeit:
dem Trinken. Ein einziger Fanatiker kann der fröhlichsten
Gesellschaft die Stimmung verderben, und etliche
Stammgäste trafen Anstalten zum Gehen, obwohl die
Sperrstunde erst in zwei Stunden fällig war.
Als Harry Purvis also seine Behauptungen durch die
unwahrscheinlichste Geschichte untermauerte, die er je-
mals im >Weißen Hirschen< erzählt hatte, unterbrach ihn
niemand, und keiner versuchte, den Finger auf die schwa-
chen Punkte seiner Erzählung zu legen. Wir wußten, daß
Harrry für uns alle kämpfte - er trieb sozusagen den Teufel
mit Beelzebub aus. Er erwartete auch nicht, daß wir ihm
glaubten (falls er das je tat), also lehnten wir uns zurück
und genossen seine Darbietung.
»Wenn ihr über den Antrieb von Raumschiffen Be-
scheid wissen wollt«, begann Harry, »- wohlgemerkt, ich
äußere mich nicht darüber, ob es Ufos gibt oder nicht -,
dann müßt ihr den Magnetismus vergessen. Ihr müßt di-
rekt zur Schwerkraft kommen - schließlich ist sie die uni-
verselle Kraft im Universum. Aber man kann sie nur
schwer in den Griff bekommen, und falls ihr mir nicht
glaubt, hört euch an, was einem Wissenschaftler vergan-
genes Jahr in Australien zugestoßen ist. Ich sollte es ei-
gentlich nicht erzählen, weil ich nicht sicher bin, ob es sich
nicht um geheime Informationen handelt, aber wenn es

153
Schwierigkeiten geben sollte, werde ich beschwören, daß
ich nie auch nur ein Wort gesagt habe.
Wie ihr vielleicht wißt, betreiben die Aussies eifrig wis-
senschaftliche Forschungen, und eines der Teams arbei-
tete mit schnellen Brütern - das sind gezähmte Atombom-
ben, die viel kompakter als die alten Uraniummeiler sind.
Der Leiter der Gruppe war ein fähiger, aber etwas impul-
siver junger Atomphysiker, den ich Dr.Cavor nennen will.
Das ist natürlich nicht sein richtiger Name, aber er paßt
sehr gut zu ihm. Ihr erinnert euch sicherlich alle an den
Wissenschaftler in Wells' Die ersten Menschen auf dem
Mond, und an das wunderbare schwerkraft-aufhebende
Material Cavorit, das er entdeckt hat?
Leider befaßte sich der gute alte Wells nicht sehr gründ-
lich mit dem Cavorit. Er behauptete, es sei für die Schwer-
kraft genauso undurchdringlich wie eine Metallplatte für
Licht. Daher wurde alles, was sich oberhalb einer waag-
rechten Cavorit-Platte befand, schwerelos und schwebte
in den Raum empor.
Nun, so einfach ist es aber nicht. Gewicht entspricht
Energie - und zwar einer riesigen Menge Energie -, die
nicht einfach neutralisiert werden kann. Man müßte daher
auch in den kleinsten Gegenstand ein ungeheures Quan-
tum Arbeit investieren, damit er schwerelos wird. Anti-
schwerkraft-Schirme in der Art des Cavorit sind daher
eine Fiktion - sie gehören in die gleiche Kategorie wie das
Perpetuum mobile.«
»Drei meiner Freunde haben Perpetuum-mobile-Ma-
schinen erfunden«, begann unser unerwünschter Besu-
cher verdrießlich. Harry gab ihm keine Chance: er über-
hörte die Unterbrechung einfach und sprach weiter.
»Unser Australier Dr. Cavor suchte allerdings keine
Anti-Schwerkraft oder etwas Ähnliches. Man kann sicher
sein, daß in der reinen Wissenschaft grundlegende Ge-
setzmäßigkeiten nie von dem entdeckt werden, der sie
sucht - das ist ja das Lustige daran. Dr. Cavor wollte Kern-

154
kraft erzeugen und fand dabei die Anti-Schwefkraft.
Noch dazu dauerte es einige Zeit, bis er begriff, was er ent-
deckt hatte.
Wahrscheinlich spielte sich das Ganze folgendermaßen
ab: es handelte sich um einen neuartigen, kühn konstru-
ierten Reaktor, und es war durchaus möglich, daß er in die
Luft flog, sobald das letzte Stück spaltbaren Materials ein-
gefahren wurde. Daher wurde er in einer der vielen, so
praktischen Wüsten Australiens mittels Fernsteuerung
zusammengesetzt, und die letzten Handgriffe wurden auf
Monitoren überwacht.
Es kam zu keiner Explosion - die zu einer unangeneh-
men radioaktiven Verseuchung geführt und viel Geld ge-
kostet, aber keinen Schaden angerichtet hätte - es sei
denn, am wissenschaftlichen Ruf einiger Beteiligter. Was
wirklich geschah, kam viel unerwarteter und war viel
schwerer zu erklären.
Als das letzte Stück angereichertes Uran eingefahren,
die Kontrollstäbe herausgezogen und der Reaktor auf den
kritischen Punkt erhitzt worden war, fiel alles aus. Die
Zeiger der Meßgeräte im zwei Meilen vom Reaktor ent-
fernten Kontrollraum gingen auf Null zurück. Das Bild auf
dem Monitor verschwand. Cavor und seine Kollegen war-
teten auf den Knall, aber er kam nicht. Sie sahen einander
einen Augenblick lang argwöhnisch an, dann kletterten
sie wortlos aus dem unterirdischen Bunkerraum.
Das Reaktorgebäude stand vollkommen unverändert
da: es befand sich draußen in der Wüste, ein unscheinba-
rer Würfel aus Ziegeln, in dem spaltbares Material im Wert
von mehreren Millionen Pfund und jahrelange Entwick-
lungs- und Forschungsarbeit steckten. Cavor verlor keine
Zeit: er schnappte sich den Jeep, schaltete einen tragbaren
Geigerzähler ein und machte sich auf den Weg.
Einige Stunden danach kam er in einem Krankenhaus
wieder zu sich. Außer heftigen Kopfschmerzen fehlte ihm
nichts, aber sie waren nicht so arg wie die, die ihm das Ex-

155
periment in den nächsten Tagen verursachte. Als er sich
etwa fünf Meter vor dem Reaktor befunden hatte, war sein
Jeep mit voller Wucht gegen etwas geprallt. Cavor war ge-
gen das Lenkrad geflogen und verfügte jetzt über eine an-
sehnliche Sammlung von blauen Flecken; merkwürdi-
gerweise war der Geigerzähler vollkommen unbeschädigt
geblieben und tickte friedlich vor sich hin; er zeigte nur die
normale kosmische Strahlung an.
Aus der Entfernung hatte es wie ein vollkommen nor-
maler Unfall ausgesehen - als wäre der Jeep in eine Furche
geraten. Aber zum Glück war Cavor nicht schnell gefah-
ren, und es gab weit und breit keine Furche. Der Jeep war
gegen etwas geprallt, das es nicht gab. Es war eine un-
sichtbare Mauer, anscheinend der untere Rand einer
Kuppel, die den gesamten Reaktor umschloß, Steine, die
man in die Höhe warf, glitten an dieser Kuppel herunter,
und sie erstreckte sich auch so tief in die Erde, wie man mit
Grabungen kommen konnte. Es sah so aus, als befinde
sich der Reaktor im Mittelpunkt einer undurchdringli-
chen, kugelförmigen Schale.
Natürlich war es für Cavor eine wunderbare Nach-
richt, und im nächsten Augenblick jagte er die Kranken-
schwestern fort und sprang aus dem Bett. Er hatte keine
Ahnung, was geschehen war, es war aber viel aufregender
als der langweilige Atomreaktor, mit dem alles begonnen
hatte.
Ihr werdet euch wahrscheinlich fragen, was, zum Teu-
fel, eine Kraftkugel - wie die Science Fiction-Autoren das
Phänomen bezeichnen würden - mit Anti-Schwerkraft zu
tun hat. Ich werde also einige Tage überspringen und euch
gleich sagen, was Cavor und sein Team mit Hilfe von an-
gestrengter wissenschaftlicher Arbeit und vielen Gallonen
starkem australischen Bier herausfanden.
Als der Reaktor eingeschaltet wurde, hatte er irgendwie
ein Antischwerkraft-Feld aufgebaut. Innerhalb einer Ku-
gel mit einem Radius von fünf Metern war die gesamte

