Sie sind auf Seite 1von 61

Stanislaus von Moos: Venturi,

Rauch, Scott, Brown

Vorwort
Teil I: Die Herausforderung des Status Quo.
5 Punkte zur Architektur von VRSB 9
I. Geschichte und »Common Sense« 11
Der Architekt als Beobachter 11
Wahrnehmung und Formanalyse 12
Funktionalismus und »soziale Relevanz« 17
»Marginal Man« 21

V. Die Stadt als Bühne 60


»Realismus« versus »Pop« 6\
»New Brutalism« und die Ästhetik der Häßlichkeit 62 Die Stadt als
Bühne 64
Populismus und Popularität 67
Anmerkungen 70
Teil II: VRSB
Bauten und Projekte 1960-1985 7S

Abkürzungen 7 0
II. Anatomie eines »dekorierten Schuppens« 22
Herausgegriffen: das Guild House 24
»Pastiche« 25 I. Stadtgestaitung 77
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Transparenz, Symbolik und »gebrochene Form«. »Urbanismus« und
»Stadtgestaltung« 77 - Rom und
Zur Rezeptionsgeschichte des Guild House 28 eine Bergwerkstadt in
Wales 79 - Pop Art und Soziat-
»Bauhaus« oder »Our House«? 30 Wissenschaft 80
III. Themen und Variationen 32
Themen: Aaltos Impuls 33
Poche 36
»Innen« ist nicht »Außen«. Dialektik der Frontalität 39
Portal und Proszenium 41
»Impressionistische Baukunst«? 42
IV. Sprachspiele und Massenmedien 47
»Bedeutung« und »Symbolik« 48
Sprachspiele und Zeichentheorie 51
Selbstaufgabe der Architektur? 57
»Unterhaltungselektronik« und Architektur 57

1 Fairmount Park Fountain Competition 8b


2 Copley Square Competition 88
3 The Philadelphia Crosstown Community 90
4 Thousand Oaks Civic Center 9'
5 California City Plarvning Study S
6 Benjamin Franklin Parkway Celehtaüon for \916
7 City Fdges Planning Study
8 Franklin Court
9 Galveston Development Project
10 Scranton Murals
11 lim Thorpe, Manch Chunk Historie District Study

Seite 2 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
12 Pennsylvania Avenue Project
13 'Washington Avenue RevitaWiation Plan
126
128
134
138
141
144
145
148
150
152
154
158
160
163
168
172
177
180
186
190
195
198
202
208
212
14 Republic Square District Master Plan
Seite 3 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
15 Westway Urban Design Project
16 Times Square Plaza Design
17 Welcome Park
18 Ponte dell' Accademia
19 Marconi Plaza Monument
II. Öffentliche Bauten
»Neue Monumentalität« und Kommunalpaläste 145 - Venturis
Diplomarbeit 146 - Innen und Außen 146
20 North Penn Visiting Nurses Association Headquarters
21 Berkeley Museum and Art Gallery Competition
22 Varga-Brigio Medical OfTice Building
23 North Canton Town Center
24 Fire Station Nr. 4
25 National Football Hall of Farne Competition
26 Humanities Building
27 Social Sciences Building
28 Yale Mathematics Building Competition
29 Dixwell Fire Station
30 Allen Memorial Art Museum,
Oberlin College
31 Penn State Faculty Club
32 Museum für Kunsthandwerk
33 Canberra Parliament House Competition
34 State Mosque of Iraq Competition
35 Gordon Wu Hall
36 Lewis Thomas Laboratory for Molecular ßiology
37 Laguna Gloria Art Museum
III. Geschäfts- und Bürobauten 215
Seite 4 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
»Enten« und »dekorierte Schuppen« 215
38 Transportation Square Office Building 217
39 California City Sales Office 220
40 MERBISC Mart 221
41 Jazz Club Houston 222
42 Hotel-Casino in Atlantic City 223
43 The County Federal Savings and Loan Bank 226
44 Best Products Catalog Showroom 228
45 ISI Corporation Headquarters 230
46 BASCO Showroom 232
47 Khulafa Street Residential and
Commercial Building 234
48 »Greenlands« Mixed Use Development 236
49 Jacksonville Office Building 237

IV. Häuser
Laborexperimente 240 - Das klassische und das malerische Ideal 241
239
50 Vanna Venturi House 244
51 Lieb House 249
52 Wike House 252
53 D’Agostino House 254
54 Trubek and Wislocki Houses 256
55 Haus in Connecticut 260
56 Haus in Westchester County 266
57 Haus in Tuckers Town 268
58 Haus in Vail 272
Seite 5 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
59 Coxe-Hayden Studio Houses 274
60 Haus in Northern Delaware 276

V. Wohn- und Siedlungsbau 279 74 INA Capital Management


309
Urban Renewal 279 - Leaming from Levittown 280 75
Knoll Showroom 310
76 Princeton University Interior Adaptations
311
61 Guild House 282 77 George D. Widener Memorial Treehouse
62 Hun School Dormitory 287 for the Children’s Zoo
314
63 Brighton Beach Housing Corapetition 288 78 »High
Stylds« Exhibition Design 316
64 Wissahickon Avenue Houses290
65 IAS Land Development Project 291
66 Park Regency Condominiums 292 VII. Kunstgewerbe
317
67 Chinatown Housing 293
79 Knoll Fumiture 318
80 Alessi Tea Service 320
81 A Bureau in William and Mary Style 321
VI . Ausstellungen und Innenarchitektur 295 82 Swid
Powell Table Line 322
83 »Italian Village« 323
68 James B. Duke House296
69 Grand’s Restaurant 299 Dank 324

Seite 6 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
70 St. Frances de Sales Church 301 Bibliographie (in
Zusammenarbeit mit Ute Lehrer) 325
71 Bicentennial Exhibition 303 ^ Kurzbiographien 328
72 »Signs of Life. Symbols in the Verzeichnis der
Bauten und Projekte 1958-1985 329
American City« 304 Abbildungsnachweis 332
73 »200 Years of American Sculpture« 308 Register 333

Teil I: Die Herausforderung des Status Quo.I. 5 Punkte


zur Architektur von VRSB

Geschichte und »Common Sense«


Eine palladianische Villenfront, die komplizierte Raumgeometrie
amerikanischer Landhäuser der 1880er Jahre, Marmorinkrastationen der
Kosmaten, Le Corbusiers weiße Villen und die unerlöste Einöde eines
Parkplatzes vor einem Shopping Center nach Ladenschluß: das sind
einige der architektonischen Bilder, die in die Bauten und Projekte von
Venturi, Rauch and Scott Brown in einer fast beschwörenden Weise
verwirkt sind, als gälte es, noch einmal die Totalität der geschichtlichen
Erfahrung zu vergegenwärtigen. Und zwar nicht im Sinne eines
enzyklopädischen Inventars oder gar einer Rekonstruktion von allem, was
es einmal gegeben hat, sondern ausdrücklich im Sinne von
Erinnerungszeichen, bewußt fiktiven tableaux, die eher dazu geeignet
scheinen, den Abstand, der uns von der Geschichte oder vom populären
Alltag trennt, bewußt werden zu lassen, als daß sie die Grundlagen eines
natürlichen Umgangs mit ihnen zu legen vermöchten.
Die Instanz, die diese visuelle Bestandsaufnahme für uns vomimmt, ist
das Auge. Mit dieser Feststellung sollen die Untersuchungen der Venturis
nicht auf die Ebene eines unverbindlichen Ästhetizismus abgeschoben
werden. Die drängende Aktualisierung von Geschichte und alltäglicher
Realität, die in ihrem Werk vorliegt, ist von den Architekten selbst
nachdrücklich mit sozialen und kulturpolitischen Anliegen in Verbindung
gebracht worden, Anliegen, von denen die Rede sein wird. Die Themen,
um die es dabei geht, sind tief in der intellektuellen Diskussion der
sechziger Jahre verwurzelt: Damals hatte die Architektur neue
Anstrengungen unternommen, um in Disziplinen wie Geschichte,
Seite 7 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Psychologie, Soziologie und Linguistik festen Boden für die eigene
Weiterentwicklung zu fassen. Venturis erstes Buch, Complexity and
Contradiction in Architecture (1966), gehört zu den bis heute aktuell
gebliebenen Resultaten dieser Neuorientierung: vermutlich nicht zuletzt
dank seiner präzisen Fragestellung und dank der Anschaulichkeit - der
Konkretheit - seiner Argumente.
Das Buch - Vincent Scully meinte, es sei »wahrscheinlich die wichtigste
architektonische Programmschrift seit Le Corbusiers Vers une
architecture von 1923«1 - stellt einen Versuch dar, Kriterien der
Literaturtheorie für die ästhetische Analyse von Architektur einzusetzen:
unter anderen die Seven Types of Ambiguity von William Empson, aber
auch Konzepte von T. S. Eliot, Kenneth Burke, Cleanth Brooks und
anderen.2 Vordergründig ging es darum, ein System ästhetischer Regeln
aufzustellen, das rückwirkend auch zur Überprüfung der Qualität der
eigenen Arbeit dienen sollte. Aber das entscheidende Resultat des
Unterfangens war, daß damit das Sprechen und Schreiben über
Architektur aus dem Bannkreis einer ideologischen Konvention
herausgeführt wurde, die den Architekten auf seine von der Modernen
Bewegung geforderte, aber in den letzten Jahrzehnten immer
fragwürdiger gewordene Rolle als sozialer »Visionär«, technischer
Problemlösungsexperte und Garant einer permanenten ästhetischen
Innovation festzunageln drohte.

Der Architekt als Beobachter

Im Zeichen der literarischen Ästhetik von Komplexität und Widerspruch,


die Venturi interessierte, ergaben sich tatsächlich ganz neue Prioritäten.
Es interessierte zum Beispiel weniger die Frage, wie man komplizierte
Probleme technischer, sozialer oder wirtschaftlicher Art mit möglichst
einfachen oder robusten Mitteln »löst« (und damit aus der Welt schafft,
so wie etwa Le Corbusier das Problem der Wohnungsnot in der Pariser
Innenstadt aus der Welt schaffen wollte, indem er dort einfach Bürotürme
vorsah), als die Frage, wie sich solche Probleme in architektonischer
Form zur Darstellung bringen lassen. Und da sich im Verlauf der Arbeit
der Verdacht verstärkte, daß ein solcher Denkansatz für den Entwerfer
sowohl künstlerisch vielversprechender als auch sozial in vielen Fällen
realistischer und verantwor-
Anmerkungen S. 70-73

Seite 8 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
iiHMinriWrr «Ü KOMM A d» UMBCIK, MS den NSunns- ■Mdslts
fi^riMMcw lyaWtndftwwpwhilmi des üliMkmffi \*iJMcki«n ih ww
SozsaLInsenicurs. ergab sich r»-wehen 4M «ücnriRlM* \teM2 Venturis
und den IMMBMSS 4M Msenkamscfaen Stsdtsoiiotogie
te-ir st MM4K! durch Autoren wie Melvin Webber «der Harten OMS m
den sechziger Jahren ent»rekelt wurden - we «an «dM Mt überraschende
innere Konvergenz.
HMM tolk mal dem Erscheinen des Buches Leaming tmm LMS Hrpnr
(1977) die Grundlage der intellektuellen Pro- dnks^r de» Mm «erden ' Es
war Dome Scott Brown, Vssm GOM and Partnerin im Büro (seit 1967),
die, als Arctwariun und Plane rm mit den Anliegen und Methoden dir
InMdwMMmdMflcn vertraut, dafür sorgte, daß sich der mm BniMSflmn
Essay geschulte Diskurs der Venturis zunehmend md Argmwrnr Horn n
der empirischen Soziologie sinne So acht das architektonische Denken
der Venturis MMAdMch tn einer ungewöhnlichen Nähe sowohl zum
Game de» Inaratarthcoretnchen Essays als auch zur Gedankenwelt der
Soziologie. Es hat sich, um Wolf Lepenies* Bild der «dm Kulturen« zu
benützen, die die Welt der Geistes- »memetudtea unter sich verteilen,
ständig von den Paradigmen de* ~ i nie » merm hafte n wegbewegt, um
sich dafür jene der schönen Literatur und der Soziologie anzueignen.4
Dm Rrtadbd war cm Aufruhr, oder doch eine Polarisierung fori der
gesamten Architekturszene - nicht nur Amerika* - n Gegner und
Sympathisanten der vermeintlichen oder malen »Position« der Venturis.
In der Tat was einem Literaturkritiker, einem Soziologen oder etwa einem
Kunsl- Metortkor ab geastnachc Analyse erscheinen mochte, das Mos
mm AidMekl um 1970 kaum anders denn als Schan- dum de* Bcrufunool
verstehen zu können. Seine geistigen kMOM Mdaenea unbeirrbar auf den
Empfang ideaüstiscb- ggpgdHr Kmglf eingestellt zu sein, nicht aber auf
Tuch- lutüwflg M der »mieden Realität des Alltags Die archi- UlMMlM
Eibe der amerikanischen Ostküste, deren ide- Mtiidbi SdbötndMin durch
die Studentenbewegung ÜC gMI Mdwge Jahre paradoxerweise eher
bekräftig efts MMppddl wunfe,, feegierte denn auch auf Leo* «an ßmm
Ls* l«ga swMach mehr anders ah an kirchlicher VOM—au< em
qOMMchihdl pornographische» Ehborat rea- 0smm mimde' emi
MOMMcher Empörung ABc großen IlgghM der hnfeeei Kjnnk eg der
Modernen Mmsrnfcnliiir. wen Thonder • Ahm iher Herbert Marcuae bis
hm zu OhaeaM CienedNeg MM wen der Kmk MI Feld geführt, um du
VeMMh IM Leger eMes */ynwchca> und «feektu^ iteic«**
Seite 9 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
luunmriMMlHM* MMdnMperc* Wie sehr sich die Gegpfc* 'da k
eggwrt» ne MMM Eder eehMd m One vefdedi-
Uge Nahe zu den Gemeinplätzen konservativer Kulturkritik
manövrierten, war ihnen vermutlich kaum bewußt.6
Einige der Probleme, die in dieser (prad des anciens modernes ei des post-
modernes zur Debatte standen, werden weiter unten (S 2$ff.) ausführlich
zur Sprache kommen. Der Leser mag vielleicht an dieser Stelle eine
Erörterung zum Thema »postmodeme Architektur« erwarten, einem
Phänomen, zu dessen Gründern und Ideologen die Venturis seit langem
gehören - auch wenn sie sich neuerdings von einzelnen Aspekten der
Bewegung deutlich distanzieren. Ich halte es für wenig sinnvoll, auch nur
den Deckel über dieser Büchse der Pandora zu lüften. Es geht im
folgenden zuallererst um die Erörterung von Architektur, nicht um die
Fixierung einer Position im aktuellen Streit der Meinungen, und um sich
ein Bild der Architektur zu machen, die hier zur Debatte steht, ist es
vermutlich sinnvoll, sich einen eigenen Weg zu suchen, möglichst abseits
der dogmatischen Vorurteile der Gegner und der Schwärmerei der
Befürworter, ja bis zu einem gewissen Grad sogar abseits des komplexen
theoretischen Lehrgebäudes, das in den beiden erwähnten Büchern der
Venturis vorliegt.
Sicher liegt der Schlüssel zu einem solchen Vorgehen zu allererst im hier
dokumentierten (Euvre selbst Aus diesem Grunde werde ich ein
Einzelwerk von Venturi and Rauch herausgreifen - nämlich das Guild
House in Philadelphia (1960-1963) um daran einige Themen ihrer
Architektur und ihrer Theorie zu erörtern. Da aber andererseits die
Vorstellung. Werke der Kunst (und also auch der Architektur) ließen sich
ausschließlich aus sich selbst, das heißt ihrer formalen Struktur erklären,
ein ebenso naiver Selbstbetrug wäre wie die Vorstellung, es genüge, ihre
Bedeutung von den unmittelbaren historischen Quellen respektive den
erklärten Intentionen der Architekten her aufzuschlüsscln (was zum
vornherein nicht die Aufgabe einer übcrstchtsdar- Stellung wie der
vorliegenden sein kann), will ich zwei Arbeiishypothesen skizzieren, die
zu den in diesem Buch dokumentierten Interessen und Anliegen
hinführen; die eine mehr die ästhetische Seite von Architektur betreffend,
die andere ihre soziale Rolle.

