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Die Kunst des Unterscheidens

Theodor M. Bardmann

Die Kunst des


Unterscheidens
Eine Einführung ins
wissenschaftliche Denken
und Arbeiten für soziale Berufe
Mit Denkplakaten von Klaus Hansen
Theodor M. Bardmann
Hochschule Niederrhein, Deutschland

ISBN 978-3-658-08629-9 ISBN 978-3-658-08630-5 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5

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Lektorat: Katrin Emmerich, Stefanie Loyal

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Inhalt

Die Wichtigkeit von Unterscheidungen.


Grundlegung eines unterscheidungstheoretischen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . 7

Teil 1 Wissenschaftliches Denken: Inhalte und Debatten

1 Wie unterscheidet sich wissenschaftliches Denken und Arbeiten


von anderen Denk- und Arbeitsweisen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1.1 Wissenschaftliches Wissen und Alltagswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1.2 Wissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche Differenzierung . . 28
1.3 Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45


2.1 Vorwissenschaftliche Weisheitslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
2.3 Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65


3.1 Frühe Bildungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.2 Humanistische Bildungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
3.3 Halbbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
3.4 Unbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
3.5 Lernfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
3.6 Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder? . . . . . . . . . . . . . 101


4.1 Kindesbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
4.2 Menschenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
4.3 Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
6 Inhalt

Teil 2 Wissenschaftliches Arbeiten: Techniken und Formalien

5 Planung und Zufall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127


5.1 Lob der Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
5.2 Lob des Zufalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
5.3 Ein Resümee – Oder: Die Kunst der Balance zwischen
Zufall und Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

6 Reden und Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155


6.1 Reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
6.2 Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
6.3 Ein Resümee – Oder: Die begrenzte Brauchbarkeit des Redens
und Zuhörens in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

7 Lesen und Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171


7.1 Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
7.2 Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
7.3 Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

8 Denken und Präsentieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227


8.1 Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
8.2 Präsentieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
8.3 Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

9 Formalien und Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255


9.1 Die Elemente eines Manuskripts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
9.2 Studienrelevante Manuskripttypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
9.3 Die formale Gestaltung studienrelevanter Manuskripte . . . . . . . . . 273
9.4 Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

10 Zitieren und Plagiieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291


10.1 Zitieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
10.2 Plagiieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Die Wichtigkeit von Unterscheidungen
Grundlegung eines unterscheidungs-
theoretischen Ansatzes
Die Wichtigkeit von Unterscheidungen
Die Wichtigkeit von Unterscheidungen

Dies ist eine Einführung ins wissenschaftliche Denken und Arbeiten für soziale
Berufe. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie wissenschaftliches Denken und Ar-
beiten als eine Kunst des Unterscheidens versteht (vgl. Baecker 1990). Daher gehört
an den Anfang (und nicht ans Ende) einer solchen Einführung der Hinweis auf
die Wichtigkeit von Unterscheidungen1. Zu denken ist an Unterscheidungen wie

1 Unterscheidung ist die Bezeichnung für einen Akt, bei dem es stets um zwei Seiten
geht, deren eine bezeichnet wird, während die andere unbezeichnet bleibt und erst
im nächsten Zug, d. h. unter Inanspruchnahme von Zeit, bezeichnet werden kann.
George Spencer Brown schreibt: „Draw a distinction!“ und er fährt fort: „and you
create a universe.“ „Triff eine Unterscheidung – und du erschaffst ein Universum!“
(1997:3), will sagen: Das Unterscheiden ist die Form, mit der wir als Beobachter der
Welt die Welt erzeugen, in der wir leben. Unterscheidung ist nicht irgendeine Form.
Sie ist die Form aller Formen, die die ganze Vielfalt der sinnhaft erfahrbaren Welt erst
ermöglicht. Unterscheidungen unterliegen ausnahmslos allen Sinnkonstruktionen.
Indem wir Unterscheidungen für derart zentral halten, steuern wir auf eine De-
Ontologisierung wissenschaftlichen Denkens und Wissens zu. Wir lösen uns von
der Idee, dass unsere Sprache ein gegebenes Sein ab- oder nachbildet. Zumindest für
die Sozialwissenschaften reklamieren wir eine post-ontologische Weltsicht (vgl. Neu-
mann 2008:23ff.), die sich in einen Widerstreit mit der alteuropäisch-ontologischen
Unterscheidung (!) von Sein und Nichtsein begibt. Wir bekommen es hier mit einem
wissenschaftlichen Ansatz zu tun, der nicht vom Sein der Welt und ihrer Ordnung
ausgeht, sondern von ihrem Werden aufgrund von Unterscheidungen, die Beobachte-
rInnen ins Spiel bringen. Wir plädieren für einen unterscheidungstheoretischen Ansatz
im Wissen um das Anderssein-Können der Beobachtung wie auch des je Beobachteten
(vgl. Nassehi 2006).

T. M. Bardmann, Die Kunst des Unterscheidens,


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
8 Die Wichtigkeit von Unterscheidungen

abweichend/konform, gesund/krank, begabt/unbegabt, behindert/nicht behindert,


mächtig/ohnmächtig, arm/reich, gerecht/ungerecht, schuldig/unschuldig, erziehbar/
nicht erziehbar, jung/alt, weiblich/männlich etc. Unterscheidungen dieser Art sind
so wichtig, weil mit ihnen die Welt im disziplinären wie professionellen Kontext
gestaltet wird. Um es auf den Punkt zu bringen: Wissenschaftliches Denken und
Arbeiten steht und fällt mit der gekonnten, möglichst allseits reflektierten, argu-
mentativ gut begründeten und empirisch belegten Benutzung von Unterscheidungen
zum Zwecke der Bezeichnung und Beschreibung spezifischer Ausschnitte sozialer
Realität. Das Studium dient vor allem dazu, theorie- und praxisrelevante Unter-
scheidungen kennenzulernen, um sie gekonnt zur Bearbeitung fachspezifischer
Probleme einzusetzen.2
Die Rede von einer „Einführung ins wissenschaftliche Denken und Arbeiten“
enthält bereits etliche Unterscheidungen, über die es sich lohnt, einen Moment
lang nachzudenken:

1. Eine Einführung ist eine Führung. Und jede Führung hat etwas von Lenken, Lei-
ten, Lotsen, Bevormunden, Gängeln, Ziehen, Erziehen: Jemand lässt sich führen,
lenken, leiten, ziehen, statt sich seinen eigenen Weg nach eigenen Maßgaben zu
suchen oder herumzustreunen und sich treiben zu lassen, ohne konkretes Ziel,
einfach so. Die erste Unterscheidung lautet also: geführt werden oder streunen,
geführt werden oder sich selbst einen Weg durch unbekanntes Terrain bahnen?
2. Das Adjektiv wissenschaftlich hat etwas Großartiges, Erhabenes, aber auch
etwas Bedrohliches und Disziplinierendes, denn die andere Seite wäre die
Unwissenschaftlichkeit, und sie ist in dem Kontext, in den Sie soeben eintreten,
nämlich die Hochschule, verpönt, ein No-Go ersten Ranges. In der Welt der
Wissenschaft unwissenschaftlich zu denken und zu arbeiten, ist ein Ding der
Unmöglichkeit. Mit dem Titel ‚unwissenschaftlich‘ wird in der Wissenschaft
alles ausgeschlossen, was nicht ‚salonfähig‘ ist.
Was aber ist ‚salonfähig‘, sprich: ‚wissenschaftlich‘, und was ist ‚nicht salonfähig‘,
sprich: ‚unwissenschaftlich‘? Diese Grenzen sind zugegebenermaßen nicht ein-
deutig und einstimmig zu ziehen. Wir haben es hier mit einer Unterscheidung
zu tun, die heiß umkämpft ist, zumal in den Geistes- und Sozialwissenschaften,
zu denen auch die Pädagogik zählt.

2 Begreifen wir Soziale Arbeit, ähnlich wie sozialpädagogische und kulturpädagogische


Arbeit, als Bildungsarbeit (vgl. Sünker 2002:240), so geht es mit Blick auf die Klientel
um die Vermittlung eines Unterscheidungsvermögens, das in die Lage versetzt, eigene
Interessen mit Aussicht auf Erfolg in gesellschaftliche Kommunikationszusammenhänge
einzubringen.
Die Wichtigkeit von Unterscheidungen 9

Wissenschaftlichkeit adelt das Tun und seine Ergebnisse. Wissenschaftlichkeit


enthebt Behauptungen – zumindest Uneingeweihten gegenüber – dem Zweifel und
der Kritik. Wissenschaftlichkeit drückt einen Herrschaftsanspruch des Wissens
aus. Sie markiert das Wissen als überlegenes, besseres, fundierteres, sichereres
Wissen. Wir betreten somit ein Feld, das keinesfalls frei ist von ‚Besserwisserei‘
und Machtkämpfen zwischen konkurrierenden Paradigmen.3
3. Auch das Substantiv Denken ist bedenkenswert. Ich unterscheide es an dieser
Stelle vom Dösen, einem gedankenverlorenen, geistlosen, unbeteiligten Vor-sich-
hin-Dämmern. Wir könnten aber auch an die Unterscheidung von selbst-denken
und andere-für-sich-denken-lassen denken. Ein Kollege hatte für Studierende
den Satz von Joseph Beuys an seine Sprechzimmertür geheftet: „Wer nicht denkt,
fliegt raus!“ Denken, vor allem eigenständiges, kritisches, alles scheinbar Selbst-
verständliche hinterfragendes Denken, ist Pflichtprogramm in einer lebendigen
Wissenschaft. Wissenschaft beginnt mit dem Zweifel (Descartes: „Dubito, ergo
cogito, ergo sum.“ – „Ich zweifle, also denke ich, also bin ich.“). Und sie lebt vom
Zweifel, vom Hinterfragen, Überprüfen, Kritisieren und Neuinterpretieren des
scheinbar Gegebenen und Selbstverständlichen. In diesem Sinne ist Gedanken-
losigkeit, dumpfes Rezipieren, Auswendiglernen und unbedachtes Wiederholen
im wissenschaftlichen Kontext untragbar. Wissenschaftliches Denken meint
immer auch ein kritisches Infragestellen, das selbst vor den eigenen Überzeu-
gungen und Gewissheiten keinen Halt macht.
4. Das Wort Arbeit vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck, es mit etwas
Solidem, Ernstem, Anstrengendem, Schwerem, Biederem, meist immer wieder
Gleichem, Untertänigem zu tun zu bekommen. Das liegt daran, dass wir Arbeit
gern von Freizeit bzw. Freiheit unterscheiden und es gelernt haben, die Arbeitswelt
als ein „Reich der Unfreiheit“ zu lesen, aus dem man in die Freizeit, dem „Reich
der Freiheit“, fliehen möchte. Ein solches Denken ist fatal, denn es erweckt den
Eindruck, dass Arbeit keinen Spaß mache. Es unterschlägt die andere Seite im
Arbeitsbegriff selbst: das Leichte, Verspielte, Lustvolle, Überraschende, das in der
Tat einen Großteil wissenschaftlicher Arbeit ausmacht. Wissenschaft besteht aus
Anteilen, die mit einem einseitigen Arbeitsbegriff nicht hinreichend angezeigt,
sondern eher verdeckt werden: Neugier, Abenteuerlust, Wagnis, Erkunden,
Experimentieren wie auch Streiten, Agitieren und beherztes Argumentieren.

3 Ein wissenschaftliches Paradigma bezeichnet die Gesamtheit der herrschenden Grund-


auffassungen eines wissenschaftlichen Ansatzes: die Vorstellungen bezüglich Kausalität,
Raum und Zeit, Menschen- und Gesellschaftsbilder, Zeitvorstellungen und – besonders
wichtig – der methodischen und methodologischen Regeln.
10 Die Wichtigkeit von Unterscheidungen

Hansen 2013:41

Bezeichnungen und Beschreibungen sind im Bereich der pädagogischen Arbeit


nicht ohne weiteres der Welt selbst zu entnehmen. Die Welt flüstert uns ihren Sinn
nicht zu (vgl. Foucault 1991). Und die Objekte verraten uns nicht ihre Bedeutung.
Die Verhältnisse sind stumm.4 Wir müssen uns mithilfe unserer Unterscheidungen,
unserer Bezeichnungen und Beschreibungen ein Verständnis von der Welt, den
Dingen und den Verhältnissen erarbeiten. Wir müssen der äußeren Welt Sinn
zuschreiben. Wir müssen ihr Bedeutung verleihen. Daher gilt es,

t genau zu beobachten, wie die Gegenstände und Problematiken pädagogischer


Arbeit ihre Namen (Bezeichnungen, Benennungen) bekommen, wie sie etikettiert
und von anderem unterschieden werden:
t Wie kommt es zu den Bezeichnungen? Wie kommt es zu den Unterscheidungen?
t Welche Konsequenzen haben welche Bezeichnungen und Unterscheidungen?
t Warum werden identische Sachverhalte von unterschiedlichen BeobachterIn-
nen unterschiedlich benannt? Sind vielleicht besondere Interessen im Spiel?
Werden mit den Bezeichnungen bestimmte Ziele verfolgt? Erhoffen sich
die BeobachterInnen von ihren Bezeichnungen einen bestimmten Nutzen?
t Neben den unterschiedlichen Wies, Warums und Wozus der Benennungen gilt
es zu beobachten, was von wem beobachtet und was von wem nicht beobachtet
wird: Was wird tabuisiert? Was wird bewusst oder unbewusst, gewollt oder

4 Vielleicht sprechen sie aber auch nur eine uns unbekannte Sprache?
Die Wichtigkeit von Unterscheidungen 11

ungewollt übersehen, ausgeblendet, ausgelassen, geleugnet, unterschlagen, latent


gehalten, verschwiegen?
t Schließlich gilt es, die Geschichtlichkeit der Unterscheidungen und Bezeichnungen,
das meint ihre Gewordenheit und ihre im Laufe der Zeit erfahrenen Veränderun-
gen, nachzuvollziehen: Was meinte Hilfe früher, was meint sie heute? Was galt
früher als unerträglicher Problemfall, was heute? Was meinte Bildung früher,
was meint sie heute? Wie begriff man das Kind, den Menschen, die Klienten, die
Gesellschaft früher, wie begreift man sie heute? Welche Unterschiede bestehen
zwischen dem früheren und dem heutigen Verständnis? Welche Unterschiede
ergeben sich aus einem unterschiedlichen Unterscheidungsgebrauch?

Wer sich entschließt zu studieren, statt nicht zu studieren – auch eine Unterschei-
dung (!), auch eine Zwei-Seiten-Form (!) –, wird sich auf Unterscheidungen, d. h. auf
Zwei-Seiten-Formen einlassen müssen, um zu seinen Bezeichnungen und Beschrei-
bungen zu gelangen: Fall oder Nicht-Fall? Helfen oder Nichthelfen? Intervenieren
oder Laufen-Lassen? Kommentieren oder Schweigen? Fordern oder Fördern? Loben
oder Strafen? Lernen oder Nicht-Lernen? Die Liste ist endlos verlängerbar.
Allen Vorstellungen, den alltagsweltlichen wie den wissenschaftlichen, liegt
ein Unterscheiden als Differenz und nicht als Einheit zugrunde (vgl. Luhmann
1990a:14ff.). Wir gelangen erst zu den für unser Fach so wichtigen Begriffen wie
‚Bildung‘, ‚Erziehung‘, ‚Kind‘, ‚Klient‘, ‚Fall‘, ‚Hilfe‘, ‚Plan‘ etc. durch die Markierung
einer Differenz, d. h. mittels einer Zwei-Seiten-Form, die uns dazu zwingt, entweder
die eine oder die andere Seite genauer zu bezeichnen, um daran weiteres Beobachten
und Beschreiben anschließen zu können.5
Was wir unter ‚Studium‘ verstehen, gewinnt z. B. erst Kontur in Abgrenzung
zum ‚Nicht-Studium‘. Aus dem Kreuzen der Grenze zwischen den beiden Seiten
Studium/Nicht-Studium lassen sich Anhaltspunkte zur Konkretisierung der jeweils
anderen Seite gewinnen. Und nur so lässt sich nach und nach ein ‚Begriff‘ vom
Studium erarbeiten. Jede Konkretisierung des ‚Nicht-Studiums‘ hilft, das ‚Studium‘
zu profilieren, den Begriff zu schärfen, seine Bedeutung zu präzisieren.6

5 Es ist wichtig, die Dinge/Objekte, die wir bezeichnen, von den Begriffen, die wir be-
nutzen, um sie zu bezeichnen, zu unterscheiden. Objekte wie Begriffe sind Konstrukte,
doch „Objekte“, so Luhmann (1990b:124), „sind dadurch gegeben, dass man sie von
‚allem anderen‘ unverwechselbar unterscheiden kann. Begriffe fordern dagegen eine
Explikation auch der anderen Seite der Unterscheidung, eine Einschränkung dessen,
wovon sie unterschieden werden, also zum Beispiel Sein von Schein, Natur von Technik,
Zentrum von Peripherie.“
6 Ich verweise damit ausdrücklich auf eine nicht stationäre, sondern dynamische Vorstellung
von Sinn: Sinn steht niemals fest. Sinn gilt niemals ein für alle Mal. Sinn verweist auf ein
12 Die Wichtigkeit von Unterscheidungen

Mit jeder Unterscheidung zerschneiden wir die Welt. Wir tranchieren sie. Wir
teilen nicht mit, wie sie ‚wirklich‘ ist, wir teilen sie ein. Unterscheidungen sind
Einschnitte, Zäsuren, Verletzungen, Grenzziehungen, Differenzierungen, mit denen
wir die Welt traktieren, während sie unsere Schnitte toleriert (oder auch nicht).
Studium meint die Arbeit an Unterscheidungen. Studium ist Unterscheidungsarbeit,
um das eigene Arbeitsfeld zu sortieren, zu ordnen, einzuteilen in krank/gesund,
gefährlich/ungefährlich, legal/illegal, legitim/illegitim, gerecht/ungerecht, schön/
hässlich, kunstvoll/kitschig, gekonnt/dilettantisch … Die Wissenschaft hilft, Un-
terscheidungen zu schärfen. Sie hilft, ‚genauer‘ zu sehen.

Hansen 2013:46

Wir setzen mit dem Wissen um Differenzen die Phänomene in unserem Arbeitsfeld
nicht mehr als ontologische Gegebenheit voraus, sondern fragen nach den Bedin-
gungen ihrer Ermöglichung. Nach Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft lautet

ständig sich selbst überarbeitendes Geschehen. Wenn die Zeit, sprich: die Beweglichkeit
des im Studium zu verhandelnden Sinns, derart nachdrücklich eingeführt wird, erschei-
nen Ideen wie ‚Basiswissen‘, ‚Grundlagenwissen‘ oder ‚fundierendes Wissen‘, auf das
sich weiteres Wissen ‚aufbauen‘ lässt, als überholt und unbrauchbar. Wer mit Differenz
statt Identität, mit Unterscheidungen statt Bezeichnungen ins Studium startet, ist gegen
jede Form des ‚Fundamentalismus‘ gefeit. Die Vorstellung von ‚Wissensgebäuden‘, die
Schicht für Schicht aufgebaut werden, weicht der Idee von Netzen, die immer wieder
neu und auch anders geknüpft werden.
Die Wichtigkeit von Unterscheidungen 13

die Frage nicht mehr „Was ist …?“, sondern „Wie ist … möglich?“ Was sind die
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung (vgl. Kant 1924:55)? Nicht: „Was ist
Soziale Hilfe?“, „Was ist Kulturelle Bildung?“, „Was ist Erziehung?“, sondern: „Wie
ist Soziale Hilfe möglich?“, „Wie ist Kulturelle Bildung möglich?“, „Wie ist Erziehung
möglich?“ Die Antworten lauten in jedem Fall: Indem wir die Phänomene mithilfe
unserer Unterscheidungen und Bezeichnungen hervorbringen und entsprechend
handhaben. Wir schaffen die Welt, in der wir leben, indem wir sie er-leben.
Wenn wir als BeobachterInnen andere BeobachterInnen beobachten, stellen
wir fest, dass andere anderes sehen und anderes als Bedingung der Möglichkeit
von Sozialer Hilfe, Kultureller Bildung und Erziehung identifizieren. Wir müssen
lernen, dass andere andere Unterscheidungen verwenden, von anderen Begriffen
und Gegenbegriffen ausgehen und entsprechend Dasselbe als etwas Anderes behan-
deln. Wir müssen mit divergierenden Beobachtungsweisen und -resultaten rechnen,
nicht einfach im Sinne von

t persönlichen Auffassungsverschiedenheiten („Du hältst dieses Individuum für


behandlungsbedürftig, ich nicht.“), sondern als
t Kommunikationsdivergenzen gesellschaftlich ausdifferenzierter Funktionskon-
texte: Das Recht begreift Phänomene anders als die Medizin; die Soziale Hilfe
geht anders mit Menschen um als die Wirtschaft; die Wissenschaft thematisiert
die Welt anders als die Religion oder die Kunst. All diese Funktionsbereiche
arbeiten mit unterschiedlichen Unterscheidungen, Bezeichnungen und Be-
schreibungen und erzeugen damit unterschiedliche Konsequenzen auf der
Ebene des Handelns. Sie fokussieren Unterschiedliches und blenden Unter-
schiedliches aus. Nicht allein Du oder ich als Subjekte divergieren, sondern
auch die Sicht- und Beschreibungsweisen von Sozialsystemen unterscheiden
sich.7 Nicht nur subjektive Sichtweisen, sondern die Perspektiven und Logiken
von Systemen weichen voneinander ab. Das Wissenschaftssystem, das Rechts-
system, das Gesundheitssystem, das Erziehungssystem, die Soziale Hilfe und

7 Wir wollen die Unterscheidungsabhängigkeit des Beobachtens, Beschreibens, Be-


zeichnens und Behandelns nicht auf den modernen Subjektivismus reduzieren, so, als
könnte der Mensch die Unterscheidungen, die er verwendet, um die Welt einzuteilen,
frei wählen. Damit würden die sozialen Konditionierungen aus dem Blick geraten, die
Voraussetzung dafür sind, dass Menschen sich überhaupt in verständlicher Form an
Kommunikation beteiligen können. Menschen müssen sich an die von der Gesellschaft
freigegebenen Möglichkeiten des Unterscheidens halten. Sie müssen die vorgegebene,
gemeinsam geteilte Sprache, den herrschenden Jargon sprechen. Anderenfalls müssen
sie mit unnötigen Missverständnissen und Irritationen rechnen. Das hebt jede Form
beliebiger subjektiver Wahl auf. Auch Sie werden einen professionellen Jargon annehmen
müssen, wenn Sie in Ihrem Feld verständlich mitreden und etwas verändern wollen.
14 Die Wichtigkeit von Unterscheidungen

die Kulturelle Arbeit begreifen und behandeln die Welt auf je eigene Art und
Weise. Entsprechend divergieren deren Akteure, die WissenschaftlerInnen,
die JuristInnen, MedizinerInnen, ErzieherInnen, KulturpädagogInnen und
SozialarbeiterInnen im Gebrauch von Unterscheidungen und Bezeichnungen.
Sie sprechen unterschiedliche Sprachen. Sie kommunizieren unterschiedlich,
während die Bedingungen der Unterschiedlichkeiten in der Kommunikation
nicht zeitgleich hinreichend mitkommuniziert werden können.

Das Studium wird Sie mit der historischen Entwicklung und dem aktuellen Stand
der Sinnformen sozial- und kulturpädagogischer (Unterscheidungs-)Arbeit vertraut
machen. Sie werden einen Zugang zur phänomenalen Komplexität der sozialen
Welten gewinnen. Sie werden mitverfolgen können, wie die wesentlichen Elemente
dieser Welten erzeugt wurden und weiterhin erzeugt werden: das Kind, der Mensch,
der Klient, die Kultur, die Gesellschaft, die Hilfe, die Erziehung, die Bildung, die
sozialen Probleme (grundlegend hierzu Groenemeyer 2010 und Schetsche 2008).
Ihre persönliche Sprache wird zu einer professionellen werden. Die Fachlichkeit
Ihrer Sprache sichert Ihnen die Anschlussfähigkeit an soziale Institutionen und
ihre Programme.
Im Studium erlernen Sie die Formen, die eine kontinuierliche Arbeit in den
sozialen Bereichen sichern. Sie erlernen Formen, die im Fach und in der Profession
identisch gehalten und nicht willkürlich verändert werden dürfen. Das Studium
vermittelt die Eigenwerte, die im wissenschaftlichen wie im beruflichen Alltag
eine Wiederholung fach- und professionsspezifischer Operationen ermöglichen
und damit die Identität von Fach und Profession (gegenüber anderen Fächern
und anderen Professionen und eigenen Alternativen) sichern sollen. Das Studium
wird Ihnen wohlgemerkt nicht verraten, wie die Welt wirklich ist, wohl aber, wie
unterschiedliche WissenschaftlerInnen, besser: unterschiedliche Theorien und
unterschiedliche Ansätze, sie einteilen. Sie werden schlussendlich selbst entscheiden
müssen, welche Unterscheidungen und Einteilungen für Sie in Ihrem beruflichen
Handeln maßgeblich sein werden und welche nicht.8

8 Es ist unschwer zu erkennen, dass wir uns mit alledem auf einen unauflösbaren Re-
lativismus einlassen: Alle Bezeichnungen und Beschreibungen beruhen auf einem
Unterscheiden-Müssen. Dies gilt für alle wissenschaftlichen Beobachtungen, egal
welchem Paradigma sie sich verbunden fühlen.
Auch das Unterscheiden-Müssen hat eine andere Seite: das Unterlassen des Unterschei-
dens. Im Zen-Buddhismus setzt man alles daran, Zustände der Unterschiedslosigkeit
zu erreichen. Auch im Feld des Sozialwesens gibt es zahlreiche Fälle, in denen wir uns
gegen gewisse Unterscheidungen und für eine Dekategorisierung einsetzen, etwa wenn
die benutzten Unterscheidungen diskriminierend und benachteiligend sind. Dann
Die Wichtigkeit von Unterscheidungen 15

Eine Einführung ins wissenschaftliche Denken und Arbeiten, die von der Wich-
tigkeit von Unterscheidungen ausgeht, begreift selbst noch die Eigenwerte des Faches
und der Profession als Zwei-Seiten-Formen. Sie lädt mit anderen Worten dazu ein,
sich nicht mit den einfachen Bezeichnungen (Hilfe, Ermöglichung, Kultur, Wahrheit
etc.) zufriedenzugeben, sondern stets nach den zugrunde liegenden Differenzen zu
fragen (Hilfe/Hilfeverweigerung, Ermöglichung/Verhinderung, Kultur/Unkultur,
Wahrheit/Irrtum etc.). Nur so eröffnet sich die Chance, zusätzlich zu den meist
ansprechenden Positivwerten auch die jeweils alternativen Reflexionswerte mit in
den Blick zu bekommen. Das entspricht einer anspruchsvollen, realitätsadäqua-
ten Sicht, denn in den sozialen Berufen geht es eben nicht nur um Hilfe, sondern
auch um deren Verweigerung. In der Kulturellen Arbeit bekommen wir es nicht
nur mit Kultur, sondern auch immer wieder mit Unkultur zu tun. Die Erziehung
ermöglicht nicht nur, sie verhindert auch. Und in der Wissenschaft ist der Irrtum
ebenso unverzichtbar wie die Wahrheit. Ohne die ‚andere Seite‘, ohne die Gegen-
werte, reduzierten wir unseren Blick auf eine ‚ein‘-fache, ‚ein‘-seitige, ‚ein‘-sinnige,
‚ein‘-deutige Welt, die sich manche zwar wünschen mögen, die aber der wahren
Komplexität des Gegenstandes in keiner Weise gerecht wird. Eine Orientierung
an Einheit, Einfachheit, Eindeutigkeit mag einigen auf den ersten Blick attraktiv
erscheinen, dem Anspruch wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens wird sie
nicht gerecht. Sie ist unwissenschaftlich.9

sollten wir vor Unterscheidungen warnen. Aber auch dieses Unterfangen beruht auf
Unterscheidungen.
9 Eine sich selbst auferlegte Einseitigkeit wird fatalerweise z. B. an Titeln einschlägiger
Einführungsliteratur und an deren Kapitelüberschriften erkennbar. Sie positionieren
sich ungeniert eindeutig, ohne die jeweils anderen, unterschlagenen Seiten mitzube-
nennen: „Prüfungen meistern“, „Effizient Lernen“, „Effektives Mitschreiben, Zuhören,
Moderieren, Präsentieren, Argumentieren“, „Erfolgreiches Lernen und Behalten“,
„Erfolgreiches Selbstmanagement“, „Erfolgreicher EDV-Einsatz“ und „Erfolgreiche
Nutzung des E-Learning“. Diese erfolgversessene Rhetorik ist nicht wissenschaftlich,
sondern marketingstrategisch begründet. Sie bewegt sich ausschließlich ‚auf der
Sonnenseite‘ eines Studiums. Sie blendet den Misserfolg, die Ineffizienz, das Versagen
und Scheitern, die Abwege und Irrwege, die Unzufriedenheit mit dem Geleisteten etc.
aus. Und dabei gehören diese Dinge unweigerlich zum wissenschaftlichen Bestreben
dazu. Walter Benjamin soll einmal gesagt haben: „Es gibt kein Gelingen, es gibt nur
unterschiedlich interessante Formen des Scheiterns.“ Das meint: Bei allem, was wir
fabrizieren, finden sich bald darauf Möglichkeiten der Veränderung, der Erweiterung,
der Vertiefung, der Verbesserung oder schlicht des Anders-Verknüpfens. Deshalb gehört
zu einem ‚erfolgreichen‘ Studium die Erfahrung des Scheiterns und des Suboptimalen
grundsätzlich dazu.
Die andere Seite ist prinzipiell an der Wissenschaft als ein unterscheidungsbasiertes
Unternehmen beteiligt: Wissenschaft muss herausarbeiten, wie sich die Gegenstände
16 Die Wichtigkeit von Unterscheidungen

Seit Descartes ‚Dubito‘ ist im wissenschaftlichen Denken und Arbeiten alles in Fra-
ge zu stellen, auch und gerade die Grundfeste des eigenen Tätigkeitsbereiches (seien
es die der Wissenschaft oder auch die der erzieherischen und pädagogischen Praxis).
Will man Wissenschaft begreiflich machen und seine eigene Praxis verwissenschaft-
lichen, muss man Differenzen markieren und die Grenzen zwischen den eigenen
und fremden Bereichen abschreiten. Wir geraten in die Gefahr der Indoktrination,
wo nur Wahrheiten und Lösungen und keine Irrtümer und Probleme angeboten
werden. Lernen wird Drill und Abrichtung, wo nicht mehr nach- und quergedacht
und diskutiert wird. Die Hochschule wird zum Trainingslager unbezweifelbarer
Erkenntnis statt zum Ort der kritischen Auseinandersetzung. Wissenschaft ist die
Einladung zum Widerstreben, zur Widerrede, zum Widerstreit, zum Widersinn.
Uneindeutigkeit ist kein Defekt, sondern ein konstitutives Merkmal der Phänomene,
mit denen wir es in sozialen, kulturellen und pädagogischen Berufen zu tun bekom-
men. Das „Soziale“, das „Kulturelle“ und das „Pädagogische“ ist weder objektiv noch
konsensuell bestimmbar. Die Wirklichkeiten, die wir zu bearbeiten haben, werden von
unterschiedlichen Akteuren zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich beschrieben
und behandelt: Ihre Erkenntnis, ihre epistemische Identifizierung ist kontingent, d. h.
immer auch anders möglich. Verschiedene Beschreibungen sind brauchbar, nicht nur
eine. Eine wissenschaftliche Herangehensweise muss die Vielfalt und Kontingenz
der Perspektiven und damit die Mehrdeutigkeit sozialer und kultureller Phänomene
aufnehmen, statt sie auf Einheitlichkeit und Eindeutigkeit zu trimmen.
Vielfalt und Mehrdeutigkeit sind irreduzibel und konstitutiv für unsere Disziplin
und Profession. Um der Vorstellung entgegenzuarbeiten, es ginge beim wissenschaft-
lichen Denken und Arbeiten ausschließlich um Eindeutigkeit, klare Abgrenzbar-
keit, Planbarkeit oder womöglich sogar Technisierbarkeit, werden wir uns einigen
ausgewählten Kernfragen unseres Feldes zuwenden, um kenntlich zu machen: Jede
Auslegung sozialer, kultureller und pädagogischer Fragen konkurriert per se mit
alternativen Deutungen. Die Phänomene sind umstritten, interessens- und definiti-
onsabhängig. Die Unterscheidungen, die jeweils in Anschlag gebracht werden, gehen
auf jeweilige Beobachtungsstandpunkte, auf interaktive Aushandlungsprozesse, auf
implizite Normativitäten und strategische Entscheidungen zurück. Und dies gilt

des wissenschaftlichen Interesses via Unterscheidungen konstituieren und dass sie nur
zu verstehen sind, wenn man sie mit dem konfrontiert, wogegen sie sich abgrenzen.
Werden die anderen Seiten gegenüber den StudienanfängerInnen unterschlagen, werden
ihnen alternative Denk- und Handlungsweisen vorenthalten. Dann verengt man ihre
Perspektiven und ihr Urteilsvermögen auf einen schmalen Ausschnitt des Denk- und
Diskutierbaren. Dann verwehrt man den Dialog. Man verhindert die eigenständige
Reflexion und die Möglichkeit, selbst Stellung zu beziehen und eine eigene Meinung
zu bilden.
Die Wichtigkeit von Unterscheidungen 17

auch für die Fragen der Wissenschaft. Die Wissenschaft hat sich selbst, ihr eigenes
Unterscheiden, unter diesen Gesichtspunkten längst in den Blick genommen und
selbstkritisch das eigene Lavieren im Rahmen selbsterzeugter Unterscheidungen
zum Thema gemacht (siehe statt vieler anderer Bloor 1976, Heintz 1998, Schützeichel
2007). Dahinter können wir auch und gerade in den Einführungen in ein Studium
für soziale Berufe nicht mehr zurück (vgl. für die Soziale Arbeit Lambers 2014).
Um dies an ausgewählten Inhalten erfahrbar zu machen, gliedert sich die vor-
liegende Einführung in zwei Hauptteile:

t Der erste Teil ist analytisch gehalten. Er fokussiert Objekte unseres Faches. Er
diskutiert Kernthematiken einer Wissenschaft für soziale Berufe. Er konfron-
tiert Sie mit dem Was des wissenschaftlichen Denkens und dessen prinzipiell
kontingente Erfassung.
t Der zweite Teil ist praktisch orientiert und diskutiert Techniken und Formalien.
Hier lernen Sie das Wie des wissenschaftlichen Arbeitens kennen.

Die vorliegende Einführung spricht nicht nur über Techniken und Formalien, son-
dern auch über ausgewählte Kernthemen des sozialen Feldes, weil wir nicht gegen-
standslos denken und arbeiten wollen. Erst an der Besonderheit der angesprochenen
Themen wird deutlich, worin die Leistungen wissenschaftlichen Tuns in unserem
Fall liegen: im Analysieren, im Aufzeigen der sachlichen und historischen Thema-
tisierungsvarianten und ihrer Konsequenzen, im Abwägen und Sich-Entscheiden
für die eine oder andere Option. Die Inhalte dienen weniger dazu, Sie zu belehren,
als vielmehr dazu, Sie zu befragen. In diesem Sinne wird diese Einführung Sie mit
ausgewählten wissenschaftlichen und pädagogischen Grundfragen konfrontieren,
die in der Wissenschaft diskutiert werden und die Sie in Ihrem beruflichen Tun
für sich selbst zu beantworten haben:

t Kapitel 1: Wir beginnen mit der Frage, was wissenschaftliches Denken und
Arbeiten ausmacht und von welchen anderen Praxen es sich unterscheiden lässt:
Von welchen Denk- und Arbeitsweisen unterscheidet sich die wissenschaftliche?
Wir werden uns nicht damit zufrieden geben, sie pauschal vom Alltagshandeln
abzugrenzen, sondern wir werden nach feineren und weiteren Unterscheidun-
gen fahnden.

Auf der zu diesem Buch gehörenden Produktseite finden Sie zu diesem Themenblock
zwei Vertiefungstexte:
t Text 01: Die Erziehung und ihre Verwissenschaftlichung
t Text 02: Die Soziale Hilfe und ihre Verwissenschaftlichung
http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
18 Die Wichtigkeit von Unterscheidungen

t Kapitel 2: Es zeichnet die Wissenschaft von je her aus, sich um die Wahrheit
von Aussagen zu kümmern und wahre Aussagen zu liefern. Wir werden den
Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Aussagen nicht einfach hinnehmen,
sondern nachfragen, von welchen unterschiedlichen Wahrheitsverständnissen
WissenschaftlerInnen aber auch Alltagsmenschen ausgingen und heute noch
ausgehen: Was meint Wahrheit, und wogegen grenzt sie sich ab?

Auch zu diesem Themenblock finden Sie auf der Produktseite einen Vertiefungstext:
t Text 03: Wahrheit in der alltäglichen Praxis
http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9

t Kapitel 3: Wir greifen sodann die pädagogische Kernfrage auf: „Was ist wert,
gelehrt und gelernt zu werden?“ Wir stoßen dabei auf konkurrierende Erziehungs-
und Bildungskonzepte sowie auf Ansätze, die sich gänzlich von der klassischen
Bildungsidee lossagen. Was wenn nicht die Bildung könnte pädagogischem
Handeln Ziel und Orientierung sein?

Über die Diskussion unterschiedlicher Bildungsverständnisse hinaus beschäftigen sich


folgende Vertiefungstexte mit vier Grundunterscheidungen des wissenschaftlichen
Denkens und Arbeitens:
t Text 04: Theorie und Praxis
t Text 05: Verstehen und Nichtverstehen
t Text 06: Lernen und Nichtlernen
t Text 07: Wissen und Nichtwissen
http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9

t Kapitel 4: Um das Funktionieren von Unterscheidungen eingehender kennen-


zulernen, wird in einem weiteren Schritt versucht, die ‚Gegenstände‘ pädagogi-
schen Handelns genauer zu betrachten: Welche Unterscheidungen bringen das
Kind oder allgemeiner noch den Menschen als Medium der Erziehung hervor?

Auf der zu diesem Buch gehörenden Produktseite finden Sie Texte, die sich über die
Kindes- und Menschenbilder hinaus mit aktuellen Bildern der Gesellschaft beschäftigen:
t Text 08: Wie unterscheiden sich Gesellschaftsbilder?
t Text 08.1: Das Gesellschaftsbild eines Kritischen Ansatzes
t Text 08.2: Das Gesellschaftsbild eines Alltags- und Lebensweltorientierten Ansatzes
t Text 08.3: Das Gesellschaftsbild eines Modernisierungs- und Individualisierungs-
orientierten Ansatzes
t Text 08.4: Das Gesellschaftsbild eines Kommunitaristischen Ansatzes
t Text 08.5: Das Gesellschaftsbild eines Systemtheoretischen Ansatzes
http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
Die Wichtigkeit von Unterscheidungen 19

So wichtig es ist, sich zu Beginn des Studiums mit inhaltlichen Fragen vertraut
zu machen, um sich im Umgang mit den einschlägigen Unterscheidungen zu
trainieren, so wichtig ist es auch, Arbeitsweisen zur Behandlung dieser Fragen
kennenzulernen. Neben den Inhalten werden deshalb die dazu passenden Formen
ihrer Behandlung – wieder eine Unterscheidung (!) – dargeboten.
Im zweiten Hauptteil dieser Einführung werden die formalen und technischen
Aspekte des Studierens und wissenschaftlichen Arbeitens präsentiert. Hier erfah-
ren Sie das Wichtigste zu den Themen Organisieren, Recherchieren, Sortieren,
Vortragen, Reden, Lesen, Exzerpieren, Schreiben, Formulieren, Denken, Präsen-
tieren, kurzum: Hier steht die handwerkliche Seite wissenschaftlichen Denkens
und Arbeitens im Vordergrund.

t Kapitel 5: Wir beginnen mit dem, was für den praktischen Erfolg eines Studiums
unverzichtbar ist: eine umsichtige Planung. So gut wie alle Einführungen plädieren
für Planung. Zu Recht. Wir schließen uns ihnen an, werden aber – sensibilisiert
für Unterscheidungen – nicht verpassen, das Nichtplanbare, das Überraschende,
Unerwartete als notwendige andere Seite mitzureflektieren. Wir werden dem
Zufall zu seinem Recht verhelfen und ihm Raum verschaffen. Wir werden zeigen,
dass das Zufällige gerade in unseren Professionen von entscheidender Bedeutung
ist, wenn es nicht gar unsere Planungen hin und wieder in den Schatten stellt.

t Kapitel 6: Im 6. Kapitel geht es ums Reden und Schweigen in der Wissenschaft. Es


geht ums Zuhören bei Vorlesungen und Vorträgen wie auch ums eigene Reden vor
Publikum. Wer vom Reden spricht, sollte das Schweigen nicht verschweigen. Es gilt
zu klären: „Was sage ich, was sage ich nicht? Was mute ich meinen ZuhörerInnen
zu, und was erspare ich ihnen?“ Was immer wir vortragen, es unterschlägt all
das, was unerwähnt bleibt. Auch deshalb kann das Reden und das Zuhören nicht
allein die Basis für die Wissenschaft sein. Hören und Reden sind wichtig, aber
nur von begrenzter Brauchbarkeit für wissenschaftliches Denken und Arbeiten.

t Kapitel 7: Erst Lesen und Schreiben ermöglichen es, Wissenschaft im moder-


nen Sinne zu betreiben. Damit Sie sich lesend und schreibend an Wissenschaft
beteiligen können, werden wir darstellen, wie Sie nach geeigneter Literatur
recherchieren und Quellen und Materialien erschließen können, wie Sie er-
tragreich Lesen und wie Sie das Gelesene zum Ausgangspunkt Ihres eigenen
Schreibens machen können. Wir werden darlegen, was Sie über das Handwerk,
mehr noch: über die ‚Kunst des Schreibens‘ wissen sollten. Wir werden aufzei-
gen, aus welchen Elementen eine wissenschaftliche Schrift besteht und wie sie
aufgebaut und formuliert sein sollte.
20 Die Wichtigkeit von Unterscheidungen

Auf der zu diesem Buch gehörenden Produktseite finden Sie zu diesem Themenblock
t Text 09: Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft
http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9

t Kapitel 8: Dem Zuhören, Reden und Schweigen (Kap. 6) wie auch dem Lesen
und Schreiben (Kap. 7) liegt ein Denken zugrunde, im wissenschaftlichen
Selbstverständnis vor allem das ‚erkennende Denken‘. Nachdem allerdings
erkannt (!) wurde, dass selbst wissenschaftliches Denken sich nicht allein auf
Rationalität reduzieren lässt, sondern neben Wertungen und Vorlieben immer
auch Emotionen im Spiel sind, werfen wir auch hier einen Blick auf die andere
Seite des rein rationalen, vernunftbetonten Denkens: das gefühlssensible Denken
und die Idee einer emotionalen Intelligenz.
Während sich unser Denken, ob rational oder emotional, in der Abgeschiedenheit
unseres Bewusstseins abspielt, verlangt die Wissenschaft, dass wir das Gedachte
präsentieren. Als andere Seite unseres inneren Denkvorgangs sprechen wir die
Präsentation als die Veröffentlichung unserer Gedanken an: Wie präsentiere
ich wissenschaftliche Inhalte so, dass sie die Aufmerksamkeit des Publikums
binden und für einen möglichst hohen Erkenntnisgewinn sorgen? Was ist eine
‚gelungene‘ Präsentation? Wovor sollte man sich bei einer Präsentation hüten?

t Kapitel 9: In diesem Kapitel erfahren Sie alles Wissenswerte über wissenschaft-


liche Manuskripte. Neben den Formalien der Manuskriptgestaltung lernen Sie
die Grundelemente eines wissenschaftlichen Manuskripts kennen wie auch
die wichtigsten Manuskripttypen, die Ihnen im Studium und darüber hinaus
begegnen. Zudem werden alle wichtigen praktischen Fragen zur Gestaltung
einer schriftlichen Arbeit beantwortet, vom Schriftbild über die Gestaltung
von Titelblättern, Überschriften, Verzeichnissen bis hin zum Umgang mit
Abkürzungen. Zusätzlich werden Muster der Manuskriptgestaltung angeboten.

t Kapitel 10: Im Anschluss an die Formalien und Muster werden die wichtigsten
Regeln des korrekten Zitierens zusammengestellt. Wir wagen auch hier einen
Blick auf die andere Seite des wissenschaftlichen Anstands: aufs Plagiat. Wo
verläuft die Grenze zwischen dem, was ich ohne Quellenangabe übernehmen
darf und dem, was unbedingt zitiert werden muss? Welchen Stellenwert hat die
Unterscheidung von Zitat und Plagiat im Zeitalter des Copy & Paste eigentlich
noch? Wie sollten wir mit den althergebrachten Ansprüchen ans korrekte Zitie-
ren im digitalen Zeitalter umgehen? Was ist eine vertretbare Haltung gegenüber
dem Plagiat, jenseits von Dramatisierung und Bagatellisierung?
Die Wichtigkeit von Unterscheidungen 21

Auch im zweiten Hauptteil unserer Einführung ins wissenschaftliche Denken und


Arbeiten, der sich den Techniken und Formalien widmet, geht es nicht nur um die
schlichte Vermittlung einer korrekten Form, sondern auch hier bleiben wir unserem
Interesse an Unterscheidungen treu und wagen Seitenblicke auf Abweichungen
und Alternativen. Da es nach dem hier vertretenen Ansatz immer um das Balan-
cieren einer Unterscheidung, um das reflektierte Abwägen zwischen zwei Seiten
geht, wäre es ein gravierender Irrtum zu glauben, wissenschaftliches Denken und
Arbeiten ließe sich standardisieren oder technisieren. An guten Ratschlägen in
diese Richtung fehlt es nicht.10 Doch sie sind von begrenztem Wert, zumal dort,
wo einem die Eigenwilligkeit der Akteure und die Komplexität des Gegenstandes
einen Strich durch die Rechnung machen. Wissenschaftliches Tun ist ebenso wenig
standardisier- und technisierbar wie erzieherisches, helfendes oder künstlerisches
Tun. Wo wir es mit Menschen und mit zwischenmenschlichen Beziehungen und sozi-
alen Beziehungsgeflechten zu tun bekommen, versagen alle Technisierungsversuche.
Nicht technisches Wissen, sondern vor allem ein ausgeprägtes Problembe-
wusstsein, ein entwickeltes Reflexionsvermögen und ein breit aufgestelltes und
geschmeidig einsetzbares Handlungsrepertoire sind im Umgang mit Menschen
und ihren Problemen gefragt. Deshalb geht es zusätzlich zu dem verfügbaren ins-
trumentellen Wissen immer wieder um ein reflexives Wissen, mit dessen Hilfe wir
ersteres kritisch befragen können. Nur in der Reflexion können wir unsere Sinne
für den Umgang mit Unterscheidungen schärfen. Nur in der Reflexion können
wir wissenschaftliches Denken und Arbeiten als eine Kunst des Unterscheidens
entfalten. Nur wer frei über seine eigenen Unterscheidungen verfügen kann, wer
selbst zu entscheiden weiß, wofür er sich interessiert und wofür nicht, worauf er
seine Energien richtet und worauf nicht, wie er sich zu möglichen Positionen selbst
positioniert, verfügt über einen freien Geist, der für eine engagierte Wissenschaft
unverzichtbar ist.
Deshalb möchte ich Sie einladen, sich im Umgang mit Unterscheidungen zu
üben: Trainieren Sie sich darin, Ihre Unterscheidungen nicht einseitig zu benutzen,
sondern immer wieder auch die andere Seite zu beleuchten. Versuchen Sie, alles
Unterschiedene einmal umzukehren, fragen Sie nach dem Guten im Bösen und
dem Bösen im Guten. Fragen Sie sich, ob nicht vielleicht das Schöne hässlich und
das Hässliche schön ist. Wie dumm ist der Kluge, und wie klug ist der Dumme? Wie
viel Lüge steckt in der Wahrheit und wie viel Wahres in der Lüge? Ist Gott vielleicht

10 Bedenken Sie bitte: Jeder Ratschlag zur wissenschaftlichen Form und Technik, der
hier wie andernorts erteilt wird, ist nicht nur Rat, sondern auch Schlag. Es steckt darin
etwas Gewalttätiges, Zwanghaftes, Zwingendes, Drillmäßiges, was nicht zum Wesen der
Wissenschaft und schon gar nicht zu einem auf- und abgeklärten Bildungsverständnis
passen will.
22 Die Wichtigkeit von Unterscheidungen

eine Erfindung des Teufels, oder ist der Teufel eine göttliche Erfindung? Nur wer
sich traut, derart radikal das Denkbare zu denken, wird erfahren, worauf er sich mit
wissenschaftlichem Denken und Arbeiten als eine Kunst des Unterscheidens einlässt.

Zur Überprüfung Ihres Lernerfolgs bearbeiten Sie bitte


t Arbeitsblatt 01: Zur Einleitung – Die Wichtigkeit der Unterscheidungen
t Arbeitsblatt 02: Zur Einleitung – Der meckernde Kritiker und sein Kritiker
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
Teil 1
Wissenschaftliches Denken:
Inhalte und Debatten
Wie unterscheidet sich wissenschaftliches
Denken und Arbeiten von anderen Denk- 1
und Arbeitsweisen?
1 Wissenschaftliches Denken und Arbeiten

1.1 Wissenschaftliches Wissen und Alltagswissen


1.1 Wissenschaftliches Wissen und Alltagswissen
Unser Wissen von der Welt geht generell auf Forschung zurück. Forschen ist eine
urmenschliche Tätigkeit, die nicht erst von WissenschaftlerInnen erfunden wurde.
Forschung ist auf Erkenntnisgewinn aus. Bereits als Kleinkinder erforschen wir die
Welt und legen uns nach und nach aufgrund unserer Erfahrungen unsere Vorstel-
lungen und Beschreibungen von der Welt zurecht. Alltagsmenschen wie Wissen-
schaftlerInnen sind ForscherInnen, EmpirikerInnen, die ihr Erfahrungswissen in der
Welt sammeln und zu Theorien zusammenfügen. Nur stellen WissenschaftlerInnen
andere Ansprüche an ihr gesammeltes Wissen als es Alltagsmenschen tun. Es gibt
Gemeinsamkeiten zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen, aber
ebenso auch gewichtige Unterschiede. Rolf Bieker (2011:50) hat Gemeinsamkeiten
wie Unterschiede übersichtlich zusammengestellt (folgende Seite).
Wie die Übersicht zeigt, sammeln und sortieren Alltagsmenschen wie Wissen-
schaftlerInnen Wissen, theoretisieren es und ziehen es zur Erklärung und Prognose
von Ereignissen heran. Im Alltag dient das verfügbare Wissen vor allem der Lösung
praktischer Handlungsprobleme, während die Wissenschaft ihr Wissen nicht un-
bedingt mit diesem Anspruch befrachtet. Das Alltagswissen legt andere, weniger
anspruchsvolle Gütekriterien ans eigene Wissen an als das wissenschaftliche Wissen.
Es verzichtet auf Kriterien wie Zuverlässigkeit, intersubjektive Überprüfbarkeit,
Gültigkeit, Objektivität, methodische Kontrolle, systematische Erhebung, Präzision
der Sprache, Reflexion aller Erkenntnisse, Lernbereitschaft, Dokumentation aller
Erkenntnisschritte, um nur einige zu nennen. Das Alltagswissen ist in Bezug auf
seine Qualität weit aus bescheidener als das wissenschaftliche Wissen.

T. M. Bardmann, Die Kunst des Unterscheidens,


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
26 1 Wissenschaftliches Denken und Arbeiten
1.1 Wissenschaftliches Wissen und Alltagswissen 27

In der phänomenologischen Soziologie unterscheiden Berger und Luckmann (1969)


wissenschaftliches Wissen vom Wissen der Alltagswelt. Letzteres reguliert das Ver-
halten der Alltagswelt in einem basalen Sinne. Es wird als intersubjektiv geltend
vorausgesetzt und hingenommen. Es galt bereits lange bevor man die Bühne des
Lebens betrat. Es bedarf keiner weiteren Verifizierung. Es gilt als selbstverständli-
che, zwingende, natürliche Faktizität. Das Wissen der Alltagswelt gründet in einer
relativ natürlichen Weltanschauung (Scheler) und im praktischen, pragmatischen
und sozial orientierten Handeln. Wenn es ein Gütekriterium fürs Wissen der
Alltagswelt gibt, dann ist es ein äußerst pragmatisches: dass es hilft, den Alltag
möglichst problemlos zu bewältigen.
Die Wirklichkeit der Alltagswelt als Wirklichkeit par excellence, als oberste
Wirklichkeit, birgt in sich umgrenzte Sinnprovinzen, eingeschlossene Enklaven, für
die besondere Formen der Wirklichkeitserfahrung und Bewusstseinsanspannung
typisch sind (etwa die Welt der Träume, der religiösen Erfahrung, der Ekstase, des
Rausches, der theoretischen Reflexion etc.). Neben den (problematischen wie un-
problematischen) Problemen, die zur Alltagswirklichkeit gehören (Lebenskrisen,
Kontakte mit fremden Kulturen, ‚dumme‘ Fragen, wie sie Kinder gern stellen
etc.), bergen diese Enklaven Möglichkeiten, die Gewissheit der Wirklichkeit der
Alltagswelt in Zweifel zu ziehen. Zudem enthält der Wissenspool der Alltagswelt
für jeden Einzelnen unterschiedliche Zonen der Vertrautheit und der Fremdheit.
Über die Schattenzonen des Wissens hilft uns unser ‚Rezeptwissen‘ oder unser
unterentwickeltes pragmatisches Interesse, sprich: unsere Ignoranz und Indifferenz,
hinweg. Das Wissen der Alltagswelt ist sowohl gesellschaftlich wie individuell nach
unterschiedlichen Relevanzstrukturen gegliedert. Im Ganzen gesehen zeichnet sich
die gesellschaftliche Wirklichkeit durch einen verschachtelten Zusammenhang
pluralistischer Relevanzsysteme aus.
Das wissenschaftliche Wissen ließe sich gegenüber dem Alltagswissen dahinge-
hend unterscheiden, dass es sich nicht auf ungeprüfte, beliebige, intuitiv für richtig
empfundene Aussagen verlässt. Es verlässt sich ebenfalls nicht auf die Worte von
Weisen, Erleuchteten, Gurus, Propheten oder Herrschern. Beim wissenschaftlichen
Wissen wird jede Aussage, egal von wem sie stammt, einer methodisch kontrollier-
ten Überprüfung unterzogen, die je nach wissenschaftlichem Gebiet (Realwissen-
schaften/Formalwissenschaften (Mathematik und Logik); Naturwissenschaften/
Sozialwissenschaften/Philosophie) unterschiedlich ausfällt.
28 1 Wissenschaftliches Denken und Arbeiten

1.2 Wissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche


Differenzierung
1.2 Wissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche Differenzierung
Der Vergleich zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen liefert uns
eine erste, grobe Unterscheidung. Die soziologische Differenzierungstheorie (vgl.
Luhmann 1997 und 1987; vgl. die Einträge zu den ausdifferenzierten Funktions-
systemen bei Baraldi, Corsi, Esposito 1997) kann helfen, wissenschaftliches Denken
und Arbeiten spezifischer zu unterscheiden und genauer gegen andere Denk- und
Arbeitsweisen zu profilieren. Sie kann helfen, die eigene Identität, besser: die eigene
Differenz greifbarer werden zu lassen.
Nach Auskunft der Differenzierungstheorie leben wir heute in einer polykontex-
turalen, multizentrischen Gesellschaft, in der von unterschiedlichen Standpunkten
her und aus unterschiedlichen Perspektiven heraus Wissen generiert und genutzt
wird. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Wissens- und Handlungsformen, die
aufgrund gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse in jeweils unterschiedlichen
gesellschaftlichen Kontexten gepflegt werden. Wir müssen das wissenschaftliche
Wissen und Handeln somit nicht mehr pauschal gegen Alltagswissen und All-
tagshandeln profilieren, wir können es gegenüber allen in unserer Gesellschaft
ausdifferenzierten Wissens- und Handlungsformen abgrenzen.
Die moderne Gesellschaft hat sich, so Luhmann, im Zuge ihrer Entwicklung in
Funktionssysteme ausdifferenziert, in denen je eigene Logiken herrschen, je eigene
Denk- und Verhaltensweisen für wichtig und richtig erachtet werden, je eigene
Menschenbilder entworfen und je eigene Werte und Normen hervorgebracht
werden. Die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Systeme bedingt, dass die entwi-
ckelten Denk- und Verhaltensweisen deutlich voneinander abweichen und nicht
unbedingt zueinander passen. Vor allem orientieren sich die jeweiligen Systeme an
je spezifische Leitunterscheidungen, die sogenannten Codes. Auf sie haben sich die
Professionellen wie die Laien, die sich an diesen Systemen beteiligen, einzustellen.
Im Folgenden werden die wichtigsten Funktionssysteme und ihre Denk- und
Handlungsweisen skizziert, um so die Spezifik wissenschaftlichen Denkens und
Handelns im Unterschied zu den Denk- und Handlungsweisen in anderen Funktions-
systemen deutlicher hervortreten zu lassen. Wodurch zeichnen sich wissenschaftliche
Denk- und Handlungsweisen aus?
1.2 Wissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche Differenzierung 29

An der obigen Darstellung der Modernen Gesellschaft sollte vor allem eines auffallen:
Neben dem Funktionssystem Wissenschaft gibt es auch die beiden Funktionssyste-
me Soziale Hilfe und Erziehung. Sie unterscheiden sich in ihrem Tun und Wollen,
in ihrer Praxis und in ihrer funktionalen Ausrichtung deutlich voneinander. Es
stellt sich damit für Sie – dargestellt als kleine Pünktchen in der Umwelt der Ge-
sellschaft –, die Sie ein Studium gewählt haben, das Sie für ein professionelles, d. h.
wissenschaftlich fundiertes Handeln in diesen beiden Feldern qualifizieren soll,
die Frage: „Wie lassen sich die Belange dieser drei Bereiche aufeinander beziehen?“

1.2.1 Wissenschaftliches Denken und Handeln

Wir beginnen unsere Parade unterschiedlicher Denk- und Handlungsweisen mit den
wissenschaftlichen. Wissenschaftliches Denken und Handeln zielt, so erfahren wir
z. B. bei Luhmann (1990b), auf den Zugewinn neuer, wahrheitsfähiger Erkenntnisse
bezüglich einer letztlich verborgen bleibenden Welt. Wissenschaftliche Wahrheit
steht dementsprechend nicht für absolute, irrtumsfreie Erkenntnis oder für eine
Kongruenz von Aussage und Realität, sie steht vielmehr in ihrer objektivistischen
Form für hypothetische Wahrheiten, in ihrer konstruktivistischen Form für Via-
30 1 Wissenschaftliches Denken und Arbeiten

bilität (Gangbarkeit, Brauchbarkeit), grundsätzlich für eine Seite des Codes wahr/
unwahr, der Aussagen sortieren hilft: In der Wissenschaft sind wahre Aussagen
anschlussfähig. Die unwahren sind ebenfalls von Bedeutung, da sie falsche An-
schlüsse markieren, um weitere falsche Anschlüsse zu verhindern. Unwahrheiten
lassen wissen, dass in ihrer Folge mit Enttäuschungen zu rechnen ist.
Die Wissenschaft kommt zu ihren Wahrheiten via Forschung, die selbst unter-
schiedliche Wege geht. Für die Sozialwissenschaften ist insbesondere die Empirische
Sozialforschung von Interesse. Sie gelangt vor allem über qualitativ verstehende
und/oder über quantitativ zählende und messende sowie statistisch kalkulierende
Verfahren zu ihren Erkenntnissen (vgl. statt vieler anderer Aeppli, Gasser, Gutzwil-
ler, Tettenborn 2011, Atteslander 2003, Friedrichs 1990, Flick 1999, Lamnek 1995).
Ein Großteil wissenschaftlichen Denkens und Handelns bezieht sich daher auf die
Frage, welche sozialen Daten wie zu erheben, zu analysieren und zu interpretieren
sind, wozu sie erhoben und wozu sie von wem benutzt werden: Welcher Ausschnitt
sozialer Wirklichkeit soll erforscht werden? In welchem Zusammenhang sollen die
gewonnenen Erkenntnisse Verwendung finden?11
WissenschaftlerInnen betreiben ein spezielles Sprachspiel, bei dem es um die
begriffliche Dekomposition und Rekomposition von Realitätsbeschreibungen geht.
Sie orientieren sich dabei an selbsterwirkten Methoden und Theorien, um wahrheits-
fähige Aussagen über die gemeinten Realitäten zu formulieren. Der Wahrheits-/
Unwahrheitscode ist somit ein kontingentes, systemrelatives Konstrukt, das auf
Entscheidungen bezüglich bevorzugter Methoden und Theorien zurückgeht.
Wahrheit ist das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium des Wis-
senschaftssystems, das die Annahme neuer, unwahrscheinlicher, auch sinnlich
nicht mehr nachvollziehbarer Erkenntnisse wahrscheinlich macht. Die wissen-
schaftliche Wahrheit begründet sich nicht mehr – wie noch zu biblischen Zeiten

11 Forschung soll heute nicht mehr nur von professionellen ForscherInnen aus speziellen
Bezugsdisziplinen betrieben werden. Sie soll zum Teil auch von den PraktikerInnen
vor Ort für die Praxis vor Ort durchgeführt werden (vgl. Schaffer 2009). Deshalb
beginnt die Empirische Sozialforschung, zu einem festen Ausbildungsbestandteil in
einem Studium für soziale Berufe zu werden: Sie soll dazu qualifizieren, fremderzeugte
Forschungsergebnisse für die eigene Arbeit zu nutzen und selbst Forschungen durch-
zuführen, die allerdings typischerweise in einem sehr engen Bezug zur eigenen Praxis
stehen: gemeint ist ‚Praxisforschung‘ (ebd.:9). Angestrebt wird nicht, die in sozialen
Berufen Tätigen zu ForscherInnen zu machen, wohl aber sie mit einem praktischen
Wissen auszustatten, wie Informationen gesammelt, systematisch dargestellt und für
die Dokumentation und Evaluation des eigenen Tuns oder für die Fundierung von
Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen genutzt werden können. Vgl. die
Diskussionen um Sozialarbeitsforschung bei Steinert, Sticher-Gil, Sommerfeld, Maier
(1998) und Steinert, Thiele (2000).
1.2 Wissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche Differenzierung 31

– über Eingebungen oder Erleuchtungen, auch nicht über Evidenz in der Sache oder
über Reputation derer, die eine Behauptung aufstellen. Eine Aussage wird in der
Wissenschaft als wahr akzeptiert, weil die Erkenntnis über die korrekte Befolgung
wissenschaftlicher Programme (Theorien und Methoden) gewonnen wurde und mit
ihrer Hilfe überprüft und nachvollzogen werden kann. Mithilfe anderer Theorien
und anderer Methoden könnte man auch zu anderen Ergebnissen kommen. Die
Theorien und Methoden formulieren die Bedingungen, unter denen Aussagen
gewonnen werden und als wahr oder unwahr gelten.
Anders als z. B. in der Religion, die sich normativ an Glaubenssätze bindet, werden
in der Wissenschaft enttäuschte Erwartungen sogleich geändert. Die Wissenschaft
ist ein lernfreudiger Kontext, der möglichst schnell auf neue Erkenntnisse reagiert
und demgemäß den eigenen Wissenstand korrigiert. Wissenschaft honoriert
begründete Abweichungen. Sie betreibt Forschung, um Neues zu erfahren, nicht
um Altes zu bestätigen. Das macht sie attraktiv für alle Systeme, die sich Vorteile
davon versprechen, sich Umweltveränderungen möglichst schnell anzupassen, so
z. B. die Wirtschaft oder auch die Politik.
Unter konstruktivistischen Prämissen werden Erkenntnisse ohne Kontakt zur
äußeren Realität im ausschließlichen Selbstbezug wissenschaftsinterner Operatio-
nen gewonnen. ‚Objektivität‘ entsteht, wenn man unterschlägt, dass Erkenntnisse
abhängig sind von der Wahl der Methoden und Theorien, von den Entscheidungen
der BeobachterInnen bezüglich der von ihnen benutzten Unterscheidungen. Er-
kenntnis kann sich nicht auf einen äußeren Gegenstand berufen, sondern immer
nur auf Erkenntnisse, also auf Operationen gleichen Typs. Der wissenschaftliche
Erkenntnisprozess ist m. a. W. rekursiv geschlossen: Wissenschaft funktioniert
autopoietisch.
Unter konstruktivistischen Vorzeichen erscheint die Wissenschaft als ein
soziales System, das die Wirklichkeit, die sie auf eigenwillige Weise beobachtet,
selbst konstruiert. BeobachterInnen beziehen keine externe, unabhängige, neutrale
Beobachterposition, sondern sind aktive Teile dessen, was sie beobachten. Es geht
somit um ein Erkenntnisprogramm, das die KonstrukteurInnen der Erkenntnis
einschließt, das – radikal formuliert – Erkenntnis als ihr Produkt erkennt.
Diese Einsicht wird meist nicht mitkommuniziert, wenn die Wissenschaft ihr
Wissen ‚exportiert‘ und anderen Systemen zur Verfügung stellt, z. B. der Wirtschaft,
der Politik, der Medizin, aber auch der Erziehung, der Sozialen Hilfe und der Kul-
turellen Arbeit. Auch die Wissenschaft hält sich an Kommunikationssperren, um
die Wahrscheinlichkeit ihrer Akzeptanz zu steigern.
32 1 Wissenschaftliches Denken und Arbeiten

1.2.2 Massenmediales Denken und Handeln

Journalistische Denk- und Handlungsweisen zielen – anders als die wissenschaft-


lichen – darauf, der gesellschaftlichen Kommunikation eine möglichst aktuelle
Hintergrundrealität zu liefern, von der jeder ausgehen kann, egal, ob er sie bestä-
tigen oder sich von ihr distanzieren möchte. JournalistInnen sind nicht einseitig
darauf verpflichtet, im Sinne der Wissenschaft wahrheitsgemäß zu informieren,
womöglich umfassend, ausgewogen, überparteilich, politisch und pädagogisch
korrekt. Vielmehr haben sie für als bekannt voraussetzbare Realitätsannahmen,
also für ein soziales Gedächtnis zu sorgen, woran in der Kommunikation quasi
reflexionsfrei angeknüpft werden kann.
Das Problem journalistischen Denkens und Handelns liegt nicht in den Versuchen
einer bewussten, strategischen Manipulation im Dienste von Partikularinteressen,
wie sie in der Politik häufig zu beobachten sind. Es liegt grundsätzlicher in der
Konstruiertheit ihrer Darbietungen und ihrer zwangsläufigen Selektivität: Nicht
alles kann kommuniziert werden. Es muss ausgewählt werden.
Im Bereich massenmedialer Kommunikation wirken neben der funktions-
spezifischen Leitunterscheidung, dem Code informativ/nicht-informativ bzw.
aktuell/inaktuell und den Programmen (Nachrichten, Werbung, Unterhaltung) – im
Gegensatz zur Wissenschaft –, vor allem zwei Selektoren: Sendebereitschaft und
Einschaltinteresse. Gesendet wird, was die Auflagenzahlen und Einschaltquoten
erhöht. Es wird somit nach Kriterien ausgewählt, die für die Wissenschaft auf
keinen Fall maßgeblich sein dürfen.
JournalistInnen sorgen – ähnlich wie WissenschaftlerInnen – für eine Steigerung
der Komplexität und der Differenzierung des gesellschaftlich verfügbaren Wissensho-
rizonts. Doch sie tun dies nicht mit dem Ziel, einen gesicherten Wissenskorpus
zu errichten, sondern im Namen der Aktualität, um immer wieder Neuigkeiten
nachzuschießen. Ihr Medium ist nicht die Wahrheit, sondern die Information. Sie
normalisieren die Neu-Gier in den eigenen Reihen und in der Gesellschaft, indem
sie durch ihre Sendungen den Neuheitswert des Gesendeten hervorheben und mit
der Sendung auch schon wieder entwerten. Sie sorgen für eine chronische De-Ak-
tualisierung und einen ständigen Informationsverlust. Sie erzeugen eine Unruhe
und Irritierbarkeit, die sie selbst tagtäglich bedienen. Ihr Publikum muss ständig
auf Überraschungen gefasst sein. Die Gier nach Neuem ist in der massenmedialen
Welt weit rasanter als in der Wissenschaft. JournalistInnen sind weit schneller als
WissenschaftlerInnen, weil ihre Art der Informationsgewinnung anderen, weniger
strengen Anforderungen unterliegt.
JournalistInnen erzeugen keine konsensuelle Welt. Sie leben typisch von und
mit Meinungsverschiedenheiten. Das geht bis zu Selbstdiskreditierungen: Die
1.2 Wissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche Differenzierung 33

eigenen Meldungen werden bestritten, widerlegt, widerrufen. Das Fazit, das man
den Medien entnehmen kann: „Realität ist Konflikt und Meinungsdivergenz:
Jeder sagt etwas anderes.“ Darin ähnelt die Welt der Massenmedien der Welt der
Wissenschaft. Doch während die Wissenschaft noch versucht, auf Konsens hin zu
argumentieren und Überzeugungsarbeit zu leisten, haben die Massenmedien sich
längst auf die Suche nach Abweichungen und Überraschungen und Ausreißern
gemacht. Je krasser und skandalöser diese sind, desto besser.

1.2.3 Künstlerisches Denken und Handeln

Künstlerische Denk- und Arbeitsweisen zielen ebenfalls nicht auf eine realistische
Abbildung der Welt ab, sondern darauf, unwahrscheinliche Formen der Beobachtung
einer beobachtbaren oder unbeobachtbaren Realität zu ermöglichen. Kunst will
die Welt nicht realistisch darstellen – wie große Teile der Wissenschaft – sondern
eigenwillige Kunstobjekte schaffen, die sich von der gängigen Realität abheben und
dabei deren Kontingenz hervorheben: „Alles könnte so oder auch ganz anders sein.“
Die Kunst zwingt – ähnlich der Wissenschaft und den Massenmedien – niemanden
zur Handlung. Sie lädt aber sehr wohl zu einem gewissen Erleben ein, das sich vom
faszinierenden, reizvollen Kunstwerk ästhetisch anstoßen, inspirieren, irritieren,
niemals aber instruieren lässt.
Objekte werden eigens für die Kunst hergestellt und nach dem Code kunstwürdig/
kunstunwürdig oder schön/hässlich ein- oder aussortiert. Kunstwerke haben keinen
außerhalb der Kunst liegenden Nutzen. Sie sind Selbstzweck: l‘art pour l‘art. Sie wer-
den allerdings unter speziellen Beobachtungsbedingungen hergestellt und rezipiert:
BetrachterInnen betrachten das Kunstwerk mit Bezug auf die Beobachtungen der
Künstlerin bzw. des Künstlers, während diese ihr Werk unter dem Gesichtspunkt
herstellen, dass es von BetrachterInnen betrachtet werden wird. Auf beiden Seiten
findet also eine Beobachtung 2. Ordnung (die Beobachtung eines Beobachters) statt.
Das Medium der Kunst sind ihre geformten und gestalteten Werke. KünstlerIn-
nen schaffen mit ihren Werken Überraschungen, die nicht als Zufall, sondern als
künstlerische Absicht interpretiert werden können. Und somit werfen sie die Frage
auf: „Was wollen uns die KünstlerInnen damit sagen?“ Die Kunst programmiert
sich dabei selbst über Stilrichtungen.
KünstlerInnen bieten der Welt eine besondere Form der Selbstbeobachtung an.
Sie lassen die Welt in der Welt erscheinen. Kunst ist insofern nicht nur „Objekt-
kunst“, sondern „Weltkunst“.
34 1 Wissenschaftliches Denken und Arbeiten

In der Kunst ist erlaubt, was neue ästhetische Erfahrungen und Erlebnisse
ermöglicht, selbst wenn dies in Einzelfällen aus Sicht der Erziehung, der Religion,
der Moral oder der Politik als fraglich erscheint.

1.2.4 Religiöses Denken und Handeln

Religiöse Denk- und Handlungsweisen zielen, um es paradox zu formulieren,


auf die Beobachtung des Unbeobachtbaren. Die Wissenschaft könnte sich darauf
nicht einlassen. Wir denken und handeln religiös, wenn wir den Code immanent/
transzendent zum Einsatz bringen, wenn wir also für eine immanente Tatsache nach
einem transzendenten, nicht beobachtbaren Korrelat suchen. Salopp formuliert:
Was im Diesseits passiert, soll – wie immer mysteriös, geheimnisvoll, unergründlich
und paradox vermittelt – seinen Sinn im Jenseits finden. In allem, was auf Erden
geschieht, ist etwas Himmlisches, Göttliches zu sehen.
Gott ist der transzendente Beobachter, der sich selbst jeder Beobachtung und
damit auch jeder Erkenntnis entzieht. Alle Heiligkeit in der Welt ist nur ein Reflex
des unbeobachtbaren göttlichen Beobachters. Als universeller Weltbeobachter, der
alles sieht und alles weiß und in dem alle Unterscheidungen zusammenlaufen
und aufgehoben sind (Nikolaus von Kues spricht von Gott als die coincidentia
oppositorum), bleibt Gott den Menschen unbeobachtbar. Gott erschließt sich in
der jüdisch-christlichen Tradition nur als interpretationsoffener Text in Form der
Heiligen Schrift, niemals aber als anschauliches Bild. Um das Jenseits, um Gott,
um die Schrift nicht willkürlich zu deuten, werden Interpretationen auch gegen
widersprechende Interpretationen tradiert. Wir sprechen von der Programmierung
der Religion durch Dogmatiken.
In den Hochreligionen wird der religiöse Code mithilfe der Moral programma-
tisch ausformuliert: Das Gute zu tun, das Böse zu meiden, entspricht dem Willen
Gottes, der seine Souveränität gegenüber allen Unterscheidungen beweist, indem
er auch schlechte Handlungen zulässt und dem Menschen als Gipfel der Schöpfung
Wahlfreiheit konzediert.
Das Medium der Religion ist der Glaube.
Das religiöse Denken ist das einzige, das Menschen trotz aller anderweitigen
Exklusionen inkludiert, selbst und gerade Mörder, zum Tode Verurteilte, unheil-
bar Kranke, Arbeitslose, Analphabeten, Unerziehbare, Versager, Alleinstehende,
politisch Entrechtete, gesellschaftlich Geächtete, kurzum: Religion inkludiert die
an den Rand der Gesellschaft Geratenden oder Gedrängten und Ausgeschlossenen,
denn: Vor Gott sind alle Menschen gleich.
1.2 Wissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche Differenzierung 35

1.2.5 Politisches Denken und Handeln

Politische Denk- und Arbeitsweisen zielen auf die Gewährleistung kollektiv verbind-
licher Entscheidungen. Um dies in einer Gesellschaft mit divergierenden Interes-
sen zu ermöglichen, ist Macht (nicht unbedingt wissenschaftliche Wahrheit!) als
Medium der Kommunikation erforderlich, die im Extrem in Form der physischen
Gewalt zum Einsatz kommt.
In der Politik zählt der Code Regierung/Opposition: Wer regiert, verfügt über
die Machtressourcen zur Durchsetzung politischer Entscheidungen, die in demo-
kratischen Systemen aufgrund von Diskussionen und Debatten zustande kommen.
Wer die Staatsämter nicht innehat, wird regiert. In demokratischen Systemen bleibt
Letzteren die Position der Opposition, die die Aufgabe übernimmt, die Regierungs-
entscheidungen zu kritisieren.
Regierungen und Oppositionen können entsprechend geltender Verfahren
wechseln. PolitikerInnen schreiben politische Programme (progressive/konserva-
tive, linke/rechte, expansive/restriktive, wohlfahrtsstaatliche/neoliberale etc.). Sie
programmieren darüber die Politik und versuchen zugleich, darüber in die Gunst
der WählerInnen und über sie in die Regierungsämter zu gelangen. Die BürgerIn-
nen beobachten die PolitikerInnen (hoffentlich) daraufhin, welche Programme sie
vertreten, und die PolitikerInnen beobachten die BürgerInnen daraufhin, wem sie
ihre Stimme geben.
In der Politik ist erlaubt, was für WählerInnenstimmen sorgt, auch wenn das
manchen WählerInnen nicht gefallen mag. Selbst Unwahrheiten, wissentliche
Fehlinformationen und Selbstwidersprüche werden zuweilen als legitim erachtet,
wenn es die Staats- oder Parteiraison verlangt. PolitikerInnen sind – anders als
WissenschaftlerInnen – nicht der Wahrheit verpflichtet, wohl aber dem Wohl des
Staates, des Volkes und dem Wohl ihrer Wählerschaft.

1.2.6 Juristisches Denken und Handeln

Rechtliche Denk- und Arbeitsweisen zielen auf die Entscheidung von Konflikten,
die sich nicht von selbst entscheiden (vgl. Luhmann 1993c). Dazu werden alle nur
denkbaren Fälle juristisch nach dem Code recht/unrecht unterschieden. Das Recht
will für alle möglichen Konfliktfälle normative Erwartungen durch Kodifizierung
erwartbar und kommunikabel machen, und zwar so, dass sie in der Kommunika-
tion nicht nur geäußert, sondern auch (machtgedeckt) zur Anerkennung gebracht
werden können. Das Recht dient der Normsicherheit einer Gesellschaft im Medium
36 1 Wissenschaftliches Denken und Arbeiten

der Rechtsprechung und des Rechtsvollzugs. Die Programmierung des Rechts ist
festgeschrieben in den Gesetzen samt den Gesetzen zur Gesetzesänderung.
Das rechtliche Denken und Handeln wirkt nicht per se konfliktvermeidend,
-schlichtend oder -bereinigend. Recht bietet auch gute Gelegenheiten zur Kon-
fliktentfachung, zur Ausweitung oder Umformung von Konflikten. Unter Berufung
aufs Recht lassen sich Zumutungen zurückweisen; Recht gibt Rückendeckung und
macht sozialen Druck erträglich; Recht legt Ansprüche nahe, die zuvor nicht im
Blick waren; Recht fördert eine Motivbildung, die sich nur noch auf das rechtlich
Durchsetzbare kapriziert.
Das rechtliche Denken und Handeln arbeitet stets mit den Schablonen des
Gesetzes und zeigt deshalb in vielen Fällen zu wenig Situations- und Einzelfallsen-
sibilität, zu wenig Feinsteuerung, zu wenig Empathie. ‚Ohne Ansehen der Person‘
nimmt das Recht häufig zu wenig Rücksicht auf die psychische, biografische und
sozialpsychologische Tiefenstruktur laufender Konflikte, auf die ideosynkratischen
Motivlagen, die persönlichen Empfindsamkeiten, auf die milieuspezifischen Be-
sonderheiten und auf die konkreten Bedingungen des Anfangs und der Dynamik
des laufenden Konflikts.
Das Recht kann nicht die psychischen und sozialen Konflikte lösen, um die es
ursprünglich geht, sondern nur die, die es selbst vorsieht und die es in der Rechts-
sprache (re-)konstruieren kann. Wo die Beteiligten Wert auf eine irgendwie geartete
Fortsetzung ihrer Beziehung legen, ist Rechtsprechung kein gutes Mittel der Kon-
fliktlösung. Es zeigt, dass sich die Beziehung nicht aus sich selbst heraus reparieren
kann, dass die Beteiligten nicht willens oder in der Lage sind, sich selbst zu einigen.
So oder so macht es Defizite deutlich, statt vorhandene Ressourcen zu mobilisieren.
Womöglich bringen Rechtsstreitigkeiten auch Dinge völlig ungeschützt zur Sprache
(‚schmutzige Wäsche waschen‘), die als ‚Beziehungslügen‘ bislang sorgsam gehütet
wurden und die nach ihrer Äußerung ein Zusammenleben nicht mehr zulassen.
Zudem werden in einem Rechtsverfahren die Konfliktparteien tendenziell entmün-
digt, wenn sie erst einmal das Recht und seine ExpertInnen sprechen lassen. All
dies spricht für eine Alternative zur Rechtsprechung: die Mediation.
Das Recht ist zudem konservativ und traditional. Es schützt die Normen. Es
behindert Lernen. Und: Es kann viel Zeit und viel Geld kosten. Das Recht ist mithin
in mehr als einer Hinsicht eine teure Angelegenheit.
Recht behauptet nicht, im Sinne der Wissenschaft ‚wahr‘ zu sein, es behauptet,
‚rechtens‘ zu sein. Es beruft sich heute weder auf Gott noch auf Natur, noch auf
Tradition, sondern auf die Korrektheit seiner Satzung und seiner Verfahren.
1.2 Wissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche Differenzierung 37

1.2.7 Wirtschaftliches Denken und Handeln

Wirtschaftliche Denk- und Arbeitsweisen zielen auf die Allokation knapper Güter
mithilfe von Preisen. Die Wirtschaft funktioniert aufgrund von Geldzahlungen für
knappe Güter, Dienstleistungen oder Geld. WirtschaftlerInnen fokussieren alles
nach dem Code Eigentum/Nicht-Eigentum: Alle eigentumsfähigen Güter könnte
man haben, dann wäre man Eigentümer, oder man könnte sie nicht haben, dann
wäre man Nicht-Eigentümer. Genau daraus ergibt sich die Möglichkeit des Tausches
und der Zirkulation der Güter.
Die Leitunterscheidung haben/nicht-haben wird über das Medium Geld (Preise)
zweitcodiert mithilfe der Unterscheidung zahlen/nicht-zahlen. Wer eine gewisse
Geldsumme, den Preis, zahlt, kann Eigentümer werden, ist danach aber eben diese
Summe seines Geldes los. Wer nicht zahlt, bleibt Nicht-Eigentümer, hat aber sein
Geld behalten. So kommt es zu einem Doppelkreislauf von hab- und nicht-hab-
baren Gütern und gezahltem und nicht-gezahltem Geld. Damit werden auch die
Knappheiten verdoppelt: Neben knappen Gütern gibt es jetzt auch knappes Geld.
Vor diesem Hintergrund programmiert sich die Wirtschaft über Budgets.
Als Grund für Zahlungen gilt fremdreferentiell die Befriedigung menschlicher
Bedürfnisse, natürlicher wie künstlich geschaffener. Wirtschaftlich selbstreferentiell
kommt eine Zahlung zustande, wenn der Preis ‚stimmt‘. Die Wirtschaft drückt
ihre Umweltbezüge über Preistaxierungen aus. Sie ermöglicht über die Bilanzie-
rung von in Preisen zu berechnenden Kosten und Erträgen eine rein ökonomische
Kalkulation von Zahlungen.
WirtschaftlerInnen beobachten den Markt als innere Umwelt der Wirtschaft,
als den Ort, an dem sich an den eigenen Aktivitäten Umweltentwicklungen ablesen
lassen. ProduzentInnen und KonsumentInnen beobachten sich und andere Markt-
teilnehmerInnen daraufhin, wie sie sich und andere beobachten und gewinnen
daraus Anhaltspunkte für ihre Produktions-, Investitions- und Konsumptions-
entscheidungen und -pläne.

1.2.8 Familiäres Denken und Handeln

Familiäre bzw. intime Denk- und Handlungsweisen zielen in einer anonym kons-
tituierten, modernen Gesellschaft darauf ab, die faktische Bedeutungslosigkeit eines
einzelnen Menschen zu kompensieren und ihn als ganze Person anzunehmen. In
der Familie wird der Mensch (im Idealfall) als Individuum behandelt. Und alles,
was ihm diesseits oder jenseits der Familie, also in der Schule, am Arbeitsplatz,
im Schlaf oder im Rausch, im Verkehr oder in der Freizeit passiert, wie gewichtig
38 1 Wissenschaftliches Denken und Arbeiten

oder belanglos es auch sei, wird hier als potentiell relevant behandelt. Alles, was für
die Person von Bedeutung ist, kann auch in der Familie bzw. der Intimbeziehung
bedeutsam werden.
Familienmitglieder betreiben intime statt der sonst in der Gesellschaft üblichen
anonymen Kommunikation. Es herrscht der Code intim/anonym bzw. famili-
enzugehörig/nicht zugehörig. Intimität entsteht, wenn die Welt eines Menschen
für einen anderen Menschen relevant wird und dies auf Gegenseitigkeit beruht.
Nichts Persönliches sollte unterschlagen werden. Vor dem anderen sollte niemand
Geheimnisse haben. Intimität steht infrage, wenn Nachfragen mit: „Das geht Dich
nichts an!“ beantwortet werden und dies nicht als eine vorübergehende Verschlos-
senheit weginterpretiert werden kann. Vom Prinzip her darf nichts Persönliches der
Kommunikation entzogen werden. Intime Kommunikation thematisiert potentiell
alles, was die Person betrifft, wie sie denkt, versteht, hört, wahrnimmt, spricht,
sieht, fühlt, empfindet. Kinder, die erwachsen werden und ‚Abtrünnige‘, die sich
aus der Enge der Familie befreien möchten, empfinden diese Form der Sensibilität
häufig als Zumutung.
Die PartnerInnen beobachten die PartnerInnen und wie sie sie als PartnerInnen
beobachten. Auch hier findet permanent Beobachtung 2. und höherer Ordnung statt.
So ist die familiäre Kommunikation höchst sensibel für persönliche Stimmungen
und Stimmungsschwankungen – ob es den Familienmitgliedern gefällt oder nicht.
Familien sind den Marotten, Krisen und Krankheiten ihrer Mitglieder schutzlos
ausgeliefert. Sie können von einzelnen Mitgliedern terrorisiert werden.
Die Liebe ist das Medium der Intimbeziehung (vgl. Luhmann 1982). Sie durchzieht
(im Idealfall) den familiären Alltag. Sie dient auch dazu, neue Familienbildungen
anlaufen zu lassen. Zunächst bindet sie die Kinder an die Familie; dann sorgt sie
dafür, dass sie sich anderweitig binden und eigene Familien gründen können. Der-
zeit scheinen Intimbeziehungen sich nach den Prinzipien der Romantischen Liebe
einerseits und der Partnerschaftlichkeit andererseits zu programmieren.
Liebe scheint allerdings nur noch in zunehmend seltener werdenden Fällen
zeitbeständig zu sein. Sie kommt und geht und wandelt sich (im Idealfall) in Ver-
trautheit. Wo die Liebe schwindet (und durch keine Therapie zu retten ist), wird
eine Trennung wahrscheinlich. Die Sprache der Liebe mutiert dann leicht zu einer
Sprache des Rechts, des Geldes oder gar der Gewalt.
Die Liebessemantik vermag nicht alle familienrelevanten Kommunikationen zu
strukturieren. In den Familien müssen auch schon mal ‚ernste Worte‘ gesprochen
und handgreifliche Probleme gelöst werden. Es bleibt die Hoffnung, dass beides
‚liebevoll‘ geschieht.
1.2 Wissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche Differenzierung 39

1.2.9 Medizinisches Denken und Handeln

Medizinische Denk- und Handlungsweisen kümmern sich um die organische


und mentale Gesundheit der Menschen, sobald Krankheit diagnostiziert wird.
Die Leitunterscheidung, an der sich MedizinerInnen orientieren, ist also der Code
gesund/krank. Ähnlich wie im Falle der Erziehung und der Sozialen Hilfe zielt
medizinisches Denken auf ein Umweltsegment der Gesellschaft, in diesem Fall
das organische und psychische System des Menschen.
Entsprechend ausgefeilter Programme der Diagnostik, Therapie und Pflege werden
die Kranken als akute Fälle identifiziert und behandelt, während die Gesunden als
potentielle Fälle betrachtet werden. Was als gesund oder krank gilt, wird noch heute
meist unter MedizinerInnen ausgehandelt. Der Umstand, dass Kommunikation
über Krankheit im System anschlussfähig ist, Kommunikation über Gesundheit
aber kaum, macht verständlich, warum es nur eine Gesundheit, aber Unmengen
an Krankheiten gibt.
Der Fokus der MedizinerInnen liegt auf dem beseelten Körper des Menschen.
PatientInnen sind das Medium der Medizin.
Während Alltagsmenschen häufig erst aufgrund von Schmerzen ihren Körper
einer medizinischen Behandlung überantworten, verlassen sich MedizinerInnen
heute nicht mehr nur auf das Warnsystem ‚Körper‘. Sie setzen auf medizininterne
Vorsorgeuntersuchungen, dank derer weit vor dem Schmerz und jenseits allen
Empfindens Krankheiten ermittelt werden können. Unter dem Titel Prophylaxe
nimmt die Medizin zudem die gesamte Lebensführung unter dem Gesichtspunkt
in den Blick, welche Krankheits- und Gesundheitsrisiken mit bestimmten Formen
des Handelns und Erlebens in Arbeit und Freizeit, bei der Ernährung und beim
Konsum verbunden sind. Auf diese Weise erfasst die Medizin die ganze Gesell-
schaft und zeigt ihre Wirkkraft über die engen Grenzen von Arztpraxen und
Krankenhäusern hinaus.
Die moderne Medizin beruft sich auf die Wissenschaftlichkeit ihres Wissens,
muss allerdings auch zugestehen, dass es Heilverfahren gibt, die sich wissenschaft-
lich nicht erklären lassen.

1.2.10 Erzieherisches Denken und Handeln

Erzieherische Denk- und Handlungsweisen, und damit kommen wir zum eigenen
professionellen Feld, zielen ab auf die Veränderung von Menschen (psychischen
Systemen) durch Lernen zum Zwecke der Persönlichkeitsbildung und -entwicklung,
der Individualisierung und der Emanzipation wie aber auch der besseren Anpassung
40 1 Wissenschaftliches Denken und Arbeiten

an gesellschaftliche Anforderungen bzw. der effektiveren Veränderung gesellschaft-


licher Verhältnisse entsprechend persönlicher Bedürfnisse.
Im Erziehungskontext werden Menschen, insbesondere Kinder – dank entspre-
chender wissenschaftlicher Theorien – als besonders modellierbar bzw. lernfähig
angesehen. Selbst Erwachsene können sich noch im hohen Alter weiterbilden
(lebenslanges Lernen). Das Medium der Erziehung ist das bildbare Kind, seine
Intelligenz bzw. sein Lebenslauf.
Die Erziehung ist wegen der Komplexität des Menschen (vgl. Kap. 4.2), der er-
zogen werden bzw. sich bilden soll, und der Komplexität der Bedingungen, unter
denen dies passieren soll (Unterricht, Elternhaus, Peergroups, Medien, virtuelle
Gemeinschaften, gesellschaftliche Verhältnisse), nicht technisierbar (vgl. Luhmann,
Schorr 1982). Die Programmierung erfolgt über Lehrpläne, Methodiken und Didak-
tiken, die allerdings Rücksicht nehmen müssen auf die Individualität eines jeden
einzelnen Schülers bzw. einer jeden einzelnen Schülerin und die Dynamiken der
individuellen Lernprozesse.
Eine Paradoxie der Erziehung steckt darin, dass sie einen mehr oder weniger
sanften Zwang auf ihre Zöglinge ausüben muss, um deren Freiheit (Autonomie) zu
entfalten. In der Erziehung ist erlaubt, was dem Wohle und der Entwicklung des
zu erziehenden Menschen dient.
Der Erziehung ist daran gelegen, den ihr anvertrauten Menschen die Gelegen-
heit zu bieten, sich selbst zu bilden bzw. sich ausbilden zu lassen (vgl. Kap. 3). Sie
dient der Gesellschaft als Bildungs- aber auch als Selektionsinstanz für die an den
Schulbesuch anschließenden Karrieren. In den Organisationen des Erziehungs-
systems, den Schulen und Hochschulen, wird markiert, wer wie erfolgreich die
Lernprogramme absolviert hat. Die Leitunterscheidung, an der sich die Erziehung
orientiert, ist daher der Code besseres/schlechteres Lernen, ausgedrückt in Noten,
Zertifikaten, Gutachten. Natürlich entscheiden Zeugnisse dieser Art nicht das
nachfolgende Leben, aber sie erleichtern oder erschweren den Einstieg in bestimmte
Laufbahnen, die sich immer noch an Schulnoten orientieren.

1.2.11 Sozialarbeiterisches Denken und Handeln

Sozialarbeiterische Denk- und Handlungsweisen zielen darauf ab, die Probleme zu


bearbeiten, die in den oben genannten Systemen der modernen Gesellschaft zwar
erzeugt aber nicht gelöst werden. SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen
bearbeiten die liegengelassenen Probleme der anderen Systeme, genauer: Sie bemühen
sich darum, dass möglichst alle Menschen an allen Funktionskontexten teilhaben
können (Inklusion). Wer aus einzelnen oder mehreren Systemen ausgeschlossen
1.2 Wissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche Differenzierung 41

wird (Exklusion), wer z. B. keine Arbeit, kein Geldeinkommen, keine Wohnung,


keinen Ausweis, keinen Rechtsschutz, keine politische Beteiligung, keine schulische
Bildung, keine medizinische Versorgung, keine (stabile) Intim- bzw. Familienbe-
ziehung etc. hat, wird von der Sozialen Hilfe inkludiert.
SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen folgen den Prinzipien der Gleichheit
aller Menschen und dem Prinzip der Gerechtigkeit. Und deshalb verstehen sie es als
ihre Aufgabe, Exklusionen und deren spill-over-Effekte zu vermeiden, abzumildern,
einzugrenzen und zu kompensieren. Sie bearbeiten Exklusionsrisiken mittels Ex-
klusionsvermeidung, Inklusionsvermittlung, Exklusionsbetreuung und -verwaltung
(vgl. Bommes, Scherr 1996).
Alles, was in den Fokus der Sozialen Hilfe gerät, gerät entsprechend dem Code
helfen/nicht-helfen in den Blick: Problematische Lebenssituationen werden danach
beurteilt, ob es sich dabei um besondere oder nicht-besondere Ungleichheitslagen
handelt. Nur die besonderen werden als soziale Problemlagen behandelt und zu
Fällen der Sozialen Hilfe deklariert. Diese gilt es, organisiert und gegen Entgelt,
programmatisch orientiert an den gegebenen Hilfsprogrammen und dem Stand
wissenschaftlicher Erkenntnisse entsprechend zu bearbeiten.
Ähnlich wie die Erziehung und die Medizin bezieht sich auch die Soziale Hilfe
auf ein Umweltsegment der Gesellschaft, nämlich auf Menschen. Sie bezieht sich auf
jene, die aus anderen Systemen ausgeschlossen wurden und deshalb ins System der
Sozialen Hilfe eingeschlossen werden. Im System erscheinen die Fälle als KlientInnen,
die sich nicht aus eigener Kraft zu helfen vermögen und deshalb auf die Hilfe durch
die Soziale Hilfe angewiesen sind. Der Klient ist das Medium der Sozialen Hilfe
wie es das Kind für die Erziehung und der Patient für das Gesundheitssystem ist.
Hier nun erscheinen einige Paradoxien, die die Soziale Hilfe unter Verdacht
geraten lassen:

t Sie muss diejenigen, denen sie helfen will, für hilflos erklären (Stigmatisie-
rungsverdacht).
t Sie profitiert immer auch selbst von der Hilfe, die sie anderen bietet (Motiv-
verdacht).
t Sie verschärft oder erzeugt womöglich durch ihr Tun die Probleme, die sie zu
lösen vorgibt (Effizienzverdacht).

Die Werte des Sozialarbeiterischen bzw. Sozialpädagogischen sind ‚Soziale Gerech-


tigkeit‘, ‚Menschenwürde‘, ‚Chancengleichheit‘, ‚Solidarität‘, ‚Mitmenschlichkeit‘.
Sie lassen sich nicht wissenschaftlich begründen, sondern müssen diskursiv erwirkt
und ethisch vertreten werden. Deshalb sind Ethiken, die sich keiner Organisations-
42 1 Wissenschaftliches Denken und Arbeiten

oder Programmraison unterwerfen, unverzichtbarer Bestandteil dieser Profession


(vgl. Schmid Noerr 2012).
Auch wenn sich die für die Arbeit unverzichtbaren Werte wissenschaftlich nicht
abschließend begründen lassen, fußt die professionelle Erziehung und professionelle
Hilfe heute auf einer wissenschaftlich fundierten fachlichen Ausbildung. Soziale
Berufe, bei denen es darum geht, andere Menschen zu bilden, zu erziehen oder
ihnen beizustehen, haben ihre Wurzeln im Voraussetzungslosen, wurden aber im
Zuge ihrer Entwicklung professionalisiert und verwissenschaftlicht. Das bedeutet:
Auch wenn Sie selbst keine WissenschaftlerIn werden wollen, kommen Sie in der
heutigen Zeit in Ihrer Berufswelt nicht mehr an einer Auseinandersetzung mit
wissenschaftlichem Wissen vorbei.

1.3 Ein Resümee


1.3 Ein Resümee
Wir haben in diesem Kapitel wissenschaftliches Wissen und Alltagswissen unter-
schieden und verdeutlicht, wie sich das wissenschaftliche Denken und Handeln
von anderen Denk- und Handlungsweisen in anderen gesellschaftlichen Kontexten
unterscheidet. Es wurde herausgestellt, dass einer der wichtigsten Unterschiede
in der Orientierung an verschiedenen Leitunterscheidungen, den sogenannten
Codes, zu sehen ist: Wo es der Wissenschaft bzw. den WissenschaftlerInnen darum
geht, wahre von falschen Aussagen zu unterscheiden, da bemühen sich die Mas-
senmedien bzw. die JournalistInnen um aktuelle statt inaktuelle Informationen.
Der Kunst bzw. den KünstlerInnen geht es um kunstvolle Beobachtungsvarianten
dieser Welt, egal ob sie wahr oder erfunden, möglich oder unmöglich, aktuell
oder inaktuell sind, Hauptsache, sie sind kunstwürdig und nicht kunstunwürdig.
Die Religion beobachtet die immanente Welt auf transzendente Aspekte hin. Die
Politik bzw. ihre PolitikerInnen sind stets und ständig mit der Unterscheidung
Regierung und Opposition befasst: Darf regiert werden oder muss opponiert
werden? Können Entscheidungen durchgesetzt werden, oder können nur die
Entscheidungen anderer kritisiert werden? Das Recht bzw. seine Juristen wachen
über die Unterscheidung von Recht und Unrecht, was uns Alltagsmenschen nicht
immer ‚gerecht‘ erscheint. Die Ökonomie und die Ökonomen denken vor allem
in Preisen und fragen sich: Ist jemand bereit zu zahlen, oder will er lieber nicht
zahlen? Wechselt Gut und Geld die BesitzerInnen oder nicht? In der Familie zählt
vor allem, ob man zur Familie gehört und somit in die intime Kommunikation
einbezogen wird oder ob man nicht zur Familie gehört und sich deshalb mit
anonymer Kommunikation zufrieden geben muss. In der Medizin geht es um
1.3 Ein Resümee 43

den Unterschied, ob ein Mensch gesund oder krank ist. Die Kranken werden von
den Fachleuten behandelt, die Gesunden werden aus dem System entlassen und
allenfalls mit Prophylaxen an das medizinische System gebunden. Während die
Erziehung und ihre ErzieherInnen die Menschen nach ihren Lernleistungen ein-
ordnen – besser oder schlechter lernend –, fragt die Soziale Hilfe vor allem danach,
ob die Menschen hilfsbedürftig oder ob sie nicht hilfsbedürftig sind: Werden sie
zu Fällen der Hilfe, oder können sie sich selber helfen? Während die Erziehung
Karrieren vorbereitet, bemüht sich die Soziale Hilfe, Krisen zu verhindern.
Damit wird deutlich, dass die ganze Gesellschaft sich in der Unterschiedlichkeit
ihrer Subsysteme vor allem über Unterscheidungen verständlich und zugänglich
macht. Wer mit ‚falschen Unterscheidungen‘ in Kontexten etwas ausrichten möch-
te, die gar nicht auf diese Unterscheidungen hin ausgelegt sind, darf sich nicht
wundern, wenn er mit seinen Bemühungen scheitert.12 Erfolgreiches Handeln
ist immer kontext-, d. h. codesensibles Handeln. Es setzt zunächst einmal bei den
jeweils vorherrschenden Unterscheidungen an, um überhaupt Resonanz in den
Systemen zu erzeugen. Wir müssen in den sozialen Berufen nicht nur unsere
KlientInnen dort abholen, wo sie stehen, wir müssen auch lernen, die Systeme auf
das hin anzusprechen, worauf sie ansprechbar sind. Wir müssen uns auf deren
Empfänglichkeiten und Empfindsamkeiten einstellen, um unsere Belange dort
einzubringen. Als Professionelle müssen wir die Sprache der KlientInnen und die
Sprache der Systeme sprechen lernen. Das macht die Besonderheit sozialer Berufe
aus, dass sie im Interesse ihrer Klientel Vernetzungsarbeit leisten und dazu nicht nur
den pädagogischen, psychologischen, moralischen, sondern auch den politischen,
den wirtschaftlichen, den juristischen, den medizinischen, den wissenschaftlichen
Jargon beherrschen müssen. Je nachdem, an welcher systemischen Kommunikation
wir Anschluss suchen, müssen wir die Sprache wechseln. Wir müssen als Netz-
werkerInnen in allen Sprachen Zuhause sein. Wir müssen uns unterschiedlichste
Eigenschaften zulegen. Eigenschaftslosigkeit ist geradezu die herausragende und
maßgebliche Eigenschaft einer sozialen Profession (vgl. Bardmann 1996), da sie

12 Von der Religion Aktualität oder klare politische Statements zu erwarten, ist ebenso
naiv, wie von der Wissenschaft Liebe oder Unterhaltung einzufordern. Die Medizin
wird uns keine Fragen zum Leben nach dem Tod beantworten, wie uns die Ökonomie
nicht den Sinn fürs Leben vor dem Tod spendieren kann. Wir sollten von der Politik
nicht erwarten, dass sie die Probleme der Wirtschaft, der Medien, der Erziehung oder
der Wissenschaft löst. Wir können allerdings fordern, dass sie kluge, umsichtige und
nachhaltige Entscheidungen trifft, wie immer in anderen Systemen damit umgegangen
wird. Das Recht kann nur Rechtliches, das Militär nur Militärisches und die Wissenschaft
nur Wissenschaftliches bewirken. Die Erziehung wie die Soziale Hilfe können in ihrem
Bemühen um Erziehung und Hilfe nur erfolgreich sein, wenn sie diesen Umstand für
sich zu nutzen wissen.
44 1 Wissenschaftliches Denken und Arbeiten

stets und ständig zwischen den Systemen und den Systemebenen switchen und
vermitteln muss. ‚Ohne Eigenschaften‘ zu sein, heißt nach Robert Musils Roman
Der Mann ohne Eigenschaften (1978:151ff.), es zu allen Eigenschaften ‚gleich nah
und weit‘ zu haben, zu keiner Eigenschaft einen vorweg präferierten Bezug zu un-
terhalten. Eine eigenschaftslose Profession entscheidet in der jeweiligen Situation,
welche Eigenschaften sie annimmt und welche sie ablegt, welche Form sie sich gibt,
welche Sprache, welchen Jargon sie spricht, welcher Handlungslogik sie folgt. Eine
‚Profession ohne Eigenschaften‘ ist in den Worten Heinz von Foersters (1993:71)
ihr eigener Regler. Sie weiß die Wissenschaft als ein System unter vielen anderen
Systemen, auf deren Leistungen sie nach eigenen Maßgaben und je nach Bedarf
zugreift. Sie lässt sich von der Wissenschaft wie von anderen Systemen zwar hin
und wieder irritieren, niemals aber instruieren oder gar dominieren. Sie legt sich
wissenschaftliche Eigenschaften an und legt sie wieder ab, so, wie sie es für wichtig
und richtig hält. Sie operiert m. a. W. autonom.

Warum und wozu ist es nötig, erziehendes und helfendes Tun wissenschaftlich zu be-
gründen?
Lesen Sie dazu
t Text 01: Die Erziehung und ihre Verwissenschaftlichung
t Text 02: Die Soziale Hilfe und ihre Verwissenschaftlichung
auf der zu diesem Buch gehörenden Produktseite
http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
In den im Netz hinterlegten Texten wird historisch nachvollzogen, warum die berufliche
Tätigkeit des Erziehens und Helfens mit dem Alltagswissen allein heute nicht mehr zu
bewerkstelligen ist. Es wird aufgezeigt, warum professionelle Erziehung und professionelle
Hilfe unter modernen Verhältnissen auf eine wissenschaftliche Fundierung angewiesen ist.

Zur Überprüfung Ihres Lernerfolgs bearbeiten Sie bitte


t Arbeitsblatt 03: Zu Kapitel 1.1 – Wissenschaftliches Wissen und Alltagswissen
t Arbeitsblatt 04: Zu Kapitel 1.2 – Wissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche
Differenzierung
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?
2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?
2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?
2

Wer sich im Rahmen eines Hochschulstudiums auf wissenschaftliche Denk- und


Arbeitsweisen einlässt, bekommt es mit den Prinzipien und Funktionsweisen
eines gesellschaftlichen Teilbereichs zu tun, dessen Aufgabe darin besteht, neue,
wahrheitsfähige Aussagen zu produzieren. Was aber meint Wahrheit?
Im Folgenden sollen wissenschaftliche Wahrheitsvorstellungen vorgestellt
werden. Sie gilt es

t untereinander abzugrenzen und zugleich gegen


t vorwissenschaftliche Weisheitsideale und
t alltagsweltliche Wahrheitsansprüche, wie sie vornehmlich in Konflikt- und
Streitsituationen zum Ausdruck gebracht werden, zu profilieren.

In ideengeschichtlicher Perspektive soll die Vielfältigkeit der im Laufe der Zeit


entwickelten Wahrheitsideen kenntlich werden.

