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Kauffrau/Kaufmann B E M Profil IKA

«BUBEN ÜBERSCHÄTZEN SICH OFT. MÄDCHEN UNTERSCHÄTZEN


SICH.»

Buben nehmen sehr viel Raum ein – Mädchen lernen, perfekt zu sein. Das prägt die Rollen
fürs ganze Leben. Es geht auch anders, sagt Gender-Expertin Marianne Aepli.
Buben gelten als Bildungsverlierer. Sie sind häufiger verhaltensauffällig. Sie kommen öfter in
Sonder- oder Sprachheilschulen, müssen eher eine Klasse repetieren oder brechen die
Schule ab. Sie erhalten über alle Fächer betrachtet die schlechteren Noten. An den
Gymnasien sind sie inzwischen in der Unterzahl.
Warum werden sie abgehängt? Ein grosses
Problem seien die gängigen Vorstellungen, wie
Jungen und Mädchen zu sein haben – und wie die
Schule damit umgehe, sagt die
Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. «Für
Mädchen ist es in Ordnung, fleissig zu sein, gute
Noten zu schreiben, sich anzupassen. Buben, die
allzu beflissen sind, gelten dagegen als Streber.»
Auch die Bandbreite des tolerierten Verhaltens habe
sich für Buben verringert. Harmlose Rangeleien
würden schnell als Gewalt taxiert. Dagegen lege die
Schule mehr Wert auf soziale und verbale
Fähigkeiten – die eher Mädchen zugeschrieben
werden. «Die Mädchen sind unglaublich fleissig und
folgsam geworden.»

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Gewinnerinnen sind sie deswegen noch lange nicht. Der Perfektionismus , der in der
Schule von Vorteil ist, wird im Berufsleben schnell zum Bumerang. Studien belegen:
Frauen führen gute Leistungen eher auf Zufall und Glück zurück, Männer auf ihre
Fähigkeiten, die sie nicht selten auch überschätzen. Doch wer selbstsicher ist, wirkt
kompetenter – auch wenn er es gar nicht ist. Man weiss auch, dass sich Männer viermal
häufiger um Lohngespräche bemühen und im Schnitt 30 Prozent höhere Saläre verlangen.
Die Techfirma Hewlett Packard hat herausgefunden, dass Frauen sich auf interne Topjobs
nur bewerben, wenn sie glauben, die Anforderungen zu 100 Prozent zu erfüllen. Männer
geben sich mit 60 Prozent zufrieden. Die Folgen: Der Perfektionismus, den die Frauen an
der Schule lernen, steht später ihrer Karriere im Weg. Das angepasste Verhalten ist schlecht
kompatibel mit der Berufswelt.

«Sozialverhalten muss trainiert werden – wie Deutsch oder Mathe.»