156
Materie schwerelos geworden, und die dafür erforderliche
ungeheure Menge Energie war auf mysteriöse Weise dem
Uran im Atommeiler entnommen worden. Berechnungen
ergaben, daß die im Reaktor enthaltene Energie gerade da-
für ausreichte. Wahrscheinlich wäre dieses kugelförmige
Kraftfeld größer gewesen, wenn in der Energiequelle
mehr Ergs zur Verfügung gestanden hätten.
Ich sehe euch an, daß euch Fragen auf der Zunge bren-
nen, deshalb nehme ich sie vorweg. Warum schwebte
diese gewichtslose Kugel aus Erde und Luft nicht in den
Raum empor? Die Erde wurde durch die Kohäsion zu-
sammengehalten, deshalb hatte sie keinen Grund, abzu-
wandern. Die Luft hingegen mußte infolge eines überra-
schenden, noch zu erklärenden Grundes innerhalb der
schwerelosen Zone bleiben, und damit komme ich zum
Kernpunkt dieser merkwürdigen Angelegenheit.
Legt jetzt lieber die Sicherheitsgurte an: wir haben etli-
che Turbulenzen vor uns. Diejenigen unter euch, die et-
was von Potentialtherorie verstehen, werden mir ohne
Schwierigkeiten folgen können, und für die anderen
werde ich es möglichst vereinfacht darlegen.
Leute, die leichtfertig über Anti-Schwerkraft sprechen,
denken meist nicht über die sich daraus ergebenden Fol-
gerungen nach, also führen wir uns erstmal ein paar theo-
retische Grundlagen zu Gemüte.
Wie ich bereits ausgeführt habe, entspricht Gewicht
Unmengen von Energie. Diese Energie entspringt aus-
schließlich dem Schwerkraftfeld der Erde. Wenn man einem
Gegenstand das Gewicht nimtnt, ist das genauso, als würde
man ihn außerhalb des Schwerefeldes der Erde bringen.
Und jeder Raketeningenieur kann euch bestätigen, wie-
viel Energie dazu erforderlich ist!«
Harry wandte sich an mich. »In einem deiner Bücherbe-
findet sich ein Vergleich, den ich verwenden möchte, weil
er veranschaulicht, was ich erklären will. Du weißt doch -
wo du den Kampf gegen die Schwerkraft der Erde damit

157
vergleichst, daß man aus einem ziemlich tiefen Loch klet-
tert.«
»Nur zu«, antwortete ich. »Ich habe ihn sowieso bei Doc
Richardson gestohlen.«
»Ich habe mir ja gleich gedacht, daß er zu gut war, um
von dir zu sein«, bemerkte Harry. »Also schön! Wenn ihr
euch an diese wirklich einfache Vorstellung klammert, ist
alles in Ordnung. Um einen Gegenstand von der Erde
fortzuschaffen, braucht es genauso viel Arbeit, als würde
man ihn viertausend Meilen gegen den Zug der normalen
Schwerkraft heben. Die Materie innerhalb Cavors Kraft-
feld befand sich zwar immer noch auf der Oberfläche der
Erde, war aber schwerelos. Vom Energiestandpunkt aus
befand sie sich also außerhalb des Schwerkraftfeldes der
Erde. Sie war genauso unerreichbar, als hätte sie sich auf
dem Gipfel eines viertausend Meilen - das sind 6400 Kilo-
meter - hohen Berges befunden.
Cavor konnte wenige Zentimeter außerhalb des Anti-
schwerkraftgebietes stehen und es betrachten. Um diese
wenigen Zentimeter zu überwinden, mußte er jedoch ge-
nauso viel Arbeit leisten, als würde er achthundert Mal auf
den Everest steigen. Es war nicht erstaunlich, daß es der
Jeep so eilig gehabt hatte stehenzubleiben. Kein materieller
Gegenstand hatte ihn aufgehalten, aber dynamisch gese-
hen war er gegen ein viertausend Meilen hohes Kliff ge-
prallt.
Einige von euch sehen mich verständnislos an, und das
ist nicht nur auf die späte Stunde zurückzuführen. Macht
nichts: wenn ihr nicht alles begriffen habt, glaubt mir ein-
fach. Ihr werdet dennoch in der Lage sein, bei den folgen-
den Ausführungen mitzukommen.
Cavor hatte sofort begriffen, daß er eine der wichtigsten
Erfindungen der Menschheit überhaupt gemacht hatte,
obwohl es einige Zeit dauerte, bis er herausbekam, was ei-
gentlich los war. Den endgültigen Hinweis auf die Anti-
schwerkraft-Natur des Feldes erhielten sie, als sie es mit

158
einer Gewehrkugel beschossen und die Flugbahn mit ei-
ner Hochgeschwindigkeitskamera verfolgten. Genial,
nicht wahr?
Das nächste Problem bestand darin, mit dem Feldgene-
rator zu experimentieren und herauszufinden, was sich im
Reaktor ereignet hatte, als er eingeschaltet wurde. Es war
ein echtes Problem. Der Reaktor befand sich gut sichtbar
fünf Meter vor ihnen. Aber um ihn zu erreichen, brauch-
ten sie etwas mehr Energie als für einen Flug zum Mond!
Cavor ließ sich weder dadurch noch durch die unerklär-
liche Tatsache entmutigen, daß der Reaktor nicht mehr auf
die Fernsteuerung reagierte. Er nahm an, daß die ganze
Energie aufgebraucht worden war, und daß zur Erhaltung
des Antischwerkraftfeldes entweder verschwindend we-
nig oder überhaupt keine Energie notwendig war. Diese
Annahme konnte jedoch nur durch eine Untersuchung an
Ort und Stelle bewiesen werden. Deshalb mußte Dr. Ca-
vor auf Biegen oder Brechen zum Reaktor gelangen.
Zuerst wollte er einen elektrisch betriebenen Karren
verwenden, der die Kabel, durch die er mit Elektrizität
versorgt wurde, hinter sich herzog, während er in das Feld
eindrang. Ein Hundert-PS-Generator, der siebzehn Stun-
den lang ununterbrochen lief, würde genügend Energie lie-
fern, um einen durchschnittlich schweren Mann über die
gefährlichen fünf Meter zu transportieren. Eine Ge-
schwindigkeit von einem Drittel Meter in der Stunde wirkt
zwar lächerlich, aber wenn man bedenkt, daß eine Strecke
von einem halben Meter im Antischwerkraftfeld einer
senkrechten Klettertour über zweihundert Meilen ent-
sprach, sieht es schon anders aus.
Theoretisch war alles in Ordnung, aber praktisch funk-
tionierte der Karren nicht. Er drang in das Feld ein, die Rä-
der begannen aber nach einem Zentimeter durchzudre-
hen. Wenn man es sich recht überlegte, war das zu erwar-
ten gewesen. Obwohl die Energie vorhanden war, fehlte
der Zug. Kein mit Rädern versehenes Fahrzeug konnte

159
eine Steigung von zweihundert Meilen pro halbem Meter
erklimmen.
Dieser kleine Rückschlag entmutigte Dr. Cavor keines-
wegs. Ihm war sofort klar, daß der Zug außerhalb des Fel-
des ansetzen mußte. Wenn man eine Last senkrecht
hochhieven will, verwendet man keinen Karren, sondern
einen Flaschenzug oder einen hydraulischen Preßkolben.
Das Ergebnis dieser Uberlegung war eines der merk-
würdigsten Fahrzeuge, die je gebaut wurden. Ein kleiner,
aber bequemer Käfig, der eine Wochenration Lebensmittel
für einen Menschen enthielt, wurde am Ende eines fünf
Meter langen waagrechten Balkens befestigt. Das Gerät
war mit Ballonreifen versehen, und man nahm an, daß der
Käfig in das Zentrum des Feldes geschoben werden konn-
te, und zwar von einer Maschine, die sich außerhalb seines
Einflußbereiches befand. Nach reiflicher Uberlegung ent>
schied man sich für einen gewöhnlichen Bulldozer.
Um das Gerät zu testen, sperrte man ein paar Kanin-
chen in das Passagierabteil. Dabei muß es zu einer interes-
santen psychologischen Reaktion gekommen sein. Die
Experimentierenden hätten nämlich beide Lösungen be-
grüßt: als Wissenschaftler hofften sie, ihre Objekte lebend
zurückzubekommen, und als Australier hätten sie sich
darüber gefreut, wenn die Kaninchen ums Leben gekom-
men wären. Aber vielleicht geht meine Phantasie mit mir
durch ... (Ihr wißt natürlich, wie Australier zu Kaninchen
stehen.)
Der Bulldozer tuckerte gleichmütig Stunde um Stunde
vor sich hin und schob das Gewicht des Balkens und die
belanglose Nutzlast die ungeheure Steigung hinauf. Es
war ein unheimlicher Anblick - so viel Energie wurde auf-
gewendet, um ein Kaninchenpaar über eine waagrechte
Ebene zu befördern. Während der Operation konnten die
Objekte beobachtet werden: sie wirkten vollkommen
glücklich und schienen keine Ahnung von ihrer histori-
schen Rolle zu haben.