2.1 Vorwissenschaftliche Weisheitslehren

Bevor es um Wahrheit ging, bevor es Wissenschaft überhaupt gab, ging es um Weis-


heit, d. h. um ein Wissen, das noch um die Unergründlichkeit des Weltgeschehens
wusste. Weisheit war an begnadete Persönlichkeiten gebunden, die sich dadurch
auszeichneten, dass sie nicht nur über einen reichen Schatz an Erfahrungen verfügten,
sondern auch über die Kunstfertigkeit, im Sichtbaren Zeichen für das Unsichtbare
zu finden und diese auszudeuten. Die Weisen konnten in den Zeichen – zumindest
ausschnittweise – die Konturen einer unbekannten Zukunft und manchmal auch
ein Stück weit den unergründlichen Willen der Götter erkennen. Den Weisheiten

T. M. Bardmann, Die Kunst des Unterscheidens,


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
46 2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?

der Weisen konnte und sollte man Glauben schenken. Glauben und Wissen sind
bei den Weisen noch nicht klar getrennt.
Die Weisen verfolgen nicht das Ziel, die Welt bis in die letzten Winkel hinein
zu erforschen, wie dies von WissenschaftlerInnen erstrebt wird. Ihnen bleibt die
Welt – gerade aufgrund ihrer weisen Einsichten – unbegreiflich und voller Zauber
und Geheimnis. Sie wollen nicht alles wissen, wohl aber das, was wirklich wichtig
ist. Ihnen geht es um die Beantwortung der durch und durch praktischen Frage:
„Wie soll ich leben?“
Dazu unterscheiden die Weisen günstige und ungünstige Lebenssituationen
in einer ansonsten nebulösen Welt. Die Aufgabe der Weisen ist weder Aufklärung
noch Entzauberung, denen sich erst die WissenschaftlerInnen verschreiben. Die
Arbeit der Weisen besteht in einer ganz praktischen Lebensberatung in der Form
von Divination (Ahnung, Wahr- und Voraussagekunst), die allerdings mit reich-
lichen Unschärfen (Bildern und Metaphern) arbeitet, so dass sich Hörerinnen und
Hörer den Sinn selbst zurechtlegen müssen. Mit ihrem exklusiven Expertenwissen
übernahmen die Weisen politische wie auch private Beratungsaufgaben.13

2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe


2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe
2.2.1 Wahrheit als absolutes Wissen

Um Wahrheit geht es erst den sogenannten „Freunden der Weisheit“, den Philoso-
phen, die das gesammelte Wissen der Weisen systematisieren und in eine geschulte

13 Man denke an Nathan den Weisen, der den ebenfalls weisen König Salomo (hebräisch:
„Friedensmann“, 965-925 v. Chr.) als Nachfolger Davids inthronisierte. Man denke an
den von der Nichtigkeit alles Irdischen zutiefst durchdrungenen Prediger (Kohelet),
der zwar an eine von Gott geordnete Welt glaubte, zugleich aber genau wusste, dass das
Weltgeschehen für den Menschen undurchschaubar bleibt, ungewiss die Zukunft und
ungewiss das Jenseits. Und so wird ihm (neben vielem anderen) auch das Jagen nach
Wissen zum Wahn: „Und ich verlegte mich darauf, Weisheit und Wissen zu erkennen,
Torheit und Narrheit. Ich musste erkennen: Auch dies ist ein Jagen nach Wind! Denn bei
viel Weisheit ist viel Verdruss, und mehrt man das Wissen, so mehrt man das Leid“ (Die
Bibel, Prediger 1, 17-18). Oder man denke an die heute noch beeindruckenden weisen
Lehren des Tao-te-ching, dem Hauptwerk des Daoismus, und die daran anschließenden
Meister der Rinzai- und Sōtō-Schule des Zen-Buddhismus. In gewissem Sinn erscheint
auch Sokrates noch als ein Weiser, wenn er mit seinen Fragen die Selbstverständlichkeit
vermeintlichen Wissens erschüttert und ans Ende seiner Erkenntnisbemühungen die
(paradoxe) Einsicht setzt: „Jetzt weiß ich, dass ich nichts weiß.“
2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe 47

philosophische Reflexion überführen. Mit ihnen startet die Wahrheit anstelle der
Weisheit ihre Karriere. Man geht von einem naiven Realismus aus, demzufolge der
Mensch in eine strukturierte, von ihm selbst prinzipiell unabhängige Welt hinein-
geboren wird, deren Strukturen und Gesetze er aber als vernunftbegabtes Wesen
prinzipiell erkennen kann. So denkt z. B. Augustinus (354-430). In seinem Denken
bedeutet Wahrheit: Wissen und Welt kommen zur Deckung. „Veritas est adaequatio
rei et intellectus“, heißt es noch bei Thomas von Aquin (1225-1274). Wahrheit ist die
Entsprechung von Ding und Geist. Beide stimmen überein, sie ‚korrespondieren‘,
weshalb man in der Philosophie auch von der Korrespondenztheorie der Wahrheit
spricht.14 Wahrheit bedeutet die Aufhebung von Sein und Schein, also ein Wissen,
das irrtumsfrei den Gegenstand, wie er wirklich ist, zur Erkenntnis bringt.15 Der
Weg zur Erkenntnis führt über eine geschulte, systematische Reflexion – noch nicht
so sehr über Empirie.
Die Wahrheit gilt als die einzig richtige Beschreibung der einen vorgegebenen
Wirklichkeit. Sie kann es nur im Singular geben, wie es die Welt, über die sie
spricht, auch nur einmal gibt. Die Wahrheit ist die eine, die reine, die unteilbare,

14 „Der erkennende Geist des Menschen empfängt sein Maß von den Dingen, so dass
der Gedanke des Menschen nicht seiner selbst wegen wahr ist; vielmehr wird er wahr
genannt kraft seiner Übereinstimmung mit den Dingen“ (Thomas von Aquin 2001:
Summa Theologiae Ia-IIae q.93 a.1 ad 3).
Die Korrespondenztheorie ist ein Ableger der Abbildtheorie, wonach sich die vom Subjekt
unabhängige Wirklichkeit wenn nicht genau, so doch annähernd in der Wahrnehmung
widerspiegele. Sie wurde von Aristoteles (384-322 v. Chr.) vertreten. In Aristoteles (1957)
Metaphysica (4. Buch, 7. Kap., 1011b 26-28) heißt es: „Von etwas, das ist, zu sagen, dass
es nicht ist, oder von etwas, das nicht ist, zu sagen, dass es ist, ist falsch; während von
etwas, das ist, zu sagen, dass es ist, oder von etwas, das nicht ist, zu sagen, dass es nicht
ist, ist wahr.“
15 Es geht hier nicht um Wahrheit im erweiterten Sinne, etwa um das ‚wahre Leben‘, die
‚wahre Liebe‘, die ‚wahre Freundschaft‘, die ‚wahre Kunst‘ etc.; wahr bedeutet im er-
weiterten Sinne ‚echt‘, ‚wirklich‘ oder ‚gut‘. Sie wird als Eigenschaft einer Person oder
Sache verstanden (Seinswahrheit), nicht als eine Beziehung zwischen Aussage und
Wirklichkeit (Aussagenwahrheit). Eine Seinswahrheit ist steigerbar, denn bei ihr ist
ein Ideal unterstellt, dem man sich annähern kann, und mit jeder Annäherung steigt
auch die Wahrheit.
Im erweiterten Wahrheitsbegriff spürt man noch die Nähe von Wahrheit zu Werten.
Beide wurden erst im 19. Jahrhundert deutlich voneinander getrennt. Behauptungen
der Wahrheit werden in die Kommunikation eingeführt und können dann bestritten
und geprüft werden, Werte aber werden als geltend und unbezweifelbar unterstellt.
Wahrheit legt Wert auf Begründung, Werte verzichten typischerweise darauf und
unterstellen sich als selbstevident. Wahrheit wird mithilfe von Theorien und Methoden
unter Bedingungen gestellt, Werte werden durch Ideologien und Argumentationen
spezifiziert (vgl. Luhmann 1997:342).
48 2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?

die absolute Wahrheit.16 Die Welt ist dabei als eine gemeinsame Welt unterstellt, in
der es keinen Unterschied macht, wer sie wie beobachtet. Sie wird von allen gleich
gesehen. Wer sie anders sieht, bringt sich in Gefahr, aus der Gemeinschaft der
Vernünftigen ausgeschlossen zu werden. Der Wahrheit können, nein, ihr müssen
alle vernunftbegabten Wesen ausnahmslos zustimmen, denn jenseits der Wahrheit
gibt es nur den Irrtum. Und Irrtum ist auf dieser Stufe der gesellschaftlichen Ent-
wicklung nicht etwa ‚unwahres‘ Wissen, Irrtum ist überhaupt kein Wissen. Er ist ein
Unglück, ein Missgeschick, eine Krankheit, eine Perversion des Bewusstseins, ein
Fehler des Denkens, der zwar vorkommt, der sich aber beheben lässt und deshalb
die vorgegebene Weltordnung nicht wirklich infrage stellt. Der Irrtum ist nicht von
gleichem Rang wie die Wahrheit. Wahrheit ist der Inbegriff des Wissens.17 Wissen
ist per se wahres Wissen.
Wer sich der Wahrheit verschließt, isoliert sich selbst. Er verrät damit, dass er
entweder krank, dumm, böse oder strategisch korrumpiert ist. Wer gar gegen die
Wahrheit spricht, der lügt, täuscht oder irrt. Er verstößt damit gegen die uralte
Norm der Wahrhaftigkeit, die zum Schutz der Wahrheit vor Verdrehung, Ver-
kürzung oder anderen Korruptionen formuliert wurde18: Du sollst der Wahrheit
die Ehre geben, innerlich wie äußerlich! Du sollst keine Rede führen, die Deinen
eigenen Überzeugungen nicht entspricht! Du sollst kein falsches Zeugnis geben
wider Deinen Nächsten! Du sollst nicht lügen! Du sollst keine bewusst falschen
Aussagen machen! Du sollst nicht täuschen!19

16 In Richtung Teilbarkeit denkt man mit dem Wörtchen Halbwahrheit. Was aber wäre
die andere Hälfte? Und wenn sich die Wahrheit halbieren ließe, ließe sie sich dann
vielleicht auch vierteln, achteln oder gar so weit zerstückeln, dass kaum noch etwas
von ihr übrig bleibt, allenfalls noch das berühmte letzte Fünkchen Wahrheit?
17 Im Allgemeinen ging man früher und geht man auch im heutigen Alltag noch davon
aus, dass Wissen und Wahrheit eins sind. „Was man weiß, ist eo ipso wahres Wissen.
Was man als Wissen behauptet, soll als wahres Wissen behauptet sein (denn sonst
würde man täuschen und betrügen)“ (Luhmann 1990b:167).
18 Bei Korruption von Wahrheit ist sowohl an Macht wie auch an Geld als Korrupti-
onsmechanismen zu denken. Wahrheit darf sich aber weder erpressen noch erkaufen
lassen. Menschen mögen durch Androhung von Gewalt oder durch Geldzahlungen
korrumpierbar sein, die Wahrheit ist es nicht. Eine solche Idee ist nicht nur mora-
lisch, sondern vor allem auch differenzierungstechnisch begründet (vgl. Kap. 1): Um
die Medien auszudifferenzieren, müssen Interferenzen – wie die zwischen Geld und
Wahrheit – ausgeschlossen werden, was natürlich nicht immer gelingt, dann aber in
aller Regel zu entsprechenden Skandalisierungen führt.
19 Vor Gericht hält man bis heute die Norm der Wahrhaftigkeit hoch: Bei Androhung von
Strafe sollen Zeugenaussagen vollständig und wahrheitsgemäß (§ 138 ZPO) sein. Es soll
nichts verschwiegen, nichts hinzugefügt und auch nichts verfärbt werden. Manchmal
holt man der Wahrheit zuliebe sogar ExpertInnen hinzu, was aber nicht bedeutet, dass
2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe 49

Wahrheit ist nach dieser Vorstellung nicht in menschlichen Interessen oder


menschlichem Wollen begründet, sondern ausschließlich in der Welt, im Sein,
außerhalb und unabhängig von allen Beteiligten. Die Wahrheit, wie sie hier ver-
standen wird, ist nicht die Wahrheit eines Einzelnen. Wahrheit lässt sich nicht als
höchstpersönliche Einsicht oder gar als persönliche Eingebung oder Offenbarung
vertreten, wie dies bei den Weisen noch möglich war. Die Wahrheit ist auch nicht
die Wahrheit einer Mehrheit. Wahrheit lässt sich nicht durch Auszählung ermitteln,
so dass der, der die meisten Stimmen hat, auch im Besitz der Wahrheit ist. Wahrheit
hat weder etwas mit individueller Erleuchtung noch mit der Anzahl der Leute zu
tun, die von ihr überzeugt sind. Wahrheit im absolutistischen Sinne bedeutet nicht,
gleicher Meinung mit der Mehrzahl zu sein, sondern an den ewigen Gesetzen Gottes
oder der Natur teilzuhaben.
Die Wahrheit wird in dieser ihrer absoluten Tradition zu einem alles andere
überstrahlenden Hochwert, zu einem moralischen Ideal. Wahrheit ist mehr als
nur eine Qualität von Objekten, Wahrnehmungen oder Sätzen. Wahrheit ist ein
letzter Grund, der sich von allen anderen Sinnbezügen qualitativ abhebt. Wahr-
heit ist ein höchstes Ziel, das man als vernünftiges Wesen zu verfolgen und an das
man zu glauben hat 20, für das man einzustehen und wofür man womöglich auch
zu kämpfen, ja sogar zu töten und zu sterben hat. Wahrheit engagiert die von ihr
Überzeugten in höchstem Maße.21

man die richterliche Entscheidung durch sie determinieren ließe. Das Recht konditio-
niert seinen Umgang mit ZeugInnenwissen oder WissenschaftlerInnenwissen selbst.
Es bezieht von den ExpertInnen keine Wahrheit. Es nutzt die Expertise, um Tatsachen
festzustellen, aus denen es dann seine Schlüsse zieht (vgl. Smith 1989). Manchmal greift
das Recht sogar zu Lügendetektoren oder sogenannten Wahrheitsdrogen, um gericht-
staugliche Tatsachen festzustellen, was allerdings in Deutschland nach § 136a StPO
nicht gestattet ist. Auch die mittelalterliche Folter ist als Mittel der Wahrheitsfindung
im deutschen Rechtssystem ausgeschlossen, während die amerikanischen Militärs z. B.
beim Verhör sogenannter Terroristen die Folter bis heute einsetzen.
20 Man lese nur die Essais von Michel de Montaigne (1992) oder die Maximen und Refle-
xionen von Johann Wolfgang von Goethe (2006).
21 Die Weisen haben ihr Wissen angehäuft, um die Frage zu beantworten: „Wie soll ich
leben?“ Sie haben mit ihrem Wissen nicht nur für Erwartungssicherheiten gesorgt, sie
haben auch die Gelegenheiten für Enttäuschungen gesteigert: Mehrt sich das Wissen,
mehren sich auch die Enttäuschungen, was die Frage aufwarf: „Wie wollen wir mit
Enttäuschungen umgehen?“ War man es bis dato gewohnt, sie in magisch religiösen
Prozessen der kollektiven Angstverarbeitung zu ‚neutralisieren‘, so weisen die neuen
„Freunde der Weisheit“, die Philosophen, einen anderen Weg:
t Sie sorgen zunächst für eine Entmystifizierung von Enttäuschungserklärungen und
zeigen auf, dass man bei Enttäuschungen des eigenen Wissens nicht mehr staunend
vor den Trümmern seiner Erwartungen stehen muss, um schließlich die dahinter
50 2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?

Die Ära des absoluten Wahrheitsbegriffs geht mit Galileo Galilei (1564-1642),
dem Entdecker des Sternenreichtums der Milchstraße und der Sonnenflecken, zu
Ende. Er wagte es, das aristotelisch geozentrische Weltbild, das von Ptolemäus
(100-160) erstmals systematisch mathematisch berechnet worden war und das
auch die Katholische Kirche als ihr Weltbild vertrat, zu bezweifeln, um dagegen die
heliozentrischen Ideen des Kopernikus‘ (1473-1543) als wahr zu behaupten. Seine
eigenen Beobachtungen und Berechnungen legten ihm diese Behauptung nahe.
Da die Katholische Kirche die Heilige Schrift durch derartige Anzweifelungen
gefährdet sah, erklärte sie Galilei zum Ketzer und machte ihm 1633 den Prozess.22
Bekanntlich endete diese Verhandlung mit einer Abschwörung und der Verurtei-
lung zu einem unbefristeten Hausarrest.
Die Philosophen waren mit ihrer Arbeit erfolgreich und schufen einen enormen
Schatz an Wissen über die Welt und an Wissen über das Wissen. Nur stellte dieses
Wissen irgendwann ihren naiven Realismus in Frage. Die Gewissheit, mit der der
naive Realismus davon ausgeht, dass sich die vorgegebene, ontische Welt durch
einen (geschulten) Geist erkennen lässt, diese Gewissheit zerbricht im Übergang
zur Neuzeit. Die moderne Wissenschaft betritt die Bühne.

wirkenden Mächte anzubeten, sondern dass man auf Überraschungen kognitiv


lernend reagieren kann. Sie bereiten m. a. W. den Weg in eine Gesellschaft, die sich
von einem normativ und traditional geprägten Erlebensstil löst und auf die schnelle
Neubildung von Erwartungen einstellt, um so in einer Welt voller Enttäuschungen
besser überleben zu können.
t Sie leisten ein Zweites: Sie lehren, aus zweiter Hand zu lernen, also von Leuten, die
etwas gelernt haben. Sie fördern ein Wissen über den Erwerb von Wissen, den Umgang
mit Wissen, die Kontrolle und die Weitergabe von Wissen. Wer schlicht weiß, kann
wissen, ohne zu wissen, dass er weiß. Er praktiziert sein Wissen in der Nische, in der
er lebt. Wer aber weiß, dass er weiß, kann sich auch um Wissen über die Bedingungen
des Wissenserwerbs, der Wissenskontrolle und schließlich der Wissensvermittlung
bemühen und sie zu optimieren versuchen. Das Wissen ums Wissen ermöglicht erst
die Etablierung von Erziehungs- und Bildungssystemen.
22 Dabei hatte Kardinal Bellarmino (1542-1621), ein brillant denkender Inquisitor, für
Galileo einen guten Ratschlag parat, der ihm den Prozess vielleicht hätte ersparen
können: Er, Galilei, solle keinen Anspruch auf absolute Wahrheit erheben. Es reiche
doch zu sagen, dass das kopernikanische Weltmodell besser zu seinen Berechnungen
passe als das ptolemäische. Gegen den Anspruch einer relativ besseren Wahrheit würde
die Kirche vielleicht nichts unternehmen. Wozu diese Vermessenheit, erkennen zu
wollen, wie die Welt in Wirklichkeit beschaffen ist? Darauf erhob die Kirche exklusiven
Anspruch, während sie gegen eine Wissenschaft, die ihr Wissen als ein Instrument zur
Lösung von Problemen in der diesseitigen Welt der Sterblichen versteht, womöglich
nichts einzuwenden gehabt hätte.
2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe 51

2.2.2 Wahrheit als objektive Erkenntnis

Mit René Descartes (1596-1650) wird der von Dogmatikern und Glaubensvertre-
tern geächtete Zweifel zum wissenschaftlichen Prinzip. Descartes „Dubito, ergo
cogito, ergo sum“ eröffnet das Zeitalter der modernen, empirisch fundierten, sich
selbst gegenüber kritischen Wissenschaft. Es drückt eine Stufe der gesellschaftlichen
Entwicklung aus, in der es nicht mehr ausreicht, Wahrheit (wie bei den Weisen)
auf Reputation oder (wie bei den frühen Philosophen) auf Evidenz23 oder (wie bei
den Kirchenfürsten) auf Macht zu gründen. Wahrheit soll fortan überzeugen, weil
sie systematisch bezweifelt und dem Zweifel systematisch nachgegangen wird. Wis-
senschaftliches Wissen ist nunmehr das immer wieder infrage gestellte und nach
anerkannten Maßstäben immer wieder überprüfte Wissen.24
Die Zweifel werden unabweisbar, weil man sich nach und nach

1. in Erkenntnisbereiche vorarbeitet, die nicht mehr durch die menschliche Wahr-


nehmung und mithilfe der menschlichen Sinne eindeutig überprüft werden
können,25

23 Evidenz meint die augenfällige, die unmittelbare, intuitive Einsicht. Es werden geistige,
auf Axiome beruhende, und sinnliche, auf Wahrnehmung und Erfahrung zurückge-
hende Evidenzen unterschieden. Bei beiden Formen der Evidenz gibt es Grenzfälle.
Um nur ein Beispiel für die Grenzwertigkeit einer geistigen Evidenz zu geben: In der
Präambel zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) werden moralische
Axiome formuliert, die für die Verfasser dieser Erklärung ‚evident‘ waren: Alle Men-
schen sind gleich und „durch ihren Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten
versehen (…), dass sich unter diesen befinden Leben, Freiheit und das Streben nach
Glück“. Diese moralischen Evidenzen, die heute bereits als ‚Universalien‘ verstanden
werden, waren den Menschen zu Zeiten von Aristoteles alles andere als evident. Man
kann nur hoffen, dass sie auch in Zukunft einigen Menschen als evident gelten.
24 Die Frage, ob das eigene Wissen vielleicht nur für wahr gehalten wird und in Wirklich-
keit vielleicht unwahr ist, kommt erst bei Zweifeln an der Zuverlässigkeit der eigenen
Sinneswahrnehmungen oder im Fall der Annahmezumutung höchst unwahrscheinlicher
Behauptungen auf. Normalerweise nimmt man das, was man wahrnimmt, für wahr,
wie das Wort es sagt: „wahr“-nehmen. Man kann nicht „falsch“-nehmen (von Foerster
1997:53). Wenn aber Zweifel aufkommen, beginnt der Wahrnehmende, seine eigene
Wahrnehmung wahrzunehmen, der Beobachter sein Beobachten zu beobachten, ein
sehr voraussetzungsvolles und konsequenzenreiches, reflexives Unterfangen.
25 Zu denken ist z. B. an astronomische Forschungen, die, nachdem Teleskope an ihre
Grenzen gekommen sind, ausschließlich noch auf der Grundlage von Extrapolationen
arbeiten. Man denke an Forschungen im subatomaren Bereich oder auch an Sozial-
forschungen, speziell an Sozialstatistiken, die mit Größen arbeiten, die es jenseits der
52 2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?

2. mit unterschiedlichen Sichtweisen von Realität konfrontiert findet, die zwar in


sich plausibel, miteinander aber nicht vereinbar sind, so dass die intersubjektive
Wiederholbarkeit von Erlebnissen infrage gestellt wird.

Hansen 2013:52

Die moderne Wissenschaft kommt zu folgenden einschneidenden Erkenntnissen:

1. Die moderne Wissenschaft kann sich nicht bezüglich ihrer Wahrheiten, sondern
nur bezüglich nachgewiesener Unwahrheiten sicher sein. Wahrheiten sind nicht
verifizierbar, allenfalls falsifizierbar. Das bedeutet: Wissenschaftliches Wissen
kann nur als hypothetisch geltend vertreten werden, und selbst bestens geprüftes
Wissen kann mit dem Auftauchen neuer Erkenntnisse wieder in Frage gestellt
werden.
2. Die moderne Wissenschaft sieht sich in ihren Analysen mit einer solchen Komple-
xität konfrontiert, dass sie ihre Aussagen nur noch unter „in Absehung von …“,
d. h. unter Inkaufnahme von Auslassungen formulieren kann. Wissenschaftliche
Aussagen gelten stets nur ceteris paribus, also unter der Voraussetzung, dass
alle übrigen, in den Aussagen und Modellen nicht erfassten Faktoren konstant
bleiben. Da dafür aber nichts und niemand garantieren kann, führt das dazu,
dass alle Aussagen nur noch im Wahrscheinlichkeitsmodus formuliert werden.

eigenen Konstruktionen nicht gibt und die sich nur noch nachrechnen, nicht aber mehr
mithilfe der eigenen Wahrnehmung nachvollziehen lassen.
2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe 53

3. Die moderne Wissenschaft sieht sich aufgrund neuer Erkenntnisse immer wieder
auch mit neuen Fragen konfrontiert. Mit dem Wissen, dem wahren wie dem
unwahren (den Irrtümern), wächst das Nichtwissen, nicht nur das spezifische26 ,
was zu weiteren Forschungen animiert, sondern auch das unspezifische27, was
überzogene Ansprüche an wissenschaftliche Forschung diszipliniert. Das unspe-
zifische Nichtwissen zeigt die prinzipiell unüberschreitbaren Wissensgrenzen an
und erinnert damit an die alten Weisheitslehren.
4. Trotz aller Hypothetik und aller Nur-Wahrscheinlichkeit allen Wissens, trotz
des Eingebettet-Seins allen Wissens ins Nichtwissen, gibt die moderne Wissen-
schaft ihren Realitätsbezug nicht auf. Sie setzt ihn allerdings unter verschärfte
Bedingungen. Sie verzichtet auf jegliche Absolutheitsansprüche, ersetzt diese
aber durch den Anspruch auf Objektivität. Objektivität steht dabei für den
Versuch, in der Erkenntnis den Objekten – und eben nicht den Subjekten –,
also den Gegenständen, den Dingen und Sachen, kurz: der Realität den Vorrang
vor den Erkenntnisprozessen, wie sie im Subjekt real ablaufen, einzuräumen.
5. Subjektivität wird systematisch auszuschließen versucht: Wertungen, Sym-
pathien oder Aversionen, Interessen, Wünsche, momentane Befindlichkeiten
etc. der WissenschaftlerInnen dürfen keinen Einfluss auf wissenschaftliche
Aussagen nehmen.
6. Um dies zu gewährleisten, verlässt die moderne Wissenschaft sich nicht einfach
nur auf die Norm der Wahrhaftigkeit, sondern sie entwickelt einen immensen
Apparat an Theorien, Methoden und Methodologien, die den Einfluss der
BeobachterInnen auf das Beobachtungsergebnis neutralisieren sollen. Denn

26 Ein spezifisches Nichtwissen läge z. B. vor, wenn man zwar wüsste, dass es bei einem
Unfall in einem Chemieunternehmen zu toxischen Belastungen kommen wird, man
aber nicht weiß, inwieweit sich diese Belastungen auf die Gesundheit auswirken wer-
den. Spezifisches Nichtwissen animiert die Wissenschaft zur Wissensproduktion, es
ist m. a. W. temporäres, spezifizierbares Nichtwissen.
27 Als unspezifisches Nichtwissen gelten z. B. Katastrophen. Sie „sprengen die an Dingen
und an Kausalitäten orientierten Realitätsvorstellungen des Einzelmenschen und der
kommunikativen (sprachlichen) Praxis der Gesellschaft. Sie können nicht mehr in
handhabbares, nicht mehr in anschlussfähiges Wissen überführt werden, auch wenn
es Berechnungen, Halbwertszeiten etc. gibt“ (Luhmann 1992:167).
Weiterhin steht für unspezifisches Nichtwissen in der Systemtheorie der unmarked
space. Es ist nach Spencer Brown (1969) der Bereich, der keine Unterscheidungen
zulässt. Es ist die Welt jenseits aller Unterscheidungen, der Raum, in den hinein all
unsere Unterscheidungen gesetzt sind, von dem unser Wissen umgeben, mehr noch:
getragen wird.
Auch die Zukunft ist ein Beispiel für unspezifisches Nichtwissen. Denn das Einzige,
das wir gewiss von ihr wissen, ist, dass sie ungewiss ist.
54 2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?

nur so, so glaubt man, lassen sich die Ergebnisse als wissenschaftliche, d. h.
objektive Wahrheiten repräsentativ vertreten und mit entsprechender Autorität
kommunizieren.

In der modernen Wissenschaft wird die Beobachtung der BeobachterInnen zur


Pflicht. BeobachterInnen werden aber bemerkenswerter Weise anvisiert, um sie
auszuschalten (vgl. Luhmann 1997:340), um an ihre Stelle allgemein nachvollzieh-
bare Theorien und Methoden zu setzen.28
Wahrheit wird so zu einem beobachtbar funktionierenden Symbol für theo-
retische und methodische Korrektheit des Erkenntnisgewinnungsverfahrens und
der Beweisführung.29 Zugleich bedeutet Wahrheit, dass weitere wissenschaftliche
Kommunikationen bedenkenlos angeschlossen werden können.
Auf dieser Ebene der Beobachtung 2. Ordnung wird die Einsicht unabweisbar, dass
wissenschaftliche Erkenntnisse von den zugrunde gelegten Theorien und Methoden
abhängig sind. Andere Theorien, andere Methoden führen zu anderen Beobachtun-
gen und Beschreibungen. Es gibt keine absolute Wahrheit mehr, sondern nur noch
unterschiedlich fundierte Wahrheiten (Plural!). Diese Wahrheiten können sogar in
krassem Widerspruch zueinander stehen (vgl. Wellen- oder Teilchen-Theorie). Für
Wahrheit im wissenschaftlichen Sinne gilt zwar immer noch: Sie ist nie die Wahrheit
nur eines Einzelnen, sie ist nie Privatmeinung; sie ist allgemein, überparteilich, von
den Beteiligten unabhängig, eben nicht subjektiver, sondern objektiver Qualität,
aber sie ist abhängig von den eingesetzten Theorien und Methoden.

28 Objektivität entsteht nach Heinz von Foerster, wenn man glaubt, den Beobachter aus-
schließen und vollkommen neutralisieren zu können; wenn man glaubt, Beobachtungen
frei von persönlichen Voreingenommenheiten, frei vom individuellen Geschmack, frei
von besonderen Eigenschaften durchführen zu können. Was aber soll das heißen? Sollen
ForscherInnen nicht ihre Augen, ihre Ohren, ihren Tast- und ihren Geschmackssinn,
ihren Wahrnehmungsapparat, ihre Sensibilität, ihre Sprache benutzen? Folgt man der
Idee der Objektivität, müssten die BeobachterInnen vollständig passiv, blind, taub,
stumm, sprach- und empfindungslos sein. „Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beob-
achtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden. Die Berufung auf Objektivität ist
die Verweigerung der Verantwortung – daher ihre Beliebtheit“ (von Foerster, Pörksen
1998:154).
29 Damit trennt sich die Wahrheitsidee deutlich vom Kontext Religion: Wahrheit kann
keine Frage des Glaubens mehr sein. Denn ein Glaube, der nach Beweisen fragt, ist kein
echter Glaube. Es geht nach der Einführung einer methodisch kontrollierten Empirie
auch nicht mehr um das Lesen von Zeichen durch ausgezeichnete Personen, sondern
um ein auch für andere nachvollziehbares (beobachtbares) Beobachten der Welt. Wis-
senschaftliche Behauptungen nimmt man nicht an, weil man an die extraordinären
Fähigkeiten der ‚SeherInnen‘ glaubt, sondern weil man weiß, dass sie nach gültigen
und prinzipiell von allen überprüfbaren Prüfmethoden gewonnen wurden.
2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe 55

Dass die moderne Wissenschaft den Absolutheitsanspruch an Wahrheit aufgibt,


bedeutet nicht, dass sie auch den Realitätsbezug aufkündigt. Sie hält an einem
kritischen (hypothetischen) Realismus fest. Wenn sich die Realität ‚an sich‘ nicht
zweifelsfrei und absolut erkennen lässt, so kann man unter Beachtung theoretischer
und methodischer Maßgaben doch immerhin zu ‚objektiven‘ Wahrheiten gelangen
und sich mit ihnen der ‚wirklichen‘ Wirklichkeit zumindest ‚annähern‘.30
Aber hat die moderne Wissenschaft die Idee einer absoluten, perfekten Wahr-
heit, bei der alle Bemühungen zur Ruhe kämen, mit ihrem Objektivitätsanspruch
wirklich aufgegeben? Oder schiebt sie sie nur in unerreichbare Ferne und bleibt
ihr so auf einer sich selbst überlistenden Art und Weise verbunden? Die moderne
Wissenschaft erklärt Wahrheit zu einem unerreichbaren Ideal31 und begibt sich so
auf einen im Prinzip endlosen Suchprozess.
Mit der Idee ‚objektiver Erkenntnis‘ kann der Mainstream der Wissenschaft
trotz aller Relativierungen an eine allmähliche Annäherung an die ‚wirkliche‘
Wirklichkeit bzw. ans ‚Ideal‘ glauben und gleichzeitig leugnen, was eigentlich
längst auf der Hand liegt: dass die äußere Realität als Zeugin wissenschaftlicher
Wahrheiten ausgefallen ist.32

30 Rafael Ferber z. B. diskutiert die gängigen Kriterien zu Bestimmung von Wahrheit


(Kohärenz, Evidenz, Konsens, Nutzen, zukünftiges Ziel, Schönheit), um festzustellen,
dass keines ausreicht, die Wahrheit einer Aussage wirklich festzustellen (1998:104ff.).
Vielmehr beruhe jede ‚objektive Wahrheit‘ letztlich auf einem ‚subjektiven Für-wahr-
Halten‘. Das aber bedeutet nun nicht, dass sich Ferber von der Wahrheit verabschiedet.
Nein, er tritt die Flucht nach hinten an: „Es scheint (…) nichts anderes übrig zu bleiben,
als zur klassischen Definition der Wahrheit zurückzukehren: Wahrheit ist die Über-
einstimmung zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit bzw. Proposition und Tatsache“
(Ferber 1998:108).
31 Charles Sanders Peirce (1839-1914) definiert Wahrheit als unerreichbares Ziel, indem
er sagt: „Die Meinung, die vom Schicksal dazu bestimmt ist, dass ihr letztlich alle For-
scher zustimmen, ist das, was wir unter Wahrheit verstehen, und der Gegenstand, der
durch diese Meinung vorgestellt wird, ist das Reale. Das ist die Art und Weise, wie ich
Realität erklären würde“ (Peirce, zitiert nach Ferber 1998:103). Wann diese ‚letztliche‘
Zustimmung erreicht ist, ist nicht festzustellen, die Wahrheitssuche kann so endlos
fortgesetzt werden.
32 Das erinnert an den Esel, dem man an einer Angel eine Möhre vor die Nase hängt, um
ihn zum Laufen zu bewegen. Der ans Laufen gebrachte Esel merkt nicht, dass er mit
jedem Schritt nach vorn auch die Möhre voranträgt. Er merkt nicht, dass sie und er zu
ein und demselben System gehören.
56 2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?

2.2.3 Wahrheit als sprachliche Leistung

Im Schatten von Objektivitätsansprüchen wurden ernst zu nehmende Alternativen


zu den realitätsgebundenen Wahrheitstheorien angeboten, die Wahrheit vornehm-
lich als ein sprachliches Phänomen zu verstehen suchten:

1. Alfred Tarski (1935) schlug z. B. eine rein ‚semantische‘ Auffassung von Wahrheit
vor: Eine Aussage ist wahr, wenn das, was sie behauptet, auch wirklich ist: „Es
schneit“ ist wahr, wenn es wirklich schneit. Für Tarski geht es dabei nicht – wie
es auf den ersten Blick scheinen mag – um eine Beziehung zwischen Aussage
und Wirklichkeit, sondern um eine Beziehung zwischen einer objektsprachlichen
und einer metasprachlichen Aussage. Er diskutiert Wahrheit m. a. W. als ein
ausschließlich sprachliches Phänomen. Er verzichtet darauf, die Bedingungen
anzugeben, unter denen empirische Aussagen berechtigterweise behauptet
werden dürfen.
Wahrheit hätte demnach vor allem dem Kriterium der Kohärenz zu genügen: Sie
liegt vor, wenn eine Aussage in einen in sich kohärenten Zusammenhang von
objektsprachlichen Sätzen passt. Wahrheit ist die Widerspruchsfreiheit in sich
stimmiger, formalisierter Satzgefüge. So könnte man sowohl Ptolemäus These,
dass sich die Sonne um die Erde dreht, als auch Kopernikus Behauptung, dass
sich die Erde um die Sonne dreht, als wahr bezeichnen, da sie jeweils zu den
dazugehörenden Weltsystemen passen. Damit setzt die Wahrheit einer Aussage
neben der Wirklichkeit stets ein schon akzeptiertes Sprachsystem voraus.
2. Als Alternative zum objektivistischen Wahrheitsbegriff bietet sich auch das Kon-
sensmodell an, das prominent von Jürgen Habermas (1972, vgl. 1981) vertreten
wird: Wahr ist, was im Rahmen eines herrschaftsfreien Diskurses – also in einer
idealen Sprechsituation – von potentiell allen beteiligten Gesprächsteilneh-
merInnen als wahr akzeptiert wird. Das Konsensmodell behauptet nicht, dass
nur deshalb, weil eine Mehrheit oder womöglich alle zustimmen, eine Aussage
bereits wahr ist. Die Wahrheit kann durchaus bei einer Minderheit liegen oder
sogar bei nur einem Einzelnen. Man denke an den zum Tode Verurteilten, der
seine Unschuld beteuert. Ob das Gericht die Wahrheit festgestellt oder ob der
Verurteilte die Wahrheit gesprochen hat, das wird womöglich der Verurteilte
allein nur wissen. Was als wahr anerkannt wird, muss nach der Konsenstheorie
nicht tatsächlich wahr sein. Wahrheit ist das Ergebnis eines Einigungsprozesses,
in dessen Verlauf sich idealiter die besseren Argumente zwangsweise zwanglos
durchsetzen.
3. Die Redundanz- (Ramsey) bzw. Dito-Theorie der Wahrheit (Strawson) geht davon
aus, dass eine Aussage über die Wirklichkeit immer schon den Anspruch auf die
2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe 57

Wahrheit seines Inhalts enthält, so dass es unnötig ist, ihn nochmals als ‚wahr‘
zu bezeichnen. Der Anspruch auf Wahrheit ist in der Aussage bereits impliziert.
Der Anspruch auf Wahrheit einer Aussage ist selbstverständlich. Damit hätte
der Ausdruck ‚wahr‘ keine beschreibende Funktion mehr, sondern nur noch
eine betonende. Er wäre logisch überflüssig.

Alle drei Vorschläge vermeiden einen Bezug auf eine äußere Realität, an der sich die
Wahrheit zu messen hätte. Gewichtige Argumente gegen einen realitätsbezogenen
Wahrheitsbegriff sind so alt wie der Wahrheitsbegriff selbst. Sie wurden bereits
in den Anfängen der Philosophie von Xenophanes (570-475 v. Chr.) und Sextus
Empiricus (um 200-250 n. Chr.) vorgebracht.

t Das Zirkularitätsargument: Woher will man wissen, ob der Gebrauch der Un-
terscheidung wahr/falsch wahr oder falsch ist? Woher will man wissen, dass
die Einredung, Wahrheit sei eine Übereinstimmung bzw. eine Annäherung an
die Wirklichkeit, wahr ist?
t Das Argument des unendlichen Regresses: Wahrheit kann nicht erkannt werden,
wenn sie wirklich in einer Übereinstimmung zwischen der Aussage und der
Wirklichkeit besteht. Denn um die Wahrheit zu erkennen, müsste man etwas
Wahres über die Übereinstimmungsrelation zwischen der Aussage und der
Wirklichkeit sagen können, was aber die Gewissheit der Wahrheit einer neuen
Aussage verlangte, die als wahre Aussage selbst mit irgendetwas übereinstimmen
muss, was wiederum die Wahrheit einer dritten Aussage voraussetzte usw. Der
unendliche Regress steht für die Nichtwahrheitsfähigkeit von Wahrheitsaussagen.

Mit alledem wird klar: Wir können den Inhalt einer Aussage nicht mit den Tatsachen
vergleichen, um festzustellen, ob er mit den Tatsachen übereinstimmt oder nicht,
weil wir keinen von der Aussage unabhängigen Zugang zu den Tatsachen haben.
Wer aber traut sich, dieses Argument ernst zu nehmen und daran seine Theorien,
seine Methoden und seine Praxis auszurichten?

2.2.4 Wahrheit als Konstruktion

Der Konstruktivismus ist mutig. Er startet mit der These: „Wahrheit ist die Erfin-
dung eines Lügners.“33 In einer Welt, in der alles, was gesagt wird, wahr ist – so

33 Man könnte auch sagen: „Die Erfindung der Wahrheit ist ein Irrtum.“ Oder: „Wer glaubt,
die Wahrheit zu kennen, irrt sich.“ Oder, mit Erich Kästner: „Wenn ich die Wahrheit
58 2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?

wie im Reich Gottes oder in der Welt der Kleinkinder34 –, gibt es weder Lüge noch
Falschheit und deshalb auch keine Wahrheit. Erst der Lügner, der falsche Aussa-
gen über die Welt in die Welt setzt, trägt mit der Lüge auch die Wahrheit in die
Welt.35 Zwischen wahr und falsch muss und kann erst unterschieden werden, wenn
es Lügner gibt. Und Lügner kann es nur geben, wenn Wahrheit gedacht werden
kann.36 Wahrheit ist also nie allein zu haben, sondern immer nur als die eine Seite
einer Unterscheidung, die ein Beobachter in die Welt trägt, um mit ihr die Welt
einzuteilen (vgl. die Einleitung: Von der Wichtigkeit der Unterscheidungen). Im
Reich Gottes, so jedenfalls Nikolaus von Kues, in dem es keine Lügner gibt, ist der
Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge aufgehoben. Sie fallen in eins: coincidentia
oppositorum (vgl. von Foerster, Pörksen 1998:11).
Der prominenteste Lügner, dem KonstruktivistInnen die wohl wichtigste Einsicht
in das Wahrheitsproblem verdanken, ist der Kreter Epimenides.37 Er behauptet:
„Alle Kreter lügen.“ Wenn es stimmt, was er sagt, lügt er. Wenn es nicht stimmt,
was er sagt, sagt er die Wahrheit.
Wahrheit = Lüge und Lüge = Wahrheit. Ein solches Paradox torpediert die logi-
schen Grundlagen des oben beschriebenen Wahrheitsverständnisses. Das Paradox
entsteht aufgrund der Selbstbezüglichkeit der Aussage: Wird eine Aussage über eine
Gesamtheit getroffen, von der der Sprecher oder die Sprecherin selbst ein Teil ist,

sagen sollte, müsst‘ ich lügen.“ Oder: „Wer sich dem Irrtum verschließt, verschließt sich
der Wahrheit.“ Oder, mit Oscar Wilde: „Wer die Wahrheit sagt, wird früher oder später
erwischt.“ Oder: „Wahrheit ist die Lüge mit den langen Beinen.“ Oder: „Wahrheit ist der
Name für unsere wechselnden Irrtümer.“ Oder, mit Oswald Spengler: „Jede Wahrheit
von heute ist der Irrtum von morgen. Deshalb: Traue keiner Wahrheit!“
34 3-4-jährige Kinder kennen noch keine Lüge. 5-6-Jährige leben noch in einem morali-
schen Realismus, in der Lüge und Irrtum eins sind. Erst 8-9-Jährige verfügen über ein
voll entwickeltes Wahrheits-/Lügenbewusstsein. D. h., sie können sich in den anderen
hineinversetzen und ihn absichtlich belügen. Sie produzieren bewusst eine alternative
Aussage zur Wahrheit, um diese zu ersetzen und zu verdecken. Das bedeutet auch,
dass sie beim Lügen, wie der große Kirchenvater Augustinus (354-430) bereits wusste,
zumindest eine Ahnung davon haben, wie die Wahrheit aussieht.
35 Man/frau muss dies nicht als logisches, man/frau kann es auch als empirisches Argument
nehmen, denn die Anthropologie geht davon aus, dass erst mit der Lüge die Wahrheit
als eine reaktionäre Leistung des Intellekts ins Spiel kommt. Wahrheit antwortet auf
die Lüge, die die Menschheit begleitet wie ein Schatten.
36 Und das bedeutet auch, dass es, um die Wahrheit zu sagen, nicht ausreicht, nicht zu
lügen.
37 Hier wird also Anschluss an vorsokratische Denker gesucht, an Ideen, die noch nicht
durch eine formalisierte Logik diszipliniert waren.
2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe 59

werden Wahrheit und Lüge ununterscheidbar. Die Unterscheidung wahr/unwahr


wird unbrauchbar (vgl. ebd.:119).
Konstruktivismus und Systemtheorie gehen davon aus, dass alle Aussagen über
die Welt selbstbezüglich sind, weil Konstruktivismus und Systemtheorie Teil der
Welt sind. Fremdreferenz ist nur selbstreferentiell möglich. Was ein Beobachter über
die Welt (Fremdreferenz) behauptet, behauptet er über die Welt aufgrund seiner
Beobachtungen (Selbstreferenz) in dieser Welt. Heinz von Foerster formuliert
dazu eine prinzipiell unentscheidbare aber alles entscheidende Frage: „Bin ich –
der Beobachter – ein Teil der Welt, über die ich spreche? Wenn ja, dann muss ich
Paradoxa der obigen Art akzeptieren und kann die Unterscheidung wahr/unwahr
in der üblichen Unbedenklichkeit nicht mehr gebrauchen. Oder: Bin ich – der Be-
obachter – separiert von der Welt, die ich beschreibe? Wenn ja, dann muss ich mich
vor derartigen Paradoxa schützen und kann dies nur tun, indem ich sie (mir und
anderen) – der westlichen, klassischen, zweiwertigen Logik folgend einfach verbiete
(Tertium non datur!) oder indem ich sie als Witz bagatellisiere“ (vgl. ebd.:157).
KonstruktivistInnen sehen sich nicht als apart, sondern als a part of the world;
nicht getrennt von der Welt, sondern als Teil der Welt, die sie beobachten und be-
schreiben. Alles, was gesagt wird, wird von BeobachterInnen zu BeobachterInnen
gesagt, sagt Maturana (vgl. 1982:34f.). Und die BeobachterInnen sind immer Teil
der Welt, über die sie sprechen. Mit ihrem Handeln machen sie die Welt zu ihrer
Welt und sich zum Teil dieser Welt. Damit sind alle SprecherInnen in der Rolle des
Kreters, und damit kann es die Wahrheit in Wahrheit nicht mehr geben.
BeobachterInnen treffen oder verfehlen mit ihren Beschreibungen nicht die
Zustände einer ihnen vorgegebenen Welt, sondern sie geben sich die Welt mit ihren
Beschreibungen vor. Es gilt deshalb nicht mehr zu bezweifeln, ob eine Beschreibung
der Realität entspricht oder nicht, es gilt zu bestaunen, wie sich BeobachterInnen
ihre Welten erzeugen und sich mit ihnen in der Welt bewegen (von Foerster, Bröcker
2002). BeobachterInnen entdecken nicht die Welt, sie erfinden sie.
Die Welt ist nicht, wie sie ist, unabhängig von den Unterscheidungen und
Beschreibungen der BeobachterInnen, sondern sie wird, wie sie wird, erst in und
mit und durch deren Unterscheidungen und Beschreibungen. „Wir erzeugen
buchstäblich die Welt, in der wir leben, indem wir sie leben“ (Maturana 1982:269;
vgl. Maturana, Varela 1987). Nicht mehr: „Ich wasche meine Hände in Unschuld“,
sondern: „Was immer ich tue, ich verändere mit der kleinsten meiner Gesten das
Universum“ (von Foerster, Pörksen 1998:158).
Als KonstruktivistIn kann man/frau die Wahrheit nicht mehr an einer Entspre-
chung mit dem äußeren Sein messen, denn das Sein ist jenseits von Beobachtungen
und Bezeichnungen nicht zugänglich. Der Konstruktivismus gibt den Bezug auf
eine äußere Realität konsequent auf und ersetzt ihn durch einen Bezug auf die real
60 2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?

ablaufenden Unterscheidungsoperationen der BeobachterInnen. Aus einer Theorie


des Seins wird eine Theorie der selbstreferentiellen Konstruktion von Wissen. Damit
ändert sich das Wahrheitsverständnis maßgeblich:

1. Wahrheit ist stets die Konstruktion einer Beobachterin oder eines Beobachters.
Sie wird von unterschiedlichen BeobachterInnen unterschiedlich konstruiert.
Daher kann der Wahrheitsbegriff – wenn überhaupt – nur noch im Plural ver-
wendet werden. Aus der einen, dem Sein korrespondierenden Wahrheit, werden
die beobachtungsabhängigen Wahrheiten der BeobachterInnen. Und da es keine
beobachtungsunabhängige Verbindung zur Realität mehr gibt, die uns zur An-
nahme der einen Wahrheit zwingt, sind die Wahrheiten der BeobachterInnen
(zumindest zunächst einmal) gleichrangig zu behandeln (Diversity).
2. Wahrheit bildet nicht die Realität ab, sie bezeichnet gangbare Umgangsweisen mit
einer unbekannt bleibenden Realität. Für wahr zu nehmen ist das, was in der
Praxis in nützlicher Weise funktioniert. Was nichts nützt, ist auch nicht wahr.
Wahrheit heißt Brauchbarkeit, Viabilität. Wissen heißt, angemessen handeln
können (vgl. Maturana 1982:39ff.). Wissen muss passen, nicht übereinstimmen
(vgl. Glasersfeld 1991:24).
Wissen ist kein Wissen wovon, es ist ein Wissen wozu. Wahrheit ist kein
Selbstzweck, sondern ein Instrument, um Ziele zu erreichen. So behauptete
schon William James (1842-1910): „Wahre Vorstellungen sind solche, die wir
uns aneignen, die wir geltend machen, in Kraft setzen und verifizieren können.
Falsche Vorstellungen sind solche, bei denen dies alles nicht möglich ist. (…)
Wahrheit ist für die Vorstellung ein Vorkommnis. Die Vorstellung wird wahr,
wird durch Ereignisse wahr gemacht. Ihre Wahrheit ist tatsächlich ein Ge-
schehen, ein Vorgang, und zwar der Vorgang ihrer Selbstbewahrheitung, ihre
Verifikation“ (James 1977:37). Wahrheit wird damit abhängig vom Prozess des
Wahrmachens, und dieser folgt dem Kriterium der praktischen Nützlichkeit im
weitesten Sinne: Handelnde brauchen keine Wahrheit um der Wahrheit willen,
sie brauchen Einredungen, die ihnen helfen, nicht ständig anzuecken.38

38 Für VertreterInnen des naiven oder auch des kritischen Realismus wäre es wahrscheinlich
ein Sakrileg, Nutzen im weitesten Sinne als eine Frage des ästhetischen Empfindens oder
des Geschmacks auszulegen: Wahr ist, was schön ist, was elegant ist, was gefällt. Nikolas
Boileau-Despréaux (1636-1711) war bereits so mutig, Wahrheit und Schönheit in einen
Zusammenhang zu bringen. Er glaubte, nichts anderes sei schön als das Wahre, und das
Wahre allein sei liebenswert. Er stand freilich noch in der klassischen Denktradition,
während VertreterInnen der Postmoderne wie auch einige KonstruktivistInnen abseits
der Tradition – sprich: jenseits von Gott und Vernunft – in diese Richtung argumentieren:
Was BeobachterInnen als Wahrheit annehmen, ist letztendlich abhängig davon, wie
2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe 61

Nach: Palmowski, Heuwinkel 2010:72

Grundsätzlich gilt, dass unterschiedliche Beschreibungen und Verhaltensweisen


in diesem Sinne lohnend, brauchbar und viabel sind. Wer im konstruktivisti-
schen Sinne Wahrheit beansprucht, beansprucht also nicht mehr, die Wahrheit
gepachtet zu haben und exklusiv über sie zu verfügen, sondern einen möglichen
Weg gefunden zu haben, an dem sich andere Wege messen lassen.
3. Wahrheiten ergeben sich aus einem dynamischen Sinngeschehen in Bewusst-
seins- und Kommunikationssystemen, in dem Realität so konstruiert wird, dass
etwas als wahr oder falsch erscheint. Das bedeutet: Aus der einen universalen,
absoluten, ewigen oder objektiven Wahrheit werden Wahrheiten, die sich än-
dern können und die sich in der Tat mit jeder Einführung eines Unterschieds,
der Unterschiede macht, immer wieder ändern. Eine Aussage muss nicht mehr
entweder wahr oder falsch sein, und eine dritte Möglichkeit ist ausgeschlossen,
sondern Zustände ändern sich aufgrund von Zustandsänderungen in den be-
teiligten Bewusstseinen und Kommunikationen: Aus wahr wird falsch, und aus
falsch wird wahr mit nur einer begrifflichen Änderung, einer anderen Prämisse
oder einem Augen-Blick, einem Lächeln, einem Unterton, einem Zucken im
Mundwinkel …
4. Konstruktivismus und Systemtheorie entbinden die Wahrheit von ontologischen
Gewissheiten wie auch von persönlichen Überzeugtheiten. Sie sorgen damit
ihrerseits für eine Flexibilisierung des Sinngeschehens. Sobald der Seinsbezug der
Wahrheit aufgegeben wird, werden Wahrheiten verhandelbar. Wahrheit ist das,
worauf sich InteraktionspartnerInnen einigen können, was für sie akzeptabel ist.39

sie gerne leben möchten. Das radikalisiert die Eigenverantwortlichkeit in einem nicht
von allen zu ertragendem Maße.
39 Das ist nicht im Sinne der von Jürgen Habermas vertretenen Konsenstheorie der Wahrheit
gemeint, sondern im Sinne von Karl E. Weick, demzufolge Wahrheit immer auf einer
Einigung darüber gründet, was Wirklichkeit und was Illusion ist. Wahrheiten sind nicht
gültig, sie werden gültig gemacht durch Konsens. Weick (1985:12) nennt dies konsen-
62 2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?

Wahrheit ist keine Qualität von Sätzen oder Objekten, sondern eine Seite einer
Unterscheidung, die in der Kommunikation für die Kommunikation erwirkt
wird, um mit ihrer Hilfe Anschlusskommunikationen zu sortieren.
Wahrheit ist auch für KonstruktivistInnen eine Frage der Einigung, doch findet
für sie die Einigung nicht unter Ideal-, sondern unter Realbedingungen statt40.
Psychische und soziale Systeme erwirken sich die Formen von Wahrheit und
die Wahrheiten, wie sie ihren jeweiligen situativen Strukturen und Prozessen
entsprechen.
5. Damit aber fällt auch die Wahrheit als letzter Wert oder größtes Ziel. Für Kon-
struktivistInnen ist Wahrheit allenfalls ein subsidiärer Wert, ein Mittel, um zu
überleben bzw. so zu leben, wie man es möchte. Konstruktivistischen Wahrheiten
fehlt jedes Pathos. Man gewinnt ein nüchternes, abgeklärtes, vielleicht auch
ein unbeschwert verspieltes, in jedem Fall aber pragmatisches Verhältnis zur
Wahrheit. Wahr/falsch ist auch nur eine Unterscheidung, die ‚blind‘ angesetzt
werden muss und nur durch weitere Unterscheidungen, die ebenso ‚blind‘ an-
gesetzt werden müssen, unterschieden werden kann. Niemand kann nunmehr
ernsthaft noch rechthaberisch oder besserwisserisch auftreten. Man kann so
auf Streitereien über Wahrheitsansprüche und erst recht auf Kriege im Namen
der Wahrheit verzichten und statt dessen differente Entwürfe nebeneinander
stellen, um sie zu vergleichen und auf ihre Brauchbarkeit hin zu überprüfen.

suelle Validierung. Gültigkeit entsteht, wo Leute über Dinge einer Meinung sind, „weil
ihr gemeinsamer Sinnesapparat und gemeinsame zwischenmenschliche Erfahrungen
sie (diese Dinge T.B.) ihnen objektiv so erscheinen lassen“ (Munroe 1955:356f., zitiert
nach Weick 1985:12). ‚Konsensuelle Validierung‘ ist ein vorsichtiger Ersatzbegriff für
Wahrheit im korrespondenztheoretischen Sinne. Bei Wahrheitsfragen geht es für Weick
immer um eine Aushandlung von Wirklichkeit, die für die InteraktionspartnerInnen
annehmbar erscheint – unabhängig vom Ideal eines ‚herrschaftsfreien Diskurses‘.
40 Die TeilnehmerInnen der „Realitätskonferenz“ (Koch 1988) sind nicht unbedingt rational
motiviert, zeigen keinen Willen und keine Bereitschaft, vernünftig zu argumentieren,
Gegenargumente unvoreingenommen zu prüfen und einen allgemein akzeptierbaren
Konsens zu erzielen. Es geht nicht um die authentische Einbringung aller Bedürfnisse
und Wertungen, um argumentative Einigung (Konsensus), um Chancengleichheit,
also gleiche Verhandlungsmacht aller Beteiligten, um Zwanglosigkeit, um Verzicht
auf Persuasion und Sanktion, um unbeschränkte Information aller Beteiligten, um
argumentative Kompetenz der Beteiligten. Womöglich wirken subtile Mechanismen der
Rechthaberei, der Besserwisserei, der Macht oder instinktive Bereitschaften zur Unter-
werfung unter eine Autorität. Womöglich siegt die ausgebufftere Rhetorik. Womöglich
sind die Geduldsfäden der DiskursteilnehmerInnen für Disputation unterschiedlich
strapazierfähig. Womöglich siegt das bessere Sitzfleisch.
2.2 Wissenschaftliche Wahrheitsbegriffe 63

2.3 Ein Resümee

Das in diesem Kapitel Diskutierte lässt sich thesenartig wie folgt zusammenfassen:

t Weisheit, die Vorläuferin der Wahrheit, weiß, was wirklich wichtig und wie
begrenzt unser Wissen ist.
t Absolute Wahrheit versteht sich als reine, unteilbare Wahrheit, als irrtumsfreies,
unbezweifelbares Wissen.
t Objektive Wahrheit versteht sich als immer wieder in Zweifel zu ziehendes,
hypothetisches Wissen. Objektive Wahrheiten lassen sich nicht ein für alle Mal
verifizieren, sondern nur falsifizieren. Sie werden gewonnen aufgrund nachvoll-
ziehbarer, theoretisch korrekter und methodisch kontrollierter Erkenntnisge-
winnungsverfahren. Objektive Wahrheit meint immer nur eine Annäherung
an eine Wirklichkeit, die wir nie wirklich kennen werden.
t Alternativ zum absolutistischen und objektivistischen Wahrheitsverständnis
wurden folgende Wahrheitsbegriffe entworfen:
t Wahrheit als Widerspruchsfreiheit in sich stimmiger, formalisierter Satzgefüge,
t Wahrheit als konsensuelle Übereinkunft im Rahmen herrschaftsfreier Diskurse,
t Wahrheit als ein Anspruch, der jeder Aussage über Wirklichkeit per se in-
newohnt.
t Wahrheit als Konstruktion: Der Konstruktivismus torpediert mit der These:
„Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“ die logischen Grundlagen einer
absolutistischen wie objektivistischen Wahrheitstheorie. Er macht die Unter-
scheidung wahr/falsch im klassischen Sinne unbrauchbar weil ununterscheidbar.
Laut Konstruktivismus entdecken BeobachterInnen nicht die Welt, sondern
erfinden sie: Sie erzeugen die Welt, indem sie sie beschreiben. Die Unterschei-
dung wahr/falsch ist ein Teil der Beschreibung und selbst nur wieder mit Hilfe
von Beschreibungen als wahr oder falsch zu beschreiben.
t Konstruktivistisch betrachtet ist Wahrheit ein kontingentes, systemrelatives
Konstrukt, abhängig von den Unterscheidungen, die zum Zwecke der Beob-
achtung und Bezeichnung benutzt werden. Andere Unterscheidungen führen
zu anderen Beobachtungen und anderen Wahrheiten.
t Konstruktivistisch betrachtet sind wissenschaftliche Wahrheiten abhängig von
selbsterwirkten Theorien und Methoden. Andere theoretische Hintergründe und
andere methodische Vorgehensweisen führen zu anderen wissenschaftlichen
Erkenntnissen und anderen wahr/falsch-Unterscheidungen.
t Konstruktivistisch betrachtet ist Wahrheit weder ein letzter Grund noch ein
letztes Ziel, sondern (nur) die eine Seite einer Unterscheidung, deren andere
die Lüge oder der Irrtum ist. Die Wissenschaft nutzt Wahrheit als Symbol zur
64 2 Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?

Regulierung von Anschlusskommunikationen. Wahrheit ist das symbolisch


generalisierte Kommunikationsmedium der Wissenschaft.

Im professionellen Alltag sozialer Berufe werden Sie es nicht nur mit wissenschaftlichen,
sondern auch mit nicht-wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen zu tun bekommen,
z. B. wenn es um die Schlichtung eines Streits oder die Regulierung eines Konflikts geht.
Wie ist mit der Wahrheit in der alltäglichen Praxis umzugehen?
Lesen Sie
t Text 03: Wahrheit in der alltäglichen Praxis
auf der zu diesem Buch gehörenden Produktseite
http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9

Zur Überprüfung Ihres Lernerfolgs bearbeiten Sie bitte


t Arbeitsblatt 05: Zu Kapitel 2 – Wie unterscheiden sich Wahrheitsbegriffe?
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?
3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte? 3

Nachdem die Grenzlinien zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen


Denk- und Handlungsweisen abgeschritten und unterschiedliche wissenschaft-
liche Wahrheitsverständnisse ausgelotet wurden, richten wir nun den Fokus auf
Inhalte, die im Zentrum sozialer Berufe stehen. Da es in sozialen Berufen in aller
Regel darum geht, erziehend und bildend auf Menschen einzuwirken, stellt sich die
Frage: Was ist wert, gelehrt und gelernt zu werden? Wir sichten unterschiedliche
Verständnisse davon, worum es im Bildungsprozess geht bzw. gehen sollte.

3.1 Frühe Bildungskonzepte


3.1 Frühe Bildungskonzepte
„Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleibt im Dunkel unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.“
Goethe

Europa ist ca. 3000 Jahre alt, ein Gemisch aus unterschiedlichen kulturellen Quel-
len, vornehmlich aus der griechisch-römischen Antike und der jüdisch-christlichen
Religion.41 Das aus diesen Quellen gespeiste kulturelle Erbe wurde im Übergang
von der Spätantike zum frühen Mittelalter in Form von Textsammlungen gebündelt
und in die Zeit der Karolinger hinüber gerettet. Die Schriften des Alten und Neuen
Testaments waren der Prototyp eines Kanons („Richtschnur“), eines umrissenen
Corpus an bewahrenswürdigem Wissen, zu dem all das gerechnet wurde, was der
Schulbetrieb der römischen Kaiserzeit für unverzichtbar hielt, vor allem Gramma-
tik und Rhetorik für den freien Bürger. So bestand der Wissenskanon der ersten

41 Die folgenden Ausführungen verdanken sich wesentlich der Schrift von Manfred
Fuhrmann (2006): Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart: Reclam.

T. M. Bardmann, Die Kunst des Unterscheidens,


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
66 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

europäischen Schule zur Zeit Karls des Großen (747-814) aus einem christlichen
(Bibel und Bibelkommentare, Liturgieschriften) und einem weltlichen Kanon (die
Werke der klassischen römischen Autoren, später (seit dem Humanismus) auch der
griechischen Autoren sowie Lehrbücher zu den artes liberales, den ‚Freien Küns-
ten‘). Dabei diente der weltliche Kanon als unabdingbare Voraussetzung für ein
Verständnis des christlichen. Erst mit der Aufklärung gerieten beide in Konflikt,
was zu dem Ergebnis führte, dass der weltlich-humanistische den christlichen
ausschloss. Worum ging es im Einzelnen?

3.1.1 Die griechisch römische Antike

Bereits die griechische Antike wusste: Der Mensch ist kein von Natur aus fertiges
Wesen, sondern er bedarf der Bildung. So erklärte Platon (427-347/8 v. Chr.), dass
bereits Hesiod (ca. 700 v. Chr.) gewusst habe, dass das „Geschlecht des Menschen“
ursprünglich ungeformt sei und einer Bestimmung durch Lehre und Lernen,
durch Eingewöhnung und Unterricht bedürfe. Im Denken von Sokrates (470-399
v. Chr.) überschreitet der Mensch die Grenze zwischen Unbildung und Bildung,
indem er die Möglichkeiten eines guten und gerechten Lebens zu erkunden und
zu reflektieren beginnt. Dieser Erkundungs- und Reflexionsprozess erschien aller-
dings bereits Platon als unabschließbar, offen und ungewiss, obwohl sein Denken
von der visionären Utopie einer vollständig gerechten Staatsordnung beseelt war.
Aristoteles (384-322 v. Chr.) hatte die Bildung des Bürgers im Blick und verband
damit die Idee der Befähigung zum guten Handeln in eigenen und öffentlichen
Angelegenheiten. „Aristoteles entwickelt (…) die Idee einer – freilich auf den Kreis
der freien Bürger und ihrer Söhne eingeschränkten – allgemeinen und gemeinsamen
Bildung, die der Jugend von dem für das gute Leben Nützlichen, das für das freie
Handeln unbedingt Notwendige vermittelt. Dieses soll nicht eines bloß äußeren
Nutzens wegen gelehrt und gelernt werden, sondern weil es eines ‚freien Mannes
würdig und schön‘ ist (Politik 1838a). Als Gegenstände, die diese Kriterien erfüllen,
nennt Aristoteles Grammatik (Lesen und Schreiben) und Zeichnen sowie Musik
und Gymnastik“ (Benner, Brüggen 2008:210), woraus bei Isokrates (436-338) die
septem artes liberales (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie,
Astronomie und Musik) werden. Diese artes entsprechen der Allgemeinbildung
(enkyklios paideia) im alten Griechenland. Markus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.)
erweitert für die römische Antike die griechische paideia: Zu den studia humanitatis
stellt er Übungen für den öffentlich argumentierenden Bürger, den Redner bereit,
der als freier Mann in allen Fächern bewandert sein muss.
3.1 Frühe Bildungskonzepte 67

3.1.2 Die Zeit Karls des Großen

Nachdem das weströmische Reich zusammengebrochen war, verlagerte sich das


kulturelle Leben in die nordalpinen Räume, westlich und östlich des Rheins, die
Karl der Große (747-814) erstmals unter eine einheitliche politische Regentschaft
brachte. Die kulturelle Kontinuität verdanken wir vor allem der christlichen Kirche,
ihren Bischofssitzen, den Klöstern und Pfarreien samt ihrer in Rom zusammenge-
zogenen Gesamtorganisation, dem Vatikan. Sie bewahrten durch alle Krisen und
Kriege hindurch die Bücher, die Schriften, die Urkunden und Briefe auf, in denen
das kulturelle Erbe festgehalten war, und zwar in einer internationalen Sprache,
dem Lateinischen. Schon die karolingischen Kloster- und Domschulen vermittelten
elementare Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Doch als vornehmer,
als die jungen Menschen für irgendwelche praktischen Berufe vorzubereiten, galt
es, „ihnen eine geistige Orientierung angedeihen zu lassen: Sie sollten ihr Leben
im Hinblick auf Werte oder Ideale einrichten, die vorgegeben waren“ (Fuhrmann
2006:12).
Karl dem Großen war die Bedeutung der lateinischen Sprache zur Einigung des
Reiches – zumindest in öffentlichen Angelegenheiten – sehr wohl bewusst. Er erhob
das Latein der Kirchenväter zur Norm. Neben den vielfältigen Volkssprachen war
damit gesichert, dass Gottesdienste, Gesetzgebung und Verwaltung, Wissenschaft
und Literatur bis zum 17./18. Jahrhundert in einer normierten, über Landesgrenzen
hinweg gültigen Sprache erfolgten (vergleichbar dem Französischen im 17./18. und
dem Englischen im 20./21. Jahrhundert). Karl I. richtete an seinem Hof eine Mus-
terschule ein, an der sich die Kloster- und Domschulen, die das damalige allgemeine
Schulwesen darstellten, orientieren sollten. Man berief sich dabei auf Cassiodors
Institutiones. Darin waren alle Lehrbücher aufgelistet, die zum Studium der Artes
Liberales und zur Bibelauslegung maßgeblich waren. Der weltliche Kanon blieb
dem christlichen Kanon absolut untergeordnet. Er war Mittel zu dem Zweck, ei-
nen Zugang zur Bibel zu finden. „Der Anspruch der Religion war geradezu total“
(Fuhrmann 2006:17). Man rezipierte zwar die heidnische Literatur (Vergil, Ovid,
Homer etc.), doch nur zum besseren Verständnis der Heiligen Schrift oder um
deren Poesie und Prosa nachzuahmen. Auch nachdem das karolingische Reich
nach dem Tode Karls des Großen wieder zu zerfallen begann, so überlebte doch
sein Bildungskonzept dank der Kloster- und Domschulen.
Aufgrund der allmählichen Wissensexpansion auf den Gebieten der Jurisprudenz
und Medizin waren die Kloster- und Domschulen bald nicht mehr in der Lage, dieses
Wissen zu bearbeiten. So entstanden im frühen 13. Jahrhundert die ersten Universi-
täten, zunächst als „Gemeinschaften der Lehrenden“ in den einzelnen Fachgebieten
Theologie, Jurisprudenz und Medizin, dann als „Studiengemeinschaften“, die alle
68 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

Wissenschaften umfassten, inklusive der „Fakultät der Artes“ („Artistenfakultät“).


Von nun an war von einer Pluralität der ‚höheren‘ Wissenschaften auszugehen. Die
Artes wurden zum obligatorischen Allgemeinwissen, die drei Fachgebiete Theologie,
Jurisprudenz und Medizin formierten sich als Fachwissen. Das bedeutete für die
Kloster- und Domschulen, dass sie sich quasi ‚nur noch‘ auf die Vorbereitung auf
ein universitäres Studium konzentrierten.

3.1.3 Die jüdisch-christliche Tradition

Im europäisch-christlichen Mittelalter legte Thomas von Aquin (1225-1274) den


antiken Bildungsgedanken theologisch aus und bezog ihn auf eine göttliche
Schöpfungsordnung. Bildung wurde (vor allem nach dem IV. Laterankonzil, 1215)
weitgehend kirchlich definiert und im Sinne religiöser Bildung verstanden: Es galt,
den Menschen zu einer gottesfürchtigen und gottgefälligen Person zu erziehen, die
den Verführungen des Satans zu widerstehen vermag. Gemeint waren auch hier,
wie in der griechischen und römischen Antike, nicht alle Menschen gleicherma-
ßen, sondern vorzüglich Adelige und Geistliche. Religiöse Bildung war also das
Privileg einer kleinen, lesefähigen, meist klerikalen Minderheit. Das stand zwar
im Widerspruch zur urchristlichen Überzeugung, dass alle Menschen gleich seien,
doch diesen Widerspruch galt es zu ertragen, denn wenn die Menschen auch nicht
vor den weltlichen Fürsten als gleich galten, so doch vor Gott.
Durch Predigt und Katechese wurde den Menschen ein Bewusstsein ihrer eigenen
Sündigkeit vermittelt, abgefedert durch die Möglichkeit der Beichte (Selbsterfor-
schung, Selbstanalyse, Sündenbekenntnis) und der aufrichtigen Reue und Buße.
Neben der heiligen Schrift und ihren Zehn Geboten gab es Tugend- und Lasterlisten,
anhand derer jeder Einzelne sein Gewissen erforschen und darüber zur sittlichen
Güte und Reife (Bildung!) finden konnte (siehe z. B. Peter Abaelard (1079-1142) oder
weniger dogmatisch, weniger substantialistisch, deutlich subjektivierter Meister
Eckhart (1260-1328), Heinrich Seuse (1295-1366), Johannes Tauler (um 1300-1361)).
Anders als heute wurde die religiöse Bildung im Mittelalter noch als Tradierung
einer bestimmten, hier katholischen Religionsgemeinschaft verstanden und durch
„Einschleifen“ von Haltungen und Handlungsweisen durch z. T. rigide Bestrafungen
(also nicht nur Belehrung und Unterweisung) zu vermitteln versucht. Heute geht
man eher von mündigen und selbstbestimmten Gläubigen aus, die ihre Gläubigkeit
selbst zu klären haben. Religion ist in den westlichen Kulturen zur Option geworden.
Zumindest in den staatlichen Bildungsinstitutionen offener Gesellschaften, die eine
Vielzahl an religiösen Überzeugungen und Ausdrucksformen akzeptieren, hat man
sich von einem ‚learning from religion‘ auf ein ‚learning about religion‘ verlegt.
3.2 Humanistische Bildungskonzepte 69

3.2 Humanistische Bildungskonzepte


3.2 Humanistische Bildungskonzepte
3.2.1 Die Zeit Melanchthons und Luthers – Humanismus und
Reformation

Die Humanisten stellten – im Gegenzug zur Scholastik – etwas ganz Altes (die rö-
mische und griechische Antike) als etwas ganz Neues (ein neues Menschenbild) dar
(Renaissancehumanismus seit dem 14. Jahrhundert). Mit dem Fall Konstantinopels
(1453) gerieten viele griechische Schriften in den Westen, die man bislang ignoriert
hatte. Zudem führte die Erfindung des Buchdrucks dazu, dass die Schriften eine
enorme, noch nicht gekannte Verbreitung fanden. Die Humanisten sorgten dafür,
dass alle wichtigen Schriften in einem erneuerten, lebendigeren Latein verfügbar
wurden. Zum letzten Mal erleben wir hier ein gesamteuropäisches Projekt als ein
nicht auf die Nationalsprachen verteiltes Phänomen (vgl. Fuhrmann 2006:21).
Zu den ‚heiteren‘ Humanisten gesellten sich die ‚strengen‘ Reformatoren. Sie
sorgten weniger für inhaltliche als für institutionelle Veränderungen: Sie machten
aus den kirchlichen Schulen städtische, landesherrliche Anstalten. Sie traten für eine
Verweltlichung des Schulwesens ein. Die stärksten Impulse kamen aus Wittenberg
von Philipp Melanchthon (1497-1560), aus Zürich von Ulrich Zwingli (1484-1531)
und aus Straßburg von Johannes Sturm (1507-1589). Diese Reformatoren sorgten
dafür, dass man die alten Sprachen lehrte, doch weniger, um die Bibel und die sie
erklärende Literatur zu verstehen, als um sich mit Cicero oder Homer auseinander-
zusetzen – auch wenn die Lateinschule streng ans kirchliche Leben gebunden blieb.
Die großen Erfolge der protestantischen Schulwesenarbeit in der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts wurden erst 200 Jahre später von katholischer Seite her durch die
Jesuiten, maßgeblich durch Ignatius von Loyola (1491-1556) beantwortet. „Ihnen
gelang zum ersten Mal eine großflächige Vereinheitlichung des Unterrichtswesens
im Stil eines modernen europäischen Staates“ (Fuhrmann 2006:25). Protestanten
wie Katholiken gründeten ihre Schulen auf dem Humanismus. Sie unterschieden
sich somit inhaltlich nicht sonderlich.

3.2.2 Die Zeit Goethes und Schillers – Neuhumanismus

Der Neuhumanismus brachte in Deutschland das Gymnasium und die Berliner


Universität hervor, ein Bildungskonzept, das fürs restliche Europa Vorbildcharakter
erhalten sollte. Die Glaubenskriege des 16./17. Jahrhunderts hatten die christliche
Religion kompromittiert. Im Horizont der Aufklärung sollten das Ideal der von
ihrer Vernunft geleiteten Persönlichkeit und der dieses Ideal institutionell garan-
70 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

tierende Nationalstaat als Ziele dienen. Die Wissenschaften, die bildenden Künste,
die Philosophie und die Literatur lösten sich aus der christlichen Umklammerung.
Statt der Bibel sollten die Wissenschaften das neue Weltbild prägen. Im Zuge dieser
Säkularisierung wurde der Philosophie die Aufgabe anvertraut, wissenschaftliches
Wissen und schulische Bildung (über Grundschulen, Gymnasien und Hochschu-
len) zusammenzuführen, an den Universitäten sollten Forschung und Lehre zur
Einheit gebracht werden, um so einer ganzheitlich-integralen Entfaltung der
Menschenbildung zu dienen. Besonders markant: Das Lateinische wurde im Laufe
des 18. Jahrhunderts an den Universitäten durch die Nationalsprachen ersetzt. Es
war von nun an keine unabdingbare Studienvoraussetzung mehr, lateinisch lesen
und schreiben zu können. Zudem wurden religiöse Lehrinhalte weitgehend durch
weltliche ersetzt und durch weltliches, nicht theologisches Lehrpersonal gelehrt.
Dies betrieben zum einen die Philanthropinisten, die sich am bürgerlichen Nut-
zendenken orientierten, und die Neuhumanisten, die sich im Gegensatz dazu dem
Utilitaritätsdenken verweigerten und die Ideale der alten Griechen als Gegenent-
würfe zur Wirklichkeit propagierten.
Die Neuhumanisten setzten sich durch, nicht zuletzt aufgrund der Rückende-
ckung aus Weimar, wo eine scharfe Kritik am Utilitarismus des Vernunftzeitalters
formuliert wurde. Diese Kritik „richtete sich gegen das Leitbild des durch sein
Spezialistentum legitimierten nützlichen Gliedes der Gesellschaft und forderte
stattdessen die Persönlichkeit als ein Ziel, das sich nur durch die harmonische
Entfaltung aller Anlagen und Kräfte verwirklichen lasse“ (vgl. ebd.:229f.). Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832) wie Johann Christoph Friedrich von Schiller
(1759-1805) hofften darauf, dass sich die klassischen Ideen und Ideale Griechen-
lands als Inbegriffe höchster Humanität Kraft der entfesselten Vernunft in Europa
abermals verwirklichen ließen. Selbst die preußischen Staatsmänner, allen voran der
Freiherr von und zum Stein, setzten nach der erlittenen Niederlage gegen Napoleon
statt auf kleinkrämerisch-egoistisches Gewinnstreben auf eine ideale Gesinnung
der Jugend. Wilhelm Freiherr von Humboldt (1767-1835) setzte schließlich die
neuhumanistischen Ideen in seinem dreigliedrigen Schulsystem (Elementarschule,
Gymnasium, Universität) um. Im Gymnasium, das auf die Universität vorbereiten
sollte, ohne ihre Inhalte vorwegzunehmen, wurde das Christliche zugunsten des
Humanistischen stark zurückgedrängt.
Die humanistische Bildung zielte, nachdem Francis Bacon (1561-1626) die
bildungsstrategisch enorm wichtige Trennung von Religion und Wissenschaft
vorangetrieben und damit jeder Bevormundung durch Religion eine Absage
erteilt hatte, ab Mitte des 18. Jahrhunderts auf die Menschwerdung des Menschen
im umfassenden Sinne. So kämpfte Humboldt (vgl. 1960), befreundet mit Schiller
und Goethe, gegen den Untertanengeist an und plädierte für Freiheit, die vor allem
3.2 Humanistische Bildungskonzepte 71

in den Künsten und im Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnis zu realisieren


sei. Die Bildungsidee bei Goethe erwuchs aus dem Protest gegen den Utilitarismus
des Vernunftzeitalters. Vor Augen stand der deutschen Klassik nicht der materi-
elle Erfolg, sondern Humanität, ein sittliches wie ästhetisches Ideal menschlicher
Vollkommenheit. Statt beruflicher Tüchtigkeit ging es ihr um eine ganzheitliche
Entwicklung des Selbst, wofür vor allem der Bereich der Kunst dienlich schien.
Kunst galt als Wesenserfüllung des schöpferischen, sittlich integeren Menschen.
Das mystifizierte, auf Humanität hin stilisierte Griechenbild repräsentierte die
eigenen Wünsche und Sehnsüchte.
Der Mensch wird nunmehr als „Werk seiner selbst“ (Johann Heinrich Pesta-
lozzi (1746-1827); vgl. Frymütige Nachforschungen über den Gang der Natur in
der Entwicklung des Menschengeschlechts (1797)) ernst genommen.42 Damit wird
er, wie man heute sagen würde, zu einem Joker, der selbst vollkommen wertoffen
ist, aber alle Werte annehmen kann. Der Mensch besitzt die Fähigkeit, beliebige
Fähigkeiten zu entwickeln (Jean-Jacques Rousseau (1712-1778); vgl. Émile oder
Über die Erziehung (1989)). Unser Geschlecht muss selbst aus sich machen, was aus
ihm werden kann und soll, erklärt Johann Gottfried Herder (1744-1803) in seinen
Briefen zur Beförderung der Humanität (um 1794). Jedes Tier ist, was es ist: Der
Mensch allein ist ursprünglich gar nichts. Bildsamkeit als solche ist der Charakter
der Menschheit, erklärt Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) in seinen Grundlagen
der gesammten Wissenschaftslehre (1794).
Die Kräfte der Persönlichkeit sollen im Zuge eines Prozesses des Sichbildens zur
vollen Entfaltung gebracht werden durch die Befähigung zur Teilhabe an allen
historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Belangen – nicht nur an der auf
Verwertung und Vernutzung abstellenden, ökonomisch und technokratisch gepräg-

42 Pico della Mirandola (1463-1494) hatte bereits 300 Jahre zuvor die freie Bildsamkeit
des Menschen geradezu als Kern seiner Würde begriffen: Der Mensch ist nicht durch
seine Natur determiniert, er muss sich selbst definieren, selbst entwerfen. Pico della
Mirandola lässt Gott, den ‚höchsten Künstler‘, zu Adam sagen: „Wir haben dir keinen
bestimmten Wohnsitz noch ein eigenes Gesicht, noch irgendeine besondere Gabe ver-
liehen, o Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle
Gaben, die du dir sicher wünschst, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen
Meinung haben und besitzen mögest. (…) Du bist durch keinerlei unüberwindliche
Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen
Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen. Ich
habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von dort bequem um dich schaust,
was es alles in dieser Welt gibt. (…) Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehes zu
entarten. Es steht dir frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluss
deines eigenen Geistes zu erheben“ (Pico della Mirandola, 1486, zitiert nach Benner,
Brüggen 2008:212).
72 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

ten Berufswelt. Das humanistische Bildungsideal wendet sich somit „gegen eine
ständische Gliederung der Bildungswege und gegen eine wirtschaftlich begründete
Zersplitterung der Subjektvermögen“ (Bernhard 1997:67). Handeln und Denken,
Wissenschaft und Kunst, Können, Wissen und Ästhetik sollen ganzheitlich integriert
werden. Das Ziel der ‚proportionierlichsten Bildung‘ der Kräfte zu einem harmo-
nischen Ganzen kann aber nach Humboldt nur gelingen, wenn die Aufgaben des
Menschen nicht mit seinen Funktionen in der Gesellschaft und seinem Nutzen für
die Gesellschaft gleichgesetzt werden (vgl. Schäfer 2006:34). Der Bildungsprozess
ist nicht mehr teleologisch auszurichten, er muss vielmehr unbestimmt und offen
bleiben, von keinen sittlichen oder staatlichen, wirtschaftlichen oder religiösen
Gewissheiten bevormundet.
Im Gegensatz zur umfassenden humanistischen Bildungsidee zielt die Berufs-
ausbildung vor allem auf die Vermittlung von Fertigkeiten, Kenntnissen und Fä-
higkeiten für die spätere Berufsausübung, wobei das Bildungsziel der Entwicklung
einer Persönlichkeit in den Hintergrund tritt. Die humanistischen Prinzipien der
Selbstgestaltung und Selbsttätigkeit (bei Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782-1852)
als Selbstbelehrung im Spiel, bei Maria Montessori (1870-1952) als absorbierender
Geist und Autodidaktik in den ‚sensiblen Phasen‘, bei Herman Nohl (1879-1960) als
balancierende Selbstbildung zwischen polaren Gegensätzen43) treten im Konzept der

43 Folgt man dem pädagogischen Grundverständnis von Herman Nohl (1960), kann es in
der Pädagogik nicht um die Vermittlung eines fest geschnürten Bestandes an Wissen
und Fähigkeiten gehen, sondern nur um die taktvolle Förderung der Selbstbildung im
Sinne eines Balanceaktes zwischen polaren Gegensätzen wie Leben und Form, Erlebnis
und Gestalt, Freiheit und Gesetz resp. Gehorsam, Individuum und Gemeinschaft, Ge-
genwarts- und Zukunftsorientierung, Tradition und Erneuerung, Säkularisierung und
Transzendenz. Für Nohls Bildungsverständnis sind m. a. W. ganz im hier vertretenen
Sinne gewisse Unterscheidungen maßgeblich: „Wo die Bildung echt dynamisch gesehen
wird, zeigt sie die polare Spannung von ständigem Werden und zugleich Ständig-
werden, ein Verhältnis von Grenzenlosigkeit und Begrenzung, von Freiheit und
Festigkeit zugleich. Sich gestalten aus der Grenzenlosigkeit des Lebens erscheint als
die große Bildungsleistung, aber zugleich bleibt die Aufgabe, bei dieser Festigung
die freie Lebendigkeit zu bewahren“ (Nohl 1960:78; Hervorhebung T.B.).
Nicht zufällig betont Nohl im Rahmen seiner differenztheoretisch konzipierten
Pädagogik das Problem des Maßes. In polaren Spannungsverhältnissen geht es
immer um die doppelte Möglichkeit des Zuviel und Zuwenig. „Jedes Heilmittel
kann zum Gift werden und umgekehrt jedes Gift zum Heilmittel, die Dosis
entscheidet“ (Nohl 1960:82). Fürs richtige Maß gibt es keine objektiven Kriterien. Wir
sind auf verantwortungsvolle Entscheidungen der PädagogInnen und der Pädagogisierten
im Umgang mit den Unterscheidungen angewiesen wie auch darauf, dass sie die jeweils
relevanten Polaritäten erkennen.
In etlichen Einführungen ins wissenschaftliche Denken und Arbeiten werden die wichtigen
Polaritäten der Pädagogik häufig ausgeblendet und nicht so entfaltet, dass eine verantwor-
3.2 Humanistische Bildungskonzepte 73

Berufsausbildung zugunsten von Fremdbestimmungen zurück. Die Arbeits- und


Berufswelt soll bestimmen, was zu lernen ist. Was keinen unmittelbaren Bezug zur
beruflichen Tätigkeit hat, soll auch den Bildungsprozess nicht belasten. Eine selbst-
bewusste Persönlichkeit stört unter Umständen nur die Ansprüche der Berufswelt.
Die Berufsausbildung ist, falls nötig, durch berufliche Fortbildung (Weiterbildung)
zu ergänzen. Weiterbildung wird unter dem Eindruck einer ständigen Entwicklung
der Arbeitsverhältnisse unverzichtbar. Sie dient der Aktualisierung und Vertiefung
berufsbezogener Qualifikationen.

3.2.3 Das 20. Jahrhundert – Bildung als Luxusgut

Das 20. Jahrhundert führt zu einer radikalen Umkehr. Die alten Sprachen werden
(aufgrund des Nationalismus wie auch aufgrund des Utilitarismus) massiv einge-
engt und verdrängt. Die humanistische Bildung wird als unzeitgemäß kritisiert.
Unregelmäßige Verben und die Abenteuer des Odysseus passen nicht zur tech-
nisch-industriellen Revolution. Das Gymnasium hört auf, Gegenwelt zu sein. Es
wird zum Spiegel einer hochtechnisierten, hochspezialisierten, kapitalistischen
Wirklichkeit. Die humanistische Bildung ist nicht mehr Kernmerkmal einer
selbstbewussten Bildungsschicht, sondern Liebhaberei einiger weniger, die sich
das Luxusgut Bildung leisten können und darüber selbst zu Spezialisten werden.
Mit dem Untergang der humanistischen Bildung, zumal dem Verzicht auf den
Lateinunterricht, verliert Europa den einheitlichen Zugang zu seinen eigenen Wur-
zeln bis hinein in die Antike. Nachdem man im 18. Jahrhundert das Schulwesen
aus den Händen der Kirche nahm und dem Staat übertrug, schickt der Staat sich
im 20. Jahrhundert an, selbst nur noch für die Rahmenbedingungen zu sorgen und
es den SchülerInnen zu überlassen, was sie lernen wollen. Fuhrmann bringt diese
Tendenz auf den Punkt: „Dieses Höchstmaß an Freiheit – an Freiheit von Kirche
und Staat, von Christentum und Humanismus – hat seinen Preis: Die europäische
Schule der Gegenwart ermangelt einer die Realität im Vorhinein ordnenden Orien-
tierung, sie ermangelt einer Kraft, die das Vielerlei möglichen Wissens durchdringt
und zu einer sinnvollen Einheit bindet“ (Fuhrmann 2006:34, Hervorhebungen T.B.).
Die Zeit der Weltkriege hat die deutsche Bildungsidee aufgelöst und zerstört.
Bildung vermochte der menschlichen Destruktivität keinen Einhalt zu gebieten;

tungsvolle Entscheidung des Für und Wider oder des Wie viel möglich wird. Nohl findet
für derartige Einseitigkeiten harte Worte: Wer als ErzieherIn die Polaritäten unterschlägt,
tendiere statt zu Erziehung und Bildung zu Dogmatik, Dressur und Propaganda (vgl. Nohl
1960:79).
74 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

sie vermochte es nicht, sich dem Missbrauch zu widersetzen. Sie ließ sich deformie-
ren durch den Nationalismus. Ihre Schwächen wurden offenkundig: ihr unklares
Verhältnis zur Politik, ihr negatives Verhältnis zur Ökonomie und zur Technik.
So fiel sie dem gesellschaftspolitischen Denken der 60er Jahre zum Opfer. 1973
verabschiedete man sich vollständig von der deutschen Bildungsidee: „Bildung
wurde (…) nicht mehr als geistiger Prozess verstanden, der das Individuum zur
Selbstständigkeit und Freiheit, zur Teilhabe am Kulturganzen und zu vorausset-
zungsreichen ästhetischen Wahrnehmung befähigen sollte; sie fungiert nur noch als
‚gesamtökonomischer Produktionsfaktor‘ sowie als ‚individueller Statusfaktor‘, d. h.
als die die künftigen Konsummöglichkeiten und den künftigen gesellschaftlichen
Status bestimmende Instanz“ (ebd.:52).

3.2.4 Kritische Bildungstheorien

Gegen eine Tendenz zur Ökonomisierung der Bildung formierte sich bereits in den
60er Jahren die Kritische Pädagogik. Sie griff die Devise „Bildung für alle!“ auf, die
im Zuge der Französischen Revolution von der aufstrebenden bürgerlichen Klasse
des 18. Jahrhunderts propagiert wurde, denn mit dieser Forderung verband sich
eine Ablösung feudaler Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse und der Versuch,
eine neue Gesellschaft freier und gleicher Bürger zu schaffen.
Die bürgerlichen Bildungsambitionen entspringen „der kritischen Distanz des
aufgeklärten Menschen zur Theologie, Metaphysik, Ständegesellschaft und wendet
sich mit dem Pochen auf Mündigkeit gegen das Menschsein einengende Abzwe-
ckungen auf gleichsam als naturwüchsig aufgefasste Verhältnisse“ (Menze 1995:351).
Die Menschen schütteln eine vorgeblich gottgegebene, natürliche Ordnung ab
und schaffen sich ihre Ordnungen von nun an selbst. Sie werden zu den Subjekten
der Geschichte. Vernunft und Bildung werden zu den wichtigsten Potenzen: „Die
Befreiung des aufstrebenden Bürgertums von den Fesseln feudalistischer Produk-
tions- und Herrschaftsverhältnisse setzt einen Prozess der Bewusstwerdung voraus,
der über das Programm der Bildung realisiert werden soll. Bildung wird zu einem
politischen Instrument im Kampf gegen die Hegemonie von Adelsherrschaft, feuda-
ler Hierarchie und Standeserziehung“ (Bernhard 1997:64; Hervorhebungen T.B.).
Der politische Impetus der Bildung liegt darin, sich allem Ein- und Anpassenden,
allem Einschränkenden und Unterdrückenden gegenüber kritisch zu verhalten.
In ihrer neomarxistischen Ausrichtung, die eine Kritik der politischen Öko-
nomie, sprich: der kapitalistischen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse
beinhaltet, erkennt die Kritische Pädagogik in den bürgerlichen Bildungstheorien
den Niederschlag gesellschaftlicher Antagonismen: Einerseits geht es um Bildung
3.2 Humanistische Bildungskonzepte 75

als „Vorbereitung auf das berufliche Leben in einer neuen, von Verwertungs- und
Konkurrenzzwängen durchdrungenen Gesellschaft“, andererseits geht es um
Bildung als dem Vermögen, „sich dem gesellschaftlichen ‚Verfügungsdruck‘ zu
entziehen, indem sie [die Bildung] auf ‚Selbstbewusstwerdung‘, ‚eigenständige
Handlungsfähigkeit‘ und ‚Selbstermächtigung‘ orientiert“ (ebd.).44
In den bürgerlichen Gesellschaften, zumal unter dem Einfluss des Neoliberalismus,
droht der emanzipative Anspruch der Bildung immer mehr zurückgedrängt und
Bildung auf Qualifizierung für das von der Gesellschaft benötigte Arbeitsvermögen
reduziert zu werden. Dabei könnte die Bildung ermöglichen, was nicht in der Macht
der Erziehung steht: eine eigenständige, von gesellschaftlichen Vorgaben unabhän-
gige geistige Erschließung der Welt. Bildung beinhaltet immer auch eine bewusste
Freisetzung der Persönlichkeit des sich bildenden Subjekts. Bildung meint die Aus-
bildung von Selbstbewusstsein, Bewusstsein von sich selbst als Subjekt des eigenen,

44 Die Trennung von allgemein bildendem und beruflichem Bildungswesen hat auch etwas
mit der Wissensexplosion in der Moderne zu tun: Menschen können nicht mehr alles
wissen, sondern müssen sich in und an je unterschiedlichen Weltausschnitten mit
jeweiligen Spezialbildungen orientieren. Wenn es noch ein Bildungsideal zu vertreten
gibt, so heißt es, ist es das der möglichst allseitigen Sachbildung zwecks Beherrschung
unterschiedlicher Kontextanforderungen. Diesem Bildungsverständnis ist allerdings
jede Form von Opposition fremd. Sie verschreibt sich einem opportunen Konformis-
mus. Die Formel der Persönlichkeitsbildung wird leer, wo die Aspekte der Freiheit und
Selbstbestimmung auch gegen gesellschaftliche Ansprüche verloren gehen.
Die Idee der polytechnischen Bildung versuchte, die Bildung vollseitig entwickelter Men-
schen zu retten. Sie wendete sich mit ihrer Theorie einer sozialistischen Allgemeinbildung
gegen das neuhumanistische Bildungskonzept, das als praxisfern, intellektualistisch,
apolitisch und affirmativ verworfen wurde.
Humanistische Bildung heute belässt den Dimensionen Arbeit, Beruf, Technik und Politik
ihr Recht, bringt zugleich aber auch Aspekte wie Mitmenschlichkeit, Verantwortung,
Aushalten von Widersprüchen und Konflikten mit ein (Litt). Sie überwindet den Bil-
dungsidealismus, indem sie sich empirisch rückversichert und nach den Anforderungen
fragt, die eine konkrete Welt an konkrete Individuen stellt. Sie will ganz praktisch zur
Bewältigung von konkreten Lebenslagen beitragen. Dazu kann sie sich nicht endgültig
festlegen. Warum? Weil das menschliche Dasein sich nicht in Funktionen erschöpft
und selbst so unausschöpfbar ist wie das Leben selbst (vgl. Menze 1995:356).
Klafki (1994) bemüht sich mit seinem Konzept der kategorialen Bildung um einen
Kompromiss, in dem materiale Bildung (hier geht es um den Bildungswert gewisser
Bildungsinhalte, unabhängig von den konkreten Lebensbedingungen und Sozialisations-
problemen der sich bildenden Subjekte) und formale Bildung (hier geht es um individuelle
Fähigkeiten und Kompetenzen, um den Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens
Genüge zu tun) kombiniert werden: Die Aneignung von wertvollen Bildungsinhalten
und von elementaren Fähigkeiten und Kompetenzen stehen in einem wechselseitigen
Förderungsverhältnis. Bildung ist ein Vorgang wechselseitiger Anreicherung von
Bildungsstoff und Bildungssubjekt (vgl. Bernhard 1997:68).
76 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

selbstbestimmten Erlebens, Erkennens und Handelns. Bildung hebt die Fixierung


an das unmittelbar Gegebene auf. Sie ermöglicht die aktive, kritisch distanzierte
Auseinandersetzung mit den umgebenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen.
In der Erziehung, etwa im schulischen Kontext, kann Bildung provoziert,
angestoßen, freigesetzt werden. Doch einmal in Gang gesetzt, bleibt der Bildungs-
prozess nicht auf erzieherische Bereiche beschränkt. Jeder Lebensvollzug bildet,
ob Alltagserfahrung, politische Aktion oder Selbstbildung. Im Bildungsprozess
erschließen die Menschen sich die Welt (potentiell alle Kultur- und Wissensbestände
der Menschheit) und ihr eigenes Ich (die eigene Persönlichkeit) gleichermaßen.
In dieser Parallelaktion kann es zu einem gesellschaftskritischen Lernprozess
kommen, „insofern hier die im Sozialisationsprozess auftretenden Kränkungen,
Einschränkungen, Selbstunterdrückungsmechanismen, Selbstunterwerfungen als
gesellschaftliche Behinderungen unserer emanzipativen Selbstwerdung erfahren
und in politische Bildungsprozesse umgesetzt werden können“ (ebd.:67). In einer
Gesellschaft, die ihre Entwicklungsperspektiven nahezu ausschließlich an ökono-
mischen Fortschritt und wirtschaftlichen Gewinn anlegt und diese mit Macht und
Herrschaft durchzusetzen versucht, wird Bildung als elementare Produktivkraft,
als ‚Humankapital‘ zu einem umkämpften Kräftefeld (vgl. ebd.:69).
„Die auf sozialer Ungleichheit aufgebaute Gesellschaft bedarf der Bildung
als Qualifikation, als Schulung, als Training, nicht aber als eines emanzipativen
Erkenntnisvermögens. (…) Die Bildung, die sie zur Verfügung stellen muss, kann
gleichsam gegen sie selbst gewendet werden, wenn die lernenden Subjekte sie als
emanzipatives Erkenntnisvermögen nutzen“ (ebd.:70). „Im Sozialisationsprozess
dringt Gesellschaft in die Individuen ein und pflanzt in ihnen die für das Zusam-
menleben notwendigen Werte und Normen ein“ (ebd.). Erziehung wird zu einem
Instrument, die Heranwachsenden den vorherrschenden Interessen unterzuordnen,
sie fremdbestimmten Ansprüchen anzupassen, sie gesellschaftlichen Direktiven
zu unterwerfen. Diese „Vergewaltigung“ wird als solche meist nicht erfahren.
Die ästhetische Aufbereitung der Umwelt und die kulturindustrielle Berieselung
unterlaufen eine Bewusstwerdung. Eine Kritische Pädagogik hält all dies bewusst.
3.2 Humanistische Bildungskonzepte 77

Hansen

3.2.5 Bildung in der Erlebnisgesellschaft

Manfred Fuhrmann (2006) beklagt ebenfalls den Verfall der Bildung. Er versucht,
ihren Verfall jedoch nicht über das Konzept Spätkapitalismus, sondern über das
Konzept Erlebnisgesellschaft von Gerhard Schulze (1992) gesellschaftsdiagnostisch
einzuordnen. In der Erlebnisgesellschaft – vor allem in der breiten Mittelschicht
– gehe es weniger um vertikale, materielle als vielmehr um horizontale, expressive
Ungleichheiten. Die Gesellschaft der 80er und 90er Jahre sei nicht mehr geprägt
von den Notwendigkeiten der Existenzsicherung, sondern von einem Mangel am
Mangel, sprich: von der Freiheit, die Lebenszeit nach eigenen Wünschen zu ge-
stalten. Jenseits von Stand und Klasse (Beck 1983) ginge es um die Gestaltung des
je eigenen Lebensstils entsprechend vorgegebener kultureller Schemata, die ein je
besonderes Erleben verbürgen.
Schulze analysiert unter dem Titel ‚Erlebnisgesellschaft‘ die neue alltagsästhetische
Ordnung, nach der sich eine horizontale Ordnung von Erlebnissphären etabliert
hat, je nach Genuss- und Distinktionsformen und den entsprechenden Lebensphilo-
sophien. Schulze unterscheidet alltagsästhetische Schemata wie Hochkulturschema
(Vorliebe für klassische Musik, Museumsbesuche, gute Literatur etc.), Trivialschema
(Vorliebe für Volksmusik, Arzt- und Liebesromane, Quiz- und Dauerwerbesendun-
gen etc.) und Spannungsschema (Vorliebe für Rockmusik, Kinobesuch, Ausgehen,
Discos, Kneipen, Thrillerlektüre etc.). Während im Spannungs- und Trivialschema
klassische Bildungsansprüche bereits weitestgehend aufgegeben ist, überlebt das,
78 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

was vom bürgerlichen Bildungskanon noch übrig geblieben ist, ausschließlich im


Hochkulturschema. Hier werden von speziellen ‚Definitionsagenturen‘ (Universi-
täten, Museen, Reiseführern, Fernsehsendern, Bühnen, Konzertdirektionen etc.)
die Bildungsgüter definiert, aufbewahrt und immer wieder auf den neuesten Stand
gebracht. Der Zugang zu den Genüssen der Inhalte der Hochkultur ist nicht mehr
an einem exklusiven sozialen Status des ‚Gebildeten‘ gebunden, sondern beruht
auf einer individuellen Wahl. Prinzipiell steht es jedem ohne weiteren hierarchi-
schen Anspruch offen, sich den Bildungsgütern zuzuwenden. Auch haben sich
die geltenden Maßstäbe bezüglich Hochkultur aufgeweicht, nachdem Mach- und
Kunstwerke unterschiedlichster Provenienz und Weltanschauung angeboten und
verhandelt werden. Was aber bleibt, ist der Umstand, dass sich – bei aller Offenheit
– ohne einige höhere Bildung ein ergiebiger Zugang zu den Inhalten des Hoch-
kulturschemas schwierig gestaltet. Höhere Bildung aber ist laut Fuhrmann und
Schulze höchstens noch zwei Milieus eigen: dem Selbstverwirklichungs- und dem
Niveaumilieu, allenfalls auch noch dem Integrationsmilieu, in keinem Fall aber
dem Unterhaltungs- und dem Harmoniemilieu.
Anders als noch in der frühen Nachkriegszeit ist Bildung laut Fuhrmann und
Schulze nicht mehr über Schichtung abgesichert. In einer nahezu total nivellierten
Gesellschaft gibt es keine eindeutig identifizierbare, in sich homogene gesellschaft-
liche Gruppe mehr, die das Hochkulturschema repräsentierte. Vielmehr greife der
Individualismus: Bildung wird zur Frage individuellen Entscheidens.
Eben das spiegelte sich in der sogenannten Oberstufenreform der 70er Jahre
wider, die sich unter dem Motto Vielfalt statt Einheit von der klassischen deutschen
Bildungsidee verabschiedete und die Bildungsfrage im Rahmen von Kurssystemen
der Wahl und der Willkür der SchülerInnen überließ. Die alten Sprachen wurden
sich selbst überlassen. Im Deutschunterricht herrscht seither Kanonlosigkeit. Da-
mit sind die Grundpfeiler der bürgerlichen Bildung in sich zusammengebrochen
bzw. abgeschafft. Alles, was über sie zu lernen war, von weisen Sprüchen, Zitaten,
Formeln und Gleichnissen über sprachliche Strukturen, Versmaße, Grundprob-
leme politischen Handelns und politischer Machtausübung bis hin zu Frage- und
Diskurstechniken, ging verloren. Die Substanz löste sich auf, übrig bleibt in der
Erlebnisgesellschaft ein „Vergnügungspark von allerlei Kunstgenüssen“ (Fuhrmann
2006:71).
Nur Reste dessen, was einmal Bildung meinte, haben überlebt. Und jenseits der
Bildungsstätten bemüht man sich um Kompensation, indem man viel Didaktik
investiert. Waren es einmal wenige, die sich intensiv auf die hochkulturellen Inhalte
kaprizierten, so sind es heute viele, die sich mehr oder weniger oberflächlich auf
einen Teil davon einlassen. Was einmal als ‚gesellschaftliches Ereignis‘ gewürdigt
wurde, ist heute aufgrund technischer Reproduzierbarkeiten omnipräsent und
3.3 Halbbildung 79

jedem zugänglich. Was an den Gymnasien als Allgemeinbildung angeboten und


zum Genuss benötigt wurde, findet sich heute in Teilen im Kulturbetrieb wieder, wo
man in allen Bereichen auf Spezialisten angewiesen ist, die die Inhalte aufbereiten,
um die Defizite auf Rezipientenseite notdürftig zu kompensieren: ProfessorInnen,
DramaturgInnen, ReiseleiterInnen: „Die moderne Massengesellschaft kann nir-
gends mehr einschlägig geschulter Funktionäre entraten“ (Fuhrmann 2006:72).45

3.3 Halbbildung
3.3 Halbbildung
1972 konstatierte Theodor W. Adorno allerorten „Symptome des Verfalls von
Bildung“ (2012:196). Er bezieht dies selbst auf die Schicht der Gebildeten und
beschränkt die Klage nicht allein aufs Bildungssystem und dessen Erziehungsme-
thoden, sondern aufs Ganze als das Falsche: die spätkapitalistische Gesellschaft. Für
Adorno sind es gesellschaftliche Bewegungsgesetze, die Bildung zur Halbbildung,
zur „herrschenden Form des gegenwärtigen Bewusstseins“ (ebd.:197) werden ließen.
Die Halbbildung als die „Allgegenwart des entfremdeten Geistes“ (ebd.) versteht
Adorno dabei nicht als quasi natürliche Vorstufe der Bildung, sondern als deren
Nachfolgerin, als das Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses, in dem die Bildung
der Selbstbestimmung verlustig ging und ins Barbarische tendierte.
Um der Entwicklung auf die Spur zu kommen, darf Kultur nicht als sakrosankt
– hochheilig und unantastbar – gedacht werden, wie Halbgebildete es gern tun,
sondern Kultur muss selbst zum Gegenstand schonungsloser Kritik werden. Denn
Bildung ist „Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung“ (ebd.). Kultur
vermittelt zwischen Gesellschaft und Bildung des Subjekts. Sie auf die subjektive
Seite zu reduzieren, sie in Richtung Wert an sich und Wert für sich ideologisch zu
überhöhen und dabei selbstgenügsam werden zu lassen; sie auf „Geisteskultur“ zu
reduzieren, blendet die Seite der Gesellschaft aus und wird damit ohnmächtig den
realen, sich blind bewegenden Verhältnissen gegenüber. Ein einseitiger Kulturbegriff
liefert die Menschen den tendenziell barbarischen Verhältnissen des Kapitalismus
und seiner kulturindustriellen Maschinerie aus. Bildung, welche von den gesell-
schaftlichen Verhältnissen absieht, „sich selbst setzt und verabsolutiert, ist schon
Halbbildung geworden“ (ebd.:198). Adorno erinnert die historische Tatsache, dass

45 Hier wäre die Theorie der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft
als Alternative zum Konzept der Erlebnisgesellschaft anschließbar. Die klassischen
Inhalte werden Spezialisten anvertraut, statt sie allen zuzumuten, die sie ohnehin nicht
annehmen (vgl. Kap. 3.5.1).
80 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

es gebildete Menschen waren, die den Holocaust organisierten. Kultur und Bildung
garantieren gar nichts.
Der Kulturbegriff wird ebenfalls missbraucht, wo er dazu dient, einseitig das
Moment der Anpassung hervorzuheben, mit der Begründung, Ausbrüche ins Ani-
malische und Chaotische verhindern zu wollen. Die philosophische Bildungsidee
auf ihrer Höhe „hatte beides gemeint, Bändigung der animalischen Menschen durch
ihre Anpassung aneinander und Rettung des Natürlichen im Widerstand gegen
den Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung“ (ebd.:199). Eben
diese Spannung, die Schiller noch aufzunehmen und auszudrücken wusste, geht
im Zuge des Humanismus verloren. Und „ist jene Spannung einmal zergangen, so
wird Anpassung allherrschend, ihr Maß das je Vorfindliche“ (ebd.). Das führt, wie
Freud (1930) aufzeigte, zum Unbehagen in der Kultur. Es lässt die Inhalte, die Kultur
eigentlich meint, zu leblosen, fixierten Kategorien erstarren, die in Widerspruch
zu dem, was sie eigentlich meinen, geraten. So werden sie zur Ideologie und dienen
statt der Bildung der Rückbildung.
Kultur hat den benannten Doppelcharakter – Anpassung und Widerstand. Und
nur wenn sie in der für sie typischen Spannung auftritt, vermag sie die unversöhnten
gesellschaftlichen Antagonismen (gefasst in Unterscheidungen wie Bourgeoisie und
Proletariat, Trennung von Kopf- und Handarbeit, Ungleichheits- und Herrschafts-
verhältnisse, Trennung des Geistes von den realen Lebensbedingungen), denen sie
entspringt, anzugehen. Kultur möchte die Antagonismen zwar heilen, vermag es
aber nicht als ‚bloße‘, ‚vergeistigte‘ Kultur. Als ‚Geisteskultur‘ ist sie selbst Teil der
Antagonismen, die sie zu überwinden trachtet. „Die Gestaltung der Verhältnisse
stößt auf die Grenze von Macht; noch im Willen, sie menschenwürdig einzurich-
ten, überlebt Macht als das Prinzip, welches die Versöhnung verwehrt“ (Adorno
2012:201). Ebenso wie der Geist als Wert an und für sich wird die Anpassung zu
einem Fetisch. Die Mittelorientierung erhält Vorrang vor jedem vernünftigen Zweck:
Pseudorationalität und Scheinfreiheit amalgamieren mit dem falschen, aufgeblähten
Geist, der sich selbst als Bildung wähnt und doch nur Halbbildung ist.
„Je heller die einzelnen, desto erhellter das Ganze“ (ebd.:202), so die ebenso
große wie trügerische bürgerliche Hoffnung. Unter gesellschaftlichen Verhältnissen,
in denen Konkurrenz herrscht und jeder gegen jeden antritt, konnte Bildung nur
dazu dienen, dass Einzelne sich Vorteile verschafften. Sie will zwar anderes, träumt
von einer Menschheit ohne Status und Übervorteilung, verstrickt sich dennoch in
die Logik des Marktes, der nützlichen, profitablen Arbeit und der gesellschaftlich
honorierten partikularen Zwecke. Trotz der großen Ideale, die sie transportiert,
wird sie unter den gegebenen Verhältnissen zur Ideologie: „Sie wird nicht minder
schuldig durch ihre Reinheit“ (ebd.:201). Bildung kann von sich aus den Menschen
nicht geben, was die Realität ihnen versagt (vgl. ebd.:202).
3.3 Halbbildung 81

Die sogenannte ‚Volksbildung‘, die man selbst noch dem Proletariat angedeihen
lassen wollte, kann laut Adorno nur als Karikatur gelesen werden – als könnten
die faktisch Exkludierten durch bloße Bildung inkludiert werden, als sei eine
Demokratisierung der Bildung unter den gegebenen Verhältnissen möglich. Wie
lächerlich! „Wie es in der Kunst keine Approximationswerte gibt; wie eine halbgute
Aufführung eines musikalischen Werkes seinen Gehalt keineswegs zur Hälfte
realisiert, sondern eine jegliche unsinnig ist außer der voll adäquaten, so steht es
wohl um geistige Erfahrung insgesamt. Das Halbverstandene und Halberfahrene ist
nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind“ (ebd.:204f.). Unassimilierte
Bildungselemente verstärken jene Verdinglichung des Bewusstseins, vor der Bil-
dung bewahren soll. Inhalte, die in keinen stimmigen Zusammenhang zu bringen
sind, dienen weniger der Bildung als der Verwirrung und dem Obskurantismus.
Hier setzt Adorno seinen Begriff der Halbbildung an: Halbbildung meint die
zusammenhanglose, „punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere
Informiertheit, der schon anzumerken ist, dass sie im nächsten Augenblick durch
andere Informationen weggewischt wird“ (ebd.:206). Halbbildung ist eine „Schwäche
zur Zeit“, zur Erinnerung, aus der heraus allein Verbindungen herzustellen sind. Die
Zeit, in der sich Ereignisse sinnvoll verorten lassen, geht dem heutigen Menschen
verloren. Der Mensch verliert den Sinn für die Historie, aus der er stammt, wie für
die Zukunft, die ihn erwartet. Die Wissensbrocken, die er sammelt, sammelt er in
der Form des „isolierenden, aufspießenden, einspruchslosen ‚Das ist‘“ (ebd.:207).
Doch die zur Halbbildung deformierte Bildung klammert sich noch an tra-
ditionelle Kategorien, die sie nicht mehr erfüllt. Das ungewusste Wissen darum
macht sie gereizt und böse; der Halbgebildete trägt ein allseitiges Bescheidwissen
und immer zugleich auch ein Besserwissen-Wollen mit sich. Er sammelt und fe-
tischisiert Kulturgüter als seinen Besitz, ist aber allzeit bereit, sie zu zerschlagen.
Zur Halbbildung gehört eine gehörige Portion Paranoia, ein psychotischer
Zustand mit einer nicht nur psychologischen, sondern auch objektiven gesell-
schaftlichen Funktion. Der Halbgebildete betreibt „Selbsterhaltung ohne Selbst“
(ebd.:206), ihm ist die Kontinuität von Urteil und Erfahrung abhanden gekommen,
der sinnvolle Zusammenhang zerrissen. Die sich hieran entzündende Angst vorm
Unbegriffenen soll kompensiert werden durch handliche Schemata der Realitäts-
bewältigung, die allerdings nicht an die Realität heranreichen. Der Halbgebildete
greift zu Wahnsystemen, die ohne Realitätsprüfung auskommen. Er greift auf
psychotische Fertigprodukte zurück wie alle anderen Isolierten um ihn herum
auch. Und so fühlt er sich mit denen im Schicksal der radikalen gesellschaftlichen
Entfremdung und des gemeinsamen Wahns einig.
Es heißt, die Realitätsprüfung sei wegen der gestiegenen Komplexität schwierig
bis unmöglich geworden, doch Adorno kontert: Die Gesellschaft ist heute durch-
82 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

sichtiger als je zuvor. Selbst die berühmte Putzfrau könnte, wenn sie wollte, das
Getriebe durchschauen, aber objektive gesellschaftliche Bestrebungen hindern das
Subjekt an der Einsicht: „Objektiv produziert ist vielmehr die subjektive Beschaf-
fenheit, welche die objektiv mögliche Einsicht unmöglich macht“ (ebd.:208). Die
Menschen werden dumm gemacht und dumm gehalten.
Die Einredung, man könne das Ganze doch nicht durchschauen und verstehen
und müsse vor der Macht des Bestehenden kapitulieren, lähmt noch die Erkenntnis.
„Fetischisiert, undurchdringlich, unverstanden wird, was dem Subjekt als unab-
änderlich sich darstellt“ (ebd.). Der Halbgebildete wähnt sich mit seiner Idee des
Unabänderlichen auf der Seite der Geretteten und diffamiert die als verdammt, die
das Bestehende infrage stellen. Er tut grad so, als scheitere die Kultur an denen, die
auf sie pochen. Die, die noch hoffen, dass es etwas zu gewinnen gibt, werden von
den Halbgebildeten im Vorhinein als Verlierer abgetan. So haben die Befürworter
der Bildung keine Chance, und der Halbgebildete mag sich defensiv zurücklehnen
und jeder Berührung, die ihn infrage stellen könnte, ausweichen. Die Zeit ist auf
seiner Seite.
Es ist für Adorno nicht die Komplexität, die die psychotischen Formen der Reak-
tion auf Gesellschaftliches fördern, sondern die gesellschaftliche Entfremdung46, die
sich in Form der Psychose bis ins Individuum hineinarbeitet. Die Mittel des Intellekts
werden weniger zur kritischen Durchdringung der gesellschaftlichen Verhältnisse
und ihrer Zumutungen benutzt als zu ihrer Verdunklung. Eitel nennt man die, die

46 Entfremdung meint: Dein eigenes Tun führt zu Deiner Unterjochung. Du wirst von den
Dingen und Verhältnissen, die Du schaffst, beherrscht, statt dass Du sie beherrschst.
Die Produkte Deiner Arbeit werden zu einer sachlichen Gewalt, die Deiner Kontrolle
entwächst, Deine Erwartungen durchkreuzt und Deine Berechnungen zunichte macht.
Nicht nur, dass die (käuflichen) Dinge, die Du produzierst, Dir als fremde Gewalten
entgegentreten, auch die Arbeit, die Du tust, ist nicht Lebensäußerung und Befriedigung
eines Bedürfnisses, sondern Mittel zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung außerhalb
der Arbeit. „Der Arbeiter fühlt sich (…) erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit
außer sich“ (Marx 1968:524).
Entfremdung meint das Zerfallen der Einheit von Kopf- und Handarbeit, Zweck und
Mittel, Belohnung und Anstrengung, Genuss und Arbeit, Gefühl und Verstand etc.
Entfremdung meint die Zerrissenheit des modernen Menschen in einer arbeitsteiligen
Welt. Für Adorno steht Entfremdung vor allem für die Entzweiung von Erkenntnis und
Erfahrung, für das gezüchtete Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber dem Bestehenden,
der Sinn- und Zusammenhanglosigkeit, die jede substanzielle Vernünftigkeit lähmt,
der Isolierung, die die Entwicklung von Gegenwerten und Gegenideen aussichtslos
erscheinen lässt und der Selbstentfremdung, bei der das Selbst sich fremden, äußeren
Einflüssen, vor allem den Einflüssen der Massenmedien, überlässt. Es gibt sich den
Manipulationen der Kulturindustrie und den von ihr hervorgebrachten ‚kollektiven
Wahnsystemen‘ preis.
3.4 Unbildung 83

sich von der Tendenz zur Halbbildung auszunehmen versuchen. Nüchtern nennt
man die, die sich ohne Trauer von der traditionellen Bildung verabschieden. Man
möchte die Kernbereiche der traditionellen Bildung, Philosophie und Kunst, ver-
gröbern, primitivieren, simplifizieren, bräuchte man sie nicht, um aus der Barbarei
herauszuführen. Man gibt sich fortschrittlich, begreift sich als Vertreter des Neuen.
Aber dem Neuen ist immer ein Zusatz von Barbarei beigemischt: Man fegt aus.
Adorno erinnert zum Abschluss noch einmal daran, dass es nicht darum geht,
Bildung, Kultur, Kunst oder Philosophie zu idealisieren und zu verabsolutieren.
Wer gehobene Ansprüche an Bildung stellt, darf dies nur tun in Verbindung mit
dem Hinweis auf die Abhängigkeit dieser von den realen Lebensverhältnissen und
deren Gestaltung. Natürlich ist es anachronistisch, heute noch an Bildung festzu-
halten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzogen hat. Wir haben aber laut
Adorno keine andere Wahl, als uns über eine kritische Reflexion der Halbbildung
– als das entfremdete, verselbstständigte, zu sich selbst alternativlose, unwahre,
fragmentierte, ideologische Pendant zu den realen Lebensverhältnissen – dessen
zu vergewissern, was Bildung meinen könnte.