Frau Aepli, Sie unterrichten eine erste und zweite Klasse. Bereiten die Buben oder die
Mädchen mehr Probleme?
Marianne Aepli: Das ist immer verschieden. Aber in den letzten zwei Jahren hatte ich sehr
happige Klassen, in denen die Buben viel mehr Probleme gemacht haben.
Warum?
Sie brauchen viel Anerkennung und Aufmerksamkeit, schlagen schnell zu, haben also eine
hohe Gewaltbereitschaft auch im Klassenzimmer. Das geht natürlich gar nicht.
Sind die Buben tatsächlich wilder und lauter?
Diese Thematik haben viele Medien aufgenommen – sie stellen Buben als Schulverlierer
dar. Die Tendenz dazu besteht, deshalb wurde ja im Jahr 2000 das Netzwerk schulische
Bubenarbeit gegründet. Man darf aber nicht vergessen, dass es Mädchen gibt, die genauso
wild und laut sind. Die meisten sind aber sicher ruhiger, und man muss schauen, dass sie
nicht untergehen. Aus der Geschlechterforschung weiss man, dass Buben mehr Raum
einnehmen. Im Schulzimmer ist das tatsächlich so: Wenn eine Jungengruppe kommt,
machen die Mädchen Platz, geben ihren Raum ab.
Woher kommt das?
Buben und Mädchen werden von klein auf immer noch sehr unterschiedlich sozialisiert.
Wenn die Buben männliche Vorbilder zu Hause haben, dann haben sie meist viel
realistischere Vorstellungen von sich und vom «Mannsein». Wenn die Vorbilder fehlen, was
öfter der Fall ist, dann nehmen sie sich beispielsweise Superhelden als Idole und können
dann Fiktion und Realität oft nur schlecht unterscheiden. Mädchen hingegen haben viel mehr
reale Vorbilder. Es ist einfacher für sie, Frauen im Umfeld zu finden, zu denen sie
hochschauen können.
Wäre es besser, wenn wieder mehr Männer an der Primarschule unterrichten würden?
Lehrer sind anders sozialisiert und reagieren anders, die Buben profitieren davon. Es gibt
aber auch Männer, die umgekehrt mit den Mädchencliquen in einer Klasse gar nicht
zurechtkommen. In einer Studie der Uni Bern wurde klar gezeigt, dass das Geschlecht der
Lehrperson keinen Einfluss auf die Leistung der Schülerschaft hat. Aber es geht ja in der
Schule nicht nur um Leistung, das Sozialverhalten hat auch einen grossen Einfluss auf
Wohlbefinden und Lernen. Ich erlebe Teams, die sehr weiblich geprägt sind.
Weiblich geprägt heisst?
Kürzlich beschwerte sich eine Kindergärtnerin über die Buben, sie würden nicht aufs WC
sitzen beim Biseln. Da hat es mich fast verchlöpft. Es ist ein Grundrecht der Jungs, das im
Stehen zu machen. Lernen müssen sie, dass es danach sauber ist und sie es putzen
müssen, wenn mal was danebengeht. Das muss man ihnen beibringen. Aber sicher nicht
das Sitzen. Das ist Frauen-Team-Gerede.
Früher hiess es, es seien die Mädchen, die in der Schule benachteiligt würden.
Wichtig für die Schule ist, dass sie gender-balanciert ist, dass beiden Geschlechtern
geschaut wird. Mädchen in der Unterstufe sind zum Beispiel oft von Prinzessinnen fasziniert,
kleiden sich pink, lieben diese Traumwelt. Darüber darf man sich nicht lustig machen.
Sondern man erklärt ihnen besser, was für Vorschriften echte Prinzessinnen auch heute
noch einhalten müssen, dass sie keinen Kaugummi kauen dürfen und sich an die strikten

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Hofetiketten halten müssen, was nicht so toll ist. Daraus entstehen manchmal interessante
Gespräche über das Anpassen und Ausbrechen aus Rollenmustern.
Was ist mit den Buben?
Ich lasse zum Beispiel «Spass-Schleglä mit Regeln» in der Pause zu. Die Buben dürfen sich
bei Freundschaftskämpfen messen. Schwierig ist, zu merken, wann es kippt, wann es nicht
mehr Spiel ist. Im Unterricht lasse ich oft Spiele einfliessen, die die Kinder stärken, aber so,
dass sie es gar nicht merken. Das nennt man entdramatisierten Unterricht.
Was bedeutet das?
Das sind beispielsweise sehr laute Spiele, bei denen die Kinder Dampf ablassen können. Sie
müssen ihre Antworten laut rausschreien, sonst verliert ihre Gruppe. Manche Mädchen
haben grosse Probleme damit. Sie sind das nicht gewohnt, schreien sonst nie. Aber wenn
sie es dann nach ein paar Wochen das erste Mal können, ist etwas erreicht. Unbewusst
wissen sie: Ich kann auch laut werden, kann mich durchsetzen. Mädchen fehlt es oft an
Selbstbewusstsein, sie unterschätzen sich gern. Die Buben hingegen überschätzen sich
häufiger, haben das Gefühl, sie können eh alles gut. Ihnen kann man aufzeigen, dass ihre
Sichtweise nicht ganz stimmt.

«Mädchen werden nicht ausgelacht, wenn sie gut in der Schule sind. Aber für Buben ist
‹Strebern› ein No-Go.»

