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Warum müssen wir weinen?


Peng, doing. Hart wie ein Stein prallt etwas auf Nikolas’ Stirn. Nikolas konnte den
Tennisball, den Florian ihm aus Versehen direkt an den Kopf geschmissen hatte,
nicht mehr rechtzeitig abfangen. «Oh, tut mir leid», stammelt Florian. «Aua, das hat
wehgetan», jammert Niko, und schon kullern ihm die Tränen über die Wangen.
Nikolas weint vor Schmerz, sein Freund Florian weint manchmal wegen schlechter
Schulnoten und seine Freundin Anna, weil sie ihr Lieblingsarmband verloren hat.
Nicht jeder weint aus demselben Grund. Aber die meisten weinen, weil sie traurig
sind und es ihnen nicht gut geht. Jeder macht es anders, mal laut und heftig, mal
leise und in sich hineinschluchzend. Egal, wie und warum wir es tun: Weinen, das
müssen wir alle. Und zwar ziemlich oft. Jeden Tag vergiessen zum Beispiel allein die
Menschen in der Schweiz so viele Tränen, dass man mit ihnen mindestens 4
Badewannen füllen könnte.
Wo kommen bloss all die Tränen her? Wenn ihr mit eurem Zeigefinger über das
obere Augenlid streicht (von der Nase in Richtung Schläfen), fahrt ihr dabei auch
über die Tränendrüsen. Ihr könnt sie nicht spüren, denn sie liegen über dem oberen
Lid unter dem Knochen versteckt, der unsere Augen umgibt. Tag und Nacht
produzieren sie, wie eine Tränenfabrik, die Flüssigkeit - unabhängig davon, ob wir
weinen oder nicht. Wenn sich beim Radfahren eine Fliege in unserem Auge verfängt.
Wenn uns Sand in die Augen weht oder wir Zwiebeln schneiden, laufen uns die
Tränen aus den Augen. In all diesen Fällen haben sie eine ganz bestimmte Aufgabe:
Tränen sollen unsere Augen säubern. Damit uns nicht ständig die Tränen über die
Wangen kullern, gibt es einen bestimmten Kanal, den Tränen-Nasen-Gang, über den
das überflüssige «Wischwasser» nach innen durch die Nasenhöhle in den Rachen
läuft.
Wenn wir vor Schmerz oder Traurigkeit weinen müssen, bilden die Tränendrüsen
noch mehr von der Flüssigkeit, die aus viel Wasser, etwas Salz und wenig
Eiweissen besteht. Das schafft dann der beste Abflusskanal nicht mehr: Tränen
strömen aus unseren Augen, uns tritt «das Wasser über die Ufer». Jetzt kullert es
wirklich unsere Wangen hinunter. Der Rest fliesst über den Tränenkanal in die
Nasenhöhle hinein. Deshalb müssen wir uns nach einer Heulattacke erst einmal
kräftig die Nase putzen und fühlen uns verschleimt. Oder wir müssen schlucken. Die
Nasenhöhle führt nämlich nach hinten in den Rachen. Dort können wir die salzigen
Tränen manchmal schmecken.
Für die Augen ist das Weinen wie ein Waschtag, denn sie werden dabei so richtig
durchgespült und sauber gemacht. Wie geht es uns dabei? Manchmal fühlen wir uns
nach dem Heulen besser – irgendwie sind wir erleichtert und befreit. Forscher haben
herausgefunden, dass beim Weinen auch Eiweissstoffe, die uns unglücklich machen,
hinausgespült werden. Wenn wir die los sind, sind wir glücklicher. Manchmal werden
wir jedoch durch die vielen Tränen noch trauriger, oder?
Und was ist dann mit den Freudentränen, die wir vor Rührung und Glück
vergiessen? Das können sich die Forscher noch nicht so genau erklären. Sicher ist
aber, dass wir weinen, um andere Menschen auf unsere Gefühle aufmerksam zu
machen und bei ihnen Mitleid zu erregen. Wir werden beachtet, wenn wir weinen.
Andere

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kümmern sich um uns und versuchen uns zu trösten, indem sie mit uns reden oder
uns einfach in den Arm nehmen. Genau aus diesem Grund weinen auch schon
Babys. Für sie ist das Weinen eine Art Sprache: Sie schreien, wenn sie Hunger
haben, wenn sie müde sind oder sich einsam fühlen. Geht ja auch nicht anders.
Schliesslich können sie sich noch kein Butterbrot schmieren, alleine ins Bett
marschieren oder sich bei der Mutter auf den Schoss setzen. Damit die Eltern
reagieren und sich um sie kümmern, hilft nur Weinen. Allerdings funktioniert das in
manchen Kulturen überhaupt nicht: Bei den Naturvölkern in Nigeria (Westafrika) zum
Beispiel gilt einer als Heulsuse und überempfindlich, wenn er Tränen vergiesst. Den
Babys wird dort schon mal ein Klaps gegeben, wenn sie zu viel schreien. Übrigens:
Das Krokodil weint seine dicken, runden «Krokodilstränen» nicht, weil es traurig ist.
Es muss zwar immer heulen, während es seine Beute verspeist, aber das hat mit
seinen Gefühlen nichts zu tun. Vielmehr werden beim Maulaufsperren und Fressen
seine Tränendrüsen so zusammengedrückt, dass dabei ein bisschen Flüssigkeit
herausgequetscht wird. Es wäre aber durchaus vorstellbar, dass das Krokodil ein
paar Tränen vergiesst, wenn ihm die Beute nicht schmeckt!

Aus: Auerbach, Isabelle (2005). Kriegen Eisbären eine Gänsehaut? Berlin: Ullstein Buchverlage.

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