3.4 Unbildung
3.4 Unbildung
Eine bissige Polemik gegen den Bildungsnotstand stimmt Konrad Paul Liessmann
in seiner Streitschrift Theorie der Unbildung (2006) an. In scharfen Formulierungen
beklagt er die Selbstliquidierung des europäischen Bildungssystems und das dum-
me und gehaltlose Gerede von einer ‚Wissensgesellschaft‘, die keine ist. Die Spitze
des Eisberges der grassierenden Unbildung bilden für Liessmann prototypisch die
Massenmedien mit ihren Wissensshows. In ihnen werde prototypisch ausschließlich
punktuelles, isoliertes, zusammenhangloses, zufälliges Daten- und Faktenwissen
hofiert, das im Multiple-Choice-Verfahren abzufragen ist. Die Prüfungen bewegen
sich im Raum des Ratens, Tippens, Ahnens, dunkel Erinnerns, Vermutens, Schlie-
ßens und Wissens. Alle Zeichen stehen auf Kontingenz als das einzige Prinzip, das
dieses Spiel zusammenhält. Es zeigt sich gleiche Gültigkeit jedweden Wissens und
Gleichgültigkeit gegenüber jedwedem Wissen, ähnlich wie im Netz, wo einem die
Suchmaschinen zahllose Treffer präsentieren, aus denen man sich die passendsten
aussuchen darf.
Die Shows machen mit jedem Bildungsdünkel Schluss. Wissen wird nicht
hierarchisiert. „Alles kann Bildung sein, aber Bildung ist längst nicht mehr alles“
(Liessmann 2006:15). Es gibt keinen Bildungs- bzw. Wissens-Kanon mehr. An den
Schulen und Universitäten wird in Form von Multiple-Choice-Klausuren das Ra-
84 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

tespiel als Prüfungsform bereitwillig adaptiert. Lehrkräfte werden zu Quizmastern,


Studierende zu Ratekandidaten. In der Wissensshow begegnen wir der Erschei-
nungsform der Unbildung, die sich bis in die Universitäten hinein ausbreitet: Das
aufgebotene Wissen bleibt seinen eigenen Intentionen gegenüber unverbindlich und
zusammenhanglos. Es ist schlechterdings äußerlich geworden. Es gibt zwar was zu
lernen, man merkt auch: Man kann nie genug wissen, und schließlich wird man
auch noch mit der kulturellen Urszene des Rätsels konfrontiert, dessen Lösung
über das Schicksal eines Menschen entscheidet. Dennoch zelebrieren sich hier
Verhältnisse, „die jede Idee eines Zusammenhangs oder einer inneren Entfaltung
eines Gedankens sabotieren“ (ebd.:18). Adorno vertrat noch die Ansicht, Bildung
sei der Anspruch auf angemessenes Verstehen. Ein solcher Anspruch sei mit Mul-
tiple-Choice-Fragen vollkommen sabotiert.
Wissens- und Wissenschaftsmagazine folgen der Maxime: „Zeige was Interessantes!
Kokettiere mit dem Sensationellen, Überraschenden, Verblüffenden, Spektakulären,
Innovativen! Springe von Thema zu Thema, vom Wilden Westen auf den Mars, vom
Totenkult der Etrusker zur Funktionsweise von Geländebaggern!“ Wissen erscheint
hier unter dem Aspekt der Verblüffung und des Erstaunens. Angesprochen wird
das Grundmotiv allen Wissens, die Neugier (curiositas), weniger das Streben nach
Klugheit und Weisheit (sophia). Aber die Neugier stand immer schon unter dem
Verdacht, sich ans Nebensächliche, Beliebige, Einzelne, Außergewöhnliche, Unnötige zu
verlieren. Wissen wird vom Neugierigen nach seinem Unterhaltungswert gewichtet.
Das schließt an die Tradition der Konversationslexika an. Sie sollten im 17.
Jahrhundert die Kunst der gesellig-kurzweiligen und doch geistreichen, interes-
sant-unterhaltsamen und doch gebildeten Konversation fördern. Erst Aufklärung
und Neuhumanismus haben das Wissen vom Kuriosen und Beliebigen zu reinigen
und zur soliden Grundbedingung des Verständnisses der Kultur und der Selbstent-
faltung des Subjekts erklärt. Aus dem Gesellschaftsspiel wurde etwas Mühseliges,
Anstrengendes und Ernsthaftes.
Heute geben wir vor, in einer Wissensgesellschaft zu leben. Doch Liessmann
weist dies in aller Form zurück. Allenfalls lebten wir in einer mit Daten und In-
formationen hantierenden Gesellschaft. Wissen bedarf eines subjektgebundenen,
geistigen Zusammenhangs, der es allererst erlaubt, aus den Datenflüssen, die alle
Unterschiede einebnen, Daten herauszufiltern, die einen Unterschied machen und
insofern zu Informationen werden, die es dann in einen sinnvollen Erklärungs- und
Verstehenszusammenhang einzubinden gilt. Wollten wir mit Fug und Recht von
einer Wissensgesellschaft reden, müsste es um Erkenntnis gehen, nicht gleich um
Praxis; müsste es um Wahrheit gehen, nicht gleich um Nützlichkeit. Das ist allerdings
weder in der Medien- noch in der Arbeits-, noch in der Bildungswelt gegeben. Wissen
erscheint heute allerorten als ein beliebig variierbares und erweiterbares Netz ohne
3.4 Unbildung 85

substanziellen Kern oder substanzielle Gestalt. Alles scheint schnell und mühelos
erreichbar. Wissen aber will verinnerlicht sein, Wissen bedarf der Anstrengung
und der Mühsal des Denkens.
Das Gerede von einer postindustriellen, postkapitalistischen Wissensgesellschaft
lenkt laut Liessmann nur davon ab, dass die industrielle Produktion nicht verschwun-
den ist, sondern ausgelagert wurde, und dass das identitätslogische Produktionspa-
radigma mit Konzepten wie Lifelong Learning (LLL) nun auch den Bildungssektor
erfasst: Statt Individualität, Einzigartigkeit, Unvergleichbarkeit gilt auch hier nun
Standardisierung, Vergleichbarmachung und Verrechnung. Hochschulen werden zu
Wissensfabriken. Die Universitäten unterwerfen sich dem betriebswirtschaftlichen
Coaching, Controlling und Monitoring. Die Wissenschaft hätte die Aufgabe, die
Ideologien der Beratung aufzudecken und kritisch zu hinterfragen, statt sich deren
Logik auszuliefern. Was wir beobachten, ist laut Liessmann die Unterwerfung des
Wissens unter die Parameter einer kapitalistischen Ökonomie.
Bildung wird unter den gegebenen Bedingungen durchweg skeptisch betrach-
tet. Es heißt, was sie beansprucht zu sein, werde nicht erfüllt, werde unterboten
oder gar suspendiert. Bildung büßt jede Legitimität ein. Weder eine verbindliche
Bildungsidee noch die Idee der Kritik greifen heute noch. Nicht Halbbildung ist das
Problem unserer Epoche, sondern die Abwesenheit jeder normativen Idee von Bildung,
an der sich so etwas wie Halbbildung noch ablesen ließe. Bildung wird zunehmend
auf Ausbildung reduziert und Wissen zu einer bilanzierbaren Kennzahl des Hu-
mankapitals degradiert (ebd.:9f.). Früher meinte Bildung noch Entzauberung und
Aufklärung: dem Unwissen, dem Aberglauben, den Kulten, Mysterien, Mythen,
Magien und den Ideologien die Stirn zu bieten. Bildung bedeutete die Hoffnung
auf eine Überwindung traditioneller Weltbewältigungsmechanismen, zudem die
Hoffnung, Unterprivilegierte emanzipieren und integrieren zu können. Bildung
sollte es ermöglichen, einen Charakter zu bilden und Freiheit gegenüber den Dik-
taten des Zeitgeistes zu gewinnen. Bildung hieß, kein reibungslos funktionierender,
flexibler, mobiler, teamfähiger Klon zu werden. Heute gilt Bildung als Kopflastigkeit
und Weltabgewandtheit. „Was die Bildungsreformer aller Richtungen eint, ist ihr
Hass auf die traditionelle Idee von Bildung“ (ebd.:52).
Gewünscht wird Praxisnähe und Flexibilität, Leistungs- und Konkurrenzfähig-
keit, Eingliederung in den Arbeitsprozess, Wettbewerb. Anstelle von Bildung treten
Tests, internationale Rankings, Evaluationen, Qualitätssicherungsmaßnahmen,
effizienzorientierte Schulungen etc. Bildung wird behandelt wie ein Rohstoff, der
produziert, geprüft, gekauft, gehandelt, gemanagt und wieder entsorgt werden
kann. Bildung wird Stückwerkwissen, das man sich je nach Situation variabel und
flexibel von Festplatten ziehen und zusammenbasteln kann.
86 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

Mit Adornos Begriff der Halbbildung war eine Bildung gemeint, die von den
konkreten lebensweltlichen Bedingungen der Lernenden abstrahierte und Wissen
lediglich aufpfropfte, oberflächlich und flüchtig, nicht integriert in ein kritisches
Bewusstsein, somit Demontage von Aufklärung, Emanzipation und Kritik, Effekt
‚kulturindustrieller Berieselung‘, ‚warenhafte Verdinglichung‘ (vgl. Frost 2008:307),
aber immerhin noch mit oberflächlichen Anflügen der Schätzung von Bildung und
Gebildeten. Immerhin gab es seinerzeit noch die schwächlichen Versuche, im Sog
des medialen Infotainments Reste an Bildung zu retten: Zwar treten in den 70er
Jahren anstelle der klassischen Bildungsinhalte die vermeintlichen Bedürfnisse der
Jugendlichen, zwar wird statt Geschichtsunterricht Spielbergs Schindlers Liste ange-
schaut, statt Goethes Werther zu lesen, wird Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen
W. vorgeführt, aber immerhin. Das endgültige Ende der Bildung ist eingeläutet, wo
man selbst noch auf eine oberflächliche Beziehung zum Unverstandenen verzichtet.
Zeugte noch die Halbbildung von einem entfremdeten Geist (Adorno), so zeugt die
Unbildung von einer rückhaltlos gelebten, akklamierten Geistlosigkeit (Liessmann
2006:70). Unbildung meint nicht „die schlichte Abwesenheit von Wissen, auch
nicht eine bestimmte Form von Unkultiviertheit, sondern den mitunter durchaus
intensiven Umgang mit Wissen jenseits jeder Idee von Bildung. Unbildung heute ist
weder ein individuelles Versagen noch Resultat einer verfehlten Bildungspolitik: Sie
ist unser aller Schicksal, weil sie die notwendige Konsequenz der Kapitalisierung
des Geistes ist“ (ebd.:10).
Damit stellt sich Liessmann in die Tradition einer Kritischen Pädagogik: Bildung
ist seiner Ansicht nach heute keine offene Hinwendung mehr, kein verpflichtendes
Sich-in-Beziehung-Setzen oder Sich-in-Anspruch-nehmen-Lassen von einer Sa-
che, sondern nur noch inhaltsneutrales Wissensmanagement nach den Kriterien
Markt, Beschäftigungsfähigkeit (employability), Verwertbarkeit, Standortqualität,
technologischer Fortschritt oder menschliches Gehirn47. Der Lernende wird ins
neue Regime des Selbstmanagements48 eingebunden, in dem die pädagogischen
Prozesse umgedeutet werden in unternehmerische Kalküle: möglichst wirtschaftlich
studieren, möglichst effizient zuhören, möglichst erfolgreich mitschreiben, mög-

47 Der Begriff des „hirngerechten Lernens“ impliziert ebenso wie der Begriff „markt- oder
wettbewerbsgerechte Ausbildung“ die Verschiebung der Verantwortung vom Lehrenden
und Lernenden in Richtung einer äußeren Instanz, der es gerecht zu werden gilt: früher
Gott, dann Natur und Gesellschaft, heute Markt, Globalisierung, Zukunft und Gehirn.
Wozu diese sich selbst verleugnenden Anpassungstendenzen an fremde Instanzen?
48 Vgl. Michel Foucaults (2000) Analysen zur Gouvernementalität: Der Ordoliberalismus
hat die Freiheit des Marktes als Regulativ eingerichtet, so dass sich der Staat nun am
Marktgeschehen orientiert, statt ihn zu kontrollieren. Die Politik begreift sich als
verantwortlich dafür, dass die Wirtschaft sich über ihre Märkte selbst steuern kann.
3.4 Unbildung 87

lichst dynamisch lesen, möglichst verständlich referieren, möglichst wirkungsvoll


präsentieren, möglichst überzeugend argumentieren. Man soll mit sich selbst und
seinen Ressourcen wie mit Produkten wirtschaften, um sie gewinnbringend zu
vermarkten. Die Bildungsbiographie verschreibt sich dabei einem unhinterfrag-
ten, von herrschenden Diskursen und Techniken errichteten, anonymen Regime.
Kritik, Distanz, Widerstand sind diesem Denken fremd. Es betreibt, ohne es
selbst zu bemerken, einen Widerstand gegen Bildung und verhindert dabei einen
Widerstand durch Bildung.
Die widerständige Autonomie des Individuums, seine Mündigkeit und Souve-
ränität scheint nicht mehr gefragt. Dafür werden Fähigkeiten und Kompetenzen,
sogenannte skills wie Teamfähigkeit, Flexibilität und Kommunikationsbereitschaft
hofiert. „Nur nicht mit dem eigenen Kopf denken – das scheint das geheime Pro-
gramm von Ausbildung heute zu sein. Wer nicht bereit ist, in Teams und Netzen
zu agieren und sich flexibel an alles anzupassen, was an Herausforderungen he-
rangetragen wird – übrigens nie von Menschen, sondern immer vom Markt, der
Globalisierung oder gleich von der Zukunft –, der hat keine Chance mehr, den
Ansprüchen der Wissensgesellschaft zu genügen. (…) Unbildung heute ist deshalb
auch kein intellektuelles Defizit, kein Mangel an Informiertheit, kein Defekt an
einer kognitiven Kompetenz – obwohl es alles das auch weiterhin geben wird –,
sondern der Verzicht darauf, überhaupt verstehen zu wollen“ (ebd.:72).
Die Diskurse und Institutionen der Bildung sind selbst zu Orten der Unbildung
geworden. Gerungen wird nicht mehr um Inhalte, sondern um Positionen in Rang-
listen. Die hierarchische Weltordnung ist wieder hergestellt. Die Rankings sorgen für
den fingierten Wettbewerb. Sie ermutigen, sich ‚ehrgeizige‘ Ziele zu setzen. Doch:
„Ehrgeiz“, so Wittgenstein (1977:560) „ist der Tod des Denkens.“ Es geht nicht mehr
um argumentative Auseinandersetzungen, sondern ums Schielen auf Quanten und
Quoten: Wie viel wurde publiziert? Wie oft wurde wer zitiert? Wie viele Abschlüsse
wurden produziert? Auf wie wenige Semester konnte das Studium reduziert werden?
In welcher Höhe konnten Drittmittel eingeworben werden? Wie mächtig sind doch
die, die diese Rankings veranstalten, die Rankingagenturen. Woher beziehen sie
eigentlich ihre Macht und Legitimität?49

49 Immanuel Kant hat über zehn Jahre nicht einen Satz publiziert. George Herbert Mead
hat in seinem ganzen Leben nicht ein Buch veröffentlicht. Niklas Luhmann hat in
seiner 40-jährigen Hochschulkarriere keinerlei Drittmittel eingeworben. Alle drei
wären der heutigen Qualitätskontrolle zum Opfer gefallen. Das bedeutet: Es geht heute
nicht mehr um Fragen der Erkenntnis, um Ansprüche an Bildung oder um den Disput
wissenschaftlicher Positionen und Disziplinen, um akademische Neugier und Freiheit,
sondern um Effizienz, Verwertbarkeit, Kontrolle und Anpassung.
88 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

„Der Fetischismus der Rangliste ist Ausdruck und Symptom einer spezifischen
Erscheinungsform der Unbildung: mangelnde Urteilskraft“ (Liessmann 2006:83),
die Kant noch „Dummheit“ nannte. Die Listen sollen das qualifizierende Urteil
ersetzen. Quantifizierung wird mit Qualifizierung verwechselt. „Je mehr an einer
Universität oder Schule von Qualitätssicherung die Rede ist, desto weniger geht
es um Qualitäten, sondern einzig darum, Qualitäten in Quantitäten aufzulösen“
(ebd.:84). Das Spezifische, das es eigentlich zu diskutieren gälte, wird so zum
Verschwinden gebracht. Das Gerede von Qualität, Qualitätssicherung und -stei-
gerung, Effizienz, Effektivität, Elite, Projektorientierung, Evaluation etc. geht an
der Substanz von Bildung vorbei.
Dabei bezeichnen die Begriffe, von denen das sogenannte Qualitätsmanage-
ment lebt, nie das, was die Wortbedeutung nahelegt; vielmehr verbergen sie,
worum es wirklich geht. Das Gerede ist ein Täuschungsmanöver. Die Begriffe sind
selbstimmunisierend gegen Kritik. Wer hier negiert, beschädigt sich selbst. Wer
könnte ernsthaft etwas gegen Leistung, Qualität oder Exzellenz vorbringen? Wer
wünschte sich keine Transparenz und keinen Teamgeist? Wer würde sich nicht
freuen, wenn Qualitäten messbar und berechenbar wären? Sind sie aber nicht. Und
trotzdem wird alles vermessen. Statt des Protests gegen eine geistlose Messwut
sprießen die Potemkin‘schen Dörfer, aufgebaut aus frisierten, alles andere als relia-
blen (zuverlässigen und genauen) und validen (gültigen) Messergebnissen. Ziel der
Evaluation ist denn auch gar nicht, zu verlässlichen Aussagen zu kommen, sondern
die Dozierenden zu kontrollieren. Allein das Wissen um die Evaluation verändert
das Lehrverhalten in eine bestimmte Richtung: Es senkt die Ansprüche, zügelt die
Strenge, treibt in Richtung Infotainment, Medialisierung (ob sinnvoll oder nicht),
Freundlichkeit, Rücksichtnahme, Nachsicht. Das vermeintlich Objektive entfaltet
seine normative Kraft.
Bologna steht laut Liessmann für eine wirtschaftsnahe, praxisorientierte Be-
rufsausbildung im verschulten, kostensparenden Kurzstudium. Neben einem
Wildwuchs an Studiengängen und Studienabschlüssen hat Bologna zu einem
Modularisierungswahn geführt, der die thematische Selbstbestimmung und me-
thodische Freiheit der Hochschulen drastisch einschränkt. Die „Möglichkeiten für
individuelle Zugänge, originelle Forschungsansätze und unorthodoxe Fragestel-
lungen schwinden“ (ebd.:109). Alles richtet sich gegen den unabhängig forschenden
Geist. An seiner Stelle greift ein Messwahn um sich: Das gesamte Studium und alle
Studienleistungen werden nach dem European Credit Transfer System (ECTS;
zu Deutsch: Leistungspunkte) verrechnet. ECTS sollen dem student workload
(Arbeitsaufwand in Zeitstunden) entsprechen (Die Marx‘sche Arbeitswertlehre
und Taylors Scientific Management lassen grüßen.). Eine durchquantifizierte
Modulstruktur macht aus dem Studium ein Setzkastensystem: nicht dynamisches
3.5 Lernfähigkeit 89

Erkennen, Begreifen, Verstehen und Reflektieren zählt, sondern pragmatisches Zu-


sammenbasteln von unzusammenhängenden Bausteinen. Auf dieser Basis sprießen
die wildesten Kombinatoriken ohne jede Systematik und Methodik. Studierende
jonglieren mit Leistungspunkten durch Kombinieren von Modulen jenseits aller
Begeisterung für die Wissenschaft.
Und bei alledem sollte man nicht vergessen: „Fast alle Steuerungs- und Kon-
trollverfahren wurden nicht aus den inneren Bedürfnissen und Strukturen der
Universitäten entwickelt, sondern von außen, vor allem aus dem Bereich der Un-
ternehmensberatung und der ihnen angeschlossenen Managementtechnologien
übernommen. Es ist schon erstaunlich, dass WissenschaftlerInnen, die noch vor
ein paar Jahren glaubten, gesellschaftliche Entwicklungen kritisch auf den Begriff
bringen zu können, angesichts dummdreister Sprechblasen aus dem Jargon des
New Management nahezu widerstandslos kapitulieren“ (ebd.:122f.).

3.5 Lernfähigkeit
3.5 Lernfähigkeit
Genug der Klage. Während Bernhard und Adorno beobachteten, dass die Inhalte der
Bildung in einer spätkapitalistischen Gesellschaft durch ökonomische Nutzenkalküle
korrumpiert und zersetzt werden, beobachteten Fuhrmann und Schulze, dass in
der Erlebnisgesellschaft die strukturelle Trägerschaft der Bildung, das Bildungs-
bürgertum, und damit deren substanzielle, personale Fundierung eruiert wurde.
Liessmann sieht, dass eine sich über sich selbst täuschende Wissensgesellschaft nichts
mehr von dem sie ermöglichenden Wissen wissen will und selbst noch die letzten
Refugien des Wissens, die Schulen und Hochschulen, mit geistlosem Coaching,
Controlling und Monitoring auszuräuchern versucht. Während sie alle enttäuscht
bis wütend den Niedergang der Bildung beklagen, konstatierte Luhmann recht
nüchtern, Bildung sei ein historisches Auslaufmodell. Sie gehöre zu einer historisch
bereits überholten Phase erzieherischer Bemühungen. Das, was Bildung einmal für
das Erziehungssystem meinte, könne heute nicht mehr eingelöst werden. Bildung
passe nicht mehr zum generellen Strukturprinzip der modernen Gesellschaft, der
funktionalen Differenzierung (vgl. Luhmann, Schorr 1999, Luhmann 2002).
Luhmann denkt Bildung als eine Orientierungsmarke der sich zu einem System
ausdifferenzierenden Erziehung. Die Erziehung ist für Luhmann weniger inten-
tionale menschliche Tätigkeit als vielmehr ein kommunikativ ausdifferenzierter
Funktionskontext der modernen Gesellschaft neben Kontexten wie Wissenschaft,
Wirtschaft, Politik, Familie oder Massenmedien (vgl. Kap. 1.2). Er denkt Erziehung
als System. Das Erziehungssystem hat, so Luhmann, bis ins 18. Jahrhundert hinein
90 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

auf eine gesellschaftstheoretische Reflexion ihrer selbst verzichtet und sich vornehm-
lich anthropologisch zu begründen versucht. Es begründete sich in Aussagen wie:
„Wir erziehen die Menschen zu Höherem, zur Gottgefälligkeit oder zur humanen
Perfektion.“ Doch mit der Ablösung des Prinzips der stratifikatorischen Differen-
zierung der Gesellschaft in hierarchisch geordnete Schichten bzw. Klassen durch
das neue Differenzierungsprinzip der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft
in unterschiedliche, jeweils autonom operierende Funktionssysteme reichte eine
anthropologische Selbstbegründung nicht mehr aus.50 Die moderne Gesellschaft
stellt mit funktionaler Differenzierung von einem einheitlichen Differenzschema, der
Rangdifferenz von Ständen, Schichten oder Klassen in einer feudalen Gesellschaft,
auf ein Vielfalt ermöglichendes Differenzschema um, der Differenz von Systemen,
die sich unterschiedlichen Bezugsproblemen widmen und dementsprechend je
unterschiedliche Selbstbeschreibungen und Selbstauslegungen ausformulieren.
Die Gesellschaft überlässt es ihren Subsystemen, sich in Selbstsinngebung zu üben,
in der Reflexion sich selbst zu identifizieren und anderen Systemen gegenüber zu
profilieren, die eigenen Leistungen für andere Systeme und die Funktionen für die
Gesamtgesellschaft auszuformulieren.

50 Da im Erziehungssystem Bildung stets auf den Menschen bezogen wurde, gerieten


soziale Bezüge aus dem Blick und tauchten erst z. B. als abzuwehrende Zumutungen
z. B. der Wirtschaft oder der Politik oder der Massenmedien wieder auf. Man konnte
sich Gesellschaft nur als Menschengesellschaft vorstellen, als häusliche, zivile, religiöse
Gesellschaften im Sinne von Kontaktbereichen für Personen. Erziehung findet – einer
solchen Vorstellung entsprechend – dann nicht in der Gesellschaft statt, sondern für
eine Gesellschaft, auf die die Erziehung vorbereitet.
Was aber würde sich ändern, wenn die Pädagogik begänne, sich in der Gesellschaft zu
verorten? Ein Aspekt, der so zur Geltung käme, wäre der, dass Erziehung sich in der
Reflexion als ein Teilsystem der modernen Gesellschaft mit bestimmten Leistungen
für andere Teilsysteme und einer bestimmten Funktion für die Gesamtgesellschaft zu
beobachten und zu beschreiben hätte. So könnten soziale (Gesellschaft, andere Funk-
tionssysteme, Organisationen) neben den anthropologischen Referenzen (Gott, andere
Menschen, Ich) in der Reflexion ausgewiesen werden. Der Erziehung ginge es dann
statt um eine schlichte Orientierung am Menschen (Veränderung des Menschen von
einem Naturzustand Richtung eines Zivilzustands) um eine zusätzliche Orientierung
an sozialen Kontingenzen, an sozial bedingten Änderungsnotwendigkeiten.
Das System erkennt sich (Reflexion) im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft (Funktion) und
zu anderen Systemen (Leistung). Es reflektiert, dass Funktion und Leistung auseinander
klaffen können, dass die optimale Erfüllung der gesellschaftlichen Funktion in anderen
Systemen hintertrieben wird (z. B. geheime Erziehung über die Massenmedien) oder dass
selbst die beste Erziehung nicht in allen Systemen als brauchbare Leistung verstanden
wird: Was, wenn z. B. in Familien gebildete Mädchen/Frauen unerwünscht sind? Was,
wenn die Wirtschaft keine kritischen Köpfe mag? Was, wenn im Leistungssport oder
beim Militär zu viel anerzogene Sensibilität unbrauchbar erscheint?
3.5 Lernfähigkeit 91

Im Zuge ihrer Entwicklung hat die Erziehung – provoziert durch gesellschaft-


liche Veränderungsdynamiken51 – verschiedene Kontingenzformeln entwickelt,
die anzeigen, worum es geht, die aber auch andeuten, dass alles auch ganz anders
möglich wäre. In der vorneuzeitlichen Phase half sie sich mit der Kontingenzformel
des alle Erziehung dominierenden Religionssystems über die Runden: Es sollte zur
Gottgefälligkeit erzogen werden. Nur nebenbei sollte außerdem noch – im Dienst
der Gottgefälligkeit stehend – medizinisches, astrologisches, bautechnisches
und rhetorisches Wissen vermittelt werden. Die Erziehung verfügte quasi bis zur
Neuzeit über keine eigene Kontingenzformel. Sodann probiert sie unterschiedliche
Formeln aus: „Die Kontingenzformel lautet zunächst humane Perfektion, dann
Bildung, dann Lernfähigkeit“ (Luhmann, Schorr 1999:61). Jeweils ist mehr gemeint
als einfaches, beiläufiges, zufälliges Lernen. Die Möglichkeiten des Lernens werden
eingeschränkt, Erziehung selektiert im Kontext von

t Perfektion durch Berufung auf Vernunft im Gegensatz zu Trieben und Gefühlen,


im Kontext von
t Bildung durch Berufung aufs Allgemeine im Gegensatz zum Besonderen, im
Kontext von
t Lernfähigkeit durch Berufung aufs Lernen für zukünftige, noch nicht absehbare
Lernmöglichkeiten im Gegensatz zu einem Lernen von Bekanntem, Bewährtem
und Tradiertem.

In der Auseinandersetzung mit diesen Formeln näherte sich das System schritt-
weise an eine funktionsgenaue Leitformel an. Gleichzeitig markierte die Berufung
auf Vernunft, das Allgemeine und das zukünftige Lernen eine Umgruppierung der
Überschneidungsbereiche. Während die Formel

t Perfektion noch schulische und familiäre Erziehung zu überspannen vermochte,


zielte

51 Sachlich geht es um mehr Themen, mehr Tiefenschärfe in und höhere Auflösung


von Themen, Texten und Beiträgen. Zeitlich gesehen werden die Themenwechsel, die
Themenänderungen sowie die Themenbearbeitungszeiten immer rascher, Planungs-
horizonte schrumpfen, Wissen veraltert rascher, wird schneller unmaßgeblich, ist
dann nur noch nostalgisch oder historisch interessant. Moden, Stile, Zeitstimmungen
lösen sich in rasantem Tempo ab, selbst die Zeitspannen der Generationeneinteilungen
schrumpfen. Unter sozialen Gesichtspunkten wird die Erziehung mit einer rasant
zunehmenden Individualisierung konfrontiert, d. h. mit der Befreiung der Menschen
von gesellschaftlichen Zwängen und Zumutungen. Individualisierung bedeutet aber
auch zunehmende Unberechenbarkeit.
92 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

t Bildung bereits auf den gesteigerten Erziehungswert der Wissenschaft.


t Lernfähigkeit dagegen öffnet die Erziehung Richtung Zukunft, das meint auf
ungewisse berufliche Dynamiken wie auf alle nur denkbaren Lebenslagen hin.

Im 20. Jahrhundert realisiert die Erziehung den Verlust orientierender Ideale und
fundierender, kanonischer Sicherheiten. Die alten Kontingenzformeln wollen nicht
mehr überzeugen: „Am Ende ist Bildung nur noch Ersatzausdruck für Erziehung,
der anscheinend immer dann einspringt, wenn es gilt, Orientierungslosigkeit durch
Berufung auf Werthaftes zu überspielen. Wortwucherungen wie Bildungsforschung,
Bildungsplanung, Bildungsdefizit, Bildungsrat, Bildungskommission, Bildungs-
einrichtungen, Bildungswert, Bildungssystem konvergieren in einer Semantik der
Ratlosigkeit. Thematische Behandlungen des Bildungsbegriffs verlieren jede begriff-
liche Strenge. Die Kontingenzformel Bildung löst sich in jene Unbestimmtheit auf,
die zu bestimmen ihre Funktion hätte sein sollen“ (Luhmann, Schorr 1999:83f.).
Die Suche nach einer Neuorientierung der Erziehung, die vor diesem Hinter-
grund einsetzt, ist nicht zufällig. Die Krise der Kontingenzformel ‚Bildung‘ hat
allerdings ihre Gründe. Hier einige kritische Anfragen, die sich an die Bildungsidee
richten lassen:

t Wer Bildung idealisiert, unterschlägt ihre Schattenseiten. Wer den schleichen-


den Niedergang oder das gänzliche Verschwinden der bürgerlichen Bildung
betrauert, kommt nicht umhin, das Gewesene als ein Besseres darzustellen.
Aber war es je ein Besseres? Die Idealisierung von Bildung und europäischer
Kultur verschweigt gern deren Opfer.52
t Wer Bildung idealisiert, mag kaum eingestehen, dass es Bildung – wenn über-
haupt – in der Regel nur für wenige Bessergestellte gab, während die große
Mehrheit von Bildung ausgeschlossen wurde. Wer konnte sich Bildung schon
leisten, und wer mochte sich überhaupt in ihre Nähe begeben? Der Bildung
haftet etwas Elitäres an.

52 Das hochgeschätzte alte Athen lebte von seinen Sklaven und Sklavinnen. Der europäische
Kolonialismus und die christliche Mission unterwarfen hochmütig und brutal alles, was
sich ihren Zumutungen widersetzte. Wo spricht man über die massakrierten Völker und
drangsalierten Kinder, denen Angst und Schrecken sowie Gefühle des Unvermögens
und der Minderwertigkeit eingeflößt und denen im Falle der Verweigerung drakoni-
sche Strafen auferlegt wurden? Wer spricht von denen, die als dumm verlacht wurden,
wenn sie die Sieben Weltwunder oder die Zehn Gebote nicht aufzählen konnten? Der
Kultur und Bildung ist und bleibt immer etwas Brutales, Barbarisches, Bedrohliches
beigemischt.
3.5 Lernfähigkeit 93

t Die Idealisierung der Bildung unterschlägt gern auch ihre Schichtabhängigkeit


und ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit. Vielleicht hatte
Bildung auch diesen unschönen Nebensinn: die Ungebildeten zu erschrecken,
abzuweisen, zu degradieren, auf Distanz zu halten und schließlich auszuschließen.
Vielleicht war und ist Bildung nichts weiter als eine Geste der Überheblichkeit,
eine Form der Sortierung und Auswahl, eine Art der Selektion?
t Vielleicht aber gab es Bildung und Kultur auch nie wirklich, sondern immer nur
als Wunschbild und Fiktion, als imaginäre Überhöhung einer in Wirklichkeit
stets und ständig defizitär bleibenden Realität. Zwischen erhabenem Anspruch
und erbärmlicher Realität klaffte womöglich immer schon eine markante Kluft.53
Vielleicht ist also das, was man als erstrebenswert lobt oder als verloren beklagt,
nie dagewesen. Vielleicht war Bildung nie, was sie vorgab zu sein. Vielleicht
war Bildung nur ein Popanz, mit dem sich einige wenige schmückten und die
meisten anderen nur erschreckt wurden.
t In den Trauerliedern zur Bildung wird zudem die Entleerung der Bildungsidee
beklagt, um damit den Appell zu verbinden, sie wieder zu füllen. Aber womit?
Mit den alten Sprachen oder den christlichen Glaubenssätzen? Mit der Kritik an
der grassierenden Halb- oder gar Unbildung? Woher welche Inhalte nehmen? Wo
Konsens suchen und finden für die gemeinten Inhalte? Vielleicht hatte Bildung

53 Nietzsche (1988, vgl. 2012) bezeichnete es bereits als naiv oder unverschämt, die Bil-
dungsideale ernsthaft verallgemeinern zu wollen. Bildung ist für Nietzsche notgedrungen
an Individuation gebunden und nicht verallgemeinerungsfähig: „Die allergemeinste
Bildung ist eben die Barbarei.“
Nietzsche unterscheidet Anstalten der Bildung von Anstalten der Lebensnoth. Letztere
seien die meisten. Sie gehorchten der Not (Notwendigkeit). Erstere gäbe es wenige. Sie
seien Orte der Freiheit, frei von Zwängen der Nützlichkeit, Praxisrelevanz, Lebensnä-
he, Aktualität, mithin Orte der Muße und der Kontemplation, Orte des Innehaltens,
des Über- und Nachdenkens, des Redens und Diskutierens, des Ausformulierens von
Gedanken und Ideen.
Die Sprache (Latein!) war für Nietzsche (1988:224) die Grundvoraussetzung aller wei-
teren Bildungsbemühungen. Wo die Sprache verludert, verschlampen die Beziehungen.
Zur Sprache gehört das Denken: Die Schule hat „keine wichtigere Aufgabe, als strenges
Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren.“ Voreingenom-
menheiten, Sentimentalitäten und Überzeugungen haben hier nichts verloren, ebenso
wenig wie praxeologische Verkürzungen.
Nietzsches Kritik an der real stattfindenden Bildung zielte nicht nur auf die krasse
Differenz von Anspruch und Wirklichkeit, sondern auch auf die Schicht, die sich
Bildung quasi als Ausgleich zu mangelndem ökonomischem Kapital und mangelnder
politischer Macht auf die Fahnen geschrieben hatte: das Bildungsbürgertum. Ihm allein
galt Bildung als Wert an sich. Und doch sollte sie für die gesamte Bevölkerung als Norm
und Maßstab gelten. Nicht einmal die mächtige, reiche Bourgeoisie hat die Ideale ihrer
gebildeten Schwester wirklich anerkannt.
94 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

immer schon etwas Willfähriges und Bevormundendes in dem Sinne, dass vor-
entschieden wurde, was als wissenswert zu gelten hat. Mit der unüberschaubaren
Expansion wissenschaftlichen Wissens wird erkennbar, wie aussichtslos es ist,
heute noch eine für alle verbindliche inhaltliche Vorselektion leisten zu wollen.
t Darüber hinaus wollen die Lob- und Abgesänge auf die Bildung so tun, als diene
Bildung der Veredelung des Menschen und der Menschheit, als mache Bildung
den Menschen ungefährlich, als entwaffnete sie ihn gewissermaßen und als be-
friedete und verbesserte sie die Menschheit insgesamt. Das darf – hier sind sich
Luhmann und Adorno einig – spätestens nach den zwei Weltkriegen und dem
deutschen Nationalsozialismus mit Fug und Recht bezweifelt werden: Bildung
erlöst die Menschheit nicht von Unmenschlichkeit.
t Bildung zielt sehr stark auf Individualisierung ab. Wenig bedacht wird, wie das,
was der Einzelne aus sich macht, bei anderen auf Verständnis stoßen kann.
Bildung funktioniert nicht im Alleingang. Man kann sich nur bilden durch die
Meinungen anderer hindurch. Man kann Bildung nur erwerben „wenn man
mitsieht, was andere davon halten“ (Luhmann 2002:191). Im 18. Jahrhundert
klärte man diese Frage noch über Moral, die als allgemein verbindlich, das
eigene Ich implizierend, unterstellt wurde. Das passte allerdings nicht mehr
zur angelaufenen Arbeitsteilung bzw. zur funktionalen Differenzierung der
modernen Gesellschaft, die sich gegen allgemeine Verbindlichkeiten sträubt
und auf systemspezifische Verbindlichkeiten umstellt. Moral im Sinne lernbarer
Verhaltensregeln stößt an Grenzen, wo Regeln beim Wechsel der Systeme, beim
Übergang von einer Situation in eine andere, nicht mehr gelten. Wie aber lässt
sich unter diesen Bedingungen Individualisierung noch regulieren und in sozial
vertretbaren Grenzen halten?
t Spätestens seit den 60er Jahren meint Bildung nicht mehr nur Aneignung der
Welt, sondern unter emanzipatorischen Gesichtspunkten immer auch Befähigung
zur Kritik. Alle sollen emanzipiert werden. Alle sollen kritikfähig und kritik-
freudig werden. Emanzipation und Kritik sollen die Gesamtlage der Menschheit
verbessern. „Von wegen! Die Emanzipation des einen ist die Unsicherheit des
anderen“, so Luhmann (ebd.:197). Freie, emanzipierte Menschen sind für an-
dere unkalkulierbar. Dieser Aspekt bleibt im bürgerlichen Freiheitsprogramm
unterbelichtet, da man zu sehr die andere Seite, die Gesellschaft, durch Begriffe
wie ‚Herrschaft‘ oder ‚Institution‘ verteufelt hatte.
t Adorno hatte bereits in aller Deutlichkeit gesagt, wie dumm und gefährlich die
Einredung sei, dass die Erhellung des Einzelnen durch Bildung zur Erhellung
des Ganzen führe. Er hatte zu Recht betont, dass der Sinn der Bildung nicht von
der Einrichtung der menschlichen Dinge getrennt werden könne, sprich, dass
Bildung, die sich selbst verabsolutiert, blind gegenüber der Gesellschaft werde,
3.5 Lernfähigkeit 95

in der sie stattfindet. Mithin ist das eines der gravierendsten Defizite pädago-
gischer Bildungskonzepte: Sich selbst zu verabsolutieren und die Gesellschaft, in
der Bildung stattfindet, nicht hinreichend zu reflektieren. Statt sich ein Bild von
der Gesellschaft zu machen, so Adornos und Luhmanns Kritik, habe man sich
an der Schönheit der Bildungsidee ergötzt. Wichtiger aber wäre es, die Frage zu
beantworten: Was ist das für eine Gesellschaft, in der Bildung stattfinden soll?
t Der Bildungsbegriff war nicht genau genug auf die Funktion der Erziehung
zugeschnitten, denn Bildung findet, wie mit einer gesellschaftstheoretischen
Sichtweise unschwer festzustellen ist, nicht nur im Erziehungssystem statt. Bildung
passiert überall. Das Erziehungssystem musste und muss sich die Bildung, wie
oben bereits angedeutet, mit vielen Überschneidungsbereichen teilen: mit der
Familie (zunächst vertreten durch die Familienväter, später dann mehr durch
die Mütter), mit der Religion, mit den Medien, zunehmend heute auch mit den
Peers, den realen wie den virtuellen. Die Formel ‚Bildung‘ funktioniert nicht
mehr, wie man heute sagen würde, als funktionales Alleinstellungsmerkmal
der Erziehung.
t Auch war die Formel ‚Bildung‘ nicht hinreichend abgestimmt auf die sich bereits
abzeichnende Inklusion der Gesamtbevölkerung in die schulische Erziehung.
Was kann Bildung meinen, wenn sie wirklich alle meint?

Mit derart kritischen Anfragen an die Bildungsidee, die sich im Laufe der Zeit an-
sammelten, sieht Luhmann die Pädagogik schließlich mit der Frage konfrontiert:
Wie kann eine Ersatzformel für ‚Bildung‘ gefunden werden, die zugleich universell
im Anspruch, jedoch spezifischer in seiner Ausrichtung ist? Die Erziehung erkennt
mit der Zeit, nicht zuletzt aufgrund ihrer engen Anbindung an die Wissenschaft,
dass es statt um einen eng geschnürten Kanon des Wissens, aus dem Alteuropa
noch schöpfte, um generell einsetzbare Lernfähigkeit gehen könnte. Sie testet (gegen
den Protest aus den eigenen Reihen; vgl. z. B. die Kritik von Liessmann) die Formel
Lernfähigkeit unter Titeln wie lebenslanges Lernen und Lernen lernen derzeit aus.
Mit der Kontingenzformel Lernfähigkeit beruft sich die Erziehung laut Luhmann
auf eine reflexive Form des Lernens, das Lernen des Lernens. Mit Lernfähigkeit
liegt der Fokus darauf, die Lernenden für alle erdenklichen Berufs- und Lebens-
lagen zu wappnen. Es wird keine Sonderbeziehung zu einem der Umweltbereiche
erkennbar. Menschen müssen mit den Vorgaben aller Umweltbereiche vertraut
sein, allenfalls wird den Arbeitsanforderungen in der Wirtschaft eine besondere
Relevanz zugesprochen. Letztlich geht es beim Lernen des Lernens immer um eine
generell einsetzbare Lernfähigkeit.
Zunächst will man Lernfähigkeit nicht allen zumuten. Man geht davon aus,
dass erst im Übergang von der Schule zur Hochschule der selbsttätig-forschende
96 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

Bildungserwerb beginnt. Der Lernende ist spätestens in der Universität auf sich
selbst, auf seine Fähigkeit, selbsttätig zu lernen, gestellt. Bald wird aber erkannt,
dass selbsttätiges Lernen fürs Leben generell gilt, nicht nur für die Universitäten.
Die Schule bereitet auf die Hochschule und aufs Leben vor. „Es kommt in allem
Lernen (…) nicht auf das Anhäufen zutreffender Kenntnisse oder brauchbarer
Fähigkeiten als solche an, sondern auf die dabei mitgelernte Fähigkeit, das Ge-
lernte als Grundlage weiteren Lernens zu verwenden“ (Luhmann, Schorr 1999:86).
Es geht um ein Können, das weiteres Lernen in späteren Situationen in Aussicht
stellt. Gemeint ist hier die „Dauerbereitschaft, Neuem durch Änderung von bereits
gelernten Erwartungsmustern zu begegnen“ (ebd.). Damit orientiert sich auch die
Erziehung – wie die meisten anderen Funktionssysteme – nicht mehr an ein oberstes
Prinzip (Perfektion, Wahrheit, Bildung), sondern an Reflexivität. Sie konzentriert
sich auf den Operationsmodus der Selbstreferenz (Selbstbezüglichkeit). Sie setzt auf
prozessuale Selbststeuerung, ob in der Form der Erziehung der ErzieherInnen oder
in der Form der Selbstbildung des Subjekts.
Ein Lernen des Lernens passt zu den gesteigerten Umstellungserfordernissen einer
funktional differenzierten Gesellschaft. Höhere Komplexität erzwingt selektiveres
Verhalten und entsprechendes Umschalten im Übergang von einem System in ein
anderes, von einer Situation in eine andere. Hier geht es nicht um Basistugenden
wie Frömmigkeit, Gerechtigkeit oder Moral, die sich über alle Situationen hinweg
bewähren sollen, sondern um gelegentlich intensiv geforderte, und deshalb dauerhaft
bereitzuhaltende Spezialkompetenzen. Man muss Erwartungen zur Disposition
stellen und im Bedarfsfall umstrukturieren können. Änderungsbereitschaft ist bei
wechselnden Kontexten unverzichtbar. Das Lernen lernt sich selbst, was nicht als
Endergebnis eines schulischen Prozesses, sondern als dessen Betriebsprämisse zu
verstehen ist.
Mit der Formel ‚Lernfähigkeit‘ verliert das Wissen der vorgängigen Generati-
onen an Bedeutung. Das lernwerte Wissen wird enttraditionalisiert. Es begründet
sich nicht mehr aus einer weit zurückzuverfolgenden Linie, sondern aus den
praktischen Anwendungssituationen heraus. Die Frage lautet nun, ob und wo man
das Gelernte anwenden kann und ob man nicht mehr brauchbares Wissen durch
neues, brauchbareres Wissen ersetzen sollte.
Zugleich zeigt die Formel ‚Lernfähigkeit‘ die Unabhängigkeit des Erziehungs-
systems von den Lehr- bzw. Lernstoffen: Das Erziehungssystem kann autonom ent-
scheiden, was wichtig ist, gelehrt bzw. gelernt zu werden. Es muss – bei der Breite
des ständig wachsenden Wissens – ohnehin auswählen. Die Wichtigkeit liegt nicht
mehr in den Stoffen selbst, sondern in der Gelegenheit, die sie bieten, das Lernen des
Lernens für eine ungewisse Zukunft zu erlernen. Die Inhalte werden zur Sache des
Entscheidens. Sie werden kontingent, auch anders möglich und nur solange gültig,
3.5 Lernfähigkeit 97

bis anders entschieden wird (ähnlich wie im Recht, in der Politik, in der Wirtschaft,
in der Kunst, in Intimbeziehungen – anders als in der Religion). Nichts gilt mehr
auf ewig. Alles kann umentschieden werden. Dafür steht fortan der Lehrplan bzw.
das Curriculum bzw. das Modulhandbuch. Sie alle warten nur auf Revisionen, auf
Variationen ihres Inhalts und Aufbaus. Sie warten auf Aktualisierungen.
Damit verschwimmt der Bezug zur Bildung. Bildung ist und bleibt von nun an
reformbedürftig. Die Bildungsidee verliert ihren Orientierungswert und schlittert
von Krisen in Miseren. Will man noch Inhalte sondieren, so liegen sie in den
konstituierenden Dimensionen des Mediums Sinn: „In der Sozialdimension geht
es um Erziehung zur Kommunikation. In der Zeitdimension geht es um Erziehung
zur Änderungsbereitschaft. In der Sachdimension geht es um Erziehung zur Wahl-
fähigkeit“ (Luhmann 2002:195; Hervorhebungen T.B.).
Mit der Kontingenzformel ‚Lernfähigkeit‘ läuft die Erziehung allerdings auf
einen Widerspruch auf: Lernfähigkeit ist beliebig steigerbar, da jede weitere Situation
neue Überraschungen bereithalten kann. Lernfähigkeit ist zugleich nicht beliebig
steigerbar, da das auf willfährige Anpassungsbereitschaft hinaus liefe. Man kann
nicht alles immer zur Disposition stellen. Es muss Verlässlichkeiten geben, z. B. in
Sachen Recht, Normen und Werte, Gewissen, Moral, Liebe, Religion, Politik etc.
Der Konflikt läuft streng genommen darauf hinaus, dass man in der Praxis ganz
rigide, quasi rücksichtslos, Inhalte ein- und ausgrenzt, in der Reflexion aber beliebige
Anpassungen vorstellbar macht: Bei kleinsten Irritationen könnte ‚gelernt‘ werden.
Beides beißt sich und kann den schulischen Lernprozess nicht sinnvoll beschränken.
Eine Lösung dieses Problems könnte laut Luhmann in der Reflexion der Idee der
Autonomie liegen. Die Erziehung als autonomes System, aber auch der autonome
Schüler, der autonome Lehrer oder die autonome Schule, sie alle entscheiden selbst
über Inhalte und Lerngelegenheiten: Autonom ist ein System, das selbst entscheiden
kann, wann es lernen und wann es nicht lernen will und ob es in Bezug darauf
sich selbst festlegt oder sich selbst offen hält. Ein autonomes System reflektiert und
wählt seine Abhängigkeiten oder Unabhängigkeiten von der Umwelt und seine
Entscheidungen selbst. Es weiß, was es tut, da es unterscheiden kann zwischen dem
operativen Tun und der Reflexion als eigenes, besonderes Tun. Damit ist allerdings
nur etwas zur Form gesagt, nicht zu den Inhalten, die den Lern- und Reflexions-
prozess limitieren. Die Inhalte bleiben historisch, nachdem sich nichts mehr a
priori Geltendes finden und behaupten lässt. Stoppregeln des Lernens müssen in
den laufenden selbstreferenziellen Prozessen erwirkt werden. Sie lassen sich nicht
mehr vorgeben (vgl. Luhmann, Schorr 1999:91), weder von der Erziehung selbst
noch von der Wissenschaft, noch von der Wirtschaft oder der beruflichen Praxis,
in die die Erziehung mündet.
98 3 Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?

Aber vielleicht stellt der Übergang vom Erziehungssystem in den beruflichen


Alltag, der eine hohe adaptive Flexibilität verlangt, eben doch die prototypische
Konstellation dar, an der sich Erziehung zu orientieren hat. Denn schließlich ist der
eigentliche Lernort, an dem man das Lernen mithilfe des Gelernten erst richtig lernt,
die Praxis. Die Praxis ist nach Verlassen der Schulen die ‚letzte Instanz‘, in der man
etwas über die Qualität und Brauchbarkeit des Gelernten lernt. In der Praxis zeigt
sich, ob abrufbare Lernfähigkeit bereitsteht, um einen geschmeidigen Übergang
vom Erziehungssystem in andere Funktionssysteme zu ermöglichen: in die Berufs-
welt wie auch in die Welten der Liebe, der Medien, der Kunst, der Gesundheit, des
Rechts etc. Die Erziehung verspräche somit, ‚Lehrlinge‘ zur Verfügung zu stellen,
die vor Ort etwas lernen, was aufgrund der rasend schnellen Veränderungen in
allen Lebensbereichen in der Schule ohnehin nicht mehr zu lehren und zu lernen
ist. „Die Formel Lernfähigkeit gehört in eine funktional differenzierte Gesellschaft,
die ihrer eigenen Folgen ansichtig wird und es fast nur noch damit zu tun hat, die
Folgeprobleme hochriskanter Strukturentscheidungen wenigstens einigermaßen
in den Griff zu bekommen“ (ebd.:93).

3.6 Ein Resümee


3.6 Ein Resümee
Wir befinden uns heute in einer Zeit, in der sich die humanistischen Bildungsideale
auflösen, sei es aufgrund kapitalistisch forcierter Entfremdungsprozesse, sei es
aufgrund soziokultureller oder gesellschaftsstruktureller Wandlungsprozesse. Folgt
man Luhmanns Überlegungen, ist es nicht mehr angemessen, das Erziehungssys-
tem als Bildungssystem zu charakterisieren. Es ist vielmehr im Begriff, zu einem
Lernsystem zu mutieren, das sich dem Lernen des Lernens verschreibt. Das, worauf
sich Bildung einmal bezog, einen deutlich umrissenen Kanon an wissenswertem
und wissbarem Wissen, ist heute kaum noch auszumachen und allen Menschen
zuzumuten. Auf der Programmebene mögen PädagogInnen immer noch versuchen
vorzugeben, was Bildung sein könnte, doch auf der Ebene der Gesellschaft hat das
Erziehungssystem bereits auf die Zentralformel ‚Lernfähigkeit‘ umgestellt und sich
damit zur Aufgabe gemacht zu erklären, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Wozu also
noch an der Idee einer kanonisierten, bewahrenswerten Kultur festhalten?
Was das Wahre, das Gute, das Schöne noch sein soll, versteht sich heute nicht
mehr von selbst. Selbst die Schätze, die gewisse Bildungsschichten zu retten ver-
suchen, können nur noch als Projektionsflächen gegenwärtiger gesellschaftlicher
Fragestellungen überleben: Sie haben ihre Aktualität verloren und müssen deshalb
mit einer aktualisierten Aktualität reanimiert werden. Im Erziehungssystem wird
3.6 Ein Resümee 99

mit Blick auf den Menschen registriert, dass er seine Komplexitätsunterlegenheit


nur durch Lernen kompensieren kann. Und dafür hat das Erziehungssystem zu
sorgen: die Lernfähigkeit der Menschen wie auch die Lernfähigkeit des Systems
selbst zu steigern.
Schwenken wir damit noch einmal auf die Gretchenfrage aller Pädagogik: „Was
ist wert, gelehrt und gelernt zu werden?“, so lautet hier nun die Antwort: Lehrens-
und lernenswert ist vor allem das Lernen selbst.

Zur Überprüfung Ihres Lernerfolgs bearbeiten Sie bitte


t Arbeitsblatt 06: Zu Kapitel 3 – Wie unterscheiden sich Bildungskonzepte?
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9

Nachdem Sie Unterschiede zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen,


zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Denk- und Handlungsweisen,
zwischen wissenschaftlichen Wahrheitsverständnissen und erzieherischen Bildungs-
ambitionen kennengelernt haben, empfehle ich Ihnen, sich mit vier weiteren Grundun-
terscheidungen des wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens auseinanderzusetzen.
Gemeint sind die Unterscheidungen Theorie und Praxis, Verstehen und Nichtverstehen,
Lernen und Nichtlernen und Wissen und Nichtwissen.
Sie finden dazu
t Text 04: Theorie und Praxis
t Text 05: Verstehen und Nichtverstehen
t Text 06: Lernen und Nichtlernen
t Text 07: Wissen und Nichtwissen
auf der zu diesem Buch gehörenden Produktseite
http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
Wie unterscheiden sich Kindes- und
Menschenbilder?
4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?
4

Wer fragt: „Was ist ein Kind?“, „Was ist der Mensch?“ oder „Was ist die Gesell-
schaft“, der bekommt keine eindeutige, abschließende Auskunft, sondern viele
unterschiedliche Antworten, die mehr über die Kontexte verraten, aus denen die
Antworten stammen, als über den Gegenstand, um den es vermeintlich geht. Wir
erfahren, wie über Kinder und Menschen und die Gesellschaft zu unterschiedli-
chen Zeiten in unterschiedlichen Diskursen nachgedacht und geredet wurde und
wird. Wir erfahren etwas darüber, wie sich das Nachdenken und Reden im Laufe
der Geschichte gewandelt hat, und wir bemerken – was vielleicht am wichtigsten
ist –, dass unterschiedliche Kindes-, Menschen- und Gesellschaftsbilder mit un-
terschiedlichen praktischen Konsequenzen verbunden sind, dass es also einen
Unterschied macht, mit welchen Vorstellungen wir Kindern, anderen Menschen
und der Gesellschaft begegnen. Es geht bei der Arbeit an Begriffen also nicht um
Haarspaltereien, sondern um handfeste, praktisch bedeutsame Resultate und Ef-
fekte. Es geht darum, wie wir mithilfe der Sprache unser Tun formen, begründen
und rechtfertigen. Wir ‚erschaffen‘ das Kind, den Menschen, die Gesellschaft mit
den Begriffen, die wir verwenden.54

54 Wir haben entsprechende Erfahrungen bereits bezüglich der Themen ‚Wahrheit‘ und
‚Bildung‘ gemacht. Auf die Fragen „Was ist Wahrheit?“ bzw. „Was ist Bildung?“ erhielten
wir unterschiedliche Antworten, die unterschiedliche Praxen implizierten. Wir lassen
uns auf die Begriffsarbeit ein, um die historische Variabilität und die inhaltliche Varietät
von Begrifflichkeiten kennenzulernen. Gerade an den Kernbegriffen der Disziplin kann
gelernt werden, dass es in der Wissenschaft weniger um eine semantische Vereinheit-
lichung und begriffliche Objektivierung geht, als um Dialog und Reflexion.
Zu bedenken ist weiterhin, dass es nicht nur darum geht, dass wir uns als Einzelin-
dividuen auf Dialoge und Reflexionen bezüglich unserer Kindes-, Menschen- und
Gesellschaftsbilder einlassen, auch die Institutionen und Unternehmen, in denen in
sozialen Berufen gearbeitet wird, sind gehalten, in ihrer ‚Unternehmensphilosophie‘
auszuweisen, an welchen Bildern sie sich orientieren.

T. M. Bardmann, Die Kunst des Unterscheidens,


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
102 4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?

Wenn wir fragen: „Was ist ein Kind?“, „Was ist ein Mensch?“, „Was ist Gesell-
schaft“, dann tun wir dies nicht um festzustellen, was ein Kind, ein Mensch, eine
Gesellschaft schlussendlich wirklich ist. Wir fragen, um zu erkunden, wie Kinder,
Menschen und die Gesellschaft beschrieben und behandelt wurden und werden:
Mit welchen Kindes-, Menschen- und Gesellschaftsbildern wurde und wird in den
sozialen Berufen mit welchen Konsequenzen gearbeitet? Der Fokus muss auch hier
darauf liegen, Unterschiede kenntlich zu machen und ein Gespür dafür zu entwi-
ckeln, wie sich mit der Zeit Bezeichnungen, Verständnisse und Umgangsweisen
wandeln, wie Unterscheidungen ausgetauscht und durch andere Unterscheidungen
ersetzt werden.
Jeder Arbeit in sozialen Berufen liegt ein spezifisches Menschen- und Gesell-
schaftsbild zugrunde, implizit oder explizit, woran sich die Richtigkeit von Ent-
scheidungen für oder gegen gewisse Maßnahmen und Programme entscheidet. Jedes
Bild vom Menschen und von der Gesellschaft ist mit spezifischen Konnotationen,
Vorannahmen, Erwartungen und Präskriptionen gekoppelt. Kindes-, Menschen-
und Gesellschaftsbilder sind stets Mischungen aus überprüften Fakten, ungeprüften
Behauptungen, Wünschen, Werten, Normen, Hoffnungen und Befürchtungen,
Vorurteilen und Obsessionen. Wer eine spezifische Vorstellung von einem Kind,
einem Menschen oder der Gesellschaft hat, hat auch entsprechende normative
Orientierungen und entsprechende praktische Ambitionen. Wer sich auf eine soziale
Berufstätigkeit vorbereitet, sollte nicht mit naiven und undifferenzierten Vorstellun-
gen von Menschen und ihrer gesellschaftlichen Situiertheit ins Feld laufen, sondern
sich zuvor kundig machen über die verfügbaren Ansätze und ihren Ambitionen.
Schließlich ist, wie uns die Überlegungen zum Wahrheits- und Bildungsverständnis
gezeigt haben, jeder selbst verantwortlich für seine Sicht- und Handlungsweisen.

4.1 Kindesbilder
4.1 Kindesbilder
4.1.1 Wie kann man Kinder verstehen?

„Was ist ein Kind?“ Welche Vorstellungen haben Erwachsene, speziell Eltern,
ErzieherInnen und PädagogInnen, im Kopf, wenn sie Kinder ‚erziehen‘ wollen?55

55 Die folgenden Ausführungen gehen wesentlich auf das Buch von Gerold Scholz (1994):
Die Konstruktion des Kindes. Über Kinder und Kindheit. Opladen: Westdeutscher
Verlag zurück.
4.1 Kindesbilder 103

Die Psychoanalyse lehrt, dass wir als Erwachsene unsere eigene Kindheit, die
uns als erste bewusst erlebte Lebensphase geprägt hat, in uns aufbewahren. Wir
sind von unserer eigenen Kindheit ‚geimpft‘, schreibt Walter Benjamin. Dieses ‚in
uns aufbewahrte Kind‘ ist von Wünschen und Ängsten, Rationalisierungen und
Verdrängungen geprägt, und es bestimmt mit, wie wir als Erwachsene über Kinder
denken und reden, wie wir Kinder behandeln. Wie viel von unserer Beschreibung
des Kindes ist von unserer eigenen Kindheit bestimmt, von den eigenen Projekti-
onen und Idealisierungen? In welchem Maße sprechen wir über uns selbst, wenn
wir über Kinder reden?
Die Soziologie lehrt, dass Kindheit nicht nur die persönliche, individuell geprägte
Erfahrung meint. Kindheit ist zugleich auch kulturell geprägt und gesellschaftlich
geformt. Die Gesellschaft stellt Theorien und Leitbilder bereit, die ein ‚normales‘
Verständnis von und zu Kindern vorgeben. Wie viel Gesellschaft, wie viel Kultur
steckt in unseren Beschreibungen des Kindes?
Die Pädagogik muss sich vor diesem Hintergrund fragen: Wie viel Kind steckt
eigentlich in unseren Vorstellungen vom Kind? Kann man das Kind überhaupt
‚vom Kind aus‘ denken? Welche Vorstellungen machen sich PädagogInnen von
ihrem Gegenüber? Mit welchen Unterscheidungen erzeugen sie ihre Form vom
Kind? Wie beobachten sie, wenn sie pädagogisch einwirken wollen?56 Wie kann
man Kinder verstehen? Hier einige gängige Vorschläge, die erkennen lassen, wie
sehr das Kind vom Erwachsenen aus gedacht wurde und wird:
Das Kind

t als ‚Mittler‘ zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft;


t als ‚Mittler‘ zwischen Natur und Kultur;
t als ‚Träger von Hoffnungslasten‘, die Eltern, Erwachsene, Generationen ihnen
aufbürden,57 das Kind also als die hoffnungsbeladene Nachkommenschaft;
t als ‚Schlüssel‘ zu eigenen Erinnerungen an die eigene Kindheit;

56 Laut David Klett (2013) ist das Kind nicht mit sich identisch: Es rangiert ständig zwischen
einem Nicht-Mehr und Noch-Nicht und wird deshalb beobachtet in der Differenz von
Identität (Sein) und Variation (Werden). Die Familie/Eltern/ErzieherInnen beobachten
das Kind laut Klett in Orientierung auf Zukunft (Karriere) primär mit der Unterschei-
dung formierbar/nicht formierbar, aus der es mit der Zeit herauswächst, um erwachsen
(selbstständig/unselbstständig) zu werden, eine eigene Familie zu gründen, und dann
die eigenen Kinder unter derselben Unterscheidung zu beobachten, wie man selbst
als Kind beobachtet wurde. Klett zeichnet nach, wie sich im Zuge gesellschaftlicher
Veränderungen auch die inhaltlichen Anmutungen an den Unterscheidungsgebrauch
änderten.
57 Das Kind als Projektionsfläche der Wünsche und Träume der Erwachsenen? Womöglich
projizieren PädagogInnen die Hoffnung auf die Kinder, einmal zu einer besseren Welt,
104 4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?

t als etwas ‚Wildes‘, das gezähmt und zivilisiert werden muss; als ungehorsames,
unvernünftiges, spontanes, unreflektiert selbstbezügliches Etwas, das es ‚artig‘
zu machen, zu dressieren, zu erziehen, zu formen, zu bilden gilt;
t als ‚Individuum‘ mit eigenen, einzigartigen Ansprüchen;
t als ‚Forschungsobjekt‘, dessen Besonderheiten es zu erkunden und zu beschreiben
gilt – z. B. in Form von Entwicklungstheorien oder Wesensbeschreibungen oder
Beschreibungen seiner Natur58;
t als ‚Prototyp‘, an dessen Phylogenese sich die Ontogenese nachvollziehen lässt;
t als ein ‚Das‘, ein Neutrum, geschlechtslos, geschlechtlich noch nicht adressierbar;
t als ‚Urgegenstand‘ der Verantwortung, um den wir uns unwillkürlich, unwei-
gerlich zu kümmern haben;
t als ‚Fleisch und Blut‘ seiner Eltern, von Vater und Mutter gezeugt, aus dem Leib
der Mutter entbunden, insofern den Eltern eigen und fremd zugleich;
t als ein ‚Anderer‘, von dem man vieles lernen kann, z. B. all das, was man im
Zuge des eigenen Erwachsenwerdens verlernt hat;
t als etwas ‚Fremdes‘, das man nicht wirklich versteht und nie wirklich verstehen
wird.

4.1.2 Das Bild des Kindes in der Pädagogik

Die Kindesbilder der Pädagogik sind geprägt von der jeweiligen Zeit, von der
Kultur und Gesellschaft, in der sie entstanden. Es sind ‚Konstrukte‘ bzw. ‚Konst-
ruktionen‘, die so oder auch ganz anders ausfallen könnten.59 Wir können hier nur

womöglich zur ‚Erlösung von allem Übel‘ beizutragen. Solche Ideen schließen an die
christliche Heilsgeschichte an: Der Erlöser kam als Christuskind auf die Welt.
58 Achtung: Das Kind zum Forschungsobjekt zu machen, kann heißen, es in die Sprache
einer Disziplin zu zwingen, es zu disziplinieren, es für sein Fach zu erobern. Will man
dem Kind keine Gewalt antun, sollte man sich die wissenschaftliche Herangehensweise
und Haltung genau anschauen und überprüfen, ob sie – wie es schon Rousseau forderte
– dem kindlichen Eigensinn genügend Raum lässt.
59 ‚Konstrukt‘ und ‚Konstruktion‘ sind technische Begriffe. Sie machen nicht nur Sinn
vor dem Hintergrund der Debatte über Retortenbabys und In-vitro-Fertilisation, also
der realen Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung und genetischen Manipulati-
on von Erbmaterialien zur Herstellung eines ‚Wunschkindes‘, sondern auch vor dem
Hintergrund, dass zu allen Zeiten von Seiten der Erwachsenen versucht wurde, Kinder
zu formen nach eigenen Wünschen und Plänen, notfalls mit Zwang. Wir projizieren
und pädagogisieren unsere Vorstellungen von einem Erwachsenen ins Kind hinein
und bringen damit das Kind bzw. die Differenz zwischen Kind und Erwachsenem zum
Verschwinden. Ich lasse mich auf die technische Begrifflichkeit ein, um die kognitiven
4.1 Kindesbilder 105

einige exemplarisch herausgreifen und benennen, um einen ersten Eindruck von


der Konstruiertheit erzieherischer Kategorien zu vermitteln.
Jede Epoche und jede Generation glaubte, ‚kindgerecht‘ zu handeln.60 Im Ge-
gensatz zu früher weiß man heute, dass die Kindheit in körperlicher, seelischer und
geistiger Hinsicht eine äußerst produktive Lebensphase ist, beginnend bereits vor
der Geburt (Embryonalzeit) und endend etwa mit der Erreichung der sexuellen
Reifung (Pubertät), d. h. bei Mädchen zwischen 8-14, bei Jungen zwischen 10-16
Jahren. Ob im Neugeborenenalter (erster Lebensmonat), im Säuglingsalter (erstes
Lebensjahr), im Kleinkindalter (zweites bis drittes Lebensjahr) oder im Kindergar-
ten-/Vorschulalter (viertes bis sechstes Lebensjahr), in jeder dieser Phasen werden
wesentliche Entwicklungen vollzogen (Entwicklung des Gehirns und Nervensys-
tems, Entwicklung sinnlicher Wahrnehmungsfähigkeiten, Bindungsaufnahme,
Körperwachstum, Organentwicklung, Zahnbildung (Milchgebiss), Sprachent-
wicklung (Lalllaute) und Bewegung, Blase- und Darmkontrolle, Ich-Bewusstsein
und Identitätsbildung, Trotz, Fremdeln, Kontaktaufnahme zu SpielpartnerInnen,
Mutter-Kind- und Doktorspiele, von Spiel- zu ersten Arbeitsformen, Entwicklung
des Leistungsbewusstseins und moralischen Empfindens, Entwicklung eines
Selbstbildes, Tätigkeitsdrang etc.).

Das Kind als kleiner Erwachsener


Bis zum 18./19. Jahrhundert wurde in Europa die Kindheit nicht als produktive
Lebensphase gesehen. Vielmehr wurde das Kind als kleiner Erwachsener betrachtet.
In dieser Zeit dachte man: Kinder sind zwar noch unfertig, befinden sich aber auf
dem Weg zum Erwachsenen. Ihnen fehlt noch einiges, um als vollwertig erwach-
sen angesehen zu werden. Diese Vorstellung drückte sich u. a. in einer geringeren
sozialen Wertschätzung aus: Kinder wurden ‚nicht für voll genommen‘. Man sah
sie als unreif, unmündig und minderwertig an. Man zog ‚die Kleinen‘ bereits früh
zur preiswerten bis kostenlosen Arbeit heran. Kinder wurden – aus heutiger Sicht
– ohne Rücksicht auf ihre Entwicklungsmöglichkeiten – oft mit Einverständnis der
Eltern – zu wirtschaftlichen Zwecken missbraucht. Die übermächtigen Erwachsenen
verfügten über die ‚kleinen Erwachsenen‘ als verfügten sie über ihresgleichen. Kinder

Herstellungsleistungen in den Sinnsetzungen, die wir als BeobachterInnen der Kinder


vornehmen, deutlich herauszustellen. Wir sind die ArchitektInnen des Kindes, wenn
wir anfangen, über Kinder zu reden. Wir weben das Bedeutungsgeflecht ‚Kind‘, das
wir dem Kind zumuten.
60 Die folgenden fünf Kindbilder verdanken sich dem Beitrag von Norbert Kluge (2006):
Das Bild des Kindes in der Pädagogik der frühen Kindheit. In: Lilian Fried, Susanna
Roux (Hrsg.): Pädagogik der frühen Kindheit. Handbuch und Nachschlagewerk.
Weinheim und Basel: Beltz, S. 22-33.
106 4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?

hatten den Erwartungen, Wünschen, Ansprüchen, Forderungen und Befehlen der


Erwachsenen bedingungslos Folge zu leisten.

Das Kind als Erfüllungsgehilfe unerfüllter Wünsche


Ein weiteres Bild des Kindes begreift das Kind als Erfüllungsgehilfen unerfüllter
Wünsche der Erwachsenen. Erwachsene benutzen das Kind – bei aller Pflege, Für-
sorge und Förderung, die sie ihm zukommen lassen – für die Bearbeitung eigener,
ungelöster Probleme. Das Kind soll eigene, unerfüllte Wünsche, Sehnsüchte und
Lebensziele verwirklichen. Es soll quasi in die Rolle schlüpfen, in die man selbst
sich nicht wagte, in die man selbst nicht durfte oder in der man selbst versagte. Was
dem Erwachsenen nicht möglich war, wird nun dem Kind aufgebürdet. Ein solches
Arrangement missachtet die Persönlichkeit des Kindes und zwingt es, etwas zu
tun und zu sein, was es von sich aus nicht unbedingt tun würde oder sein wollte.
Das Kind soll den Ansprüchen der Erwachsenen entsprechen.
Richter (1969) deutet derartige Verhältnisse psychoanalytisch vor allem als
Übertragung und als Projektion. Bei der Übertragung wird dem Kind etwas abver-
langt, was eigentlich ein anderer Erwachsener übernehmen müsste. Das Kind wird
zu einem Substitut für einen ihm unbekannten anderen und wird in dieser Rolle
freilich überfordert. Bei der Projektion werden die Sehnsüchte des Erwachsenen
aufs Kind projiziert. Es soll z. B. den Traumberuf des Vaters ergreifen oder seine
Traumfrau ehelichen oder den familiären Betrieb weiterführen. Bei der narzissti-
schen Projektion wird dem Kind zugemutet, das ideale Selbst des Erwachsenen zu
bestätigen. Was ebenbürtige oder mächtigere Erwachsene dem Erwachsenen mög-
licherweise verweigern, versucht diese erwachsene Person sich beim schwächeren
Heranwachsenden zu holen. Der oder die Erwachsene benutzt das Kind zudem als
Zielscheibe, um an ihm seine Frustrationen loszuwerden.

Das Kind als Objekt erzieherischer Maßnahmen


Als Kind gerät das Kind ins Visier der Erwachsenen, wo es als Bezugsobjekt erzie-
herischer Maßnahmen begriffen wird. Es wird als erziehungsbedürftiges Wesen
betrachtet, dem man den rechten Weg weisen muss, ungeachtet seiner Ansprüche
und Beiträge. Es lag einzig in der Hand des Erziehenden, die Edukanten – auch
und gerade gegen ihren Widerstand – nach seinem Bild zu formen und sie zu
vermeintlich nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu machen. Die Erziehenden
sehen in ihrem absoluten Macht- und unbedingten Gehorsamsanspruch weder die
Ansprüche des Kindes noch achten sie auf die geheimen Miterzieher (neben Familie
und Schule die Straße und heute die Medien). Sie beanspruchen, das unfertige Kind
zur körperlichen und sittlichen Reife zu führen.
4.1 Kindesbilder 107

Das Kind als Subjekt seines eigenen Erziehungsvorgangs


Mit der Aufklärung wird das Kind endlich als Subjekt anerkannt. Es wird damit
auch als Mitgestalter des Erziehungsprozesses ernst genommen. Nun heißt es, die
Erziehung sollte ‚vom Kinde aus‘ gedacht werden. Erst auf dieser Grundlage wird die
Kindheit als eine eigenständige und pädagogisch höchst effektive Phase anerkannt.
Das Kind vermag sich nicht nur bereits kurz nach der Geburt aktiv an Interakti-
onsprozessen zu beteiligen, es zeigt ebenso von Natur aus eine kreative Begabung.
So sollten dem Kind im Erziehungsprozess Freiräume eingeräumt werden. Es sollte
‚nachgehend‘ statt ‚vorschreibend‘ erzogen werden.

Das Kind als gleichwertiger Bezugspartner in der pädagogischen


Interaktion
Mit der pädagogischen Reformbewegung, die die Erziehung konsequent ‚vom Kind
aus‘ anging, waren die Voraussetzungen gegeben, das Kind nicht nur als Subjekt,
sondern als gleichwertigen Partner in der pädagogischen Interaktion zu begreifen.
Kinder werden heute von Anfang an als gleichwertige Personen akzeptiert, wenn
sie auch als unreif, unmündig und schutzbedürftig gelten. Gleichwertig meint
hier: individuell und mit Anspruch auf Respekt und Menschenwürde. In der
UN-Konvention über die Rechte des Kindes wird zum Ausdruck gebracht, dass das
kindliche Eigenleben anzuerkennen und das Kind in sozialen und politischen Be-
langen wertzuschätzen ist. Im pädagogischen Interaktionsmodell geht es von nun
an um das von Situation zu Situation neu auszubalancierende Verhältnis zwischen
Erziehendem und Kind im Sinne einer gleichwertigen Partnerschaft.

Das Kind als unscharfes, offenes, immer wieder neu zu


zeichnendes Etwas
Vielleicht ließe sich neben den genannten Bildern auch eines vorstellen, das auf
Eindeutigkeit verzichtet und keine Festlegungen vorzunehmen versucht, eines,
das vielmehr ein unscharfes, offenes, immer wieder neu zu zeichnendes Bild vom
Kind vermittelt. Festlegungen laufen immer Gefahr, unangemessen zu reduzieren
und unangemessen zu generalisieren. Sie laufen immer Gefahr, das Kind in ein
Schema zu zwingen. Daher fragt Gerold Scholz (1994:13), ob nicht „der Verzicht
auf Eindeutigkeit auch eine Chance enthält; ob sich nicht im Widerstreit zwischen
Kind und Erwachsenem eine Beziehung aufrechterhalten lässt, die darauf gründet,
dass der ‚andere‘ nicht umfassend zu verstehen und zu bestimmen ist.“ Jedenfalls
würde der Umgang miteinander ‚spielerischer‘, ‚kreativer‘, ‚gelassener‘, mit mehr
Freiräumen für Veränderungen. Er würde ideologiefreier, unvoreingenommener,
respektvoller – und damit vielleicht auch ‚weiser‘.
108 4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?

In einer Diskussion über die Ohnmacht und Allmacht der Erziehung gemahnt
Friedrich Schleiermacher (1983:19), darauf zurückzugehen, was PädagogInnen
wirklich gegeben ist: „Dies ist nichts anderes als die Unentschiedenheit der an-
thropologischen Voraussetzungen.“ Deshalb: Vorsicht bei allen Definitions- und
Etikettierungsversuchen! Vorsicht aber auch bei allem Definitions- und Etiket-
tierungsverzicht! Wir befinden uns – wie immer – in einem Balanceakt, den es
verantwortungsvoll und gewissenhaft auszutarieren gilt.

4.2 Menschenbilder
4.2 Menschenbilder
„Was ist der Mensch? Eine Sackgasse der
Evolution oder die Krone der Schöpfung?
Ein ‚Fall‘, ein Faktor der Statistik oder eine
unverwechselbare Persönlichkeit?
Der ins Nichts Geworfene, der metaphysisch
Heimatlose, oder der im Glauben Geborene?“
(Hans-Jürgen Fraas 2008:787)

4.2.1 Ein knapper geschichtlicher Rückblick

Die humanistische Anthropologie aristotelischer Prägung61 war noch an eine on-


tologische Metaphysik gebunden und fragte entsprechend: „Was ist der Mensch an
sich?“ Zunächst suchte sie die Antwort in einer Kontrastierung zu den Göttern. Der
Mensch, zumindest sein Körper, sei sterblich, die Götter seien unsterblich. Sodann
suchte man die Unterschiede zu den Pflanzen und Tieren, um dem Menschen auf-
grund seiner Vernunft einen ‚höheren‘ Status in der Hierarchie der Wesen zuzuge-
stehen62. Die Vernunft sei geradezu die Natur des Menschen, die er allerdings auch

61 Für Aristoteles (384-322 v. Chr.) war klar, dass nicht jeder Mensch ein Mensch ist. Nur
die Freien und nur die Männer galten als Menschen, auf keinen Fall die Sklaven oder
die Frauen. Bis heute glauben Menschen, Menschen ‚entmenschlichen‘ und ausgrenzen
zu können. Wir nennen dies Diskriminierung und verbieten es per Gesetz.
62 Aristoteles vertrat eine Schichtentheorie, nach der
t Pflanzen über eine vegetative Seele zur Garantierung der Funktionen Ernährung,
Wachstum und Fortpflanzung,
t Tiere über eine sensitive (animalische) Seele zur Garantierung der Funktionen
anschauliche Vorstellung, Gedächtnis, Erinnerung, sinnliche Gefühle, Begehren,
Bewegung, stimmlicher Ausdruck innerer seelischer Vorgänge und
4.2 Menschenbilder 109

‚widernatürlich‘ zu nutzen wisse, in einer, wie Christen sagen würden, ‚sündigen‘63


oder, wie Humanisten sagen würden, ‚unmenschlichen‘ Weise.
Damit steuerte man freilich auf paradoxe Figuren zu, die für klärende Wesensaus-
sagen wenig taugten und daher über Ethik (gut/böse) und normative Schemata
(konform/abweichend; perfekt/korrupt) und Historisierung (Erlösung, Entfaltung
der Vernunft in der Geschichte) abgefedert werden mussten. Rückversichert wurde
dies über eine ständische Rangordnung der Gesellschaft, die den Menschen feste Plätze
zuwies (siehe z. B. als symbolischen Ausdruck der Rangordnung die Sitzordnungen
in Kirchen), aber auch Mobilität, also Auf- und Abstieg, vorsah. So überlebte bis
in die Neuzeit hinein die Hoffnung, der Mensch werde sich in Orientierung an
Konformität und Perfektion im Laufe der Geschichte ‚bessern‘ und sich selbst in
immer höhere Rangpositionen – ständisch und anständig – hinaufarbeiten und
damit der menschlichen Seite seines Menschseins zum Sieg verhelfen.
In der Moderne wollen die alten Ausreden (Ethik, Historisierung, Mobilität in
der Rangordnung) nicht mehr überzeugen. Der Mensch wird nun nicht mehr als
in seiner Wesenhaftigkeit zu beschreibendes Objekt verstanden, das von anderen
Objekten zu unterscheiden ist, der Mensch wird nunmehr – vor allem durch Im-
manuel Kant – als Subjekt beschrieben, das sich dank seines Bewusstseins „auf sich

t Menschen über eine intellektive, vernünftige oder denkende Seele verfügen, um die
oben bereits genannten Funktionen plus der Funktionen Denken, vernünftiges Wollen,
sittliches Bewusstsein, Sprache, Erwägen, Erkennen, Entscheiden zu garantieren.
Nach Aristoteles ist der Mensch ein geistiges Wesen. Geist ist die Instanz, die die Natur
(im Sinne des Ganzen in seiner Unmittelbarkeit) neu zu denken, vorzustellen, sprach-
lich, symbolisch-repräsentierend zu vermitteln vermag. Als geistiges Wesen vermag
der Mensch über sich (als Teil der Natur) und weitere Bereiche der Natur nach- und
hinauszudenken und sie nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Der Geist kann
die Natur erfassen, kann sie abstrahieren und transzendieren. Damit gehört der Geist
einer höheren Seinsschicht an, basierend auf der Natur, jedoch die Natur überbietend.
Die Ratio lässt den Menschen am göttlichen Geist teilhaben. Sie kann gedeutet werden
als das Göttliche im Menschen.
63 Augustinus (354-430) wie Thomas von Aquin (1224-1274) halten sich an die klassische
Schichtentheorie aristotelischer Prägung. Auch sie unterscheiden das Seelenvermögen
des Menschen in ein Erkenntnis- und Begehrungsvermögen. Erstes strebt zur höchsten
Geistigkeit, letztendlich zur Erkenntnis Gottes. Letzteres birgt das Risiko der Korruption.
Die christliche Tradition baut auf der aristotelischen Philosophie auf. Ihre Kernfrage
bezüglich des Menschen betraf das Verhältnis von Leib und Seele. Während die grie-
chische Tradition beides als getrennte Substanzen verstand, wird der Leib/Seele- bzw.
Körper/Geist-Dualismus in der christlichen Tradition über die Idee der Auferstehung
der Toten als ganze Menschen aufgehoben. Das Unterschiedene bildet eine ungeteilte
und unteilbare Einheit. Zur Sünde gelangt z. B. Paulus, indem er am Leib das ‚sündige
Fleisch‘ ausmacht: Der Geist ist willig, das Fleisch aber schwach.
110 4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?

selbst beziehen und seine eigene Einheit als Bedingung aller seiner Operationen
(Vorstellungen, Handlungen, Urteile) vorstellen kann“ (Luhmann 1995:157). Der
Mensch, so heißt es seit Kant, sei einzig in der Lage, seine Interessen, Ziele, Gefühle
und Empfindungen, Gedanken und Ideen, Bewertungen und Beurteilungen selbst zu
überprüfen und für gültig zu erklären, unabhängig von und womöglich sogar gegen
die immer noch ständische Rangordnung der Gesellschaft. Der Mensch erscheint
so als ein eigenwilliges autonomes Individuum, das in Opposition zur Gesellschaft,
ihren Rängen und Ständen geraten und das aus den bis dato maßgeblichen religiös
geprägten Transzendentalbezügen herausfallen kann (eine Parallelentwicklung
zur allgemeinen Säkularisierung). Was immer die Lösung der ständischen und
religiösen Verbindlichkeiten für den Einzelnen bedeuten mag, man muss nun nicht
mehr zu bestimmen versuchen, was der Mensch im Unterschied zu den Tieren,
den Pflanzen oder den Dingen ist, man muss nun empirisch nachvollziehen, wie er
sich selbst definiert, was er aus sich macht.
Wenn das individuelle Subjekt sich nicht mehr wesenhaft über Unterschiede
zu Pflanzen, Tieren oder Dingen profiliert, sondern sich selbst operativ mit Hilfe
selbstgewählter, und nicht normativ aufgedrängter Unterscheidungen unterschei-
det, wenn der Mensch quasi als ein poietischer Text seiner selbst auftritt, dann
lautet die Frage: „Von wem oder was unterscheidet sich das individuelle Subjekt?“
Unterscheidet es sich vielleicht im Unterschied zu anderen Subjekten? Oder unter-
scheidet es sich im Unterschied zur Welt? Vielleicht aber unterscheidet es sich auch
im Unterschied zu sich selbst? Letzteres führte mindestens zu einer Dopplung des
Selbst, wenn nicht zu mehrfachen Selbsten. Und welches dieser Selbste wäre dann
das, was sich unterscheidet?
Es bleibt die Frage: „Wie definiert das Subjekt auf der Basis selbstgewählter
Unterscheidungen die eigene Einheit?“ Dazu eine ausführliche Antwort Luhmanns
(ebd.:160): „Die Einheit des Subjekts ist das Paradox der Selbstbeobachtung, die
Einheit der dazu nötigen Unterscheidung. Und die Entfaltung dieses Paradoxes
kann verschiedene Wege nehmen, je nachdem, wovon das Subjekt sich unterschei-
det, um seine eigene Identität bezeichnen zu können. Das aber heißt, dass es keine
Garantie dafür gibt, dass alle Subjekte denselben Lösungsweg nehmen; noch eine
Garantie dafür, dass ein Subjekt nicht von Situation zu Situation die es identifizie-
renden Unterscheidungen wechselt – mal seine Frau [Intimbeziehung, T.B.], mal
seine Untergebenen [Arbeitswelt, T.B.], mal seinen Körper [Gesundheits-/Krank-
heitswesen oder Sport, T.B.], mal die moralisch minderwertigen anderen [Ethik
und Moral, T.B.], und eventuell auch mal Gott [Religion, T.B.]. Das Subjekt wäre
dann die jeweils neu zu aktualisierende Unterscheidung von Selbstreferenz und
Fremdreferenz mit jeweils anderen Bestimmungen.“ Der Mensch als homo distinc-
tus – mal Gatte, mal Chef, mal Kranker, mal Vorbild, mal Gläubiger – ist in seiner
4.2 Menschenbilder 111

Pluralität, Reflexivität und Unfassbarkeit auch homo absconditus (Kamper, Wulf)


oder mit Nietzsche gesprochen: das nicht festgestellte Tier, das nicht festzulegende
Wesen, die offene Frage (Bollnow64, Derbolav), das offene System, die Black Box.

4.2.2 Subjektivierung aus unterschiedlichen Perspektiven

SoziologInnen können, bevor sie sich auf das dünne Eis selbstreferentieller Figuren
begeben und das Subjekt nach seiner Selbstbeschreibung befragen, beobachten,
wie die ‚Leerstelle‘ Subjekt gesellschaftlich, und das meint: aus jeweils unterschied-
lichen Systemperspektiven heraus, zu definieren versucht wurde und wird. Die
Ausführungen sind sehr allgemein gehalten. Vor allem geht es darum, kenntlich
zu machen, wie aus unterschiedlichen Funktionskontexten heraus (vgl. Kap. 1.2)
unterschiedliche Diskurse über den Menschen geführt werden.

Das Menschenbild der Religion


Aus dem Kontext der jüdisch-christlichen Religion heraus, der zweiten großen
Quelle der abendländischen Kultur neben der griechischen und römischen Antike,
erfahren wir, der Mensch sei ein von Gott geschaffenes, gottähnliches, ebenbildli-
ches, beseeltes, allerdings zur Sünde fähiges, willensfreies aber moralisch korruptes
Wesen, aus Ackererde geformt, von der Erde kommend, zur Erde zurückkehrend,

64 Otto Friedrich Bollnow zählt zu den Begründern der Pädagogischen Anthropologie


als eigenständige Wissenschaft. Er vertritt einen phänomenologischen Ansatz, eng
angelehnt an die Überlegungen von Plessner, doch im strengen Gegensatz zu seinem
Vorgehen. Bollnow weigert sich, das Wesen des Menschen auf eine einzige Dimensi-
on zurückzuführen: auf seine exzentrische Position (Plessner), auf seine biologische
Mangelhaftigkeit (Gehlen); auf seine zu frühe Geburt (Portmann) etc. Bollnow möchte
diesen Einseitigkeiten entgehen und nicht einen Aspekt fürs Ganze ausgeben. Er geht
deshalb davon aus, dass der Mensch ein unergründliches Wesen sei, von dem man sich
kein abschließendes Bild machen könne. Der Mensch befindet sich stets und ständig in
Veränderung. Seine Selbstschöpfungsmacht ist unerschöpflich. Und in diesem Sinne hat
das menschliche Leben keinen Grund im Sinne eines festen Bodens oder Fundaments.
Es ist vielmehr ein permanenter Schaffens- und Neuschaffensprozess. Das menschliche
Leben ist ein Werdendes, ein Schöpferisches und ein Unerschöpfliches. Die zentrale
Dimension ist das Tunkönnen (neben Vernunft/Menschlichkeit), das Wirken und Werden
und die sie begleitende Möglichkeit des Nichtkönnens. Der Mensch muss etwas tun für
sein Tunkönnen (üben, probieren, entwickeln). Als Kernanliegen der Pädagogik gilt
für Bollnow die Spracherziehung, da Sprache für ihn wirklichkeitsschaffende Qualitä-
ten besitzt und das Sprachvermögen die Grenzen der Welt, die einem zugänglich ist,
markiert. Zudem ist das Selbst für Bollnow ein Spiegelbild der Sprache. Die Sprache
bestimmt Selbstwerdung wie Weltverständnis.
112 4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?

hinfällig, sterblich, vergänglich: Der Mensch sei zwar die Krönung der Schöpfung;
als irdisches Wesen allerdings befleckt mit der Erbsünde, die zum Verweis aus dem
Paradies geführt habe. Seither müsse der Mensch im Schweiße seines Angesichts
für sein Überleben arbeiten und bleibe dabei zu jeder Zeit anfällig für den Teufel
und seine Verführungen.
Da Gott den Menschen ‚nach seinem Bilde‘ schuf, ist der christliche Mensch dazu
aufgerufen („Adam, wo stehst Du?“), seinen Bezug zu Gott zu klären (Gesprächs-
partnerschaft) und dafür zu sorgen, dass das Abbild sich dem göttlichen Urbild
nähere. Eben darum geht es in der imitatio-Christi- oder der imago-dei-Lehre.
Gott habe dem Menschen, der sich als Mann und Frau fortpflanzt, den freien
Willen gegeben, zwischen gutem und bösem Handeln zu wählen. Um nicht vom
rechten Pfad abzukommen, sei der Mensch auf den Beistand Gottes und der Engel,
auf Seelsorge und die Regeln einer kirchlich akzeptierten, sein Seelenheil sichernden
Moral angewiesen. Das irdische Leben sei eine Bewährungsprobe, die in die Ver-
dammnis (Hölle) oder ins ewige Leben (Himmel) führe, von der Zwischenstation des
Fegefeuers einmal abgesehen. Der Mensch ist Ansprechpartner Gottes, als solcher
zur Antwort herausgefordert, ein Wesen mit individueller Verantwortung vor Gott
(Gottesliebe) und für andere (Nächstenliebe). Der Mensch hat sein Zentrum nicht
in sich, sondern in seiner Beziehung zu Gott und seinen Nächsten.
Gott wurde nach christlicher Auffassung in Jesus von Nazareth selbst zum
Menschen, dessen Leben, Tod und Auferstehung als Botschaft des Glaubens zu
verstehen ist. Der Gottes-/Menschensohn verkündet die frohe Botschaft vom nahen
Reich Gottes und dem ewigen Leben (Heilsversprechen): „Wer an mich glaubt,
wird leben, auch wenn er stirbt“ (Joh. 11,25). Wer Jesus in seiner vorbildlichen
Gottes- und Nächstenliebe folgt, ist errettet und findet Gnade vor Gott, vor dem
sich ausnahmslos jeder als Angerufener letztlich zu verantworten hat. Jeder Mensch
findet sich zur Antwort aufgefordert: „Adam, wo stehst Du? Eva wo stehst Du?“

Das Menschenbild der Politik


In Zusammenhängen der Politik heißt es bereits in der griechischen Antike, der
Mensch sei ein (dem Tier gegenüber) vernunftbegabtes, zum geregelten, sittlich
guten gesellschaftlichen Zusammenleben (zoon politikon, animal sociale) befähigtes
Wesen (Aristoteles, später auch von dialektisch-reflexiven Ansätzen vertreten, etwa
durch Buber, Levinas, Adorno, Klafki). Nur in der politischen Gemeinschaft finde
der Mensch zur Selbstverwirklichung. Menschen haben Bedürfnisse und Interessen,
die sie im Zusammenleben u. U. auch gegen die Bedürfnisse und Interessen anderer
Menschen durchzusetzen versuchen. Das führe sie in Freund-/Feindbeziehungen,
in Machtkämpfe und in entsprechende Machtkonstellationen (Über- und Unterord-
nungsverhältnisse trotz aller Gleichheitsversprechen). Im Kampf um Bedürfnisse
4.2 Menschenbilder 113

und Interessen gehe der Mensch Bündnisse ein; er solidarisiere sich, nicht nur mit
seinesgleichen (Gleichheit), sondern u. U. auch mit Bedürftigen, für die er eintritt
(Brüderlichkeit). Ein wesentliches Streben des politischen Menschen richtet sich
seit der Französischen Revolution auf die Anerkennung seiner Freiheit und Würde.

Das Menschenbild der Wissenschaft


Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaft erklärt René Descartes, der
Mensch sei die antagonistische Einheit von Geist (res cogitans) und Körper (res
extensa), getrennt, doch aufeinander bezogen. Damit zerbricht das christliche
Menschenbild, das Leib und Seele, Körper und Geist als unzerbrechliche Einheit
dachte. Descartes trennt körperliche und geistige Wirklichkeit. Der Mensch ist
für ihn einerseits eine aus Knochen, Blut, Muskeln, Nerven und Haut zusammen-
gesetzte, vom Gehirn gesteuerte Maschine, um die sich die Naturwissenschaften
(Medizin) zu kümmern haben. Andererseits ist der Mensch ein von Gott beseeltes,
geistiges Wesen. Die Seele (mit ihrem Sitz in der Zirbeldrüse), gilt Descartes als
unsterblich. Sie begründet die Willensfreiheit des Menschen. Um diesen Teil des
Menschen haben sich die Theologen und später dann die Psychologen und Päda-
gogen zu kümmern.65
Mit der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems in der modernen Gesell-
schaft entfalten sich unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen, aus denen heraus
unterschiedliche, höchst detaillierte Aussagen über den Menschen gemacht werden.

Das Menschenbild der Wirtschaft


Nachdem Kant das Subjekt als selbstbestimmt definiert hatte, setzten Versuche ein,
der Selbstbestimmung des Subjekts durch Fremdbestimmungen auf die Sprünge zu
helfen. Dazu war um 1800 zunächst nur die Wirtschaft, auf die man zu dieser Zeit
die Gesellschaft reduzierte, in der Lage. Von ihr aus galt der Mensch zunächst als
homo oeconomicus, als ein widerspruchsfrei und umfassend informiert handelndes,
rational entscheidendes, nutzensteigerndes, gewinnmaximierendes, dem ökono-
mischen Prinzip folgendes, egoistisches, jedoch in allem frei (nur von zufälligen
Einflüssen irritiert) entscheidendes Wesen. So zumindest die Beschreibung der klas-

65 Karl R. Popper und John Eccles haben Descartes Dualismus aufgenommen und wei-
tergeführt: Popper entwirft ein Drei-Welten-Modell (Welt 1: Körperliche Objekte; Welt
2: Subjektive Erfahrungen; Welt 3: Produkte des menschlichen Geistes), während der
Hirnforscher Eccles eine phylogenetische und ontogenetische Entsprechung zum Drei-
Welten-Modell Poppers in der Entwicklung des menschlichen Gehirns aufzuzeigen
versucht. In seiner Welt 2 agiert ein Ich, das die Neuronenprozesse seines Gehirns,
also Prozesse der Welt 1, kontrolliert und interpretiert.
114 4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?

sischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie. Die modernere Wirtschaftstheorie


korrigierte später diese allzu idealistischen Zuschreibungen. Es hieß fortan: Der
Mensch sei ein durchaus widersprüchliches, unvollständig informiertes, durchaus
riskant und beschränkt rational, jedoch in allem frei (nur von zufälligen Einflüssen
irritiert) entscheidendes Wesen.
Ob rational oder nur begrenzt rational entscheidend, der Egoismus des Men-
schen wird von den Wirtschaftstheoretikern geadelt, indem erklärt wird, er könne
zu allgemeinem Wohlstand führen. Moralisch Bedenkliches kann Gutes bewirken,
so auch das egoistische Gewinnstreben, das laut Adam Smith den Wohlstand der
Nationen bewirkt. Das bringt den homo oeconomicus trotz oder gerade wegen
seines Egoismus auf die moralisch korrekte Seite.
Die Unentschiedenen können durch Werbung und Reklame in ihren (Kauf-)Ent-
scheidungen manipuliert werden. Die Werbung versucht, um den Verstand herum
die Menschen, die hier ‚Kunden‘ heißen, zu beeinflussen. Die Mode versorgt die
Menschen/Kunden ohne Geschmack mit Geschmack und darüber mit Kaufwün-
schen. Anders als die Erziehung wünscht sich die werbende Wirtschaft nicht den
konsumkritischen, sondern den kauffreudigen Menschen, der nach Kaufexzessen
leider nicht selten bei der Schuldnerberatung in der Sozialen Hilfe landet.

Das Menschenbild der Evolutionstheorie


Die Evolutionstheorie, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Namen
Charles Darwin verbindet, sieht den Menschen als ein evolutionäres Produkt. Als
Resultat materieller, körperlicher (nicht geistiger!) Prozesse, auf der Basis der Gene,
sei der Mensch aus der Entwicklung des Tierreichs hervorgegangen. In biologischer
Hinsicht ist er, zum Schrecken aller religiös Denkenden, ein Lebewesen wie jedes
andere auch, kein Geschöpf Gottes, sondern ein ‚Zufallsprodukt‘ der Natur, genauer,
ein Resultat natürlicher Selektion.66

Das Menschenbild der Ästhetik


Ein ähnliches Freiheitspotential projiziert auch die aufkeimende Ästhetik ins
Subjekt, indem sie es dem Menschen anheimstellt, eigenständig über sinnliche
Empfindungen zu entscheiden: Der Mensch sei ein sinnliches Wesen, fähig,

66 An diese Grundidee haben sich bekanntlich gefährliche Denkrichtungen angeschlossen,


die z. B. dem blinden und brutalen Wirken der natürlichen Selektion durch Eugenik
(bewusst gesteuerte Erbhygiene, letztlich Züchtung) beikommen wollen. Zu denken ist
auch an sozialdarwinistische Ideologien, wie sie im Nationalsozialismus ihren bisherigen
Höhepunkt fanden. Bedenklich auch die Versuche, Ethik und Moral evolutionär zu
begründen etwa über den Egoismus der Gene.
4.2 Menschenbilder 115

seine Sinnlichkeit in Bezug auf sein Empfinden und Wahrnehmen zu verfeinern


(reflexives, kultiviertes, höherstufiges Empfinden und Wahrnehmen von Formen,
Farben, Proportionen, Kontrasten, Harmonien, Korrespondenzen, Gegenführun-
gen, Analogien …). Doch so sehr sich der Mensch auch ‚kultiviere‘ und ‚bilde‘,
seine Empfindsamkeit bleibe im Subjekt verschlossen. Die Schönheit liegt im Auge
des Betrachters. Sein ästhetisches Empfinden und Erkennen ist keinem anderen
vermittelbar. Der Mensch ist in seiner einzigartigen Sinnlichkeit ein höchst er-
lebnisstarkes, aber zutiefst einsames Wesen.

Das Menschenbild des Rechts


Neben den Einredungen der Wirtschaft und der Ästhetik tritt das Recht an, indi-
viduelle Freiheit herzustellen und gegen Zumutungen anderer abzusichern. Dazu
erklärt es den Menschen zu einem rechtsgleichen Wesen, zu einem sich selbst zur
Autonomie und Mündigkeit entfaltenden Wesen. Damit werden allmählich aus
Menschen Personen im juristischen Sinne oder sogar Persönlichkeiten.
Die Person stand in der alten Welt noch für eine standesgemäße Verlässlichkeit.
In der neuen Welt aber steht sie für eine sozialisationsbedingte Unberechenbarkeit.
Die moderne Gesellschaft verfügt über keine festen, mehr oder weniger ehrenvollen
Plätze mehr, sondern nur noch über freie Subjekte, aus denen alles werden kann
und bezüglich derer man mit allem rechnen muss.
Dem entspricht die gesellschaftliche Tendenz, sich in Sachen ‚Definition des
Subjekts‘ zurückzuhalten und die Definitionen an die Subsysteme abzutreten, die
sich auf die Sorge um den Menschen spezialisiert haben.

Das Menschenbild der Erziehung


Schon bei Kant hat es geheißen: „Der Mensch kann nur zum Menschen werden
durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht …“ (Kant, zitiert
nach Gudjons 2006:177). Im Kontext der Erziehung wird der Mensch zum homo
educandus et educabilis, zu einem erziehbaren und erziehungsbedürftigen Wesen
(Flitner, Roth, Liedtke), zu früh geboren zwar, ein Mängelwesen, lebensuntüchtig,
instinktunsicher, schutzlos (Gehlen), aber entwicklungsfähig, bildsam, gelehrig
und weltoffen. Die Erziehung muss die Bildsamkeit (Herbart), die Plastizität,
Biegsamkeit, Offenheit, Nicht-Festgelegtheit, Medialität des Menschen (zunächst
seines Körpers, dann auch seines Bewusstseins und seiner Moral und Sittlichkeit)
unterstellen, um wirken zu können.
Die Frage bleibt nur: Erzieht der Mensch sich selbst oder muss er erzogen wer-
den? Bedarf er der ‚Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit‘ durch die Erziehung?
Bedarf er der Begleitung oder gar der Führung? Sollte man ihn wachsen lassen,
116 4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?

oder sollte man ihn lenken und leiten? Oder ist beides zeitgleich vonnöten? Wie
kann der Mensch unter welchem erzieherischen Einfluss zu sich selbst finden und
mündig werden? Um Fragen dieser Art zu beantworten, erkundigt sich die auf-
keimende Erziehungswissenschaft bei wissenschaftlichen Nachbardisziplinen, so
z. B. auch bei der Psychologie.

Das Menschenbild der Psychologie


Der Mensch sei, so erklärt z. B. die humanistische Psychologie (Maslow), ein ‚an
sich gutes‘, aber an seinem Gutsein oft gehindertes Wesen. Der Mensch sei frei,
selbstbestimmt und eigenverantwortlich in seinem Handeln, dabei nach Wachstum,
Selbstverwirklichung und Sinnfindung strebend.67 Carl Rogers unterstreicht Mas-
lows Thesen: Jedem Menschen sei ein Wachstumspotential eigen sowie ein Streben
nach Autonomie und Selbstverwirklichung, dass es durch Akzeptanz, Empathie
und Kongruenz erzieherisch zu fördern gelte.
Dagegen gibt die Psychoanalyse zu bedenken, dass der Mensch, anders als es die
Antike glauben wollte, kein per se vernünftiges Wesen sei, sondern ein triebhaftes,
und die Triebe seien zum Teil auch destruktiver Natur. In der Tradition der Aufklä-
rung stehend, klärt Freud vor allem, was den Menschen daran hindert, sich seines
Verstandes zu bedienen, was ihn ‚unmündig‘ macht: das Unbewusste. Damit steht
Freud zugleich der Romantik nahe, die auch die irrationalen, dunklen Seiten des
Menschen auslotet. Vernünftigkeit darf nicht als Gegebenheit, sie muss als nicht
selbstverständliche Leistung angesehen werden.

67 Maslow selbst verstand seinen Ansatz als die dritte Kraft in der Psychologie neben dem
Freudianismus und dem Behaviorismus. Maslow unterstellt dem Menschen eine innere,
geschichtet aufgebaute Struktur von Bedürfnissen, Sehnsüchten und psychologischen
Fähigkeiten, die er zu einer Bedürfnishierarchie verdichtet: Zugrunde gelegt werden
Grundbedürfnisse wie physiologische Bedürfnisse und Sicherheitsbedürfnisse und das
Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe sowie das Bedürfnis nach Achtung. Auf die
Grund- bzw. Mangelbedürfnisse satteln die Wachstumsbedürfnisse auf. Hier geht es um
Bedürfnisse der Selbstverwirklichung (nach Goble 1979 u. a. um Bedeutsamkeit, Selbst-
genügsamkeit, Anstrengungslosigkeit, Verspieltheit, Reichheit, Einfachheit, Ordnung,
Gerechtigkeit, Vollzug, Notwendigkeit, Vollkommenheit, Individualität, Lebendigkeit,
Schönheit, Güte, Wahrheit; vgl. Maslow 1968:94f.). Es liegt nach Maslow in der Natur
des Menschen, zu dem zu werden, was er zu werden fähig ist. Der Mensch strebt nach
der Verwirklichung seiner Möglichkeiten, das meint, voll menschlich zu werden, sich
selbst zu erfüllen, sich selbst zu vervollkommnen. Dabei können soziale Berufe ihm
zur Seite stehen, seine Bedürfnisse respektierend und fördernd.
4.2 Menschenbilder 117

Der Mensch ist nach Freud ein Produkt seiner Geschichte, seiner von frühester
Kindheit68 an in zwischenmenschlichen Beziehungen gesammelten Erfahrungen.
Durch schonungslose (therapeutisch gestützte) Selbstreflexion erkennt der Mensch,
dass er nicht nur gesunde, gute, normale Anteile in sich trägt, sondern auch solche,
die man gemeinhin krank, pervers oder anormal nennt. Erst aus der Selbsterkenntnis
und der Akzeptanz des (meist abgewehrten) Fremden im Eigenen (bzw. des Eigenen
im Fremden: Projektion) ist ein Verstehen anderer möglich.
Lerntheorie und Verhaltenstherapie begreifen den Mensch als ein lernendes
Wesen und können es offen lassen, was und wie er lernt.
Wenig optimistisch ist das Menschenbild des Behaviorismus (Watson, Skinner):
Der Mensch erscheint hier als ein außengeleitetes, fremdkonditioniertes Wesen,
das sich relativ leicht manipulieren und korrumpieren lässt.
Weniger pessimistisch ist dagegen das Menschenbild der Neurobiologie (Spitzer,
Hüther): Der Mensch erscheint als ein von Beginn an und bis zu seinem Lebensende
lernbegabtes Lebewesen, das abhängig von den Umweltreizen seine Fähigkeiten
selbst entwickeln (oder verkümmern lassen) kann. Der Mensch ist der Umwelt nicht
ausgeliefert. Er kann sich auf sie einstellen und kann sie auf sich einstellen, sprich:
in seinem Sinne verändern. Er kann sich (lern-)fördernde Umwelten schaffen. In der
Kindheit und Jugend lernt der Mensch bei stabilen, verlässlichen, vertrauensvollen
Beziehungsgefügen unvergleichlich schneller und leichter als im Alter.