Seite 10 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Wahrnehmung und Formanalyse
Der »Stoff«, mn dem «eh Venturi in Complextty and Coatru- dumm
befaßt, und auf den sich die Architektur «eines Büro« 4u»dfück)ieh
bezieht, ist die Geschichte der Architektur, wobei Manaemmus, Rokoko
und frühe Moderne im Vor-
dergrund stehen. Diese intellektuelle Neugier hatte von allem Anfang an
eminent praktische Implikationen; sie half, die Produktion von
Architektur aus den wirtschaftlichen und ideologischen Fangen
industrieller Fließbandrationalität zu losen und wieder in die Nähe des
Handwerkes zu fuhren. Darin besteht bis heute die Aktualität von
Venturis erstem Buch und der frühen Arbeiten von Venturi and Rauch.
Andererseits wird es kaum jemanden überraschen, daß gerade die
universale historische Katholizität von Venturis ästhetischen Interessen
das Mißtrauen vieler Kollegen auf den Plan rief - auch wenn dieses nicht
immer, wie im Falle von Colin Rowe, im Gewand herablassender Ironie
einherkam:

»Venturi hat, alles in allem, nicht nur den raffiniertesten modernen


Stammbaum - Sullivan, Wright, Le Corbusier und andere - wir wissen,
daß wir nur ein bißchen suchen müssen, bis wir Aalto und Lutyens als
Anreger entdecken weiden; und wenn wir unsere Nachforschungen
fortsetzen, wird sich eine ganze Gesellschaft von entfernteren, aber nicht
weniger wichtigen Namen einstellen - Vanbrugh, Vittone, Soane und
beinahe jeder Architekt der letzten vierhundert Jahre, der auch nur ein
bescheidenes Raffinement an den Tag gelegt hat - die ohne weiteres zur
Dekoration der tiefer gelegenen Äste des Stammbaums rekrutiert werden
können.«8 U

Tatsächlich finden sich die von Rowe erwähnten Namen, nebst vielen
anderen, alle in Venturis erstem Buch. Dabei unterstützt sowohl die
Bildauswahl als auch das Format der Abbildungen - es sind in der ersten
Ausgabe des Buches nicht weniger als 350 Pläne und Fotos, viele davon
in der Größe von Kontaktabzügen nach Kleinbildnegativen - den
Eindruck eines uferlosen Stroms von untereinander zwar höchst
disparaten, aber letztlich gleichwertigen historischen und
zeitgenössischen Belegen für die Omnipräsenz »komplexer« und
»widersprüchlicher« Form in Geschichte und Gegenwart (Abb. 1). Es
Seite 11 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
sind BUder verschiedenster Herkunft _ eben vom Palazzo Farnese über
Michelangelos Medici-Kapelle in Florenz bis zu Thomas Jeffersons
Universitätsbauten in Charlottesville, Vanbrugh’s Eastbury in England
den amerikanischen Landhäusern des Shingle Style und einem
Flaggenbild von Jasper Johns - die Venturi fast ohne historische
Relativierung in sein Pantheon »komplexer« und »widersprüchlicher«
Formen aufnimmt I und die er als Architekt auch als Quellen benützt.

Die Kritiker, die in diesem Zusammenhang gerade das Fehlen eines


Versuches bemängeln; die verschiedenen Formen von »Komplexität«, die
in diesen Beispielen vorhegen historisch aufzuschlüsseln, haben aus ihrer
Sicht nicht
unrecht.9 Tatsächlich interessiert die Frage, auf welche Weise
»Komplexität« und »Widerspruch« von Fall zu Fall zustande gekommen
seien, im Kontext von Venturis Fragestellung kaum. Diese Qualitäten
mögen Frucht einer künstlerischen Absicht oder Resultat der bloßen
zeitlichen Aufeinanderfolge oder der zufälligen Überlagerung von
Funktionen oder Bauphasen sein. Es mag sich bald um intendierte, bald
um unterlaufene Wirkungen handeln: Worauf es ankommt, ist die
Wirkung, die diese Erscheinungen auf die subjektive Wahrnehmung
gebauter Form ausüben.
insofern sind »Komplexität« und »Widerspruch« denn auch nicht
historische, sondern in erster Linie visuelle und an die subjektive
Erfahrung gebundene Kategorien architek
tonischer Form. Venturis frühe Schriften zeigen, daß sein Interesse an
historischer Architektur durch die Suche nach ästhetischen Regeln
motiviert ist. Ein Dokument, das in diesem Zusammenhang kaum
überschätzt werden kann, ist der (unpublizierte) theoretische Essay, den
der Architekt 1950 zusammen mit seiner Diplomarbeit einreichte (vgl. S.
23; 80). Er beginnt folgendermaßen: »Diesem Diplomaufsatz liegt die
Absicht zugrunde, die Bedeutung und die Wirkung aufzuzeigen, die ein
gegebener Standort auf ein Bauwerk ausüben kann. Es geht um
Umweltgestaltung«, und nun fügt Venturi hinzu: »Das Problem der
Umwelt als Ganzes, wie sie vom Auge wahrgenommen wird«
(Hervorhebung S.v.M.).10 
Die Authentizität, die diesen Architekten an Bauten in erster Linie
interessiert, ist also nicht eine soziale oder historische, sondern die
Seite 12 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Authentizität ihrer optischen Verknüpfung mit ihrer jeweiligen
Umgebung, mit der zusammen sie ein pereeptuai whole bilden.
Insofern als Venturi nicht als Historiker, sondern als Entwerfer städtischer
Räume denkt, ist er Architekt. Insofern als er sich dabei von seinem Auge
- von der subjektiven Wahrnehmung - leiten läßt, ist er Teil einer
spezifisch modernen Tradition. Das mag nicht ohne weiteres einleuchten,
zumal nicht vor dem Hinteigrund des verbreiteten Glaubens, »die
Moderne« habe die »Geschichte« aus ihrem Bewußtsein verdrängt. Er
gehört bekanntlich zu den Legitimationsmythen der Postmodeme. Die
Wirklichkeit sieht zum Teil allerdings anders aus: Sie präsentiert sich, wie
die Moderne selbst, in Facetten. Der utilitaristische Extremismus etwa der
Schweizer ABC-Gruppe, die um 1925 proklamierte, »Form« und
»Komposition« seien mit den Anforderungen des Bauens unvereinbar
(Abb. 2), stand seit je der Formalismus eines Le Corbusier gegenüber, der
im Hinblick auf dem Historismus einmal meinte: »Wenn ich feststelle,
daß ich schmutzige Hände habe, so ziehe ich es vor, sie zu waschen, statt
sie abzuschneiden.«11
Le Corbusiers Aufsätze in Esprit Nouveau, die 1923 unter dem Titel Vers
une architecture als Buch erschienen, präsentieren denn auch ein
Spektrum historischer Architektur, das an Breite dem von Venturi in
Complexity and Contradiction voigeführten kaum nachsteht. Selbst in der
Epoche des wildesten architektonischen Eklektizismus im 19. Jahrhundert
wäre es kaum denkbar gewesen, in ein und demselben Buch den
Parthenon, die Hagia Sophia, St. Peter in Rom, S. Maria in Cosmedin
sowie das Petit Trianon in Versailles zum Zeugen einer architektonischen
Erneuerung aufzurufen, wie Le Corbusier dies tat. Auch sein
Raisonnement im Umgang mit historischer Architektur ist ästhetischer
Art: Von »Geschichte«, das heißt von der sozialen, ideologischen oder
ökonomischen Bedingtheit der von ihm gezeigten Architekturen, ist bei
Le Corbusier - zumindest in dem erwähnten Buch - so wenig zu hören
wie bei Venturi. Hier wie dort aber dient die Architektur der
Vergangenheit als selbstverständliches Bezugsfeld des Entwerfens (Abb.
3).
Oder, um ein Buch zu erwähnen, das Venturi bei seiner eigenen Reflexion
ständig vor Augen zu haben scheint: Sig- fried Giedions Space, Time and
Architecture (1941). In Anbetracht dieses Buches, das u.a. den Versuch
macht, die »neue Tradition« der modernen Architektur in der

Seite 13 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Raumkonzeption des Barock zu verankern - man denke nur an den
berühmten Vergleich von Borrominis S. Carlo alle Quattro
Fontane in Rom mit den Crescents von Bath und mit Le Corbusiers Plan
Obus (Abb. 4, 5) - fällt der Vorwurf, die »offizielle Moderne« habe sich
nicht für »Geschichte« interessiert, in sich selbst zusammen. Aus der
Sicht Venturis besteht das Hauptproblem der von den CIAM (den
»Internationalen Kongressen für Neues Bauen«, deren Sekretär Giedion
war) propagierten Architektur nicht darin, daß diese Architektur das
Bewußtsein fürs »Vergangene« durch bloße technokratische Effizienz
ersetzt habe, sondern darin, daß sie auf historischen Vorbildern basiere,
die »einfache« und »saubere« Lösungen komplexer Probleme zu
verkörpern scheinen, während die soziale und kulturelle Realität des
städtischen Zusammenlebens im allgemeinen nach wesentlich »hybriden«
und »komplexen« Lösungen verlange.12
Vermutlich wäre die Frage, welches die Kriterien waren, mit deren Hilfe
die Moderne ihren extrem selektiven Gebrauch der Geschichte
legitimierte, um einiges ergiebiger als die postmodeme Klage darüber, die
Moderne habe die Geschichte vergessen (welche Geschichte überhaupt?).
Hier wäre eigentlich von Psychologie und von Theorie der Wahrnehmung
zu reden, auch von einer Kunstwissenschaft, die den Schwerpunkt ihrer
Neugierde in »Problemen der Form« sieht, wie es ein berühmter Buchtitel
von Adolf von Hildebrandt ausdrückt, und die ihre Grundbegriffe an
formalen Kriterien entwickelte - wie Heinrich Wölfflin in seinen
Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen (1915).13
Le Corbusiers kunsttheoretischer Gewährsmann war, neben dem
Kunsttheoretiker und Pädagogen Charles Blanc und anderen, der
Psychologe Charles Henry, von dem die für den Architekten entscheidend
wichtige Theorie der formes primaires stammt: Die Vorstellung, wonach
»primäre Formen« in Kunst und Architektur zwangsläufig auch sensa-
tions primaires auslösen (Abb. 3). Giedion wiederum begründete seine
Auffassung vom »Raum-Zeit-Kontinuum« in der Architektur auf den
Vorstellungen, die sein Lehrer Wölfflin und A.E. Brinckmann an der
barocken Architektur des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelt haben, und
die er geschickt mit den Raum-Zeit-Konzepten der modernen Physik in
Verbindung brachte.
Vor diesem Hintergrund erscheint Complexity and Contradiction in
Architecture nicht als Bruch mit der Moderne. Vielmehr stellt es die
Fortsetzung einer spezifisch modernen Obsession dar, von historischen
Seite 14 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Erfahrungen im Lichte aktueller ästhetischer Fragestellungen zu lernen.
Wobei diese Fragestellungen auch bei Venturi primär um die
Gegebenheiten von »Form« und »Raum« in der Architektur kreisen, auch
wenn sie daran ganz andere Qualitäten erörtern als jene, die die
Generation Le Corbusiers und Giedions inter-

essierte: das Hybride (statt das Eindeutige), das Sowohl-Als Auch (statt
das Entweder-Oder), das Konventionelle (statt das Originelle), die
Darstellung von Widersprüchen (statt deren ästhetische Nivellierung und
Aufhebung). Oder, konkreter: Das Hotel de Matignon in Paris (Abb. 6)
mit seinen situationsbedingten Widersprüchen zwischen innerer und
äußerer Ordnung (und nicht sosehr die elementare Stereometrie von
Getreidesilos oder das scheinbar konfliktlose Raumkontinuum von
Seite 15 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Borrominis Kuppellateme von S. Ivo, die Giedion mit Tatlins »Monument
für die III. Internationale« verglich).
Lionello Venturi, einer der Begründer der Kunstgeschichte der Moderne,
schrieb einmal, Manet habe »das Prinzip der Autonomie der
Wahrnehmung in die Kunst eingeführt, und die gesamte moderne Kunst
habe es seither als Grundlage und als Markenzeichen benützt«.14.
Vielleicht ist es nicht einmal völlig abwegig, daran zu erinnern, daß die
folgenreichste ästhetische Theorie der Moderne, diejenige des
Impressionismus, auf einer optischen Analyse des visuellen