160
Das Passagierabteil erreichte das Zentrum des Fekles,
wurde eine Stunde dort belassen und dann zog man den
Balken langsam wieder heraus. Die Kaninchen waren am
Leben und bei bester Gesundheit, und niemand war dar-
über erstaunt, daß es jetzt sechs waren.
Dr. Cavor bestand natürlich darauf, als erstes menschli-
ches Wesen in das Schwerelosigkeitsfeld einzudringen. Er
füllte das Abteil mit Drehwaagen, Strahlungsmeßgeräten
und Periskopen, damit er in den Reaktor hineinschauen
konnte, wenn er ihn endlich erreichte. Dann gab er das
Zeichen, der Bulldozer fing an zu tuckern, und die selt-
same Reise begann.
Natürlich bestand eine Telefonverbindung vom Passa-
gierabteil zur Außenwelt. Aus nicht ganz geklärten Grün-
den konnten Schallwellen das Hindernis nicht durchdrin-
gen, aber Funk und Telefon funktionierten tadellos. Cavor
gab laufend Kommentare ab, während er in das Feld vor-
rückte, schilderte seine Eindrücke und übermittelte sei-
nen Kollegen die Werte, die er von den Instrumenten ab-
las.
Obwohl er auf den Eindruck gefaßt gewesen war, war er
zunächst dennoch verwirrt. Während der ersten Zoll sei-
ner Reise, als er die Randzone des Feldes durchquerte, än-
derte sich die Richtung der vertikalen Ebene, >Oben< war
nicht mehr dort, wo sich der Himmel befand, sondern
dort, wo der Reaktor stand. Cavor hatte das Gefühl, ein
senkrechtes Kliff hinaufgeschoben zu werden, wobei sich
der Reaktor fünf Meter oberhalb von ihm befand. Zum er-
stenmal nahmen seine Augen und seine übrigen Sinne
das wahr, was seine wissenschaftliche Ausbildung pro-
phezeit hatte. Er konnte sehen, daß das Zentrum des Fel-
des hinsichtlich der Schwerkraftrichtung >höher< lag als
der Ort, von dem er gestartet war. Dennoch schreckte
seine Phantasie noch immer vor der Vorstellung zurück,
wieviel Energie notwendig war, damit er diese so harmlos
aussehenden fünf Meter zurücklegte, und wieviel hun-

161
Gallonen Dieselöl verbrannt werden mußten um diese
Energie zu erzeugen.
Sonst ereignete sich während der Reise nichts Erwäh-
nenswertes, und schließlich erreichte Cavor zwanzig
Stunden nach dem Aufbruch sein Ziel. Die Wand des Re-
aktors befand sich direkt neben ihm, obwohl er sie nicht
als Wand, sondern als Decke empfand, die sich in rechtem
Winkel zu dem Kliff erstreckte, an dem er sich hinaufgear-
beitet hatte. Der Eingang befand sich genau über seinem
Kopf, wie eine Falltür, durch die er klettern mußte. Das be-
reitete ihm jedoch keine Schwierigkeiten, denn er war ein
durchtrainierter junger Mann und konnte kaum erwarten
herauszufinden, wie er dieses Wunder geschaffen hatte.
Er war aber etwas zu tatkräftig. Als er nämlich versuch-
te, die Tür zu erreichen, glitt er aus und fiel von der Platt-
form.
Das war das letztemal, daß ihn jemand sah - aber nicht
das letztemal, daß man ihn hörte. O nein! Er erzeugte so-
gar sehr viel Lärm ... Ihr werdet es sofort begreifen, wenn
ihr euch überlegt, in welcher Situation sich der unglückli-
che Wissenschaftler jetzt befand. Hunderte Kilowattstun-
den Energie hatten auf ihn eingewirkt - sie hätten genügt,
um ihn ein Stück über den Mond hinaus zu transportie-
ren. Diese Arbeit war erforderlich gewesen, um ihn an ei-
nen Punkt mit Null-Schwerkraft-Potential zu befördern.
Als er seine Stütze verlor, begann die Energie wieder
wirksam zu werden. Um auf unseren malerischen Ver-
gleich zurückzukommen - der arme Doktor war von der
Kante des viertausend Meilen hohen Berges abgestürzt,
auf den er hinaufgestiegen war.
Er fiel die fünf Meter zurück, zu deren Bewältigung er
beinahe einen Tag gebraucht hatte. Hinsichtlich der Ener-
gie entsprach dieser Absturz einem freien Fall von den ent-
ferntesten Sternen auf die Erdoberfläche. Und ihr wißt
alle, welche Geschwindigkeit ein Gegenstand bei diesem
Fall erreicht. Es ist die gleiche Geschwindigkeit, die nötig

162
ist, damit der Gegenstand zunächst einmal dorthin ge-
langt - die berühmte Fluchtgeschwindigkeit. Sieben Mei-
len pro Sekunde, oder fünfundzwanzigtausend Meilen
pro Stunde.
Diese Geschwindigkeit hatte Dr. Cavor erreicht, als er an
seinem Ausgangspunkt anlangte. Das heißt, um genauer
zu sein, er versuchte unfreiwillig, sie zu erreichen. Sobald
er jedoch ein oder zwei Mach überschritten hatte, kam
auch der Luftwiderstand zum Tragen. Dr. Cavors Feuer-
bestattung war der schönste und einzige Meteor, der aus-
schließlich auf Meeresniveau verglühte.
Es tut mir leid, daß diese Geschichte kein Happy-End
hat. Eigentlich hat sie überhaupt kein Ende, weil die Kugel
mit dem Null-Schwerkraft-Potential noch immer in der
australischen Wüste hockt; scheinbar hat sie keinerlei
Auswirkungen, in Wirklichkeit erzeugt sie in wissen-
schaftlichen und offiziellen Kreisen wachsende Frustra-
tion. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Behörden die
Sache weiterhin geheimhalten wollen. Manchmal halte
ich es schon für sehr merkwürdig, daß sich der höchste
Berg der Welt in Australien befindet - und daß ihn die
Flugzeuge - obwohl er viertausend Meilen hoch ist - so oft
überfliegen, ohne ihn zu bemerken.«
Es wird niemanden überraschen, daß Purvis seine Er-
zählung an diesem Punkt abbrach: nicht einmal er konnte
sie viel weiter treiben, und niemand verlangte, daß er es
tat. Wiralle, einschließlichseinereifrigstenKritiker, waren
in ehrfurchtsvoller Bewunderung erstarrt. Ich habe seither
in seiner Schilderung von Dr. Cavors Frankenstein-
Schicksal sechs grundsätzliche physikalische Fehler ent-
deckt, aber damals fielen sie mir nicht auf. (Ich habe auch
nicht die Absicht, sie jetzt aufzuzählen. Wie in Mathema-
tikbüchern stellen sie die Hausaufgabe für den Leser dar.)
Er hatte sich jedoch unsere ewige Dankbarkeit dadurch
verdient, daß er unter leichter Verfremdung der Wahrheit
die Fliegenden Untertassen daran gehindert hatte, den

164
>Weißen Hirsch< zu besetzen. Es war beinahe Sperr-
stunde und zu spät für unseren Besucher, eine Gegenof-
fensive zu starten.
Deshalb finde ich die Folgen der Geschichte etwas unfair.
Einen Monat danach brachte jemand eine sehr merkwür-
dige Publikation zu einer unserer Zusammenkünfte mit.
Sie war ordentlich gedruckt und fachkundig aufgemacht,
und es ist bedauerlich, daß die Druckkunst so mißbraucht
wird. Das Zeug hieß Enthüllungen über Fliegende Untertas-
sen und auf der ersten Seite befand sich ein vollständiger,
ausführlicher Bericht über Purvis' Geschichte. Er hatte sie
absolut authentisch wiedergegeben - von Harris' Stand-
punkt aus war jedoch das Ärgste daran, daß sie ihm na-
mentlich zugeschrieben wurde.
Seither hat er 4375 Briefe zu diesem Thema bekommen,
die meisten aus Kalifornien. In vierundzwanzig davon
wurde er als Lügner bezeichnet; 4205 glaubten ihm unein-
geschränkt. (Die restlichen konnte er nicht entziffern,
und ihr Inhalt gibt immer noch zu Vermutungen Anlaß.)
Ich fürchte, daß er diesen Schlag nie ganz verwunden
hat, und manchmal habe ich den Eindruck, daß er sein
restliches Leben damit verbringen wird, den Menschen
die Augen über die einzige Geschichte zu öffnen, von der
er nie glaubte, daß sie jemand ernst nehmen würde.
Vielleicht liegt eine Moral darin. Nur kann ich sie beim
besten Willen nicht entdecken.

165
Dornröschen

Jtis war eine jener müden Diskussionen, die im >Weißen


Hirschen< in Gang kommen, wenn niemandem etwas
Besseres einfällt. Wir versuchten, uns an die ungewöhn-
lichsten Namen zu erinnern, auf die wir jemals gestoßen
waren, und ich hatte gerade >Obediah Polkinghonv als
meinen Beitrag abgeliefert, als - zwangsläufig - Harry
Purvis das Wort an sich riß.
»Es ist kinderleicht, sich alte Namen auszudenken«,
sagte er, über unsere Leichtfertigkeit entrüstet, »aber habt
ihr euch jemals etwas viel Wichtigeres vor Augen geführt-
die Wirkung dieser Namen auf ihre Träger? Manchmal
kann so ein Name das ganze Leben eines Menschen beein-
flussen. Und genau das war bei Sigmund Schnarcher der
Fall.«
»O nein«, stöhnte Charles Willis, einer von Harrys
schonungslosesten Kritikern. »Das ist doch nicht zu glau-
ben!«
»Denkst du vielleicht«, fragte Harry empört, »daß ich
einen solchen Namen erfinden würde? Eigentlich trug
Sigmund einen jüdischen Familiennamen aus Mitteleuro-
pa; >Schnarcher< ist jedenfalls die englische Übersetzung
dafür. Das alles ist jedoch unwesentlich; ich habe es gar
nicht gern, wenn ich meine Zeit mit solchen belanglosen
Einzelheiten vergeuden muß.«
Charlie, der vielversprechendste Autor, den ich kenne
(er verspricht seit über fünfundzwanzig Jahren), wollte
protestieren, aber jemand, dem das Wohl der Allgemein-
heit am Herzen lag, lenkte ihn mit einem Glas Bier ab.
»Sigmund«, fuhr Harry unbeirrt fort, »trug seine Bürde
mit tapferer Würde, bis er erwachsen war. Es steht jedoch