Wir brechen an dieser Stelle unsere frei gesammelten Beispiele und kursorischen
Beschreibungen des Menschen ab. Wir hätten auch noch Blicke in die Bereiche
Militär (der Mensch als kämpfendes, sich verteidigendes und angreifendes Wesen),
Sport (der Mensch als leistungsstarker Körper) oder Gesundheit (der Mensch als
gesundes oder krankes Wesen) werfen können. Soziologisch ist es interessant, wie
sich die Kategorie ‚Mensch‘ durch historisierende Optik und die relativierende
Optik jeweiliger Funktionssysteme und unterschiedlicher Semantiken jeweils
unterschiedlich (re-)konstruieren lässt. Im Durchgang durch die Bereiche Religion,
Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Ästhetik, Recht, Erziehung und Psychologie
treffen wir auf das Objekt Mensch, das in den jeweiligen Kontexten entsprechend

68 Freud entmystifizierte das Bild einer idyllischen, unschuldigen Kindheit. Das Kind
bekam bei Freud eine eigene, kindliche Sexualität zugestanden. Es wurde auf seine Ohn-
machts-, Verzweiflungs- und Abhängigkeitserfahrungen hin ebenso ernst genommen
wie auf seine Kreativitäts- und Anpassungspotentiale hin. Alle Gefühle, die sonst nur
Erwachsenen zugestanden wurden, gestand Freud bereits dem Kind zu: Liebe, Hass,
Angst, Glück, Mitleid, Sadismus, Masochismus, Verletzung, Erniedrigung etc. Die
Kindheit ist allzu oft die unbewältigte, unbewusst gewordene, verdrängte Vergangen-
heit. Sie kann uns im Erwachsenenalter wieder einholen, als ob sie Gegenwart wäre.
118 4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?

ihrer ureigenen Logiken unterschiedlich thematisiert, definiert, vielleicht besser:


adressiert wird. Man könnte glauben: Der Mensch sei, was die Systeme in ihren
Diskursen aus ihm machen. Auf eine einheitliche oder übergreifende Idee des
Menschen treffen wir allerdings nicht.
Die Gesellschaft, so scheint es, überlässt es ihren Untereinheiten, den Funkti-
onssystemen und ihren Organisationen, wie sie den Menschen als einen Teil ihrer
Umwelt begreifen, in welchen Belangen und Ausmaßen sie ihn in- oder exkludieren.
Es bleibt zu hoffen, dass die Selbstbeschreibungen der Individuen halbwegs zu den
Fremdbeschreibungen durch die gesellschaftlichen Subsysteme passen.
Wie der Mensch beschrieben wird, hängt davon ab, aus welcher Perspektive
heraus die Beschreibung vorgenommen wird. Die Religion, die Politik, die Wis-
senschaft, die Wirtschaft etc., sie alle beobachten durch unterschiedliche Brillen
und lassen unterschiedliche Züge am Menschen als ‚wesentlich‘ erscheinen. Trotz
aller Bestimmungsversuche ist und bleibt aber der Mensch ‚eine offene Frage‘. Wir
können keine endgültigen, verallgemeinernden Aussagen über sein Wesen treffen.
Wo Aussagen über den Menschen getroffen und womöglich verabsolutiert werden,
besteht die Gefahr, sein Subjektsein, seine Freiheit zur Selbstbestimmung, seine
Autonomie zu unterlaufen. Erschreckende Beispiele sind religiös-dogmatische,
rassistisch-biologistische oder parteilich-politisierte Menschenbilder. Der Mensch
wird in diesen Zusammenhängen in seiner individuellen Einzigartigkeit übergangen
und für weltanschauliche Zwecke missbraucht. Vor diesem Hintergrund kann es
nicht die Aufgabe der Pädagogik sein, ein gewisses Menschenbild zu propagieren,
sondern die verschiedenen Menschenbilder, die in den Köpfen und Diskursen
kursieren, immer wieder genauestens zu analysieren und auf ihre Brauchbarkeit
hin kritisch zu befragen.

4.2.3 Das Menschenbild der Systemtheorie

Bis hierher haben wir bereits etliche Hinweise darauf erhalten, dass sich der Mensch
nicht ohne weiteres ‚auf einen Nenner bringen lässt‘. Beschreibungsversuche sind
meistens entweder zu konkret, zu einseitig oder zu allgemein, zu nichtssagend.
Menschenbilder fahnden nach dem ‚Wesen des Menschen‘, der ‚Natur des Menschen‘.
Doch die moderne Wissenschaft verzichtet auf normative Wesensunterstellungen
und fragt empirisch nach dem Menschen. Mit der Empirie zerbrechen womöglich
die alten, gepflegten Annahmen.69

69 So haben viele der um Bildung Bemühten dem Menschen wünschenswerte Eigenschaf-


ten unterstellt, unabhängig von der Frage, ob sich diese Eigenschaften auch empirisch
4.2 Menschenbilder 119

Der Mensch empirisch


Während wir in der Theorie über Menschen und Menschenbilder nachsinnen, haben
wir es in der Praxis immer mit konkreten, empirisch fassbaren Individuen zu tun,
die wir als räumlich, körperlich existente Einheiten erleben: in gewisser Weise ge-
wachsen, mehr oder weniger beweglich, mehr oder weniger sympathisch, mehr oder
weniger nett, hübsch, intelligent, mächtig, hilfsbereit oder hilfsbedürftig … All das
sind Zuschreibungen von BeobachterInnen, die sich ihr konkretes Gegenüber mittels
ihrer Beobachtungen und Bezeichnungen konstituieren. Sie nehmen andere Men-
schen wahr und synthetisieren aus ihren Wahrnehmungen den anderen als anderen.
Mit dem Bild des anderen korrespondiert unser Bild von uns selbst. Die Beziehung,
die wir zu einem anderen Menschen aufbauen, spiegelt sich in unserem Selbstbild:
Ich bin unter dem Eindruck des anderen ein anderer. Was für mich gilt, gilt auch
für mein Gegenüber. Er ist unter dem Eindruck meiner Person ein anderer. Wir
sind beide, je für sich und für den jeweils anderen, höchst kontingente Konstruk-
te, Ergebnisse individueller und gemeinsam geleisteter, interaktiver Sinnarbeit.70
Die Systemtheorie verzichtet auf Wesensaussagen über den Menschen. Sie geht
vielmehr von empirisch beobachtbaren Geschehensprozessen aus, in denen Men-
schen auf verschiedenen Systemebenen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen
Beziehungskonstellationen Verschiedenes darstellen. Sie verändern sich in Zeit und
Raum und im Kontakt mit wechselnden anderen. Menschen sind – wenn man so
sagen will – dynamische, temporalisierte, ständig changierende Wesen, ob auf der

t Ebene der Zellen, ob auf der


t Ebene des quirlig-nervösen Nervensystems, ob auf der
t Ebene des lebendigen, atmenden, pulsierenden, sich bewegenden Körpers oder auf der
t Ebene des wachen, aufmerksamen, sich selbst ständig mitbeobachtenden Be-
wusstseins.

Auf all diesen Ebenen finden stets und ständig Austausch- und Veränderungs-
prozesse statt, so dass man sich wundern muss, dass die gemeinten Menschen für

bei allen oder zumindest bei den meisten Menschen nachweisen lassen. Man lese nur
Humboldt (2012:94) und frage sich, ob das, was normativ gewünscht ist, auch empirisch
gehalten werden kann.
70 Genau genommen gibt es mich nur in Bezug auf den anderen. Es gibt mich als Do-
zenten nur in Bezug auf die konkreten Studierenden und die Studierenden wohl nur
in Bezug auf mich als ihren Dozenten. Wir bedingen uns wechselseitig. Wir sind nicht,
wir werden, wir ‚emergieren‘, wir entfalten uns in der Beziehung zueinander, und wir
vergehen mit dem gemeinsam aufgebauten Beziehungssystem (Vorlesung, Seminar,
Übung, Beratung, Sprechstunde etc.).
120 4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?

BeobachterInnen dennoch als zeitüberdauernde, über alle Veränderungsprozesse


hinweg konstant wirkende, eindeutig identifizierbare, verlässliche Entitäten er-
fahrbar sind. Obwohl niemand, der einen Seminar-, Beratungs-, Gesprächs- oder
Therapieraum verlässt, noch derjenige ist, der diesen Raum betrat, identifizieren
wir ihn und er sich selbst als ein und dieselbe Person.
Die Systemtheorie plädiert vor diesem Hintergrund dafür, den Menschen als
das Zugleich unterschiedlicher, höchst dynamischer, jeweils autonom operierender,
autopoietischer Systeme zu begreifen. Als BeobachterInnen müssen wir uns aus Sicht
der Systemtheorie also entscheiden, ob wir zur Beobachtung des Menschen eher
die biologischen, die psychischen oder die sozialen Prozesse anvisieren wollen. Je
nach Fokussierung erscheinen unterschiedliche Phänomene:

t In biologischer Fokussierung interessiert das Lebewesen Mensch, der leibliche


andere, sein biologischer Körper, das über Sehnen und Muskeln zu einem me-
chanischen System verbundene Skelett, sein über den gesamten Körper verteiltes,
im Gehirn gebündeltes Nervensystem, sein Immunsystem, seine Physis (Leben-
digkeit, Müdigkeit, Stärke, Schwäche, Hunger, Durst, Bewegungsdrang …).
t In psychischer Hinsicht interessieren die Zusammenhänge, die früher einmal
Seele oder Geist genannt wurden und in der Systemtheorie nun den Titel
Bewusstsein tragen. Gemeint ist das individuelle Bewusstsein einschließlich
des Selbstbewusstseins, die Gedanken und Vorstellungen vom eigenen Denken
und von sich selbst als eigenständige Persönlichkeit mit eigener Identität und
eigener (begrenzter) Intelligenz. In dieser Perspektive geht es vor allem um die
Produktion und Reproduktion miteinander gekoppelter kognitiv-emotionaler
Prozesse, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt zu einem mehr oder weniger
kohärenten Ich verdichten. Doch auch hier geht es weniger um Bestände als
um die Bereitschaften, selbsterwirkte Strukturen gegebenenfalls infrage zu
stellen und womöglich zu ändern, d. h., es geht ums Lernen. Mit Blick auf die
umgebende Gesellschaft, oder enger fokussiert: auf differente Kommunikati-
onszusammenhänge, geht es um (Selbst-)Sozialisation.
t In sozialer Fokussierung interessiert der Mensch als Interaktions- und Kom-
munikationspartner, als Person im Sinne einer Adresse (Wie wird die Person
angesprochen?), eines Autors (Was trägt die Person zur Kommunikation bei?)
oder eines Themas (Was wird über die Person kommuniziert?). Die Person als
eine durch und durch soziale Kategorie erhält ihre jeweils unterschiedliche Form
in den unterschiedlichen, ausdifferenzierten kommunikativen Zusammenhän-
gen. Das Bewusstseinssystem wie der lebendige Körper eines Menschen sind
zwar autonome Umweltsysteme der sozialen Systeme, doch von den sozialen
Systemen aus werden sie nur in Ausschnitten, in spezifischen Mitgliedsrollen,
4.3 Ein Resümee 121

angesprochen (Inklusion). Der Mensch wird von der Kommunikation als Me-
dium behandelt, in das die Kommunikation ihre Erwartungen, Ansprüche und
Forderungen einschreibt.

Aus einer systemisch-prozessbezogenen Perspektive erscheint somit der Mensch als


ein variables, gemeinschaftlich konstituiertes Wesen, dessen jeweiliger distinkter
Zustand das je aktuelle Ergebnis vielfältiger biologischer, psychischer und sozialer
Prozesse darstellt. Wollten wir den Menschen als Ganzheit betrachten, müssten
wir – paradox genug – seine Einheit aus den Differenzen der unterschiedlichen
Systemtypen (Körper, Bewusstsein, Kommunikation) und ihrer Prozesse (Leben,
Denken, Kommunikationen) synthetisieren.
Der Mensch ist kein einheitliches System, sondern eine strukturelle Kombination
unterschiedlicher Systemtypen. Die Einheit (Ganzheit) des Menschen ist nur als
Differenz zu haben. Diese Überlegung bringt die Systemtheorie auf Distanz zu
überkommenen Einheits- und Ganzheitsvorstellungen vom Menschen. Systemtheorie
lädt stattdessen dazu ein, den Beobachtungsfokus je nach Bedarf einzustellen, um so
mithilfe unterschiedlicher Perspektiven unterschiedliche, empirisch beobachtbare
Phänomene in den Blick zu nehmen, soweit es für die jeweiligen Belange nützlich
und vertretbar erscheint.

4.3 Ein Resümee


4.3 Ein Resümee
Die Pädagogik wendet sich immer an Menschen, egal, ob an Kinder oder Jugendli-
che, Erwachsene oder Alte. In diesem Kapitel wurden unterschiedliche Bilder des
Kindes und des Menschen vorgestellt, die in sozialen Berufen vertreten wurden
bzw. werden. Wir haben u. a. das Kind

t als kleinen Erwachsenen,


t als Erfüllungsgehilfen unerfüllter Erwachsenenwünsche,
t als willenloses Objekt erzieherischer Maßnahmen,
t als Subjekt seines eigenen Erziehungsvorgangs und
t als gleichberechtigten Bezugspartner in der pädagogischen Interaktion ken-
nengelernt.

Zudem wurden unterschiedliche Versuche, den Menschen zu definieren, thema-


tisiert: Der Mensch
122 4 Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?

t als von Gott geschaffenes, beseeltes, mit freiem Willen ausgestattetes, sündiges Wesen,
t als vernunftbegabtes, mit eigenen Interessen ausgestattetes, soziales und poli-
tisches Wesen,
t als körperliches und geistiges Wesen,
t als ökonomisch kalkulierendes, seinen Vorteil suchendes Wesen,
t als sinnliches, empfindsames, kultiviertes Wesen,
t als freies, rechtsgleiches aber auch rechtspflichtiges Wesen,
t als erziehbares, aber auch erziehungsbedürftiges Wesen.

Empirisch betrachtet ist der Mensch nichts anderes als ein Geschehensprozess: ein
dynamisches, sich auf allen Ebenen seiner Existenz ständig veränderndes Wesen,
nicht feststellbar, immer in Entwicklung begriffen. Damit wird kenntlich: Der
Mensch lässt sich in kein Schema pressen. Er ist, bedingt durch seine je unterschied-
lichen Entwicklungen, stets ein einzigartiges, unverwechselbares Individuum. Er
ist frei und autonom. Diese seine Individualität, Freiheit und Autonomie vereiteln
alle Versuche, ihn nach einem Bild, wie ideal, perfekt oder hochwertig es auch
scheinen mag, formen (verbiegen) zu wollen.

Zur Überprüfung Ihres Lernerfolgs bearbeiten Sie bitte


t Arbeitsblatt 07: Zu Kapitel 4 – Wie unterscheiden sich Kindes- und Menschenbilder?
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9

Die Pädagogik wendet sich zwar immer an Menschen, sie kann aber nicht bei ihnen
stehen bleiben. Sie muss sie in ihrer jeweiligen sozialen Umgebung, ihrem familiären,
nachbarschaftlichen, schulischen, beruflichen Kontext, letztlich in ihrer gesellschaftlichen
Situiertheit miterfassen. Dazu benötigt sie neben Kindes- und Menschenbildern Bilder
der Gesellschaft. Wie lässt sich die Gesellschaft, in der sich u. a. die Pädagogik um Men-
schen bemüht, beschreiben? Und vor allem: Wie verorten sich Disziplin und Profession
in einer solchen Gesellschaft?
Lesen Sie dazu
t Text 08: Wie unterscheiden sich Gesellschaftsbilder?
t Text 08.1: Das Gesellschaftsbild eines Kritischen Ansatzes
t Text 08.2: Das Gesellschaftsbild eines Alltags- und Lebensweltorientierten Ansatzes
t Text 08.3: Das Gesellschaftsbild eines Modernisierungs- und Individualisierungs-
orientierten Ansatzes
t Text 08.4: Das Gesellschaftsbild eines Kommunitaristischen Ansatzes
t Text 08.5: Das Gesellschaftsbild eines Systemtheoretischen Ansatzes
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
4.3 Ein Resümee 123

Kindes-, Menschen- und Gesellschaftsbilder dienen den Institutionen und den


VertreterInnen sozialer Berufe als Selbstvergewisserung: „Womit haben wir es ei-
gentlich zu tun, wenn wir es mit Kindern, Menschen und der Gesellschaft zu tun
bekommen? In welcher und für welche Gesellschaft leisten wir eigentlich unsere
Arbeit? Welche Chancen bieten sich uns, mit welchen Herausforderungen und
Risiken müssen wir rechnen?“
Hinter jedem Kindes-, Menschen- und Gesellschaftsbild stecken unterschiedli-
che Annahmen und Ambitionen. Die jeweiligen Beobachtungen gehen von unter-
schiedlichen Prämissen aus und kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen und
Forderungen. Keiner der vorgestellten Ansätze sollte den Anspruch erheben, allein
gültig zu sein oder andere ersetzen zu können. Jeder Ansatz fokussiert etwas Anderes,
andere Ausschnitte, andere Aspekte. Angesichts der Vielfalt der Beschreibungen
und der Komplexität der Gegenstände, um die es hier geht, ist davon auszugehen,
dass weder das Kind noch der Mensch, noch die Gesellschaft in toto darstellbar
sind. Das Signum der Zeit ist Pluralität, Komplexität, Kontingenz, Perspektivität,
Verlust des Prinzipiellen und Verlust unumstößlicher Wahrheiten. Deshalb müssen
wir lernen, auf einfache und einheitliche Beschreibungen zu verzichten zugunsten
einer polyparadigmatischen Sicht- und Herangehensweise. Nur mit einer Perspek-
tivenvielfalt werden wir der immensen Komplexität kindlicher, menschlicher und
gesellschaftlicher Wirklichkeit gerecht.
Aus den angebotenen Bildern heraus ergeben sich keine Rezepte für Veränderun-
gen. So wie es für die Erziehung und den pädagogischen Umgang mit Menschen
keine Humantechnik gibt, gibt es auch für die Gesellschaft keine Sozialtechnik.
Die Bilder liefern keine Wahrheiten, allenfalls vage Orientierungen, um Einzel-
ereignisse besser einordnen zu können. Sie sind Teil einer permanent laufenden
‚Realitätskonferenz‘ (Koch), ohne die sich alles völlig unberechenbar, chaotisch,
planlos, ‚hinter dem Rücken der Agenten‘ (Marx) abspielen würde.
In den vorangegangenen Kapiteln wurde betont, dass sich Wahrheitsvorstel-
lungen ändern und dass sich Erziehungs- und Bildungsambitionen verschieben.
Hier nun wurde aufgezeigt, wie vielgestaltig Kindes- und Menschenbilder sein
können. Die Begriffe sind ‚in Bewegung‘. Was sie zu begreifen versuchen, ist ‚in
Bewegung‘. Alles bewegt sich, nichts steht still. Alles ist verhandelbar, wenn die
Zeit reif ist für Verhandlungen.71

71 Wissenschaftliches Denken ist vor diesem Hintergrund stets ein historisches Denken:
Wir müssen uns vergewissern, woher unsere Begriffe, Bezeichnungen, Unterscheidun-
gen, unsere Bilder, Ansichten, Überzeugungen kommen und wohin sie uns führen.
Wissenschaftliches Denken ist vor diesem Hintergrund zudem stets ein pragmatisches
Denken: Wir müssen uns entscheiden, wohin wir wollen, in welche Richtung wir unsere
Begriffe und unser Begreifen mit welchem Ziel treiben wollen.
Teil 2
Wissenschaftliches Arbeiten:
Techniken und Formalien
Planung und Zufall
5 Planung und Zufall 5

Wir beginnen die Einführung in die Techniken und Formalien des wissenschaft-
lichen Arbeitens mit dem Thema Planung (Kap. 5.1). Sensibilisiert für Unterschei-
dungen, wird auch die andere Seite der Planung zur Sprache gebracht, das Zufällige,
Unerwartete, Unberechenbare (Kap 5.2). Die Fragen lauten: „Was ist planbar und
sollte geplant werden?“ Aber auch: „Wie offen bin ich für den Zufall? Wie bereit
bin ich, dem scheinbar Abwegigen Bedeutung zuzugestehen?“

5.1 Lob der Planung


5.1 Lob der Planung
Ein Studium lässt sich betrachten wie ein Projekt, das in einem begrenzten Zeit-
raum möglichst erfolgreich bearbeitet werden soll. Um dies zu ermöglichen, ist
ein vernünftiges Projektmanagement angeraten. Es erleichtert und effektiviert
das wissenschaftliche Arbeiten. Deshalb raten die meisten Ratgeber: „Bringen Sie
von Anfang an Ordnung in Ihr Studium, in Ihr Handeln. Planen Sie die Abläufe.
Organisieren Sie alles, was sich organisieren lässt, von Ihrem Arbeitsplatz bis hin
zu Ihrer Zeiteinteilung“ (Bardmann, Goeres o. J.: Folie 22, mit Verweis auf Theisen
2011; vgl. Ders. 1995). In eben diesem Sinne eröffnet auch Rolf Bieker sein Ratge-
ber-Buch Soziale Arbeit studieren. Ein Leitfaden für wissenschaftliches Arbeiten
und Studienorganisation (2011) mit dem Kapitel Planung und Organisation des
Studiums. Warum ist Planung so wichtig? „Planung meint“, so Bieker (2011:17),
„den rationalen und rationellen Umgang mit Zeit bezogen auf einen zukünftigen
Zeitraum“. Planung beinhaltet

t die Ausformulierung von Zielen,


t die Definition von Arbeitsschritten,

T. M. Bardmann, Die Kunst des Unterscheidens,


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
128 5 Planung und Zufall

t die Planung eines begrenzten Zeitraums zur Umsetzung der Arbeitsschritte


und zur Erreichung der Ziele,
t die Evaluation der Umsetzung der Arbeitsschritte und der Erreichung der Ziele.

Aus: Bieker 2011:17

Planung ist laut Bieker nicht nur für die Organisation des Studiums wichtig,
sondern auch für den späteren Berufsalltag, da dieser einem in der heutigen Zeit
ein systematisches, zeitlich geordnetes Vorgehen abverlangt (Hilfeplanung, Fall-
management etc.).

5.1.1 Die Planung des Studiums

Die Planung des Studiums muss auf Rahmenbedingungen Rücksicht nehmen: zum
einen auf das vorgegebene Studienprogramm, zum anderen auf die persönliche
Lebenssituation.
5.1 Lob der Planung 129

Zum Studienprogramm:
Studien- und Prüfungsordnungen sowie Modulhandbücher und (kommentierte)
Vorlesungsverzeichnisse zeigen die von Seiten der Hochschule geplanten Studien-
inhalte, Studienzeiten, Studienformen und Studienverläufe an. Sie informieren –
neben tagesaktuellen Informationen in Schaukästen und im Internet – Studierende
darüber, was sie wann in welcher Form und welchem Ausmaß lernen sollten. Für
die persönliche Studienplanung ist darauf zu achten,

t wann welche Veranstaltungen angeboten werden (jedes oder jedes zweite Se-
mester),
t welche Prüfungen welche anderen Prüfungen voraussetzen,
t was Pflicht- und was Wahlveranstaltungen sind,
t welche Anforderungen gestellt werden und wie (Prüfungs-) Leistungen bewertet
werden,
t welches Gewicht eine Teilnote bei der Ermittlung der Endnote des Studiums hat,
t wie oft Prüfungen wiederholt werden dürfen,
t welche Fristen (z. B. für Prüfungsanmeldungen und Aufgabenbearbeitung) und
welche Zeitfenster (z. B. für Praktika) einzuhalten sind.

Zur persönlichen Lebenssituation:


Ideal, wenn Sie freigestellt sind fürs Studium und keine weiteren Belange Sie binden
oder behindern. Das Studium kann dann als psychosoziales Moratorium durchge-
führt werden. Meist aber erfolgt das Studium unter ‚Restriktionen‘:

t Erarbeitung des notwendigen Lebensunterhalts,


t Erarbeitung zusätzlicher Finanzpolster (z. B. für Urlaub oder nötige Anschaf-
fungen),
t Kinderbetreuung,
t Angehörigenbetreuung,
t ehrenamtliche Tätigkeiten, soziales oder politisches Engagement,
t kulturelle Ambitionen (Musik, Theater, Kunst, Sport, Reisen …),
t Entspannung.

Zur strategischen Planung des Studiums


Im Spannungsfeld zwischen Anforderungen des Studienprogramms und Anfor-
derungen der persönlichen Lebenssituation findet die strategische Planung des
Studiums statt. Folgende Fragen sind dazu zu beantworten:
130 5 Planung und Zufall

t Wie konkret sind die beruflichen Ziele? Strebt man bestimmte Tätigkeiten an,
oder ist man offen fürs weite Feld beruflicher Möglichkeiten?
t Wie hoch sind die Ziele gesteckt? Will man mit „sehr gut“ abschließen oder
reicht ein „befriedigend“? Von den Abschlussnoten hängt ab, ob z. B. ein An-
schlussstudium (Master, Promotion, Habilitation) gefördert wird oder nicht.
t Sind spezielle inhaltliche Akzente über das Pflichtprogramm hinaus vorgesehen?
Will man sich z. B. mit bestimmten Vermittlungs- oder Therapiemethoden oder
Managementansätzen tiefergehend auseinandersetzen, oder verlagert man das
auf die Zeit nach dem Studium, wo die Lehrangebote teuer werden können?
t Sollen zusätzlich zum Studium Sprachen gelernt oder EDV-Kenntnisse erwor-
ben werden?
t Ist eine studienbegleitende Mitarbeit bei Trägern sozialer oder kultureller
Arbeit anvisiert?
t Soll das Praxissemester im In- oder Ausland absolviert werden? Auslandspraktika
erfordern deutlich mehr Planungsaufwand.
t Ist eine Mitarbeit in den Hochschulgremien (ASTA, FBR, FSR, Berufungskom-
missionen etc.) oder in hochschulpolitischen Gruppen vorgesehen?

Ziele treten angesichts ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und der prinzipiellen


Knappheit der Ressourcen (Zeit, Geld, Aufmerksamkeit, Lebensenergie …) in
Konkurrenz zueinander, so dass eine Auswahl und Präferenzsetzung unausweich-
lich wird: Welche Ziele erhalten welche Prioritätsstufe (Muss-, Soll-, Kann-Ziele)?
Ziele können realistisch oder unrealistisch sein. Wer seine Ziele so hoch hängt,
dass er sie nie erreichen kann, sorgt mit seiner Planung dafür, dass er ‚erfolgreich
scheitern‘ wird. Wer seine Ziele zu niedrig ansetzt, wird sie zwar erreichen, sich
aber unterfordert fühlen.
Ziele sollten immer ein klein wenig zu hoch angesetzt werden, so dass sie einem
etwas abverlangen. Sie sollten einen fordern, aber nicht überfordern. Sie sollten
einen auf neues Terrain, in neue Welten führen. Sie sollten einen herausfordern,
über sich selbst hinauszuwachsen. Sie sollten einen ermutigen, an Grenzen und ein
wenig über sie hinaus zu gehen.
Ziele sollten klar und verbindlich formuliert werden, aber nicht so verbindlich,
dass sie zur Zwangsjacke werden. Man muss bereit sein, die Planung über den
Haufen zu werfen und seine Ziele neu zu sortieren.
5.1 Lob der Planung 131

5.1.2 Die Planung der Zeit

Die Zeitplanung kann unterschiedlich weite Zeiträume betreffen. Es empfiehlt sich


die Anschaffung und Pflege eines Terminkalenders, in den alle Pflichttermine oder
dringenden Tätigkeiten eingetragen werden. Zudem sollten Sie darin

t Vorlesungszeiten,
t Prüfungszeiten,
t Abgabefristen,
t Vortragstermine,
t Exkursionstermine und
t wichtige private Termine eintragen.

Solche aufs Jahr bzw. Semester bezogenen Eintragungen helfen, die einzelnen
Wochen und Tage zu planen. Es sind schnell die Freiräume auszumachen, die in
der Wochen- oder Tagesplanung

t für die Vor- und Nachbereitung der Lehrveranstaltungen,


t für Unvorhergesehenes,
t für Lektüren und Recherchen,
t für Arbeiten in Lerngruppen,
t für Sprechstundenbesuche,
t für Sprachkurse,
t für Arbeiten als studentische Hilfskraft oder
t für Sonstiges zur Verfügung stehen.

Bezogen aufs Studium geht es zunächst einmal um den Studienverlaufsplan. In-


formieren Sie sich möglichst aktuell, welcher Studienverlauf in Ihrem Studiengang
vorgesehen ist. Er gibt Ihnen den Rahmen für Ihre Studienplanungen vor.
Neben dem kompletten Studienverlauf sollten auch die einzelnen Studiensemes-
ter geplant werden. Dies geschieht zum einen im Semesterwochenplan und zum
anderen in Tagesplänen, die den Wochenplan präzisierend ergänzen, vor allem um
unproduktive Zeiten zu vermeiden.
132 5 Planung und Zufall

Semesterstundenplan
Tag / Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag Sonntag
Uhrzeit
08-10 Vorlesung 1 Projekt 4 Übung
„Sozial- „Kommu-
medizin“ nikation“
10-12 1 Seminar Projekt 1 Seminar 2
„Ethik“ „Geschich-
te“
12-14 Vorlesung Übung Projekt Fach- Seminar 2
„Sozial- „Praxis- schaftsrat „Metho-
recht“ forschung“ den I“
14-16 Pause / Pause Pause Jobben 3 1
Anreise 1 1
für 3
16-18 3 Vorlesung 1 Jobben 3 1
„Erz.wiss.“
nach 18 4 Sport 4 Jobben Sport 4 4
1 = situationsflexibel einsetzbare Zeit, z.B. Vor-/Nachbereitung einer Lehrveranstaltung/Einlesen für Referat
oder Hausarbeit/Lerngruppe/Bibliothek/Arbeit im Selbstlernzentrum/Sprachenzentrum/Sprachen lernen/
Prüfungsvorbereitung/Rücksprache mit Dozenten/unvorhergesehene Verpflichtungen
2 = eigene Studieninteressen
3 = Honorartätigkeit in der Sozialen Arbeit (z.B. flexible Erziehungshilfe, Senioreneinrichtung, Abenteuer-
spielplatz)
4 = Zeit für persönliche Interessen/Angelegenheiten

Nach: Bieker 2011:27

Tagesplan
In Tagesplänen verzeichnet man,

t was genau am jeweiligen Tag


t neben den im Wochenplan vorgesehenen Inhalten zu tun ist.
t Es sind ‚Reste des Vortages‘ und ‚Vorbereitungen des Morgen‘ unterzubringen.
t Auch sind Pausen und Erholzeiten einzubringen und zu präzisieren.

Semesterferienplan
Die vorlesungsfreien Zeiten werden als Semesterferien bezeichnet. Diese Bezeich-
nung ist irreführend, denn diese Zeiten meinen keinesfalls ‚Ferien‘ im Sinne einer
arbeitsfreien, ausschließlich der Erholung und Entspannung dienenden Urlaubszeit.
Zwar sollten die Semesterferien auch für den Urlaub genutzt werden, aber sie dienen
ebenfalls der Erledigung studienbezogener Arbeiten.
5.2 Lob des Zufalls 133

30. KW 31. KW 32. KW 33. KW 34. KW


Hausarbeit 1 Hausarbeit 1 Hausarbeit 1 Jobben Jobben
Selbststudium: Selbststudium: Selbststudium: Neue Wohnung
Buchkapitel X Buchkapitel Y Aufsatz Z lesen einrichten
lesen lesen WE: Umzug
35. KW 36. KW 37. KW 38. KW 39.KW
Urlaub Urlaub Prüfungsvorbe- Prüfungsvorbe- Prüfungsvorbe-
reitung reitung reitung
Hausarbeit 2 Hausarbeit 2 Hausarbeit 2
Vertiefende Vertiefende Vertiefende
Fachliteratur Fachliteratur Fachliteratur
zum Seminar X zum Seminar X zum Seminar X
lesen lesen lesen
KW = Kalenderwoche
WE = Wochenende

Nach: Bieker 2011:30

5.2 Lob des Zufalls


5.2 Lob des Zufalls
„Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht.
Mach noch einen zweiten Plan, gehen tun sie beide nicht.“
Berthold Brecht

Generell ist es sinnvoll, sich einen vernünftigen Lebensplan zurechtzulegen, der den
Verhältnissen und den jeweiligen Ausstattungen Rechnung trägt, mit dem Ziel, ein
gutes und erfülltes Leben zu führen. Ebenso sinnvoll ist es, sein Studium mit dem
Ziel eines erfolgreichen Abschlusses zu planen, denn das Studium ist schließlich
unter den vielen Lebensprojekten eines der bedeutsamsten. Es scheint im Leben
wie im Studium wichtig, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und sich
in seinen Planungen aufs Wichtige und Wesentliche zu konzentrieren. Zugleich
sollten wir daran denken, dass wir nicht alles planen (können). So konnten wir nicht
mitbestimmen, wer unsere Eltern sind, in welche Schicht, in welches Land, an wel-
chen Ort wir geboren wurden, mit welchem Geschlecht und welchem körperlichen
und geistigen Vermögen, mit welcher Stimme und welchem Gesicht etc. wir auf die
Welt kamen. Wir sind unverdientermaßen ausgestattet, wie wir ausgestattet sind.
Außerdem können wir nicht immer bestimmen, was aus dem wird, was wir
einbringen. Ergebnisse unseres Handelns sind auch von Zufällen abhängig, die wir
unmöglich kontrollieren können und die wir ebenfalls oft unverdient auf unser
134 5 Planung und Zufall

Konto verbucht bekommen. Wir haben es sowohl mit einer Kontingenz der Herkunft
(constitutive luck) wie mit einer Kontingenz der Ankunft (luck of outcome) zu tun,
zwischen der die Kontingenz der aktuellen Entscheidung, der Spielraum unserer
Einflussnahme, anzusiedeln ist.

Der Skandal des maximalen Unterschieds und der Skandal des


minimalen Unterschieds

Der Plan ist unser Gegenmittel gegen den Zufall, so auch gegen die unverdienten
Zufälligkeiten und Kontingenzen. Er soll sie neutralisieren. Wir versuchen mittels
Plänen, mit den zufälligen Gegebenheiten zurechtzukommen und das Beste daraus
zu machen. Wir versuchen, selbstbestimmt unseren eigenen Weg zu gehen. Doch nie
sind wir sicher vor Schicksalsschlägen, Verlusterfahrungen, glücklichen Fügungen
oder unvorhergesehenen Ereignissen. Sie irritieren unsere selbstbestimmten Pläne,
und manchmal lassen sie sie sogar scheitern. Mit Plänen versuchen wir, den Zufall
auszuschließen oder – z. B. unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten – auszugleichen.
Doch er macht uns immer wieder einen Strich durch die Rechnung.
Als Zufall bezeichnen wir Ereignisse, die wir nicht erwarten, die in der Struk-
turiertheit, die wir der Welt zugeschrieben haben, nicht vorgesehen sind, deren
kausalen Zusammenhänge wir nicht durchschauen, die aber dennoch bedeutsam
für uns sind. Und eben diese Momente, die sich unserer bewussten Wahl entziehen,
geben oft den Ausschlag für den weiteren Verlauf unseres Lebens und Handelns.
Das ist skandalös: Das Straucheln eines Betrunkenen vor meinen Füßen oder das
unerwartet freundlich-warme Lächeln eines anderen stellt meine persönliche
Autonomie in Zweifel; womöglich ändert sich mit diesem Stolpern oder Lächeln
mein komplettes Leben und alles, womit ich mich bislang identifiziert habe: der
Skandal des maximalen Unterschieds.
Krzysztof Kieslowski spielt in seinem Film Blind Chance (Przypadek 1981)
durch, was passieren könnte, wenn sich in einem entscheidenden Moment die
Verhältnisse ändern: Witek, der Protagonist, bekommt den Zug, er verpasst den
Zug oder er wird daran gehindert, den Zug zu erreichen. Aus ein und derselben
Situation auf dem Warschauer Bahnhof können sich aufgrund der Tatsache, dass
man einen Zug bekommt, ihn verpasst oder gehindert wird, ihn zu bekommen,
sehr unterschiedliche Lebensläufe ergeben. In einer winzigen, scheinbar banalen
Sekunde ändert sich Witeks komplettes Leben. Der Protagonist in Kieslowskis
Film wird das eine Mal Arzt, das andere Mal Kommunist, das dritte Mal wird
er katholischer Priester. So unterschiedliche Lebenswege, nur weil man in einem
entscheidenden Moment einen Zug betritt oder ihn verpasst!
5.2 Lob des Zufalls 135

Von einer ähnlichen Situation geht Jaco van Dormael in seinem Film Ein Mann,
drei Leben – Mr. Nobody (Mr. Nobody 2009) aus: Nemo wird als Kind vor die Wahl
gestellt, bei seinem Vater zu bleiben oder mit der Mutter, die sich vom Vater trennen
will, wegzuziehen. Auf dem Bahnhof gerät Nemo zwischen die beiden geliebten
Personen. Als der Zug mit seiner Mutter sich in Bewegung setzt, reißt er sich vom
Arm seines Vaters los und läuft dem Zug hinterher. Er erwischt noch den Arm seiner
Mutter, die ihn in den Zug hineinziehen will. Er erwischt aufgrund einer kleinen
Irritation – sein Vater ruft ihn – den Arm der Mutter nicht mehr und bleibt bei
seinem Vater. Er läuft und läuft, entfernt sich immer mehr von Vater und Mutter
und landet schließlich auf einem Weg, der die Schienenverläufe kreuzt. Auch in
diesem Film werden drei Lebenswege mit drei unterschiedlichen Lieben und drei
unterschiedlichen Berufen durchgespielt, die sich winzigen Ereignissen verdanken,
die riesige Unterschiede bewirken.
Aber womöglich machen diese ‚riesigen‘ Unterschiede, die sich einstellen können,
in the long run gar keinen wirklichen Unterschied; womöglich laufen sie letztendlich
auf Dasselbe hinaus. Das wäre der Skandal des minimalen Unterschieds.
In Kieslowskis Film steht der Protagonist am Ende seiner unterschiedlichen
Lebensverläufe wieder auf dem Warschauer Bahnhof, von wo aus er mit dem Zug …
Es ist skandalös: Wie unterschiedlich die genommenen Verläufe auch sind,
sie münden alle schlussendlich wieder in ein und dieselbe Situation ein. Unsere
Entscheidungen machen gar keinen Unterschied. Wir kommen immer am selben
Punkt an, so oder so.

5.2.1 Allgemeine Aspekte des Zufalls

Zufall ist nichts ‚natürlich Gegebenes‘ nach dem Motto: „Es gibt Indeterminiertheit
in der Welt“. Zufall verweist vielmehr stets auf ein System, aus dessen Perspektive
heraus das Ereignis weder vor noch nach seinem Auftreten in einen sinnvollen
Zusammenhang zu bringen ist. Was dem einen als Zufall erscheint, kann durchaus
von einem anderen als kausal verursacht angesehen werden.
Zudem ist der Zufall abhängig von seiner Bewertung: Wir können ihn als ‚Zu-
fälligkeit‘ bagatellisieren, wir können ihm aber auch als ‚Schicksal‘ oder ‚Vorsehung‘
eine große Bedeutung unterstellen.
Der Zufall ist im normalen Alltagsgeschäft nicht zu bändigen. Denn es gibt immer
mehr Möglichkeiten, als wir in der Lage sind zu antizipieren und zu kontrollieren.
Die spannende Frage lautet in diesem Zusammenhang: Wie gehen wir mit solchen
Ereignissen, die wir Zufall nennen, um? Versuchen wir, sie durch das Gegengift
Planung auszuschließen, oder wollen wir sie als Gelegenheiten betrachten und zu
136 5 Planung und Zufall

eigenen Zwecken nutzen? Geht das überhaupt? Kann man Zufälle einplanen? Kann
man Zufälle provozieren oder gewollt herbeiführen? Kann man überhaupt ohne den
Zufall planen? Sind Pläne, die keine Zufälle vorsehen, überhaupt ernst zu nehmen?
Betrachten wir Zufall und Plan als zwei Seiten eines Kontinuums, das es im
Studium auszubalancieren gilt, so könnte man sagen, dass beide Extreme gefährlich
sind: Zuviel Plan führt in die Erstarrung und Unbeweglichkeit. Zuviel Zufall sorgt
für Ziel- und Orientierungslosigkeit. Zufall ist der Raum der Möglichkeiten, auf
den wir nicht verzichten können, wenn wir uns weiterentwickeln, Neues erleben
und Neues lernen wollen. Zufall ist der Stolper- und Prüfstein unserer Autonomie.
Es lassen sich drei mögliche Positionen gegenüber dem Zufall unterscheiden:

t der Rationalismus, der den Zufall auszuschließen und als Chimäre abzutun
versucht,
t der Irrationalismus, der sich dem Zufall ausliefert und jeden Plan als Teufelswerk
denunziert, und dazwischen rangiert,
t der Kompatibilismus (Reiter 2012:32), der Absichten und Pläne und unbeab-
sichtigte Zufälle als vereinbar begreifen möchte.

Betrachten wir den Zufall im Zusammenhang mit unseren Fähigkeiten, dann


müssen wir uns eingestehen, dass die besten Fähigkeiten einem nichts nützen,
wenn der Zufall einem nicht die Gelegenheiten zum Einsatz dieser Fähigkeiten
zuspielt. Man kann ein noch so großer Könner oder eine noch so große Könnerin
sein: Wenn einem die Gelegenheiten, dies zu beweisen, nicht begegnen, wird man
die eigenen Fähigkeiten nicht ausspielen können. Man mag noch so talentiert im
Fotografieren sein: Wenn der Zufall einem nicht die Motive vor die Optik bringt,
wird es auch nicht zu den entscheidenden Aufnahmen kommen. Auch perfekt
ausgebildete TherapeutInnen sind auf interessante Fälle angewiesen. Kurzum: Es
bedarf der Gelegenheiten, die wir oft nicht beeinflussen und kontrollieren können,
auf die wir aber angewiesen sind, um die eigenen Fähigkeiten zeigen zu können.
Zugleich gilt: Der Zufall begünstigt nur den „vorbereiteten Geist“ (Louis Pasteur).
Soll heißen: Man muss sich trainieren, muss fit und wachsam sein. Ansonsten ver-
passt man die glücklichen Gelegenheiten, die sich bieten. Mihaly Csikszentmihalyi
(2010:14) schreibt dazu: „Was ich ‚entdeckte‘, war, dass Glück nicht etwas ist, das
einfach geschieht. Es ist keine Folge von angenehmen Zufällen. Es ist nichts, was
man mit Geld kaufen oder mit Macht bestimmen kann. Es hängt nicht von äußeren
Ereignissen ab, sondern eher davon, wie wir diese deuten – Glück ist vielmehr ein
Zustand, für den man bereit sein muss, den jeder Einzelne kultivieren und für sich
verteidigen muss. Menschen, die lernen, ihre inneren Erfahrungen zu steuern, kön-
nen ihre Lebensqualität bestimmen, dies kommt dem, was wir Glück nennen, wohl
5.2 Lob des Zufalls 137

am allernächsten. Doch“, so fährt Csikszentmihalyi fort, „wir können das Glück


nicht erreichen, indem wir bewusst danach suchen.“ Wie Viktor E. Frankl (1976)
weist er uns damit darauf hin, dass Glück nicht plan- oder versicherbar ist: „Peile
keinen Erfolg an – je mehr Du es darauf anlegst und ihn zum Ziel erklärst, umso
mehr wirst Du ihn verfehlen. Denn Erfolg kann wie Glück nicht verfolgt werden;
er muss erfolgen (…) als unbeabsichtigte Nebenwirkung, wenn sich ein Mensch
einer Sache widmet, die größer ist als er selbst“ (aus dem Vorwort von Frankls
Buch Der Mensch auf der Suche nach Sinn, zitiert nach Csikszentmihalyi 2010:14).
Wir können weder Glück noch Erfolg erzwingen. Wir können uns aber bemü-
hen, günstige Bedingungen für sie zu schaffen. Wir können aktiv sein und damit
das Unsere tun, um im Falle des glücklichen Zufalls auch stolz auf den erfolgten
Erfolg sein zu können. Nur wenn wir selbst aktiv sind, können wir auch scheitern.
Und nur wenn wir scheitern können, können wir auch unsere Erfolge feiern. Unser
Leben würde erstarren, gäben wir uns ausschließlich den Plänen hin. Wir lebten
nicht unser Leben, sondern die Pläne lebten uns. Andererseits: Unser Leben würde
zerfließen, gäben wir uns voll und ganz dem Zufall hin.
Dies haben der surrealistische72 Schriftsteller André Breton (2010) an Nadja73
und der Filmemacher Amos Kollek an Sue – eine Frau in New York beispielhaft
aufgezeigt. Beide Frauen, Sue in New York und Nadja in Paris, scheitern kläglich
am Versuch, keine Ziele mehr zu verfolgen, keine Präferenzen mehr zu setzen, keine
Auswahl mehr zu treffen. Sie wollen auf die Unterscheidung zwischen wichtig und
unwichtig, wesentlich und unwesentlich gänzlich verzichten und sich dem Leben,
das meint den guten wie den schlechten Einflüssen, ungefiltert ausliefern. Sie erklä-
ren sich bereit, allen Einladungen zu folgen, nichts auszuschlagen. Beide scheitern.
Die eine landet in der Psychiatrie, was für sie keinen Unterschied mehr macht, die
andere endet im Drogendschungel. Beide exkludieren sich mit ihrer ungerichteten
Offenheit selbst. Indem sie nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig, wesentlich
und unwesentlich unterscheiden, verschütten sie sich selbst die möglichen Quellen
der Selbstachtung. Das Ergebnis: Selbstverlust.

72 Im Surrealismus bemüht man sich, die Ströme fließen zu lassen, ohne Steuerung
durch die Vernunft z. B. im automatischen (spontanen) Schreiben, bei Assoziationen,
Traumberichten, beim Anfertigen von Collagen, Frottagen, Grattagen, beim Auffinden
eines objet trouvé. Nur so kommt das Überwirkliche, das vom vernunftgesteuerten
Wirklichen überlagert wird, zutage. Die eigentliche Wirklichkeit liegt im Halb-, Vor-
und Unbewussten, behaupten die Surrealisten.
73 Neben dem Roman von Breton (2010) gibt es einen an den Roman angelehnten 16mm-
Film von Cathy Lee Crane aus dem Jahre 2000: The Girl from Marseille.
138 5 Planung und Zufall

5.2.2 Die Wichtigkeit des Zufalls

Zahlreiche Aktivitäten, die wir in unserem Leben allgemein, aber auch im Feld
unseres professionellen Tuns als besonders wichtig erfahren, enthalten in ihrem
Kern Momente des Zufalls.74 An ihnen soll verdeutlicht werden, wie wichtig der
Zufall ist und dass er nicht als Randerscheinung nur beiläufig behandelt werden
darf. Wir müssen ihn neben der Planung als konstitutives Element unseres pro-
fessionellen Tuns anerkennen.

Helfen
An erster Stelle nenne ich das Kerngeschäft der sozialen Berufe: die Hilfe.75 Die
Bereitschaft, Hilfe zu leisten, wie die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, entwickeln
sich aus der lebenspraktischen Erfahrung der Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit
von Lebensplänen, Lebensläufen, Lebensglück. Bei aller Kontrolle eines jeden
Schritts in unserem Leben kann (und wird!) uns die Kontrolle irgendwann einmal
verloren gehen. Und dann sind wir angewiesen auf die Unterstützung und den
Beistand anderer.76 Menschen sind verletzlich: physisch, psychisch, sozial. Der

74 Ich gebe zu bedenken, dass es der Zufall ist, der Menschen zu Individuen macht. Ohne
den Zufall wären wir alle gleich. Der Zufall individualisiert. Er lässt jeden Unterschied-
liches erleben und erfahren; macht die einen stark, die anderen schwach, die einen
erfolgreich, die anderen erfolglos. Er verwöhnt die einen mit glücklichen Zufällen; er
stellt die anderen mit Schrecklichem auf die Probe. Er führt die Menschen ins Glück,
und er stürzt sie in die Not.
75 Ich gebe zu bedenken, dass wir bemüht sind, Menschen, mit denen das Schicksal es
nicht so gut meint, beizustehen und ihnen zu helfen. Die Soziale Hilfe ist entstanden
aus der Idee, zufallsbedingte oder auch selbstverschuldete Notlagen zu kompensieren.
Soziale Hilfe ist eine Art Zufallsschulung für Fälle, bei denen der schreckliche Zufall
zugeschlagen hat. Aus einer „Ethik des Zufalls“ heraus sollten wir vielleicht zusätzlich
Zufallsschulungen einführen, die sich auf die Fälle konzentrieren, in denen Menschen
vom glücklichen Zufall verwöhnt werden, z. B. ein Millionen-Lottogewinn, eine zündende
Idee, eine ideale Partnerschaft, um ihnen nahe zu legen, dieses Glück mit Menschen
im Unglück zu teilen.
Der Zufall kann uns generell lehren, einen Schritt zurückzutreten von den im Alltag
verfolgten und gesellschaftlich so gewollten, meist egoistischen, profitablen Zielen
und Strategien. Er kann uns helfen, Distanz zu Handlungsweisen zu gewinnen, die
auf Erfolg, Nutzen, Gewinn, Sieg, Herrschaft, Dominanz etc. hin ausgelegt sind und
dabei das Ganze aus dem Blick verlieren. Der Zufall kann uns helfen, die Kontingenzen
nicht zu vergessen, die Menschen zu Erfolg, Nutzen, Sieg, Herrschaft, Dominanz etc.
verhelfen.
76 An zwei Heldenfiguren, einer griechischen und einer germanischen, wird die gemeinte
Verletzlichkeit Legende: Achilles und Siegfried. Achilles wird von seiner Mutter ins
5.2 Lob des Zufalls 139

Körper kann aussetzen, die Seele kann versagen, die sozialen Bindungen können
reißen. Wir sind keine Inseln, die allen Anbrandungen des Lebens aus eigener
Kraft trotzen können. Wir sind den äußeren Umständen und Einflüssen in vielerlei
Hinsicht hilflos ausgeliefert.77 Wir sind gerade in dem, was wir lieben und was uns
besonders wertvoll und erstrebenswert erscheint, enorm verletzlich. Wir sind – ob
in den frühen, mittleren oder späten Lebensjahren – auch jenseits aller Krisen
angewiesen auf Ansprache, Zuwendung, Unterstützung, Freundlichkeit, Fröh-
lichkeit, Anerkennung, Nähe wie Distanz, Bestätigung und Auseinandersetzung.78

Wasser des Flusses Styx getaucht, was ihn unverwundbar machen soll. Nur an die Stelle,
an der die Mutter ihren Säugling hielt, konnte kein Wasser gelangen, so dass Achilles
eben dort verletzlich blieb. Er wird den Tod finden im Kampf um Troja, verletzt durch
einen Pfeil, den Paris abschoss und Apollo ablenkte, so dass er Achilles Ferse traf.
Siegfried gilt als ein kühner, unbesiegbarer, furchtloser junger Nibelunge, der nach
einem Sieg über einen Drachen in dessen Blut badet, das seinen Körper unverletzlich
macht – bis auf eine Stelle auf seinem Rücken, auf die ein Eichenblatt gefallen war.
Diese Stelle markiert Siegfrieds Verletzlichkeit, und Hagen von Tronje wird den Helden
hinterhältig töten. Er wird seine Lanze in eben diese Stelle treiben.
Wenn wir uns hinreichend klar machen, dass uns allen Verletzlichkeit, Krankheit, Hin-
fälligkeit, Alter und Tod bevorstehen, müssen wir die Menschen nicht mehr in Gesunde
und Kranke, Versehrte und Unversehrte, Behinderte und Nichtbehinderte einteilen. Jeder
Mensch durchlebt Phasen, in denen er auf Hilfe und Verständnis anderer angewiesen ist.
Die Ferse des Achilles und das Eichenblatt des Siegfrieds (Riess 2003) gemahnen uns,
den Versprechungen der Planer und Macher nicht blind zu vertrauen, denn in ihrem
Jargon fehlt allzu oft der Hinweis auf das hier Gemeinte: die Verletzlichkeit.
77 Der stoische Philosoph Seneca schrieb in seiner Consolatio ad Marciam (11,3): „Was ist
der Mensch? Ein Gefäß, das durch jede beliebige Erschütterung, jeden beliebigen Stoss
in Scherben gehen kann. Es ist kein großer Sturm nötig, um dich zu zertrümmern;
wo immer du anstößt, droht dir die Auflösung. Was ist der Mensch? Ein schwacher,
brüchiger, nackter Körper, von Natur aus waffenlos, fremder Hilfe bedürftig, allem
Ungemach des Schicksals ausgesetzt, Futter und Beute beliebiger Tiere, mag er seine
Arme noch so geübt haben …“
78 Bei Luhmann startet jede Sozialität von der doppelten Kontingenz aus. Der Begriff
doppelte Kontingenz weist darauf hin, dass sowohl Ego als auch Alter am je anderen und
an sich selbst beobachten, dass sie sich jeweils auch anders verhalten könnten, als sie es
tun. Dies bedeutet für Alter wie für Ego Unsicherheit: Jede soziale Situation ist aufgrund
der doppelten Kontingenz durch eine enorme Menge an Verhaltensmöglichkeiten de-
finiert, die nur durch Kommunikation eingeschränkt werden kann. Die Komplexität
wird reduziert, indem die Kommunikation eine dritte Größe im Sinne eines Pools an
Möglichkeiten vorselektiert, aus dem sich Ego und Alter dann ‚bedienen‘, d. h. eigene
Selektionen vornehmen können. Diese dritte Größe stellt die Dimension des Sozialen
in Form sozialer Systeme dar. Soziale Vorgaben können allerdings die Kontingenzen der
Beteiligten nicht ‚wegdefinieren‘, noch können die an sozialen Systemen Beteiligten die
Situation determinieren, sie können sie lediglich über Irritationen auf unvorhersehbare
140 5 Planung und Zufall

Wir sind nicht Herr im eigenen Haus. Wir sind auf günstige, freundliche Bedin-
gungen angewiesen.79
Wir sind nicht nur zerbrechliche und auf Hilfe angewiesene, wir sind zugleich
einzigartige Wesen, im Vergleich zu anderen unvergleichlich. Kein anderer hat diese
Beziehung zu anderen wie ich. Kein anderer hat diese Beziehung zu mir wie Du.
Die Beziehungen sind, wie sie sind, weil die anderen die sind, die sie sind, und ich
der bin, der ich bin. Wir sind einzigartig, ergänzen und verdoppeln uns in unserer
Einzigartigkeit. Doch verlieren wir einander, ist unser Verlust unvergleichlich,
unersetzlich, unendlich …
Obwohl ich keine Ahnung habe, wie es zu Deiner Einzigartigkeit und zu der
Einzigartigkeit unserer Beziehung gekommen ist, weiß ich, wie unwahrscheinlich,
wie anfällig, wie zufällig, wie ungewiss, wie zerbrechlich alles ist, was da ist. Ich
kann Dich verlieren, was immer ich tue. Du kannst mir entgleiten, wie sehr ich
Dich auch zu halten versuche. Ich kann dieses kostbare Gut nicht schützen, was
immer ich aufbiete.80
In der Beziehung zum Klienten steckt das Merkmal des von Zufällen Abhängigen,
Einzigartigen, Höchstfragilen, Nichtkontrollierbaren. Wir können diese Beziehung
nicht planen. Wir müssen uns auf ihre Kontingenzen einlassen. Wir müssen uns
ausliefern, uns verletzlich und angreifbar machen. Wir müssen die Schwächen
und Verwundbarkeiten des anderen respektvoll und verantwortungsbewusst
behandeln, und wir müssen uns dazu immer auch zurücknehmen. Wir können
nicht vollständig bestimmen, wer wir sind – du, ich, wir, ihr – in diesem Spiel, das
sich ‚Hilfe‘ nennt. Wir sind bei all unserer beidseitigen Autonomie und doppelten
Kontingenz angewiesen aufeinander. Pläne verdecken diese sensible und äußerst
wichtige Schicht sozialer Arbeit. Sie verdecken, dass die günstigen Bedingungen für
tragfähige, vertrauensvolle Beziehungen sich in einem nicht voraussagbaren Moment
einstellen und nur in diesem Moment ergriffen (oder verpasst) werden können.

Weise verändern. So ist und bleibt die soziale Situation spürbar prekär und stets für
Zufälle und Überraschungen gut.
79 Z. B. auf treue Freunde, die es gut mit uns meinen, die uns im Fall ab- und auffangen,
die uns Sicherheit geben, auf die wir uns verlassen können, egal was passiert, die uns
Vertrauen entgegenbringen und die uns Vertrauen fassen lassen (auch in die Zufällig-
keiten des Lebens).
80 Der sicherste Schutz gegen derartige Verlusterfahrungen ist der Verzicht auf zwischen-
menschliche Beziehungen, was allerdings auf professioneller Ebene nicht möglich ist
und auf persönlicher selbst einen herben Verlust darstellen würde. Wer möchte schon
auf die Erfahrung einzigartiger Beziehungen verzichten? Und gehören Verlusterfah-
rungen nicht wesentlich zum Leben dazu?
5.2 Lob des Zufalls 141

Einen weiteren Aspekt gilt es zu beachten: Gerade im Kontext sozialer Berufe


benötigen wir eine Vorstellung davon, dass Menschen durch Zufall in die Situatio-
nen hineingeboren wurden, in die sie hineingeboren wurden. Niemand hat sich die
Familie, die Wohngegend, die Nation, die Klimazone, die politischen Verhältnisse
etc. ausgesucht, in der er das Licht der Welt erblickte. Wir sind durch Zufall in be-
günstigende oder benachteiligende Verhältnisse ‚geworfen‘ worden und müssen so
oder so mit ihnen zurechtkommen. Wir leben in einer Welt ungleicher Start- und
Ausgangsbedingungen. Zudem leben wir unter ungleichen Umsetzungsbedingungen
unserer natürlichen Potentiale. Das meint, dass angeborene Begabungen, Fähigkeiten
und Fertigkeiten sich aufgrund der Herkunft besser, schlechter oder gar nicht ver-
wirklichen lassen (vgl. die Kategorie der „strukturellen Gewalt“ bei Galtung 1975).
Zu diesen strukturellen Vorgaben kommen die Möglichkeiten des positiven oder
negativen Zufalls: Manche haben Glück, andere haben Pech in ihrem Leben (vgl.
Rawls 2003). Die einen werden vom Schicksal verwöhnt, die anderen geschlagen.
Es gibt negative Zufälle, Notfälle, die zufällig und ohne jedes Verschulden in
menschliches Leben einbrechen in Form von Überfällen, Anschlägen, Unfällen,
Erkrankungen, Katastrophen81, Krisen und Kriegen etc. Das Hilfesystem sorgt hier
für eine ausgleichende Gerechtigkeit. Es gibt aber auch Glücksfälle, in denen der
Zufall im positiven Sinne zuschlägt und dafür sorgt, dass Menschen ein gutes und
glückliches Leben führen können. Diesbezüglich hat die Gesellschaft kein System
hervorgebracht, das für Ausgleich sorgt. Hier greift allenfalls die Moral und fragt:
Enthält der ‚glückliche Zufall‘ nicht auch moralische Verpflichtungen gegenüber
den Fällen des negativen Zufalls? Trägt der, der vom positiven Zufall verwöhnt
wurde, Verantwortung für die, die vom negativen Zufall bestraft wurden? Was
meint in diesem Zusammenhang überhaupt Verantwortung82?

81 Die Katastrophe ist die Erfahrung der Zerbrechlichkeit schlechthin (vgl. Reiter 2012:107).
Sie kann uns Schlag auf Fall alles nehmen: Mitmenschen, Güter, Besitz, Gesundheit,
unsere Einzigartigkeit … Sie kann jeden treffen, jederzeit. Präventionsmaßnahmen wie
bereit gehaltene Hilfsmaßnahmen lassen die Verfasstheit einer Gesellschaft erkennen,
die um Möglichkeiten einer Katastrophe weiß.
Das Erdbeben von Lissabon (1755), das 10.000-15.000 Menschen das Leben nahm, führte
in die Moderne. Es führte zu der Einsicht, dass Gott nach menschlichem Ermessen
extrem ungerecht sein kann, dass die Natur dem menschlichen Schicksal gegenüber
gleichgültig ist und dass der Mensch die Verantwortung für sein Leid und Wohl selbst
in die Hand zu nehmen hat.
82 Ist der Glückliche kausal verantwortlich (Mein Glück schneidet anderen Möglichkeiten
ab.), oder handelt es sich um eine Rollen-Verantwortung (Weil ich in der Rolle des Glück-
lichen bin, bin ich für Unglückliche verantwortlich.)? Bin ich fähig, Verantwortung zu
übernehmen, oder geht es hier um eine Haftbarkeitsverantwortung (Ich hafte, obwohl
ich die Situation selbst nicht verursacht habe.)? Oder geht es um eine ‚gefühlte Verant-
142 5 Planung und Zufall

Gerechtigkeit sorgt dafür, dass die Differenzen, die sich aus den Quellen der
Ungleichheiten und zufälligen Eventualitäten ergeben, nicht überhand nehmen.83
Aber was meint in diesem Zusammenhang Gerechtigkeit? Dass jedem die Mög-
lichkeit eines ‚guten Lebens‘ eröffnet wird? Dass jeder die gleichen Chancen auf
ein glückliches Leben haben soll (‚Glücksegalitarismus‘)? Oder dass jeder Mensch
als Bürger gleich zu behandeln und zu respektieren ist, trotz unterschiedlicher
Glücksaussichten (Demokratischer Egalitarismus)?

Lernen
Wenn der Planung und dem Plan besondere Bedeutung beigemessen wird, wird
leicht vergessen, dass wir im Laufe des Lebens ungeheuer viel ungeplant, quasi
‚en passant‘ erlernen. Wir lernen, zumal in den ersten Lebensjahren, das meiste
implizit und inzident, unbewusst und mehr oder weniger zufällig. Kinder geraten,
bevor sie in die verplanten Lernkontexte der Kindergärten und Schulen geraten, in
ungeplante und zufällige Lernsituationen, in denen sie etwas ‚aufschnappen‘, was
sich nicht nur für die spätere Beschulung, sondern womöglich fürs ganze weitere
Leben als überaus wichtig erweisen kann. Dieses Wissen und diese Erfahrungen,
die Kinder auf diesem Wege sammeln, sind für alles weitere Lernen maßgeblich
(vgl. Röhr-Sendlmeier 2012).
Vielleicht darf man sogar sagen: Was wir über die Welt wissen, wissen wir we-
niger durch Belehrung, schulische Instruktion oder anderen geplanten Unterricht
als vielmehr durch beiläufiges, implizites und inzidentes Lernen. Kenntnisse des
Zusammenlebens und des situativ angemessenen Verhaltens haben wir in aller Regel
im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen ganz nebenbei erlernt. Es handelt
sich dabei oft um ‚verborgenes Wissen‘ (tacit knowledge), von dem wir gar nicht
wissen, dass wir es wissen. Wir leben es. Wir könnten es aber nicht explizieren.
Williamson (1998:24) definiert das hier gemeinte, zufällige Lernen als „finding
information unexpectedly while engaged in other activities“. Es wird gelernt,

wortung‘ (Ich habe die Situation nicht verursacht, konnte sie auch nicht verhindern. Es
besteht überhaupt kein Zusammenhang zwischen mir und der Situation, und dennoch
fühle ich mich verantwortlich und motiviert zu handeln.)? „Wir können uns für etwas
verantwortlich fühlen, für das wir nicht verantwortlich sind“ (Reiter 2012:106). Wir
können den Opfern in uns und in unserer Umgebung eine Stimme geben, wir können
etwas unternehmen.
83 Hierzu formuliert Rawls (2003:74) folgende Frage: „Durch welche Prinzipien werden
derartige Unterschiede – also Unterschiede in den Lebensaussichten – legitimiert und
mit der Idee der freien und gleichen Bürger in einer als faires Kooperationssystem
gesehenen Gesellschaft in Einklang gebracht?“ Eine Antwort: durch faire Verteilung
der Grundgüter und Ausgleich bei extremer Benachteiligung.
5.2 Lob des Zufalls 143

obwohl Lernen nicht geplant oder gefordert ist. Es findet statt beim Durchblät-
tern von Zeitschriften, beim Zappen durch die Fernsehkanäle, beim Surfen im
Internet oder bei Gesprächen in einem Café, bei denen man Bruchstücke des im
Hintergrund laufenden Radios aufschnappt. Es macht geradezu einen wichtigen
Aspekt der Intelligenz aus, nicht intendierte Lernchancen und zufällig sich bietende
Informationen opportunistisch zu nutzen.

Kreatives Gestalten
Speziell in den Studienfächern, in denen Kreativität gefragt ist, darf man den Zufall
nicht stiefmütterlich behandeln. Man muss ihn geradezu hofieren. Hier geht es
nicht um die lebensbestimmenden, wohl aber um die werkbestimmenden Zufälle.
Wir müssen in kreativen Prozessen – z. B. bei künstlerisch-ästhetischen Projek-
ten, ebenso wie bei kniffligen Beratungs- und Therapiefällen, bei denen wir uns
‚etwas einfallen lassen müssen‘, um weiterzukommen – eine wartende Haltung84
einnehmen, die uns für den Zufall öffnet. Unterteilt man kreative Prozesse in die
üblichen Phasen, so scheinen alle Phasen mehr oder weniger auf Zufälle zu setzen,
um erfolgreich durchlaufen zu werden. Am Anfang steht die

t Initiationsphase, die selbst schon auf einen Zufall/einen Einfall/eine Intuition


zurückgehen kann (aber nicht muss). Es folgt darauf die
t Vorbereitungs- und Sammelphase. Infiziert von einer initiativen Idee folgt eine
Zeit, in der diese ausformuliert und bearbeitbar gemacht werden muss, um
dazu passende Materialien und Lösungsmöglichkeiten zu sondieren und zu
beschaffen. Hierher gehört auch die scharfe Erfassung und Durchdringung der
konventionellen Struktur, die es geistig zu transformieren gilt: „Wie wurde es
gemacht, wie könnte man es anders machen?“
t Damit beginnt die Inkubationsphase, quasi die Hofierzeit des Zufalls, die Zeit,
da man auf den Einfall, das Neue, den Gedankenblitz, die Erleuchtung, den
Hinweis, die Spur, das Zeichen, den Wink oder den Link hofft. Das Individuum,
sagt man, ‚brütet‘ seine Lösung aus. Man sagt, die Lösung fliegt ihm nicht zu, sie
will vielmehr mit viel Geduld und großer Leidenschaft vorsichtig herangelockt
werden. Man sucht nicht wirklich, weil man nicht genau weiß, wonach man sucht.
Man sucht ohne klares Ziel vor Augen. Menschen drehen sich in dieser Phase
häufig im Kreis, kommen nicht richtig vorwärts, verzweifeln mithin. Es heißt
dann: Abstand nehmen! Nichts erzwingen wollen! Nichts übers Bein brechen!
So wie man die Liebe nicht erzwingen kann, so kann man auch die geniale Idee

84 Warten hat nicht nur etwas mit Ausschauhalten zu tun (die Warte), sondern auch mit
Achtsamkeit (Wartung).
144 5 Planung und Zufall

nicht erzwingen. Es gilt, trotz aller Frustration sensibel und achtsam zu bleiben,
hellwach für alles, was einem begegnet.
t Die Inspirations- und Illuminationsphase – wunderbare Worte, die unterstreichen,
dass wir nicht wissen, woher die ‚zündenden Ideen‘ kommen –, quasi die Hoch-
zeit des Zufalls, ist der Lohn der Geduld und des Durchhaltens, denn in dieser
Phase kommt eine mögliche Lösung in Sicht: Ein Lichtstreif am Horizont! Ein
Hoffnungsschimmer! Der göttliche Fingerzeig! Eben darauf hat man gewartet.
Diesen Moment hat man ersehnt. Die Gelegenheit zu erkennen und zu erfassen,
das macht wahre Könnerschaft aus: vom Zufall verwöhnt, aber zugleich auf den
Zufall gefasst, wie ein Jäger auf der Pirsch, die Gelegenheit erfassen, sie nicht
mehr loslassen, etwas mit ihr anfangen …
t Die anschließende Verifikations- und Realisierungsphase dient der Überprüfung,
Absicherung und Umsetzung der gefundenen Lösung. Es ist die Konsolidierzeit
des Zufalls. Das ‚Werk‘ wird in Angriff genommen. Die Idee wird realisiert.
Der Zufall wird zur Notwendigkeit und die Vollendung des Werks lebt von
der Freude, die der Zufall verströmt. Häufig berichten die Kreativen, die ihre
Fähigkeiten gut trainiert haben und ihr Handwerk beherrschen, dass sie in
dieser Phase Gefühle des Glücks, der Befriedigung und des Vollkommenseins
beschleichen. Csikszentmihalyi (2010) bezeichnet dieses Phänomen als Flow.
Flow meint den Zustand, in dem man derart in einer Tätigkeit aufgeht, dass
man alles um sich herum vergisst. Flow meint eine ‚Ordnung im Bewusstsein‘,
eine Übereinstimmung psychischer Energien, physischer Fähigkeiten und
Möglichkeiten mit den vom Zufall mitbestimmten, realistisch ausgewählten
Zielen: Seine Energien und Kompetenzen zur Erreichung bewusst ausgewählter
Ziele einzusetzen, etwas der Sache selbst willen tun zu können, ob im Sport,
im Spiel, in der Kunst, beim Hobby oder auf der Arbeit, versetzt Menschen in
einen Glückszustand. In dieser Phase gilt es, etwas aus dem zu machen, was
einem ein- bzw. zugefallen ist.
t Die abschließende Evaluationsphase dient der kritischen Überprüfung, Bewer-
tung und möglicherweise auch der Veränderung und Überarbeitung des Werkes.
Hier kann nachgearbeitet, optimiert, perfektioniert werden. Und auch hier sind
wir auf glückliche Zufälle angewiesen, wollen wir das, was wir gemacht haben,
noch besser machen.

Die Welt steckt voller Verwertbarkeiten. Wir müssen sie nur als solche begreifen
und behandeln. Wahre KünstlerInnen haben demnach offen und achtsam zu sein,
denn nur so können sie beiläufig finden, was sie weiterbringt. Sie lassen sich von
dem, was ihnen zufällt, beeindrucken und inspirieren. Sie können etwas, sie haben
eine Ahnung aber keine Vorstellung. Sie geben sich dem Prozess hin und fassen
5.2 Lob des Zufalls 145

den Zufall beim Schopf, wenn er ihnen begegnet. Darin ähneln sich Kunst und
Sport: Freilich muss man etwas können, man muss üben, hart trainieren, immer
wieder an der Perfektionierung der Fähigkeiten arbeiten, sich einlassen etc., aber
dann ist man auch darauf angewiesen, dass einen die Muse küsst, die Idee kommt,
der Ball vor die Füße rollt, der Gegner für eine Sekunde die Deckung aufgibt …85

Exkurs: Der zufallsverliebte Flaneur als Gegenfigur zum


planungsorientierten Manager
In vielen kreativen Künstlerpersönlichkeiten begegnen wir einer typisch modernen
Figur, der Figur des Flaneurs. Flanieren heißt, spazieren gehen ohne ein bestimm-
tes Ziel, schlendern, sich treiben lassen, doch hellwach und offen sein für das, was
einem begegnet: Geschichten und Bilder, Menschen auf dem Trottoir, Dinge in
den Schaufenstern, Erscheinungen der Natur, das Wiegen der Bäume im Park,
die dahinziehenden Wolken, tanzende Blätter, das Singen der Vögel, Schönheit,
Erhabenheit, Geheimnisse, aber ebenso: Alltag, Lebensweise …

85 „Ich suche nicht, ich finde!“ So soll Picasso einmal seine künstlerische Vorgehensweise
beschrieben haben. Damit unterstreicht er: Kreativität wird vom Zufall gespeist. Diese
Einsicht wurde in surrealistischen Kreisen geradezu zum Programm erhoben. So hat
Giacometti aus zufällig Gefundenem Neues geschaffen: eine Frau aus Löffeln und
Schrauben; ebenso Picasso, der aus einem alten Fahrradsattel und Lenker einen Stierkopf
zauberte. Hier treffen Dinge wie zufällig zusammen und ergeben einen neuen Sinn.
Sie streifen ihre ehemalige Funktionalität ab und nehmen eine neue Sinnhaftigkeit an.
Wir laufen dauernd an alten, ausrangierten, scheinbar unbrauchbaren Dingen vorbei,
ohne deren Potentiale auch nur zu erahnen. Die Dadaisten haben das Programm sogar
in Richtung eines antibürgerlichen, antirationalistischen Affekts radikalisiert.
KünstlerInnen richten ihre Aufmerksamkeit nicht auf bestimmte Mittel, die sie zur
Erreichung vorweg definierter Ziele benötigen. Das machen die PlanerInnen. Künst-
lerInnen abstrahieren von Zweck-Mittel-Kategorien und selbst noch von eigenen
Interessen und lassen sich stattdessen ganz und gar auf das ein, was ihnen begegnet.
Das große Vorbild für ein solches Vorgehen ist im fotografischen Bereich Jean-Eugène
Atget, der in den frühen Morgenstunden, wenn Paris noch schlief und kein Mensch über
die Straße lief, Ansichten der menschenleeren Stadt sammelte: antiromantizistische
Bilder, bereinigt von bürgerlich dekadenten Voreingenommenheiten und Wünschen,
jenseits der stickigen Atmosphäre, die in den touristischen Werbebüchern über Paris
verbreitet werden. Atget hat quasi gegen die üblichen Marketing-Standards fotografiert
und Paris so gezeigt, wie es sich ihm zeigte.
Auch André Cartier-Bresson betrieb eine Fotografie, die im Sinne Picassos nicht sucht,
sondern findet. Er fotografierte die „entscheidenden Augenblicke“. Diese Momente,
diese Bilder, lassen sich nicht planen. Sie lassen sich nur von einem wachen, offenen,
vorbereiteten Geist erwischen.
146 5 Planung und Zufall

Der Flaneur vereinigt in sich Ziellosigkeit und Wachsamkeit, Planlosigkeit


und Aufmerksamkeit, ein Sich-treiben-Lassen und Achtsam-Sein.86 Er will nichts,
sieht aber alles. Diese innere Einstellung passiert ihm nicht, sondern ist die für
ihn typische Haltung, für die er sich bewusst entscheidet. Der Flaneur ist nichts
und niemandem verpflichtet. Er lässt seinen Blick schweifen und greift das ihm
interessant Erscheinende aus dem Strom der Eindrücke heraus, isoliert es und baut
es in seine Collage ein.
Man kann den Flaneur als Gegenfigur des auf Effizienz, Zielerreichung und
Planung von Ereignissen erpichten Managers lesen. Der Manager zeichnet sich
durch seine Konzentration auf Gewinn und Gewinnmaximierung aus, während
er dabei allzu oft allgemeine gesellschaftliche, soziale und ökologische Zusam-
menhänge vernachlässigt. Ein solcher Manager instrumentalisiert die Natur
und andere Menschen (vgl. MacIntyre 1981, insb. S. 124-148) und versucht, sie
zu manipulieren87.

86 „Wer ein Ziel hat, hat eine Leitlinie. Ziele motivieren zum Handeln; sie verhindern
das bloße Vor-sich-Hintreiben, das über kurz oder lang zu Unzufriedenheit führt“, so
Bieker (2011:19). Als Gegenposition Konstantin Wecker:
„Einfach wieder schlendern, über Wolken gehn,
und im totgesagten Park am Flussufer stehn.
Mit den Wiesen schnuppern, mit den Winden drehn,
nirgendwohin denken, in die Himmel sehn.
Einfach wieder schlendern, ohne höheren Drang.
Absichtslos verweilen, in der Stille Klang.
Einfach wieder schweben, wieder staunen und
schwerelos versinken in den Weltengrund.“
87 MacIntyre (1987:118ff.) betrachtet den Manager als jemanden, der glaubt, dank wis-
senschaftlicher Gesetze menschliches Verhalten mechanistisch lenken und leiten zu
können. Der Manager glaubt an die Anwendbarkeit einer echten Technologie. Doch
es handele sich dabei wohl eher um die theatralische Nachahmung einer solchen (vgl.
ebd.:118). Der Grund dafür liegt darin, dass es in den Sozialwissenschaften keine den
Naturwissenschaften entsprechenden Gesetzmäßigkeiten geben kann, die uns einen
technologischen Umgang mit Menschen erlaubten. Die Sozialwissenschaften können laut
MacIntyre (1987:125ff.) keine gesetzesgleichen Verallgemeinerungen mit ausgeprägter
Fähigkeit zu Voraussagen liefern, da in ihrem Gegenstandsbereich Fortuna und ihr
Wirken durch nichts zu tilgen ist, weder durch aufgeklärtes Handeln und Entscheiden
noch durch wissenschaftliche Verallgemeinerungen und Gesetzesaussagen. „Wir können
durch Verbesserungen unseres Wissens die Macht der fortuna begrenzen, jener verma-
ledeiten Göttin des Unvorhersehbaren; entthronen können wir sie nicht“ (MacIntyre
1987:129).
So sehr wir unsere Pläne auch auf
‡ erwartbare Normalitäten (z. B. Tagesabläufe, Fahrpläne, Fernsehprogramme etc.),
5.2 Lob des Zufalls 147

Alles, was nicht in den Plänen des Managers unterzubringen ist, erscheint ihm
als Risiko und Gefahr, die es seiner Ansicht nach im Namen des Erfolgs zu bannen
gilt. Der Manager trotzt den Unwägbarkeiten, auf die der Flaneur hofft. Er versucht,
sich gegen sie zu versichern und sie zu umgehen, während der Flaneur sich ihnen
gegenüber öffnet. Der Manager betrachtet den Zufall als Bedrohung seiner Pläne,
der Flaneur begreift den Zufall als eine versteckte Ressource seines Lebens.
Der Flaneur will nicht berechnen und planen, er will staunen. Er will auf das
treffen, was er nicht kennt, was ihn lernen lässt, was sein Leben und seine Sicht
erweitert und womöglich auf den Kopf stellt. Er ist ein ausgemachter Gegner der
rechnerisch-kalkulierenden Kolonisierung der Welt. Er übt sich in Abstinenz ge-

‡ statistische Regelmäßigkeiten (z. B. Selbstmordraten zu Weihnachten, den Anstieg


von Erkältungen im Herbst, das typische Wählerverhalten, die Mordraten, Stau-
gefahren etc.),
‡ kausale Regelmäßigkeiten der Natur (z. B. Schneestürme, Erdbeben, Unwetter, Seuchen
etc.) und im sozialen Leben (Steigerung der Arbeitslosenzahlen in den Wintermonaten,
Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und Bildungserfolg etc.)
stützen, die Herrschaft Fortunas ist nicht zu tilgen. Sie beruht auf
‡ der prinzipiellen Unvoraussagbarkeit der Zukunft,
‡ der prinzipiellen Unprognostizierbarkeit des Menschen für sich selbst und für andere,
‡ der prinzipiellen Unvollständigkeit unseres Wissens (vor allem in Bezug auf soziale
Situationen, in denen Menschen zum eigenen Schutz oder Vorteil bemüht sind,
anderen Informationen vorzuenthalten, sie fehl zu informieren, sie zu täuschen oder
abzulenken, während sie selbst sich um alle nur möglichen Informationen bemühen.
Das heißt aber auch: Es wird in dem Bereich, in dem Manager agieren, nicht nur ein
Spiel gespielt, es werden mehrere Spiele gleichzeitig gespielt. In Unternehmen operieren
Menschen in einer Zwickmühle: Um ein sinnvolles Leben führen zu können, müssen
sie Planung ermöglichen und zugleich verhindern, um sich selbst unabhängig, frei und
autonom zu halten. „Wir sind damit in eine Welt eingebunden, in der wir gleichzeitig
versuchen, die übrige Gesellschaft voraussagbar und uns selbst nicht voraussagbar zu
machen, Verallgemeinerungen zu entwerfen, die das Verhalten anderer festhalten,
und unser eigenes Verhalten in Formen zu pressen, die die Verallgemeinerungen
vermeiden, die andere sich ausdenken“ (ebd.:143)). Schließlich ist die Herrschaft
Fortunas nicht zu tilgen, weil sie auf
‡ dem reinen Zufall beruht (Gemeint sind z. B. Nasen, wie etwa die Nase von Cleopatra,
in die sich Mark Anton so verguckte, dass er mit Cleopatra gegen Octavian zu Felde
zog; Maulwurfshügel, von denen einer bekanntlich Wilhelm III. das Leben kostete,
und Bazillen, die angeblich Napoleons Erkältung verursachten, die in Waterloo dazu
führte, dass Ney das Kommando übernahm, der, nachdem man ihm vier Pferde
unter dem Sattel weggeschossen hatte, zu fatalen Fehleinschätzungen der Lage kam.).
Kurzum: Wie sehr die gemeinten Manager es auch möchten, sie können weder die
unbekannte Zukunft noch die unberechenbaren Menschen, noch die systemisch
begründeten Wissenslücken, noch alle Nasen, Maulwurfshügel oder Bazillen in ihren
Plänen berücksichtigen.
148 5 Planung und Zufall

genüber Zielen und Plänen. Er ist ein Meister der Zuversicht: Es werden sich aus
den Zufällen gute Verbindungen ergeben.88
Der Flaneur will zunächst einmal nichts und tut streng genommen auch nichts.
Er ist jemand, der „die begegnenden Dinge (zunächst einmal) so sein lässt, wie sie
sind oder erscheinen. Die Welt ist offen, weil der Flaneur sie nicht beherrschen oder
kontrollieren will. Zuallererst will er sie einmal anschauen und auf sich wirken
lassen. Insofern widersetzt er sich dem Gewinn maximierenden Denken und Han-
deln des Managers, dem das Erreichen von Zielen zur zweiten Natur geworden ist“
(Reiter 2012:78). Der Flaneur kennt auch keine Eile oder Hast. Zeit ist für ihn nicht
Geld, sondern Gelegenheit für ziellose Bewegungen in einem möglichkeitsreichen
Raum (die Stadt, der Markt, die Wissenschaft …). Zeit ist Gelegenheit für genaue
Beobachtungen des Umgebenden, für interessante neue und ungewöhnliche Ver-
knüpfungen. Der Flaneur schaut, horcht, riecht, nimmt die Umgebung in sich auf.
Er verbindet sich mit ihr. Er lässt sich von ihr als Ganze und in Teilen beeindrucken.
Was für den einen irrational klingt, ist dem Flaneur ein wahres Vergnügen, das
er sich nicht nur für begrenzte Minuten etwa an Sonntagnachmittagen oder in den
Ferien leistet, sondern Tag für Tag als Lebenseinstellung zelebriert. Nur so entzieht
er sich der sogenannten Normalität der bürgerlichen Existenz. Seine Haltung zielt
nicht auf den zeitlich begrenzten Müßiggang als Gegenpol zum Arbeitsalltag, den
Spaziergang als Belohnung für die Arbeitsmühen. Hier wird keine Arbeitskraft
reproduziert, hier findet keine Erholung statt wie in Arbeitspausen, am Feierabend,
an den Wochenenden oder im Jahresurlaub. Hier geht es um einen grundsätzlich
anderen Zustand als den, etwas erreichen zu wollen oder zu müssen. Hier geht es
um einen „Spielraum ohne Sinn und Zweck, in dem die Grenzen zwischen Nütz-
lichkeit und Unsinn verschwimmen und in dem wir im Bestfall etwas gewinnen,
das uns sonst durch unser eigenes Interesse am Erreichen unserer Ziele verstellt
ist: Den Blick aufs Ganze“ (ebd.:81).
Gerade weil er nichts will oder muss, kann der Flaneur hinhören, hinsehen
und aufnehmen.89 Er kann sich aufs Ganze einlassen. Er ist dabei auf Vielfalt an-

88 Durch die Beachtung auch der kleinen Nebensächlichkeiten und Einzelheiten vermögen
Zufallszuversichtliche gewichtigen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, die
einem nicht gleich ins Auge springen. Die scharfsinnige Verknüpfung des scheinbar
Zusammenhanglosen führt sie unweigerlich zu Erkenntnissen. Über kurz oder lang
wird sich im spielerischen Umgang mit den Dingen immer eine Lösung finden und
das Richtige einstellen. Was anfangs noch diffuses Wissen und vage Ahnung war, wird
sich zu etwas Brauchbarem fügen. Wir werden fündig werden, wenn wir nur achtsam
und mit detektivischem Spürsinn bei der Sache bleiben.
89 Zygmunt Bauman (1993, 2007) vermutet hier die Gefahr der Verantwortungslosigkeit.
Alles, was der Flaneur tut, tut er im Schutz der Anonymität und damit ohne Furcht
5.2 Lob des Zufalls 149

gewiesen. Er braucht komplexe Gewebe, in denen sich alles Mögliche mischt: Feines
und Grobes, Arbeit und Vergnügen, Laster und Tugend, Begierde und Keuschheit,
Streben und Müßiggang, Edelsinn und Niedertracht, Liebe und Hass, Zärtlichkeit
und Gewalt, Gesundheit und Krankheit, Jogger und Obdachlose, Arme und Reiche,
Einfältige und Gebildete, Besessene und Abgeklärte, Rechte und Linke. Das ist der
Nährboden des Zufalls, des Alles-ist-Möglich, die Umgebung, die den Flaneur als
leidenschaftlichen Beobachter, der schaut und staunt, hervorbringt,90 die ihn zu-
versichtlich sein lässt, dass sich fruchtbare Verbindungen nur erschlendern lassen.

Spielen
Pädagogisch betrachtet ist das Spielen, das hier neben dem Helfen, dem Lernen
und dem kreativen Gestalten angeführt werden soll, von unschätzbarem Wert in
den Feldern sozialer Berufe. Von frühesten Zeiten an beginnen wir – wohl oder
übel –, die Welt spielerisch zu erkunden und uns auf ihre Überraschungen einzu-
lassen. „Kinder spielen sich ins Leben“, heißt es bei Krenz (2006). Spiele dienen der
Vorbereitung aufs Leben. Sie sind Teil der Selbsterziehung des Kindes (vgl. Mogel
2008). Das Spiel als exploratives Verhalten ist unverzichtbar für die frühkindliche
Sozialisation und Entwicklung. Spielerisch trainieren wir unsere Intelligenz und
erweitern unser soziales Handlungsrepertoire, fördern unsere Kreativität und
beleben unsere Phantasie und das divergente Denken. Spielerisch erlernen wir
Rollen-Identifikation und den Aufbau von Ich-Stärke und Emanzipation. All dies
lernen wir im Spiel, Zuhause und in der Nachbarschaft, im Kindergarten, an der
Straßenecke, auf dem Spielplatz, in der Schule, also in informellen wie formellen
Kontexten. Wir lernen, als ob uns das notwendige Wissen ‚einfach so‘ zufiele.
Huizinga (1956) betont aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, dass alle
Kultur im Spiel gründet und vom Spiel seinen Ausgang nimmt. Ob Jagd oder
Gemeinschaftsleben, beides wird spielerisch entwickelt. Aller Kultur ist in ihrem
Ursprung etwas Spielerisches eigen: Sie enthält grundsätzlich und ursprünglich
etwas Spielhaftes, was mit der Zeit in den Hintergrund tritt, bis es womöglich ganz
und gar verschwindet, um dem zwanghaften Muss Platz zu machen.
Es gehört zum Wesen des Spiels, dass es frei ist, dass es Freiheit ist. Befohlenes
Spiel ist kein Spiel. Spiel ist Weltvergessenheit, reines Vergnügen, keine Notwendig-
keit. Spiel verfolgt keinen vordefinierten Nutzen, keinen Zweck. Spiel ist sich selbst
genug. Spiel dient nicht der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und
Begierden, Spiel unterbricht vielmehr die Prozesse, die sich darauf richten. Das Spiel

vor Strafe.
90 Ähnlich dem Yogi ist der Flaneur zielabstinent – anders als z. B. der Wissenschaftler,
der Kommissar oder der Detektiv, die versteckte Kausalitäten zu entdecken versuchen.
150 5 Planung und Zufall

steht außerhalb der Welt der Notwendigkeit und Pflicht. Das Spiel ist ein So-tun-
als-ob. Spiel ist bloß Spaß, kein Ernst. Im Spiel können wir das ‚gewöhnliche‘, das
angeblich ‚eigentliche‘ Leben hinter uns lassen. Wir können uns im Spiel erheben
in Höhen der Phantasie, der Schönheit und der Heiligkeit. Das Spiel ist Erholung,
Abwechslung, Begleitung und Ergänzung. Als solches ist es unverzichtbarer Teil
des Lebens. Aus dem Spiel heraus erwachsen die Möglichkeiten, die Entwicklungs-
chancen, die Entlohnungen für Entbehrungen und das Wissen um das Unwissbare,
Unbegreifliche, Unfassbare, die Ehrfurcht vor dem Nichtwissen und allem, was
unser menschliches Vermögen transzendiert.
„Das menschliche Spiel gehört (…) in allen seinen höheren Formen, in denen es
etwas bedeutet oder etwas feiert, der Sphäre des Festes und des Kults – der heiligen
Sphäre – an“ (ebd.:16). Betrachten wir die Mess- und Opferrituale als Spiele, sind
sie nicht zuletzt Formen, in denen wir die Willkür Gottes, das Schicksal, den Zufall
beschwören. Es ist ein Ausgriff in die Transzendenz.
Auch kreative Tätigkeiten gleichen häufig dem kindlichen Spiel: Kindern und
Kreativen geht es um das Heraustreten aus der gewöhnlichen Wirklichkeit, aber
nicht wie im Falle des Kultus in Richtung Transzendenz, sondern in Richtung Po-
tenzialität. Es geht ihnen um die Darstellung und Nachbildung von etwas Anderem,
etwas Schönerem, Erhabenerem, Gefährlicherem, Spannenderem, Interessanterem
als dem Gewöhnlichen. Kinder wie Kreative geraten in ihrem Tun außer sich. Sie
lassen sich ein, geben sich hin, glauben, was sie sich vorstellen, verbildlichen und
scheinverwirklichen.
Das Kind, der Priester, Sportler, Schauspieler, Geigenspieler, Kreative, sie alle
gehen in ihrem Spiel auf, sind sich aber dennoch bewusst, dass sie spielen. Wie
sonst sollte man das Wirkliche über das Gegebene hinaustreiben können? Im Spiel
spielen wir mit unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten und mit dem göttlichen
oder weltlichen Zufall und hoffen doch immer, das Glück und die GöttInnen be-
einflussen zu können: Fortuna positiv zu stimmen.

Forschen
In der Wissenschaft kommt es zu neuem Wissen typischerweise dann, wenn wir
bereit sind, ausgetretene Pfade zu verlassen, Umwege zu gehen, Irrwege in Kauf
zu nehmen, uns auf Intransparenzen einzulassen. Auch wenn die Wissenschaft in
weiten Teilen, etwa in der experimentellen Laborforschung, darauf setzt, den Zufall
so weit als möglich aus dem Erkenntnisprozess auszuschließen (vgl. Besio 2009),
sollte man die Rolle des Zufalls bei der Erkenntnisgewinnung nicht unterschätzen.
Viele bahnbrechende wissenschaftliche Entwicklungen gehen auf zufällige
Ereignisse zurück: Es heißt, Alexander Fleming hätte gefährliche Keime offen auf
seinem Labortisch stehen lassen, bevor er in den Urlaub fuhr. Als er zurückkehrte,
5.2 Lob des Zufalls 151

fand er eine verschimmelte Petrischale vor: penicillium notatum hatte sich in der
Schale breit gemacht und die gefährlichen Keime ‚aufgefressen‘. Das Penicillin war
entdeckt. Als Isaac Newton 1665 ein Apfel auf den Kopf plumpste, soll dies der
schmerzliche Anstoß dazu gewesen sein, die Gravitationsgesetze zu erforschen.
Ähnlich zufallsbedingt und ungeplant wurden die Röntgenstrahlen entdeckt: Beim
Experimentieren mit Gasentladungs-Röhren soll Wilhelm Conrad Röntgen bemerkt
haben, das fluoreszierende Kristalle, die zufällig in der Nähe lagen, beim Einschalten
seiner Röhren zu leuchten begannen. Die von ihm sogenannten X-Strahlen waren
entdeckt. Ebenfalls zufällig vollzog sich die Entdeckung der Radioaktivität. Henri
Becquerel hatte in einer Schublade ein Stück Urangestein neben einer fotografi-
schen Platte liegen gelassen. Als er bemerkte, dass die fotografische Platte teilweise
‚belichtet‘ war, ohne dass Licht in die Schublade gelangen konnte, war der erste
Schritt zur Erkundung ionisierender Strahlungen getan. Ein aus Versehen neben
einem Füllfederhalter liegen gelassener Lötkolben sorgte dafür, dass die Tinte aus
dem Füller spritzte: Im Hause Canon war bald darauf der Tintenstrahldrucker
entwickelt. Viele weitere Fälle ließen sich anführen, die die Rolle des Zufalls in
der Wissenschaft unterstreichen: die Erfindung von Vaseline, Post-it-Klebezetteln,
Teflon, Dynamit, Viagra …
Ungeplante, ungeordnete, zufällige Ereignisse können nützliche Denkanstöße
liefern und Ereignisketten in Gang setzen, die zu bahnbrechenden Erkenntnissen
führen. Aber auch hier bedarf der Zufall des ‚vorbereiteten Geistes‘, um fruchtbar
werden zu können. Der Zufall bringt die Wissenschaft voran, wenn sich auch gewiss
nicht alles auf Zufall zurückführen lässt. Doch ohne den Zufall hätte Christoph
Columbus wohl kaum Amerika entdeckt, und ohne den plötzlichen Geistesblitz
des Archimedes beim Ausstieg aus der Badewanne wüssten wir heute immer noch
nicht, wie wir das Volumen unregelmäßiger Körper ermitteln können. Das bedeu-
tet: Wenn wir uns in unseren Forschungen immer nur an die zuvor formulierten
Ziele, Pläne und Hypothesen halten, schaffen wir es allenfalls, das Erwartete zu
bestätigen oder zu widerlegen. Wir stießen aber nie auf das völlig Unerwartete.91

91 Michel Foucault soll aus diesem Grund bei seinen Studien dem Zufall auf die Sprünge
geholfen haben, indem er das Bibliothekspersonal bat, ihm keine bestimmten, son-
dern beliebige Bücher zur Lektüre auszugeben. Er spekulierte mit diesem Prinzip
der Wahllosigkeit auf Zufallsfunde, die ihn zu neuen Einsichten und unerwarteten
Querverbindungen führen würden (vgl. Krajewski 2013:47f.).
Ganz in diesem Sinne macht sich Theisohn (2012:110f.) Sorgen über die negativen Effekte
der ‚Effektivität‘ von elektronischen Suchmaschinen. Sie würden uns heute ohne Um-
und Irrwege zu bestimmten Texten führen. Dadurch verpassten wir das auf den ersten
Blick nicht verwertbare, nicht angefragte Wissen, das über den kleinen Ausschnitt des
momentanen Interesses hinausweist und das vielleicht ungeahnte Ansatzpunkte für
neue Sichtweisen bereithält. Eine allzu präzise und allzu effiziente Suchhilfe reduziert
152 5 Planung und Zufall

5.3 Ein Resümee


Oder: Die Kunst der Balance zwischen Zufall und Plan
5.3 Ein Resümee
Planen Sie, was planbar ist, aber öffnen Sie sich gleichzeitig für das, was jenseits
Ihrer Pläne auf Sie wartet. Orientieren Sie sich an den Vorgaben des Studienpro-
gramms. Studieren Sie den Studienverlaufsplan, und stimmen Sie ihn mit den
Belangen Ihrer persönlichen Lebenssituation ab. Erarbeiten Sie sich eine Strategie,
wie Sie den Anforderungen der Hochschule und den Anforderungen der übrigen
Lebensbereiche gerecht werden können. Haushalten Sie mit Ihrer Zeit und Ihren
Energien. Setzen Sie Prioritäten. Planen Sie realistisch, und überfordern Sie sich
nicht. Planen Sie den Studienverlauf über alle Semester hinweg. Planen Sie jedes
Semester, jede Semesterwoche, womöglich jeden Tag und selbst noch die Semester-
ferien. Doch vergessen Sie nie, dem Ungeplanten und Zufälligen Raum zu geben.
Versuchen Sie, die Tugenden des Managers mit denen des Flaneurs zu kombinieren.
Bezüglich zentraler Tätigkeiten in sozialen Berufen – gedacht ist ans Helfen,
Lernen, kreative Gestalten, Spielen und Forschen – kommen wir nicht allein mit
Planen und Plänen aus. Wir müssen uns, ob wir es mögen oder nicht, zumindest
dosiert auf den Zufall und das Unplanbare einlassen. Wir wären schlecht beraten,
wollten wir den Zufall als den Erzfeind unserer Pläne verteufeln. Wir sollten viel-
mehr lernen, ihn als deren notwendige, dazugehörige andere Seite zu verstehen, die
das, was wir mit den Plänen zu beherrschen versuchen – das Studium, die Arbeit,
das Leben –, auf wunderbare Weise bereichern kann.
Vergleichen wir für einen Moment nur das Studium mit einer Reise: Der pla-
nungsfreudige Mensch würde sagen: „Kläre, wohin Du willst. Nimm den direkten
Weg. Sei pragmatisch!“ Ich gebe zu bedenken: „Was können Sie alles verpassen,
wenn Sie den geraden Weg nehmen, wenn Sie die Abzweigungen auslassen, die
Umwege vermeiden, sich den Blick in die Seitengassen versagen?“ Die bekannten
Wege sind bekannt und ohne großartige Überraschungen. Auf den unbekannten
Wegen, das weiß jeder Reisende, kann Ihnen weit eher etwas Neues, Spannendes,
Überraschendes begegnen. Ebenso gilt: Wenn Sie sich in Ihrem professionellen
Bereich ausschließlich auf den bekannten, ausgetretenen, bereits vermessenen und
erkundeten Pfaden bewegen, werden Sie die Menschen, für die Sie Verantwortung
zu übernehmen haben, gar nicht treffen. Auf bekannten Wegen trifft man nur Be-
kannte. Man verpasst die Ungesehenen, Unsichtbaren, Übersehenen. Man verpasst

quasi den intellektuellen Horizont, schmälert das geistige Reservoir, aus dem sich
Neues entwickeln kann. Die Wissensökonomie lässt womöglich das geistige Kapital
schrumpfen, weil es die Ab- und Umwege, die neue, zufällige Einsichten erst ermög-
lichen, ausschließt.
5.3 Ein Resümee 153

die andere Hilfsbedürftigkeit, die andere Not, von der niemand spricht, von der
womöglich niemand etwas weiß.
Also lautet mein Rat: ruhig einmal abzweigen und Umwege nehmen, ruhig
einmal neue Strecken und Quartiere erkunden. Fürs Studium meint dies: sich auf
Veranstaltungen, Themen und Personen einzulassen, die auf den ersten Blick nicht
auf dem geradlinigen Weg liegen, sich einladen, inspirieren, irritieren zu lassen.
Wichtig ist auch, immer wieder innezuhalten, nachzusinnen, zu überdenken, sich
zu sammeln, sich zu besinnen, die eigene Zielstrebigkeit kurz außer Kraft zu setzen,
das Geschehene Revue passieren zu lassen und ins Ganze einzuordnen.

Zur Überprüfung Ihres Lernerfolgs bearbeiten Sie bitte


t Arbeitsblatt 08: Zu Kapitel 5 – Planung und Zufall
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
Reden und Schweigen
6 Reden und Schweigen 6

Wenn Sie ein Studium aufnehmen, werden Sie es maßgeblich mit Texten zu tun
bekommen, gesprochenen wie geschriebenen. Sie werden viel reden, viel zuhören,
viel lesen und einiges schreiben müssen. Studium meint zum Großteil die Arbeit
mit und an Texten.
Wenn Sie Ihr Studium beenden, wird Ihnen eine Abschlussarbeit abverlangt,
mit der Sie belegen, dass Sie die Regeln des wissenschaftlichen Umgangs mit und
der wissenschaftlichen Formulierung von Texten beherrschen. In den folgenden
Kapiteln werden wir uns deshalb auf die praktischen Fragen des Umgangs mit
Texten konzentrieren.
Wir beginnen mit dem eigenen Reden, der Produktion von gesprochenen
Texten, das vom Schweigen begleitet wird. Das Schweigen ist die andere Seite des
Redens, und erst das Schweigen ermöglicht dem Redner, seine Rolle zu wechseln
und fremden Reden und Schweigen zuzuhören. Nach dem Reden und Schweigen
(Kap. 6) widmen wir uns der Auseinandersetzung mit geschriebenen Texten, dem
Lesen, dem ein Recherchieren vorausgeht und dem das Schreiben folgt. Nach dem
Lesen und Schreiben (Kap. 7) wenden wir uns dem Denken zu, das alle zuvor ge-
nannten Handlungen wissenschaftlicher Arbeit begleitet. Im Denken verfassen wir
unsere Gedanken vor unserem geistigen Auge, um sie, nach reiflicher Überlegung,
anderen zu präsentieren. Denken und Präsentieren (Kap. 8) sind zwei Seiten des
wissenschaftlichen Geschehens, deren eine sich still und für andere unvernehmbar
in den Köpfen der Beteiligten vollzieht, während die andere sich ausdrucksvoll und
für andere vernehmbar in den Kommunikationen, in Zwiegesprächen, Gruppen-
diskussionen, Vorträgen, Prüfungen, Haus- und Abschlussarbeiten, Veröffentli-
chungen etc. ereignet.
Reden, Schweigen, Zuhören, Lesen, Recherchieren, Schreiben, Denken und
Präsentieren sind Vollzüge, die keiner verbindlichen Linearität folgen. Sie ereignen
sich in keinem geordneten Nacheinander. Die Einzelvollzüge des Redens, Schwei-
gens, Zuhörens, Lesens, Recherchierens, Schreibens, Denkens und Präsentierens

T. M. Bardmann, Die Kunst des Unterscheidens,


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
156 6 Reden und Schweigen

wechseln sich vielmehr je nach Bedarf ab. Manchmal überlagern sie sich und
manchmal gehen sie bruchlos ineinander über. Wer sich mit dem wissenschaft-
lichen Denken und Arbeiten befasst, betritt einen Kreislauf, in dem es vor- und
zurückgehen kann. Vielleicht beginnt alles in einem Gespräch, in dem man eine
interessante Idee aufschnappt, man schreibt sie nieder, recherchiert zum Thema,
liest genauer nach, verändert die Idee, spricht erneut darüber, revidiert das Thema
nochmals, schreibt das Geschriebene um, bemüht neue Quellen, beginnt, in eine
andere Richtung weiterzudenken usw.

Es gibt im wissenschaftlichen Arbeiten keine notwendige Reihenfolge. Alle Stationen


und Stadien müssen durchlaufen werden, etliche Stadien und Stationen mehrmals.
In der Regel reicht ein Rechercheanlauf nicht aus. Anspruchsvolle Texte müssen
mehrmals gelesen werden. Garantiert entsteht der Schrifttext nicht auf Anhieb,
sondern erfordert zahlreiche Überarbeitungen und Umformulierungen. Denken
und Reden, genauer: Umdenken und Umformulieren begleiten alle Phasen des
wissenschaftlichen Arbeitens. Die hier gewählte Reihenfolge der Darstellung ist
somit keiner inneren Ablauflogik wissenschaftlichen Arbeitens geschuldet, sondern
eher dem Linearitätszwang der Schrift.
6.1 Reden 157

Der Zirkel des Redens, Zuhörens, Lesens, Recherchierens, Schreibens, Denkens und
Präsentierens ist die Quelle wissenschaftlichen Wissens. Ihm entspringen die Ideen
für z. B. Wortmeldungen, Diskussionsbeiträge, Hausarbeiten und Abschlussarbeiten,
Forschungsprojekte und Buchpublikationen. Die Ideen entspringen nicht einfach
nur dem Kopf eines oder einer Studierenden. Sie entspringen vielmehr dem Wech-
selspiel von Denken und Kommunikation. Nach Heinrich von Kleist verfertigen sich
die Ideen beim Reden, d. h. in der Kommunikation. Sie verdanken sich nicht allein
dem Einfallsreichtum oder der Genialität der Denkenden, sondern vielmehr den
laufenden Debatten und Diskursen, die von Denkprozessen begleitet werden. Die
Diskurse speisen das Denken, und das Denken liefert das Futter für die Diskurse.

6.1 Reden
6.1 Reden
Es reicht nicht aus, wenn Ideen allein im Kopf der einsam Studierenden aufleuchten.
Alles entscheidend ist, dass sie in der Kommunikation ‚zünden‘. Sie müssen nicht
allein dem Denkenden plausibel und interessant erscheinen. Sie müssen, wie es
heißt, in der Kommunikation unter KommilitonInnen, Lehrenden, FachkollegIn-
nen, ExpertInnen anschlussfähig sein. Wissenschaftliche Ideen erweisen sich erst
als solche, wenn sie sich in laufende Debatten einbinden lassen: Sie müssen an den
wissenschaftlichen Diskursen ansetzen, sie erweitern, bereichern, deren Lücken
füllen. Sie müssen sich einfügen in die schon geleistete wissenschaftliche Arbeit.
Sie müssen andocken an den Stand der Forschung und den Stand der Diskussion.
Sie müssen passen zur noch zu leistenden wissenschaftlichen Arbeit. Sie müssen
offene Fragen beantworten, neue Fragen aufwerfen. Sie müssen die wissenschaftliche
Diskussion am Laufen halten.

6.1.1 Selber Reden

In Ihrem Studium werden Ihnen nicht nur viele fremde Texte nahegebracht, man
erwartet auch von Ihnen, dass sie Texte beisteuern, in mündlicher wie in schriftlicher
Form. Bezüglich der mündlichen Form, der Rede, werden Sie nahezu täglich aufge-
fordert, Beiträge zu liefern: Sie sollen Ihre Vorstellungen erläutern, Ihre Meinung
äußern, eine Einschätzung abgeben, Stellung beziehen. Neben kleineren Wortbei-
trägen verlangt man von Ihnen oft auch, eigene Vorträge vor Publikum zu halten.
In der Regel handelt es sich dabei um Seminarvorträge, sogenannte Referate, die
Sie allein oder in der Gruppe zu halten haben. Das Studium ist ein ausgezeichneter
158 6 Reden und Schweigen

Übungsraum, um sich im Reden vor Menschen zu trainieren. Wer die Gelegenheit


nutzt, seine Präsentationskompetenz zu schulen, wird für seine spätere berufliche
Arbeit, in der immer wieder eigene Redebeiträge verlangt werden, viel profitieren
können. Trauen Sie sich also und halten Sie Reden vor Publikum!
Seminarvorträge haben eine Doppelfunktion: In der Vorbereitung auf sie sollen
Sie etwas lernen; in der Darbietung sollen Sie Ihrer Zuhörerschaft etwas lehren. Sie
sollen lernen, ein Thema systematisch zu erschließen und nach wissenschaftlichen
Standards zu bearbeiten; Sie sollen den erarbeiteten Stoff methodisch-didaktisch
so aufbereiten, dass er für Dritte ertragreich nachvollziehbar wird. Andere sollen
von dem, was Sie gelernt haben, lernen.
Hier kommt die Frage nach der Qualität der Rede ins Spiel. Gemeint ist nicht,
welche Qualität die Rede bzw. der Vortrag ‚an sich‘ hat, sondern wie das Darge-
botene beim Auditorium ‚ankommt‘. Der Hörer macht den Sinn. Deshalb sollten
sich RednerInnen vor jeder Rede gut überlegen, was sie bezogen auf ein bestimm-
tes Publikum sagen und was sie besser nicht sagen, und wie sie etwas sagen und
wie sie etwas besser nicht sagen. Was hilft die beste Rede, wenn sie am Publikum
vorbeigeht? Was hilft ein guter Vortrag, wenn er die ZuhörerInnen unter- oder
überfordert? Stellen Sie sich also auf Ihre Zuhörerschaft ein.

6.1.2 Gute Referate

Gute Referate beginnen mit einer soliden Vorbereitung, soll heißen, mit der Klärung
folgender Grundfragen (siehe Bieker 2011:179ff.):

t Welches Ziel verfolgt Ihr Vortrag? Was sollen die ZuhörerInnen am Ende Ihres
Vortrags wissen? Wollen Sie ihnen einen Einstieg ermöglichen? Wollen Sie ihnen
einen Überblick verschaffen? Wollen Sie ihnen vertieftes Wissen vermitteln? Geht
es Ihnen mehr um die sachliche Informierung der Zuhörerschaft, oder wollen
Sie sie zu einem eigenen Urteil einladen? Geht es nur um die Vermittlung von
Wissen oder auch um die Vermittlung von Handlungskompetenzen? Wollen Sie
das Thema neutral referieren oder wollen Sie Betroffenheit erzeugen?
t Wer sind die Zuhörenden? Was möchten die Zuhörenden, die Studierenden,
die Dozierenden? Was wissen sie bereits? Woran können Sie anschließen? Mit
welchen Voreinstellungen und typischen Erwartungen müssen Sie rechnen? Wie
homogen/heterogen ist die Zuhörerschaft? Wenn Sie Ihr Referat im Rahmen
eines Seminars halten, versuchen Sie unbedingt, Bezüge zu den bereits gehaltenen
und den noch ausstehenden Referaten herzustellen.
6.1 Reden 159

t Welche Rolle sollen die ZuhörerInnen übernehmen? Sollen sie still zuhören? Sollen
sie ihre Fragen gleich einbringen oder bis nach dem Vortrag warten? Sollen sich
die ZuhörerInnen aktiv beteiligen?
t Wie viel Zeit steht zur Verfügung? Achten Sie auf ein gutes Timing. Testen Sie
vor der Rede, wie viel Zeit Sie benötigen. Überziehen Sie auf keinen Fall. Sorgen
Sie aber auch dafür, dass die zur Verfügung stehende Zeit gefüllt wird.
t Welche Fachliteratur ist auszuwerten? Klären Sie im Vorfeld, welche Literatur
Sie für Ihr Referat zu bearbeiten haben, und tragen Sie dafür Sorge, dass Ihnen
diese Literatur auch rechtzeitig vorliegt. Sollte die Literatur nicht in der Hoch-
schulbibliothek zu erhalten sein, nutzen Sie die Fernleihe.
t Welche Technik ist vorhanden? Klären Sie unbedingt im Vorfeld, welche Technik
eingesetzt werden kann. Nichts ist schlimmer fürs Publikum und desaströser für
einen Vortrag, als ReferentInnen im Kampf mit der Technik erleben zu müssen.
t Welche schriftlichen Arbeiten sind neben der Rede zu erledigen? Soll der Vortrag
schriftlich ausformuliert werden? Braucht man für den Vortrag oder als Leis-
tungsnachweis den Vortragstext in schriftlicher Form? Oder reicht einem selbst
bzw. der Seminarleitung eine Liste mit Stichworten und den knapp formulierten
Kernthesen, die vorgetragen werden? Soll den ZuhörerInnen das Mitverfolgen
der Rede erleichtert werden, etwa durch Folien oder durch ein Handout?
t Was sollte vorgetragen werden? Bei einem guten wissenschaftlichen Vortrag steht
die Sache, um die es geht, im Vordergrund: eine Theorie, ein Konzept, eine Metho-
de, ein soziales Problem etc. Die ‚Sache‘ sollte möglichst sachlich, d. h. möglichst
unvoreingenommen und jenseits offener oder verdeckter Wertungen durch den
Redner oder die Rednerin vorgestellt werden. Neben der Sachdarstellung ist in
den Geistes- und Sozialwissenschaften in aller Regel Raum für eine kritische
Auseinandersetzung mit dem Vorgetragenen zu geben. Beides, Darstellung und
kritische Würdigung, sollte allerdings deutlich unterschieden sein.
t Welcher Vortragsstil sollte gewählt werden? Jede Rednerin bzw. jeder Redner sollte
für sich klären, ob sie bzw. er besser mit einem freien Vortragsstil zurechtkommt,
oder ob ihr bzw. ihm das Vorlesen mehr zusagt. Vorlesen ermöglicht eine hohe
inhaltliche Komplexität, kann dabei aber leicht auch überfordernd werden für die
Zuhörenden. Freilich wirkt der freie Vortrag frischer, lebendiger, ansprechender
und anregender als ein anspruchsvoller, aber schlicht vorgelesener Text. Doch
der freie Vortrag kann leicht ‚entgleisen‘ und er erreicht womöglich nicht die
Differenziertheit wie das Vorgelesene.
t Folien – ja oder nein? Egal, welcher Vortragsstil gewählt wird, wenn unterstüt-
zend Folien eingesetzt werden, müssen diese absolut synchron zum Vortragstext
eingespielt werden. Achten Sie darauf, dass auf den Folien kein zusätzlicher Text
zum Vortrag angeboten wird, sonst geraten ZuhörerInnen in die Zwickmühle,
160 6 Reden und Schweigen

aufmerksam lesen und zuhören zu müssen, was beides gleichzeitig kaum zu


leisten ist. Seien Sie auch in diesem Sinne ‚kundenfreundlich‘ und erleichtern
Ihrer Zuhörerschaft das Verständnis.
t Testlauf – ja oder nein? Unbedingt empfehlenswert ist es, vor dem eigentlichen
Vortrag den Vortrag vor einem Testpublikum zu halten. Hierbei erfahren Sie
viel darüber, wie firm Sie sind, wie gut Vortrag und Folien zusammenpassen,
ob das Timing stimmt, wie verständlich der Aufbau und die Inhalte Ihres Vor-
trags sind etc. Nehmen Sie etwaige Kritik Ihres Testpublikums unbedingt ernst.