Kontrasts von Tonwerten und komplementären Farben beruhte, und daß


sich, deren Theorie zufolge, die Realität des Kunstwerkes aus einer
Montage entsprechender Kontraste ergibt. Wenn Venturi in der erwähnten
Diplomarbeit von 1950 betont, daß der Kontext die Bedeutung der Form
verändere, so wiederholt er damit nicht nur das Grundpostulat einer jeden
linguistischen Zeichentheorie, er steht auch in der Tradition Eugene
Chevreuls, der in seinem berühmten, für die Theorie des Impressionismus
wegweisenden Buch De la loi des contrastes simultanes des couleurs
(1839) zeigte, wie die Qualität einer Farbe davon abhänge, in welcher
Umgebung sie auftrete - so daß sich ein Gelb allein durch die
Nachbarschaft zu einem Blau in ein Orange verwandeln könne.15 v
Solche primär wahmehmungspsychologischen Interessen scheinen
freilich in Leaming from Las Vegas keine Rolle mehr zu spielen. Oder
tun sie es unter anderen Vorzeichen doch? Vordergründig hat sich die
Optik von einer ästhetischpsychologischen zu einer im Grunde
linguistischen Frage-

Seite 16 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

Stellung verschoben: Es geht nicht um die im Prinzip zeitlose Struktur


gebauter Form, sondern um ihre Fähigkeit, extrem zeit bedingte Inhalte
und Botschaften zu vermitteln. Aber weder im einen noch im anderen
Falle, weder im Buch von 1966 noch in jenem von 1972, werden
historisch determinierte Erscheinungen des Bauens gesellschaftlich
abgeleitet, auf eine soziale Dialektik zurückgefiihrt. Der offensichtliche
Kommerzialismus von Las Vegas mag eine grundsätzliche Kritik des
Spielhöllenzaubers oder vielmehr des amerikanischen Kapitalismus, der
seine lärmige Inszenierung nicht nur erlaubt, sondern stimuliert, geradezu
herausfor- dem (vgl. S. 215 ff.). Als wollten sie dadurch ihre Kritiker
provozieren, beschränken sich die Venturis jedoch darauf, die formalen
und ikonographischen Prinzipien, denen der Strip als
»Kommunikationssystem« unterliegt, nüchtern zu dokumentieren. Sie
halten sich ans Sichtbare, an Größen, die optisch wahrgenommen,
photographisch dokumentiert und nach quantitativen Kriterien -
positivistisch - erfaßt werden können. Zur »Moral« von Las Vegas sagen
sie so wenig - oder so viel! - aus wie Pissarro mit seinen Bildern des
Boulevard Montmartre oder des Boulevard des Italiens über die sozialen
und wirtschaftlichen Hintergründe der Pariser Großstadt- und
Freizeitkultur im Fin de Siecle aussagte (Abb. 7, 8). Sie begnügen sich
damit, die Realität zunächst einmal optisch in den Griff zu nehmen, auf
den Begriff zu bringen.
Insofern reiht sich auch diese Untersuchung der Venturis in eine
entschieden moderne Tradition ein, die im Bereich der Bildenden Kunst
durch den Impressionismus eingeleitet wurde. Es genügt, an Fernand
Legers Interesse für die krasse Bildersprache der Place Clichy zu erinnern
oder an Mon- drians »Broadway Boogie-Woogie«-Serie der Jahre 1941—
1943, um sich die Tatsache zu vergegenwärtigen, daß die vorurteilslose
visuelle Aneignung des populären großstädtischen Alltags, deren
literarische Väter Charles Baudelaire und Walt Whitman heißen, seither
zu den zentralen Themen der Modernen Kunst gehört.16

Seite 17 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Funktionalismus und »soziale Relevanz«
In ihrer Einleitung zu Learningfrom Las Vegas versuchen die Autoren zu
zeigen, daß ein Vorgehen, das formale Probleme des Bauens und solche
der kommerziellen Bildersprache aus dem gesellschaftlichen
Zusammenhang isoliert, um sie besser analysieren zu können, durchaus
nicht Indifferenz gegenüber den sozialen Aufgaben der Architektur be
deutet. Sie meinen: »Wir beschränken uns bewußt darauf, Las Vegas als
ein Kommunikationssystem zu analysieren. Genauso wie die Bauanalyse
einer gotischen Kathedrale ohne eine Erörterung der Moral
mittelalterlicher Religion auskommen kann, so werden auch hier die
>Werte< von Las Vegas nicht in Frage gestellt. Die Moral der
kommerziellen Reklame und des Spielhöllengeschäfts sowie das
Wettbewerbsdenken sind nicht das Thema dieses Buches, obwohl wir
glauben, daß dies alles zu den breiteren, synthetischen Aufgaben des
Architekten gehört, unter denen eine Analyse wie die vorliegende nur
einen Einzelaspekt darstellt.«17

Seite 18 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

7 Las Vegas: »Upper Strip Looking North«, aus Learningfrom Las Vegas
(1972)

8 Camille Pissarro: »Boulevard Montmartre, effet de nuit« (1897),


London, The National Gallery

Die Verfasser sind der Meinung, daß Architekten gerade durch das
Studium des »vitalen Durcheinanders« des kommerziellen Alltags ihre
Sinne für soziale Aufgaben schärfen können. Insofern ist Leaming from
Las Vegas durchaus nicht frei von Sozialkritik: nur daß sich diese Kritik
nicht gegen Las Vegas richtet, sondern gegen Architekten, gegen ihre
Vorstellungen von der Rolle des Architekten in der Gesellschaft und
gegen die sozialen Folgen dieser Vorstellungen.18
Andererseits hat sich der ästhetische Pluralismus der Ven- turis früh mit
sozialen und politischen Vorstellungen verbündet, die man unter dem
vieldeutigen Begriff des »Populismus« zusammenfassen kann. Aber ihre
Berufung auf »das Volk« und »volkstümlichen Geschmack« hat diese
Architekten im Kreise der Modernen Architektur und ihrer Apologeten
vermutlich noch nachhaltiger in Verruf gebracht als ihr ungewöhnlicher
formaler Eklektizismus. Das liegt daran, daß sich die Moderne Bewegung
soziales Engagement kaum anders als in der Form des Für-die-Freiheit-
auf-die-Barri- kaden-Steigens vorstellen konnte, das heißt in der Form
sozialer und kultureller Führerschaft. Die »Basis« ist im Rahmen dieser
Auffassung immer etwas, was der »Avantgarde« einsichtig nachfolgt.
Nun könnte es scheinen, als wäre der »Populismus« der Venturis, sosehr
er im breiteren Kontext der modernen Kunst und Literatur verankert ist,
in erster Linie als eine polemische Reaktion auf das geschilderte
Avantgarde- Syndrom der Modernen Bewegung zu verstehen. Jedoch,
Seite 19 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
obwohl er gerade das auch ist, liegen seine Wurzeln vermutlich
wesentlich tiefer: in einer Auffassung, die man behelfsmäßig mit dem
Begriff der Philosophy of Common Sense charakterisieren könnte.
Zu ihren Begründern gehört letztlich David Hume (1711-1776), einer der
Wortführer der Aufklärung. Eines der grundlegenden Axiome des
philosophischen »Common Sense« lautet, die »Wahrheit« einer jeden
Behauptung erweise sich erst, wenn man sie mit der alltäglichen
Erfahrung des »Mannes von der Straße« vergleiche. Es liegt auf der
Hand, daß diese Auffassung unmittelbare Folgen für die Theorie des
Geschmacks und für den Umgang mit dem Problem der »Schönheit« in
der modernen Gesellschaft haben mußte, und darum geht es zum Beispiel
in dem 1790 zum ersten Mal erschienenen Werk von Archibald Alison,
Essays on the Nature and Principles of Taste.
Alison meint - in Analogie zu dem eben erwähnten Axiom - was »schön«
sei, erweise sich erst auf dem Umweg über das Studium der
Vorstellungen, die einfache Menschen zum Thema »Schönheit« haben,
und zwar sowohl »im Sinne des Malerischen als auch im Sinne des
Sublimen«. Die Möglichkeit, ein verbindliches ästhetisches Urteil über
irgendeinen Gegenstand zu formulieren, lehnt Alison denn auch
kategorisch ab. Irgendetwas »schön« oder »häßlich« zu finden sei
irrelevant, solange man die genaue Funktion des jeweiligen Gegenstandes
nicht kenne. Was die Architektur änbelange, so sei die Schönheit der
Proportion gar keine Frage der visuellen Erscheinung. Was wirklich
interessiere, wenn von ihr und von verwandten Dingen die Rede sei, etwa
von Maßstab und Komposition, sei lediglich die Frage, ob ein Bau seiner
Funktion entspreche und ob er diese Funktion richtig zum Ausdruck
bringe.19
Das folgende, ebenfalls in den Essays veröffentlichte ästhetische Axiom
zeigt allerdings, daß Alison den Begriff der Funktion keineswegs absolut
setzen und von gefühlsmäßigassoziativen Werten trennen will. Er
interessiert sich auch für ästhetische Qualitäten der Architektur, meint
aber, daß diese auf die Sensibilität der jeweiligen Bewohner bezogen sein
müssen. Schön sei, was viele, gut zueinander in Beziehung stehende
Assoziationen auslöse. Die Alpen, so meinte er etwa, mögen dem Auge
noch so erhaben erscheinen, erst der, der wisse, daß Hannibal seine
Truppen über sie geführt habe, könne ihre Erhabenheit ganz ermessen.
... 1». irith IrtHu ... . . , v’i. rrik torlrt.

Seite 20 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
9 J. C. Loudon: »A Dwelling for a Man and his Wife, with Children«, in J
; C Loudon, Eneyclopedia (1834), aus Leamingfrom Las Vegas (1972)
Dank J. C. Loudon fanden Alisons Ideen Eingang in das architektonische
Schrifttum des 19. Jahrhunderts, und tatsächlich weist Loudon in seiner
berühmten Eneyclopedia of Cottage, Farm and Villa Architecture (1834)
dem »Kulminationspunkt unter den Musterbüchern des >Picturesque«<
(Hitchcock), ausdrücklich auf Alison als seine wichtigste Quelle hin.
Auch Loudon ist der Meinung, daß Gegenstände im Betrachter Gefühle
erwecken, und daß diese Gefühle ganze Abfolgen von Assoziationen ins
Bewußtsein rufen. Die Schönheit eines Gegenstandes nehme in dem
Maße zu, in dem die Assoziationsfolgen länger und intensiver
untereinander verknüpft seien.20

Interessanterweise nehmen Gasthäuser in Loudons Theorie eine


bedeutende Stellung ein - und nicht nur wegen der besonders komplexen
Spielregeln des architektonischen »Associationism«, die hier herrschen.
Sie werden, Loudon zufolge, in der Demokratie dieselbe Rolle spielen,
die früher dem Palast und dem Kloster zugefallen sei. Diese Auffassung
darf man sicher auch bei Autoren voraussetzen, die nicht ganz anderthalb
Jahrhunderte später ausgezogen sind, um »von Las Vegas zu lernen«.
Doch weiter. Beim Bau von Villen und Privathäusem sei es, so betont
Loudon, wichtig, daß sich deren Stil an den ästhetischen Gewohnheiten
der künftigen Bewohner inspiriere. So sei etwa ein gotischer oder
elisabethanischer Stil für eine Villa in England schon deshalb das
Naheliegende, weil diese Stile im Bewußtsein der Engländer die reichste
Assoziationsfolge auslösen.21
In Zukunft, so betont der englische Verfasser, werde das ornamentale
Stilgewand im Landhausbau zwar zugunsten einer schlichten und
funktionsgerechten Gestaltung zurücktreten; bis es aber soweit sei, gäbe
es immer wieder die Aufgabe, persönliche und zeitlich bedingte
Bedürfnisse einzelner Individuen zu befriedigen, die aus emotionalen
Gründen von ihrem Haus wünschen, daß es sie an ganz bestimmte
architektonische Traditionen erinnert. Für die Eneyclopedia zeichnete
Loudon eine Serie architektonischer Verkleidungen für ein »kleines
Wohnhaus für Mann und Frau ohne Kinder«, als rustikales Landhaus,
gotisches Schlößchen, elisabethanischer Landsitz oder als Häuschen mit