166
zweifelsfrei fest, daß ihn der Name bedrückte und schließ-
lich sozusagen zu einem psychosomatischen Trauma
führte.Wenn Sigmund der Sohn anderer Eltern gewesen
wäre, wäre er sicherlich weder faktisch noch dem Namen
nach ein röchelnder, unermüdlicher Schnarcher gewor-
den.
Es gibt natürlich schlimmere Tragödien im Leben. Sig-
munds Familie verfügte über genügend Geld, und ein
schalldichtes Schlafzimmer bewahrte die übrigen Ange-
hörigen des Haushalts vor schlaflosen Nächten. Wie es
meist der Fall ist, hatte Sigmund keine Ahnung von seinen
nächtlichen Symphonien und verstand eigentlich nie, was
all die Aufregung sollte.
Erst als er heiratete, war er gezwungen, sein Leiden -
wenn man es so bezeichnen kann, denn eigentlich litten ja
die anderen darunter - ernst zu nehmen. Es ist nicht un-
gewöhnlich, daß eine junge Frau etwas verwirrt von den
Flitterwochen zurückkehrt, aber die arme Rachel Schnar-
cher hatte ein außerordentlich erschütterndes Erlebnis
hinter sich. Ihre Augen waren vor Schlaflosigkeit gerötet,
und wenn sie bei ihren Freundinnen Verständnis suchte,
erntete sie nur Gelächter. Deshalb überraschte es nicht,
daß sie Sigmund ein Ultimatum stellte: wenn er nichts ge-
gen sein Schnarchen unternahm, würde sie sich scheiden
lassen.
Das war für Sigmund und seine Familie ein harter
Schlag. Sie waren wohlhabend, aber keineswegs reich - im
Gegensatz zu Großonkel Reuben, der im vorhergehenden
Jahr gestorben war und ein kompliziertes Testament hin-
terlassen hatte. Er hatte Sigmund sehr gern und hatte
ihm einen beträchtlichen - vorläufig allerdings treuhän-
disch verwalteten - Geldbetrag vermacht, den Sigmund
an seinem dreißigsten Geburtstag erhalten sollte. Un-
glücklicherweise war Großonkel Reuben sehr altmodisch
und prüde und traute der modernen Generation nicht
ganz. Eine der Bedingungen seines Vermächtnisses be-

167
sagte, daß Sigmund sich vor dem festgesetzten Termin
weder scheiden lassen noch von seiner Frau trennen durf-
te. In diesem Fall sollte das Geld an ein Waisenhaus in Tel
Aviv fallen.
Es war eine prekäre Situation, und es ist schwer zu sagen,
wie sie gelöst worden wäre, wenn nicht jemand vorge-
schlagen hätte, daß Sigmund mit Onkel Hymie sprechen
solle. Sigmund hatte überhaupt keine Lust dazu, aber in
der Not frißt der Teufel Fliegen, und so suchte er Onkel
Hymie auf.
Ich muß erwähnen, daß Onkel Hymie ein angesehener
Physiologieprofessor und Mitglied der Royal Society war
und auf eine ganze Reihe von Veröffentlichungen verwei-
sen konnte. Im Augenblick war er infolge eines Streits mit
den Kuratoren seines Colleges knapp bei Kasse und war
gezwungen gewesen, die Arbeit an einigen Lieblingspro-
jekten zurückzustellen. Noch mehr ärgerte ihn, daß die
Physikabteilung eine halbe Million Pfund für ein neues
Synchotron erhalten hatte, also war er nicht gerade be-
ster Stimmung, als ihn sein unglücklicher Neffe besuch-
te.
Sigmund versuchte, den durchdringenden Geruch
nach Desinfektionsmitteln und Tieren nicht zu beachten,
folgte dem Labor-Verwalter durch die Reihen fremdarti-
ger Apparate, an Käfigen mit Mäusen und Meerschwein-
chen vorbei und ignorierte bewußt die abstoßend farbigen
Diagramme, die die Wände bedeckten. Sein Onkel saß an
einem Experimentiertisch, trank Tee aus einem Reagenz-
glas und knabberte geistesabwesend an Sandwiches.
>Greif zu!< murrte er unfreundlich. >Gebratene Hamster
- köstlich. Aus dem Wurf, den wir für Krebstests verwen-
det haben. Was ist los?<
Sigmund erklärte, daß er sich leider den Magen verdor-
ben habe, und erzählte seinem berühmten Onkel, was ihm
am Herzen lag. Der Professor hörte nicht sehr mitfühlend
zu.

168
>Ich habe keine Ahnung, warum die Leute überhaupt
heiraterv, meinte er schließlich. >Reine Zeitverschwen-
dung.< Es war allgemein bekannt, daß Onkel Hymie in
dieser Hinsicht sehr eigenwillige Ansichten hegte, denn er
besaß fünf Kinder, aber keine Frau. >Vielleicht kann ich
trotzdem etwas für dich tun. Wieviel Geld besitzt du?<
>Warum?< fragte Sigmund verblüfft. Der Professor be-
schrieb eine weitausholende Armbewegung.
>Der Betrieb kostet eine ganz schöne Stange Geld.<
>Aber ich habe gedacht, die Universität .. .<
>Natürlich - aber Sonderprojekte müssen wir sozusagen
unter dem Ladentisch durchziehen, dafür kann ich keine
Collegemittel verwenden.<
Onkel Hymie nannte einen Betrag, der wesentlich klei-
ner war, als Sigmund befürchtet hatte, aber diese Befriedi-
gung hielt nicht lang an. Es stellte sich sehr bald heraus,
daß der Wissenschaftler genau über Großonkel Reubens
Testament Bescheid wußte; Sigmund mußte einen Vertrag
aufsetzen, in dem er ihm einen Teil der Beute versprach,
wenn er in fünf Jahren das Geld erhielt. Die jetzige Zah-
lung galt nur als Vorschuß.
>Ich verspreche außerdem überhaupt nichts, aber ich
will sehen, was ich tun kann<, sagte Onkel Hymie, wäh-
rend er den Scheck sorgfältig prüfte. >Komm in einem
Monat wieder!<
Mehr konnte Sigmund nicht aus ihm herausbekommen,
denn in diesem Augenblick wurde der Professor durch
eine äußerst dekorative Forschungsstudentin abgelenkt,
die einen um mehrere Nummern zu engen Pullover trug.
Sie begannen, die Vermehrungsstatistiken der Laborrat-
ten mit Ausdrücken zu bezeichnen, die den schamhaften
Sigmund zu einem hastigen Rückzug veranlaßten.
Ich glaube übrigens nicht, daß Onkel Hymie Sigmunds
Geld genommen hätte, wenn er nicht sicher gewesen
wäre, daß er ihm die gewünschte Ware liefern konnte. Er
muß daher knapp vor dem Abschluß seiner Arbeiten ge-

169
standen haben, als ihm die Universität die Mittel sperrte;
zweifellos hätte er nie innerhalb von vier Wochen die
komplizierte chemische Substanz erzeugen können, die er
seinem hoffnungsvollen Neffen einen Monat nach der
Scheckübergabe in den Arm injizierte. Das Experiment
wurde spätabends in der Wohnung des Professors durch-
geführt; Sigmund stellte nicht allzu überrascht fest, daß
die weibliche Forschungsstudentin assistierte.
>Wie wird das Zeug wirken?< fragte er.
>Es wird dich am Schnarchen hindern - hoffentlich<,
antwortete Onkel Hymie. >Hier hast du einen schönen,
bequemen Stuhl und einen Stoß Illustrierte. Irma und ich
werden dich abwechselnd überwachen, für den Fall, daß
es zu unerwarteten Begleiterscheinungen kommt.<
>Begleiterscheinungen?< fragte Sigmund ängstlich und
rieb sich den Arm.
>Mach dir keine Sorgen und entspanne dich! In ein paar
Stunden wissen wir, ob es funktioniert.<
Also wartete Sigmund auf den Schlaf, während sich die
beiden Wissenschaftler mit ihm ( und natürlich auch mit-
einander) beschäftigten, ihm Blutdruck, Puls und Tempe-
ratur maßen und dafür sorgten, daß er das Gefühl hatte,
schwerkrank zu sein. Um Mitternacht war er überhaupt
nicht schläfrig, während sich der Professor und seine As-
sistentin kaum noch auf den Beinen halten konnten. Sig-
mund wurde klar, daß sie seinetwegen Überstunden
machten, und empfand Dankbarkeit, die während der
kurzen Zeit, die sie anhielt, geradezu rührend war.
Mitternacht war längst vorüber. Irma klappte zusam-
men, und der Professor bettete sie unsanft auf die Couch.
>Weißt du ganz sicher, daß du noch nicht müde bist?<
gähnte er Sigmund an.
>Uberhaupt nicht. Es ist sehr merkwürdig, denn norma-
lerweise schlafe ich um diese Zeit tief und fest.<
>Du fühlst dich vollkommen wohl?<
>Ich habe mich nie besser gefühlt.<