Der Ablauf Ihres Vortrags – Einstieg und Hauptteil: Machen Sie den ZuhörerInnen
Ihres Vortrags den Einstieg leicht. Nach einer freundlichen Begrüßung sollten Sie
das Thema und das Ziel des Vortrags sowie die Relevanz des Themas klar benennen.
Außerdem sollten Sie einen kurzen Überblick darüber geben, was die ZuhörerInnen
zu erwarten haben, inhaltlich wie organisatorisch.
Um ins Thema einzusteigen, sollten Sie einen interessanten Aufhänger vorschal-
ten: eine tagesaktuelle Meldung, eine streitbare Extremposition, ein scheinbares
Paradoxon, eine rhetorische Frage, aufrüttelnde Fakten, ein bedeutsames persön-
liches Erlebnis.
Im Hauptteil Ihres Vortrags sollten Sie sich dann aufs Wesentliche konzentrieren
und sich nicht in Details verlieren. Bedenken Sie: Weniger kann mehr sein. Der
Lerngewinn kann größer sein, wenn Sie sich auf die Kernargumente beschränken
und nicht alle Ihnen zur Verfügung stehenden Informationen aufnehmen. Die Kunst
liegt auch hier in der begründeten Auswahl. Nur so können Sie Abschweifungen
zurückweisen: „Das gehört nicht hierher.“
Zudem sollten Sie immer den roten Faden anzeigen. Lassen Sie die ZuhörerIn-
nen immer wieder wissen, wo genau Sie im Ablauf Ihres Vortrags sind. Wenn die
Präsentation von Zwischenresümees hilfreich ist, präsentieren Sie sie: „Ich fasse
noch einmal kurz zusammen …“
Generelle Empfehlungen zur Rede: Achten Sie auf Ihre Sprache! Sie sollten, soweit
passend, möglichst frei sprechen, aber nicht so frei, dass es unwissenschaftlich
wirkt. Wählen Sie eine einfache, leicht verständliche Sprache und verzichten Sie
auf unnötige Fremdworte, aber tun Sie dies nie auf Kosten des Inhalts. Formulie-
ren Sie kurze Sätze, wählen Sie prägnante Formulierungen. Sprechen Sie laut und
deutlich, und nutzen Sie Sprechpausen, so dass das Gesagte ‚nachhallen‘ kann
und die Aufmerksamkeit gesteigert wird. Sprechen Sie langsam. Geben Sie den
Gedanken, die Sie entfalten, genügend Raum und ausreichend Zeit. Wiederholen
Sie das besonders Wichtige und drücken Sie es in mehreren Varianten aus. ‚Treten
Sie ruhig einmal auf der Stelle‘, so dass Ihre ZuhörerInnen garantiert ‚mitkommen‘
und verstehen, worum es geht.
6.1 Reden 161

Nutzen Sie, soweit passend, Veranschaulichungen, ob in der Sprache oder in


einem anderen Medium. Vergleiche, Analogien, bildhafte Übertreibungen, aber
auch Tabellen, Schemata, Diagramme, Grafiken, Organigramme, Fotografien, Fil-
me, Video-Sequenzen, Tondokumente, Gegenstände, quasi ‚Realbeispiele‘, können
einem Vortrag förderlich sein, wenn sie gut gewählt sind.
Nutzen Sie – falls sinnvoll – die Tafel oder Flipcharts, um Dinge anschaulich
darzustellen. Schreiben und zeichnen Sie so, dass alle Ihr Geschriebenes oder
Gezeichnetes entziffern können.
Beziehen Sie, soweit passend, die ZuhörerInnen ein. Stellen Sie aktivierende
Fragen. Erkundigen Sie sich nach deren Ansichten und Meinungen: „Was sagen
Sie dazu?“
Achten Sie auf Ihre Körpersprache! Was sagt Ihr Körper, während Sie reden?
Selbstsicherheit signalisiert, wer stehend referiert, wer den Blickkontakt mit den
ZuhörerInnen sucht und sich nicht an einem Punkt im Raum anpflocken lässt, wer
sich also in Maßen beweglich zeigt. Verschränken Sie weder Beine noch Arme, denn
damit distanzieren Sie sich gegenüber Ihrem Publikum. Nehmen Sie eine offene
Haltung ein. Zeigen Sie ihre Hände und verbergen Sie sie nicht unterm Tisch, in
den Taschen oder hinter Ihrem Rücken. Achten Sie bei allem, was Sie mit Ihrem
Körper anstellen, darauf, dass es nicht gekünstelt wirkt. So etwas gerät leicht ins
Merkwürdige und Lächerliche.
Der Ablauf Ihres Vortrags – Der Abschluss: Ebenso wichtig wie ein gelungener
Einstieg und Hauptteil ist ein gelungener Abschluss. Der Schlussakkord prägt
rückwirkend den Gesamteindruck. Ein guter Schluss, der die wichtigsten Ergebnisse
des Vortrags noch einmal zusammenfassend sichert, kann für die eine oder andere
Schwäche im Hauptteil entschädigen. Neben der Zusammenfassung des Gesag-
ten wirkt ebenfalls ein Ausblick auf zukünftig zu erwartende oder zu erhoffende
Entwicklungen positiv. So erhält das Auditorium Anregungen zum Weiterdenken.
Schließlich darf am Ende des Vortrags der Dank nicht fehlen. Bei einer Rede sind
die Redeanteile einseitig verteilt. Eine/r darf bzw. muss reden, die anderen dürfen
bzw. müssen zuhören. Dieses Ungleichgewicht gilt es abschließend zumindest
symbolisch auszugleichen, indem man sich als Redner für die Aufmerksamkeit
und Aufgeschlossenheit, für das Interesse und die Diskussionsfreudigkeit des
Publikums bedankt, während sich das Publikum durch Applaus (Tischklopfen)
bei dem Referenten bzw. der Referentin bedankt.
Setzen Sie an den Schluss Ihrer Rede positive Zeichen. Vermeiden Sie Ent-
schuldigungen, Selbstzweifel, Bedenken. Geben Sie der Positivität auch dadurch
Ausdruck, dass Sie Gesprächsbereitschaft signalisieren, statt die Flucht auf Ihren
Sitzplatz und hinter den Veranstalter anzutreten. Stellen Sie sich den Verständnis-
fragen wie auch den Anschlussdiskussionen. Vergessen Sie nicht, dass Sie hier als
162 6 Reden und Schweigen

Experte bzw. Expertin für das verhandelte Thema firmieren. So sollten Sie auch
bereit sein, Rede und Antwort zu stehen.
Ratsam für ein Nachgespräch ist es auch, wenn Sie selbst noch einige Zusatzfragen
parat haben, falls aus der Zuhörerschaft keine Fragen oder Kommentare kommen.
Ganz zum Schluss sollten Sie sich detaillierte Feedbacks zu Ihrer Aufbereitung
des Stoffs, zur Vortragsweise, zu den Folien, dem Handout etc. einholen. Geben Sie
sich nicht mit einem pauschalen „Fand ich gut.“ zufrieden. Nehmen Sie die Kom-
mentare auf, aber reagieren Sie nicht mit Rechtfertigungen oder Entschuldigungen.
Nutzen Sie die Kommentare, um daraus für die nächsten Vorträge etwas zu lernen.

6.2 Schweigen
6.2 Schweigen
„Jedes Reden wiederholt das Schweigen“
(Luhmann 1989:15).

Kann man übers Reden reden, ohne das Schweigen zu erwähnen? Schließt nicht
jede Rede ein Schweigen ein, auch wenn sie nicht darüber spricht? Und ob! Sobald
wir über etwas reden, schweigen wir über etwas anderes. Wir können nie alles
gleichzeitig zur Sprache bringen. Wir müssen auswählen. Auch im Reden, ob bei
Referaten, Vorträgen, Vorlesungen oder Diskussionen, müssen wir unterscheiden
zwischen dem, was wir sagen und dem, was wir nicht sagen.

6.2.1 Schweigen als Ausgrenzung

Wir müssen unser Thema eingrenzen, und damit grenzen wir alles andere aus.
Ein- und Ausgrenzungen sind notwendig, denn wir müssen uns und unsere Zuhö-
rerschaft vor einer informationellen Überflutung schützen. Wir müssen Grenzen
ziehen, Komplexität reduzieren. Wir sollten dies möglichst geschickt, sinnvoll und
zugleich rigoros tun. Wie aber findet man, wenn es ums eigene Reden geht, solche
Grenzziehungen?

t Zum einen ist die Präzisierung des Themas hilfreich, um zu weit Führendes und
Abwegiges oder auch nur Ausschmückendes auszuschließen. Der thematische
Fokus darf weder zu eng noch zu weit gewählt werden.
6.2 Schweigen 163

t Weiterhin hilft eine Konzentration auf die eigene Fachlichkeit. Die Disziplin gibt
tradierte Fragen vor und hilft zu klären, an welchen Stellen man das fachliche
Terrain verlässt.
t Hilfreich ist auch die Theorie, die gewählt wird, denn sie gibt typische Fragen
wie auch Argumentationsmuster vor und schließt andere aus.
t Manchmal sind räumliche oder zeitliche Eingrenzungen des Themas hilfreich,
um sich weder in der Welt noch in der Geschichte zu verlieren.

Wer redet, teilt die Welt nicht mit, wer redet, teilt sie ein. Er bewirkt eine Zäsur, einen
Schnitt. Das ist die Paradoxie des Redens: RednerInnen sagen, was sie sagen und
sie verschweigen, was sie verschweigen. Sie sind beredt und verschwiegen zugleich.
Was wir der Welt im Reden abgewinnen, was Teil der Rede wird, hinterlässt
unausweichlich Opfer. Die Welt kann nicht als Einheit kommuniziert werden,
sondern nur als Differenz von Gesagtem und Ungesagtem. Was in der Kommuni-
kation unausgesprochen bleibt – Menschen, Dinge, Probleme, Themen –, sind die
Opfer des Gesagten. Manchmal melden sich diese Opfer zu Wort. Meist werden
sie nicht vernommen. Manchmal reden andere für sie, FürsprecherInnen, Reprä-
sentantInnen, AnwältInnen.92
Manchmal sind nicht die die Opfer, die verschwiegen werden, sondern die,
über die in der Rede hergezogen wird. Opfer gibt es im Schweigen wie im Reden.
Im Reden über die Welt bleibt die Welt unaussprechlich, inkommunikabel, denn sie
meint den prinzipiell unerreichbaren Horizont allen Sinns und seiner Verweisungen.
Kommunikabel, aussprechbar ist nur, was stattdessen beobachtet und beschrieben
wird, niemals aber die Welt als Welt. Manche nehmen den beredeten Teil der Welt
für die Welt und vergessen dabei den verschwiegenen, stummen, stillen Teil.

6.2.2 Schweigen als Kommunikation

Die Alternative zum Reden ist das Schweigen, das nicht mehr als Kommunikation
verstanden sein möchte und eben darin Kommunikation ist. Die Gesellschaft kennt
das Schweigen als eine solch paradoxe Form der Kommunikation in unterschied-
lichen Ausprägungen:

92 Wo den VertreterInnen sozialer Berufe die Gelegenheit der Rede geboten wird, geht
es häufig um Themen und Inhalte, die von vielen gern verschwiegen würden. Aber
gerade deshalb sollte die Rede genutzt werden, das Schweigen zu brechen, um denen
beizustehen, deren Stimme ansonsten stumm bliebe.
164 6 Reden und Schweigen

t als beredtes Schweigen (z. B. des Meisters (Gurus) gegenüber seinen Schülern,
das theatralische Schweigen),
t als verschweigendes Schweigen (Verheimlichung, Tabuisierung, Lügen, Sprach-
angst),
t als strategisches Schweigen (z. B. aus Furcht vor Entdeckung und Strafe, um die
Umsetzung von Plänen nicht zu gefährden),
t als eisiges Schweigen (als Ausdruck von Ablehnung, Hass und Verachtung),
t als gemeinschaftliches, kollektives Schweigen (Schweigemärsche, Schweige-
minute),
t als individuelles Schweigen (z. B. verletztes Schweigen nach einem Streit, Schwei-
gen aus Scham etc.)
t als rituelles Schweigen vor allem im religiösen Kontext (in Kirchen, während
liturgischer Feiern, bei Begräbnissen, in Schweigeorden etc. z. B. als andächtiges,
asketisches, heiliges, magisches, monastisches, mystisches Schweigen),
t als konzentriertes Schweigen auch in profanen Zusammenhängen (Meditation,
Schach-Spiel),
t als heilendes Schweigen (z. B. in therapeutischen Zusammenhängen),
t als alarmierendes Schweigen (der Alten, der Kranken, der Lebensmüden, der
Enttäuschten und Verbitterten), das wir am liebsten therapieren möchten,
t als sittliches Schweigen, das taktvoll Peinlichkeiten zu meiden versucht, das
Höflichkeitsregeln folgt und mitmenschliche Rücksichtnahme übt,
t als verordnetes bis gesetzlich geregeltes Schweigen (von „Ruhe!“ und „Bitte nicht
reden!“ über amtliche Schweigepflicht, Berufsgeheimnis (z. B. bei ÄrztInnen,
PsychiaterInnen und PsychologInnen, bei TherapeutInnen und BeraterInnen, bei
AnwältInnen, ApothekerInnen, Geistlichen, SozialarbeiterInnen, wie auch bei
Personalvertretungen und Betriebsräten), als Zeugnisverweigerungsrecht und
Datenschutz (informationelles Selbstbestimmungsrecht, Schutz der Privatsphäre)
bis hin zur Zensur, dem Verbot öffentlichen freimütigen Redens und Schreibens,
t als erkauftes, semifreiwilliges Schweigen (Bestechung),
t als erschlichenes, semifreiwilliges Schweigen (z. B. in Form von massenmedialer
Berieselung, die eine kritische Öffentlichkeit unmerklich zum Erliegen bringt
und die Menschen zu schweigenden ZuhörerInnen und ZuschauerInnen macht),
t als erpresstes oder erzwungenes, unfreiwilliges Schweigen (Befehl, Repression,
Gewalt, Zwang, Gefängnis, Manipulation der Körper, Androhung von Folter
bis hin zur Tötung), und nach alledem
t als das kurz- und das langfristige Schweigen (von der nachdenklichen Ge-
sprächspause bis zum krankhaften Verstummen aufgrund einer Schockerfah-
rung),
6.2 Schweigen 165

t als Thema – wie soeben –, das bis hin zur Paradoxie des Redens über das Unaus-
sprechliche, der Kommunikation des Inkommunikablen, getrieben werden kann.

Auch das Schweigen ist also eine Form der Kommunikation. Es ist ein Reden im
anderen Gewand. Es sagt etwas. Es sagt, was es sagt, still, wortlos, ohne zu sprechen.
Damit das verstanden wird, muss das Schweigen dafür sorgen, dass eine Grenze zwi-
schen sich und dem Sprechen gezogen wird. Es muss sich unterscheiden vom Reden
und sich als Unterschiedenes kenntlich machen. Es inszeniert sich als Paradox.93
Das Schweigen ist Kommunikation, indem es anderen den Raum bietet, sich zu
äußern. Es ist zugleich Gelegenheit, anderen zuzuhören. Wer selber redet, kann
dem, was andere zu sagen haben, nicht folgen. Wer schweigt, kann sich auf die Rede
anderer konzentrieren. Das zuhörende Schweigen (in Gesprächen, im Unterricht,
bei Vorträgen) wie auch das konzentrierte Schweigen (in Bibliotheken und Lesesälen
oder am eigenen Arbeitsplatz) sind im Kontext der wissenschaftlichen Kommunika-
tion unverzichtbar. Schweigen ist Bedingung der Möglichkeit, andere und anderes
wahrnehmen zu können. Schweigen ermöglicht das Lauschen. Wir lauschen der
Welt. Wir lauschen den Worten anderer und manchmal auch den eigenen: Schweigen
hilft, Einkehr zu halten, sich zu besinnen und sich neu zu orientieren. Schweigen
hilft zu denken. Schweigen hilft, zum Wesentlichen vorzudringen.

6.2.3 Schweigen als Zuhören

In Ihrem Studium werden Ihnen viele gesprochene Texte dargeboten: Diskussions-


beiträge, Vorträgen, Referate und Vorlesungen. Sie sind eingeladen, dem fremden
Reden zuzuhören. Mehr noch: Im Studium erwartet man von Ihnen ein aktives
Zuhören:

93 Ebenso paradox ist es, wenn man unter dem Siegel der Verschwiegenheit das Schweigen
bricht und über Dinge redet, über die man mit niemandem und nirgendwo sonst spricht:
Man spricht, als spräche man nicht. Auch hierfür sieht die Gesellschaft gesonderte
Kontexte vor: das vertrauliche Gespräch mit nahestehenden Personen, das therapeuti-
sche Gespräch mit professionellen HelferInnen und die Beichte mit SeelsorgerInnen. In
diesen Kontexten werden Geständnisse und Bekenntnisse gemacht in der Hoffnung,
dass sie diese Kontexte nie verlassen werden. Dabei handelt es sich m. a. W. um Selbst-
enthüllung bei gleichzeitiger Selbstverhüllung vor anderen (Dritten), eine Kombination
aus Entblößung und Verdeckung.
166 6 Reden und Schweigen

t Sie sollen motiviert sein, den Reden des Redners oder der Rednerin zu folgen,
was umso leichter fällt, je verständlicher und anschaulicher geredet wird und
je relevanter Ihnen das Gesagte erscheint.
t Weiterhin sollen Sie konzentriert sein und sich nicht ablenken lassen, was umso
besser gelingt, je ausgeschlafener Sie sind, je weniger Ablenkungen vorhanden
sind, je vorbereiteter Sie sind.
t Schließlich wünscht man sich, dass Sie aktiv werden, dass Sie mitdenken, dass
Sie versuchen, das Gehörte in bereits Gehörtem und Bekanntem einzuordnen.
t Dem nicht genug. Sie sollen nicht nur mitdenken, Sie sollen auch mitmachen,
mitreden, mitdiskutieren. Sie sollen sich einbringen. Sie sollen sich einmischen und
in die Debatte einsteigen. Sie sollen Meinungen und Aussagen reflektieren und
daraufhin Ihre Fragen stellen, Ihre Meinung äußern, Ihre Ansichten vertreten
(entweder gleich in der Situation oder später, z. B. per E-Mail). Aktiv zuhören
meint, sich aktiv zu beteiligen und seine interessierte Beteiligung den RednerInnen
gegenüber verbal oder auch körpersprachlich zum Ausdruck zu bringen.

Wer sich selbst über körpersprachliche Signale hinaus (Zuwendung, Blickkontakt,


zustimmendes Nicken, stimmige Gesten, Pacing etc.) aktiv beteiligt und das Wort
ergreift, um zu kommentieren, nachzufragen oder eine eigene Meinung zu vertreten,
muss selbst formulieren und das Risiko übernehmen, nicht richtig, nicht vollständig
oder gar vollkommen missverstanden zu werden. Vielleicht liegen Sie mit Ihrer
Äußerung richtig, vielleicht liegen Sie aber auch mit Ihrer Äußerung falsch. Egal.
Im Studium dürfen Sie auch mal etwas Falsches von sich geben, denn: Nur aus
Fehlern können Sie lernen. Die Rede zu übernehmen und sich zu exponieren ist
nicht einfach und erfordert Mut. Seien Sie mutig! So werden Ihre Lernerfolge am
höchsten sein. Sie werden umso sicherer in Ihren Redebeiträgen, je besser Sie die
jeweiligen Sitzungen vor- und nachbereiten. Bieker (2011:33) formuliert in diesem
Sinne: „Tragen Sie durch mutiges Fragen zu einer Lernkultur bei, in der Fragen kein
Defizit anzeigt, sondern als Zeichen eines aktiven, ergebnisorientierten Lernens
gewertet wird. Ihr Fragen hilft auch den anderen, sich zu trauen.“ Jede Rede, die im
Kontext wissenschaftlicher Auseinandersetzungen geführt wird, ist eine Einladung
zur Beteiligung. Vorlesungen oder Seminarvorträge sollten Sie nicht wie einen Film
vor sich ablaufen lassen, sondern Sie sollten sich aktiv daran beteiligen. Sitzen Sie
nicht stumm herum, sondern ergreifen Sie das Wort.
6.3 Ein Resümee 167

6.3 Ein Resümee


Oder: Die begrenzte Brauchbarkeit des Redens und
Zuhörens in der Wissenschaft
6.3 Ein Resümee
Reden, Schweigen und Zuhören sind unverzichtbare Leistungen, um ein wissen-
schaftliches Studium erfolgreich zu durchlaufen. Doch die Wissenschaft selbst
kommt mit diesen Aktivitäten allein nicht aus. Für sie sind die mündliche Rede
und das Zuhören von nur begrenzter Brauchbarkeit. Rede, Zuhören und Gegenrede
können allein die Wissenschaft als einen eigenständigen Funktionszusammengang
der modernen Gesellschaft nicht garantieren. Dies soll in einem kurzen Exkurs
verdeutlicht werden.94
Lange bevor es die Wissenschaft gab, wurde die Sprache erfunden, um dem
menschlichen Denken und Empfinden Ausdruck zu verleihen. Sie wurde erfunden
zur mündlichen Kommunikation unter Anwesenden. Sie diente von vornherein dazu,
zusätzlich zu dem äußeren Verhalten etwas über die ‚inneren geistigen Vorgänge‘
des Gegenübers zu erfahren, um sich so im Umgang mit ihm besser orientieren zu
können. Die Rede sollte helfen, das im Innern stattfindende Denken und Fühlen
zu äußern, sich darüber öffentlich zu positionieren, sich damit identifizierbar zu
machen, im besten Fall in Übereinstimmung aller Beteiligten.
RednerInnen und HörerInnen hören in Gesprächen oder bei Vorträgen dasselbe,
auch wenn sie Unterschiedliches wahrnehmen und verstehen. Sie befinden sich am
selben Ort und vernehmen die gleiche Akustik, wenn auch nicht den gleichen Sinn.
Sie sind gleichzeitig ins kommunikative Geschehen involviert, nehmen gleichzeitig
mehrere Wahrnehmungsmedien in Anspruch, vor allem Hören und Sehen, und
erleben die Veränderungen der Stimmlagen, der Gestiken, der Mimiken. Sie regis-
trieren die Pausen und die damit einhergehenden Gelegenheiten der Intervention.
Sie registrieren gemeinsam die Wechsel der RednerInnen. Sie erleben gemeinsam
die Tempiwechsel, die Beschleunigungen und Verlangsamungen, die Wartezeiten
und die Zeiten des Spannungsauf- und -abbaus. Eben diese gemeinsame sinnliche
Situiertheit erweckt bei Sprecher- und HörerInnen den Eindruck, dasselbe zu
erleben. Doch weit gefehlt.
Beginnt man darüber zu reden, was man dem Gespräch oder Vortrag entnommen
hat, werden Differenzen kenntlich: „Das habe ich aber ganz anders verstanden.“
„So war das aber nicht gemeint.“

94 Die folgenden Ausführungen verdanken sich wesentlich dem Buch von Niklas Luhmann
(1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, insb. S. 249ff.
168 6 Reden und Schweigen

Wer redet, sagt immer auch: „Ich möchte gehört und verstanden werden.“ Anders
als bei der schriftlichen Kommunikation läuft bei der mündlichen Kommunikation
zwangsläufig Metakommunikation mit (vgl. Luhmann 1997:251). Wenn durch Re-
den kommuniziert wird, wird gleichzeitig mitkommuniziert, dass kommuniziert
wird und zwar so und nicht anders, und dass das bitte auch so und nicht anders zu
verstehen sei.95 Wer sich redend in die Kommunikation einbringt, trägt das Risiko,
zurückgemeldet zu bekommen, nicht verstanden, nicht vollständig verstanden,
nicht so wie gewünscht verstanden oder gar nicht verstanden zu werden.
Angesichts dieser Bürde wünschen sich manche, sich nicht an Kommunikation
beteiligen zu müssen, nicht angesprochen zu werden und nichts sagen zu müssen.
Wer nicht kommunizieren will, sollte allerdings die Gesellschaft anderer meiden,
denn als Anwesender muss er wissen, dass Kommunikationsverweigerung nur als
paradoxe Kommunikation, als Kommunikation, nicht kommunizieren zu wollen,
gelesen werden kann: „Was willst Du uns damit sagen, dass Du nichts sagst?“
„Wer aber anwesend ist, hat sich an Kommunikation zu beteiligen, auch wenn
er nichts zu sagen weiß“ (ebd.). „Man kann nicht nicht kommunizieren“, erklären
Watzlawick, Beavin und Jackson (1969:50ff.), und deshalb sollte man – statt nichts
zu sagen – selbst bei fehlender Information lieber etwas sagen und die Kommuni-
kation mit Nichtigkeiten in Gang halten. Wir nennen dies verharmlosend ‚small
talk‘. Wer anwesend ist und sich dennoch vollständig verweigert, läuft Gefahr, für
arrogant, unhöflich, krank, unnormal oder, was in wissenschaftlichen Kontexten
eher der Fall sein wird, für inkompetent oder dumm erklärt zu werden. Reden hilft
im Falle der Anwesenheit.
Für wissenschaftliche Belange ist Reden – am besten fundiertes Reden – un-
verzichtbar. Aber Reden allein reicht nicht aus, zumal dann nicht, wenn es nur des
Redens willen erfolgt. Reden reicht schon deshalb nicht aus, weil die Stimme der
Sprechenden nur im Moment des Redens gehört wird. Kurz darauf ist sie wieder
verhallt. Deshalb gibt sich die Wissenschaft nicht mit dem gesprochenen Wort
zufrieden: Es ist zu flüchtig, um wissenschaftliches Wissen über die Zeit hinweg
verfügbar zu halten.
Wem es in alltäglichen Gesprächen um Verbindlichkeiten geht, kann sich nicht an
die Rede, sondern muss sich an die RednerInnen halten, die mit ihrer persönlichen
Identität und Integrität für das gesprochene Wort einzustehen haben. Wollen Spre-
cherInnen ernst genommen werden, müssen sie zu ihrem Wort stehen und dürfen
nicht immer wieder selbst von ihrer geäußerten Meinung abweichen. In mündlichen

95 Das ist bei schriftlicher Kommunikation anders: In der Schrift wird Metakommunikation
optional (vgl. Luhmann 1997:257), d. h. sie muss, falls gewünscht, als solche eingeführt
werden.
6.3 Ein Resümee 169

Kommunikationen wird den SprecherInnen Konsistenz und Konformität mit der


eigenen Selbstdarstellung abverlangt. Für wissenschaftliche Zwecke aber reicht
ein solcher Personenbezug nicht aus. Das wissenschaftliche Wissen versichert sich
nicht über Personen, sondern wissenschaftliches Wissen versichert sich über seine
Vernetzung mit anderem wissenschaftlichen Wissen.
Reden sind – zumindest vor der Erfindung der Schrift und der Tonaufzeichnungs-
geräte – schwer aufzubewahren und über die SprecherInnen kaum abzusichern. Sie
können daher keine Verlässlichkeit garantieren. Sprecher- wie HörerInnen müssen
die Rede erinnern und wiedergeben, was beides mit großen Verlusten einhergeht.
Erinnern und Erzählen im Rahmen von Gesprächen setzt wiederum Nähe und
Gleichzeitigkeit voraus. Wer während des Geschehens, das erinnert und erzählt
wird, nicht zur selben Zeit am selben Ort war, weiß nicht, was damals geredet wurde
und kann daher auch nicht mitreden, wenn über das Geredete geredet wird. Er
kann allenfalls nachfragen wie ein Fremder, der aus anderen Zeiten und Räumen
stammt. Wer während des Erinnerns und Erzählens des Geschehenen zur selben Zeit
am selben Ort ist, kann vernehmen, was als Geschichte erinnert wird: ein äußerst
begrenztes, höchst selektives, höchst individuelles Gedächtnis, das kaum mehr als
den konsensfähigen, erzählbaren, verbindenden Teil des Gewesenen reproduziert
und kaum mehr als die Zeitspanne einer, höchstens zweier Generationen übergreift.
Die Geschichte einer mündlichen Kommunikationskultur umfasst maximal 60 bis
80 Jahre. Danach verliert sich alles in einer dunklen Fernzeit, die nur noch rituell
zu vergegenwärtigen ist.
Allein aus diesem Grunde könnte wissenschaftliches Denken und Arbeiten sich
niemals nur mit Reden und Zuhören begnügen. Für die Wissenschaft ist der Bereich
des in der mündlichen Kommunikation Sag- und Erinnerbaren viel zu begrenzt, viel
zu vage, viel zu unzuverlässig. Reden und Zuhören allein würden den Raum des
wissenschaftlich Denk- und Bearbeitbaren unerträglich beschneiden.

Zur Überprüfung Ihres Lernerfolgs bearbeiten Sie bitte


t Arbeitsblatt 09: Zu Kapitel 6 – Reden und Schweigen
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
Lesen und Schreiben
7 Lesen und Schreiben 7

Kulturen, die sich ausschließlich auf Mündlichkeit stützen, sind recht einfach struk-
turiert. Der Rahmen der Weltkenntnis ist nicht nur in zeitlicher, sondern auch in
sachlicher und sozialer Hinsicht eng gezogen. Die Zeitspannen, die Themenpaletten
und der Raum für unterschiedliche Meinungen sind arg begrenzt. Erst die Schrift
lässt uns die Welt als vielschichtig und komplex erfassen. Erst die Schrift treibt die
Zahl der Unterscheidungen und die Anzahl der relevanten Dinge und Aspekte der
Welt in die Höhe und erweitert den Horizont des Vorstellbaren und Erinnerbaren.
Jeder, der eine Bibliothek betritt und durch die Regale schlendert, erfährt, wie sich
die Gesellschaft über die Schrift und den Buchdruck ein gigantisches Arsenal an
Wissen verfügbar gemacht hat.
Vor diesem Hintergrund leuchtet es ein, dass die aktive Teilnahme an den
Seminaren, das aufmerksame Zuhören und die beherzte Beteiligung an laufende
Debatten, die Darbietung eigener Gedanken in Form von Wortbeiträgen und
Referaten sowie deren anschließende Diskussion mit den GesprächspartnerInnen
zwar einen wesentlichen Teil eines wissenschaftlichen Studiums ausmacht, es aber
bei weitem nicht erschöpft. Neben den Formen der mündlichen Kommunikation
meint ein Studium in weiten Teilen auch die stumme, stille Auseinandersetzung
mit Geschriebenem oder sonst wie Dokumentiertem. Studium ist ohne Lesen un-
denkbar. Lesen erfordert Einsamkeit, Stille und Konzentration. Der Höhepunkt
des Lesens ist das anschließende nachsinnende Schweigen.

7.1 Lesen
7.1 Lesen
Lesen will gelernt sein. Zumal das wissenschaftliche. Was aber genau verlangt uns
das wissenschaftliche Lesen ab? Worauf kommt es an? Bevor wir etwas über das

T. M. Bardmann, Die Kunst des Unterscheidens,


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
172 7 Lesen und Schreiben

wissenschaftliche Lesen lernen, sollten wir uns daran erinnern, dass wir das Lesen
bereits gelernt haben.
Interessanterweise haben wir das Lesen nicht im wissenschaftlichen Kontext
kennengelernt, sondern in aller Regel im privat-familiären. Im glücklichen Fall
lernten wir das Lesen über die Faszination des Vorgelesen-Bekommens kennen
– schweigend und genießend. Wie schön war es doch, wenn unsere Eltern oder
Großeltern uns mit dem Vorlesen eines Gedichtes oder einer Gutenachtgeschichte
verwöhnten, wenn uns bei ihren wohl vertrauten Stimmen die Augen allmählich
zufielen und wir mit den fantastischen Bildern im Kopf langsam in den Schlaf
hinüberglitten.
Wir lernten sodann die Geste der Lesehandlung kennen, erlebten nicht nur
unsere VorleserInnen, sondern sahen auch, wie sie in Stille Briefe lasen und sich
darüber freuten oder ärgerten, wie sie stumm die Zeitung lasen oder über das so-
eben Gelesene diskutierten, wie sie sich in Bücher versenkten und der Welt dabei
(fast) verloren gingen.
Als Schulkinder ahmten wir nach, was wir erlebt hatten: unsere Eltern, Groß-
eltern, Geschwister mit einem Buch, einem Brief oder einer Zeitung in der Hand.
Doch beim schulischen Lesen-Lernen wurde und wird heute noch oft das zerstört,
was wir als ZuhörerInnen so liebten. In der Schule verlernen viele, das Lesen zu
lieben. Für sie ist Leseunlust eine enttäuschte Liebe (vgl. Pennac 1994).
In der geliebten Geste zeigt sich im Unterricht oft die hässliche Fratze der
Anstrengung, der Langeweile, der Zumutung, des Müssens, des Gezwungen-Wer-
dens – das Gegenteil von Magie und Faszination. Eltern und LehrerInnen zwingen
das Kind, den Inhalt des Gelesenen zu verstehen, im schlimmsten Fall es so zu
verstehen, wie sie es verstanden wissen wollen. Sie traktieren das Kind mit ihrem
Verständnis und bestrafen es mit Tadel und schlechten Noten, wenn sie es nicht
oder anderes verstehen. Aus Lust wird Frust. Die frühe Liebe erfährt so eine bittere
Enttäuschung: „Bloß keine Bücher mehr!“
Auch im Studium wird den Studierenden häufig – ähnlich wie in der Schule
– die zu lesende Literatur einfach ‚vorgesetzt‘, ohne Rücksicht darauf, ob sie den
Studierenden gefällt oder nicht, ob sie sie anspricht oder nicht, ob sie sie begeistert
oder nur anödet und langweilt. Die Literatur wird als Muss präsentiert, als Pflicht-
lektüre oktroyiert. Wer die Literatur nicht kennt, kann nicht wirklich mitreden.
Wer nicht liest, ist angreifbar. So werden Texte geradezu bedrohlich. Sie werden
zu einem ständigen Hinweis auf das eigene Unwissen, die eigene Unbildung, die
eigene Dummheit. Kein Wunder, wenn Studierende Aversionen entwickeln, sich
zu fürchten beginnen und schließlich versuchen, sich vor der Lektüre zu drücken.
Dabei kann die Lektüre so spannend und fesselnd sein, so erhellend, überra-
schend und lehrreich. Was haben wir nicht alles aus den Texten gelernt, als wir
7.1 Lesen 173

noch nicht gezwungen wurden, etwas aus ihnen zu lernen. Wir sollten nicht zu
verbissen an die Lektüre gehen. Wir sollten uns mehr in Gelassenheit üben. Es ist
gefährlich, alles Lesen unter die Knute des Nutzens zu zwingen, alles Gelesene
unter vorgegebenen Gesichtspunkten für Studien- oder Berufszwecke auswerten
zu wollen.96 Aber ebenso wäre es illusorisch, das Studium auf ein ausschließlich
lustvolles Lesen, auf ein Lesen, das immer nur ‚Spaß macht‘, reduzieren zu wollen.
Auch das Lesen hat viele Seiten.
Am Lesen führt kein Weg vorbei: Kein Studium und keine Gelehrsamkeit ohne
Lesen, ohne viel und ohne Vieles zu lesen. Lesen ermöglicht einen breiten Überblick
und tiefgründige Einsichten in Fachdebatten. Wer ungern liest, wird diese Aussage
als eine Drohung empfinden. Wer gerne liest, wird sie als eine Einladung verstehen.
Jeder ist für seine Leselust und seinen Lesefrust selbst verantwortlich. Jeder muss
sich seinen Zugang zu Büchern und zum Lesen selbst erarbeiten. Für untrainierte
LeserInnen sei gesagt: Übung sorgt mit der Zeit für immer mehr Leichtigkeit und
Souveränität und führt, wie das Sprichwort sagt, schließlich zur Meisterschaft.
„Mit jedem Text wird’s leichter“, verspricht Krajewski (2013:51). Mit jedem Text
werden Sie sicherer, selbstbewusster.
Gleichzeitig gilt: „Einmal ist keinmal“ (Jean Paul), soll heißen, wenn es ernst
wird, reicht es in der Regel nicht, den Text nur einmal durchzulesen. Bei vielen
Texten eröffnet erst die Wiederholungslektüre die Tiefe und Tragweite des Ge-
schriebenen. Bei besonders schwierigen Texten kommen wir auch nicht umhin,
uns den Text selbst noch einmal laut und langsam vorzulesen, um seinen Sinn und
seine Details zu erfassen. Manchmal müssen wir einen Spaziergang einlegen, um
das Gelesene ‚sacken zu lassen‘.
Wer zu Beginn seines Studiums unbelesen ist, braucht sich keine Sorgen zu
machen. Das Studium ist der Freiraum, in dem ausgiebig gelesen werden kann.
Sie treten das Studium nicht an, weil Sie bereits alles wissen, sondern – so hoffe
ich – weil Sie möglichst viel lernen, möglichst viel erfahren und aufnehmen wollen.
Das Lesen bietet die einzigartige Chance, am Wissen anderer und am gesammelten
Wissen unserer Gesellschaft teilzuhaben. Nutzen Sie diese Chance!
Wer zum Ende seines Studiums noch immer unbelesen ist, wer immer nur zu-
gehört und mitdiskutiert hat, statt sich ausgiebig in die Lektüre von Büchern und
Aufsätzen zu versenken, der hat die großartige Chance, ‚ordentlich zu studieren‘,

96 Schon die Unterscheidung zwischen anstrengendem wissenschaftlichen Lesen und


Entspannungslesen in der Freizeit (vgl. Bieker 2011:35) birgt die Gefahr, dem wissen-
schaftlichen Lesen das Spannende, Faszinierende, Bezaubernde, Engagierende, Magi-
sche abzusprechen und es auf Schwierigkeit, Methodik, Ziel- und Nutzenorientierung,
berufliche Verwertbarkeit etc. zu reduzieren. Das wäre dem, was real geschehen kann,
nicht angemessen.
174 7 Lesen und Schreiben

wahrscheinlich verpasst. Er sollte sich ernsthafte Sorgen machen, denn um in


wissenschaftlichen und professionellen Zusammenhängen kompetent mitreden
und mitentscheiden zu können, sollte man sich in der Literatur auskennen.

7.1.1 Nutzungsweisen des Lesens

Wozu ist Lesen im Kontext eines wissenschaftlichen Studiums gut? Welchen Nutzen
können Sie aus der Lektüre wissenschaftlicher Publikationen ziehen? Stinchcombe
(1982) unterscheidet sechs unterschiedliche Nutzungsweisen des Lesens:

1. Beim Lesen erschließen wir uns Ideenquellen für Grundgedanken, auf die wir
unsere Arbeiten – ob in der Forschung oder in der beruflichen Praxis – auf-
bauen können.
2. Durchs Lesen erschließen wir uns Hinweise und Impulse. Bei der Lektüre sto-
ßen wir auf unbeantwortete Fragen und empirische Hypothesen, denen wir in
unseren Arbeiten nachgehen können. Lesen lenkt die Aufmerksamkeit, es liefert
Orientierung fürs Weiterdenken.
3. Lesen erzeugt eine Zusammengehörigkeit, die beim Schreiben in Form von
Zitationen einen symbolischen Ausdruck findet. Übers Lesen entstehen geistige
Gemeinschaften. Es vereint alle, die zu einem bestimmten Thema bzw. auf dem
gleichen Gebiet arbeiten.
4. Lesen liefert uns Meilensteine, Vorbilder, Prüfgrößen, an denen wir Tugenden
erkennen, an denen wir unser eigenes wissenschaftliches Arbeiten zu überprüfen
und zu messen bereit sind: „So sollte auch mein Beitrag aussehen. Das sind die
Anforderungen, die auch ich an einen guten wissenschaftlichen Text stelle. So
möchte ich auch schreiben.“ Der Text bekommt somit paradigmatischen Cha-
rakter. Er wird Vorbild für das eigene Tun.
5. Über die gelesene Literatur bekommen wir insbesondere als AnfängerInnen
auch eine Ahnung davon, welches Differenzierungsniveau wir uns abzuverlan-
gen haben, welches Abstraktionsniveau wir anpeilen müssen, um mithalten zu
können. Metaphorisch gesprochen: Wir erfahren, auf wie hohen Schuhen wir
uns über die wissenschaftliche Bühne bewegen sollten, um als ‚wissenschaftlich
informiert‘ anerkannt zu werden: „Schlappen oder Stelzen?“ Die Lektüre der
Literatur schult uns. Sie stimmt uns ein auf die Gepflogenheiten. Sie bereitet
uns vor auf das, was uns erwartet. Lesen sozialisiert.
6. Gelesene Literatur kann als ‚intellektuelles Kleingeld‘ verwandt werden, das
leicht ausgegeben werden kann, um Zeichen zu setzen: Man zitiert, um das eigene
Lager anzuzeigen; man benutzt Textstellen als Abzeichen, als Identifikations- und
7.1 Lesen 175

Abgrenzungssignale. Mit der Nennung großer Namen werden Bindungen und


Loyalitäten für bestimmte Meinungen und Anschauungen bekundet.

Die Liste an Zugewinnen, die uns das Lesen beschert, sollte Anreiz sein, sich Zeit
und Muße für ausgiebige Lektüren zu nehmen. Wer beim Lesen seine Frage bereits
im Hinterkopf hat, kann bei der Lektüre sein konkretes Anliegen immer wieder an
den gelesenen Text herantragen. Er kann problemorientiert lesen und fragen: „In
wieweit hilft das Gelesene mir bei der eigenen Argumentation weiter? Passen die
im Text geäußerten Ideen zu meinen eigenen? Schärfen und bestärken Sie mein
Wissen oder verunsichern und widerlegen sie es? Muss ich meine Ideen nach der
Lektüre womöglich umformulieren und nachbessern?“

7.1.2 Lesen als Horizonterweiterung und als Zugang zur


Vielfalt des Imaginären

Die Schrift erweitert die Kommunikation über den Bereich des in der mündlichen
Kommunikation Sag- und Erinnerbaren hinaus. Sie schafft Raum für Bereiche
jenseits der Gegebenheiten. Bücher ermöglichen Anschluss an das Denken und
Erleben von Menschen, die anderswo, zu anderen Zeiten, unter anderen Bedin-
gungen, in Gemeinschaft mit anderen Mitmenschen leben. So erweitert sich im
Lesen auch der eigene Horizont in jeder nur denkbaren Hinsicht: zeitlich, sachlich,
sozial und räumlich.
Die Schrift ermöglicht Freiheit im Denken. Sie stärkt den Sinn fürs Mögliche,
Vorstellbare, Kontingente, Zufällige bis Irreale. Bücher eröffnen in der Tat die un-
endliche Vielfalt des Imaginären und relativieren damit die Bedeutung des Realen.
Das gilt nicht nur für die Lektüre literarischer Texte, bei der wir auf erfundene Cha-
raktere und Ereignisse treffen. Es gilt auch für die Lektüre wissenschaftlicher Texte:
Beim Lesen von Forschungsberichten bekommt man z. B. statistische Größen
präsentiert, die es jenseits dieses Genres gar nicht gibt. Man begegnet Durchschnitts-
menschen, man lernt Durchschnittseinkommen, Durchschnittsalter oder relative
Armutsgrenzen kennen, die man nirgendwo sonst in der Welt zu Gesicht bekommt.
176 7 Lesen und Schreiben

Hansen

Auch beim Lesen theoretischer Texte treffen wir auf Imaginäres, z. B. auf die Ku-
riosität des Unbewussten, des Verdrängten, des Tabuisierten und des Latenten.
Auf fantastische Weise werden derartige Unsichtbarkeiten vorstellbar gemacht.
Mehr noch: Aufgrund der nachlesbaren Vorstellungen werden Entscheidungen
getroffen, Handlungen veranlasst, Maßnahmen ergriffen, Therapien verordnet …
7.1 Lesen 177

Manches Lesen eröffnet uns auch die Möglichkeit, in unendliche Fernen zu


reisen. Das Lesen löst uns aus dem Hier und Jetzt und trägt uns in Räume, die wir
nie wirklich betreten werden, weil wir nie dort hinkommen könnten oder weil es
sie in Wirklichkeit gar nicht gibt. Bücher spannen in realen Räumen imaginäre
Räume auf. In wissenschaftlichen Texten lesen wir z. B. etwas über die Grenzen des
Universums, über schwarze Löcher oder gekrümmte Räume, die wohl kein Mensch
je betreten wird. Es handelt sich hierbei um errechnete Räume, die angeblich unser
Verständnis von unserem kleinen, begrenzten, irdischen Lebensraum ‚vertiefen‘.
Bücher machen das, was sie mit dem Raum machen, auch mit der Zeit. Sie lösen
uns aus dem Chronos des gelebten Lebens und lockern die Aufdringlichkeit des
Jetzt. Sie führen uns in Zeiten jenseits der aktuellen Gegenwart. In Büchern lesen wir
Geschichte und Geschichten von der Vergangenheit und von der Zukunft – obwohl
niemand von uns in die Vergangenheit zurückgehen und niemand von uns in die
Zukunft vorlaufen kann. Wir alle sind ans Hier und Jetzt gebunden. Historische
Berichte, Theorien vom Urknall (Big Bang), Trendforschungen, Hochrechnungen,
Zukunftsprognosen und -szenarien, in all diesen Texten begegnet uns eine Zeit
jenseits der einzig realen, unserem Handeln zugänglichen Zeit: dem Jetzt.
In der Einsamkeit des Lesens treffen wir manchmal auf unsere Vorfahren, die
bereits verstorben sind, und auf Mitmenschen, denen wir außerhalb der Lektüre
niemals begegnen werden. Viele Texte konfrontieren uns mit den Kindern unserer
Kinder, mit unseren Nachkommen, die wir niemals kennenlernen werden. So wim-
melt es in Büchern von Personen, deren Realität außer Frage steht, deren Realität
von uns aber nicht real erfasst werden kann. Es wimmelt von Personen, die uns
ihre Ansichten mitteilen, obwohl sie in anderen Sphären leben, lebten oder leben
werden. Es ist eine fantastische Welt, die uns das Bücherlesen bietet: eine dicht
bevölkerte und dennoch einsame, eine zutiefst paradoxe Welt.
Eine weitere Paradoxie des Lesens besteht darin, dass Lesen uns von der Welt
ablenkt und uns zugleich verspricht, in der Ablenkung von ihr einen Sinn für sie
zu finden. LeserInnen wenden sich von der Welt ab und dem Buch zu. Sie wenden
sich aus dem Hier und Jetzt in andere Sphären und andere Zeiten. Sie wenden sich
von den mit ihnen lebenden Menschen ab und anderen Sozialitäten zu: fremden
AutorInnen und ihren HeldInnen. Wenn LeserInnen sich wieder vom Geschriebenen
ab und der realen Welt zuwenden, soll die Lektüre sie fürs Leben bereichert haben.
Die Lektüre der Fachliteratur verspricht eine Bereicherung für den beruflichen
Alltag und fürs professionelle Handeln.
178 7 Lesen und Schreiben

7.1.3 Lesen als eine versteckte Form der Selbstreferenz


Es gibt keine guten Texte – außer Du findest sie (gut).

Lesen ist eine versteckte Form der Selbstreferenz. Wir glauben, beim Lesen mit den
Gedanken des Autors oder der Autorin verbunden zu sein. Dabei sind und bleiben
wir ganz und gar bei uns, in unserer Gedanken- und Vorstellungswelt. Beim Lesen
wird aufgrund äußerer Reize in Form von Schriftzeichen ein je eigenes Denken
und Erleben angeregt, nicht aber instruiert. Das bedruckte Papier, die Zeichen,
die wir wahrnehmen, schenken keinen Sinn, sie bekommen vielmehr einen Sinn
verliehen – durch uns als Lesende. Sie bekommen eine Bedeutung zugeschrie-
ben. Lesende sind Zuschreibende. Ohne sie stünden die Bücher nichtssagend
in den Regalen. Ohne sie wären die Bücher ein Haufen stummen, bedruckten,
allmählich vergilbenden und verstaubenden Papiers. Erst wenn die Bücher oder
Zeitschriften in die Hand genommen und gelesen werden, entsteht Sinn. Lesen
ist eine Konstruktionsleistung. Es schafft das Gelesene. Lesen führt nie zu einer
1:1-Reproduktion dessen, was eine Schreiberin oder ein Schreiber an Sinn in die
Schrift hineingelegt hat. Lesen ist kein reproduktiver, sondern ein produktiver, ein
kreativer, ein höchst individueller, von

t den eigenen (Lese-)Erfahrungen,


t dem eigenen Vorwissen,
t den eigenen Lesefähigkeiten und
t den eigenen Zielsetzungen des Lesens abhängiger Akt.

Lesen ist kein passiv-rezeptives Geschehen, sondern ein aktiver Prozess des Hervor-
bringens von Sinn und Bedeutung. LeserInnen müssen sich alles, was beschrieben
wird, vorstellen. Die LeserInnen erst machen den Sinn, nicht die SchreiberInnen.
Das ist die Gemeinheit im Verhältnis beider.
Bücher, Zeitschriften, Zeitungen oder sonstige Druckwerke werden unter-
schiedlich benutzt: Die einen nehmen Bedrucktes in die Hand, ohne es zu lesen
und benutzen es, um darin etwas einzupacken, um damit etwas aufzuwischen
oder abzustützen. Andere lesen zwar, überfliegen das Geschriebene aber nur und
vergessen es sogleich wieder. Es dient ihnen der kurzweiligen Ablenkung. Andere
lesen, um sich zu bilden. Sie wollen ihren Horizont und ihr Wissen erweitern. Sie
wollen womöglich mithilfe des Lesens ihr Leben und ihr Wesen verändern. Sie
nehmen das Geschriebene/Gelesene ernst. Dem einen genügt es, wenn er das an-
gelesene Wissen in seinem Kopf weiß. Der andere versichert sich dieses Wissens,
indem er gelesene Bücher und Texte in seine Regale und Schränke stellt. Wieder
7.1 Lesen 179

andere suchen sich beim Lesen nur die Informationen heraus, die ihre Sicht der
Dinge bestätigen. Andere legen nur Wert auf Katastrophen und Skandale. Dem
einen dient das Lesen als Selbstbildung, dem anderen als Selbstbestätigung, wieder
anderen als Selbstalarmierung. Wozu auch immer wir Bücher, Zeitschriften, Zei-
tungen oder sonstige Druckwerke benutzen, wir können ihnen nur das entnehmen
und in uns lebendig werden lassen, was uns vor der Lektüre bereits beschäftigt hat.
Lesen sammelt immer das, „was ohne Wissen einst schon unser Wesen in Anspruch
genommen hat“ (Heidegger 1954/1983:11).
Es gibt viele Gründe, ein Buch oder eine Zeitschrift zur Hand zu nehmen – oder
es zu lassen. Wichtig ist die Einsicht, dass Lesen ein einsames und eigenwilliges,
einmaliges Tun ist, ein Suchen und Sammeln von Ideen, eine Auslese, für die es
keine Universalstrategie der Optimierung oder Perfektionierung geben kann, weil
es stets an die Selbstreferenz der Lesenden gebunden bleibt. Wer studieren möchte,
muss sich seinen eigenen Zugang zur Lektüre erarbeiten. Er muss den für ihn
gangbaren Weg in die Welt des geschriebenen wissenschaftlichen Wortes finden.

7.1.4 Der eigene Weg in die wissenschaftliche Lektüre

1. Jeder muss sein Lesen selbst organisieren. Man könnte damit beginnen, etwas
übers Lesen zu lesen, Leseforschung zu rezipieren und Lesehilfen zu studieren. Aber
dafür sollte man bereits lesen können oder bereit sein, es auf diesem Wege zu lernen.
Man könnte auch versuchen, sein Lesen an folgenden Ratschlägen auszurichten:

t Überfliegen Sie den Text erst einmal und verschaffen Sie sich einen groben
Überblick.
t Stellen Sie Fragen an den Text. Beantworten Sie zumindest die Frage: „Worum
geht es in diesem Text eigentlich?“
t Lesen Sie sodann gründlich und notieren Sie sich stichwortartig die Kernaus-
sagen, Definitionen, Grundbegriffe sowie die offenen Fragen und möglichen
Kritikpunkte.
t Rekapitulieren Sie das Gelesene. Formulieren Sie Ihre Notizen aus.
t Reflektieren, repetieren und rekapitulieren Sie das Gelesene, Notierte und
Ausformulierte.
t Diskutieren Sie die Aussagen, die Sie dem gelesenen Text entnommen haben.
180 7 Lesen und Schreiben

2. Jeder muss seine Aufmerksamkeit beim Lesen selbst dosieren. Lesen kann in un-
terschiedlichen Aufmerksamkeitsgraden sinnvoll sein. Wir unterscheiden:

t Kursorisches Lesen/Schnelllesen – Man liest das Buch ‚diagonal‘, um sich einen


Überblick zu verschaffen. Man schaut nach den relevanten Termini, den Schlüs-
selbegriffen, achtet auf Grafiken und Tabellen, die benutzt werden.
t Selektives Lesen – Man liest einzelne Passagen, wenn möglich die Einleitungen
zu Anfang und die Zusammenfassungen am Ende der Kapitel, falls vorhanden.
t Gründliches Lesen – Beim gründlichen Lesen arbeitet man in der Regel mit Text-
markern, um wichtige Passagen kenntlich zu machen und/oder man exzerpiert
beim Lesen die wichtigen Inhalte. Schwierige Texte sollten zunächst einmal in
Gänze gelesen werden, um sie dann in einem zweiten (vielleicht auch dritten)
Durchlauf intensiv zu lesen. Das vorgängige Komplettlesen eines Textes erleichtert
das nachfolgende Exzerpieren. Um das Gelesene nachhaltiger aufzunehmen, hilft
neben dem Aufschreiben oft das Über-das-Gelesene-Reden. Versuche, Dritten
das Gelesene verständlich zu machen, können eigene Verständnislücken oder
auch offene Fragen, die der Text hinterlässt, kenntlich machen.
t Vergleichendes Lesen – Man belässt es nicht bei der Lektüre eines Autors oder
einer Autorin zu einem Thema, sondern zieht weitere AutorInnen hinzu. Der
Vergleich des bei unterschiedlichen AutorInnen Gelesenen bietet enorme Er-
kenntnischancen. Man erweitert und vertieft auf diese Weise nicht nur das eigene
Verständnis für die Thematik, man kommt auch den Konstruktionsleistungen
und der Selektivität der AutorInnen auf die Spur. Man gewinnt Einblicke in
unterschiedliche Schreib- und Argumentationsweisen.

3. Jeder muss sein Lesetempo selbst bestimmen. Da in vielen Studienratgebern das


Nützlichkeitsdenken dominiert, betonen sie durchweg das schnelle und viele Lesen
als einen wesentlichen Aspekt effektiven Lesens. Vielleicht sollte man auch hier,
wie in vielen anderen Bereichen des Lebens, die Gegenseiten nicht aus den Augen
verlieren und als gangbare Wege ernst nehmen:

t die Wiederentdeckung der Langsamkeit als eine Gegenstrategie zum Im-


mer-schneller,
t die Wiederentdeckung der Bedeutsamkeit als eine Gegenstrategie zum Im-
mer-mehr,
t die Wiederentdeckung des ziellosen Schnüffelns als eine Gegenstrategie zum
Immer-Zielgerichteteren,
7.1 Lesen 181

t die Wiederentdeckung des Unnützen und Nutzfreien als eine Gegenstrategie


zum Immer-Effektiveren.

4. Jeder muss das eigene Verstehen verstehen lernen. So, wie es unterschiedliche
Typen von Autorinnen und Autoren und unterschiedliche Textsorten gibt, so gibt es
auch unterschiedliche Typen von Leserinnen und Lesern, die mit unterschiedlichen
Interessen, Vorstellungen und Fragen an einen Text herangehen.

t LeserInnen müssen via Selbstbefragung für sich selbst herausfinden, welcher


Lesetyp sie sind und welchen Interessen, Vorstellungen und Fragen sie folgen
und welche sie eher vernachlässigen.
t Das Verstehen eines Textes bedeutet, eine Lesart zu entwickeln, einen Zugang
zum Denken des Autors oder der Autorin auszumachen, einen Schlüssel zum
Entschlüsseln der Botschaften zu finden. Ein Text, der einem zunächst als fremd-
artig, voller Widersprüche, fragwürdig oder tendenziös begegnet, ist verstanden,
wenn man eine Lesart, einen Zugang, einen Schlüssel für ihn gefunden hat.
t Es gibt keinen festen Grund für ein ‚richtiges‘ Verständnis, aber viele Gründe,
die Vorstellung von einem einzig richtigen Verständnis zu boykottieren. Man
wird das ‚richtige‘ Verständnis kaum finden. Und wenn man es fände, wüsste
man es nicht.
t Etwas verstehen heißt herauszufinden, wie etwas gemacht wurde (vgl. Ernst von
Glasersfeld 1991:23). Sie haben einen Text ‚geknackt‘, wenn Sie sagen können,
was der Autor oder die Autorin aus welchem Grund, wozu und wie gemacht hat.

5. Jeder muss sein Vergessen und Behalten sortieren. Die meisten Studienratgeber
betonen die Wichtigkeit des Behaltens. Sie unterschlagen damit die Wichtigkeit des
Vergessens. Auch im wissenschaftlichen Leben würde schnell zu viel zusammen-
kommen, wenn man nicht zwischendurch vergäße. Die Funktion des Gedächtnisses
ist nicht das Erinnern, sondern die Sortierung zwischen Erinnern und Vergessen.
Und was Sie nicht sortiert bekommen, das können Sie vergessen.
Lesen ist eine der wichtigsten Tätigkeiten im Rahmen des wissenschaftlichen
Denkens und Arbeitens. Es formt unser Selbstbild als WissenschaftlerIn und unsere
Idee von Wissenschaft. Es liefert Denkanstöße für Diskussionen und Materialien
fürs Schreiben. Doch es ist eine höchstpersönliche Tätigkeit, die sich nicht stan-
dardisieren und auch durch aufgesetzte Trainings nicht effektivieren lässt. Das
Lesen ist nur durch Selbststeuerung in eine brauchbare Form zu bringen. Jeder
182 7 Lesen und Schreiben

Leser und jede Leserin ist selbst verantwortlich dafür, wie weit er oder sie sich in
der Kunst des Lesens übt.
Erfolgreiches Lesen – was immer das meint – lässt sich durch gut gemeinte
Ratschläge nicht herbei empfehlen. Die Ratschläge, die niedergeschrieben werden,
werden ebenfalls gelesen und unterliegen – wie gut gemeint und raffiniert verpackt
sie auch sein mögen – damit dem Umstand, dass jeder beim Lesen nur versteht,
was er versteht und aus diesem Verstehen macht, was er daraus macht. Das ist der
unvermeidliche Stachel im Fleisch der AutorInnen von Ratgebertexten.

7.1.5 Lesen im wissenschaftlichen Kontext

Lesen ist im wissenschaftlichen Kontext nicht einfach nur eine allgemeine Kultur-
technik, sondern zentrale professionelle Tätigkeit, die man nicht dem Zufall über-
lassen möchte. Wie bei jeder fachlichen Fertigkeit werden auch hier – eingedenk
des oben Gesagten – bezüglich des ‚richtigen‘ Lesens Empfehlungen ausgesprochen,
die allerdings nicht als How-to-do-Anweisungen zu verstehen sind, sondern als
Einladungen, sie auszuprobieren, um sich und seinem Lesestil auf die Spur zu
kommen. In diesem Sinne:

1. Lesen Sie nicht einfach drauflos, sondern klären Sie, wozu Sie lesen. Wollen Sie eine
erste Orientierung zu einem Thema gewinnen oder lesen Sie, um sich vertiefend
mit einem Thema auseinanderzusetzen? Lesen Sie kursorisch oder bereits problem-
orientiert? Lesen Sie, um bestimmte Begriffe, Systematiken, Konzepte, Ansätze
zu klären, oder suchen Sie nach Daten, Fakten, Beispielen? Interessieren Sie sich
mehr für das methodische Vorgehen eines Autors oder einer Autorin oder für die
Ergebnisse ihrer Arbeit? Was lesen Sie? Konzentrieren Sie sich ausschließlich auf
die Beiträge, die direkt zur Schärfung und Erklärung Ihres Argumentationsgangs
beitragen, oder lesen Sie auch die Beiträge, die Ihr Thema eher weitläufig betreffen?
Wagen Sie sich an die Originalquellen und Primärtexte, oder geben Sie sich mit
Übersetzungen oder Sekundär- oder gar Tertiärliteratur zufrieden? Klären Sie vor-
weg Ihr Leseinteresse. So verhindern Sie ein orientierungsloses, verschwenderisches,
zeitraubendes Herumlesen.

2. Versuchen Sie, Texte grafisch durchzuarbeiten. Es kann hilfreich sein, die Texte
grafisch und farblich zu markieren, so dass wichtige oder kritische Passagen
hervorgehoben werden. Dazu sollten Sie einem System folgen, indem etwa das
Wichtige mit einer durchgezogenen Linie waagerecht unterstrichen, bei längeren
Passagen mit einer senkrechten durchgezogenen Linie seitlich kennzeichnet wird.
7.1 Lesen 183

Stellen, die sich für Zitate eignen, sollten Sie [in eckige Klammern setzen]. Für
Kernbegriffe und Schlagworte könnten Umkreisungen eingesetzt werden. Für
die Stellen, die es zu kritisieren gilt, empfehlen sich waagerechte und senkrechte
Schlangenlinien im Text oder am Textrand. Viele benutzen Symbole wie etwa das
Rufzeichen fürs Wichtige, das Fragezeichen fürs Unverständliche, das Blitzzeichen
fürs Kritisierungsbedürftige. Um einen Text grafisch durchzuarbeiten, empfehlen
sich ebenfalls Einfärbungen mit farblich unterschiedlichen Textmarkern. Oft sind
Klebezettel hilfreich, die man an den Rand der Texte klebt, um darauf stichwortar- zu Kap. 7

tig Notizen zu schreiben. Die grafische Bearbeitung eines Textes ersetzt allerdings
nicht das Exzerpieren.

3. Versuchen Sie, das Gelesene zu exzerpieren. Halten Sie die bei der Lektüre ge-
wonnenen Einsichten möglichst sofort schriftlich fest, ob auf Karteikarten oder
als (Hyper-)Textdateien auf Ihrem Computer, das bleibt Ihnen und der von Ihnen
bevorzugten Arbeitsweise überlassen. Wichtig aber ist, dass Sie möglichst früh
damit beginnen, sich eine eigene Datenbank anzulegen.
Niemand kann sich alles merken, was er in Vorlesungen und Seminaren hört oder
in Büchern und Zeitschriften liest. Studierende sollten deshalb unbedingt gleich zu
Beginn des Studiums auf Merkhilfen zurückgreifen und das einmal Gehörte und
Gelesene festhalten. Merken heißt notieren. Lesen ohne Merkzettel ist ein Unding.
Als Merkhilfe notieren Sie am besten

t alle wichtigen bibliographischen Angaben (Buch-/Aufsatztitel, Verfasser, Er-


scheinungsort, Erscheinungsdatum, Signatur/ISBN, Standort, Ablageort) und
t die Kernthematik bzw. den Untersuchungsgegenstand, mit dem sich der Text
beschäftigt (siehe dazu u. a. Titel, Abstract, Zusammenfassung; Schreiben Sie
die Argumentationsstruktur in groben Zügen auf.).
t Notieren Sie die wesentlichen Aussagen/Inhalte thesenartig. Machen Sie die
Zitate durch Anführungszeichen kenntlich und versehen Sie sie mit vollstän-
digen Quellenangaben.
t Notieren Sie sich offene Fragen: Was hat der Text nicht hergegeben? Was blieb
unverständlich? Was ist kritikwürdig?

Wer es schafft, sein Lesen derart in Exzerpte zu überführen, wird sich nie fragen
müssen: „Wo stand das noch?“ Er mag seine eigene Vergesslichkeit vergessen, denn sein
analoger oder digitaler Zettelkasten dient fortan als sein ausgelagertes Gedächtnis.

4. Legen Sie das exzerpierte Material sinnvoll ab. Egal, ob Sie Ihre Ablage als Kartei-
oder Zettelkästen, als Ordner in Regalen oder als Ordner und Dateien auf Ihrem
184 7 Lesen und Schreiben

Rechner anlegen, legen Sie sie so an, dass Sie einen schnellen und gezielten Zugriff
darauf haben. Das verlangt, die Zettel zu verzetteln, d. h. sie mit Verweisen auf
jeweils andere Zettel zu versehen. Das Verzetteln der beim Lesen gesammelten
Ideen ist eine bewährte Strategie, die Komplexität des wissenschaftlichen Univer-
sums halbwegs in den Griff zu bekommen. Ohne die Hilfe eines Ordnungs- und
Verweisungssystems kommen Sie in der Wissenschaft auf Dauer nicht aus. Ihr
Ordnungs- und Verweisungssystem dient der Übersicht, der Sammlung und Sortie-
rung, und – bei hinreichender Eigenkomplexität des Ordnungssystems – auch der
eigenen Überraschung: Man findet nicht nur, was man sucht, sondern trifft bei der
Durchsicht auch auf Ideen, die im Moment des Wiederauffindens einer Notierung
ganz andere Verknüpfungsmöglichkeiten bieten als im Moment der Erstellung
der Notiz. Wenn Sie den eigenen Verzettelungen, den Verweisen aufgrund der
Schlagworte, die Sie irgendwann einmal Ihren Exzerpten verliehen haben, folgen,
begeben Sie sich, wie Krajewski sagt, auf eine „Erinnerungsreise durch das eigene
Textgedächtnis“ (2013:67), auf einen „enzyklopischen Spaziergang“ (ebd.:70) und
dürfen dabei durchaus mit Überraschungen rechnen (vgl. Luhmann 1993b).

5. Legen Sie sich von Beginn an Karteien zu der von Ihnen gelesenen Literatur an und
pflegen Sie diese sorgfältig. Sie werden sie für alle späteren Arbeiten noch einmal
gut gebrauchen können.
Die Karteien sind Ihr externes Gedächtnis. Es sind Erinnerungen, auf die Sie
im Bedarfsfall zugreifen können. Gut geführte Karteien können enorm viele In-
formationen auffangen, die ohne die Karteien verloren gingen. Karteien können
nach unterschiedlichen Prinzipien angelegt werden:
t Gliederungskarteien sammeln Materialien unter den Gliederungspunkten der
je aktuellen Arbeit, die nach der Materialsammlung ausgearbeitet werden.
t Verfasser- und Schlagwortkarteien sammeln Materialien nach AutorInnen oder
Schlagworten.
t Sachkarteien ordnen Materialien, ähnlich wie die Schlagwortkartei, nach
Sachthemen. Aus einer Sach- bzw. Schlagwortkartei ist zu ersehen, zu welchen
Schlagworten, Themen, Problemen etc. in welcher Literatur relevante Informa-
tionen zu finden sind.
t In den Karteien sollten Sie immer auch auf die von Ihnen erstellten Exzerpte
verweisen.
t Exzerpte fassen Bücher oder Texte in Kurzform zusammen. Sie werden gesam-
melt und in eigenen Ordnern so abgelegt, dass in den Karteien auf sie verwiesen
werden kann.
t Buchzeichen klebt man als Textmarkierungen in die gelesenen Bücher ein, so
dass die relevanten Stellen schnell wiederzufinden sind.
7.1 Lesen 185

t Ordner nehmen die gesammelten Informationen und Daten in analoger und/


oder digitaler Form auf.
t Das wissenschaftliche Tagebuch dient dazu, täglich die wichtigsten Erkenntnisse
und neuesten Einsichten zu notieren und zu kommentieren (vgl. Portfolio in
Kap. 9.2.3).

6. Legen Sie sich eine Lesart zu. Denken Sie daran: Es geht beim Lesen darum, den
Sinngehalt des Geschriebenen zu ‚verstehen‘, den Text zu ‚entschlüsseln‘, das meint,
sich eine Lesart zuzulegen. Sie sollen nicht nur das Geschriebene dekodieren und die
Worte nachsprechen können, Sie sollen dem Geschriebenen auf nachvollziehbare
Weise Sinn und Bedeutung verleihen.

7. Übersetzen Sie das Gelesene in mögliche Prüfungsfragen und passende Antworten.


Im Studium dient das Lesen häufig der Vorbereitung auf Prüfungen. In diesen
Fällen empfiehlt es sich, das Gelesene in mögliche Prüfungsfragen zu übersetzen
und die passenden Antworten zu den Fragen zu formulieren.

7.1.6 Wissenschaftliche Textsorten

Wissenschaftliche Arbeit ist vorwiegend Arbeit mit und an Texten. Um welche


Texte geht es? Wir unterscheiden in erster Linie folgende schriftliche Werkformen:

t Primärliteratur: die Originale/die Klassiker,


t Sekundärliteratur: die Interpretationen der Originale/der Klassiker,
t Tertiärliteratur: die Kommentare zu den Interpretationen der Originale/
der Klassiker.

Als wissenschaftlich relevante Textsorten unterscheiden wir weiterhin:

t Instruktive Texte: Handlungsanleitungen, z. B. Verkehrsordnungen, Rezepte,


Bedienungsanleitungen etc.;
t Deskriptive Texte: Detaillierte Beschreibungen gewisser Weltausschnitte, z. B.
Beschreibungen des Verhaltens von Menschen, des Vollzugs von Ritualen; Be-
schreibungen von physikalischen Erscheinungen oder Versuchsanordnungen etc.;
t Narrative Texte: Erzählungen – nicht nur in der Belletristik, auch in der wis-
senschaftlichen Literatur treffen wir auf Erzählungen, wenn z. B. Entwicklungs-
prozesse oder Forschungserfahrungen beschrieben werden;
186 7 Lesen und Schreiben

t Expositorische Texte: Erklärungen, Darlegungen und Erörterungen. Begriffe


werden definiert, Zusammenhänge erklärt, Theorien vorgestellt und diskutiert
– oft mit grafischen Veranschaulichungen;
t Argumentierende Texte: Hierbei handelt es sich um Texte, die eigene Standpunkte
darlegen und begründen oder sich mit Behauptungen, die in anderen Texten
vertreten werden, auseinandersetzen. Hier werden Argumente geprüft und
kritisiert, Gegenargumente werden formuliert und abgewogen.

Der wissenschaftlichen Arbeit stehen unterschiedliche Quellen und Materialien


zur Verfügung. Wir unterscheiden Werkformen in erster Linie nach

t selbstständig erschienenen (selbstständig verfasste Bücher, Monographien in


Buchdruckform, als E-Book, als Book-on-Demand, als Online-Publikation) und
t nicht-selbstständig erschienenen Werken (Werke, die innerhalb anderer Werke
publiziert wurden, z. B. in Zeitschriften, Aufsatzsammlungen, Anthologien,
Kongressberichten, Festschriften, Zeitungen, Sammelbänden. Sonderfälle sind
sogenannte Herausgeberbände, in denen ein oder mehrere AutorInnen eigene
Arbeiten zusammenstellen und gesammelt herausgeben.).

Im Einzelnen unterscheiden wir:

t Nachschlagewerke, z. B. Enzyklopädien97 und Konversationslexika98, Fremd-

97 Enzyklopädien sind keine Sach- oder Fachlexika; sie behandeln Themen aller Wissens-
gebiete in einer allgemein verständlichen Sprache.
98 Z. B.:
t Brockhaus (2006): Enzyklopädie in 30 Bänden. 21., völlig neu bearb. Aufl., Leipzig,
Mannheim: Brockhaus.
t Brockhaus (2010): Das Taschenlexikon in 24 Bänden. Gütersloh, München: Brockhaus.
t Brockhaus (2011): Der große Brockhaus in einem Band. 5., vollst. aktual. u. überarb.
Aufl., Gütersloh, München: Brockhaus.
t Die Zeit (2005): Das ZEIT-Lexikon in 20 Bänden. Hamburg: Zeitverlag.
t dtv-Lexikon (2006): dtv-Lexikon in 24 Bänden. Gütersloh, München: Wissen Media
und Deutscher Taschenbuch Verlag.
t Encyclopaedia Britannica (2011): The New Encyclopaedia Britannica. Chicago:
Encyclopaedia Britannica Inc.
t Meyers (2007): Meyers Universallexikon. Mannheim: Meyers Lexikonverlag.
t Meyers (2006): Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden. 10., neu bearb. u. erw.
Aufl., Leipzig, Mannheim: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus.
7.1 Lesen 187

sprachwörterbücher99, Fremdwörter-Lexika100, Fachsprachwörterbücher101,


Fachlexika102, Fachhandwörterbücher103. Neben den Sachlexika gibt es Perso-

99 Sehr viele Fremdsprachwörterbücher finden Sie im Langenscheidt- und PONS-Verlag.


100 Z. B.
t Duden (2007): Das große Fremdwörterbuch: Herkunft und Bedeutung der Fremd-
wörter. 4., aktual. Aufl., Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag.
t Wahrig -Burfeind, R. (2010): Wahrig Fremdwörter-Lexikon. 7., vollst. neu bearb. u.
aktual. Aufl., Gütersloh, München: Wissen-Media-Verlag.
101 Z. B.
t Büchin-Wilhelm, I., Jaszus, R. (2011): Fachbegriffe für Erzieherinnen und Erzieher.
7., neu bearb. u. erg. Aufl., Stuttgart: Holland + Josenhans.
t Strack, R. (2013): Grundwortschatz für Pflegeberufe. 10., aktual. Aufl., Stuttgart:
Kohlhammer.
102 Z. B.
t Mulot, R. (2011): Fachlexikon der sozialen Arbeit. Herausgegeben vom Deutschen
Verein für Öffentliche und Private Fürsorge e.V. 7., völlig überarb. u. aktual. Aufl.,
Baden-Baden: Nomos.
t Paket Soziale Arbeit (2011): Gesetze für die Soziale Arbeit + Fachlexikon der sozialen
Arbeit. Baden-Baden: Nomos.
t Bauer R. (Hrsg.) (1996): Lexikon des Sozial- und Gesundheitswesens. 2. Aufl.,
München: Oldenbourg.
t Tenorth, H.-E., Tippelt, R. (Hrsg.) (2012): Beltz Lexikon Pädagogik. Studienausgabe.
Weinheim, Basel: Beltz.
103 Z. B.
t Otto, H.-U., Thiersch, H. (Hrsg.) (2011): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der
Sozialarbeit und Sozialpädagogik. 4., völlig neu bearb. Aufl., München: Reinhardt.
t Albrecht, G., Groenemeyer, A. (Hrsg.) (2012): Handbuch soziale Probleme. 2 Bde.
2., überarb. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
t Kreft, D., Mielenz, I. (Hrsg.) (2013): Wörterbuch Soziale Arbeit – Aufgaben, Pra-
xisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. 7., vollst.
überarb. u. aktual. Aufl., Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
t Mau, S., Schöneck-Voß, N.M. (Hrsg.) (2013): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutsch-
lands. 3., grundl. überarb. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
t Schäfers, B., Zapf, W. (Hrsg.) (2001): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands.
2., erw. u. aktual. Aufl., Opladen: Leske + Budrich.
t Pousset, R. (Hrsg.) (2006): Handwörterbuch für Erzieherinnen und Erzieher. Wein-
heim, Basel: Beltz.
t Andresen, S., Casale, R., Gabriel, T., Horlacher, R., Larcher Klee, S., Oelkers, J. (Hrsg.)
(2009): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim, Basel: Beltz.
t Rost, D. h. (Hrsg.) (2010): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. 4., überarb.
u. erw. Aufl., Weinheim, Basel: Beltz.
t Frietsch, U., Rogge, J. (Hrsg.) (2013): Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen
Arbeitens: ein Handwörterbuch. Bielefeld: transcript.
188 7 Lesen und Schreiben

nenlexika104, Werklexika105 und begriffsgeschichtliche Wörterbücher106;


t Bibliothekskataloge, z. B. Formalkataloge (Schlagwort-/Stichwortkataloge) und
Systematische Kataloge (Standortkatalog, Kreuzkatalog);
t Bibliographien, z. B. Allgemeinbibliographien, Spezialbibliographien, Buchhan-
delsbibliographien107, Bibliographiebibliographien;
t Amtliche Veröffentlichungen wie Gesetzgebungen, Rechtsprechungen, Verwal-
tungsrichtlinien;

t Löcher, J. (Hrsg.) (2012): Handwörterbuch Grundsicherung für Arbeitsuchende:


SGB II. Baden-Baden: Nomos.
t Löcher, J., Bieresborn, D. (Hrsg.) (2013): Handwörterbuch Sozialhilferecht: SGB XII.
Baden-Baden: Nomos.
t Hillmann, K.-H. (2007): Wörterbuch der Soziologie. 5., vollst. überarb. u. erw. Aufl.,
Stuttgart: Kröner.
t Endruweit, G. (Hrsg.) (2002): Wörterbuch der Soziologie. 2., völlig neubearb. u. erw.
Aufl., Stuttgart: Lucius & Lucius.
t Fröhlich, W.D. (2010): Wörterbuch Psychologie. 27., überarb., aktual. u. erw. Aufl.,
München: Deutscher Taschenbuch-Verlag.
t Kopp, J., Schäfers, B. (Hrsg.) (2010): Grundbegriffe der Soziologie. 10. Aufl., Wies-
baden: VS Verl. für Sozialwissenschaften.
104 Z. B.
t Tenorth, H.-E. (2010): Klassiker der Pädagogik. Bd. 1. Von Erasmus bis Helene Lange.
2., durchges. Aufl., München: Beck.
t Tenorth, H.-E. (2012): Klassiker der Pädagogik. Bd. 2. Von John Dewey bis Paulo
Freire. 2., durchges. Aufl., München: Beck.
t Dollinger, B. (Hrsg.) (2012): Klassiker der Pädagogik. Die Bildung der modernen
Gesellschaft. 3., durchges. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
105 ‡ Prange, K. (2008): Schlüsselwerke der Pädagogik. Bd. 1. Von Plato bis Hegel. Stuttgart:
Kohlhammer.
t Prange, K. (2009): Schlüsselwerke der Pädagogik. Bd. 2. Von Fröbel bis Luhmann.
Stuttgart: Kohlhammer.
t Baecker, D. (2005): Schlüsselwerke der Systemtheorie. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften.
106 Z. B.
t Brunner, O., Conze, W., Koselleck, R. (Hrsg.) (2004): Geschichtliche Grundbegriffe:
Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1-8/2,
Stuttgart: Klett-Cotta.
t Benner, D., Oelkers, J. (Hrsg.) (2010): Historisches Wörterbuch der Pädagogik.
Studienausgabe. Weinheim, Basel: Beltz.
107 Z. B.
t www.amazon.de oder
t www.buch.de oder
t www.buchhandel.de;
t www.d-nb.de.
7.1 Lesen 189

t Statistiken und Daten108;


t Monographien, das meint eigenständige Bücher, in sich abgeschlossene Einzel-
schriften, Autoren- oder Verfasserwerke109; hierzu zählen Forschungsberichte,
Habilitationsschriften, Dissertationen, Diplom- und Seminararbeiten, Bachelor-
und Masterarbeiten;
t Mehrbändige Werke, bei denen ein Thema nicht in einem einzelnen Buch – wie
bei der Monographie –, sondern in mehreren Büchern abgehandelt wird, genauer:
in einer begrenzten Anzahl dazu gehörender Bände unter einem gemeinsamen
Titel. Die einzelnen Bücher werden als Band, Teil oder Volume durchnummeriert;
t Schriftenreihen, bestehend aus aufeinander folgenden, in sich abgeschlossenen
Monographien unterschiedlicher Autoren unter einem gemeinsamen Serien-
bzw. Gesamttitel, die einen (nicht unbedingt thematischen) Rahmen vorgeben.
Schriftenreihen sind in ihrem Umfang offen, d. h. sie werden fortlaufend durch
weitere Einzelbücher ergänzt;
t Anthologien, das meint Aufsatzsammlungen eines Autors resp. einer Autorin; sie
können als Monographien (Einzelbücher) oder als mehrbändige Werke vorliegen;
t Gesamtausgaben, das meint ein sich ergänzendes Werk z. B. eines Autors, aufge-
gliedert in aufeinander folgende Bände, die neben dem Gesamttitel eigene Titel
tragen können. Die Werke der Klassiker liegen häufig als Gesamtausgaben vor;
t Sammelbände, in denen unterschiedliche Einzelbeiträge gesammelt sind. Es
handelt sich typischerweise um Herausgeberwerke, d. h. ein oder mehrere
Herausgeber publizieren eine thematisch sortierte Zusammenstellung von
Einzelartikeln unterschiedlicher AutorInnen. Sammelbände gibt es aber auch
als Autorenwerke (Anthologien, s. o.) oder als Festschriften (eine Sammlung von
Beiträgen zu Ehren einer Person oder Einrichtung) oder Kongressberichte und
Konferenzbände (Sammlung der Vorträge einer Tagung);
t Periodika, die fortlaufend und in regelmäßigen Abständen (täglich, wöchentlich,
monatlich, jährlich etc.) erscheinen, z. B. Zeitungen und Magazine, Fachzeit-
schriften, Jahrbücher;

108 Siehe die Web-Seiten des Statistischen Bundesamtes über https://www.destatis.de/DE/


Startseite.html. Siehe auf dieser Seite deren Publikationen, z. B. die Monatszeitschrift
„Wirtschaft und Statistik“ sowie das „Statistische Jahrbuch“.
109 Monografien von Klassikern, die nicht mehr dem Urheberrecht unterliegen, sind z. B.
über Open Library, Project Gutenberg, Wikisource, Zeno, Amazon Kindle-Edition zu-
gänglich. Über Google-Books und Libreka sind etliche Digitalversionen von aktuellen
Monografien teilweise oder vollständig zugänglich.
190 7 Lesen und Schreiben

t Fachzeitschriften110 und Zeitschriften111;


t Graue Literatur, das meint unveröffentlichte Manuskripte, Papers, unveröffent-
lichte Schriften112;
t Anonyme Werke, Werke ohne Autoren-, Urheber- oder Herausgeberangaben;

110 Z. B.
t Arbeitsmarkt Bildung-Kultur-Sozialwesen. Bonn: Wissenschaftsladen Bonn e.V.
t Theorie und Praxis der Sozialpädagogik. Seelze: Friedrich.
t Kindheit und Entwicklung. Zeitschrift für Klinische Kinderpsychologie. Göttingen:
Hogrefe.
t Forum sozial. Berlin: Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. – DBSH.
t Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. Lahn-
stein: Verlag neue praxis.
t Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und
Sozialbereich. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot.
t Sozialmagazin. Die Zeitschrift für Soziale Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa.
t Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie. Göttingen:
Hogrefe.
t Blätter der Wohlfahrtspflege. Deutsche Zeitschrift für Soziale Arbeit. Baden-Baden:
Nomos.
t Sozialwirtschaft. Zeitschrift für Führungskräfte in sozialen Unternehmungen.
Baden-Baden: Nomos.
t merz. medien + erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik. München: kopaed.
t Soziale Arbeit. Zeitschrift für soziale und sozialverwandte Gebiete. Berlin: Deutsches
Zentralinstitut für soziale Fragen.
t Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa.
t Kindergarten heute. Die Fachzeitschrift für Erziehung, Bildung und Betreuung von
Kindern. Freiburg: Herder.
t Kunst und Unterricht. Die Kunstzeitschrift für Lehrer. Seelze: Friedrich.
t Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung. Dortmund: Verlag Modernes
Lernen.
t Pädagogik. Weinheim: Beltz Juventa.
t Zeitschrift für Pädagogik. Weinheim: Beltz Juventa.
t Zeitschrift für Sozialpädagogik. Weinheim: Beltz Juventa.
111 Zeitschriften bestehen aus Einzelbeiträgen, den Zeitschriftenartikeln, in denen die
AutorInnen kurz und knapp ihre wissenschaftlichen Beiträge publizieren. Manche
Fachzeitschriften versuchen, eine komplette Einzelwissenschaft zu repräsentieren,
andere spezialisieren sich thematisch. Einige Fachzeitschriften geben zu bestimmten
Themenschwerpunkten auch einzelne Hefte oder Sonderbände heraus.
112 Siehe http://www.sozialpolitik-aktuell.de. Von dort aus finden Sie einen guten Zugang
zu den ca. 60 Universitäten und über 150 Fachbereichen, Fakultäten und Instituten
(http://www.sozialpolitik-aktuell.de/uni-und-fh.html) sowie den ca. 70 Fachbereichen
Sozialwesen, Sozialarbeit und Sozialpädagogik an den deutschen Fachhochschulen.
7.1 Lesen 191

t Eigenpublikationen, z. B. von Verbänden, Behörden, Institutionen, Parteien,


Kirchen, Fachbereichen etc., auch Körperschaftswerke genannt113;
t Tages- und Wochenzeitungen114;
t Online-Publikationen, das meint Autoren- oder Verlagspublikationen, die sich
wegen der leichteren Korrigierbarkeit, Erweiterbarkeit, Aktualisierbarkeit immer
größerer Beliebtheit erfreuen; problematisch ist diese Publikationsform, weil
sie keine dauerhafte Verfügbarkeit garantiert. Deshalb sollte man in wichtigen
Fällen Papierausdrucke erstellen.

7.1.7 Recherchieren

Recherche meint eine besondere Form des Lesens, nämlich ein Lesen, das Lesen
ermöglichen soll. Die Recherche ist die Suche nach brauchbarem Lesestoff, die Suche
nach geeigneter Literatur, die einem hilft, die angestrebte wissenschaftliche Arbeit
zu bewerkstelligen: Ich lese mir das Lesenswerte für meine Arbeit zusammen.115
Eine solche Suche bzw. Lese steht vor dem Problem, dass die Produktion neuen
Wissens in unserer modernen, medialisierten und globalisierten Gesellschaft ra-
sant zugenommen hat. Die Informationsmenge verdoppelt sich nach Schätzungen
alle zehn bis fünfzehn Jahre, und dabei wird mit der Produktion neuen Wissens
immer auch altes Wissen entwertet. Man schätzt, dass die Halbwertszeit des wis-
senschaftlichen Wissens in manchen Bereichen bereits unter vier Jahre gesunken
ist. Das macht die Suche nach geeigneter Literatur nicht einfach, zumal wenn das
Kriterium der Suche Aktualität sein soll.
Die Informationsflut ist heute – insbesondere für AnfängerInnen – nur mit
Unterstützung zu bewältigen, sei es durch Fachleute, sei es durch Bestandskataloge,
sei es durch Datenbanken, sei es durch Suchmaschinen. Das Internet ist generell
für das wissenschaftliche Recherchieren zu einer unentbehrlichen Informations-
quelle geworden. Hier finden Sie neben aktuellen Informationen zum Zeitgeschehen
(Online-Nachrichtenmagazine) aktuelle statistische Daten über Wirtschaft und

113 Um an die aktuellen Unterlagen zu gelangen, ist es geraten, sich direkt an die gemeinten
Institutionen zu wenden und um Informationsmaterial zu bitten. Ein leichter Zugriff
hier über http://www.sozialpolitik-aktuell.de/links-politik-institutionen-verbaenden.
html, wo über 100 Institutionen gelistet und verlinkt sind.
114 Besonders zu empfehlen sind: Die Zeit. Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Wissen
und Kultur; Süddeutsche Zeitung; Frankfurter Rundschau; Frankfurter Allgemeine
Zeitung. Zeitung für Deutschland; NZZ. Neue Zürcher Zeitung; Handelsblatt. Deutsch-
lands Wirtschafts- und Finanzzeitung; Berliner Zeitung; taz. die tageszeitung.
115 Lesenswert in diesem Zusammenhang: Hofmann 2013.
192 7 Lesen und Schreiben

Gesellschaft (z. B. über das Statistische Bundesamt Deutschland) und zunehmend


auch Basiswissen (z. B. bieten Lexikonverlage Websites und Wissensportale an,
über die Sie einzelne Artikel kostenfrei oder gegen Gebühr abrufen können).
Im Internet finden Sie neben Personendaten (Who is who?) und Gesetzestexten
(amtlichen und nichtamtlichen) auch Online-Enzyklopädien (am populärsten und
bekanntesten: Wikipedia).

Die ungezielte Suche


Für eine gezielte Suche muss man wissen, wonach man sucht, wenn man die Suche
beginnt. Wie aber soll man suchen, wenn man noch gar nicht weiß, wonach man
sucht? Wie klärt man, wonach man sucht? Zu Anfang wohl nur durch eine ungezielte
Suche, die einen auf ein Thema führt, zu dem man dann gezielter suchen kann.
Wenn man im Laufe des Studiums nicht bereits auf ein Thema gestoßen ist, muss
man sich unvoreingenommen ins wissenschaftliche Feld begeben, nach einem
Thema fahnden und sich für ein Thema entscheiden.
Gern benutzt werden in diesem frühen Stadium der Suche allgemeine Suchma-
schinen. Sie verweisen die Suchenden, nachdem sie ihren Suchbegriff eingegeben
haben, auf weitere Seiten, die allerdings nicht aufgrund des Sachverstandes und
Urteilsvermögens von ExpertInnen ausgewählt werden, sondern nach inhaltsneu-
tralen Indizierungsmaßgaben der vorprogrammierten Suchmaschinen. So sucht
eine Maschine z. B. nur nach Stichworten oder sonstigen Daten, die sie zuvor in
ihrer Indexdatei gespeichert hat. Was hier nicht gespeichert wurde, kann sie auch
nicht finden. Die Suchmaschine listet sodann die Suchergebnisse in einer Rangliste
auf, deren Konstruktionsprinzip (aus Konkurrenzgründen) meist nicht offen gelegt
wird (Häufigkeit der Nennung des Suchbegriffs im Text, Nennung des Suchbegriffs
im Titel der Seite, Verlinkung mit anderen Seiten, Bezahlung seitens der Seiten-
betreiber etc.). Der große Vorteil von allgemeinen Suchmaschinen ist freilich der,
dass sie in Sekundenschnelle Milliarden an Webseiten nach dem gewünschten
Suchbegriff durchforsten. Der Nachteil: Sie liefern neben wenigen brauchbaren
Informationen endlos viele unbrauchbare.
Selbst wenn man weiß, welches Thema interessiert und wonach man sucht, hilft
es einem nicht wirklich weiter, weil man nicht weiß, wie die Suchhilfen suchen.
Man muss die ihnen eigene Art ihrer Suche kennen, wenn man sie für die eigene
Suche einsetzen will. Bevor also eine gezieltere Suche gestartet wird, sollte man
sich ein doppeltes inhaltliches Vorwissen aneignen:
7.1 Lesen 193

t Man sollte seinen thematischen Gegenstand identifizieren und möglichst präzise


und breit umschreiben. Man sollte die Prädikatoren bzw. Deskriptoren (Schlag-
worte und Begrifflichkeiten) seines Themas116 herausfinden;
t Man sollte die Sprache der Suchhilfen, die Prädikatoren bzw. Deskriptoren
kennenlernen, unter denen sie das von ihnen gespeicherte Wissen ordnen und
verfügbar machen.

Sie sollten sich gut überlegen, unter welchen Suchbegriffen Sie in welchen Such-
maschinen suchen. Wählen Sie bei Ihrer Suche keine zu doppeldeutigen und zu
allgemeinen Begriffe. Vermeiden Sie ebenfalls zu spezifische Begriffe. Sie können
Ihre Suche ausweiten und zugleich eingrenzen, indem Sie die Suchbegriffe mithilfe
der Booleschen Operatoren verknüpfen. Wählen Sie z. B. in Google die Verknüpfung
„OR“, um alle Seiten angezeigt zu bekommen, auf denen mindestens einer Ihrer
Suchbegriffe zu finden ist (Vereinigungs- bzw. Erweiterungsmengenoption). Wählen
Sie die Verknüpfung „AND“ oder „+“, um alle Seiten angezeigt zu bekommen, die
jeden Ihrer Suchbegriffe ausweisen (Schnittmengenoption). Mit der Verknüpfung
„NOT“ oder „-“ schließen Sie all die Seiten aus, auf denen bestimmte Suchbegriffe
vorkommen (Differenzmengenoption). Die genannten Operatoren lassen sich bei
einer Suchanfrage auch kombinieren: Kulturpädagogik OR Kulturmanagement
AND Bildungsarbeit NOT Schulen. Durch das Setzen von Klammern lassen sich
zusammengehörende Suchoperationen definieren: (Kulturpädagogik OR Kultur-
management) AND Bildungsarbeit Not Schule.
Wählen Sie die Verknüpfung „NEAR“, werden nur Seiten angezeigt, auf denen
die benannten Suchbegriffe nahe beieinander genannt werden.
Die sogenannte Profilsuche ermöglicht Ihnen weitere Spezifikationen, wie etwa
die Eingrenzung auf eine bestimmte Sprache, auf gewisse Aktualisierungszeiten
oder auf bestimmte Domains, Hosts oder URLs.

116 Wenn Sie z. B. eine Arbeit über „Qualitative Methoden in der Sozialforschung“ schrei-
ben möchten, müssen Sie wissen, dass zu diesem Thema wichtige Arbeiten unter
den Schlagworten „interpretative Forschung“, „oral history“, „narrative Methoden“,
„grounded theory“ etc. zu finden sind. Wenn Sie zum Thema „soziale Ungleichheit“
arbeiten möchten, müssen Sie wissen, dass dazu Interessantes unter Schlagworten wie
„Schichtungstheorie“, „Milieus“, „Kapitalien“, „Sozialstrukturanalyse“, „Individuali-
sierung“, „Enttraditionalisierung“ etc. zu finden ist.
Eine hilfreiche Strategie zur Definition der Prädikatoren ist die folgende: Wenn Sie
einen Aufsatz oder ein Buch gefunden haben, das bestens zu Ihrem Thema passt, dann
geben Sie dessen Titel z. B. in OPACs ein und schauen unter der Vollansicht nach, welche
Schlagworte und Klassifikationen zu diesem Titel angezeigt werden. Nutzen Sie diese
für die weitere Recherche.
194 7 Lesen und Schreiben

Durch die Eingabe von „*.pdf“ am Ende Ihres Suchbefehls optieren Sie dafür,
nur Suchergebnisse des genannten Dateiformats, hier pdf, angezeigt zu bekommen.
So können Sie jedes gewünschte Dateiformat vorwählen. Ein „*“ (manchmal auch
ein anderes Universalzeichen wie „?“ oder „§“) dient in Suchmaschinen häufig als
Platzhalter für beliebig viele Zeichen. Nützlich ist dies für den Fall, dass Sie nach
Wortvarianten suchen. Wir sprechen von Trunkierung (engl. to truncate – beschnei-
den), wenn wir am Wortanfang, in der Wortmitte oder am Wortende Wortteile
wegschneiden, um unsere Suchanfrage für viele Möglichkeiten zu öffnen: Bei der
Suchanfrage „Lei*ung“ hätten wir z. B. mit Suchergebnissen zu den Begriffen Lei-
besübung, Leistung, Leitung, Leitwährung etc. zu rechnen. Bei der Suchanfrage
„Bild*“ hätten wir mit Suchergebnissen zu den Begriffen Bildbeilage, Bilderbuch,
Bildhauer, Bildsamkeit, Bildersturm, Bildung, Bildwerdung etc. zu rechnen. Wir
sprechen von Maskierung, wenn wir mithilfe des Platzhalters „#“ nur ein Zeichnen
ersetzen, um z. B. unterschiedlichen Schreibweisen eines Wortes gerecht zu werden
oder um die Pluralform eines Wortes bei der Suche einzuschließen.
Wie sehr Sie Ihre Suche auch spezifizieren, Sie müssen damit rechnen, dass Sie
zu viele und vor allem für Ihre wissenschaftliche Arbeit uninteressante Seiten als
„Treffer“ aufgezeigt bekommen. Das bedeutet: Sie müssen eine Beurteilung der
„Treffer“ und eine Auswahl des Brauchbaren vornehmen. Womöglich müssen Sie
sich durch eine Fülle an Unbrauchbarem arbeiten, um ein wenig Verwertbares
zu finden. Vermutlich hätte Ihnen das Lesen eines guten Buches weniger Arbeit
gemacht und Sie weit besser informiert.
Neben der Nutzung allgemeiner Suchmaschinen könnte eine erste, noch un-
gezielte Recherche darin bestehen, sich umzuhören, mit Mitstudierenden oder
Lehrkräften zu reden, in Bibliotheksbüchern zu stöbern, einzelne Bücherregale
durchzusehen, Fachzeitschriften durchzublättern, einschlägige Verlagsprospekte
zu sichten (wichtige Verlage sind z. B. Beltz, C.H. Beck, Campus, Carl Auer, DTV,
Fischer, Gabler, Hanser, Junius, Juventa, Kohlhammer, Klett-Cotta, Lambertus,
Leske+Budrich, Luchterhand, KoPäd, Merve, Oldenbourg, Piper, Reclam, Reinhardt,
Rowohlt, Schöningh, Springer, Suhrkamp, VS Verlag für Sozialwissenschaften,
transcript, UTB, UVK, Vandenhoeck & Ruprecht, Velbrück, Walter de Gruyter,
Wilhelm Fink etc.).
Unter Umständen hilft Ihnen bei der Anfangsrecherche auch die von der Deut-
schen Forschungsgemeinschaft unterhaltene Seite gepris.dfg.de weiter. Auf ihr sind
alle DFG-geförderten Forschungsprojekte zu allen denkbaren Themen aufgelistet.
Unter researchgate.net und academianet.de rangieren soziale Netzwerke für Wis-
senschaftlerInnen. Hier finden Sie deren Forschungsprofile, die Ihnen nicht nur
helfen können, ein Thema, sondern auch kompetente AnsprechparterInnen für
ein Thema zu finden.
7.1 Lesen 195

Wichtige AnsprechpartnerInnen könnten neben den oben bereits genannten


auch Bibliotheksfachkräfte sein, die sich mit der Systematik und den Beständen
ihrer Bibliothek bestens auskennen. Sie können Ihnen die Stellen zeigen, an denen
brauchbare Materialien am ehesten zu finden sind.
In dieser Phase der Recherche empfiehlt es sich, sich immer wieder zu fragen:
„Was wäre eine interessante Thematik?“ In aller Regel schälen sich auf diesem
Weg allmählich ein Thema, das es zu bearbeiten, und die Argumente, die es zu
diskutieren gilt, heraus. Dazu sollte man in einzelne Bücher oder Artikel „hinein
schnüffeln“ und „quer lesen“. Interessant sind meist:

t das Inhaltsverzeichnis eines Buches, das einen guten Überblick bietet,


t die Einleitung, in der die Ansprüche des Textes skizziert sind und – falls vor-
handen –
t die Zusammenfassung am Anfang oder am Ende der Schrift (in Fachzeitschriften
ist den Artikeln meist eine Zusammenfassung (Summary, Abstract) voran- oder
nachgestellt).

Hilfreich sind in dieser wie in späteren Phasen der Recherche Rezensionszeitschriften,


in denen die neuesten Publikationen vorgestellt und diskutiert werden.117 So finden
Sie schnell einen groben Überblick über die aktuell laufenden Debatten und eine
erste Einschätzung brauchbarer oder weniger brauchbarer Beiträge. Zudem führt
jede solide Fachzeitschrift einen eigenen Rezensionsteil, in dem Neuerscheinungen
besprochen werden. Auch in den anspruchsvollen Tages- und Wochenzeitungen
finden sich Buchbesprechungen, die für eine erste Recherche brauchbar sein können.

Die gezielte Suche


Wenn sich auf dem Weg vom Überblick zum Detail ein Thema abzeichnet, kann
eine gezielte Suche einsetzen. Jetzt kann man Fachleute themenorientiert befragen
und in einschlägigen Handbüchern, Wörterbüchern und Lehrbüchern nach Artikeln
zum Thema suchen. Unter Aktualitätsgesichtspunkten empfiehlt es sich, die letzten
Ausgaben der einschlägigen Fachzeitschriften thematisch zu durchforsten. Die
Phase der gezielten Suche dient der Präzisierung des Themas und der Formulierung

117 Im Bereich sozialer Berufe sind hier u. a. folgende Zeitschriften zu nennen:


t Erziehungswissenschaftliche Revue. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
t Soziologische Revue. Besprechungen neuerer Literatur. München: Oldenbourg.
t Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau. Neuwied: Wolters Kluwer Deutschland.
t Bildung und Erziehung. Wien, Köln, Weimar: Böhlau.
t Internationales Jahrbuch der Erwachsenenbildung. Wien, Köln, Weimar: Böhlau.
196 7 Lesen und Schreiben

der relevanten Prädikatoren. Hierbei können Synonymwörterbücher118 , disziplin-


spezifische Lexika und Thesauri119 hilfreich sein. Sie liefern die in einer Disziplin
geläufigen Fachbegriffe, mit deren Hilfe die Suche eingegrenzt werden kann.
Für die gezielte Suche nach geeigneter Fachliteratur sind in einem ersten Anlauf

t Spezialsuchmaschinen interessant, die nach bestimmten Medientypen, be-


stimmten Inhalten in ausgewählten Seiten (z. B. nur Hochschulseiten) suchen.
Suchmaschinen-Suchmaschinen (z. B. www.klug-suchen.de) helfen, Spezial-
suchmaschinen zu finden. SCHOLAR (scholar.google.de) hilft, ausschließlich
‚vertrauenswürdige‘ Seiten und ausschließlich wissenschaftliche bzw. an wis-
senschaftlichen Institutionen veröffentlichte Texte zu finden.
t Schlagwortrecherchen auf den Internetseiten des Buchhandels120 und im Ver-
zeichnis lieferbarer Bücher (VLB) des Buchhandels sind ebenfalls interessant.
Gründlicher allerdings können
t Recherchen über die elektronischen Bestandskataloge der Hochschulbibliotheken
(DigiBib, HBZ-OPAC etc.) oder die Deutsche Nationalbibliothek (mit den Stand-
orten Leipzig und Frankfurt a. M.) über www.d-nb.de oder die Deutsche Digitale
Bibliothek www.deutsche-digitale-bibliothek.de erfolgen. In Karlsruher Virtueller
Katalog (KVK; http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk/kvk/kvk_hilfe.html)
sind die Online-Kataloge wissenschaftlicher Bibliotheken und des Buchhandels
vereint. Subito – Dokumente aus Bibliotheken e.V. (www.subito-doc.de) ist eine
spezielle Suchmaschine u. a. für Artikel aus wissenschaftlichen Zeitschriften.
t Wenn Sie nicht selbst suchen wollen, können Sie auch professionelle Recherche-,
Informations- und Dokumentendienste gegen Bezahlung beauftragen, für Sie zu
recherchieren und gezielt nach Informationen und Literatur zu suchen bzw. sie
Ihnen frei Haus zukommen zu lassen.

118 Z. B.
t Duden (2014): Das Synonymwörterbuch. Ein Wörterbuch sinnverwandter Wörter.
6. vollst. überarb. Aufl., Berlin: Dudenverlag.
t Adolphs, U. (2008): Synonymwörterbuch. Gütersloh: Wissen-Media-Verlag.
t Oder siehe online: canoo.net oder das Wortschatzportal der Universität Leipzig
(http://wortschatz.uni-leipzig.de), OpenThesaurus (https://www.openthesaurus.
de), Wiktionary – das freie Wörterbuch oder Digitales Wörterbuch der deutschen
Sprache (http://www.dwds.de).
119 Z. B. der englischsprachige Thesaurus der Fachdatenbank ERIC.
120 Bei den Buchhandelsseiten (www.amazon.de oder www.buch.de oder www.buchhandel.
de) wird häufig die Gelegenheit geboten, ins Inhaltsverzeichnis von Büchern zu schauen
oder sich einzelne Textpassagen anzeigen zu lassen. So kann man sich ohne großen
Aufwand einen ersten Eindruck verschaffen.
7.1 Lesen 197

t Bei der gezielten Suche sind Fachportale hilfreich, die Zugang zu abgegrenzten
Themenfeldern und wissenschaftlichen Disziplinen bieten. Hier finden Sie re-
daktionell betreut Verweise auf thematisch brauchbare Kataloge, Suchmaschinen
und Linksammlungen.

Hilfreich ist eine Suche nach dem Schneeball- bzw. closed-circle-system. Jedes
Werk verweist über die in ihm verwendete Literatur auf weitere Werke. Mit dem
Schneeballsystem verfolgt man die in einem Werk angegebenen Literaturverweise.
Sie können z. B. die Literatur, auf die Sie zurückgreifen möchten, aufgrund der
Zitierhäufigkeit eingrenzen. Mit der Methode des closed-circle-system schauen Sie
die ausgewählten oder greifbaren Bücher und Artikel nach den zitierten Titeln
durch und verfolgen die Spuren, die am häufigsten gelegt wurden.
Als Faustregel der Materialauswahl gilt: Die gewählte Literatur muss den aktu-
ellen Stand der wissenschaftlich-fachlichen Diskussion wiedergeben. Sie muss die
gewählte Thematik in ihrer Breite und Tiefe repräsentieren. Wie viele Werke dazu
nötig sind, kann nicht vorweg gesagt werden. Der Rückgriff auf einzelne, wenige,
zufällig aufgefundene und willkürlich ausgewählte Werke reicht nicht aus.
Unter Umständen ist eine Recherche in Archiven notwendig, zumal bei histo-
rischen Themen, deren Bestände noch nicht in allgemeinen und digitalisierten
Katalogen erfasst sind. Man muss dann vor Ort recherchieren. Oft helfen die
Findbücher der Archive weiter; oft muss man sich durch zum Teil nicht-erschlossene
Materialien arbeiten. Es macht den Reiz einer solchen Recherche aus, dass man
hierbei in der Tat auf neue und überraschende Funde stoßen kann.

7.1.8 Materialauswahl und Materialbewertung

Die Recherche führt Sie in der Regel zu weit mehr Quellen, als Sie in der begrenzten
Zeit, die Ihnen zur Verfügung steht, bearbeiten können. Sie müssen also eine Aus-
wahl treffen. Sie müssen die Relevanz der Ihnen vorliegenden Literatur prüfen. Wie
verschaffen Sie sich schnell eine Einschätzung von der Brauchbarkeit eines Textes?
Für die Literaturauswahl ist es von Bedeutung, dass Ihnen Ihre Fragestellung
hinreichend klar ist. „Was genau ist Ihr Thema? Mit welchem Erkenntnisinteresse
verfolgen Sie Ihr Thema? Welche Frage soll mit Ihrer Arbeit beantwortet werden?
Für welches Problem soll Ihre Arbeit eine Lösung bieten? Welche Aufgabe wollen
Sie mit Ihrer Arbeit erfüllen?“ (vgl. Sesink 2012:125).
Bei der Materialauswahl gilt grundsätzlich: Die einschlägigen Nachschlage- und
Standardwerke, die von den Autoritäten des Faches verfasst wurden, bieten den
sichersten Boden für den Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit. Je weiter Sie sich
198 7 Lesen und Schreiben

von diesem sicheren Terrain entfernen und sich in die Untiefen des Internets und
seinem ungesicherten Wissen wagen (Wikipedia, News-Groups, nichtautorisierte
Seiten), desto prekärer wird Ihr Material. Deshalb sollten Sie sich gut überlegen, ob
Sie sich auf das Risiko des ungewissen Wissens einlassen wollen.
Wikipedia ist unter Studierenden beliebt, während Dozierende häufig noch war-
nen. Wikipedia ist eine kostenlos zur Verfügung stehende Online-Enzyklopädie,
die sich anschickt, den klassischen Enzyklopädien wie Encyclopaedia Britannica
(32 Bände) oder Der Große Brockhaus (30 Bände) den Rang abzulaufen. Ihr Umfang
übertrifft den Umfang klassischer Enzyklopädien bei weitem. Ihre Aktualität ist
kaum zu überbieten, da ständig unzählige SchreiberInnen an den Artikeln arbeiten.
Dabei kommt Wikipedia weitestgehend ohne Redaktion aus. Auch sucht Wikipedia
sich nicht die AutorInnen aus. Jeder darf unabhängig von seiner Qualifikation
mitschreiben – unentgeltlich versteht sich. Jeder darf sich an der Erweiterung und
Aktualisierung der Enzyklopädie beteiligen. Daraus ergibt sich das Hauptmanko von
Wikipedia: Wikipedia ist keine ‚vertrauenswürdige‘ Quelle. Die Inhalte sind nicht
von geprüften ExpertInnen verbürgt. Es findet keine systematische Überprüfung
der Inhalte auf ihre wissenschaftliche Tragfähigkeit statt. Vor diesem Hintergrund
kann nur gewarnt werden, Wikipedia bedenkenlos zu nutzen.
Wikipedia ist aufgrund der großen Anzahl an mitwirkenden NutzerInnen bedingt
vertrauenswürdig. Die große Zahl der Engagierten sorgt, so darf man hoffen, für eine
gewisse ‚Schwarmintelligenz‘, die sich in den einzelnen Artikeln niederschlägt. Es ist
aber nicht genau auszumachen, in welchen konkreten Artikeln dieses Intelligenzprinzip
greift und in welchen nicht. Das kann in Einzelfällen sehr unterschiedlich sein, so
dass bei aller zunehmenden Solidität von Wikipedia-Seiten keine wissenschaftliche
Güte garantiert werden kann. Falls Sie dennoch auf Wikipedia zurückgreifen wol-
len, empfiehlt es sich, mindestens eine solide Quelle zur Überprüfung der Qualität
des Wikipedia-Textes heranzuziehen, z. B. „ein aktuelles Fachlexikon zu Ihrem
Studienfach, von einer Redaktion betreut, von Experten verfasst, von einem Verlag
herausgegeben, gedruckt und an Ihrem Arbeitsplatz griffbereit“ (ebd.:141).
Wenn Sie Glück haben, sind Sie bei Ihrer Recherche auf Sammelbände, The-
menhefte von Fachzeitschriften oder Readern zu Ihrem Thema gestoßen. In allen
drei Fällen wurde bereits eine Relevanzprüfung von den HerausgeberInnen vor-
genommen. Freilich sind solche vorgefertigten Literaturzusammenstellungen zu
einem Leitthema stets von den Relevanzsetzungen der HerausgeberInnen abhängig.
Wenn Sie Glück haben, können Ihnen Fachleute weiterhelfen. Legen Sie die
Liste der von Ihnen recherchierten Texte Ihren DozentInnen vor und fragen Sie
nach deren Einschätzung.
Wenn Sie sich weder auf die HerausgeberInnen von Literaturzusammenstel-
lungen noch den ExpertInnenrat allein verlassen wollen, müssen Sie sich selbst
7.1 Lesen 199

an die Arbeit machen und eine eigene Sichtung der Literatur vornehmen. Hier ein
gangbarer Weg der Relevanz-Prüfung in schematischer Darstellung:

Relevanz-Prüfung

Schritt 1 Æ Titel, Klappentext, Impressum,


Inhaltsverzeichnis,
Literaturangaben, Register lesen

Inhalt
Schritt 2 Æ
relevant irrelevant abbrechen

Vorwort, Nachwort,
Schritt 3 Æ (Zusammenfassung),
einige Seiten eines Kapitels lesen

Niveau
in der Kartei
Schritt 4 Æ vermerken
zu hoch angemessen zu niedrig abbrechen

Buch
Schritt 5 Æ kaufen, leihen, exzerpieren

Schritt 1 – Verschaffen Sie sich einen ersten Eindruck. Überprüfen Sie anhand des
Titels, des Klappentextes, des Impressums, des Inhaltsverzeichnisses, der Litera-
turangaben und der Register (Stichwortverzeichnisse, Abbildungsverzeichnisse
etc.), ob das vorliegende Buch für Ihre Arbeit von Belang sein könnte.