Seite 21 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
italienischer Veranda respektive einer Kuppel in einem indisch-gotischen
Kolonialstil (Abb. 9).22
Die frühen Wortführer des »Common Sense« in der Architektur haben
also nicht nur den Funktionalismus mitbegründet. Sie setzten auch bis zu
einem gewissen Grade die Pluralität des Publikumsgeschmacks als
gegeben voraus und machten sie mit zum Ausgangspunkt ihrer
theoretischen Überlegungen. Daß der Begriff »Common Sense« später
zumal in Amerika einen konservativen Beigeschmack bekam, nachdem er
von der philosophischen Schule von Dugald Stewart und Thomas Brown,
die ab etwa 1830 vor allem am »College of New Jersey«, dem späteren
Princeton, Fuß faßte, propagiert worden war, interessiert hier nur am
Rande.23 So erscheinen Funktionalismus und Eklektizismus bei Loudon
nicht - wie später seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts bei
praktisch allen Theoretikern des Internationalen Stils - als unversöhnliche
Gegensätze, sondern als komplementäre Aspekte von ein- und demselben
architektonischen System. Daß die erwähnten, von George L. Hersey in
einem Aufsatz von 1968 zusammengestellten
»Verkleidungen« des Loudonschen Cottage die Bilderfolge vom
Leamingfrom Las Vegas einleiten, ist also kein Zufall. Tatsächlich
scheint dieses Buch an zahlreichen Stellen unmittelbar bei Loudon »that
encyclopedist of the pictures- que« (Hitchcock) anzuschließen, zumal -
sehr direkt - was die Lehre vom »dekorierten Schuppen« anbelangt.24
Tatsächlich ging Venturi einige Jahre später sogar so weit, von sich aus
eine köstliche Serie von fiktiven »Loudon houses« zu entwerfen (S. 243).
»Marginal Man«
Loudons Encyclopedia und andere vergleichbare Handbücher des 19.
Jahrhunderts überleben heute in der kommerziellen Bildersprache der
amerikanischen Wohnkultur, jener Bildersprache, die den Venturis immer
wieder als Rohmaterial für ihre eigenen Untersuchungen zur
Alltagssymbolik diente (Abb. 10).
Sicher gibt es im Falle von Robert Venturi persönliche Motive für seine
Affinität zu einer Philosophie, die die Kultur der »einfachen Leute« ins
Zentrum rückt, Motive, die mit seiner eigenen Herkunft und seinen
Erfahrungen als Angehöriger einer sozialen Minderheit in einer großen
Stadt des amerikanischen Ostens - Philadelphia - Zusammenhängen. Aber
diese Motive hätten kaum für eine programmatische Aktualisierung des
»Common Sense« in der Architektur ausgereicht, wie sie in diesem
Seite 22 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
(Euvre vorliegt. Um die Erscheinungsformen der Alltagskultur der
»kleinen Leute« katalogisieren (und ästhetisch interpretieren) zu können,
war es nötig, sie gleichzeitig von innen her zu verstehen und von außen
zu erforschen: in der kombinierten Kapazität des Handelnden und des
Zuschauers. Insofern bedurfte es des soziologischen Scharfblicks von
Denise Scott Brown, um aus der Alltagsrealität Amerikas das Thema für
einen architektonischen Diskurs zu machen.
Sie selbst spricht davon, wie wichtig für ihr Denken die zwei
»kolonialen« Erbschaften waren, in denen die Arbeit ihres Büros wurzelt
- Venturis italo-amerikanische Erbschaft und ihre eigene jüdisch-
südafrikanische - und daß es vermutlich gerade, wie sie sich ausdrückt,
»der marginale Cha-

10 »Da Vinci«. Einfamilienhaustyp aus einem amerikanischen


Fertighauskatalog (Archiv VRSB)

rakter unserer Beziehung zur herrschenden Kultur« sei, die diesem


Denken eine gewisse Schärfe sichere.25 Es ist demnach kein Zufall, daß
es nicht der »Mensch« ist, jene vom Universalismus der modernen
Architektur postulierte Abstraktion, sondern daß es ethnische
Randgruppen sind, deren Kultur die Venturis besonders interessiert, jener
»marginal man«, der sich, als kultureller Zwitter, gleichzeitig auf zwei
Kulturen hin orientiert: diejenige seiner rassischen und ethnischen
Herkunft und diejenige der amerikanischen Mittelschicht, in die er
aufgenommen werden möchte. Tatsächlich stand der »Fremde«, der
»Wanderer«, der, Georg Simmel zufolge, »die Gelöstheit des Kommens
und Gehens nicht ganz überwunden hat«, seit 1920 im Mittelpunkt der
stadtsoziologischen Untersuchungen der Schule von Chicago.26 Hier
liegen die Voraussetzungen für die späteren Arbeiten eines Herbert Gans
sowie auch - indirekt 1 für die soziologischen Interessen von Denise Scott
Brown.
II. Anatomie eines »dekorierten Schuppens«

Seite 23 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

Daß der »vertu puigative, exorcisante du pastiche«, die Marcel Proust im


Hinblick auf Flaubert beschwor27, auch fürs Bauen eine Aktualität
zukomme, hätten vermutlich die wenigsten Wortführer der modernen
Architektur anerkannt. Venturi aber scheint die Empfehlung der
klassischen Rhetorik, sich die Beherrschung einer literarischen Form
anzueignen, indem man sich bewußt in die Pose eines Vorbildes stürzt,
früh emstgenommen zu haben; vermutlich war sie ihm auf dem Umweg
über die Architektur der Ecole des Beaux-Arts bekannt. Zwei seiner
wichtigsten Lehrer in Prin- ceton waren nämlich mit der Architektur der
Ecole des Beaux-Arts genauestem vertraut; der Architekt Jean Labatut
und der Kumthistoriker Donald Drew Egbert.28
Es ist interessant, daß Venturi 1950 ausdrücklich die formalen Vorbilder
aus der Geschichte zusammenstellte, die seine Diplomarbeit - es handelt
sich um den Entwurf einer Kapelle inmitten eines viktorianischen
Schulkomplexes am dem späten 19. Jahrhundert - angeregt haben (Abb.
11): Die breitgelagerten Wandstreifen von Mies van der Rohes
Landhausentwurf von 1924, dann das Mausoleum der Galla Placi- dia in
Ravenna, der Querschnitt der Kathedrale von Salisbury, die Sheddächer
von Albert Kahm Chrysler Plant in Detroit mit ihren charakteristischen,
Seitenlicht gewährenden »Rillen«, und schließlich das schiefwinklige
Balkenwerk von Frank Lloyd Wrights Winterwohmitz in Taliesin-West
(1937; zur Diplomarbeit selbst vgl. S. 147).
Dieser Methode des direkten Rückbezugs auf Vorbilder ist Venturi seither
treu geblieben, und dämm eignen sich seine Bauten besonders gut für eine
architektonische Lektüre, die versucht, die verschiedenen Schichten
historischer Anspielung von der Erscheinung des betreffenden Baus
sozusagen abzulösen, zu benennen und nach ihrer Bedeutung zu befragen.
Das Guild House in Philadelphia, »der erste Großbau der Postmodeme«
(Heinrich Klotz), bietet sich einem solchen Voigehen geradezu an. Indem
ich gerade diesen Bau herausgreife, folge ich zunächst bloß dem Weg,
den die Verfasser von Learningfrom Las Vegas selbst eingeschlagen
haben. Dort wird das Guild House ausführlich vorgeführt als
Paradebeispiel für die Theorie des »dekorierten Schuppens« in der
Seite 24 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Architektur. Es ist unerläßlich, hier die berühmte Definition der
architektonischen »Ente« und des »dekorierten Schuppern« aus Leaming
from Las Vegas in extenso wiederzugeben - sowie die grundsätzlichen
Erwägungen, die dazu hinführen.
»Wir werden«, so heißt es in dem entsprechenden Passus, »das Bildhafte
der Architektur in den Vordergrund stellen - und nicht >Prozeß< oder
>Form< - indem wir betonen, daß sowohl die Wahrnehmung, wie auch
die Herstellung von Architektur von Erfahrungen abhängt, die man in der
Vergangenheit gemacht hat, sowie von gefühlsmäßigassoziativen
Faktoren, und ferner, daß diese symbolischen und abbildenden Elemente
von Architektur oft im Gegensatz stehen zu Form, Konstruktion und
Programm, mit denen sie im gleichen Bauwerk kombiniert werden. Wir
werden diesen >Widerspruch< in seinen zwei vorrangigen
Erscheinungsformen darstellen:
1. An Fallen, wo die räumliche, konstruktive und funktionale
Struktur eines Baus durch eine übeigreifende symbolische Form
zugedeckt oder verdreht wird. Diesen Typus eines Baus, der zur Skulptur
wird, nennen wir Ente, als Ehrbezeugung an das entenförmige Drive-In-
Restaurant >The Long Island Duckling<, das Peter Blake in seinem Buch
Gods Own Junkyard abbildete (Abb. 12).
2. An Fällen, wo räumliche und konstruktive Systeme direkt im
Dienste des Programms stehen und Ornament unabhängig davon
hinzugefügt wird. Wir nennen dies: den dekorierten Schuppen (Abb. 13).
Die Ente ist jener Ausnahmefall eines Baus, der selbst ein Symbol ist; der
dekorierte Schuppen ist der Normalfall eines Unterstandes, an den
Symbole appliziert sind.« Und weiter: »Wir sind überzeugt davon, daß
beide Arten von Architek- 11 Robert Venturi: »In It’s Form«. Formale
Quellen für die Diplomarbeit (vgl. S. 147; Princeton University, 1950)

Seite 25 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
tur ihre Existenzberechtigung haben; Chartres ist eine Ente (obwohl es
zugleich auch ein dekorierter Schuppen ist), und der Palazzo Farnese ist
ein dekorierter Schuppen - aber wir denken, daß die Ente heute nur in den
seltensten Fällen relevant ist, obwohl die Moderne Architektur von Enten
nur so strotzt.«29
Herausgegriffen: das Guild House
Die wichtigsten Angaben zu dem 1963 fertiggestellten Guild House,
einem Wohnhaus für alte Leute am Zentrumsrand von Philadelphia,
finden sich anderswo in diesem Buch (S. 282-286). Zu seiner Höhe (sechs
Stockwerke) bemerken die Architekten, daß sie von der städtischen
Bauordnung vorgegeben worden sei. Nun ist es durchaus ungewöhnlich,
daß sich ein Architekt einer städtebaulichen Zonenordnung klaglos
unterwirft - statt, wie in der USA in ähnlichen Fällen üblich und auch
ohne weiteres möglich, die bestehenden Baulinien durch eine
Umdisposition des Raumprogramms (unter Wahrung der maximalen
Ausnutzung) zu umgehen.
Zum Grundriß (vgl. S. 284): Wie ein erster, summarischer Blick zeigt, ist
das sechsstöckige Gebäude nordwärts durch eine glatte Fassade
abgeschlossen, während seine Südseite einem stark aufgelockerten und
abgetreppten Umriß folgt. Die (kleinen) Einzimmerwohnungen sind nach
Norden orientiert, die (größeren) Zweizimmerwohnungen sind an den
Ecken und südwärts angeordnet, und zwar in einer Weise, die nicht nur
guten Lichteinfall garantiert, sondern auch vielfältige Ausblicke auf die
Spring Garden Street eröffnet - respektive ihr entlang. Offensichtlich war
es ein Kem- gedanke, die alten Leute auf diese Weise optisch am
städtischen Alltag teilnehmen zu lassen, statt sie demonstrativ daraus zu
isolieren und in einen Garten von Grün und frischer Luft zu tauchen.
Nicht nur sollte sich das Volumen des Guild House am urbanen Status
quo orientieren, an der »Main Street«, die, den Venturis zufolge, »beinahe
in Ordnung ist«; der Bau sollte seine Umgebung mit Hilfe seiner
Fensteröffnungen sogar in einem wörtlichen Sinne in sich aufnehmen,
optisch aufsaugen.

Seite 26 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

Architektonisch bedeutet die Tatsache, daß sich die stark differenzierte


Südfassade gegen die Spring Garden Street öffnet, allerdings einen
Widerspruch: angesichts des Grundrisses würde man hier die Gartenseite
erwarten, die »Straßenseite« jedoch im Norden, wo sich die Fassade über
die ganze Länge des Grundstückes als kompakte Rechteckfläche hinzieht
(Abb. 15).30 Andererseits wird die vergleichsweise »pastorale« Wirkung
der aufgefächerten Südfront bis zu einem gewissen Grade neutralisiert
durch die palazzoartige und annähernd quadratische Eingangsfassade, die
an diese scheinbare Rückseite (aber faktische Frontseite) herangestellt ist.
Es ergibt sich so die Wirkung eines Risalites, von dem her sich der
Baukörper in drei verschiedenen Abtreppungen symmetrisch nach Norden
entwickelt.
Indem diese Fassade acht Baikone rahmt, verkörpert sie in plakativer
Form die Dualität - oder den Widerspruch? - zwischen Repräsentation
(wie sie die Situation an der Straße erfordert) und Öffnung (wie sie die
Orientierung nach Süden nahelegt). Das trifft auch auf die Art zu, wie die
Fassade des sechsstöckigen Baus mit Hilfe des weißen Sockels und eines
weißen, über die ganze Fassade hingezogenen Bandes horizontal in drei
Teile gegliedert ist: als eine Art Barockpalast. Von solchen
»Widersprüchen« zwischen repräsentativer Fassade und funktionalem
Bauwerk dahinter war in dem oben zitierten Passus die Rede. Es gebe, so
heißt es dort, »symbolische oder abbildende Elemente von Architektur,
Seite 27 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
(die) oft im Gegensatz stehen zu Form, Konstruktion und Programm, mit
denen sie im gleichen Bauwerk kombiniert werden«.
Das liest sich wie eine architektonische Binsenwahrheit; es ist aber eine
Binsenwahrheit, die die Moderne Architektur in dieser Form kaum
akzeptieren konnte. Denn die moderne Doktrin implizierte, daß es eine
Aufgabe der Architektur sei, symbolische, konstruktive und funktionale
Anforderungen so in architektonische Form zu übertragen, daß die
verschiedenen Elemente zur »Ganzheit« verschmelzen; architektonische
Bedeutung sollte aus der Integration dieser Faktoren resultieren - und
nicht aus der nachträglichen Hin- zufügung äußerer Zeichen als
»Bedeutungsträger«.
»Pastiche«
Die Wirkung von »Ganzheit«, von »formaler Integration«, ist hier
offensichtlich gar nicht im üblichen Sinne gesucht - ganz im Gegensatz
etwa zu dem Altersheim Crawford Manor in New Haven von Paul
Rudolph, das die Verfasser von Leamingfrom Las Vegas im Rahmen
einer geistreichen