170
Der Professor gähnte wieder, murmelte etwas, das wie
>Ich hätte es mir auch einspritzen sollen< klang, und sank
in einen Lehnstuhl.
>Schrei<, sagte er schläfrig, >wenn du etwas Ungewöhn-
liches fühlst! Es hat keinen Sinn, wenn wir weiterhin mun-
ter bleiben.< Einen Augenblick später war der immer noch
verwirrte Sigmund der einzige wache Mensch im Zimmer.
Bis zwei Uhr früh las er ein Dutzend Exemplare des
Punch, die den Stempel >Bitte nicht aus dem Aufenthalts-
raum entfernen< trugen. Um vier war er mit allen Nummern
der Saturday Evening Post fertig. Ein kleiner Stoß des New
Yorkers beschäftigte ihn bis fünf, als er das große Los zog.
Wenn man Kaviar ißt, hat man bald genug davon, und
Sigmund entdeckte zu seiner Begeisterung einen schlaf-
fen, zerlesenen Band von Die Blondine war willig. Dieser
nahm seine Aufmerksamkeit bis zum Morgengrauen in
Anspruch, als Onkel Hymie zusammenzuckte, aus dem
Stuhl emporschnellte, Irma mit einem gut gezielten Klaps
weckte und sich dann Sigmund zuwandte.
>Nun, mein Junge<, sagte er so herzlich und fröhlich, daß
Sigmund sofort mißtrauisch wurde, >ich habe dir deinen
Wunsch erfüllt. Du hast die Nacht verbracht ohne zu
schnarchen, nicht wahr?<
Sigmund legte die Blondine beiseite, die sich jetzt in ei-
ner Situation befand, in der es überhaupt keine Rolle spiel-
te, ob sie willig war oder nicht.
>Ich habe nicht geschnarcht<, gab er zu, >aber ich habe
auch nicht geschlafen.«
>Du bist immer noch hellwach?<
>Ja - ich verstehe es überhaupt nicht.<
Onkel Hymie und Irma wechselten einen triumphie-
renden Blick. >Du hast soeben Geschichte gemacht, Sig-
mund<, erklärte der Professor. >Du bist der erste Mensch,
der ohne Schlaf auskommt.< Auf diese Weise brachte er
dem erstaunten und noch nicht empörten Meerschwein-
chen die Nachricht bei.

172
Ich weiß«, fuhr Harry Purvis nicht ganz zutrefferider-
weise fort, »daß viele von euch die wissenschaftlichen
Einzelheiten von Onkel Hymies Entdeckung erfahren
möchten. Aber ich kenne sie nicht, und außerdem wären
sie für euch zu schwierig. Da ich aber bei einigen von euch
einen Gesichtsausdruck sehe, den ein weniger vertrau-
ensvoller Mensch als skeptisch bezeichnen könnte,
möchte ich darauf hinweisen, daß diese Entwicklung
wirklich nicht erschreckend ist. Schließlich ist der Schlaf
ein sehr variabler Faktor. Seht euch Edison an, der bis an
sein Lebensende nicht mehr als eine oder zwei Stunden
Schlaf täglich brauchte. Es stimmt, daß Menschen nicht
endlos ohne Schlaf auskommen können - aber manche
Tiere können es, was beweist, daß er kein unentbehrlicher
Bestandteil des Stoffwechsels ist.«
»Welche Tiere können auf den Schlaf verzichten?«
fragte jemand, weniger aus Unglauben als aus reiner Neu-
gierde.
»Nun ja, natürlich - die in der Tiefsee lebenden Fische.
Falls sie jemals einschlafen sollten, würden sie von einem
anderen Fisch verschlungen, oder sie würden das Gleich-
gewicht verlieren und auf den Grund sinken. Deshalb
müssen sie ihr Leben lang wach bleiben.«
(Ich versuche übrigens immer noch herauszufinden, ob
Harrys Behauptung stünmt. Bis jetzt habe ich ihn noch nie
bei einer falschen wissenschaftlichen Erklärung ertappt,
obwohl ich ein- oder zweimal im Zweifel für ihn entschei-
den mußte. Aber zurück zu Onkel Hymie.)
»Es dauerte einige Zeit«, fuhr Harry fort, »bis Sigmund
begriff, was für ein erstaunliches Experiment sie an ihm
vorgenommen hatten. Die begeisterten Kommentare sei-
nes Onkels, der sich über die herrlichen Möglichkeiten
verbreitete, die sich für Sigmund jetzt eröffneten, nach-
dem er von der Tyrannei des Schlafens befreit war, mach-
ten es ihm schwer, sich auf das eigentliche Problem zu
konzentrieren. Aber schließlich konnte er doch die Frage

173
stellen, die fhn bedrückte: > Wie lange wird dieser Zustand
anhalten?< erkundigte er sich.
Der Professor und Irma sahen einander an. Dann hü-
stelte Onkel Hymie nervös und antwortete: >Das wissen
wir noch nicht genau; wir müssen es erst herausbekom-
men. Es ist durchaus möglich, daß es sich um eine perma-
nente Wirkung handelt.<
>Willst du damit sagen, daß ich nie mehr schlafen kann?<
>Nicht ,nie mehr schlafen kann' sondern ,nie mehr schla-
fen will'. Aber wahrscheinlich könnte ich den Vorgang
irgendwie rückgängig machen, wenn du deshalb wirk-
lich besorgt bist. Natürlich würde es eine Menge kosten.<
Sigmund verließ den Professor eilig und versprach, mit
ihm in Verbindung zu bleiben und täglich über seine Er-
fahrungen zu berichten. Er war immer noch aufgewühlt,
aber zuerst mußte er seine Frau aufsuchen und sie davon
überzeugen, daß er nie wieder schnarchen würde.
Sie glaubte ihm gern, und ihre Wiedervereinigung war
rührend. Aber in den frühen Stunden des darauffolgen-
den Morgens langweilte er sich sehr, während er im Bett
lag und mit niemandem sprechen konnte, deshalb schlich
er sich von seiner schlafenden Frau weg. Zum erstenmal
dämmerte ihm, worauf er sich eingelassen hatte; was, um
Himmels willen, sollte er mit den zusätzlichen acht Stun-
den täglich anfangen, die man ihm wider seinen Willen
geschenkt hatte?
Ihr findet vielleicht, daß Sigmund eine wunderbare -
sogar noch nie dagewesene - Gelegenheit hatte, ein erfüll-
teres Leben zu führen, indem er sich all die Kultur und all
das Wissen aneignete, nach denen wir uns sehnen- wenn
wir nur genügend Zeit dafür erübrigen könnten. Er
konnte alle großen Klassiker lesen, die für die breite Masse
nur Namen sind; er konnte Kunst, Musik oder Philosophie
studieren und seinem Geist alle Schätze des menschlichen
Geistes einverleiben. Wahrscheinlich beneidet ihn jetzt
der Großteil von euch.

174
Aber es kam anders. Es ist leider so, daß selbst der
höchst entwickelte Geist Entspannung braucht und nicht
endlos nach hohen Zielen streben kann. Es stimmte, Sig-
mund benötigte keinen Schlaf mehr, aber er brauchte Un-
terhaltung für die langen, unausgefüllten Nachtstun-
den.
Er entdeckte bald, daß die Zivilisation nicht in der Lage
ist, die Bedürfnisse eines Menschen zu befriedigen, der
nicht schlafen kann. In Paris oder New York wäre er besser
dran gewesen, aber in London machte praktisch alles um
ein Uhr früh zu; um Mitternacht waren nur noch ein paar
Espressi offen, und um ein Uhr früh - na ja, je weniger
man sich zu Etablissements äußert, die um diese Zeit noch
Betrieb haben, um so besser.
Zuerst verwendete er die Zeit, wenn es das Wetter zu-
ließ, zu langen Spaziergängen, aber nach etlichen Begeg-
nungen mit wißbegierigen, skeptischen Polizisten gab er
es auf. Dann benützte er das Auto und fuhr in den frühen
Morgenstunden in London herum; er entdeckte dabei alle
möglichen merkwürdigen Winkel, von deren Existenz er
nichts gewußt hatte. Bald war er soweit, daß ihm Nacht-
wächter, Opernportiers, Milchmänner, Journalisten und
Zeitungsdrucker zunickten, die alle arbeiteten, während die
übrigen Menschen im Schlummer lagen. Da Sigmund sich
aber nicht sehr für seine Mitmenschen interessierte, verlor
diese Unterhaltung bald ihren Reiz, und er befand sich
wieder dort, wo er begonnen hatte.
Wie zu erwarten, war seine Frau über seine nächtlichen
Exkursionen keineswegs erfreut. Er hatte ihr die ganze
Geschichte erzählt, und obwohl sie ihm zunächst nicht
recht glaubte, mußte sie sich durch den Augenschein eines
Besseren belehren lassen. Dennoch hätte sie vorgezogen,
daß ihr Mann schnarchte und zu Hause blieb, statt sich um
Mitternacht davonzuschleichen und oft noch nicht einmal
beim Frühstück zurück zu sein.
Darüber ärgerte sich Sigmund sehr. Er hatte einen an-