Schritt 2 – Dabei sollten Sie texterschließende Fragen ans Gelesene richten: „Welche
Fragen werden hier bearbeitet? Welche Antworten werden hier gegeben? Wie passen
die hier verhandelten Fragen und Antworten zu meiner Fragestellung?“
200 7 Lesen und Schreiben

Schritt 3 – Sollten Sie zu der Auffassung kommen, dass das vorliegende Buch Ihnen
bei Ihrer Fragestellung nicht weiterhelfen kann, legen Sie es beiseite. Sofern Sie aber
den Eindruck haben, dass es relevant sein könnte, wenden Sie sich dem Inhalt zu,
indem Sie z. B. das Vor- oder Nachwort, die Einleitung oder auch die Zwischen-
oder Endzusammenfassungen lesen. In diesem Schritt wird bereits eingehender
und aufmerksamer gelesen.

Schritt 4 – Sollten Sie bei der intensiveren Lektüre feststellen, dass das Niveau des
Geschriebenen Ihren Ansprüchen nicht genügt, legen Sie das Buch beiseite. Soll-
ten Sie denken, dass das Geschriebene Ihren Ambitionen angemessen ist oder sie
vielleicht sogar überbietet, nehmen Sie es in Ihre engere Auswahl auf.

Schritt 5 – Texte, die die ersten vier Schritte im positiven Sinne überstanden haben,
gehören auf Ihre Prioritätenliste der unverzichtbaren Titel. Diese Texte sollten Sie
sich beschaffen, kaufen, entleihen oder kopieren oder sich schenken lassen, so dass
Sie mit ihnen vertieft arbeiten können. Einen Text ‚durchzuarbeiten‘ heißt,

t ihn intensiv (womöglich mehrmals) zu lesen,


t ihn auf seine Schlüsselbegriffe und Kernaussagen hin zu reflektieren,
t ihn auf die eigene Fragestellung hin schriftlich und wenn möglich mit eigenen
Worten zusammenzufassen und
t ihn schließlich auf seine Stärken und Schwächen hin kritisch zu würdigen.

Sollte sich ein Web-Dokument in Ihrer Prioritätenliste befinden, rate ich dringend,
es zur Bearbeitung herunterzuladen, zu speichern, auszudrucken und für spätere
Nachweise zu hinterlegen. Das Festhalten der Quelle durch die URL und die Notiz,
wann Ihr Zugriff erfolgte, reicht nicht, da die Seite jederzeit geändert oder gar aus
dem Netz genommen werden kann.
Bei der Auswahl des verwendbaren Materials, das es zu lesen oder zu zitieren gilt,
können unterschiedliche Bewertungskriterien angelegt werden (vgl. Kruse 2007). Im
Vordergrund haben bei wissenschaftlichen Arbeiten gewiss die wissenschaftlichen
Kriterien zu stehen, die die recherchierte Literatur etwa nach

t richtig/falsch,
t relevant/irrelevant,
t genau/ungenau,
t vollständig/unvollständig,
t differenziert/undifferenziert,
t neu/bekannt,
7.1 Lesen 201

t nachprüfbar/nicht nachprüfbar

beurteilen. In einem zweiten Anlauf lassen sich pragmatische Kriterien anlegen,


mit denen man die gefundenen Materialien etwa danach befragt, ob sie

t nützlich/unnütz,
t effizient/ineffizient,
t sparsam/verschwenderisch,
t passend/weniger passend,
t optimal/suboptimal,
t gründlich/oberflächlich

sind. Für manche zählen auch moralische Kriterien, die das Material einteilen nach

t moralisch gut/schlecht,
t human/inhuman,
t tapfer/feige,
t hilfreich/egoistisch,
t ehrlich/heuchlerisch,
t aufrichtig/unaufrichtig,
t verantwortungsvoll/verantwortungslos.

Schließlich lassen sich auch ästhetische Kriterien heranziehen:

t schön/hässlich,
t angenehm/unangenehm,
t originell/epigonal,
t ausdrucksvoll/ausdruckslos,
t geschmackvoll/geschmacklos.

7.1.9 Lesen und Schreiben – Zwei Seiten einer Medaille

Niemand, der einen wissenschaftlichen Text schreibt, fängt bei Null an. Die Texte
fallen nicht vom Himmel, und sie werden nicht aus den Ärmeln geschüttelt. Sie
bauen auf vorgängige Texte, bereits geleistete Arbeit, bereits erprobte Methoden,
publizierte Befunde und bereits diskutierte Ideen auf. Im Lesen eignen wir uns
den Stand des Wissens an, an den es Anschluss zu nehmen gilt, im positiven, ak-
zeptierenden oder im negativen, ablehnenden Sinne. Wir vergewissern uns dessen,
202 7 Lesen und Schreiben

was andere vor uns gesagt, getan und geschrieben haben. Wollten wir ohne fremde
Hilfe, ohne Bezug aufs bereits Publizierte einen wissenschaftlichen Text verfassen,
müssten wir kläglich scheitern.121
Howard S. Becker (1994) bietet dazu die Metapher des Möbelbaus an: Wenn
wir ein Möbel bauen wollen, sollten wir uns in Fachkatalogen und -geschäften
danach umschauen, welche Teile bereits verfügbar sind und nicht von uns selbst
erarbeitet werden müssen, z. B. Beschläge, Knaufe, Auszüge, Füße etc. Unsere Ar-
beit besteht im Entwerfen des Möbels (der Argumentation) und des Einfügens der
bereits vorgefertigten Elemente. Wir brauchen, wenn wir über AußenseiterInnen
schreiben, keine Theorie des abweichenden Verhaltens erfinden: Wir können auf
vorliegende Theorien zurückgreifen. Wir brauchen, wenn wir über gesellschaftliche
Differenzierungsprozesse schreiben, keine Theorie der Differenzierung erfinden:
Wir können auf vorliegende Theorien zurückgreifen.
Tatsächlich bedeutet Lesen, nach passenden Bauteilen für eigene Projekte Ausschau
zu halten: „Was könnte ich wo einbauen und verwenden?“ Lesen bedeutet, vorfabri-
zierte Teile zusammenzutragen, um sie in künftige Argumentationen einbauen zu
können (vgl. ebd.:190). Lesen meint die Suche nach und die Sammlung von potentiell
nützlichen Sprachmodulen. Lesen bedeutet Auslesen (Auswählen) und Ernten.
Manchmal weiß man, was man gebrauchen kann. Manchmal ahnt man es auch
nur und hält Gefundenes vorsorglich fest. „Kann sein, dass ich diese Gedanken
nicht in ihrer ursprünglichen Form übernehmen werde; kann auch sein, dass ich
sie bei der Übernahme so verändere, dass ihre Väter und Mütter sie nicht wieder-
erkennen oder gutheißen würden und dass ich sie mit einer Interpretation versehe,
die den Schülern dieser Denker als falsch erscheint. Vermutlich werde ich sie in
Kontexte einbauen, die sich von den Zusammenhängen, in denen sie ursprünglich
entwickelt wurden, nachhaltig unterscheiden. Auch den theoretischen Exegesen,
die der vom Urheber des jeweiligen Gedankens intendierten Kernbedeutung auf
die Spur zu kommen suchen, werde ich voraussichtlich nicht die gebührende Be-

121 Das ist in der Kunst durchaus anders. Die Kunst lebt von Überraschungen und Brüchen.
Erst die ExpertInnen und KritikerInnen zeigen schließlich die Traditionslinien auf. Die
Wissenschaft ist im Unterschied zur Kunst ein kumulatives Unternehmen, eine Form
des Aufschichtens von Wissen, eine Form des Sammelns und Sortierens von Wissen,
der begründeten Akzeptanz und der begründeten Ablehnung von Wissen und, darauf
aufsetzend, der minimalen Neuigkeit. Weder in der Kunst, noch in der Wissenschaft
erhält man Lob für Wiederholungen. Während man in der (modernen) Kunst die
Chance zu totaler Innovation kultiviert, belegt man sie in der Wissenschaft mit größter
Skepsis. Naive KünstlerInnen mögen ihre künstlerischen Werke in der Hoffnung auf
Erfolg einfach in die Welt setzen. Wer als WissenschaftlerIn auftreten möchte, kann
nur auf Erfolg hoffen, wenn der Beitrag in den Kontext akzeptierten Wissens gestellt
wird und dort auf Interesse trifft.
7.1 Lesen 203

achtung schenken. Und dennoch trage ich diese Ideen mit mir herum, bereit, sie
bei nächster Gelegenheit in meine empirischen Forschungen oder in einen neuen
Text einzubeziehen“ (ebd.:192).
In diesem Sinne lassen sich die beim Lesen aus fremden Werken gesammelten
Zitate und Ideen für die Montage eines eigenen Textes ganz im Sinne Stinchcombes
(1982) verwenden: um Grundannahmen und Fragen zu formulieren; um sich in
die Gemeinschaft der WissenschaftlerInnen einzufinden und sich dort mit eigenen
Ansprüchen zu verorten; um zu zeigen, wes Geistes Kind man ist und auf welchem
Niveau man mitspielen und gegen wen oder was man antreten möchte.
Es macht Sinn, möglichst viel und möglichst breit zu lesen, doch zu viel und zu
breit Lesen kann auch negative Folgen haben: Wer sich zu sehr auf die vorhandene
Literatur einstellt, verpasst es, Eigenes beizusteuern. Das Bestehende kann Neues
verhindern. Die Bestände üben eine Art ‚normative Kraft‘ aus. Sie liefern Kategorien
des hic et nunc: Dies oder das ist so zu denken, wie es üblicherweise gedacht wird und
nicht anders. Man verfängt sich in den Sprachregelungen, Denk- und Handlungs-
weisen des Üblichen. „Das Gefühl, in der Sprache, die man benutzt, nicht sagen zu
können, was man eigentlich sagen möchte, kann einem anzeigen, dass man sich von
der Literatur erdrücken und bestimmen lässt. (…) Die Devise muss deshalb lauten:
Benutze die Literatur, aber lass Dich nicht von ihr benutzen!“ (Becker 1994:197).
Wenn jemand bereits ein Projekt im Kopf hat, kann weitere Literatur die eigene
Sicht verbiegen. Es kann passieren, dass man sich zu sehr auf das einlässt, wovon
man sich eigentlich absetzen möchte. Man verliert womöglich bei der Lektüre die
eigenen Gedanken und das eigene Projekt aus dem Blick. Man lässt sich auf das
Spiel des Gegners ein, und kann sich daher nicht in Bestform präsentieren. Man
spielt, wenn man sich zu sehr auf die Lektüre fremder Texte kapriziert, auf fremdem
Terrain. Man spielt womöglich ein dem eigenen Denken unangemessenes Spiel.
Einige LeserInnen verfangen sich im laufenden Wettstreit zwischen den Ansät-
zen, wo es eigentlich um die Suche nach neuen Möglichkeiten, die Welt zu sehen
und zu verstehen, ginge.
Gerade in Bereichen, in denen sich das Wissen bereits konsolidiert hat, steht
man bei Änderungsversuchen unter Begründungszwang: „Warum benutzt Du
andere Begriffe? Warum redest Du von etwas Anderem? Warum stellst Du andere
Behauptungen auf? Warum stellst Du andere Fragen? Warum suchst Du nach
anderen Antworten?“ Wer gegen konsolidiertes Wissen antritt, hat eine ungüns-
tigere Ausgangsposition als die, die sich der herrschenden Meinung anschließen.
Und schließlich sollte man nicht vergessen: Manchmal wirkt die Literaturlage
auch entmutigend, da sie den Eindruck erweckt, es sei im Grunde alles schon ge-
sagt. Wozu selbst noch etwas beisteuern? Statt inspirierend zu wirken, wirkt die
Literatur dann erschlagend und frustrierend.
204 7 Lesen und Schreiben

Doch was den einen entmutigt, inspiriert den anderen und fordert ihn geradezu
heraus. Was den einen langweilt, fasziniert den anderen und bindet seine gesamte
Aufmerksamkeit. Daher gilt: Jeder muss den für ihn gangbaren Weg finden, zu
lesen, zu suchen, zu sortieren, zu sammeln und – wie wir im folgenden Kapitel
sehen werden – zu schreiben.

7.2 Schreiben
7.2 Schreiben
Erst die Schrift überwindet die Grenzen der mündlichen Kommunikation; erst
die Schrift, endgültig dann der Buchdruck, ermöglicht die Entstehung und den
Betrieb der modernen Wissenschaft. Schrift und Buchdruck haben wesentliche
Veränderungen in die Gesellschaft getragen.

Lesen Sie dazu


t Text 09: Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft
unter
http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9

7.2.1 Selber Schreiben


„Die Lektüre dieses Buches wird nicht alle Ihre Schreib-
probleme lösen. Vermutlich löst sie noch nicht einmal ein
einziges. Kein Buch, kein Autor, kein Experte – niemand
außer Ihnen selbst kann Ihre Probleme lösen. Es sind die
Ihrigen. Sie müssen sie selbst bewältigen.“
(Becker 1994:214)

Schreiben ist eine anstrengende körperliche Tätigkeit, die WissenschaftlerInnen in


eine ruhige, meist sitzende Position für oft 8 Stunden und mehr am Tag zwingt.
Es wurden extra Möbel und Maschinen für diese Tätigkeit entworfen. Man kann
stehend oder gehend reden, lesen und denken, aber zum Schreiben muss man sich
setzen und den Körper für den Moment des Schreibens still stellen. Das kann an-
strengend werden. Wer länger schreibt, sollte daher auf gute, möglichst variable
Sitzmöbel achten.
Geistige Arbeit, wie das Schreiben von Texten, ist immer auch körperliche Ar-
beit, Kopf- und Handarbeit, auch wenn das Wort fürs Schreiben, das „Tippen“, alle
7.2 Schreiben 205

Anstrengung zu löschen scheint. Der schmerzende Rücken, die lahmen Arme, der
steife Nacken, die Kopfschmerzen weisen auf etwas anderes hin.
Neben den ergonomischen Aspekten sollte auf eine gute Beleuchtung und
Belüftung, allgemein auf eine ansprechende, konzentrationsfördernde, stille und
störungsfreie Atmosphäre Wert gelegt werden. Ablenkungen sollten vermieden
werden. Schreiben wie Lesen bedürfen der Ungestörtheit, um sich in die Materie
vertiefen zu können.
Schreiben ist immer auch eine emotionale Angelegenheit. Wer schreibt, durchlebt
Höhen und Tiefen, Phasen der Freude oder gar Euphorie und Phasen quälender
Selbstzweifel bis hin zu Depressionen. Es ist alles andere als leicht, die zähen
Phasen, in denen es nicht so gut läuft, durchzustehen. Hier ist – wie bei einem
Marathonlauf – Ausdauer und Zuversicht gefragt. Manche sind von bestimmten
Themen gefühlsmäßig so betroffen, so begeistert, so angewidert oder so abgesto-
ßen, dass ihnen eine sachliche Auseinandersetzung schwer fällt. Manchen flößt
das weiße Blatt Papier Angst ein. Die Angst vorm leeren Blatt ist selbst profilierten
SchreiberInnen so vertraut wie das Lampenfieber den Vortragenden. Schreibende
durchleiden Schreibprobleme, Schreibstörungen und Schreibblockaden. Deshalb
rate ich: Versuchen Sie, sich nicht von Ihren Gefühlen mitreißen zu lassen, sondern
Ihre Gefühle auszutarieren. Üben Sie sich in Gelassenheit. Das meint: Finden Sie
Ihren Punkt zwischen emotionalem Engagement und emotionaler Distanz, der sie
empfänglich sein lässt für Dinge und Prozesse, die für Ihr Schreiben wichtig sind.
Schreiben ist immer ein persönlicher Akt. Jeder schreibt anders, und jeder verrät
mit seiner Art zu schreiben auch etwas über sich selbst. Jede Schrift offenbart etwas
über die Schreibenden. Deshalb: Klären Sie vorweg, was Sie über sich preisgeben
wollen und was nicht.
Schreiben ist eine anspruchsvolle kognitive Tätigkeit. Sie verlangt den Schreiben-
den im laufenden Prozess unterschiedliche Handlungen ab: aufnehmen, sortieren,
entwerfen, entwickeln, strukturieren, kommunizieren, entscheiden, korrigieren
usw. Sie zwingt dabei zur Klärung des Denkens. Im Schreiben tritt uns unsere
Gedankenführung als etwas Äußeres entgegen. Was problemlos gedacht und schnell
gesagt ist, ist lange noch nicht aufgeschrieben. Geschriebenes will verständlich,
zutreffend, womöglich elegant formuliert sein. Und sobald es geschrieben vor
uns liegt, fallen uns alle Schwächen am Geschriebenen auf: wie missverständlich,
wie unzutreffend und wie holprig es an manchen Stellen trotz aller Bemühungen
geblieben ist. Werfen Sie deshalb die Flinte nicht zu früh ins Korn: Trainieren Sie
sich im Schreiben und in der Klärung Ihrer Gedanken.
Schreiben ist ein soziales Tun. Nicht nur, dass SchreiberInnen sich das meiste
zuvor bei anderen angelesen haben, sie schreiben auch immer für andere. Das
206 7 Lesen und Schreiben

Geschriebene soll von anderen gelesen und verstanden werden. Klären Sie daher,
wen Sie mit Ihrer Schrift ansprechen möchten.
Wer schreibt, sollte sich darüber im Klaren sein, welche Textsorte er sich abver-
langt und für welches Publikum er welche Texte schreibt. Aufsätze in populären
Zeitschriften folgen anderen Bauplänen und Argumentationsmustern als z. B.
Forschungsberichte oder Buchpublikationen. Alles ändert sich, je nachdem, ob
der Text einem wissenschaftlichen oder einem nichtwissenschaftlichen Publikum
vorgestellt werden soll. Deshalb: Überlegen Sie sich gut, für wen Sie den Text
schreiben, für wen er verständlich und hilfreich sein soll.
Vor dem eigenen Schreiben steht bei wissenschaftlichen Arbeiten womöglich
das Verfassen von zwei Vor-Texten. Bevor der eigentliche Text verfasst wird, emp-
fiehlt es sich,

t einen Bericht über den Stand der Forschung zu verfassen, in dem die bereits
geleistete Arbeit dokumentiert wird. Ein solcher Bericht ist eine mehr oder
weniger ausführlich kommentierte Bibliographie zur eigenen Thematik: „Wer
hat was bereits zum Thema beigetragen?“
t Der zweite Vortext ist das Exposé, das die eigene künftige, noch zu leistende
Arbeit darlegt. Ein Exposé kann helfen, seinem eigenen Tun eine Richtung zu
geben und seine eigenen Gedankengänge zu klären. Und es kann hilfreich sein,
Kooperationen z. B. mit Archiven, Verlagen, Förderinstitutionen, ArbeitgeberIn-
nen oder BetreuungsdozentInnen anzubahnen.
Das Exposé gibt in Kurzform Auskunft über:
t die Problemstellung bzw. Forschungsfrage, um die es gehen soll,
t die Arbeitshypothesen und die Grundausrichtung des geplanten Projekts,
t das Material, das bearbeitet werden soll,
t die Methoden und Theorien, die eingesetzt werden sollen,
t den Zeitplan, in dessen Rahmen das Projekt bearbeitet werden soll.
t Wenn es beim Exposé um einen Antrag auf Stipendien oder Forschungsgelder
geht, sollten zusätzlich die Relevanz des Themas, die eigenen Vorleistungen
und die zu erwartenden Ergebnisse benannt werden. Zudem sollte man sich
streng an den Förderrichtlinien der Geldgeber orientieren.
Das Exposé umreißt die künftig zu leistende Arbeit. Das Abstract umreißt dagegen
die geleistete Arbeit und wird einem wissenschaftlichen Text als einleitender
Überblick vorangestellt.

Während des eigenen Schreibens gilt es, sich klar zu machen: Texte sind nie fertig.
Der Punkt am Ende eines Textes müsste stets ein Komma sein, das uns darauf auf-
merksam macht, dass der Text nur ein vorläufiges Ende gefunden hat und eigentlich
7.2 Schreiben 207

auf eine Weiterbearbeitung, auf weitere Korrekturen und Fortsetzungen wartet.


Es ist ein wesentlicher Aspekt des Schreibens als emotionale Tätigkeit, dass wir
lernen müssen, den Text in seiner Vorläufigkeit zu verabschieden und loszulassen,
obwohl wir einiges daran ändern könnten.
Wer regelmäßig liest und mit vielen Menschen spricht, weiß, dass bereits verfasste
Texte aufgrund des neu Gelesenen und neu Gehörten immer wieder umgestellt,
erweitert, umformuliert werden könnten. In diesem Sinn ist das Lesen und Reden
ein Teil des Schreibens, indem wir die innere Verarbeitung dessen, was uns beim
Lesen und Reden begegnet, entäußern. Wie schwer es manchmal auch sein mag:
Wenn Sie Ihr Bestes gegeben haben, ringen Sie sich durch, und geben Sie Ihren
Text in die Welt.

7.2.2 Die Kunst des Schreibens

Schreiben ist kein einfaches Unterfangen. Gut zu schreiben, d. h. so zu schreiben,


dass andere die Texte gern und mit Interesse lesen, ist eine Kunst.122 Studierende,
Lehrende oder Forschende sind keine LiteratInnen. Sie haben sich nicht intensiv
im Schreiben geübt. Über ihre Schreibweisen sind daher nicht zufällig immer
wieder Klagen zu hören. Gegen diese Klagen führen etliche BeraterInnen ihre
Ratschläge ins Feld – ohne erkennbare Erfolge auf Seiten der Schreibenden. Die
Texte sind nach wie vor oft schlecht. Wichtiger als ein guter Rat ist vielleicht, sich
ein Verständnis dafür zu verschaffen, warum die Texte so sind, wie sie sind. Es
sind sowohl individuelle als auch institutionelle Aspekte zu berücksichtigen, wenn
man nachvollziehen möchte, was die Qualität eines Textes beeinflusst. Die Klärung
dieser Aspekte kann helfen, eigene Schreibprobleme besser zu verstehen und damit
für ein besseres Gelingen eigener Schreibprojekte zu sorgen.

Individuelle Aspekte
1. Schreiben als magischer Akt
Ein Grund, warum Texte sind, wie sie sind und guter Rat oft nicht hilft, könnte der
sein, dass Schreiben eine zutiefst individuelle Angelegenheit ist, in die man sich nicht
gern reinreden lässt. Wer schreibt, bildet eigene Marotten aus: Manche schreiben
mit der Hand, einige nur mit dem Füllfederhalter des Großvaters, andere schreiben
lieber mit einem Bleistift, wieder andere haben das Handschriftliche abgelegt und

122 Die folgenden Ausführungen verdanken sich wesentlich dem Buch von Howard S. Becker
(1994): Die Kunst des professionellen Schreibens. Ein Leitfaden für die Geistes- und
Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M., New York: Campus.
208 7 Lesen und Schreiben

schreiben nur am PC. Einige benötigen zum Schreiben leise Begleitmusik, andere
lieben die Stille. Einige zünden sich zum Schreiben eine Zigarette an, andere Räu-
cherstäbchen, wieder andere benötigen zum Schreiben frische Luft und reißen alle
Fenster auf. Manche können nicht schreiben, wenn ihr Partner oder ihr Lieblingstier
nicht in der Nähe ist. Manche können nur am frühen Morgen schreiben, andere nur
tagsüber und wieder andere bevorzugen zum Schreiben die Nacht. Einige sagen, sie
könnten nicht schreiben, wenn sie nicht vorher alles Geschirr gespült und in den
Schrank geräumt hätten. Wieder andere können sich nur ans Schreiben begeben,
nachdem sie sich die Zähne gründlich geputzt haben. Manche müssen, obwohl sie
mit dem Computer arbeiten, bei Schreibantritt erst einmal alle Bleistifte anspitzen,
obwohl sie nicht einen von ihnen benutzen.
Das Schreiben erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine komplizierte, höchst
persönlich arrangierte Prozedur, die oft nur so und nicht anders ablaufen kann. Das
Schreiben ist verbunden mit sonderbaren Gewohnheiten. Manche Gewohnheiten gehen
so weit, dass es sich nicht schickt, öffentlich über sie zu reden. Manche Gewohnheiten
nehmen Formen an, dass PsychologInnen und TherapeutInnen eingeschaltet werden
müssen. SozialwissenschaftlerInnen interpretieren diese Marotten nicht unbedingt
als Symptome einer psychischen Erkrankung, sondern eher als magische Rituale,
mittels derer Schreibende versuchen, Prozesse zu beeinflussen, die sie mit rationalen
Mitteln nicht steuern können. Schreiben, zumal gutes Schreiben, kann nicht mit purer
Rationalität erzwungen werden. Schreiben ist ein magischer Akt. Mit den Ritualen
versuchen Schreibende, die Furcht vor dem Schreiben und seine Unergründlichkeit
zu bannen und zu vertreiben. Mit den Ritualen versuchen AutorInnen, sich der
Angst zu entledigen, ihre Gedanken nicht strukturiert zu bekommen und im Chaos
zu versinken. Die rituellen Handlungen sollen einem die Furcht nehmen, etwas
Falsches zu schreiben, das andere zerpflücken könnten und wofür man womöglich
verspottet wird. Schreiben ist ein unbegreiflicher, unabsehbarer, insofern furcht-
und angsterregender Prozess, dem wir mit unseren Marotten rituell beizukommen
versuchen. Was rational nicht greifbar ist, ruft nach archaischen Umgangsformen.
Sie sollten uns ein Zeichen sein für die Unbeherrschbarkeit der Produktion von
Texten und die prinzipielle Ungewissheit ihrer Qualität.

2. Schreiben als Handwerk


Die Unsicherheit, die das Schreiben begleitet, treibt viele dazu, dem, was sie anderen
zu lesen geben, eine Entschuldigung voranzuschicken: „Es ist nur ein erster Ent-
wurf. Es muss alles noch einmal überarbeitet werden.“ Auch diese Entschuldigung,
mit der Verunsicherte ihre Texte aus der Hand geben, ist äußerst instruktiv: Der
Schreibende versucht sich mit dieser Ansage zu schützen und ahnt womöglich
nicht, wie Recht er damit hat. In der Tat ist eines der wesentlichen Momente des
7.2 Schreiben 209

wissenschaftlichen Schreibens nicht das Schreiben, sondern das Umschreiben, das


Redigieren, das Korrigieren. Das Feilen am Text ist das A und O der Schreibkunst.
Die Rituale, die uns die Angst vor dem Schreiben nehmen, ermöglichen uns das
Schreiben, aber sie garantieren in keiner Weise die Qualität des Schreibergebnisses.
Erst die Bereitschaft, Texte zu schleifen und immer und immer wieder zu verbessern,
erhöht die Wahrscheinlichkeit, eine hohe Qualität zu liefern.
In der Regel werden Texte, bevor sie publiziert werden, x-mal umgeschrieben.
Kein wissenschaftlicher Text entsteht auf Anhieb. Was viele, die noch unerfahren
im Schreiben sind, nicht wahrhaben wollen: Schreiben ist ein Handwerk. Man muss
immer und immer wieder sein Werk überarbeiten. Man muss:

t Wichtiges hinzufügen und Überflüssiges streichen (Verdopplungen und Wie-


derholungen, Schwülstiges, Ausschmückendes, Wichtigtuerisches, Leerfor-
meln, Phrasen, Floskeln, Füllseln, alltagssprachliche Wendungen, unpassende
Wertungen etc.),
t Wesentliches herausarbeiten,
t treffende Worte/Fachbegriffe finden und
t schiefe Redewendungen und unstimmige Metaphern/Bilder richtig stellen,
t Formulierungen ‚auf den Punkt bringen‘,
t Fehler berichtigen (Rechtschreibfehler, Zeichensetzungsfehler, Formulierungs-
fehler, Grammatikfehler, Kongruenzfehler in Numerus, Genus und Kasus),
t einzelne Sätze verbinden, eindeutige Satzbezüge herstellen, Wortstellungen
optimieren,
t Schachtel- und Bandwurmsätze trennen und in kleine, überschaubare, prägnante
Sätze umformulieren,
t Textpassagen neu sortieren,
t Textblöcke aufbrechen,
t neue Untergliederungen finden und alte aufgeben.

Derartige Eingriffe schmerzen unter Umständen. Nicht selten muss man löschen,
was man mühsam formuliert hatte. Doch hier lautet die Anweisung: „Kill your
darlings!“ Wirf raus, was Deinem Text nicht gut tut! Derartige Streichungsaktionen
tun zwar weh, doch sie sorgen dafür, dass der Text zuletzt so klingt, als könnte jeder
ihn schreiben: kurz, knapp, klar, geradlinig, direkt, eben ‚auf den Punkt gebracht‘.
Jeder Text hat seine eigene Geschichte. Jeder Text durchläuft unterschiedliche
Stadien seiner Perfektionierung, unterschiedliche Phasen, in denen man womöglich
unterschiedliche Ansprüche an ihn stellt.
Zu Anfang sollte man in jedem Fall sorglos beginnen, um dann, Zug um Zug,
den Text zu verbessern. Nur wer bereit ist, ins Handwerk zu investieren, wer Zeit,
210 7 Lesen und Schreiben

Energie, Muße und Sorgfalt ins Überarbeiten, Schleifen und Polieren steckt, darf
sorglos beginnen und mit hoher Qualität am Ende rechnen.

3. Der erste Satz als Platzhalter


Wie anfangen? Jeder Satz, den man am Anfang formuliert, hat endlos viele Im-
plikationen, die man zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht überschauen kann. Mit
dem ersten Satz legen wir uns in einer Weise fest, die wir in der weiteren Arbeit
womöglich gar nicht durchhalten möchten. Deshalb empfiehlt es sich, nicht mit
dem Anfang anzufangen, der Einleitung, sondern den Anfang erst am Ende zu
schreiben, wenn man weiß, worauf die Arbeit hinausläuft. So verspricht man nichts,
was man nicht hält und kann Weglassungen ankündigen. „Ich brauche mithin
nicht nach der einzig richtigen Darstellungsform für das zu suchen, was ich sagen
möchte, sondern muss vielmehr herausfinden, was es inhaltlich ist, das ich sagen
will. Das aber gelingt mir sehr viel eher dadurch, dass ich zunächst einmal alles das
sage, was ich denke, und mir dabei darüber klar werde, worauf ich hinaus will, als
dass ich mich in die Formulierung eines ersten Satzes verbeiße“ (Becker 1994:76).
Verstehen Sie den ersten Satz, den Sie schreiben, als Platzhalter, den Sie, nachdem
Sie Ihre Arbeit abgeschlossen haben, wieder umschreiben (können). So können
Sie schreiben, ohne zu befürchten, etwas Falsches, nicht mehr zu Korrigierendes
geschrieben zu haben.
Man muss m. a. W. nicht am Anfang anfangen, man kann überall beginnen. Auch
wenn jeder Satz, egal ob am Anfang oder sonst wo, in gewisser Weise das Ganze
einbezieht, sollten wir nie vergessen, dass wir ihn immer umschreiben, streichen,
widerrufen können. Kein Satz ist bindend. Jeder Satz kann geändert werden.
Es ist also nicht schlimm, wenn die ersten Sätze anfangs noch plump formuliert
sind. Sie sollten frischweg losschreiben und dabei herausfinden, was Sie eigentlich
sagen wollen. Niedergeschriebene Gedanken lassen sich unvergleichlich besser
ordnen als Gedanken, die einem ‚durch den Kopf schwirren‘. Also: Erst einmal
drauflos schreiben, einen ersten Entwurf verfassen; dann sortieren, einen zweiten
Entwurf verfassen, wieder sortieren usw. Nur wer die Anfangsschwierigkeiten
umgeht, indem er sie ‚unterwegs‘ löst, kommt überhaupt zum Schreiben. Viele
verhindern sich selbst, weil sie zu Beginn formulieren wollen, was sie erst am Ende
wissen können.

4. Überhöhte Ansprüche und Anspruchslosigkeit


Manche stellen zu hohe Ansprüche an sich und ihr Schreiben. Sie setzen sich damit
unter enormen Druck. Andere AutorInnen wissen, dass das, was sie schreiben und
der Welt anbieten, Murks ist. Sie wissen, dass ihre Arbeit besser sein könnte, aber
eben nicht besser ist. Sie wissen, dass sie es an handwerklicher Mühe haben fehlen
7.2 Schreiben 211

lassen, um aus dem anfänglich plumpen Formulierungen elegante zu machen. Sie


liefern Unfertiges ab und betreiben wissentlich geistige Umweltverschmutzung. Was
nicht mehr ist als ein Entwurf, wollen sie als Endresultate akzeptiert sehen, obwohl
sie selbst damit nicht zufrieden sind.
Solange das im kleinen Rahmen zwischen Studierenden und Lehrenden ge-
schieht, scheint diese Form der ‚Vermüllung‘ Schreibenden egal zu sein. Würde es
aber öffentlich werden, würde es ihnen peinlich sein. Studierende ärgern sich über
schlechte Texte, die sie selbst lesen müssen, haben aber oft keine Scham, anderen
die Lektüre ihrer noch schlechteren Texte zuzumuten. Sie gehen erbarmungslos mit
fremden Texten um, setzen aber auf grenzenloses Erbarmen im Umgang mit den
Texten, die sie selbst verfassen. Werden sie kritisiert, neutralisieren sie die Kritik
häufig mit selbstironischen Witzeleien, oder sie kontern, sie seien nicht richtig ver-
standen worden. Beide Antworten sind unangemessen. Murks ist Murks, und Murks
sollte keinem anderen zugemutet werden. Wer ernsthaft das Schreiben lernen und
sein Geschriebenes verbessern will, muss verstehen, dass er sich missverständlich
ausgedrückt, dass er geschwafelt hat, statt die Dinge beim Namen zu nennen; dass
er unsauber formuliert und sich keine Mühe bei der Überarbeitung gegeben hat. Die
Kritik gilt es nicht durch Witz oder Konter abzuwehren, sondern ernst zu nehmen
und konstruktiv umzusetzen. Kritik bietet Lern- und Verbesserungschancen. Wer
Kritik vermeiden möchte, sollte so klar wie möglich schreiben, so dass andere nichts
auszusetzen oder misszudeuten haben.

5. Ängstlichkeit
In vielen Fällen leidet ein Text darunter, dass die Autorin oder der Autor sich nicht
traut, das Gemeinte klar herauszustellen. Die SchreiberInnen schleichen „wie die
Katze um den heißen Brei“. Das Ergebnis ist Kuddelmuddel, Wiederholung mit
anderen Worten, Redundanz, Gefasel. Dem Text fehlt es an Entschlossenheit,
Klarheit und Prägnanz.

6. Komplexe Entscheidungen – schwierige Selektionen


Jeder Text ist ein rhetorisches Gebilde. Er will überzeugen. Was sind die wissen-
schaftlich legitimen Formen der Rhetorik? Welche Formen der Überzeugung
durch sprachliche Mittel werden als illegitim behandelt? Kein Autor und keine
Autorin kann sich Fragen des rhetorischen Stils entziehen. Die endgültige Form
jeder Schrift ist – wie es auch für alle Kunstwerke gilt – das Ergebnis vielfältiger
Entscheidungen: Was lesen wir, was lesen wir nicht? Was behalten wir, was vergessen
oder verwerfen wir? Wie sortieren wir? Wie strukturieren wir? Welche Gedanken
und Argumente formulieren wir wie, und wie schließen wir an? Wo bringen wir
welche Aspekte ein, und welche Aspekte lassen wir lieber aus? Warum lassen wir sie
212 7 Lesen und Schreiben

aus? Weil sie unwichtig sind oder weil die Übersichtlichkeit unseres Textes leiden
würde? Gäbe es eine Möglichkeit, den Aspekt aufzunehmen, weil er wichtig ist,
ohne die Übersichtlichkeit des Textes zu beeinträchtigen? Gelänge es, indem man
die Darstellungsform ändert, z. B. vom Fließtext in eine Aufzählung wechselt oder
einen Exkurs oder eine Fußnote einfügt? Jede Entscheidung für etwas impliziert
unzählige Entscheidungen gegen etwas anderes.
Das Schreiben beginnt nicht erst, wenn das Denken zu Ende gedacht ist und alle
Unklarheiten beseitigt wurden. Das Schreiben beginnt mitten im Klärungsprozess.
Es ist ein Teil des Klärungsprozesses. Es beginnt in einer Grauzone, deren Nebel
nach und nach gelichtet werden müssen. Wer solange wartet, bis sich Klarheit im
Denken einstellt, wird nie ans Scheiben kommen.
Nicht das klare Denken führt zum Schreiben, sondern das Schreiben führt zur
Klärung des Denkens. „Wer zu schreiben beginnt“, so Becker (ebd.:34), „hat zwar
eine Vielzahl von Entscheidungen bereits getroffen, weiß aber vermutlich nicht,
welche. (…) Der erste Text dient der ‚Entdeckung‘ und nicht der ‚Darstellung‘.“
Deshalb sollte man die erste Version seines Textes sorglos verfassen, um zu erken-
nen, was noch fehlt, was bereits getan ist und was noch getan werden muss. Die
erste Fassung hilft zu erkennen, „dass die einzige Arbeit, die zu tun Ihnen bleibt,
(…) in der Beseitigung von Unklarheiten besteht“ (ebd.).

7. Mangelnde Abstimmung auf die LeserInnen


Der Sinn kommt beim Reden, heißt es. Mit Blick aufs Schreiben muss es heißen:
Der Sinn entsteht beim Schreiben, Umschreiben, Und-wieder-Umschreiben, und
dies in einem deutlich strengeren Sinne, als es beim Reden je der Fall sein könnte.
Wir schreiben, um zu erfassen, was zu tun ist, um die Schrift zu verbessern, klarer
und verständlicher zu machen – für wen? Oft verpassen SchreiberInnen zu klären,
für wen sie eigentlich schreiben: Welche Erwartungen hegt der Schreiber oder
die Schreiberin bezüglich der potentiellen LeserInnen? Wer soll was verstehen?
Interessierte Laien, gewiefte FachvertreterInnen, wissenschaftliche KollegInnen,
MitarbeiterInnen im eigenen Projekt? Je nach erwarteter LeserInnenschaft muss
anders formuliert werden. In jeder Formulierung stecken Unterstellungen bezüg-
lich der LeserInnen. Deshalb: Beleidigen Sie sie nicht, indem Sie sie ‚unter Niveau‘
ansprechen. Stoßen Sie sie nicht ab, indem Sie sie überfordern. Finden Sie auch
hier das rechte Maß.
Mitunter hilft es, Personen zum Probelesen einzuladen, um das Niveau aus-
zutarieren. Jemanden probeweise lesen zu lassen, funktioniert nur, wenn man
Vertrauen hat und nicht befürchten muss, ernstlich Schaden zu nehmen. Die Wahl
eines Test-Lesers bzw. einer Test-Leserin ist nicht einfach. Gute KritikerInnen, die
das frühe Stadium des Textes zu berücksichtigen wissen, sind selten.
7.2 Schreiben 213

Schlussendlich muss sich jeder Schreibende in die Rolle der LeserInnen ver-
setzen. Schreiben impliziert ein Lesen anstelle des Lesers bzw. der Leserin. Einen
Text verständlicher machen heißt, sich in die Rolle der potentiellen LeserInnen zu
versetzen und sich vorzustellen, was ihnen helfen könnte, den Text zu verstehen.
Nur wer sich beim Schreiben in die Lesenden hineinversetzt, hat eine Chance,
seinem Publikum verständliche Texte zu liefern.

Institutionelle Aspekte
1. Mangelnde Erfahrung mit anspruchsvollen Texten
Das Schreiben wird der Autorin oder dem Autor zugeschrieben. Dabei spiegeln
die AutorInnen nur die Situation wider, in der sie das Schreiben gelernt haben
oder zu schreiben glauben. Meist wird die schnelle, termingerechte Produktion
von kurzen Texten zu abgegrenzten Themen (Referate, Hausarbeiten) honoriert,
nicht das Verfassen von längeren, anspruchsvollen Texten zu komplexen Themen
auf breiter Materialbasis. Das wird spätestens bei Abschlussarbeiten (Bachelor-,
Master-, Doktorarbeit) verlangt. Häufig werden erst beim Verfassen dieser Arbeiten
die Schwierigkeiten anspruchsvoller Textproduktion erkannt – leider zu spät. Um
hochwertige Texte zu formulieren, sollten Sie früh beginnen, sich im Schreiben
zu üben.

2. Der Druck, viel zu schreiben und zu publizieren


Wissenschaftliche Institutionen üben gerade auf die jungen, unerfahrenen Wissen-
schaftlerInnen einen enormen Druck aus, viel zu schreiben und zu veröffentlichen,
da Einstellungen oder Beförderungen von möglichst vielen Publikationen in mög-
lichst namhaften Publikationsorganen abhängen. „Publish or perish!“, lautet die
Devise. Es wird geschrieben nicht des Schreibens, sondern der Karriere oder der
formalen Bestimmungen wegen. Man publiziert nicht, weil man etwas zu sagen
hat, sondern weil erwartet wird, dass man etwas sagt.

3. Strukturelle Einsamkeit der Schreibenden


Einige Verlage verzichten heutzutage vor dem Hintergrund der Möglichkeiten pri-
vater Online-Publikationen weitgehend auf eine kritische Sichtung und Kommen-
tierung von Texten durch eigene Lektorate. Sie tragen so dazu bei, dass AutorInnen
ihre Texte allein und ohne konstruktive redaktionelle Begleitung ausbrüten. Das
führt nicht selten dazu, dass auch schlecht gearbeitete Texte veröffentlicht werden.
Hinzu kommt, dass die meisten SchreiberInnen wissenschaftlicher Texte an ihren
speziellen Themen arbeiten und kein zweiter sich mit genau derselben Thematik
auseinandersetzt. Das macht das Schreiben einsam. AutorInnen produzieren in
214 7 Lesen und Schreiben

Isolation, womöglich unter selbstzerstörerischen selbstzweiflerischen Qualen. Der


äußere Druck zu publizieren, der Zeitmangel, der Mangel an kritisch-konstruktiver
Begleitung, der Mangel an kollegialem Austausch etc. sorgt dafür, dass die Texte
schlussendlich so sind, wie sie sind: nicht besonders ansprechend.
Aus diesem Grund empfiehlt es sich, die Einsamkeit des ‚stillen Brütens‘ zwi-
schenzeitlich zu verlassen und sich mit anderen zu treffen, die ähnliche Probleme
zu bewältigen haben. In Kollegs und Arbeitsgruppen, die angeboten werden oder
die man selbst organisiert, kann ein hilfreicher, anregender Austausch von Erfah-
rungen stattfinden.

4. Hierarchien und Maskeraden


Eine wichtige Umweltgröße, die schlechte Texte schützt, ist die universitäre Hier-
archie (vgl. ebd.:49ff.). Sie sorgt dafür, dass ranghöhere AutorInnen als Autoritäten
begriffen werden. Unverständlichkeit schreibt man der überragenden Intelligenz
der Schreibenden bzw. dem Mangel an eigener Intelligenz zu. Die Hierarchie wird
in der Hoffnung akzeptiert, irgendwann selbst zur Spitze zu gehören.
„Einen anspruchvollen, man könnte auch sagen hochgestochenen Stil zu schrei-
ben, um intelligent zu erscheinen, heißt, mit dem Schreiben den Wunsch zu verbin-
den, als eine bestimmte Person wahrgenommen zu werden oder gar diese Person
zu sein“ (ebd.:52). Becker schreibt das Unleserliche nicht zuletzt einem institutionell
gepflegten Imponiergehabe zu: Mit der (unverständlichen) akademischen Prosa
versuche man, sich eine akademische Pose zuzulegen.
Schreiben ist eine Charakterfrage und eine Frage der Rolle, in die man schlüpfen
möchte, eine Frage der gesellschaftlichen Anerkennung. Es ist verbunden mit dem
Anspruch auf eine Form von Privilegierung.
Schreibende tragen eine Maske: Die Maske, die sie anlegen, lässt sie die Sprache
sprechen, die sie sprechen. Mit der Maske verbinden sie Ansprüche, z. B. weltläufig
zu sein, kultiviert, belesen, gebildet, klug, mehr zu sein als alle Laien. Mit ‚hoch-
karätigen‘ Ausdrücken möchten sie ‚hochklassig‘ erscheinen.
Neben der Ich-bin-gebildet-Maske stehen weitere Masken zur Verfügung: Einige
WissenschaftlerInnen beanspruchen Authentizität, indem sie so tun, als hätten sie
soeben mit den Menschen geredet, über die sie schreiben. Volksnähe ist bei diesen
FachvertreterInnen ein wichtiger Topos, um zu überzeugen. Sie tragen die Ich-
war-vor-Ort-Maske und beanspruchen ‚Erfahrungsautorität‘, intime Kenntnis des
Gegenstandes. Ihre Autorität versuchen sie zu untermauern, indem sie aufklären
über falsche Vorstellungen, die Laien haben, oder indem sie in Imperativen reden
wie „Wir müssen erkennen …“, „Wir dürfen nicht verkennen …“. Beliebt ist in
diesem Zusammenhang die unpersönliche Redeweise des ‚man‘, wo Mann oder
Frau eigentlich persönlich in der Ich-Form reden sollten.
7.2 Schreiben 215

Ein anderer Typ von AkademikerInnen trägt die Ich-bin-wie-Du-Maske: Sie


betonen Nähe und Gleichheit zu den LeserInnen statt Distanz und Ungleichheit.
Die Wissensdifferenzen, die nicht zu leugnen sind, tun bei dieser Selbstinszenierung
nichts zur Sache. „Ich war halt da; wärest Du da gewesen, hättest Du dasselbe zu
erzählen. Ich werde dir alles erzählen.“ Solche SchreiberInnen setzen auf Nähe und
Gleichartigkeit, um zu überzeugen. Sie schreiben informeller, benutzen häufig die
Ich- und Wir-Form, berufen sich auf das, was sie und die LeserInnen gemeinsam
wissen, statt auf das, was nur sie wissen.
AutorInnen drücken sich mal unverständlich, mal geheimnisvoll, mal getränkt
mit Insider-Wissen, mal hoch aktuell, mal beeindruckend detailreich, mal auch
ganz anders aus. Wie auch immer, es gibt unterschiedliche Masken, die sich Akade-
mikerInnen zulegen, um überzeugend zu wirken und Autorität zu erlangen. Texte
sind nicht „von sich aus, nicht per se, autoritativ. Autoritative Mittel wirken nur auf
ein Publikum, das mit der Materie nicht vertraut ist“ (ebd.:58). ‚Alte Hasen‘ lassen
sich von den rhetorischen Tricks und Kniffen kaum beeindrucken.

5. Das Kopieren von Exzessen


Allen Schreibweisen und Redestilen haftet etwas ‚Unrechtmäßiges‘ an. Alle im-
plizieren eine gewisse Anmaßung. Anmaßung findet sich auch in den Versuchen,
die eigenen LehrerInnen zu imitieren. Die einen folgen der ästhetischen Schreib-
weise eines Theodor W. Adorno. Die anderen lieben den mit trockenem Humor
durchsetzten Stil eines Niklas Luhmann, während wieder andere den analytischen
Scharfblick einer Susan Sontag zu schätzen wissen. Manchen ist all dies zu elitär.
Sie präferieren den Stil nüchterner empirischer Sachlichkeit.
Mit dem Schreibstil verorten wir uns. Wir ordnen uns Schulen, Denkrichtungen,
Wissenschaftsverständnissen zu. Wir benutzen bestimmte Schlüsselbegriffe, die
für bestimmte Verständnisse und theoretische Konzepte stehen, „als Signale, die
anzeigen, welcher Schule wir angehören oder anzugehören wünschen“ (ebd.:61).
StudentInnen, die noch nicht in die Reihen der anerkannten AkademikerInnen
aufgenommen wurden, versuchen, den Stil, auf den sie in der Literatur stoßen, zu
imitieren, weil sie glauben, dass es nicht sein kann, dass man sich mit einfachen
Texten qualifiziert. Das führt in einen Teufelskreis: Sie betreiben Exzesse, weil
sie in den Zeitschriften auf Exzesse stoßen. Sie kopieren den Stil der schlimmen
Vorlagen, die sich durch ihre Unverständlichkeit von dem unterscheiden, was
jeder weiß und sagt. Das Ergebnis sind meist langweilige, weitschweifige, ange-
strengt-prätentiöse Texte.
216 7 Lesen und Schreiben

6. Unterordnung, Anpassung, Isolierung


Es gibt nicht nur einen einzig richtigen Weg, seine Gedanken zu präsentieren. Es
gibt viele akzeptable Wege, etwas zu sagen. Die Aufforderung, etwas umzuarbeiten,
bedeutet nicht, dass das Gesagte falsch ist. Es heißt, dass etwas unschön formuliert
oder vielleicht auch unverständlich ist. Warum wehren sich Studierende, ihre Tex-
te umzuschreiben, nach besseren Formulierungen zu suchen und sich um mehr
Verständlichkeit zu bemühen? Trägheit? Keine Lust an der Arbeit? Oder liegen die
Ursachen in den institutionellen Gegebenheiten, in denen sich die Studierenden als
Untergeordnete erfahren und sich in dieser Position einrichten? ‚Die da oben‘ locken
mit guten Noten, ‚die da unten‘ versuchen, es ihnen recht zu machen, um an die
guten Noten zu gelangen. Das Interesse am Stoff bleibt auf der Strecke: „Was muss ich
tun, um eine gute Bewertung zu bekommen?“, lautet die Standardfrage, statt: „Wie
drücke ich das, was ich sagen will, angemessen aus?“ Gute Noten scheinen mehr zu
zählen als gute Arbeitsleistungen. Und je mehr die Benotungen standardisiert und
die Standards kommuniziert werden, desto mehr werden sich die Studierenden an
den Standards statt an der Sache selbst orientieren.
Die extrinsische Motivation, die Jagd nach guten Noten und vorzüglichen Ab-
schlüssen, siegt über die intrinsische Motivation, das Interesse an der Sache selbst.
Überarbeitung, Überdenken, Nachbesserung, neue Anläufe, alternative Entwürfe
entsprechen nicht den sonstigen Test-, Prüfungs-, Frage-und-Antwort-Ritualen an
den Schulen und Hochschulen. Eine Frage – eine Antwort. Richtig oder falsch?
Und weiter geht‘s …
Zur Test-Kultur gehört die Frage: „Hast Du das, was Du hier vorlegst, auch selbst
gemacht, ohne fremde Hilfe?“ Diese Frage ist eine Aufforderung, seine Texte nicht mit
anderen zu besprechen und zu überarbeiten. Die herkömmliche Prüfungskultur und
die institutionell verankerte Konkurrenz unter den Studierenden und Forschenden
boykottiert die soziale Dimension des Schreibens: dass Ideen nicht dem einsamen
Denken, sondern den Diskussionen, Debatten und Diskursen entspringen und nur
in ihnen Form und Schärfe gewinnen. Sie befördern Isolation. Sie verhindern, dass
man Texte in Auseinandersetzung mit anderen zuspitzt, schärft und profiliert.

7. Infantilisierung
Hochschulen neigen nicht nur dazu, Studierende zu isolieren, sie neigen auch dazu,
sie zu infantilisieren. Die Infantilisierung entsteht dadurch, dass Lehrende bemüht
sind, ihnen ‚perfekte Texte‘ zu präsentieren, ohne ihren beschwerlichen Entstehungs-
und Herstellungsprozess mitzupräsentieren. Die gelungenen Analysen, die scharfen
Argumente, die eleganten Formulierungen sollen beeindrucken. Die Rohfassungen,
die Irrungen und Wirrungen, das Ringen um gangbare Wege werden nicht mit-
gezeigt. So können sich Studierende angesichts der präsentierten Glanzleistungen
7.2 Schreiben 217

des Eindrucks nicht erwehren, selbst noch in den Kinderschuhen zu stecken und
eigentlich noch gar nicht kompetent mitreden zu können. Ihre Gedanken und ihre
Formulierungen erscheinen unreif gegenüber den ausgereiften Texten, die ihnen
vorgestellt werden. Wen wundert es, wenn sie sich daraufhin kindlich benehmen und
Lehrende in die Rolle der Übermutter oder des Übervaters drängen und sie damit
wiederum dazu verführen, ihnen ausschließlich ‚perfekte Texte‘ zu präsentieren …?
Die Hierarchie der Hochschulen sorgt dafür, dass die Lehrenden auch die
Prüfenden sind. Sie verteilen die Noten, sie beurteilen, sie lassen bei Prüfungen
durchfallen oder bestehen. Studierende gehen davon aus, dass Lehrende wissen,
was sie tun, dass sie Profis sind, Leute vom Fach, die alle Prüfungen gemeistert
haben und heute alles auf Anhieb hieb- und stichfest formulieren können. Die
Lehrenden vermögen scheinbar all das, was man als StudentIn noch nicht vermag.
„Wie klein bin ich doch vor dieser Größe!“ Es ist allerdings zu bezweifeln, dass das,
was Hierarchien glauben machen, immer auch der Realität entspricht. Hinter der
Fassade, von der sich einige blenden und entmutigen lassen, herrscht manchmal
mehr Zweifel und Unsicherheit als es scheint.

8. Die Ideologie des One-best-Way


Die Hierarchien des Hochschulsystems vermitteln Studierenden oft das Bild einer
besten Art, Dinge zu tun. Sie suggerieren, Lehrende würden den One-best-Way
kennen, sie wüssten, wie man‘s richtig macht. „Die Vorstellung von der richtigen
Antwort und der besten Art haben ihren natürlichen Platz in der Hierarchie“
(Becker 1994:71).
Fakt ist, dass es die einzig richtige Antwort nicht gibt, dass wir mit unseren
Fragen (z. B. nach der Wahrheit, der Bildung, dem Menschen, der Gesellschaft
etc.) auf unterschiedliche, stets vorläufige, Unterschiedliches betonende, mitein-
ander konkurrierende Antworten stoßen. Demnach geht es auch beim Schreiben
nicht darum, die ‚einzig richtige‘ Antwort zu finden, sondern den Zweifel und die
Kritik an den vorliegenden Antworten zu nähren. Seit Descartes zählt dies zu den
Grundregeln der Wissenschaft, die in den wissenschaftlichen Bildungsinstitutionen,
zumal den anwendungsorientierten, leider allzu oft missachtet werden.
StudentInnen mögen nichts lernen, was nicht ‚sicher‘ ist. Sie möchten handfeste
Wahrheiten. Sie streben nach Sicherheit. Sie möchten Zweifel und Verunsicherung
vermeiden. Sie wollen Antworten, keine Fragen, Lösungen, keine Probleme. Diese
Ansprüche passen jedoch nicht zum heutigen Stand der Wissenschaft.
Auch die Vorstellung, es gäbe eine ideale Form, seinen Text zu verfassen, ist
irreführend. Es gibt keine ideale Form, die es zu finden gilt. Es gibt viele gangbare
Möglichkeiten, von denen man eine auswählen muss. Die Vorstellung von ‚Per-
fektion‘, ‚Vollkommenheit‘, von ‚einzig richtig‘ oder ‚ideal‘ führt zu Blockaden.
218 7 Lesen und Schreiben

Individuelle und institutionelle Aspekte auf einen Blick


Die Welt ist voll von gut gemeinten Ratschlägen. Überall ist nachzulesen, wie
man gute wissenschaftliche Texte schreibt, die nicht nur dem Gegenstand gerecht
werden, sondern auch die LeserInnen ansprechen. Trotzdem finden sich immer
wieder Texte, die so formuliert sind, dass man sie kaum lesen möchte. Es mag sein,
dass es AutorInnen gibt, die sich in ihrer Selbstbezüglichkeit derart eingeschlossen
haben, dass sie von keinem Ratgeber mehr erreicht werden können. Es mag auch
sein, dass es Autorinnen gibt, deren Talente woanders als im Schreiben liegen, so
dass auch bei ihnen kein guter Rat mehr hilft. Manchmal aber haben AutorInnen
den Gegenstand, zu dem sie sich äußern, schlichtweg nicht durchdrungen. Und
was sie selbst nicht recht verstanden haben, können sie anderen auch nicht gut
verständlich machen. Wäre dann nicht eher ein Verzicht auf eine Publikation an-
gezeigt? Warum wird trotzdem publiziert? Auf eine Antwort kommt man in diesen
Fällen nur, wenn man über die Schreibenden hinaus den Kontext des Schreibens,
die Hochschullandschaft, mit in den Blick nimmt. Der Kontext nötigt zur Pub-
likation von Texten, auch wenn deren innere Reife noch nicht erreicht ist. Daher
gilt es, die individuellen wie die institutionellen Aspekte, die für die Qualität von
Texten mitverantwortlich sind, im Blick zu behalten.
Schreiben ist einerseits ein höchst individueller Akt:

t Nicht jeder findet die passenden Marotten, die ihm helfen, Ängste zu vertreiben
und etwas zu Papier zu bringen.
t Nicht jeder bringt die handwerkliche Sorgfalt und Ausdauer auf, seinen Text
immer und immer wieder zu überarbeiten, bis er vorzeigbar und verständlich ist.
t Nicht jeder kommt über die Anfangsschwierigkeiten hinweg und schafft es, in
einen Schreibfluss zu gelangen.
t Nicht jeder hat den Anspruch, gute Texte abzuliefern. Manche geben sich mit
mittelmäßigen bis schlechten Ergebnissen zufrieden und sind nicht bereit, Mühe
und Fleiß in ihre Arbeit zu stecken.
t Manche trauen sich nicht, das, was sie denken, auszudrücken.
t Nicht jedem gelingt es, die Komplexität, die ihm begegnet, zu bewältigen und
die nötigen Entscheidungen (Selektionen, Reduktionen) zu treffen. Nicht jeder
schafft es, die Nebel wegzuschreiben und das zu beschreibende Feld zu klären.
t Nicht jeder kann sich in die Lage seiner LeserInnen versetzen und deren Ver-
stehensprobleme bereits beim Schreiben ausräumen.

Andererseits ist das Schreiben ein institutionell geprägtes Geschehen: Solange wir
unseren Blick auf die Schreibenden konzentrieren, erscheinen die Handlungsemp-
fehlungen der Ratgeber plausibel. Ihre Empfehlungen verlieren aber an Plausibilität,
7.2 Schreiben 219

wo institutionelle Hürden und Fallen mit in den Blick genommen werden, die die
Produktion von guten Texten erschweren oder gar verhindern. Ratgeberliteratur,
die sich der Analyse und Kritik der vorgefundenen Verhältnisse nicht stellt, trägt
mit zur Verschleierung und Verfestigung änderungswürdiger Strukturen bei.
Individuelle wie institutionelle Aspekte tragen dazu bei, dass unschöne, uninter-
essante, schlecht strukturierte und unverständlich formulierte Texte veröffentlicht
werden. Wir konstatierten:

t Der Kontext verlangt dem wissenschaftlichen Nachwuchs anspruchsvolle Texte


ab, obwohl NovizInnen noch keinerlei Erfahrung im Verfassen anspruchsvoller
Texte haben können.
t Der Kontext setzt den wissenschaftlichen Nachwuchs unter Druck, viel zu
schreiben und zu publizieren, nicht des Schreibens, sondern der Karriere wegen.
t Der Kontext setzt die Schreibenden auf Themen an, die sie im Alleingang und
ohne fremde Hilfe zu bearbeiten haben. Er sorgt damit für eine intellektuelle
Isolation.
t Der Kontext ist hierarchisch strukturiert. Die Hierarchie leistet einem unver-
ständlichen Schreiben Vorschub (institutionell gepflegtes Imponiergehabe und
Maskeraden).
t Der Nachwuchs lässt sich beeindrucken und kopiert nicht nur das gute, sondern
auch das schlechte Gebaren der Lehrenden.
t In einem hierarchischen Kontext orientiert sich der wissenschaftliche Nachwuchs
eher an den institutionellen Belohnungen statt an der Sache selbst. Das Interesse
am Stoff weicht dem Interesse an guten Noten.
t Der Kontext lässt den Nachwuchs gemeinsam studieren, prüft jedoch jeden
einzeln und versetzt ihn über die Notengebung in Konkurrenz zu allen anderen.
Die strukturell ins System eingelassene Konkurrenz behindert den sozialen
Austausch. Die geltenden Prüfungsmodalitäten verbieten geradezu, sich fremde
Hilfe einzuholen, um eigene Texte zu verbessern.
t Hierarchische Strukturen infantilisieren und demotivieren den Nachwuchs.
Die Ranghöheren präsentieren fertige Produkte und verschweigen die Herstel-
lungsschwierigkeiten. Der Nachwuchs kommt sich angesichts der glänzenden
Leistungen der Lehrenden klein und unerfahren vor.
t Der Kontext zelebriert sich selbst häufig als perfekt, als die beste Art, Dinge
zu tun. Er zelebriert einen ‚One-best-Way‘ und verpasst es dabei, Zweifel und
Kritik zu stärken und darüber den Nachwuchs zu eigenständigem Denken und
Schreiben zu ermutigen. Beim Schreiben führen die Vorstellungen von ‚einzig
richtig‘ oder ‚ideal‘ in Schreibblockaden.
220 7 Lesen und Schreiben

7.2.3 Schreiben – Selektieren und Sortieren

Beim Schreiben wissenschaftlicher Texte kommen Sie nicht umhin, die Ideen,
die sie gesammelt haben, und die Inhalte, die Sie zu Papier bringen wollen, zu
sortieren. Es gilt auszuwählen, was zum Thema gesagt werden soll, was inhaltlich
zusammengehört und was zusammenhängend in einzelnen Kapiteln und Absätzen
darzustellen ist. Dazu empfiehlt es sich, vorweg eine Liste der unverzichtbaren Inhalte
anzulegen und diese Liste zu sortieren und zu organisieren. Was gesagt werden soll,
muss in eine Reihenfolge gebracht werden, so dass ein roter Faden im Sinne eines
Textfahrplans erkennbar wird. Hilfreich sind in diesem Stadium grafische Skizzen,
die die tragenden Strukturelemente der Arbeit und ihre Beziehungen zueinander
erkennen lassen und so die Organisierung der Inhalte erleichtern.
Die Frage nach der Organisierung der Inhalte lässt sich rational nicht abschließend
beantworten. Das Problem liegt darin, dass der Text in einem linearen Nacheinander
organisiert werden muss, während das, wovon er handelt, in unserem Fall in aller
Regel die soziale Realität, sich durch eine komplex vernetzte Gleichzeitigkeit aus-
zeichnet. Alles, was ich schreibe, impliziert den kompletten Rest, inklusive meiner
eigenen Person als den Schreibenden. Eigentlich müsste ich über alles gleichzeitig
schreiben. Doch das geht nicht. Ich muss also alles, was gleichzeitig gesagt werden
müsste, weil es gleichzeitig geschieht, nacheinander sagen. Ich muss sequenziali-
sieren. Ich muss die Gedanken, die zusammengehören und sich wechselseitig und
rückbezüglich stützen, in eine Reihenfolge bringen. Ich muss sie Schritt für Schritt
hintereinander entfalten. Ich muss sie Punkt für Punkt abarbeiten und dies ohne
logische Brüche, in plausibler Form, obwohl genau das angesichts der Logik dessen,
worum es hier geht, alles andere als plausibel ist.
Sinn- und Darstellungsform passen nicht zueinander. Die Linearität der Schrift,
Buchstabe hinter Buchstabe, Wort nach Wort, Satz an Satz, Absatz nach Absatz,
entspricht weder der komplex vernetzten Gleichzeitigkeit der Phänomene, über die
zu schreiben ist, noch dem tatsächlich stattfindenden Sinngeschehen im Bewusst-
sein des Schreibenden. Als Systemtheoretiker weiß man: Wer über etwas schreibt,
ist selbst als Beobachter in allem, was er formuliert, impliziert. Er kann sich aber
nicht ständig selbst mitthematisieren und oszilliert somit bei der Formulierung
seines Textes permanent zwischen sich und seinem Gegenstand. Ebenso weiß die
Theorie: Theoriekomplexe sind als Teile in anderen Theoriekomplexen eingelassen,
so dass man, wenn man mit der Darstellung eines Komplexes beginnt, den anderen
bereits vorgestellt haben müsste, bzw. man müsste den enthaltenen Komplex bei
der Darstellung des darzustellenden Komplexes ständig mitführen. Somit oszilliert
der Schreibende auch hier ständig zwischen dem, was er schreibt und dem, was in
seinem Schreiben vorausgesetzt ist, ohne benannt zu werden. Der Aufbau der Schrift
7.2 Schreiben 221

suggeriert schließlich, dass es einen Anfang gäbe, von dem aus der Text sich Schritt
für Schritt entfalten ließe, vom Einfachen zum Komplexen, vom Voraussetzungslosen
zum Voraussetzungsvollen, vom Allgemeinen zum Besonderen. Einen solchen Anfang
gibt es aber nicht. Er muss gesetzt werden in eine Zeit, die immer schon läuft und alles
enthält, und er könnte immer auch anders gesetzt werden. Schrift suggeriert zudem
eine Verlaufsform, einen ‚roten Faden‘, an dem man sich entlang hangeln kann. Doch
als TheoretikerIn weiß man: Es gibt diesen Faden nicht, er muss gesponnen werden.
Es gibt nichts Einfaches im Komplexen. Alles ist immer schon vorausgesetzt, wenn
wir voraussetzungslos beginnen und anschließen wollen. Die Linien kreuzen sich
und bilden komplexe Verbindungen. Es gibt durch das Gestrüpp der Verweisungen
nicht den einen richtigen Weg. Man kann an jeder Kreuzung in eine andere Richtung
abbiegen. Man kann an jedem Knotenpunkt unterschiedliche Anschlüsse wählen.
Wir bekommen es notwendigerweise mit Problemen der Kontingenz zu tun: Wir
könnten unseren Darstellungspfad, sprich die Organisierung des Materials so oder
auch anders wählen. Wir könnten viele Pfade gehen. Wir sind frei. Wir können nur
eines nicht: auf die Organisierung der Materialien verzichten. Wie immer man die
Momente sinnhafter (Selbst-)Implikation, Zirkularität oder Rekursivität fasst, der
Fließtext erzwingt Buchstabenreihen, sprich: Er verlangt eine lineare Form. Damit
fallen Sinn- und Darstellungsform auseinander. Ein schwieriger Moment.
Wie kann man beides harmonisieren? Wie kann man sein Material, seine Ideen,
seine Inhalte linear organisieren, obwohl sie selbst nicht linear organisiert sind? Wie
kann man sich mit anderen Worten selbst überlisten? Hier bietet sich die folgende
Methode an. Es empfiehlt sich,

t zuerst die niedergeschriebenen Gedanken auf Brauchbarkeit hin zu überprüfen,


t sie sodann auf einzelnen Blättern festzuhalten und dann
t die Blätter, die zusammenpassen, auf getrennte Haufen zu legen.
t Danach sollte man auf die jeweiligen Haufen ein Deckblatt legen, auf das man
einen verallgemeinernden Obertitel mit jeweiligen Unterthemen, wie sie auf
den Blättern festgehalten sind, notiert.
t Anschließend werden die Deckblätter in einer gewissen Ordnung an die Wand
geklebt, so dass man sie einige Zeit vor Augen hat und über mögliche Zusam-
menhänge und Verbindungen noch einmal nachdenken kann.

Gewiss ist mehr als eine Organisierungsart möglich, aber die Zahl der gangbaren
Sortierungen ist überschaubar. Die Phase des Nachdenkens über die Organisierung
begleitet die Frage: „Welche Auswirkungen hat welche Sortierung?“
In dem soeben gemachten Vorschlag steckt in Ansätzen die von Tony Buzan (vgl.
Buzan, Buzan 2005; Buzan, Böckler 2004) entwickelte Mind-Map-Methode. Es geht
222 7 Lesen und Schreiben

bei dieser Methode darum, die unterschiedlichen Inhalte, Aspekte, Assoziationen


und ihre Verbindungen grafisch darzustellen, so dass man die Vernetzung der un-
terschiedlichen Informationen in einem grafischen Gesamtbild vor Augen hat. Eine
fertige Mind Map (Gedankenkarte) verdeutlicht die eigenen Denkstrukturen bzw. die
Gliederung des zu bearbeitenden Themas von einem Ausgangspunkt (Kernthema) aus.
Die Grafik lässt sich immer wieder erweitern oder umstrukturieren. Es können
zusätzliche Verästelungen eingefügt oder bestehende Äste umarrangiert werden.
Eine Mind Map ist nie abgeschlossen, sondern offen für Überarbeitungen.
In der Regel geht die Mind Map von einem Kernthema aus, von dem aus die jewei-
ligen Unterthemen abzweigen. Die Bezeichnungen der jeweiligen Stämme und Äste
sollten möglichst einfach und markant erfolgen, so dass eine Übersichtlichkeit gewahrt
bleibt. Verwenden Sie, wenn Sie begrifflich arbeiten, prägnante Schlüsselbegriffe.
Der Vorteil des Mind Mapping ist darin zu sehen, dass es multidimensionale,
vernetzte Sinnstrukturen darstellbar macht. Die Darstellungsform entspricht den
realen Strukturen, wie wir sie mithilfe unseres Gehirns und unseres Denkens
wahrnehmen. Die Verbindung von Visualisierung und Verbalisierung ermöglicht
eine optimale Ausnutzung unseres Denkvermögens. Es erspart uns allerdings nicht,
das Gedachte zu strukturieren, zu hierarchisieren und zwecks Verschriftlichung zu
chronologisieren: Wir müssen ein Kernthema identifizieren und dieses auf einer ersten
Unterebene mittels zentraler Schlüsselbegriffe aufgliedern, um diese Schlüsselbegriffe
dann auf der nächst unteren Ebene in Unterkategorien aufzuteilen, die es wieder in
Unterunterkategorien aufzuteilen gilt. So entsteht eine begriffliche Rangordnung, je
nach Generalisierungsgrad der Begriffe: Vom Zentrum zur Peripherie hin nimmt
der Generalisierungsgrad mit jeder neuen Ebene ab.
Jeder Schlüsselbegriff, selbst jede Unterkategorie könnte selbst wieder zum Zen-
trum einer eigenen Mind Map werden. Und das, was wir als Zentrum behandeln,
könnte selbst ein Knotenpunkt oder das Ende einer Verästelung sein. Das verweist
auf eine unendliche Verweisungsstruktur unseres Sinngeschehens: Es geht immer
weiter, es geht immer tiefer. Wir erreichen niemals den Horizont oder Grund, auf
den die Verweise verweisen. Die Horizonte und Gründe des Sinns verschieben
sich bei Annäherung. Die Anschlussmöglichkeiten und Assoziationsketten sind
überreich. Das Problem liegt in der sinnvollen Selektion und Beschränkung, in der
Konzentration auf die wesentlichen Schlüsselwörter.
Mind Maps lassen sich im Alleingang, aber auch in Gruppen erarbeiten. In einer
Art Brainstorming werden die unterschiedlichsten Aspekte gesammelt, eingeord-
net, gewichtet und u. U. zusammengeführt und unter neue Oberbegriffe gefasst.
Es lassen sich neben Worten auch Bilder oder kleine Skizzen in die Mind Map
einarbeiten, die weitere interessante Assoziationen hervorrufen können.
7.2 Schreiben 223

Man kann Farben einsetzen, um z. B. zu markieren, welche Themen zusammen-


gehören oder welche Themen bereits bearbeitet sind, zu welchen Themen bereits
Informationen vorliegen, zu welchen Themen noch recherchiert werden muss.
Mind Maps eignen sich nicht nur dafür, neue Themen zu strukturieren. Sie
lassen sich auch gut dafür nutzen, um z. B. Gehörtes (Vorträge, Vorlesungen) oder
Gelesenes (Bücher, Aufsätze) zusammenzufassen und erneut in Erinnerung zu rufen.

Aus: Buzan, Buzan


2005:64, 65, 81
224 7 Lesen und Schreiben

Die Entscheidung darüber, wie die in einer Mind Map gesammelten Gedanken
und Materialien zwecks Vortrag oder Schrift chronologisch zusammengestellt
werden sollen, kann sich im Laufe des Arbeitsprozesses mit der Mind Map ‚wie
von selbst‘ herausstellen. Es kann aber auch die Aufzählmethode verwandt werden,
d. h. jedem Ast wird eine Nummer gegeben, möglichst in einer Reihenfolge, in der
die Inhalte abgearbeitet werden sollen. Stellt sich keine einleuchtende Reihenfolge
(‚Superlogik‘) auf intuitivem Wege ein, nehmen Sie sich die Zeit und lassen Sie die
Gedanken reifen (Inkubationsmethode). Gehen Sie mit einer Ordnungsstruktur
ruhig über Tage ‚schwanger‘. Schlafen Sie ein paar Nächte darüber. Sinnen Sie auf
Spaziergängen darüber nach und arrangieren Sie die Struktur immer wieder neu,
bis sich eine überzeugende Ordnung einfindet.
Da es keinen ‚einzig richtigen Weg‘ der Organisation des Sortierten gibt, empfiehlt
es sich, über das Problem der Entscheidung des Unentscheidbaren nachzudenken und
diese Gedanken schriftlich einzubringen. Es gilt, sich und den LeserInnen klar zu
machen, dass das Material so oder auch ganz anders hätte organisiert werden können.
Wie auch immer man seine Materialien organisiert, es sollte plausibilisiert
werden, warum man es so und nicht anders macht. Statt sich das Problem der stets
kontingenten Organisation wegzuwünschen und es dennoch lösen zu wollen, sollte
man darüber reden und klar machen, dass einem das Problem bewusst ist. Man
weiß, dass es nicht die eine richtige Entscheidung gibt und dass man sich hätte auch
anders entscheiden können. „Wenn Sie den richtigen Weg nicht finden können,
dann sollten Sie sagen, warum es Ihnen nicht gelingt“ (Becker 1994:94). „Schreib
darüber!“, lautet die Devise. „Mach die Suche zum Brennpunkt deiner Analyse!“
(ebd.:97). Ziehen Sie die Leserschaft ins Vertrauen. Geben Sie ihr Kenntnis von
Ihren Nöten, Ihren Entscheidungen und den Gründen für Ihre Entscheidungen.
Gelingt es, Inhalte und Materialien entlang eines ‚roten Fadens‘ zu organisie-
ren, sollte jedes Kapitel der Arbeit diesen ‚roten Faden‘ erkennbar machen, indem
entsprechend ins Kapitel eingeführt und das folgenden Kapitel entsprechend
angeknüpft wird. Es sollte deutlich werden, wie die Kapitel in ihrer Reihenfolge
zusammenhängen, welches Unterthema mit Blick auf das Gesamtthema verhandelt
wird. Der Anfang und/oder das Ende eines Kapitels wird genutzt, um den Bezug
des Kapitels zur übergreifenden Fragestellung bzw. zu den vorangegangenen und
folgenden Kapiteln zu klären. Durch diese inhaltlichen Verweise und Bezugnahmen
verstärken Sie den ‚Fahrplan Ihres Textes‘ und erleichtern Ihrer Leserschaft, Ihrem
Argumentationsgang zu folgen (vgl. Esselborn-Krumbiegel 2012:23ff.).
Für eine nachvollziehbare Gedankenführung ist es unverzichtbar, die Aussagen,
die in einem Abschnitt, einem Kapitel oder einem Absatz gemacht werden sollen,
‚auf den Punkt zu bringen‘, d. h. sie möglichst knapp und präzise zu benennen. Es
hilft bei der Sortierung eines Textes, wenn zu jedem Abschnitt die entscheidende
7.3 Ein Resümee 225

Aussage pointiert formuliert wird. Denn nur so wird die logische Struktur des
Textes jenseits aller Details und Abschweifungen erkennbar.

7.3 Ein Resümee


7.3 Ein Resümee
Wissenschaftliches Arbeiten ist auf Lektüre und Schrift angewiesen. Aus diesem
Grund widmet sich das Studium dem Lesen und Schreiben wissenschaftlicher
Texte. Beides will gelernt sein. Lesen wurde als eine stille, einsame, nicht immer
leichte, aber oft bereichernde und den Horizont erweiternde Tätigkeit vorgestellt.
Lesen führt uns in die Gedankenwelt unserer Disziplin und Profession. Es liefert
uns Impulse für unsere eigene Forschungs- und Erkenntnistätigkeit. Es verbindet
uns mit Gleichgesinnten, mit jenen, die im selben Feld operieren. Gleichwohl hilft
es, uns zu identifizieren und uns gegen andere abzugrenzen.
Lesen ist eine versteckte Form der Selbstreferenz: Lesende reproduzieren nicht
das vom Autor Geschriebene, sondern ‚schreiben lesend ihr eigenes Buch‘. Sie erar-
beiten sich ihr eigenes Verständnis aufgrund ihrer ureigenen Leseerfahrung, ihres
eigenen Vorwissens, ihres Könnens und ihres Interesses. Die Selbstbezüglichkeit
des Lesens macht verständlich, dass sich jeder seinen eigenen Zugang zum Lesen
erwirken muss. Es gibt keinen Zugang, den alle gleichermaßen nehmen könnten.
Jeder muss sein Lesen selbst organisieren, seine Aufmerksamkeit selbst dosieren,
sein Tempo selbst bestimmen, sich sein eigenes Verstehen verständlich machen,
sein eigenes Behalten und Vergessen sortieren. Es wurde aufgezeigt, wie das Lesen
im wissenschaftlichen Kontext arrangiert werden könnte. Es wurde gezeigt, mit
welchen Textsorten man es zu tun bekommt und wie Texte recherchiert, ausge-
wählt und bewertet werden können. Das Lesen dient dem Sammeln von Ideen zur
Produktion eigener Texte. Es bereitet das Schreiben vor.
Erst das Niedergeschriebene, nicht das Gedachte oder Gesagte, ist das Material
wissenschaftlicher Arbeit. Schrift und Buchdruck haben eine wissenschaftliche
Kommunikation im modernen Sinne erst möglich gemacht. Es wurde im Vertie-
fungstext 09 aufgezeigt, was sich ändert, wenn die Gesellschaft sich auf schriftliche
statt mündliche Kommunikation einlässt.
Als Studierende werden Sie selbst Texte schreiben. Sie werden das Schreiben als
eine anstrengende körperliche Tätigkeit, als eine emotionale Angelegenheit, als einen
persönlichen Akt, als eine kognitiv anspruchsvolle Tätigkeit und als ein soziales
Tun kennenlernen. Das Schreiben von Texten ist eine Kunst, die leider nicht immer
beherrscht wird, so dass wir nicht selten auf unstrukturierte, schlecht formulierte bis
unverständliche Texte stoßen. Es wurden individuelle und institutionelle Aspekte
226 7 Lesen und Schreiben

aufgeführt, die für schlechte Texte mitverantwortlich sind. Die Kenntnis dieser
Aspekte kann helfen, das eigene Schreiben zu verbessern.
Schreiben beginnt mit der Selektion und der Sortierung der (angelesenen) Ge-
danken. Es wurden Anregungen gegeben, wie sich komplexe Sachverhalte ordnen
und in eine Reihenfolge bringen lassen. In Kapitel 9.1 wird dargelegt, aus welchen
Elementen sich ein wissenschaftlicher Text zusammensetzt und wie er in der Regel
aufgebaut sein sollte. Zudem werden in Kapitel 9.2 alle studienrelevanten Texttypen
und die von ihnen erwarteten Inhalte vorgestellt. Damit wird das Wissenswerte
zum Thema Schreiben abgerundet. Doch an dieser Stelle sei bereits festgehalten:
Wer elegant und geschliffen schreiben möchte, wer Texte formulieren und darbieten
möchte, die mit Interesse und Vergnügen gelesen werden, kommt nicht umhin, sich
während des Schreibens immer wieder in die Rolle des Lesers bzw. der Leserin zu
versetzen. Schreibende übernehmen die Rolle der Lesenden, um herauszufinden,
ob das Geschriebene verständlich ist oder nicht. Und damit gilt: Schreiben ist
Lesen. Nicht nur, weil Schreibende ihr eigenes Geschriebenes immer wieder lesen,
sondern weil Schreibende LeserInnen und SammlerInnen fremder Ideen sind. Sie
lesen Bücher und Aufsätze anderer AutorInnen und präsentieren ihrer Leserschaft
ihre ‚Auslese‘. Sie präsentieren in ihrer Schrift ‚Erlesenes‘. Schreiben ist Lesen, und
Lesen ist Schreiben. Denn LeserInnen schreiben den Text, den sie lesen, neu. Sie
müssen alle Buchstaben und Satzzeichen, alle Wörter und Sätze, alle Aussagen und
alle Argumente, die ihnen ein Text anbietet, in ihrem Bewusstsein neu zusammen-
fügen. Sie können den fremden Sinn nicht einfach importieren oder kopieren. Sie
müssen dem Geschriebenen ihren ureigenen Sinn einschreiben. LeserInnen sind
immer auch SchreiberInnen, so wie SchreiberInnen immer auch LeserInnen sind.

Zur Überprüfung Ihres Lernerfolgs bearbeiten Sie bitte


t Arbeitsblatt 10: Zu Kapitel 7.1 – Lesen
t Arbeitsblatt 11: Zu Kapitel 7.2 – Schreiben
t Arbeitsblatt 12: Zu Kapitel 7 – Lesen und Schreiben
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
Denken und Präsentieren
8 Denken und Präsentieren 8

Unsere Gedanken fließen dahin, und nur in Ausnahmesituationen machen wir uns
Gedanken über unser Denken. Wie denken wir eigentlich? Wie funktioniert das
Denken? Wie funktioniert wissenschaftliches Denken? Wie funktioniert erkennen-
des Denken? Erfolgt Denken rein rational? Oder sind selbst im wissenschaftlichen
Denken Emotionen und Empfindungen im Spiel?

8.1 Denken
8.1 Denken
Denken ist ein einsames Geschehen. Es findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit
statt, auch wenn es in der Öffentlichkeit stattfindet. Die Gedanken sind in unseren
Bewusstseinen eingeschlossen. Sie lassen sich nicht veröffentlichen. Wer seine Ge-
danken einer Öffentlichkeit präsentieren möchte, muss sie ‚übersetzen‘. Er muss
aus den Gedanken Mitteilungen machen. Er muss sie dazu in eine andere Gestalt,
in eine für andere wahrnehmbare und verständliche Form bringen. Er muss die
Stille seines Denkens vertonen. Er muss sein Denken versprachlichen. Er muss
seine Vorstellungen ausformulieren, in vernehmbare Worte und Sätze kleiden,
mündlich oder schriftlich. Er muss, was er sich vorstellt, in sichtbare, anschauliche
Bilder verwandeln, im übertragenen wie im wahrsten Sinne des Wortes. Gedanken
bleiben im Denken verschlossen. Sie gelangen nur als etwas anderes, als Vertonung,
Versprachlichung, Verbildlichung nach außen, in die Kommunikation. Präsentati-
onen sind die veröffentlichte, vernehmbare, vertonte, versprachlichte, verbildlichte
Form gedachter Gedanken, die selbst notwendiger Weise im Verborgenen bleiben.

T. M. Bardmann, Die Kunst des Unterscheidens,


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5_9, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
228 8 Denken und Präsentieren

8.1.1 Erkennendes Denken

In der alteuropäischen Tradition wurde Erkenntnis als ein Erleiden eines Realitäts-
eindrucks verstanden. Als dränge sich die unabhängig vom Erkennenden gegebene
Realität den Erkennenden als Erkenntnis auf (Realismus). Die Erkennenden scheinen
das Erkennen der Realität quasi passiv zu erleiden. Man glaubte, dass Erkennende,
die derselben Realität ausgesetzt werden, diese gleichsinnig erlebten – es sei denn,
es schleichen sich Irrtümer, Korruptionen, Perversionen, Sünden oder sonstige
Defekte ein, die die Erkennenden auf Abwege bringen (vgl. Kap. 2.2).123
Je aktiver sich aber die moderne Wissenschaft um den Erwerb und die Kon-
trolle neuen Wissens bemühte, desto untauglicher erschien die Idee eines passiven
Erleidens von Erkenntnis. Erkenntnis und Wissensgewinn werden zunehmend
als Angelegenheiten des aktiven menschlichen Tuns, Wollens und Entscheidens
begriffen (Konstruktivismus).
Mit Kant werden Realitätstests zu Selbsttests des Erkennenden, und mit Kant
wird die Was-Frage der Erkenntnis zur Wie-Frage umformuliert. Kant fragt nicht
mehr: „Was gibt es?“ und: „Was gilt es zu erkennen?“, sondern: „Wie ist Erkenntnis
möglich?“ Von nun an beobachten die BeobachterInnen nicht mehr gemeinsam eine
von ihren Beobachtungsleistungen unabhängige, vorgegebene Realität, sie begin-
nen vielmehr, einander zu beobachten, um festzustellen, dass sie unterschiedlich
beobachten und dadurch unterschiedliche Wirklichkeiten hervorbringen. Es wird
erkannt, dass das menschliche Denken zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche
Erkenntnisse angefertigt hat (Historisierung des Denkens; Sukzession von Vorstel-
lungen) und dass das, was sich das Denken als Erkenntnis vorstellt, abhängig ist von
der sozialen Position, von der aus gedacht wird (Standortgebundenheit des Denkens;
soziale Strukturen bedingen das konkrete Denken und die Denkmuster auf eine
Weise, die dem Denken aufgrund von Reflexionssperren u. U. nicht zugänglich
ist). Wie wir denken und was wir denken, ist nicht der Welt geschuldet, auch nicht
einfach nur unseren biologischen Anlagen, sondern maßgeblich unserer Erziehung
und Sozialisation, der durchlaufenen Bildungs- und Entwicklungsprozesse, der
gesammelten Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen und Institutionen
sowie der Art der sozialen Beziehungen und Bindungen, die wir erleb(t)en. Den-

123 Heute begreift man ein unterschiedliches Erleben von ein und derselben Realität nicht
mehr unbedingt als Irrtum oder Defekt. Man hat inzwischen erkannt (!), dass Erleben
genau das ist, worauf man seine Aufmerksamkeit richtet. Erleben ist nicht von den
‚Tatsachen‘ abhängig, sondern von den Einstellungen den Tatsachen gegenüber. Nicht
die Tatsachen, sondern die Einstellungen bestimmen das Erleben.
8.1 Denken 229

kende Systeme sind historische Systeme. Die Verarbeitung von Reizen im Denken
ist abhängig vom bereits Gedachten, den Erfahrungen und den Erwartungen.
Folgen wir Maturana und Varela (1987), so ist das erkennende Denken nicht
durch die Objekte der Außenwelt, sondern durch die Strukturen des erkennenden
Systems determiniert. Menschen verfügen über ein operational und funktional
geschlossenes Nervensystem, das nicht zwischen internen und externen Auslösern
(Reizen) differenzieren kann. Von daher sind Wahrnehmungen (im Sinne des
Für-wahr-Nehmens) und Illusionen auf dieser Ebene ununterscheidbar. Erst die
Wahrnehmung der Wahrnehmung, erst bewusstes, sich selbst denkendes Denken,
erzeugt Zweifel und ermöglicht Unterscheidungen.124
Menschliche Erkenntnis resultiert aus privaten Erfahrungen und ist als Leistung
des Organismus grundsätzlich subjektiv und damit unübertragbar. Jeder erlebt
für sich selbst. Die Sprache ist das Hilfsmittel, subjektives Erleben wenigstens
ansatzweise anderen anzuzeigen, es sozial, kommunikativ werden zu lassen. Der
Informationsgehalt kommunizierter Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse
richtet sich allerdings ausschließlich nach der Struktur des Empfängersystems.
Der Empfänger bestimmt den Sinn einer Botschaft.
Menschliches Erkennen – ob im Alltag oder in der Wissenschaft – ist laut
Konstruktivismus weder die getreue Repräsentation einer vom Erkennenden
(Beobachter) unabhängigen Realität noch willkürliche Konstruktion. Vielmehr
dient das alltägliche wie wissenschaftliche Erkennen der Lebenserhaltung und
entspricht damit den strukturellen Möglichkeiten und dem jeweiligen Zustand
des erkennenden Systems an dem Ort seiner Existenz.
Fragt man danach, wie die Wissenschaft zu ihrem Wissen kommt, fragt man
nach den wissenschaftlichen Erkenntnisweisen. Die eine Erkenntnisweise führt
von Einzelbeobachtungen schlussfolgernd zu allgemeinen Aussagen (Induktion),
die andere führt von allgemeinen Gesetzen zu Schlussfolgerungen auf Einzeler-
eignisse (Deduktion). Bei der induktiven Erkenntnisweise gelangen wir aufgrund
von hinreichend vielen Beobachtungen über auffällige Regelmäßigkeiten zu allge-
meingültigen Aussagen. Das beinhaltet allerdings das Problem, dass womöglich von

124 Im Konstruktivismus lautet die Anweisung: „Beobachte den Beobachter!“ Bei der
Befolgung dieser Anweisung bricht die Vorstellung von Wissen als mehr oder weniger
wahrheitsgetreue Widerspiegelung einer beobachterunabhängigen, ontologischen
Wirklichkeit zusammen. Es wird kenntlich, dass die Vielfalt unserer Welt das Ergebnis
vielfältiger Beobachtungen ist, wie sie nicht nur auf individueller, sondern auch auf
sozialer Ebene ständig stattfinden. Mit der Aufforderung, den Beobachter zu beobach-
ten, treibt der Konstruktivismus den Beobachter in eine zirkuläre, selbstbezügliche
Position, in der ihm alle Freiheit zugestanden und damit aber auch alle Verantwortung
übertragen ist.
230 8 Denken und Präsentieren

einer relativ kleinen Anzahl an beobachteten Einzelphänomenen in unzulässiger


Weise auf eine Gesamtheit geschlossen wird. Die Wahrscheinlichkeit der Zuläs-
sigkeit der Verallgemeinerung wächst mit der Anzahl der beobachteten Fälle. Bei
der deduktiven Erkenntnisweise gelangen wir, ausgehend von allgemeingültigen
Aussagen in Form von Gesetzen oder Theorien, zu prognostischen Aussagen über
Einzelphänomene. Hier begegnet uns das Problem, dass ein Einzelfall in unzulässiger
Weise einer Gesamtheit zugeordnet wird. Bei deduktiven Verfahren überprüfen wir
die Hypothesen, die sich aus den theoretischen Annahmen bzw. allgemeingültigen
Gesetzen ergeben. Bei induktiven Verfahren generieren wir Theorien bzw. Gesetze
aufgrund einer Sammlung von Einzelbeobachtungen.
Bei der Deduktion subsumieren wir einen Einzelfall unter eine allgemeine
Regel. Wir erfahren nichts Neues, wir übertragen nur den Wahrheitsanspruch
der bekannten Regel aufgrund unserer Schlussfolgerung auf den Fall. Bei der
Induktion generalisieren wir, wir ‚erweitern‘ die an Einzelfällen gesammelten Er-
fahrungen zu einer generellen Regel. Wir unterstellen dabei keine Wahrheit, wohl
aber Wahrscheinlichkeiten.
Von beiden Erkenntnisweisen wird eine dritte unterschieden: die Abduktion.
Ausgehend von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und der Beobachtung eines über-
raschenden Einzelphänomens, das sich nicht subsumieren lässt, kreieren wir beim
abduktiven Verfahren eine neue Erklärung. Die Abduktion führt zu erklärenden
Hypothesen, bei denen der Fall zu einem Fall einer neuen Regel wird. Die Abduk-
tion ist ein gewagter Schluss, ein kreativer Akt, bei dem ein teilweise bekannter
Fall mit einer neu erfundenen Gesetzmäßigkeit in Zusammenhang gebracht wird.
Ein solches Verfahren setzt, wenn es nicht auf den Zufall setzt, auf eine metho-
disch kontrollierte Suspendierung des bewusst arbeitenden, mit logischen Regeln
vertrauten Verstandes. Abduktion verlangt die Bereitschaft, alte Überzeugungen
aufzugeben und neue zu suchen (so Reicherts 2003:283). Die neue Ordnung ist keine
beliebige. Sie muss zu den überraschenden Tatsachen passen, sie muss überprüfbare
Hypothesen erlauben, und sie muss dem Erkenntnisprozess hilfreich und nützlich
sein: Sie muss brauchbare (Re-)Konstruktionen ermöglichen.

Induktion: Deduktion: Abduktion:


1. Lassie ist wachsam. 1. Colliehündinnen sind 1. Colliehündinnen sind
wachsam. wachsam.
2. Lassie ist eine Collie- 2. Lassie ist eine Collie- 2. Lassie ist wachsam und
hündin. hündin. einfühlsam.
3. Colliehündinnen sind 3. Lassie ist wachsam. 3. Lassie ist eine sensible
wachsam. Colliehündin.
8.1 Denken 231

Naive Empiristen glauben, dass sich Aussagen, Hypothesen und Theorien durch
die Beobachtung der Realität verifizieren lassen. Verifizieren meint, durch Über-
prüfung bewahrheiten. Kritische Rationalisten glauben dagegen, dass ein solcher
Nachweis nicht endgültig zu erbringen ist, da sich möglicherweise ein Fall finden
lässt, der die bewahrheitete Aussage widerlegt. Das einzige, was wir nach Meinung
der Rationalisten mit Gewissheit zu leisten vermögen, ist die Widerlegung einer
Hypothese. Wir können Aussagen falsifizieren. Wir können den Nachweis erbrin-
gen, dass es einen oder mehrere Fälle gibt, die der Aussage zuwiderlaufen. Wenn
eine Aussage widerlegt ist, ist sie widerlegt und kann nicht länger als bewahrheitet
gelten, während eine bewahrheitete Aussage jederzeit widerlegt werden könnte.
Falsifikationen sind sicher. Verifikationen bleiben unsicher.
Laut Popper, dem Hauptvertreter des Kritischen Rationalismus, ist die Falsifi-
kation, und nicht die Verifikation der Auftrag der WissenschaftlerInnen: Sie haben
Hypothesen aufzustellen und zu testen. Die Intention richtet sich dabei darauf, die
Thesen zu widerlegen (Falsifikationsprinzip). Als wissenschaftlich gelten Aussagen
dann, wenn sie sich empirisch testen und widerlegen lassen. Aussagen, die sich nicht
überprüfen lassen und nicht an der Realität scheitern können, gelten im Kritischen
Rationalismus als pseudowissenschaftlich.

8.1.2 Denken als kognitive Konstruktionsleistung

Der radikale Konstruktivismus startet mit der neurophysiologischen Erkenntnis,


dass die Nervenzellen nur die Intensität und nicht die Natur eines Wahrnehmungs-
reizes codieren. Sie folgen dem Prinzip der undifferenzierten Codierung. Heinz von
Foerster (1973) leitete daraus ab, dass es keinen direkten Zugang zur realen Welt
gibt. Vielmehr ist die Welt, wie wir sie (er-)kennen, das Ergebnis innerer Konstruk-
tionsprozesse. Realität ist die Konstruktionsleistung eines Beobachters. Humberto
Maturana (1982) erweiterte diese These um das Prinzip der Autopoiese: Lebende
und kognitive Systeme sind demnach geschlossene Systeme, die keinen Zugang zu
ihrer Umwelt haben. Sie operieren ausschließlich selbstreferentiell, d. h. sie nehmen
die Ergebnisse ihrer Operationen immer wieder auf und benutzen sie für weitere
Operationen gleichen Typs. So entsteht ein zirkulärer Prozess, in dem das System
sich selbst und seine Umwelt aus seinen eigenen Bestandteilen erzeugt. Das Außen
entsteht im Innern, eine paradoxe Ausgangslage.
Im sozialen Konstruktivismus wird die These der individuellen Konstruktion von
Wirklichkeit erweitert um die These der gleichzeitigen sozialen Konstruktion von
Wirklichkeit (Berger, Luckmann 1969). In diesem Sinne erklären z. B. Kenneth J.
und Mary Gergen (2009), eine vorsprachliche Welt bekomme ihren Sinn und ihre
232 8 Denken und Präsentieren

Bedeutung erst mit der Namensgebung, mit den Bezeichnungen, also durch die
Sprache (vgl. Gergen 2002). Die Sprache aber ist keine individuelle, sondern eine
durch und durch soziale Errungenschaft. Ihre Begriffe sind keine individuellen Er-
findungen und sie sind nie nur einfache Abbildungen von Gegebenheiten, sondern
immer auch „zweckdienliche Handlungen“ (Gergen, Gergen 2009:16), mit denen
Kollektive ihre Beziehungen untereinander und zur Welt gestalten.
Der operative Konstruktivismus der Systemtheorie betont die Gleichzeitigkeit der
Wirklichkeitserzeugung in psychischen und sozialen Systemen. Während die psychi-
schen Systeme via Denken von Gedanken ihre Wirklichkeiten konstruieren, finden
parallel in den Kommunikationen der sozialen Systeme (z. B. der Wissenschaft, des
Rechts, der Politik, der Massenmedien, der Kunst etc.) ‚Wirklichkeitskonferenzen‘
statt, in denen – ähnlich wie in den Bewusstseinen der Individuen – via Unterschei-
dungen Entwürfe zur Beschreibung einer unbekannt bleibenden Realität erstellt
werden. Die kursierenden ‚Wahrheiten‘ über die Realität sind zugewiesene Wahr-
heiten. Die Realität wird nicht entdeckt oder erkannt, sie wird gedeutet. Sie wird
interpretiert, und zwar unterschiedlich je nach Interessenlage, Zielvorstellungen,
Traditionen oder unterschiedlicher Geschichte der BeobachterInnen.

8.1.3 Bewusstsein, Leben, Kommunikation

Denken findet im Bewusstsein statt. Bewusstsein ist auf einen lebenden Organis-
mus als seinen Träger und auf dessen neuronales und biochemisches Prozessieren
angewiesen. Bewusstsein findet in der Welt nicht nur andere lebende Organismen
mit und ohne eigenem Bewusstsein vor, sondern auch Kommunikationen, an denen
sich Bewusstseine beteiligen können.
Bewusstsein ist – ebenso wie Leben und Kommunikation – eine eigenständige,
autonome Operationsform, die eigene Elemente prozessiert, eben die Gedanken. Ge-
danken reihen sich an Gedanken und bilden das Bewusstsein, das als autopoietisches
System operativ geschlossen operiert: Meine Gedanken schließen ausschließlich
an meinen Gedanken an. Ich kann über meinen Körper und meine Sinne der Welt
oder der Kommunikation allenfalls ‚unspezifische Reize‘, Irritationen entnehmen,
aus denen ich dann mache, was ich mache: meine Gedanken.
Umweltkontakt erhält das Bewusstsein durch strukturelle Kopplungen ans Ner-
vensystem, das seinerseits eine Einrichtung zur Selbstbeobachtung des Körpers ist,
der seinerseits operativ geschlossen operiert und sich ausschließlich auf körpereigene
Zustände bezieht. Eine Leistung des Bewusstseins besteht darin, körperinterne
8.1 Denken 233

Reize der Umwelt zuzurechnen.125 Indem das Bewusstsein körperinterne Zustände


externalisiert, konstruiert es eine von ihm unabhängige, äußere Realität, die es für
seine Gedanken verantwortlich machen kann.
Kommunikation ist – ebenso wie Leben und Bewusstsein – eine eigenständige,
autonome Operationsform, die eigene Elemente prozessiert, eben die Kommunika-
tionen. Kommunikationen reihen sich an Kommunikationen und bilden Kommu-
nikationssysteme (soziale Systeme). Und wie im Falle des Bewusstseins sind auch
Kommunikationssysteme operativ geschlossen, d. h. sie traktieren ausschließlich
selbsterzeugte Kommunikationen. Gedanken oder organische Prozesse können
nur in kommunizierter Form Teil der Kommunikation werden.
Bewusstsein und Kommunikation sind ko-evolutiv entstanden, und sie entwi-
ckeln sich ko-evolutiv. Das heißt: Unser Denken entwickelt sich in Abhängigkeit
von der Entwicklung unserer Kommunikation und vice versa. Verändern sich z. B.
die Kommunikationsstile oder Kommunikationstechnologien, verändern sich auch
unsere Denkweisen. Die enge Verbundenheit des denkenden Bewusstseins mit der
kommunizierenden Kommunikation erklärt sich daraus, dass beide sinnverwen-
dende Systeme sind.126

8.1.4 Denkende Systeme sind beobachtende Systeme

„Beobachtung ist eine Operation, die aus den beiden Momenten der Unterscheidung
und der Bezeichnung besteht. Etwas beobachten heißt, etwas im Rahmen einer
Unterscheidung bezeichnen“ (Kneer, Nassehi 1993:110). Eine Beobachtung ist nur
möglich, wenn das Beobachtete von etwas unterschieden wird. Der Unterschied
zwischen dem Beobachteten und dem davon Unterschiedenen besteht darin, dass
das Beobachtete im Gegensatz zum bloß davon Unterschiedenen bezeichnet wird.
Da das davon Unterschiedene unbezeichnet bleibt, fungiert es (im Moment der
Beobachtung) als ‚blinder Fleck‘ der Beobachtung.127

125 „Das Bewußtsein (…) kehrt sozusagen das Innen des Körpers nach außen, und selbst
der eigene Leib wird vom Bewußtsein als bewußtseinsextern, als Gegenstand des
Bewußtseins erlebt“ (Luhmann 1990a:19f.).
126 Auch wenn der Sinn, den sie jeweils prozessieren, nicht identisch ist, gelingt es beiden
in aller Regel, sich über Sprache strukturell aneinander zu koppeln.
127 „Bei der Handhabung einer Unterscheidung haben Sie immer einen blinden Fleck oder
eine Unsichtbarkeit im Rücken. Sie können sich als denjenigen, der eine Unterscheidung
handhabt, nicht beobachten, sondern Sie müssen sich selbst unsichtbar machen, wenn
Sie beobachten wollen“, erläutert Luhmann (2008:146).
234 8 Denken und Präsentieren

Die Beobachtung ist eine tatsächlich stattfindende Operation, ganz unabhängig


davon, was oder wie sie beobachtet. „Die Realität ist mit dem Vollzug der Ope-
ration gegeben, und insofern sind alle beobachtenden Systeme reale Systeme mit
entsprechenden Realabhängigkeiten“ (Luhmann 1990b:78). Der Realitätsbezug ist
mit einem solchen Beobachtungsansatz also nicht geleugnet, er ist nur von dem,
was die Beobachtung beobachtet, abgezogen und auf die operative Ebene, den tat-
sächlichen Vollzug der Beobachtung, verschoben. Diese Ebene des tatsächlichen
Operierens ist für beobachtende Systeme aber wiederum nur über Beobachtung,
nämlich über eine Beobachtung 2. Ordnung, zugänglich.
Beobachtung 1. Ordnung meint: Ein Beobachter beobachtet die Welt oder
Ausschnitte der Welt so, als stünden sie ihm als äußere Gegebenheiten gegenüber
und als gälte es, sie zu bezeichnen. Seine Vorzugsfrage lautet: „Was ist der Fall?“,
allenfalls noch: „Und was steckt dahinter?“ (vgl. Luhmann 1993a). Beobachtung
2. Ordnung meint: Ein Beobachter beobachtet den Beobachter 1. Ordnung. Dabei
lautet seine Vorzugsfrage: „Wie beobachtet der Beobachter?“128
Die Beobachtung 2. Ordnung ist immer auch eine Beobachtung 1. Ordnung.
Auch sie muss ihren Gegenstand, die Beobachtung 1. Ordnung, bezeichnen und
dadurch von Etwas unterscheiden: „Was ist die andere Seite der bezeichneten Un-
terscheidung?“ Die Beobachtung 2. Ordnung ist weniger und sie ist mehr als die
Beobachtung 1. Ordnung. Sie ist weniger, „weil sie nur Beobachter beobachtet und
nichts anderes. Sie ist mehr, weil sie nicht nur diesen ihren Gegenstand sieht (=
unterscheidet), sondern auch noch sieht, was er sieht und wie er sieht, was er sieht;
und eventuell sogar sieht, was er nicht sieht, und sieht, dass er nicht sieht, dass er
nicht sieht, was er nicht sieht“ (Luhmann 1990a:16). Beobachtung 2. Ordnung sieht
die blinden Flecken des Beobachters 1. Ordnung.
Jede Beobachtung ist durch einen blinden Fleck gekennzeichnet, der sie ermög-
licht. Rein organisch betrachtet bezeichnet der blinde Fleck die Eintrittsstelle der
Sehnerven ins Auge. An dieser Stelle sind keine Sehnerven in Funktion, so dass
hier im wahrsten Sinne des Wortes Blindheit herrscht. Diese Blindheit ist aber
konstitutiv für das Sehen. Ohne diese Blindheit gäbe es kein Sehen.
Im Rahmen einer Theorie des Beobachters meint der blinde Fleck die andere Seite
der benutzten Unterscheidung. Der Beobachter bekommt nur etwas zu sehen, wenn
er eine Unterscheidung benutzt und in ihrem Rahmen das Beobachtete bezeichnet.
Mit der Bezeichnung aber dunkelt er die andere Seite der benutzten Unterscheidung

128 „Mit welchen Unterscheidungen beobachtet er?“ „Welche Bezeichnungen benutzt er?“
„Was sind die blinden Flecken seiner Beobachtung?“ „Warum beobachtet er so und
nicht anders?“
8.1 Denken 235

wie auch alle anderen sonst noch möglichen Unterscheidungen ab. Sie werden zum
blinden Fleck seiner Beobachtung.
Blinde Flecken können nur durch weitere Beobachtungen (mit je eigenen blinden
Flecken) beobachtet werden.

8.1.5 Die Stile des wissenschaftlichen Denkens

Immer wieder wird im pädagogischen Bereich ein ganzheitliches Denken gefordert.


Die Forderung nach einem ganzheitlichen Denkstil führt jedoch vor das Problem,
dass das Ganze immer nur in Teilen zu erfassen ist, während es doch mehr ist als
die Summe seiner Teile. Ganzheitliches Denken sollte vor diesem Hintergrund –
entgegen der Selbstbetitelung – um die notwendige Selektivität jedweder Betrachtung
und Beschreibung wissen.
Vielleicht wäre es besser, ein vernetztes Denken zu fordern, eine Methodik des
Denkens, die sich bemüht, im Zusammenspiel der Vielfalt relevanter Elemente
einen Zusammenhang bzw. ein System zu erkennen. Vernetztes Denken versucht,
die Beziehungen zwischen den Elementen auf ihre positive oder negative Polarität
hin zu qualifizieren, um so auch die zu erwartende Dynamik eines Zusammenhangs
bzw. eines Systems zu erfassen.
Was in jedem Fall zu kurz greift, ist ein mechanistisches Denken. Das me-
chanistische Denken diente den frühen Naturwissenschaften zur Interpretation
natürlicher Vorgänge. Die physikalische Welt auf mechanische Weise zu erklären
heißt, sie durch Größen, die gezählt und gemessen werden können, zu erklären.129
Dem mechanistischen Denken geht es um die determiniert geordneten Relationen
zwischen präzise definierten Einzelteilen eines geschlossenen Ganzen. Wird das
mechanische Denken der Naturwissenschaften in die Human- und Sozialwissen-
schaften übertragen, nimmt es einen instrumentell-technokratischen Charakter
an.130 Es vertritt Vorstellungen der Machbarkeit, Beherrschbarkeit, Kontrollierbar-

129 Das mechanistische Denken bricht mit der traditionellen scholastischen Philosophie,
mit metaphysisch-spekulativen Denkweisen und mit der Gewohnheit, die Natur durch
Magie zu erklären (vgl. Mayr 1987:74ff.). Paradigmatisch für ein mechanistisches Den-
ken stehen die Cartesianische Weltanschauung und die Prinzipien der Newton‘schen
Physik.
130 So wie man sich einredet, dass den natürlichen Phänomenen eine Ordnung innewohnt,
die man bei der Konstruktion von Maschinen nutzen kann, so redet man sich ein, eine
solche Ordnung auch in sozialen Zusammenhängen zur Geltung bringen zu können,
ja zu müssen, weil es die ‚eigentliche‘, ‚von Gott gewollte‘, ‚natürliche‘ Ordnung sei, die
von Menschen nur korrumpiert und verzerrt werde.
236 8 Denken und Präsentieren

keit und Steuerbarkeit zwischenmenschlichen Geschehens.131 Doch der Mensch ist


kein mechanisches System, er ist keine Maschine und kein technisches Gerät. Der
Mensch ist nicht trivial und nicht trivialisierbar. Der Mensch ist ein komplexes
und in seiner Komplexität unfassbares Wesen. In der pädagogischen Arbeit mit
Menschen verbietet sich somit ein mechanistisches Denken.
Erfolgversprechender, weil zum Gegenstand pädagogischen Handelns besser
passend, ist das systemische Denken. Systemisches Denken ist ein Denken, dass
sich selbst der Zumutung aussetzt, die Welt primär über die Differenz von System
und Umwelt zu erfassen (grundlegend Luhmann 1984). Systemisches Denken
interessiert sich für Systeme in ihrer Umwelt. Es interessiert sich vor allem für
sinnverwendende Systeme in ihrer Umwelt, womit einerseits Bewusstseinssysteme
(z. B. Kinder, Jugendliche, SchülerInnen, Erwachsene, LehrerInnen, KlientInnen,
Kultur-, Sozial- und KindheitspädagogInnen etc.) und Kommunikationssysteme
(z. B. das System Familie, Schule, Unterricht, Arbeitsorganisation, Beratung und
Mediation, Bildungs- und Erziehungssystem, Wissenschaft, Recht, Kunst etc.)
gemeint sind.
Systemisches Denken interessiert sich weniger für lineare Ursache-/Wirkungsbe-
ziehungen, als vielmehr für Feedbackschleifen (zirkuläre Kausalitäten, Rekursionen,
reflexive Strukturationen etc.), die keine Eindeutigkeiten zulassen, sondern dem
Denken Mehrdeutigkeit zumuten.
Systemisches Denken interessiert sich für die Eigenzeiten und Eigendynamiken
von Systemen, die mit den Zeitvorstellungen der BeobachterInnen wenig zu tun
haben müssen.
Systemisches Denken rechnet mit dem Eigensinn von Systemen (etwa von Schü-
lerInnen und KlientInnen, von MitarbeiterInnen und Vorgesetzten). Das heißt, es
rechnet mit latenten, von außen nicht einsehbaren Verbindungen und Verwicklun-
gen, die Interventionen in eine andere als die intendierte Richtung lenken können.
Im systemischen Denken ist man sich nie sicher, wie das, was man sagt oder tut,
beim jeweils anderen ‚verstanden‘ und in Verhalten und Handlung umgesetzt wird.