Seite 28 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

Analyse ihrem eigenen »häßlichen und gemeinen« Bau als »heroisches


und originelles« Gegenbeispiel entgegenhalten (Abb. 16).31 Gesucht ist
vielmehr eine hybride Form von Ganzheit, eine Ganzheit, die sich aus
verschiedenartigen neben-, hinter- und übereinandergeschichteten
Komponenten konstituiert. Was allerdings nicht ausschließt, daß das
formale Resultat trotzdem im Sinne der »Verpflichtung zum schwierigen
Ganzen«32 hierarchisch organisiert ist. Es besteht aus Komponenten in
verschiedener Tonlage: feierlich zeremoniellen (wie die Eingangsfassade)
und vulgär alltäglichen (wie dem Mietshaustrakt dahinter).
Aber ich greife vor. Stellen wir den Blick auf das annähernd quadratische
»Fassadenblatt« des Portalrisalits ein: Es ist in demonstrativer Weise
dünn, untektonisch, nicht viel mehr als das zweidimensionale Bild einer
Fassade. Allerdings ist es ein »Bild«, das einen ganzen Katalog von
ineinandergeblendeten architektonischen Erinnerungen verkörpert. Man
versuche, den Segmentbogen des Lünettenfensters im Obergeschoß zu
einem Kreis zu vervollständigen. Wie von selbst erweist er sich als
Segment eines kreisförmigen Lochs, das das Geviert der Eingangsfassade
potentiell beinahe vollständig ausfüllt.
Man denkt an die monumentalen Oculi, die in Louis I. Kahns Spätwerk
eine so große Rolle gespielt haben - etwa in seinen Bauten in Ahmedabad
oder Dacca (Abb. 17). Das überrascht nicht, wenn man weiß, wie eng die
Beziehung zwischen Kahn und Venturi in den frühen Jahren der Schule
von Philadelphia gewesen ist. Kahn war für Venturi, wie Denise Scott
Brown schrieb, etwas wie »eine architektonische Mutter«.33
Allerdings ist das Fenster am Ende eben doch kein kreisförmiger Oculus,
ja es bildet nicht einmal einen Halbkreis. Als Fragment verkörpert es
vielmehr den Hinweis auf eine Ganzheit, die im Grunde unmöglich ist -
imaginär. Als Lünettenfenster hat es andererseits seine Voraussetzungen
in der Fassadentypologie bürgerlicher amerikanischer Wohnhäuser des
17. und 18. Jahrhunderts, ganz abgesehen davon, daß die Form auf die
finestra termale hinweist, wie sie Venturi vom palladianischen Villenbau
her kennt (Abb. 18). Palladios Holzschnitt der Villa Zeno in Cessalto aus
den Quattro libri figurierte unter den Abbüdungen von Comple- xity and
Contradiction: Die Spannung von großen und kleinen Fensterformen, die
Zugehörigkeit der Fenster zu verschiedenen geometrischen
Seite 29 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Konfigurationen innerhalb von ein- und derselben Fassade, das deutliche
hierarchische Gefälle von der zeremoniellen Würde der Villa selbst zu der
Schlichtheit der seitlichen Kolonnaden und Barchesse - alles findet sich
im Guild House wieder.
So scheint Venturi nicht nur an das Neue, sondern gleichzeitig auch an
das Alte Testament der Architektur seinen Tribut entrichten zu wollen.
Jedoch konstituiert sich die »Zeichensprache« dieser Fassade nicht nur
aus Erinnerungen an Kahn oder Palladio, und an Palladios koloniale
Ausläufer in Amerika. Sie verweist auch auf »niedere« Quellen: die nur
allzu vertraute Bildersprache des nordamerikanischen Apartmenthauses.
Das ist es, was Serge Chermayeff über das Guild House sagen ließ: »It is
like Colin, Ward and Lucas again.«34
Das Gesamtkonzept: Betonskelett, Flachdach und Backsteinhaut greift in
der Tat demonstrativ auf die Bildersprache des sozialen Wohnhaus
zurück. Die Backsteinhaut könnte beinahe nicht armseliger sein. Der
Ausschnitt dieser
17 Dacca: Ayub National Hospital, Oculus (Architekt: Louis I. Kahn,
1963-1965)

Seite 30 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

Seite 31 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

Seite 32 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

21 Faith, South Dakota: Hauptstraße (um 1915)

»Maske« ist präzis so gewählt, daß man nicht nur die dritte, mittlere
Stütze des Eisenbetonskeletts ganz erkennt, sondern daß auch die zweite
und vierte zur Hälfte entblößt sind. Ferner ist die Lünette im Obergeschoß
(sie deutet - ähnlich wie das Thermenfenster in Palladios Villen, den
Salone - den Gemeinschaftsraum an) so geschnitten, daß sich ein Einblick
in die Betonstruktur eröffnet.
Hinter einer dünnen Folie historischer Erinnerung lächelt so der Alltag
hervor. Oder, was das Eisenbetonskelett anbelangt, der ehemals utopisch
gemeinte (Abb. 20), aber längst zum Gemeinplatz gewordene und
verpönte optische Inbegriff der »Modernen Architektur«. Die
Kulissenhaftigkeit der Fassade wird ferner noch unterstrichen durch zwei
Risse oder Einschnitte zur Linken und zur Rechten der Lünette (die am

Seite 33 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Ende wiederum entfernt an die zinnenbewehrten Treppengiebel
holländischer Bürgerhäuser erinnern).
Im Sockel meldet sich sogar Warenhausästhetik keck zu Wort. Die weiße
Klinkerverkleidung, einem klassizistischen Kunstgriff entsprechend bis
auf die Höhe der Fensterbank im ersten Obergeschoß emporgezogen (mit
dem Resultat, daß das Erdgeschoß höher erscheint als es tatsächlich ist),
ferner die plakative Beschriftung: das sieht aus wie eine kommerzielle
Ladenfront (vgl. Abb. 21). Der geschliffene Granitzylinder vor dem
Eingang hingegen, ebenso massiv wie das Betongerüst darüber
zerbrechlich, ist sowohl hin
sichtlich seiner Form wie hinsichtlich seiner unbequemen Stellung in der
Mittelachse ein Tribut an Frank Fumess, den Vater der »Philadelphia
School«.35
So entwickeln die Architekten ihren Katalog von Zeichen, die aus der
architektonischen »High Culture« stammen, vor dem Hintergrund einer
Armeleutearchitektur, der sie überdies noch einige grelle, auf die
kommerzielle Ästhetik verweisende Pop-Tupfen aufsetzen. Vincent
Scully hat die Gesamtwirkung in seiner dynamischen Prosa schon 1966
treffend charakterisiert: »So stellt sich das abgetreppte Volumen an die
Straße heran, definiert sie mit Hilfe einer flachen, aber >geschmückten<
Fassade und identifiziert sich selbst mit Hilfe eines Schriftzugs, der,
kecker als römische Antiqua in expansiver Weise Pop ist, um dann
großzügig aufwärts zu blühen zu der großen Bogenöffnung eines
Gemeinschafts raums.«36
Transparenz, Symbolik und »gebrochene Form«. Zur
Rezeptionsgeschichte des Guild House
Rein formal gleicht die Fassade, wie bereits angedeutet, eher einem
zweidimensionalen Bildschirm, der Erinnerungen an
andere Architekturen verkörpert, als daß sie selbst »Architektur« wäre.
Ihre Flächenhaftigkeit und die Transparenzwirkung der
übereinandeigelegten Fassadenlamellen, die den Gesamteindruck prägt,
erinnert an Le Corbusiers weiße Villen der zwanziger Jahre - namentlich
etwa an die ihrerseits in vertrackter Weise palladianische und
manieristische Villa Stein in Garches (1927; Abb. 22): »Die
Wandstruktur (des Guild House) ist in der Tat die des Neuen Bauens und
des International Style geblieben.«37 Was jedoch die ausdrücklichen
formalen Hinweise auf andere, frühere Bauten anbelangt, so konnten sie
Seite 34 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
unmöglich in den Begriffen der Modernen Bewegung verstanden werden.
Über die Art von architektonischer »Symbolik«, die in diesem Fassaden-
»Screen« vorliegt, schrieb Kenneth Frampton (wobei er vielleicht an den
Entwurf für das Rathaus in North Canton, Ohio, gedacht hat - S. 154f.):
»Im Gegensatz zu einem Scha- roun oder zu einem Aalto ist die
>Symbolik< bei Venturi weder anthropomorph noch archetypisch. Sie
beschränkt sich darauf, in distanzierter und empirischer Weise über die
Hinfälligkeit des Menschen und seiner Institutionen zu reflektieren. Sie
lebt von raffiniert konstruierten ästhetischen Metaphern und von der
Projektion von Paradoxen.«
An anderer Stelle meint er, durchaus scharfsinnig, daß diese Architektur,
im Gegensatz zu deijenigen Kahns, von der sie sich herleite, nicht »zu
den Werten der Archaik gravitiere«38.
Auch Leonardo Benevolo betont den empirischen und experimentellen
(statt ideologischen) Charakter von Ven- turis »Symbolsprache«. In
seinen frühen Wohnhäusern und im Medical Center in North
Pennsylvania (vgl. S. 148 f.) habe Venturi »Stileme« von Kahn benützt,
allerdings, so fügt Benevolo bei, »in experimenteller Weise, wie um
kaltblütig die zersetzende Wirkung dieses Experiments hinsichtlich dem
gewohnten Repertoire der modernen Bewegung zu verifizieren. Später«,
so fahrt Benevolo fort, setzte Venturi »diese experimentelle Recherche in
kohärenter Weise fort«.39
Einem anderen Kritiker - nämlich William Curtis - erscheinen die
programmatisch vielschichtigen und widersprüchlichen architektonischen
Aussagen der Venturis ganz einfach intellektuell verschroben: »Seine
Ideen«, so argumentiert Curtis in Anbetracht des Guild House, »waren im
allgemeinen überzeugender, solange sie in schriftliche Form gefaßt
waren, statt in Architektur«, und weiter: »Seine verzweifelte Fixierung
auf sich selbst verrät am Ende das Fehlen eines instinktiven Gefühls für
Form, Raum, ja sogar Proportion. Venturi wurde so zum Anführer einer
literarischen Auffassung von Architektur, in der mehr Nachdruck

23 Philadelphia: National Bank of the Republic (Architekt: Frank


Fumess, 1884; heute zerstört)

Seite 35 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
auf Bildersprache und Zitat gesetzt wird als auf formale
Ganzheitlichkeit.«40
Es mag tröstlich sein zu wissen, daß der amerikanische Architekt sein
Dasein am Rande oder außerhalb der »großen« Architektur mit Figuren
wie Viollet-le-Duc (dessen architektonischen Entwürfe bekanntlich schon
Giedion »hybrid« fand), Hector Guimard, Anatole de Baudot und J. J.P.
Oud teilen darf; ihnen allen bescheinigt Curtis fehlenden Instinkt für
Form und stilistische Kohärenz.
Zu den Stichworten »Ganzheitlichkeit« und »Proportion« meinte Venturi
schon 1950 in seiner Diplomarbeit, er könne mit solchen Begriffen nicht
mehr viel anfangen. Ein Wort wie »Einheit« habe längst keine präzise
Bedeutung mehr,
29

schender Weise aufeinandergetürmt. Solche Bauten beweisen nur, daß


das Originelle nicht immer schön ist.«42

Seite 36 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Es ist kein Zufall, daß Fumess in den sechziger Jahren als Vorläufer der
architektonischen »Schule von Philadelphia« deren »Meister« Kahn,
Giurgola und Venturi heißen, wie^ derentdeckt wurde. In Complexity and
Contradiction in Archi- tecture ist verschiedentlich von diesem
Architekten die Rede. Von der - längst abgebrochenen - National Bank of
the Republic (1884; Abb. 23) heißt es z.B.: »Der halbierte Segmentbogen,
aufgehalten durch den eingesunkenen Turm, der seinerseits die Fassade
annähernd in zwei Hälften teilt, sowie das heftige Gedränge von
Rechtecken, Quadraten, Lünetten und Diagonalen von extrem
verschiedener Größe, bilden zusammen einen Bau, der scheinbar von den
benachbarten Bauten gestützt wird: es ist die beinah wahnsinnige
Kurzgeschichte eines Schlosses an einer städtischen Straße.«43 _ 7
;
James O’Gorman hat mit Recht betont, daß sich Venturis Beschreibung
im Grunde nur insofern von derjenigen Hamlins unterscheide, als Venturi
die Manierismen, die für Ham- lin unerträglich sind, schön findet.44 Wir
befinden uns also auf dem Gebiet ästhetischer Präferenzen, über die zu
streiten für müßig gilt: hier klassizistischer, dort manieristischer
Geschmack.
Dazu kommt aber noch etwas anderes: ein Architekt, der ein
Bankgebäude als »Kurzgeschichte eines Schlosses an einer städtischen
Straße« zu interpretieren vermag, der setzt offenbar voraus, daß es zu den
immanenten Möglichkeiten des Mediums Architektur gehöre,
Erinnerungen an andere, räumlich oder zeitlich mehr oder weniger
femliegende Architekturen zu verkörpern. Für den ist ein Bau nicht nur
durch seine formale, konstruktive und räumliche, sondern auch durch die
ihm implizite narrative Struktur mitgeprägt. Für den kann Architektur
»erzählen«.