175
sehnlichen Betrag investiert oder zumindest zugesagt (wie
er Rachel immer wieder ins Gedächtnis rief) und ein be-
trächtliches Risiko auf sich genommen, um sein Leiden
loszuwerden. Und war sie ihm dafür dankbar? Nein; sie
verlangte detaillierte Rechenschaft über die Zeit, während
der er eigentlich schlafen sollte, es aber nicht tat. Das war
äußerst unfair und ließ auf einen Mangel an Vertrauen
schließen, den er überaus bedrückend fand.
Langsam verbreitete sich das Geheimnis, obwohl es den
Schnarchers (die ein sehr festgefügter Clan waren) gelang,
es innerhalb der Familie zu halten. Onkel Lorenz, der im
Diamantengeschäft tätig war, schlug vor, daß Sigmund
einen zweiten Beruf ergreifen sollte, da es schade war, so
viel zusätzliche Arbeitszeit zu vergeuden. Er stellte eine
Liste von Ein-Mann-Beschäftigungen zusammen, die ge-
nauso gut bei Tag wie bei Nacht ausgeübt werden konn-
ten, aber Sigmund bedankte sich freundlich und bemerk-
te, er sehe nicht ein,warum er zweimal Einkommensteuer
zahlen solle.
Nachdem Sigmund die Vierundzwanzigstunden-Tage
sechs Wochen lang ertragen hatte, hatte er genug. Er hatte
das Gefühl, kein einziges Buch mehr lesen, keinen einzi-
gen Nachtklub mehr aufsuchen und keine einzige Schall-
platte mehr hören zu können. Seine einmalige Gabe, für
die viele unvernüftige Menschen gern eine horrende
Summe bezahlt hätten, war zu einer unerträglichen Last
geworden. Ihm blieb nur eines übrig: Onkel Hymie wieder
aufzusuchen.
Der Professor hatte ihn erwartet, und er mußte nicht mit
rechtlichen Schritten drohen, nicht an die Solidarität der
Schnarchers appellieren oder anzügliche Bemerkungen
über einen Vertragsbruch machen.
>Schon gut, schon gutx, brummte der Wissenschaftler.
>Es hat keinen Sinn, Perlen vor die Säue zu werfen. Ich
habe gewußt, daß du früher oder später das Gegenmittel
verlangen wirst, und weil ich ein großzügiger Mensch bin,

176
kostet es dich nur fünfzig Guineas. Aber mach mich'nicht
dafür verantwortlich, wenn du ärger denn je schnarchst.<
>Dieses Risiko nehme ich auf mich<, antwortete Sig-
mund. Er und Rachel schliefen ohnehin schon in getrenn-
ten Schlafzimmern.
Er sah weg, als die Assistentin des Professors (diesmal
nicht Irma, sondern eine hagere Brünette) eine entsetzlich
große Injektionsnadel mit Onkel Hymies neuestem Ge-
bräu füllte. Noch bevor die Nadel halb leer war, schlief
Sigmund schon.
Diesmal sah Onkel Hymie sehr beunruhigt aus. >Ich
habe nicht erwartet, daß es so schnell wirkt<, gestand er.
>Na gut, bringen wir ihn zu Bett - wir können ihn nicht im
Labor herumliegen lassen.<
Am nächsten Morgen schlief Sigmund immer noch tief
und reagierte auf keine Reize. Seine Atmung war nicht
wahrnehmbar, er schien sich eher in Trance zu befinden
als zu schlafen, und der Professor war bestürzt.
Er machte sich jedoch nicht lange Sorgen. Ein paar
Stunden später biß ihn ein zorniges Meerschweinchen in
den Finger, es kam zu einer Blutvergiftung, und der Her-
ausgeber vonNature konnte gerade noch vor Drucklegung
der letzten Ausgabe den Nachruf unterbringen.
Sigmund verschlief die ganze Aufregung und war im-
mer noch selig bewußtlos, als die Familie vom Kremato-
rium zurückkehrte und Kriegsrat abhielt. De mortuis nil nisi
bonum, aber es war offensichtlich, daß der verstorbene Pro-
fessor Hymie wieder einmal einen Fehler begangen hatte,
und niemand wußte, wie man ihn rückgängig machen
konnte.
Cousin Meyer, der ein Möbelgeschäft in der Mile End
Road besaß, machte sich erbötig, für Sigmund zu sorgen,
falls er ihn als Auslagendekoration verwenden durfte, um
auf die Qualität seiner Betten hinzuweisen. Man war je-
doch der Ansicht, daß dies würdelos wäre, und die Familie
lehnte das Angebot ab.

177
Aber es brachte sie auf eine Idee. Sie hatten eigentlich
genug von Sigmund; es war wirklich ungehörig, daß er
von einem Extrem ins andere verfiel. Warum sollte man
also nicht den Weg des geringsten Widerstands gehen
und den schlummernden Löwen einfach schlafen lassen?
Es hatte keinen Sinn, einen weiteren teuren Sachver-
ständigen zuzuziehen, der alles nur noch schlimmer ma-
chen würde (obwohl sich niemand recht vorstellen konn-
te, wie das möglich gewesen wäre), Sigmunds Ernährung
kostete nichts, er brauchte nur ein Minimum an ärztlicher
Betreuung, und während er schlief, war er sicherlich nicht
in Gefahr, gegen die Bedingungen in Großonkel Reubens
Testament zu verstoßen. Als man Rachel diese Erwägun-
gen vorsichtig unterbreitete, konnte sie sich ihrer über-
zeugungskraft nicht verschließen. Die erforderliche Vor-
gangsweise verlangte zwar ein gewisses Maß an Geduld,
aber die Belohnung würde schließlich beträchtlich sein.
Je länger sich Rachel mit der Idee beschäftigte, desto
besser gefiel sie ihr. Der Gedanke, eine wohlhabende
Strohwitwe zu sein, hatte etwas Verlockendes an sich; er
bot so interessante und neuartige Möglichkeiten. Und, um
die Wahrheit zu sagen, sie hatte ihren Mann für die fünf
Jahre bis zum Antritt seines Erbes gründlich satt.
Zu gegebener Zeit traf das Erbe ein, und Sigmund
wurde Halbmillionär. Er schlief jedoch noch immer tief -
und hatte in den ganzen fünf Jahren kein einziges Mal ge-
schnarcht. Er sah so friedlich aus, wie er da im Bett lag, daß
es grausam gewesen wäre, ihn aufzuwecken - wenn man
überhaupt gewußt hätte, wie das zu bewerkstelligen war.
Rachel war entschieden der Meinung, daß unbesonnenes
Herumpfuschen unglückliche Folgen haben könnte, und
nachdem sich die Familie davon überzeugt hatte, daß sie
nur über die Zinsen, nicht aber über Sigmunds Kapital
verfügen konnte, schloß sie sich ihrer Meinung an.
Das war vor einigen Jahren. Als ich das letztemal von
Sigmund hörte, schlief er immer noch friedlich, während

178
Rachel sich an der Riviera großartig amüsierte. Wie ihr
wahrscheinlich bemerkt habt, ist sie eine kluge Frau, und
ihr ist vermutlich klar geworden, daß es sehr angenehm
sein kann, einen jugendlichen Ehemann für ihre alten
Tage auf Eis zu haben.
Gelegentlich halte ich es allerdings für schade, daß On-
kel Hymie nie Gelegenheit hatte, der Welt seine beachtli-
chen Entdeckungen vorzulegen. Aber Sigmund hat be-
wiesen, daß unsere Zivilisation für diese Eingriffe in das
menschliche Leben noch nicht reif ist, und ich hoffe, daß
ich nicht in der Gegend bin, wenn ein anderer Physiologe
mit dem ganzen Zeug von vorne anfängt.«
Harry sah auf die Uhr. »Du meine Güte!« rief er. »Ich
hatte keine Ahnung, daß es so spät ist - ich schlafe schon
halb.« Er griff nach seiner Aktentasche, unterdrückte ein
Gähnen und lächelte uns wohlwollend zu.
»Schöne Träume euch allen!« sagte er.

179
Der Fenstersturz
von Ermintrude Inch

U n d jetzt muß ich eine kurze, traurige Pflicht erfüllen.


Eines der vielen Geheimnisse, die Harry Purvis umgaben -
obwohl er in jeder anderen Beziehung äußerst mitteilsam
war -, war das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein
einer Mrs. Purvis. Er trug zwar keinen Ehering, aber das
besagt heutzutage wenig. Genauso wenig wie das Gegen-
teil, was jeder Hotelbesitzer bestätigen wird.
In etlichen Erzählungen hatte Harry deutlich bewiesen,
daß er Damen des weiblichen Geschlechts (wie sich ein
polnischer Freund von mir ausdrückte, dessen Sprach-
kenntnisse weit weniger ausgeprägt sind als seine Ritter-
lichkeit) eher ablehnend gegenüberstand. Und infolge ei-
nes merkwürdigen Zufalls wies die letzte Geschichte, die
er uns überhaupt erzählte, darauf hin, daß Harry verheira-
tet war, und erbrachte dann auch noch den schlagenden
Beweis dafür.
Ich weiß nicht, wer das Wort >Fenstersturz< ins Ge-
spräch brachte, das schließlich kein sehr häufg verwende-
ter abstrakter Begriff ist. Wahrscheinlich war es einer der
beunruhigend gebildeten jüngeren Gäste des >Weißen
Hirschen<, einige von ihnen kommen direkt vom College,
und wir Oldtimer fühlen uns ihnen gegenüber sehr unreif
und unwissend. Aber vom Hauptwort ging die Diskus-
sion natürlich zum Zeitwort über. War jemand von uns
jemals >fenstergestürzt< worden? Kannten wirjemanden,
dem dies widerfahren war?
»Ja«, sagte Harry, »es stieß einer redseligen Dame zu,
die ich einmal kannte. Sie hieß Ermintrude und war mit
Osbert Inch verheiratet, einem Toningenieur der BBC.