Was kann man machen, um nicht in Geschlechterklischees zu verfallen?


Eine gute Idee ist etwa, bei Gruppenarbeiten aktiv die Rollen wechseln zu lassen.
Klassischerweise übernehmen die Buben die naturwissenschaftlichen Experimente; die
Mädchen sehen zu und schreiben dann auf, wie es war. Also umgekehrt: Ein Mädchen muss
das Experiment ausführen und ein Junge protokolliert es. Das klappt gut.
Viele Buben beschweren sich, sie würden ungerecht behandelt. Sie müssten immer
aufräumen, öfter nachsitzen und häufig Strafaufgaben machen.
Es gibt leider Lehrpersonen, die disziplinierend auf das Verhalten der Buben wirken wollen.
Die finden es schon störend, wenn ein Bub seinen Kollegen in den Arm boxt. Sie sehen
nicht, wenn das nicht grob gemeint ist, sondern ein Zeichen für Mitgefühl – «hey, du bist
cool». Im Schulzimmer gelten Regeln, an die sich alle Kinder halten müssen. Aber Regeln
müssen auch gelernt werden, wie Deutsch oder Mathe. Sozialverhalten ist eben auch ein
Übungsfeld und muss trainiert werden.
Trotzdem: Werden Buben nicht häufiger bestraft, weil Mädchen sich oft konformer verhalten
und die Lehrer nicht offen provozieren?
Wenn es viel Streit gibt zwischen Mädchen und Buben in der Klasse oder auf dem
Pausenplatz, dann lasse ich sie manchmal die Situation mit Spieltöggeli nachstellen. Das ist
dann oft sehr aufschlussreich. Aha, da haben sich einige Jungs geprügelt, aber da hinten
links standen drei Mädchen, die sie angestachelt oder ausgelacht und gleichzeitig die
Pausenaufsicht avisiert haben. Einige Mädchen verhalten sich überkorrekt und amten als
selbst ernannte Polizistinnen – auch eine Folge von weiblicher Sozialisation.
Sie brechen aber damit keine Regel. Und für Rauferei bestraft werden trotzdem die Buben.
Schon, aber man kann den Mädchen auch aufzeigen, dass sie sich anders verhalten
könnten. Sie könnten «Stopp!» sagen oder dazwischengehen, andere Kinder zu Hilfe holen,
nicht auslachen. Es ist oft nicht die beste Lösung, Erwachsene einzuschalten.
Mädchengruppen sind meist flach hierarchisch organisiert. Man muss ihnen aber
klarmachen, dass sie nicht mit allen befreundet sein müssen, dass sie auch mal etwas
anders machen können, auch mal etwas kritisieren können. Bubengruppen sind hierarchisch
aufgestellt mit einem Chef und einem oder zwei Sous-Chefs, die vorgeben, was gemacht
wird. Die anderen ordnen sich dann gern unter und akzeptieren das.
Wie im Berufsleben?
Stimmt. Buben messen sich gern. Problematisch ist ihr Umgang mit Erfolg und Misserfolg: Je
mehr schlechte Noten sie bekommen, desto eher sagen sie, dass es cool sei, schlecht zu
sein. Damit der Misserfolg nicht so an ihnen nagt, drehen sie den Spiess um. Das ist ganz
schwierig, weil das meist in der vierten, fünften Klasse wirksam wird, genau dann, wenn der
Übertritt in die Oberstufe ansteht. Mädchen trösten sich bei Misserfolgen, und sie werden

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nicht ausgelacht, wenn sie gut in der Schule sind. Für Buben dagegen ist «Strebern» ein No-
Go.
Wie lässt sich das ändern?
Geschlechtergerechter wäre es grundsätzlich, weniger mit Noten zu arbeiten. Dann ist
automatisch der Leistungsdruck kleiner. Buben kann man gut anhand ihrer Sportidole
zeigen, dass die hart arbeiten müssen, um ihre Leistung zu bringen – dass sich Leistung
also lohnt.

Quelle: Beobachter.ch

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