und was »Proportion« anbelange, so sei es bereits Wright gelungen, den


Begriff in seiner konventionellen Bedeutung in amüsanter Weise außer
Kurs zu setzen.41
Das im Grunde klassizistische Paradigma der »formalen
Ganzheitlichkeit« hat freilich gerade in der amerikanischen
Architekturkritik eine lange Tradition. Es genügt, an das Urteil Talbot
Hamlins über Frank Fumess (vgl. Abb. 23) zu erinnern: »Wie in so vielen
Seite 37 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Beispielen der viktorianischen Neugotik in Amerika fehlt jeder Sinn für
Maßstab: was klein ist, ist groß, und umgekehrt (...). Säulenstümpfe aus
poliertem Granit, Spitz- und Segmentbogen, Mauervorsprünge, Konsolen
und sinnlose gigantische Profile sind in überra
»Bauhaus« oder »Our House«?
Möglicherweise verbirgt sich hinter der Vorstellung einer
»gewöhnlichen« Architektur, die mit »hohen« und alltäglichen Bildern
operiert, um auf diese Weise von den »Leuten« auch verstanden zu
werden, ein Wunschbild von »Volkstümlichkeit«, das den sozialen
Utopien der Modernen Bewegung gar nicht in jeder Hinsicht unähnlich
ist. Andererseits ist die »moderne Architektur« ja keineswegs immer so
abstrakt und unfähig, soziale Inhalte darzustellen, wie die postmodeme
Kritik unterstellt. Das scheint zumin

dest - indirekt - aus der Reaktion von Tom Wolfe hervorzugehen. Sein
Pamphlet From Bauhaus to Our House (1981) will sich gegen die
angeblich so ungeliebte moderne Architektur in den Vereinigten Staaten
zur Wehr setzen und versucht zu beweisen, daß sie die Frucht eines von
den akademischen Eliten in Cambridge, Chicago und New York
verkündeten, der Herkunft nach jedoch europäischen Evangeliums war.
Die Protagonisten des von Wolfe rekonstruierten »Plots« sind - unter
anderen - »The Silver Prince« (= Walter Gropius) und »Utopia Limited«
(— das Museum of Modem Art in New York). Es folgen (in der
Reihenfolge des Auftritts) »The Apostates« (E. Durrell Stone, Eero
Saarinen, Philip Johnson und andere frühere Parteigänger des
»Internationalen Stils«, die zum Historismus übergelaufen seien) sowie
die »Scolastics«.
Unter den Letzteren figuriert Venturi (die Mitautoren seiner Bücher hält
Wolfe nicht für erwähnenswert). Überzeugt davon, daß die amerikanische
Architektur zu lange unter dem Joch des modernistischen Purismus
geschmachtet und einen Rebellen nötig habe, der sie endlich von der
europäischen Vormundschaft befreie, zitiert Wolfe Venturis Bonmots -
allen voran »Less is a Bore« (in Anspielung auf Mies van der Rohes
»Less Is More«) sowie »Main Street Is Almost All Right« mit Vergnügen
und Zustimmung. Wer Wolfes frühere Streitschriften wider die Moderne
kennt45, den wird es nicht überraschen, daß ihn gerade das bei Venturi
fasziniert, was den Gralshütem der modernen Architektur so unerträglich
Seite 38 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
ist: sein respektloser Umgang mit den »Pionieren« der Moderne und seine
Sympathie für den amerikanischen Alltag.
Also lobt Wolfe Venturis Theorie - aber nur, um sich anschließend über
seine Architektur zu mokieren. Wie weit diese hinter den populistischen
Ideen dieses Architekten nachhinke, soll etwa der Vergleich des Guild
House mit der Hufeisensiedlung Britz in Berlin von Bmno Taut (1926)
zeigen (Abb. 24). Wolfe schreibt dazu: »Siebenunddreißig Jahre liegen
zwischen den beiden Bauten. So weit haben wir es also gebracht!«46
Freilich daß Venturi dem Elitismus der modernen Bewegung näher sei,
als ihm aufgrund seiner populistischen Theorien lieb sein könne, das sei
am Ende auch mcht überraschend da ja sein erstes Buch - eben
Complexity and Contradiction in Architecture - bei »Utopia Limited«,
nämlich in einer Serie des Museum of Modem Art erschienen
^So unterstützt Wolfes Kritik - wenn auch unfreiwillig - den von den
Venturis immer wieder formulierten Anspruch, eine Architektur zu
schaffen, die die Moderne Bewegung weiterführt statt sich ihr zu
widersetzen; ja man muß noch weitergehen und zugeben, daß die Idee,
Venturi mit Bmno Taut zu vergleichen und das Guild House mit der
Hufeisensiedlung Britz (statt etwa - um im Berlin der zwanziger Jahre zu
bleiben - mit Bauten von Gropius, Häring oder Mies van der Rohe) mehr
Architekturverständnis zeigt, als es viele unter den »offiziellen«
Architekturtheoretikem an den Tag legen, wenn sie nicht müde werden,
den amerikanischen Architekten auf seine angeblich kritiklose Sympathie
für Las Vegas oder seinen Generationenkonflikt mit Kahn festzulegen.
Tatsächlich war es unter den modernen Berliner Architekten der
zwanziger Jahre gerade Taut gewesen, der in seinen Schriften und Bauten
die Grenzen eines bornierten architektonischen Utilitarismus aufzeigte
und an die Geltung der traditionellen und allgemeinverständlichen
architektonischen Bilder für Eingang, Fassade, Fassadenabschluß auch in
der modernen Architektur erinnerte. Im Grunde hatte Bmno Taut jene
architektonische Bildhaftigkeit, die die Venturis in den sechziger Jahren
wiederentdek- ken mußten, gar nie vergessen, und insofern ist das Guild
House von 1962 der Hufeisensiedlung von 1926 - bei aller
Unvergleichbarkeit des sozialen Anspruchs und des Maßstabs - in einer
paradoxen Weise tatsächlich näher verwandt, auf den ersten Blick
scheinen mag.

Seite 39 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

III. Themen und Variationen

Woran erkennt man die Bauten von Venturi, Rauch and Scott Brown?
Weiche Art von formaler Identität ist einer Architektur des »Sowohl-Als-
Auch«, der ironischen Anpassung, der artikulierten Beiläufigkeiten und
des bewußt inszenierten Doppelsinns eigen? Und wie verhält es sich mit
dem Stil einer Architektur, die sich erklärtermaßen als Mischmasch von
Stilen präsentiert?
Auf solche Fragen geben die theoretischen Arbeiten der Venturis nur
ungenügend Antwort. Ihre Absicht scheint gerade zu sein, die Geltung
universaler Vokabeln der Architektur zu negieren. Architekturtheorie war
seit Alberti, Fila- rete oder Francesco di Giorgio - d.h. seit der
Wiederentdek- kung Vitruvs im 15. Jahrhundert - wesentlich normativ
gewesen. Ihr Anliegen war die Festlegung und polemische Verbreitung
einer Formensprache und eines Systems von Spielregeln, die ein
»richtiges« Bauen garantieren. Den Venturis scheint es aber durchaus

Seite 40 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
nicht darum zu gehen, überholte Sprachformen der Architektur durch
neue zu ersetzen, sondern vielmehr darum, die unkritische Handhabung
von vermeintlich universalen Formen und Spielregeln zu vereiteln.47
Stilistische »Reinheit« ist ihnen suspekt.
Zu glauben, die architektonische Praxis der Venturis decke sich nahtlos
mit ihren Ideen, wäre jedoch naiv. Was immer die Komplexität und das
pluralistische Stilgemisch sein mögen, für die in Complexity and
Contradiction in Architec- ture und in Leaming front Las Vegas
geworben wird, die Venturis haben sich dadurch nicht davon abhalten
lassen, das zu tun, was Architekten, die im Bewußtsein arbeiten, in einer
Übergangszeit zu leben, immer getan haben: Elemente einer
architektonischen Sprache zu entwickeln. Es genügt, an einige der
formalen Erfindungen Robert Venturis zu erinnern, die in den letzten
zwei Jahrzehnten ins Vokabular der internationalen Architektur
eingegangen sind:
Der keilförmig zugespitzte, »bugförmige« Bau oder Bauteil Prototyp: Die
North Penn Visiting Nurses Association Head- quarters (1960; Abb. S.
148 f.). - Berühmte »Variation« zu diesem Thema: I. M. Peis East
Building der National Gallery of Art in Washington, D.C. (1968-1978).
32

Seite 41 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

Die scheinbare Vergrößerung von Fenstern durch Ergänzung


vorgeblendeter Rahmen. Prototyp: Ebenfalls die North Penn Visiting
Association Headquarters (1960). Eine unter zahlreichen Abwandlungen
des Themas etwa im Werk von Robert Stern und John Hagmann: das
Haus Westchester in Armouk, New York (1974-1976).
Die »Spaltung« der traditionellen Form der Hausfront mit Satteldach
durch Auseinanderrücken der Teile und Zurückversetzen des Mittelteils.
Prototyp: Vanna Venturi House (1962; Abb. S. 244-248). Variation des
Themas im AT & T Building von Philip Johnson und John Buigee, New
York (1978-1984). Die Verwendung des quadratischen Fensters mit
symmetrischem Fensterkreuz im Wohnungsbau. Prototypen: Vanna
Venturi House und Guild House (1963; Abb. S. 283-286). Übernommen
u.a. von Aldo Rossi beim Wohnblock Gallaratese, Mailand, (1968; vgl. S.
Seite 42 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
61) und von Charles Moore (Moore, Lyndon, Tumbull und Whitaker) im
Whitman Village in Huntington, Long Island, New York (1974); seither
eine der etablierten Vokabeln postmodemer Architektur.
Die vertikale Zusammenfassung von Eingang, darüber angeordneten
Baikonen und fassadenbekrönendem Bogenfenster im Sinne einer
»Kolossalordnung«. Prototyp: ebenfalls Guild House; unabsehbare
Variationen dazu in der internationalen postmodemen Architektur, »for
better or worse«.
Die Verwendung von quasi-monumentalen »Scheinfassaden« oder
»Schildwänden«, hinter denen »funktionale« und konven
tionell gebaute Räume angeordnet sind. Prototyp: Rathausentwurf für
North Canton, Ohio (1965; Abb. S. 154f.); unabsehbare Auswirkungen.
Architektur-Phantome: Architektur als Erinnerungszeichen an
Architekturen, die es nicht mehr gibt. Prototyp: Franklin Court,
Philadelphia (1976; Abb. S. 104-109); inzwischen eine international
gängige Formel für Wettbewerbsentwürfe im Grenzbereich von
Stadtgestaltung und Denkmalpflege.
Dekorative Fassadenmusterungen mit Hilfe von farbig glasiertem
Backstein oder von Marmorpaneelen. Prototyp: Brant House, Greenwich,
Connecticut (1971-1973; Abb. 53); Allen Art Museum, Oberiin, Ohio
(1974-1977; Abb. 54). Unabsehbare Folgen.
Hat es seit 1976 irgendwo auf der Welt einen Wettbewerb gegeben, wo
nicht Variationen zu irgendeinem dieser Themen unterbreitet worden
wären?
Themen: Aaltos Impuls
Eine dereinst fällige kritische Gesamtdarstellung wird vermutlich zum
Schluß kommen, daß sich das (Euvre von Venturi, Rauch and Scott
Brown entlang einer relativ überschaubaren Zahl von architektonischen
Themen entfaltet. Tatsächlich verraten die im vorausgehenden Kapitel
erwähn- 
ten formalen Eigentümlichkeiten des Guild House bestimmte
architektonische Interessen, die nicht an bestimmte Gattungen -
Wohnbau, Villen, Geschäftshäuser, Bürobauten - gebunden sind. Der
»aufgefächerte« Grundriß erinnert an Aalto, die Eingangsfassade
gleichzeitig an Kahn und an Palladio, das Portal selbst an den A + P Store

Seite 43 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
usw. Wenn das zutrifft, so müssen sich diese Interessen auch in anderen
Bauten von VRSB nachweisen lassen, unabhängig von ihrer jeweiligen
Funktion. Das ist auch selbstverständlich der Fall. Das Guild House ist
weder der Ausgangspunkt noch das Ziel dieser formalen Evolution, aber
es ist ein frühes und formal sehr differenziertes Hauptwerk, und insofern
verkörpert es eine ganze Reihe von architektonischen Perspektiven, die
sich bis in die Arbeiten der jüngsten Vergangenheit verfolgen lassen.
Das kann hier nur andeutungsweise geschehen. Über Aaltos
Wohnhochhaus in Bremen schreibt Venturi in Com- plexity and
Contradiction, daß die »inhärente rechtwinklige Struktur- und
Raumordnung (dieses Baus) dem Drang gehorcht, den Bau nach Süden,
dem Licht und dem Raum entgegen zu öffnen, analog dem Wachstum der
Pflanze gegen die Sonne«48 (Abb. 25, 26).
Das trifft, zumindest im Prinzip, wie wir gesehen haben, auch auf das
Guild House zu, auch wenn die Lage am Straßenrand eine »organische«
Auflacherung zu verbieten
schien. Im Projekt von zwei Wohnhochhäusern für Brooklyn (1967) war
die Sache insofern einfacher; als dort die Straße tatsächlich im Norden
verläuft (Abb. S. 288 f.). Es überrascht kaum, daß Venturi and Rauch bei
Bauten, deren städtebauliche Situation eine entsprechende Behandlung
möglich machte, auf das Fächerschema zurückgreifen: zumal im leider
nicht gebauten Yale Mathematics Building in New Haven (Abb. 28) und
in der ebenfalls schon 1970 entworfenen und kürzlich realisierten Carol
W Newman Library des Virginia Polytechnic Institute in Blacksburg,
Virginia.
In beiden Fallen ist die oberflächliche Analogie zu einem
charakteristischen Motiv Aaltos nur das äußerliche Symptom einer tiefen,
im Grundsätzlichen verwurzelten Affinität. »Alvar Aaltos Werk hat mir
mehr bedeutet als das Werk von irgendeinem anderen modernen
Meister«, betont Venturi, »es ist für mich im Hinblick auf seine
künstlerischen wie auch im Hinblick auf seine technischen Qualitäten die
ergreifendste, die wichtigste und die unerschöpflichste Quelle des
Lernens.«49
Was ihm bei Aalto, diesem »Andrea Palladio der Modernen Bewegung«
interessiert, ist das prekäre Gleichgewicht zwischen Ordnung und
Unordnung, gewöhnlicher und gehobener Sprache, das Nebeneinander