180
Osbert verbrachte seine Arbeitszeit damit, daß er ^uhör-
te, wie andere Leute sprachen, und den Großteil seiner
Freizeit damit, daß er Ermintrudes Redeschwall lauschte.
Unglücklicherweise konnte er sie nicht mittels Knopf-
druck abschalten, und hatte daher nur sehr selten Gele-
genheit, ein Wort einzuwerfen.
Es gibt Frauen, die es wirklich nicht bemerken, daß sie
nicht aufhören können zu sprechen, und sehr überrascht
sind, wenn man ihnen vorwirft, die Konversation an sich
zu reißen. Ermintrude begann zu sprechen, sobald sie die
Augen aufschlug, schaltete auf größere Lautstärke, um die
Acht-Uhr-Nachrichten zu übertönen, und redete unbe-
eindruckt weiter, bis Osbert endlich zur Arbeit gehen
konnte. Im Lauf der Jahre hatte ihn dieser Zustand in die
Nähe eines Nervenzusammenbruchs gebracht, aber als
seine Frau eines Morgens durch eine längst überfällige
Kehlkopfentzündung behindert war, benützte er die Gele-
genheit und protestierte lebhaft gegen ihr Rede-Monopol.
Zu seinem ungläubigen Staunen weigerte sie sich glatt,
die Behauptung, sie spreche unausgesetzt, zu akzeptie-
ren. Anscheinend stand für Ermintrude die Zeit still, so-
lange sie sprach, aber sie wurde sehr unruhig, wenn je-
mand anderer das Wort ergriff. Sobald sie wieder bei
Stimme war, erklärte sie Osbert, wie unfair es von ihm
war, sie so unbegründet zu beschuldigen, und der Streit
wäre sehr erbittert geworden - wenn es möglich gewesen
wäre, mit Ermintrude zu streiten.
Osbert war zornig und verzweifelt. Aber er war auch
genial und verfiel auf die Idee, Ermintrude unwiderlegbar
zu beweisen, daß auf jede Silbe, die er sprach, hundert
Worte von ihr kamen. Wie erwähnt war er Toningenieur,
und sein Zimmer war mit einer Hi-Fi-Anlage, einem Kas-
settenrekorder und den üblichen elektronischen Geräten
seines Berufs ausgestattet, die zum Teil die BBC unwis-
sentlich beigestellt hatte.
Er brauchte nicht lang, um ein Gerät zu konstruieren,

181
das man als Selektiven Wortzähler bezeichnen könnte.
Wenn ihr etwas von Tontechnik versteht, werdet ihr euch
vorstellen können, was man mit den richtigen Filtern und
Trennkreisen erreichen kann - und wenn nicht, müßt ihr
mir eben glauben. Der Apparat funktionierte, einfach aus-
gedrückt, folgendermaßen: ein Mikrophon registrierte je-
des in der Wohnung der Inches gesprochene Wort. Os-
berts tiefere Töne wurden zu einem mit >Er< bezeichneten
Zählwerk geleitet, Ermintrudes höhere Frequenz wurde in
dem Speicher >Sie< registriert.
Eine Stunde, nachdem Osbert den Apparat eingeschal-
tet hatte, sah der Stand wie folgt aus:

ER 23
SIE 2530

Während die Zahlen über die Anzeigeskala flackerten,


wurde Ermintrude immer nachdenklicher und gleichzei-
tig immer schweigsamer. Osbert hingegen begann sieges-
trunken, seinen Vorteil nach Kräften auszunützen und
wurde beinahe redselig. Als er zur Arbeit ging, gab das
Zählwerk die neue Verteilung der Sprechdauer im Haus-
halt wieder:

ER 1043
SIE 3397

Nur um zu zeigen, wer der Herr im Haus war, ließ Os-


bert denApparat eingeschaltet; er hatte immer schon wis-
sen wollen, ob Ermintrude infolge eines automatischen
Reflexes weitersprach, auch wenn niemand in der Nähe
war, der sie hören konnte. Ubrigens hatte er den Zähler
vorsichtshalber mit einer Sperre versehen, so daß seine
Frau ihn nicht abschalten konnte, während er fort war.
Er war ein bißchen enttäuscht, als der Zählerstand bei
seiner Heimkehr am Abend unverändert war, aber danach

182
kletterten die Zahlen wieder in die Höhe. Es wurde'zu ei-
ner Art Spiel - allerdings einem todernsten Spiel -, bei dem
keiner der beiden Beteiligten die Maschine aus den Augen
ließ, wenn einer von ihnen ein Wort sprach. Ermintrude
war sichtlich aus der Fassung geraten; immer wieder erlitt
sie einen Rückfall und erhöhte ihren Stand um etliche
hundert Punkte, bevor sie sich mit äußerster Willenskraft
zusammenriß. Osbert konnte es sich angesichts der Di-
stanz zu Ermintrude leisten, gelegentlich spöttische Be-
merkungen zu machen; die Befriedigung, die er dabei
empfand, war die Punkte wert, die sie ihn kostete.
Obwohl der Apparat zu einer gewissen Gleichberechti-
gung im Haushalt der Inches geführt hatte, war das Zer-
würfnis wenn möglich noch größer geworden. Doch dann
appellierte Ermintrude, die über eine gewisse natürliche
Intelligenz verfügte (die man allerdings auch als Verschla-
genheit bezeichnen konnte) an die Gutmütigkeit ihres
Mannes. Sie wies darauf hin, daß keiner von beiden sich
wirklich natürlich benahm, solange jedes Wort registriert
und gezählt wurde; Osbert hatte sie unfairerweise herein-
gelegt und war jetzt unnatürlich schweigsam, weil er
ständig die warnenden Zahlen vor Augen hatte. Obwohl
Osbert bei dieser Unverfrorenheit die Sprache wegblieb,
mußte er zugeben, daß sie ein Körnchen Wahrheit ent-
hielt. Der Test würde fairer und überzeugender ausfallen,
wenn keiner von ihnen die Zahlen sehen konnte - oder
wenn sie das Vorhandensein der Maschine überhaupt
vergaßen und sich vollkommen natürlich benahmen, oder
wenigstens so natürlich, wie es ihnen unter den gegebe-
nen Umständen möglich war.
Nach langen Diskussionen gelangten sie zu einem
Kompromiß. Osbert verhielt sich seiner Meinung nach sehr
anständig, stellte die Zählwerke wieder auf Null und ver-
siegelte die Anzeigeskalen, so daß niemand den Zähler-
stand ablesen konnte. Sie kamen überein, die Wachssiegel
- die sie beide mit ihren Fingerabdrücken versahen - am

183
Wochenende zu erbrechen und dann die Entscheidung
des Apparats anzuerkennen. Osbert versteckte das Mi-
krophon unter dem Tisch und übersiedelte die übrige An-
lage in seine kleine Werkstatt, so daß im Wohnzimmer
nichts mehr vom unerbittlichen elektronischen Wach-
hund zu sehen war, der über das Schicksal der Inches ent-
scheiden sollte.
Danach normalisierte sich die Lage langsam wieder.
Ermintrude wurde genauso gesprächig wie früher, aber
das machte Osbert nichts aus, denn er wußte, daß jedes
von ihr gesprochene Wort geduldig registriert und als Be-
weismittel gegen sie verwendet wurde. Am Ende der Wo-
che würde er einen überzeugenden Triumph feiern. Er
konnte sich den Luxus leisten, täglich ein paar hundert
Worte zu sprechen, denn er wußte, daß Ermintrude diesen
Minusstand innerhalb von fünf Minuten egalisierte.
Sie erbrachen die Siegel am Ende eines besonders ergie-
bigen Tages, an dem Ermintrude drei unglaublich banale
Telefongespräche, für die sie beinahe den ganzen Nach-
mittag gebraucht hatte, wortgetreu wiederholt hatte. Os-
bert hatte nur gelächelt, alle zehn Minuten >Ja, Liebling<,
gesagt und inzwischen darüber nachgedacht, wie seine
Frau reagieren würde, wenn sie den erdrückenden Beweis
vor Augen hatte.
Ihr könnt euch deshalb sein Entsetzen vorstellen, als sie
die Siegel erbrachen und der Wochenausbeute gegen-
überstanden:

ER 143.567
SIE 32.590

Osbert starrte die unglaublichen Zahlen verdutzt und


ungläubig an. Irgend etwas war schiefgegangen - aber
was? Im Apparat mußte ein Fehler aufgetreten sein, ver-
mutete er schließlich. Es war ärgerlich, sehr ärgerlich,

184
denn er wußte genau, daß Ermintrude dies nie zugeben
würde, selbst wenn er ihr unwiderlegbar bewies, daß der
Zähler verrückt gespielt hatte.
Ermintrude krähte immer noch triumphierend, als Os-
bert sie aus dem Zimmer stieß und begann, seine irregelei-
tete Anlage auseinanderzunehmen. Er war noch damit
beschäftigt, als er in seinem Papierkorb etwas bemerkte,
daß er nicht dort hineingetan hatte. Es war eine Tonband-
schleife, und er konnte sich ihr Vorhandensein nicht erklä-
ren, denn er hatte den Kassettenrekorder einige Tage lang
nicht verwendet. Er griff nach dem Band, und in diesem
Augenblick wurde sein Verdacht zur Gewißheit.
Er warf einen Blick auf den Rekorder; die Schalter stan-
den eindeutig anders, als er sie eingestellt hatte. Ermin-
trude war verschlagen - aber auch unvorsichtig. Osbert
hatte sich oft darüber beklagt, daß sie ihre Arbeit nie or-
dentlich machte, und hier hielt er den Beweis dafür in
Händen.
Uberall in seinem Zimmer trieben sich alte Bänder mit
ungelöschten Textpassagen herum, die er aufgenommen
hatte; Ermintrude hatte mühelos eines ausfindig machen,
ein paar Worte abschneiden, die Enden zusammenkleben,
auf >Playback< schalten und die Maschine stundenlang vor
dem Mikrophon laufen lassen können. Osbert war auf
sich wütend, weil er nicht von selbst auf diesen Trick ge-
kommen war; wenn das Band kräftig genug gewesen
wäre, hätte er Ermintrude wahrscheinlich damit erwürgt.
Ob er es versuchte, weiß niemand. Wir wissen nur, daß
sie zum Wohnungsfenster hinausflog, und es konnte na-
türlich ein Unfall sein - aber man konnte sich nicht bei ihr
danach erkundigen, weil die Inches im fünften Stockwerk
wohnten.
Ich weiß, daß bei einem Fenstersturz meist nachgehol-
fen wird, und der Leichenbeschauer machte ein paar sehr
anzügliche Bemerkungen. Aber niemand konnte bewei-
sen, daß Osbert sie gestoßen hatte, und über die ganze Sa-