131 Die mechanistische Denkweise beherrscht vor allem die klassische Organisations- und
Verwaltungslehre. Siehe Autoren wie Henri Fayol (1929), Luther H. Gulick und Lyndall
F. Urwick (1937), (1963) oder Frederick W. Taylor (1913). Die klassischen Organisations-
rationalisierer nahmen an, dass Menschen sich maschinenteilchengleich reibungslos in
die funktionale Organisationsmaschinerie einpassen lassen, dass sich Rationalität und
Eintracht durch Eindeutigkeit der Ziel-/Mittelrelationierungen herbeiplanen lasse, dass
sich der erkannte ‚one best way‘ über alle Ebenen hinweg und durch alle Abteilungen
hindurch ins Unternehmen hinein befehligen lasse, dass sich mit dem Vertrauen in
technische Verfahrensweisen und dem Glauben an die (positivistische, un- und über-
parteiliche) wissenschaftliche Methodik alle Probleme ordnen und regeln lassen. Ein
grandioser Irrtum, wie sich herausstellte.
8.1 Denken 237

Systemisches Denken interessiert sich für die unterschiedlichen Ansichten,


die es in Bezug auf ein und dasselbe Phänomen innerhalb von Systemen gibt. Es
bemüht sich nicht um eine einzige, womöglich einzig richtige Sicht auf die Dinge,
sondern fragt danach, welche Sichten die an einem System Beteiligten entwickeln
und welchen sie folgen.
Systemisches Denken wendet alle Aussagen über die Welt und die in ihr exis-
tierenden Systeme auch auf sich selbst an. Es betreibt Autologie. Und deshalb gilt
es, auch die Erkenntnis der Konstruiertheit der Erkenntnis autologisch zu wenden:
„Wenn Erkenntnis nichts anderes ist als eine Konstruktion, dann gilt dies natürlich
auch für eben diesen Satz“ (Luhmann 1990b:512). Auch die hier vertretene Theorie
ist ‚nur eine‘ wissenschaftliche Konstruktion. Und selbst das Wissenschaftssystem,
in dessen Kontext der Konstruktivismus als Erkenntnistheorie auftritt, ist auch
nur ein (soziales) System, das sich, ebenso wie menschliche BeobachterInnen von
Welt, nur durch sich selbst und nicht durch Rückgriff auf eine äußere Realität zu
spezifizieren vermag.
Ein systemisches Denken lädt ein zu dekonstruktivem Denken. Gemeint ist eine
Methode zur De-Konstruktion herrschender Diskurse und Sprachspiele, z. B. durch:

t hypothetisches Fragen, um den Möglichkeitssinn zu trainieren,132


t Beschreiben aus mehreren Perspektiven, um die Standortgebundenheit der
Ansichten zu verdeutlichen,133
t Umwerten von Wichtigkeiten und scheinbaren Details, um die Kontingenz der
Wertsysteme kenntlich zu machen,134
t Suchen nach alternativem Wissen, um neue Sicht- und Umgangsweisen zu
ermöglichen,135

132 „Angenommen, Ihr Problem wäre verschwunden, was würden Sie dann als nächstes
tun?“
„Stellen Sie sich vor, das Schweigen Ihres Kollegen ist eine Form von Protest. Was
könnte er Ihnen damit sagen wollen?“
„Wenn Ihre Chefin jetzt krank werden würde, wie würde sich das auf Ihr Verhältnis
zu Ihrem Kollegen auswirken?“
133 „Beschreiben Sie die Situation einmal aus der Sicht Ihrer KollegInnen, Ihres Chefs oder
Ihrer Chefin, Ihrer Untergebenen, der KollegInnen aus Nachbarabteilungen …“
134 „Was wird als nebensächliches Detail behandelt, und wie lautete die Geschichte, wenn
man diese Nebensächlichkeit an die Stelle setzte, an der zuvor die Wichtigkeiten ran-
gierten?“
135 „Gibt es andere ZeugInnen, andere InterpretInnen, andere ErzählerInnen?“ „Gibt es
Quellen, die nicht gehört, nicht zitiert wurden?“
238 8 Denken und Präsentieren

t Suchen nach Auslassungen, um Ansichten zu vervollständigen oder in eine


neue Richtung zu lenken,136
t Verdrehen von Ursache-/Wirkungszusammenhängen, um die Zirkularität von
Begründungszusammenhängen erfahrbar zu machen.137

8.1.6 Gefühlssensibles Denken

Denken besteht nicht nur aus Gedanken, sondern auch aus Gefühlen und Empfin-
dungen. Alle unsere Gedanken sind von mehr oder weniger intensiven Emotionen
begleitet (prä- wie auch postkognitiv). Emotionalität meint die Gefühlsbetontheit
eines Individuums, seine Gestimmtheit, auch seine Bereitschaft, sich auf eigene
und fremde Gefühle einzulassen, auf Angst, Ärger, Wut, Trauer, Frustration etc.
Emotionalität wird gern als Gegenpol zur Rationalität dargestellt, wobei meist
zweierlei vergessen wird: a) dass es rational sein kann, sich auf Emotionalität ein-
zulassen und b) dass RationalistInnen ihre Rationalität nicht nur rational, sondern
auch emotional akzeptieren: Sie mögen ihre Art zu denken.
Emotionale Empfindungen entspringen nicht dem ‚innersten Kern‘ eines Be-
wusstseins. Sie werden erlernt. Sie haben ihre Wurzeln in früheren Interaktionen
und Kommunikationen, in früheren Beziehungen und Wahrnehmungen, aus denen
wir allmählich unser je eigenes Selbst konstruieren. Wie wir in unserem Denken
mit Gefühlen umgehen, geht auf unzählige Begegnungen mit anderen Menschen
im Laufe unseres Lebens zurück, insbesondere auf das Miterleben emotionaler
Kommunikationen und emotionsgeladener Konflikte im eigenen Elternhaus
(„Familiendramen“). Vor allem hier lernen wir, über und durch Emotionen zu
kommunizieren. Wir schauen es uns von den relevanten anderen ab, wie mit
eigenen und fremden Emotionen und emotionalen Ausdrucksweisen umzugehen
ist. Wir verfassen im Zuge des Erwachsenwerdens Skripte im Sinne komplexer
emotionsgeladener Ereignisrepräsentationen, in denen wir notieren, welche Art
von Ereignissen mit welchen Emotionen verknüpft sind und wie Emotionen in
welchen Situationen funktionieren. In die eigenen Denkprozesse fließen dabei
unentwegt kulturgeprägte Vorstellungen ein, so dass das Eigene schließlich eine
Mischung aus unterschiedlichsten Einflüssen ist (vgl. Saarni 2002:6ff.). Wir haben
daher mit interindividuellen wie auch interkulturellen Unterschieden zu rechnen.

136 „Was wurde verschwiegen, was wurde nicht gesagt?“ „Was ist die andere Seite der
Bezeichnung?“
137 „Ich bin so unzufrieden, weil mein Kollege mich hängen lässt. Mein Kollege lässt mich
hängen, weil ich so unzufrieden bin.“
8.1 Denken 239

Mit dem Konzept ‚Emotionale Intelligenz‘ (Goleman 1995)138 soll der auf kog-
nitive Bereiche (logisch-mathematisches Denken, Raumvorstellung etc.) bezogene
Intelligenzbegriff (gemessen als IQ) um die entscheidende Persönlichkeitsdimension
des Umgangs mit Gefühlen erweitert werden (EQ)139. Man kann die Emotionale
Intelligenz in fünf Bereiche gliedern:

1. Sich selbst wahrnehmen; Gefühle wurzeln im Unbewussten und werden deshalb


während ihres Auftretens oft nur unzureichend wahrgenommen. Zudem werden
oft mehrere Gefühle mit je eigenen oder verwickelten Dynamiken gleichzeitig
erlebt, was ebenfalls deren angemessene Wahrnehmung erschwert. Die eigenen
Emotionen zu (er)kennen, ist die Grundlage einer Emotionalen Intelligenz. Die
Kenntnis der eigenen Gefühle ermöglicht es, gezielter mit anderen Menschen
zu verhandeln und sich in sozialen Situationen besser zu behaupten.
2. Emotionen handhaben; Obwohl Gefühle spontan auftreten, lassen sie sich den
Umständen entsprechend bewusst beeinflussen und in ihrer Dynamik steuern.
Sie lassen sich auf ein brauchbares Maß ‚herunterregulieren‘, sie lassen sich
deeskalieren, um so konstruktive Aushandlungen und nützliche Kompromisse
zu ermöglichen. Wie die Emotionen selbst, so lassen sich auch die entsprechen-
den Ausdrucksformen regulieren. Man muss sich deshalb nicht verstellen oder
etwas vortäuschen, es geht vielmehr darum, eine ehrliche Ausdrucksform für
seine Gefühle zu finden, die auch sozial angemessen erscheint und von anderen
verstanden wird.
3. Emotionen in Handeln umsetzen; Die meisten Emotionen tendieren von sich
aus zu Handlungen. Aber auch diese Transformation kann mehr oder weniger
angemessen sein. Dabei geht es nicht nur um den klassischen Imperativ der
Selbstbeherrschung, sondern auch und mehr noch um Aspekte der Kreativität,
die von einem emotionalen ‚Fließen‘ abhängen.
4. Emotionen anderer wahrnehmen; Empathie beruht auf der Fähigkeit, die oft
versteckten Signale zu erkennen, die uns anzeigen, was andere empfinden und
wünschen. Empathie verlangt die Fähigkeit, fremdes Ausdrucksverhalten in
Wort, Mimik und Gestik zu interpretieren und situationsadäquat und dem

138 Das Konzept „Emotionale Intelligenz“ stammt ursprünglich von den Psychologen Peter
Salovey und John D. Mayer (1990) und wurde von dem Wissenschaftsjournalisten Daniel
Goleman (1995) popularisiert. War es ursprünglich vor allem auf schulpädagogische
Reformbestrebungen bezogen, so wird es heute besonders intensiv auf Fragen der
Unternehmensführung bzw. Karriereplanung angewandt.
139 Wichtige Anstöße zu diesem Konzept entstammen neueren neurophysiologischen
Forschungen über den engen Zusammenhang zwischen kognitiven und emotionalen
Hirnfunktionen.
240 8 Denken und Präsentieren

individuellen Empfinden des Gegenübers entsprechend angemessen einzu-


ordnen. Dabei setzt Empathie gleichzeitig voraus, sich abgrenzen zu können,
um nicht von den fremden Gefühlen überwältigt und mitgerissen zu werden.
Die Fähigkeit zur emotionalen Perspektivenübernahme fördert ein prosoziales
Verhalten, während ein Mangel an empathischen Fähigkeiten leicht zu Verhal-
tensstörungen und Konflikten führt.
5. Soziale Beziehungen gestalten; Soziale Kompetenz beinhaltet auch die Fähigkeit,
das eigene emotionale Erleben mit den Wahrnehmungen fremder emotionaler
Signale abzugleichen, um interpersonale Effektivität zu erreichen. Es gehört zu
einer befriedigenden Beziehung dazu, dass man sich darüber austauscht, wie
man sich fühlt und sich so seiner eigenen Emotionalität bewusster wird und
u. U. auch gemeinsam nach Bewältigungsstrategien für belastende Konstellati-
onen sucht. Und auch hier muss es darum gehen zu unterscheiden, wie viel an
Selbstoffenbarung und emotionaler Enthüllung wem gegenüber einem selbst
und der Beziehung gut tut.

Carolyn Saarni (2002) bezieht über Daniel Golemans Modell hinausgehend aus-
drücklich die Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes mit in ihren Begriff der
emotionalen Intelligenz ein: Eigene emotionale Fertigkeiten sollen in Abhängigkeit
von den Anforderungen der jeweiligen Umwelt zum Einsatz kommen. Bei der Re-
gulierung der eigenen Gefühle in den eigenen Denkprozessen geht es somit neben
der Selbst-, Fremd- und Beziehungswahrnehmung immer auch um Umwelt- bzw.
Kontextwahrnehmung.
Im Denken sich seiner Gefühle in einer Weise gewahr zu sein, die dem Selbst, dem
Anderen, der Beziehung und der Umwelt gerecht werden, zielt auf die Entwicklung
einer gut ausbalancierten Persönlichkeit. Dem Denken wird damit abverlangt, die
im Moment auftauchenden Gefühle spontan aufzunehmen, sie aber zugleich für eine
gelingende Beziehungsarbeit und ein gekonntes Situationsmanagement strategisch
einzusetzen, so dass eigene wie fremde Interessen und Gefühle gleichberechtigt
eingebracht werden können. In pädagogischen Zusammenhängen geht es mithin
um eine Gegenstrategie zu egoistischen und konkurrenzbasierten gesellschaftlichen
Verhältnissen. Es geht darum, mithilfe der emotionalen Kompetenz „ein Netz von
verlässlichen und sensiblen zwischenmenschlichen Beziehungen aufzubauen, das
für eine responsive, respektvolle und zugleich stimulierende Erziehung der nächsten
Generation so wichtig ist“ (von Salisch 2002:X).
8.1 Denken 241

8.1.7 Denken ist Unterscheiden

Reden ist lautes, veröffentlichtes, oft auch diszipliniertes Denken. Man sagt nicht
alles, was man denkt. Schreiben ist sichtbares, veröffentlichtes, oft noch weit dis-
ziplinierteres Denken. Man schreibt nicht alles, was man auch sagen und denken
würde. Während das Reden und Schreiben strengeren inneren und äußeren Restrik-
tionen unterliegt, ist das Denken relativ frei und erlaubt sich auch Gedanken, die
man besser für sich behält und nicht öffentlich macht, weder in der Rede noch in
der Schrift. Zum Glück kann einem niemand in den Lauf der eigenen Gedanken
hineinschauen.
Das Denken unterscheidet also mehr oder weniger bewusst zwischen Gedanken,
die es via Reden oder Schreiben veröffentlicht und solchen, die es nicht veröffentlicht,
die es bei sich und für sich behält. Es unterscheidet, meist mittels sprachlicher
Unterscheidungen, zwischen sich als einem höchst privaten Geschehen und den
äußeren, anonymen Umständen (der Welt), unter denen es stattfindet.
Das Denken denkt sich nicht nur Geheimnisse gegenüber der Umwelt aus,
sondern auch gegenüber sich selbst. Gedanken, die das Denken sich selbst nicht
traut zu denken, nennen wir das „Unbewusste“ oder „Unterbewusste“. Dass das
Denken seine Gedanken so und nicht anders unterscheidet, hat seine Gründe, die
nicht allein im Denken liegen. Das Denken ist somit unter Umständen nicht ‚Herr
im eigenen Haus‘.
Das Denken allein steuert nicht das Denken. Es wäre viel zu gefährlich, würden
wir uns darauf verlassen, dass unsere Wahrnehmungen richtig sind. Das Denken
unterscheidet sich deshalb in einem wesentlichen Sinne vom Tun und wertet ständig
die Ergebnisse dieses Tuns zur Steuerung des Denkens aus. Es fragt: „Sind die Ver-
haltensweisen passend?“ Nur wenn eine Passung vorhanden ist, ist das Leben und
Überleben in einer natürlichen und sozialen Umwelt gesichert (vgl. Roth 2003:86).
Denken beruht – wie das Reden und Schreiben – auf dem Gebrauch von Unter-
scheidungen zum Zwecke der Bezeichnung. Wir kommen damit auf die Ausführungen
unseres einleitenden Kapitels zurück, das die Wichtigkeit von Unterscheidungen
betonte. Dort hieß es: Da die Welt den BeobachterInnen ihren Sinn nicht zuflüstert
(vgl. Foucault 1991), müssen die BeobachterInnen sich ihren Sinn mithilfe von Un-
terscheidungen, Bezeichnungen und Beschreibungen selbst er-denken. Sie müssen
der Welt einen Sinn zu-schreiben und sich diesen Sinn ein-reden. Es hieß weiter,
dass identische Sachverhalte von unterschiedlichen BeobachterInnen (nicht nur
unterschiedlichen Personen, sondern auch unterschiedlichen wissenschaftlichen
Disziplinen oder unterschiedlichen Institutionen) unterschiedlich beobachtet werden
und dass sich die Beobachtungen und Beschreibungen im Laufe der Zeit wandeln.
242 8 Denken und Präsentieren

Vor diesem Hintergrund kann das Denken mithilfe von Unterscheidungen auch
dazu eingesetzt werden, die Unterscheidungen, die benutzt werden, zu reflektieren
und von alternativen Unterscheidungen zu unterscheiden. Wir können fragen,
welchen Unterschied es macht, wenn benutzte Unterscheidung durch andere Unter-
scheidungen ersetzt werden. Wir können in den Unterscheidungen verweilen und
die Seiten wechseln. Wir können austesten, was mit unseren Ansichten geschähe,
wenn wir die Dinge von einer anderen als der gewohnten Seite aus betrachteten
würden. Erst diese Flexibilität im Umgang mit und in den Unterscheidungen, erst
dieses Jonglieren mit und Austesten von Bezeichnungen eröffnet uns eine Freiheit
im Denken, die heutiger Wissenschaftlichkeit angemessen ist.
Sich im Denken zu trainieren heißt, die vielen denkbaren Möglichkeiten durch-
zuspielen, die sich BeobachterInnen bieten. Es heißt zu erkennen, dass die Einsichten
in die Welt, die wir erhalten, abhängig sind von den Einstellungen, mit denen wir
der Welt begegnen.
Lassen Sie uns das Gemeinte abschließend an einem simplen Beispiel verdeutli-
chen. Es zeigt, dass wir bei der „Befragung der Kartoffel“ je nach Einstellung eine
andere Antwort erhalten:

Wer eine Kartoffel in


Wer eine Kartoffel der Erde vergräbt, er- Wer nach Angebot und
halbiert und auf die hält eine „biologische“ Nachfrage für Kartoffeln
Schnittstelle Jod Antwort. fragt, der erhält eine
träufelt, erhält eine „ökonomische“ Antwort.
„chemische“ Antwort.

Wer Rembrandts Wer nach dem Nährwert


Kartoffelesser ana- einer Kartoffel für den
lysiert, erhält eine Menschen fragt, erhält eine
„ästhetische“ Antwort. Befragung der „medizinische“ Antwort.

Wer eine Kartoffel Kartoffel Wer fragt, ob es er-


zu Boden fallen lässt, laubt ist, Kartoffeln
erhält eine „physikalische“ zu klauen, erhält eine
Antwort. „juristische“ Antwort.

Wer nach der Ein- Wer nach den Möglich-


führung der Kartoffel Wer von allen Merkmalen keiten fragt, Kartoffeln zum
in Deutschland fragt, abstrahiert und mit Kartoffeln Essen zuzubereiten, erhält
erhält eine „historische“ als Einheit operiert, erhält eine „kulinarische“ Antwort.
Antwort. eine „mathematische“ Antwort.

Nach: Stary, Kretschmer 1994:38


8.2 Präsentieren 243

8.2 Präsentieren
8.2 Präsentieren
Die Sprache, genauer: der gesprochene und/oder geschriebene Text sowie die
Bilder, die der Welt präsentiert werden, verkörpern das Denken, manchmal mehr,
manchmal weniger angemessen, manchmal flüssig, geschmeidig, elegant, gekonnt
und verständlich, manchmal sperrig, vertrackt, umständlich, verbaut bis unver-
ständlich. Stets und ständig sind Menschen damit beschäftigt, anderen ihre Ideen
zu präsentieren. Sie sind sich dessen nicht immer derart bewusst, wie sie es sein
sollten. Im wissenschaftlichen Kontext müssen wir uns unserer Präsentationen be-
wusst sein und uns überlegen, wie wir unser Publikum durch unsere Darbietungen
informieren, überzeugen und motivieren. Das verlangt, sich Klarheit bezüglich
des Themas („Was will ich präsentieren?“) und des Ziels („Was will ich mit dem
Präsentierten bewirken?“) zu verschaffen. Es verlangt, sich Gedanken bezüglich
der Zielgruppe zu machen („Zu wem rede ich? Wer soll einbezogen werden? Auf
welches Vorwissen und welche Interessen treffe ich?“) und entsprechend die In-
halte zu sammeln, zu selektieren, zu komprimieren und zu sortieren. Zudem ist
der Ablauf der Präsentation sinnvoll zu strukturieren.

Die Eröffnung:
Wie wollen Sie starten? Wie wollen Sie Interesse wecken:

t indem Sie die Wichtigkeit des Themas herausstellen,


t indem Sie Fragen formulieren,
t indem Sie persönliche Betroffenheit herstellen,
t indem Sie den persönlichen Nutzen aufzeigen,
t indem Sie mit steilen Thesen oder paradoxen Formulierungen provozieren?

Der Hauptteil:
Denken Sie daran, den Hauptteil sinnvoll zu gliedern und nicht inhaltlich zu
überfrachten. Denken Sie daran, die Aufmerksamkeit und die Konzentration
Ihres Publikums aufrechtzuerhalten, indem Sie zwischendurch Fragen stellen,
wenn möglich auch die Medien und die Moderation (im Team) wechseln und
wirkungsvolle Visualisierungen einbauen.

Der Abschluss:
Wie wollen Sie die Präsentation beschließen? Da der erste Eindruck zwar entschei-
dend, der letzte aber bleibend ist, sollten Sie zum Abschluss eine kurze Zusammen-
fassung anbieten, bei der Sie das eingangs angesprochene Ziel wieder aufgreifen
und die Präsentation mit einem klaren Ausblick oder einem deutlichen Appell
244 8 Denken und Präsentieren

beenden. Es folgt danach noch ein persönlicher Dank für die Aufmerksamkeit
und das Interesse.

Schließlich hängen gute Präsentationen von einer guten organisatorischen Vor-


bereitung ab (Klärung des Raumes, der Sitzordnung, der Medien, der Zeiten, des
Begleitmaterials zur Präsentation und der positiven Intonation).
Gute Ideen vermitteln sich nicht von selbst. Sie müssen vorgezeigt, vor Augen
geführt, präsentiert werden. In diesem Abschnitt geht es um die Grundlagen einer
erfolgreichen Präsentation von Ideen und Gedanken.

8.2.1 Medieneinsatz

Präsentationen können zur Steigerung der Verständlichkeit medientechnisch un-


terstützt werden. Beliebte Medien sind die klassische Wandtafel, die Pinnwand, das
Flipchart, der Dia-, Film- und Overhead-Projektor, der Monitor, das Whiteboard
und heute zunehmend beliebt, weil die meisten Medien vereinend, Laptop und
Beamer. Egal, welche Medientechnik Sie zur Unterstützung Ihrer Ausführungen
wählen, Sie sollten sie der Intention angemessen einsetzen, denn sonst wird sie
zum Ärgernis oder zur Ablenkung.
Die Wahl des Mediums könnte sich danach entscheiden, ob Sie die medial zu
präsentierenden Inhalte vor der Präsentation fertig erstellt haben oder ob Sie sie
während der Präsentation entstehen lassen wollen. Tafeln oder beschreibbare Over-
head-Folien oder berührungsempfindliche Touchscreens sind geeignet, um z. B.
komplexe Schemata vor den Augen des Publikums Schritt für Schritt aus dem Nichts
heraus zu erarbeiten. Alles, was entwickelt wird, bleibt dem Publikum im Idealfall
über die gesamte Präsentationszeit hinweg sichtbar, so dass sich jeder jederzeit der
Entwicklung der Argumentation vergewissern kann. Die Zeit des Schreibens an der
Tafel, auf der Folie oder auf dem Screen dosiert das Tempo des Voranschreitens im
Stoff. Es erleichtert dem Publikum, den Ausführungen zu folgen. Das Publikum
bekommt Zeit zu erfassen, was vermittelt werden soll. Es kann nachdenken oder
intervenieren, nachfragen oder Ergänzungen beitragen. Es kann aktiv mitwirken.
Vorgefertigte Folien in einem Präsentationsprogramm gewähren diese Flexibi-
lität nicht. Ihr Vorteil liegt darin, dass die Inhalte bereits in Ruhe vorweg erarbeitet
und der Ablauf der Präsentation geplant werden konnte. Als Vortragender mag
man sich aufgrund der geleisteten Vorarbeiten sicher fühlen, doch im Zuge der
Präsentation bleiben einem nur wenige Möglichkeiten, Änderungen vorzunehmen.
Man ist an den vorbereiteten Materialien gebunden. Für einen Monolog sind vor-
gefertigte Präsentationsfolien brauchbar. Je mehr Dialog stattfinden soll, je mehr
8.2 Präsentieren 245

auf die Reaktionen des Publikums reagiert werden soll, desto eher empfehlen sich
andere, flexiblere, zugegeben: technisch ‚rückschrittlichere‘ Präsentationstechniken
(Low-Tech-Präsentationen).

8.2.2 Computerpräsentationen

Computerpräsentationen sind heutzutage im Hochschulbetrieb Standard. Sie


ermöglichen, schnell und komfortabel Präsentationsfolien zu erstellen, die den
relevanten Stoff seitenweise anschaulich vermitteln. Ein großer Vorteil der Com-
puterpräsentationen: Sie können Ihre Präsentationen durch die Einbindung von
Grafiken, Bildern, Tabellen, Diagrammen, Audio- und Videoeinspielungen und
Animationen anreichern und darüber die Nachvollziehbarkeit der Inhalte und die
‚Behaltensquote‘ steigern.140
Wenn Sie zu Zwecken eines Vortrags ein elektronisches Präsentationsprogramm
als Präsentationstechnik einsetzen, bedenken Sie bitte folgende Punkte:

t Die Präsentation soll den Vortrag unterstützen, nicht vollständig wiedergeben.


Sie soll helfen, das Gesagte dank Visualisierung in Form von Texten, Grafiken,
Symbolen und Diagrammen141 möglichst einprägsam und gut erinnerbar zu
machen. Die Präsentation darf nicht in Konkurrenz zum Vortrag treten. An-
sonsten weiß Ihr Publikum nicht mehr, wohin es seine Aufmerksamkeit richten
soll: „Soll ich jetzt zuhören, was gesagt wird, oder lesen und anschauen, was
projiziert wird?“
t Vortrag und Präsentation müssen ein harmonisches, sich unterstützendes und
ergänzendes Ganzes ergeben. Wenn die Präsentation dies nicht leistet, lassen Sie
sie lieber weg, denn sie ist kein Selbstzweck. Schlechte Präsentationen schaden nur.
t Achten Sie bei der Gestaltung der Präsentation darauf, Farben und Farbkombi-
nationen, Schriftgrößen und Schriftarten, das Seitenlayout und die Grafiken,

140 Visualisierungen sorgen dafür,


t die Aufmerksamkeit des Publikums zu konzentrieren und zu orientieren,
t die BetrachterInnen einzubeziehen,
t den Redeaufwand zu reduzieren,
t das Verstehen zu erleichtern und das Verständnis zu vertiefen,
t das Wesentliche zu verdeutlichen,
t das Behalten zu fördern (vgl. Seifert 2008:12; vgl. ebenfalls Sachsenmeier 2009:56ff.).
Doch vergessen Sie nie: Idealer als jede Darstellungstechnik ist die Live-Präsentation.
141 Bei der Benutzung von Grafiken, Symbolen und Diagrammen ist Vorsicht und Umsicht
geboten (siehe im Detail dazu Seifert 2008:24ff.).
246 8 Denken und Präsentieren

Animationen und Effekte so zu wählen, dass sie das, was Sie vermitteln wollen,
unterstützen und nicht konterkarieren. Achten Sie auf gute Lesbarkeit, leichte
Verständlichkeit (Einfachheit, Ordnung, Kürze und Prägnanz) und beachten
Sie die Lesegewohnheiten Ihres Publikums.
t Animationen sind Veränderungen von Texten und grafischen Darstellungen, ohne
dass dabei die Folie gewechselt würde. Sie sind besonders geeignet, um Prozess-
verläufe zu veranschaulichen, z. B. Wachstums-, Schrumpfungs-, Vernetzungs-,
Erscheinungs- oder Verschwindensprozesse. Sie helfen auch, Aufmerksamkeit
zu erwecken, denn was sich bewegt, ist per se interessant.
t Auch hier ist ein sparsamer Gebrauch angezeigt: Animationen dürfen auf keinen
Fall ablenken oder das Verständnis erschweren. Animationen, deren Sinn nicht
erkennbar ist, wirken schnell störend, nervend, lächerlich.
Animationen dienen nicht dazu, die mediale Kompetenz des Vortragenden zu
demonstrieren und damit dem Publikum zu imponieren. Sie dienen ausschließ-
lich der Unterstützung der Vermittlungsintention.
t Farben und Hintergründe sollten harmonisch zueinander passen, optisch an-
sprechend und angenehm anzusehen sein. Schrille, unpassende, krasse, bizarre
Kombinationen wirken störend und ablenkend.
t Farben und Hintergründe sollten so gewählt werden, dass die Schrift gut lesbar
wird und nicht aufgrund fehlender Kontraste im Hintergrund aufgeht oder
aufgrund zu starker Kontraste ‚beißend‘ und unerträglich wirkt. Helle Schriften
passen in der Regel gut zu dunklen Hintergründen, dunkle Schriften zu hellen
Hintergründen.
Die Farbgestaltung sollte einheitlich gestaltet sein und nicht von Folie zu Folie
wechseln.
Bedenken Sie, dass es kein Zufall ist, dass bei gedruckten Texten Schwarz-auf-
Weiß Standard ist. Es ist die günstigste, am wenigsten ablenkende Kombination.
Wählen Sie also, wenn Sie Farben einsetzen, vorsichtig aus. Und bedenken Sie:
Die Farben, die Sie auf Ihrem Bildschirm sehen, sind nicht unbedingt die Farben,
die der Beamer Ihrem Publikum projiziert. Sie müssen mit Farbverlusten und
Farbstichen und mit Irritationen durch die Raumbeleuchtung rechnen.
t Schriftgrößen sollten so gewählt werden, dass sie für alle ZuschauerInnen gut lesbar
sind – nicht winzig klein, nicht erschlagend groß. Wählen Sie ein Mittelmaß.
t Bei der Wahl der Schriftarten sollten Sie bedenken: Die Schriftart selbst hat eine
Bedeutung. Sie wirkt entweder reißerisch, aufregend, auffällig, umständlich,
vornehm, verschnörkelt, altertümlich, konservativ oder klar, gesetzt, ruhig, be-
stimmend, zurückhaltend, dezent, zierlich, rhythmisch, eigenartig, befremdlich,
unübersehbar, durchdringend, unverrückbar …
8.2 Präsentieren 247

Bei der Wahl der Schriftart geht es nicht nur um die gute Lesbarkeit der Schrift,
sondern auch um deren ‚Anmutung‘. Wählen Sie die Schriftart passend zu dem,
was Sie vermitteln wollen: „Welchen Effekt möchte ich erreichen und welche
Schriftart leistet dies?“ In wissenschaftlichen Vorträgen pflegt man schlichte,
sachliche, seriöse Schriftbilder. Verspielte, plakative, wuchtige, handschriftliche
Schriftbilder sind eher verpönt. Sie wirken unsolide.
Achten Sie darauf, dass Sie keine exquisite Schrift verwenden, die möglicherwei-
se auf fremden Rechnern, die Sie zur Projektion nutzen, nicht zur Verfügung
steht. Bedenken Sie, dass nicht alle Schriftarten von allen Rechnern unterstützt
werden.
t Neben dem Text können Bilder in die Präsentation eingebunden werden. Doch
bedenken Sie: Bilder wirken unmittelbarer als ein geschriebener Text. Sie wirken
häufig am Verstand vorbei, ohne Nachdenken. Sie werden intuitiv erfasst und
lösen blitzschnell Assoziationen und Emotionen aus.
Schrifttexte wollen gelesen und verstanden werden. Bilder sind „schnelle Schüsse
ins Gehirn“ (Kroeber-Riel 2001). Sie funktionieren anders als Worte. Sie sollten –
ebenso wie Grafiken – nur gewählt eingesetzt werden, um bildhafte Vorstellungen
zu unterstützen, um das Verständnis zu erleichtern und das Dargelegte klarer
werden zu lassen. Sie können ebenfalls helfen, ‚trockene Themen‘ aufzulockern.
Bilder wie Grafiken können aufgrund der implizierten Symbolik leicht ins
Missverständliche oder Abwegige führen. Sie sollten nicht davon ausgehen, dass
das Publikum Ihre Bilder und Grafiken intuitiv ‚richtig‘, das meint: in Ihrem
Sinne deutet.
Bilder sind per se vieldeutig und konkret zugleich. Unter Umständen sind sie
zu konkret, um abstrakte wissenschaftliche Inhalte zu vermitteln. Ihre An-
schaulichkeit unterbietet in aller Regel das erreichbare Abstraktionsniveau.
Ihre Vieldeutigkeit birgt die Gefahr, unpassende Assoziationen hervorzurufen.
Vermeiden Sie es, Bilder einzubinden, um Ihre Folien ‚aufzuhübschen‘. Verwenden
Sie Bilder und Grafiken nur, wenn sie definitiv Ihre Vermittlungsintentionen
unterstützen.
Bilder wecken die Aufmerksamkeit. Sie sprechen die BetrachterInnen auf
emotionaler Ebene an. Bilder überraschen. Bilder können die meist wortlastige
Präsentation auflockern. Bilder sollten sorgsam ausgewählt werden, denn sie sind
in der Regel vieldeutig und könnten ungewollt falsche oder für Ihren Vortrag
unwesentliche Assoziationen hervorrufen.
t Beim Folienlayout sollten Sie darauf achten: Weniger ist mehr. Deshalb nicht
zu viel Text, keine langen Sätze, keine wilden Kontraste, nicht zu viele Infor-
mationen, nicht zu viele Bilder oder Darstellungen. Dosieren Sie die Menge
der Informationen. Zuviel wirkt verwirrend und lenkt von Ihrem Vortrag ab.
248 8 Denken und Präsentieren

Arbeiten Sie mit markanten Stichworten und klaren Darstellungen und lassen
Sie Ihrem Publikum Zeit, die aufgerufene Folie zu erfassen.
t Damit sich das Publikum orientieren kann, empfiehlt sich folgende formale
Aufteilung des Folienlayouts: Eine Kopfzeile („Header“) verrät den Titel bzw. das
Thema des Vortrags, eine linke Seitenspalte dient als Inhaltsverzeichnis („Navi-
gationsleiste“). Hier kann sichtbar gemacht werden, in welchem Abschnitt bzw.
bei welchem Gliederungspunkt man sich gerade befindet. Die Fußzeile markiert
in der Regel die Autorenschaft, die Institution und/oder die Veranstaltung. So
bleibt die rechte Seitenspalte im Mittelfeld für die Präsentation der Inhalte.

t Präsentationsprogramme bieten viele Möglichkeiten der Visualisierung, des


gestaffelten Seitenaufbaus und der Animation. Doch achten Sie darauf: Sie sollen
keine Show abliefern, sondern einen soliden Vortrag halten. Es geht nicht darum,
Werbung für die unzähligen tollen Effekte, die das verwendete Programm bereit-
8.2 Präsentieren 249

hält, zu machen, es geht darum, Inhalte zu vermitteln und dazu die möglichen
Effekte sparsam, unterstützend und zielführend einzusetzen.142
t Aufmerksamkeit lässt sich dadurch erwirken, dass Sie den Text unkonventi-
onell anordnen, z. B. in Pfeilform. Das sorgt dafür, dass die BetrachterInnen
aufmerksam lesen. Aus der Werbung lassen sich diesbezüglich etliche Anre-
gungen entnehmen.

Aus: Heister, Wälte, Weßler-Poßberg, Finke 2007:101

t Denken Sie daran: Für eine elektronische Präsentation benötigen Sie Technik
(PC plus Software, Beamer, Projektionswand etc.). Versichern Sie sich frühzeitig,
dass diese technischen Bedingungen für Ihren Vortrag gegeben sind.
Bedenken Sie ebenfalls die Beleuchtungsverhältnisse und klären Sie, ob und
wie sich Lichter ausschalten, Rollläden herunterfahren und Vorhänge zuziehen
lassen.
Rechnen Sie mit dem Schlimmsten: das Versagen der Technik. Bereiten Sie einen
Plan B vor, z. B. Handouts, die Sie notfalls verteilen können.
t Zusammenfassend sei geraten: Vermeiden Sie folgende typische Fehler:
t zu schrille, aufdringliche Farben,
t zu wenig Kontrast zwischen Schrift und Hintergrund,
t unterschiedliche, unpassende Schriftarten,
t unlesbare Schriften,
t zu viele unterschiedliche Hervorhebungen,
t unzählige, unnötige Effekte (Effekthascherei),
t viele, womöglich nicht passende Bilder (unklare Botschaften),

142 Zur Vertiefung siehe: Sesink (2012), Hartmann, Nietmann (2012), Rehn-Göstenmeier
(2006), Seifert (2008), Will (2006).
250 8 Denken und Präsentieren

t verwirrende, unübersichtliche Darstellungen (visuelle Überfrachtung),


t zu viel Text …
t Positiv formuliert: Gestalten Sie Ihre Folien so,
t dass Sie dem Publikum helfen, die Orientierung und Übersicht zu behalten,
t dass Sie dazu beitragen, die Kernaussagen möglichst schnell und präzise zu
erfassen,
t dass Sie der Vorstellungskraft des Publikums z. B. durch Visualisierungen
auf die Sprünge helfen,
t dass Sie das Verständnis des Publikums durch mediale Aufbereitung er-
leichtern.

8.2.3 Empfehlungen zur Vortragsweise

Auch wenn hier Ratschläge zum Einsatz und zur Gestaltung eines elektronischen
Präsentationsprogramms gegeben wurden, sollten Sie nicht vergessen, dass im Vor-
dergrund Ihr Vortrag steht. Sie reden nicht, um die Folien zu erläutern, sondern Sie
zeigen die Folien, um Ihren Vortrag verständlicher zu machen. Deshalb hier noch
einmal einige Empfehlungen zur Vortragsweise (siehe Kap. 6.1.2 Gute Referate):

t Tragen Sie stehend vor, bewegen Sie sich im Raum. Zeigen Sie, dass Sie nicht nur
geistig, sondern auch körperlich beweglich sind. Mehr Bewegung macht den
Vortrag lebendiger, bindet die Aufmerksamkeit des Publikums und bringt Sie
näher ans Publikum (vgl. ausführlich Sachsenmeier 2009:138ff.).
t Halten Sie stets Blickkontakt mit dem Publikum. Sprechen Sie nicht zur Pro-
jektionsfläche. Bleiben Sie dem Publikum zugewandt.
t Über- und unterfordern Sie Ihr Publikum nicht. Langweilen Sie es nicht, und
enttäuschen Sie es nicht, indem Sie ihm z. B. die allseits bekannten, vorgefertig-
ten Vorlagen und Animationen zumuten. Gestalten Sie Ihren Vortrag lebendig
und ansprechend. Auch gehaltvolle, informative, sachliche Vorträge dürfen
unterhaltsam sein.
t Halten Sie sich an die Zeitvorgaben. Planen Sie die Zeit so gut es geht. Kalkulieren
Sie gut, wie viel Zeit Sie für welche und wie viele Folien benötigen. Sorgen Sie
bereits bei der Vorbereitung dafür, dass Sie sich nicht durch den Vortrag hetzen
müssen, zu früh fertig sind oder die vereinbarte Zeit überschreiten.
t Bedanken Sie sich für das Interesse und die Aufmerksamkeit Ihres Publikums.
8.2 Präsentieren 251

8.2.4 Nachbereitung der Präsentation

Nach Abschluss der Präsentation sollten Sie sich die Zeit nehmen, aus dem, was
Sie soeben erlebt haben, Lehren zu ziehen. Stellen Sie sich folgende Fragen und
bereiten Sie die Antworten für kommende Gelegenheiten auf:

t Was ist gut, was ist schlecht gelaufen? Was kann in Zukunft verbessert werden?
t Wurde die Zielsetzung erreicht? Wenn nein: warum nicht?
t Waren die TeilnehmerInnen aufmerksam und interessiert? Wenn nein: warum
nicht?
t Hat sich der Ablauf bewährt oder sollte er geändert werden?
t Wurde die inhaltliche Aufbereitung dem Niveau der TeilnehmerInnen gerecht
oder zeigten sie sich über- oder unterfordert? Wenn ja: Was muss geändert werden?
t Sind Eröffnungs- und Abschlussphase gelungen? Wenn nicht: Was muss ge-
ändert werden?
t Hat sich der gewählte Medieneinsatz bewährt oder sollten andere Medien zum
Einsatz kommen?
t Konnten die TeilnehmerInnen während des Vortrags und während der Diskus-
sionsrunden einbezogen werden? Was könnte verbessert werden?
t Ist die Organisation gelungen oder sollte man sie bei einer nächsten Präsenta-
tion verändern?

Um nicht alle Fragen allein beantworten zu müssen, können Sie sich gezielt Feedback
einholen. Ein Feedback sollte konstruktiv und hilfreich sein, das meint: beschrei-
bend, nicht abwertend, konkret, nicht verallgemeinernd, realistisch, nicht utopisch,
unmittelbar, nicht nachträglich oder verspätet, erwünscht, nicht aufgedrängt (so
Seifert 2008:82). Nehmen Sie ein solches Feedback schweigend, interessiert zuhörend,
sich nicht verteidigend, nichts klarstellend, wohl aber sich bedankend entgegen.

8.2.5 Wissenschaftliche Texte und wissenschaftliche Sprache

Wissenschaftliche Texte bemühen sich um neue, wahre Aussagen, die sie in den
Bestand des wissenschaftlichen Wissens einordnen, so dass andere damit wei-
terarbeiten können. Dazu müssen sie in eine bestimmte Form gebracht werden,
die sie anschlussfähig macht. Es muss nachgewiesen werden, wie das Wissen
gewonnen wurde bzw. woher es stammt. Dazu dienen erläuternde Fußnoten und
Literaturangaben. Es muss zudem aufgezeigt werden, wie der Text einzuordnen
ist und zu welchen Neuerungen er an welcher Stelle führt oder führen könnte. Der
252 8 Denken und Präsentieren

wissenschaftliche Text muss den Gegenstand, dem er sich widmet, klar benennen
und gegen den Rest, der nicht dazugehört, abgrenzen.
Es gibt keine von allen akzeptierten Regeln der wissenschaftlichen Ausdrucks-
weise. Die Wissenschaft pflegt in sich unterschiedliche, nach Disziplinen getrennte
Sprachspiele mit unterschiedlichen Regeln. Sie folgen jeweils eigenen Vorstellungen
der angemessenen Ausdrucksweise. Die einen geben sich in ihrer Ausdrucksweise
eher streng, klar, stringent, scharf und hart. Die anderen geben dem Persönlichen
und Erzählerischen, in Grenzen sogar auch dem Feuilletonistischen eine Chance.
Studierende müssen die Sprache und den Sprachstil des eigenen Faches heraus-
finden. Sie müssen den Jargon finden, der der Sache, dem Kontext, der jeweiligen
Kommunikationssituation und dem Publikum angemessen ist. Unterschiedliche
Textsorten – ein fachwissenschaftlicher Schreibtext, ein wissenschaftlicher Vortrag
und ein populärwissenschaftlicher Beitrag – verlangen eine je unterschiedliche
Sprache und berücksichtigen unterschiedliche Konventionen.
Mit Ihrer Präsentation treten Sie in einen Dialog, in der Regel in einen Dialog
mit anderen VertreterInnen Ihres Faches. Sie werden versuchen, Ihren KollegIn-
nen zu zeigen, dass Sie das Metier beherrschen, den Stand der Diskussion kennen,
sich mit widerstreitenden Positionen auseinandergesetzt und zu einer eigenen,
wohlbegründeten Position gefunden haben. Es macht die Wissenschaftlichkeit
Ihrer Präsentation aus, dass Sie das Woher und Wohin Ihrer Aussagen ausweisen.

t An den Anfang gehört die Leitfrage, die es zu beantworten gilt.


t An den Anfang gehören Erläuterungen, wie Sie vorgehen wollen, um die Leit-
frage zu beantworten. Welche Materialien werden herangezogen? Was sind die
Untersuchungsschritte? Welche Verfahren kommen zum Einsatz?
t Behauptungen, die im Laufe der Präsentation aufgestellt werden, müssen belegt
werden durch Daten, Quellen, Befunde, Zitate, Forschungsergebnisse. Was be-
hauptet wird, sollte von anderen mithilfe der Belege überprüft werden können.
t Die Argumentation sollte in sich stimmig (nicht unbedingt ‚widerspruchsfrei‘)
und die Darstellung sachlich, eindeutig und neutral (nicht unbedingt ‚objektiv‘
im klassischen Sinne) sein.
t Kritik und Wertungen müssen begründet und gerechtfertigt werden: „Mit wel-
chen Argumenten untermauern Sie Ihre Kritik? Auf welchen Vorentscheidungen
beruht Ihre Wertung?“
t Es sollte einen ‚roten Faden‘ von der Ausgangsfrage hin zur abschließenden
Antwort geben. Die Schritte der Argumentation müssen nachvollziehbar sein.
Es muss erkennbar bleiben, wie Sie von A nach B gelangen.
8.2 Präsentieren 253

t Das präsentierte Wissen muss in den wissenschaftlichen Kontext eingeordnet


werden. Es muss erkennbar sein, ‚auf wessen Schultern es ruht‘, von welchen
Erkenntnissen es ausgeht, auf welche Traditionen es sich bezieht.
t ZuhörerInnen und LeserInnen müssen in jedem Moment wissen, wer spricht: Ist
es die Meinung des Sprechers/Schreibers, oder wird die Meinung eines anderen
dargestellt? Werden eigene Erkenntnisse präsentiert, oder wird aus fremden
Studien zitiert? Jede wörtliche und inhaltliche Übernahme fremder Ideen ist
auszuweisen (vgl. Kap. 10.1 Zitieren).

Metaphern sind in wissenschaftlichen Texten erlaubt. Aber sie müssen passen, und
die Sprache darf nicht zu blumig werden.
Die Ich- und Wir-Form darf verwendet werden. Sie steht in wissenschaftlichen
Darbietungen allerdings nicht für Subjektivität, sondern dient dazu, den eigenen
Text zu kommentieren, zu relativieren und für Abänderungen offenzuhalten.
Zudem hilft die Ich- bzw. Wir-Form, die ZuhörerInnen oder LeserInnen stärker
in die Überlegungen des Autors oder der Autorin einzubeziehen: „Wir werden im
Folgenden …“143
Die Erzählform ist erlaubt, wenn es darum geht, z. B. Fallbeispiele oder Ent-
wicklungsverläufe darzustellen.

143 Die Ich-Form wurde im Zuge der Aufklärung aus wissenschaftlichen Texten zu verban-
nen versucht, um einer aperspektivischen Objektivität Raum zu geben. Die sprechende
Person sollte verschwinden, der Sache selbst sollte das Wort erteilt werden: Nicht Sub-
jektivität, sondern Sachlichkeit sollte im Vordergrund stehen – als könnten die Dinge
selbst reden, als schrieben sich die Texte selbst. Wer will das glauben? Ein Verzicht
auf die Ich-Form ist der Verzicht auf Verantwortungsübernahme, und ein Verbot der
Ich-Form widerspricht dem Gebot, anderen Autorpersönlichkeiten Respekt zu zollen.
Wie soll es einem Autor gelingen, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, die eigene
Position gegen andere Positionen abzugrenzen, eigene Beobachtungen anzustellen
und gegen fremde Beobachtungen zu profilieren, wenn die eigene Person im Text nicht
auftauchen darf?
Ein Double Bind! Eine Abwandlung der unbefleckten Erkenntnis! Das Ich transformiert
übers Wir zum Man und Es. Es verschwindet und tritt als sein Doppelgänger wieder auf,
als abwesender anwesender Dritter, als Parasit im Sinne von Michel Serres (1981) oder
als sprechender Automat im Sinne von Valentin Groebner (2012:107ff., hier 127): „Sie
schreiben Ihren Text, wollen aber im Text so vollständig wie möglich verschwinden.
Sie streben schreibend nach Autorität als Autorin & Autor, aber ohne die erste Person
Singular. Nicht ich, sondern das W [die Wissenschaft, T.B.] spricht, wie von selbst.“
254 8 Denken und Präsentieren

8.3 Ein Resümee


8.3 Ein Resümee
Denken und Präsentieren wurde als der Unterschied zwischen einem inneren und
einem geäußerten Sinngeschehen dargestellt. Denken findet in unterschiedlichen,
unterscheidungsbasierten Formen stets im Bewusstsein statt unter Ausschluss der
Öffentlichkeit. Eine Präsentation dagegen findet in einer Öffentlichkeit statt, beglei-
tet von unzähligen Denkprozessen. Präsentationen sind bewusst vorgenommene,
kommunikative Akte, in denen die Präsentierenden ihre Gedanken in eine fürs
Publikum vernehmbare und nachvollziehbare Form bringen. Obwohl es keine
verbindlichen Regeln der wissenschaftlichen Ausdrucks- und Darstellungsweise
gibt, gibt es doch Anhaltspunkte, an denen man/frau sich bei der Vorbereitung,
Durchführung und Nachbereitung einer Präsentation orientieren kann. Hier
wurden die wesentlichen Anhaltspunkte für einen mediengestützten Vortrag mit
wissenschaftlichem Anspruch dargelegt.

Zur Überprüfung Ihres Lernerfolgs bearbeiten Sie bitte


t Arbeitsblatt 13: Zu Kapitel 8.1 – Denken
t Arbeitsblatt 14: Zu Kapitel 8 – Denken und Präsentieren
t Arbeitsblatt 15: Zu Kapitel 8 – Denken und Präsentieren
t Arbeitsblatt 16: Zu Kapitel 8.2 – Präsentieren
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
Formalien und Muster
9 Formalien und Muster 9

In diesem Kapitel erfahren Sie die wichtigsten Richtlinien zur Gestaltung wis-
senschaftlicher Manuskripte. Wir ergänzen damit unsere im Kapitel 7.2 eher
inhaltsbezogenen Überlegungen durch formale Aspekte. Bevor auf die Formalien
im engeren Sinne eingegangen wird (Kap. 9.3), wenden wir uns den grundlegenden
Elementen zu, aus denen sich ein wissenschaftliches Manuskript zusammensetzt
(Kap. 9.1). Zudem wird aufgezeigt, mit welchen Manuskripttypen Sie es in Ihrem
Studium zu tun bekommen (Kap. 9.2).

9.1 Die Elemente eines Manuskripts


9.1 Die Elemente eines Manuskripts
Ein Manuskript besteht aus unterschiedlichen Elementen:

t dem eigentlichen vom Verfasser formulierten Text,


t den ausgewählten Zitaten,
t den Anmerkungen,
t den Fußnoten,
t den Darstellungen und
t den Ergänzungen.

Einige Elemente werden im Folgenden genauer angesprochen:

9.1.1 Titel und Zwischentitel

Der Titel soll die Aufmerksamkeit der LeserInnen wecken und sie motivieren, den
Text zu lesen. Er sollte deshalb einprägsam, genau und knapp gehalten sein und

T. M. Bardmann, Die Kunst des Unterscheidens,


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
256 9 Formalien und Muster

die wichtigen Reiz- und Schlagworte enthalten. Ein Untertitel kann das Thema
zusätzlich präzisieren und eingrenzen.

9.1.2 Motto

Sollte man seiner Arbeit ein Motto vorweg stellen? Diese Frage muss jede/r für sich
beantworten. Wenn Sie sich für ein Motto entscheiden, sollten Sie unbedingt auf
Trefflichkeit achten. Lieber kein Motto als ein unzutreffendes, das die LeserInnen
auf eine falsche Fährte führt.

9.1.3 Widmung

Die Widmung ist eine Form der Danksagung. Sie trägt persönlichen, privaten,
familiären Belangen Rechnung. Hier ist Vorsicht geboten, um einer wissenschaft-
lichen Arbeit keine allzu persönliche Note zu geben. Im Zweifelsfall sollte man
auf eine Widmung verzichten und Persönliches – falls gewünscht – in Form
einer handschriftlichen Widmung in Einzelexemplare schreiben, die man dann
persönlich überreicht.
Danksagungen gehören ins Vorwort (siehe Kap. 9.1.5 Vorwort).

9.1.4 Geleitwort

Geleitworte werden von HerausgeberInnen, BetreuerInnen der Doktor- oder Habi-


litationsarbeit oder anderen anerkannten Fachautoritäten geschrieben. Meist sind
es empfehlende Stellungnahmen.
Da ein Motto, eine Widmung und ein Geleitwort nicht als wissenschaftliche
Leistungen des Verfassers bzw. der Verfasserin zu verstehen sind, gehören diese
Texte grundsätzlich vor das Inhaltsverzeichnis.

9.1.5 Vorwort

Das Vorwort wird – anders als ein Geleitwort – meist vom Verfasser bzw. von der
Verfasserin selbst geschrieben. Es dient der Kontextierung des nachfolgenden Textes,
ohne ihm vorzugreifen. Hier finden sich auch Danksagungen an Geldgeber und
9.1 Die Elemente eines Manuskripts 257

Förderer, MitarbeiterInnen, KorrekturleserInnen und DiskussionspartnerInnen.


Im Vorwort finden sich ebenfalls Empfehlungen für die LeserInnen.

9.1.6 Verzeichnisse

t Inhaltsverzeichnis (Gliederung) und Literaturverzeichnis sind notwendige Text-


bestandteile einer wissenschaftlichen Arbeit. Inhaltsverzeichnisse geben einen
vollständigen Überblick über alle wesentlichen Textteile mit Seitenangabe. Auf
die Wortgleichheit der Angaben des Inhaltsverzeichnisses und der Textüber-
schriften ist unbedingt zu achten. An der inhaltlichen und logischen Gliederung
(Struktur), die das Inhaltsverzeichnis wiedergibt, lässt sich die Ausgewogenheit
bzw. Unausgewogenheit der Gedankenführung ablesen. Das Inhaltsverzeichnis
sollte sinnvoll und nicht allzu fein untergliedert sein, da sonst die Übersicht
verloren geht. Bei einem sehr umfangreichen Inhaltsverzeichnis empfiehlt es
sich, wie in unserem Fall geschehen, nicht alle Unterkapitel aufzuführen, sondern
eine Inhaltsübersicht zu erstellen, in der nur die Hauptkapitel benannt werden.
Achten Sie auf aussagekräftige Titel und Untertitel. Die Kapitelüberschriften
sollten in ihrer Form (z. B. orientiert an Leitfragen oder orientiert an Ergebnissen)
einheitlich gestaltet werden.
Bei umfangreichen Kapiteln können im Ausführungstext zur besseren Binnen-
strukturierung und Feingliederung Zwischentitel eingefügt werden, die keine
Kapitelzählung erhalten und nicht ins Inhaltsverzeichnis aufgenommen werden.
t Darstellungs-/Abbildungs-/Tabellen-/Schaubilderverzeichnisse nehmen alle Dar-
stellungen, Abbildungen, Tabellen und Schaubilder auf, die im Text zu finden
sind. Sie halten sich an eine laufende Nummerierung, an wortgleiche Unter- bzw.
Überschriften und an korrekte Seitenangaben.
t Abkürzungsverzeichnis – Hier finden sich ausnahmslos alle nicht im DUDEN
erläuterten Abkürzungen, die im Text verwendet werden. Alle im DUDEN
aufgeführten Abkürzungen dürfen in der Arbeit verwendet werden, ohne sie
ins Abkürzungsverzeichnis aufzunehmen. Wer allzu gängige Abkürzungen
ins Abkürzungsverzeichnis aufnimmt, zeigt damit seine wissenschaftliche
Unerfahrenheit.
t Formel- und Symbolverzeichnis – Sollte Ihre Arbeit Formeln und Symbole enthal-
ten, sind diese in einem entsprechenden, der Arbeit vorangestellten Verzeichnis
ausnahmslos auszuweisen.
t Literaturverzeichnis – Das Literaturverzeichnis ist die vollständige, alphabetisch
geordnete Zusammenstellung aller im Ausführungstext und in den Fußnoten
und Anmerkungen nachweislich verarbeiteten wissenschaftlichen Literatur-
258 9 Formalien und Muster

quellen. Das Literaturverzeichnis wird – anders als das Inhalts-, Abbildungs-,


Tabellen- und Abkürzungsverzeichnis – dem Ausführungstext und einem
möglichen Anhang nachgestellt (siehe Kap. 9.4.6 Muster: Literaturverzeichnis
und Kap. 10.1.7 Das Literaturverzeichnis).
t Quellenverzeichnis – Wenn nicht nur wissenschaftliche Literaturquellen, sondern
auch andere, literarische und sonstige Quellen wie z. B. Gedichte, Liedtexte,
Fotografien, Filme, Videoclips, Werbungen, mündliche Vorträge, Gesetzestexte
etc. ausgewiesen werden sollen, kann zusätzlich zum Literaturverzeichnis ein
gesondertes Quellenverzeichnis angelegt werden.

Weist man die Quellen zusammen mit den wissenschaftlichen Literaturquellen


aus, sollte dieses Verzeichnis als Quellenverzeichnis oder als Literatur- und Quel-
lenverzeichnis bezeichnet werden.
Bedenken Sie: Das Literaturverzeichnis wie das Quellenverzeichnis dienen dazu,
LeserInnen den Zugang zu den von Ihnen verwendeten Materialien zu ermöglichen.
Achten Sie also darauf, dass Sie alle dazu notwendigen Angaben machen.
Der Ausführungstext sollte – nach dem Titelblatt und den Verzeichnissen –
folgenden Aufbau haben:

9.1.7 Einleitung

Die Einleitung ist eine Einladung. Sie stellt den ersten Kontakt zu den LeserInnen
her. Mit ihr begrüßen Sie Leserinnen und Leser und laden sie zum (Weiter-)Le-
sen ein. Die Einladung will dazu verführen, ‚dran zu bleiben‘. Sie will potentielle
LeserInnen neugierig machen, womöglich auch durch provokante Behauptungen
und Zuspitzungen. In der Einleitung soll Interesse, Problembewusstsein, vielleicht
auch Betroffenheit geweckt werden.
In der Einleitung muss klipp und klar gesagt werden, worum es in dieser Arbeit
geht, worauf sie aufbaut und wovon sie ausgeht. Die Einleitung enthält eine präzise,
auf den Punkt gebrachte Themen- bzw. Problemstellung. Sie gibt eine Antwort auf
die Frage: Was genau ist die Fragestellung?
In der Einleitung wird die allgemeine oder besondere (politische, soziale,
kulturelle, historische, fachliche …) Bedeutung des Folgenden aufgezeigt. Beant-
worten Sie in der Einleitung die Fragen: Warum lohnt es sich, sich mit dem Thema
zu beschäftigen? Und: Was macht die Wichtigkeit des Themas aus? Klären Sie in
der Einleitung die Aktualität oder historische Bedeutung und die grundlegende
Relevanz Ihres Themas.
9.1 Die Elemente eines Manuskripts 259

In der Einleitung wird das Thema eingegrenzt und das Ziel der Arbeit genau
benannt. Es können zudem Abgrenzungen gegenüber anderen Herangehenswei-
sen und methodischen Vorgehensweisen vorgenommen werden. Hier sollten Sie
Definitionen, Standpunkte und Werthaltungen offen legen. Welche Begriffe sind
zentral? Von welchen Fakten, Befunden, Gegebenheiten oder Debatten und Kon-
troversen gehen Sie aus? Welchen Weg nehmen Sie, und worauf wollen Sie hinaus?
Was ist Ihr Erkenntnisinteresse?
Nutzen Sie die Einleitung, um den fachlichen Bezug und die berufspraktische
Relevanz Ihrer Arbeit deutlich herauszustellen. Verdeutlichen Sie die fachspezifi-
sche Perspektive auf den Gegenstand, die Sie in Ihrer Arbeit einnehmen. Deuten
Sie an, welche fachlichen Antworten Ihre Arbeit auf Probleme und Aufgaben Ihrer
Profession gibt.
Die Einleitung endet mit einem knappen Überblick über die zu erwartenden
Arbeits- und Argumentationsschritte des Hauptteils. Weihen Sie die Leserschaft mit
der Einleitung ein: Sie soll den logischen Aufbau und den Gang der Argumentation
im Groben kennen und gespannt darauf sein, wie die Ausarbeitung im Einzelnen
erfolgt. Lassen Sie den ‚roten Faden‘ klar erkennbar sein.
Die Einleitung sollte keine Versprechen enthalten, die in der anschließenden
Arbeit nicht erfüllt werden. Deshalb formulieren Sie die Einleitung immer am
Schluss der Schreibarbeiten, wenn Sie sich sicher sind, was Sie mit Fug und Recht
versprechen können und was nicht.

9.1.8 Hauptteil

Der Hauptteil sollte sinnvoll und übersichtlich gegliedert – nicht zergliedert – sein.
Die Gliederung allerdings hängt vom jeweiligen Thema und der Herangehensweise ab.
Empirische Arbeiten werden zweckmäßigerweise in einen theoretischen, einen
methodischen und einen die Ergebnisse der Untersuchung darstellenden Teil und
einer abschließenden Diskussion der Ergebnisse eingeteilt.

9.1.9 Schluss

Das Schlusskapitel wird mit „Zusammenfassung“, „Schlussbetrachtung“, „Fazit“


oder „Ausblick“ betitelt. In diesem Kapitel fassen AutorInnen prägnant die Er-
gebnisse des Hauptteils zusammen. Das Schlusskapitel gewichtet die Ergebnisse
und gibt einen Ausblick auf die Zukunft des hier Entwickelten oder auf ungelöste
Probleme und offene Fragestellungen.
260 9 Formalien und Muster

Hilfreich ist es, die inhaltliche Zusammenfassung thesenartig zu formulieren, in


klaren kurzen Sätzen. Hier kann man auf Fußnoten, Anmerkungen, Nebenergeb-
nisse und Quellenangaben verzichten. Folgende Punkte können im Schlusskapitel
behandelt werden:

t Ausgangsfrage,
t Hauptgedanken und Ergebnisse,
t Einbindung der Ergebnisse in übergeordnete Problemstellungen,
t Bewertung der wichtigsten Ergebnisse,
t Ausblick auf offene Fragen.

Soweit es im Hauptteil nicht erfolgte, ist hier der Raum für eine kritische Reflexion
sowohl des Gelesenen wie auch des selbst Geschriebenen. Es gehört zur Wissen-
schaftlichkeit, sich als Schreibende/r nicht leichtgläubig der Literatur auszuliefern,
sondern eine eigenständige Auseinandersetzung mit ihr zu suchen und eine kriti-
sche Würdigung anzubringen. Nur so sind eigenständige Urteile und Folgerungen
möglich. Auch sollte das eigene Vorgehen auf seine Angemessenheit und Reichweite
selbstkritisch überprüft werden. Eine kritische Reflexion ist in Bezug auf die eigene
Rolle als ForscherIn und AutorIn gefragt.

9.1.10 Anhang

Im Anhang werden für das Verständnis der Arbeit wichtige Materialien unterge-
bracht, deren Einbindung in den laufenden Text störend wirken würde: Tabellen,
Graphiken, Statistiken, Fragebögen, Erhebungsmaterialien etc.
Der Anhang wird, falls es unterschiedliche Materialien gibt, sinnvoll unterglie-
dert und die einzelnen Bestandteile werden mit römischen Ziffern (I, II, III, IV …)
durchnummeriert. Jeder in sich geschlossene Teil des Anhangs wird mit einer eigenen
römischen Ziffer und Überschrift versehen, die aber nicht ins Inhaltsverzeichnis
der Arbeit aufgenommen wird. Dort wird lediglich der „Anhang“ aufgeführt (siehe
Kap. 9.4.3 Muster: Inhaltsverzeichnis).
Der Anhang ist mit Seitenzahlen zu versehen, die bruchlos an die Zählung des
Ausführungstextes anschließen.
9.2 Studienrelevante Manuskripttypen 261

9.1.11 Überleitungen

Im Übergang von einem Abschnitt der Arbeit zum nächsten, am Ende eines Kapitels
und/oder am Anfang eines Folgekapitels, empfiehlt es sich, das bisher Gesagte kurz
und bündig zu rekapitulieren und das Kommende anzukündigen, um so Verknüp-
fungen zwischen den Passagen herzustellen und den ‚roten Faden‘ erkennbar zu
halten. Zusammenfassungen sagen in möglichst kurzer Form, was LeserInnen vom
Gelesenen behalten sollten. Sie bündeln das Wissenswerte. Vorankündigungen und
Rückverweise helfen der Leserschaft, die Argumentation leichter nachzuvollziehen
und die Zusammenhänge besser zu erkennen. Sie unterstützen die Orientierung
und stärken die Erinnerung. An den Gelenkstellen der Argumentation betätigen
Schreibende sich quasi als ‚ReiseleiterInnen‘, die die LeserInnen durch ihren Text
führen, auf dass sie sich darin zurechtfinden (vgl. Groebner 2012:70ff.).
Vergessen Sie nicht: Viele LeserInnen verschaffen sich, bevor sie sich auf die
Lektüre der gesamten Arbeit einlassen, einen ersten Eindruck und Überblick, indem
sie die Einleitung am Anfang der Arbeit, die Zusammenfassungen der jeweiligen
Kapitel und das Fazit am Ende der Arbeit studieren. Richten Sie deshalb besonderes
Augenmerk auf diese Passagen Ihrer Arbeit.

9.1.12 Absätze

Machen Sie Absätze. Vermeiden Sie es, den Text ohne erkennbare Unterbrechungen
dahinfließen zu lassen. Nicht jeder Satz ist gleich ein Absatz. Absätze markieren in
sich geschlossene Sinnzusammenhänge. Sie markieren abgegrenzte Gedankengänge.
Sie helfen LeserInnen, sich im Text zu orientieren.

9.2 Studienrelevante Manuskripttypen


9.2 Studienrelevante Manuskripttypen
Im Laufe Ihres Studiums wird Ihnen das Verfassen unterschiedlicher Texttypen
abverlangt. Die wichtigsten studienrelevanten Texttypen werden im Folgenden
kurz dargestellt:
262 9 Formalien und Muster

9.2.1 Protokoll

In Seminarprotokollen werden (wie später in beruflichen Dienst- und Fallbespre-


chungen) Ablauf und Inhalt von Veranstaltungen sinngemäß festgehalten. Die
einzelnen Beiträge werden mit Nennung der BeiträgerInnen ausgewiesen.

Beispiel:
Der Dozent, Herr Schiepek, erklärte, er sei nicht bereit, …
Die Referentin, Frau Dr. Krucka, schlug daraufhin vor, …

Im Protokoll sollten die Arbeitsmaterialien, die Verwendung fanden, sowie wei-


terführende Hinweise aufgenommen werden. Falls nötig müssen sich Protokol-
lantInnen hierüber gesondert informieren, z. B. indem sie bei den entsprechenden
VeranstaltungsteilnehmerInnen nach der Veranstaltung Unterlagen, Literatur- oder
Quellenangaben etc. einholen.
Im Protokoll können entweder der Verlauf oder die Ergebnisse einer Veranstal-
tung festgehalten werden. Verlaufsprotokolle dokumentieren die wichtigsten Phasen
einer Diskussion und deren Kernthematiken und Grundpositionen. Ergebnispro-
tokolle dokumentieren die wesentlichen Ergebnisse (Erkenntnisse, Entscheidun-
gen, Beschlüsse, Absprachen …) einer Veranstaltung. In ihrer erweiterten Form
dokumentieren sie auch das Zustandekommen der Ergebnisse.
Protokolle sollten – wenn nicht gesondert gefordert und entsprechend ausge-
wiesen – keine persönlichen Stellungnahmen der Protokollantin bzw. des Proto-
kollanten enthalten.

9.2.2 Thesenpapier

Thesenpapiere fassen eigene und/oder fremde Meinungen, wie sie in Seminaren


oder in Büchern und Artikeln formuliert werden, pointiert zusammen. Die Thesen
werden laufend durchnummeriert. (Die durchgestrichenen Passagen des folgen-
den Beispiels deuten an, dass selbst knapp formulierte Thesen u. U. noch gekürzt
werden können.)

Beispiel: Thesenpapier zur Frage: Was sind Kulturen?


These 1: Kulturen sind soziale Konstruktionsleistungen.
These 2: Kulturen sind zu begreifen als Sinn- und Bedeutungsgewebe.
9.2 Studienrelevante Manuskripttypen 263

These 3: Kulturen sind Reduktionsleistungen, die den in einer Kultur Lebenden


einen Orientierungsrahmen in einer überkomplexen, undurchschaubaren
Welt liefern.
These 4: Kulturen sind zugleich Vergleichsmechanismen: sie erlauben das Eigene
mit dem Fremden zu vergleichen.
These 5: Kulturen sind das Produkt von Interaktionen und Kommunikationen;
sie sind deshalb nie aus dem Verhalten einzelner ableitbar oder durch das
Verhalten (Planen) einzelner steuerbar.
These 6: Kulturen sind selbstorganisierende Systeme, die sich durch Rekursion
auf …

Eigene und wiedergegebene Meinungen sind als solche kenntlich zu machen.


Thesenpapiere stehen meist in Zusammenhang mit einem Vortrag und/oder
einer Diskussion im Seminar. Die einzelnen Thesen müssen kurz und knapp,
präzise und verständlich formuliert werden. Je klarer die Aussage, desto besser
die Voraussetzung für eine lebendige Diskussion.
Fremde Meinungen müssen korrekt wiedergegeben werden. Die eigenen kann
man, um die Diskussion zu beleben, überspitzt formulieren.

9.2.3 Portfolio

Ein Portfolio ist eine Sammelmappe, in der zu einer bestimmten, von DozentInnen
aufgegebenen oder von Studierenden gestellten Fragestellung erarbeitete Materia-
lien zusammengestellt werden. Es kann sich dabei z. B. um Fotografien, Entwürfe,
Konzeptpapiere, Textexzerpte, Fallbearbeitungen, Protokolle, Rechercheergebnisse,
Visualisierungen von Zusammenhängen, schriftliche Ausarbeitungen, Essays,
Stellungnahmen, Pro-und-Kontra-Bilanzen, Vor-Ort-Ermittlungen zu einem
Sachverhalt, Begehung eines Stadtteils oder Besichtigung einer Wohnung oder eines
Arbeitsplatzes, Portraitierung eines sozialen Milieus etc. handeln, die im Verlauf
eines Seminars erstellt wurden. Zu dieser Sammlung an Materialien gehören die
schriftliche Dokumentation der eigenen Lernerfahrungen und deren Reflexion.
Ein Portfolio soll die eigene Lerngeschichte sachlich und fachlich nachvollziehbar
machen. Studierende können sich zugleich darin üben, die gemachten Erfahrun-
gen, die gewonnenen Erkenntnisse und das eigene Vorankommen selbstkritisch
zu reflektieren.
Bei der Portfolioarbeit handelt sich um eine prozesshafte, kumulative, selbstre-
flexive Lern- und Prüfungsform. Das Portfolio ist Begleiter des Lernprozesses und
Leistungsbeleg in einem. Um zu einer positiven Abschlussbewertung zu gelangen,
264 9 Formalien und Muster

sollten Sie die Zwischenergebnisse Ihrer Zusammenstellung immer wieder im


Seminar mit den KommilitonInnen (peer conferencing) und der Seminarleitung
besprechen, um die eingeholten Feedbacks zur Verbesserung der eigenen Produkte
zu nutzen. Lehrende erkennen an den vorgelegten Zwischenergebnissen den Bedarf
an Förderung und Begleitung. Eine Öffnung für fremde Sichtweisen und Kritik
setzt ein Klima wechselseitigen Vertrauens voraus.144

9.2.4 Präsentation einer künstlerisch-gestalterischen Arbeit

Die Präsentation eines künstlerisch-gestalterischen Arbeitsergebnisses umfasst


in aller Regel:

144 Die Grundidee des Portfolios basiert auf dem Prinzip der intrinsischen Motivation.
Lernen basiert weniger auf den Lehrtätigkeiten des Lehrenden als auf der Eigeninitia-
tive, Eigentätigkeit und Eigenverantwortung der Lernenden. Lernen ist im Kern ein
selbstreferentieller, autopoietischer, durch die kognitiven und emotionalen Strukturen
und Prozesse der Lernenden determinierter Prozess.
Das passt nicht gut zum gängigen Lehr-, Lern- und Prüfungssystem, das bekanntlich
auf extrinsischer Motivation aufbaut, auf eine eher passiv-rezeptive, dozentInnenzen-
trierte Lernhaltung, auf äußere Kontrolle, Benotung, Wissensabfrage, monologische
Notengebung etc. Das Portfolio wird von manchen sogar als Alternative zur derzeit
praktizierten Lehr-/Lernkultur verstanden. Ein Portfolio zielt auf eine Lernkultur, in der
nicht das von Experten ausgewählte und für relevant erklärte Wissen im Mittelpunkt
steht, sondern die Studierenden als Hauptakteure ihres Lernens. Lehrende und Lernende
treten sowohl in Fragen der Wissensselektion als auch der Wissensbearbeitung, als auch
der Beurteilung und Benotung (auf die man bei dieser Lehr-/Lernvariante am liebsten
verzichten würde) in einen Dialog ein. Sie kommunizieren auf Augenhöhe. Lehrende
werden dabei zu Fazilisatoren, Ermöglichern, Ratgebern, Moderatoren. Beiden, Stu-
dierenden wie Lehrenden, wird über den gesamten Lernprozess hinweg Gelegenheit
geboten, ihre Sichtweisen aktiv zu vertreten und zu verteidigen und so miteinander
und voneinander zu lernen. Das starre hierarchische Gefälle zwischen DozentInnen
und Studierenden wäre so ein Stück weit enthierarchisiert.
Das Portfolio ist noch ein Fremdkörper in der uns bekannten Hochschullandschaft. Es
wird als sinnvoll anerkannt, muss aber in die bestehenden institutionellen Strukturen
eingepasst werden. Das heißt, es muss mit einer Note fürs Ziffernzeugnis abgeschlos-
sen werden, und die sonst üblichen Formalien gelten ebenfalls fürs Portfolio: Bei der
Abgabe der Portfolioarbeit hat der Prüfling schriftlich an Eides statt zu versichern, dass
er seine Arbeit – bei einer Gruppenarbeit den entsprechend gekennzeichneten Anteil
der Arbeit – selbstständig angefertigt und keine anderen als die angegebenen Quellen
und Hilfsmittel benutzt hat.
9.2 Studienrelevante Manuskripttypen 265

1. das Arbeitsergebnis (z. B. eine Fotoserie, eine musikalische Komposition, Zeich-


nungen und Skizzen, Skulpturen, Modelle etc.),
2. die mündliche Erläuterung der Konzeption und Umsetzung während der Prä-
sentation und
3. die schriftliche Darstellung des Arbeitsergebnisses, die zugleich die Diskussion
des Arbeitsergebnisses innerhalb der Lehrveranstaltung angemessen reflektiert.

9.2.5 Referat / Seminararbeit

Referate werden im Plenum vorgetragen. Es handelt sich in der Regel um die Bear-
beitung von eingegrenzten Themen des jeweiligen Fachgebiets. Neben dem münd-
lichen Vortrag ist eine schriftliche Darstellung der Arbeitsergebnisse vorzulegen.
Dabei gelten alle Vorgaben für wissenschaftliches Arbeiten (Literaturrecherche,
Literaturnachweis, Aufbau, Gliederung und Schwerpunktsetzung des Vortrags,
Ausblick, Diskussionsanregungen etc.).
Referate, Seminararbeiten und Hausarbeiten können nach Absprache mit der
Dozentin oder dem Dozenten auch im Team erstellt werden. Es ist allerdings dafür
Sorge zu tragen, dass die einzelnen Teile, für die jemand verantwortlich ist, kenntlich
gemacht werden, so dass sie ad personam zu bewerten sind.

1. Jedes Referat sollte die folgenden inhaltlichen Anforderungen erfüllen. Es sollte:


t die Ausgangsfragestellung,
t die Hintergrundannahmen,
t das theoretische und methodische Vorgehen,
t die zentralen Begriffe und die
t Bedeutung und Bewertung des Analysierten beinhalten.

2. Das Referat ist zu gliedern. In der Einleitung sollen die Fragestellung, die Grund-
annahmen und der Gang der Argumentation aufgeführt werden. Im Schluss
finden eine Zusammenfassung und eine Bewertung statt. Die Gliederung ist als
Inhaltsverzeichnis dem Referat voranzustellen.

3. Das Referat soll sich keinesfalls allein auf die angegebene Literatur stützen.
Vielmehr wird erwartet, dass weiterführenden Literaturverweisen nachgegangen
wie auch in Sachkatalogen zum Thema nachgeschlagen wird. Die verwendete
Literatur ist zu bearbeiten. Dies bedeutet, dass sie nicht einfach hintereinander
zu referieren, sondern in eine gegliederte Argumentation einzuarbeiten ist.
266 9 Formalien und Muster

4. Häufig finden sich in den herangezogenen Literaturstellen zentrale Begriffe (wie


z. B. „Taylorisierung“, „bürokratische Herrschaft“ oder „Anomie“) oder Verweise
auf Klassiker (für die Soziologie z. B. Georg Simmel oder Max Weber). Diesen
Begriffen und Namen ist in den soziologischen Lexika und Wörterbüchern und/
oder in den relevanten Einführungstexten nachzugehen.

5. Zur Ausarbeitung: Von ReferentInnen wird erwartet, dass sie nach einer ersten
Durchsicht und Lektüre der Hauptliteratur ihre Arbeit möglichst bald mit der
Seminarleitung besprechen. Dabei geht es vor allem um die Grobgliederung, die
notwendigen Eingrenzungen und mögliche Literaturfragen. Es empfiehlt sich,
die im Verlauf der Ausarbeitung des Referats anfallenden Probleme in weiteren
Gesprächen mit der Seminarleitung oder den MitarbeiterInnen zu lösen.

6. Zum Formalen: Die schriftliche Ausarbeitung des Referats wird in der üblichen
Form (siehe Kap. 9: Formalien und Muster) vorgelegt. Längere Zitate können
einzeilig (in die Mitte versetzt) geschrieben werden. Auch längere Beispiele,
Zusatzargumentationen oder Exkurse können einzeilig (aber nicht mittever-
setzt) geschrieben werden.
Auf dem Deckblatt befinden sich folgende Informationen: Angaben zur Hoch-
schule, zum Fachbereich und zum Semester, Titel der Arbeit, Titel der Veran-
staltung, Leitung der Veranstaltung, Verfasser/in (Name, Matrikelnummer,
Anschrift, Telefon-/Fax-/E-Mail-Verbindung (siehe Kap. 9.4.1: Muster: Titelblatt
für Referate, Seminar- und Hausarbeiten, Praktikumsberichte).
Die Regeln der Zitation sind zu beachten (siehe Kap. 10.1 Zitieren). Ein vollständi-
ges Literaturverzeichnis ist Pflicht (siehe Kap. 9.4.6 Muster: Literaturverzeichnis
und 10.1.7 Das Literaturverzeichnis). Falls erforderlich, ist dem Manuskript eine
eidesstattliche Erklärung anzufügen (siehe Kap. 9.4.7 Muster: Eidesstattliche
Erklärungen).
Das Referat oder eine Kurzfassung (Diskussions- oder Thesenpapier) ist vor dem
Vortragstermin vervielfältigt an alle SeminarteilnehmerInnen auszugeben.

7. Zum Vortrag: Das schriftlich ausgearbeitete Referat wird auf keinen Fall in seinem
ganzen Umfang vorgelesen. Vielmehr sollen ReferentInnen eine inhaltliche Dis-
kussion anregen, indem sie die Schwerpunkte der Argumentation, die zentralen
Fragestellungen und Beweisführungen sowie die offenen Probleme des Themas
hervorheben. Dazu empfiehlt es sich, sich bei der Präsentation vom Schreibtext
zu lösen. Hilfreich ist es, das Referat in seinen Hauptzügen und -punkten auf
gesonderte Blätter oder Karten herauszuschreiben.
9.2 Studienrelevante Manuskripttypen 267

Da das Referat mit den anderen Referaten des Seminars in einer engen Bezie-
hung steht, sollten das Seminarprogramm und die vorab gehaltenen Referate
gut bekannt sein. In der Diskussion des Referats ist auf diese anderen Referate
Bezug zu nehmen. Nach dem Vortrag wird weiterhin aktive Teilnahme im
Seminar erwartet, insbesondere um die erarbeiteten Aspekte immer wieder in
die Diskussion einzubringen bzw. auf diese angesprochen werden zu können.
Nach dem Vortrag haben ReferentInnen die Möglichkeit zu einer Nachbespre-
chung in der Sprechstunde der SeminarleiterInnen. Diese Besprechung muss
keinesfalls mit der Ausstellung des Leistungsnachweises nach Semesterende
zusammenfallen.

9.2.6 Hausarbeit

Hausarbeiten werden in Absprache mit den DozentInnen veranstaltungsbegleitend


erstellt. Sie werden in der Regel nur von den DozentInnen gelesen, korrigiert,
bewertet und – falls gewünscht – besprochen. Sie werden – anders als Seminarar-
beiten – nicht im Plenum vorgestellt.
Ihr Umfang beträgt in der Regel ca. 20 Seiten. Die Formalien entsprechen de-
nen der Schriftfassung des Referats, nur dass hier eine eidesstattliche Erklärung
obligatorisch ist.
Der Inhalt von Hausarbeiten bezieht sich auf die Wiedergabe, Auswertung und
Diskussion von fachbezogenen Literaturvorlagen oder auf begrenzte empirische
Untersuchungen, z. B. Beobachtungen oder Befragungen sowie Literaturrecherchen
oder Materialsammlungen.

9.2.7 Praktikumsbericht

Der Bericht am Ende eines Praktikums oder Praxissemesters soll die sachliche und
fachliche Darstellung und kritisch distanzierte Reflexion von Aufgabenstellungen
und Problemlagen in den Sozialen Berufsfeldern unter individuellen, institutio-
nellen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten zum Inhalt haben. Dabei werden
dem Bericht die in der jeweiligen Praxisstelle gemachten Beobachtungen und
Erfahrungen zugrunde gelegt.
Zweck des Praktikumsberichts: Der Bericht wertet die während eines Prakti-
kums gesammelten Erfahrungen aus. Die im Praktikum gemachten beruflichen
und persönlichen Erfahrungen werden im Bericht so dargestellt, dass sie von den
LeserInnen nachvollzogen und besprochen werden können. Dazu benötigen sie
268 9 Formalien und Muster

Informationen über die Institution, in der Sie gearbeitet haben, über die Klientel,
Kundschaft oder Zielgruppe, über Konzeption und das methodische Repertoire
sowie über Ihren eigenen Aufgabenbereich. Der Bericht stellt die Basis für die
Erarbeitung weiterer Einsichten ins berufliche Handeln dar. Das bedeutet, dass
Offengebliebenes, ungeklärte Probleme oder weiterführende Fachfragen angespro-
chen werden. Ein weiterer wichtiger Zweck des Berichts ist die kritische Reflexion
der Praktikumserfahrungen und Ihre persönliche Stellungnahme zu ausgewählten
Sachverhalten.
Darstellungsweise und Form des Praktikumsberichts: In die Darstellung fließen
sowohl Sachinformationen wie auch persönliche Beobachtungen, Wahrnehmungen
und Einschätzungen ein. Dabei muss möglichst zwischen ‚objektiven‘ Fakten und
‚subjektiven‘ Wertungen unterschieden werden. Aus Ihrem Bericht soll für die
LeserInnen ersichtlich werden, wie Sie das Praxissemester unter den gegebenen
institutionellen Rahmenbedingungen erlebt, welche Lernerfahrungen Sie gemacht
haben und welche Problemsituationen Ihnen begegnet sind.
Umfang des Berichts: Der Bericht umfasst in der Regel 15 -20 Schriftseiten.
Das Deckblatt des Praktikumsberichts enthält, wie bei allen anderen Seminar-
arbeiten, folgende Angaben: Angaben zur Hochschule, Fachbereich, Studiengang
und Semester, Titel der Arbeit, Nennung der Praktikumsstelle und Praktikumszeit,
Begleitseminar, BetreuerIn des Praktikumsberichts bzw. Leitung des Begleitseminars,
Verfasser/in (Name, Matrikelnummer, Anschrift, Telefon-/Fax-/E-Mail-Verbindung
(siehe Kap. 9.4.1 Muster: Titelblatt für Praktikumsberichte).
Es folgt das Inhaltsverzeichnis mit Seitenangaben. Für den folgenden laufenden
Text gelten die üblichen Hinweise für schriftliche Arbeiten. Im Anschluss an den
Text folgen gegebenenfalls ein dokumentarischer Anhang (Hier werden nur Mate-
rialien eingebracht, auf die im Ausführungstext in irgendeiner Weise eingegangen
wurde.) und obligatorisch ein Literatur- und/oder Quellenverzeichnis.
Inhalte und Gliederung des Praktikumsberichts: Der Praktikumsbericht enthält
nachfolgende Gliederungspunkte. In welcher Reihenfolge und Ausführlichkeit
die einzelnen Punkte behandelt werden, hängt von Ihrem Tätigkeitsfeld ab und
davon, welche Gewichtung Sie ihnen aufgrund der in Ihrer Praxisstelle gemachten
Erfahrungen beimessen. So sind je nach Studiengang unterschiedliche Schwer-
punktsetzungen denkbar. Entsprechend dienen die im Folgenden zu jedem Aspekt
genannten Stichpunkte oder Fragen als Anregung und müssen nicht alle und in
dieser Reihenfolge bearbeitet werden; gegebenenfalls werden sie von Ihnen durch
andere Aspekte ergänzt.
9.2 Studienrelevante Manuskripttypen 269

1. Beschreibung der Institution/Rahmenbedingungen der Arbeit


t Träger,
t Konzeption (Inhalte, Themen, Schwerpunkte, Ziele u. a.),
t Strukturen (personelle, finanzielle, räumliche u. a.),
t Organisations- und Leitungsstrukturen,
t Vernetzung/Kooperation mit anderen Institutionen (Verwaltungen, Betrieben,
Verbänden u. a.),
t Wie versteht sich die Institution selbst (Selbstverständnis, Leitbild)?
t Welche Auswirkungen und Bedeutung haben Zielsetzung, weltanschaulicher
Hintergrund, Konzeption u. a. auf die Arbeit?
t Wie verlaufen in dieser Institution Entscheidungsprozesse, und wie wirken sie
sich auf die Arbeit aus?

2. Klientel/Kundschaft/Zielgruppen
t soziodemografische Daten,
t Problemstellung, Belastungsgrad, Verhaltensauffälligkeit, Interessen u. a.,
t Erwartungen der KlientInnen/KundInnen an die Institution,
t Problembewusstsein der KlientInnen/KundInnen,
t wechselseitiger Bezug zwischen Institution und Klientel/Kundschaft,
t Institutionsverständnis der Klientel/Kundschaft,
t Fühlten sich die KlientInnen/KundInnen durch die Institution akzeptiert?

3. Methodisches Vorgehen
t Interventionsschritte, Betreuungsabläufe, Fallbeispiele u. a.,
t Planungsverfahren, Problemlösungsstrategien, Kooperationen u. a.,
t Managementaufgaben (Öffentlichkeitsarbeit, Qualitätssicherung u. a.),
t Begründung der ausgewählten Verfahren,
t Effizienz der gewählten Verfahren,
t Reflexion unter den MitarbeiterInnen (Supervision, Teambesprechung u. a.),
t Art und Weise der Praxisanleitung,
t eigenes Erleben und Reflektieren der Praxisanleitung.

4. Eigener Aufgaben-/Tätigkeitsbereich
t übernommene Aufgaben, Herausforderungen,
t eigene Handlungsschritte, Umsetzungen,
t Zusammenarbeit mit Vorgesetzten, KollegInnen sowie PartnerInnen anderer
Institutionen,
t Verhältnis zu den KlientInnen/KundInnen,
t Abhängigkeiten und Gestaltungsfreiheiten,
270 9 Formalien und Muster

t Umgang mit Macht und Ohnmacht,


t Erfolge und Misserfolge,
t eigene Stärken und Schwächen,
t Differenzen/Konflikte mit KlientInnen, Vorgesetzten, KollegInnen.

5. Fachwissen
t erforderliche Fachkenntnisse für die Tätigkeit,
t erforderliche Kompetenzen und Fertigkeiten für die Tätigkeit.
t Welche Kenntnisse, Kompetenzen, Fertigkeiten waren bei Ihnen bereits vor-
handen?
t Welche Kenntnisse, Kompetenzen, Fertigkeiten haben Sie sich im Praxisse-
mester angeeignet?
t Welche Kenntnisse, Kompetenzen, Fertigkeiten müssten bzw. möchten Sie im
weiteren Studium erwerben?

6. Persönliches Resümee
t Erkenntnisse und Einsichten aus dem Praxissemester; persönlicher Gewinn,
t Umgang mit unterschiedlichen Gefühlssituationen,
t Dinge, die Ihnen leicht oder schwer gefallen sind,
t Perspektiven fürs weitere Studium und die Wahl des Arbeitsfeldes im späteren
Beruf.

9.2.8 Klausur

Klausuren sind schriftliche Prüfungen im Rahmen einer vorgegebenen Frist. Sie


finden unter Aufsicht statt. Von den verantwortlichen DozentInnen werden zu den
Klausuren entsprechende Klausuraufgaben sowie die zulässigen Hilfsmittel für die
Bearbeitung dieser Aufgaben vorgegeben.
Wie bei anderen Prüfungsleistungen sind Täuschungsversuche und die Benutzung
nicht zugelassener Hilfsmittel verboten. Versuchen Prüflinge, das Ergebnis ihrer
Prüfungsleistung durch Täuschung oder Benutzung nicht zugelassener Hilfsmittel
zu beeinflussen, gilt die betreffende Prüfungsleistung als „nicht ausreichend“ und
wird mit der Note 5.0 bewertet. Außer den prüfungsrechtlichen Konsequenzen sind
auch ordnungswidrigkeitsrechtliche, strafrechtliche und einschreibungsrechtliche
Sanktionen möglich. Fazit: Auf keinen Fall pfuschen!
9.2 Studienrelevante Manuskripttypen 271

9.2.9 Bachelor- und Masterarbeit

Die Bachelorarbeit ist eine in der Regel ca. 50-60-seitige, die Masterarbeit eine in der
Regel ca. 60-80-seitige schriftliche Abschlussarbeit (siehe Kap. 9.4.2 Muster: Titel-
blatt für Bachelor-/Masterarbeiten). An beide Arbeiten werden die Anforderungen
wissenschaftlichen Arbeitens in aller Strenge angelegt. Verletzungen der Formalien
führen zu deutlichen Abstrichen an der Prüfungsnote. In schwerwiegenden Fällen
(z. B. bei Nichtzitieren benutzter Quellen) kann die Bachelor- oder Masterarbeit
von den PrüferInnen als Prüfungsleistung abgelehnt werden.
Bachelor- und Masterarbeit werden im Rahmen einer zeitlichen Frist als Haus-
arbeit erstellt. Sie dienen dem Nachweis der Fähigkeit zu selbstständigem wis-
senschaftlichen Arbeiten. Es wird allerdings kein eigenständiger, ursprünglicher
wissenschaftlicher Beitrag verlangt. Es soll vielmehr gezeigt werden, dass man
in der Lage ist, wissenschaftliche Texte aufzuspüren, zu verstehen, darzustellen,
gegeneinander abzuwägen und ihnen gegenüber kritisch Stellung zu beziehen.145
Bachelor- und Masterarbeiten sind nicht nur als Abschlussarbeiten des Studiums
von Bedeutung, sie dienen auch als Visitenkarten für spätere ArbeitgeberInnen.
Auf Inhalt und Form sollte daher besonders Wert gelegt werden.
Nach erfolgreicher Bachelor- bzw. Masterprüfung werden die Titel „Bachelor of
Arts“, abgekürzt „B.A.“ bzw. „Master of Arts“, abgekürzt „M.A.“ verliehen.

145 Im § 26, Abs. 1 der Prüfungsordnung für den Bachelorstudiengang ‚Soziale Arbeit‘ an
der Hochschule Niederrhein (08.09.2010) heißt es z. B.: „Die Bachelorarbeit soll zeigen,
dass der Prüfling befähigt ist, innerhalb einer vorgegebenen Frist eine vornehmlich
praxisorientierte Aufgabe aus der Sozialen Arbeit mit wissenschaftlichen und fach-
praktischen Methoden selbstständig zu bearbeiten und dabei sowohl die fachlichen
Einzelheiten als auch die fachübergreifenden Zusammenhänge der Aufgabe gebührend
zu berücksichtigen. Die Bachelorarbeit ist in der Regel eine eigenständige Bearbeitung
einer Aufgabenstellung und eine ausführliche Beschreibung und Erläuterung ihrer
Lösung.“
Im § 20, Abs. 1 der Prüfungsordnung für den Masterstudiengang ‚Psychosoziale Be-
ratung und Mediation‘ an der Hochschule Niederrhein (08.09.2010) heißt es z. B.: „Die
Masterarbeit soll zeigen, dass der Prüfling befähigt ist, innerhalb einer vorgegebenen
Frist eine wissenschaftlich fundierte, vornehmlich praxisorientierte Aufgabenstellung
aus dem Gebiet der Psychosozialen Beratung und Mediation mit wissenschaftlichen und
fachpraktischen Methoden selbstständig zu bearbeiten und dabei sowohl die fachlichen
Einzelheiten als auch die fachübergreifenden Zusammenhänge der Aufgabe gebührend zu
berücksichtigen. Die Masterarbeit ist in der Regel eine eigenständige Untersuchung einer
Aufgabenstellung und eine ausführliche Beschreibung und Erläuterung ihrer Lösung.“
272 9 Formalien und Muster

9.2.10 Dissertation

Die Dissertation dient der Erlangung des akademischen Grades „Doktor“. Dieser
Grad wird ausschließlich von (den Fakultäten der) wissenschaftlichen Hochschulen
und Universitäten verliehen. Die Promotionsordnungen werden von den Hoch-
schulen festgelegt und von den Ministerien genehmigt. Den Promotionsordnungen
entsprechend wird die Gelegenheit zur Promotion gewährt, wenn sich ein Betreuer
(Doktorvater) oder eine Betreuerin (Doktormutter) in Absprache mit den Kandi-
datInnen dazu bereit erklärt.
Die Doktorarbeit ist eine eigenständige, ursprüngliche wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit einem Thema, das in dieser Form noch nicht behandelt
wurde.
Neben der schriftlichen Arbeit (Thesis) wird, wie bei Bachelor- und Masterab-
schlüssen, eine mündliche Prüfung (Rigorosum) abgehalten.
Die schriftliche Arbeit muss veröffentlicht werden, um eine öffentliche wissen-
schaftliche Kontrolle zu ermöglichen. Erst nach der Publikation ist der Promovend
bzw. die Promovendin berechtigt, im Namen den akademischen Titel „Dr.“ zu führen.

9.2.11 Habilitation

Eine Habilitation dient der Erlangung des akademischen Titels „Dr. habil.“ oder
„Privatdozent“. Wer nach erfolgreicher Habilitation auf eine Planstelle an ei-
ner Universität berufen wird, wird „Ordentlicher Professor“ bzw. „Ordentliche
Professorin“. Wenn keine Planstelle zur Verfügung steht, kann über ein weiteres
Qualifikationsverfahren eine außerplanmäßige (APL-)Professur verliehen werden.
In beiden Fällen darf anschließend der Titel „Universitätsprofessor“ bzw. „Univer-
sitätsprofessorin“ geführt werden.
Ein Habilitationsverfahren besteht aus einer von einer promovierten Fachver-
treterIn erstellten schriftlichen Abhandlung (Habilitationsschrift) sowie einer wis-
senschaftlichen Aussprache (Kolloquium) und einer öffentlichen Antrittsvorlesung.
Das Verfahren dient der Feststellung der Befähigung, akademische Vorlesungen
in eigener Verantwortung abzuhalten.
Die Habilitationsschrift stellt eine eigenständige, umfassende wissenschaftli-
che Monographie zu einem Bereich dar, für den der Kandidat/die Kandidatin die
Lehrbefugnis erhält.
Die Habilitation, lateinisch: venia legendi, berechtigt u. a. dazu, den wissen-
schaftlichen Nachwuchs bei der Promotion zu begleiten.
9.3 Die formale Gestaltung studienrelevanter Manuskripte 273

9.3 Die formale Gestaltung studienrelevanter


Manuskripte
9.3 Die formale Gestaltung studienrelevanter Manuskripte
9.3.1 Schriftbild

Als Textformatierung hat sich folgende Type bewährt:

Schriftart: Times New Roman


Schriftschnitt: Standard
Schriftgrad: 12
Unterstreichungen: keine
Effekte: keine

Hervorhebungen im Text sind fett oder kursiv (und nicht unterstrichen) zu setzen.
Für den laufenden Text wird der Blocksatz mit einem Zeilenabstand von 1,5
Zeilen und einem Absatzabstand von 6 pt bzw. 8 px empfohlen.
Die Seitenformatierung bei Haus- und Seminararbeiten richtet sich nach der
Standardeinstellung z. B. von MS Word:

Seitenränder oben: 2,5 cm


unten: 2,5 cm
links: 4,0 cm
rechts: 3,0 cm
Bundsteg: 0,0 cm

Bei der Erstellung einer Bachelor- oder Masterarbeit146 richten Sie sich nach fol-
genden Maßgaben:

146 Zur Erstellung der Bachelor-/Masterarbeit:


1. Den Antrag auf Zulassung zur Bachelor- bzw. Masterarbeit geben Sie bitte im Prü-
fungsamt ab. Hier werden die Zulassungsvoraussetzungen überprüft. Sind diese
erfüllt, leitet das Prüfungsbüro Ihren Antrag an Ihre Betreuerin bzw. Ihren Betreuer
weiter. Die Betreuer tragen das Thema der Arbeit ein und leiten den Antrag weiter
an den Prüfungsausschuss, der Sie fürs Prüfungsverfahren zulässt und Ihnen die
PrüferInnen zuteilt. Das Prüfungsamt setzt daraufhin den Abgabetermin für die
Bachelor-/Masterarbeit fest und sendet Ihnen unverzüglich das Thema mit Angabe
der PrüferInnen zu.
2. Die Bearbeitungszeit der Bachelor-/Masterarbeit endet mit dem Tage, der in der
Zulassung angegeben ist. Möchten Sie die Bearbeitungszeit verlängern, sollten Sie
nach Absprache mit Ihren ReferentInnen, spätestens zwei Wochen vor Abgabetermin,
274 9 Formalien und Muster

t Papierformat DIN A4, einseitig beschrieben,


t Umfang: i. d. R. umfasst eine Bachelorthesis 50-60, eine Masterthesis 60-80
Textseiten,
t flexibel gebunden, Einbanddeckel und -rücken in der Regel Pappe in beliebiger
Stärke und beliebiger Farbe.
t Folgende formale Ordnung ist bei Bachelor- und Masterarbeiten einzuhalten:

Einbanddeckel
Deckblatt leere Seite, ohne Seitenzahl, aber mitgezählt: Seite 1
Titelblatt ohne Seitenzahl, aber mitgezählt: Seite 2
siehe Kap. 9.4.2 Muster: Titelblatt für Bachelor-/Masterarbeiten
Inhaltsverzeichnis mit Seitenzahl: Seite 3; danach fortlaufende Seitenzählung
siehe Kap. 9.4.3 Muster: Inhaltsverzeichnis
Verzeichnisse falls sinnvoll Abkürzungsverzeichnis, Abbildungsverzeichnis
etc.; siehe zu Abkürzungen Kap. 9.3.9 Abkürzungen und Kap.
9.4.4 Muster: Abkürzungsverzeichnis und Kap. 9.4.5 Muster:
Abbildungsverzeichnis
Ausführungstext Einleitung, Hauptteil, Schlussteil
Anhang falls sinnvoll; mit fortlaufender Seitenzählung und römischer
Bezifferung der einzelnen Bestandteile
Literaturverzeichnis siehe Kap. 9.4.6 Muster: Literaturverzeichnis; mit fortlaufender
Seitenzählung
Eidesstattliche ohne Seitenzahl
Erklärung siehe Kap. 9.4.7 Muster: Eidesstattliche Erklärungen
Schlussblatt leere Seite, ohne Seitenzahl
CD Digitale Version des Papierausdrucks und Kopien der benutzten
Internetquellen
Einbandrücken

einen schriftlich begründeten Antrag per Formblatt im Prüfungsamt einreichen.


Nachweise, warum sich die Bearbeitungszeit verlängert (z. B. ärztliche Beschei-
nigung), sollten Sie beifügen. Bedenken Sie bitte, dass Sie bei einer Verlängerung
i. d. R. nicht mehr zum nachfolgenden Kolloquium zugelassen werden können, da
Ihren ReferentInnen nicht mehr die vorgesehene Zeit zur Bewertung Ihrer Arbeit
zur Verfügung steht. Es besteht die Möglichkeit, die ReferentInnen zu bitten, die
Arbeit in einer verkürzten Zeit zu bewerten.
3. Die Bachelor-/Masterarbeit wird i. d. R. in dreifacher Ausfertigung im Prüfungsamt
abgegeben. Die ersten beiden Exemplare erhalten die ReferentInnen zur Korrektur,
das dritte Exemplar ist für das Archiv bestimmt.
9.3 Die formale Gestaltung studienrelevanter Manuskripte 275

Bei Bachelor- und Masterarbeiten gilt dieselbe Text- und Seitenformatierung wie
bei Haus- und Seminararbeiten:

Seitenränder oben: 2,5 cm


unten: 2,5 cm
links: 4,0 cm
rechts: 3,0 cm
Bundsteg: 0,0 cm

Kopf- und Fußzeilen sind nicht erforderlich und nicht üblich, können aber einge-
fügt werden.
Anmerkungen als Fuß- oder Endnoten (vgl. Kap. 9.3.6 Anmerkungen, Fußno-
ten, Endnoten) sind in Schriftgrad 10 und mit einem einfachen Zeilenabstand zu
formatieren.

9.3.2 Seitenzählung

Alle Seiten, ausschließlich Deckblatt, Titelblatt, eidesstattliche Erklärung und


Schlussblatt sind fortlaufend zu nummerieren. Die Zählung der Seiten beginnt
bereits beim leeren Deckblatt, die Nummerierung der Seiten beginnt allerdings
erst beim Inhaltsverzeichnis und endet mit dem Literaturverzeichnis, also vor der
abschließenden eidesstattlichen Erklärung.

9.3.3 Überschriften, Inhaltsverzeichnis

Die Kapitel und Unterkapitel einer Arbeit sind mit Überschriften zu versehen. Die
Überschriften im Ausführungstext müssen wortwörtlich mit den Überschriften im
Inhaltsverzeichnis übereinstimmen. Es empfiehlt sich, die Gliederungssystematik
z. B. von MS Word für die automatische Erstellung des Inhaltsverzeichnisses anzu-
wenden. Dazu müssen den Überschriften entsprechende Formate zugewiesen werden.

9.3.4 Titelblatt

Bei Haus- und Seminararbeiten entfallen Einbanddeckel und Deckblatt. Sie begin-
nen also auf der ersten Seite mit dem Titelblatt (siehe Kap. 9.4.1 Muster: Titelblatt
für Referate, Seminar- und Hausarbeiten). Es beinhaltet Angaben zur Hochschule,
276 9 Formalien und Muster

zum Fachbereich, zum Studiengang sowie zum Semester. Titel der Arbeit, die Art
der Arbeit (Referat, Hausarbeit …), die Veranstaltung, die Veranstaltungsleitung
und der/die Verfasser/in der Arbeit (Name, Matrikelnummer, Adresse und – zur
schnellen Erreichbarkeit – Telefon- und E-Mail-Verbindung).
Bei einer Bachelor- oder Masterarbeit ist nach dem Einbanddeckel und vor dem
Titelblatt ein Deckblatt (leere Seite) einzulegen. Es dient als Raum für Eintragungen
der Prüfungsbehörde (z. B. Eingangsstempel). Bei Seminar- und Hausarbeiten ist
diese leere Seite wie gesagt nicht erforderlich.
Das Titelblatt der Bachelor- oder Masterarbeit enthält Angaben zur Hochschule,
zum Fachbereich, Studiengang und Semester, zum Titel der Arbeit, zur Art der
Arbeit (Bachelor- oder Masterarbeit oder Bachelorthesis oder Masterthesis) sowie
zum/zur Verfasser/in der Arbeit (Name, Matrikelnummer, Adresse und – zur
schnellen Erreichbarkeit – Telefon- und E-Mail-Verbindung). Auf dem Titelblatt
werden schließlich auch die beiden ReferentInnen bzw. GutachterInnen benannt
(siehe Kap. 9.4.2 Muster: Titelblatt für Bachelor-/Masterarbeiten).

9.3.5 Vortexte

Ein Motto, eine Widmung, ein Geleit- oder ein Vorwort sind nicht Teil der wis-
senschaftlichen Arbeit. Sie gehören daher hinter das Deck- oder Titelblatt, doch
vor das Inhaltsverzeichnis. Die Seiten werden gezählt, doch nicht nummeriert.

9.3.6 Anmerkungen, Fußnoten, Endnoten

Anmerkungen sind in Fuß- oder Endnoten angebrachte Ergänzungen und Erläu-


terungen zum laufenden Text. Sie werden entweder als Fußnoten auf der jeweiligen
Seite angebracht oder als Endnoten unter der Überschrift „Anmerkungen“ ans Ende
des Ausführungstextes gestellt.
Fußnoten sind m. E. gegenüber Endnoten zu bevorzugen, da sie den LeserInnen
aufwendiges Blättern ans Ende der Arbeit ersparen. Fuß- oder Endnoten sollten bei
der hier verwendeten Zitierweise nicht für Quellenangaben, sondern ausschließlich
für Ergänzungen und Erläuterungen des Fließtextes benutzt werden.147

147 Sollten Sie nach alten deutschen Gepflogenheiten Fußnoten für Zitationen verwenden,
gilt grundsätzlich die Regel, dass alle Fußnoten mit einem Punkt zu beenden sind. Auch
Zitatangaben sind als syntaktisch vollständige Sätze anzusehen.
9.3 Die formale Gestaltung studienrelevanter Manuskripte 277

Bedenken Sie bitte: Der Fließtext muss auch ohne Fuß- oder Endnoten als
eigenständiger Text verständlich und nachvollziehbar sein.

9.3.7 Verzeichnisse

9.3.7.1 Inhaltsverzeichnis
Das Inhaltsverzeichnis wird dem Text vorangestellt. Es gibt die Gliederungssystema-
tik der Arbeit wieder. Haupt-, Neben- und Unterkapitel sind zu nummerieren und
unbedingt mit Seitenzahlen zu versehen. Die Angaben des Inhaltsverzeichnisses
müssen buchstabengetreu den Kapitelüberschriften entsprechen (was kein Problem
ist, wenn man die Gliederungssystematik z. B. von MS Word verwendet).
Zur Gestaltung des Inhaltsverzeichnisses siehe Kap. 9.4.3 Muster: Inhaltsver-
zeichnis.

9.3.7.2 Abkürzungs-, Abbildungs-, Tabellen-, Formeln- und


Symbolverzeichnisse
Sollten Sie in Ihrer Arbeit Abkürzungen benutzen, die über die üblichen, im Duden
angeführten Abkürzungen hinausgehen, so müssen Sie diese in einem gesonderten
Verzeichnis erklären und Ihrem Text voranstellen.
Zum Thema ‚Abkürzungen‘ siehe Kap. 9.3.9 und zur Gestaltung eines Abkür-
zungsverzeichnisses siehe Kap. 9.4.4 Muster: Abkürzungsverzeichnis.
Sollte Ihre Arbeit viele Abbildungen, Darstellungen, Grafiken, Tabellen, For-
meln oder Symbole enthalten (mehr als zehn), macht es Sinn, diese in gesonderten
Verzeichnissen mit Nennung der Abbildungs- bzw. Darstellungs- bzw. Grafik- bzw.
Tabellentitel und der Seitenangabe dem Ausführungstext voranzustellen (zur Ge-
staltung siehe Kap. 9.4.5 Muster: Abbildungsverzeichnis).
Sollten Sie in Ihrem Text mit vielen Formeln und/oder Symbolen arbeiten, so sind
auch diese in einem gesonderten Verzeichnis vor Beginn des eigentlichen Textes
in einem Sonderverzeichnis zu erläutern und auszuweisen.

9.3.7.3 Literaturverzeichnis
Das Literaturverzeichnis bildet den obligatorischen Abschluss einer jeden wis-
senschaftlichen Arbeit. Es steht nach dem Ausführungstext und seinen etwaigen
Endnoten/Anmerkungen und dem etwaigen Anhang. Es weist die in der Arbeit
benutzte wissenschaftliche Literatur aus, um den LeserInnen die Möglichkeit
zu bieten, alle Textstellen, auf die in der Arbeit wörtlich oder sinngemäß Bezug
genommen wird, im Original zu überprüfen. Das Literaturverzeichnis führt alle
278 9 Formalien und Muster

verwendeten Literaturquellen (wissenschaftliche Bücher, Aufsätze usw.) in alpha-


bethischer Reihenfolge auf. Es kann nach Literaturquellen und Internetquellen
unterteilt werden.
Sollten von einer Autorin oder einem Autor mehrere Titel verwendet worden
sein, werden sie in der Reihenfolge ihres Erscheinungsjahrs aufgeführt. Sollten
von einer Autorin oder einem Autor mehrere Titel aus einem Erscheinungsjahr
verwendet worden sein, so ist die Jahreszahl durch Kleinbuchstaben zu ergänzen
und in alphabetischer Reihenfolge im Literaturverzeichnis aufzuführen.
Genaue Angaben zur Erstellung des Literaturverzeichnisses finden Sie im Kap.
10.1.7 Das Literaturverzeichnis. Zur Gestaltung des Literaturverzeichnisses siehe
Kap. 9.4.6 Muster: Literaturverzeichnis.

9.3.7.4 Quellenverzeichnis
In einem Quellenverzeichnis werden alle benutzten Materialien in chronologischer
oder alphabetischer Reihenfolge aufgelistet, die in einer wissenschaftlichen Arbeit
Verwendung finden. Es handelt sich hier um ein Verzeichnis, das über die benutzte
Literatur hinaus Quellen wie z. B. Schallplatten, Filme, Videos, Fernseh- und Ra-
diosendungen, Vorträge, Gesetzestexte etc. ausweist und damit überprüfbar macht.
Das Quellenverzeichnis kann zusätzlich und getrennt vom Literaturverzeich-
nis erstellt werden. Es kann aber auch zu einem literarische und sonstige Quellen
vereinenden Quellenverzeichnis bzw. Literatur- und Quellenverzeichnis zusam-
mengezogen werden.