Seite 44 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
von Bescheidenheit und Monumentalität. Das sind Qualitäten, die man in
der Tat im Mathematikgebäude von Yale zurückfindet. Kein Wunder,

31 Venturi and Rauch: Messehalle für Frankfurt am Main


(Wettbewerbsprojekt 1980; Zeichnung James H. Timberlake)
32 Guild House, Seitenansicht (1960-1963)

daß schon die Art, wie dieses Projekt den Umriß des benachbarten Baus
aufgreift, um ihn in eine ganz andere Dimension zu überführen, an
Lösungen Aaltos erinnert - namentlich an sein SAS-Gebäude in Helsinki
(vgl. Abb. 27).
Erst in der Seitenansicht des Guild House (Abb. 32) erweist sich die
stufenweise Abtreppung des Bauvolumens als raffiniertes formales
Mittel, eine in ihrer Formensprache bewußt »langweilige« Architektur zu
einem dynamischen Ganzen zusammenzufassen. Ein spätes
Gegenbeispiel zu dieser Lösung ist der Entwurf einer Messehalle in
Frankfurt a.M., deren - an Aaltos Saalbau im Kulturzentrum von
Wolfsburg (1958) erinnernder - gestaffelter Umriß den riesigen Komplex
formal zusammenfaßt, »integriert« (Abb. 31). Ähnlich waren die
Architekten bereits im Entwurf des Transportation Building in
Washington, D. C., voigegangen, einem Bau, dem die städtebauliche
Lösung von Aaltos Volkspensionsanstalt in Helsinki zugrunde liegt (Abb.
29,30). Hier wie dort wird die schwierige Situation in einer
Straßengabelung nicht nur in Kauf genommen: Die »Verletzungen« der
Baumasse, die die schräg auf sie zu- und an ihr vorbeiführenden
Verkehrsadern nötig machen, scheinen den Bau in einem wie im anderen
Fall vielmehr erst architektonisch zum Sprechen zu bringen. Die
Genialität, mit der Aalto architektonische Restflächen für
unvorhergesehene Funktionen auszunützen und so als Momente
architektonischer Bedeutung fruchtbar zu machen versteht, findet sich bei

Seite 45 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Arbeiten von VRSB wieder: man denke an Aaltos Freiluftkonzertpodium
von 1929 und seinen Einfluß auf die Rückseite der »Football

Poche
Giedion bewunderte bei Aalto die »Verbindung von Standardisierung und
Irrationalität«. Venturi hingegen meint im Anschluß an diesen Satz
Giedions: »Ich ziehe es vor, Aaltos Kunst nicht als irrational, sondern als
widersprüchlich zu verstehen - als eine kunstvolle Anerkennung der von
den jeweiligen Umständen und vom Kontext her gegebenen Faktoren des
Bauens und auch der unvermeidlichen Grenzen der Ordnungsmodelle der
Standardisierung.«50
Demetri Porphyrios hat unlängst diesen Gedanken vertieft und gezeigt,
daß die Gewohnheit, Aalto als »irrationalen« Gegenpol des
architektonischen Rationalismus und der »Neuen Sachlichkeit« zu deuten,
nichts über seine wirkliche Position als Architekt aussagt. Aalto ist im
Grunde nicht von der »modernen Bewegung« her zu verstehen. Seine
Abweichungen von der Idee einer formalen »Kohärenz«, wie sie der
internationale Stil vertrat, seine Vorliebe für lockere »Agglutinationen«
strukturell verschiedener Raumteile und Formen, seine Lust an hybriden
Gebilden hat ihre histori-
sehe Voraussetzungen vielmehr in der »Heterotopie« der nordischen
Architektur um 1900 und in den Konventionen der Ecole des Beaux-Arts.
Insofern verkörpert Aaltos Werk einen »modernen Eklektizismus«.51
Eine der Prämissen für die Kombination räumlich stark differenzierter
Teile, die Aaltos Baukunst charakterisiert - vom Einzelhaus bis zu den
monumentalen öffentlichen Bauten - liegt, wie Porphyrios gezeigt hat, in
den auf dem ersten Blick so unübersichtlichen Landhaus-Grundrissen aus
der Zeit um 1900.52 Es ist kein Zufall, daß Venturi seinerseits von den
Landhäusern des Shingle Style und der Art, wie in ihnen unterschiedliche
häusliche Funktionen und Bewegungsabläufe architektonisch thematisiert
werden, fasziniert ist (vgl. S. 241). Was für Aalto die Meister der
nordischen Nationalromantik - Lindqvist, Gesellius, Lindgren oder
Saarinen - das waren für Venturi - nebst vielen anderen Quellen - McKim,
Mead and White, Furness oder Richardson (der übrigens um 1900 einen
starken Einfluß in Skandinavien ausübte).53

Seite 46 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Eines der Axiome Aaltoscher Architektur ist die Überzeugung, daß die
Grenzen eines Innenraums von seiner Funktion und seinem Charakter her
definiert werden müs
sen, und nicht durch die Konstruktion oder die kubische Erscheinung des
Äußern; daß der Innenraum, mit anderen Worten, gegenüber dem äußeren
kubischen Erscheinungsbild und gegenüber der Konstruktion eine
autonome Größe sei. Daher toleriert Aalto auch einen Spielraum - eine
Art Niemandsland - zwischen innerer Raumhülle und Außenhaut: im
Grundriß genauso wie im Aufriß. Um zwei Beispiele zu nennen: das
Institute of International Education in New York (1963, Grundriß) und
die Villa Carre in Bazoches- sur-Guyonne mit ihrer akustischen Decke
(Aufriß, 1956; Abb. 34).54
Porphyrios nennt solche Zwischenräume - indem er sich auf die
Ateliersprache der Ecole des Beaux-Arts stützt - poche. In der
Souveränität, mit der Aalto dieses Verfahren hantierte, zeigt sich sein
innerer Abstand von den Lehren der orthodoxen Moderne und ihren
Glauben an die notwendige Identität von Konstruktion, Raum und Form
in der Architektur.55 Daß »sectional poche« bei Venturi nicht nur in Kauf
genommen, sondern geradezu spielerisch als architektonisches Thema
inszeniert wird - besonders schön in den Gewölbe-»Segeln« des Korridors
der geisteswissenschaftlichen Fakultät von Purchase (1968; Abb. 35)
überrascht also

Seite 47 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

Seite 48 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

nicht, auch wenn andere spätere Projekte - etwa das Hartwell Lake
Regional Visitors Center (Abb. 33) oder ein Jazz Club in Houston -
jenseits der Grenze zu liegen scheinen, die ein architektonisches Zitat von
einer Parodie oder, eben, von American Bastardy im Sinne G. L. Herseys
trennt (Abb. S. 222).
»Innen« ist nicht »Außen«. Dialektik der Frontalität
In Complexity and Contradiction heißt es: »Der Kontrast zwischen Innen
und Außen kann eine besonders wichtige Erscheinungsform von
Widerspruch in der Architektur sein.«
Venturi fügt aber hinzu: »Freilich eine der mächtigen Orthodoxien des
zwanzigsten Jahrhunderts war gerade die Überzeugung, daß zwischen den
beiden eine Kontinuität zu bestehen habe: daß das Innere im Äußeren
>ausgedrückt< werden müsse.«56
Mit dieser »Orthodoxie« hatte bekanntlich schon Kahn gebrochen. Seine
»asymmetrische Architektur des »Beinahe Nichts< beruhte nicht mehr auf
dem Ausdruck der Konstruktion als Rahmen, sondern vielmehr auf der
Manipulation der Oberfläche als dem eigentlichen Instrument der
Enthüllung von Licht, Raum und Stütze«.57
Eine der Funktionen des Lünettenfensters, das die Fassade des Guild
House zusammenfaßt, besteht offensichtlich darin, den erwähnten
»Widerspruch« sichtbar zu machen. Als Form scheint dieser
Segmentbogen, wie wir gesehen haben, auf Kahn hinzuweisen. Der
Archetyp der rechteckigen Dose mit eingeschriebenem kreisförmigen
»Loch« ist als architektonische Figur in der Fassade des Guild House
offensichtlich mitimpliziert. In etwas späteren Projekten ist er
ausdrücklicher, beinah (aber nicht wirklich) tel quel ausformuliert: etwa
im Lieb House in Loveladies (1967; Abb. 36; 38) oder im Entwurf für ein
Seite 49 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Ferienhaus für den Kunsthistoriker G.L. Hersey (1968). Der Entwurf für
das Sales Office in California City oder etwa das Humanities Building in
Purchase zeigen, wie solche (Kahnsche?) Zirkel vom Aufriß in den
Grundriß geklappt und dort gegen die rektanguläre Struktur der »box« ins
Spiel gebracht werden können (Abb. 36-38).
Die im Segmentbogen angedeutete Kreisform verleiht der Fassade des
Guild House ihre fast zeremonielle Identität. Ferner dient sie dazu zu
zeigen (und gleichzeitig zu verhüllen), daß »ein Bau Dinge innerhalb von
Dingen sowie Räume innerhalb von Räumen« umfaßt.58 Die Fassade
wird sozusagen ans Innere herangestellt. Weit davon entfernt, es einfach
nach außen »auszudrücken«, scheint sie etwas von der räumlichen
Komplexität des Innern in sich aufnehmen und gleichzeitig etwas von
ihrer formalen Identität dem Innenraum aufprägen zu wollen.
Aber Innen und Außen bleiben »autonom«. Die Öffnung in der
Fassadeniläche trifft sich nicht mit den Grenzen des dazugehörigen
Raumes. Einmal dient diese Öffnung (respektive die sie rahmende
Fläche) als Blende: d.h. als Mittel, das Gesichtsfeld zu begrenzen und zu
fuhren, wie im Gemeinschaftsraum des Guild House oder im Wohnraum
des Lieb House: Es ist, als befände man sich im Innern eines
Fotoapparats, und zwar im Augenblick, in dem die Blende zuschnappt
(Abb. 38, 39). Dann wieder - in der Halle des Humanities Building in
Purchase - wird eine Fensterfläche so von außen an den tiefliegenden
Gewölbeansatz angeschlagen, daß eine kleine Spalte offenbleibt, die den
Blick von innen in die Höhe zwingt, wobei die Wirkung so ist, als wäre
das Gewölbe direkt am Himmel befestigt (Abb. 35).
In den frühen Villenentwürfen sind solche gezielt inszenierten
Inkongruenzen zwischen Innen und Außen ein zentrales Thema.
Besonders virtuos im nicht gebauten Wike House von 1968 mit seiner
vorgewölbten Scheinfassade, die dem der Wohnfunktion entsprechend
asymmetrisch sich ausbreitenden Wohnbau mit seinen Wirtschaftsräumen
vorangestellt ist wie die Maske eines Tragöden (Abb. 42). Erinnerungen
an die Villa Savoye und ihre »angehäuften Komplexitäten innerhalb eines
strengen Rahmens«59 verbinden sich hier mit solchen an das Landhaus
Nashdom in Taplow von Sir Edwin Lutyens (Abb. 40, 41). In einer
pathetischen Serie von Vorstudien Venturis ist die Suche nach der
Symmetrie und Asymmetrie ausbalancierenden »difficult whole« der
Gesamtkomposition dokumentiert.