185
che wuchs rasch Gras. Etwa ein Jahr danach heiratete er
eine bezaubernde kleine Taubstumme, und sie sind eines
der glücklichsten Paare, die ich kenne.«
Als Harry geendet hatte, trat, sei es aus Unglauben, sei
es aus Pietät für die redselige Mrs. Inch, eine lange Pause
ein. Aber bevor jemand einen entsprechenden Kommen-
tar abgeben konnte, flog die Tür auf, und eine gewaltige
Blondine drang in die Bar des >Weißen Hirschen< ein.
Es gelingt dem Leben nur selten, Pointen so gut zu set-
zen wie diese. Harry Purvis wurde blaß und versuchte
vergeblich, sich in der Menge zu verstecken. Er wurde so-
fort entdeckt und mit einer Flut von Beschimpfungen ein-
gedeckt.
»Hier also«, hörten wir erstaunt, »hältst du deine Mitt-
wochvorträge über Quantenmechanik! Ich hätte mich
schon vor Jahren bei der Universität erkundigen sollen!
Du bist ein Lügner, Harry Purvis, und von mir aus können
das alle erfahren! Was hingegen deine Freunde be-
trifft ...« - sie warf uns einen vernichtenden Blick zu -,
»habe ich schon lange nicht mehr eine solche Bande von
verlotterten Saufbrüdern gesehen.«
»He, Moment mal!« protestierte Drew von der anderen
Seite der Theke her. Sie brachte ihn mit einem Blick zum
Schweigen und wandte sich dann wieder dem armen
Harry zu.
»Los, komm schon, wir gehen nach Hause! Nein, du
mußt nicht erst austrinken! Ich bin sicher, daß du schon
mehr als genug intus hast.«
Gehorsam griff Harry Purvis nach Aktenmappe und
Mantel.
»Wie du meinst, Ermintrude«, sagte er demütig.

Ich will Sie nicht mit dem noch immer offenen Streit dar-
über langweilen, ob Mrs. Purvis wirklich Ermintrude hieß,
oder ob Harry so benommen war, daß er den Namen au-
tomatisch auf sie anwandte. Jetzt ist einzig und allein die

186
traurige, unbestreitbare Tatsache von Bedeutung, daß ihn
seit diesem Abend niemand mehr gesehen hat.
Es ist natürlich möglich, daß er nicht weiß, wo wir jetzt
zusammenkommen, denn einige Monate danach über-
nahm eine neue Leitung den >Weißen Hirsch<, und wir
alle folgten Drew mit Sack und Pack in sein neues Lokal.
Unsere wöchentlichen Zusammenkünfte finden jetzt in
der >Sphäre< statt, und lange Zeit pflegten viele von uns
hoffnungsvoll aufzublicken, wenn die Tür aufging, denn
vielleicht war Harry ausgebrochen und hatte zu uns zu-
rückgefunden. Ich habe übrigens diese Erzählungen zum
Teil in der Hoffnung herausgegeben, daß Harry das Buch
lesen und ihm die Adresse unseres neuen Aufenthaltsor-
tes entnehmen wird.
Sogar die Zuhörer, die dir kein Wort geglaubt haben,
vermissen dich, Harry! Wenn ein Fenstersturz Ermintru-
des das einzige Mittel ist, damit du deine Freiheit wieder-
erlangst, dann tu es an einem Mittwochabend zwischen
sieben und elf, und vierzig Leute aus der >Sphäre< werden
dir ein hieb- und stichfestes Alibi liefern. Aber komm ir-
gendwie zu uns zurück; seit du fort bist, ist es nie mehr so
wie früher!

187
Über Arthur C. Clarke

JVLr. Clarkes Interesse an der Wissenschaft zeigte sich


früh. »Als ich noch nicht einmal zehn war«, schreibt er,
»baute ich mir aus einer Papprolle und ein paar Linsen ein
kleines Teleskop und verbrachte viele Nächte damit, den
Mond kartographisch zu erfassen, bis ich mich auf ihm
wesentlich besser auskannte als in Somerset, wo ich zur
Welt gekommen war.
Der Science-Fiction-Virus ergriff mich, als ich vierzehn
war und die ersten Exemplare von AMAZING STORIES
und ASTOUNDING sah. Jahrelang sammelte ich jede
Ausgabe, derer ich habhaft werden konnte; ich kann mich
noch immer daran erinnern, wie aufgeregt ich war, als ich
eine ganze Ladung WONDER STORIES erhielt, die ich um
fünf Cents das Stück gekauft hatte.
Als ich fünfzehn war, begann ich, kurze Arbeiten für die
Schulzeitung zu schreiben und wurde schließlich zum
stellvertretenden Herausgeber ernannt. Als ich kürzlich
diese Artikel durchsah, deprimierte es mich zutiefst, daß
ich in der Zwischenzeit so wenig Fortschritte gemacht
habe.
Als ich nach London übersiedelte, lernte ich sowohl die
britische Science Fiction-Welt als auch die noch im Em-
bryostadium befindliche British Interplanetary Society
kennen. Ich war der Schatzmeister der B.I.S., gab unzäh-
lige >Fan Magazines< heraus, schrieb für sie und vervielfäl-
tigte sie, und verkaufte meine ersten Artikel über Raum-
fahrt.
Der Krieg und die RAF brachten mich mit Radar in Be-
rührung. Die Erfahrungen, die ich mit den ersten Funk-
meßgeräten sammelte, haben sich in etlichen meiner Er-

188
zählungen niedergeschlagen und gewährten mir Einblick
in wissenschaftliche Denkvorgänge. Während dieser Pe-
riode schrieb ich den technischen Artikel >Extra-Terrestrial
Relays<, der sich mit der Theorie synchroner Nachrichten-
satelliten befaßte.
Mit Hilfe eines wohlgesinnten Parlamentsmitglieds er-
hielt ich ein Stipendium im King's College in London und
war zwei Jahre später Bakkaleaurus der Naturwissen-
schaften in Physik sowie reiner und angewandter Mathe-
matik.
Inzwischen hatte ich begonnen, Erzählungen an
Science Fiction-Magazine in den Vereinigten Staaten zu
verkaufen. Nachdem ich vom College abgegangen war,
schrieb ich weiterhin Erzählungen und Fachartikel und
wurde Mitherausgeber von PHYSICS ABSTRACTS - eine
sehr interessante Tätigkeit, durch die ich bezüglich des
wissenschaftlichen Fortschritts auf dem laufenden blieb.
Ich gab sie nach zwei Jahren auf, weil mein Einkommen
aus meiner Freizeitbeschäftigung höher war als mein Ge-
halt.
1950 erschien mein erstes Buch - ein technisches Werk
mit dem Titel INTERPLANETARY FLIGHT, das trotz sei-
nes engen Themenkreises soviel Erfolg hatte, daß ich auf-
gefordert wurde, ein zweites Buch für das breite Publikum
zu schreiben. Das war dann EXPLORATION OF SPACE.
Mitte der fünfziger Jahre nahm meine Laufbahn jedoch
eine neue Richtung, weil ich unter einem heftigen Anfall
von Sporttauchen litt. (Ich hatte baJd darauf weitere Astro-
nauten angesteckt, darunter vor allem Dr. Wernher von
Braun.) 1955 schloß ich mich meinem Partner Mike Wilson
auf dem Großen Barriere-Riff von Australien an, und die
Ergebnisse sind in THE COAST OF CORAL festgehalten.
Spätere Expeditionen führten uns nach Ceylon, wo wir
jetzt leben. Mike entdeckte das erste Schatzschiff, das je
im Indischen Ozean gefunden wurde (ein schwer bewaff-
netes Frachtschiff, das 1702 mit mindestens einer Tonne

189
Silbermünzen an Bord unterging; das Resultat waren das
Buch und der Fernsehfilm THE TREASURES OF THE
GREAT REEF, die beträchtliche Unruhe in unser Leben
brachten.
Ich habe jetzt über vierzig Bücher geschrieben, aber
meine literarische Produktion kam vier Jahre lang buch-
stäblich zum Stillstand, während ich mit Stanley Kubrick
an 2001: EINE ODYSSEE IM WELTRAUM arbeitete. Da
dieser Film einen gewissen Erfolg errungen hat, hoffe ich,
daß ich mich wieder meiner Lieblingsbeschäftigung, dem
Schreiben von Kurzgeschichten, widmen und außerdem
mehr Zeit damit verbringen kann, daß ich tauche, lese,
Tischtennis spiele und mich über die neuesten Nachrichten
aus dem Weltraum auf dem laufenden halte - denn ich
habe jedenfalls die Absicht, ihn zu besichtigen, bevor ich
zu alt dazu bin.
Arthur C. Clarke
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Dienackten Computer-
Romane Wilden spiele
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