9.3.7.5 Werkeverzeichnis
Ein Werkeverzeichnis listet die Werke einer Autorin, eines Autors oder einer
AutorInnengruppe möglichst vollständig auf. Es wird wissenschaftlichen (meist
literatur- oder auch kunstwissenschaftlichen) Arbeiten angefügt, die sich dem Werk
einer Autorin, eines Autors oder mehrerer AutorInnen/KünstlerInnen widmen.

9.3.7.6 Sach- und Namensverzeichnisse


Sach- und Namensverzeichnisse (Stichwort-, Schlagwort-, Personenverzeichnisse
bzw. -register) sind dem Text nachgestellte Hilfsverzeichnisse, die es den LeserInnen
erleichtern, Stellen im Text aufzufinden, an denen Personen namentlich erwähnt
oder Sachthemen ausführlich behandelt werden. Sach- und Namensverzeichnisse
werden für Bachelor- und Masterarbeiten nicht verlangt.
9.3 Die formale Gestaltung studienrelevanter Manuskripte 279

9.3.8 Nachtexte

Nachwort, eidesstattliche Erklärung, biografische Angaben zur Autorin oder zum


Autor, Lebenslauf etc. gehören – falls nötig – ans Ende der Arbeit. Sie sind nicht
mehr Teil der wissenschaftlichen Arbeit.
Nachtexte werden für Bachelor- und Masterarbeiten nicht verlangt, mit Ausnahme
der eidesstattlichen Erklärung. Sie gehört zwingend hinter jede Bachelor-/Masterar-
beit. Die eidesstattliche Erklärung sollten Sie nicht ‚auf die leichte Schulter nehmen‘,
denn in §156 StGB (Falsche Versicherung an Eides Statt) heißt es: „Wer vor einer
zur Abnahme einer Versicherung an Eides Statt zuständigen Behörde eine solche
Versicherung falsch abgibt oder unter Berufung auf eine solche Versicherung falsch
aussagt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Formulierungsvorschläge finden Sie unter Kap. 9.4.7 Muster: Eidesstattliche
Erklärungen.

9.3.9 Abkürzungen

Wenn Sie in Ihrer Arbeit Abkürzungen benutzen, müssen Sie diese erklären. Bei
ein- oder zweimaliger Benutzung reicht es, die Abkürzung im Text zu erläutern,
indem man sie in Klammern gesetzt ausschreibt. Falls Sie aber eine größere Anzahl
von Abkürzungen immer wieder benutzen, sollten Sie sie nicht nur beim erstmaligen
Gebrauch im Text mit der ausgeschriebenen Bezeichnung erläutern (z. B. „… die
Mitglieder des IBS (Institut für Beratung und Supervision) …“), sondern auch in
einem gesonderten Abkürzungsverzeichnis auflisten und dem Ausführungstext
voranstellen. Welche Abkürzungen ins Abkürzungsverzeichnis aufzunehmen sind,
ist eine Ermessensfrage. Allzu gängige Abkürzungen wie d. h., u. a., z. B. etc. und
usw. müssen nicht aufgenommen werden. Abkürzungen, deren Kenntnis nicht
allgemein zu unterstellen ist, sollten aufgenommen werden.
Zur Gestaltung des Abkürzungsverzeichnisses siehe Kap. 9.4.4 Muster: Abkür-
zungsverzeichnis.
280 9 Formalien und Muster

Hansen

Auf der zu diesem Buch gehörenden Produktseite finden Sie zu diesem Thema den
t Text 10: Abkürzungen.
Hier sind Beispiele allgemein gängiger und spezieller Abkürzungen, wie wir sie in wis-
senschaftlichen Texten finden, aufgeführt. Die Auflistungen erheben keinerlei Anspruch
auf Vollständigkeit, sie sind vielmehr exemplarisch gedacht.
http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9

Zur Überprüfung Ihres Lernerfolgs bearbeiten Sie bitte


t Arbeitsblatt 17: Zu Kapitel 9 – Formalien und Muster
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
9.4 Muster 281

9.4 Muster
9.4 Muster
9.4.1 Muster: Titelblatt für Referate, Seminar- und
Hausarbeiten, Praktikumsberichte

Universität Duisburg-Essen
Fakultät für Bildungswissenschaften
Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik
Studiengang Soziale Arbeit (B.A.)
Wintersemester 2015/2016

Soziale Arbeit im Umbruch


Referat / Seminararbeit / Hausarbeit

Seminar: Theorien der Sozialen Arbeit


Leitung: Professorin Dr. Sabine Kruse und Dr. Willi Wetzel

Verfasser:
Kai Uwe Mustermann
Matr. Nr.: 123456
Berliner Platz 16
45127 Essen
Tel.: 0201 – 786631
E-Mail: mustermann@bildungswissenschaften.uni-due.de
282 9 Formalien und Muster

Muster: Titelblatt für Praktikumsberichte

Hochschule Niederrhein
Niederrhein University of Applied Sciences
Fachbereich Sozialwesen
Studiengang Soziale Arbeit (B.A.)
Sommersemester 2015

Sozialpädagogische Begleitung von Migrantenkindern


Praktikumsbericht

Praktikumsstelle:
AWO Kreisverband Mönchengladbach, Internationales Zentrum für Migranten

Praktikumszeit:
09.02.2015 – 26.06.2015

Seminar: Praxisbegleitung I
Leitung: Dr. Ute Schuster und Dr. Hans Fröbel

Verfasser:
Eva Musterfrau
Matr. Nr.: 123456
Richard Wagner Str. 101
41065 Mönchengladbach
Tel.: 02161 – 786631
E-Mail: musterfrau@stud.hn.de
9.4 Muster 283

9.4.2 Muster: Titelblatt für Bachelor-/Masterarbeiten

Fachhochschule Potsdam
University of Applied Sciences
Fachbereich Sozialwesen
Studiengang Soziale Arbeit, Schwerpunkt Familie (M.A.)
Wintersemester 2015/2016

Inklusion und Exklusion im System Familie

Masterarbeit

vorgelegt von:

Kai Uwe Mustermann


Matr. Nr.: 123456
Kiepenheuerallee 12
14469 Potsdam
E-Mail: mustermann@fh-potsdam.de

Referentin: Professor Dr. Irma Müller


Korreferent: Professor Dr. Hugo Maier
284 9 Formalien und Muster

9.4.3 Muster: Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungs- / Abbildungs- / Tabellenverzeichnis 4

Einleitung 6

1 Allgemeine Annäherung an zentrale Begriffe 8


1.1 Wissenschaft 10
1.2 Denken 11
1.3 Arbeit 13

2 Wissenschaftliches Arbeiten 15
2.1 Quellen und Materialien 18
2.2 Materialauswahl und -auswertung 20
2.3 Das Manuskript 24
2.3.1 Manuskriptarten 24
2.3.2 Formalien zur Manuskriptgestaltung 27

3 Benutzung von Bibliotheken und Internet 30


3.1 Bibliotheken der Hochschule Niederrhein 31
3.1.1 Bibliothek am Standort Mönchengladbach 33
3.1.2 Bibliothek am Standort Krefeld
3.2 Internetnutzung 35
3.2.1 Suchmaschinen 37
3.2.1.1 Google 39
3.2.1.2 Yahoo 41
3.2.1.3 Bing 42
3.2.2 Datenbanken 44
3.2.2.1 Bestandskataloge der Bibliotheken 47
3.2.2.2 Wissenschaftliche Datenbanken 48
3.2.2.3 Bestandskataloge des Buchhandels 50
3.3 Vergleich zwischen den Bibliotheken vor Ort und dem Internet 52

4 Schlussbetrachtung 57

Anhang 60

Literaturverzeichnis 69

Das Inhaltsverzeichnis soll (am besten auf einen Blick) eine Übersicht über die Glie-
derung und den strukturellen, sachlogischen Aufbau Ihrer Arbeit geben. Anhand
des Inhaltsverzeichnisses sollte die Argumentationslinie, der ‚rote Faden‘ in Ihrer
Argumentation deutlich erkennbar sein. Das Inhaltsverzeichnis ist die Visitenkarte
Ihrer Arbeit. Deshalb gestalten Sie es klar, verständlich, übersichtlich, einheitlich
und ausgewogen (in Umfang und Gewicht der jeweiligen Kapitel).
9.4 Muster 285

Alternative Gliederungsordnungen und Prinzipien

Es gibt Alternativen zur hier dargebotenen numerischen Ordnung nach dem


Linienprinzip.

Aus: Bieker 2011:117


286 9 Formalien und Muster

9.4.4 Muster: Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abb. Abbildung
Abk. Abkürzung
Aufl. Auflage
Ausg. Ausgabe
Bd. Band
bearb. bearbeitet
BGB Bundesgesetzbuch
BGBl. Bundesgesetzblatt
BSHG Bundessozialhilfegesetz
BVerfGE Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerwG Bundesverwaltungsgericht
Hrsg. Herausgeber
i. d. R. in der Regel
i. d. S. in diesem Sinne
JFF Jugend Film Fernsehen
Jg. Jahrgang
KU Kunst und Unterricht
KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
LfM Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen
mpfs Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest
MS Manuskript
NP Neue Praxis
OECD Organization for Economic Co-operation and Development
(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)
PISA Programme for International Student Assessment
SGB II Zweites Buch Sozialgesetzgebung (Grundsicherung)
SGB VIII Achtes Buch Sozialgesetzgebung (Kinder- und Jugendhilfe)
SozSys Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie
StGB Strafgesetzbuch
SW Soziale Welt
9.4 Muster 287

9.4.5 Muster: Abbildungsverzeichnis

Um LeserInnen möglichst schnell zu den in einer Arbeit dargebotenen Abbildun-


gen (Fotos, Grafiken, Gemälden, Übersichten, Tabellen etc.) zu führen, wird ein
Abbildungsverzeichnis der Arbeit vorangestellt. Dazu werden die Abbildungen in
der Folge ihres Erscheinens im Ausführungstext nummeriert.
Im Abbildungsverzeichnis erscheinen dann z. B. folgende Angaben:
t Angabe der Seite, auf der sich die Abbildung in der vorliegenden Arbeit befindet,
t Abbildungsnummer,
t (optional Typ und) Titel der Abbildung,
t gegebenenfalls Angaben zur Quelle.

Abbildungsverzeichnis
S. 05, Abb. 01: Radierung „Wilhelm Freiherr von Humboldt“. Quelle: Der Brockhaus
multimedial (2007), Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG
S. 07, Abb. 02: Gemälde „Ludovicus Finson: Die Fünf Sinne (um 1600)“. Öl auf Leinwand,
Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig
S. 16, Abb. 03: Grafik „Das Vier-Ohren-Modell nach Schulz von Thun“. Quelle: Schulz
von Thun, F. (2011): Miteinander Reden. 16. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 133
S. 24, Abb. 04: Grafik „Ein Interaktionsmodell zur Analyse der inhaltlichen Dimension
im Agenda-Setting-Prozess“. Quelle: Weiß, H.-J. (1989): Öffentliche Streitfragen und
massenmediale Argumentationsstrukturen. In: Kaase, M., Schulz, W. (Hrsg.): Massen-
kommunikation. Theorien, Methoden, Befunde. Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie. Sonderheft 30/1989, S. 473-489, S. 478
S. 31, Abb. 05: Tabelle „Interferenzstatistischer Vergleich der Zeitstruktur von Nach-
richtensendungen von USA, Frankreich und Deutschland“. Quelle: Deutsche Bundespost
(2001): Insidernews (7), Heft 4, S. 14
S. 33, Abb. 06: Schaubild „Grundstruktur eines publizistischen Konflikts“. Quelle:
Weinfeld, O. (2009): Sind wir noch zu retten? Eine Replik auf Waldemar Hübner. In: DIE
ZEIT, Nr. 50, 11.12.2009, S. 9
S. 39, Abb. 07: Übersicht „Verteilung der neuen Studiengänge auf die einzelnen Fach-
disziplinen“
S. 42, Abb. 08: Foto „Alexander Hesler: Portrait von Abraham Lincoln (1860)“. Quelle:
Frizot, M. (Hrsg.) (1998): Neue Geschichte der Fotografie. Köln: Könemann, S. 127
S. 42, Abb. 09: Gemälde „George P.A. Healy: Portrait von Abraham Lincoln (1869)“. Öl
auf Leinwand, State Dining Room, Weißes Haus
S. 56, Abb.10: Foto „Hermann Nitsch: 50. Aktion“. Quelle: VG Bild-Kunst, Bonn 2002
S. 66, Abb.11: Foto „Die letzte futuristische Bilderausstellung 0.10 in Petersburg, mit
Arbeiten von Kasimir Malewitsch (1915)“. Quelle: Belting, H. (2007): Das unsichtbare
Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst. 3. Aufl., München: Wilhelm Fink, S. 343
288 9 Formalien und Muster

9.4.6 Muster: Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis:
Baecker, D. (1990): Die Kunst der Unterscheidungen. In: Ars Electronica (Hrsg.): Im Netz der
Systeme. Berlin: Merve, S. 7-39
Benjamin, W. (1974): Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Ders.: Gesammelte
Schriften, Bd. I,1. Herausgegeben von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, S. 7-122
Bleuler, E. (1975): Lehrbuch der Psychiatrie. 13. Aufl., Neubearbeitet von M. Bleuler. Berlin, Hei-
delberg, New York: Springer
Bote, H. (1981): Till Eulenspiegel. Vollständige Ausgabe des Textes von Hermann Bote. Herausgegeben
von S.H. Sichtermann. Mit zeitgenössischen Illustrationen. Frankfurt a. M.: Insel
Csikszentmihalyi, M. (2010): Flow. Das Geheimnis des Glücks. Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Annette Charpentier. 15. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta
Dürckheim, K. Graf (1961): Zen und Wir. Frankfurt a. M.: Fischer
Erasmus von Rotterdam (1987): Das Lob der Narrheit. Mit vielen Kupfern nach Illustrationen von
H. Holbein und einem Nachwort von St. Zweig. Zürich: Diogenes
Esposito, E. (1991): Paradoxien als Unterscheidungen von Unterscheidungen. In: Gumbrecht, H.U.,
Pfeiffer, K.L. (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Episte-
mologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 35-57
Fuchs, P. (1989a): Vom Zweitlosen: Paradoxe Kommunikation im Zen-Buddhismus. In: Luhmann,
N., Fuchs, P.: Reden und Schweigen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 46-69
Fuchs, P. (1989b): Von der Beobachtung des Unbeobachtbaren: Ist Mystik ein Fall von Inkommuni-
kabilität? In: Luhmann, N., Fuchs, P.: Reden und Schweigen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 70-100
Hayek, F.A. (1980): Recht, Gesetzgebung und Freiheit: eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien
der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie. Bd. 1: Regeln und Ordnung. Landsberg am
Lech: Verlag Moderne Industrie
Hitzler, R. (1991): Dummheit als Methode. Eine dramatologische Textinterpretation. In: Garz, D.,
Kraimer K. (Hrsg.): Qualitativ-empirische Sozialforschung. Konzepte, Methoden, Analysen.
Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 295-318
Luhmann, N. (1992): Ökologie des Nichtwissens. In: Ders.: Beobachtungen der Moderne. Opladen:
Westdeutscher Verlag, S. 149-220
Maturana, H.R. (1985): Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. 2.,
durchges. Aufl., Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg
Maturana, H.R., Varela, F.J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des
menschlichen Erkennens. Bern, München, Wien: Scherz
Meister Eckehart (1963): Predigt 32: Beati pauperes spiritu, quia ipsorum est regnum caelorum
(Matth. 5,3). In: Ders.: Deutsche Predigten und Traktate. Herausgegeben und übersetzt von J.
Quint. München: Diogenes, S. 303-309
Moore, W.E., Tumin, M.M. (1949): Some Social Functions of Ignorance. In: American Sociological
Review (14), S. 787-795
Musil, R. (1978): Über die Dummheit. Vortrag auf Einladung des österreichischen Werkbunds.
Gehalten in Wien am 11. und wiederholt am 17. März 1937. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd.
8: Essays und Reden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 1270-1291
Schneider, L. (1962): The Role of the Category of Ignorance in Sociological Theory: An Exploratory
Statement. In: American Sociological Review (27), S. 492-508
Serres, M. (1981): Der Parasit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Wallace, P. (2001): The Psychology of the Internet. Cambridge: Cambridge University Press
9.4 Muster 289

9.4.7 Muster: Eidesstattliche Erklärungen

Eidesstattliche Erklärung
Ich versichere hiermit, dass ich die hier vorgelegte Bachelor-, Master- oder Haus-
arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe angefertigt und bisher keiner anderen
Prüfungsbehörde vorgelegt habe. Alle wörtlich oder sinngemäß aus anderen Quellen
übernommenen Stellen habe ich kenntlich gemacht. Andere als die angegebenen
und kenntlich gemachten Quellen und Hilfsmittel habe ich nicht benutzt.
Ich bin mir bewusst, dass ein Verstoß gegen diese Versicherung nicht nur prü-
fungsrechtliche Folgen haben wird, sondern auch zu weitergehenden rechtlichen
Konsequenzen führen kann.

Ort, Datum Unterschrift

Eidesstattliche Erklärung
Ich versichere, dass ich die vorgelegte Arbeit selbstständig angefertigt und mich
keiner fremden Hilfe bedient habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß ver-
öffentlichtem oder nicht veröffentlichtem Schrifttum entnommen sind, habe ich
als solche kenntlich gemacht.
Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungs-
behörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht.
Bei falscher Versicherung an Eides statt muss ich mit prüfungs- und strafrechtlichen
Konsequenzen rechnen.

Ort, Datum Unterschrift


290 9 Formalien und Muster

Eidesstattliche Erklärung
Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig angefertigt
und mich dabei keiner fremden Hilfe bedient habe. Alle Stellen, die wörtlich oder
sinngemäß veröffentlichten oder unveröffentlichten Schriften und Medien jedweder
Art einschließlich elektronischer Medien (z. B. dem Internet) entnommen sind,
habe ich als solche kenntlich gemacht.
Mir ist bewusst, dass ein Verstoß gegen diese Versicherung mit erheblichen Nach-
teilen für mich verbunden sein kann.

Ort, Datum Unterschrift


Zitieren und Plagiieren
10 Zitieren und Plagiieren 10

Wissenschaftliche Arbeiten machen kenntlich, was selbstproduzierte und was


fremde, aus anderen Werken und von anderen AutorInnen übernommene Inhalte
sind. Sie zeigen an, was neu ist und was bereits in dieser oder ähnlicher Form
formuliert wurde. Damit werden die Autorenschaft und die Entstehungsgeschichte
wissenschaftlicher Ideen nachvollziehbar.
Ein Zitat ist ein Fundstück, eine geliehene Stimme, geborgtes Textmaterial, das
von anderen erarbeitet wurde. Es wird zitiert, weil es als besonders gelungen und
treffend angesehen wird. Ein Zitat ist eine Form der Ehrerbietung, eine Verneigung
vor der Tradition des Faches.148
Zugleich werden in der Zitation Freunde und Feinde erkennbar, MitstreiterInnen
und OpponentInnen. Mit einem Zitat rufen wir AutorInnen/Autoritäten herbei,
an deren Seite oder auf deren Schultern wir stehen: Das lateinische ‚citare‘ heißt:
‚herbeirufen‘.
Wo zu häufig auf fremde Quellen zurückgegriffen wird, droht der Verdacht eines
unselbstständigen Denkens; wo nicht auf fremde Quellen zurückgegriffen wird,
droht der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit. Im Unterschied zur Belletristik lebt
die wissenschaftliche Literatur vom Nachweis der Herkunft der Ideen.
Das Zitieren hat eine ethische Seite: Es ist eine Frage wissenschaftlicher Redlich-
keit, sich nicht ‚mit fremden Federn zu schmücken‘ und die fremden Ideen nicht
sinnentstellend zu verwenden.
Zitieren hat auch eine handwerkliche Seite, denn es macht LeserInnen die zitier-
ten Stellen zugänglich und für weitere wissenschaftliche Bearbeitungen verfügbar.
Es macht die Entstehungsgeschichte eines Textes nachvollziehbar. Es markiert das

148 Nimmt man das Zitat als eine Form des Ausdrucks von Hochachtung und Anerkennung,
erklärt sich, warum gegoogelte Zitate im wissenschaftlichen Kontext verpönt sind und
warum das Zitieren aus den Originalen der Fachautoritäten höher geschätzt wird als
das Zitieren der Adepten.

T. M. Bardmann, Die Kunst des Unterscheidens,


DOI 10.1007/978-3-658-08630-5_11, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
292 10 Zitieren und Plagiieren

Netzwerk an Ideen, in das der Text eingelassen ist. Die Zitation ermöglicht den
LeserInnen, die Fundstelle aufzusuchen, um die Quelle im Original zu sichten. Die
Faustregel lautet deshalb: Zitieren Sie stets so, dass die Fundstelle problemlos von
den LeserInnen aufgesucht werden kann.
Zitieren Sie buchstabengetreu und sinngemäß. Zitate müssen kontextkonform
verwendet werden. Sie dürfen nicht aus dem Zusammenhang gerissen und sinn-
entstellend benutzt werden, entgegen der ersichtlichen Intention der Autorin oder
des Autors. Übernommene Formulierungen oder Gedanken anderer AutorInnen
müssen unter Angabe der literarischen Fundstelle als solche kenntlich gemacht
werden, möglichst einheitlich, einfach, regelmäßig und verlässlich, exakt, hand-
habbar, nachvollziehbar.

10.1 Zitieren
10.1 Zitieren
Erkenntnisse, Ideen, Formulierungen oder Gedanken einer anderen Autorin oder
eines anderen Autors können entweder wörtlich oder sinngemäß übernommen
werden.

10.1.1 Das wörtliche Zitat

Wörtliche Zitate sind wort-, buchstaben- und satzzeichengetreue Wiedergaben der


Originalfassung eines Textes. Selbst Hervorhebungen, Sperrungen oder Kursivset-
zungen müssen übernommen werden. Eigene Hervorhebungen, Sperrungen oder
Kursivsetzungen, die im übernommenen Text nicht vorhanden waren, sondern
vom Verfasser des Textes eingefügt wurden, müssen z. B. durch „(Hervorhebung
d. Verf.)“ oder „[Hervorh. d. Verf.]“ gekennzeichnet werden. Differenzen zwischen
früherem und heutigem Sprachgebrauch dürfen nicht vom Verfasser eigenmächtig
‚korrigiert‘ werden. Nur offenbare Schreibfehler dürfen berichtigt werden.
Wörtliche Zitate werden durch doppelte Anführungszeichen kenntlich gemacht.
Die im Literaturverzeichnis ausführlich genannte Quelle wird im laufenden Text
in abgekürzter, angelsächsischer Zitierweise – auch Harvard-System149 genannt

149 Neben dem hier dargestellten Harvard-Zitier-System gibt es weitere Zitierweisen, die
ebenfalls für wissenschaftliche Zwecke genutzt werden können. Mir persönlich erscheint
diese Zitierweise am einfachsten und deshalb brauchbar. Man kann sich freilich auch
an eine andere Zitierweise halten, man muss aber darauf achten, dass in einer Arbeit
immer einheitlich zitiert wird. Einheitlichkeit ist oberstes Gebot.
10.1 Zitieren 293

– angezeigt. Dazu reicht als Angabe der Nachname des Autors oder der Autorin,
die Jahreszahl der Veröffentlichung und die Seitenzahl, um die Literaturstelle im
Literaturverzeichnis zweifelsfrei identifizieren zu können. Die Jahreszahl kann
durch „:“ oder durch „, S. „ von der Seitenangabe getrennt werden: „2012:105“
oder „2012, S. 105“.
Sollten von einem Autor oder einer Autorin mehrere Titel aus einem Jahr ver-
wendet werden, ist die Jahreszahl durch Buchstaben zu ergänzen (z. B.: Schubert
1989a, 1989b, 1989c …).
Sollten mehrere Autoren gleichen Namens zitiert werden, werden die Initialen
des Vornamens oder der gesamte Vorname hinzugefügt (z. B. Müller, G. 2000;
Müller, K. 2013 …).

Beispiele:
„Nur die Kommunikation kann kommunizieren.“ Diese These von Luhmann (1997:105)
widerspricht dem klassischen Kommunikationsverständnis.
Luhmann (1997:105) behauptet: „Nur die Kommunikation kann kommunizieren.“
Luhmann (1997:105) behauptet, „nur die Kommunikation kann kommunizieren“.
„Nur die Kommunikation kann kommunizieren“, behauptet Luhmann (1997:105).
Nach Auffassung von Luhmann (1997:105) kann „nur die Kommunikation (…)
kommunizieren“.
„Nur die Kommunikation kann kommunizieren“ (Luhmann 1997:105).

Auslassungen von Textpassagen werden durch Einfügung von „Klammer drei


Punkte Klammer“ (…) kenntlich gemacht. Der Quellenbeleg am Ende eines Zitats
wird mit einem Punkt als Schlusszeichen abgeschlossen. Stammt das Zitat aus der
Feder mehrerer AutorInnen, so sind diese alle zu nennen. Bei mehr als drei Au-
torInnen, wird in der Regel nach dem dritten Namen ein „u. a.“ für „und andere“
oder „et al.“ für „et alii“ angefügt.

10.1.2 Das sinngemäße Zitat

Nicht wörtlich, wohl aber sinngemäß Übernommenes muss als solches gekenn-
zeichnet werden. Es wird durch die Nennung des Urhebers oder durch den Zusatz
„vgl.“ angezeigt.

Beispiele:
Nach Luhmann (1997:105) können nicht Menschen, sondern kann nur die Kommu-
nikation kommunizieren.
Aus Sicht von Luhmann (1997:105) können …
294 10 Zitieren und Plagiieren

Luhmann (1997:105) zufolge können …


Luhmann (1997:105) vertritt die Auffassung, dass …
Ein aktueller Diskussionspunkt der Kommunikationswissenschaften ist die Frage,
ob nunmehr nur noch die Kommunikation statt der Menschen kommunizieren kann
(vgl. Luhmann 1997:105).

Wenn sich die Literaturangabe nicht auf eine bestimmte Textstelle bezieht, sondern
auf die Gesamtaussage eines Werkes, so entfällt die Nennung der Seitenzahl. Wenn
z. B. W.J.T. Mitchell (1994) zitiert wird, um auf den Prozess des ‚pictorial turn‘ zu
verweisen, ist ein Verweis auf eine bestimmte Seite nicht sinnvoll, da das gesamte
Buch das Thema behandelt.

Beispiel:
Nach dem ‚linguistic turn‘ der siebziger und achtziger Jahre rief Mitte der neunziger
Jahre W.J.T. Mitchell (1994) den ‚pictorial turn‘ aus.

10.1.3 Das zitierte Zitat

Zitierte Zitate nennen wir Sekundärzitate. Wenn möglich, sollte aus der Primär- und
nicht aus einer Sekundärquelle zitiert werden. Wenn die Originalquelle zugänglich
ist, sollte sie auch benutzt werden. Ein Sekundärzitat ist nur vertretbar, wenn das
Original nicht zugänglich ist.
Standardwerke eines Wissenschaftszweigs sind aus dem Original zu zitieren.
Bei einem zitierten Zitat müssen Original- und Sekundärquelle ausgewiesen
werden. Nach der Nennung der Primärquelle wird nach einem Komma die Sekun-
därquelle angegeben. Es wird vermerkt: „zitiert nach“. Dann folgen die Angaben
zum Gewährsautor bzw. zur Gewährsautorin.

Beispiel:
Luhmann (1997:105, zitiert nach Pfeifer 2013:12) behauptet: „Nur die Kommunikation
kann kommunizieren.“

Hier wird Luhmann nicht aus dem Original zitiert, sondern nach einer Zitation von
Pfeifer (2013:12). Ins Literaturverzeichnis müssen Original- und Sekundärquelle,
also Luhmann (1997) und Pfeifer (2013) aufgenommen werden.
10.1 Zitieren 295

10.1.4 Das Zitat im Zitat

Kommt es zu einem Zitat im Zitat, so ist das gesamte Zitat durch doppelte An-
führungszeichen („) und das Zitat im Zitat durch einfache Anführungszeichen (‚)
zu markieren.

Beispiel:
Zur aktuellen Diskussion in den Kommunikationswissenschaften kommentiert
Pfeifer (2013:12): „In den Kommunikationswissenschaften wurde die angestammte
Rolle des Menschen als Kommunikator durch die These, ‚Nur die Kommunikation
kann kommunizieren!‘ (Luhmann 1997:105), radikal in Frage gestellt.“

Da sich bei Zitaten in Zitaten oft verschachtelte Satzgebilde ergeben, empfiehlt es


sich, den Text zu entflechten und eigenständige Sätze zu bilden.

10.1.5 Das fremdsprachige Zitat

Grundsätzlich wird in der Sprache des Originals zitiert. Sollte es sich um eine andere
als die englische Sprache handeln oder sollte das englische Zitat zu voraussetzungs-
voll sein, sollte in der Fuß- oder Endnote eine Übersetzung mitgeliefert werden.
Verschmelzungen fremdsprachiger Zitate mit dem deutschen Satz sollten un-
terbleiben (ausgenommen im Falle ‚stehender Termini‘).

10.1.6 Das Internetzitat

Zitate aus dem Internet sollten nur verwendet werden, wenn die Aktualität und
Solidität der Quelle überprüft wurde.
Im laufenden Text werden Internetzitate wie übliche Zitate behandelt. Im Lite-
raturverzeichnis ist die Internetadresse – nach den Angaben ‚Name des Autors‘,
‚Erscheinungsjahr in Klammern‘, Doppelpunkt, ‚Titel der Arbeit‘, Punkt, ‚Unter:‘
– vollständig anzugeben.

Beispiel:
Horstkotte, H. (2009): Windige Promotionsberater: Doktorfabrik geht Pleite. Unter:
Spiegel Online Unispiegel. 27.01.2009, http://www.spiegel.de/unispiegel/studi-
um/0,1518,603647,00.html (Stand: 7.11.2013)
296 10 Zitieren und Plagiieren

Hinter der Internetadresse wird das Datum der Internetabfrage angegeben, um zu


dokumentieren, wann auf die Quelle zugegriffen wurde. Außerdem ist es sinnvoll,
Texte aus dem Internet, auf die man sich in seiner Arbeit bezieht, z. B. auf eine bei-
gefügte CD zu speichern, um sie so den LeserInnen der Arbeit auch ohne Internet-
zugang zugänglich zu machen. Da viele Internetseiten schnell wieder aus dem Netz
verschwinden oder verändert werden, sichern Sie so den Nachweis der Zitation.150

10.1.7 Das Literaturverzeichnis

Im Literaturverzeichnis müssen alle im Ausführungstext genannten Literaturquellen


wiederzufinden sein. Im Literaturverzeichnis werden sämtliche Angaben zum Werk
aufgenommen, die nötig sind, um das Original bibliographisch zu recherchieren.
Im Schriftbild des Literaturverzeichnisses können die Namen der Autorinnen
und Autoren (durch Fettdruck oder GROSSBUCHSTABEN) hervorgehoben wer-
den. Es sollte mit hängendem Einzug gearbeitet werden (siehe Kap. 9.4.6 Muster:
Literaturverzeichnis).

Angaben zu Monographien
Für Bücher und selbstständige Schriften gilt:

t Name der Autorin bzw. des Autors (Mehrere Namen werden durch ein Komma
„,“ oder durch ein Semikolon „;“ getrennt.),
t nach einem Komma hinter dem Namen Initiale des Vornamens (besser, aber
aufwendiger wäre der ausgeschriebene Vorname),
t Erscheinungsjahr (in Klammern), danach Doppelpunkt „:“,
t Titel (optional plus Untertitel) des Buches,
t Auflage (z. B. „4. Aufl.“ oder „5., völlig überarb. Aufl.“ oder „6., unv. Aufl.“),
t nach einem Komma hinter der Auflagenangabe Erscheinungs-/Verlagsort (Wenn
es mehrere Verlagsorte gibt, werden diese durch ein Komma „,“ getrennt, oder
es wird nur der erste Verlagsort mit dem Zusatz „u. a.“ genannt.), danach Dop-
pelpunkt „:“,
t Name des Verlags.

150 Zu weiteren, detaillierten Vorschlägen zur Zitation von konventionellen und Inter-
netquellen siehe http://www.ub.fu-berlin.de/service_neu/einfuehrung/bookmarks/
zitieren.html.
10.1 Zitieren 297

Beispiele:
Weick, K.E. (1985): Der Prozeß des Organisierens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Liessmann, K.P. (2011): Theorie der Unbildung. 6. Aufl., München, Zürich: Piper

Angaben zum vollständigen Vornamen, zum Untertitel, zum Verlag oder de-
taillierte Angaben zur Auflage sind nicht zwingend. Wenn man sie aber macht,
muss diese Zitierweise konsequent über das gesamte Literaturverzeichnis hinweg
beibehalten werden.

Beispiel:
Liessmann, Konrad Paul (2011): Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesell-
schaft. Zuerst 2006, Wien: Paul Zsolnay, hier: 6. Aufl., München, Zürich: Piper

Entweder macht man bei allen Werken vollständige Angaben, oder man folgt bei
allen Werken der gekürzten Form.
Für die Angaben sind die Titel- und Copyright-Angaben in den Büchern maß-
geblich. Meist werden sie als Angaben der jeweiligen Nationalen Bibliothek im Buch
noch einmal wiederholt. Im Folgenden finden Sie einige Beispiele.
298 10 Zitieren und Plagiieren
10.1 Zitieren 299

Berufsbezeichnungen, Ränge, akademische Titel oder sonstige Grade der AutorIn-


nen werden weder im Ausführungstext noch im Literaturverzeichnis aufgeführt.
HerausgeberInnen werden durch den Zusatz „(Hrsg.)“ oder „(Hg.)“ gekenn-
zeichnet, Redaktionen durch „(Red.)“, Bearbeiter durch „(Bearb.)“.
Auflagen werden ab der zweiten Auflage kenntlich gemacht durch „2. Aufl.“,
„3. Aufl.“ …
Sollten Verlagsort oder Erscheinungsjahr nicht zu ermitteln sein, ist „o. O.“ für
„ohne Ortsangabe“ und „o. J.“ für „ohne Jahresangabe“ anzufügen.
Sollten AutorInnen nicht zu ermitteln sein, wird das Werk alphabetisch unter
seinem Sachtitel ins Literaturverzeichnis eingeordnet.

Angaben zu Aufsätzen aus Sammelbänden oder Zeitschriften


Für Aufsätze aus Sammelbänden sind folgende Angaben ins Literaturverzeichnis
aufzunehmen:

t Name der Autorin bzw. des Autors (Mehrere Namen werden durch ein Komma
„,“ oder durch ein Semikolon „;“ getrennt.),
t Initiale des Vornamens (optional auch der ausgeschriebene Vorname),
t Erscheinungsjahr (in Klammern), danach ein Doppelpunkt „:“,
t Titel (optional auch Untertitel) des Aufsatzes. Der Titel wird mit einem Punkt
beendet. Dann
t „In:“.

Es folgen nach „In:“ alle Angaben zum Sammelband:

t Name des oder der HerausgeberInnen (Mehrere HerausgeberInnen werden


durch ein Komma „,“ oder durch ein Semikolon „;“ getrennt.),
t Zusatz „(Hrsg.)“ oder „(Hg.)“,
t Jahresangabe kann entfallen, da sie bereits nach dem Namen des/der Artike-
lautors/in genannt wurde,
t nach einem Doppelpunkt Titel des Sammelbandes (optional auch Untertitel),
t Erscheinungsort und nach einem Doppelpunkt Verlagsangabe (Wenn es mehrere
Verlagsorte gibt, werden diese durch Kommata „,“ getrennt, oder es wird nur
der erste Verlagsort mit dem Zusatz „u. a.“ genannt.),
t genaue Seitenangaben zu Anfang und Ende des Aufsatzes (Diese Angaben sind
unbedingt erforderlich. Es reicht nicht die Angabe „S. 24 ff.“. Wenn Sie z. B. über
die Bibliothek den Aufsatz als Kopie bestellen, werden von Ihnen die genauen
Seitenangaben verlangt.).
300 10 Zitieren und Plagiieren

Beispiel:
Hünersdorf, B. (2012): Das Gesellschaftsbild der Systemtheorie. In: Dollinger, B.,
Kessl, F., Neumann, S., Sandermann, Ph. (Hrsg.): Gesellschaftsbilder Sozialer
Arbeit. Eine Bestandsaufnahme. Bielfeld: transcript, S. 123-153

Sollte der benutzte Beitrag aus einer Zeitschrift stammen, sind folgende Angaben
ins Literaturverzeichnis aufzunehmen:

t Name der Autorin bzw. des Autors (Mehrere Namen werden durch ein Komma
„,“ oder durch ein Semikolon „;“ getrennt.),
t Initiale des Vornamens (optional auch der ausgeschriebene Vorname),
t Erscheinungsjahr (in Klammern), danach ein Doppelpunkt „:“,
t Titel (optional auch Untertitel) des Aufsatzes,
t „In:“

Es folgen alle Angaben zur Zeitschrift:

t Titel der Zeitschrift (gegebenenfalls auch als Abkürzung, z. B. „KZfSS“ für


„Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“),
t Jahrgang (wird in Klammern hinter dem Zeitschriftentitel gesetzt „(24)“ für „24.
Jahrgang“, die Jahresangabe kann entfallen, da sie bereits nach dem Namen des
Artikelautors bzw. der Artikelautorin genannt wurde,
t eventuell Heftnummer (Doppelnummern werden durch Schrägstrich getrennt,
z. B. „Heft 5/6“.),
t vollständige Seitenangaben zu Anfang und Ende des Aufsatzes (Diese Anga-
ben sind wie oben bereits erläutert unbedingt erforderlich. Es reicht nicht die
Angabe „S. 26 ff.“.).

Beispiel:
Baecker, D. (1994): Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. In: Zeitschrift
für Soziologie (23), Heft 2, S. 93-110

Beilagen oder Beihefte sowie Sonderausgaben sind als solche kenntlich zu machen.

Beispiel:
Knoblauch, H. (2013): Wissenssoziologie, Wissensgesellschaft und die Transforma-
tion der Wissenskommunikation. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur
Wochenzeitung Das Parlament (63), 18-20/2013, 29. April 2013, S. 9-16
10.1 Zitieren 301

Aus Zeitungen wird wie aus Zeitschriften zitiert unter Angabe der Zeitungsnummer
und des Erscheinungstages:

Beispiel:
Schulz, M. (2014): Warum wir jetzt kämpfen müssen. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, Nr. 31, 6.02.2014, S. 25

Beispiel aus dem Herausgeberband von Ralf Vollbrecht und Claudia Wegener:
Tillmann, A. (2010): Globalisierung. In: Vollbrecht, R., Wegener, C. (Hrsg.): Handbuch
Mediensozialisation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 106-113

Ralf Vollbrecht
Claudia Wegener (Hrsg.)
Handbuch
Mediensozialisation

ÖFFENTLICHE KOMMUNIKATION MEDIEN KOMMUNIKATORFORSCHUNG MEDIEN


SYSTEM JOURNALISMUS WERBUNG MEDIENWIRTSCHAFT ONLINEKOMMUNIKA
TION MEDIENRECHT PUBLIC RELATIONS MEDIENMANAGEMENT POLITISCHE
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MEDIENINHALTE LOKALE KOMMUNIKATION MEDIENÖKONOMIE ELEKTRO

1. Auflage 2010

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Lektorat: Barbara Emig-Roller


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Satz: Janssen Peters, Taunusstein
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Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-15912-6
302 10 Zitieren und Plagiieren
10.1 Zitieren 303

Beispiel aus einem Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie:
Gärtner, Ch. (2013): Religiöse Identität und Wertbindung von Jugendlichen in
Deutschland. In: Koenig, M., Wolf, Ch. (Hrsg.): Religion und Gesellschaft. Köl-
ner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 53, Wiesbaden:
Springer VS, S. 211-234

Begründet als „Kölner Zeitschrift für Soziologie“ durch Leopold von Wiese (1948–1954)
Fortgeführt als „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ durch René König (1955–1985)
Herausgeber: Prof. Dr. Karsten Hank, Universität zu Köln, Prof. Dr. Thomas Schwinn, Universität
Heidelberg und Prof. Dr. Heike Solga, WZB Berlin
Beirat: Prof. Dr. Eva Barlösius, Universität Hannover; Prof. Dr. Jens Beckert, Max-Planck-Institut für Gesel-
lschaftsforschung, Köln; Prof. Dr. Hans Peter Blossfeld, Universität Bamberg; Prof. Dr. Bernhard Ebbinghaus,
Universität Mannheim; Prof. Dr. Christian Fleck, Universität Graz; Prof. Dr. Bettina Heintz, Universität Luzern;
Prof. Dr. Gisela Trommsdorff, Universität Konstanz
Redaktion: PD Dr. Volker Dreier, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität zu Köln
Zuschriften werden erbeten an: Redaktion der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Lindenburger Allee 15, 50931 Köln. Telefon: (02 21) 4 70-2518;
Fax: (02 21) 4 70-2974; E-Mail: kzfss@uni-koeln.de; Internet: http://www.uni-koeln.de/kzfss/
Die KZfSS wird u. a. in den folgenden Informationsdiensten erfasst: Social Science Citation Index und Current
Contents GHV ,QVWLWXWH IRU 6FLHQWL¿F ,QIRUPDWLRQ sociological abstracts; psychological abstracts; Bulletin
signalétique; prd, Publizistikwissenschaftlicher Referatedienst; SRM, social research methodology abstracts;
SOLIS, Sozialwissenschaftliches Literaturinformationssystem; Literaturdatenbank PSYNDEX;
Juris-Literaturdatenbank; KrimLit u. a. m.
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Jahresabonnement/privat (nur online) € 169,–; Jahresabonnement/Bibliotheken/Institutionen (nur print)
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€ 99,–. Alle Print-Preise zuzüglich Versandkosten.
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Nennung der Kundennummer erfolgen. Jährlich erscheint ein Sonderheft, das nach Umfang berechnet und den
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ISSN 0023-2653 Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Internet) ISSN 1861-891X
304 10 Zitieren und Plagiieren

Matthias Koenig · Christof Wolf (Hrsg.)

Religion
und Gesellschaft

SONDERHEFT 53|2013

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie


Sonderheft 53/2013

Inhaltsübersicht

Einleitung
Matthias Koenig · Christof Wolf
Religion und Gesellschaft – Aktuelle Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Theoretische Beiträge
Jörg Stolz
Entwurf einer Theorie religiös-säkularer Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Volkhard Krech · Jens Schlamelcher · Markus Hero
Typen religiöser Sozialformen und ihre Bedeutung für die Analyse
religiösen Wandels in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Thomas Schwinn
Zur Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Moderne.
Säkularisierung, Differenzierung und multiple Modernitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

Individuelle Religiosität
Benjamin Ziemann
Zur Entwicklung christlicher Religiosität in Deutschland und
Westeuropa, 1900–1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Olaf Müller · Detlef Pollack · Gert Pickel
Religiös-konfessionelle Kultur und individuelle Religiosität: Ein Vergleich
zwischen West- und Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Christof Wolf · Sigrid Roßteutscher
Religiosität und politische Orientierung – Radikalisierung, Traditionalisierung
oder Entkopplung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Monika Wohlrab-Sahr · Tom Kaden
Struktur und Identität des Nicht-Religiösen: Relationen und soziale Normierungen . . . . . . . . 183
Christel Gärtner
Religiöse Identität und Wertbindungen von Jugendlichen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Claudia Diehl · Matthias Koenig
Zwischen Säkularisierung und religiöser Reorganisation – Eine Analyse
der Religiosität türkischer und polnischer Neuzuwanderer in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 235
David Voas · Siobhan McAndrew · Ingrid Storm
Modernization and the gender gap in religiosity: Evidence from
cross-national European surveys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
10.2 Plagiieren 305

10.2 Plagiieren
10.2 Plagiieren
Wer unbefugt fremde Gedanken übernimmt, begeht einen Diebstahl geistigen
Eigentums, der Plagiat genannt wird.151 Plagiat meint – im juristischen Sinne – die
unrechtmäßige Aneignung fremden geistigen Eigentums zur eigenen Vorteilnahme,
unabhängig davon, ob ein Vorsatz oder ein Verschulden vorliegt. Man kann sich
also nicht mit Kryptamnesie152 herausreden.
Das Plagiat verletzt das Urheberrecht. Es ist nicht nur ein Vergehen im ju-
ristischen, sondern auch im ethischen Sinne. Weniger in den Sozial- als in den
Naturwissenschaften geht es hier auch um ökonomische Vorteilnahme: Wem die
wissenschaftliche Leistung zugerechnet wird, der gelangt nicht nur zu Ruhm und
Ehre, sondern verschafft sich häufig auch finanzielle Vorteile. Nicht umsonst sind
Themen der unethischen Autorenschaft (Datenklau, Datenmanipulation, Datenun-
terdrückung, Ghost Writing etc.) Themen für Kriminalromane und -filme. Brisant
wird es immer dann, wenn es um Patentrechte o
der Forschungs- und Preisgelder geht.

10.2.1 Formen des Plagiats

Fröhlich (2008:121-124) unterscheidet folgende Varianten des wissenschaftlichen


Plagiats:

t Totalplagiat – vollständige, wortwörtliche, unveränderte Übernahme fremder


Gedanken und Erkenntnisse ohne Zitation;
t Übersetzungsplagiat – Übernahme fremder Gedanken und Erkenntnisse aus
fremdsprachigen Texten;

151 Die folgenden Ausführungen gehen wesentlich auf das Buch Friedbert Aspetsberger
(Hrsg.) (2008): Beim Fremdgehen erwischt! Zu Plagiat und ‚Abkupfern‘ in Künsten und
Wissenschaften. Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag zurück. Siehe zudem: Deutsche
Forschungsgemeinschaft (1998): Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Safeguarding
Good Scientific Practice. Denkschrift. Weinheim: Wiley-VCH Verlag, zitiert als DFG
(1998). Hierbei handelt es sich um die Empfehlungen der von der DFG einberufenen
Kommission ‚Selbstkontrolle in der Wissenschaft‘. Die Denkschrift ist frei zugäng-
lich unter: http://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/
download/empfehlung_wiss_praxis_1310.pdf.
152 Kryptamnesie meint das Vergessen der Quelle und die falsche Selbstzuschreibung des
Gedankens oder der Erkenntnis. So wie Heinz von Foerster erklärt, dass Objektivität
entsteht, wenn man den Beobachter vergisst, so könnte man hier sagen, dass Genialität
und Originalität entstehen, wenn man die Quelle vergisst.
306 10 Zitieren und Plagiieren

t Teilplagiat – unvollständige, teilweise wörtliche Übernahme fremder Gedanken


und Erkenntnisse und deren Mischung ohne Zitation;
t Ideenplagiat – sinngemäße Übernahme der Substanz fremder Ideen, umformu-
liert in eigene Worte ohne Quellenangabe;
t altruistisches Plagiat – Erfinden von Literaturstellen, um die eigenen Gedanken
zu bestätigen oder zu lancieren (z. B. um Attacken gegen KollegInnen zu reiten,
ohne selbst dafür verantwortlich gemacht werden zu können);
t Autoplagiat – man schreibt von sich selbst ab, übernimmt ohne Kennzeichnung
bereits Veröffentlichtes in einer weiteren Veröffentlichung und erweckt so den
Eindruck enormer Produktivität. Wenn das Autozitat zur Weiterentwicklung
der eigenen Ideen dient, ist es unbedenklich. Bedenklich ist es nur, wenn es eine
reine Wiederholung ist oder unter dem Anschein auftritt, etwas Neues zu sein;
t Verbalplagiat – man benutzt in eigenen Vorträgen fremde Gedanken und Er-
kenntnisse, ohne sie zu zitieren;
t Bildplagiat – man benutzt fremdes Bildmaterial oder Bildideen, total oder
partiell, ohne die Quellen zu benennen.

Heute werden Plagiate mit speziellen Plagiat-Softwares verfolgt. Im schlimmsten


Fall führt ein Plagiatsnachweis zur Verweigerung angestrebter oder zur Aberken-
nung bereits erworbener akademischer Titel und/oder zum Verlust der Arbeitsstelle
oder des Amtes.

10.2.2 Was begünstigt Plagiatsversuche?

t Plagiatsbegünstigend wirken vor allem Strukturen der Wissenschaft selbst: Wis-


senschaftliche Ehre gebührt dem, der etwas als Erster publiziert. Die Belohnung
erfolgt nach dem Prinzip wissenschaftlicher Priorität153. Ein solches Prinzip
führt z. B. zur Machenschaft der Wissenschaftsspionage, die etwa als Missbrauch
von Peer-Review-Praktiken leicht zu bewerkstelligen ist: GutachterInnen lesen
Forschungsanträge, bremsen fremde AntragstellerInnen aus und fördern die
eigenen; BetreuerInnen lesen die Dissertationen ihrer PromovendInnen und die
Prüfungsarbeiten ihrer Studierenden und nutzen sie in Form von ‚Anleihen‘ oder
‚Übernahmen‘ zum eigenen Vorteil; VerwalterInnen von Nachlässen plündern

153 Das Prioritätsprinzip gilt, obwohl man das Phänomen der „multiple discoveries“
(Robert K. Merton) kennt. Man weiß: Erfindungen ‚liegen in der Luft‘, wenn die Zeit
reif ist. Gleichzeitige Entdeckungen durch mehrere WissenschaftlerInnen sind daher
die Regel, nicht die Ausnahme.
10.2 Plagiieren 307

diese zur eigenen Vorteilsnahme; Studierende bedienen sich in Internet-Daten-


banken; PromovendInnen lassen sich ihre Doktorarbeiten schreiben. Plagiieren
meint hier den frechen Diebstahl und die hinterhältige Spionage.
t Neben dem Diebstahl und der Spionage gibt es die Möglichkeit einer beidsei-
tigen Vorteilsnahme, bei der die arrivierten, gut positionierten und erfahrenen
VertreterInnen des Faches, die ‚Altmeister‘, das ‚frische‘ Wissen ihres Nach-
wuchses ausnutzen, um dies unter ihrem Namen oder ihrer Mitautorenschaft zu
publizieren. Die ‚Altmeister‘ liefern ihr Erfahrungswissen und ihre Reputation
und lassen den aufstrebenden wissenschaftlichen Nachwuchs die passenden
aktuellen Materialien zu ihren Vorkenntnissen sammeln. So gelangen beide zu
Ehre und Ansehen, obwohl sie es beide nicht wirklich verdient haben: Plagiieren
als parasitäre Symbiose.
Hierher gehört auch das Thema Ehrenautorenschaft. Man trägt namhaften Per-
sönlichkeiten (am besten NobelpreisträgerInnen) eine Ko-Autorenschaft an, um
die Aufmerksamkeit für die eigenen Erzeugnisse zu steigern und KritikerInnen
und KonkurrentInnen zu neutralisieren.154
Manche Instituts- oder ProjektleiterInnen bestehen darauf, auf jeder Publika-
tion der MitarbeiterInnen zumindest als Ko-AutorInnen genannt zu werden
und bringen es so zu unglaublichen Publikationszahlen, ohne das meiste selbst
(mit-)formuliert oder auch nur gelesen zu haben. Hier wirken institutionelle
Machtstrukturen auf die Wissenschaft ein.
t Auch der Wissenschaftsbetrieb wird mehr und mehr ökonomisiert. Das heißt, im
Wissenschaftssystem wird zunehmend auf ‚rising costs‘ geachtet, auf steigende
finanzielle, physische und psychische Belastungen. Wo sie auftauchen, reagiert
man wiederum mit einem ökonomischen Kalkül: Man versucht, steigende Kosten
durch einfachere Lösung zu beantworten. Dies betrifft vor allem Nachwuchs-
wissenschaftlerInnen. Sie geraten aufgrund der grassierenden Evaluationswut
unter Erfolgs-, und das heißt Publikationsdruck: publish or perish! Um mithal-
ten zu können, erschleicht man sich durch Abschreiben fremder und eigener
Texte mit minimalem Aufwand den gewünschten Erfolg: Plagiieren quasi als
ökonomische Entlastungsstrategie.
t Auch der Wissenschaftsbetrieb wird mehr und mehr durch die Digitalisierung
seiner Wissensbestände geprägt. Dadurch wird es einfach gemacht, sich ohne
Mühe fremdes Wissen anzueignen: Das flinke Auffinden von Textstellen per

154 In der Empfehlung 11 der DFG-Denkschrift (DFG 1998:18) heißt es unmissverständlich:


„Autorinnen und Autoren wissenschaftlicher Veröffentlichungen tragen die Verant-
wortung für deren Inhalt stets gemeinsam. Eine sogenannte „Ehrenautorschaft“ ist
ausgeschlossen.“
308 10 Zitieren und Plagiieren

Suchmaschinen, das problemlose Markieren von Textpassagen, das nahezu


handlungsfreie Kopieren und Einfügen der markierten Passagen in den eigenen
Text per Mausklick lädt geradezu zum Plagiieren ein. Man schöpft aus einem
Übermaß an Vorhandenem, spielend leicht Zugänglichem und aufwandlos
Verfügbarem155: Plagiieren quasi als easy-going-practice.
t Es gibt mittlerweile Agenturen, die gegen Bezahlung wissenschaftliche Texte in
gewünschter Weise erstellen. Akademische Abschlüsse werden dank des Ghost
Writings käuflich erwerbbar.156 Man kann sich vor der Arbeit drücken und Titel
kaufen: Plagiieren wird zur Ware.
t Um sich gegen Plagiatsvorwürfe zu schützen, bedanken sich KopistInnen in
Vorworten, Danksagungen oder Fußnoten für ‚hilfreiche Kommentare‘ z. B. bei
MitarbeiterInnen, KollegInnen, WerkvertragsnehmerInnen, FreiberuflerInnen
und nicht zu vergessen: Ehefrauen und -männern sowie PartnerInnen. Damit
wird undurchsichtig und nicht mehr eindeutig nachweisbar, wer für das Opus
im Einzelnen verantwortlich zeichnet, auch wenn auf dem Buchdeckel ein
Name zu lesen ist. Danksagungen können die wahre Autorenschaft vernebeln.
t „Whistle Blowers“, zu Deutsch: „InformantInnen“ werden schnell zu „Denun-
ziantInnen“ erklärt und moralisch disqualifiziert. Dabei sind sie es, denen wir
die meisten Aufdeckungen wissenschaftlicher Verfehlungen verdanken. Um sie
zu schützen und ihre Position zu stärken, wird die Berufung von Ombudsleuten
vorgeschlagen, die mit ihrer Autorität, Integrität und Neutralität den Vorwürfen
der Whistle Blowers nachgehen und sie entsprechend geltend machen können.
t Ein echter Betrug liegt vor, wenn Daten gefälscht, auf ein wissenschaftliches
Ergebnis hin ‚getrimmt‘ oder willkürlich erfunden werden. Dagegen wenden
sich Bewegungen wie die Open-Access- und die Open-Data-Bewegung. Beide
plädieren dafür, dass wissenschaftliche Daten in endgültiger, verdichteter Form
(OA) oder sogar als Rohdaten (OD) im Netz öffentlich und kostenfrei zur Ein-
sichtnahme und zur freien weiteren Verfügung publiziert werden. So könnte man
die Daten zur Überprüfung wissenschaftlicher Ergebnisse wie auch zu weiteren
eigenen Forschungen nutzen.157 Die Forderungen warten bislang auf Umsetzung.
t Alle Fälle, in denen Plagiieren und unethische Autorenschaft bekannt wurden,
verweisen zugleich auf eine nicht abschätzbare Dunkelziffer und auf die ver-
gleichsweise ineffizienten Begutachtungsverfahren. Bei jedem Fall stellt sich die
Frage: Kommt so etwas häufiger vor? Und: Verfügt die Wissenschaft mit ihren

155 Breiter als an Texten wird die Diebstahlsproblematik an Bildern, Filmen und mehr
noch an Musik diskutiert.
156 Unrühmliches Beispiel: das Institut für Wissenschaftsberatung (vgl. Horstkotte 2009).
157 Zur Diskussion der Vorzüge und Nachteile einer Open Science siehe Thaney (2009).
10.2 Plagiieren 309

Institutionen über hinreichende Kontrollmechanismen zur Qualitätssicherung?


Anscheinend nicht.
Aber ist das wirklich ein Problem? Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (1998)
empfiehlt als Gegenmittel Ethik-Codices158. Was vermögen ethische Grundsätze
gegenüber strukturellen Zwängen auszurichten?
Im Zuge der Neoliberalisierung unserer Gesellschaft wurden die alteuropäischen
wissenschaftlichen Tugenden – strikte Ehrlichkeit159, Universalismus, Kommu-
nismus160, Uneigennützigkeit161, organisierter Skeptizismus und Persönlich-
keitsbildung im Humboldt‘schen Sinne – mehr und mehr ausgehöhlt und als
‚altmodisch‘ und ‚überholt‘ dargestellt. Universitäten und Hochschulen sind im
Begriff, zu Betrieben umdefiniert zu werden, zu „entrepreneurial universities“,
deren Qualität sich weniger an solider wissenschaftlicher Reputation und Bildung
als an eingeworbenen Forschungsgeldern, Kooperationen mit Wirtschaftsunter-
nehmen, AbsolventInnenzahlen, Publikations- und Zitationsraten (gewichtet
durch Journal Impact Factors; siehe den Science Citation Index (ISI)) und der
permanenten Evaluation dieser Größen orientiert. „Auch die Wissenschaft muss

158 Vgl. den Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und des Berufsver-
bandes Deutscher Soziologen, DGS-Informationen 1/93; Deutsche Gesellschaft für
Erziehungswissenschaft: Standards erziehungswissenschaftlicher Forschung. In:
Friebertshäuser, Prengel (Hrsg.) (1997).
159 „Allen voran steht die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen. Sie ist zugleich
ethische Norm und Grundlage der von Disziplin zu Disziplin verschiedenen Regeln
wissenschaftlicher Professionalität, d. h. guter wissenschaftlicher Praxis. Sie den
Studierenden und dem wissenschaftlichen Nachwuchs zu vermitteln, gehört zu den
Kernaufgaben der Hochschulen. Die Voraussetzungen für ihre Geltung und Anwendung
in der Praxis zu sichern, ist eine Kernaufgabe der Selbstverwaltung der Wissenschaft“
(DFG 1998:5).
Anders als der (verzeihliche) Irrtum kann die (unverzeihliche) Unredlichkeit (scien-
tific dishonesty resp. scientific misconduct) das Vertrauen der Öffentlichkeit in die
Wissenschaft wie das Vertrauen der WissenschaftlerInnen untereinander untergraben.
160 Der Kommunismus impliziert das Vertrauen der WissenschaftlerInnen untereinander,
das durch Unredlichkeiten, die unter Konkurrenzverhältnissen vermehrt auftreten,
unterminiert wird: „In jeder Form des Wettbewerbs gibt es gezielte Regelverstöße,
und ihre Wahrscheinlichkeit wächst mit der Intensität des Wettbewerbs ebenso wie
mit dem Erfolgsdruck, unter dem sich Teilnehmer sehen“ (DFG 1998:29). Konkurrenz
(ähnlich wie Zeitdruck) kann nicht nur zu Unredlichkeiten verleiten, sondern auch
zu Nachlässigkeit und mangelnder Sorgfalt: „Erfolgsdruck und Eile, das Bestreben,
schneller als die Konkurrenz zu publizieren, sind eine Quelle schlecht abgesicherter
Resultate und kommen in der Praxis weit häufiger vor als Manipulationen und Fäl-
schungen“ (DFG 1998:30).
161 Diese Tugend ist nicht einzuhalten, solange das Prinzip „publish or perish“ herrscht.
310 10 Zitieren und Plagiieren

sich rechnen“, heißt es, und so rechnen sich die Hochschulen in sogenannten
Rankings gegenseitig ihren Status vor. Es zählt, was zählbar, messbar, verre-
chenbar ist. Qualitäten, die sich nicht so einfach quantifizieren lassen, wie z. B.
die Innovationshöhe oder die Originalität eines Beitrags, könnten dabei auf
der Strecke bleiben.162

10.2.3 Berechtigte Aufregung?

Manche versuchen, das Thema Plagiieren zu bagatellisieren, wie unsere Kanzlerin


Frau Dr. Merkel, als sie Minister zu Guttenbergs Plagiate und die sich darauf beru-
fenden Rücktrittsforderungen mit dem Hinweis kommentierte, sie interessiere als
Politikerin nicht der Wissenschaftler, sondern der Politiker. Sie erzeugte für viele
damit den Anschein, zu Guttenbergs Plagiieren sei ein nicht besonders tragisches
Fehlverhalten, das man jenseits der Wissenschaft nicht so ernst nehmen müsse.
Im Fall Schawan wurde sie vorsichtiger, politische Belange wissenschaftlichen An-
sprüchen vorzuziehen. Frau Schawan war keine Verteidigungsministerin, sondern
Wissenschaftsministerin, quasi die politische Spitze des Systems, um dessen Regeln
und deren Verletzung es ging.
Aus dem Mund der BagatellisiererInnen hört man, Abschreiben verursache doch
keinen unmittelbaren Schaden wie das Fälschen von Daten oder der Diebstahl von
dinglichem Eigentum. Dabei wird unterschlagen, dass Plagiieren eine Form des
Erschleichens von Ehre, Anerkennung und Ruhm bedeutet. Es wird unterschlagen,

162 Dabei lautet die Empfehlung 6 der DFG-Kommission: „Hochschulen und Forschungs-
einrichtungen sollen ihre Leistungs- und Bewertungskriterien für Prüfungen, für die
Verleihung akademischer Grade, Beförderungen, Einstellungen, Berufungen und
Mittelzuweisungen so festlegen, dass Originalität und Qualität als Bewertungsmaßstab
stets Vorrang vor Quantität haben“ (DFG 1998:10). Diese Empfehlung wird durch die
quantifizierenden Evaluations- und Rankingverfahren systematisch unterlaufen. In
den Erläuterungen heißt es weiter: „Dem einzelnen Forscher können die Bedingun-
gen seiner Arbeit und ihrer Bewertung die Wahrung guter wissenschaftlicher Praxis
erleichtern oder erschweren. Bedingungen, die unredliches Verhalten begünstigen,
müssen abgebaut werden. Kriterien, die vorrangig Quantität messen, erzeugen Druck
zur Massenproduktion und bieten daher keinen geeigneten Maßstab für die Beurteilung
qualitativ hochwertiger Wissenschaft“ (DFG 1998:11). Ein möglicher Effekt: Doppel-
publikationen und „Salamiveröffentlichungen“ – was eigentlich in einer Publikation
zu veröffentlichen wäre, wird scheibchenweise in vielen kleinen veröffentlicht. Das
zugrundliegende Problem dürfte darin bestehen, dass eine ernsthafte inhaltliche Aus-
einandersetzung Zeit und Sorgfalt kostet, die nur wenige aufzubringen vermögen. Ein
oberflächlicher Gebrauch von quantitativen Indikatoren entwertet oder verschleiert,
was den Kern des „peer review“ im eigentlichen Sinne ausmacht.
10.2 Plagiieren 311

dass manche Positionen mit entsprechend attraktiven Befugnissen und Entlohnungen


nur aufgrund des akademischen Titels zu besetzen sind. Es wird unterschlagen,
dass man mit dem erschlichenen Titel Kompetenzen vortäuscht, die man nie redlich
nachgewiesen hat. Und ganz wesentlich erscheint mir: Es wird unterschlagen, dass
eine Bagatellisierung des Plagiierens den wissenschaftlichen Nachwuchs demoti-
viert, demoralisiert und zynisch werden lässt: „Warum sollte ich mich an die Regeln
halten, wenn andere sie konsequenzenlos brechen dürfen?“163
Reputation ist eine Form des ‚symbolischen Kapitals‘, vergleichbar dem Geld
und dem Eigentum als Formen des ‚ökonomischen Kapitals‘. Wo jemand in seiner
verdienten Reputation beschnitten wird oder wo jemand unverdient Reputation
erheischt, liegt ein „Eigentumsdelikt“ vor. Ob die Kanzlerin Frau Dr. Merkel die-
selbe Unbekümmertheit an den Tag legte, wenn ihre MinisterInnen sich fremder
ökonomischer Kapitalien willfährig bedienten?
Wohin würde die Wissenschaft treiben, wenn wir Fälle wie die Betrügereien des
britischen Psychologen Cyril Burt nicht mit allen Mitteln zu verhindern suchten?
Burt gilt als derjenige, der die Vererbung der Intelligenz nachgewiesen hat. Dabei
hat er, wie ein Nachwuchswissenschaftler aufdeckte, die Daten dieses Beweises
freihändig eingesetzt. Dem nicht genug: Er hat Ko-AutorInnen, die es nie gab, frei
erfunden. Als Herausgeber der Zeitschrift British Journal of Statistical Psychology in
den Jahren 1947-63 hat er ebenfalls Diskussionen seiner Forschungsergebnisse frei
erfunden. Auch hier entsprangen die Beiträge wie die vermeintlichen BeiträgerIn-
nen seiner eigenen, regen Phantasie. Burt verfasste die Texte für die erfundenen
Befürworter wie für die erfundenen Gegner selbst. Er inszenierte die lebhafte
Diskussion im Alleingang.
Blickt man über den akademischen Kontext hinaus in die Felder der Anwen-
dung des wissenschaftlichen Wissens, muss man sich fragen: Wer möchte von
‚ExpertInnen‘ behandelt oder beraten werden, die sich nie redlich für diese Tä-
tigkeiten qualifiziert haben? Äußerst bedenklich wird es, wenn Wissenschaft z. B.
im Rahmen der Medikamentenentwicklung oder der Lebensmittelkontrolle ‚mit
falschen Karten‘ spielt. Spätestens dann, wenn wir von den Effekten unredlicher
Wissenschaftlichkeit negativ betroffen werden, wird niemand derartige Vergehen
mehr bagatellisieren. Und vergessen Sie bitte nicht: Oft werden die beklagten
Machenschaften mit Drittmittelgeldern in Millionenhöhe sowie mit fünf- bis
sechsstelligen Preisgeldern honoriert. Das kann niemand gutheißen.
Trotz alledem muss man eingestehen, dass das Thema Plagiieren nicht so einfach
ist, wie es scheint. Die Übergänge zwischen ‚Verzicht auf Zitation‘, ‚schlampigem

163 Zur Chronologie des Falls K.-Th. zu Guttenberg siehe http://www.forschung-und-lehre.


de/wordpress/?page_id=7 (Stand 22.02.2014).
312 10 Zitieren und Plagiieren

Zitieren‘ und ‚bewusster Täuschung‘ sind oft fließend. Irren ist menschlich, und
jeder weiß, wie leicht man vergisst, eine notierte Idee mit ihrer Quelle zu versehen.
Wie geht man mit Sachlagen um, in denen Beschuldigte beteuern, nicht bewusst
getäuscht zu haben?
Wer wollte bestreiten, dass das Allermeiste, was man von sich gibt, seine Refe-
renzen außerhalb seines eigenen Denkens hat? Wir haben jedes Wort von anderen
gelernt. Wir haben von anderen gelernt, Sätze zu bilden. Wir haben in Gesprächen
mit anderen unsere Ideen entwickelt. Alles ist aus dem Zustand des Fremden zum
Eigenen geworden. Alles, was man zu sagen hat, ist schon einmal gesagt worden.
Wie aber bestimmt man, was zitiert gehört und was nicht? Wie bestimmt man,
was korrekt zitiert ist und was nicht? Wie bekommt man Klarheit, wo längst nicht
alle wissenschaftlichen Teildisziplinen geschweige denn alle WissenschaftlerInnen
gleich streng mit sich selbst und den übernommenen Worten und Ideen sind?
Bertolt Brecht soll einmal gesagt haben, man solle in Fragen des geistigen Eigen-
tums nicht so pingelig sein. Für eine Empfehlung des ‚entspannten‘ Umgangs mit
eigenem und fremdem Wissen spricht die Tatsache, dass gewisse Wissensbestände
sich mittlerweile als geistiges Allgemeingut etabliert haben, ohne dass sich jemand
genötigt sähe, die geistigen Eltern dieser Ideen noch zu benennen. Wer nennt heute
noch diejenigen, die zuerst von ‚Differenzierung‘ sprachen: Herbert Spencer, Georg
Simmel, Émile Durkheim, Max Weber, Leopold von Wiese, Talcott Parsons etc.?
Viele Sachverhalte gelten mit der Zeit als gesetzt.
Außerdem meint wissenschaftliches Schreiben stets eine Form des Patch-Writing.
Man sammelt Textpassagen und Ideen und fügt sie in seinem Schreiben zu einem
neuen Text zusammen, um diesen dann für weitere Benutzung durch andere zur
Verfügung zu stellen. Jeder wissenschaftliche Schreibakt beginnt mit einer Sichtung
des ‚Stands der Forschung‘. Das meint: Wir stehen immer ‚auf den Schultern derer,
die uns vorausgingen‘. Alles Wissen befindet sich in einem transitorischen Zustand.
Der ‚eigene‘ Text entsteht zwischen dem Lesen fremder Texte, ihrer Auswertung
und dem Gelesen- und Ausgewertet-Werden von anderen und durch andere. Was
interessieren die gelesenen AutorInnen, wenn man selbst einen Wissens-, einen
Theoriekorpus errichten möchte? Muss man Rücksicht auf sie nehmen? Darf man
Rücksicht nehmen? Wo wird Rücksichtnahme zur Fessel, zur Verhinderung eigener
Produktivität?
Diebstahl oder Pastiche? Wie hoch ist die Eigenleistung von AutorInnen einzu-
schätzen, wenn ihre erste Aufgabe darin besteht, sich von fremden Texten beeindru-
cken zu lassen und die zweite, sich für andere verständlich zu machen? Gerade in der
Wissenschaft ist die Schrift durch das Gelesene und die Erwartung des Gelesen-
10.2 Plagiieren 313

werdens streng vordefiniert. Die meisten ahnen nicht, wie wenig die Autorin bzw.
der Autor zwischen diesen beiden Vorgaben eigenständig zu gestalten vermag.164

164 Roland Barthes (1968/2009) hat einen vielbeachteten Aufsatz verfasst. Er trägt den
Titel: „Der Tod des Autors“. In diesem Aufsatz versucht Barthes deutlich zu machen,
dass bereits mit dem Schreiben von Texten, also mit der Schrift, die Autorenschaft
fragwürdig wird: „Wer spricht da?“, fragt Roland Barthes bei der Lektüre von Balzacs
Novelle Sarrasine. Ist es der Held der Novelle? Ist es das Individuum Balzac mit seinen
persönlichen Ansichten? Ist es der literarisch gebildete Balzac, der literarische Ansich-
ten vertritt? Ist es die Weisheit schlechthin? Ist es die romantische Psychologie? „Wer
spricht da?“ Wir wissen es nicht.
Mit der Schrift verliert die Stimme ihren Ursprung. Im Anschluss an Mallarmé, der als
einer der ersten an die Stelle des Autors die Sprache (hier spricht nicht der je besondere,
höchstpersönliche Autor, sondern die gemeine, unverzichtbar unpersönliche Sprache)
und letztlich den Leser setzte, hat Valéry jede Berufung auf das Innere des Schriftstellers
als reinen Aberglauben abgetan. Proust verwischte in seinen Analysen den Autor, indem
er den Erzähler als jemanden darstellt, der darum ringt, schreiben zu können, der also
noch nicht schreiben kann, sondern schreiben wird. Und in dem Moment, da er zu
schreiben beginnt, lässt Proust seinen Roman enden. Im Surrealismus wollte man die
Codes der gemeinen Sprache unterlaufen und über Techniken des automatischen und
des kollektiven Schreibens das Bild des Autors entsakralisieren. Auch die Linguistik
hat in diese Richtung gewirkt, indem sie die Stelle des Subjekts in einem Satz als leer
begreift: Alles läuft reibungslos, ohne dass wir das Subjekt mit einer Person füllen
müssten.
Roland Barthes geht davon aus, dass Texte seit Brecht so gemacht und gelesen werden,
„dass der Autor in jeder Hinsicht verschwindet“ (Barthes 1968/2009:189): Der Autor
wird immer als die Vergangenheit (Vorher) seines Buches (Nachher) verstanden, als
ob der Autor sein Buch nährte, als ob er für sein Buch lebte, als ob er seinem Buch vor-
ausginge wie ein Vater seinem Kind. Dagegen wird der moderne Schreiber mit seinem
Schreiben erst geboren. Er existiert nur im Moment des Schreibens, weder vorher noch
nachher.
Jeder Text ist immer hier und jetzt. Schreiben ist Performation, ein Akt, der immer in
der ersten Person und nur im Präsenz vorkommt. Der Text enthält und enthüllt nicht
die geheimen Botschaften eines Autor-Gottes, der Text ist vielmehr „ein vieldimen-
sionaler Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine
einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus
unzähligen Stätten der Kultur“ (Barthes 1968/2009:190; Hervorhebungen T.B.). Der
Schreiber ahmt immer nur eine immer schon geschehene, niemals originelle Geste
nach. Er mischt neu, verbindet und konfrontiert, was längst gesagt und geschrieben
ist, ohne sich auf eines zu stützen. Er lebt somit in einem Raum ohne Aufenthalt, einem
Ort voller Wörter und Zeichen, die er jenseits eigener Stimmungen, Passionen, Gefühle
und Eindrücke zitiert. Schreiben und Reden ist immer nur Imitation.
Nicht die Stimme, nicht der Autor sind der Ursprung dessen, was gesagt wird oder
geschrieben steht, sondern die Lektüre. Der Leser (der Hörer, der User etc.) bestimmt
den Sinn einer Botschaft: „Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die
verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren,
314 10 Zitieren und Plagiieren

Vieles vollzieht sich heute in Forschungsverbünden, so dass Texte eigentlich


auf mehrere Beteiligte zurückgehen. So gibt es erste Versuche, auf den klassischen
‚Autor‘ zu verzichten und stattdessen Kontribuentenschaften anzuzeigen (Wer hat
was beigesteuert?) und auch Verbindungen zur Industrie und sonstigen Geldge-
bern kenntlich zu machen (Wo ergeben sich mögliche Interessenskonflikte? Vgl.
Empfehlung 13 in DFG (1998:20f.)). In gewissen Zukunftsvisionen zur Entwicklung
der Wissenschaften im Zeitalter weltweit integrierter Computersysteme geht man
davon aus, dass es bald keine EinzelautorInnen mehr geben wird bzw. dass alle
SchreiberInnen ihre Texte ‚gratis‘ ins Netz stellen und jedem kostenfrei verfügbar
machen werden.

10.2.4 Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter

Zitation und Plagiat sind Phänomene der Wissenschaftskultur.165 Das korrekte


Zitieren gilt als kultureller Wert, das Plagiat als Unwert, als Unkultur. Es lohnt
sich, der Unkultur des Plagiats genauer nachzugehen und einige der Vorannahmen,
die sich auf sie beziehen, zu überdenken, denn erst vor dem Hintergrund dieser
Überlegungen zeichnen sich die Bedingungen für eine Rekultivierung des Plagiats
ab. Philipp Theisohn (2012) hat dazu ein lesenswertes Essay verfasst, das hier ab-
schließend in Kurzform referiert wird.

Die Unkultur des Plagiats


Das Denken über das Plagiieren lebt von einigen Unterstellungen, die es zu über-
denken gilt:

1. Wenn vom Plagiat die Rede ist, gehen viele davon aus, dass es eine Rechtsordnung
gibt, die die Besitzverhältnisse geistigen Eigentums eindeutig klärt. Man nimmt an,
dass ein Regelwerk existiert, das den Umgang mit fremden Texten und ihre Nutzung
verbindlich festlegt. Dem ist nicht so. Der Diebstahl ist nicht einfach und zweifelsfrei
konstatierbar. Niemand war dabei, als die Formulierungen formuliert wurden, denn

einander in Frage stellen. Es gibt aber einen Ort, an dem diese Vielfalt zusammentrifft,
und dieser Ort ist nicht der Autor (wie man bislang gesagt hat), sondern der Leser. Der
Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt,
einschreiben, ohne dass ein einziges verloren ginge. Die Einheit eines Textes liegt nicht
in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt“ (Barthes 1968/2009:192).
165 Die folgenden Ausführungen lehnen sich eng an die Ausführungen von Philipp Theisohn
(2012): Literarisches Eigentum. Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter. Essay.
Stuttgart: Alfred Kröner.
10.2 Plagiieren 315

Schreiben ist ein einsames Tun außerhalb unserer Sichtweite, und niemand kann
mit Sicherheit sagen, ob und wie Worte von einem Text in einen anderen gewandert
sind. Plagiate sind keine gegebenen Sachverhalte, sondern Konstruktionen. Es sind
‚Erzählungen‘ (Theisohn 2012:17), mehr oder weniger aufwendig herzustellende
Geschichten, ohne die wir es lediglich mit der Parallelität zweier Texte zu tun hät-
ten: Wie oft werden Texte wiederholt? Wie oft liest man etwas, das man woanders
bereits gelesen hat? Es gibt zahllose Fälle der Parallelität. Aber nicht jeder dieser
Fälle ist ein Plagiat. Die Parallelen müssen erst zu einem Regelverstoß gemacht
werden, und dazu ist einiges nötig: die historische Rekonstruktion beider Texte, die
Investigation der beteiligten SchreiberInnen, die Verfolgung von Wahrscheinlich-
keiten und Verdächtigungen und vor allem die überzeugende und wirkungsvolle
Darstellung ‚des Falls‘. Bewiesen ist mit alledem noch nichts.166

2. Wenn vom Plagiat die Rede ist, gehen viele davon aus, dass es Menschen gibt,
die weder die Rechtsordnung noch das Regelwerk achten und willentlich dagegen
verstoßen. Dem ist nicht unbedingt so. Niemand weiß um die wahre Motivation
der Verdächtigten: Wollten sie wirklich betrügen und sich mit fremden Federn
schmücken, oder waren sie so begeistert von einer Formulierung, dass sie nicht
merkten, wie sie sich in ihrem Hirn festsetzte und sie sie selbst zu denken begannen?
Waren sie quasi überwältigt von der Eleganz der Formulierung? Oder waren sie
schlichtweg naiv und haben sich nichts dabei gedacht? Oder waren sie hinterhältig
und skrupellos? Vielleicht waren sie auch nur schludrig und vergesslich. Vielleicht
wollten sie die Quellen noch angeben, haben es dann aber vergessen zu tun. Ab-
sicht oder Gedankenlosigkeit? Da es keine Augenzeugen gibt, befinden wir uns in
einem Indizienprozess, in dem es nur Wahrscheinlichkeiten, niemals aber absolute
Sicherheiten gibt. Wer also gibt dem Vorgang einen Namen?
Texte sind nicht trennscharf gegeneinander abgrenzbar wie besitzbare Dinge.
Sie sind immer schon voneinander infiziert, als hätte sich ein Virus wild in alle
Richtungen ausgebreitet. Wir können Textpassagen nicht klinisch sauber isolieren.
Unser Denken und Schreiben ist von dem Gehörten und Gelesenen durchdrungen.
Und so funktioniert die Plagiats-Erzählung selbst in der Logik eines Virus. Der
Virus des Plagiats breitet sich aus. Zunächst sieht man nur eine auffällige Ansamm-
lung von gleichen Worten und Sätzen; dann erkennt man gleiche Schlüsse und
Urteile; dann erscheint das Plagiieren als Eigenschaft der Persönlichkeit, die als
Ganze bald mit dem Virus infiziert erscheint: Sie wird mit ihrer Rolle als Plagiator

166 Bitte verstehen Sie diesen Hinweis nicht als Einladung zur Bagatellisierung. Im Gegen-
teil. Mit dem Hinweis soll auf Schwierigkeiten aufmerksam gemacht werden, hier als
BeobachterIn festen Boden unter den Füßen zu bekommen.
316 10 Zitieren und Plagiieren

bzw. Plagiatorin identifiziert. Die Person beginnt sich zu wandeln, nicht nur seine
Schreibtätigkeiten, alle seine Tätigkeiten werden befallen und in die Plagiats-Er-
zählung aufgenommen. Alles, was die infizierte Person tut oder tat, erscheint nun
in einem neuen Licht. Womöglich vergiftet das Plagiatsvirus das komplette Leben.

3. Wenn vom Plagiat die Rede ist, gehen viele davon aus, dass es Menschen gibt, die
Ordnungs- und Regelverletzungen verfolgen und zum Skandal erklären. Das stimmt,
aber schauen wir genauer hin, wer hier verfolgt und skandaliert, so sind es in der Regel
nicht die VertreterInnen der Wissenschaft, die sich ethisch der korrekten Zitation
verschreiben, sondern mediale Agenten, denen wissenschaftliche Belange wenig
bis gar nicht am Herzen liegen. Es müssten die VertreterInnen der Institutionen
sein, die in Ihrer Prüfungsordnung die eidesstattliche Erklärung verlangen, dass
die Prüflinge, abgesehen von ausdrücklich bezeichneten Hilfsmitteln, ihre Arbeit
persönlich, selbstständig und unter Offenlegung der erhaltenen Hilfen angefertigt
haben. Die PrüferInnen und der Prüfungsausschuss der jeweiligen Fakultät müss-
ten über die Einhaltung der Regeln wachen. Die Ordnungshüter, die öffentlich in
Erscheinung treten, sind allerdings andere: Es sind medial versierte Agenten, die
sich selbst zu Wächtern ernennen.
Warum verhandelt man Plagiatsfälle in den Medien? Medien sind nicht der
Ort, wo diese Debatten zu führen wären. Das Fernsehen z. B. hat gar keinen Platz
für schriftliche Texte. „Ein Delikt an einer literarischen Ordnung, das Recht am
Text wird in einem Raum verhandelt, der substanziell illiterat ist, wird vor einem
Millionenpublikum mit Gesprächspartnern erörtert, die weder die Arbeit der
Beschuldigten noch die mutmaßlichen Quellen noch den konkreten Sachverhalt
überhaupt kennen“ (ebd.:21). Der literarische Körper, an dem ein Vergehen verübt
worden sein soll und die theatralische Inszenierung des Plagiats liegen meilenweit
auseinander. Sie haben nahezu nichts miteinander zu tun: Schaukämpfe unter
Beteiligung von Unbeteiligten hier, der wissenschaftlich-literarische Diskurs über
geistiges Eigentum, Textverfahren, wissenschaftliche Standards dort.
Im Netz finden sich anonyme Akteure, die Jagd auf Plagiate machen. Ein Schwarm
von Leuten durchforstet Texte auf Parallelitäten hin. Diese Namenlosen betreiben
nichts als Textabgleiche, dies aber mit scheinbar großer Begeisterung. In den Tiefen
der Netze, jenseits aller Kontrollen, scheinen sie ‚Autoritäten‘ auszumachen, die sich
an fremden Texten vergangen haben. Wie nennt man eine solche Veranstaltung?
Ist diese Form der Plagiatsjägerei demokratisch? Wohl kaum, denn sonst würde die
Jagd nicht anonym vonstattengehen. Darf jeder Missstände verfolgen, aufdecken,
anklagen, auch der, der kein Gesicht zeigt? Darf man von den Interessen und der
Motivation des gesichtslosen Jägers absehen? Wieso hat er kein Gesicht, während
die Gejagten meist ein prominentes Gesicht tragen? Vielleicht weil der, der hier als
10.2 Plagiieren 317

Jäger sein Gesicht zeigen würde, selbst zum Objekt der Recherche werden könnte?
Soll das Plagiats-Theater ein demokratisches Spiel sein, so ist es nicht unerheblich
zu wissen, wer die scharfe Waffe des Plagiatsvorwurfs aus welchem Grund und zu
welchem Zweck in die öffentliche Kommunikation trägt.
Für Theisohn gehören die multimediale Ausleuchtung von Persönlichkeit und
Werdegang und die indifferente digitale Überprüfung von Texten mithilfe von
Suchmaschinen zusammen wie der geschwätzige, skandalversessene Boulevard
zu den gesichtslosen Plag-Schwärmen passt: „Gemeinsam bilden sie eine einzige
gigantische Suchmaschine, vor der niemand sicher sein kann und die uns gerade
deswegen manchmal besonders gerecht vorkommen mag“ (ebd.:23). Unter der
Oberfläche operieren die Rasterfahnder mit einem betonten Desinteresse an
allem Persönlichen. Auf der Oberfläche operieren dann Figuren, die sich nur für
das Persönliche und in keiner Weise für den Text interessieren. Manche sprechen
angesichts einer derart inszenierten Drohkulisse von ‚Hexenjagd‘ oder ‚Pogrom-
stimmung‘ und wollen damit sagen, dass die anonyme Verfolgung und öffentliche
Denunziation ebenso verwerflich ist wie die Tat, die sie anklagen.
Wir geraten damit in eine Diskussionslage, die das eigentliche Plagiatsproblem aus
den Augen verliert. Der Diskurs wird aus der Wissenschaft, in der er stattzufinden
hätte, ausgelagert und in eine Arena mit einem Millionenpublikum verschoben,
wo das wissenschaftliche Anliegen kaum noch eine Rolle spielt. Statt über litera-
risches Eigentum, Textverfahren, wissenschaftliche Standards und Prototypen
der Unredlichkeit, schlussendlich über eine Ethik des Schreibens zu diskutieren,
inszenieren Menschen unterschiedlichster Provenienz und Prominenz rituelle
Schaukämpfe coram publico.

4. Wenn vom Plagiat die Rede ist, gehen viele davon aus, dass sie als ZuschauerInnen
mit den ‚objektiven Tatbeständen‘ nichts zu tun hätten. Falsch! Wer zuschaut ist Teil
einer Öffentlichkeit, die sich für Skandale interessiert. Dass wir zusehen, ändert
alles. Wir sorgen mit dafür, dass die sogenannten Ordnungshüter aktiv werden,
dass sie die Zitations- und Plagiatsdebatten entfachen und für Aufregung sorgen.
Dabei steht noch gar nicht fest, ob es sich um Frechheiten, Missverständnisse,
Versäumnisse, eindeutige Regelverletzungen handelt oder um unhaltbare An-
schuldigungen. Unser Zusehen gibt den Ansporn, das Thema und die Beteiligten
medial, und das meint: reißerisch auf den Titelseiten, in den Feuilletons oder in
Talkshows zu inszenieren.
Das Publikum ändert die Szenerie. Wer weiß, wie die Dinge laufen würden,
gäbe es die interessierten ZuschauerInnen nicht? Wer weiß, was ohne den media-
len Boulevard geschähe, auf dem die Verdächtigungen, Unterstellungen, Beweise,
Dementi, In-Schutz-Nahmen, Rechtfertigungen und Rücktritte verhandelt werden?
318 10 Zitieren und Plagiieren

Was wäre, wenn sich die ZuschauerInnen gelangweilt abwenden würden? Wie
verliefen die Verhandlungen ohne eine massenmediale Beteiligung?

Die Rekultivierung des Plagiats


Man stelle sich vor, wir nähmen die Plagiatsfrage aus dem schrillen, aufgeregten
Raum der Öffentlichkeit heraus und verhandelten sie im geschlossenen Raum der
Wissenschaft als Frage nach der akademischen Selbstverpflichtung und Selbstkon-
trolle. Nehmen wir an, die Wissenschaft agierte nicht als Erfüllungsgehilfe einer
aufgepeitschten Öffentlichkeit, die nach Verfolgung anonymer Plagiatshinweise
ruft, sondern als selbstverantwortliche Instanz. Was gäbe es dann zu sagen? Zu-
nächst einmal dies:
Die Wissenschaft hat sich selbst um ‚saubere Arbeitsweisen‘ zu kümmern. Sie
muss selbst Sorge tragen, dass WissenschaftlerInnen ‚anständig‘ mit geistigem Ei-
gentum umgehen. Für die Ansprüche, die sie stellt, kann und wird sich außerhalb
ihrer Grenzen kein Verständnis finden, da dort niemand versteht, worum es geht.
Es geht um Machtkämpfe über Besitzrechte am Text. Wem gehört der Text? Wer
darf die Autorenschaft beanspruchen? Welchen Text darf ich mein eigen nennen?
Welchen Text muss ich anderen zuschreiben?
Ob der Wissenschaft dabei die Suchmaschinen, die die Delinquenten ‚ans Messer
liefern‘, helfen, ist fraglich. Worauf verlassen wir uns, wenn wir uns auf die digitalen
Suchmaschinen verlassen? Ohne jede Verbindung zu den Texten, ohne Verbindung
zu den Persönlichkeiten der Schreibenden und deren Geschichte, verlassen wir
uns auf rein formale, höchst abstrakte Darstellungen von Übereinstimmungen in
Form von Strichcode-Balken. Sie sollen die Differenzen und Überschneidungen
von Eigenem und Fremden evident machen. Tun sie das? Kann das funktionieren,
dass an die Stelle von Textkörpern nackte Daten treten? Darf ein kulturloses Sig-
num wie das Balkendiagramm der Rasterfahndung, von dem niemand weiß, was
es eigentlich mit dem literarischen Körper, den beteiligten Personen und deren
Geschichte zu tun hat, diese Bedeutung gewinnen? Erfasst der digitale Abgleich
von Buchstabenkombinationen die Differenz von Eigenem und Fremdem? Erfasst
er den Wert eines Textes? Gewiss nicht.
Um den Wert eines Textes zu erfassen, müssen wir uns auf ihn einlassen. Wir
müssen uns mit ihm verbinden und seinen Intentionen und Argumentationspfa-
den folgen. Wir müssen den literarischen Körper, und was er uns zu erzählen hat,
erfassen, statt uns auf nackte, vom Text und vom Schreiber abgespaltene Daten
ohne jedes erzählerische Moment zu verlassen. „Die Entpersönlichung der Literatur
auf der einen und die Entliterarisierung der Persönlichkeit auf der anderen Seite
führen mittelfristig (…) geradewegs in die Abstumpfung der Plagiatsdebatte bis
hin zur völligen Bedeutungslosigkeit“ (ebd.:28). Gegen Abstumpfung und Bedeu-
10.2 Plagiieren 319

tungslosigkeit setzt Theisohn auf eine Rekultivierung des Plagiats. Das meint für
ihn vor allem zweierlei:

1. Es gibt keine Plagiatserzählung, in die wir nicht verwickelt wären. Plagiarismus


ist kein Defekt bestimmter Personen. Er wurzelt in unserer Kultur, die jede/r
Einzelne mit ihren/seinen Einstellungen und Verhaltensweisen mitproduziert
und deshalb auch mitverantworten muss.
2. Die Kategorie des ‚literarischen Eigentums‘ lässt sich nicht mithilfe von Ras-
terverfahren erzwingen, sondern nur aus der individuellen Begegnung (Wert-
schätzung) mit dem Text als einer sozialen Handlung herleiten. „Der Maßstab ist
kein mathematischer, sondern ein ethischer“ (ebd.:29). Der Eigentumscharakter
ergibt sich aus der Wertschätzung literarischer Arbeit, aus dem Verantwortungs-
bewusstsein im Umgang mit eigenen und fremden Texten. Er ergibt sich aus einer
Ethik des Schreibens. Wo die Ethik des Schreibens verwässert wird, verliert sich
auch das Gespür für Fehlverhalten gegenüber geistigem Eigentum. „Wenn die
Auseinandersetzung um das literarische Eigentum keine ethische, sondern nur
noch eine mathematische ist, dann sind Personen und Schreibverfahren nicht
mehr miteinander verkoppelt. Und wenn Personen und Schreibverfahren nicht
mehr miteinander verkoppelt sind, dann wird schon bald nicht mehr verstanden
werden, warum der Umgang mit den Texten anderer auch so etwas wie Respekt
erfordert, ja: warum Verstöße gegen das Ethos geistiger Arbeit überhaupt per-
sönliche Konsequenzen haben müssen“ (ebd.:31).

Die Wissenschaft und das literarische Eigentum


Die Wissenschaft wurde schwer beschädigt durch die Skandalfälle der letzten Jah-
re. Die Universitäten selbst wurden im Zuge der Vorgänge zu Verdächtigten und
Überführten. Ihnen wurde unterstellt, sie hätten mehr oder weniger billigend das
Betrugsspiel mitgespielt: aus Schlampigkeit oder wissentlich, aber intervenierend
durch Benotung, kapitulierend angesichts der Uneinsichtigkeit der KandidatIn-
nen bezüglich geltender Regeln, vielleicht auch auf Vorteil spekulierend, weil die
KandidatInnen in ihren zukünftigen Positionen etwas für die Hochschulen tun
könnten. Der Eindruck blieb: Da stimmt etwas nicht mit der Kontrolle und der
Sicherung des Eigentums. Findige SchreiberInnen können fremdes Gedankengut
stehlen und sich damit einen Titel erschleichen. Wie aber kann effektive Kontrolle
gewährleistet werden?
Scheinbar nehmen die einschlägigen Foren den wissenschaftlichen Kommis-
sionen ihre Arbeit aus der Hand. Sie zerlegen die Texte und scannen sie nach
ihren Suchkriterien durch. Aber im Feld des Netzes hat man kein Interesse an
der Wissenschaft und ihren Erkenntnissen. Hier interessiert man sich mehr für
320 10 Zitieren und Plagiieren

die Skandalträchtigkeit eines Falles. Man begegnet den Texten mit der Geste des
Verdachts, ohne inhaltliches Interesse und ohne ein Bedürfnis nach Erkenntnis.
Der Anspruch dieser Netzsuchtrupps ist der, unnachgiebiger, unparteiischer,
unbestechlicher als jedes herkömmliche Begutachtungsverfahren zu sein. Sie tun
so, als seien sie die zeitgemäße Verteidigungslinie der Wissenschaft. Die implizite
Forderung lautet, die Wissenschaft müsse diese im Netz stattfindenden digitalen
Kontrollverfahren aufnehmen, um weitere Plagiatsfälle bereits am Ort ihrer Ent-
stehung zu bekämpfen, und nicht erst im Nachhinein.
Aber passen diese standardisierten Suchverfahren eigentlich zu den Geisteswis-
senschaften?167 Wohl kaum, denn hier geht es nicht um patentierbare Formeln, um
Wortlaute und einzelne Sätze, hier geht es um eine Interpretations- und Vermitt-
lungsleistung, eine Auseinandersetzung und Neuformung von bereits Gedachtem
und Geschriebenem. Innovation und Originalität sind hier zwangsläufig vergleichs-
weise gering. Die Leistung ist daher nicht mit den standardisierten Methoden zu
messen, sondern allenfalls durch intensive Fachrezeption zu erspüren, indem man
sich auf den Text einlässt und dem fremden Denken offen begegnet. Die Leistung
der GeisteswissenschaftlerInnen liegt darin, ein verstehendes Nachvollziehen bei
anderen zu ermöglichen. Hier geht es darum, bereits gelaufenen Diskussionen
und Darstellungen eine neue Sprache zu geben, „Geschriebenes in neues Ge-
schriebenes zu überführen und dadurch das Geschriebene neu lesbar zu machen“
(ebd.:97). Das meiste, was GeisteswissenschaftlerInnen tun, ist wiederkäuen, oder
wie Luhmann es despektierlich sagte: „Sie nagen an den Knochen der Klassiker“.
Wir müssen stets und ständig rezipieren. Das Innovative dabei ist, die alten Sachen
so aufzuarbeiten, dass eine neue Lesart möglich wird: „Die eigentliche Leistung
der Geisteswissenschaften ist nur in der intersubjektiven Begegnung ertastbar,
im Vermögen, eine Perspektive zu drehen, eine andere Sprache zu finden, ein
neues Denken zu ermöglichen“ (ebd.:98). In eben dieser Vermittlungsleistung ist
das ‚geistige Eigentum‘ zu sehen, und das ist nicht scannbar, nicht objektivierbar,
sondern nur im verstehenden Nachvollzug zu erfassen.
Entsprechend kann auch nur die eigene Leseerfahrung, die eigene Irritation, das
eigene Empfinden, dass etwas zu Unrecht als Eigenes ausgegeben wurde, als Grund-
lage für einen Plagiatsvorwurf dienen. Die Balkendiagramme der Plagiatsscanner

167 Wieso pochen gerade die, die den Autor bzw. die Autorin als Subjekt aus dem wissen-
schaftlichen Text ausschließen wollen, die ein Schreiben in der Ich-Form für unwissen-
schaftlich halten, so sehr auf Technologien zur Fahndung nach Subjekten, die gegen die
ethischen Standards der Wissenschaft verstoßen? Wie passt das zusammen? Schließt
man nicht mit dem Subjekt auch jede Form von Ethik aus der Wissenschaft aus? Wenn
keiner mehr „Ich“ sagen darf, weil ein „Ich“ wissenschaftlich nichts zählt, wie soll sich
dann jemand persönlich für etwas, das er in diesem Kontext tut, verantwortlich fühlen?
10.2 Plagiieren 321

ersparen uns nicht die eigene Lektüre. Erst das Selbstlesen berechtigt uns, uns zu
empören und Anklage zu erheben. Nicht aus den statistischen Daten, sondern erst
aus unserem eigenen Verhältnis zur Wahrheit und unserem eigenen Verhältnis
zum Umgang mit Literatur können wir Schlüsse über das Verhältnis einer Schrift
zu anderen Schriften ziehen. Individuelle Leseerfahrung und wissenschaftliche
Subjektivität ist durch nichts zu ersetzen. Die digitalen Suchschwärme lassen das
für sich urteilende Subjekt so schwach, so ohnmächtig und so inkompetent er-
scheinen. Sie tun so, als könnten sie alles besser, und dabei verstehen sie mit ihrem
algorithmisch gefügten Textverständnis gar nichts.
Nicht durch Maschinen, nur durch die Stärkung wissenschaftlicher Subjektivität
ist dem Problem des Plagiats beizukommen. Wir leiden nicht unter einem Mangel
an Kontrolle, der durch die Suchsoftwares aufgehoben werden könnte, wir leiden
an einem Mangel an Selbstkontrolle. Freilich können Plagiatscans PlagiiererInnen
abschrecken. Sie können sie extrinsisch motivieren, nicht zu pfuschen. Doch es
geht um eine intrinsische Motivation. Die Wissenschaft sollte nicht mit einem
Datenabgleich drohen, sondern den verantwortungsvollen Umgang mit fremden
Texten in einem Ethos geistiger Arbeit verankern.
Das Wissenschaftssystem in seiner heutigen Form untergräbt wissenschaftliche
Subjektivität. Es schreiben ‚Mans‘, die sich für nichts schämen. Sie lehnen sich
so eng an die Vorlagen, dass es gerade noch erlaubt ist. Sie wuseln sich zwischen
Abkupfern und Umformulieren durch, aber sie haben nicht den Anspruch, etwas
Eigenes, etwas Neues, etwas Seltenes zu liefern. Die VerfasserInnen selbst glauben
nicht, dass ihre Texte einen substanziellen Eigenwert besitzen. Sie wissen selbst am
besten, dass das meiste nicht von ihnen selbst stammt, und dass das, was von ihnen
selbst stammt, von geringer Bedeutung ist. „Das Problem dieser Texte ist, dass sie
überhaupt entstehen“ (Theisohn 2012:101).
Es geht Theisohn nicht in erster Linie darum, dass die formalen Gesichtspunkte
der akademischen Eigentumsordnung eingehalten werden. Es geht ihm darum, an
den eigentlichen Auftrag wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens zu erinnern:
das Wissen voranzubringen, nicht wissenschaftliche Camouflage zu betreiben. Die
Formalien sind nur das Kostüm. Und wo sie einer unwissenschaftlichen Arbeit
nur übergestülpt werden, schaden sie mehr als sie nutzen. Sie dienen dann nur der
Tarnung. Sie produzieren eine glänzende Oberfläche, eine Maske, hinter der sich
möglicherweise ein Text verbirgt, der substanziell nichts hergibt.
Dennoch können und dürfen wir im Namen wissenschaftlicher Redlichkeit
auf die Formalien nicht verzichten. Wir müssen sie beherzigen, ohne dass sie uns
beherrschen. Wir müssen fremde Texte in die eigenen Texte integrieren, ohne
ihnen dabei ihre Identität zu stehlen. Wir müssen sie als Import fremder Ideen
kenntlich machen und halten. Nur da, wo wir uns auseinandersetzen, wo ein Text
322 10 Zitieren und Plagiieren

Widerstand erzeugt und wir gegen andere Texte Widerstand aufbauen, wo gekämpft,
um Positionen gerungen und verhandelt wird, kann es diese Kennung zwischen
Eigenem und Fremden überhaupt geben.
Wissenschaft ist eine „auf Anschluss bauende Dissenskultur“ (Jansen 2008:35).
Vielleicht verlieren wir das Gefühl für den notwendigen Widerstand und Dissens,
wo alle Texte widerstandslos in einen digitalen Raum zu fließen scheinen, wo alles
in widerstandslosen Rechenoperationen aufzugehen scheint.
Eine solche Desensibilisierung für widerständige Texte setzt bereits im Hoch-
schulalltag ein. Man liest die Forschungsberichte und Monografien angesichts
der Überfülle an nachschießenden Publikationen nur noch oberflächlich. Die
Gründlichkeit des Lesens nimmt in dem Maße ab, wie die Menge an Publikationen
zunimmt. Peter Sloterdijk geht davon aus, dass der größte Teil der an Hochschu-
len verfassten Texte geschrieben wird, um gar nicht gelesen zu werden (vgl. Der
Spiegel, Heft 49, 2011:126). Eine solche Verweigerung zu lesen, ist mit Blick auf den
wissenschaftlichen Ethos verheerend. Sie setzt aber bereits ein, wo Seminararbeiten
nicht mehr gelesen und besprochen, sondern nur noch nach Beurteilungsskala
bepunktet oder benotet werden. Nirgendwo drückt sich der Mangel an Respekt
gegenüber der Individualität literarischer Kommunikation deutlicher aus als in
Multiple-Choice-Tests, die maschinell ausgelesen werden. Der akademische All-
tagsbetrieb vermittelt den Studierenden die Erfahrung der Würdelosigkeit ihrer
Person als Autorin bzw. Autor von Texten. Wo es keine fachliche Rückmeldung zum
eigenen Geschriebenen gibt, wo es nur darum geht, termingerecht abzuliefern und
den Schein formaler Korrektheit zu wahren, wo es statt um Kritik und Gespräch
allenfalls noch um Korrektur geht, da schleicht sich über kurz oder lang eine Form
von Kommunikation ein, die Wissenschaftlichkeit nur vortäuscht: Der eine tut nur
so, als ob er liest, der andere tut nur so, als ob er schreibt. Auf beiden Seiten pflegt
man zum Schluss eine gezielte Nichtbeschäftigung mit Texten.
Die digitale Verfügbarkeit von Texten tut das Ihre. Nie war es so leicht, fremde
Texte aufzuspüren und zu importieren. Man muss sich nicht mehr durch einen
Berg an Büchern und durch die unendlichen Weiten der Wissenslandschaften
arbeiten, um das Passende zu finden und es dann einzuarbeiten. Man gibt einen
Suchbefehl ein und kopiert die gefälligen Passagen. Nicht nur der körperliche und
zeitliche Aufwand schrumpft gegen Null, auch der geistige scheint gegen Null zu
tendieren. Literatur wird nicht mehr im Zusammenhang und sinnvoll rezipiert,
sondern markiert, ausgeschnitten und eingefügt. Was wissenschaftliches Denken
und Arbeiten ausmacht, wird automatisiert. Man fischt womöglich gedankenlos in
einem allen zur Verfügung stehenden Literaturspeicher und angelt sich mittels Copy
& Past einige Sequenzen heraus. Was unsere Arbeit einerseits unerhört erleichtert,
10.2 Plagiieren 323

bringt andererseits eine „selbstgewählte Verwahrlosung im Umgang mit geistigem


Eigentum mit sich“ (Theisohn 2012:109).
Die Unterschlagung von Autorenschaften und die Verletzung von Urheberrech-
ten ist nicht einmal der wesentliche Punkt für Theisohn, sondern das Vergessen:
„Vergessen wird, dass geistiges Eigentum auf geistiger Aneignung beruht und dass
sich weder das eine noch das andere aus dem menschlichen Arbeitsprozess her-
auslösen lässt, ohne dass sich dabei qualitative Veränderungen einstellen“ (ebd.).
Die Berge an Büchern und die Weiten der Wissenslandschaften, die wir frü-
her zu bewältigen hatten, haben uns immer wieder Um- und Irrwege laufen und
ergebnislos suchen lassen. Dabei konnten wir viel auf Anhieb nicht verwertbares
Wissen sammeln, das die punktgenauen ‚Treffer‘ bei weitem überstieg. Genau
dieses, für die konkrete wissenschaftliche Arbeit nicht verwertbare Wissen fehlt
den meisten heute. Ihnen mangelt es an überschüssigem Wissen, das über den
kleinen Ausschnitt ihres aktuellen Arbeitsfeldes hinausweist und in dem sich
vielleicht die Anregung für eine neue Sichtweise befindet. Was auf den ersten
Blick als Verschwendung zeitlicher und geistiger Ressourcen erscheint, macht das
Gesamt des im Arbeitsprozess erwirkten geistigen Potenzials aus, „ein Vermögen,
mit dem nicht gewirtschaftet wird, das aber dennoch spürbar ist“ (ebd.:110). Wir
reden von ‚Belesenheit‘ und ‚Bildung‘. Wir reden von einem Horizont, vor dem
das Geschriebene sich formiert. Wir reden von der Geste, die die Mühen und die
Sorgfalt der Schreibenden erahnen lässt.
Theisohn weiß, dass wir heute nicht mehr ohne Netzrecherchen auskommen.
Seine Sorge richtet sich präzise darauf, dass wir uns einer Wissensökonomie an-
vertrauen, die Ungefragtes konsequent aussondert, die sich für ein Maximum an
‚Treffern‘ interessiert, dabei aber das „geistige Kapital, das sich im Schatten der
relevanten Resultate ansammeln könnte“ (ebd.:111), verschwinden lässt. Dabei
sind es häufig die Abwege, die neue Perspektiven erst ermöglichen (vgl. Kap. 5.2.2).
Das ausschließliche Schreiben im Netz, das uns als eine winzige Schaltstelle eines
gewaltigen Datenspeichers agieren lässt, kündigt schleichend die für die Buchwelt
noch maßgeblichen literarischen Eigentumsverhältnisse auf. Das gezielte Suchen
nach Passagen, die man braucht, lässt alles Wissen zu Segmenten werden, die wir
nur noch sammeln und ordnen. Wer sie verfasst hat, aus welchem Zusammenhang
sie stammen, interessiert nicht mehr. Das Geschriebene wird reduziert auf die
verwertbare Information. Aber genau in dieser störungsfreien, leichthändigen,
konzentrierten Form des Umgangs mit exakt passenden Einzelinformationen
läuft das Denken leer. Das Neue, Unvorhergesehene, Epochemachende ereignet
sich nicht mehr. Hier beginnt die eigentliche geistige Arbeit: das ins Nebulöse
Hineindenken, die vorsichtigen Formulierungsversuche auf unsicherem Terrain,
das Ausprobieren, das Riskieren, der Mut zur Intransparenz, darum geht es, wenn
324 10 Zitieren und Plagiieren

man Wissen generieren will. In den Klartexten ereignet sich nichts mehr. Da wird
Sinn nur verdoppelt, Vorgegebenes reproduziert. Statt das Dunkel des eigenen
Denkens auszuleuchten und Intransparenzen in Kauf zu nehmen, werden allen-
falls die Quellen verdunkelt. Wer völlige Transparenz fordert, verkennt, wie sehr
unser Wissen im Intransparenten gründet und wie sehr wir darauf angewiesen
sind, uns auf Intransparenzen einzulassen, wenn wir unser Wissen erneuern und
erweitern wollen.
Unter dem Titel Open Access kündigt sich an, dass zukünftig alles wissen-
schaftlich relevante Wissen in digitaler Form zugänglich sein wird. Alle Texte, die
je geschrieben wurden und alle, die noch produziert werden, werden eingescannt
und im Idealfall allen zur Verfügung gestellt. Diese Tendenz ist jedem PDF-File
eingeschrieben. Die Frage ist nur: Werden Schreibende damit gezwungen sein, ihre
Texte und die Rechte an ihren Texten zu entäußern, oder beruht die Entscheidung
dafür oder dagegen auf Freiwilligkeit? Was wird aus der Figur des Autoren oder
der Autorin? Welches Schicksal erwartet die Verlage? Werden Bücher überleben
und wenn ja, in wessen Händen? Wird Literatur noch individuelle Züge tragen?
Wir sollten uns gut überlegen, wo die Grenzen der elektronischen Dienstbarkeit
verlaufen sollten. Wenn wir die Grenzen nicht ziehen, wird die Technik sie ziehen,
und wir werden uns nach ihr zu richten haben.
Es ist gefährlich zu glauben, die Computerisierung unserer wissenschaftlichen
Arbeit sei zwangsläufig. Ebenso gefährlich ist die Einredung, sie sei womöglich sogar
gut für uns. Beides leistet einem bestimmten Wissenschaftsverständnis Vorschub.
Darüber sollte man sich im Klaren sein. Wie sehr wir eine digitale Technisierung
begrüßen, Freiheit oder Gerechtigkeit wird durch keine dieser Maschinen garan-
tiert. Rationalisierung macht die Welt nicht besser, wohnlicher, heimischer oder
uns klüger, vernünftiger oder weiser. Rationalisierung und Technisierung birgt
immer auch das Moment der Disziplinierung. Technisierung ‚befreit‘ Menschen
in einem höchst ambivalenten Sinne von Arbeit. Sie produziert die ‚Überflüssigen‘
und liefert die Mittel ihrer technokratischen Verwaltung. In eben diesem Sinne ist
die Digitalisierung des Schreibens auch als eine Frage nach dem Geltungsrahmen
von Arbeit zu lesen. Kündigt sich eine neue Dimension der Enteignung von Arbeit
und der Entfremdung vom eigenen Produkt an? Gerät nun auch die geistige Arbeit,
die durch den Computer eine Entlastung erfährt, unter den Druck der Beschleu-
nigung? Der Computer erspart uns keine Arbeit, er negiert sie vielmehr, macht sie
unkenntlich und vergessen.
Vor diesem Hintergrund können wir nur für mehr literarische Aufmerksamkeit
plädieren, für die Bereitschaft, sich eine eigene Sprache, ein eigenes Bild, ein eige-
nes Verständnis zu erarbeiten. Wir können nur dafür eintreten, trotz der immer
schneller werdenden Apparate das Lesen und Schreiben, das Denken, Behalten,
10.2 Plagiieren 325

Notieren, das Formulieren und Umformulieren, das Schaffen von etwas Eigenem,
das unseren Stolz verdient, nicht zu verlernen. Statt uns im Wettlauf gegen die
rasende Technik aufzureiben, müssen wir uns jenseits des Netzes Nischen der
Entschleunigung schaffen, in denen die Arbeit unserem menschlichen Tempo und
Rhythmus entspricht.

Hansen

Zur Überprüfung Ihres Lernerfolgs bearbeiten Sie bitte


t Arbeitsblatt 18: Zu Kapitel 10.1 – Zitieren
t Arbeitsblatt 19: Zu Kapitel 10.2 – Plagiieren
unter: http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-658-08629-9
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