Seite 50 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Realisiert ist dieser architektonische parti schließlich im Brant House in
Greenwich, Connecticut (vgl. S. 260-265). Im Wettbewerbsprojekt für
das Regierungszentrum von Canberra wurde er einige Jahre später wieder
aufgegriffen - in ganz anderem Maßstab (S. 195-197). Rückblickend
erweisen sich so die Villenentwürfe als Laborexperimente für Lösungen,
die auch äußerlich das Monumentale anvisieren.
Aber in diesem Zusammenhang können auch irgendwelche, aus dem
Gesamtwerk herausgegriffene Ansichten oder Planzeichnungen den
Charakter von programmatischen Aussagen annehmen.
So ist es denn zum Beispiel möglich zu beobachten, wie innerhalb der
Arbeit dieser Architekten die geometrische Figur des Segmentbogens von
der Rückseite des Vanna Ven- turi House zum Dachstock des Guild
House hinüberwandert und von dort in die Sphäre der kommerziellen
Archi-

Seite 51 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
tektur, um als Stichbogenöffnung des Sales Office oder als Portalschild
einer Gruppe von Läden in California City zu überleben (vgl. S. 94-97),
oder aber in den Entwurf eines Hotels für Atlantic City, wo sie als weithin
sichtbares Zeichen ein Bettenhochhaus überragt, das seinerseits in einer
Weise zweigeteilt ist, die an die »Kolossalordnung« des Altersheims an
der Spring Garden Street gemahnt (Abb. 43), ln der klassischeren Form
der fmestra termale sollte die Form später in der Gordon Wu Hall wieder
auftauchen, als Abschluß einer monumentalen Blickachse und »Auge«
einer kleinen Bibliothek (S. 207).
So wird Form im Haushalt der Architektur autonom. Andererseits bleibt
das »hohe Fenster« auch unabhängig von der hier gewählten Form der
Lünette ein beliebtes Motiv; von den Oculi des 1860-1862 von Duban
erbauten Flügels der Ecole des Beaux-Arts am Quai Malaquais in Paris
führt ein direkter Weg zum Penn State Faculty Club, ja sogar zum Tucker
House in Katonah und zum Brant House auf den Bermudas (Abb. 44, 45;
vgl. S. 266 f.).
Portal und Proszenium
In Anbetracht einer medizinischen Notfallstation im Norden von
Pennsylvania, wo Venturi 1960, also zu einer Zeit, wo solches noch
Aufregung verursachte, mit Hilfe von Rahmenleisten kleine Kellerfenster
bedeutender erscheinen lassen wollte, als sie tatsächlich sind (Abb. 46),
legte ein befreundeter Architekt seinen Arm um Venturis Schulter:
»Never put a frame around a window!« In Complexity and Contradiction
stellte Venturi dann ein paar historische Beispiele zu dem in der Tat
klassischen Mittel architektonischer Auszeichnung zusammen:
Anregungen aus dem Barock und aus Ägypten, die zeigen, wie man
kleinen Fensteröffnungen durch vorgeblendete Rahmen Gewicht, ja
Monumentalität verleihen kann (Abb. 47, 48).60
Die Möglichkeiten architektonischer Fiktion wurden beim Guild House
nur an der Eingangsfront und dort in der Form des Portals selbst massiv
eingesetzt. Gemessen an späteren Werken ist die Lösung zwar
zurückhaltend. Man halte etwa die Feuerwehrstation in Columbus,
Indiana von 1965 und ihre doppelte Scheinfassade daneben. Dort ist über
die gebaute, architektonische noch eine größere, bloß durch die weiße
Aufmalung suggerierte Schildwand gelegt (S. 158 f.). Die Erinnerung an
die »shop front« des Mittleren Westens verbindet sich so mit jener an die
Fassaden oberitalienischer Dome.

Seite 52 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
THEMEN UND VARIATIONEN

47 Karnak: Symbolische Pforte, aus 48 Rom: Collegio di Propaganda


Fide
Complexity and Contradiction in (Francesco Borromini, 17. Jh.), aus
•Architecture (1966) Complexity and Contradiction in Archi-
tecture (1966)

Das weiße »Warenhaus«-Portal des Guild House gleicht aber eher einer
Mündung oder dem Eingang zu einem Windtunnel - eine Wirkung, die
durch den spiegelglatten Säulenstumpf noch unterstrichen wird.
Gleichzeitig scheint diese

Vertiefung den Segmentbogen, der die Fassade nach oben abrundet,


sozusagen in den Grundriß geklappt zu haben. Dadurch wird die
beträchtliche Tiefe des Baus, die in den seitlichen Abtreppungen in

Seite 53 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Erscheinung tritt, auch in der Eingangsfassade selbst andeutungsweise
lesbar.
Im Grunde ist es ein Proszenium. In seiner Mitte agiert ein Säulenstumpf
- eine Art architektonischer »Ubu Roi«. Der Vergleich mit dem
großartigen Projekt für das Transportation Building in Washington, D.C.
von 1968 - ein Projekt, das von der lokalen Fine Arts Commission als
»ugly and ordinary« abgelehnt wurde61 - scheint zu bestätigen, daß der
Gedanke an ein Bühnenbild Venturi nicht fremd war. Während das Guild
House sein Volumen in Schüben ruckartig an die Straße stellen zu wollen
scheint, zieht sich das für Washington geplante Bürogebäude sozusagen
vom Straßenrand zurück und hinterläßt in dem von zweigeschossigen
Ladenflügeln gesäumten »Ehrenhof« sozusagen die Leerform des
gestuften Volumens des Guild House. So entsteht ein städtischer Platz als
Bühne. Die Modellaufnahme akzentuiert die raumgliedemde und
rhythmisierende Wirkung der »Kulissen« und die Bedeutung des über
drei Stockwerke eingezogenen Portals in der Mitte des Baus (Abb. S.
217). Vollends explizit wird das »szenographische« Thema im
Freilufttheater beim Humanities Building in Purchase aus dem gleichen
Jahr (S. 164). Der kleine, indirektes Licht sammelnde rückseitige Anbau
des Brant House in Greenwich, Connecticut, holt es am Ende wieder in
den Privatbereich des Villenbaus zurück (Abb. 50).

»Impressionistische Baukunst«?
Eine simultane Betrachtung der Guild House-Fassade und der
Abbildungen in Complexity and Contradiction kann, wie wir gesehen
haben, durchaus Aufschlüsse über die Identität der Bauten geben, die um
1960 zum Erfahrungsreservoir der Venturis gehörten. Das gilt
selbstverständlich auch für andere Realisierungen des Büros, etwa das
Vanna Venturi House in Chestnut Hill (1962).
Die Eingangsfront greift, mit ihren aneinandergerückten Giebeldreiecken,
die »Dualität« der Fassade von Luigi Morettis Apartmenthaus an der Via
Parioli in Rom auf (um 1950). Der breitgelagerte und symmetrische
Gesamtumriß erinnert an die Form des William Low House von McKim,
Mead und White (1887). Die Frontalität selbst, ferner die ihr unterlegte,
durch die häuslichen Funktionen bedingte Asymmetrie der Fenster, der
flächenhafte Charakter der Fassade und - last but not least - das Motiv des
Bandfensters verkörpern die Spur Le Corbusiers, namentlich der Villa
Seite 54 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Stein in Garches (1927; Abb. 22). Aber in diese Analogien sind
neuerdings Erinnerungen an Rom und Vicenza verwirkt: Erinnerungen an
die Rückwand des Nymphäums der Villa Barbara in Maser von Palladio
und Alessandro Vittoria mit ihren die zwei Flügel der Rückwand zugleich
trennenden und verbindenden, durch eine Girlande graziös umspielten
Bogen - und an Michelangelos Porta Pia in Rom (vgl. S. 244).
Offensichtlich ist im Zusammenhang der beiden Fassaden des Guild
House und des Vanna Venturi House keines-

Seite 55 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

55 VRSB: Laguna Gloria Art Museum in Austin, Texas, Eingangsfassade


(1985; Zeichnung: Richard Möhler)

wegs die Bereitstellung einer archäologisch exakten Kopie ihrer


historischen Vorbilder beabsichtigt. Vielmehr handelt es sich um
ephemere »Zeichen«, die nicht mehr als eine Erinnerung an das physische
Relief historischer Bauten verkörpern, und zwar unter Betonung der
Komplexität ihres Erscheinungsbildes. Venturi meint: »Wir können
klassische Architektur heute nicht mehr bauen. Aber wir können klas
sische Architektur abbilden, mit Hilfe von Formen, die auf die Substanz
des Baus appliziert werden.«62

Seite 56 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Die Versuchung ist groß, diese Erinnerungen, die im Guild House oder
dem Wohnhaus für Vanna Venturi verarbeitet sind, mit dem Begriff der
»Impression« zu charakterisieren. Der Begriff einer »impressionistischen
Baukunst« ist nicht neu. Er stammt von Hendrik Petrus Berlage, dem
Vater der
Modernen Architektur in Holland (1856-1934). »Unter Impressionismus
im allgemeinen«, so hatte Berlage den Begriff definiert, »versteht man die
Wiedergabe des Bildes, wie es sich nicht objektiv, sondern subjektiv
darbietet.« »Impressionistisch« sei eine Darstellungsweise, die »das
Detail gegenüber dem Ganzen und dieses wiederum gegenüber dem
großen allgemeinen Eindruck oder lieber: der Impression untergeordnet
behandelt«.63 Wessel Reinink hat auf das Paradox aufmerksam gemacht,
das darin besteht, daß Berlage in seiner Theorie die Rezeptionsweise der
Impressionisten beziehungsweise der impressionistischen Malerei mit
dem Darstellungsziel der Symbolisten kombiniert habe - also etwa eines
Malers wie Jan Toorop.64 Genau das hat Venturi in beiden erwähnten
Bauten realisiert; sie sind impressionistisch in ihrem Verhältnis zur
Geschichte und verkörpern zugleich einen architektonischen
»Symbolismus«, der das Sakrale streift.
Es mag etwas mit ihrem wachsenden Interesse für die Architektur und das
Kunstgewerbe des Jugendstils zu tun haben (namentlich auch für Wien,
und dort vor allem für das Spätwerk Otto Wagners), daß irisierende, in
biintge- scheckte Rächenmuster zerfallende Fassaden seit den frühen
siebziger Jahren zu einem Thema der Architektur von VRSB geworden
sind. In der »zu großen« Lochstanzung der metallenen Balkonbrüstungen
des Guüd House ist das Thema ein erstes Mal angeschlagen - sozusagen
noch in brutalistischer »let it all hang out«-Manier (Abb. 51). In dem
Backsteinmuster des Brant House in Greenwich, Connecticut (1970-
1973) ist es über eine ganze Villenfassade gebreitet, so daß diese bei
entsprechendem Licht wie eine Fata Moigana aus dem Grün des Gartens
aufleuchtet (Abb. 53; vgl. S. 260f.). Gelegentlich scheint sogar - etwa
beim Galerieanbau des Allen Art Museum von Oberlin (1973-1976) oder
beim ISI-Gebäude in Philadelphia (Abb. 52; 54) - die Architektur als
Ganzes in einen Zustand des Flimmerns versetzt: wie der Bildschirm
eines schlecht eingestellten Fernsehapparats (oder der blumenübersäte
Rasen auf einer Landschaft Gustav Klimts).
In der Fassade des Laguna Gloria Art Museum (Abb. 55) sind nicht nur
Erinnerungen an Le Corbusiers Villa Schwöb, an Aaltos Enso Gutzeit-
Seite 57 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Gebäude in Helsinki oder an irgendeinen amerikanischen Billboard
verkörpert (Abb. 56-59).
57 La Chaux-de-Fonds: Villa Schwöb (Architekt: Ch. E. Jeanneret,
1915)
58 Rom: Acqua Paola (Flaminio Ponzio, 1610-1614)
59 Berlin: Altes Museum (Karl Friedrich Schinkel, 1822-1830)

Seite 58 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

Der Archetyp, der alle Elemente dieses architektonischen »Pastiche« (in


der literarischen und musikalischen Bedeutung des Begriffs) in sich
vereinigt und zugleich historisch vorweggenommen hat, ist die Aqua
Paola bei S. Pietro in Montorio auf dem Gianicolo in Rom - unweit der
American Academy gelegen: ein Bauwerk, dessen kolossale Inschrift
unter anderem beweist, daß selbst die Institution des amerikanischen
Billboard ihre Vorgeschichte in der Hoch- Architektur Europas hat. Daß,
mit anderen Worten, der Weg, wie die Venturis ja immer wieder betonen,
von Las Vegas tatsächlich nach Rom zurückfuhrt (Abb. 58).
Doch handelt es sich um ein Museum, und nicht nur für James Stirling ist
in dieser Baugattung der Rekurs auf Schinkels Altes Museum in Berlin de
rigueur. Wobei es im Falle Venturis interessanterweise nicht irgendein
Element der klassischen Architektursprache Schinkels ist, das
aufgegriffen wird, also nicht etwa das Motiv der Kolonnade als solches
(oder, wie bei Stirlings Staatsgalerie in Stuttgart, die Rotunde), sondern
die pulsierende optische Wirkung der Wandpaneele, die hinter der
klassizistischen Kolonnade hervorleuchten und ihre strenge Ordnung
synkopisch »unterlaufen«65 (Abb. 59).
Das sind Wirkungen, die traditionellerweise weniger im Medium der
Architektur als in jenem textiler oder musivischer Kleinkunst gesucht und
erreicht werden. Daher lautet das Stichwort, das sich in Anbetracht dieser
Fassade auf
drängt, am ehesten »Tabernakel«. Vor dem Hintergrund von Venturis
Affinität zu Kunstgewerbe und Kleinkunst überrascht es eigentlich nicht,
daß dieser Architekt gerade auf dem Umweg über das, was ich hier
behelfsmäßig Impressionismus nenne, einen problemlosen Zugang zur
Baukunst des Islams fand, die er in seinem erstaunlichen Entwurf für die
Irakische Staatsmoschee in Bagdad verarbeitet. Neuerdings natürlich
nicht mit dem Mittel der wörtlichen Stilkopie, sondern im Sinne einer
schöpferisch gewordenen Nachempfindung eines weiten Spektrums
traditioneller islamischer Sakralbauten: Erinnerungen an Isfahan,
Samarkand, Cordoba und Samarra vermischen sich mit solchen an die Ibn
Tulun Moschee in Kairo oder die Große Moschee in Kairuan zu einer
gigantischen und trotzdem märchenhaften architektonischen
Gewebestruktur (Abb. 60; S. 198 f.).
Seite 59 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown
Die historischen Voraussetzungen für diese Art des architektonischen
Orientalismus finden sich in den Chinoiserien des 18. Jahrhunderts sowie,
noch unmittelbarer, bei Sir Edwin Lutyens. Auch für Lutyens’
großartigen Kapitolsbauten von New Delhi gilt, was - mutatis mutandis -
den Entwurf für Bagdad charakterisiert: daß sie gerade in der Art, wie sie
historische Motive indischer Architektur aufgreifen, einer zutiefst
europäischen und angelsächsischen, im Grunde durch und durch
modernen Tradition angehören66 - auch wenn (oder gerade weil?) ihre
Formen so »postmo- dem« anmuten.

Seite 60 von 61
Stanislaus von Moos: Venturi, Rauch, Scott, Brown

Seite 61 von 61

Das könnte Ihnen auch gefallen